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Internationale Revue - 2007

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Internationale Revue 39

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Brief von Marx an Arnold Ruge, September 1843

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M. an R.
Kreuznach, im September 1843

Es freut mich, dass Sie entschlossen sind und von den Rückblicken auf das Vergangene Ihre Gedanken zu einem neuen Unternehmen vorwärts wen­den. Also in Paris, der alten Hochschule der Philosophie, absit omen! (möge es nichts Schlimmes bedeuten!) und der neuen Hauptstadt der neuen Welt. Was notwendig ist, das fügt sich. Ich zweifle daher nicht, dass sich alle Hindernisse, deren Gewicht ich nicht ver­kenne, beseitigen lassen.
Das Unternehmen mag aber zustande kommen oder nicht; jedenfalls werde ich Ende dieses Monats in Paris sein, da die hiesige Luft leibeigen macht und ich in Deutschland durchaus keinen Spielraum für eine freie Tätigkeit sehe.
In Deutschland wird alles gewaltsam unterdrückt, eine wahre Anarchie des Geistes, das Regiment der Dummheit selbst ist hereingebrochen, und Zürich gehorcht den Befehlen aus Berlin; es wird daher immer klarer, dass ein neuer Sammelpunkt für die wirklich denkenden und unabhängigen Köpfe gesucht werden muss. Ich bin überzeugt, durch unsern Plan würde einem wirklichen Bedürfnis entsprochen werden, und die wirklichen Bedürfnisse müssen sich doch auch wirklich erfüllen lassen. Ich zweifle also nicht an dem Unternehmen, sobald damit ernst gemacht wird.
Größer noch als die äussern Hindernisse scheinen beinahe die inneren Schwierigkeiten zu sein. Denn wenn auch kein Zweifel über das „Woher", so herrscht desto mehr Konfusion über das „Wohin". Nicht nur, dass eine allge­meine Anarchie unter den Reformern ausgebrochen ist, so wird jeder sich selbst gestehen müssen, das er keine exakte Anschauung von dem hat, was werden soll. Indessen ist das gerade wieder der Vorzug der neuen Richtung, dass wir nicht dogmatisch die Welt antizipieren, sondern erst aus der Kritik der alten Welt die neue finden wollen. Bisher hatten die Philosophen die Auflösung aller Rätsel in ihrem Pulte liegen, und die dumme exoterische Welt hatte nur das Maul aufzusperren, damit ihr die gebratenen Tauben der absoluten Wissen­schaft in den Mund flogen. Die Philosophie hat sich verweltlicht, und der schlagendste Beweis dafür ist, dass das philosophische Bewusstsein selbst in die Qual des Kampfes nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich hinein­gezogen ist. Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, dass die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebensowenig vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten.
Ich bin daher nicht dafür, dass wir eine dogmatische Fahne aufpflanzen, im Gegenteil. Wir müssen den Dogmatikern nachzuhelfen suchen, dass sie ihre Sätze sich klarmachen. So ist namentlich der Kommunismus eine dogma­tische Abstraktion, wobei ich aber nicht irgendeinen eingebildeten und mög­lichen, sondern den wirklich existierenden Kommunismus, wie ihn Cabet, Dézamy, Weitling etc. lehren, im Sinn habe. Dieser Kommunismus ist selbst nur eine aparte, von seinem Gegensatz, dem Privatwesen, infizierte Erschei­nung des humanistischen Prinzips. Aufhebung des Privateigentums und Kommunismus sind daher keineswegs identisch, und der Kommunismus hat andre sozialistische Lehren, wie die von Fourier, Proudhon etc., nicht zu­fällig, sondern notwendig sich gegenüber entstehn sehn, weil er selbst nur eine besondre, einseitige Verwirklichung des sozialistischen Prinzips ist.
Und das ganze sozialistische Prinzip ist wieder nur die eine Seite, welche die Realität des wahren menschlichen Wesens betrifft. Wir haben uns eben­sowohl um die andre Seite, um die theoretische Existenz des Menschen zu kümmern, also Religion, Wissenschaft etc. zum Gegenstande unserer Kritik zu machen. Außerdem wollen wir auf unsere Zeitgenossen wirken, und zwar auf unsre deutschen Zeitgenossen. Es fragt sich, wie ist das anzustellen? Zweierlei Fakta lassen sich nicht ableugnen. Einmal die Religion, dann die Politik sind Gegenstände, welche das Hauptinteresse des jetzigen Deutsch­lands bilden. An diese, wie sie auch sind, ist anzuknüpfen, nicht irgendein System wie etwa die „Voyage en Icarie" ihnen fertig entgegenzusetze
n.
Die Vernunft hat immer existiert, nur nicht immer in der vernünftigen Form. Der Kritiker kann also an jede Form des theoretischen und praktischen Bewusstseins anknüpfen und aus den eigenen Formen der existierenden Wirk­lichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck entwickeln. Was nun das wirkliche Leben betrifft, so enthält grade der politische Staat, auch wo er von den sozialistischen Forderungen noch nicht bewussterweise erfüllt ist, in allen seinen modernen Formen die Forderungen der Vernunft. Und er bleibt dabei nicht stehn. Er unterstellt überall die Vernunft als reali­siert. Er gerät aber ebenso überall in den Widerspruch seiner ideellen Be­stimmung mit seinen realen Voraussetzungen.
Aus diesem Konflikt des politischen Staates mit sich selbst lässt sich da­her überall die soziale Wahrheit entwickeln. Wie die Religion das Inhalts­verzeichnis von den theoretischen Kämpfen der Menschheit, so ist es der politische Staat von ihren praktischen. Der politische Staat drückt also inner­halb seiner Form sub specie rei publicael (als einer besonderen Staatsform) alle sozialen Kämpfe, Bedürfnisse, Wahrheiten aus. Es ist also durchaus nicht unter der hauteur des principes (dem Niveau der Prinzipien), die speziellste politische Frage - etwa den Unterschied von ständischem und repräsentativem System - zum Gegenstand der Kritik zu machen. Denn diese Frage drückt nur auf politische Weise den Unterschied von der Herr­schaft des Menschen und der Herrschaft des Privateigentums aus. Der Kritiker kann also nicht nur, er muss in diese politischen Fragen (die nach der Ansicht der krassen Sozialisten unter aller Würde sind) eingehn. Indem er den Vorzug des repräsentativen Systems vor dem ständischen entwickelt, interessiert er praktisch eine große Partei. Indem er das repräsentative System aus seiner politischen Form zu der allgemeinen Form erhebt und die wahre Bedeutung, die ihm zugrunde liegt, geltend macht, zwingt er zugleich diese Partei, über sich selbst hinauszugehn, denn ihr Sieg ist zu­gleich ihr Verlust.
Es hindert uns also nichts, unsre Kritik an die Kritik der Politik, an die Parteinahme in der Politik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und mit ihnen zu identifizieren. Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder! Wir ent­wickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien. Wir sagen ihr nicht: Lass ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir wollen dir die wahre Parole des Kampfes zuschrein. Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft, und das Bewusstsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muss, wenn sie auch nicht will.
Die Reform des Bewusstseins besteht nur darin, dass man die Welt ihr Bewusstsein innewerden lässt, dass man sie aus dem Traum über sich selbst aufweckt, dass man ihre eignen Aktionen ihr erklärt. Unser ganzer Zweck kann in nichts anderem bestehn, wie dies auch bei Feuerbachs Kritik der Religion der Fall ist, als dass die religiösen und politischen Fragen in die selbstbewusste menschliche Form gebracht werden.
Unser Wahlspruch muss also sein: Reform des Bewusstseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewusstsein, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen, dass die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen, dass es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Ver­gangenheit. Es wird sich endlich zeigen, dass die Menschheit keine neue Arbeit beginnt, sondern mit Bewusstsein ihre alte Arbeit zustande bringt.
Wir können also die Tendenz unsers Blattes in ein Wort fassen: Selbst­verständigung (kritische Philosophie) der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche. Dies ist eine Arbeit für die Welt und für uns. Sie kann nur das Werk vereinter Kräfte sein. Es handelt sich um eine Beichte, um weiter nichts. Um sich ihre Sünden vergeben zu lassen, braucht die Menschheit sie nur für das zu er­klären, was sie sind.

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Das Klassenbewusstsein [1]

Der Kommunismus: Der Beginn der wirklichen Geschichte der Menschheit [Serie III - Teil 1]

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Der Kommunismus ist die einzige Zukunft

Mit diesem Artikel beginnen wir den dritten Band unserer Kommunismus-Reihe, die vor fast 15 Jahren begonnen wurde. Der zweite Band dieser Reihe (in Internationale Revue Nr. 111, engl., franz. und span. Ausgabe) schloss mit dem Ende einer Periode - der Erschöpfung der internationalen revolutionären Welle, die den Kapitalismus bis in seine Grundfeste erschüttert hatte - und, noch spezifischer, mit einer kühnen Beschreibung der kommunistischen Kultur der Zukunft, die 1924 von Trotzki in seinem Werk Literatur und Revolution umrissen worden war.

Für die proletarische Bewegung war die Klärung ihrer allgemeinen Ziele ein konstantes Element ihres Kampfes gewesen. Diese Artikelreihe hat versucht, ihren eigenen Teil zu diesem Kampf beizutragen, nicht nur indem sie die Geschichte dieser Bewegung nochmals schilderte – auch wenn dies wichtig genug ist angesichts der fürchterlichen Verzerrungen der tatsächlichen Geschichte des Proletariats durch die herrschende Ideologie -, sondern auch indem sie danach strebte, neue oder lange vernachlässigte Gebiete zu erforschen und ein tieferes Verständnis des gesamten kommunistischen Projekts zu entwickeln. In den nächsten Artikeln werden wir daher an den chronologischen Faden der bisherigen Reihe anknüpfen, insbesondere indem wir die Beiträge zu den Problemen der Übergangsperiode untersuchen, die von den linkskommunistischen Fraktionen in der Epoche der Konterrevolution geleistet wurden, welche der historischen Niederlage der Arbeiterklasse gefolgt war. Doch statt die neuen theoretischen Entwicklungen in der Arbeiterbewegung in Fragen des Kommunismus und der Übergangsperiode im Licht der ersten Machtergreifung durch das revolutionäre Proletariat nur zu porträtieren, denken wir, dass es sowohl nützlich als auch notwendig ist, die Ziele und die Methodik dieser Reihe zu klären, indem wir noch einmal zu den Anfängen zurückkehren: Einerseits werden wir zum Beginn dieser Artikelreihen und zum Anfang des Marxismus selbst zurückkehren. Andererseits werden wir die Hauptargumente rekapitulieren, die in den ersten beiden Bänden dieser Reihe entwickelt worden waren, um einen Bericht über die Untersuchungen und Klärungen des Inhalts der kommunistischen Gesellschaft zu erstellen, der die Entwicklung der historischen Erfahrungen des Proletariats begleitet hat. Dies wird schließlich einen stabileren Ausgangspunkt ermöglichen, um die Fragen zu betrachten, welche von den Revolutionären der 1930er und 1940er Jahre gestellt worden waren, und um auch weiterhin das Problem der proletarischen Revolution in unseren Zeiten zu berücksichtigen.

In dieser Ausgabe der Internationalen Revue wollen wir daher detailliert einen zukunftsweisenden Text des jungen Karl Marx untersuchen: den Brief an Arnold Ruge[1] [2] aus dem September 1843, ein Text, der sehr häufig zitiert worden war, aber kaum umfassend analysiert wurde. Es gibt mehr als einen Grund, um auf den Brief an Ruge zurückzukommen. Für Marx und den Marxismus ist es nicht schlicht eine Frage des Kampfes für eine neue Wirtschaftsform anstelle des Kapitalismus, sobald dieser seine historischen Grenzen erreicht hat. Es ist nicht einfach eine Frage des Kampfes für die Emanzipation der Arbeiterklasse. Wie Engels später sagte, geht es darum, es der menschlichen Spezies zu ermöglichen, vom „Reich der Notwendigkeit zum Reich der Freiheit“ überzugehen, von ihrer „Vorgeschichte“ zu ihrer wahren Geschichte. Es geht darum, all das Potenzial zu befreien, das die Menschheit in sich trägt und das in Hunderttausenden von Jahren des Mangels und besonders in den Jahrtausenden der Klassenherrschaft unterdrückt worden war. Der Brief an Ruge weist uns einen Weg aus dieser Problematik, indem er darauf pocht, dass wir kurz vor einer allgemeinen Wiedererweckung der Menschheit stehen. Und wir können sogar noch weiter gehen: Wie Marx in den Ökonomischen und Philosophischen Manuskripten argumentierte, findet das Wiedererwachen des Menschen zur gleichen Zeit statt wie das Wiedererwachen der Natur. Wie der Mensch durch das Proletariat sich seiner selbst bewusst wird, so wird sich die Natur durch den Menschen ihrer selbst bewusst. Zweifellos handelt es sich hier um Fragen, die uns tief in die Erforschung des Menschen führen. Dabei sind die Umrisse ihrer Lösung nicht eine Erfindung eines brillanten Individuums Marx, sondern die theoretische Synthese der realen Möglichkeiten, die sich in der Geschichte eröffnet haben.

Der Brief an Ruge ist eine sehr gute Illustration des Prozesses, durch den sich Marx vom Milieu der Philosophie zur kommunistischen Bewegung entwickelte. Wir haben uns mit dieser Frage bereits im zweiten Artikel der Reihe befasst („Wie das Proletariat Marx für den Kommunismus gewonnen hat“, in unserem Buch Kommunismus: Kein schönes Ideal, sondern eine materielle Notwendigkeit) wo wir zeigen, dass Marx‘ politischer Werdegang in sich selbst eine Veranschaulichung der Tatsache war, die auch im Kommunistischen Manifest geäußert wurde: dass die Ansichten der Kommunisten nicht die Erfindungen individueller Ideologen sind, sondern der theoretische Ausdruck einer lebenden Bewegung, der Bewegung des Proletariats. Wir zeigten insbesondere, wie Marx‘ Einführung in die Arbeiterassoziationen von Paris 1844 einen entscheidenden Anteil daran hatte, ihn für eine kommunistische Bewegung zu gewinnen, die Marx vorausging und unabhängig von ihm entstand. Das Studium von Ruges Brief und anderer Arbeiten durch Marx vor seiner Ankunft in Paris macht deutlich, dass dies keine plötzliche „Konvertierung“ war, sondern der Höhepunkt eines Prozesses, der bereits zuvor im Gange gewesen war. Doch dies ändert nichts an der grundlegenden These. Marx war kein reservierter Philosoph, der aus der sicheren Entfernung seines Elfenbeinturms die Rezeptbücher für die Zukunft ausbrütete. Er bewegte sich zum Kommunismus unter der magnetischen Anziehungskraft einer revolutionären Klasse, die schließlich in der Lage war, sich all seine unbestreitbaren Talente anzueignen und in den Kampf für eine neue Welt einzubeziehen. Und der Brief an Ruge beginnt bereits, wie wir sehen werden, diese biographische Realität in einer kohärenten, theoretischen Herangehensweise gegenüber der Frage des Bewusstseins zu artikulieren.

Von der Kritik der Entfremdung zum historischen Materialismus

Im September 1843 verbrachte Marx mehrere Wochen „Urlaub“ in Kreuznach, zum Teil dank der Aktionen der allgegenwärtigen preußischen Zensur, die Marx der Verantwortung für die Herausgabe der Rheinischen Zeitung enthoben hatte. Die Zeitung wurde nach der Veröffentlichung einer Reihe von „subversiven“ Stücken, einschließlich der Artikel von Marx über die Leiden der Weinbauern der Mosel, geschlossen. Marx nutzte die Freiheit, die ihm so gewährt wurde, um nachzudenken und zu schreiben. Er machte eine eminent wichtige Entwicklungsphase durch, eine Phase des Übergangs von einem radikal-demokratischen Standpunkt zu einer ausdrücklich kommunistischen Position, die er im darauf folgenden Jahr in Paris vertreten sollte.

Es wurde viel geschrieben über „den jungen Marx“, insbesondere über die Arbeiten in den Jahren 1843-44. Einige der wichtigsten Werke dieser Periode blieben noch lange nach dem Tode von Marx unbekannt; insbesondere die Ökonomischen und Philosophischen Manuskripte, die er 1844 in Paris verfasst hatte, wurden erst 1932 veröffentlicht.

Infolgedessen war in einer sehr bedeutsamen Entwicklungsphase der Arbeiterbewegung - nämlich in der gesamten Periode der Zweiten Internationale und während der Bildung der Dritten - den Marxisten viel von den Frühwerken und Ideen von Marx unbekannt geblieben. Einige von den kühnsten Entdeckungen, die in den Ökonomischen und Philosophischen Manuskripten enthalten sind – Schlüsselelemente, die sowohl das Konzept der Entfremdung als auch den Inhalt der menschlichen Erfahrungen in einer Gesellschaft betreffen, in der die Entfremdung überwunden ist -, konnten nicht direkt in die Entwicklung des marxistischen Denkens in dieser gesamten Periode integriert werden.

Dies hatte eine Reihe von ideologischen Interpretationen und Abstufungen zur Folge, die sich im Allgemeinen zwischen zwei Polen ansiedelten. Der eine Pol wurde vom Sprecher der senilsten Form des stalinistischen Intellektualismus personifiziert – Louis Althusser, für den die frühen Werke von Marx in die Kategorie des sentimentalen Humanismus und des jugendlichen Übermuts gehören, die später wohlweislich vom Wissenschaftler Marx abgelegt worden seien, der die zentrale Bedeutung der objektiven Gesetze der Ökonomie betont habe. Objektive Gesetze, die - wenn man vom erhabenen Kauderwelsch der Althusser’schen Theorie zur verständlicheren Anwendung in der Welt der Politik gelangt - glücklicherweise nicht auf ein Ende der Entfremdung weist, sondern auf ein viel erstrebenswerteres staatskapitalistisches Programm der stalinistischen Bürokratie. Der andere Pol ist das Spiegelbild des Hardcore-Stalinisten: Es ist die Ideologie einer Kongregation von Katholiken, Existenzialisten und anderen Philosophen, die zwar ebenfalls eine Kontinuität zwischen den Spätwerken von Marx und den Fünfjahresplänen in der UdSSR ausfindig machen wollen, die uns aber zuflüstern, dass es einen anderen Marx gibt, einen jungen, romantischen und idealistischen Marx, der uns eine Alternative zur geistigen Verarmung anbietet, die den materialistischen Westen plagt. Zwischen diesen beiden Polen gibt es allerlei Arten von Theoretiker – einige von ihnen der Frankfurter Schule[2] [2] oder dem Werk von Lucio Colletti[3] [2] zugetan, andere von Teilaspekten des Linkskommunismus beeinflusst (wie die Publikation Aufheben in Großbritannien) -, die die Tatsache, dass die Zweite Internationale in Angelegenheiten der Philosophie mehr Engels als dem frühen Marx vertraut hatte, dazu benutzt haben, um einen Keil nicht so sehr zwischen den beiden Marx‘, sondern zwischen Marx und Engels bzw. zwischen Marx und der Zweiten und Dritten Internationale zu treiben. In jedem Fall werden die Schurken in diesem Stück als Verfechter einer mechanischen, positivistischen Verzerrung des Denkens von Marx gesehen.

Diese Vorgehensweisen enthalten sicherlich Bruchstücke der Wahrheit in ihren Rezepten. Es ist richtig, dass insbesondere die Periode der Zweiten Internationale eine Arbeiterbewegung erblickte, die immer verwundbarer gegenüber der Penetration der herrschenden Ideologie wurde, was nicht weniger der Fall war auf der Ebene der allgemeinen Theorie (z.B. die Philosophie, die Frage des historischen Fortschritts, die Ursprünge des Klassenbewusstseins) oder auf der Ebene der politischen Praxis (z.B. die Frage des Parlaments, des Minimal- und Maximalprogramms, etc.). Es ist ebenfalls zutreffend, dass das Unwissen über das Frühwerk von Marx die Verwundbarkeit noch verstärkte, manchmal im Zusammenhang mit den weitreichendsten Problemen. Engels seinerseits leugnete nie, dass Marx der größere Denker war, und es gibt Momente in Engels‘ theoretischem Werk, in denen eine volle Assimilierung einiger der Fragen, die in Marx‘ Frühwerk am hartnäckigsten gestellt wurden, in der Tat seine Beiträge auf eine höhere Ebene gehoben hätte. Doch was all den auseinanderstrebenden Vorgehensweisen mangelt, das ist der Sinn für die Kontinuität im Denken von Marx und für die Kontinuität der revolutionären Strömung, die trotz aller Schwächen und Defizite die marxistische Methode angenommen hat, um in der Sache des Kommunismus voranzukommen. In früheren Artikeln dieser Reihe haben wir gegen die Idee argumentiert, dass es eine unüberbrückbare Kluft zwischen der Zweiten Internationale und dem authentischen Marxismus gibt, sowohl vorher als auch nachher (siehe Internationale Revue Nr. 84, engl., franz. und span. Ausgabe). Wir haben ebenfalls auf die Versuche geantwortet, Marx auf der philosophischen Ebene gegen Engels auszuspielen (siehe den Artikel „Die Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse“ in Internationale Revue Nr. 85, engl., franz. und span. Ausgabe, der die von Schmidt und Colletti vertretene Idee ablehnt, dass es bei Marx kein Konzept der Dialektik der Natur gegeben habe). Und wir haben wie Bordiga auf die faktische Kontinuität zwischen dem Marx von 1844 und der Ökonomischen und Philosophischen Manuskripte sowie dem reifen Marx des Kapital bestanden, der seinen früheren Visionen keinesfalls den Rücken kehrte, sondern danach strebte, ihnen ein solideres Fundament und eine wissenschaftlichere Basis zu verschaffen, vor allem durch die Entwicklung der Theorie des historischen Materialismus und durch eine umfassendere Untersuchung der kapitalistischen Nationalökonomie (siehe Internationale Revue Nr. 75, engl., franz. und span. Ausgabe, „Das Kapital und die Prinzipien des Kommunismus“).

Ein Blick auf die unmittelbar „vor-kommunistische“ Phase von Marx, auf den Marx von 1843, unterstützt voll und ganz diese Vorgehensweise gegenüber dem Problem. In der vorhergehenden Periode wurde Marx in wachsendem Maße mit kommunistischen Ideen konfrontiert. Beispielsweise hatte er, als er als Mitherausgeber an der Rheinischen Zeitung beteiligt war, die Treffen eines Diskussionszirkels in den Kölner Büros der Zeitung besucht, der von Moses Hess[4] [2] angeregt wurde, der seine Unterstützung für den Kommunismus bereits erklärt hatte. Sicherlich verpflichtete sich Marx nicht leichtfertig einer Sache. So wie er lange darüber nachdachte, ob er Anhänger Hegels werden sollte, so verweigerte er jegliche oberflächliche Übernahme kommunistischer Theorien, da er wusste, dass viele der existierenden Formen des Kommunismus krude und unterentwickelt waren – dogmatische Abstraktionen, wie er sie in seinem Brief vom September 1843 an Ruge beschrieb. In einem früheren Brief an Ruge (November 1842) schrieb er: „Ich erklärte, dass ich das Einschmuggeln kommunistischer und sozialistischer Dogmen, also einer neuen Weltanschauung, in beiläufigen Theaterkritiken ect. für unpassend, ja für unsittlich halte und eine ganz andere und gründlicher Besprechung des Kommunismus, wenn er einmal besprochen werden sollte, verlange.“ (MEW, Bd. 27, S. 412).

Die Überwindung der Trennung zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft

Schon eine flüchtige Untersuchung der Texte, die Marx in dieser Phase geschrieben hatte, zeigt, dass sein Übergang zum Kommunismus bereits voll im Gange war. Der Haupttext, an dem er während seines Aufenthaltes in Kreuznach arbeitete, war die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Dies ist ein langer und unvollständiger Text, der schwierig zu lesen ist, der aber Marx‘ Ringen mit Feuerbachs Kritik an Hegel aufzeigt. Marx war besonders beeinflusst von Feuerbachs richtiger Umkehrung der idealistischen Spekulationen Hegels, die betont, dass das Denken vom Sein kommt und nicht umgekehrt. Diese Methode durchdringt die Kritik des Staates, der von Hegel als Inkarnation des Denkens statt als die Widerspiegelung der eher erdverbundenen Realitäten des menschlichen Lebens angesehen wurde. Somit waren die Grundlagen gelegt für eine fundamentale Kritik des Staates als solchen. Aus dem Blickwinkel der 1843 verfassten Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie wurde der Staat – auch der moderne repräsentative Staat – schon als ein Ausdruck der Entfremdung der gesellschaftlichen Kräfte des Menschen aufgefasst. Und obwohl Marx noch immer auf das Kommen des allgemeinen Wahlrechts und einer demokratischen Republik setzte, schaute er von Anfang an über das Ideal eines liberalen politischen Regimes hinaus. Denn in den zugegebenermaßen hybriden Formulierungen in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie argumentiert Marx, dass das allgemeine Wahlrecht und – mehr noch - eine radikale Demokratie Vorboten der Überwindung sowohl des Staates als auch der Zivilgesellschaft, d.h. der bürgerlichen Gesellschaft seien: „Im politisch abstrakten Staat ist die Reform des Wahlrechts eine Auflösung des Staates, und gleichfalls die Auflösung der sozialen Gesellschaft.“.

Hier zeigt sich in Embryonalform bereits ein Ziel, das die marxistische Bewegung in ihrer ganzen Geschichte animiert hat: das Absterben des Staates.

In seinem Essay Über die jüdische Frage, gegen Ende 1843 geschrieben, schaut Marx erneut über den Kampf für die Abschaffung feudaler Barrieren hinaus – in diesem Fall die Beschränkungen der Bürgerrechte für Juden, deren Außerkraftsetzung er als einen Schritt vorwärts befürwortete, im Gegensatz zu den Sophismen von Bruno Bauer. Marx zeigt die inhärenten Grenzen des eigentlichen Begriffs der Bürgerrechte, die lediglich das Recht der atomisierten Bürger in einer Gesellschaft konkurrierender Egos bedeuten. Für Marx sollte die politische Emanzipation – mit anderen Worten, die Ziele der bürgerlichen Revolution, die es im rückständigen Deutschland noch zu erreichen galt – nicht mit einer echten gesellschaftlichen Emanzipation verwechselt werden, bei der die Menschheit nicht nur von der Herrschaft fremder politischer Mächte befreit wird, sondern auch von der Tyrannei des Kaufens und Verkaufens. Dies schloss die Überwindung der Trennung zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft mit ein. Das Wort Kommunismus wird nicht benutzt, aber die Implikationen sind bereits vorhanden (siehe „Marx und die Judenfrage“ in Internationale Revue Nr. 32, deutsche Ausgabe).

Schließlich sind in der kürzeren, aber weitaus fokussierteren Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (Ende 1843 oder Anfang 1844 verfasst) die Errungenschaften von Marx enorm, und es bedarf eines eigenen Artikels, um sie zu zusammenzufassen. So kurz wie möglich zusammengefasst, umfassen sie zweierlei: Erstens stellt Marx seine berühmte Kritik der Religion vor, die bereits die rationalistische Kritik der bürgerlichen Aufklärung übertraf, indem er erkannte, dass die Macht der Religion aus der Existenz einer Gesellschaftsordnung herrührt, die menschliche Bedürfnisse leugnen muss; zweitens identifiziert er das Proletariat als den Urheber der sozialen Revolution: „In der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, (…) einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat.“ (MEW, Bd. 1, S. 390).

Die Emanzipation des Proletariats ist nicht zu trennen von der allgemeinen menschlichen Emanzipation: Die Arbeiterklasse kann nicht bloß sich selbst von der Ausbeutung befreien, kann nicht als herrschende Klasse ewig fortbestehen, sondern muss als Fahnenträger aller Unterdrückten agieren; es kann sich selbst und die Menschheit auch nicht vom Kapitalismus allein befreien, sondern muss das albtraumartige Gewicht aller bisher existierenden Formen der Ausbeutung und Unterdrückung abschütteln.

Das Proletariat: Urheber des revolutionären Wechsels

Wir sollten auch hinzufügen, dass die beiden letzten Texte, zusammen mit einer Sammlung von Briefen von Marx an Ruge, in einer einzigen Ausgabe der Deutsch-Französischen Jahrbücher im Februar 1844 veröffentlicht wurden. Diese Zeitschrift war die Frucht der Zusammenarbeit von Marx mit Ruge, Engels und anderen[5] [2]. Marx hatte grosse Erwartungen in dieses Unternehmen, von dem er hoffte, dass es Ruges verbotene Deutsche Jahrbücher ersetzen und einen großen Schritt nach vorn machen könnte, indem es feste Verbindungen zwischen französischen und deutschen revolutionären Ideen knüpft, obgleich letztendlich keiner seiner in Aussicht gestellten französischen Mitstreiter diese Ansprüche teilte. Alle Beiträge kamen von deutscher Seite. Es ist äußerst interessant, dass im August-September 1843 Marx einen kurzen Programmentwurf für die Publikation schrieb: „Die Artikel unserer Schrift sollen von Deutschen und Franzosen gemeinsam geschrieben werden und folgendes behandeln:

1. Menschen und Systeme, welche einen nützlichen oder gefährlichen Einfluss errungen haben, und politisch aktuelle Fragen, ob sie nun die Verfassungen, die politische Ökonomie oder die öffentlichen Institutionen und die Moral betreffen.

2. Wir sollten Besprechungen der Presse vorsehen, die eine strenge Kritik der oft in Publikationen vorhandenen Unterwürfigkeit und Niederträchtigkeit darstellen, und helfen, die Aufmerksamkeit auf andere zu lenken, welche im Namen der Menschlichkeit und Freiheit stehen.

3. Wir sollten einen Überblick über die Literatur und die Publikationen des alten Regimes in Deutschland geben, welches niedergeht und sich selber zerstört. Und schlussendlich einen Überblick über die Bücher der zwei Nationen, welche den Beginn und die Fortführung der neuen Ära darstellen, in die wir eintreten.“ (eigene Übersetzung).

Aus diesem Dokument können wir zwei Dinge entnehmen. Erstens, dass selbst auf dieser Stufe Marx‘ Streben ein militantes war: Einen Programmentwurf für eine Publikation zu entwerfen ist, auch wenn nur kurz und allgemein, ein Zeichen dafür, dass die Publikation Ausdruck einer organisierten Tat war. Diese Dimension im Leben von Marx – der Gedanke, sein Leben einer Sache und der Notwendigkeit zu widmen, eine Organisation von Revolutionären aufzubauen – bleibt ein fundamentales Merkmal des proletarischen Einflusses auf Marx, den „Mensch und Kämpfer“, um den Titel der Biographie von Nikolaevski aus dem Jahr 1936 zu benutzen.

Zweitens: wenn Marx über die „neue Ära“ spricht, so müssen wir uns vergegenwärtigen, dass, während in Deutschland und im größten Teil Europas die neue Ära den Sturz des Feudalismus und den Triumph der demokratischen Bourgeoisie bedeutete, es auch eine mächtige Tendenz in Marx‘ und Engels‘ anfänglichem Bekenntnis zum Kommunismus gab, die bürgerliche mit der proletarischen Revolution zu verschmelzen und zu meinen, dass ziemlich schnell eine nach der anderen folgen werde. Dies wird deutlich aus Marx‘ Identifizierung des Proletariats als Urheber des revolutionären Wechsels selbst im rückständigen Deutschland, und es wird noch deutlicher im Anspruch, der vom Kommunistischen Manifest und in seiner Theorie der permanenten Revolution, die er im Anschluss an die Aufstände von 1848 erarbeitet hatte, erhoben wurde. Bezogen auf das Denken von Marx 1843 und 1844, müssen wir folgern, dass bei der Vorwegnahme einer „neuen Ära“ der Blick von Marx weniger auf die Übergangskämpfe für eine bürgerliche Republik gerichtet war, sondern weitaus mehr auf die nachfolgende Auseinandersetzung für eine wahrhaft menschliche Gesellschaft, die frei von kapitalistischem Egoismus und Ausbeutung ist. Was Marx sein ganzes Leben hindurch antrieb, war vor allem dieses Gespür für die Möglichkeit solch einer Gesellschaft. Später erkannte er immer deutlicher, dass der direkte Kampf für solch eine Welt noch nicht auf der Tagesordnung der Geschichte stand, dass die Menschheit noch die Kavallerie des Kapitalismus vorbeiziehen lassen musste, damit die materiellen Grundlagen für die neue Gesellschaft gelegt werden; doch diese ursprüngliche Inspiration hat ihn niemals verlassen.

Der Marxismus ist kein geschlossenes System

Es ist daher unsinnig, eine strikte Unterscheidung zwischen dem jungen und dem alten Marx zu machen. Die Texte von 1843-44 waren allesamt wichtige Schritte in Richtung einer voll entwickelten kommunistischen Weltanschauung, noch bevor er bewusst oder ausdrücklich sich selbst als Kommunist definierte. Darüber hinaus ist das Tempo der Entwicklung von Marx äußerst bemerkenswert. Nach dem Verfassen der oben erwähnten Texte zog er nach Paris. Im Sommer 1844 stellte Marx, offensichtlich beeinflusst von seiner direkten Einbeziehung in die kommunistischen Arbeiterassoziationen dieser Stadt, die Ökonomischen und Philosophischen Manuskripte fertig, in denen er sich für den Kommunismus ausspricht. Ende August traf er Engels, der in der Lage war, zu einem weitaus direkteren Verständnis der Funktionsweise des Kapitalismus beizutragen. Ihre Zusammenarbeit wirkte sich auf das Werk von Marx noch dynamisierender aus, und ab 1845 war er durch seine Thesen zu Feuerbach und die Deutsche Ideologie in der Lage, die Grundlagen der materialistischen Theorie der Geschichte zu präsentieren. Und da der Marxismus, im Gegensatz zu seinen Vorgängern, kein geschlossenes System ist, sollte sich dieser Prozess der Evolution und Selbstentwicklung bis zum Ende des Lebens von Marx fortsetzen (siehe zum Beispiel den Artikel aus dieser Reihe über den „späten Marx“ in Internationale Revue, Nr. 81, engl., franz. und span. Ausgabe, der erzählt, wie Marx sich selbst Russisch beigebracht hat, um sich mit der russischen Frage zu befassen, und Antworten produziert hat, die einige seiner engen Anhänger durcheinandergebracht haben).

Der September-Brief an Ruge, den wir unten in Gänze abdrucken, muss im Zusammenhang mit dem oben Genannten verstanden werden. Es ist kein Zufall, dass die gesamte Sammlung der Briefe in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern veröffentlicht wurde; diese Briefe wurden selbst damals selbstverständlich als Beiträge zur Erarbeitung eines neuen Programms oder zumindest einer neuen politischen Methode betrachtet. Und der letzte Brief ist der „programmatischste“ von allen. Durch die Chronologie der Briefe können wir Marx‘ Entscheidung nachvollziehen, Deutschland zu verlassen, wo seine Aussichten noch prekärer geworden waren aufgrund einer Kombination von familiären Unstimmigkeiten und Schikanierungen durch die Behörden. Im September-Brief räumt Marx ein, dass er es immer schwieriger fand, in Deutschland zu atmen, und dass er sich entschlossen habe, nach Frankreich zu gehen – das Land der Revolutionen, wo sich sozialistisches und kommunistisches Gedankengut überschäumend und in mannigfaltigen Richtungen entwickelte. Ruge, der ehemalige Herausgeber der unterdrückten Deutschen Jahrbücher, war ein williger Helfer bei der Umsetzung des Plans, die Deutsch-Französischen Jahrbücher zu etablieren. Doch ihre Wege sollten sich trennen, als Marx einen ausdrücklich kommunistischen Standpunkt einnahm, und Ruge gegenüber Marx seine Entmutigung infolge der Erfahrungen mit der deutschen Zensur und mit der philisterhaften Atmosphäre in Deutschland eingestand. So war Marx‘ vorletzter Brief an Ruge (im Mai 1843 in Köln verfasst) zu einem gewissen Teil dem Zweck gewidmet, Ruges Stimmung aufzuhellen, und gibt uns einen guten Einblick in die optimistische Geistesverfassung von Marx in jener Zeit: „Von unserer Seite muss die alte Welt vollkommen ans Tageslicht gezogen und die neue positiv ausgebildet werden. Je länger die Ereignisse der denkenden Menschheit Zeit lassen, sich zu besinnen, um so vollendeter wird das Produkt in die Welt treten, welches die Gegenwart in ihrem Schosse trägt.“ (MEW, Bd. 1, S. 343).

Der Kampf gegen den Dogmatismus

Zu der Zeit, als Marx den September-Brief schrieb, hatte sich Ruges Depression gebessert. Marx wollte unbedingt das politische Vorgehen skizzieren, das in ihrem angestrebten Unternehmen herrschen sollte. So war er sorgsam darauf bedacht, jegliches dogmatische und sektiererische Vorgehen zu vermeiden. Es muss daran erinnert werden, dass dies der Gipfelpunkt des utopischen Sozialismus aller Arten war, von denen fast alle auf abstrakten Spekulationen darüber beruhten, wie eine neue und gerechtere Gesellschaft funktionieren kann, und wenig oder keine Verbindung zu den realen, bodenständigen Kämpfen hatten, die sich rings um sie herum ereigneten. In vielen Fällen offenbarten die Utopisten eine überhebliche Verachtung sowohl gegenüber den Forderungen der demokratischen Opposition gegen den Feudalismus als auch gegenüber den unmittelbaren ökonomischen Forderungen der frisch aus der Taufe gehobenen Arbeiterklasse. Und selten warteten sie mit einem besseren Plan für die Institutionalisierung der neuen gesellschaftlichen Ordnung auf, als die Bettelschale an reiche bürgerliche Philantropen zu übergeben. Daher tat Marx viele Abarten des zeitgenössischen Sozialismus als Formen des Dogmatismus ab, die die Welt mit fertigen Schemata konfrontierten und den praktischen politischen Kampf als ihrer Aufmerksamkeit nicht wert betrachteten. Gleichzeitig macht Marx klar, dass er sich der verschiedenen Richtungen innerhalb der kommunistischen Bewegung wohl bewusst war und dass einige von ihnen – er erwähnt Proudhon und Fourier[6] [2] – lohnenswerter für Untersuchungen sind als andere. Doch der Schlüssel ist seine Überzeugung, dass eine neue Welt nicht vom Himmel fällt, sondern dass Resultat von Kämpfen in der realen Welt sein muss. Daher die berühmten Zeilen: „Es hindert uns also nichts, unsre Kritik an die Kritik der Politik, an die Parteinahmen in der Politik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und mit ihnen zu identifizieren. Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien. Wir sagen ihr nicht: Lass ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir wollen dir die wahre Parole des Kampfs zuschrein. Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft, und das Bewusstsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muss, wenn sie auch nicht will.“ (MEW, Bd. 1, S. 345).

Im Kern ist dies, wie Lukacs in seinem 1920er Essay Klassenbewusstsein unterstreicht, bereits eine materialistische Analyse: Es geht nicht darum, einem unbewussten Ding Bewusstsein beizubringen – die Essenz des Idealismus -, sondern darum, einen Prozess bewusst zu machen, der sich bereits in eine bestimmte Richtung bewegt; einen Prozess, der von materiellen Notwendigkeiten angetrieben wird, was auch die Notwendigkeit umfasst, sich seiner selbst bewusst zu werden.

Es trifft sicherlich zu, dass Marx noch immer größtenteils über den Kampf für die politische Emanzipation spricht – zur Vervollständigung der bürgerlichen Revolution vor allem in Deutschland. Die Betonung der Kritik an der Religion, der Intervention in zeitgenössischen politischen Fragen (wie die Unterschiede zwischen dem Ständestaat und der repräsentativen Regierung), aber auch der Möglichkeit, dass diese Aktivitäten „das Interesse einer großen Partei gewinnen“ werden – d.h. Einfluss auf die liberale Bourgeoisie - bestätigt dies. Doch wir sollten nicht vergessen, dass Marx kurz davor stand, das Proletariat als Urheber des gesellschaftlichen Wandels anzukündigen, eine Schlussfolgerung, die bald darauf sowohl auf das feudale Deutschland als auch auf die höher entwickelten kapitalistischen Länder angewandt werden sollte. Daher kann die Methode gleichermaßen – ja, sogar noch spezifischer – auf den proletarischen Kampf für Sofortforderungen angewendet werden, ob wirtschaftlich oder politisch. Dies ist in der Tat eine profunde Antizipation des Kampfes gegen die sektiererische Vorgehensweise, die später für Bakunin typisch war. Doch es ist auch mit den Formulierungen in Die Deutsche Ideologie verknüpft, die den Kommunismus als „die reelle Bewegung, welche die bestehenden Verhältnisse überwindet“, die das revolutionäre Bewusstsein in der Existenz einer revolutionären Klasse lokalisiert und das kommunistische Bewusstsein ausdrücklich als eine historische Auswirkung der ausgebeuteten Klasse definiert. Die Kontinuität mit den Thesen über Feuerbach – das Verständnis, dass die Erzieher auch erzogen werden müssen – ist gleichermaßen evident. Zusammen sind diese Arbeiten eine Warnung gegen all die modernen Erlöser des Proletariats, gegen all jene, die das sozialistische Bewusstsein als etwas betrachten, das den niederen Arbeitern von irgendeiner höheren Instanz beigebracht werden muss.

<<>>Der Kommunismus in Kontinuität mit der Geschichte der Menschheit>

Die abschließenden Paragraphen des Briefes fassen das Vorgehen von Marx bei der politischen Intervention zusammen, aber sie nehmen uns auch mit in tieferes Wasser: „Unser Wahlspruch muss also sein: Reform des Bewusstseins nicht durch Dogmen, sondern durch die Analysierung des mythischen, sich selbst unklaren Bewusstseins, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen, dass die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen, dass es sich nicht um einen grossen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit. Es wird sich endlich zeigen, dass die Menschheit keine neue Arbeit beginnt, sondern mit Bewusstsein ihre alte Arbeit zustande bringt.

Wir können also die Tendenz unseres Blattes in ein Wort fassen: Selbstverständigung (kritische Philosophie) der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche. Dies ist eine Arbeit für die Welt und für uns. Sie kann nur das Werk vereinter Kräfte sein. Es handelt sich um eine Beichte, um weiter nichts. Um sich ihre Sünden vergeben zu lassen, braucht die Menschheit sie nur für das zu erklären, was sie sind.“ (MEW, Bd. 1, S. 346)

In George Elliots großartigem Roman über das Gesellschaftsleben in England Mitte des 19. Jahrhunderts, Middlemarch, gibt es eine Figur, die sich Casaubon nennt, ein staubtrockener Gelehrter und ein Mann der Kirche mit unabhängigen Mitteln, der sein Leben dem Verfassen eines monumentalen und möglichst definitiven Werkes widmet, das den Titel Der Schlüssel zu allen Mythologien tragen soll. Dieses Werk wird niemals vollendet, und dies ist ein symbolischer Ausdruck für die Trennung dieser Figur vom realen menschlichen Leben und seinen Leidenschaften. Doch wir können dies auch als eine Gleichnis über das bürgerliche Gelehrtentum im Allgemeinen nehmen. In ihrer Aufstiegsperiode entwickelte die Bourgeoisie ein Gespür für universelle Fragen und für die Suche nach universellen Antworten. Doch diese Suche wurde in ihrer dekadenten Phase immer mehr aufgegeben, denn das Stellen solcher Fragen führt zur unbequemen Konsequenz ihres Dahinscheidens als Klasse. Casaubons Scheitern nimmt somit die intellektuelle Sackgasse des bürgerlichen Denkens vorweg. Marx dagegen bietet uns in einigen kurzen Bemerkungen den Ansatz einer Vorgehensweise an, die uns einen Zugang zu sämtlichen Mythologien anbietet. So wie Marx im September-Brief sagt, dass die Religion das „Inhaltsverzeichnis von den theoretischen Kämpfen der Menschheit ist.“, so ist die Mythologie das Register der Psyche der Menschheit seit ihren Anfängen, sowohl in ihren Grenzen als auch in ihrem Streben. Das Studium der Mythologie verschafft uns einen Einblick in die Bedürfnisse, die diesem Streben Vorschub leisten.

David McLellan, vielleicht einer der besten Marx-Biographen seit Mehring, kommentiert, dass „der Begriff der Erlösung durch eine ‚Reform des Bewusstseins‘ natürlich sehr idealistisch war. Doch dies war nur zu typisch für die deutsche Philosophie jener Zeit“ (Karl Marx, His Life and Thought, 1973, S. 77; eigene Übersetzung). Dies ist sicherlich ein zu statischer Blick auf die Formulierungen von Marx. Wenn wir die Tatsache berücksichtigen, dass Marx diese „Reform des Bewusstseins“ bereits als das Produkt der realen Kämpfe betrachtete, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass Marx bereits im Begriff war, das Proletariat als Träger dieses „reformierten“ Bewusstseins zu betrachten, dann ist es offensichtlich, dass Marx bereits die Dogmen der zeitgenössischen deutschen Philosophie hinter sich gelassen hat. Wie Lukacs später in den Essays, die in Geschichte und Klassenbewusstsein enthalten sind, klarstellte, hat das Proletariat als erste Klasse, die sowohl ausgebeutet als auch revolutionär ist, kein Bedürfnis nach ideologischen Mystifikationen. Sein Klassenbewusstsein ist daher erstmals ein klares Bewusstsein, das einen fundamentalen Bruch mit allen Formen der Ideologie markiert[7] [2]. Der Begriff eines Bewusstseins, das so klar über sich ist, ist eng mit Marx‘ Annäherung gegenüber dem Proletariat verknüpft. Und es war dieselbe Bewegung, die Marx und Engels in die Lage versetzte, eine materialistische Geschichtstheorie zu erarbeiten, die anerkennt, dass der Kommunismus nicht mehr nur eine „schöne Idee“ ist, weil der Kapitalismus die materiellen Voraussetzungen für eine Gesellschaft des Überflusses gelegt hat. Die Fundamente dieses Verständnisses sollten nur zwei Jahre später in Die deutsche Ideologie vorgestellt werden.

<<>>Das Proletariat sieht sich selbst als Verteidiger all dessen, was menschlich ist>

Es könnte auch der Vorwurf erhoben werden, dass die Formulierungen von Marx im September-Brief noch im Rahmen des Humanismus, einer alle Klassen umfassenden Sichtweise der Menschheit gefangen waren. Doch wie wir gezeigt haben, ist es augenscheinlich, dass keines der humanitären Überbleibsel ihn daran hinderte, einen Klassenstandpunkt einzunehmen, da Marx bereits zur proletarischen Bewegung tendierte. Abgesehen davon, ist es nicht nur zulässig, sondern auch notwendig, von der Menschheit, von der Spezies als eine Realität und nicht als eine Abstraktion zu sprechen, wenn wir die wahren Dimensionen des kommunistischen Projektes begreifen wollen. Denn auch wenn das Proletariat die kommunistische Klasse par excellence ist, so beginnt das Proletariat dennoch keine „neue Arbeit“. Die Ökonomischen und Philosophischen Manuskripte sollten, wie wir gesehen haben, klar machen, dass der Kommunismus auf der Wiederentdeckung des gesamten Reichtums der menschlichen Vergangenheit beruhen muss. Aus dem gleichen Grund lesen wir darin: „Die ganze Bewegung der Geschichte ist daher, wie sein wirklicher Zeugungsakt – der Geburtsakt seines empirischen Daseins – so auch für sein denkendes Bewusstsein die begriffne und gewusste Bewegung seines Werdens, (…)“ (MEW, Bd. 40, S. 536). Der Kommunismus ist daher das Werk der Geschichte, und der Kommunismus des Proletariats ist die Klärung und Synthese aller früheren Kämpfe gegen Elend und Ausbeutung. Daher nannte Marx unter anderen auch Spartakus als eine der historischen Figuren, die er am meisten bewunderte. Indem er noch weiter zurückschaut, wird der künftige Kommunismus auf einer höheren Stufe die Einheit der Stammesgemeinschaften wieder entdecken, in der die Menschheit den größten Teil ihrer Existenz verbrachte, vor dem Aufkommen der Klassenteilungen und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.

