Vor 100 Jahren: Die Revolution von 1905 in Russland (Teil II)

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Die Sowjets leiten eine neue Periode in der Geschichte des Klassenkampfes ein

Die Revolution von 1905 ereignete sich, als der Kapitalismus im Begriff war, in seine Niedergangsperiode einzutreten. Die Arbeiterklasse sah sich nicht mit einem Kampf um Reformen innerhalb des Kapitalismus, sondern mit einem politischen Kampf gegen den Kapitalismus und für seine Überwindung konfrontiert, in dem die Machtfrage anstelle der Frage der wirtschaftlichen Zugeständnisse im Vordergrund stand. Das Proletariat antwortete auf diese Herausforderung mit der Erschaffung von Mitteln seines politischen Kampfes: des Massenstreiks und der Sowjets. Im ersten Teil dieses Artikels in der Internationalen Revue Nr. 35 betrachteten wir, wie sich die Revolution von einem Appell an den Zaren im Januar 1905 zu einer offenen Herausforderung der herrschenden Klasse im Dezember entwickelte. Wir zeigten, dass es sich hierbei um eine proletarische Revolution handelte, die den revolutionären Charakter der Arbeiterklasse bekräftigte, und dass sie sowohl ein Ausdruck als auch ein Katalysator in der Bewusstseinsentwicklung der revolutionären Klasse war. Wir zeigten, dass der Massenstreik von 1905 nichts mit den Konfusionen der anarcho-syndikalistischen Strömung gemeinsam hatte, die sich ungefähr zur selben Zeit entwickelte (s. die Artikel International Review Nr. 119 und 120, engl./franz./span. Ausgabe) und die den Massenstreik als ein Mittel zur sofortigen ökonomischen Umwälzung des Kapitalismus betrachtete. Rosa Luxemburg erkannte, dass der Massenstreik den ökonomischen Kampf der Arbeiterklasse und ihren politischen Kampf vereinte und auf diese Weise eine qualitative Weiterentwicklung des Klassenkampfes markierte, selbst wenn es in der damaligen Lage nicht möglich war, völlig zu verstehen, dass dies die Folge aus dem historischen Wandel in der kapitalistischen Produktionsweise war: „Der revolutionäre Kampf in Russland, in dem die Massenstreiks als die wichtigste Waffe zur Anwendung kommt, wird von dem arbeitenden Volke und in erster Reihe vom Proletariat gerade um dieselben politischen Rechte und Bedingungen geführt, deren Notwendigkeit und Bedeutung im Emanzipationskampf der Arbeiterklasse Marx und Engels zuerst nachgewiesen und im Gegensatz zum Anarchismus in der Internationale mit aller Macht verfochten haben. So hat die geschichtliche Dialektik, der Fels, auf dem die ganze Lehre des Marxschen Sozialismus beruht, es mit sich gebracht, dass heute der Anarchismus, mit dem die Idee des Massenstreiks unzertrennlich verknüpft war, zu der Praxis des Massenstreiks selbst in einen Gegensatz geraten ist, während umgekehrt der Massenstreik, der als der Gegensatz zur politischen Betätigung des Proletariats bekämpft wurde, heute als die mächtigste Waffe des politischen Kampfes um politische Rechte erscheint.“

[1]

Die Sowjets drückten einen gleichermassen wichtigen Wandel in der Weise aus, wie sich die Arbeiterklasse organisierte. Und wie der Massenstreik waren sie nicht ein rein russisches Phänomen. Trotzki betonte wie Luxemburg diesen qualitativen Wandel, auch wenn er sich, wie auch Luxemburg, nicht in der Lage befand, ihre Bedeutung vollständig zu begreifen: „Der Rat organisierte die Arbeitermassen, leitete ihre politischen Streiks und Demonstrationen, bewaffnete die Arbeiter, schützte die Bevölkerung vor Progromen. Aber das gleiche hatten schon vor ihm andere revolutionäre Organisationen getan, taten es zur selben Zeit mit ihm und setzten diese Tätigkeit auch nach seiner Auflösung fort, nur mit dem Unterschied, dass diese Tätigkeiten ihnen auch nicht annähernd jenen Einfluss verschaffte, den der Rat besass. Das Geheimnis dieses Einflusses ist darin zu suchen, dass der Rat als naturgemässes Organ des Proletariats in dem Moment seines unmittelbaren, durch den ganzen Gang der Ereignisse bedingten Kampfes um die Macht entstanden war. Wenn einerseits die Arbeiter selbst und andererseits die reaktionäre Presse den Rat die ‚proletarische Regierung‘ nannten, so entsprach dies der Tatsache, dass der Rat in Wirklichkeit eine revolutionäre Regierung darstellte. Der Rat realisierte die Gewalt, soweit ihm durch die revolutionäre Macht der Arbeiter die Möglichkeit dazu gegeben wurde; er kämpfte unmittelbar um die Gewalt, soweit sie sich noch in den Händen der militärisch-polizeilichen Monarchie befand. Bereits vor der Einsetzung des Rates finden wir in den Kreisen des industriellen Proletariats zahlreiche revolutionäre Organisationen, deren Leitung hauptsächlich von der Sozialdemokratie besorgt wurde. Aber das waren Organisationen im Proletariat; ihr unmittelbares Ziel war – der Kampf um den Einfluss auf die Massen. Der Rat aber schwang sich mit einem Schlage zur Organisation des Proletariats auf, sein Ziel war - der Kampf um die revolutionäre Macht.

Indem der Delegiertenrat zum Brennpunkt der revolutionären Kräfte des Landes wurde, löste er sich dennoch nicht in dem Chaos der Revolution auf, er war und blieb der organisierte Ausdruck des Klassenwillens des Proletariats.“[2]

Die wahre Bedeutung sowohl des Massenstreiks als auch der Sowjets kann nur begriffen werden, wenn man beide in den richtigen historischen Zusammenhang stellt, wenn man begreift, dass der Wandel in den objektiven Bedingungen des Kapitalismus die Aufgaben und Mittel sowohl der Bourgeoisie als auch des Proletariats bestimmte.

Ein Wendepunkt in der Geschichte

Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts begann der Kapitalismus in eine Periode des historischen Wandels zu treten. Während die Dynamik, die den Kapitalismus in die Lage versetzt hatte, sich über den Globus auszubreiten, noch immer vorhanden war - mit solch neuen Ländern wie Japan oder Russland, die ein starkes Wirtschaftswachstum erlebten -, häuften sich in etlichen Teilen der Welt die Anzeichen wachsender imperialistischer Spannungen und eines Ungleichgewichts in der kapitalistischen Gesellschaft insgesamt.

Das ziemlich regelmässige Muster des ökonomischen Rückgangs und Booms, das von Marx Mitte des Jahrhunderts analysiert worden war, begann sich in der Gestalt von Konjunkturrückgängen aufzulösen, die immer tiefer und länger wurden.

Nach Jahrzehnten des relativen Friedens erlebten das Ende des 19. Jahrhunderts und der Anfang des 20. Jahrhunderts wachsende Spannungen zwischen den rivalisierenden Imperialismen, da es im Kampf um Märkte und Ressourcen zunehmend nur noch darum ging, den anderen Mächten etwas streitig zu machen. Exemplarisch dafür stand der „Kampf um Afrika“, in dem ein ganzer Kontinent binnen 20 Jahren aufgeteilt und der brutalsten Ausbeutung, die es jemals gegeben hatte, unterworfen wurde. Dieser Kampf führte zu sich häufenden diplomatischen Konfrontationen und militärischen Drohgebärden, so wie 1898 der Zwischenfall von Faschoda, als der britische Imperialismus seinen französischen Rivalen dazu zwang, ihm am Oberen Nil zu weichen.

Zur gleichen Zeit stürzte sich die Arbeiterklasse in eine grössere Anzahl von Streiks, die ausgedehnter und intensiver waren als in der Vergangenheit. Zum Beispiel stieg im Deutschen Reich die Zahl der Streiks von 483 im Jahr 1896 auf 1.468 im Jahr 1900, um in den Jahren 1903 und 1904 auf 1.144 bzw. 1.190 zu fallen.[3] In Russland und Belgien breiteten sich 1898 bzw. 1902 Massenstreiks aus, die jenen von 1905 bereits erahnen liessen. Die Entwicklung des revolutionären Syndikalismus und des Anarchosyndikalismus war teilweise eine Konsequenz aus dieser ansteigenden Militanz, doch nahm sie die Form, die sie repräsentierte, aufgrund eines wachsenden Opportunismus in vielen Teilen der Arbeiterbewegung an, wie wir in den Artikelserien, die wir diesem Thema widmeten, aufzeigten.[4]

So war also für beide Hauptklassen diese Periode eine Zeit grossen Wandels, in der neue Herausforderungen qualitativ neue Antworten erforderten. Für die Bourgeoisie markierte sie das Ende der Periode kolonialer Expansionen und den Beginn wachsender imperialistischer Rivalitäten, die 1914 zum Ersten Weltkrieg führten. Für die Arbeiterklasse bedeutete sie das Ende jener Periode, in der noch Reformen innerhalb des von der Bourgeoisie ausgegebenen legalen oder halblegalen Rahmens errungen werden konnten, und den Beginn einer Periode, in der sie ihre Interessen nur durch die Infragestellung des Rahmens des bürgerlichen Staates verteidigen konnte. Dies führte 1917 unweigerlich zum Kampf um die Macht und zur anschliessenden weltweiten revolutionären Welle. 1905 war die „Generalprobe“ für diese Konfrontation, mit vielen Lehren, die damals wie heute für all jene auf der Hand liegen, die ihre Augen benutzen.

 

Die Lage in Russland

 

Russland war keine Ausnahme in der historischen Richtung; der Charakter der Entwicklung der russischen Gesellschaft bewirkte nur, dass das Proletariat schneller und härter mit einigen Konsequenzen der aufkommenden Periode konfrontiert wurde. Doch bevor wir diese besonderen Aspekte kurz betrachten werden, ist es notwendig, zunächst mit der Betonung zu beginnen, dass die zugrunde liegende Ursache der Revolution in Bedingungen zu suchen ist, die die gesamte Arbeiterklasse erfährt, wie Rosa Luxemburg unterstrich: „Desgleichen liegt viel Übertreibung in der Vorstellung, als habe der Proletarier im Zarenreich vor der Revolution durchweg auf dem Lebensniveau eines Paupers gestanden. Gerade die jetzt im ökonomischen wie im politischen Kampfe tätigste und eifrigste Schicht der grossindustriellen, grossstädtischen Arbeiter stand in bezug auf ihr materielles Lebensniveau kaum viel tiefer als die entsprechende Schicht des deutschen Proletariats, und in manchen Berufen kann man in Russland gleiche, ja hier und da selbst höhere Löhne finden als in Deutschland. Auch in bezug auf die Arbeitszeit wird der Unterschied zwischen den grossindustriellen Betrieben hier und dort kaum ein bedeutender sein. Somit sind die Vorstellungen, die mit einem vermeintlich materiellen und kulturellen Helotentum der russischen Arbeiterschaft rechnen, ziemlich aus der Luft gegriffen. Dieser Vorstellung müsste bei einigem Nachdenken schon die Tatsache der Revolution selbst und der hervorragenden Rolle des Proletariats in ihr widersprechen. Mit Paupers werden keine Revolutionen von dieser politischen Reife und Gedankenklarheit gemacht, und der im Vordertreffen des Kampfes stehende Petersburger und Warschauer, Moskauer und Odessaer Industriearbeiter ist kulturell und geistig dem westeuropäischen Typus viel näher, als sich diejenigen denken, die als die einzige und unentbehrliche Kulturschule des Proletariats den bürgerlichen Parlamentarismus und die regelrechte Gewerkschaftspraxis betrachten.“[5] Es trifft zu, dass die Entwicklung des Kapitalismus in Russland auf einer brutalen Ausbeutung der Arbeiter basierte, mit langen Arbeitstagen und schlimmen Arbeitsbedingungen, die an das frühe 19. Jahrhundert in Grossbritannien erinnerten. Doch der Arbeiterkampf entwickelte sich schnell im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert.

Diese Entwicklungen konnten insbesondere in den Putilow-Werken in St. Petersburg betrachtet werden, welche Waffen herstellten und Schiffe bauten. Die Werke beschäftigten Zigtausende von Arbeitern und waren fähig, Waren auf einem Niveau herzustellen, das sie in die Lage versetzte, mit ihren entwickelteren Rivalen zu konkurrieren. Die Arbeiter dort entwickelten eine Tradition der Militanz und standen im Mittelpunkt der revolutionären Kämpfe sowohl von 1905 als auch von 1917. Auch wenn die Putilow-Werke mit ihrem Niveau hervorstachen, waren sie dennoch Bestandteil eines allgemeineren Trends zur Entwicklung grösserer Fabriken, die überall in Russland entstanden. Zwischen 1863 und 1891 stieg die Zahl der Fabriken im europäischen Russland von 11.810 auf 16.770, ein Anstieg um ungefähr 42 Prozent, während die Zahl der Arbeiter von 357.800 auf 738.100 anstieg, eine Zunahme von ungefähr 106 Prozent.[6] In Regionen wie St. Petersburg ging die Zahl der Fabriken de facto zurück, während die Zahl der Arbeiter anstieg, was auf einen noch stärkeren Trend zur Konzentration der Produktion und somit des Proletariats hinweist.[7]