Das Proletariat sieht sich selbst als Verteidiger all dessen, was menschlich ist. Auch wenn es heftig die Unmenschlichkeit der Ausbeutung anprangert, predigt es nicht eine Haltung des Hasses, nicht einmal gegenüber dem einzelnen Ausbeuter. Auch betrachtet es andere unterdrückte Klassen und gesellschaftliche Schichten, vergangene oder gegenwärtige, nicht mit Geringschätzung oder Überheblichkeit. Die falsche Ansicht, dass der Kommunismus die Vernichtung aller Kultur bedeute, da diese bis jetzt den Ausbeutern gehörte, wurde in den Ökonomischen und Philosophischen Manuskripten als „kruder Kommunismus“ zusammengestaucht. Es ist eine negative Tradition, die die Arbeiterbewegung seit jeher plagte, zum Beispiel in gewissen Formen des Anarchismus, welche sich an der Plünderung und Zerstörung der kulturellen Symbole der Vergangenheit ergötzten. Und als die Dekadenz des Kapitalismus sich mit der stalinistischen Konterrevolution verband, hat sie besonders abscheuliche Charaktere ausgebrütet, wie die maoistischen Kampagnen gegen „die vier Alten“[8] [2] während der so genannten Kulturrevolution. Doch simplifizierende und destruktive Verhaltensweisen gegenüber der vergangenen Kultur manifestierten sich auch während der heroischen Tage der Russischen Revolution, als besonders Repressionsorgane wie die Tscheka oftmals ein schroffes und rachsüchtiges Verhalten gegenüber „Nicht-Proletariern“ an den Tag legten, was gelegentlich betrachtet wurde, als sei es eine nahezu natürliche Eigenschaft des „reinen“ Proletariers. Die marxistische Anerkennung der historischen Rolle der Arbeiterklasse hat nichts gemein mit dieser Art von „Arbeitertümelei“, mit der permanenten Huldigung des Proletariats und auch nichts mit dem Philistertum, das die gesamte Kultur der alten Welt ablehnt (siehe insbesondere den Artikel in dieser Reihe über Trotzki und die proletarische Kultur in Internationale Revue, Nr. 30, deutsche Ausgabe). Der Kommunismus der Zukunft wird das Beste aus den kulturellen und moralischen Bestrebungen der menschlichen Spezies in sich einverleiben.

Amos


[1] [2] Arnold Ruge (1802-1880) war ein junger Linkshegelianer, der mit Marx in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern zusammenarbeitete, ehe er die Beziehungen zu ihm abbrach. 1866 wurde er Anhänger Bismarcks.

[2] [2] Die Frankfurter Schule wurde 1923 gegründet. Ihr anfänglicher Zweck war das Studium gesellschaftlicher Phänomene. Nach dem Krieg war sie weniger ein Institut für gesellschaftliche Untersuchungen sondern mehr eine intellektuelle Strömung (Marcuse, Adorno, Horkheimer, Pollock, Grossman, etc.), die behauptete, von Marx beeinflusst zu sein.

[3] [2] Lucio Colletti (1924-2001) war ein italienischer Philosoph, der Marx eher für einen Nachfolger Kants denn Hegels hielt. Autor zahlreicher Werke einschließlich Marxismus und Hegel und die Einleitung zu Marx‘ frühen Schriften. Nachdem er eine gewisse Zeitlang Mitglied der italienischen KP gewesen war, bewegte er sich auf die Sozialdemokratie zu und beendete seine politische Karriere schließlich als Mitglied in Berlusconis Regierung.

[4] [2] Moses Hess (1812-1875) war Junghegelianer, Mitbegründer und Mitarbeiter von Marx in der Rheinischen Zeitung. Ein Gründer des „wirklichen Sozialismus“ in den 1840er Jahren.

[5] [2] So wie auch die Texte von Marx die bereits erwähnt wurden, enthalten die Deutsch-Französischen Jahrbücher den Brief von Marx an den Herausgeber der Allgemeinen Zeitung (Augsburg), zwei Artikel von Engels: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie und eine Revue von Thomas Carlyle Vergangenheit und Gegenwart. Marx hat im Oktober 1843 auch an Feuerbach geschrieben, in der Hoffnung, dass Feuerbach mitarbeiten würde, doch anscheinend war Feuerbach noch nicht bereit, vom Gebiet der Theorie auf das Feld der politischen Tat überzuwechseln.

[6] [2] Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865): französischer Drucker, Journalist und Mitglied der Nationalversammlung im Jahr 1848. Marx kritisierte seine ökonomischen Theorien in Das Elend der Philosophie. Charles Fourier (1772-1837): französischer utopischer Sozialist, der einen beträchtlichen Einfluss auf die spätere Entwicklung des sozialistischen Denkens ausgeübt hat.

[7] [2] Es ist möglicherweise kein Zufall, dass mit diesen Essays Lukacs auch einer der ersten war – obgleich er damals nichts von den Ökonomischen und Philosophischen Manuskripten wusste -, der zum Problem der Entfremdung zurückkehrte, dem er sich via dem Konzept der Konkretisierung näherte.

[8] [2] Die „vier Alten“ standen für die „alten Ideen, Kulturen, Sitten und Gebräuche“ und waren Zielscheibe der angeblichen „Kulturrevolution“.

 

Theorie und Praxis: 

  • Kommunismus - Keine schöne Utopie,sondern eine Notwendigkeit [3]

Theoretische Fragen: 

  • Kommunismus [4]

Die Theorie der Dekadenz im Zentrum des historischen Materialismus

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Von Marx zur Kommunistischen Linken: Die Positionen der 3. Internationale

Im ersten Artikel dieser Serie, der in der Internationalen Revue Nr. 34 veröffentlicht wurde, zeigten wir, dass die Dekadenztheorie sich im eigentlichen Zentrum des historischen Materialismus bei der Analyse der Evolution der Produktionsweisen durch Marx und Engels befindet. Sie steht an zentraler Stelle in den programmatischen Texten der Organisationen der Arbeiterbewegung. Im zweiten Artikel, der in der Internationalen Revue Nr. 35 erschien, sahen wir, wie die Organisationen der Arbeiterbewegung, beginnend mit der Zeit von Marx und Engels über die Zweite Internationale und ihre marxistische Linke bis hin zur Kommunistischen Internationale, diese Analyse zum Grundstein ihres Verständnisses der Evolution des Kapitalismus machten und sich so in die Lage versetzten, die Prioritäten für die Periode zu bestimmen. Tatsächlich stellten Marx und Engels stets sehr deutlich fest, dass die Perspektive der kommunistischen Revolution von der objektiven, historischen und globalen Entwicklung des Kapitalismus abhängt. Besonders die Dritte Internationale machte diese Analyse zum allgemeinen Rahmen ihres Verständnisses der neuen Epoche, die mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges eingeleitet wurde. Alle politischen Strömungen, die die Dritte Internationale bildeten, erkannten, dass der erste globale Krieg den Beginn der dekadenten Phase des Kapitalismus markierte. Wir setzen hier nun unseren historischen Überblick über die wichtigsten Ausdrücke der Arbeiterbewegung fort, indem wir die spezifischen politischen Positionen der Kommunistischen Internationale in der Frage des Parlamentarismus und der Gewerkschaften, für die der Eintritt des Systems in seine Niedergangsphase wichtige Auswirkungen hatte, näher untersuchen.

Der Erste Kongress der Kommunistischen Internationale wurde vom 2. – 6. März 1919 abgehalten, auf dem Höhepunkt der internationalen revolutionären Welle, die über die großen Arbeiterkonzentrationen in Europa dahinfegte. Die junge Sowjetrepublik in Russland war kaum zwei Jahre an der Macht. Im September 1918 fand ein wichtiger Aufstand in Bulgarien statt. Deutschland befand sich auf dem Höhepunkt der gesellschaftlichen Gärung, überall wurden Arbeiterräte gebildet, und zwischen November 1918 und Februar 1919 fand in Berlin eine große Erhebung statt. In Bayern wurde im November 1918 sogar eine Räterepublik gegründet; tragischerweise sollte sie nur bis zum Februar 1919 überleben. In Ungarn brach eine sozialistische Revolution aus und widerstand sechs Monate lang, von März bis August 1919, erfolgreich den Anschlägen der konterrevolutionären Kräfte. Infolge der Kriegsgräuel und der Probleme nach Kriegsende erschütterten wichtige gesellschaftliche Bewegungen auch alle anderen Länder Europas.

Zur gleichen Zeit befanden sich die revolutionären Kräfte aufgrund des Verrats der Sozialdemokratie, die beim Ausbruch des Krieges im August 1914 auf die Seite der herrschenden Klasse gewechselt war, im Prozess der Reorganisierung. Neue Formationen, die aus dem schwierigen Reifungsprozess entstanden, strebten danach, die Prinzipien und die größten Errungenschaften der alten Parteien zu sichern. Die Konferenzen von Zimmerwald (September 1915) und Kienthal (April 1916) haben mit der Regruppierung aller Gegner des imperialistischen Krieges nachdrücklich zu dieser Reifung beigetragen und ermöglicht, dass das Fundament einer neuen Internationale gelegt wurde.

   Im letzten Artikel sahen wir, wie infolge des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs diese neue Internationale den Eintritt des Kapitalismus in eine neue historische Epoche zum Rahmen ihres Verständnisses der unmittelbaren Aufgaben machte. Wir wollen nun untersuchen, wie dieser Rahmen direkt oder indirekt bei der Erarbeitung der programmatischen Positionen berücksichtigt wurde. Wir werden ebenfalls zeigen, dass die Schnelligkeit der Ereignisse und die komplizierten Bedingungen seinerzeit den Revolutionären nicht erlaubte, alle politischen Implikationen aus dem Eintritt des Kapitalismus in seine dekadente Phase in Bezug auf den Inhalt und die Form des Kampfes der Arbeiterklasse zu erkennen.

Die Gewerkschaftsfrage

Als der Erste Kongress der Dritten Internationale im März 1919 abgehalten wurde, war die erste Frage, der sich die entstehenden kommunistischen Organisationen gegenüberstanden, jene nach dem Inhalt, der Form und der Perspektiven der revolutionären Bewegung, die sich fast überall in Europa entwickelte. In dem Maße, wie die unmittelbaren Aufgaben nicht mehr die Erlangung fortschrittlicher Reformen im Rahmen eines sich im Aufstieg befindlichen Kapitalismus waren, sondern die Eroberung der Macht angesichts einer Produktionsweise, die zur Jahrhundertwende, mit dem Ausbruch des Weltkrieges[1] [5], ihren historischen Bankrott offenbart hatte, korrespondierte auch die Form, die der Klassenkampf annahm, mit seinem neuen Inhalt und Ziel. Die Organisierung in Gewerkschaften - im Wesentlichen ökonomische Organe, die eine Minderheit der Arbeiterklasse um sich scharten – war den Zielen der Bewegung in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus angepasst, aber sie entsprach nicht der Machtergreifung. Daher schuf die Arbeiterklasse, beginnend mit den Massenstreiks in Russland 1905[2] [5], die Sowjets (Arbeiterräte), die Organe verkörpern, welche alle Arbeiter im Kampf um sich sammeln, deren Inhalt sowohl ökonomischer als auch politischer Natur ist[3] [5], und deren fundamentales Ziel darin besteht, die Machtergreifung vorzubereiten. „Nur muss eine praktische Form gefunden werden, die das Proletariat in den Stand setzt, seine Herrschaft zu verwirklichen. Diese Form ist das Sowjetsystem mit der Diktatur des Proletariats. Diktatur des Proletariats! Das war bisher Latein für die Massen. Mit der Ausbreitung des Sowjetsystems in der ganzen Welt ist dieses Latein in alle Sprachen übersetzt worden: die praktische Form der Diktatur ist durch die Arbeitermassen gefunden. Sie ist den grossen Arbeitermassen verständlich geworden durch die Sowjetmacht in Russland, durch die Spartakisten in Deutschland und ähnliche Bewegungen in anderen Ländern (…).“ („Rede Lenins zur Eröffnung des Ersten Kongresses der Kommunistischen Internationale“)

Basierend auf der Erfahrung der Russischen Revolution und dem breiten Auftreten der Arbeiterräte in allen Aufständen in Europa, war sich die Kommunistische Internationale auf ihrem Ersten Kongress sehr wohl bewusst, dass große Arbeiterkämpfe nicht mehr im gewerkschaftlichen Rahmen stattfinden werden, sondern im Rahmen der neuen Einheitsorgane, der Arbeiterräte: „Der Sieg kann nur dann als gesichert gelten, wenn nicht nur die städtischen Arbeiter, sondern auch die ländlichen Proletarier organisiert sind, und zwar organisiert nicht wie früher in Gewerkschaften und Genossenschaften, sondern in Sowjets.“ („Thesen und Referat Lenins über bürgerliche Demokratie und Diktatur des Proletariates“, Erster Kongress der Komintern). Außerdem bestand die Hauptlehre, die der Erste Kongress der Dritten Internationale gezogen hatte, in Lenins Worten darin: „Aber ich glaube, dass wir nach fast zwei Jahren Revolution die Frage nicht so stellen dürfen, sondern direkte Vorschläge machen müssen, denn die Ausbreitung des Rätesystems ist für uns, besonders für die meisten westeuropäischen Länder, die wichtigste Aufgabe. (…) Ich habe einen praktischen Vorschlag zu machen, der dahin geht, eine Resolution anzunehmen, in der speziell drei Punkte angenommen werden.  Erstens: Eine der wichtigsten Aufgaben für die Genossen der westeuropäischen Länder besteht darin, die Massen über die Bedeutung, die Wichtigkeit und die Notwendigkeit des Rätesystems aufzuklären. (…) Drittens müssen wir sagen, dass die Eroberung einer kommunistischen Mehrheit in den Räten die Hauptaufgabe in allen Ländern ist, in denen die Sowjetmacht noch nicht gesiegt hat.“ (ebenda).

  Die Arbeiterklasse schuf nicht nur neue Kampforgane – die Arbeiterräte -, die den neuen Zielen und dem neuen Inhalt des Kampfes in der Dekadenz des Kapitalismus angepasst waren. Darüber hinaus machte der Erste Kongress den Revolutionären klar, dass das Proletariat sich auch den Gewerkschaften stellen musste, die mit Sack und Pack ins Lager der Bourgeoisie übergegangen waren, wie aus den Berichten der Delegierten der verschiedenen Ländern ersichtlich wird. So sagte Albert, ein Delegierter aus Deutschland, in seinem Bericht über die Lage in Deutschland: „Für uns ist von Bedeutung, dass durch diese Betriebsräte die bisher in Deutschland so sehr einflussreichen Gewerkschaften an die Wand gedrückt worden sind, die Gewerkschaften, die mit den Gelben eins waren, die den Arbeitern verboten hatten zu streiken, die gegen jede offene Bewegung der Arbeiter waren, die den Arbeitern überall in den Rücken gefallen sind. Diese Gewerkschaften sind seit dem 9. November vollständig ausgeschaltet. Alle Lohnbewegungen seit dem 9. November wurden ohne, ja gegen die Gewerkschaften geführt, die selbst keine einzige Lohnforderung der Arbeiter durchgedrückt hatten.“ („Protokolle des Ersten Kongresses der Kommunistischen Internationale“). Dasselbe gilt auch für Plattens Bericht aus der Schweiz: „Die gewerkschaftliche Bewegung in der Schweiz hat dieselben Krankheiten aufzuweisen wie die deutsche. (…) Die Arbeiter in der Schweiz haben frühzeitig erkannt, dass sie ihre materielle Lage nur verbessern können, wenn sie über die Statuten der Gewerkschaften hinaus einfach zum Kampf schreiten, nicht unter der Führung des alten Gewerkschaftsbundes, sondern unter selbst gewählter Leitung. Es kam zur Gründung eines Arbeiterkongresses und eines Arbeiterrats (…) Der Arbeiterkongress kam zustande trotz des Widerstandes des Gewerkschaftsbundes (…)“ (ebenda). Diese Realität einer oft gewaltsamen Konfrontation zwischen der in Räten organisierten Arbeiterbewegung und den Gewerkschaften, die zur letzten Verteidigungslinie des Kapitalismus geworden waren, ist eine Erfahrung, die sich mehr oder weniger deutlich durch die Berichte aller Delegierten zieht.[4] [5]

Die Realität der mächtigen konterrevolutionären Rolle der Gewerkschaften war neu für die bolschewistische Partei: In seinem Bericht über Russland konnte Sinowjew noch immer sagen: „Die Gewerkschaften haben bei uns eine andere Entwicklung durchgemacht als in Deutschland. Sie haben während der Jahre 1904-1905 eine grosse revolutionäre Rolle gespielt, und sie gehen parallel mit unserem Kampf für den Sozialismus. (…) Die grösste Mehrheit der Mitglieder vertritt den Standpunkt unserer Partei, und alle Beschlüsse werden nur im Geiste unserer Partei gefasst.“ Auch sagte Bucharin, Mitverfasser und Co-Rapporteur der Plattform, die verabschiedet wurde: „Genossen! Meine Aufgabe besteht darin, die von uns vorgelegten Richtlinien zu analysieren. (…) Wenn wir für die Russen schreiben würden, so hätten wir die Rolle der Gewerkschaften in dem revolutionären Umwandlungsprozess beschrieben. Aber nach der Erfahrung der deutschen Kommunisten ist dies unmöglich, denn die dortigen Genossen erzählen uns, dass die Stellung der dortigen Gewerkschaften der unseren völlig entgegengesetzt ist. Bei uns spielen die Gewerkschaften im Prozess der positiven Arbeit die Hauptrolle; die Sowjetmacht stütz sich gerade auf sie, in Deutschland ist es umgekehrt.“ (ebenda).

Dies ist wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass die Gewerkschaften bis 1905 nicht wirklich in Russland in Erscheinung traten, dass sie erst durch die Sowjets angespornt wurden. Als die Bewegung nach dem Scheitern der Revolution abebbte, neigten die Gewerkschaften ebenfalls dazu, zu verschwinden. Die relative Schwäche des zaristischen Staates ließ es im Gegensatz zu den westlichen Ländern nicht zu, dass die Gewerkschaften in den Staat integriert werden konnten. In den meisten entwickelten, westlichen Ländern wie Deutschland, England oder Frankreich hatten sich die Gewerkschaften durch ihre Beteiligung in verschiedensten Organismen und Schlichtungskommissionen immer mehr in die Verwaltung der Gesellschaft eingegliedert. Der Ausbruch des Krieges beschleunigte diese Tendenz und die Gewerkschaften mussten ihr Lager definitiv wählen. Dies machten sie in den angeführten Ländern, indem sie die Arbeiterklasse verrieten, einschliesslich der anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft CGT in Frankreich[5] [5]. In Russland wurden die Gewerkschaften durch den Klassenkampf, ausgelöst durch die Privatisierungen und die Schrecken des Krieges, aktiviert. Ihre Rolle beschränkte sich jedoch mehr auf Anhängsel der Sowjets, wie schon 1905. Es muss jedoch festgehalten werden, dass trotz ihrer geringeren Integration in den Staat einige Gewerkschaften in Russland zur Zeit der revolutionären Periode von 1917 eine reaktionäre Rolle spielten, so die Eisenbahnergewerkschaft.

Diese unterschiedlichen Erfahrungen in der Arbeiterschaft sollten mit der nachlassenden Dynamik der revolutionären Welle und mit der Isolierung Russlands (zu diesem Zeitpunkt behauptete noch niemand, dass die bolschewistische Partei die Speerspitze der Konterrevolution sei) die Fähigkeit der Internationale beeinträchtigen, alle Lehren und Erfahrungen des Proletariats weltweit zu ziehen und zu vereinheitlichen. Die Stärke der revolutionären Bewegung, die zur Zeit des Ersten Kongresses beträchtlich war, wie auch die Übereinstimmung der Erfahrungen aller Delegierten aus den höchst entwickelten kapitalistischen Ländern in der Gewerkschaftsfrage ließ diese Frage offen. Genosse Albert zog somit für das Präsidium und als Co-Rapporteur in der Gewerkschaftsfrage folgende Schlussfolgerung: „Ich komme gleich auf eine sehr wichtige Frage, die in den Richtlinien nicht behandelt ist, das ist die gewerkschaftliche Bewegung. Wir haben uns lange mit dieser Frage beschäftigt. Wir haben die Vertreter der einzelnen Länder über die gewerkschaftliche Bewegung ausgefragt und müssen feststellen, dass es heute unmöglich ist, zu dieser Frage in den Richtlinien international Stellung zu nehmen, da die Stellung des Proletariat in den einzelnen Ländern völlig verschieden ist. (…) Das alles sind Verhältnisse, die in den einzelnen Ländern verschieden sind, so dass es uns unmöglich erscheint, den Arbeitern klare internationale Richtlinien zu geben. Weil dies nicht möglich ist, können wir diese Frage heute nicht entscheiden, wir müssen es den einzelnen Landesorganisationen überlassen, zu ihr Stellung zu nehmen.“ (ebenda). Auf die Idee der Revolutionierung der Gewerkschaften, die von Reinstein, einem ehemaligen Mitglied der amerikanischen sozialistischen Arbeiterpartei, der als Delegierter der Vereinigten Staaten anerkannt wurde[6] [5], vorgebracht wurde, entgegnete Albert, Delegierter der Kommunistischen Partei Deutschlands: „Man könnte leicht sagen: ihr müsst sie revolutionieren, an Stelle der gelben Führer revolutionäre setzen. Aber das lässt sich nicht so ohne weiteres machen, weil die ganzen Organisationsformen der Gewerkschaften dem alten Staat angepasst sind, weil das Rätesystem auf der Grundlage der Fachverbände nicht durchführbar ist.“ (ebenda).

Das Kriegsende, eine gewisse „Sieges-Euphorie“ in den Siegerländern und die Fähigkeit der Bourgeoisie, mit der unerschütterlichen Unterstützung durch die sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften eine heftige Repression gegen gesellschaftliche Bewegungen zu entfesseln und gleichzeitig wichtige wirtschaftliche und politische Zugeständnisse gegenüber der Arbeiterklasse (wie das allgemeine Wahlrecht und den Achtstundentag) zu machen, ermöglichten es Stück für Stück, die sozioökonomische Lage in allen Ländern zu stabilisieren. Dies verursachte einen fortschreitenden Verfall in der Intensität der revolutionären Welle, die gerade wegen der Kriegsgräuel und deren Folgen entstanden war. Die Erschöpfung des revolutionären Elans und der Beginn einer Verbesserung der wirtschaftlichen Lage lastete schwer auf der Fähigkeit der revolutionären Bewegung, die Lehren aus all den Kampferfahrungen auf internationaler Ebene zu ziehen und ihr Verständnis aller Folgen des historischen Wandels für die Formen und den Inhalt des proletarischen Kampfes zu vereinheitlichen. Mit der Isolierung der Russischen Revolution wurde die Kommunistische Internationale immer stärker von den Positionen der bolschewistischen Partei dominiert. Diese wurde unter dem fürchterlichen Druck der Ereignisse in wachsendem Maße dazu gezwungen, Zugeständnisse zu machen, um zu versuchen, Zeit zu gewinnen und aus dem Schraubstock auszubrechen, in dem sie gezwängt worden war. Drei wichtige Ereignisse in dieser Rückentwicklung fanden zwischen dem Ersten und Zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale (Juli 1920) statt. Kurz vor ihrem Zweiten Kongress 1920 schuf die KI eine Rote Gewerkschaftsinternationale, die in Konkurrenz zur Internationale der „gelben“ Gewerkschaften in Amsterdam (die mit den verräterischen sozialdemokratischen Parteien verknüpft waren) stand. Im April 1920 löste die Exekutivkommission der KI ihr Amsterdamer Büro für Westeuropa auf, das die radikalen Positionen der westeuropäischen Parteien gegen einige der Orientierungen der KI, insbesondere in der Frage der Gewerkschaften und des Parlamentarismus, artikuliert hatte. Und schließlich verfasste Lenin im April - Mai 1920 eines seiner schwächsten Werke: Der Linksradikalismus, eine Kinderkrankheit des Kommunismus, in dem er in ungerechtfertigter Weise all jene kritisierte, die er „Linksradikale“ nannte und die genau jene Ausdrücke der Linken waren, welche die Erfahrungen der geballtesten und fortgeschrittensten Bastionen des europäischen Proletariats zum Ausdruck brachten[7] [5]. Statt die Diskussion, die Konfrontation und Vereinheitlichung der unterschiedlichen Erfahrungen des internationalen Kampfes des Proletariats weiterzuverfolgen, öffnete dieser Wechsel in der Perspektive und Stellung die Tür zum Rückzug zu den alten Positionen der radikalen Sozialdemokraten[8] [5].

Trotz des immer ungünstigeren Verlaufs der Ereignisse bewies die Kommunistische Internationale in ihren Leitsätzen zur Gewerkschaftsfrage, die auf dem Zweiten Kongress angenommen wurden, dass sie ihre Fähigkeit zur theoretischen Klärung noch nicht ganz verloren hatte. Dank der Auseinandersetzung mit den Erfahrungen aus dem Kampf in allen Ländern und einer Annäherung an die Lehren aus der konterrevolutionären Rolle der Gewerkschaften, gelangte sie zur Überzeugung, dass Letztere, trotz der entgegen gesetzten Erfahrungen in Russland, während des Ersten Weltkriegs auf die Seite der Bourgeoisie übergewechselt waren. „Aus denselben Gründen, denen zufolge die internationale Sozialdemokratie sich mit geringen Ausnahmen nicht als Werkzeug des revolutionären Kampfes des Proletariats zum Sturz des Kapitalismus, sondern als eine Organisation erwies, die das Proletariat im Interesse der Bourgeoisie von der Revolution zurückhält, erwiesen sich die Gewerkschaften während des Krieges in den meisten Fällen als Teil des Kriegsapparates der Bourgeoise und halfen dieser, aus der Arbeiterklasse möglichst viel Schweiss auszupressen, zwecks möglichst energischer Kriegsführung für die Interessen des kapitalistischen Gewinns.“ („Leitsätze über die Gewerkschaftsbewegung, Betriebsräte und die Kommunistische Internationale“). Im Gegensatz zu ihren eigenen Erfahrungen in Russland akzeptierten die Bolschewiki auch, dass von nun an die Gewerkschaften im Wesentlichen eine negative Rolle spielten und eine mächtige Bremse gegen die Entwicklung des Klassenkampfes bildeten, da sie genauso wie die Sozialdemokratie vom Reformismus kontaminiert waren.

Jedoch führte der fürchterliche Druck der Ereignisse – das Umschlagen der revolutionären Welle, die sozioökonomische Stabilisierung des Kapitalismus und die Isolation der Russischen Revolution – die Komintern dazu, unter Federführung der Bolschewiki an den alten radikalen sozialdemokratischen Positionen festzuhalten, statt die politische Vertiefung zu vervollständigen, die notwendig war, um den Wandel in der Dynamik, im Inhalt und in der Form des Klassenkampfes in der dekadenten Phase des Kapitalismus zu verstehen. So wundert es nicht, dass die programmatischen Leitsätze, die gegen den Widerstand vieler kommunistischer Organisationen und nicht zuletzt der Repräsentanten der fortgeschrittensten Fraktionen des westeuropäischen Proletariats vom Zweiten Kongress der Komintern verabschiedet wurden, einen Rückschritt darstellen. Ohne jegliche Argumente und in völligem Widerspruch zur allgemeinen Orientierung, die auf dem Ersten Kongress entwickelt worden war, aber auch zur konkreten Realität des Kampfes vertraten die Bolschewiki die Idee: „Die Gewerkschaften, die während es Krieges zu Organen für die Beeinflussung der Arbeitermassen im Interesse der Bourgeoisie geworden waren, werden jetzt zu Organen der Zerstörung des Kapitalismus“ (ebenda). Diese Behauptung wurde zwar sofort stark modifiziert[9] [5], doch die Tür war nun offen für alle möglichen taktischen Mittel, um die Gewerkschaften „wiederzuerobern“, sie „in die Enge zu treiben“ und die Taktik der Einheitsfront zu entwickeln, etc. – alles unter dem Vorwand, dass die Kommunisten noch immer eine Minderheit seien, dass die Situation immer ungünstiger werde, dass es notwendig sei, „mit den Massen zu gehen“, etc.

Die Entwicklung in der Gewerkschaftsfrage, die wir oben kurz umrissen haben, ähnelte in vielen Details dem Werdegang der anderen politischen Positionen der Kommunistischen Internationale. Nachdem sie wichtige Fortschritte und eine theoretische Klärung erzielt hatte, entwickelte sie sich mit dem Rückgang der internationalen revolutionären Welle zurück. Es ist nicht an uns, den Richter der Geschichte zu spielen und Zensuren zu verteilen, sondern einen Prozess zu verstehen, an dem alle mit ihren Stärken und Schwächen teilhatten. Angesichts einer wachsenden Isolation und des Drucks durch den Rückzug sozialer Bewegungen versuchte jede Partei, Verhaltensweisen und Positionen anzunehmen, die von den spezifischen Erfahrungen der Arbeiterklasse in den einzelnen Ländern bestimmt wurden. Der vorherrschende Einfluss der Bolschewiki in der Kommunistischen Internationale, einst ein aktiver Faktor bei ihrer Gründung, war allmählich in eine Behinderung des Klärungsprozesses umgeschlagen, indem ihre Positionen im Wesentlichen aus der Erfahrung der Russischen Revolution allein abgeleitet wurden[10] [5].

Die Frage des Parlamentarismus

Die Position zur Parlamentspolitik entwickelte sich wie auch jene zur Gewerkschaftsfrage von einem Bestreben zur Klärung, einschließlich der Leitsätze über den Parlamentarismus, die auf dem Zweiten Kongress der Komintern angenommen wurden, hin zu einer zweiten Periode. Diese zeichnete sich durch die Leitsätze aus, diese Thesen wieder zurückzunehmen[11] [5]. Doch mehr noch als die Gewerkschaftsfrage, auf die wir uns in diesem Artikel konzentriert haben, wurde die Parlamentarismusfrage im Rahmen der Entwicklung des Kapitalismus von seiner aufsteigenden zu seiner dekadenten Phase betrachtet. So können wir in den Leitsätzen des Zweiten Kongresses lesen: „Der Kommunismus muss von einer klaren theoretischen Einschätzung des Charakters der gegenwärtigen Epoche ausgehen (Höhepunkt des Kapitalismus; seine imperialistische Selbstverneinung und Selbstvernichtung; ununterbrochenes Anwachsen des Bürgerkrieges usw.) (…) Die Stellung der III. Internationale zum Parlamentarismus wird nicht durch eine neue Doktrin, sondern durch die Änderungen der Rolle des Parlamentarismus selbst bestimmt. In der vergangenen Epoche hat das Parlament als Instrument des sich entwickelnden Kapitalismus in gewissem Sinne eine historisch fortschrittliche Arbeit geleistet. Aber unter den gegenwärtigen Verhältnissen, unter dem zügellosen Imperialismus, ist das Parlament zu einem Werkzeug der Lüge, des Betrugs, der Gewalttat und des entnervten Geschwätzes geworden. Angesichts der imperialistischen Verheerungen, Plünderungen, Gewalttaten, Räubereien und Zerstörungen verlieren die jeder Planmässigkeit und Festigkeit baren parlamentarischen Reformen für die werktätigen Massen jede praktische Bedeutung. (…) Gegenwärtig kann das Parlament für die Kommunisten auf keinen Fall ein Schauplatz des Kampfes um Reformen, um Verbesserung der Lage der Arbeiter sein, wie das in gewissen Augenblicken der vergangenen Periode der Fall war. Der Schwerpunkt des politischen Lebens hat sich vollkommen aus dem Parlament verschoben, und zwar endgültig. (…) Dabei muss man stets die relative Unwichtigkeit dieser Frage im Auge behalten. Da der Schwerpunkt in dem ausserparlamentarischen Kampf um die Staatsmacht liegt, so versteht es sich von selbst, dass die Frage der proletarischen Diktatur und des Kampfes der Massen für diese Diktatur mit der Teilfrage der Ausnutzung des Parlamentarismus nicht gleichzusetzen ist.“ („Leitsätze über die kommunistischen Parteien und den Parlamentarismus“). Leider standen diese Leitsätze nicht in einem Zusammenhang mit ihren eigenen theoretischen Untermauerungen. Trotz dieser klaren Stellungnahmen hatte die Kommunistische Internationale insofern nicht alle Auswirkungen mit einbezog, als sie von allen Kommunistischen Parteien verlangte, weiterhin „revolutionäre“ Propaganda auf der parlamentarischen Tribüne und in den Wahlen zu betreiben.

Die nationale Frage

Das Manifest, das vom Ersten Kongress der Kommunistischen Internationale verabschiedet wurde, war besonders in der nationalen Frage sehr weitsichtig, als es angesichts der neuen Periode, die vom Ersten Weltkrieg eingeleitet wurde, verkündete: „Der nationale Staat, der der kapitalistischen Entwicklung einen mächtigen Impuls gegeben hat, ist für die Fortentwicklung der Produktivkräfte zu eng geworden.“ Die Folge: „Um so unhaltbarer wurde die Lage der unter den Grossmächten Europas und anderer Weltteile verstreuten kleinen Staaten.“ Bis zu dem Punkt, wo die kleinen Staaten sich selbst genötigt sehen, ihre eigene imperialistische Politik zu entwickeln. „Diese Kleinstaaten, die zu verschiedenen Zeiten als Bruchstücke von grossen Staaten, als Scheidemünze zu Bezahlung verschiedener Dienstleistungen, als strategische Puffer entstanden sind, haben ihre Dynastien, ihre herrschenden Banden, ihre imperialistischen Ansprüche, ihre diplomatischen Machenschaften. (…) Gleichzeitig ist die Zahl der Kleinstaaten gestiegen: aus dem Bestand der österreichisch-ungarischen Monarchie, aus den Teilen des Zarenreichs sondern sich neue Staatswesen ab, die, kaum in die Welt gesetzt, sich gegenseitig wegen der staatlichen Grenzen an die Kehle springen.“ Unter Berücksichtigung dieser Schwächen im Rahmen eines Systems, das für die Expansion der Produktivkräfte zu klein geworden ist, wird die nationale Unabhängigkeit als „illusorisch“ beschrieben. Den kleinen Nationen bleibe keine andere Wahl, als das Spiel der Großmächte mitzuspielen und sich so teuer wie möglich in den interimperialistischen Beziehungen zu verkaufen. „Ihre illusorische Unabhängigkeit hatte bis zum Kriege dieselben Stützen wie das europäische Gleichgewicht: den ununterbrochenen Gegensatz zwischen den beiden imperialistischen Lagern. Der Krieg hat dieses Gleichgewicht zerstört. Indem der Krieg anfänglich Deutschland ein gewaltiges Übergewicht verlieh, zwang er die Kleinstaaten, Heil und Rettung in der Grossmut des deutschen Militarismus zu suchen. Nachdem Deutschland geschlagen wurde, wandte sich die Bourgeoisie der Kleinstaaten gemeinsam mit ihren patriotischen „Sozialisten“ dem siegreichen Imperialismus der Verbündeten zu und begann in den heuchlerischen Punkten des Wilsonschen Programms Sicherungen für ihr weiteres selbständiges Fortbestehen zu suchen. (…) Unterdessen bereiteten die alliierten Imperialisten solche Kombinationen von neuen und alten Staaten vor, um sie durch die Haftpflicht des gegenseitigen Hasses und allgemeiner Ohnmacht zu binden.“ („Manifest an das Proletariat der ganzen Welt“, Erster Kongress der Kommunistischen Internationale).

Diese Klarheit wurde unglücklicherweise seit dem Zweiten Kongress, mit der Annahme der „Leitsätze über die Nationalitäten- und Kolonialfrage“, Zug um Zug preisgegeben, als nicht mehr davon ausgegangen wurde, dass alle Nationen, ob groß oder klein, gezwungen waren, eine imperialistische Politik zu praktizieren und sich selbst an die Strategie der Großmächte zu binden. Tatsächlich wurden die Nationen in zwei Gruppen aufgeteilt: „(…) genaue Trennung der unterdrückten, abhängigen, nicht gleichberechtigten Nationen von den unterdrückenden, ausbeutenden, vollberechtigten Nationen (…)“ („Leitsätze über die Nationalitäten- und Kolonialfrage“) Was beinhaltete: „Jede Partei die der III. Internationale anzugehören wünscht, ist verpflichtet (…) jede Freiheitsbewegung in den Kolonien nicht nur mit Worten, sondern auch durch Taten zu unterstützen (…) Parteimitglieder, die die von der Kommunistischen Internationale aufgestellten Verpflichtungen und Leitsätze grundsätzlich ablehnen, müssen aus der Partei ausgeschlossen werden.“ („Leitsätze über die Bedingungen der Aufnahme in die Kommunistische Internationale“). Darüber hinaus – und im Gegensatz zu dem, was richtigerweise im „Manifest“ des Ersten Kongresses festgestellt wurde – wurde der Nationalstaat nicht mehr betrachtet als „zu eng geworden für die Fortentwicklung der Produktivkräfte“, denn „die Fremdherrschaft hemmt beständig die Entwicklung des sozialen Lebens; daher muss der erste Schritt der Revolution die Beseitigung dieser Fremdherrschaft sein.“ („Ergänzungsthesen über die Nationalitäten- und Kolonialfrage“, Punkt 6). Hier können wir sehen, dass durch den Verzicht auf eine Vertiefung der Konsequenzen aus der Analyse über den Eintritt des kapitalistischen Systems in die Dekadenz die Kommunistische Internationale schnell auf das dünne Eis des Opportunismus geriet.

Schlussfolgerungen

Wir erheben nicht den Anspruch, dass die Kommunistische Internationale ein vollständiges Verständnis der Dekadenz der kapitalistischen Produktionsweise hätte haben müssen. Wie wir im nächsten Artikel sehen werden, waren sich die Dritte Internationale und ihre Parteien sicherlich mehr oder weniger bewusst darüber, dass eine neue Epoche angebrochen war, dass der Kapitalismus ausgedient hatte, dass die unmittelbare Aufgabe darin bestand, nicht mehr Reformen, sondern die Macht zu erringen, und dass die Klasse, die den Kapitalismus verkörpert, die Bourgeoisie, reaktionär geworden ist, zumindest in den zentralen Ländern. Es war eine der Schwächen der Komintern, dass sie nicht imstande war, alle Lehren aus der neuen Epoche zu ziehen, die durch den Ersten Weltkrieg eingeleitet worden war, Lehren über den Inhalt und die Form des proletarischen Kampfes. Weit entfernt davon, ausschließlich auf die Komintern und ihre Parteien beschränkt gewesen zu sein, war diese Schwäche vielmehr die Frucht allgemeiner Schwierigkeiten, die die Arbeiterbewegung als solche hatte: die tiefe Spaltung der Revolutionäre zum Zeitpunkt des Verrats durch die Sozialdemokratie und die Notwendigkeit ihres Wiederaufbaus unter den schwierigen Umständen des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegsperiode; die Spaltung zwischen Sieger- und Verliererländern, die keine günstigen Bedingungen für die Generalisierung der revolutionären Bewegung schuf; der rapide Rückgang der Bewegungen und Kämpfe, als die einzelnen Länder wieder soweit waren, die wirtschaftliche und soziale Lage nach dem Krieg zu stabilisieren, etc. Diese Schwäche konnte nur wachsen, und es fiel den linken Fraktionen zu, die sich von der Komintern trennten, die Arbeit fortzusetzen, die es noch zu machen galt.

C. Mcl.


[1] [5] „Die 2. Internationale hat ihren Teil an nützlicher Vorarbeit geleistet, um die proletarischen Massen zunächst während der langen „friedlichen“ Periode härtester kapitalistischer Sklaverei und raschesten kapitalistischen Fortschritts im letzten Drittel des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts zu organisieren. Der 3. Internationale steht die Aufgabe bevor die Kräfte des Proletariats zum revolutionären Ansturm  gegen die kapitalistischen Regierungen zu organisieren, zum Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie aller Länder, für die proletarische Macht, für den Sieg des Sozialismus!“ (Lenin, „Lage und Aufgaben der Sozialistischen Internationale“, Werke, Band, 21)             

[2] [5] siehe die dreiteilige Artikelserie „Die Revolution von 1905 in Russland“, Internationale Revue Nr. 36-38

[3] [5] „Der wirtschaftliche Kampf des Proletariats verwandelt sich in der Epoche des Zerfalls des Kapitalismus viel schneller in einen politischen Kampf, als dies im Zeitalter der friedlichen Entwicklung des Kapitalismus geschehen konnte. Jeder grosse wirtschaftliche Zusammenstoss kann die Arbeiter unmittelbar vor die Frage der Revolution stellen.“ („Leitsätze über die Gewerkschaftsbewegung, die Betriebsräte und die Kommunistische Internationale“, 2. Kongress der Komintern) „Lohnkämpfe der Arbeiter bringen  – auch wenn sie erfolgreich sind – nicht die erhoffte Hebung der Lebenslage, da der sprungweise sich erhöhende Kaufpreis aller Bedarfsgüter jeden Erfolg illusorisch macht. Die Lebenslage der Arbeiter kann nur dann gehoben werden, wenn nicht die Bourgeoise, sondern das Proletariat selbst die Produktion beherrscht. Die gewaltigen Lohnkämpfe der Arbeiter in allen Ländern, in denen deutlich die verzweifelte Lage zum Ausdruck kommt, machen durch ihre elementare Wucht und Tendenz der Verallgemeinerung die Fortführung der kapitalistischen Produktionsweise unmöglich.“ („Richtlinien der Kommunistischen Internationale“, 1. Kongress der Komintern)

[4] [5] Auch der Bericht von Feinberg über England unterstreicht: „Die Gewerkschaften gaben die Errungenschaften, die sie in langjährigem Kampf erobert hatten, auf, und das Zentralkomitee der Gewerkschaften schloss den Burgfrieden mit der Bourgeoisie. Aber das Leben, die Verstärkung der Ausbeutung, die Erhöhung der Lebensmittelpreise zwangen die Arbeiter, sich gegen die Kapitalisten, die den Burgfrieden zu ihren Ausbeutungszwecken ausnützen, zu wehren. Sie sahen sich gezwungen, erhöhte Arbeitslöhne zu verlangen und diese Forderungen durch Streik zu unterstützen. Das Zentralkomitee der Gewerkschaften und die früheren Führer der Bewegung hatten der Regierung versprochen, die Arbeiter im Zaum zu halten, und deshalb versuchten sie die Bewegung zurückzuhalten und desavouierten die Streiks. Dennoch fanden die Streiks „unoffiziell“ statt.“ („Protokoll des Ersten Kongresses der Kommunistischen Internationale“). Der Bericht von Reinstein über die USA hob hervor: „Nur muss man hier betonen, dass die amerikanische kapitalistische Klasse praktisch und schlau genug war, einen praktischen und tatkräftigen Blitzableiter für sich zu schaffen, und dieser bestand in der Entwicklung einer antisozialistischen grossen gewerkschaftlichen Organisation unter der Führung von Gompers. (…) Gompers ist aber eher ein amerikanischer Subatow (…) (Subatow war der Organisator der „gelben“ Gewerkschaften für die zaristische Polizei). Kuusinen, der Delegierte für Finnland, ging in der Diskussion über die „Richtlinien der Kommunistischen Internationale“ in dieselbe Richtung: „Es gibt eine Anmerkung zu machen bezüglich des Abschnitts „Demokratie und Diktatur“, bei dem es um die revolutionären Gewerkschaften und Genossenschaften geht. In Finnland haben wir weder revolutionäre Gewerkschaften als auch keine revolutionären Genossenschaften und wir zweifeln auch daran, dass es solche jemals in unserem Land geben wird. Die Struktur dieser Gewerkschaften und Genossenschaften überzeugt uns, dass nach der Revolution die neue soziale Ordnung besser aufgebaut werden kann ohne diese Organisationen.“

[5] [5] Dies war auch der Grund, weshalb die CGT in Spanien 1914 nicht sofort ins Lager der Bourgeoisie überwechselte, was sie später dann tat. Da Spanien nicht am Ersten Weltkrieg teilnahm, wurde sie nicht auf die Feuerprobe gestellt zwischen den Lagern des Proletariates und der Bourgeoise zu wählen.   

[6] [5] Dieser Delegierte schlug einen Anhang in diesem Sinne zur den „Richtlinien“ vor, der vom Kongress abgelehnt wurde.

[7] [5] Lenin ging soweit, dass er schrieb: „Aus all dem ergibt sich die Notwendigkeit, die absolute Notwendigkeit für die kommunistische Partei, die Vorhut des Proletariats, zu lavieren, Absprachen zu machen, Kompromisse zu schliessen, mit den verschiedenen Gruppen von Arbeitern, mit den verschiedenen Parteien der Arbeiter und denen anderer Unterdrückter.“

[8] [5] „ (…) so kann die zweite Aufgabe, die nun zur nächsten wird und die in der Fähigkeit besteht, die Massen heranzuführen an die neuen Positionen, die den Sieg der Vorhut in der Revolution zu sichern vermag – so kann diese nächste Aufgabe nicht erfüllt werden, ohne dass man mit dem linken Doktrinarismus aufräumt, ohne dass man seine Fehler völlig überwindet und sich von ihnen frei macht.“

[9] [5] Die „Leitsätze“ merkten an: „Diese Änderung des Charakters der Gewerkschaften wird von der alten Gewerkschaftsbürokratie und durch die alten Organisationsformen der Gewerkschaften auf jede Weise behindert.“

[10] [5] „Der 2. Kongress  der Kommunistischen Internationale erkennt als unrichtig die Ansichten über die Beziehungen der Partei zu Klasse und Masse, über die Unverbindlichkeit der Teilnahme der kommunistischen Parteien an den bürgerlichen Parlamenten und reaktionärsten Gewerkschaften an, die in besonderen Beschlüssen des 2. Kongresses eingehend widerlegt sind und am vollständigsten durch die „Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands“ (KAPD) verteidigt werden, sowie teilweise von der „Kommunistischen Partei der Schweiz“, dem Organ des Osteuropäischen Sekretariats der Kommunistischen Internationale „Der Kommunismus“ in Wien, und einigen holländischen Genossen, ferner von einigen kommunistischen Organisationen in England, z.B. der „Sozialistischen Arbeiterföderation“ u. a., sowie von den „Industriearbeitern der Welt“ (IWW) in Amerika und von den Shop Stewards Committees in England usw. („Leitsätze über die Grundaufgaben der Kommunistischen Internationale“, Punkt 18)               

[11] [5] Nachdem wir in der Gewerkschaftsfrage ins Detail gegangen sind, können wir dies im Rahmen dieses Artikels über die Dekadenz nicht auch noch in der Frage des Parlamentarismus machen. Wir verweisen französischsprachige Leser auf unsere Artikelsammlung „Mobilisation électorale – demobilisation de la classe ouvrière“, die zwei Untersuchungen über diese Frage wieder veröffentlichten, die in Révolution Internationale Nr. 2, Februar 1973, unter dem Titel „Les Barricades de la bourgeoisie“ und in Révolution Internationale Nr. 10, Juli 1974, unter dem Titel „Les élections contre la classe ouvrière“ erschienen. Der letztgenannte Artikel erschien auf Englisch in World Revolution Nr. 2, November 1974, unter dem Titel „Elections: the discreet charm of the bourgeoisie“.

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [6]

Internationale Revue 39 - Editorial

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Imperialistisches Chaos, Ökokatastrophe: Der Kapitalismus in der Sackgasse

Vor mehr als hundert Jahren sagte Engels voraus, dass die kapitalistische Gesellschaft, sich selber überlassen, die Menschheit in die Barbarei stürzen würde. Und tatsächlich, in den letzten hundert Jahren haben imperialistische Kriege nicht aufgehört, auf immer abstoßendere Weise diese Voraussage zu bestätigen. Heute hat die kapitalistische Welt eine neue Türe zur Apokalypse geöffnet, zu der von Menschenhand geschaffenen ökologischen Katastrophe, welche in wenigen Generationen den Planeten Erde zu einem unwirtlichen Ort wie den Planeten Mars machen könnte. Obwohl sich die Verteidiger der kapitalistischen Ordnung dieser Perspektive bewusst sind, können sie rein gar nichts dagegen tun, denn es ist ihre eigene Produktionsweise, welche die imperialistischen Kriege wie auch die ökologische Katastrophen hervorruft.

Imperialistischer Krieg = Barbarei

Das blutige Fiasko des Irakfeldzuges der 2003 von den USA angeführten Koalition stellt ein schicksalhaftes Moment in der Entwicklung der imperialistischen Kriege auf dem Weg der Zerstörung der Gesellschaft selber dar. Vier Jahre nach der Invasion ist der Irak weit davon entfernt, „befreit“ zu sein, und hat sich in das verwandelt, was die bürgerliche Presse vorsichtig als einen „gescheiterten Staat“ definiert; dieses Land, dessen Bevölkerung die Massaker von 1991 über sich ergehen lassen musste, danach während eines Jahrzehnts durch die Wirtschaftssanktionen1[1] [7] ausgeblutet wurde und nun täglich durch Selbstmordattentate, Pogromen der verschiedenen „Aufständischen“, von den Todesschwadronen des Innenministeriums oder durch willkürliche Hinrichtungen durch die Besatzungstruppen aufgerieben wird. Die Situation im Irak ist nichts anderes als das Epizentrum eines Prozesses des Zerfalls und des militärische Chaos, welches sich über Palästina, Somalia, den Sudan, den Libanon und Afghanistan ausbreitet und immer neue Regionen zu befallen droht. Die kapitalistischen Metropolen sind nicht davon ausgenommen, wie die Anschläge in New York, Madrid oder London im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts zeigen. Weit davon entfernt, eine neue Ordnung im Nahen und Mittleren Osten aufzubauen, hat die amerikanische Militärmacht das Chaos nur vergrößert.

In diesem Sinn gibt es nichts Neues an diesem Massaker. Der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 war ein erster Schritt zu einer barbarischen „Zukunft“. Das Gemetzel von Millionen junger Arbeiter, welche die jeweiligen imperialistischen Herrscher in die Schützengräben geschickt hatten, wurde abgelöst durch die Pandemie der „spanischen Grippe“, welche weitere Millionen von Opfern forderte. Die mächtigsten europäischen Nationen befanden sich am Ende des Krieges ökonomisch am Boden. Nach der Niederlage der Oktoberrevolution von 1917 und der verschiedenen Arbeiterrevolutionen, die im Laufe der 20er Jahren unter diesem Einfluss ausbrachen, war der Weg zu einem noch katastrophaleren Krieg geebnet, zum Zweiten Weltkrieg von 1939 bis 1945. Hier wurde die wehrlose Zivilbevölkerung das Hauptziel eines systematischen Massakers durch die Luftstreitkräfte; ein Völkermord im Herzen der europäischen Zivilisation forderte Millionen von Menschenleben.

Während des Kalten Krieges von 1947 bis 1989 gab es eine ganze Reihe von zerstörerischen Kriegen, in Korea, Vietnam, Kambodscha und quer durch ganz Afrika, während der Antagonismus zwischen den USA und der UdSSR die Welt dauernd mit der weltweiten nuklearen Apokalypse bedrohte.

Was heute am imperialistischen Krieg neu ist, ist nicht das absolute Ausmaß der Zerstörung, obwohl die Zerstörungskraft mindestens der USA sehr viel größer ist als je zuvor, denn die jüngeren militärischen Konflikte haben noch nicht die wesentlichen Bevölkerungskonzentrationen im Herzen des Kapitalismus in den Abgrund geführt, wie dies während des Ersten und Zweiten Weltkriegs der Fall war. 1918 verglich Rosa Luxemburg die Barbarei des Ersten Weltkrieges mit dem Niedergang des Alten Roms und der düsteren Zeit, die darauf folgte. Heute scheint selbst dieser dramatische Vergleich unangemessen, wenn man den grenzenlosen Schrecken beschreiben will, den uns der Kapitalismus bietet. Trotz der Brutalität und dem Chaos der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts gab es dabei immer noch eine Perspektive - wenn auch eine illusorische - eines Wiederaufbaus einer gesellschaftlichen Ordnung im Interesse der herrschenden imperialistischen Mächte. Die Spannungsfelder unserer Zeit bieten hingegen keine andere Perspektive als diejenige des immer tieferen Versinkens im gesellschaftlichen Auseinanderdriften auf allen Ebenen, im Zerfall jeglicher sozialen Ordnung, in einem endlosen Chaos.

Die Sackgasse des US-amerikanischen Imperialismus ist diejenige des Kapitalismus

Ein ganz großer Teil der US-amerikanischen Bourgeoisie ist gezwungen worden zu anerkennen, dass die Strategie des Unilateralismus bei ihren weltweiten Hegemonialansprüchen sowohl auf der diplomatischen als auch auf der militärischen und der ideologischen Ebene gescheitert ist. Der Bericht der Irak-Studiengruppe (Irak Study Group, ISG), der dem amerikanischen Kongress vorgelegt worden ist, verheimlicht diese offensichtliche Tatsache nicht. Statt das Ansehen der USA zu stärken, hat die Besetzung des Iraks ihr Prestige in praktisch allen Bereichen geschwächt. Aber welche Alternative schlagen die härtesten Kritiker der Bush-Administration innerhalb der herrschenden Klasse der USA vor? Der Rückzug der Truppen ist nicht möglich, ohne die amerikanische Hegemonie weiter zu schwächen und das Chaos zu beschleunigen. Eine Teilung des Iraks in ethnische Zonen hätte den gleichen Effekt. Einige schlagen eine Politik der Eindämmung vor wie während der Zeit des Kalten Krieges, aber es ist klar, dass man nicht zur Politik der zwei imperialistischen Blöcke zurückkehren kann. Außerdem ist das Versagen der US-Truppen im Irak viel schlimmer als dasjenige in Vietnam, denn im Gegensatz zu Vietnam geht es für die USA im Irak darum, die ganze restliche Welt in die Schranken zu weisen, und nicht mehr bloß den seinerzeit rivalisierenden Block der UdSSR.

Trotz der harschen Kritik der ISG und der durch die demokratische Partei errungenen Kontrolle über den Kongress wurde Bush ermächtigt, die Zahl der Soldaten im Irak um 20´000 zu erhöhen. Gleichzeitig begann eine Politik der militärischen und diplomatischen Drohung gegenüber dem Iran. Welches die alternativen Strategien der herrschenden Klasse der USA auch immer sind, wird sie früher oder später gezwungen sein, einen weiteren blutigen Beweis für ihren Status als Supermacht zu liefern mit noch widerwärtigeren Konsequenzen für die Menschen der ganzen Welt, was einmal mehr die Ausbreitung der Barbarei beschleunigen wird.

Das ist weder das Resultat der Inkompetenz noch der Arroganz der republikanischen Administration unter Bush und der Neokonservativen, wie dies die Bourgeoisien der anderen imperialistischen Mächte unaufhörlich wiederholen. Sich auf die UNO und den Multilateralismus abzustützen, ist keine wirkliche Friedensoption, entgegen den Empfehlungen dieser Bourgeoisien und der Pazifisten jeder Couleur. Seit 1989 hat Washington sehr gut verstanden, dass die UNO eine Tribüne geworden ist, auf der die Rivalen der USA die amerikanischen Pläne durchkreuzen können: ein Ort, wo ihre weniger mächtigen Rivalen die amerikanische Politik verzögern und verwässern oder gar mit einem Veto verhindern können, um der Schwächung ihrer eigenen Position entgegen zu wirken. Indem Frankreich, Deutschland und die anderen die USA als die einzigen Verantwortlichen für Chaos und Krieg darstellen, offenbaren sie lediglich, dass sie selber ihren vollen Anteil an der zerstörerischen Logik des Kapitalismus haben: einer Logik, nach der jeder für sich selber spielt und sich gegen alle anderen durchsetzen muss.

Es überrascht nicht, dass die regelmäßigen Antikriegsdemonstrationen in großen Städten der wichtigen Metropolen im allgemeinen laut die kleinen imperialistischen Mächte des Nahen und Mittleren Ostens unterstützen, wie beispielsweise die Aufständischen im Irak oder die Hisbollah im Libanon, welche die USA bekämpfen. Das zeigt, dass dem Imperialismus eine Logik innewohnt, der sich keine Nation entziehen kann, und dass der Krieg nicht nur das Resultat der Aggressionen der Großmächte ist.

Andere verkünden dauernd wider besseres Wissen, dass das Abenteuer der USA im Irak ein „Krieg ums Öl“ sei. Dabei werden die Gefahren ihrer grundlegenden geostrategischen Ziele völlig außer acht gelassen. Dies ist eine grobe Unterschätzung der aktuellen Lage. Die Situation, in der sich die USA im Irak befinden, ist nur der Ausdruck der weltweiten Sackgasse, in der die ganze kapitalistische Gesellschaft steckt. George Bush senior proklamierte seinerzeit, dass mit dem Wegfall des Ostblocks eine Zeit des Friedens und der Stabilität begonnen habe, eine „neue Weltordnung“. Schon schnell sollte die Realität diese Vorhersage Lügen strafen, zunächst mit dem ersten Irakkrieg, dann mit dem barbarischen Konflikt in Jugoslawien, einem Krieg im Herzen Europas. Die 90er Jahre waren keineswegs Jahre der Ordnung, sondern des zunehmenden militärischen Chaos. Ironischerweise ist George Bush junior die Rolle zugefallen, einen weiteren entscheidenden Schritt hin zu diesem unumkehrbaren Chaos zu tun.

Die Zerstörung der Biosphäre

Gleichzeitig zur Verschärfung seines imperialistischen Kurses hin zu einer immer sichtbareren Barbarei, verstärkt der zerfallende Kapitalismus seine Attacke gegen die Biosphäre in einem solchen Ausmaß, dass ein künstlicher klimatischer Holocaust die Zivilisation und die Menschen zu zerstören droht. Laut den Erkenntnissen, zu denen die Umweltwissenschaftler im Bericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaveränderung (IPCC) gekommen sind, wird bestätigt, dass die Theorie über die Klimaerwärmung durch hohe Kohlendioxid-Werte in der Atmosphäre, verursacht durch die massenhafte Verbrennung fossiler Brennstoffe, nicht nur eine simple Hypothese, sondern „Wahrscheinlichkeit“ sei. Das Kohlendioxid in der Atmosphäre hält die von der Erdoberfläche und der Umgebungsluft abgestrahlte Sonnenwärme zurück und führt zu einem „Treibhauseffekt“. Dieser Prozess hat um 1750 begonnen, zur Zeit der kapitalistischen industriellen Revolution, und seither haben die Kohlendioxid-Emissionen und die Erderwärmung stetig zugenommen. Seit 1950 hat sich dies ständig beschleunigt, und während des letzten Jahrzehnts wurden jedes Jahr neue Temperaturrekorde gemessen. Die Konsequenzen dieser Erderwärmung haben bereits alarmierende Ausmaße angenommen: Die Klimaveränderung führt zu wiederkehrenden Dürren und riesigen Überschwemmungen, zu tödlichen Hitzewellen in Nordeuropa und Klimabedingungen mit einer großen Zerstörungskraft. Sie führt zur Verschärfung der Hungersnöte und der Krankheiten in der Dritten Welt und selbst zum Ruin von Städten wie New Orleans nach dem Hurrikan Katrina.

Sicher, man darf nicht den Kapitalismus anklagen, damit begonnen zu haben, fossile Brennstoffe zu verbrennen, oder mit der Umwelt in gefährlicher und zerstörerischer Weise umzugehen. Dies war schon zu Beginn der menschlichen Zivilisation der Fall:

„Die Leute, die in Mesopotamien, Griechenland, Kleinasien und anderswo die Wälder ausrotteten, um urbares Land zu gewinnen, träumten nicht, dass sie damit den Grund zur jetzigen Verödung jener Länder legten, indem sie ihnen mit den Wäldern die Ansammlungszentren und Behälter der Feuchtigkeit entzogen. Die Italiener der Alpen, als sie die am Nordabhang des Gebirges so sorgsam gehegten Tannenwälder am Südabhang vernutzten, ahnten nicht, dass sie damit der Sennwirtschaft auf ihrem Gebiet die Wurzeln abgruben; sie ahnten noch weniger, dass sie dadurch ihren Bergquellen für den größten Teil des Jahrs das Wasser entzogen, damit diese zur Regenzeit um so wütender Flutströme über die Ebene ergießen könnten. Die Verbreiter der Kartoffel in Europa wussten nicht, dass sie mit den mehligen Knollen zugleich die Skrofelkrankheit verbreiteten. Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht – sondern dass wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und dass unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen andern Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.“ (Friedrich Engels, Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen in Dialektik der Natur)

Doch der Kapitalismus ist verantwortlich für die enorme Zunahme dieser Umweltzerstörung. Dies nicht wegen der Industrialisierung an sich, sondern wegen seiner Jagd nach einem maximalen Profit und seiner Blindheit gegenüber den ökologischen und menschlichen Bedürfnissen, außer wenn sie zufällig mit dem Ziel der Anhäufung von Reichtum zusammenfallen. Die kapitalistische Produktionsweise hat aber noch andere Charakteristiken, welche zur ungebremsten Zerstörung der Umwelt führen. Die gnadenlose Konkurrenz unter den Kapitalisten, vor allem unter den verschiedenen Nationalstaaten, verhindert schlussendlich jegliche Kooperation auf Weltebene. Und verbunden mit dieser Charakteristik die Tendenz des Kapitalismus zur Überproduktion, in seiner unersättlichen Suche nach Profit.

Im dekadenten Kapitalismus, in seiner Periode der permanenten Krise, wird diese Tendenz zur Überproduktion chronisch. Dies ist seit Ende des Zweiten Weltkrieges besonders deutlich geworden, da die Erweiterung der kapitalistischen Wirtschaft auf einer künstlichen Basis vorangetrieben wird, vor allem durch die Politik der Finanzierung über Defizite und die enorme Zunahme der Verschuldung in der Wirtschaft. All dies hat nicht zur Befriedigung der Bedürfnisse der Masse der arbeitenden Bevölkerung geführt, welche weiterhin im Morast der Armut steckt, sondern zu einer enormen Vergeudung, zu Bergen von unverkauften Gütern; zur Verschleuderung von Millionen Tonnen von Lebensmitteln; wegen fehlender Planung der Produktion zu immensen Mengen von überschüssigen Gütern; vom Auto bis zum Computer zu Produkten, die schnell wieder auf den Müll geworfen werden; zu einer gigantischen Masse von identischen Produkten aus der Produktion der verschiedenen Konkurrenten für denselben Markt.

Während der Rhythmus der technologischen Entwicklung und Spezialisierung in der Dekadenz des Kapitalismus zunimmt, werden die daraus resultierenden Innovationen vor allem durch den militärischen Sektor angeregt, dies im Gegensatz zur Zeit des aufsteigenden Kapitalismus. Auf der Ebene der Infrastruktur: Gebäude, sanitäre Einrichtungen, Energieproduktion, Transportwesen, sind wir aber keineswegs Zeugen von revolutionären Entwicklungen, welche mit dem Beginn der kapitalistischen Produktionsweise vergleichbar wären. In der Phase des Zerfalls des Kapitalismus, der letzten Phase der Dekadenz, herrscht eine andere Tendenz vor: das Herunterschrauben der Kosten für die Aufrechterhaltung selbst der alten Infrastruktur, in der Hoffnung auf kurzfristige Profite. Man kann eine Karikatur dieses Prozesses in der Entwicklung der Produktion in China und Indien beobachten, wo die industrielle Infrastruktur größtenteils fehlt. Anstatt dem Kapitalismus einen neuen Lebenselan einzuhauchen, führt diese Entwicklung zu grausamsten Verschmutzungen: zur Zerstörung der Flüsse, enormen Smog-Decken, die ganze Länder überdecken, usw.

Dieser lange Prozess des Niedergangs und Zerfalls der kapitalistischen Produktionsweise liefert eine Erklärung, weshalb es eine dermaßen dramatische Zunahme der Kohlendioxid-Verschmutzung und der Erwärmung des Planeten in den letzten Jahrzehnten gibt. Er lässt auch begreifen, weshalb gegenüber einer solchen wirtschaftlichen und klimatischen Entwicklung der Kapitalismus und seine „Machthaber“ unfähig sind, die katastrophalen Auswirkungen der Erderwärmung zu bekämpfen.

Die apokalyptischen Szenarien, welche zur Zerstörung der Menschheit führen können, werden in einem gewissen Sinne durch die Sprecher und Medien der Regierungen aller kapitalistischer Länder anerkannt und öffentlich dargestellt. Die Tatsache, dass sie zahllose Heilmittel anpreisen, um diese Auswirkungen zu vermeiden, heißt noch lange nicht, dass nur ein Einziger von ihnen eine realistische Alternative gegenüber der barbarischen Perspektive anzubieten hätte. Ganz im Gegenteil. Angesichts des ökologischen Desasters ist der Kapitalismus, gleich wie gegenüber der imperialistischen Barbarei, absolut hilflos.   

„Viel Wind“ um die Klimaerwärmung

Die Regierungen der ganzen Welt finanzieren seit 1990 über die Vereinten Nationen großzügig die Forschung des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderung, und ihre Medien haben die kürzlich gezogenen, schrecklichen Schlussfolgerungen breit gewalzt.

Die wichtigsten politischen Parteien der Bourgeoisie aller Länder stellen sich alle als Variationen von Ökologen dar. Aber wenn man genauer hinschaut, verschleiert die „grüne“ Politik dieser Parteien, wie radikal sie auch erscheinen mögen, vorsätzlich den Ernst des Problems, denn die einzige Erfolg versprechende Lösung würde gerade das System in Frage stellen, dessen Lob sie singen. Der gemeinsame Nenner all dieser „grünen“ Kampagnen besteht darin, die Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins in einer Bevölkerung zu verhindern, die zu Recht über die klimatische Erwärmung entsetzt ist. Die ständig wiederholte ökologische Botschaft der Regierungen lautet, dass „den Planeten zu retten die Verantwortung jedes und jeder Einzelnen“ sei, während die überwiegende Mehrheit keinerlei wirtschaftliche oder politische Macht hat und von jeder Kontrolle über die Produktion und den Konsum ausgeschlossen ist. Und die Bourgeoisie, die diese Entscheidungsmacht hat, beabsichtigt in keiner Weise, ihre Profite den allgemeinen ökologischen und menschlichen Bedürfnissen zu opfern.

Al Gore, der im Jahre 2000 beinahe demokratischer Präsident der Vereinigten Staaten geworden wäre, stellte sich mit seinem Film „Eine unbequeme Wahrheit“ an die Spitze einer internationalen Kampagne gegen den Kohlendioxidausstoß. Der Film gewann in Hollywood einen Oscar für die lebendige Art und Weise, mit der er die Gefahr des globalen Temperaturanstiegs, des Schmelzens der Polarkappen, des Anstiegs der Meere und aller Zerstörungen behandelt, die sich daraus ergeben. Aber der Film ist auch eine Wahlplattform für Al Gore selbst. Er ist nicht der einzige alte Politiker, der auf die Idee kommt, die gerechtfertigte Angst der Bevölkerung vor der ökologischen Katastrophe für die Jagd aufs Präsidentenamt auszunutzen, die das demokratische Spiel der großen kapitalistischen Länder ausmacht. In Frankreich haben alle Präsidentschaftskandidaten den „ökologischen Pakt“ des Journalisten Nicolas Hulot unterzeichnet. In Großbritannien rivalisieren die politischen Hauptparteien darum, wer der „grünste“ sei. Der von Gordon Brown und seiner New Labour in Auftrag gegebene Stern-Bericht hat mehrere Regierungsinitiativen nach sich gezogen, die die CO2-Emissionen reduzieren sollen. David Cameron, Chef der konservativen Opposition, geht mit dem Fahrrad zum Parlament (während seine Entourage im Mercedes folgt).

Es reicht, die Ergebnisse der früheren Regierungsstrategien anzuschauen, die angeblich den Zweck hatten, den Kohlendioxidausstoß zu reduzieren, um die Unfähigkeit der Staaten festzustellen, den Beweis irgendeiner Wirksamkeit ihrer Politik zu erbringen. Statt die Emission von Gasen mit Treibhauseffekt bis ins Jahr 2000 auf dem Stand von 1990 zu stabilisieren, wie sich die Unterzeichner des Kyoto-Protokolls im Jahre 1997 bescheiden verpflichteten, gab es in Tat und Wahrheit bis Ende des Jahrhunderts in den wichtigsten Industrieländern eine Erhöhung des Ausstoßes um 10,1%, und die Voraussage lautet, dass diese Umweltverschmutzung bis ins Jahr 2010 noch um 25,3% steigen wird! (Deutsche Umwelthilfe)

Es genügt auch, die grobe Fahrlässigkeit der kapitalistischen Staaten bei den Unglücken festzustellen, die sich bereits wegen der Klimaänderung ereignet haben, um sich ein Urteil über die Aufrichtigkeit der zahllosen Erklärungen guter Absichten zu machen.

Es gibt natürlich diejenigen, die erkennen, dass das Interesse an der Profitmaximierung einen mächtigen Faktor darstellt, welcher der wirksamen Begrenzung der Umweltverschmutzung entgegenwirkt; sie glauben, dass man das Problem lösen könne, indem man die liberale Politik durch Lösungen ersetze, die der Staat organisiere. Aber er ist insbesondere auf internationaler Ebene klar, dass die kapitalistischen Staaten, selbst wenn sie innenpolitisch etwas umsetzen würden, unfähig sind, untereinander in dieser Frage zusammenzuarbeiten, denn jeder müsste wirtschaftliche Opfer bringen. Kapitalismus heißt Konkurrenz, und er ist heute mehr denn je durch das Jeder-für-sich beherrscht.

Die kapitalistische Welt ist unfähig, sich für ein gemeinsames Vorhaben zusammenzuschließen, das so massiv und kostspielig wäre wie eine vollständige Umstrukturierung der Industrie und des Verkehrs, die nötig wäre, um eine drastische Reduzierung der Erzeugung von Energie zu erreichen, die Kohlenstoff verbrennt. Vielmehr besteht das Hauptanliegen aller kapitalistischen Nationen darin zu versuchen, dieses Problem zu benutzen, um ihren eigenen widerwärtigen Ehrgeiz zu befriedigen. Wie auf der imperialistischen und militärischen Ebene ist der Kapitalismus auch auf der ökologischen Ebene von unüberwindbaren nationalen Grenzen durchzogen und kann deshalb nicht einmal auf die dringendsten Bedürfnisse der Menschheit eingehen.

Für das Proletariat ist noch nicht alles verloren – wir haben immer noch eine Welt zu gewinnen

Aber es wäre falsch, einfach zu resignieren und zu meinen, der Untergang in der Barbarei sei aufgrund der mächtigen Tendenzen – des Imperialismus und der ökologischen Zerstörung - unvermeidlich. Angesichts der Selbstgefälligkeit aller halben Maßnahmen, die der Kapitalismus uns vorschlägt, um den Frieden und die Harmonie mit der Natur herzustellen, ist der Fatalismus eine gleichermaßen falsche Einstellung wie der naive Glauben an die Wirksamkeit kosmetischer Mittel.

Während der Kapitalismus alles dem Kampf um den Profit und der Konkurrenz opfert, hat er gleichzeitig die Elemente geschaffen, die seine Überwindung als Ausbeutungsweise erlauben. Er hat die technologischen und kulturellen Mittel entwickelt, die für ein weltweites Produktionssystem nötig sind, das als Gesamtheit und nach einem Plan funktioniert und in Einklang mit den Bedürfnissen der Menschheit und der Natur steht. Er hat eine Klasse hervorgebracht, das Proletariat, die aus nationalen Vorurteilen oder Konkurrenzdenken allgemein keinen Vorteil schöpft und jedes Interesse an der Entwicklung der internationalen Solidarität hat. Die Arbeiterklasse hat kein Interesse an der gierigen Jagd nach Profit. Mit anderen Worten hat der Kapitalismus die Grundlagen für eine höhere Gesellschaftsordnung, für seine Überwindung durch den Sozialismus gelegt. Der Kapitalismus hat die Mittel entwickelt, die menschliche Gesellschaft zu zerstören, aber er hat auch ihren eigenen Totengräber, die Arbeiterklasse, geschaffen, die diese menschliche Gesellschaft erhalten und sie einen entscheidenden Schritt in ihrer Entfaltung weiter bringen kann.

Der Kapitalismus hat die Schaffung einer Wissenschaftskultur erlaubt, die fähig ist, unsichtbare Gase wie Kohlendioxid zu erkennen und seine Konzentration sowohl in der Atmosphäre von heute als auch in jener von vor 10’000 Jahren zu messen. Die Wissenschaftler können die spezifischen Isotope von Kohlendioxid erfassen, die durch die Verbrennung von fossilen Energieträgern produziert wurden. Die wissenschaftliche Gemeinschaft war fähig, die Hypothese des „Treibhauseffektes“ zu prüfen und zu bestätigen. Jedoch sind die Zeiten längst vorbei, zu denen der Kapitalismus als Gesellschaftssystem fähig war, die wissenschaftliche Methode und ihre Ergebnisse im Interesse des Fortschritts der Menschheit zu nutzen. Der größte Teil der Forschungsarbeiten und der wissenschaftlichen Entdeckungen von heute wird der Zerstörung gewidmet, der Entwicklung immer raffinierterer Methoden der Massentötung. Nur eine neue Gesellschaftsordnung, eine kommunistische Gesellschaft, kann die Wissenschaft in den Dienst der Menschheit stellen.

Trotz der hundert letzten Jahre des Niedergangs und der Fäulnis des Kapitalismus und der ernsthaften Niederlagen, welche die Arbeiterklasse eingesteckt hat, ist die notwendige Grundlage für eine neue Gesellschaft immer noch vorhanden.

Dass das Proletariat nach 1968 weltweit wieder auf der Bühne erschienen ist, belegt diese Ausgangslage. Die Entwicklung seines Klassenkampfes gegen den konstanten Druck auf den Lebensstandard der Proletarier während der Jahrzehnte, die auf 1968 gefolgt sind, hat den barbarischen Ausgang verhindert, der durch den Kalten Krieg vorgezeichnet war: den vernichtende Zusammenstoß zwischen den imperialistischen Blöcken. Seit 1989 jedoch und dem Verschwinden der Blöcke hat die defensive Haltung der Arbeiterklasse nicht ausgereicht, eine Abfolge entsetzlicher lokaler Kriege zu verhindern, die drohen, sich außerhalb jeder Kontrolle zu beschleunigen und immer mehr Regionen des Planeten in Mitleidenschaft zu ziehen. In dieser kapitalistischen Zerfallsperiode läuft dem Proletariat die Zeit davon, und dies umso mehr als noch eine drohende ökologische Katastrophe in die historische Gleichung aufgenommen werden muss.

Aber es ist noch nicht so weit, dass wir sagen müssten, der Niedergang und der Zerfall des Kapitalismus hätten einen Punkt erreicht, wo es kein Zurück mehr gibt - einen Punkt, von dem an seine Barbarei nicht mehr aufzuhalten wäre.

Seit 2003 beginnt die Arbeiterklasse, den Kampf mit einer neu gewonnenen Kraft wieder aufzunehmen, nachdem der Zusammenbruch des Ostblocks für eine gewisse Zeit den 1968 begonnenen Aufbruch gestoppt hat.

Unter diesen Bedingungen der Entwicklung des Vertrauens in der Klasse können die wachsenden Gefahren, die der imperialistische Krieg und die ökologische Katastrophe darstellen, statt Ohnmachts- und Fatalismusgefühle hervorzurufen auch zu einem vertieften politischen Nachdenken und zu einem stärkeren Bewusstsein darüber führen, was weltweit auf dem Spiel steht, zu einem Bewusstsein über die Notwendigkeit der revolutionären Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft. Es ist die Verantwortung der Revolutionäre, aktiv an dieser Bewusstseinsbildung teilzunehmen.

Como, 3/04/2007


[1] [8] Die Kindersterblichkeit im Irak ist zwischen 1990 und 2005 von 40 auf 102 Promille angestiegen, The Times, 26. März 2007.

Theoretische Fragen: 

  • Umwelt [9]

Interne Debatte der IKS: Marxismus und Ethik (Teil I/a)

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Warum ein Text über Ethik heute?

Mehr als zwei Jahre lang dauerte die Debatte in der IKS über die Frage der Moral und der proletarischen Ethik. Diese Debatte fand auf der Grundlage eines Orientierungstextes statt, dessen Inhalt wir hier in großen Auszügen veröffentlichen wollen. Wenn wir eine solche theoretische Debatte eröffneten, so taten wir dies, weil unsere Organisation zurzeit ihrer Krise 2001 intern mit einem besonders zerstörerischen Verhalten konfrontiert war, das jener Klasse völlig fremd ist, die den Kommunismus errichten soll. Dieses Verhalten hat sich in brutalen Methoden kristallisiert, die von einigen Elementen angewendet wurden, welche der „internen Fraktion“ der IKS (IFIKS) zum Leben verholfen hatten[1]: Diebstahl, Erpressung, Lügen, Verleumdungskampagnen, Spitzeltum, Rufmord und Todesdrohungen gegen unsere Genossen. Die Notwendigkeit, die Organisation in der Frage der proletarischen Moral zu wappnen – eine Frage, die die Arbeiterbewegung seit ihren Ursprüngen beschäftigt hat –, entspringt also einem konkreten Problem, das auch das politische Milieu des Proletariats gefährdet. Wir haben stets bekräftigt (besonders in unseren Statuten), dass die Frage des militanten Verhaltens eine ganz und gar politische Frage ist. Doch bis jetzt war die IKS nicht in der Lage gewesen, tiefer über diese Frage nachzudenken und sie mit der Frage der proletarischen Ethik und Moral zu verknüpfen. Um die ursprünglichen Absichten und Merkmale der Ethik der Arbeiterklasse zu begreifen, hat sich die IKS auf die Entwicklung der Moral in der Geschichte der Menschheit berufen und sich die theoretischen Errungenschaften des Marxismus angeeignet, die von den Fortschritten der menschlichen Zivilisation insbesondere auf dem Gebiet der Wissenschaften und der Philosophie gestützt wurden. Dieser Orientierungstext verfolgt nicht das Ziel, ein endgültiges theoretisches Elaborat zu liefern, sondern mehrere Denkanstöße zu verfolgen, um der Organisation die Vertiefung einer Reihe von fundamentalen Fragen zu ermöglichen (Ursprung und Charakter der Moral in der menschlichen Geschichte, der Unterschied zwischen bürgerlicher Moral und proletarischer Moral, der Verfall der Werte und der Ethik des Kapitalismus in der Epoche seines Zerfalls, etc.). Angesichts der Tatsache, dass diese interne Debatte noch nicht beendet ist, werden wir hier nur Auszüge des Orientierungstextes veröffentlichen, die uns am verständlichsten für den Leser erscheinen. Weil es sich hier um einen internen Text handelt, erscheinen die Ideen äußerst kondensiert und beziehen sich auf komplexe theoretische Konzepte; wir sind uns im Klaren, dass gewisse Passagen sich als schwierig erweisen könnten. Dennoch sind gewisse Aspekte unserer Debatte soweit herangereift, dass wir es für nützlich erachten, Auszüge aus diesem Orientierungstext nach außen zu tragen, damit die Arbeiterklasse und das politische Milieu des Proletariats sich am von der IKS angestoßenen Denkprozess beteiligen können.
Von Anfang an spielte die Frage des politischen Verhaltens und somit der proletarischen Moral eine zentrale Rolle im Leben der IKS. Unsere Auffassung zu dieser Frage findet ihren lebendigen Ausdruck in unseren Statuten (1982 verabschiedet).[2]

Wir haben stets darauf bestanden, dass die Statuten nicht eine Kollektion von Regeln sind, die festlegen, was erlaubt ist und was nicht, sondern eine Orientierung für unser Verhalten und unsere Haltung, die ein in sich zusammenhängendes Ganzes von moralischen Werten (besonders bezüglich des Verhältnisses unter den Mitgliedern und gegenüber der Organisation) zusammenfasst. Daher verlangen wir von jedem, der Mitglied der Organisation werden will, eine tiefgehende Übereinstimmung mit diesen Werten.

Doch die Statuten als integraler Bestandteil unserer Plattform regeln nicht allein, wer unter welchen Umständen Mitglied der IKS werden kann. Sie bedingen auch den Rahmen und den Geist des militanten Lebens der Organisation und jedes ihrer Mitglieder.

Die Bedeutung, die die IKS stets diesen Verhaltensprinzipien zugemessen hat, wird von der Tatsache veranschaulicht, dass sie nie zögerte, diese Prinzipien zu verteidigen, selbst wenn sie dabei eine Organisationskrise riskierte. Indem sie so verfährt, stellt sich die IKS bewusst und unerschütterlich in die Tradition des Kampfes von Marx und Engels in der Ersten Internationale, des Bolschewismus und der Italienischen Fraktion des Kommunistischen Linken. Indem sie so verfuhr, war sie in der Lage, eine Reihe von Krisen zu überstehen und fundamentale Verhaltensprinzipien der Klasse aufrechtzuerhalten.

Jedoch wurde das Konzept der proletarischen Moral mehr implizit denn explizit hochgehalten, es wurde eher in empirischer Manier als theoretisch verallgemeinert in die Praxis umgesetzt. Angesichts massiver Vorbehalte der neuen Generation von Revolutionären nach 1968 gegenüber jeglichen Moralkonzepten, welche im Allgemeinen als notwendigerweise reaktionär betrachtet wurden, hielt es die Organisation für wichtiger, die Verhaltensweisen der Arbeiterklasse zu berücksichtigen, statt diese sehr allgemeine Debatte zu einer Zeit zu eröffnen, die noch nicht reif genug dafür war.

Fragen der Moral waren nicht das einzige Gebiet, wo die IKS auf diese Weise verfuhr. In den frühen Tagen der Organisation existierten ähnliche Vorbehalte gegenüber der Notwendigkeit der Zentralisierung oder der Intervention der Revolutionäre, der führenden Rolle der Organisation bei der Entwicklung von Klassenbewusstsein, der Notwendigkeit des Kampfes gegen die demokratische Ideologie oder der Anerkennung der Aktualität der Auseinandersetzung mit dem Opportunismus und Zentrismus.

Und in der Tat zeigte der Verlauf unserer wichtigsten Debatten, dass die Organisation stets in der Lage war, nicht nur ihr theoretisches Niveau anzuheben, sondern auch jene Fragen zu klären, die zu Beginn unklar geblieben waren. Gerade in den Organisationsfragen ist es der IKS immer wieder gelungen, auf Herausforderungen zu reagieren, indem sie ihr theoretisches Verständnis der gestellten Fragen vertiefte und erweiterte.

Die IKS hat bereits ihre jüngste Krise so wie auch die ihr zugrundeliegende Tendenz des Verlustes der Errungenschaften der Arbeiterbewegung als Manifestationen des Eintritts des Kapitalismus in eine neue und letzte Phase, die seines Zerfalls, analysiert. Die Klärung einer solch wichtigen Frage ist eine Notwendigkeit der historischen Periode als solche und betrifft die gesamte Arbeiterklasse.

„... die Sittlichkeit ist ein Erfolg der geschichtlichen Entwicklung, ein Kulturprodukt. Sie beruht auf dem sozialen Triebe des Menschengeschlechts, auf der materiellen Notwendigkeit des gesellschaftlichen Lebens. Weil die Tendenz der Sozialdemokratie vornehmlich auf ein soziales, auf ein gesellschaftliches Leben in höherem Grade gerichtet ist, darum kann sie nicht anders, als ganz wahrhaftig eine moralische Tendenz sein.“ [3]

Der Zerfall des Kapitalismus untergräbt das Vertrauen in das Proletariat und in die Menschheit

Aufgrund der Unfähigkeit der beiden Hauptgesellschaftsklassen, Bourgeoisie und Proletariat, ihre Lösung der Krise durchzusetzen, hat der Kapitalismus seine ultimative Phase des Zerfalls betreten, die sich durch die allmähliche Auflösung nicht nur der gesellschaftlichen Werte, sondern auch der Gesellschaft selbst auszeichnet.

Heute, angesichts des „Jeder-für-sich“ des kapitalistischen Zerfalls und der Aushöhlung aller moralischen Werte, wird es für revolutionäre Organisationen – und, allgemeiner noch, für die aufkommende neue Generation von Militanten – unmöglich sein, sich zu behaupten, ohne sich Klarheit über moralische und ethische Themen verschafft zu haben. Nicht nur die bewusste Entwicklung der Arbeiterkämpfe, sondern auch eine spezifische theoretische Auseinandersetzung mit diesen Fragen und die Wiederaneignung des Werkes der marxistischen Bewegung sind zu einer Überlebensfrage geworden. Dieser Kampf ist unverzichtbar nicht nur für den proletarischen Widerstand gegen den Zerfall und die aus diesem resultierende amoralische Haltung, sondern auch, um das proletarische Vertrauen in eine Zukunft der Menschheit mithilfe des eigenen historischen Projekts wiederzugewinnen.

Die besondere Form, die die Konterrevolution in der UdSSR annahm – der Stalinismus, der sich selbst als Vollendung statt als Totengräber der Oktoberrevolution darstellte –, hatte bereits das Vertrauen in das Proletariat und in seine kommunistische Alternative erschüttert. Nach dem Ende der Konterrevolution 1968 hat der Zusammenbruch der stalinistischen Regimes 1989 – die historische Epoche des Zerfalls einleitend – noch einmal das Vertrauen des Proletariats in sich selbst als Vermittler der Befreiung der gesamten Menschheit erschüttert.

Die Schwächung des Selbstvertrauens, der Klassenidentität und der Vision einer proletarischen Alternative zum Kapitalismus haben mit den ersten Schockwellen des Zerfalls die Bedingungen verändert, unter denen sich die Frage der Ethik stellt. In der Tat haben die Rückschläge der Arbeiterklasse ihr Vertrauen nicht nur in eine kommunistische Perspektive, sondern auch in die Gesellschaft insgesamt beschädigt.

Die Behauptung, dass der grundsätzlich „schlechte“ Charakter der Menschen die Probleme der zeitgenössischen Gesellschaft bedingt, erntete bei klassenbewussten Arbeitern in der Epoche des kapitalistischen Aufstiegs und noch mehr in der ersten revolutionären Welle nur Hohn und Spott. Dagegen scheint heute die Behauptung von der Unmöglichkeit fundamentaler gesellschaftlicher Verbesserungen und der Entwicklung höherer Formen der menschlichen Solidarität zu einer gegebenen Tatsache der historischen Lage geworden zu sein. Heutzutage suchen die tiefen Zweifel an den moralischen Qualitäten unserer Spezies nicht nur die herrschende Klassen und die Zwischenschichten heim, sondern bedrohen auch das Proletariat einschließlich seiner revolutionären Minderheiten. Dieser Mangel an Vertrauen in die Möglichkeit eines kollektiveren und verantwortlicheren Umgangs mit der menschlichen Gemeinschaft ist nicht nur das Resultat der Propaganda der herrschenden Klasse. Die historische Entwicklung selbst hat zu diesem Verlust an Vertrauen in die Zukunft der Menschheit geführt.

Wir leben in einer Zeit, die gekennzeichnet ist von:

– einem extremen Pessimismus gegenüber der „menschlichen Natur“;

– Skeptizismus und gar Zynismus gegenüber der Notwendigkeit oder gar der Möglichkeit von moralischen Werten;

– einer Unterschätzung oder gar Leugnung der Wichtigkeit ethischer Fragen.

Die öffentliche Meinung glaubt das Urteil des englischen Philosophen Thomas Hobbes (1588–1679) bestätigen zu können, dass der Mensch unter seinesgleichen wie ein Wolf unter Wölfen ist. Der Mensch wird im Grunde als destruktiv, räuberisch, egoistisch, heillos irrational und in seinem Sozialverhalten als unter vielen Tierarten stehend betrachtet. Der kleinbürgerliche Umweltschutz zum Beispiel betrachtet die kulturelle Entwicklung als einen „Fehler“ oder als „Sackgasse“. Die Menschheit selbst wird als Krebsgeschwür der Geschichte gesehen, an dem die Natur „Rache“ nehmen wird – ja, sogar soll.

Natürlich hat der kapitalistische Zerfall diese Probleme nicht geschaffen, aber er hat die bereits herrschenden Probleme unerträglich verschärft.

In den letzten Jahrhunderten hat die Verallgemeinerung der kapitalistischen Warenwirtschaft die Bande der Solidarität als Gesellschaftsgrundlage fortschreitend aufgelöst, so dass selbst die Erinnerung an sie aus dem kollektiven Bewusstsein zu verschwinden droht.

Die Niedergangsphase von Gesellschaftsformationen war stets von der Auflösung etablierter moralischer Werte und – solange sich eine historische Alternative noch nicht durchzusetzen begann – von einem Vertrauensverlust in die Zukunft geprägt.

Doch die Barbarei und Unmenschlichkeit der kapitalistischen Dekadenz ist einmalig. Es ist nicht leicht, nach Auschwitz und Hiroshima und angesichts permanenter, allgemeiner Zerstörung das Vertrauen in die Möglichkeit eines moralischen Fortschritts aufrecht zu halten.

Der Kapitalismus hat auch das frühere, rudimentäre Gleichgewicht zwischen dem Menschen und dem Rest der Natur zerstört und somit die langfristigen Grundlagen der Gesellschaft untergraben.

Zu diesen Merkmalen der historischen Entwicklung des Kapitalismus müssen wir noch die sich häufenden Auswirkungen eines allgemeineren Phänomens beim Aufstieg der Menschheit im Rahmen von Klassengesellschaften hinzufügen. Dies ist die Ungleichmäßigkeit bei der Entwicklung der verschiedenen Kapazitäten der Menschheit; im Besonderen die Kluft zwischen der moralischen und der gesellschaftlichen sowie technologischen Entwicklung. 

„Die Naturwissenschaften werden richtigerweise als das Gebiet betrachtet, auf dem das menschliche Denken seine logischen Formen in einer kontinuierlichen Serie von Triumphen am mächtigsten entwickelt hat (...) Umgekehrt steht als Gegenbeweis auf der anderen Seite das große Gebiet der menschlichen Handlungsweisen und Beziehungen, in denen der Gebrauch von Werkzeugen keine unmittelbare Rolle spielt und die nur undeutlich und als zutiefst unbekannte und unsichtbare Phänomene wirken. Dort sind Gedanke und Tat meistens von Leidenschaft und Trieben bestimmt, von Willkür und Verschwendung, von Tradition und Glaube; dort führt keine methodische Logik zu der Gewissheit von Wissen (...) Der Gegensatz, der hier zwischen der Perfektion einerseits und der Unvollkommenheit andererseits auftritt, bedeutet, dass der Mensch die Naturkräfte beherrscht oder dabei ist, dies mit noch größeren Maßnahmen zu erreichen, jedoch nicht in der Lage ist, die Kräfte des Willens und der Leidenschaften, die in ihm sind, zu kontrollieren. Wo er auf der Stelle tritt, vielleicht sogar zurückgefallen ist, das ist der offensichtliche Mangel an Kontrolle über seine eigene ‚Natur‘ (Tilney). Daher hinkt offensichtlich die Gesellschaft so weit hinter den Wissenschaften hinterher. Der Mensch hat das Potenzial, die Natur zu beherrschen. Doch er besitzt keine Herrschaft über seine eigene Natur.“ [4]

 

Warum die Idee von der „proletarischen Moral“ nach 1968 so verdächtig erschien

Nach 1968 war die Elementarkraft des Arbeiterkampfes ein mächtiges Gegengewicht zum wachsenden Skeptizismus der kapitalistischen Gesellschaft. Gleichzeitig führte eine unzureichende Assimilierung des Marxismus zu der allgemeinen Behauptung innerhalb der neuen Generation von Revolutionären, dass es innerhalb der sozialistischen Gesellschaft keinen Platz für Moral oder ethische Fragen gibt.

Diese Haltung war an erster Stelle das Produkt des Bruchs in der organischen Kontinuität, der von der Konterrevolution verursacht wurde, welche der revolutionären Welle von 1917–23 gefolgt war. Bis dahin wurden die ethischen Werte der Arbeiterbewegung stets von einer Generation zur nächsten weitergereicht. Die Assimilierung dieser Werte war also von der Tatsache begünstigt, dass sie Teil einer lebendigen, kollektiven, organisierten Praxis war. Die Konterrevolution löschte zu einem großen Teil die Kenntnis von diesen Errungenschaften aus, so wie sie die revolutionären Minderheiten fast vollständig eliminierte, die diese verkörperten.

Darüber hinaus pervertierte der Stalinismus als politisches Produkt der Konterrevolution in Reinkultur diese Lehren, indem er das Vokabular der Arbeiterbewegung beibehielt und gleichzeitig den Auffassungen eine neue, bürgerliche Bedeutung verlieh. So wie er den Begriff Kommunismus diskreditierte, indem er diesen Titel der staatskapitalistischen Konterrevolution in den UdSSR verlieh, so erklärte er die Besetzung der Tschechoslowakei 1968 zu einem Ausdruck des „proletarischen Internationalismus“, so stellte er die schändliche Praxis der Einschüchterung, Denunzierung und Terrorisierung von Proletariern – die staatliche „Ethik“ des dekadenten kapitalistischen Totalitarismus – als das A und O der „proletarischen Moral“ dar.

Dies verstärkte umgekehrt den Eindruck, dass Moral an sich eine reaktionäre, der herrschenden, ausbeutenden Klasse innewohnende Angelegenheit ist. Und natürlich ist es richtig, dass in der gesamten Geschichte der Klassengesellschaften die herrschende Moral stets die Moral der herrschenden Klasse gewesen war. Dies ist insoweit richtig, als die Moral und der Staat, aber auch Moral und Religion stets synonym in der öffentlichen Meinung waren. Die moralischen Gefühle der Gesellschaft im Ganzen sind stets von den Ausbeutern, durch Staat und Religion, benutzt worden, um den herrschenden Zustand heilig zu sprechen und für ewig zu erklären. Und in der Realität bestand die Hauptrolle, die die Moral in dieser Geschichtsepoche gespielt hat, faktisch darin, den Status quo zu erhalten, die ausgebeuteten Klassen dazu zu bringen, sich in ihrer Unterdrückung zu ergeben.

Die Attitüde des Moralisierens, mit der die herrschende Klasse stets danach getrachtet hat, den Widerstand der arbeitenden Klassen durch die Einflößung eines Schuldbewusstseins zu brechen, ist eine der großen Geißeln der Menschheit. Sie ist auch eine der subtilsten und effektivsten Waffen zur Absicherung der Klassenherrschaft.

Der Marxismus hat immer die Moral der herrschenden Klassen bekämpft, so wie er das philisterhafte Moralisieren des Kleinbürgertums bekämpft hat. Entgegen der Heuchelei der Moralapostel des Kapitalismus hat der Marxismus immer und besonders darauf bestanden, dass die Kritik der politischen Ökonomie auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, nicht auf einem ethischen Urteil beruhen müsse.