Die Lage der Eisenbahnarbeiter in Russland stützte Luxemburgs Argument hinsichtlich der Stellung der entwickeltsten Teile der russischen Arbeiterklasse. Auf materieller Ebene hatten sie einige bedeutende Errungenschaften erzielt: Zwischen 1885 und 1895 stiegen die Reallöhne bei den Eisenbahnen durchschnittlich um 18 Prozent, obwohl dieser Durchschnitt die grossen Lohnunterschiede zwischen Arbeitern mit verschiedenen Tätigkeiten und in unterschiedlichen Regionen des Landes verdeckte. Auf der kulturellen Ebene gab es eine Tradition des Kampfes, die bis in die 1840er und 1850er Jahre zurückreichte, als zunächst Leibeigene für den Eisenbahnbau rekrutiert wurden. Mit dem letzten Viertel des Jahrhunderts wurden die Eisenbahnarbeiter zu einem zentralen Bestandteil des städtischen Proletariats mit einer bedeutenden Kampferfahrung: Zwischen 1875 und 1884 gab es 29 „Zwischenfälle“ und im folgenden Jahrzehnt 33. Als sich die Löhne und Arbeitsbedingungen nach 1895 zu verschlechtern begannen, stellten sich die Eisenbahnarbeiter dieser Herausforderung: „... zwischen 1895 und 1904 war die Zahl der Eisenbahnstreiks dreimal höher als in den vorherigen zwei Jahrzehnten zusammengenommen (...) Die Streiks der späten 1890er Jahre waren entschiedener und weniger defensiv (...) Nach 1900 antworteten die Arbeiter auf das Einsetzen der Wirtschaftskrise mit wachsend militantem Widerstand, bei dem die Metallarbeiter der Eisenbahnen oft in Übereinstimmung mit Handwerkern aus der privaten Industrie handelten, und politische Agitatoren, zumeist Sozialdemokraten, machten bedeutende Fortschritte.“[8] In der Revolution von 1905 sollten die Eisenbahnarbeiter eine Hauptrolle spielen, indem sie ihr Geschick und ihre Erfahrung in den Dienst der gesamten Arbeiterklasse stellten und darauf drängten, den Kampf auszuweiten und von den Streiks zum Aufstand überzugehen. Dies war kein Kampf von Pauperisierten, die durch den Hunger zum Aufruhr getrieben wurden, oder von Bauern in Arbeitermontur, sondern von einem vitalen und klassenbewussten Teil der internationalen Arbeiterklasse. Erst vor diesem Hintergrund gemeinsamer Bedingungen und Kämpfe kamen die besonderen Aspekte der Situation in Russland, der Krieg mit Japan im Ausland und die politische Repression zuhause, zur Geltung.

 

Die Kriegsfrage

 

Der Russisch-Japanische Krieg von 1904-05 war eine Folge der imperialistischen Rivalität zwischen diesen beiden neuen kapitalistischen Ländern am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Konfrontation entzündete sich während der 1890er Jahre über die Frage des Einflusses in China und Korea. Zu Beginn des Jahrzehnts wurden die Arbeiten an der Transsibirischen Eisenbahn begonnen, die Russland den Zugang zur Mandschurei ermöglichen sollte, während Japan seine Wirtschaftsinteressen in Korea ausbaute. Die Spannungen zwischen beiden Rivalen wuchsen das ganze Jahrzehnt hindurch, als Russland Japan zwang, sich von seinen Positionen auf dem Festland zurückzuziehen. Und sie spitzten sich zu, als Russland begann, seine eigenen Interessen in Korea zu verfolgen. Japan schlug vor, dass die beiden Länder sich darauf einigen sollten, ihre gegenseitigen Einflusszonen zu respektieren. Nachdem Russland es versäumt hatte zu antworten, startete Japan im Januar 1904 einen Überraschungsangriff gegen Port Arthur. Zunächst schien der Ausgang des Krieges angesichts der riesigen Ungleichheit zwischen den Streitkräften der beiden Widersacher eine klare Sache zu sein, und so wurde der Kriegsausbruch in Russland anfangs mit einem Ausbruch an patriotischer Inbrunst, mit Denunziationen der „frechen Mongolen“ und Studentendemonstrationen zur Unterstützung des Kriegseintritts begrüsst. Doch es kam nicht zum schnellen Sieg. Die Transsibirische Eisenbahn war noch nicht fertiggestellt, so dass die Truppen nicht schnell zur Front transportiert werden konnten. Die russische Armee wurde zurückgeschlagen; im Mai war die Garnison abgeschnitten und die russische Flotte, die zu ihrer Hilfe entsandt wurde, zerstört. Und am 20. Dezember, nach 156tägiger Belagerung, fiel Port Arthur. Auf militärischer Ebene war der Krieg einmalig. Millionen von Soldaten wurden ins Feld geschickt; 1,2 Millionen Reservisten wurden in Russland ausgehoben. Die Industrie konzentrierte sich auf den Krieg, was zu Konjunktureinbrüchen und zur Vertiefung der Wirtschaftskrise führte. In der Schlacht von Mukden im März 1904 kämpften 600.000 Soldaten zwei Wochen lang, 16.000 von ihnen fielen. Es war die grösste Schlacht in der Geschichte und eine erste Andeutung dessen, was 1914 kommen sollte. Der Fall von Port Arthur bedeutete den Verlust der russischen Pazifikflotte und eine Demütigung der Autokratie. Lenin verwies auf die weitergehende Bedeutung dieser Ereignisse: „Aber der militärischen Katastrophe, von der die Selbstherrschaft ereilt wurde, kommt noch grössere Bedeutung zu als Symptom für den Zusammenbruch unseres ganzen politischen Systems. Unwiederbringlich sind die Zeiten dahin, als die Kriege von Söldnern oder den Angehörigen einer vom Volk halb losgelösten Kaste geführt wurden. (...) Die Kriege werden jetzt von den Völkern geführt, und darum tritt heute besonders deutlich eine grosse Eigenschaft des Krieges hervor: dass er vor den Augen von Million und aber Millionen Menschen handgreiflich jenes Missverhältnis zwischen Volk und Regierung aufdeckt, das bis dahin nur einer kleinen bewussten Minderheit sichtbar war. Die Kritik, die von allen fortgeschrittenen russischen Menschen, von der russischen Sozialdemokratie, vom russischen Proletariat an der Selbstherrschaft geübt wurde, ist jetzt durch die Kritik der japanischen Waffen bestätigt worden, so sehr bestätigt worden, dass die Unmöglichkeit, unter der Selbstherrschaft zu leben, sogar von denen immer mehr empfunden wird, die nicht wissen, was die Selbstherrschaft bedeutet, sogar von denen, die das wissen, aber von ganzer Seele die Selbstherrschaft aufrechterhalten möchten. Die Unvereinbarkeit der Selbstherrschaft mit den Interessen der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung, mit den Interessen des ganzen Volkes (abgesehen von einem Häuflein Beamten und Magnaten) kam an den Tag, sobald das Volk in der Tat, mit seinem Blut, die Rechnung für die Selbstherrschaft begleichen musste. Durch ihr dummes und verbrecherisches Kolonialabenteuer ist die Selbstherrschaft in eine Sackgasse geraten, aus der nur das Volk selbst den Ausweg bahnen kann, und zwar nur durch die Vernichtung des Zarismus.“[9]