Ungeachtet all dessen ist seine Pervertierung durch die Hände des Stalinismus kein Grund, das Konzept der proletarischen Moral beiseitezulegen, so wie sie denn auch keine Rechtfertigung dafür ist, dem Konzept des Kommunismus den Rücken zuzukehren. Der Marxismus hat gezeigt, dass die moralische Geschichte der Menschheit nicht nur die Geschichte der Moral der herrschenden Klasse ist. Er hat vorgeführt, dass ausgebeutete Klassen eigene ethische Werte besitzen und dass diese Werte eine revolutionäre Rolle im Fortschreiten der Menschheit spielten. Er hat bewiesen, dass Moral weder mit der Funktion der Ausbeutung noch mit dem Staat oder mit der Religion identisch ist und dass die Zukunft – wenn es denn eine Zukunft geben sollte – einer Moral jenseits von Ausbeutung, Staat und Religion gehört.

„... Menschen (werden) sich nach und nach gewöhnen (...), die elementaren, von alters her bekannten und seit Jahrtausenden in allen Vorschriften gepredigten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens einzuhalten, sie ohne Gewalt, ohne Zwang, ohne Unterordnung, ohne den besonderen Zwangsapparat, der sich Staat nennt, einzuhalten“[5].

Der Marxismus hat enthüllt, dass das Proletariat genau dazu berufen ist, die Moral und somit die Menschheit von der Geißel des Schuldbewusstseins und dem Durst nach Rache und Bestrafung zu befreien zu helfen.

Darüber hinaus war der Marxismus durch die Verbannung des kleinbürgerlichen Moralisierens aus der Kritik der politischen Ökonomie in der Lage, die Rolle der moralischen Faktoren im proletarischen Klassenkampf wissenschaftlich aufzuzeigen. So deckte er beispielsweise auf, dass die Bestimmung des Wertes der Arbeitskraft – im Gegensatz zu jeder anderen Ware – ein moralisches Element enthält: den Mut, die Entschlossenheit, Solidarität und Selbstachtung der Arbeiter.

Der Widerstand gegen das Konzept der proletarischen Moral drückt auch das Gewicht der kleinbürgerlichen und demokratischen Ideologie aus – die Abscheu vor Verhaltensregeln, vor jederlei Prinzip, vor so vielen Fesseln der individuellen „Freiheit“. Diese Schwäche betonte die Unreife dieser Generation gerade in den Fragen des menschlichen und organisatorischen Verhaltens und ihr Scheitern, von neuem eine starke Tradition der proletarischen Solidarität zu entwickeln.

Das Wesen der Moral

Die Moral ist ein unverzichtbarer Verhaltensführer in der Welt der menschlichen Kultur. Sie identifiziert die Prinzipien und Regeln, die das Zusammenleben der Gesellschaftsmitglieder moderieren. Solidarität, Sensibilität, Großzügigkeit, Unterstützung der Bedürftigen, Ehrlichkeit, Freundlichkeit und Höflichkeit, Bescheidenheit, Solidarität zwischen den Generationen – all dies sind Schätze, die zum Erbe der Menschheit gehören. Sie sind Qualitäten, ohne die eine Gesellschaft unmöglich ist. Daher haben die Menschen stets Werte anerkannt, so wie umgekehrt Gleichgültigkeit gegenüber den anderen, Brutalität, Gier, Neid, Arroganz und Eitelkeit, Unehrlichkeit und Untreue stets Ablehnung und Abscheu provoziert haben.

Als solche erfüllt die Moral die Funktion, im Interesse der Aufrechterhaltung der Gemeinschaft die sozialen gegenüber den antisozialen Impulsen zu begünstigen. Sie kanalisiert die psychische Energie im Interesse der Gesamtheit. Die Art und Weise, wie diese Energie kanalisiert wird, variiert entsprechend der Produktionsweise, der gesellschaftlichen Konstellationen, etc. Die Tatsache der Einspannung dieser Kräfte ist so alt wie die Gesellschaft selbst.

Innerhalb der Gesellschaft kristallisieren sich infolge einer ständigen Wiederholung von charakteristischen Situationen auf der Grundlage der lebendigen Erfahrung Verhaltensnormen und -maßstäbe, die der gegebenen Lebensweise entsprechen. Dieser Prozess ist Teil dessen, was Marx im Kapital die relative Emanzipation von Willkür und bloßem Schicksal durch die Etablierung einer Ordnung nannte.

Die Moral hat einen imperativen Charakter. Sie ist eine Aneignung der sozialen Welt durch eine Einteilung in „gut“ und „böse“, in akzeptabel und nicht-akzeptabel. Diese Form, sich der Realität anzunähern, instrumentalisiert bestimmte psychische Mechanismen, wie das Gewissen und das Verantwortungsgefühl. Diese Mechanismen beeinflussen Entscheidungen und allgemeines Verhalten, ja bestimmen sie häufig. Die moralischen Forderungen enthalten eine Kenntnisnahme der Gesellschaft – eine Kenntnis, die auf emotionaler Ebene absorbiert und assimiliert worden war. Wie alle Mittel der Aneignung und Umwandlung der Realität hat sie einen kollektiven Charakter. Via Einbildung, Intuition und Beurteilung erlaubt sie dem Subjekt, die geistige und emotionale Welt anderer Menschen zu betreten. Sie ist also eine Quelle menschlicher Solidarität und ein Mittel gegenseitiger spiritueller Bereicherung und Entwicklung. Sie kann sich nicht ohne soziale Interaktion entfalten, ohne die Weiterreichung der Errungenschaften und Erfahrungen unter den Mitgliedern der Gesellschaft, von der Gesellschaft zum Einzelnen und von einer Generation zur nächsten.

Eine Besonderheit der Moral besteht darin, dass sie die Realität an dem misst, wie sie sein sollte. Ihr Vorgehen ist eher teleologisch denn kausal. Der Zusammenstoß zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte,  ist kennzeichnend für die moralische Handlungsweise und macht sie zu einem aktiven und wichtigen Faktor.

Der Marxismus hat nie die Notwendigkeit oder die Bedeutung des Beitrags nicht-theoretischer und nicht-wissenschaftlicher Faktoren beim Aufstieg der Menschheit geleugnet. Im Gegenteil, er hat immer ihre Notwendigkeit und gar ihre relative Unabhängigkeit begriffen. Daher war er in der Lage, ihre gegenseitigen Verbindungen in der Geschichte zu untersuchen und ihre gegenseitige Ergänzung zu erkennen.

In Urgesellschaften, aber auch unter dem Klassenrecht entwickelt sich die Moral auf spontane Weise. Verhaltensweisen und ihre Einschätzung existierten schon lange vor der Entwicklung der Fähigkeit, moralische Werte zu kodifizieren oder über sie nachzudenken. Jede Gesellschaft, jede Klasse oder gesellschaftliche Gruppe (selbst jeder Beruf, wie Engels betonte) und jedes Individuum besitzt ein eigenes Verhaltensmuster. Wie Hegel anmerkte, ist eine Reihe von Handlungen durch ein Subjekt das Subjekt selbst.

Die Moral ist mehr als eine Summe von Verhaltensregeln und Gebräuchen. Sie ist ein wesentlicher Teil der Färbung der menschlichen Beziehungen in einer gegebenen Gesellschaft. Sie reflektiert, wie die Menschen sich selbst sehen und wie sie zu einem Verständnis untereinander gelangen, und ist gleichzeitig treibender Faktor in diesem Prozess.

Moralische Einschätzungen sind nicht nur als Antwort auf tägliche Probleme notwendig, sondern auch als Bestandteil einer planvollen Handlungsweise, die sich bewusst auf ein Ziel richtet. Sie leiten nicht nur individuelle Entscheidungen, sondern auch die Orientierung eines ganzen Lebens oder einer ganzen historischen Epoche.

Obgleich das Intuitive, das Instinktive und das Unbewusste wesentliche Aspekte in der moralischen Welt sind, wächst mit dem Aufstieg der Menschheit auch die Rolle des Bewusstseins in dieser Sphäre. Moralische Fragen berührten die eigentlichen Tiefen der menschlichen Existenz. Eine moralische Ausrichtung ist das Produkt von gesellschaftlichen Bedürfnissen, aber auch der Denkweise einer gegebenen Gesellschaft oder Gruppe. Sie erfordert eine Beurteilung des Wertes des menschlichen Lebens, des Verhältnisses des Individuums zur Gesellschaft, eine Definition des eigenen Platzes in der Welt, der eigenen Verantwortlichkeiten und Ideale. Doch hier findet die Beurteilung nicht so sehr in wechselseitiger Weise statt, sondern in der Form von Verhaltensfragen. Die ethische Ausrichtung leistet somit ihren spezifischen – praktischen, einschätzbaren, imperativen – Beitrag, dem menschlichen Leben eine Bedeutung zu verleihen. Die Ausbreitung des Universums ist ein Prozess, der sich fern und unabhängig von jeglichen Zielen und objektiven „Bedeutungen“ abspielt. Doch die Menschheit ist jener Teil der Natur, der sich selbst Ziele setzt und für ihre Verwirklichung kämpft.

In seinem Werk Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates legt Engels die Wurzeln der Moral in den sozioökonomischen Verhältnissen und den Klasseninteressen bloß. Doch er weist auch auf ihre regulierende Rolle nicht nur bei der Reproduktion der existierenden gesellschaftlichen Strukturen, sondern auch beim Aufkommen neuer Verhältnisse hin. Die Moral kann den historischen Fortschritt entweder behindern oder beschleunigen. Sie reflektiert häufig früher als die Philosophie oder die Wissenschaft verborgene Veränderungen unter der Oberfläche der Gesellschaft.

Der Klassencharakter einer gegebenen Moral sollte uns nicht blind gegenüber der Tatsache machen, dass jedes Moralsystem allgemeine menschliche Elemente enthält, die zum Schutz der Gesellschaft  auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung beitragen. Wie Engels im Antidühring hervorhebt, enthält die proletarische Moral weitaus mehr Elemente der allgemeinen menschlichen Werte, da sie die Zukunft gegen die Moral der Bourgeoisie repräsentiert. Engels beharrt auf der Existenz eines moralischen Fortschritts in der Geschichte. Durch die Bemühungen, Generation für Generation die menschliche Existenz besser zu meistern, und durch die Kämpfe der historischen Klassen ist der Reichtum der moralischen Erfahrungen der Gesellschaft stetig angewachsen. Obwohl der ethische Fortschritt des Menschen alles andere als linear verläuft, kann er an der Notwendigkeit und Möglichkeit abgelesen werden, immer komplexere menschliche Probleme zu lösen. Dies enthüllt das Potenzial für eine wachsende Bereicherung der inneren und gesellschaftlichen Welt der Persönlichkeit, die, wie Trotzki betonte, einer der wichtigsten Maßstäbe für den Fortschritt ist.

Ein anderes fundamentales Kennzeichen auf dem moralischen Gebiet ist, dass ihre Existenz, auch wenn sie das Bedürfnis der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit ausdrückt, nicht vom eigentlichen persönlichen und intimen Leben des Individuums, von der inneren Welt des Gewissens und der Persönlichkeit zu trennen ist. Jedes Vorgehen, das den subjektiven Faktor unterschätzt, bleibt notgedrungen abstrakt und passiv. Es ist die intime und tiefe Identifizierung der Persönlichkeit mit moralischen Werten, die nebst anderen den Menschen vom Tier unterscheidet und ihm eine gesellschaftliche, wandlungsfähige Macht verleiht. Hier wird das, was gesellschaftlich notwendig ist, zur inneren Stimme des Gewissens und verbindet die Gefühle mit dem Strom des gesellschaftlichen Fortschritts. Seine moralische Reifung rüstet das Subjekt gegen Vorurteile und Fanatismus, steigert seine Fähigkeiten, bewusst und kreativ gegenüber ethischen Konflikten zu reagieren und moralische Verantwortung zu übernehmen.

Es ist ebenfalls notwendig zu unterstreichen, dass, obwohl die Moral ihre biologische Grundlage in den sozialen Instinkten hat, ihre Entwicklung nicht von der menschlichen Kultur zu trennen ist. Der Aufstieg der Menschheit hängt nicht nur von der Entwicklung des Denkens ab, sondern auch von der Erziehung und der Veredelung der Gefühle. Tolstoi hatte also Recht, als er die Rolle der Kunst beim menschlichen Fortschritt im breitesten Sinne in eine Reihe mit den Wissenschaften stellte.

„So wie dank der menschlichen Fähigkeit, durch Worte ausgedrückte Gedanken zu verstehen, jeder Mensch all das erfahren kann, was auf dem Gebiet des Denkens die gesamte Menschheit für ihn geleistet hat (...) ganz genauso wird ihm dank der menschlichen Fähigkeit, vermittels der Kunst mit den Gefühlen anderer Menschen angesteckt zu werden, auf dem Gebiet des Gefühls all das zugänglich, was die Menschheit vor ihm erlebt hat, werden ihm die Gefühle zugänglich, die seine Zeitgenossen empfinden, die andere Menschen vor Jahrtausenden empfunden haben, und wird es ihm möglich, seine eigenen Gefühle anderen mitzuteilen. Besäßen die Menschen nicht die Fähigkeit, alle durch Worte übermittelten Gedanken aufzunehmen, die von früher lebenden Menschen gedacht worden sind, und anderen ihre eigenen Gedanken mitzuteilen, die Menschen glichen wilden Tieren oder einem Kaspar Hauser. Gäbe es nicht die andere menschliche Fähigkeit, sich mit der Kunst anstecken zu lassen, die Menschen wären gewiss in noch größerem Maße Wilde und vor allem noch weit mehr voneinander geschieden und einander feindlich.“ [6]

 


[1] Um eine Ahnung von dem Verhalten der IFIKS-Elemente zu bekommen, siehe unsere Artikel „Morddrohungen gegen IKS-Mitglieder“, „Informanten aus den öffentlichen Veranstaltungen der IKS verbannt“, „Die Polizeimethoden der IFIKS“ (Révolution Internationale Nr. 354, 338 und 330) sowie „Außerordentliche Konferenz der IKS: Der Kampf für die Verteidigung organisatorischer Prinzipien“ in International Review Nr. 110 (franz., engl. und span. Ausgabe) und „Bilanz des 16. Kongresses der IKS: Sich auf den Klassenkampf und das Auftauchen neuer kommunistischer Kräfte vorbereiten“ in Internationale Revue Nr. 36 (deutschsprachige Ausgabe).

 

[2] Diese Sichtweise wird in dem Text „Die Frage des organisatorischen Funktionierens in der IKS“ entwickelt, der in der Internationalen Revue Nr. 30 veröffentlicht wurde.

 

[3] Josef Dietzgen: Die Religion der Sozialdemokratie – Kanzelreden, 1870.

[4] Anton Pannekoek, Anthropogenesis: A study of the origin of man, 1953, S. 101, 103 (eigene Übersetzung aus dem Englischen).

[5] Lenin, Staat und Revolution, 1917.

[6] Tolstoi, Was ist Kunst?, 1897, Kap. 5. In einem Artikel, der über dieses Essay in der Neuen Zeit veröffentlicht wurde, erklärte Rosa Luxemburg, dass Tolstoi bei der Formulierung dieses Standpunktes sich viel mehr als Sozialist und historischer Materialist erwiesen habe als das meiste, was in der Parteipresse darüber erschienen sei.

 

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [10]

Theoretische Fragen: 

  • Arbeiterklasse [11]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Marxismus: die Theorie der Revolution [12]

Interne Debatte der IKS: Marxismus und Ethik (Teil I/b)

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Die Ethik vor dem Marxismus

Die Ethik ist das theoretische Verständnis der Moral, mit dem Ziel, ihre Rolle besser zu begreifen und ihre Inhalte und Aktionsfelder zu verbessern und zu systematisieren. Auch wenn sie eine theoretische Disziplin ist, ist ihr Ziel stets ein praktisches gewesen. Eine Ethik, die nicht dazu beiträgt, das Verhalten im wirklichen Leben zu verbessern, ist per se wertlos. Die Ethik ist erschienen und hat sich entwickelt als eine Art philosophische Wissenschaft, und zwar nicht nur aus historischen Gründen, sondern weil die Moral kein präzises Objekt ist, sondern ein Verhältnis, das die Gesamtheit des menschlichen Lebens und Bewusstseins durchdringt. Die Ethik hat die größten Geister der Menschheit beschäftigt; sie wurde von den klassischen griechischen Philosophen bis hin zu Spinoza und Kant stets als eine wichtige Frage angesehen.

Ungeachtet der Vielheit der verschiedenen Vorgehensweisen und der gegebenen Antworten ist ein gemeinsames Ziel, das sämtliche Spielarten der Ethik auszeichnet, die Beantwortung der Frage: Wie kann man ein Maximum an Glück für die größtmögliche Zahl von Menschen erreichen? Die Ethik war immer eine Waffe für den Kampf, insbesondere für den Klassenkampf gewesen.

Die Konfrontation mit Krankheit und Tod, mit dem Interessenkonflikt oder mit der Enttäuschung und dem emotionalen Leiden war oft eine mächtige Stimulans gewesen, um Ethik zu studieren. Doch während die Moral, so rudimentär sie in ihren Manifestationen ist, eine uralte Bedingung der menschlichen Existenz ist, ist die Ethik ein weitaus jüngeres Phänomen. Das Bedürfnis, seinem eigenen Verhalten und seinem eigenen Leben bewusst eine Richtung zu geben, ist das Produkt der immer komplexeren Natur des gesellschaftlichen Lebens. In der Urgesellschaft wurde der Aktivitätssinn ihrer Mitglieder direkt von der bittersten Armut, der Trägheit und Gleichförmigkeit des Lebens diktiert. Individuelle Freiheit existierte noch nicht. Vor dem Hintergrund des wachsenden Widerspruchs zwischen dem öffentlichen und privaten Leben, zwischen Individualisierung und den Bedürfnissen der Gesellschaft begann ein theoretischer Denkprozess über das Verhalten und seine Prinzipien. Dieses Nachdenken ist nicht zu trennen vom Auftreten einer kritischen Haltung gegenüber der Gesellschaft und vom Willen, sie auf planvolle Weise zu ändern. Somit wird, wie im antiken Griechenland, das Aufkommen einer solchen Haltung – wie jene der Philosophie im Allgemeinen –, während das Auseinanderbrechen der Urgesellschaft in Klassen die Vorbedingung für sie ist, insbesondere von der Entwicklung der Warenproduktion stimuliert.

Nicht nur das Erscheinen der Ethik, sondern auch ihre Evolution hängt wesentlich vom Fortschritt im Materiellen, insbesondere von der ökonomischen Grundlage der Gesellschaft ab. Mit der Klassengesellschaft änderten sich moralische Forderungen und Sitten notgedrungen, da jede Gesellschaftsformation von einer Moral abhängt, die ihren Bedürfnissen entspricht. Dies führte umgekehrt die Ethik zur Konfrontation mit neuen Fragen, neuen Widersprüchen, die die treibenden Kräfte hinter diesem Prozess sind. Wenn die herrschende Moral in Widerspruch zur historischen Weiterentwicklung tritt, wird sie zur Quelle der fürchterlichsten Leiden, die in wachsendem Maße physischer und psychischer Gewalt zu ihrer eigenen Stärkung bedarf und zu allgemeiner Desorientierung, wuchernder Heuchelei, aber auch zur Selbstgeißelung führt. Solche Phasen sind eine besondere Herausforderung für die Ethik, denn diese hat das Potenzial, neue Prinzipien zu formulieren, die erst in einer künftigen Zeit greifen und die Massen orientieren werden.

Trotz dieser Abhängigkeit ist die Entwicklung der Ethik jedoch alles andere als eine passive, mechanische Reflexion der ökonomischen Lage. Sie besitzt eine eigene innere Dynamik. Dies wird bereits von der Entwicklung des Materialismus der alten Griechen illustriert, der Beiträge zur Ethik leistete, die noch heute zum unschätzbaren theoretischen Erbe der Menschheit gehören. Dies schließt die Identifizierung des Strebens nach Glück als eine Hauptsorge der Ethik mit ein. Es beinhaltet die Erkenntnis, dass hinter dem Ruf nach einer Moral der „Mäßigung“ die „entmystifizierte“ materielle Tatsache steht, dass dieses Glück von der Erlangung einer Harmonie innerhalb des individuellen oder sozialen Organismus und von einem dynamischen Gleichgewicht innerhalb der Gesamtheit der verschiedenen menschlichen Bedürfnisse und ihrer Befriedigung abhängt. Bereits Heraklit machte die zentrale Frage der Ethik aus: das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen dem, was das Individuum tatsächlich tut, und dem, was es im allgemeinen Interesse tun sollte. Doch diese „Naturphilosophie“ war nicht in der Lage, eine materialistische Erklärung für die Ursprünge der Moral und insbesondere des Gewissens zu geben. Darüber hinaus hinderte die einseitige Betonung der Kausalität, zum Schaden der „teleologischen“ Seite der menschlichen Existenz (planvolle Aktivitäten für ein bewusstes Ziel), sie daran, befriedigende Antworten auf einige der größten Probleme der Ethik zu geben.

Daher ebnete nicht nur die objektive gesellschaftliche Entwicklung, sondern auch dieser Mangel an Lösungen für die gestellten theoretischen Fragen den Weg zum philosophischen Idealismus. Das Interesse des Idealismus und mit ihm das neue religiöse Credo des Monotheismus galt nicht mehr der Erklärung der Natur, sondern der Erforschung des ethischen, spirituellen Lebens. Dies kulminierte in der Aufteilung der Persönlichkeit in einen himmlischen (moralischen) und einen materiellen (körperlichen) Teil: halb Engel, halb Tier. Eine Sichtweise, die perfekt der Konsolidierung der Macht der herrschenden Klasse des Adels entsprach.

Der Triumph des ethischen Idealismus wurde erst durch den revolutionären Materialismus der aufsteigenden Bourgeoisie ernsthaft herausgefordert. Der neue Materialismus postulierte, dass die natürlichen Impulse des Menschen den Keim all dessen enthalten, was gut ist, und machte die alte Ordnung und den Zustand der Gesellschaft zur Quelle allen Übels. Aus dieser Denkschule entstammten nicht nur die theoretischen Waffen der bürgerlichen Revolution, sondern auch der utopische Sozialismus (Fourier vom französischen Materialismus, Owen von Benthams System der „Nützlichkeit“).

Doch auch dieser Materialismus war unfähig zu erklären, woher die Moral stammt. Die Moral kann nicht „natürlich“ erklärt werden, weil die menschliche Natur bereits die Moral in sich trägt. Auch kann diese revolutionäre Theorie nicht ihren eigenen Ursprung erklären. Wenn der Mensch im Moment seiner Geburt nichts als ein unbeschriebenes Blatt Papier, eine Tabula rasa, ist, wie dieser Materialismus behauptet, und allein von der herrschenden sozialen Ordnung geformt wird – woher kommen dann die revolutionären Ideen und wo liegt der Ursprung der moralischen Entrüstung, diese unerlässliche Voraussetzung für eine neue und bessere Gesellschaft? Sein wertvollster Beitrag besteht darin, dass er dem Pessimismus des Idealismus – der die Möglichkeit eines historischen ethischen Fortschritts leugnet und durch die Aufstellung unerfüllbarer moralischer Forderungen demoralisiert – den Krieg erklärt hat. Doch trotz seines scheinbar grenzenlosen Optimismus lieferte dieser allzu mechanische und metaphysische Materialismus nur eine dürftige Grundlage für ein wirkliches Vertrauen in die Menschheit. Letztendlich erscheint in dieser Weltsicht der „Aufklärer“ selbst als einzige Quelle der ethischen Vervollkommnung der Gesellschaft.

Die Tatsache, dass der bürgerliche Materialismus in seinen Bemühungen scheiterte, die Ursprünge der Moralität allein auf der Basis der Erfahrung zu erklären (und nicht nur der Rückständigkeit von Deutschland oder der Provinzialität von Königsberg), steuerte zu Kants Rückfall in den ethischen Idealismus bei der Erklärung des Phänomens des Gewissens bei. Indem er das „moralische Gesetz in uns“ zu einem „Ding an sich“ machte, das a priori existiere, außerhalb von Zeit und Raum, erklärte Kant faktisch, dass wir nicht die Ursprünge der Moral kennen können.

Und in der Tat war es, trotz aller unschätzbarer Beiträge, die die Menschheit geleistet hat und die sozusagen die Teile eines noch nicht zusammengesetzten Puzzles bildeten, erst das Proletariat, das mit Hilfe der marxistischen Theorie in der Lage war, eine befriedigende und kohärente Antwort auf diese Frage zu geben.

Der Marxismus und die Ursprünge der Moral

Für den Marxismus liegt der Ursprung der Moral im durch und durch gesellschaftlichen, kollektiven Wesen der menschlichen Gattung. Diese Moral ist das Ergebnis nicht nur von zutiefst sozialen Trieben, sondern der Abhängigkeit der Art von geplanter gemeinschaftlicher Arbeit und vom immer komplexer werdenden Produktionsapparat, den diese Arbeit erfordert. Die Grundlage und der Kern der Moral ist die Einsicht in die Notwendigkeit der Solidarität als Antwort auf das Ungenügen des Individuums, auf die Abhängigkeit von der Gesellschaft. Diese Solidarität ist der gemeinsame Nenner von allem, was im Laufe der Geschichte der Moral an Positivem und Dauerhaftem hervorgebracht wurde. Insofern ist sie sowohl Maßstab des moralischen Fortschritts als auch Ausdruck der Kontinuität dieser Geschichte – trotz aller Unterbrüche und Rückschläge.

Diese Geschichte ist geprägt von der Erkenntnis, dass die Überlebenschancen umso größer sind, je mehr die Gesellschaft oder gesellschaftliche Klasse eine Einheit bildet, je stärker ihr Zusammenhalt ist, je größer  die Harmonie zwischen ihren verschiedenen Teilen. Aber es geht nicht allein um die Überlebensfrage. Tiefere Formen der Kollektivität sind die Voraussetzung für die Entfaltung der Persönlichkeit und die volle Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Gesellschaft und ihrer Mitglieder. Nur durch die Beziehung zu anderen kann der Mensch seine eigene Menschlichkeit entdecken. Die praktische Verfolgung des gemeinsamen Interesses ist das Mittel, mit dem die Mitglieder der Gesellschaft die Moral veredeln. Das reichste Leben ist dasjenige, das am stärksten in der Gesellschaft verwurzelt ist, mit den meisten Verknüpfungen zum Leben anderer.

Der Grund, weshalb nur das Proletariat die Frage des Ursprungs und des Wesens der Moral beantworten konnte, liegt darin, dass die Perspektive einer Weltgemeinschaft, einer kommunistischen Gesellschaft den Schlüssel für das Verständnis der Geschichte der Moral darstellt. Das Proletariat ist die erste Klasse in der Geschichte, die kein Sonderinteresse zu verteidigen hat und die durch eine wirkliche Vergesellschaftung der Produktion vereinigt ist – die Grundlage einer qualitativ höheren Ebene der menschlichen Solidarität.

Die materialistische Ethik des Marxismus erlaubt es dank ihrer Fähigkeit, wissenschaftliche Erkenntnisse (namentlich diejenigen von Darwin, dem Marx Das Kapital gewidmet hat) zu integrieren, zu verstehen, dass der Mensch als Produkt der Evolution in Tat und Wahrheit nicht als tabula rasa, als unbeschriebenes Blatt zur Welt kommt. Er bringt eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Bedürfnissen „in die Welt“, die Ergebnis seines tierischen Ursprungs sind (beispielsweise das Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Zuneigung, ohne die das Neugeborene sich nicht entwickeln, ja nicht einmal überleben kann).

Aber der Fortschritt der Wissenschaft hat auch offen gelegt, dass der Mensch darüber hinaus eine Kämpfernatur hat. Diese hat es ihm ermöglicht aufzubrechen, um die Welt zu erobern, die Naturkräfte zu beherrschen, sie zu gebrauchen, um das gesellschaftliche Leben auf dem ganzen Planeten zu entfalten. Die Geschichte zeigt auch, dass der Mensch in aller Regel vor Schwierigkeiten nicht zurückschreckt. Der Kampf der Menschheit stützt sich auf eine Reihe von Trieben, die sie aus dem Tierreich geerbt hat: diejenigen der Selbsterhaltung, der sexuellen Fortpflanzung, des Schutzes der Nachkommen usw. Im Rahmen der Gesellschaft konnten sich diese Arterhaltungstriebe nur dadurch entwickeln, dass der Mensch seine Gefühle mit den Artgenossen teilte. Es stimmt zwar, dass diese Qualitäten das Ergebnis der Sozialisierung sind; aber ebenso erlauben diese Qualitäten umgekehrt erst ein Leben in der Gesellschaft. Die Geschichte der Menschheit hat auch gezeigt, dass der Mensch ein Potential an Aggressivität mobilisieren kann und muss, ohne das er sich nicht gegen eine feindliche Umwelt verteidigen und behaupten kann.

Doch die Grundlage der Kampfbereitschaft der menschlichen Gattung geht noch viel mehr in die Tiefe, sie wurzelt vor allem in der Kultur. Die Menschheit ist der einzige Teil der Natur, der sich durch den Prozess der Arbeit ständig selbst verwandelt. Das bedeutet, dass das Bewusstsein zum wichtigsten Mittel ihres Überlebenskampfes geworden ist. Jedes Mal, wenn der Mensch ein neues Ziel erreicht hat, hat er seine Umwelt verändert und sich neue, höhere Ziele gesteckt. Dies wiederum hat eine Weiterentwicklung seines gesellschaftlichen Wesens bedingt.

Die wissenschaftliche Methode des Marxismus hat die biologischen, „natürlichen“ Ursprünge der Moral und des gesellschaftlichen Fortschritts aufgedeckt. Weil er die Bewegungsgesetze der menschlichen Geschichte entdeckte und den metaphysischen Standpunkt überwand, löste der Marxismus die Fragen, die der alte, bürgerliche Materialismus nicht beantworten konnte. Damit bewies er die Relativität, aber auch den relativen Wert der verschiedenen moralischen Systeme der Geschichte. Er legte ihre Abhängigkeit von der Entwicklung der Produktivkräfte und – ab einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt – dem Klassenkampf offen. Dadurch legte er das theoretische Fundament für eine praktische Überwindung dessen, was eine der größten Geißeln der Menschheit bis heute gewesen ist: die fanatische, dogmatische Tyrannei jedes moralischen Systems.

Indem der Marxismus aufzeigte, dass die Geschichte eine Bedeutung hat und ein kohärentes Ganzes bildet, überwand er den falschen Gegensatz zwischen dem moralischem Pessimismus des Idealismus und dem hohlen Optimismus des bürgerlichen Materialismus. Durch den Nachweis eines moralischen Fortschritts in der Geschichte der Menschheit, erweiterte er die Grundlage für das Vertrauen des Proletariats in die Zukunft.

Trotz der erhabenen Schlichtheit der gemeinschaftlichen Grundsätze des Urkommunismus waren seine Tugenden an die blinde Unterwerfung unter Rituale und Aberglauben gebunden, sie waren nie das Ergebnis einer bewussten Wahl. Typisch war die örtliche Gebundenheit der moralischen Grundsätze: Der Fremde verkörperte Böses. Erst mit dem Aufkommen der Klassengesellschaft (in Europa zur Zeit der Blüte der Sklavenhaltergesellschaften) konnten menschliche Wesen einen moralischen Wert unabhängig von Blutsbanden besitzen. Diese Errungenschaft war das Produkt von Kultur und der Revolte von Sklaven und anderer unterdrückter Schichten. Es ist wichtig festzuhalten, dass die Kämpfe der ausgebeuteten Klassen, selbst wenn sie keine revolutionäre Perspektive hatten, das moralische Erbe der Menschheit durch die Kultivierung eines rebellischen Geistes und einer Empörung, durch die Erringung eines Respekts vor der menschlichen Arbeit sowie die Idee der Würde eines jeden menschlichen Wesens bereicherten. Der moralische Reichtum einer Gesellschaft ist nie bloß das Ergebnis der unmittelbaren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Konstellation, sondern eine Zusammenfassung von Errungenschaften der Geschichte. Wir sollten dabei auch nicht vergessen, dass die Individualisierung nicht allein die Einsamkeit hervorbrachte, sondern auch zur Entdeckung und Untersuchung der tiefsten Schichten unserer Seele und zur Grundlegung für die Übernahme individueller Verantwortung führte. So wie die Erfahrung und das Leiden eines langen und schwierigen Lebens zur Reifung derjenigen beiträgt, die sich dadurch nicht brechen lassen, wird die Hölle der Klassengesellschaft zum Wachstum der moralischen Erhabenheit der Menschheit beitragen – unter der Bedingung, dass diese Gesellschaft überwunden werden kann.

Es sollte weiter hinzugefügt werden, dass der historische Materialismus den alten Gegensatz zwischen Trieb und Bewusstsein, und zwischen Kausalität und Teleologie, der den Fortschritt der Moral behinderte, auflöste. Die objektiven Gesetzmäßigkeiten der geschichtlichen Entwicklung sind ihrerseits Ausdrücke der menschlichen Tätigkeit. Sie erscheinen nur deshalb als äußerliche Kräfte, weil die Ziele, die sich die Menschen setzen, von den Umständen abhängen, die die Vergangenheit der Gegenwart vermacht hat. Wenn man diesen Prozess aber als dynamischen begreift, als Bewegung von der Vergangenheit in die Zukunft, ist die Menschheit sowohl das Ergebnis als auch die Ursache der Veränderung. In diesem Sinn sind auch die Moral und die Ethik sowohl das Produkt als auch aktive Faktoren der Geschichte.

Indem der Marxismus das wahre Wesen der Moral aufdeckt, ist er auch in der Lage, ihre Richtung zu beeinflussen und sie als Waffe des proletarischen Klassenkampfes zu schärfen. 

Der Kampf gegen die bürgerliche Moral

Die proletarische Moral entwickelt sich im Kampf gegen die herrschenden Werte, nicht in der Isolierung von ihnen. Die wachsende Unerträglichkeit der herrschenden Werte wird zu einer der Hauptantriebskräfte bei der Entwicklung einer konträren, revolutionären Moral und ihrer Fähigkeit, die Massen zu ergreifen.

Der Kern der Moral der bürgerlichen Gesellschaft ist in der Verallgemeinerung der Warenproduktion enthalten. Diese bestimmt ihren wesentlich demokratischen Charakter, der eine höchst fortschrittliche Rolle bei der Auflösung des Feudalismus spielte, der jedoch mit dem Niedergang des kapitalistischen Systems in wachsendem Maße seine irrationale Seite enthüllt.

Der Kapitalismus ordnet die gesamte Gesellschaft, einschließlich der Arbeitskraft selbst, der Quantifizierung des Tauschwerts unter. Der Wert der Menschen und ihrer produktiven Aktivitäten liegt nicht mehr in ihren konkreten menschlichen Qualitäten und ihrem einzigartigen Beitrag zur Kollektivität, sondern kann nur noch quantitativ, im Vergleich zu anderen und einem abstrakten Durchschnitt ermessen werden – was sie mit der Gesellschaft als unabhängige, blinde Kraft konfrontiert. Indem also der Mensch als Konkurrent gegen den Mitmenschen ausgespielt wird und gezwungen ist, sich ständig an anderen zu messen, höhlt der Kapitalismus die menschliche Solidarität als Grundlage der Gesellschaft aus. Indem er von den realen Qualitäten der lebenden Menschen, einschließlich ihrer moralischen Qualitäten,  abstrahiert, unterminiert er die eigentliche Grundlage der Moral. Indem er die Frage: „Was kann ich zur Gemeinschaft beitragen?“ durch die Frage: „Was ist mein eigener Wert innerhalb der Gemeinschaft?“ (Reichtum, Macht, Prestige) ersetzt, stellt er die Möglichkeit einer Gemeinschaft schlechthin in Frage.

Die bürgerliche Gesellschaft neigt dazu, die moralischen Errungenschaften auszuhöhlen, die die Menschheit in Jahrtausenden angehäuft hat, von den simplen Traditionen der Gastfreundschaft und des Respekts gegenüber den anderen im täglichen Leben bis hin zum elementaren Reflex, jenen zu helfen, die in Not sind.

Mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine Schlussphase, den Zerfall, neigt diese ihm innewohnende Tendenz dazu, vorherrschend zu werden. Der irrationale Charakter dieser Tendenz – langfristig unvereinbar mit dem Schutz der Gesellschaft – enthüllt sich in der Notwendigkeit selbst für die  Bourgeoisie, im Interesse einer profitablen Produktion wissenschaftliche Untersuchungen anzustellen und Strategien gegen das „Mobbing“ auszuhecken, Pädagogen einzustellen, die Schulkindern beibringen, wie man mit Konflikten umgeht und wie man die Qualität der immer selteneren Fähigkeit, in einer Gruppe zu arbeiten, erlernt, die wichtigste Qualifikation, die viele Betriebe von den neuen Beschäftigten verlangen.

Eine Besonderheit des Kapitalismus ist die Ausbeutung auf der Grundlage der „Freiheit“ und juristischen „Gleichheit“ der Ausgebeuteten. Daher der im Prinzip heuchlerische Charakter seiner Moral. Doch diese Besonderheit verändert auch die Rolle, die die Gewalt in der Gesellschaft spielt.

Im Gegensatz zu dem, was seine Apologeten behaupten, übt der Kapitalismus nicht weniger, sondern eine weitaus rohere Gewalt als jede andere Ausbeutungsweise aus. Doch weil die Verstärkung des Ausbeutungsprozesses selbst nun auf einem wirtschaftlichen Verhältnis statt auf physischem Zwang beruht, gibt es einen qualitativen Sprung in der Anwendung indirekter, moralischer, psychischer Gewalt. Verleumdungen, Anschläge auf die Persönlichkeit, die Suche nach Sündenböcken, die gesellschaftliche Isolation anderer, die systematische Degradierung der menschlichen Würde und des Selbstvertrauens sind zu täglichen Instrumenten der sozialen Kontrolle und des Konkurrenzkampfes geworden. Mehr noch: sie sind zu Manifestationen der demokratischen Freiheit, des moralischen Ideals der bürgerlichen Gesellschaft geworden. Und je mehr die Bourgeoisie sich auf diese indirekte Gewalt und auf den Einfluss ihrer Moral gegen das Proletariat verlässt, desto stärker ist ihre Position.

Die Moral des Proletariats

Der Kampf des Proletariats für den Kommunismus bildet mit Abstand den höchsten Punkt in der moralischen Entwicklung der Gesellschaft bis heute. Er beinhaltet, dass die Arbeiterklasse die gesammelten Kulturgüter geerbt und sie auf einem qualitativ höheren Niveau weiterentwickelt hat, sie auf diese Weise vor der Liquidierung durch den kapitalistischen Zerfall bewahrend. Eines der Hauptziele der kommunistischen Revolution ist der Sieg der sozialen Gefühle und Qualitäten über die anti-sozialen Impulse. Wie Engels im Antidühring argumentiert, wird eine wirklich menschliche Moral fern jeder Klassenwidersprüche erst in einer Gesellschaft möglich sein, in der nicht nur der Klassengegensatz selbst, sondern auch die Erinnerung an ihn praktisch aus dem täglichen Leben verschwunden ist.

Das Proletariat absorbiert antike Gemeinschaftsregeln wie auch die Errungenschaften der jüngeren und komplizierteren Ausdrücke der Moralkultur in seine eigene Bewegung. Dies beinhaltet auch solch elementare Regeln wie das Verbot des Diebstahls, das für die Arbeiterbewegung nicht nur eine goldene Regel der Solidarität und des gegenseitigen Vertrauens ist, sondern auch eine unersetzliche Barriere gegen fremde moralische Einflüsse der Bourgeoisie und des Lumpenproletariats.

Die Arbeiterbewegung lebt auch von der Entfaltung des sozialen Lebens, der Sorge um das Leben der anderen, des Schutzes der ganz Jungen, der ganz Alten und der Bedürftigen. Auch wenn sich die Liebe zur Menschheit nicht nur auf das Proletariat beschränkt, wie Lenin sagt, ist diese Wiederaneignung durch die Arbeiterklasse notgedrungen kritisch und strebt die Überwindung der Rohheit, Kleinlichkeit und der Provinzialität der nicht-proletarischen ausgebeuteten Klassen und Schichten an.

Das Auftreten der Arbeiterklasse als Träger des moralischen Fortschritts ist eine perfekte Veranschaulichung der dialektischen Natur der gesellschaftlichen Entwicklung. Durch die radikale Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln und ihre radikale Unterordnung unter die Marktgesetze schuf der Kapitalismus zum ersten Mal in der Geschichte eine Gesellschaftsklasse, die radikal von ihrer eigenen Menschlichkeit entfremdet war. Die Genese der modernen Klasse von Lohnarbeitern ist somit eine Geschichte der Auflösung sozialer Gemeinschaften und ihrer Errungenschaften – der Entwurzelung, Vagabundierung und Kriminalisierung von Millionen von Männern, Frauen und Kindern. Abseits der Sphäre der Gesellschaft waren sie einem unbeschreiblichen Prozess der Brutalisierung und moralischer Degradierung ausgesetzt. Anfangs waren die Arbeiterbezirke in den industrialisierten Regionen Brutstätten der Ignoranz, des Verbrechens, der Prostitution, des Alkoholismus, der Gleichgültigkeit und Hoffnungslosigkeit.

Doch schon in seiner Untersuchung der Arbeiterklasse in England konnte Engels feststellen, dass die klassenbewussten unter den Proletariern die liebenswürdigsten, edelsten und menschlichsten Seiten der Gesellschaft bildeten. Und später, bei der Bilanzierung der Pariser Kommune, setzte Marx das Heldentum, den Geist der Selbstaufopferung und Leidenschaft des kämpfenden, arbeitenden und denkenden Paris für die herkulische Aufgabe dem parasitären, skeptischen und egoistischen Paris der Bourgeoisie entgegen.

Diese Verwandlung des Proletariats, einst eine Klasse ohne eigene Menschlichkeit, ist der Ausdruck seines spezifischen Klassencharakters. Der Kapitalismus hat erstmals in der Geschichte einer Klasse zum Leben verholfen, die nur durch die Entfaltung der Solidarität ihre Menschlichkeit bekräftigen und ihre Identität sowie ihre Klasseninteressen ausdrücken kann. Wie niemals zuvor ist die Solidarität zur Waffe des Klassenkampfes und zum spezifischen Mittel geworden, durch das die Aneignung, die Verteidigung und die höhere Entwicklung der menschlichen Kultur und Moral durch eine ausgebeutete Klasse möglich werden. Wie Marx 1872 erklärte: „Bürger, denken wir an jenes Grundprinzip der Internationale: die Solidarität. Nur wenn wir dieses lebenspendende Prinzip unter sämtlichen Arbeitern aller Länder auf sichere Grundlagen gestellt haben, werden wir das große Endziel erreichen, das wir uns gesteckt haben. Die Umwälzung muss solidarisch sein, das lehrt uns das große Beispiel der Pariser Kommune ...“[1] [13]

Diese Solidarität ist das Resultat des Klassenkampfes. Ohne die ständige Auseinandersetzung zwischen Fabrikbesitzern und Arbeitern, sagt Marx, „würde die Arbeiterklasse Großbritanniens und ganz Europas eine niedergedrückte, charakterschwache, verbrauchte, unterwürfige Masse sein, deren Emanzipation aus eigner Kraft sich als ebenso unmöglich erweisen würde wie die der Sklaven des antiken Griechenlands und Roms“[2] [13].

Und Marx fügte hinzu: „Um den Wert von Streiks und Koalitionen richtig zu würdigen, dürfen wir uns nicht durch die scheinbare Bedeutungslosigkeit ihrer ökonomischen Resultate täuschen lassen, sondern müssen vor allen Dingen ihre moralischen und politischen Auswirkungen im Auge behalten.“

Diese Solidarität geht Hand in Hand mit der moralischen Empörung der Arbeiter über ihre eigene Erniedrigung. Diese Empörung ist eine Voraussetzung nicht nur für den Kampf und Selbstrespekt der Arbeiter, sondern auch für das Aufblühen ihres Klassenbewusstseins. Nachdem er die Fabrikarbeit als ein Mittel zur Verdummung der Arbeiter definiert hat, kommt Engels zu dem Schluss: „... wenn dennoch die Fabrikarbeiter nicht nur ihren Verstand gerettet, sondern auch mehr als andere ausgebildet und geschärft haben, so war dies wieder nur durch die Empörung gegen ihr Schicksal und gegen die Bourgeoisie möglich.“ [3] [13]

Die Befreiung der Arbeiter aus dem paternalistischen Gefängnis des Feudalismus versetzte sie in die Lage, die politische,  globale Dimension dieser „moralischen Resultate“ zu entwickeln und so sich ihre Verantwortung gegenüber der Gesellschaft als Ganzes zu Herzen zu nehmen. In seinem Buch über die Arbeiterklasse in England ruft Engels in Erinnerung, wie in Frankreich die Politik und in Großbritannien die Ökonomie sie aus ihrer „Gleichgültigkeit gegenüber den allgemeinen Interessen der Menschheit“ befreite, eine Gleichgültigkeit, die sie „geistig-tot“ machte.

Für die Arbeiterklasse ist die Solidarität nicht eine Waffe unter vielen anderen, die angewendet wird, wenn sie benötigt wird. Sie ist die Essenz des Kampfes und der täglichen Existenz der Klasse. Daher sind die Organisation und die Zentralisierung ihres Kampfes der lebendige Ausdruck dieser Solidarität.

Der moralische Aufstieg der Arbeiterbewegung ist nicht von der Formulierung ihres historischen Ziels zu trennen. Im Verlaufe seiner Untersuchung der utopischen Sozialisten erkannte Marx den ethischen Einfluss von kommunistischen Ideen, durch welche „unser Bewusstsein geschmiedet wird“. Und in ihrem Werk „Sozialismus und die Kirchen“ rief Rosa Luxemburg in Erinnerung, dass die Verbrechensraten in den Industriebezirken von Warschau drastisch zurückgegangen waren, sobald aus Arbeitern Sozialisten geworden waren.

Kennzeichnend für den moralischen Fortschritt ist die Erweiterung des Wirkungskreises der sozialen Tugenden und Antriebe, bis die Gesamtheit der Menschheit erfasst ist. Der bei weitem höchste Ausdruck der menschlichen Solidarität, des ethischen Fortschritts der Gesellschaft bis heute ist der proletarische Internationalismus. Dieses Prinzip ist ein unerlässliches Mittel zur Befreiung der Arbeiterklasse und bereitet die Grundlage für die künftige menschliche Gemeinschaft. Die Zentralität dieses Prinzips und die Tatsache, dass nur die Arbeiterklasse es verteidigen kann, unterstreicht die Bedeutung der moralischen Autonomie des Proletariats gegenüber allen anderen Klassen und Schichten der Gesellschaft. Es ist unerlässlich für klassenbewusste Arbeiter, sich selbst größtenteils vom Denken und Fühlen der Bevölkerung zu befreien, um ihre eigene Moral jener der Bourgeoisie entgegenzusetzen.

Ihre Stellung im Herzen des proletarischen Kampfes lässt ein neues Verständnis der Bedeutung der Solidarität in der menschlichen Gesellschaft zu.

Sie ist ein unverzichtbares Mittel, um das Ziel des Kommunismus zu erreichen, aber auch das Wesen selbst dieses Ziels. Ebenso besteht das Ziel der Arbeiterbewegung bei der Bekämpfung des Kapitalismus nicht nur darin, Ausbeutung und materiellen Eigennutz, sondern auch Einsamkeit und soziale Gleichgültigkeit zu überwinden.

Revolutionen beinhalten stets die moralische Erneuerung der Gesellschaft. Sie können nicht stattfinden und erfolgreich sein, es sei denn, die Massen waren bereits zuvor von neuen Werten und Ideen erfasst, die ihren Kampfgeist, ihren Mut und ihre Entschlossenheit galvanisieren. Die Überlegenheit der moralischen Werte des Proletariats bildet eines der prinzipiellen Elemente ihrer Fähigkeit, andere nicht ausbeutende Schichten hinter sich zu ziehen. Obgleich es unmöglich ist, eine kommunistische Moral innerhalb der Klassengesellschaft zu etablieren, deuten die Prinzipien der Arbeiterklasse die Zukunft an und helfen ihr, den Weg zu ebnen. Durch den Kampf selbst bringt die Klasse ihr Verhalten und ihre Werte allmählich mit ihren eigenen Bedürfnissen und Zielen in Einklang und erlangt so eine neue menschliche Würde.

Das Ziel des Proletariats ist nicht ein ethisches Ideal, sondern die Befreiung der bereits existierenden Elemente der neuen Gesellschaft. Es hat kein Bedürfnis nach moralischen Illusionen und verabscheut Heuchelei. Sein Interesse ist es, die Moral von allen Illusionen und Vorurteilen zu entkleiden. Als erste Klasse in der Gesellschaft mit einem wissenschaftlichen Verständnis der Gesellschaft erreicht es eine neue Qualität in dem anderen Hauptanliegen der traditionellen Moral – in der Wahrhaftigkeit. Wie die Solidarität nimmt die Aufrichtigkeit eine neue und tiefere Bedeutung an. Angesichts des Kapitalismus, der ohne Lug und Trug nicht leben kann und der die gesellschaftliche Realität verzerrt – indem er das Verhältnis zwischen den Menschen zu einem Verhältnis zwischen Objekten macht –, besteht das Ziel des Proletariats darin, die Wahrheit als unverzichtbares Mittel seiner eigenen Befreiung zu enthüllen. Daher hat der Marxismus nie versucht, die Bedeutung der Hindernisse auf dem Weg zum Sieg herunterzuspielen oder vor der Möglichkeit einer Niederlage zurückzuschrecken. Der härteste Test der Aufrichtigkeit ist es, sich selbst gegenüber wahrhaftig zu sein. Dies betrifft Klassen genauso wie Individuen. Natürlich kann dieses Streben nach einem Verständnis der eigenen Realität schmerzvoll sein und sollte nicht in einem absoluten Sinn verstanden werden. Doch die Ideologie und die Selbsttäuschung widersprechen direkt den Interessen der Arbeiterklasse.

In der Tat ist der Marxismus Erbe der besten wissenschaftlichen Ethik der Menschheit, indem er die Suche nach der Wahrheit in den Mittelpunkt seiner Beschäftigung rückt. Für das Proletariat ist der Kampf um Klarheit von höchstem Wert. Die Haltung, Debatten zu vermeiden und zu sabotieren, ist das Gegenstück davon, da eine solche Vorgehensweise stets die Tür für das Eindringen fremder Ideologien und Verhaltensweisen weit öffnet.

Neben der Absorbierung der ethischen Errungenschaften und ihrer Weiterentwicklung  auf einer höheren Ebene konfrontiert der Kampf für den Kommunismus die Arbeiterklasse mit neuen Fragen und neuen Dimensionen ethischen Handelns. Zum Beispiel stellt der Kampf um die Macht direkt die Frage des Verhältnisses zwischen den Interessen des Proletariats und jenen der Menschheit insgesamt, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Geschichte zwar einander entsprechen, aber nicht identisch sind. Angesichts einer Wahl zwischen Sozialismus und Barbarei muss die Arbeiterklasse bewusst Verantwortung für das Überleben der Menschheit in ihrer Gesamtheit übernehmen. Im September–Oktober 1917, im Angesicht eines heranreifenden Aufstandes und der Gefahr, dass das Scheitern der Revolution bei ihrer Ausbreitung zu furchtbaren Leiden für das russische und das Weltproletariat führen würde, beharrte Lenin darauf, dass dies riskiert werden müsse, weil ansonsten das Schicksal der Zivilisation selbst auf dem Spiel stünde. Ebenso wird die Wirtschaftspolitik der Umwandlung nach der Machtergreifung die Klasse mit der Notwendigkeit konfrontieren, bewusst ein neues Verhältnis zwischen Mensch und Natur zu entwickeln, das nicht mehr ein Verhältnis eines „Siegers auf erobertem Gebiet“ (Antidühring) sein kann.

 

IKS



[1] [13] Marx: „Rede über den Haager Kongress“, 1872, MEW, Bd. 18, S. 161.

 

[2] [13] Marx: „Die russische Politik gegenüber der Türkei – Die Arbeiterbewegung in England“, 1853, MEW, Bd. 9, S. 171.

 

[3] [13] Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, 1845. Kapitel „Die einzelnen Arbeitszweige. Die Fabrikarbeiter im engeren Sinne (Sklaverei. Fabrikregeln)“.

 

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [10]

Theoretische Fragen: 

  • Arbeiterklasse [11]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Marxismus: die Theorie der Revolution [12]

Ungarn 1956: Ein proletarischer Aufstand gegen den Stalinismus

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In der Nacht vom 23. auf den 24. Oktober 1956 begannen die Arbeiter in Budapest, fast unmittelbar gefolgt vom Rest der ungarischen Arbeiter, einen bewaffneten Aufstand, der das gesamte Land ergriff. Sie waren geknechtet durch die schreckliche Ausbeutung und den Terror, den das stalinistische Regime seit 1948 ausübte. Innerhalb von 24 Stunden breitete sich ein Streik auf die wichtigsten Industriestädte aus, die Arbeiterklasse bildete Räte und übernahm die Kontrolle des Aufstandes.

Es war eine Revolte des ungarischen Proletariates gegen den Kapitalismus in seiner stalinistischen Form, welcher bleischwer auf der Arbeiterklasse der Länder Osteuropas lastete. Diese Tatsache hat die herrschende Klasse in den letzten 50 Jahren zu verheimlichen versucht oder noch häufiger verdreht und verfälscht. In den zensurierten und verfälschten Geschichtsschreibungen wird die entscheidende Rolle der Arbeiterklasse auf ein Minimum reduziert. Zu den Arbeiterräten werden meist nur Lippenbekenntnisse gemacht, die sich auf Anekdoten reduzieren, oder sie werden als ein Mischmasch von Komitees und nationalen oder regionalen Räten dargestellt, von denen Einer nationalistischer als der Andere gewesen sein soll. Meist aber werden sie gänzlich übergangen.

Schon 1956 kursierten im Osten wie im Westen die plumpsten Lügen. Laut dem Kreml und den europäischen stalinistischen KPs waren die Ereignisse in Ungarn ein „faschistischer Aufstand“, manipuliert durch die „westlichen Imperialisten“. Für die Stalinisten gab es zu dieser Zeit zwei Ziele. Sie wollten die Zerschlagung des ungarischen Proletariates durch russische Panzer rechtfertigen. Gleichzeitig wollten sie gegenüber den Arbeitern im Westen die Illusion aufrechterhalten, dass der Ostblock „sozialistisch“ sei und vermeiden, dass diese den proletarischen Charakter des Kampfes der ungarischen Arbeiterklasse erkennen würden.

So wurde der Aufstand in Ungarn auf der einen Seite als ein „Werk von faschistischen Banden im Dienste der USA“ angeprangert, während auf der anderen Seite die Bourgeoisie der westlichen Staaten ihn als einen „Triumph der Demokratie“, einen Kampf für „Freiheit“ und „nationale Unabhängigkeit“ hochleben ließen. Diese beiden Lügen gehen Hand in Hand, da sie das Ziel haben, der Arbeiterklasse ihre eigene Geschichte und ihren revolutionären Charakter zu verbergen. Nachdem die Verbrechen des Stalinismus ans Licht gekommen waren und der Ostblock zusammengebrochen war, wurde die Version eines patriotischen Kampfes, in welchem sich alle sozialen Klassen in einem „Volksaufstand“ für den „Sieg der Demokratie“ finden, zum Haupttenor der Propaganda der Bourgeoisie.

Mit den Erinnerungszeremonien, welche die herrschende Klasse alle zehn Jahre abhält, führt sie ein Werk fort, welches sie schon damals begonnen hat. Ihr Hauptziel ist, die Arbeiterklasse am Verständnis zu hindern, dass der ungarische Aufstand ihre revolutionäre Natur zum Ausdruck brachte, ihre Fähigkeit zeigte, den bürgerlichen Staat herauszufordern und sich in Arbeiterräten zu organisieren. Dieses Zeichen der revolutionären Natur der Arbeiterklasse war umso bedeutsamer, da es sich 1956 in einer Zeit der schwersten Konterrevolution manifestierte. Damals war das Proletariat weltweit enorm geschwächt, niedergeschlagen durch den Zweiten Weltkrieg, aufgesplittert und kontrolliert durch die Gewerkschaften und deren Helfer, die politische Polizei. Aufgrund der Schwierigkeiten dieser Periode konnte der Aufstand von 1956 auch nicht zu einem bewussten Versuch des Proletariats heranreifen, die politische Macht zu übernehmen und eine neue Gesellschaft aufzubauen.

Die grenzenlose Ausbeutung unter dem Stalinismus

Wie üblich sieht die Realität anders aus, als sie von der Bourgeoisie dargestellt wird.

Der Aufstand in Ungarn war allem voran eine proletarische Antwort auf die wilde Ausbeutung, die in den Ländern ausgeübt wurde, welche nach dem Zweiten Weltkrieg unter russische Herrschaft gefallen waren.

Nach den Schrecken des Krieges, den Schlägen des faschistischen Regimes unter General Horth[1] [14] und der anschließenden Übergangsregierung (1944-48), waren die Gewalttaten der Stalinisten für die Arbeiterklasse in Ungarn ein weiterer Abstieg in die Hölle.

Am Ende des Krieges hatte der russische „Befreier“ in den Gebieten Osteuropas, welche durch ihn von der Naziherrschaft „befreit“ worden waren, das Ziel, sich fest zu installieren und so sein Reich bis zu den Toren Österreichs auszudehnen. Die Rote Armee, gefolgt von der russischen politischen Polizei NKVD, kontrollierte das gesamte Gebiet vom Baltikum bis zum Balkan. In der ganzen Region waren Plünderungen, Diebeszüge und Deportationen in Arbeitslager ein Markenzeichen der russischen Besatzung und gaben einen Vorgeschmack auf die stalinistischen Regime, die bald darauf eingesetzt wurden. In Ungarn wurde ab 1948, als der politische Apparat unter die vollständige Kontrolle der Kommunistischen Partei gebracht war, die Stalinisierung des Landes Realität. Mátyás Rákosi[2] [14], bekannt als der gelehrigste Schüler Stalins, umgeben von seiner Bande von Mördern und Folterknechten (wie z.B. dem finsteren Gerö[3] [14]) war die Personifizierung des Stalinismus in Ungarn. Er stützte sich, nach alt bekanntem Rezept, vornehmlich auf politischen Terror und grenzenlose Ausbeutung der Arbeiterklasse.

Als Sieger- und Besatzungsmacht in Osteuropa forderte die Sowjetunion von den besiegten Ländern und im Besonderen von denen, welche wie Ungarn mit den Achsenmächten zusammengespannt hatten, hohe Reparationsleistungen. In Wirklichkeit war dies lediglich ein Vorwand, um sich den Produktionsapparat der Länder, die nun zu ihren Satelliten geworden waren, anzueignen und sie dazu zu zwingen, mit allen Mitteln für die ökonomischen und imperialistischen Interessen der UdSSR zu arbeiten. Ein wahrhaftes Blutsaugersystem wurde 1945/46 installiert, so zum Beispiel mit der Demontage ganzer Fabriken und deren Abtransport auf russischen Boden - Arbeiter inbegriffen!

Mit derselben Absicht wurde 1949 der COMECON gegründet. Dies war ein Markt für „privilegierten Handel“, in welchem die Privilegien nur in eine Richtung galten. Der russische Staat konnte damit seine Produkte zu einem viel höheren Wert abstoßen als auf dem Weltmarkt. Umgekehrt erhielt Russland von seinen Satelliten Produkte zu lächerlich tiefen Preisen.

Die gesamte ungarische Wirtschaft hatte sich dem Diktat und den Produktionsplänen des russischen Hauptquartiers zu beugen. Dies zeigte sich sehr deutlich 1950-53 zur Zeit des Koreakrieges, als die UdSSR Ungarn dazu zwang, die Mehrzahl der Fabriken auf Waffenproduktion umzustellen. Ab diesem Zeitpunkt wurde Ungarn zum Haupt-Waffenlieferanten für die UdSSR.

Um die wirtschaftlichen und imperialistischen russischen Forderungen erfüllen zu können, musste der ungarische Produktionsapparat auf vollen Touren und unter größtem Druck laufen. Die Fünfjahrespläne, im Besonderen derjenige von 1950, sahen ein nie da gewesenes Produktions- und Produktivitätswachstum vor. Wunder fallen nicht vom Himmel, und so litt vor allem die Arbeiterklasse unter einer grenzenlosen Ausbeutung durch die galoppierende Industrialisierung. Die gesamte Energie musste zur Erfüllung des Planes von 1950-54 geopfert werden, mit dem Schwerpunkt des Aufbaus der Schwerindustrie und der Waffenproduktion. Letztere wurde zu Ende des Plans verfünffacht. Alles wurde unternommen, um das ungarischen Proletariat auszupressen. Der Akkordlohn wurde eingeführt, begleitet von ständig erhöhten Produktionsquoten. Die rumänische KP sagte mit einer gehörigen Portion Zynismus, dass „der Akkordlohn ein revolutionäres System ist, welches die Faulheit beseitigt, (…) jeder hat die Möglichkeit härter zu arbeiten (…)“. Das System „eliminierte“ jeden, der diese „Möglichkeit“ ausschlug. Die Arbeiter konnten wählen zwischen dem Hungertod und dem Dahinvegetieren am Arbeitplatz für einen erbärmlichen Lohn.

Wie der sagenhafte Sisyphus, der von Hades dazu verdammt wurde, einen Fels den Berghang hoch zu rollen, wurden die ungarischen Sisyphuse zu unhaltbaren und pausenlosen Arbeitsrhythmen verdammt.

In den meisten Betrieben stellte die Leitung jeweils Ende Monat fest, dass sie dem unmenschlichen Plan hinterherhinkte. Es wurde der Befehl zur „großen Anstrengung“ herausgegeben, eine Vervielfachung der Arbeitgeschwindigkeit im Sinne der „Stourmovtchina“[4] [14], oft schon an den russischen Arbeitern erprobt. Diese „Stourmovtchina“ fand nicht nur Ende Monat statt, sondern auch am Ende der Woche. Die Überstunden nahmen dramatisch zu und damit auch die Arbeitunfälle. Menschen und Maschinen wurden bis an ihre äußersten Grenzen getrieben.

Und als Krone des Ganzen war es für die Arbeiter nicht unüblich, bei Arbeitsantritt als Überraschung einen „Versprechensbrief“ vorzufinden, geschrieben und unterzeichnet in ihrem Namen von - den Gewerkschaften. Schon erschöpft, fanden sie nun ein „Versprechen“ vor, erneut die Produktion zu erhöhen, alles zu Ehren dieser oder jener Jubiläen und Gedenktage. Jede nur erdenkliche Möglichkeit wurde ausgeschöpft, um diese Art von „freiwilligen“ Arbeitstagen zu erzwingen, welche natürlich unbezahlt waren. Zwischen März 1950 und Februar 1951 gab es 11 solche Tage: „Befreiungstag“, 1. Mai, Korea-Woche, Rákosis Geburtstag und andere Ereignisse, die Grund waren für unbezahlte Überzeit.

Während der Periode des ersten Fünfjahresplanes wurde die Produktion verdoppelt und die Produktivität stieg um 63%. Die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse verschlechterten sich drastisch. Innerhalb von  5 Jahren, von 1949 bis 1954, wurden die Nettolöhne um 20% reduziert, und im Jahr 1956 lebten nur 15% der Familien über dem von den regimeeigenen Experten definierten Existenzminimum!

Der Stachanovismus wurde in Ungarn augenscheinlich nicht auf einer freiwilligen Basis der Liebe zum „Sozialistischen Vaterland“ eingeführt. Die herrschende Klasse führte ihn mittels Terror ein, mit gewalttätigen Repressalien und schweren Sanktionen, wenn die Produktionsnormen (welche laufend in die Höhe geschraubt wurden) nicht erfüllt waren.

Der stalinistische Terror erfasste die Fabriken gänzlich. Am 9. Januar 1950 verabschiedete die Regierung ein Gesetz, das den Arbeitern untersagte, den Arbeitsplatz ohne Erlaubnis zu verlassen. Eine strenge Disziplin wurde eingeführt und „Verstöße“ mit strengen Bußen bestraft.

Dieser alltägliche Terror erforderte einen allgegenwärtigen Polizeiapparat. Die Polizei und die Gewerkschaften mussten überall sein, was zu fast lächerlichen Situationen führte. Die MOFAR-Fabrik in Magyarovar, die sich zwischen 1950 und 1956 auf das Dreifache vergrößerte, hatte, um die Kontrolle über die Arbeiter aufrecht zu erhalten, nicht drei- sondern zehnmal soviel Überwachungspersonal anzuheuern: Gewerkschaftsfunktionäre, Parteimitglieder und Fabrikpolizei.

Die Gewerkschaftsstatuten, die das Regime 1950 erließ, sind unmissverständlich: „(…) Organisierung und Ausdehnung des sozialistischen Wettbewerbs unter den Arbeitern, Kampf für eine bessere Organisierung der Arbeit, für die Festigung der Disziplin (…) und die Erhöhung der Produktivität“.

Doch leider waren Bußen und Einschüchterungen nicht die einzigen Maßnahmen gegen die „Widerspenstigen“.

Am 6 Dezember 1948 schimpfte Istvan Kossa, der Industrieminister, anlässlich eines Besuches der Stadt Debrecen über die „(…) Arbeiter die eine terroristische Haltung gegenüber den Managern der verstaatlichten Industrie haben (…)“. Mit anderen Worten, über die, welche sich nicht „frohlockend“ den Stachanov-Normen beugten oder ganz einfach nicht die verlangten Produktionsnormen erfüllen konnten. Seither wurden Arbeiter, die ihre Arbeit nicht genug zu „lieben“ schienen, systematisch als „Agenten des westlichen Kapitalismus“, „Faschisten“ oder „Säufer“ denunziert.

Kossa fügte hinzu, wenn sie ihre Haltung nicht änderten, helfe ihnen wohl nur eine Zeit Zwangsarbeit. Dies waren nicht leere Worte, wie unter anderem der Fall eines Arbeiters der Eisenbahnwagenfabrik in Györ zeigte. Er wurde des „Lohnbetrugs“ angeklagt und zur Internierung in einem Arbeitslager verurteilt. Die Äußerung von Sandor Kopacsi, Internierungsbeamter im Jahr 1949 und Polizeipräfekt von Budapest 1956, ist ebenfalls aufschlussreich: „In den Lagern waren Arbeiter, verarmte Bauern und Leute aus Klassen, die dem Regime feindlich gesinnt waren. Die Arbeit (des Direktors) war einfach: er musste die vorgesehene Internierungsdauer verlängern, meist um sechs Monate. (…) Sechs Monate Untersuchung und sechs Monate Verlängerung. Gewiss, es war nicht dasselbe wie die „zehn Jahre“ oder „fünfzehn Jahre“ Verlängerung in den sibirischen Einöden (…) Dennoch gingen diese Verurteilten nach der Internierung nicht zurück ins Privatleben, es waren Internierungen mit dem System der Verlängerungen um sechs Monate und weitere sechs Monate – genauso wenig wie diejenigen, welche fünfzehn oder fünfundzwanzig Jahre im Norden Sibiriens verbrachten.“ [5] [14] 1955 stieg die Zahl der Gefangenen drastisch an und die Mehrzahl waren so genannte „widerspenstige“ Arbeiter.

Unter dem Rákosi-Regime verschwanden Zehntausende spurlos. Sie waren verhaftet und interniert worden. Damals sprach man von einem „Hausglocken-Unglück“ welches Ungarn heimsuchte. Wenn die Hausglocke am Morgen läutete, wusste man nie, ob es der Milchmann oder ein Agent der politischen Polizei AVH war.

Der proletarische Aufstand vom Oktober 1956

Dennoch hatten das Terrorregime, die Präsenz der Roten Armee und die Folterer der AVH nicht den gewünschten Erfolg. Der Unmut innerhalb der Arbeiterklasse wurde ab 1948 immer spürbarer. Die Wut der Arbeiterklasse war nahe daran, sich auf der Strasse zu entladen. Es erwachte ein unbezähmbares Gefühl, sich dem hierarchischen Apparat der sowjetischen Bürokratie entgegenzusetzen, der alle Entscheide fällte, von den Produktionsnormen bis zur Auswahl der Vorarbeiter und Überwacher, welche mit der Umsetzung der Pläne in Produktionsziffern beauftragt waren.

Die ausgelaugte Arbeiterklasse war am Ende ihrer Kräfte. Die Bedingungen der Ausbeutung waren nicht länger zu ertragen und ein Aufstand bahnte sich an.

Die Situation, welche die UdSSR in Ungarn geschaffen hatte, war auch in den anderen stalinistischen Ländern des Ostblocks nicht anders. Aus diesem Grunde herrschte eine permanente Unzufriedenheit der Arbeiterklasse. Zu Beginn des Jahres 1953 waren die Arbeiter im tschechischen Pilsen mit dem stalinistischen Staatsapparat in Konflikt geraten, weil sie sich weigerten, die berühmt-berüchtigte Stücklohnproduktion zu akzeptieren. Einige Wochen später, am 17. Juni 1953, brach ein großer Streik unter den Bauarbeitern in Ostberlin aus, weil die Arbeitsnormen um 10% gestiegen und die Löhne um 30% gesenkt worden waren. Die Arbeiter demonstrierten auf der Stalin-Allee mit dem Ruf „Nieder mit der Tyrannei der Normen“, „Wir sind Arbeiter, keine Sklaven“. Streikkomitees zur Ausweitung des Kampfes entstanden spontan und sie begaben sich in die anderen Stadtteile, um die Arbeiter von Westberlin zur Teilnahme am Streik aufzurufen. Da die berühmte Berliner Mauer damals noch nicht stand, beeilten sich die westlichen Alliierten, ihre Sektoren abzuriegeln. Die in der DDR stationierten russischen Panzer erwürgten diesen Streik. So machte die herrschende Klasse im Westen und Osten in abgekarteter Manier gemeinsame Sache, um den Widerstand der Arbeiter zu erdrücken. Zur selben Zeit brachen in sieben polnischen Städten Demonstrationen und Arbeiteraufstände aus. Das Kriegsrecht wurde über Warschau, Krakau und Schlesien verhängt – und auch dort wurden die russischen Panzer zur Niederschlagung der Arbeiterklasse auf den Plan gerufen. Auch Ungarn geriet in Bewegung. Streiks brachen zuerst im großen Eisen- und Stahlproduktionsbezirk Cespel in Budapest aus, danach griffen sie auf andere Industriestädte wie Odz und Diösgyör über.

Der Sturm der Revolte gegen den Stalinismus, der über Osteuropa hinwegfegte, fand seinen Höhepunkt im Aufstand vom Oktober 1956 in Ungarn.

Das Klima in Ungarn verunsicherte den Kreml offenbar aufs Höchste. In der Absicht, der angeheizten Situation den Dampf abzulassen, entschied Moskau, den Mann, der den Terror des Regimes personifizierte, zeitweilig von der Regierung abzusetzen. Mátyás Rákosi wurde in Juni 1953 seines Postens als Premierminister enthoben. 1955 kam er wieder an die Macht zurück, wurde aber im Juli 1956 erneut abgesetzt. Doch all dies konnte die Situation nicht beschwichtigen, denn die angestaute Wut war zu groß und die Lebensbedingungen verbesserten sich nicht. Das Pulverfass stand kurz vor der Explosion.

In dieser Situation kurz vor dem Aufstand, die das Regime ins Wanken brachte, verstand die nationalistische Fraktion der ungarischen Bourgeoisie, dass sie einen Trumpf in der Hand hatte, um ihre Position als Untertan Russlands abzuwerfen oder zumindest die Leine zu verlängern, um einen größeren Spielraum zu haben. Die schnell vorangetriebene Sowjetisierung des ungarischen Staates, die totale und ungeteilte Machtkontrolle durch die Männer des Kremls und ihre Panzer der Roten Armee, die Industrie, die vollständig in den Dienst der imperialistischen Bedürfnisse der UdSSR gestellt worden war – all dies war der nationalen Bourgeoisie zuviel. Sie wartete nur auf einen Moment, um ihren Besatzer abschütteln zu können. Sogar unter den ungarischen Stalinisten herrschten starke Tendenzen zur nationalen Unabhängigkeit - die „nationalen Kommunisten“, welche zu einem „ungarischen Weg zum Sozialismus“ aufriefen, so wie er von vielen Intellektuellen vorgeschlagen wurde. Sie machten Imre Nagy[6] [14] zu ihrem „Helden“ des Oktoberaufstandes. Auch die ungarische Armee konnte nicht gänzlich sowjetisiert werden, ohne Konzessionen an den Nationalismus der alten Offiziere zu machen. In deren Augen entsprach die Allianz mit der UdSSR nicht den nationalen Interessen, welche sich traditionell am Westen orientierten. Als der Oktoberaufstand ausbrach, erblickte die Armee die Möglichkeit, sich von den stalinistischen Fesseln zu befreien. Dies ist der Grund, weshalb sie sich auch teilweise an den Straßenkämpfen beteiligte. Der patriotische Widerstand fand seine Personifizierung in der Figur des Generals Pal Maleter und die Truppen der Kilian-Kaserne in Budapest. Diese Teile der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums vergifteten die Atmosphäre des Arbeiteraufstandes mit ihrer nationalistischen Propaganda. Es ist kein Zufall, wenn bis heute die herrschende Klasse versucht, Nagy und Maleter zu Mythen der Ereignisse von 1956 zu erheben. Durch die Darstellung dieser bürgerlichen Galionsfiguren soll die Lüge bekräftigt werden, es habe sich um eine „Revolution für Demokratie und nationale Befreiung“ gehandelt.

Nach der Absetzung von Rákosi im Juli 1956 wurde das Klima stark bestimmt von Elementen des Kleinbürgertums, den nationalistischen Intellektuellen der Schriftstellergewerkschaft und den Studenten des Petöfi-Zirkels. Am 23. Oktober organisierte Letzterer eine friedliche Demonstration in Budapest, an der viele Arbeiter teilnahmen. Bei der Statue von General Bem angelangt, verlas die Schriftstellergewerkschaft eine Resolution, welche den Anspruch auf Unabhängigkeit des „ungarischen Volkes“ ausdrückte.

Für die Bourgeoisie ist dies der Charakter des ungarischen Aufstandes – ein Haufen von Studenten und Intellektuellen, welche für die nationale Unabhängigkeit von der Moskauer Fessel kämpften. In den letzten fünfzig Jahren hat die herrschende Klasse einen Schleier über den Hauptakteur des Aufstandes, die Arbeiterklasse, gelegt. Ebenso über die Gründe, die hinter dem Aufstand lagen, welcher weit entfernt von einem nationalen Widerstand oder der Liebe zum Vaterland ein Versuch der Arbeiterklasse war, sich den schrecklichen Lebensbedingungen zu widersetzen.

Die Arbeiter strömten aus den Fabriken und die Masse der Arbeiterklasse in Budapest schloss sich der Demonstration an. Als die Versammlung offiziell beendet war, gingen die Arbeiter nicht nach Hause, im Gegenteil. Sie begaben sich in die Straße des Parlaments und begannen dort, die Statue Stalins niederzureißen und mit Hämmern zu zerstören. Danach begab sich die Menschenmasse zum Radiogebäude, um gegen die Erklärung des Premierministers Gerö zu protestieren, der die Demonstranten beschuldigte, nichts anders als „eine Bande von nationalistischen Abenteurern zu sein, welche die Macht der Arbeiterklasse brechen wolle“. Als dann die politische Polizei AVH das Feuer auf die Menge eröffnete, schlug der Protest in einen bewaffneten Aufstand um. Die nationalistischen Intellektuellen, welchen zur Demonstration aufgerufen hatten, wurde nun selbst von den Ereignissen überrascht und, wie der Sekretär des Petöfi-Zirkels, Balazs Nagy, selber zugab, wollten sie „die Bewegung lieber bremsen als vorwärts treiben“.

Innerhalb von 24 Stunden schlossen sich dem Generalstreik vier Millionen Arbeiter an, und er breitete sich auf ganz Ungarn aus. In den großen Industriezentren entstanden spontan Arbeiterräte. Damit versuchte die Arbeiterklasse, den Aufstand zu organisieren und zu kontrollieren.

Die Arbeiter bildeten zweifellos das Rückgrat der Bewegung und demonstrierten dies mit ihrer ungebrochenen Kampfbereitschaft und ihrem Willen. Sie bewaffneten sich und bildeten überall Barrikaden. In den Straßen der Hauptstadt kämpften sie mit unterlegener Bewaffnung gegen die AVH und die russischen Panzer. Die AVH war jedoch sehr bald durch die Ereignisse überrumpelt. Eine neue Regierung, gebildet und angeführt durch den „progressiven“ Imre Nagy, rief ohne zu zögern nach der Intervention der russischen Armee, um die neue Regierung vor der Wut der Arbeiter zu schützen. Nagy forderte unaufhörlich die Widerherstellung der Ordnung und die „Kapitulation der Aufständischen“. Später verkündete dieser Meister der Demokratie, dass die Intervention der russischen Streitkräfte „im Interesse der sozialistischen Disziplin notwendig gewesen sei“.

Die Panzer brachen am 24. Oktober um etwa 2 Uhr Nachts in Budapest ein und trafen auf die ersten Barrikaden in den Arbeiterbezirken der Stadt. Die Csepel-Fabrik mit ihren Tausenden von Metallarbeitern leistete den härtesten Widerstand – mit altmodischen Feuerwaffen und Molotow-Cocktails gegen Divisionen von bewaffneten russischen Fahrzeugen.

Nagy, der legitime Kandidat aller nationalistischen Bestrebungen, war unfähig, die Ruhe wieder herzustellen. Es gelang ihm nie, das Vertrauen der Arbeiter zu gewinnen und sie zur Abgabe der Waffen zu bewegen, weil die Arbeiter im Gegensatz zu den Intellektuellen und einem Teil der ungarischen Armee nicht für „die nationale Befreiung“ kämpften; obwohl sie durch die herrschende Propaganda und die patriotischen Gesänge auch angesteckt werden mochten, lehnten sie sich im Grunde gegen den Terror und die Ausbeutung auf.

Am 4. November, im selben Zeitpunkt, als Moskau Nagy durch Janos Kadar ersetzte, drangen 6000 sowjetische Tanks in die Hauptstadt ein und eröffneten eine zweite Runde, um den Aufstand endgültig niederzuschlagen. Aus diesem Grund ging die ganze Gewalt des Angriffs auf die Arbeitervororte nieder: auf das rote Csepel, Ujpest, Köbanya, Dunapentele. Trotz einer 100-fachen Überlegenheit des Feindes an Menschen und Waffen schlugen sich die Arbeiter weiter und wehrten sich wie Löwen. „In Csepel sind die Arbeiter zum Kampf entschlossen. Am 7. November wird das Gebiet durch Artillerie beschossen und von Flugzeugen bombardiert. Am nächsten Tag kommt ein sowjetischer Abgesandter, um zu versuchen, die Arbeiter zur Kapitulation zu bewegen. Sie lehnen ab, und der Kampf dauert an. Am folgenden Tag erlässt ein weiterer Offizier eine letzte Aufforderung: Wenn sie die Waffen nicht abgäben, werde das Viertel ausgelöscht. Einmal mehr lehnten die Aufständischen ab, sich zu ergeben. Der Artilleriebeschuss wurde immer stärker. Die sowjetischen Streitkräfte benützten Raketenwerfer, die ernste Schäden an den Fabriken und an den benachbarten Gebäuden verursachten. Als ihnen die Munition ausging, stellten die Arbeiter den Kampf ein.“ (Budapest, der Aufstand, François Fejtö.)

Nur der Hunger und der Mangel an Munition schienen die Kämpfe und den Arbeiterwiderstand beenden zu können.

Die Arbeiterviertel blieben völlig niedergemäht zurück, und gewisse Schätzungen gehen von mehreren Zehntausenden von Toten aus. Trotz dieser Massaker dauerte der Streik während einiger weiterer Wochen an. Auch nach seinem Ende gab es immer noch sporadische Widerstandsaktionen bis in den Januar 1957.

Die wieder entstandene Organisationsform der Arbeiterräte

Der Mut, die Revolte gegen das Elend, der Überdruss über die Ausbeutungsbedingungen und den stalinistischen Terror sind die Schüsselelemente, um diesen kämpferischen Widerstand der ungarischen Arbeiter zu erklären, aber ein weiterer wichtiger Faktor ist hinzuzufügen: die Tatsache, dass diese Revolte durch Arbeiterräte organisiert wurde.

In Budapest wie in der Provinz war ein wesentliches Merkmal des Aufstandes die Bildung von Räten. Zum ersten Mal nach fast 40 Jahren fanden die ungarischen Arbeiter in ihrem Kampf gegen die stalinistische Bürokratie spontan die Form der Organisation und der proletarischen Macht wieder, die ihre Väter zum ersten Mal in Russland im Laufe der Revolution von 1905 sowie in der revolutionären Welle schufen, die im Jahre 1917 von Petrograd ausging und 1919 auch Budapest mit seiner kurzen Räterepublik erreichte. Vom 25. Oktober 1956 an wurden die Städte Dunapentele, Szolnok (wichtiger Eisenbahnknotenpunkt), Pécs (mit den Bergwerken des Südwestens), Debrecen, Szeged, Miskolc, Györ, durch Arbeiterräte geführt, die die Bewaffnung der Aufständischen und die Versorgung organisierten und die wirtschaftlichen und politischen Forderungen stellten.

Auf diesem Weg wurde der Streik in den wichtigsten industriellen Zentren Ungarns mit Geschick geführt. So grundlegende Sektoren für die Mobilität des Proletariats wie die Transporte, so lebenswichtige Bereiche wie die Krankenhäuser und die Stromerzeugung funktionierten in vielen Fällen auf Befehl der Räte weiter. Ebenso bildeten und kontrollierten die Räte beim Aufstand die Arbeitermilizen, verteilten die Waffen (unter Kontrolle der Arbeiter der Zeughäuser) und forderten die Auflösung einiger Organisationen, die vom Regime ausgingen.

Schon am 25. Oktober rief der Rat von Miskolc die Arbeiterräte aller Städte dazu auf, „ihre Anstrengungen zu koordinieren, um eine einzige und einheitliche Bewegung zu schaffen“; allerdings gestaltete sich die Umsetzung dieses Vorhabens viel langsamer und chaotischer. Nach dem 4. November gab es in Csepel einen Versuch, auf der Ebene der Distrikte die Aktivitäten der Räte zu koordinieren. Im 13. und 14. Distrikt wurde ein erster Arbeiterdistriktrat gebildet. Später, am 13. November, regte der Rat von Ujpest die Schaffung eines mächtigen Rates für die ganze Hauptstadt an; dies war die Geburt des zentralen Rates von Großbudapest. Erster, wenn auch später Schritt in Richtung einer vereinten Macht der Arbeiterklasse.

Doch für die ungarischen Arbeiter war die politische Rolle der Räte – die eigentlich den Kern dieses Organs ausmacht, das ja dazu bestimmt ist, die Macht zu ergreifen - nur ein Zufallsprodukt, eine Funktion, die die Lage mangels Alternative aufdrängte, bis die „Spezialisten“, die „Experten der Politik“ sich wieder einrichteten und die Zügel der Macht in die Hand nahmen: „Niemand schlägt vor, dass die Arbeiterräte selbst die politische Vertretung der Arbeiter sein könnten. Sicherlich... der Arbeiterrat musste bestimmte politische Funktionen ausüben, denn er widersetzte sich einem Regime, und die Arbeiter hatte keine andere Vertretung, aber aus der Sicht der Arbeiter war dies nur eine einstweilige Lösung“ (Zeugenaussage von Ferenc Töke, Vizepräsident des zentralen Rates von Großbudapest).

Die Grenzen der Bewegung und der Räte

Wir berühren hier eine der wichtigsten Grenzen des Aufstandes: das schwache Bewusstseinsniveau des ungarischen Proletariats, das ohne revolutionäre Perspektive und ohne die Unterstützung der Arbeiter aller Länder keine Wunder vollbringen konnte. In der Tat bewegten sich die Ereignisse in Ungarn  gegen den Strom, in einer finsteren Zeit, nämlich derjenigen der Konterrevolution, die auf der Arbeiterklasse des Ostens wie des Westens lastete.

Es trifft zu, dass die Arbeiter die Triebkraft des Aufstandes gegen die Regierung bildeten, die durch die russischen Panzer unterstützt wurde. Doch wenn diese Bewegung ihr proletarisches Wesen im entschlossenen Widerstand gegen die Ausbeutung zum Ausdruck brachte, so wäre es umgekehrt falsch, die gigantische Kampfbereitschaft der ungarischen Arbeiter als eine Äußerung des revolutionären Bewusstseins zu sehen. Der Arbeiteraufstand von 1956 stellt unweigerlich einen Rückgang des Bewusstseinsniveaus der Proletarier im Vergleich zu demjenigen in der revolutionären Welle von 1917-1923 dar. Während die Arbeiterräte am Ende des Ersten Weltkrieges sich als politische Organe der Arbeiterklasse verstanden, Ausdruck ihrer Diktatur waren, stellten die Räte von 1956 zu keinem Zeitpunkt den Staat in Frage. Der Arbeiterrat von Miskolc verkündete zwar am 29. Oktober „die Abschaffung der AVH“ (die ohne weiteres mit dem Terror des Regimes identifiziert wurde), fügte aber gleich hinzu, dass „die Regierung sich nur auf zwei Streitkräfte stützen darf, die nationale Armee und die gewöhnlichen Polizei“. Der kapitalistische Staat wurde nicht bloß nicht in seiner Existenz bedroht, sondern seine zwei Hauptlinien der bewaffneten Verteidigung wurden bewahrt.

Demgegenüber erkannten die Räte von 1919, die das historische Ziel ihres Kampfes klar begriffen, sofort die Notwendigkeit, die Armee aufzulösen. Damals gaben die Arbeiter der Fabriken von Csepel zur gleichen Zeit, als sie die Räte bildeten, die Losungen aus:

„- Sturz der Bourgeoisie und ihrer Institutionen

- es lebe die Diktatur des Proletariats

- Mobilisierung für die Verteidigung der revolutionären Errungenschaften durch die Bewaffnung des Volkes“.

Im Jahre 1956 gingen die Räte so weit, dass sie sich selbst die Hände banden, indem sie sich als einfache Organe der wirtschaftlichen Fabrikverwaltung definierten: „Unsere Absicht bestand nicht darin, eine politische Rolle zu beanspruchen. Wir dachten im Allgemeinen, dass es in der Politik ähnlich wie in der Wirtschaft, wo die Führung den Spezialisten überlassen wird, Experten braucht, die diese Aufgabe übernehmen.“ (Ferenc Töke). Manchmal verstanden sie sich sogar als eine Art Unternehmensausschuss: „Die Fabrik gehört den Arbeitern, diese bezahlen dem Staat Steuern, die auf Grund der Produktion von Dividenden berechnet werden, die nach den Gewinnen festgelegt sind... der Arbeiterrat entscheidet im Konfliktfall über die Beschäftigung und die Entlassung der Arbeiter“ (Resolution des Rates von Großbudapest).

In dieser dunklen Periode der fünfziger Jahre war das internationale Proletariat ausgeblutet. Die Aufrufe des Rates von Budapest an „die Arbeiter der restlichen Welt“ zugunsten von „Solidaritätsstreiks“ blieben toter Buchstabe. Und ähnlich wie ihre Klassenbrüder in den anderen Ländern hatten die ungarischen Arbeiter (trotz ihres Mutes), ein sehr geschwächtes Bewusstsein. Auf diesem Hintergrund tauchten die Räte instinktiv auf, aber ihre eigentliche Bestimmung, die Machtergreifung, konnte sich nicht verwirklichen. Die Räte von 1956 waren „Form ohne Inhalt“, sie können nur als „unvollendete“ Räte oder im besten Fall als Entwurf von Räten aufgefasst werden.

Umso einfacher ist es für die ungarischen Offiziere und die Intellektuellen, die Arbeiter im Gefängnis der nationalistischen Ideen einzuschließen, und für die russischen Panzer, sie zu massakrieren.

Während die Räte von den Arbeitern selbst nicht als politische Organe aufgefasst wurden, so sahen sie Kadar, das russische Oberkommando und die großen westlichen Demokratien aufgrund ihrer Erfahrungen durchaus als höchst politische Organe an. In der Tat entsprach die Niederschlagung des ungarischen Proletariats trotz all seiner Schwächen, die mit der damaligen Periode zusammenhingen, der ständigen Furcht, welche die Bourgeoisie angesichts jedes Ausdrucks des proletarischen Kampfes packt.

Von Anfang an, als Nagy von der Entwaffnung der Arbeiterklasse sprach, dachte er natürlich an die Maschinengewehre, aber auch und besonders an die Räte. Und als Janos Kadar die Macht im November wieder herstellte, drückte er genau dasselbe Anliegen aus: die Räte müssen „wieder unter Kontrolle gebracht und von den Demagogen gesäubert werden, die da nichts zu suchen haben“.

Ebenso widmeten sich die Gewerkschaften im Solde des Regimes seit dem Auftauchen der Räte derjenigen Arbeit, die sie am besten kennen: der Sabotage. Als der Nationale Gewerkschaftsrat (NGR) “den Arbeitern und den Angestellten vorschlägt, ... mit der Wahl von Arbeiterräten in den Fabriken, den Betrieben, den Bergwerken und an allen Arbeitsorten zu beginnen...“, so geschah dies nur, um sie besser zu kontrollieren, ihre Tendenz zur Beschränkung auf wirtschaftliche Aufgaben zu verstärken, sie daran zu hindern, die Frage der Machtergreifung zu stellen, und sie in den Staatsapparat zu integrieren. „Der Rat der Arbeiter wird für seine Verwaltung vor allen Arbeitern und vor dem Staat verantwortlich sein... [die Räte] haben unmittelbar die wesentliche Aufgabe, die Wiederaufnahme der Arbeit zu gewährleisten, die Ordnung und die Disziplin wiederherzustellen und zu garantieren.“ (Erklärung des Vorsitzes des NGR am 27. Oktober).

Glücklicherweise genossen die Gewerkschaften, die unter der Herrschaft von Rákosi ernannt worden waren, nur sehr wenig Glaubwürdigkeit unter den Arbeitern, wie es diese Richtigstellung beweist, die durch den Rat von Großbudapest am 27. November verabschiedet wurde: „Die Gewerkschaften versuchen gegenwärtig, die Arbeiterräte als Ergebnis des Kampfes der Gewerkschaften darzustellen. Es ist überflüssig darauf hinzuweisen, dass es sich dabei um eine haltlose Behauptung handelt. Einzig und allein die Arbeiter kämpften für die Schaffung der Arbeiterräte, und der Kampf dieser Räte wurde in vielen Fällen durch die Gewerkschaften gestört, die sich hüteten, ihnen zu helfen.“

Die Komplizenschaft der demokratischen Bourgeoisie mit der stalinistischen Repression

Am 6. Dezember begannen die Verhaftungen der Mitglieder der Räte (ein Vorspiel zu weiteren massenhafteren und blutigeren Festnahmen). Russische Truppen und die AVH umzingelten mehrere Fabriken. Auf der Insel von Csepel sammelten Hunderte von Arbeitern die wenigen Kräfte, die ihnen verblieben und lieferten der Polizei eine letzte Schlacht, um sie daran zu hindern, in die Fabriken einzudringen und Verhaftungen vorzunehmen. Am 15. Dezember wurde die Todesstrafe für die Beteiligung an Streiks durch Ausnahmegerichte in die Praxis umgesetzt, die befugt waren, die als „schuldig“ verurteilten Arbeiter auf der Stelle zu exekutieren. Girlanden von Gehängten zierten die Brücken der Donau.

Am 26. Dezember erklärte György Marosan, Sozialdemokrat und Minister von Kadar, dass die Regierung nötigenfalls 10’000 Menschen töten werde, um zu beweisen, dass sie, und nicht die Räte die wahre Ordnungsmacht ist.

Hinter der Repression durch Kadar stand die Entschlossenheit des Kremls, die Arbeiterklasse zu zermalmen. Für Moskau ging es nicht bloß darum, den nach Unabhängigkeit strebenden Satelliten die Flügel zu stutzen, sondern vor allem das Gespenst des proletarischen Selbstbewusstseins und ihres Sinnbilds, des Arbeiterrates, zu vernichten. Deshalb unterstützten die Titos, Maos und alle Stalinisten der ganzen Welt die Linie des Kremls bedingungslos.

Auch der Block der großen Demokratien stellte der Repression einen Persilschein aus. Der amerikanische Botschafter in Moskau, Charles Bohlen, erzählte in seinen Memoiren, dass er am 29. Oktober 1956 von Staatssekretär John Foster Dulles beauftragt worden war, den sowjetischen Führern Chruschtschow, Schukow und Bulganin  eine dringliche Mitteilung zu übermitteln. Dulles ließ den Machthabern der UdSSR sagen, dass die Vereinigten Staaten weder Ungarn noch sonst einen Satelliten als möglichen militärischen Verbündeten betrachteten. Mit anderen Worten: „Sie sind bei sich zu Hause Herr und Meister.“

Entgegen allen Lügen, die die Bourgeoisie nicht aufgehört hat, über den Aufstand von 1956 in Ungarn zu verbreiten, war er in der Tat ein Kampf der Arbeiter gegen die kapitalistische Ausbeutung. Zwar war die Periode nicht günstig. Die Gesamtheit der Arbeiterklasse schaute nicht mehr Richtung weltweite revolutionäre Welle, wie dies noch 1917-1923 der Fall war, als im März 1919 eine leider nur kurzlebige ungarische Räterepublik das Licht der Welt erblickte. Aus diesem Grund konnten sich die ungarischen Arbeiter 1956 die Überwindung des Kapitalismus und die Übernahme der Macht gar nicht zur Aufgabe machen, was auch ihr fehlendes Verständnis für das höchst politische und subversive Wesen der Räte erklärt, die sie im Laufe ihres Kampfes schufen. Und doch ist es die wirklich revolutionäre Natur des Proletariats selbst, die soeben mutig durch die Revolte der ungarischen Arbeiter und ihre Räteorganisation erneut bestätigt wurde; die Bestätigung der historischen Rolle des Proletariats, wie es Tibor Szamuelly[7] [14] im Jahre 1919 formuliert hatte: „Unser Ziel und unsere Aufgabe ist die Zerstörung des Kapitalismus.“

Jude, 28. Juli 2006


[1] [14] Früherer Militärkommandeur Ungarns und Diktator von 1920 bis 1944.

[2] [14] Generalsekretär der Kommunistischen Partei Ungarns KPU und Premierminister nach 1952.

[3] [14] Als Führer der NKVD in Spanien organisierte Gerö im Juli 1937 die Entführung und Ermordung von Erwin Wolf, einem engen Mitarbeiter Trotzkis. Er kehrte 1945 nach Ungarn zurück, um seine Arbeit als stalinistischer Schlächter in der Rolle des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei Ungarns weiterzuführen. 