In Polen waren die ökonomischen Folgen des Krieges angesichts von 25 bis 30 % der Warschauer Arbeiter, die ihre Arbeit verloren hatten, und von 30 bis 50%igen Lohneinbussen katastrophal. Im Mai 1904 gab es Zusammenstösse zwischen Arbeitern und Polizei, wobei Kosaken Letztere verstärkten. Der Krieg fing an, zunehmend eine starke Opposition zu hervorzurufen. Während des Blutigen Sonntags, als die Truppen die Arbeiter, die gekommen waren, um an den Zaren zu appellieren, niederzumetzeln begannen, „haben die Arbeiter von Petersburg nicht umsonst den Offizieren zugerufen, sie kämpften gegen das russische Volk erfolgreicher als gegen die Japaner“[10] Später rebellierten einige Teile des Militärs gegen ihre Lage und begannen, auf die Seite der Arbeiter zu treten: „Die Moral der Soldaten war durch die Niederlagen im Osten und durch die offenkundige Unfähigkeit ihrer Führer auf einen Tiefstand gesunken. Gesteigert wurde die Unzufriedenheit durch das Sträuben der Regierung, ihr Versprechen einer schnellen Demobilisierung zu erfüllen. Das Resultat waren Meutereien in vielen Regimentern und gelegentlich offene Feldschlachten. Berichte über Unruhen solcher Art kamen aus weit weg liegenden Gegenden wie Grodno, Samara, Rostow und Kursk, aus Rembertow nahe Warschau, aus Riga in Lettland und Vyborg in Finnland, aus Wladiwostok und Irkutsk.

Im Herbst hatte auch die revolutionäre Bewegung in der Marine an Stärke gewonnen, mit der Folge, dass im Oktober eine Meuterei in der Marinebasis von Kronstadt im Baltikum losbrach, die nur unter Einsatz von Gewalt niedergeschlagen werden konnte. Ihr folgte umgehend eine weitere Meuterei in der Schwarzmeerflotte in Sebastopol, die an einem bestimmten Punkt drohte, die Kontrolle über die ganze Stadt zu übernehmen.“[11]

In ihrem Appell an die Arbeiterklasse im Mai 1905 zogen die Bolschewiki die Frage des Kriegs und der Revolution zu einer einzigen zusammen: „Genossen! Wir stehen jetzt in Russland am Vorabend grosser Ereignisse. Wir haben den letzten erbitterten Kampf gegen die absolutistische Zarenregierung aufgenommen, und wir müssen diesen Kampf bis zum siegreichen Ende führen. Seht, welches Unglück diese Regierung der Wüteriche und Tyrannen, die Regierung der käuflichen Zarenhöflinge und der Steigbügelhalter des Kapitals über das ganze russische Volk gebracht hat! Die Zarenregierung hat das russische Volk in den wahnwitzigen Krieg gegen Japan getrieben. Hunderttausende junge Menschenleben sind dem Volk entrissen und im Fernen Osten zugrunde gerichtet worden. Es fehlen einem die Worte, um all die Leiden zu beschreiben, die dieser Krieg mit sich bringt. Und worum geht es in diesem Krieg? Um die Mandschurei, die unsere räuberische Zarenregierung China weggenommen hat. Um fremdes Land wird russisches Blut vergossen und unser Land ruiniert. Immer schwerer wird das Leben des Arbeiters und des Bauern, immer fester ziehen ihnen Kapitalisten und Beamte die Schlinge um den Hals, die Zarenregierung aber schickt das Volk aus, fremdes Land zu rauben. Die unfähigen zaristischen Generale und die käuflichen Beamten haben die russische Flotte der Vernichtung preisgegeben, haben Hunderte und Tausende von Millionen Volksvermögen verschleudert, haben ganze Armeen verloren - der Krieg aber wird weiter fortgesetzt und fordert immer neue Opfer. Das Volk wird ruiniert, Industrie und Handel kommen zum Erliegen, Hunger und Cholera drohen auszubrechen, die absolutistische Zarenregierung aber geht in sturer Verblendung den alten Weg: Sie ist bereit, Russland zugrunde gehen zu lassen, wenn nur das Häuflein der Wüteriche und Tyrannen gerettet wird, sie beginnt neben dem Krieg gegen Japan einen zweiten Krieg - den Krieg gegen das ganze russische Volk.“[12]

 

Staatliche Unterdrückung

 

Der Krieg diente auch dazu, von der Kampagne abzulenken, die gegen die repressive Polizei der Autokratie angewachsen war. Im Dezember 1903 soll Innenminister Plehwe, so wird berichtet, gesagt haben: „Um eine Revolution zu verhindern, brauchen wir einen kleinen erfolgreichen Krieg.“[13] Die Macht der Autokratie wurde nach dem Attentat auf Zar Alexander II. gestärkt, das 1881 Mitglieder der Gruppe Volkswille verübten, die sich dem Gebrauch des Terrorismus gegen die Autokratie verschrieben hatte.[14] Neue „Notstandsmassnahmen“ wurden eingeführt, um jegliche politische Handlung ausser Gesetz zu stellen, und weit davon entfernt, eine Ausnahme zu sein, wurden sie zur Regel: „Man kann durchaus sagen (...), dass zu keiner Zeit zwischen der Bekanntmachung der Statuten vom 14. August 1881 und dem Sturz der Dynastie im März 1917 die ‚Notstandsmassnahmen‘ nicht in irgendeinem Teil des Landes – und oftmals in grösseren Teilen von ihm – in Kraft waren.“[15] Unter dem „strengeren Recht“ dieser Massnahmen konnten die Gouverneure der davon betroffenen Gebiete Leute drei Monate lang ohne jeden Prozess einsperren, jegliche Versammlungen, ob privat oder öffentlich, verbieten, Fabriken und Geschäfte schliessen sowie Menschen in weit von der Heimat entfernte Gebiete deportieren. Das „Ausserordentliche Dekret“ stellte das betroffene Gebiet faktisch unter Militärrecht, mit willkürlichem Arrest, Inhaftierung und Geldstrafen. Der Einsatz von Soldaten gegen Streiks und Arbeiterproteste wurde allgemein üblich, und viele Arbeiter wurden im Kampf niedergeschossen. Die Zahl der Insassen von Gefängnissen und Strafkolonien wuchs, so wie die Zahl der in entfernte Gebiete des Landes Verbannten.