[4] [14] Ein russisches Wort, welches die Erhöhung der Arbeitkadenz bis zum Letzten beschreibt.

[5] [14] Sandor Kopasci: „Im Namen der Arbeiterklasse“

[6] [14] Am 13. Juni 1953 wurde Nagy im Zuge der Entstalinisierung anstelle von Rákosi zum Premierminister ernannt. Trotz der Propaganda für einen „nationalen und menschlichen Sozialismus“ flammte der Machtkampf innerhalb der Partei erneut auf und es war die stalinistische Gruppe um Rákosi, welche den Sieg davon trug. Nagy wurde am 14. April 1955 durch die Führung der ungarischen Kommunistischen Partei seines Amtes enthoben und einige Monate später aus der Partei ausgeschlossen.  

[7] [14] Tibor Szamuelly war eine führende Figur in der ungarischen Arbeiterbewegung und ein glühender Verfechter der Gründung einer Kommunistischen Einheitspartei, die Marxisten und Anarchisten vereinen sollte und schließlich im November 1918 auch gegründet wurde. Ihr Programm beinhaltete die Diktatur des Proletariats. Er verteidigte entschlossen die Revolution in Ungarn und wurde im August 1919 von den konterrevolutionären Kräften hingerichtet.

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [15]

Internationale Revue 40

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Internationale Revue Nr. 40

Der 17. Kongress der IKS: Eine internationale Verstärkung des proletarischen Lagers

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Ende Mai hat die IKS ihren 17. Internationalen Kongress abgehalten. Da die revolutionären Organisationen nicht um ihrer selbst willen existieren, sondern ein Ausdruck des Proletariats sind und gleichzeitig als aktive Faktoren im Leben der Arbeiterklasse wirken, ist es ihre Aufgabe, an die gesamte Klasse über die Arbeit dieses besonderen Augenblickes zu berichten, den solch ein Kongress darstellt. Diesem Ziel dient dieser Artikel, welcher die Resolution über die internationale Situation ergänzt, welche auf dem Kongress angenommen wurde und in dieser Nummer der Internationalen Revue ebenfalls veröffentlicht ist.

Alle Kongresse der IKS sind natürlich wichtige Momente im Leben unserer Organisation. Dennoch muss gesagt werden, dass dieser Kongress noch bedeutender war als die vorhergegangenen, da er einen bedeutenden Schritt in der mehr als 30jährigen Geschichte der IKS darstellt.[1]

Die Anwesenheit anderer Gruppen des proletarischen Milieus

Dies wird hauptsächlich anhand der Präsenz von Delegationen dreier Gruppen des internationalen proletarischen Lagers auf unserem Kongress deutlich: OPOP[2] aus Brasilien, SPA[3] aus Südkorea, EKS[4] aus der Türkei. Eine andere Gruppe, Internasyonalismo von den Philippinen, war ebenfalls zu unserem Kongress eingeladen worden. Aber trotz ihrer Entschlossenheit, eine Delegation zu unserem Kongress zu entsenden, war es ihnen nicht möglich gewesen zu kommen. Doch hat diese Gruppe dem Kongress eine Grußbotschaft und Stellungnahmen zu den Hauptberichten übermittelt, die wir der Gruppe geschickt hatten.

Die Beteiligung mehrerer Gruppen an einem Kongress der IKS ist nichts Neues. Bereits in der Vergangenheit, in ihrer Gründungsphase, hatte die IKS Delegationen anderer Gruppen an unseren Kongressen willkommen geheißen. So beteiligten sich an unserem Gründungskongress im Januar 1975 die Revolutionary Workers Group aus den USA, Pour une Intervention Communiste aus Frankreich und Revolutionary Perspectives aus Großbritannien. Auch auf unserem 2. Kongress (1977) war eine Delegation des Partito Comunista Internazionalista (Battaglia Comunista) anwesend. Zu unserem 3. Kongress (1979) kamen Delegationen der Communist Workers Organisation (Großbritannien), des Nucleo Comunista Internazionalista und von Il Leninista (Italien) sowie ein einzelner Genosse aus Skandinavien. Später konnten wir aber diese Praxis leider aus von uns unabhängigen Gründen nicht fortsetzen: Einige Gruppen verschwanden, andere Gruppen entwickelten sich hin zu linksextremen Positionen (wie der NCI) oder schlugen einen sektiererischen Kurs ein (CWO und Battaglia Comunista). Letztere waren für die Sabotage der Internationalen Konferenzen der Gruppen der Kommunistischen Linken verantwortlich, die Ende der 1970er Jahre stattgefunden hatten[5]. So war mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen, ehe die IKS wieder andere Gruppen auf ihrem Kongress begrüßen konnte. Als solches war also schon die Beteiligung von vier Gruppen[6] auf unserem 17. Kongress ein wichtiges Ereignis.

Die Bedeutung des 17. Kongresses

Die Bedeutung dieses Kongresses geht weit über die Tatsache hinaus, dass wir in der Lage waren, diese Praxis wieder aufzunehmen, die ein Kennzeichen der IKS seit ihren Anfängen darstellte. Noch bedeutsamer ist die Existenz und Haltung dieser Gruppen. Sie sind Teil einer historischen Entwicklung, die wir schon auf unserem letzten Kongress folgendermaßen umrissen hatten: „Das Hauptanliegen des Kongresses war sowohl die Wiederbelebung des Kampfes der Arbeiterklasse als auch die damit einhergehende Verantwortung unserer Organisation, besonders hinsichtlich der Entwicklung einer neuen Generation von suchenden Menschen, die sich in Richtung einer revolutionären politischen Perspektive bewegen." (https://en.internationalism.org/ir/122_16congres [16]).

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der stalinistischen Regimes 1989 hat die „ohrenbetäubende Kampagne der Bourgeoisie über das ‚Scheitern des Kommunismus‘, den ‚endgültigen Sieg des liberalen und demokratischen Kapitalismus‘, das ‚Ende des Klassenkampfes‘, ja das Ende der Arbeiterklasse selbst (...) dem Proletariat auf der Ebene des Bewusstseins und der Kampfbereitschaft einen herben Rückschlag versetzt. Dieser Rückschlag war tiefgreifend und dauerte über zehn Jahre. Er hat eine ganze Generation von Arbeitern geprägt und Ratlosigkeit, ja selbst Demoralisierung ausgelöst (...) Erst im Laufe des Jahres 2003 begann sich das Proletariat vor allem durch die großen Mobilisierungen in Frankreich und Österreich gegen die Angriffe auf die Altersrenten wieder von den Rückschlägen nach 1989 zu erholen. Seither hat sich die Tendenz zur Wiederaufnahme von Klassenkämpfen und zur Entwicklung des Bewusstseins bestätigt. Arbeiterkämpfe haben in den zentralen Ländern stattgefunden, und zwar auch in den wichtigsten wie den USA (Boeing und öffentlicher Verkehr in New York 2005), Deutschland (Daimler und Opel 2004, Klinikärzte im Frühjahr 2006, Deutsche Telekom im Frühjahr 2007), Großbritannien (Londoner Flughafen im August 2005, öffentlicher Dienst im Frühjahr 2006), Frankreich (Studenten und Schüler gegen den CPE im Frühjahr 2006), aber auch in einer ganzen Reihe von peripheren Ländern wie Dubai (Bauarbeiter im Frühjahr 2006), Bangladesh (Textilarbeiter im Frühjahr 2006), Ägypten (Textil- und Transportarbeiter im Frühjahr 2007)." („Resolution über die internationale Lage", vom 17. Kongress angenommen)

„Heute geht wie 1968 (anlässlich des historischen Wiederaufflammens der Arbeiterkämpfe, die der vier Jahrzehnte währenden Konterrevolution ein Ende bereitet haben) der Anstieg der Klassenkämpfe mit einem vertieften Nachdenken einher, bei dem das Auftauchen neuer Leute, die sich den Positionen der Kommunistischen Linken zuwenden, nur die Spitze des Eisbergs darstellt." (ebenda)

Deshalb war die Präsenz mehrerer Gruppen des proletarischen Milieus auf unserem Kongress und ihre sehr offene Haltung in den Diskussionen (die sich deutlich abhebt von der sektiererischen Haltung der „alten" Gruppen der Kommunistischen Linken) keineswegs ein Zufall: Sie ist ein wesentlicher Bestandteil der neuen Entwicklungsetappe im Kampf der Weltarbeiterklasse gegen den Kapitalismus.

Während der Diskussionen auf dem Kongress wurde diese Tendenz nicht zuletzt durch Schilderungen aus verschiedenen Ländern immer wieder unterstrichen - von Belgien bis Indien, von den Ländern des Zentrums bis zu den Ländern der Peripherie. Dies wird sowohl in den wieder erstarkenden Arbeiterkämpfen als auch im Denkprozess unter den Suchenden einer politischen Debatte verdeutlicht, die sich auf die Positionen der Kommunistischen Linken zu bewegen - eine Tendenz, die sich einerseits in der Integration neuer Genossen in unsere Organisation (einschließlich in Ländern, wo bis dato lange keine neuen Integrationen stattgefunden hatten), andererseits in der Bildung eines Kerns der IKS in Brasilien zeigt. Dies ist für uns ein wichtiges Ereignis, da es die Präsenz unserer Organisation im größten Land Südamerikas, mit den gewaltigsten Industriekonzentrationen dieses Teils der Erde und auch weltweit, konkretisiert. Die Entstehung des Kerns in Brasilien ist das Resultat einer engagierten punktuellen Arbeit der IKS in den letzten 15 Jahren, welche sich in letzter Zeit intensivierte. Es entstanden Kontakte mit verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen, vor allem OPOP, von der eine Delegation an unserem 17. Kongress teilnahm, aber auch mit einer Gruppe aus Sao Paulo, welche sich unter dem Einfluss linkskommunistischer Positionen gegründet hatte und mit der wir regelmäßige politische Kontakte aufgenommen haben, so zum Beispiel eine gemeinsam abgehaltene öffentlichen Diskussionsveranstaltung. Die Zusammenarbeit mit diesen Gruppen steht in keinem Widerspruch zu unserem Willen die spezifische organisatorische Präsenz der IKS in Brasilien zu verstärken. Ganz im Gegenteil wird unsere dauernde Präsenz in diesem Land auch die Zusammenarbeit unserer Organisationen verstärken, vor allem auch deshalb, weil zwischen unserem Kern und der OPOP schon eine lange gemeinsame Geschichte besteht, die von Vertrauen und Respekt geprägt ist.

Die Diskussionen auf dem Kongress

In Anbetracht der besonderen Bedingungen, unter denen der Kongress tagte, stand die Behandlung der Arbeiterkämpfe als erster Punkt auf der Tagesordnung. An zweiter Stelle untersuchten wir die nun auftauchenden neuen revolutionären Kräfte. Wir können in diesem kurzen Artikel nicht im Detail auf die stattgefundenen Diskussionen eingehen: Die ebenfalls in dieser Internationalen Revue veröffentliche Resolution zur internationalen Situation liefert eine Synthese ihrer Hauptelemente. Was wir hier allerdings betonen wollen, sind die neuen und spezifischen Merkmale der gegenwärtigen Entwicklung im Klassenkampf. Es wurde insbesondere auf Faktoren hingewiesen, die alle dazu führen werden, die Arbeiterkämpfe zu politisieren: Erstens das Ausmaß der kapitalistischen Krise, zweitens die Massivität der Angriffe gegen die Arbeiterklasse, drittens die dramatische Zuspitzung der militärischen Barbarei und viertens die wachsende Bedrohung durch die Umweltkatastrophe. Die Lage unterscheidet sich insofern ein wenig von der Situation nach dem historischen Wiedererstarken des Arbeiterkampfes nach 1968, als der Spielraum, über den der Kapitalismus damals noch verfügte, es diesem ermöglicht hatte, die Illusion aufrechtzuerhalten, dass „die Zukunft etwas Besseres bringen" werde. Heute sind solche Illusionen nicht mehr möglich: Die neuen Arbeitergenerationen, aber auch die älteren, werden sich immer bewusster, dass die Lage in der Zukunft sich nur noch verschlechtern wird. Auch wenn diese Perspektive zunächst demoralisierend und demobilisierend wirken kann, werden die immer heftiger werdenden Angriffe die Arbeiter dazu veranlassen, sich bewusst zu werden, dass die heutigen Kämpfe eine Vorbereitung sind für die viel größeren Klassenkämpfe gegen ein todgeweihtes System. Bereits jetzt machen sich die Kämpfe, die wir seit 2003 erlebt haben: „...immer mehr die Frage der Solidarität zu eigen. Dies ist eine Frage von höchster Wichtigkeit, da die Solidarität das wirksamste ‚Heilmittel‘ gegen das für den gesellschaftlichen Zerfall typische ‚Jeder-für-sich‘ darstellt und vor allem weil sie den Kern der Fähigkeit des Weltproletariats ausmacht, nicht nur die gegenwärtigen Kämpfe zu entwickeln, sondern auch den Kapitalismus zu überwinden." (ebenda)

Obgleich der Kongress sich hauptsächlich mit dem Klassenkampf befasst hat, wurden auch andere Aspekte der internationalen Situation behandelt. So ist der Kongress näher auf die Entwicklung der Wirtschaftskrise eingegangen, insbesondere auf das gegenwärtige Wachstum von „Schwellenländern" wie Indien oder China, deren Entwicklung im scheinbaren Widerspruch zu den Analysen über den endgültigen Bankrott der kapitalistischen Produktionsweise steht, wie sie von unserer Organisation und den Marxisten allgemein vertreten wird. Auf der Grundlage eines sehr detaillierten Berichtes und einer vertieften Diskussion kam der Kongress zu der Schlussfolgerung, dass die „außergewöhnlichen Wachstumsraten, die gegenwärtig Länder wie Indien und insbesondere China kennen, (...) in keinster Weise einen Beweis für einen ‚frischen Wind‘ in der Weltwirtschaft darstellen. Selbst wenn sie zu einem beträchtlichen Teil zum erhöhten Wachstum derselben im Laufe der letzten Zeit beigetragen haben. Paradoxerweise ist die Ursache für dieses außergewöhnliche Wachstum einmal mehr die Krise des Kapitalismus (...) Somit sind das ‚chinesische Wunder‘und das einiger anderer Länder der Dritten Welt alles andere als ein ‚frischer Wind‘ der kapitalistischen Wirtschaft, sondern eine weitere Manifestation des niedergehenden Kapitalismus (...) So wie das ‚Wunder‘ der zweistelligen Wachstumsraten der asiatischen ‚Tiger‘ und ‚Drachen‘ 1997 ein schmerzhaftes Ende fand, wird das heutige ‚chinesische Wunder‘, auch wenn es andere Ursachen hat und über wesentlich gewichtigere Trümpfe verfügt, früher oder später mit der harschen Realität der historischen Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise konfrontiert werden." (ebenda)

Es muss betont werden, dass der Kongress bezüglich der ökonomischen Krise die Diskussionen widerspiegelte, welche wir momentan in unserer Organisation führen: Wie analysiert man die Mechanismen, welche es dem Kapitalismus erlaubten, nach dem Zweiten Weltkrieg spektakuläre Wachstumsraten zu erzielen? Die verschiedenen Analysen, die gegenwärtig in der IKS vertreten werden (welche aber alle gemeinsam die vom IBRP und „bordigistsichen" Gruppen vertretene Idee verwerfen, dass der Krieg eine „momentane Lösung" der kapitalistischen Widersprüche darstelle), richten sich darauf aus, die aktuelle Dynamik der Wirtschaft verschiedener „neu aufgetauchter" Länder wie allen voran China zu verstehen. Weil sich der Kongress spezifisch dieses Phänomens angenommen hat, konnten sich auch die in unserer Organisation darüber existierenden Divergenzen am Kongress ausdrücken. Wie wir das immer in der Vergangenheit getan haben, werden wir in der Internationalen Revue Dokumente veröffentlichen, welche diese Debatte zusammenfassen, sobald sie einen gewissen Reifegrad erreicht hat.

Schließlich waren an unserem Kongress die Folgen der Sackgasse der kapitalistischen Gesellschaft für die Bourgeoisie und der daraus resultierende Sturz in den Zerfall Gegenstand zweier Diskussionen: Eine befasste sich mit den Konsequenzen dieser Lage in den jeweiligen Ländern, die andere mit der Entwicklung der imperialistischen Gegensätze zwischen den Staaten. Diese zwei Aspekte sind miteinender verknüpft, vor allem weil die Streitigkeiten innerhalb der nationalen Bourgeoisien auch unterschiedliche Haltungen gegenüber den imperialistischen Konflikten hervorbringen können (über die Allianzen zwischen den Staaten, die Modalitäten beim Einsatz der militärischen Mittel, usw.). Zum ersten Punkt hat der Kongress hervorgehoben, dass alle Debatten über „weniger Staat" nichts anderes sind als Maskeraden der permanenten Verstärkung des Staates in der Gesellschaft, in dem Sinne als dieses Organ die einzige Garantie dafür ist, dass die Gesellschaft nicht dem „Jeder-für-sich" unterworfen wird, welches die Zerfallsphase des Kapitalismus charakterisiert. Es wurde vor allem die stattfindende Verstärkung der polizeilichen Funktion des Staates unterstrichen, so auch in den „demokratischen" Ländern wie Großbritannien und den USA. Die Verstärkung des Polizeiapparates findet offiziell unter dem Banner der Bedrohung durch den Terrorismus statt (ein Phänomen das auch mit dem Zerfall in Verbindung steht, welches aber den stärksten Bourgeoisien selbst nicht fremd ist) und erlaubt der herrschenden Klasse, sich auf die zukünftigen Konfrontationen mit der Arbeiterklasse vorzubereiten. Zum Punkt der imperialistischen Konflikte verwies der Kongress auf das Scheitern der Politik der stärksten Bourgeoisie der Welt, nämlich der amerikanischen, vor allem bei ihrem Abenteuer im Irak. Diese Tatsache offenbart die allgemeine Sackgasse des Kapitalismus: „Tatsächlich aber war der Regierungsantritt der Bande um Cheney, Rumsfeld und Konsorten nicht einfach eine gigantische ‚Fehlkalkulation‘ der US-Bourgeoisie. Einerseits hat dies erheblich zur Verschlechterung der Situation der USA auf imperialistischer Ebene beigetragen. Andererseits ist die Einsetzung dieser Regierungsmannschaft an sich schon ein Ausdruck der wachsenden Schwierigkeiten der USA, ihre Führungsrolle durchzusetzen. Darüber hinaus ist dies ein Ausdruck des ‚Jeder-für-sich‘ in den internationalen Beziehungen, wodurch sich die Zerfallsphase auszeichnet." (ebenda)

Ganz allgemein hat der Kongress unterstrichen, dass das „militärische Chaos, das sich über die Erde ausbreitet und ganze Gebiete in ein höllisches Inferno stürzt - vor allem im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika - (...) weder der einzige Ausdruck der historischen Sackgasse des Kapitalismus noch die größte Bedrohung für die Gattung Mensch (ist). Heute wird immer deutlicher, dass die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems durch die bisherige Funktionsweise auch die Zerstörung der Umwelt, die den Aufstieg der Menschheit erst ermöglichte, mit sich bringt". (ebenda)

Aus diesem Teil der Diskussionen wurde die Schlussfolgerung gezogen, dass die „von Engels Ende des 19. Jahrhunderts formulierte Alternative ‚Sozialismus oder Barbarei‘ im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer schrecklichen Realität geworden ist. Was uns das 21. Jahrhundert in Aussicht stellt, ist wahrhaft ‚Sozialismus oder Zerstörung der Menschheit‘. Und das ist die Herausforderung, vor der die einzige Klasse in der Gesellschaft steht, die den Kapitalismus überwinden kann - die Arbeiterklasse." (ebenda)

Die Verantwortung der Revolutionäre

Diese Perspektive verdeutlicht umso mehr die entscheidende Bedeutung der gegenwärtigen Kämpfe, die die Arbeiterklasse überall auf der Welt austrägt. Sie unterstreicht ebenso die grundlegende Rolle der revolutionären Organisationen, insbesondere der IKS, bei der Intervention in den Kämpfen, damit sich ein Bewusstsein darüber entwickelt, was heute weltweit auf dem Spiel steht.

In dieser Hinsicht zog der Kongress eine sehr positive Bilanz unserer Intervention in den Klassenkämpfen und gegenüber den entscheidenden Fragen, vor denen die Bewegung steht. Besonders begrüßt wurde die Fähigkeit der IKS, sich international zu mobilisieren (Artikel in unserer Presse, auf unserer Webseite, öffentliche Diskussionsveranstaltungen usw.), damit die Lehren aus einer der Hauptepisoden des Klassenkampfes gezogen werden - dem Kampf der studentischen Jugend gegen den CPE im Frühjahr 2006 in Frankreich. Wir haben dabei festgestellt, dass es damals einen spektakulären Anstieg der Zugriffe auf unsere Internetseite gab, was belegt, dass die Revolutionäre nicht nur die Verantwortung, sondern auch die Möglichkeit haben, dem Blackout entgegenzutreten, das die bürgerlichen Medien systematisch gegenüber den Arbeiterkämpfen praktizieren.

Der Kongress hat ebenfalls eine sehr positive Bilanz über unsere Arbeit gegenüber Gruppen und Einzelpersonen gezogen, welche sich für die Verteidigung oder Annäherung an linkskommunistische Positionen einsetzen. In letzter Zeit, wie schon zu Beginn dieses Artikels erwähnt, sind bemerkenswert viele neue Genossen in die IKS eingetreten, ein Resultat von all den Diskussionen, die wir mit ihnen geführt hatten (es war aber schon immer die Praxis unserer Organisation, nicht „Rekrutierungen zu jedem Preis" zu machen, wie dies bei linken Gruppen der Fall ist). Die IKS hat sich auch aktiv an verschiedenen Internet-Foren beteiligt, in denen Klassenpositionen vertreten werden können, vor allem in englischer Sprache, der wichtigsten auf Weltebene. Dies hat zahlreichen Leuten ermöglicht, unsere Positionen und Diskussionsmethoden besser kennen zu lernen und damit ein gewisses Misstrauen zu überwinden, welches von kleinsten parasitären Kapellen geschürt wird, deren Ziel nicht die Förderung des Klassenbewusstseins in der Arbeiterklasse ist, sondern die Aussaat von Misstrauen gegenüber Organisation, welche genau diese wichtige Aufgabe übernehmen. Aber der positivste Aspekt dieser Arbeit ist zweifellos die Verstärkung des Kontaktes zu anderen Organisationen, welche revolutionäre Positionen vertreten, und dies wurde durch die Präsenz von vier Gruppen auf unserem 17. Kongress konkretisiert. Dahinter stand eine große Anstrengung der IKS, vor allem durch die Entsendung von zahlreichen Delegationen in verschiedene Länder (unter anderen nach Brasilien, Südkorea, Türkei und den Philippinen).

Die zunehmende Verantwortung, die auf der IKS lastet, sei es in der Intervention in den Klassenkämpfen, sei es in den Diskussionen mit Gruppen und Einzelpersonen, welche sich auf einem Klassenterrain befinden, erfordert auch eine Verstärkung unseres Organisationsgewebes. Dies war zu Beginn des Jahres 2000 durch eine Krise ernsthaft angegriffen worden, welche unmittelbar nach unseren 14. Kongress ausgebrochen war und ein Jahr später eine außerordentliche Konferenz sowie eine vertiefte Reflexion bis zum 15. Kongress im Jahr 2003 erforderte[7]. Wie dieser Kongress feststellte und dann auch der 16. Kongress bestätigte, hat die IKS zum großen Teil ihre organisatorischen Schwächen überwunden, welche die Wurzeln dieser Krise darstellten. Eines der wichtigsten Elemente in der Fähigkeit der IKS, ihre organisatorischen Schwierigkeiten zu überwinden, liegt in der genauen und vertieften Untersuchung der Schwierigkeiten. Dazu hat sich die IKS im Laufe des Jahres 2001 eine spezielle Kommission gegeben, welche unabhängig vom Zentralorgan ist und durch den Kongress zur Ausführung dieser spezifischen Arbeit ernannt wurde. Diese Kommission hat sich in ihrem Mandat, neben den großen Forschritten, welche die Organisation als ganze machte, auch um weiter bestehende Narben der Vergangenheit in einzelnen Sektionen gekümmert. Dies alles ist ein Beweis dafür, dass der Aufbau eines soliden Organisationsgewebes nie zu Ende ist, sondern dass es einer immerwährenden Anstrengung seitens der ganzen Organisation und ihrer Mitglieder bedarf. Aufgrund dieser Notwendigkeit und der wichtigen Rolle, welche diese Kommission in den vergangenen Jahren spielte, hat der Kongress beschlossen, sie als ein permanentes Organ vorzusehen und in die Statuten der IKS aufzunehmen. Dies ist keineswegs eine „Erfindung" unserer Organisation, sondern knüpft an eine Tradition innerhalb der politischen Organisationen der Arbeiterklasse an. Selbst die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die Referenz innerhalb der 2. Internationale, verfügte über eine „Kontrollkommission" mit denselben Aufgaben.

Eines der wichtigsten Elemente, das uns erlaubte, die Krise zu überwinden und daraus gestärkt hervorzugehen, war die Fähigkeit zu einem tiefen Nachdenken über die Gründe und Auswirkungen der organisatorischen Schwächen, und dies unter Berücksichtigung der historischen und theoretischen Dimension. Ein Nachdenken, das sich im Wesentlichen um verschiedene Orientierungstexte drehte, von denen lange Auszüge in der Internationalen Revue veröffentlicht wurden[8]. Dieses Anliegen vor Augen, hat der Kongress sich ausführlich mit einem Orientierungstext zur Debattenkultur befasst, der einige Monate zuvor in der IKS zur Diskussion gestellt wurde (und nächstens in der Internationalen Revue veröffentlicht wird). Diese Frage betrifft nicht nur das interne Leben der Organisation. Die Intervention der Revolutionäre beinhaltet, dass Letztere dazu fähig sind, die angemessensten und tiefgreifendsten Analysen der Lage zu erstellen und diese Analyse so wirksam wie möglich in der Arbeiterklasse zu vertreten, um bei der Weiterentwicklung des Bewusstseins mitzuhelfen. Dies setzt voraus, dass sie diese Analysen so genau als möglich diskutieren, sie innerhalb der Arbeiterklasse als Ganzes und gegenüber interessierten Leuten vertreten, sowie auf deren Sorgen und Fragen eingehen können. In dem Masse, wie die IKS in ihren eigenen Reihen und der ganzen Klasse mit einer neuen Generation von Militanten oder nahe stehenden Menschen, welche sich für die Überwindung des Kapitalismus einsetzen, konfrontiert ist, gehört es zu ihrer Aufgabe, sich voll und ganz dafür einzusetzen, dass dieser Generation eine der wichtigsten Erfahrungen der Arbeiterbewegung, die mit der kritischen Methode des Marxismus unzertrennlich ist, näher gebracht wird: die Debattenkultur.

Die Debattenkultur

Die Einleitung und Diskussion zu dieser Frage ging davon aus, dass bei allen Abspaltungen in der Geschichte der IKS der Monolithismus eine bestimmende Rolle spielte. Wenn Divergenzen auftauchten, sagten Genossen, dass wir nicht mehr zusammenarbeiten könnten, die IKS eine bürgerliche Organisation geworden sei oder sich auf dem Weg dazu befinde, auch wenn nach Ansicht der Mehrheit solche Divergenzen in einer nicht monolithischen Organisation vorhanden sein konnten. Die IKS hat von der italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken gelernt, wie auch bei der Existenz von Meinungsunterschieden bezüglich prinzipieller Fragen die genauste gemeinsame Klärung vor einer organisatorischen Spaltung kommt. In diesem Sinne waren die Abspaltungen mehrheitlich Ausdruck eines Mangels an Debattenkultur und einer monolithischen Auffassung. Doch die Probleme waren natürlich nicht gelöst durch den Austritt einzelner Genossen. Sie waren vielmehr Ausdruck einer generellen Schwierigkeit der IKS in dieser Frage, weil es in unseren Reihen Konfusionen gab, die ein Abgleiten in den Monolithismus ermöglichten und eine Tendenz zur Negierung statt Förderung der Debatte aufwiesen. Diese Probleme hielten an, doch soll man das Ausmaß dieser Probleme nicht übertreiben. Es waren Konfusionen und Ausrutscher, die punktuell stattfanden. Doch die Geschichte, diejenige der IKS sowie die der gesamten Arbeiterbewegung, hat uns gezeigt, dass aus kleinen Ausrutschern und Konfusionen große und gefährliche Abgleitungen werden können, wenn man die Wurzeln der Probleme nicht versteht.

In der Geschichte der Kommunistischen Linken gibt es Strömungen, welche den Monolithismus verteidigen und theoretisieren. Die „bordigistische" Strömung ist eine Karikatur davon. Die IKS ist im Gegensatz dazu Erbin der Tradition der Italienischen Fraktion und der Französischen Kommunistischen Linken, welche die entschlossensten Gegner des Monotlithismus waren und in einer gradlinigen Art die Debattenkultur pflegten. Die IKS wurde auf diesem Verständnis gegründet, das auch in ihren Stauten verankert ist. Aus all diesen Gründen wird klar, dass sich trotz Problemen bei der praktischen Umsetzung kein Genosse der IKS in allgemeiner Hinsicht gegen die Entfaltung einer Debattenkultur wenden würde. Dennoch ist es wichtig, das Bestehen gewisser Schwierigkeiten zu anerkennen. Eine dieser Schwächen ist der Hang, jede Diskussion als eine Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Opportunismus, zwischen Bolschewismus und Menschewismus oder gar zwischen Proletariat und Bourgeoisie zu betrachten. Eine solche Angehensweise würde nur dann Sinn machen, wenn wir die Auffassung der Invarianz des kommunistischen Programms hätten. Hier bleibt der Bordigismus wenigsten konsequent: Die Invarianz und der Monolithismus, auf die sich diese Strömung bezieht, gehen Hand in Hand. Es gilt aber zu begreifen, dass der Marxismus kein Dogma und die Wahrheit relativ ist, und diese nicht erstarrt sind, sondern einen Prozess darstellen, weil wir aufgrund der Realität, welche sich andauernd verändert, nie aufhören zu lernen. Aufgrund all dessen sind der Drang zur Vertiefung und selbst Irrtümer normale Etappen auf dem Weg zur Schärfung des Klassenbewusstseins. Entscheidend sind der kollektive Impuls und der Wille zu einer aktiven Teilnahme an der Vertiefung.

Es ist wichtig zu bemerken, dass der Hang überall und in jeder Debatte den Opportunismus (also eine Tendenz hin zu bürgerlichen Positionen) sehen zu wollen, zu einer Banalisierung der opportunistischen Gefahr führen kann. Damit stellt man jede Debatte auf dasselbe Niveau. Die Erfahrung zeigt uns, wie in den raren Diskussionen, in denen die Prinzipien in Frage gestellt wurden, oft die Schwierigkeit herrschte, dies zu sehen: Ist alles opportunistisch, so ist schlussendlich gar nichts mehr opportunistisch.

Ein anderes Resultat einer solchen Haltung, in jeder Diskussion den Opportunismus und die bürgerliche Ideologie erkennen zu wollen, ist die Hemmung der Debatte. Die Genossen haben so nicht mehr „das Recht", Unklarheiten zu haben, diese auszusprechen oder Irrtümer zu begehen, weil man sie sofort als Verräter betrachtet und sie sich selbst so vorkommen. Gewisse Debatten beinhalten tatsächlich eine Konfrontation zwischen bürgerlichen und proletarischen Positionen. Dies ist Ausdruck einer Krise und Degenerationsgefahr. Doch im Leben der Arbeiterklasse ist dies nicht die generelle Regel. Wenn man alle Debatten auf diese Ebene stellt, endet man schlussendlich in der Idee, dass die Debatte an sich Ausdruck einer Krise ist.

Ein anderes Problem, welches mehr in der Praxis als in theoretisierter Version besteht, ist das Verhalten, in einer Debatte die Anderen so schnell wie möglich von der richtigen Position überzeugen zu wollen. Diese Angehensweise führt zur Ungeduld, der Haltung, die Diskussion monopolisieren und in gewisser Weise den „Gegner ausschalten" zu wollen. Diese Haltung führt nur zu Schwierigkeiten, wirklich zu verstehen, was die Anderen sagen. Es ist sicher richtig, dass es sonst im Leben, in einer vom Individualismus und der Konkurrenz geprägten Gesellschaft, schwer ist zu lernen, den Anderen zuzuhören. Aber verschlossene Ohren führen zu einer Abwendung von der Welt, genau zum Gegenteil einer revolutionären Haltung. In diesem Sinne ist es wichtig zu verstehen, dass das Wichtigste in einer Debatte ihr Platz ist, dass sie sich entwickeln kann, dass es eine breitest mögliche Beteiligung daran gibt und eine wirkliche Klärung daraus hervorgeht. Zu guter Letzt trägt auch das kollektive Leben der Arbeiterklasse, wenn es sich entwickeln kann, zur Klärung bei. Der Wille zu einer politischen Klärung wohnt dem Proletariat in seinem Charakter inne; es ist sein Klasseninteresse. Die Arbeiterklasse braucht die Wahrheit, und nicht Verfälschungen. Deshalb, so schrieb Rosa Luxemburg, ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer das zu sagen, was ist. Verwirrungen sind nicht die Regel oder dominierend in der IKS, doch sie existieren, können gefährlich werden und müssen überwunden werden. Besonders muss gelernt werden, die Debatten nicht zu dramatisieren. Die meisten Diskussionen in unserer Organisation sind nicht Konfrontationen zwischen bürgerlichen und proletarischen Positionen. Es sind Diskussionen, bei denen wir auf der Basis von gemeinsamen Positionen und einem gemeinsamen Ziel eine Vertiefung anstreben und Verwirrungen überwinden wollen.

Die Entwicklung einer wirklichen Debattenkultur in den revolutionären Organisationen ist eines der Hauptanzeichen ihrer Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse, ihrer Fähigkeit, lebendig und offen zu bleiben, und auf die Bedürfnisse der Klasse reagieren zu können. Dies gilt gleichermaßen für die Arbeiterklasse insgesamt, da sie durch ihre eigenen Diskussionen, insbesondere in ihren Vollversammlungen, in der Lage ist, die Lehren aus ihren Erfahrungen zu ziehen und ihr Bewusstsein voranzutreiben. Das Sektierertum und die Verweigerung der Debatte, die heute leider das Merkmal einiger Organisationen des proletarischen Lagers sind, stellen keineswegs einen Beweis für ihre „Unnachgiebigkeit" gegenüber der bürgerlichen Ideologie oder gegenüber bestehenden Konfusionen dar. Im Gegenteil, es handelt sich dabei um einen Ausdruck ihrer Angst, ihre eigenen Positionen zu vertreten, und es ist letzten Endes der Beweis einer mangelnden Überzeugung von der Richtigkeit der eigenen Positionen.

Die Interventionen der eingeladenen Gruppen

Diese Debattenkultur hat unseren ganzen Kongress geprägt. Sie äußerte sich besonders in der Tatsache, dass die eingeladenen Gruppen ihre Erfahrungen und Überlegungen weitergaben.

Die Delegation aus Korea unterstrich dies, als einer ihrer Delegierten sagte, dass er „sehr beeindruckt sei von dem solidarischen Geist, dem kameradschaftlichen Verhältnis untereinander, was im Gegensatz zu seiner bisherigen Erfahrung steht, um was er uns beneidet".

Ein anderer Genosse dieser Delegation gab seine Überzeugung weiter, dass „die Diskussion über die Debattenkultur für die Entwicklung ihrer eigenen Aktivitäten fruchtbar und es wichtig ist, dass sich die IKS nicht als „einzige Gruppe auf der Welt" betrachtet".

Die Delegation der OPOP hat „mit größter Brüderlichkeit einen Gruß an den Kongress" vermittelt und ihre „Zufriedenheit darüber, an einem so wichtigen Ereignis teilnehmen zu können", ausgedrückt. Für die Delegation sei „dieser Kongress nicht lediglich ein wichtiges Ereignis für die IKS, sondern für die Arbeiterklasse als Ganzes. Wir lernen viel mit der IKS. Wir haben in den vergangenen drei Jahren viel gelernt durch den Kontakt, den wir hatten, und die Debatten, die wir zusammen in Brasilien geführt haben. Wir haben schon am vorangegangenen Kongress teilgenommen (derjenige der französischen Sektion der IKS im Jahr 2006) und haben dort die Gewissenhaftigkeit festgestellt, mit der die IKS die Debatte führt, ihre Offenheit für die Debatte, dass sie keine Angst vor einer Debatte hat und auch nicht davor, andere Positionen mit ihren eigenen zu konfrontieren. Ganz im Gegenteil, ihre Haltung ist es, die Debatte voranzutreiben, und wir wollen der IKS dafür danken, dass wir diese Haltung kennen gelernt haben. Wir begrüßen ebenfalls die Art, mit der die IKS die Frage der neuen Generationen angeht, heute und in der Zukunft. Wir lernen vom Erbe, auf das sich die IKS bezieht und das uns von der Arbeiterbewegung seit ihrer Existenz übertragen wird." Gleichzeitig tat die Delegation ihre Überzeugung kund, dass „auch die IKS von der OPOP gelernt habe", vor allem als eine IKS-Delegation in Brasilien an der Seite der OPOP an einer Intervention in einer Arbeitervollversammlung teilnahm, welche von den Gewerkschaften dominiert war.

Auch der Delegierte der EKS unterstrich die Wichtigkeit der Debatte bei der Entwicklung der revolutionären Positionen innerhalb der Arbeiterklasse, besonders für die neuen Generationen: „Ich möchte damit beginnen, die Wichtigkeit der Debatte für die neue Generation zu unterstreichen. Wir haben in unserer Gruppe junge Leute und wir haben uns durch die Debatte politisiert. Wir haben wirklich viel in den Debatten gelernt, vor allem in denen mit jungen Leuten, mit denen wir in Kontakt stehen (...) Ich denke, dass in der Zukunft für die junge Generation die Debatte ein wichtiger Aspekt der politischen Entwicklung sein wird. Wir haben einen Genossen getroffen, der aus einem sehr armen Arbeiterquartier von Istanbul stammt und der älter ist als wir. Er sagte uns, dass in dem Quartier, aus dem er komme, die Arbeiter immer diskutieren wollen. Aber die Linken, die in den Arbeiterquartieren politische Arbeit betreiben, versuchen immer schnell die Debatte abzuwürgen, um „praktische Sachen" zu machen, so wie man es von ihnen erwarten kann. Ich denke die proletarische Kultur, in der man jetzt hier diskutiert und die ich auf diesem Kongress erleben konnte ist eine Verneinung der linken Diskussionsmethode, welche nur ein Konkurrenzkampf darstellt. Ich möchte einige Bemerkungen machen über die Diskussionen unter den internationalistischen Gruppen. Zuerst denke ich, müssen solche Diskussionen so konstruktiv und brüderlich wie möglich sein und wir müssen immer dazu Sorge tragen, dass diese Debatten eine kollektive Anstrengung sind, um zu einer politischen Klärung unter den Revolutionären zu kommen. Dies ist keinesfalls ein Wettkampf oder etwas, das Feindschaften oder Rivalitäten hervorbringen darf. So etwas wäre die komplette Verneinung der kollektiven Anstrengung, zu neuen Schlussfolgerungen zu kommen, um sich damit der Wahrheit anzunähern. Es ist auch wichtig, dass die Debatte unter den internationalistischen Gruppen so regelmäßig wie möglich stattfindet, weil dies viel zur Klärung beiträgt für alle, die international beteiligt sind. Ich denke es ist für die Debatte auch notwendig, offen zu sein gegenüber allen interessierten proletarischen Elementen. Gleichfalls gehe ich davon aus, dass die Debatten für die interessierten revolutionären Elemente zugänglich sind. Eine Debatte begrenzt sich nicht auf diejenigen, die direkt beteiligt sind. Die Debatte selbst, das was diskutiert wird, ist eine große Hilfe für denjenigen, der es lediglich liest. Ich erinnere mich, wie ich noch vor einiger Zeit Angst vor Diskussionen hatte, aber viel lesen wollte. Debatten und ihre Resultate zu lesen hilft enorm viel und deshalb ist es sehr wichtig, die geführten Debatten den Interessierten zugänglich zu machen. Das ist ein Mittel, um sich wirkungsvoll theoretisch und politisch weiterzuentwickeln."

Diese offenherzigen Redebeiträge der Delegierten der eingeladenen Gruppen haben nichts mit Schmeichelei gegenüber der IKS zu tun. So haben die Genossen aus Südkorea auch Kritiken an der Arbeit des Kongresses formuliert, vor allem, dass nicht mehr auf die Erfahrung unserer Intervention in der Bewegung gegen den CPE in Frankreich eingegangen wurde und dass die ökonomische Analyse der Situation in China nicht stärker auf die soziale Lage und die Kämpfe der Arbeiterklasse in diesem Land einging. Alle Delegierten der IKS brachten diesen Kritiken eine große Aufmerksamkeit entgegen, weil sie unserer Organisation erlauben, auf die Sorgen und Erwartungen der anderen Gruppen des proletarischen Lagers einzugehen, und unsere Anstrengung stimulieren, eine so wichtige Situation wie diejenige in China besser zu analysieren. Die Beiträge und Analysen, welche die anderen Gruppen liefern können (vor allem auch aus Ostasien), sind sehr wichtig für unsere eigene Arbeit.

Während des Kongresses selbst, waren die Beiträge der Delegationen wichtig für unser Verständnis der internationalen Situation. Dies vor allem, weil sie uns ein genaues Bild von der Situation in den Ländern gaben, in denen sie leben. Wir können im Rahmen dieses Artikels die Beiträge der Delegationen nicht ausführlich wiedergeben, sie werden in anderen Artikeln unserer Presse Platz finden. Wir geben uns hier damit zufrieden, die wichtigsten Eckpunkte kurz zu erwähnen. Bezüglich des Klassenkampfes hat der Delegierte der EKS darauf bestanden, dass nach der Niederlage der massiven Kämpfe von 1989 heute, angesichts der dramatischen wirtschaftlichen Lage für die Arbeiter in der Türkei, eine Wiederaufnahme von Arbeiterkämpfen und eine Welle von Streiks mit Fabrikbesetzungen stattfindet. In dieser Situation begnügen sich die Gewerkschaften nicht damit, die Kämpfe so wie gewöhnlich zu sabotieren, sondern sie versuchen auch den Nationalismus unter den Arbeitern zu schüren, indem sie eine Kampagne um die „säkulare Türkei" führen. Die Delegation der OPOP hat aufgezeigt, wie durch die Verbindung zwischen den Gewerkschaften und der gegenwärtigen Regierung (Präsident Lula war der führende Gewerkschaftsboss des Landes gewesen) in Brasilien nun eine Tendenz zu Kämpfen außerhalb des Rahmens der offiziellen Gewerkschaften existiert, eine „Rebellion der Basis", so wie es in der Bewegung unter den Bankangestellten 2003 der Fall gewesen war. Die neuen ökonomischen Angriffe, welche die Regierung Lula vorbereitet, werden die Arbeiterklasse dazu stoßen, sich weiterhin zu Wehr zu setzen, auch wenn die Gewerkschaften eine „kritischere" Haltung gegenüber Lula vorspielen.

Ein anderer wichtiger Beitrag der Delegationen von OPOP und EKS auf dem Kongress betraf die imperialistische Politik Brasiliens und der Türkei. OPOP schilderte wichtige Elemente zu einem besseren Verständnis der Positionierung dieses Landes, das sich einerseits als getreuer Verbündeter der amerikanischen „Weltpolizist-Politik" gibt (vor allem durch die militärische Präsenz in Timor und Haiti, wo es das Kommando über die fremden Truppen führt) und gleichzeitig aber seine eigene Diplomatie mit bilateralen Abkommen entwickelt, vor allem mit Russland (von dem es Flugzeuge kauft) und mit Indien und China (deren Industrieprodukte eine Konkurrenz für die brasilianische Produktion sind). Brasilien entwickelt überdies eine starke regionale imperialistische Macht, bei der es seine Bedingungen gegenüber Ländern wie Bolivien oder Paraguay durchzusetzen beginnt. Der Genosse der EKS hatte einen sehr interessanten Beitrag über das Leben der türkischen Bourgeoise (so über den Konflikt zwischen dem „islamistischen" und dem „laizistischen" Sektor) und deren imperialistische Ambitionen gemacht. Wir können auch diesen Beitrag in diesem Artikel leider nicht ausführlich beschreiben. Die Hauptidee wollen wir aber weitergeben: Das Risiko, dass in einem Nachbargebiet eines der gewalttätigsten imperialistischen Konflikte, im Irak, die türkische Bourgeoise auch in eine dramatische militärische Spirale eintritt und damit die Arbeiterklasse noch mehr den Preis für die kapitalistischen Widersprüche bezahlen muss.

Die Beiträge der Delegationen der eingeladenen Gruppen haben zusammen mit denjenigen der Sektionen der IKS Wertvollstes zur Arbeit des Kongresses und seinem Nachdenken über alle Fragen beigetragen und ihm erlaubt „die internationale Situation zu synthetisieren", wie es die Delegation der SPA aus Südkorea ausdrückte. Wie schon zu Beginn dieses Artikels erwähnt: Eines der Hauptelemente für den Erfolg dieses Kongresses und den Enthusiasmus, der von allen Delegationen zum Abschluss des Kongresses zum Ausdruck gebracht wurde, bestand gerade in der Teilnahme der eingeladenen Gruppen.

Kurz hintereinander fanden zwei internationale Treffen statt: der G8-Gipfel und der Kongress der IKS. Natürlich unterscheiden sich die beiden Treffen hinsichtlich des Einflusses und der unmittelbaren Wirkung, aber es ist wichtig, den großen Gegensatz hinsichtlich des Umfeldes, der Ziele und der Funktionsweise zu unterstreichen. Das eine war ein Treffen hinter Stacheldraht, mit einem unerhörten Aufgebot an Polizei und polizeilicher Repression, bei dem die Deklarationen über die „Ernsthaftigkeit der Debatte", zum „Frieden" und zur „Zukunft der Menschheit" nur eine Verschleierung waren, um die Widersprüche zwischen den kapitalistischen Staaten zu verhüllen, neue Kriege vorzubereiten und ein System zu bewahren, das der Menschheit nichts mehr anzubieten hat. Das andere war ein Treffen von Revolutionären aus 15 Ländern, die gegen alle Verschleierungen und den schönen Schein kämpften und die sich in wahrhaft solidarischen Debatten engagierten, um zur einzigen Perspektive beizutragen, welche die Menschheit retten kann: dem vereinten und internationalen Kampf der Arbeiterklasse mit dem Ziel, den Kapitalismus zu stürzen und den Kommunismus zu etablieren.

Wir wissen dass der Weg dorthin noch lang und schwierig sein wird. Doch die IKS ist überzeugt, dass ihr 17. Kongress ein wichtiger Schritt dabei war.

IKS, Juni 2007



[1] Zur Geschichte der IKS siehe unseren Artikel 30 Jahre IKS: Von der Vergangenheit für die Zukunft lernen, Internationale Revue Nr. 37.

[2] OPOP: Oposição Operária - Arbeiteropposition. Die Gruppe besteht in mehreren Städten Brasiliens; sie wurde Anfang der 1990er Jahre gegründet. Dabei beteiligten sich insbesondere Leute, die mit der CUT (Gewerkschaftsverband) und der Arbeiterpartei (PT) Lulas (gegenwärtig Präsident Brasiliens) gebrochen haben, um proletarische Positionen zu übernehmen - insbesondere in der Frage des Internationalismus, aber auch der Gewerkschaften (Anprangerung dieser Organe als Instrumente der herrschenden Klasse) und des Parlamentarismus (Anprangerung der „demokratischen" Maskerade). Die Gruppe interveniert aktiv in Arbeiterkämpfen (insbesondere im Bankensektor). Die IKS führt seit Jahren solidarische Diskussionen mit dieser Gruppe. Wir haben auch mehrere gemeinsame öffentliche Diskussionsveranstaltungen mit ihnen in Brasilien abgehalten (siehe dazu insbesondere „ICC Public Meetings in Brazil: A strengthening of revolutionary positions in Latin America", in: World Revolution Nr. 292, https://en.internationalism.org/wr/292_brazil_forums.html [17]). Eine Delegation von OPOP beteiligte sich bereits im Frühjahr 2006 am 17. Kongress unserer Sektion in Frankreich (siehe dazu unseren Artikel in Révolution Internationale).

[3] SPA: Socialist Political Alliance. Die Gruppe hat sich zur Aufgabe gesetzt, die Positionen des Linkskommunismus in Korea bekannt zu machen (insbesondere durch Übersetzungen bestimmter Grundlagentexte des Linkskommunismus) und Diskussionen unter Gruppen und Individuen über diese Positionen in Korea anzuregen. Im Oktober 2006 organisierte die SPA eine internationale Konferenz, an der sich die IKS, die seit mehr als einem Jahr mit dieser Gruppe im Austausch steht, beteiligte (siehe unseren Artikel „Rapport über die Konferenz in Korea, Oktober 2006"in Internationale Revue Nr. 129 (engl., franz., span.). Es sollte angemerkt werden, dass die Teilnehmer dieser Konferenz, die unmittelbar nach den nordkoreanischen Nuklearversuchen stattfand, eine „Internationalistische Erklärung aus Korea angesichts der Kriegsgefahr" verabschiedete (siehe Weltrevolution Nr. 139)

[4] EKS: Enternasyonalist Komünist Sol (Internationale Kommunistische Linke), eine Gruppe, die jüngst in der Türkei gegründet wurde und sich entschlossen auf linkskommunistische Positionen stützt. Wir haben mehrere ihrer Stellungnahmen auf unserer Website veröffentlicht: https://en.internationalism.org/wr/295_eks_basicpositions [18], https://en.internationalism.org/node/1772 [19].

[5] Das hatte 1999 die IKS jedoch nicht daran gehindert, das Internationale Büro für die Revolutionäre Partei (IBRP) zu ihrem 13. Kongress einzuladen. Wir meinten, dass die Tragweite der imperialistischen Spannungen mitten in Europa (damals wurde Serbien von NATO-Flugzeugen bombardiert) es verlangte, dass die revolutionären Gruppen ihre Streitigkeiten beiseite schieben, um an einem Ort zusammenzukommen, damit man gemeinsam die Folgen dieses Konfliktes untersucht und ggf. eine gemeinsame Erklärung verabschiedet. Leider hatte das IBRP diese Einladung ausgeschlagen.

[6] Da Internasyonalismo politisch präsent war, auch wenn ihre Delegation nicht physisch anwesend sein konnte.

[7] siehe Ausserordentliche Konferenz der IKS: Der Kampf für die Verteidigung der organisatorischen Prinzipien, in: Internationale Revue Nr. 30 und 15. Kongress der IKS: Die Organisation gegenüber den Herausforderungen der Zeit verstärken, in: International Review Nr.114 (engl., franz., span. Ausgabe).

[8] Siehe das Vertrauen und die Solidarität im Kampf des Proletariats, in: Internationale Revue Nr. 31 und 32, sowie Marxismus und Ethik, in Internationale Revue Nr. 39 und 40.

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [10]

Theoretische Fragen: 

  • Arbeiterklasse [11]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Organisation [20]

Der Kommunismus: Der Beginn der wirklichen Geschichte der Menschheit (II)

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Der Kommunismus ist nicht nur eine schöne Idee, sondern auch eine materielle Notwendigkeit

Der Artikel in dieser Ausgabe kehrt zum Werk des jungen Marx 1843 zurück, um die Ursprünge seiner Methoden zur Erarbeitung des kommunistischen Programms zu untersuchen. Wir hoffen, dass diese Zusammenfassung älterer Artikel die Leser dazu animieren wird, zu den Originalartikeln zurückzugehen, die wir auf Englisch in Form eines Buches veröffentlichten, aber auch online stellten. Die in Punkt 1 bis 7 zusammengefassten Artikel sind in voller Länge in Deutsch als Broschüre und Online auf unserer Web-Site erhältlich. Bisher hat es nur wenig Reaktionen aus dem politischen proletarischen Milieu zu den Artikeln gegeben. Dennoch bieten wir sie all jenen als eine Quelle der Untersuchung und Reflexion an, die danach streben, die wahre Bedeutung und den wirklichen Inhalt der kommunistischen Revolution zu klären.

Der erste Band konzentriert sich - mit Ausnahme des ersten Artikels, der das kommunistische Gedankengut vor dem Erscheinen des Kapitalismus betrachtet und mit den frühesten Formen des proletarischen Kommunismus schließt - im Wesentlichen auf die Evolution des kommunistischen Programms in der Epoche des im Aufstieg befindlichen Kapitalismus, als die kommunistische Revolution noch nicht auf der Tagesordnung der Geschichte stand. Der Titel des Bandes ist eine polemische Entgegnung auf all jene, die zwar anerkannt haben, dass der so genannte Kommunismus der stalinistischen Regimes nicht gerade dem entspricht, was Marx und andere im Kopf hatten, die aber pro-kommunistische Argumente mit der Äußerung abtun, dass der Kommunismus in der Theorie zwar eine schöne Idee sein mag, aber niemals in der realen Welt funktionieren könne. Im Gegensatz dazu sind Marxisten der Ansicht, dass der Kommunismus nicht in dem Sinne eine schöne Idee ist, dass er von guten Geistern oder von einzelnen Genies erfunden wurde. Der Kommunismus ist fraglos eine Theorie oder - besser - eine Bewegung, die die theoretische Dimension mit beinhaltet. Dennoch rührt die kommunistische Theorie aus der realen Praxis einer revolutionären gesellschaftlichen Kraft her. Und zentraler Bestandteil dieser Theorie ist es, dass der Kommunismus als Gesellschaftsform an dem Punkt zu einer Notwendigkeit wird, wo der Kapitalismus nicht mehr funktioniert, wo er in wachsendem Maße in Widerspruch zu den menschlichen Bedürfnissen gerät. Doch lange bevor dieser Punkt erreicht war, waren das Proletariat und seine politischen Minderheiten nicht nur dazu gezwungen gewesen, die allgemeingültigen, historischen Ziele ihrer Bewegung in großen Zügen zu skizzieren, sondern sahen sich auch dazu veranlasst, das kommunistische Programm im Lichte der Erfahrungen zu erarbeiten, die durch die praktischen Kämpfe der Arbeiterklasse gemacht wurden.

1. „Vom primitiven Kommunismus zum utopischen Sozialismus" (International Review, Nr. 69)

Ein flüchtiger Blick auf das Inhaltsverzeichnis dieser Internationalen Revue (engl., franz. und span. Ausgabe), die im ersten Quartal 1992 herauskam, erinnert uns an den historischen Kontext, in dem diese Reihe begann. Der Leitartikel konzentriert sich auf die Explosion der UdSSR und auf die Massaker in Jugoslawien; ein anderer Text trägt den Titel: „Bemerkungen zum Imperialismus und Zerfall: hin zum größten Chaos in der Geschichte". Kurz, die IKS hatte erkannt, dass der Zusammenbruch des Ostblocks endgültig eine neue Phase im Leben (oder Tod) des dekadenten Kapitalismus eröffnet hatte, die Zerfallsphase - eine Phase, die neue Gefahren und Prüfungen für die Arbeiterklasse und somit für ihre revolutionären Minderheiten mit sich brachte. Gleichzeitig erlaubte der spektakuläre Niedergang der stalinistischen Regimes den Herrschenden, eine massive Propagandakampagne auszulösen, in der Absicht, die Arbeiterklasse, deren Kämpfe sie die letzten beiden Jahrzehnte geplagt hatten, abzustumpfen und zu demoralisieren. Ausgehend von der völlig falschen Annahme, dass Stalinismus = Kommunismus sei, wurde uns mit arroganter Selbstverständlichkeit erklärt, dass wir Zeuge des Endes des Kommunismus, des endgültigen Bankrotts des Marxismus, des Verschwindens der Arbeiterklasse, ja des Endes der Geschichte seien... Die Kommunismus-Reihen waren daher anfangs als eine Antwort auf diese bösartigen Kampagnen gedacht und konzentrierten sich auf den fundamentalen Unterschied zwischen dem Stalinismus und der authentischen Vision des Kommunismus in der gesamten Geschichte der Arbeiterbewegung. Sie wurden als kurze Artikelreihen von fünf oder sechs Artikeln ins Auge gefasst. Doch schon die ersten Artikel zeigten, dass eine gründlichere Vorgehensweise erforderlich war, und zwar aus zwei Gründen. Erstens war die Aufgabe, die Ziele des Kommunismus zu klären, von Beginn an ein ständiges Anliegen der revolutionären marxistischen Bewegung gewesen; diese Aufgabe bleibt auch heute gültig und ist nicht abhängig von den Erfordernissen unmittelbar historischer Ereignisse, seien sie noch so epochal wie der Zusammenbruch des Ostblocks. Zweitens ist die Geschichte des Kommunismus an sich nicht nur die Geschichte des Marxismus oder der Arbeiterbewegung, sondern auch die Geschichte der Menschheit.

In besagtem Artikel in der Internationalen Revue, Nr. 39, widmeten wir unsere besondere Aufmerksamkeit einem Satz, der im Brief von Marx an Ruge 1843 stand: „Es wird sich dann zeigen, dass die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen." Der erste Artikel versucht also, die kommunistischen Träume der Menschheit zusammenzufassen. Diese Träume wurden in theoretischer Form zunächst in den antiken Gesellschaften entwickelt; doch wir mussten noch weiter zurückgehen, weil diese frühen Spekulationen in gewissem Maße auf einer realen Erinnerung an den realen, wenn auch beschränkten Kommunismus in den primitiven Stammesgesellschaften beruhten.

Die Entdeckung, dass menschliche Wesen Zigtausende von Jahren in einer Gesellschaft ohne Klassen und Staat gelebt hatten, sollte sich als mächtige Waffe in den Händen der Arbeiterbewegung erweisen, denn sie schuf ein Gegengewicht zu all den Behauptungen, dass die Liebe zum Privateigentum und die Notwendigkeit einer hierarchischen Vorherrschaft ein dem menschlichen Wesen innewohnendes Bedürfnis seien. Gleichzeitig besaß die Vorgehensweise der kommunistischen Vordenker ein stark rückwärts gewandtes, mythisches Element, das sich im Nachtrauern einer unwiederbringlich verloren gegangenen Gemeinschaft äußerte. Dies war zum Beispiel im „Urkommunismus" der frühen Christen oder in den von Spartacus angeführten Sklavenaufständen der Fall, die von der Suche nach dem verlorenen Goldenen Zeitalter angetrieben wurden. Es traf auch in einem großen Umfang auf die kommunistischen Predigten von John Ball während des englischen Bauernaufstandes zu, wenngleich es hier schon klar war, dass das einzige Heilmittel gegen die gesellschaftliche Ungerechtigkeit das Gemeineigentum des Landes und der Produktionsinstrumente war.

Die kommunistischen Ideen, die im aufkeimenden Kapitalismus aufkamen, waren schon eher in der Lage, einen vorwärts gewandten Standpunkt zu entwickeln, der sich sukzessive von dieser Fixierung auf eine mythische Vergangenheit freimachte. Von der annabaptistischen Bewegung, die von Münzer im 16. Jahrhundert in Deutschland angeführt wurde, über Winstanley und die Diggers im englischen Bürgerkrieg bis hin zu Babeuf und der „Verschwörung der Gleichen" in der Französischen Revolution gab es eine Bewegung weg von der religiös-apokalyptischen Sichtweise des Kommunismus und hin zu einer wachsenden Betonung der Fähigkeit der Menschheit, sich selbst von einer ausbeuterischen Gesellschaftsordnung zu befreien. Dies wiederum spiegelte den historischen Fortschritt wider, der vom Kapitalismus ermöglicht wurde, insbesondere die Entwicklung einer wissenschaftlichen Weltanschauung und das allmähliche Auftauchen des Proletariats als eine besondere Klasse in der neuen Gesellschaftsordnung. Diese Entwicklung erreichte mit dem Erscheinen der utopischen Sozialisten wie Robert Owen, Saint-Simon und Fourier ihren Höhepunkt, die eine durchdringende Kritik an den Schrecken des Industriekapitalismus übten und die Möglichkeiten, darüber hinauszugehen, bereits als gegeben ansahen, ohne allerdings in der Lage zu sein, die reale Gesellschaftskraft zu erkennen, die im Stande ist, eine menschlichere Gesellschaft herbeizuführen - das moderne Proletariat.

2. „Wie das Proletariat Marx für den Kommunismus gewonnen hatte" (International Review, Nr. 69)

Der Kommunismus war also im Gegensatz zur vulgären Interpretation keine Bewegung, die von Marx „erfunden" wurde. Wie der erste Artikel zeigte, geht der Kommunismus dem Proletariat und der proletarische Kommunismus Marx voraus. Doch so wie der Kommunismus des Proletariats einen qualitativen Sprung über alle vorherigen Formen des Kommunismus hinaus repräsentierte, so verkörperte der „wissenschaftliche" Kommunismus, der von Marx und anderen entwickelt wurde, die nacheinander seine Methoden aufgriffen, einen qualitativen Fortschritt gegenüber den Hoffnungen und Spekulationen der Utopisten.

Dieser Artikel folgt den Spuren, auf denen sich Marx, ausgehend von der kritischen Hegelianischen Philosophie und der radikalen Demokratie, in Richtung Kommunismus begeben hatte. Wie wir in der Internationalen Revue Nr. 39, betonten, handelte es sich hier um eine sehr schnelle, aber keinesfalls willkürliche Entwicklung: Marx beharrte auf eine gründliche Untersuchung aller existierenden kommunistischen Strömungen, die in Deutschland und Frankreich zu blühen begonnen hatten, besonders in Paris, wohin Marx 1844 gezogen und wo er mit Gruppen kommunistischer Arbeiter in Kontakt gekommen war. Diese Gruppen laborierten notgedrungen an einer Fülle von Konfusionen und Ideologien, die sie von den Revolutionen der Vergangenheit geerbt hatten. Doch zusammen mit den ersten embryonalen Anzeichen eines allgemeineren Klassenkampfes der Arbeiter reichten diese Manifestationen einer zutiefst historischen Bewegung aus, um Marx davon zu überzeugen, dass das Proletariat die gesellschaftliche Kraft ist, welche nicht nur, was einmalig ist, in der Lage ist, eine kommunistische Gesellschaftsordnung zu etablieren, sondern auch durch ihre eigentliche Natur gezwungen ist, so zu handeln. So wurde Marx vom Proletariat für den Kommunismus gewonnen und brachte die theoretischen Waffen mit, die er von der Bourgeoisie erhalten hatte.

Von Anfang an (besonders in Die deutsche Ideologie, die sich gegen die idealistische Philosophie richtete, die das Bewusstsein als etwas betrachtete, was außerhalb der ungehobelten materiellen Wirklichkeit steht) bestand Marx darauf, dass das kommunistische Bewusstsein aus dem Proletariat kommt und dass die kommunistische Avantgarde ein Produkt dieses Prozesses ist, nicht sein Schöpfer, auch wenn sie produziert wurde, um ein aktiver Faktor in eben diesem Bewusstseinsprozess zu werden. Dies allein war bereits eine Widerlegung der These, die ein halbes Jahrhundert später von Kautsky aufgegriffen wurde, derzufolge es die sozialistische Intelligenzia sei, die das kommunistische Bewusstsein „von außen" in die Arbeiterklasse injiziere.

3. „Die Entfremdung der Arbeit ist eine Voraussetzung für ihre Emanzipation" (International Review,
Nr. 70)

Nachdem er diesen fundamentalen Wechsel zum Standpunkt des Proletariats vollzogen hatte, begann Marx die Vision eines gewaltigen Projektes der menschlichen Emanzipation zu entwickeln, die die Existenz der revolutionären proletarischen Bewegung nun von einem schönen, aber unerreichbaren Traum in ein realisierbares gesellschaftliches Ziel umwandeln sollte. Die Ökonomischen und Philosophischen Manuskripte (ÖPM) von 1844 enthalten einige von Marx‘ kühnsten Einsichten über den Charakter des menschlichen Handelns in einer wirklich freien Gesellschaft. Es ist argumentiert worden, dass diese Notizbücher „vor-marxistisch" seien, da sie sich noch mit im Grunde philosophischen Konzepten wie die Entfremdung befassten, die ein Schlüsselbegriff in Hegels philosophischem System war. Und es trifft zu, dass das Konzept der Entfremdung des Menschen, der von seinen realen Kräften ferngehalten wird, nicht nur bei Hegel, sondern mehr oder weniger die ganze Geschichte hindurch existiert hatte, selbst in den frühesten Formen der Mythologie. Auch ist es natürlich richtig, dass es noch viele andere fundamentale Entwicklungen im Denken von Marx in den folgenden Jahrzehnten geben sollte. Dennoch herrscht grundsätzlich eine Kontinuität zwischen den Schriften des frühen Marx und jenen des späten Marx, der große „wissenschaftliche" Werke wie das Kapital produzierte. Als Marx die Entfremdung in den ÖPM analysierte, hatte er sie bereits aus den Wolken der Mythologie und Philosophie auf die konkrete Ebene des realen gesellschaftlichen Lebens des Menschen und seiner produktiven Tätigkeiten heruntergeholt; überdies gründeten sich seine anregenden Bilder, die er von der kommunistischen Menschheit zeichnete, auf reale menschliche Fähigkeiten. Spätere Werke wie die Grundrisse gingen vom gleichen Ausgangspunkt aus.

In den ÖPM schuf Marx die Bühne, um diese befreite Menschheit zu schildern, indem er eingehend die Natur des Problems analysiert, dem sich die Spezies gegenübersieht - ihrer Entfremdung in der kapitalistischen Gesellschaft.

Marx identifiziert vier Facetten der Entfremdung, alle verwurzelt im fundamentalen Arbeitsprozess:

- die Entfremdung des Menschen von seinem eigenen Produkt, so dass die Schöpfungen der Menschen zu Kräften werden, die ihn beherrschen: Die Maschine, die vom Arbeiter gebaut und in Bewegung gesetzt wird, kettet den Arbeiter an ihren höllischen Rhythmus; der gesellschaftliche Reichtum, der vom Arbeiter geschaffen wurde, wie das Kapital, wird zu einer unpersönlichen Macht, die das gesamte Gesellschaftsleben tyrannisiert;

- die Entfremdung von seiner produktiven Tätigkeit, so dass die Arbeit jeden Anschein eines schöpferischen Vergnügens verliert und zu einer Qual für den Arbeiter wird;

- die Entfremdung gegenüber anderen Menschen: Die entfremdete Arbeit basiert auf der Ausbeutung der einen Klasse durch eine andere, und diese fundamentale Teilung zieht viele andere nach sich, insbesondere unter der Herrschaft einer universellen Warenproduktion, in der die Gesellschaft zu einem Krieg des Jeder-gegen-jeden tendiert;

- die Entfremdung des Menschen von seiner eigenen spezifischen Natur, die eine soziale und schöpferische ist und in beispielloser Weise durch die bürgerlichen Produktionsverhältnisse entleert worden ist.

Doch in der marxistischen Analyse der Entfremdung steckt kein Nachtrauern früherer, weniger deutlicher Formen der Entfremdung und auch kein Anlass zur Verzweiflung: Denn obwohl die ausbeutende Klasse ebenfalls entfremdet ist, wird erst mit dem Proletariat die Entfremdung zur subjektiven Grundlage eines revolutionären Angriffs gegen die kapitalistische Gesellschaft.

4. „Der Kommunismus: Der wahre Beginn der menschlichen Gesellschaft" (International Review, Nr. 71)

Die Schriften des frühen Marx, die diese Krankheit analysierten, zeigten auch, wie das Wohlergehen der Spezies aussehen könnte. Entgegen dem Begriff der „Egalisierung" nach unten weist Marx darauf hin, dass der Kommunismus einen riesigen Fortschritt für die Menschheit darstellt, die Lösung von Konflikten, die sie nicht nur in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern die gesamte Geschichte hindurch geplagt hatten - „die Auflösung des Rätsels der Geschichte". Der Mensch im Kommunismus wird nicht reduziert, sondern erhöht werden; doch er wird sich innerhalb der Möglichkeiten seiner eigenen Natur erheben. Marx unterstreicht die vielfältigen Dimensionen im gesellschaftlichen Handeln des Menschen, wenn einmal die Ketten des Kapitals abgeschüttelt sind:

- Wenn die Arbeitsteilung und vor allem die Produktion unter der Herrschaft des Geldes und Kapitals die Menschheit in eine Unendlichkeit von miteinander wetteifernden Atomen teilt, so stellt der Kommunismus die gesellschaftliche Natur des Menschen wieder her, so dass ein Teil der eigentlichen Befriedigung der Arbeit das Verständnis ist, dass sie für die Bedürfnisse anderer unternommen wird.

- Desgleichen muss die Arbeitsteilung in einzelne Individuen unterbunden werden, so dass die Produzenten nicht wie angewachsen an eine einzige Form der Tätigkeit, ob geistig oder manuell, gebunden sind: Der Produzent wird zu einem Allround-Individuum, dessen Arbeit geistige, physische, künstlerische und intellektuelle Tätigkeiten miteinander kombiniert.

- Befreit von der Not und der Knute der Zwangsarbeit, öffnet sich der Weg zu einer neuen und erhellenden Erfahrung der Welt, zu einer „Emanzipation aller Sinne"; desgleichen erlebt der Mensch sich selbst nicht mehr als ein atomisiertes Ego, das im „Gegensatz" zur Natur steht, sondern erfährt ein neues Bewusstsein von seiner Einheit mit der Natur.

5. „1848: Der Kommunismus als politisches Programm" (International Review, Nr. 72)

Diese frühen Schriften enthalten bereits ein Verständnis für die Zentralität der Produktionsverhältnisse bei der Bestimmung menschlicher Handlungen, doch war dies noch nicht zu einer kohärenten und dynamischen Darstellung der historischen Evolution ausgereift. Dies sollte bald darauf der Fall sein, in Werken wie Die deutsche Ideologie, wo Marx erstmals die Methode skizzierte, die später als historischer Materialismus bekannt wurde. Gleichzeitig war das Bekenntnis zum Kommunismus und zur proletarischen Revolution nicht „bloß" theoretischer Art; es beinhaltete notwendigerweise ein militantes, politisches Bekenntnis. Dies spiegelte den eigentlichen Charakter des Proletariats als eigentumslose Klasse wider, die innerhalb der alten Gesellschaft nicht zu wirtschaftlicher Stärke gelangen kann, sondern sich nur im Gegensatz zu ihr behaupten kann. Somit konnte der kommunistischen Transformation nur eine politische Revolution vorausgehen, die Machtergreifung durch die Arbeiterklasse. Und um sich darauf vorzubereiten, musste das Proletariat seine eigene politische Partei schaffen.

Es gibt viele heute, die ihre Anhängerschaft zu den Ideen von Marx bekunden, die aber, traumatisiert durch die Erfahrungen aus dem Stalinismus, keine Notwendigkeit erblicken, auf kollektive, organisierte Weise zu handeln. Dies ist sowohl dem Marxismus als auch dem Dasein des Proletariats wesensfremd, das als kollektive Klasse keine anderen Mittel für seine Sache besitzt als die Bildung von kollektiven Assoziationen; und es ist unvorstellbar, dass die höchstentwickelten Schichten der Klasse, die Kommunisten, irgendwie außerhalb dieses tiefen Bedürfnisses stünden.

Von Anfang an war Marx ein Vorkämpfer der Arbeiterklasse. Sein Ziel war es, an der Bildung einer kommunistischen Organisation mitzuwirken. Daher die Intervention von Marx und Engels in jener Gruppe, die zum Bund der Kommunisten werden sollte und 1847, auf dem eigentlichen Höhepunkt der Welle von revolutionären Erhebungen, als das Proletariat zum ersten Mal als eine separate politische Kraft auftrat, das Kommunistische Manifest veröffentlichte.

Das Manifest beginnt damit, indem sie die neue Theorie kurz umreißt, und zählt kurz die Chronik des Aufstiegs und Falls der verschiedenen Formen der Klassenausbeutung auf, die dem Erscheinen des modernen Kapitalismus vorausgegangen waren. Der Text macht keinen Hehl aus seiner Anerkennung der revolutionären Rolle der Bourgeoisie, diente diese doch der globalen Ausweitung der kapitalistischen Produktionsweise; gleichzeitig weist er mit der Identifizierung der Widersprüche des Systems, insbesondere der ihm innewohnenden Tendenz zur Überproduktionskrise, darauf hin, dass auch der Kapitalismus, wie das Römische Reich oder der Feudalismus vor ihm, nicht für immer währen wird, sondern durch eine höhere Form des gesellschaftlichen Lebens ersetzt wird.

Das Manifest bekräftigt diese Möglichkeit, indem es auf einen zweiten fundamentalen Widerspruch im System hinweist - auf den Klassenwiderspruch zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse. Die historische Entwicklung spaltet die kapitalistische Gesellschaft in zwei sich bekriegende Lager, deren Kampf entweder zur Gründung einer höheren Gesellschaftsform führt oder zum „gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen".

Tatsächlich sind dies Indikatoren, die bereits die Zukunft des Kapitalismus anzeigen: eine Epoche, in der der Kapitalismus nicht mehr dem menschlichen Fortschritt dient, sondern zu einer Fessel der Produktivkräfte wird. Das Manifest ist allerdings nicht konsequent in diesem Punkt: Es sieht zwar noch immer die Möglichkeit eines Fortschritts unter der Bourgeoisie, besonders bei der Überwindung der Überreste des Feudalismus; doch an anderer Stelle nimmt es an, dass das System bereits in den Niedergang umgekippt sei und dass die proletarische Revolution bevorstehe. Nichtsdestotrotz bleibt das Manifest ein Werk wirklich gesellschaftlicher „Prophezeiungen": Nur einige Monate nach seiner Veröffentlichung bewies das Proletariat in der Praxis, dass es die neue revolutionäre Kraft in der bürgerlichen Gesellschaft ist. Dies war der Beweis für die Solidität der historischen Methode, die das Manifest verkörpert.

Das Manifest war der erste richtige Ausdruck eines neuen politischen Programms und wies auf die Schritte hin, die das Proletariat unternehmen musste, um die neue Gesellschaft einzuleiten:

- die Eroberung der politischen Macht. Der Klassenkampf wird als mehr oder weniger verhüllter Bürgerkrieg beschrieben; die Revolution wird als gewaltsamer Sturz der Bourgeoisie ins Auge gefasst. Damals gab es die Idee, dass die Klassengewalt des Proletariats auf die Eroberung des bestehenden Staatsapparates abzielt; und es wurde sogar von einer friedlichen Eroberung der Macht durch „die Erkämpfung der Demokratie" gesprochen. Diese Vorgehensweise gegenüber dem bürgerlichen Staat wurde jedoch im Lichte weiterer Erfahrungen gründlich revidiert;

- die Eroberung der Macht durch das Proletariat muss auf internationaler Ebene stattfinden. Dies ist der Text, in dem Marx und Engels den unsterblichen Ruf erhoben: „Die Arbeiter haben kein Vaterland" und darauf beharrten, dass die „vereinigte Aktion, wenigstens der zivilisierten Länder (...) eine der ersten Bedingungen seiner (des Proletariats, Red.) Befreiung" ist;

- das langfristige Ziel ist die Ersetzung eines auf Klassenteilung beruhenden Systems durch eine „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Vorbedingung für die freie Entwicklung aller ist". Diese Gesellschaft bedarf keines weiteren Staates mehr und wird die abstumpfende Arbeitsteilung und die Trennung zwischen Stadt und Land überwinden.

Das Manifest bildet sich nicht ein, dass eine solche Gesellschaft über Nacht erbaut werden kann; es berücksichtigt eine mehr oder weniger lange Übergangsperiode. Viele der unmittelbaren Maßnahmen, die vom Manifest als Verkörperung „despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse" vorgestellt werden - wie die Verstaatlichung der Banken und die Durchsetzung einer starken Progressivsteuer - sind mittlerweile völlig vereinbar mit dem Kapitalismus, besonders mit dem Kapitalismus in seiner Niedergangsepoche, die sich durch eine totalitäre Vorherrschaft des Staates auszeichnet. Auch hier hat die revolutionäre Erfahrung der Arbeiterklasse mittlerweile einen viel größeren Grad an Klarheit über den ökonomischen Inhalt der proletarischen Revolution gezeitigt. Doch das Manifest bekräftigt völlig richtig das allgemeine Prinzip, dass das Proletariat nur durch die Zentralisierung der Produktivkräfte unter seiner Kontrolle zum Kommunismus gelangen kann.

6. „Die Revolution von 1848: Die kommunistische Perspektive tritt zutage" (International Review, Nr. 73)

Die realen Erfahrungen aus der Revolution von 1848 machten die Dinge klarer. In der Erkenntnis, dass eine breite soziale Erhebung bevorstand, antizipierte das Manifest bereits ihren hybriden Charakter zwischen der großen bürgerlichen Revolution von 1789 und der zukünftigen kommunistischen Revolution, indem es eine Reihe von taktischen Maßnahmen vorschlug, die dazu bestimmt waren, der Bourgeoisie und dem radikalen Kleinbürgertum in ihrem Kampf gegen den Feudalismus beizustehen und gleichzeitig den Boden für eine proletarische Revolution zu bereiten, die es unmittelbar nach dem Sieg der Bourgeoisie folgen sah.

In der Tat stand diese Perspektive nicht außerhalb der Ereignisse. Das politische Auftreten des Proletariats in den Straßen von Paris - parallel dazu in England der Aufstieg der ersten wirklichen Arbeiterpartei, der Chartisten - verbreitete Angst und Schrecken in der Bourgeoisie. Letztere realisierten, dass solch eine aufsteigende Kraft nicht leicht kontrolliert werden kann, wenn sie erst einmal gegen die feudalen Mächte losgelassen worden war. So sah sich die Bourgeoisie dazu gedrängt, Kompromisse mit dem Ancien Regime einzugehen, besonders in Deutschland. Das Proletariat war damals politisch noch nicht reif genug, um die Richtung der Gesellschaft zu bestimmen: Die kommunistischen Bestrebungen der Pariser ProletarierInnen waren eher unbewusst als beabsichtigt. Und in vielen anderen Ländern befand sich das Proletariat noch im Stadium der Herausschälung aus den sich auflösenden früheren Ausbeutungsformen.

Die Bewegungen von 1848 waren eine Feuertaufe des erst kurz zuvor gebildeten Bundes der Kommunisten. Indem er versuchte, die im Manifest befürworteten Taktiken auszuführen, widersetzte sich der Bund dem oberflächlichen Revolutionismus jener, die behaupteten, dass die proletarische Diktatur eine unmittelbare Möglichkeit sei, oder die sich in militärischen Träumereien der Befreiung Deutschlands durch das französische Bajonett verloren. Der Bund dagegen versuchte, das taktische Bündnis mit den Radikaldemokraten in Deutschland in die Tat umzusetzen. Jedoch ging er dabei zu weit; der Bund löste sich in den Demokratischen Vereinigungen auf, die von den radikalbürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien aufgestellt worden waren.

Im Lichte dieser Irrtümer und als Resultat des Denkprozesses hinsichtlich der schlimmen Repression gegen die Pariser Arbeiter und des Verrates der deutschen Bourgeoisie an ihrer eigenen Revolution zog der Bund der Kommunisten, besonders im Text von Marx über die „Klassenkämpfe in Frankreich", einige wichtige Lehren:

- die Notwendigkeit einer proletarischen Autonomie. Die Niedertracht der Bourgeoisie war zu erwarten und war beabsichtigt. Letztere würde unvermeidlich entweder einen Kompromiss mit der Reaktion eingehen oder, falls siegreich, sich gegen die Arbeiter wenden. Somit war es wichtig für die Arbeiter, ihre eigene Organisation im Verlauf der bürgerlichen Revolution zu erhalten. Dies betraf sowohl die kommunistische Avantgarde als auch die allgemeineren Organisationen der Klasse („Vereine, Komitees, etc.");

- diese Organe müssen bewaffnet werden und sogar darauf vorbereitet sein, eine Arbeiterregierung zu bilden. Darüber hinaus begann Marx zu dämmern, dass solch eine neue Macht erst durch die „Zerschmetterung" des bereits existierenden Staatsapparates entstehen kann - eine Lehre, die von den Erfahrungen der Pariser Kommune 1871 voll und ganz bestätigt wurde.

Was die Perspektive anging, so blieb es bei einer „permanenten Revolution": ein unmittelbarer Übergang von der bürgerlichen zur proletarischen Revolution. Allerdings waren diese Lehren eher für die Epoche der proletarischen Revolution relevant, wie die Ereignisse in Russland 1917 zeigen sollten. Und innerhalb des Bundes der Kommunisten selbst gab es in der Tat hitzige Debatten über die Aussichten für die Arbeiterklasse nach den Niederlagen von 1848. Eine immediatistische Tendenz, die von Willich und Schapper angeführt wurde, nahm an, dass die Niederlage nur geringe Konsequenzen hatte und dass der Bund sich auf neue revolutionäre Abenteuer vorbereiten solle. Doch die Tendenz um Marx dachte tiefer über die Ereignisse nach. Sie begriff nicht nur, dass die Revolution nicht wie Phönix aus der Asche der Niederlage entstehen kann, sondern auch, dass der Kapitalismus selbst noch nicht reif war für die proletarische Revolution, die nur aus einer neuen kapitalistischen Krise kommen kann. Daher hatten es die Revolutionäre mit der Aufgabe zu tun, die Lehren aus der Vergangenheit zu bewahren und eine ernsthafte Untersuchung über das kapitalistische System anzustellen, um sein tatsächliches Schicksal zu verstehen. Diese Differenzen mündeten in der Auflösung des Bundes und für Marx in eine Periode profunder theoretischer Arbeit, die seinem Meisterstück, das Kapital, zum Leben verhalf.

7. „Das Studium des Kapitals und die kommunistischen Grundlagen"
Teil 1: „Der geschichtliche Hintergrund" (International Review, Nr. 75)

Der Schlüssel, um die Tür zur Zukunft des Kapitalismus aufzuschließen, lag auf dem Gebiet der politischen Ökonomie. Zu ihren revolutionärsten Zeiten haben die Nationalökonomen der Bourgeoisie, insbesondere Adam Smith, einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Charakters der kapitalistischen Gesellschaft geliefert, insbesondere zur Entwicklung der Theorie des Arbeitswertes, der die bürgerlichen „Wirtschaftsexperten" heute, in der Niedergangsepoche des Kapitalismus, den Rücken zugekehrt haben. Doch auch damals waren die besten bürgerlichen Ökonomen nicht in der Lage, diese ersten Einblicke bis zu ihrer letzten Konsequenz weiterzuentwickeln, da ihre Klassenvorurteile im Weg standen. Die tatsächliche innere Funktionsweise des Kapitals konnte sich nur vom Standpunkt des Proletariats aus erschließen, das scharfsinnige Schlussfolgerungen ziehen konnte, die für die Bourgeoisie und ihren Apologeten ungenießbar waren: Der Kapitalismus ist nicht nur eine Gesellschaft, die auf Klassenausbeutung fußt, er ist auch die letzte Form der Klassenausbeutung in der menschlichen Geschichte und hat sowohl die Möglichkeit als auch die Notwendigkeit für seine Verdrängung durch eine klassenlose kommunistische Gesellschaft geschaffen.

Doch bei der Untersuchung des Charakters und Schicksals des Kapitals blieb Marx nicht an den Grenzen der kapitalistischen Epoche stehen. Im Gegenteil, der Kapitalismus konnte nur vor dem Hintergrund der gesamten menschlichen Geschichte richtig verstanden werden. So kehren das Kapital und sein „Entwurf", die Grundrisse, mit Hilfe einer fortgeschritteneren historischen Methode zu den anthropologischen und philosophischen Anliegen zurück, die die ÖPM angeregt hatten:

- die Bestätigung der Existenz einer menschlichen Natur: Der Mensch ist ist kein unbeschriebenes Blatt Papier, in jeder ökonomischen Formation aufs Neue geboren; stattdessen entwickelt der Mensch sein Wesen durch sein eigenes Handeln in der Geschichte weiter;

- die Bestätigung des Konzeptes der Entfremdung, die auch in ihrer geschichtlichen Entwicklung gesehen wird: Die kapitalistische Lohnarbeit verkörpert die fortgeschrittenste Form der Entfremdung der Arbeit und ist gleichzeitig die Voraussetzung für ihre Emanzipation. Daher die Ablehnung einer rein linearen Sichtweise der Geschichte als reibungsloser Fortschritt und stattdessen die Befürwortung einer dialektischen Methode, die den historischen Fortschritt als etwas betrachtet, das durch einen widersprüchlichen Prozess geht, der auch Phasen der Regression und des Niedergangs beinhaltet.

In diesem Rahmen betrachtet, bewirkt die Dynamik der Geschichte eine wachsende Auflösung der ursprünglichen gesellschaftlichen Bande des Menschen durch die Verallgemeinerung der Warenverhältnisse: Der primitive Kommunismus und der Kapitalismus stehen an den antithetischen Enden dieses historischen Prozesses und ebnen den Weg für die kommunistische Synthese. Innerhalb dieses breiten Rahmens ist die Bewegung der Geschichte synonym für den Aufstieg und Niedergang unterschiedlicher antagonistischer Gesellschaftsformationen. Das Konzept des Aufstiegs und der Dekadenz von aufeinander folgenden Produktionsweisen ist vom historischen Materialismus nicht zu trennen; und im Gegensatz zu manch kruden Fehlkonzeptionen beinhaltet die Dekadenz eines Gesellschaftssystems überhaupt nicht einen völligen Stopp im Wachstum.

Teil 2: „Die Abschaffung des Warenfetischismus" (International Review, Nr. 76)

Bei all seiner Gründlichkeit und Komplexität ist das Kapital im Wesentlichen ein polemisches Werk. Es ist eine Tirade gegen die „wissenschaftlichen" Apologeten des Kapitalismus und somit „das sicherste Geschoß, das den Bürgern (Großgrundbesitzer eingeschlossen) noch an den Kopf geschleudert worden ist", um die Worte von Marx zu gebrauchen.

Ausgangspunkt von Das Kapital ist die Enträtselung der Mystifikation der Ware. Der Kapitalismus ist ein System der universellen Warenproduktion: Alles ist käuflich. Die Herrschaft der Ware zieht einen Schleier über die wahre Funktionsweise des Systems. Es war somit notwendig, das Geheimnis des Mehrwerts zu enthüllen, um zu demonstrieren, dass alle kapitalistische Produktion ohne Ausnahme auf der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft basiert und somit die wahre Quelle aller Ungerechtigkeit und Barbarei im Leben des Kapitalismus ist.

Gleichzeitig heißt das Geheimnis des Mehrwerts zu begreifen, zu demonstrieren, dass der Kapitalismus mit tiefen Widersprüchen belastet ist, die unvermeidlich zu seinem Niedergang und schließlichem Ableben führt. Diese Widersprüche sind im eigentlichen Charakter der Lohnarbeit eingeflochten:

- die Krise der Überproduktion. Die Mehrheit der Bevölkerung im Kapitalismus ist durch den eigentlichen Charakter der Mehrarbeit Überproduzent und Unterkonsument in einem. Der Kapitalismus ist nicht in der Lage, alle Werte, die er produziert, innerhalb des geschlossenen Kreislaufes seiner Produktionsverhältnisse zu realisieren;

- der tendenzielle Fall der Profitrate. Nur die menschliche Arbeitskraft kann neue Werte schaffen, und dennoch zwingt die nie nachlassende Konkurrenz den Kapitalismus dazu, den Anteil menschlicher Arbeit im Verhältnis zur toten Arbeit der Maschinen zu reduzieren.

In der aufsteigenden Epoche, in der Marx gelebt hatte, konnte der Kapitalismus seine inneren Widersprüche immer wieder aufschieben, indem er immer weiter in die unermesslichen vor-kapitalistischen Regionen, die ihn umgaben, expandierte. Das Kapital begriff bereits die Realität dieses Prozesses und seiner Grenzen, doch es musste ein unvollständiges Werk bleiben, nicht nur wegen der persönlichen Einschränkungen, denen sich Marx gegenübersah, sondern auch, weil nur die reale Entwicklung des Kapitalismus den tatsächlichen Prozess klären konnte, durch den das kapitalistische System in die Epoche seines Niedergangs eintrat. Das Verständnis der Phase des Imperialismus, der kapitalistischen Dekadenz, konnte daher erst von den Nachfolgern Marx‘ - insbesondere von Rosa Luxemburg - entwickelt werden.

Die Widersprüche des Kapitalismus weisen auch auf ihre wahre Lösung hin - den Kommunismus. Eine Gesellschaft, die durch das Gesetz der Marktverhältnisse dem Chaos entgegen treibt, kann nur von einer Gesellschaft ersetzt werden, die die Lohnarbeit und die Produktion für den Austausch abschafft, einer Gesellschaft von „frei assoziierten Produzenten", in der die Beziehungen zwischen den Menschen nicht mehr obskur, sondern einfach und klar sind. Aus diesem Grund ist das Kapital auch eine Beschreibung des Kommunismus; größtenteils im negativen Sinn, aber auch im direkteren und positiven Sinn einer Skizzierung, wie eine Gesellschaft von frei assoziierten Produzenten funktionieren könnte. Und darüber hinaus kehren das Kapital und die Grundrisse zur inspirierten Vision der ÖPM zurück, indem sie versuchen, das Reich der Freiheit zu beschreiben - um uns einen Einblick in das freie, kreative Handeln zu verschaffen, das die Essenz der kommunistischen Produktion ist.

8. „1871: die erste proletarische Revolution" (International Review, Nr. 77)

1864 fand die Periode des Rückzugs der Arbeiterklasse ein Ende. Die Arbeiter Europas und Amerikas organisierten sich in Gewerkschaften, um ihre wirtschaftlichen Interessen zu verteidigen. Es wurde zunehmend von der Streikwaffe Gebrauch gemacht; und die Arbeiter mobilisierten sich auch auf dem politischen Terrain, um fortschrittliche Anliegen wie den Krieg gegen die Sklaverei in den USA zu unterstützen. Diese Unruhe in der Klasse verhalf der Internationalen Arbeiterassoziation zu ihrer Existenz, wobei die Fraktion rund um Marx eine aktive Rolle bei ihrer Bildung spielte. Marx und Engels erkannten die Internationale als authentischen Ausdruck der Arbeiterklasse an, auch wenn sie sich aus vielen diversen und oft konfusen Strömungen zusammensetzte. Die marxistische Fraktion in der Internationale setzte sich dabei in vielen kritischen Debatten mit diesen Strömungen auseinander, insbesondere:

- über das Prinzip der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse gegen wohlmeinende bürgerliche Reformer, die die Klasse von oben befreien wollten, und über das Prinzip der Klassenautonomie gegenüber bürgerlichen Nationalisten wie Mazzini;

- über die Verteidigung einer proletarischen Politik und zentralisierten Organisation gegen die antipolitische Attitüde und die föderalistischen Vorurteile der Anarchisten.

Die Debatte über die Notwendigkeit für das Proletariat, die politische Dimension seines Kampfes anzuerkennen, war in einem gewissen Sinn eine Debatte darüber, ob man auf dem Gebiet der bürgerlichen Politik, des Parlaments und der Wahlen agieren soll oder nicht, und somit über die historische Perspektive der Revolution: Für die Marxisten war der Kampf um Reformen noch auf der Tagesordnung, da das kapitalistische System noch nicht in seine „Epoche der sozialen Revolution" eingetreten war. Doch 1871 tat die reale Klassenbewegung einen historischen Schritt nach vorn: die erste politische Machtergreifung durch die Arbeiterklasse, die Pariser Kommune. Auch wenn Marx den „frühreifen" Charakter dieser Erhebung erkannte, war sie ein enorm wichtiger Vorläufer, der in der Frage des Verhältnisses zwischen Proletariat und bürgerlichem Staat neue Klarheit schuf. Während im Kommunistischen Manifest die Perspektive in der Übernahme des existierenden Staates bestand, bewies die Pariser Kommune, dass dieser Teil des Programms nun obsolet war und dass das Proletariat nur durch die gewaltsame Zerstörung des kapitalistischen Staates an die Macht gelangen konnte. Weit davon entfernt, die marxistische Methode zu falsifizieren, war dies eine eindrucksvolle Bestätigung Letzterer.

Diese Klärung kam nicht aus heiterem Himmel: Die marxistische Kritik am Staat geht zurück auf Marx‘ Schriften von 1843; das Manifest erblickte im Kommunismus eine staatenlose Gesellschaft; und in den Lehren des Bundes der Kommunisten aus den Erfahrungen von 1848 wurde bereits die Notwendigkeit einer autonomen proletarischen Organisation betont, ja wurde vom Zerschlagen des bürokratischen Apparates gesprochen. Doch nach der Kommune konnte dies nun in einer höheren Synthese eingegliedert werden.

Der heroische Kampf der Kommunarden machte deutlich, was die Arbeiterrevolution bedeutete:

- die Auflösung des stehenden Heeres und seine Ersetzung durch die Bewaffnung des Proletariats;

- die Ersetzung der privilegierten Bürokratie durch öffentliche Angestellte, die mit einem durchschnittlichen Arbeiterlohn bezahlt werden; die Ersetzung aller parlamentarischen oder semiparlamentarischen Körperschaften durch Organe der Arbeiterklasse, die die Legislative und Exekutive miteinander verbinden; und am wichtigsten von allen das Prinzip der Wahl und jederzeitigen Abwählbarkeit aller verantwortlichen Positionen der neuen Macht.

Diese neue Macht schuf den organisierten Rahmen:

- für das Bemühen, die anderen nicht-ausbeutenden Klassen hinter das Proletariat zu ziehen;

- für den Beginn der ökonomischen und sozialen Umwandlung, der den Weg zum Kommunismus anzeigte, auch wenn Letzterer in dieser Epoche und in solch einem begrenzten geographischen Kontext noch nicht verwirklicht werden konnte.

Die Kommune war also bereits ein „Halbstaat", der historisch dazu bestimmt ist, den Weg zur staatenlosen Gesellschaft freizugeben. Doch schon damals waren Marx und Engels in der Lage, einen Blick auf die „negative" Seite des Kommune-Staates zu werfen: Marx betonte, dass die Kommune nur einen organisierten Rahmen schaffen konnte, aber nicht in sich selbst die Bewegung für die soziale Emanzipation des Proletariats war; Engels beharrte darauf, dass dieser Staat ein „notwendiges Übel" blieb. Spätere Erfahrungen - die Russische Revolution von 1917-27 - sollten den Scharfsinn der beiden beweisen und enthüllen, wie wichtig es für das Proletariat war, seine eigenen autonomen Klassenorgane zu schmieden, um den Staat zu kontrollieren - Organe wie die Arbeiterräte, die unter den semi-handwerklichen Proletariern von 1871 noch nicht vorstellbar waren.

Schließlich zeigte die Kommune an, dass die Zeit der Nationalkriege in Europa vorüber war: Angesichts des Gespenstes der proletarischen Revolution vereinigten die Bourgeoisien von Frankreich und Preußen ihre Kräfte, um ihren Hauptfeind niederzuschlagen. Für das Proletariat Europas war die nationale Verteidigung zu einer Maske geworden, hinter der sich Klasseninteressen verbargen, die sich ihren eigenen gegenüber völlig feindlich verhielten.