In dieser Periode stieg der Anteil von Arbeitern beständig an, die wegen Staatsverbrechen angeklagt wurden. Zwischen 1884 und 1890 bestand gerade einmal ein Viertel der Angeklagten aus Handarbeitern; 1901 bis 1903 stieg ihr Anteil auf drei Fünftel. Dies spiegelte den Wandel in der revolutionären Bewegung von einer von Intellektuellen dominierten zu einer aus Arbeitern zusammengesetzten Bewegung wider. Wie ein Gefängniswärter Berichten zufolge kommentiert haben soll: „Wie kommt es, dass immer mehr politische Bauern hierher gebracht werden? Früher waren es Herren, Studenten und junge Damen, doch nun ist es der graue bäuerliche Arbeiter wie wir.“ [16]

Abgesehen von diesen formellen, „legalen“ Formen der Unterdrückung benutzte der russische Staat zwei wenig schmeichelhafte Formen. Auf der einen Seite ermutigte der Staat die Entwicklung von Antisemitismus, indem er sich gegenüber den Pogromen und Massakern blind stellte und gleichzeitig sicherstellte, dass die Organisationen, die die schmutzige Arbeit taten, wie die Union des Russischen Volkes, besser bekannt als die Schwarzhundertschaften, offen vom Zaren unterstützt wurden und seinen Schutz genossen. Revolutionäre wurden als Teil eines organisierten jüdischen Komplotts zur Machtübernahme denunziert. Diese Strategie sollte auch gegen die Revolution von 1905 verwendet werden und auch danach die Arbeiter und Bauern verfolgen.

Auf der anderen Seite trachtete der Staat danach, die Arbeiter friedlich zu stimmen, indem er eine Reihe von „Polizeigewerkschaften“ schuf, die von Leutnant Subatow angeführt wurden. Diese Gewerkschaften waren dazu bestimmt, die revolutionären Leidenschaften der Arbeiterklasse in die Grenzen der unmittelbaren ökonomischen Forderungen zu zwängen, doch die Arbeiter in Russland stiessen zunächst gegen diese Grenzen, um sie dann 1905 zu überrennen. Lenin argumentierte, dass die politische Situation in Russland, wo „die Arbeiter, die einen ökonomischen Kampf führen, nachdrücklich auf die politischen Fragen ‚gestossen‘[17] werden, bedeutete, dass die Arbeiterklasse von diesen Gewerkschaften Gebrauch machen konnten, solange diese Fallen, die von der herrschenden Klasse für sie aufgestellt wurden, von den Revolutionären aufgedeckt wurden. „In diesem Sinne können und müssen wir zu den Subatow und den Oserow sagen: Macht nur weiter, ihr Herren, macht nur weiter! Soweit ihr den Arbeitern (...) eine Falle stellt, werden wir für eure Entlarvung sorgen. Soweit ihr einen Schritt vorwärts tut – wenn auch nur in der Form eines ‚schüchternen Zickzacks‘, aber immerhin einen Schritt vorwärts -, werden wir sagen: Bitte sehr! Ein wirklicher Schritt vorwärts kann nur eine tatsächliche, wenn auch nur winzige Ellenbogenfreiheit für die Arbeiter sein. Und jede solche Erweiterung wird für uns von Nutzen sein und die Entstehung legaler Vereine beschleunigen, in denen nicht die Lockspitzel Sozialisten fangen, wohl aber die Sozialisten sich Anhänger fangen werden.“[18] In der Tat waren es nicht die Gewerkschaften, die zunächst 1905, schliesslich 1917 gestärkt wurden, sondern eine neue Organisation, die der revolutionären Aufgabe entsprach, ehe das Proletariat dafür geschaffen wurde: die Sowjets.

 

Bewaffnete Konfrontation mit dem Staat

 

Während die oben genannten Faktoren helfen zu erklären, warum die Ereignisse von 1905 in Russland stattfanden, geht die wahre Bedeutung dieser Ereignisse weit über Russland hinaus. Worin liegt die Bedeutung von 1905? Was macht 1905 aus?

Eine Auffälligkeit von 1905 war die Entwicklung bewaffneter Kämpfe im Dezember. Trotzki liefert eine eindrucksvolle Darstellung des Kampfes, der in Moskau stattfand, als in den Arbeiterbezirken Barrikaden zur Verteidigung gegen die zaristischen Truppen errichtet wurden, während die sozialdemokratische Kampforganisation einen Guerillakrieg in den Strassen und Häusern ausfocht: „Im folgenden das Bild eines der ersten Gefechte. Durch die Strasse zieht eine georgische Kampfgruppe – eine der verwegensten. Die 24 Mann schreiten ganz offen in Paaren einher. Die Menge warnt sie, dass 16 Dragoner unter Anführung eines Offiziers im Anzuge sind. Die Schützen ordnen sich und schlagen ihre Mausergewehre an. Kaum wird die Patrouille sichtbar, als sie auch schon von der einer Salve in Empfang genommen wird. Der Offizier ist verwundet, die vordersten Pferde bäumen sich, die Reiter geraten in Verwirrung, so dass die Soldaten von ihren Karabinern keinen Gebrauch machen können. Inzwischen geben die revolutionären Schützen etwa hundert Schüsse ab und schlagen die Soldaten, die mehrere Tote und Verwundete zurücklassen, regelrecht in die Flucht. ‚Jetzt aber fort‘, mahnt die Menge, ‚gleich kommt ein Geschütz.‘ Und in der Tat erscheint bald darauf Artillerie auf der Bildfläche. Sofort nach der ersten Salve fallen zahlreiche Tote und Verwundete aus der wehrlosen Menge, die nicht erwartet hat, dass man auf sie schiessen werde. Zu derselben Zeit sind aber die Georgier längst über alle Berge und machen an einer neuen Stelle dem Militär hart zu schaffen... Den Schützen ist nicht beizukommen, weil sie der dichte Panzer der allgemeinen Sympathie unverwundbar macht.“[19] Dennoch ist es nicht der bewaffnete Kampf, gleichgültig, wie mutig, der 1905 auszeichnete. Der bewaffnete Kampf ist in der Tat ein Ausdruck des Kampfes um die Macht zwischen den Klassen, doch er kennzeichnet die letzte Phase, entsteht, wenn das Proletariat sich mit dem Erfolg des Gegenangriffs der herrschenden Klasse konfrontiert sah. Zunächst versuchten die Arbeiter, die Truppen für sich zu gewinnen, doch die bewaffneten Zusammenstösse häuften sich allmählich und wurden blutiger. Der bewaffnete Kampf war eher ein Versuch, die Arbeiterbezirke zu verteidigen, denn die Revolution auszubreiten. Zwölf Jahre später, als die Arbeiterklasse erneut mit dem Militär zusammenstiess, war es ihr erfolgreiches Bemühen, bedeutende Teile der Armee und Marine für sich zu gewinnen, der das Überleben und den Fortschritt der Revolution sicherte.

Darüber hinaus haben bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie eine lange Geschichte. Die frühen Jahre der Arbeiterbewegung in Grossbritannien waren von gewalttätigen Zusammenstössen gekennzeichnet. Beispielsweise gab es 1800 und 1801 eine Welle von Hungerrevolten, von denen einige im Voraus geplant zu sein schienen, mit gedruckten Handblättern, die die Arbeiter dazu aufriefen, sich zu versammeln. Ein Jahr später gab es Berichte über Arbeiter, die nicht nur mit Spiessen, sondern auch mit Geheimorganisationen ausgerüstet waren, welche die Revolution ausheckten. Im folgenden Jahrzehnt breiteten sich, als Antwort auf die Verarmung von Tausenden von Webern, die Ludditen und deren „Army of Redressers“ („Armee der Wiederhersteller“) aus, um den eigentlichen Namen dieser Organisation zu verwenden. Einige Jahre später hegte die „Physical Force Army“ der Chartisten Aufstandspläne. Die Pariser Kommune von 1871 zeigte, wie die gewaltsame Konfrontation zwischen den Klassen offen ausbrach. In Amerika provozierte die brutale Ausbeutung, die mit der rapiden Industrialisierung des Landes einher ging, gewaltsamen Widerstand, wie im Falle der Molly Maguires, die darauf spezialisiert waren, Fabrikbosse zu töten, und Streiks in bewaffnete Konflikte verwandelten.[20] Das Einzigartige an 1905 war nicht die bewaffnete Konfrontation, sondern die Organisation des Proletariats auf einer Klassengrundlage, um seine allgemeinen Ziele zu erlangen. Dies mündete in einem Typ von Organisation, dem Sowjet, mit neuen Zielen, der die Gewerkschaften notwendigerweise überflüssig machte.

 

Die Rolle der Sowjets

 

In einer der ersten und wichtigsten Untersuchungen der Sowjets vertritt Oskar Anweiler „die der Wirklichkeit näher stehende Ansicht (…), dass die Sowjets von 1905 und auch die von 1917 sich lange Zeit völlig unabhängig von der bolschewistischen Partei und Ideologie entwickelt haben und ihr Ziel keineswegs von vornherein die Eroberung der Staatsgewalt gewesen ist“.[21] Dies ist eine akkurate Einschätzung der ersten Phase der Sowjets, aber bezogen auf die späteren Stufen wäre es falsch zu suggerieren, dass die Arbeiterklasse damit zufrieden gewesen wäre, weiterhin Pater Gapon hinterher zu marschieren und an ihr „Väterchen Zar“ zu appellieren. Zwischen Januar und Dezember 1905 hat sich etwas verändert. Zu verstehen, was sich geändert und wie es sich verändert hat, ist der Schlüssel zum Verständnis von 1905.

Im ersten Artikel betonten wir den spontanen Charakter der Revolution. Die Streiks von Januar, Oktober und Dezember schienen aus dem Nichts zu kommen und wurden durch scheinbar bedeutungslose Ereignisse ausgelöst, wie die Entlassung zweier Arbeiter aus einer Fabrik. Die Handlungen überwältigten selbst die meisten Scheinradikalen der Gewerkschaften: „Am 12. Oktober begann es in den Werkstätten der Moskau-Kursker- und der Moskau-Kasan-Bahn zu gären. Diese beiden Bahnen sind bereit, schon am 14. Oktober die Kampagne zu eröffnen. Sie werden jedoch vom Eisenbahnverband zurückgehalten, der sich von partiellen Streiks im gegenwärtigen Augenblick keinen Erfolg verspricht. Gestützt auf die Erfahrung der Februar-, April- und Juli-Streiks auf einzelnen Bahnstrecken, bereitete er einen allgemeinen Eisenbahnerstreik zur Zeit der Einberufung der Reichsduma vor. Doch die Gärung hält an. Schon am 3. Oktober waren die Delegierten der Eisenbahner zu einer offiziellen Beratung über die Frage der Pensionskassen in Petersburg zusammengetreten. Diese Versammlung erweiterte nun eigenmächtig den engen Rahmen ihrer Kompetenz und verwandelte sich unter dem Beifall der ganzen Eisenbahnerwelt zu einem unabhängigen gewerkschaftlich-politischen Kongress. Von allen Seiten liefen Begrüssungen und Zustimmungskundgebungen bei dem Kongress ein - die Gärung im Volke erhielt ständig neue Nahrung, sie wuchs mehr und mehr, und der Gedanke, unverzüglich einen allgemeinen Eisenbahnerstreik zu inszenieren, tritt im Moskauer Knotenpunkt immer stärker hervor.“[22]

Die Sowjets entwickelten sich auf einem Fundament, das über den Rahmen der Gewerkschaften hinausging. Die erste Körperschaft, die als Sowjet klassifiziert werden kann, tauchte in Iwanow-Wosnesensk in Zentralrussland auf. Am 12. Mai brach in einer Fabrik jener Stadt, die als das russische Manchester berüchtigt war, ein Streik aus; binnen weniger Tage waren alle Fabriken geschlossen und 32.000 Arbeiter im Ausstand. Auf Anregung eines Fabrikinspektors wurden Delegierte gewählt, um die Arbeiter in Gesprächen zu repräsentieren. Die Delegiertenversammlung, aus 110 Arbeitern zusammengesetzt, traf sich regelmässig in den darauffolgenden Wochen. Ihre Absicht war es, den Streik zu führen, separate Aktionen und Verhandlungen zu vermeiden, die Ordnung und das organisierte Verhalten der Arbeiter sicherzustellen sowie die Arbeit nur auf ihre Anweisung wieder aufnehmen zu lassen. Der Sowjet unterbreitete eine Reihe von sowohl ökonomischen als auch politischen Forderungen, einschliesslich denjenigen nach Achtstundentag, höheren Minimallöhnen, Krankheitsgeld, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Sie bildete sodann eine Arbeitermiliz, um die Arbeiterklasse vor Angriffen der Schwarzhundertschaften zu schützen, Zusammenstösse zwischen Streikenden und jenen zu vermeiden, die noch arbeiteten, und um mit den Arbeitern in entfernteren Gebieten in Kontakt zu bleiben. Die Behörden willigten angesichts der organisierten Stärke der Arbeiterklasse zunächst ein, doch Ende des Monats begannen sie mit dem Verbot der Miliz zu reagieren. Anfang Juni wurde eine Massenversammlung durch Kosaken angegriffen, die einige Arbeiter töteten und andere festnahmen. Die Lage spitzte sich gegen Ende des Monats in Gestalt von Unruhen und weiteren Zusammenstössen mit den Kosaken weiter zu. Im Juli gab es einen neuen Streik, der 10.000 Arbeiter umfasste, aber nach drei Monaten niedergeschlagen wurde. Der einzig sichtbare Erfolg war eine Reduzierung der Arbeitszeit.

Schon in diesen ersten Gehversuchen wird der fundamentale Charakter der Sowjets deutlich: eine Vereinheitlichung der ökonomischen und politischen Interessen der Arbeiterklasse, die, da die Sowjets die Arbeiter auf einer Klassenbasis und nicht auf einer gewerkschaftlichen Grundlage vereinen, unvermeidlich dazu neigt, mit fortschreitender Zeit immer politischer zu werden, was zu einer Konfrontation zwischen der etablierten Macht der Bourgeoisie und der aufkommenden Macht des Proletariats führt. Dass die Frage der Arbeitermiliz im Mittelpunkt des Sowjets von Iwanow-Wosnesensk stand, hatte weniger mit der unmittelbaren militärischen Bedrohung, die sie darstellte, zu tun als vielmehr damit, dass sie die Frage der Klassenmacht stellte.

Diese Tendenz zur Bildung von rivalisierenden Mächten zieht sich durch den ganzen Bericht Trotzkis über 1905 und stellte sich ab 1917 nachdrücklich angesichts der herrschenden Situation der Doppelherrschaft: „Wenn der Staat die Organisation der Klassenherrschaft ist, die Revolution aber die Ablösung der herrschenden Klasse, so muss der Übergang der Macht von der einen Klasse zur anderen notwendigerweise widerspruchsvolle Staatszustände schaffen, vor allem in Form der Doppelherrschaft. Das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen ist keine mathematische Grösse, die sich von vornherein berechnen lässt. Wenn das alte Regime aus dem Gleichgewicht geschleudert ist, kann das neue Kräfteverhältnis sich nur als Resultat ihrer gegenseitigen Nachprüfung im Kampf ergeben. Das eben ist die Revolution.“[23] Zwar trat die Situation der Doppelherrschaft 1905 noch nicht ein, doch die Frage stellte sich von Anfang an: „Der Rat stand von dem Moment seines Entstehens bis zum Augenblicke seines Untergangs unter dem mächtigen Drucke der revolutionären Elementargewalt (...) Jeder Schritt der Arbeitervertretung war im voraus bestimmt und die „Taktik“ war klar. Kampfmethoden brauchten nicht beraten zu werden, man hatte kaum genügend Zeit, sie unter eine Formel zu bringen.“[24] Dies ist die wesentliche Qualität der Sowjets und unterscheidet sie von den Gewerkschaften. Die Gewerkschaften sind eine Waffe im Kampf des Proletariats innerhalb des Kapitalismus; die Sowjets sind eine Waffe in seinem Kampf gegen den Kapitalismus. Im Grunde stehen beide insofern nicht in einem Gegensatz zueinander, als beide aus den objektiven Bedingungen des Klassenkampfes ihrer Zeit entstanden sind und sich in einer Kontinuität befinden, solange sie für die Interessen der Arbeiterklasse kämpfen. Doch sie gerieten in einen Gegensatz, als die gewerkschaftliche Form weiter existierte, obwohl ihr Klasseninhalt – ihre Rolle bei der Organisierung der Klasse und der Entwicklung ihres Bewusstseins – in die Sowjets übergegangen war. 1905 trat dieser Gegensatz noch nicht offen zutage; Sowjets und Gewerkschaften konnten noch nebeneinander existieren und sich bis zu einem gewissen Umfang gegenseitig stärken. Dennoch existierte er insofern hintergründig, als die Sowjets die Gewerkschaften aushebelten.

Die Massenstreiks, die sich im Oktober 1905 ausbreiteten, führten zur Schaffung vieler weiterer Sowjets, mit dem Sowjet von St. Petersburg an der Spitze. Alles in allem konnten zwischen 40 und 50 Sowjets sowie einige Bauern- und Soldatensowjets ausgemacht werden. Anweiler betont ihre ungleiche Herkunft: „Sie entstanden teilweise in Anknüpfung an ältere Organisationen, wie Streikkomitees oder Deputiertenversammlungen, oder unmittelbar durch die Initiative der sozialdemokratischen Parteiorganisationen, die dann einen erheblichen Einfluss im Sowjet ausübten. Häufig waren die Grenzen zwischen einem einfachen Streikkomitee und einem ausgebildeten Arbeiterdeputiertenrat fliessend, und nur in den Hauptzentren der Revolution und der Arbeiterschaft, wie (ausser Petersburg) Moskau, Odessa, Novorossijsk, im Donaubecken, gewannen die Räte eine ausgeprägte organisatorische Gestalt.“[25] Dies mag objektiv zutreffen, schmälert jedoch in keiner Weise ihre Bedeutung als direkte Ausdrücke des revolutionären Kampfes des Proletariats. In ihrer Neuheit wuchsen und schrumpften sie mit den Gezeiten der Revolution: „Die Stärke des Petersburger und der anderen Sowjets lag in dieser revolutionären Verfassung der Massen, in der Unsicherheit der Regierung. In der politischen Hochstimmung der ‚Freiheitstage’ antwortete die Arbeiterschaft bereitwillig auf den Ruf ihres selbstgewählten Organs; sobald sie nachliess und an ihre Stelle Müdigkeit und Enttäuschung traten, verloren auch die Sowjets an Einfluss und Autorität.“[26]

Die Sowjets und die Massenstreiks entstanden aus den objektiven Bedingungen der Arbeiterexistenz, so wie die Gewerkschaften vor ihnen: „Der Arbeiter-Delegiertenrat entstand als die Erfüllung eines objektiven, durch den Gang der Ereignisse erzeugten Bedürfnisses nach einer Organisation, die die Autorität darstellen könnte, ohne Traditionen zu haben, einer Organisation, die mit einem Male die zerstreuten, nach Hunderttausenden zählenden Massen umfassen könnte, ohne ihnen viele organisatorische Hemmungen aufzuerlegen, nach einer Organisation, die die revolutionären Strömungen innerhalb des Proletariats vereinigen, die einer Initiative fähig und automatisch sich selbst kontrollieren könnte und, was die Hauptsache ist, einer Organisation, die man innerhalb 24 Stunden ins Leben rufen könnte.“[27] Aus diesem Grund ist die Form der Sowjets bzw. Arbeiterräte im Jahrhundert nach 1905 immer wieder aufgetaucht, sobald die Arbeiterklasse in die Offensive ging: „Die Bewegung in Polen beweist durch ihren Massencharakter, ihre Schnelligkeit, ihre Ausweitung über die Kategorien und Regionen hinaus nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die Möglichkeit der Generalisierung und Selbstorganisation des Kampfes.“[28] „(...) der übliche Gebrauch der Propaganda durch die Behörden basierte auf einer massiven und systematischen Verzerrung der Realität. Die totalitäre Kontrolle aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durch den Staat zwang die polnischen Arbeiter dazu, ein Ausmass an Selbstorganisation zu entwickeln, das im Vergleich mit dem, was in früheren Kämpfen erreicht wurde, einen immensen Schritt nach vorn darstellt.“[29]

 

North, 14. Juni 2005

 

Diese Artikelserie wird in der nächsten Ausgabe der Internationalen Revue fortgesetzt und in Gänze auf unserer Website veröffentlicht. Die nächste Folge wird sich insbesondere mit den folgenden Themen befassen:

Der Petersburger Sowjet war der Höhepunkt der Revolution von 1905; er ist der vollständigste Ausdruck des Charakters des Sowjets als einer Waffe des revolutionären Kampfes: ein Ausdruck des Kampfes selbst, mit Blick auf seine Weiterentwicklung durch die Organisierung der gesamten Arbeiterklasse.

Die revolutionäre Praxis der Arbeiterklasse klärte die Gewerkschaftsfrage, lange bevor sie theoretisch begriffen wurde. Als sich 1905 Gewerkschaften bildeten, neigten sie dazu, über ihren ursprünglichen Zweck hinauszugehen, da sie vom revolutionären Strom mitgerissen wurden. Nach 1905 zerfielen sie schnell, und 1917 war die Arbeiterklasse in ihrem Kampf gegen den Kapitalismus erneut in den Sowjets organisiert.

Der Gedanke, die Revolution von 1905 sei das Ergebnis der Rückständigkeit Russlands, hat, obwohl falsch, auch heute ein gewisses Gewicht. Gegen diese Idee verwiesen sowohl Lenin als auch Trotzki auf den tatsächlichen Entwicklungsgrad des russischen Kapitalismus.


[1] Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Kap. I.

[2] Leo Trotzki, Die Revolution von 1905, Kap. 22: Die Bilanz der Revolution.

[3] Die Internationale Arbeiterbewegung, Bd. 2, Kap. 8, Progress Publishers, Moskau, 1976.

[4] siehe unsere Artikel, Was ist revolutionärer Syndikalismus? und Der Anarchosyndikalismus angesichts eines Epochenwandels: die CGT bis 1914, in: Internationale Revue Nr. 118 und Nr 120 (engl./franz./span. Ausgabe).

[5] R. Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in: Werke Bd. 2 Kap. 5.

[6] W.I. Lenin, Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland, in: Werke Bd. 3, Anhang II.

[7] ebenda, Anhang III.

[8] Henry Reichman, Railways and revolution, Russia 1905,  in: University of California Press, 1987 (eigene Übersetzung).

[9] W.I. Lenin, Der Fall von Port Arthur, Werke Bd. 8 S. 37 f.

[10] W.I.Lenin, Revolutionstage, Kapitel 8. Die Zahl der Toten und Verwundeten, in: Werke Bd. 8 S. 109.

[11] David Floyd, Russia in Revolt, Kap. 6 (eigene Übersetzung).

[12] W. I. Lenin, Der 1. Mai, in: Werke Bd. 8 S. 343 ff.

[13] Ein aktuelleres Werk widerspricht dieser Ansicht und argumentiert, dass diese Aussage „bloss zeigt, dass (...) Plehwe keinen Einwand dagegen zu haben schien, in den Krieg gegen Japan zu ziehen, in der Annahme, dass ein militärischer Konflikt die Massen von politischen Dingen ablenken könnte“ (Ascher, The Revolution of 1905, 2. Kapitel Krieg und politische Umwälzung, eigene Übersetzung).

[14] Lenins Bruder war Mitglied einer Gruppe, die vom Gedankengut der Gruppe Volkswille beeinflusst war. Er wurde 1887 nach einem Attentatsversuch auf Zar Alexander III. gehängt.

[15] Edward Crankshaw, The Shadow of the Winter Palace, Kap. 16, The Peace of the Graveyard (eigene Übersetzung).

[16] Theodor Shanin, Russia 1905-07. Revolution as a moment of truth, Kap. 1: A revolution comes to the boil  (eigene Übersetzung).

[17] W. I. Lenin, Was tun?, Kap. IV Die Organisation der Arbeiter und die Organisation der Revolutionäre, Ges. Werke, Bd. 5.

[18] ebenda.

[19] Leo Trotzki, Die Russische Revolution von 1905, Kap. Dezember.

[20] Louis Adamic: Dynamite, Rebel Press, 1984.

[21] Die Rätebewegung in Russland 1905-1921, Kap. II: Die Sowjets in der Russischen Revolution von 1905.

[22] Leo Trotzki, Die Russische Revolution von 1905, Kap. Der Oktoberstreik.

[23] Leo Trotzki, Die Geschichte der Russischen Revolution, Kap. Doppelherrschaft.

[24] Leo Trotzki, Die Russische Revolution von 1905, Kap. Die Entstehung des Arbeiterdelegiertenrates.

[25] Die Rätebewegung in Russland 1905–1921, Kap. II Die Sowjets in der Russischen Revolution von 1905 S. 59.

[26] ebenda S. 69.

[27] Leo Trotzki, Die Russische Revolution von 1905, Kap Die Entstehung des Arbeiterdelegiertenrates.

[28] s. Massenstreiks in Polen 1980: Das Proletariat schlägt eine neue Bresche, in: Internationale Revue Nr. 23 (engl., franz., span. Ausgabe).

[29] s. Die internationale Dimension der Arbeiterkämpfe in Polen, in: Internationale Revue Nr. 24 (engl., franz., span. Ausgabe).

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