9. „Kommunismus gegen ‚Staatssozialismus‘"(International Review, Nr.78)

Mit der brutalen Niederschlagung der Kommune sah sich die Arbeiterbewegung einer neuerlichen Periode des Rückzugs gegenüber. Die Internationale sollte dies nicht lange überleben. Für die marxistische Strömung war dies erneut eine Zeit der intensiven politischen Auseinandersetzung mit Kräften, die zwar innerhalb der Bewegung agierten, aber mehr oder weniger den Einfluss und die Weltanschauung anderer Klassen zum Ausdruck brachten. Es war eine Auseinandersetzung einerseits mit den explizit bürgerlichen Einflüssen des Reformismus und des „Staatssozialismus" und andererseits mit den kleinbürgerlichen und deklassierten Ideologien des Anarchismus.

Die Identifikation des Staatskapitalismus mit dem Sozialismus lag der großen Lüge des 20. Jahrhunderts zugrunde, dass Stalinismus gleich Kommunismus ist, so wie auch den etwas milderen „sozialdemokratischen" Versionen des gleichen Schwindels. Einer der Gründe, warum diese Lüge solch ein großes Gewicht besitzt, besteht darin, dass sie sich aus einst ehrlichen Konfusionen innerhalb der Arbeiterbewegung speist. In der aufsteigenden Periode, als sich der Kapitalismus größtenteils im Gewand der Privatkapitalisten manifestierte, konnte man leicht behaupten, dass die Zentralisierung des Kapitals, die vom Staat repräsentiert wird, einen Schlag gegen das Kapital darstelle (wie wir zum Beispiel im Kommunistischen Manifest sahen). Nichtsdestotrotz schufen marxistische Theoretiker bereits die Grundlage für eine Kritik an dieser Behauptung, indem sie demonstrierten, dass das Kapital kein rechtliches, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis ist, so dass es wenig Unterschied macht, ob der Mehrwert von einem individuellen oder von einem kollektiven Kapitalisten extrahiert wird. Darüber hinaus hatte Engels, als der Staat Ende des 19. Jahrhunderts immer energischer in die Wirtschaft zu intervenieren begann, diese bisher unausgesprochene Kritik bereits ausdrücklich artikuliert.

In der Periode nach der Auflösung der Internationale rückte die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Deutschland in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die rückständigen politischen Bedingungen, die hier noch immer herrschten, wurden auch von der Rückständigkeit der Strömung um Lassalle reflektiert, die sich durch eine abergläubische Verehrung des Staates und insbesondere des halbfeudalen Bismarck'schen Staates auszeichnete. Und selbst die von Bebel und Liebknecht angeführte marxistische Fraktion war nicht völlig frei von solchen Vorurteilen. Der Kompromiss zwischen diesen beiden Gruppen verhalf der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zum Leben. Das Programm der neuen Partei (1875) sah sich einer vernichtenden Kritik durch Marx (in seiner Kritik am Gothaer Programm) ausgesetzt, die die marxistische Vorgehensweise gegenüber dem Problem der Revolution und des Kommunismus, wie es damals existierte, zusammenfasste. So:

- warnte Marx gegen die Tendenz des Gothaer Programms, unmittelbare Reformen mit dem langfristigen Ziel des Kommunismus zu verwechseln, sowie vor dem Vertrauen der deutschen Partei in den Ausbeuterstaat, der angeblich nicht nur die Ausgebeuteten beschützte, sondern auch die Gesellschaft zum Sozialismus mitnehmen sollte;

- beharrten die Marxisten - für die die Bezeichnung „Sozialdemokratie" ein völlig unzureichender Begriff war - entgegen der Tendenz, die Sozialdemokratie zu einer Mehrklassenpartei der demokratischen Reform zu machen, auf den Klassencharakter der Partei als ein gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft unversöhnliches Element;

- bestanden die Marxisten entgegen substitutionistischen Ideen der Partei als eine gebildete bürgerliche Elite, die den unbedarften Arbeitern Heilung verschafft, darauf, dass Elemente aus anderen Klassen sich nur dann der proletarischen Bewegung anschließen konnten, wenn sie ihre bürgerlichen Vorurteile ablegten;

- bestanden die Marxisten entgegen den Illusionen über den Begriff eines „Volksstaates", der stückweise Reformen bringen könne, die möglicherweise zum Sozialismus führten, darauf, dass der Kommunismus eine radikale gesellschaftliche Umwälzung bedeutete und dass er erst nach einer Periode der proletarischen Diktatur, die das ultimative Verschwinden jeglicher staatlichen Form anstrebt, eingeleitet werden könne. Das Prinzip der proletarischen Diktatur wurde durch die Praxis der Pariser Kommune vollkommen bestätigt;

- bestand Marx entgegen der Forderung des Gothaer Programms nach „gerechter Verteilung" des gesellschaftlichen Produkts darauf, dass der Schlüssel jeder Bewegung zum Kommunismus die Abschaffung des Tausches und des Wertgesetzes sei;

- sprach Marx über eine Bewegung von der niederen zur höheren Stufe des Kommunismus, während das Gothaer Programm Sozialismus mit Staatseigentum verwechselte. In der ersten Stufe sei die Gesellschaft noch vom Mangel und durch das Gepräge der alten Gesellschaft gezeichnet. Die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse müssen mit Maßnahmen bekämpft werden, die die Rückkehr des Strebens nach Wertanhäufung verhindern. Solch eine Übergangsmaßnahme war das System der Arbeitsgutscheine, in denen Marx einen Schritt zur Abschaffung des Lohnsystems sah, auch wenn dies noch von „bürgerlichem Recht" eingeschränkt war.

10. „Anarchismus oder Kommunismus" (International Review, Nr. 79)

Der Kampf gegen die offen bürgerlichen Einflüsse des „Staatssozialismus" ging mit dem Kampf gegen die Überbleibsel der im Anarchismus verkörperten kleinbürgerlichen Ideologie einher. Dies war keine neue Auseinandersetzung: In Werken wie Das Elend der Philosophie hatte sich der Marxismus bereits gegen die proudhonistische Nostalgie für eine Gesellschaft von unabhängigen Produzenten, vermittelt durch den „gerechten Austausch", ausgesprochen. Ab den 1860er Jahren schien sich der Anarchismus weiterentwickelt zu haben, betrachtete sich doch zumindest Bakunins Strömung nun als kollektivistisch, ja kommunistisch. Doch in Wahrheit war auch der Bakunismus in seinem Kern der Arbeiterbewegung nicht weniger fremd als die proudhonistische Ideologie, abgesehen vom Nachteil, dass Ersterer nicht mehr als Ausdruck der Unreife der Arbeiterbewegung betrachtet werden kann, sondern sich von Anfang an gegen den fundamentalen Fortschritt richtete, der von der marxistischen Weltanschauung verkörpert wurde.

Der Konflikt zwischen Marxismus und Bakunismus, zwischen dem proletarischen und dem kleinbürgerlichen Standpunkt wurde auf mehreren Ebenen ausgefochten:

- die Frage der Organisation: Bakunins Beitrag zum Leben der Internationale bestand darin, als Verteidiger der Freiheit und lokalen Autonomie gegen übertrieben zentralistische Tendenzen, die sich im Zentralrat der Internationale ausdrückten, zu posieren. Doch die Zentralisierung ist ein organischer Ausdruck des Bedürfnisses des Proletariats nach Einheit, wohingegen die Bakunisten den Zentralrat auf einen bloßen Briefkasten stutzen wollten, um die Fähigkeit der Internationale, mit einer Stimme gegen den Klassenfeind zu sprechen, zu liquidieren. Dieses Projekt konnte nur Unordnung in den Reihen der proletarischen Bewegung stiften. Gleichzeitig waren seine Reden über Freiheit und Autonomie reine Heuchelei, da das ganze Ziel des Bakunismus darin bestand, die Internationale via eines äußerst „autoritären" Geheimordens zu infiltrieren, der auf dem freimaurerischen Modell basierte, mit „Bürger B" - Bakunin - an seiner Spitze. Der Kampf für organisatorische Prinzipien des Proletariats - der auf Transparenz und klaren Richtlinien für die Verantwortlichkeiten fußt - gegen die kleinbürgerlichen Intrigen des Bakunin-Clans war die Schlüsselfrage auf dem Kongress der Internationale 1872;

- die historische Methode: Während die marxistische Strömung für die Methode des historischen Materialismus stand, für das Verständnis, dass das Handeln der Arbeiterbewegung im Verhältnis zu den objektiven historischen Bedingungen, mit denen sie konfrontiert ist, definiert werden muss, lehnte Bakunin dieses Vorgehen ab und befürwortete den Gedanken einer ewig gültigen Freiheit und Gerechtigkeit, wobei er argumentierte, dass die Revolution jederzeit möglich sei;

- das Subjekt der Revolution: Während der Marxismus erkannt hatte, dass die Klasse, die einzig und allein dazu bestimmt ist, die Revolution anzuführen - das moderne Proletariat -, sich noch im Formierungsprozess befand, standen die Bakunisten, für die die Revolution ein Großbrand war, der gleichermaßen von Bauern, Halbproletariern und Banditen-Rebellen wie von Arbeitern entfacht werden konnte, dem gleichgültig gegenüber;

- der politische Charakter des Klassenkampfes: Da für die Marxisten die kommunistische Revolution noch nicht auf der Tagesordnung der Geschichte stand, war es für die Arbeiterklasse notwendig, sich selbst als politische Kraft innerhalb der Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft zu konsolidieren, was bedeutete, sich selbst in Gewerkschaften und ähnlichen Verteidigungsorganen zu organisieren und auf dem bürgerlichen politischen Terrain des Parlaments zu intervenieren, um die eigenen Interessen auf legale Weise durchzusetzen. Die Bakunisten jedoch lehnten jegliche parlamentarische Tätigkeit prinzipiell und - oberflächlich zumindest - überhaupt jeglichen Kampf ab, der nicht der Abschaffung des Kapitalismus galt; ferner erforderte - nach ihnen - der Sturz des Kapitalismus nicht die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse, sondern die unmittelbare „Auflösung" jeglicher Staatsform. Die Marxisten dagegen zogen die wirklichen Lehren aus der Kommune: dass die Arbeiterrevolution in der Tat die Ergreifung der politischen Macht bedeutet, dass aber diese Macht neuartig ist - eine Macht, mit der das gesamte Proletariat, besser als jede privilegierte Elite, direkt die Verwaltung des politischen und wirtschaftlichen Lebens ausüben kann. Und in der Praxis erwiesen sich die ultrarevolutionären Sprüche der Anarchisten als dünnes Furnier über ihrer opportunistischen Rolle als Wurmfortsatz der Bourgeoisie, wie sich in Spanien zeigte, wo sie sich an den lokalen Behörden beteiligten, die sich keineswegs vom kapitalistischen Staat getrennt hatten;

- die Frage der künftigen Gesellschaft: Der wahre Charakter des Anarchismus als Widerspiegelung der konservativen Weltanschauung kleinbürgerlicher Schichten, die von der Kapitalkonzentration ruiniert worden waren, war nirgendwo deutlicher als in ihrer Vision einer künftigen Gesellschaft. Dies trifft auf die „kollektivistischen" Bakunisten nicht weniger zu als auf Proudhon: Besonders Guillaumes Text „Über den Aufbau der neuen Gesellschaft" betont, dass die vielen Produzenten-Assoziationen und Kommunen, die nach der Revolution ins Leben gerufen werden, mit den guten Diensten einer „Tauschbank" verknüpft werden sollten, die das Geschäft des Kaufs und Verkaufs für die Gesellschaft organisiert. Im Gegensatz dazu beharrten die Marxisten darauf, dass in einer wirklich „kollektivistischen" Gesellschaft die Produzenten nicht ihre Produkte austauschen, da diese bereits Produkt und „Eigentum" der Gesamtheit der Gesellschaft sind. Die Fortführung der Warenverhältnisse kann nur eine Reflexion auf die Existenz von Privateigentum sein und dient als Humus für das Wachsen neuer Formen des Kapitalismus.

11. „Der späte Marx: vergangener und zukünftiger Kommunismus" (International Review, Nr. 81)

Während seiner letzten Lebensjahre widmete Marx einen Gutteil seiner intellektuellen Energie dem Studium archaischer Gesellschaften. Die Veröffentlichung von Morgans Ancient Society und Fragen, die ihm von der russischen Arbeiterbewegung über die Perspektive einer Revolution in Russland gestellt wurden, veranlassten ihn zu einem intensiven Studium, das uns zwar sehr unvollständige, aber äußerst wichtige Ethnologische Notizbücher hinterlassen hat. Diese Studien regten auch Engels‘ großes anthropologisches Werk Über die Ursprünge der Familie, des Privateigentums und des Staates an.

Morgans Werk über die nordamerikanischen Indianer war für Marx und Engels eine klare Bestätigung ihrer Thesen über den primitiven Kommunismus: Entgegen der konventionellen bürgerlichen Vorstellung, dass Privateigentum, gesellschaftliche Hierarchie und geschlechtliche Ungleichheit der menschlichen Natur immanent sind, enthüllte Morgans Untersuchung: Je älter die Gesellschaftsformation, desto mehr Gemeineigentum, desto kollektiver der Entscheidungsprozess, desto mehr fußte das Verhältnis zwischen Mann und Frau auf gegenseitigem Respekt. Dies bedeutete eine ungeheure Unterstützung für das kommunistische Argument gegen die Mythen der Bourgeoisie. Gleichzeitig befand sich das Hauptobjekt von Morgans Untersuchungen - die Gesellschaft der Irokesen - bereits im Übergang von der früheren Form der „Wildheit" zur Stufe der Zivilisation oder Klassengesellschaft; und die Formen des Erbrechts, die im Clan bzw. im Gens-System eingepflanzt waren, stellten schon die Keime des Privateigentums dar, der den Humus für die Entstehung der Klassen und des Staates bilden sowie für die „historische Niederlage des weiblichen Geschlechts" sorgen sollte.

Marx‘ Annäherung an die primitive Gesellschaft basierte auf seiner materialistischen Methode, die die historische Entwicklung von Gesellschaften als in letzter Instanz durch die Änderungen in ihrer ökonomischen Produktionsweisen bestimmt sieht. Diese Änderungen brachten das Ableben der primitiven Gemeinde mit sich und ebneten den Weg für das Erscheinen entwickelterer Gesellschaftsformationen. Doch diese Sichtweise des historischen Fortschreitens war dem kruden bürgerlichen Evolutionismus radikal entgegengesetzt, der einen rein linearen Aufstieg aus der Dunkelheit ans Licht sah, welcher in der blendenden Pracht der bürgerlichen Zivilisation kulminierte. Marx‘ Sichtweise war vollkommen dialektisch: Weit davon entfernt, die primitive kommunistische Gesellschaft als halb-menschlich abzutun, drücken die Notizbücher einen tiefen Respekt für die menschlichen Qualitäten der Stammesgemeinschaft aus: ihre Fähigkeit zur Selbstregierung, die unvorstellbare Kraft ihrer künstlerischen Kreationen, ihre Geschlechtergleichheit. Die einschränkenden Begleiterscheinungen der primitiven Gesellschaft - insbesondere die Restriktionen für das Individuum und die Separierung der Menschheit in getrennte Stammeseinheiten - wurden vom historischen Fortschritt überwunden. Doch die positive Seite dieser Gesellschaften wird in der kommunistischen Zukunft auf einer höheren Ebene wiederhergestellt werden müssen.

Im Gegensatz zu jenen, die einen Keil zwischen Marx und Engels zu treiben versuchten, indem sie Letzteren beschuldigten, ein gewöhnlicher „Evolutionist" zu sein, wurde diese dialektische Sichtweise der Geschichte von Engels geteilt, was deutlich in Der Ursprung der Familie... demonstriert wird.

Das Problem der primitiven und vor-kapitalistischen Gesellschaften war nicht einfach eine Frage der Vergangenheit. Die 1870er und 1880er Jahre waren eine Zeit, in der sich der Kapitalismus, nachdem er die Aufgaben der bürgerlichen Revolution im alten Europa erfüllt hatte, auf die imperialistische Phase zubewegte, in der die verbliebenen nicht-kapitalistischen Gebiete des Globus‘ aufgeteilt wurden. Die proletarische Bewegung musste also eine klare Position zur Kolonialfrage beziehen, nicht zuletzt weil es in ihren Reihen Strömungen gab, die den Begriff des „sozialistischen Kolonialismus" vertraten, eine frühe Form des Chauvinismus, dessen ganze Gefahr sich 1914 entblößte.

Die Unterstützung der fortschrittlichen Mission des Imperialismus stand für die Revolutionäre außer Frage. Doch da weite Teile des Planeten noch von vor-kapitalistischen Produktionsformen beherrscht wurden, war es notwendig, eine kommunistische Perspektive für diese Regionen zu erarbeiten. Dies wurde in der russischen Frage konkretisiert: Die Begründer des Kommunismus in Russland schrieben an Marx, um ihn über seine Haltung gegenüber dem archaischen Kommunismus, der agrarischen Mir, zu befragen, die im zaristischen Russland überlebt hatte. Könnte diese Formation als Grundlage für eine kommunistische Entwicklung in Russland dienen? Und - im Gegensatz zu den Erwartungen einiger seiner „marxistischen" Anhänger in Russland, die sich über den Inhalt der Antwort von Marx ausschwiegen - zog Marx den Schluss, dass es keine unvermeidliche Stufe der „bürgerlichen Revolution" in Russland geben muss und dass die Agrargemeinde durchaus als Grundlage für eine kommunistische Umwandlung dienen kann. Doch es gab einen wichtigen Vorbehalt: Dies kann nur geschehen, wenn die russische Revolution gegen den Zarismus das Signal zu einer proletarischen Revolution im Westen ist.

Diese ganze Episode zeigt, dass die Methode von Marx keineswegs beschränkt oder orthodox war. Im Gegenteil, er lehnte die groben Schemata der historischen Entwicklung ab, die einige Marxisten aus seinen Prämissen zogen, und prüfte sowie revidierte, sofern notwendig, stets seine Schlussfolgerungen. Doch sie offenbart auch seine prophetische Gabe: Auch wenn die kapitalistische Entwicklung in Russland die Mir im Wesentlichen unterminierte, sollte Marx‘ Ablehnung einer Stufentheorie der Revolution in Russland einen Nachhall in Trotzkis Theorie der permanenten Revolution und in Lenins Aprilthesen finden, die Marx in der Erkenntnis folgten, dass das Schicksal einer revolutionären Umwälzung in Russland unmittelbar mit der proletarischen Revolution in Westeuropa verknüpft war.

12. „1883-1895: Die Sozialdemokratie treibt die Sache des Kommunismus voran" (International Review, Nr. 84)

Das Aufkommen „sozialdemokratischer" Parteien in Europa war ein wichtiger Ausdruck der Wiederbelebung des Proletariats nach der niederschmetternden Niederlage der Kommune. Trotz ihrer Irritation über den Begriff „Sozialdemokratie" unterstützten Marx und Engels enthusiastisch die Bildung dieser Parteien, die einen Fortschritt gegenüber der Internationale in zwei Punkten markierten: Erstens verkörperten sie eine klarere Unterscheidung zwischen den allgemeinen Einheitsorganen der Klasse (damals besonders die Gewerkschaften) und der politischen Organisation, die die fortgeschrittensten Elemente der Klasse um sich scharte. Und zweitens konstituierten sie sich auf der Grundlage des Marxismus.

Zweifellos gab es von Anbeginn ernsthafte Schwächen in den programmatischen Grundlagen dieser Parteien. Auch die marxistische Führung in ihnen war häufig von all dem ideologischen Ballast erdrückt; und mit dem Wachsen ihres Einflusses wurden sie zu einem Anziehungspunkt für alle Arten bürgerlicher Reformisten, die sich feindlich gegenüber dem Marxismus verhielten. Die Periode der kapitalistischen Expansion Ende des 19. Jahrhunderts schuf die Bedingungen für die Zunahme eines immer offeneren Opportunismus innerhalb dieser Parteien, für einen Prozess der inneren Degenerierung, der im großen Verrat von 1914 kulminierte.

Dies hatte viele pseudoradikale politische Strömungen, die gewöhnlich behaupteten, kommunistisch zu sein, aber tief vom Anarchismus beeinflusst waren, dazu verleitet, die ganze Erfahrung der Sozialdemokratie en bloc abzulehnen, sie als eine Widerspiegelung und Adaption der bürgerlichen Gesellschaft abzutun. Doch damit wurde die tatsächliche Kontinuität der proletarischen Bewegung und die Art und Weise, in der sie zu einem Verständnis für ihr historisches Ziel gelangt, völlig verleugnet. Die besten Elemente der kommunistischen Bewegung im 20. Jahrhundert - von Lenin bis Luxemburg, von Bordiga bis Pannekoek - gingen durch die Schule der Sozialdemokratie und hätten ohne sie nicht existiert. Es ist kein Zufall, dass die ahistorische Methode, die zur pauschalen Verurteilung der Sozialdemokratie führte, immer häufiger damit schloss, Engels, ja den Marxismus selbst in den Mülleimer der Geschichte zu werfen, und somit die anarchistischen Wurzeln ihrer Denkweise enthüllte.

Entgegen der Versuche, Engels von Marx zu trennen und ihn als gewöhnlichen Reformisten darzustellen, ist es evident, dass Engels‘ Polemik gegen die realen bürgerlichen Einflüsse, die auf die Sozialdemokratie wirkten, - insbesondere sein Anti-Dühring - eine fulminante Verteidigung kommunistischer Prinzipien darstellte:

- die Bestätigung der unlösbaren Widersprüche des Kapitalismus, die in der eigentlichen Natur der Produktion und der Realisierung des Mehrwerts liegen;

- die Kritik an der Staatsintervention, die als eine Assoziation der Produzenten dargestellt wird, die sich der Lohnarbeit und Warenproduktion entledigt hat;

- die wiederholte Feststellung, dass das höchste Ziel des Kommunismus die Überwindung der Entfremdung und der wahre Beginn der menschlichen Geschichte ist.

Auch war Engels kein einsamer Rufer in den sozialdemokratischen Parteien. Ein kurzes Studium des Werkes von August Bebel und William Morris bestätigt dies: Die Befürwortung der Idee, dass der Kapitalismus überwunden werden müsse, weil seine Widersprüche in wachsende Katastrophen für die Menschheit mündeten; die Ablehnung der Identifizierung des Staatseigentums mit dem Sozialismus; die Notwendigkeit für die revolutionäre Arbeiterklasse, eine neue Form der Macht zu etablieren, wie sie von der Pariser Kommune vorgezeichnet wurde; die Erkenntnis, dass der Sozialismus die Abschaffung von Handel und Geld beinhaltet; das Verständnis, dass der Sozialismus nicht in einem Land errichtet werden kann, sondern die vereinte Aktion des Weltproletariats erfordert; die internationalistische Kritik am kapitalistischen Kolonialismus und die Ablehnung des nationalen Chauvinismus vor allem im Zusammenhang mit den zunehmenden Rivalitäten zwischen den imperialistischen Großmächten - diese Positionen waren den sozialdemokratischen Parteien nicht fremd, sondern drückten ihren fundamental proletarischen Kern aus.

13. „Die Umwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse: Wie die Revolutionäre am Ende des 19. Jahrhunderts die Frage betrachtete" (International Review, Nr. 85)

Nur wenn man sich des Mythos‘ entledigt, dass die Sozialdemokratie vor 1914 einen bürgerlichen Charakter besessen habe, kann man eine seriöse Untersuchung über die Stärken und die Grenzen der Art und Weise anstellen, in der sich die Revolutionäre die Umwandlung des Gesellschaftslebens und die Eliminierung einiger der drückendsten Probleme der Menschheit vorstellen konnten.

Eine wichtige Frage, die sich dem kommunistischen Denken im 19. Jahrhundert stellte, war die „Frauenfrage". Schon in den Manuskripten von 1844 hatte Marx argumentiert, dass das Verhältnis zwischen Mann und Frau in jeder Gesellschaft ein Schlüssel zum Verständnis war, wie nah oder wie weit die betreffende Gesellschaft von der Verwirklichung des Menschen entfernt war. Die Werke von Engels, Über die Ursprünge der Familie, des Privateigentums und des Staates an, und von Bebel, Die Frau und der Sozialismus, bezeugten die historische Weiterentwicklung der Frauenunterdrückung, die mit der Abschaffung des primitiven Kommunismus und dem Auftreten des Privateigentums einen großen Schritt tat, jedoch auch in den entwickeltsten Formen der kapitalistischen Zivilisation ungelöst blieb. Diese historische Annäherung ist per Definition eine Kritik an der feministischen Ideologie, die dazu neigt, die Unterdrückung der Frauen zu einem angeborenen, biologischen Element des Mannes und somit zu einem ewigen Attribut der menschlichen Bedingungen zu machen. Auch wenn der Feminismus sich hinter einer scheinbar radikalen Kritik am Sozialismus versteckte, dem sie eine rein ökonomische Transformation vorhält, offenbarte er seine im Wesentlichen konservative Herangehensweise. Der Kommunismus ist keineswegs eine rein ökonomische Umwandlung. Denn so wie er beginnt, nämlich mit dem politischen Sturz des bürgerlichen Staates, so erfordert sein äußerstes Ziel - die tief greifende Umwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse - die Eliminierung eben jener ökonomischen Kräfte, die sich hinter dem Konflikt zwischen Mann und Frau sowie hinter der Umwandlung der Sexualität in eine Ware verbergen.

So wie der Feminismus den Marxismus fälschlicherweise beschuldigt, „nicht weit genug zu gehen", so behaupten die Umweltaktivisten - indem sie die Lüge wiederholen, dass Marxismus gleich Stalinismus ist - , dass der Marxismus nur eine weitere „produktivistische" Ideologie sei, die für die Vergewaltigung der natürlichen Umwelt im 20. Jahrhundert mit verantwortlich sei. Dieser Vorwurf wurde auch auf einer etwas philosophischeren Ebene geäußert, besonders gegen die Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts, deren Methodik oft mit einer rein mechanistischen Art des Materialismus identifiziert wurde, mit einem unkritischen „Wissenschaftskult", der dazu neige, den Menschen von der natürlichen Welt zu abstrahieren, so wie er vom Kapital behandelt wird: als ein totes Ding, das gekauft, verkauft und ausgebeutet werden kann. Auch hier befindet sich Engels oft unter den als schuldig Ausgemachten. Doch auch wenn es zutrifft, dass diese mechanistischen Tendenzen innerhalb der sozialdemokratischen Parteien existierten und gar überhand nahmen, als sich der Degenerationsprozess beschleunigte, so ist es genauso richtig, dass ihre besten Elemente stets ein ganz anderes Vorgehen vertraten. Und auch hier gibt es eine vollkommene Kontinuität zwischen Marx und Engels, nämlich in der Erkenntnis, dass die Menschheit Teil der Natur ist und dass der Kommunismus nach Jahrtausenden der Entfremdung eine echte Aussöhnung zwischen Mensch und Natur bringen wird.

Diese Vision beschränkte sich nicht auf eine unerreichbar ferne Zukunft; in den Werken von Marx, Engels, Bebel und anderen gründete sie sich auf ein konkretes Programm, das das Proletariat in Gang setzen müsse, sobald es an die Macht gelangt sei. Dieses Programm wurde in der Formulierung zusammengefasst: „Abschaffung der Trennung zwischen Stadt und Land". Der Stalinismus an der Macht interpretierte diese Phrase auf seine Weise - mit der Rechtfertigung der Vergiftung des Landes und des Aufbaus von öden Baracken, in denen die ArbeiterInnen hausen sollten. Doch für die wirklichen Marxisten des 19. Jahrhunderts bedeutete die Phrase „Abschaffung der Trennung zwischen Stadt und Land" nicht eine besessene Urbanisierung des Globus, sondern die Eliminierung der überquellenden Städte und die harmonische Verteilung der Menschheit auf dem ganzen Planeten. Dieses Projekt ist in der heutigen Welt der unermesslichen Megacitys und der zügellosen Vergiftung der Umwelt mehr denn je relevant.

14. „Die Umwandlung der Arbeit nach den Vorstellungen der Revolutionäre des späten 19. Jahrhunderts" (International Review, Nr. 86)

Als Künstler, der sich mit Haut und Haaren der sozialistischen Bewegung angeschlossen hatte, befand sich William Morris an der richtigen Stelle, um über die Umwandlung der Arbeit in einer kommunistischen Gesellschaft zu schreiben, da er sowohl den Seelen zerstörenden Charakter der Arbeit im Kapitalismus als auch die radikalen Möglichkeiten kannte, entfremdete Arbeit durch eine wahrhaft schöpferische Tätigkeit zu ersetzen. In seinem visionären Roman Kunde aus dem Nirgendwo wird schlicht festgestellt, dass „Glück ohne glückliches Tageswerk unmöglich" ist. Dies stimmt perfekt mit der marxistischen Konzeption, die Arbeit ins Zentrum des menschlichen Leben zu rücken, überein: Der Mensch hat sich selbst durch Arbeit geschaffen, aber er hat sich unter Bedingungen geschaffen, die seine Entfremdung erzeugten. Aus diesem Grund kann die Überwindung der Entfremdung nicht ohne eine gründliche Umwandlung der Arbeit erreicht werden.

Der Kommunismus ist im Gegensatz zu einigen, die in seinem Namen sprechen, nicht „gegen die Arbeit". Selbst im Kapitalismus drückt die Ideologie der „Arbeitsverweigerung" eine rein individuelle Revolte marginaler Klassen oder Schichten aus. Und eine der ersten Maßnahmen der proletarischen Macht wird es sein, eine allgemeine Arbeitspflicht durchzusetzen. In seinen Frühphasen enthält der revolutionäre Prozess unvermeidlich ein Element der Einschränkung, da es unmöglich ist, den Mangel ohne eine mehr oder weniger lange Übergangsperiode abzuschaffen, die sicherlich beträchtliche materielle Opfer beinhaltet, besonders in der Anfangsphase des Bürgerkriegs gegen die alte herrschende Klasse. Doch das Fortschreiten zum Kommunismus kann an dem Grad gemessen werden, mit dem die Arbeit aufhört, eine Form des Opfers zu sein, und zu einem positiven Vergnügen wird. In seinem Essay Nützliche Arbeit versus unnützliche Arbeit identifiziert Morris drei wesentliche Aspekte der Arbeit:

- dass die Arbeit von der „Hoffnung auf Erholung" beseelt ist: Die Reduzierung des Arbeitstages muss ein unmittelbares Mittel der siegreichen Revolution sein, andernfalls wird es für die Mehrheit der Arbeiterklasse unmöglich sein, eine aktive Rolle im revolutionären Prozess zu spielen. Der Kapitalismus hat bereits die Bedingungen für diese Maßnahme geschaffen, indem er die Technologie entwickelte, die - wenn sie einmal vom Profitstreben befreit ist - sehr gut dazu benutzt werden kann, die Menge an repetitiven und unangenehmen Aufgaben, die im Arbeitsprozess involviert sind, zu reduzieren. Gleichzeitig könnte die riesige Masse an menschlicher Arbeitskraft, die in der kapitalistischen Produktion überflüssig zu werden droht - in Gestalt massiver Arbeitslosigkeit oder in Form von Arbeit, die keinem nützlichen Zweck dient (Bürokratie, Rüstungsproduktion, etc.) -, für nützlichere Produktion oder Dienste eingesetzt werden. Auch dies würde helfen, den Arbeitstag für alle zu reduzieren. Diese Beobachtungen wurden bereits von Engels, Bebel und Morris gemacht, und sie treffen in der dekadenten Epoche des Kapitalismus mehr denn je zu;

- dass es eine „Hoffnung auf Ergebnisse" gibt: Mit anderen Worten, die Arbeiter sollten ein Interesse daran haben, was produziert wird, sei es, weil dies wichtig für die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse ist oder schlicht wegen der eigentlichen Schönheit des Produktes. Schon zu Lebzeiten von Morris besaß der Kapitalismus eine große Gabe darin, schäbige und nutzlose Produkte herzustellen, doch die Massenproduktion von Trödel und Hässlichem im dekadenten Kapitalismus würde wahrscheinlich seine schlimmsten Albträume übertreffen;

- dass es eine „Hoffnung auf Vergnügen an der Arbeit selbst" gibt. Morris und Bebel bestehen darauf, dass die Arbeit in angenehmen Umständen ausgeführt werden soll. Im Kapitalismus ist die Fabrik ein Modell für die Hölle auf Erden; die kommunistische Produktion wird den assoziierten Charakter der Fabrikarbeit erhalten, jedoch in einer ganz unterschiedlichen Umgebung. Gleichzeitig muss die kapitalistische Arbeitsteilung - die so viele ProletarierInnen dazu verdammt, stumpfsinnige, repetitive Arbeiten zu verrichten - überwunden werden, so dass jeder Produzent eine Balance zwischen körperlicher und geistiger Arbeit erreicht und imstande ist, sich selbst einer Vielfalt von Aufgaben zu widmen und eine Vielzahl an Fertigkeiten zu entwickeln, um eben diese Aufgaben auszuführen. Darüber hinaus wird die Arbeit der Zukunft vom frenetischen Tempo befreit sein, das die Jagd nach den Profiten erfordert, und den menschlichen Bedürfnissen und Wünschen angepasst sein.

Fourier mit seiner bemerkenswerten Vorstellungskraft hat im Zusammenhang mit seinen „Phalansterien" von einer Arbeit gesprochen, die auf „leidenschaftlicher Anziehung" basierte. Er ging davon aus, dass die tägliche Arbeit gleichsam zum Spiel wird. Marx, der Fourier sehr bewunderte, argumentierte, dass wirklich schöpferische Arbeit auch eine „verdammt ernste Angelegenheit" sei oder, wie er es in den Grundrissen nannte: „Ein Mensch kann nicht wieder zum Kind werden, ohne kindlich zu werden". Jedoch fährt er fort: „Aber findet er nicht Freude an der Naivität des Kindes und muss er sich nicht anstrengen um auf einem höheren Niveau zur Wahrheit zu gelangen?" (eigene Übersetzung). Die kommunistische Tätigkeit wird den alten Gegensatz zwischen Arbeit und Spiel überwunden haben.

Diese Skizzen der kommunistischen Zukunft waren nicht utopisch, da der Marxismus bereits demonstriert hatte, dass der Kapitalismus die materiellen Bedingungen dafür geschaffen hatte, damit die tägliche Arbeit endlich dergestalt umgewandelt wird. Der Marxismus hat zudem die gesellschaftliche Kraft identifiziert, die dazu gezwungen wird, diese Umwandlung vorzunehmen, eben weil sie das letzte Opfer der Entfremdung der Arbeit ist.

15. „1895-1905: Parlamentarische Illusionen verbergen die Perspektive der Revolution" (International Review, Nr. 88)

Die Diktatur des Proletariats war seit Anfang an ein fundamentales Konzept des Marxismus gewesen. Frühere Artikel zeigten, dass sie nie eine statische Idee war, sondern weiterentwickelt wurde und im Lichte des proletarischen Kampfes immer konkreter wurde. Desgleichen war die Verteidigung der proletarischen Diktatur gegen die vielen Formen des Opportunismus stets ein konstantes Element im Werdegang des Marxismus gewesen. So war Marx 1875, als er seine Argumente auf die Erfahrungen der Pariser Kommune stützte, in der Lage, eine vernichtende Kritik am Lassalleanischen Begriff des „Volksstaates" zu üben, der im Gothaer Programm der neuen Sozialdemokratischen Partei in Deutschland Eingang gefunden hatte.

Gleichzeitig beinhaltet dies, da die Perspektive der proletarischen Macht aus dem erbarmungslosen Kampf gegen die vorherrschende Ideologie geboren wird, auch einen Kampf gegen die Auswirkungen, den diese Ideologie selbst auf die scharfsinnigsten Fraktionen der Arbeiterbewegung hatte. Selbst nach der Erfahrung der Pariser Kommune hielt Marx zum Beispiel in einer Rede vor dem Haager Kongress von 1872 daran fest, dass in zumindest einigen Ländern das Proletariat friedlich, mittels des demokratischen Apparates des existierenden Staates, zur Macht gelangen könne.

In den 1880er Jahren wurde die deutsche Partei - die führende Partei in der internationalen Bewegung - vom Bismarck-Regime für außergesetzlich erklärt, was ihre revolutionäre Integrität zu bewahren half. Selbst da, wo Zugeständnisse gegenüber der bürgerlichen Demokratie fortbestanden, war es die vorherrschende Ansicht, dass die proletarische Revolution notwendigerweise den erzwungenen Sturz der Bourgeoisie erfordert. Und die fundamentale Lehre aus der Kommune - dass der herrschende Staat nicht erobert werden kann, sondern in Stücke zerschlagen werden muss - war keineswegs vergessen worden.

In der sich anschließenden Periode jedoch schuf die Legalisierung der Partei, der Zustrom von kleinbürgerlichen Elementen und vor allem die spektakuläre Expansion des Kapitalismus sowie der daraus folgende Zugewinn an realen Reformen für die Arbeiterklasse den Boden für das Wachstum eines deutlicher prononcierten Reformismus innerhalb der Partei. Der Aufstieg einer „staatssozialistischen" Tendenz um Vollmar und insbesondere die revisionistischen Theorien von Eduard Bernstein strebten danach, die sozialistische Bewegung davon zu überzeugen, ihre Ansprüche zugunsten einer gewaltsamen Revolution aufzugeben und sich offen zur Partei der demokratischen Reform zu erklären.

In einer proletarischen Partei trifft eine solch offenkundige Penetration bürgerlicher Einflüsse unvermeidlich auf den erbitterten Widerstand jener, die das proletarische Herz der Organisation repräsentieren. In der deutschen Partei trat den opportunistischen Tendenzen am famosesten Rosa Luxemburg mit ihrer Schrift Sozialreform oder Revolution entgegen, doch der Aufstieg linker Faktionen war ein internationales Phänomen.

Zunächst schienen die Schlachten, die von Luxemburg, Lenin und anderen angeführt wurden, erfolgreich zu sein. Die Revisionisten wurden nicht nur von der Roten Rosa, sondern auch vom „Papst" des Marxismus, Karl Kautsky, verdammt.

Nichtsdestotrotz erwiesen sich die Siege der Linken als zerbrechlicher, als sie zunächst erschienen. Die Ideologie der Demokratie drang langsam in die gesamte Bewegung ein; selbst Engels blieb nicht davon ausgenommen. In seiner 1895er Einführung zu Die Klassenkämpfe in Frankreich von Marx wies Engels richtigerweise darauf hin, dass eine simple Flucht auf die Barrikaden und in den Straßenkampf nicht mehr ausreichte, um das alte Regime ins Wanken zu bringen, und dass das Proletariat das Kräftegleichgewicht massiv zu seinem Gunsten beeinflussen müsse, ehe es zum Angriff bläst. Dieser Text wurde von der Führung der deutschen Partei so verzerrt, dass es den Anschein hatte, als sei Engels gegen jegliche proletarische Gewalt. Doch die Opportunisten waren, wie Luxemburg später hervorhob, nur deswegen dazu in der Lage gewesen, weil es in der Tat Schwächen in Engels‘ Argumentation gab: Die Schaffung einer politischen Kraft des Proletariats wurde mehr oder weniger mit dem allmählichen Wachstum der sozialdemokratischen Parteien und ihres Einflusses auf der parlamentarischen Bühne identifiziert.

Dieser Fokus auf den parlamentarischen Gradualismus wurde besonders von Kautsky theoretisiert, der unbestritten gegen die offenen Revisionisten opponierte, aber in wachsendem Maße für ein konservatives „Zentrum" stand, das eine Scheineinheit der Partei höher bewertete als die programmatische Klarheit. In solch folgenreichen Werken wie Die soziale Revolution setzte Kautsky die proletarische Machtergreifung mit der Erringung der parlamentarischen Mehrheit gleich, auch wenn er klar machte, dass auch in solch einer Lage die Arbeiterklasse dazu bereit sein müsse, den Widerstand der Konterrevolution zu unterdrücken. Diese politische Strategie ging auch mit einem ökonomischen „Realismus" einher, der den wahren Inhalt des sozialistischen Programms - die Abschaffung der Lohnarbeit und der Warenproduktion - aus den Augen verlor und stattdessen den Sozialismus als staatliche Regulierung des Wirtschaftslebens betrachtete.

Der Artikel in der nächsten Ausgabe der Internationalen Revue wird die zweite Artikelserie zusammenfassen, die die Zeit zwischen 1905 und dem Ende der ersten großen internationalen revolutionären Welle umfasst. Zunächst wird er aufzeigen, wie die Frage von Form und Inhalt der Revolution durch eine scharfe Debatte über die neuen Formen des Klassenkampfes geklärt wurde, die zu entstehen begannen, als sich der Kapitalismus dem Scheitelpunkt zwischen seiner aufsteigenden und seiner dekadenten Epoche näherte.

 

CDW, 11. Dezember 2005

 

Theoretische Fragen: 

  • Kommunismus [4]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Marxismus: die Theorie der Revolution [12]

Editorial: Finanzkrise: Von der Liquiditätskrise zur Liquidierung des Kapitalismus

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Der Sommer 2007 war ein erneutes Beispiel dafür, wie der Kapitalismus in immer schneller wiederkehrende Krisen stürzt: die imperialistische Barbarei mit den andauernden Blutbädern unter Zivilisten im Irak; die Verwüstungen aufgrund der Klimaerwärmung, welche ihre Ursachen in der unaufhörlichen Jagd nach Profit hat; und eine erneute ökonomische Krise, welche eine noch stärkere Verarmung der Weltbevölkerung ankündigt. Auf der anderen Seite entwickelt die Arbeiterklasse, welche als einzige Klasse fähig ist, die Menschheit zu retten, ein immer größeres Misstrauen gegenüber dem Kapitalismus. Wir wollen hier aber auf die ökonomische Krise eingehen, die dramatischen Ereignisse im Immobiliensektor in den USA, welche die ganze internationale Finanzwelt und Ökonomie erschüttert hat.

Die Blase platzt

Die Krise wurde ausgelöst durch den Fall der Immobilienpreise in den USA, begleitet von einem Rückgang in der Bauindustrie und der Unfähigkeit zahlreicher Schuldner, die gestiegenen Zinsen zu bezahlen und Kredite abzustottern, welche heutzutage unter dem Namen „Subprime" oder Risikoanleihen bekannt sind. Von diesem Epizentrum aus haben sich die Erschütterungen auf das weltweite Finanzsystem ausgeweitet. Im August waren ganze Investmentfonds und Handelsbanken, welche Milliarden von Dollars in dieses riskante Geschäft gesteckt hatten, zusammengebrochen oder mussten gestützt werden. Selbst zwei „Hedge Funds" der amerikanischen Bear Sterns Bank verschwanden und mit ihnen eine Milliarde Dollar von Investoren. Die deutsche Bank ADF musste ebenfalls gerettet werden und die französische BNP Paribas wurde brutal erschüttert. Die Aktivitäten der Immobilienanleihen-Institute und anderer Banken waren stark gesunken, was zu einem Schwindel erregenden Sturz an allen großen Börsenplätzen führte und Milliarden von Dollar „akkumulierter Arbeit" zerstörte. Um dem Vertrauensverlust und dem Widerstand der Banken, neue Kredite zu gewähren, entgegenzusteuern, intervenierten die Zentralbanken - die amerikanische Notenbank FED und die Europäische Zentralbank EZB - und stellten neue Milliardenbeträge zu günstigeren Zinsen zur Verfügung. Dieses Geld war natürlich nicht für die hunderttausende von Leuten bestimmt, welche durch das „Subprime"-Fiasko das Dach über dem Kopf verloren hatten. Auch nicht für die Tausenden von Arbeitern, welche durch die Krise im Bausektor in die Arbeitslosigkeit geworfen wurden. Nein, sie waren für den Kreditmarkt selber bestimmt! Die Finanzinstitute welche enorme Mengen von Geldern verschwendet hatten wurden wieder aufgemöbelt, damit sie ihr Spekulantentum fortsetzen können. Doch all das löste die Krise natürlich nicht. In England führte es zur Farce.

Im September hatte die britische Staatsbank andere Zentralbanken kritisiert, weil sie riskanten und unvorsichtigen Investoren, welche die Krise beschleunigten, unter die Arme gegriffen hatten. Sie schlug eine andere Politik vor, die Schwarze Schafe bestraft und das Ausbrechen derselben Spekulationsprobleme verhindert soll. Doch schon am nächsten Tag machte Mervyn King, der Präsident der britischen Zentralbank, eine Kehrtwende. Die Bank musste den fünftgrößten Immobilienkreditgeber Englands, die Northern Rock Bank, retten. Deren „Unternehmensstrategie" bestand darin, auf dem Kreditmarkt mehr Geld auszuleihen, als den Leuten zur Verfügung zu stellen, welche Wohnungen zu höheren Zinsen kauften. Als die Kreditmärkte zusammenbrachen, ereilte die Northern Rock dasselbe Schicksal.

Auch noch nach der Nachricht von der Unterstützung der Bank bildeten sich enorme Schlangen vor deren Filialen: die Sparkontoinhaber wollten ihr Geld abheben, und in 3 Tagen wurden 2 Milliarden Pfund Sterling abgehoben. Dies war der erste Ansturm dieser Art vor einer englischen Bank seit 140 Jahren (1866). Um einem Ansteckungsrisiko vorzubeugen, musste die Regierung erneut intervenieren und eine hundertprozentige Garantie gegenüber den Kunden von Northern Rock und den Sparern anderer bedrohter Banken gewähren[1]. Am Ende war die „alte Dame der Threadneedle Street" - die Englische Zentralbank - gezwungen, in derselben Art und Weise wie andere Zentralbanken, welche sie zuvor kritisiert hatte, ungeheure Mengen von Geld ins zerbrechliche Bankensystem zu schleudern. Mit dem Resultat, dass die Glaubwürdigkeit der Leitung des Londoner Finanzzentrums, welches heute einen Viertel der britischen Wirtschaft ausmacht, ruiniert ist.

Der nächste Akt des ganzen Dramas, das zur Zeit der Redaktion dieses Artikels anhält, betrifft die Auswirkungen der Finanzkrise auf die Wirtschaft im Allgemeinen. Die erste Zinssenkung der FED seit fünf Jahren, die eine größere Erhältlichkeit von Krediten zum Ziel hat, ist bisher kein Erfolg. Sie konnte den fortschreitenden Zusammenbruch des Immobilienmarktes in den USA nicht aufhalten und bietet auch für all die 40 anderen Länder, in denen das Platzen der Spekulationsblase droht, keine Perspektive. Es konnten damit auch nicht erschwerte Bedingungen für Kredite verhindert werden und damit Auswirkungen auf Investitionen und die Verschuldung der Haushalte im Allgemeinen. Ganz im Gegenteil führte es zu einem raschen Fall des Dollars, welcher verglichen mit anderen Devisen an einen Tiefpunkt gelangt ist, seit Nixon den Dollar 1971 entwertete. Gleichzeitig verzeichnen nun der Euro und Rohstoffe wie Öl oder Gold einen Rekordstand.

All dies sind Anzeichen eines Einbruchs der Weltwirtschaft, einer offenen Rezession und Inflation in der nächsten Zeit.

Oder anders ausgedrückt: Die Wachstumsperiode der letzten sechs Jahre, basierend auf Hypotheken, Konsum und der gewaltigen auswärtigen Verschuldung des US-amerikanischen Staatsbudgets ist zu Ende.

So präsentiert sich die gegenwärtige wirtschaftliche Lage. Die Frage lautet nun: Befindet sich die sich abzeichnende und von allen erwartete Rezession lediglich im Rahmen des unvermeidlichen Auf und Ab einer gesunden kapitalistischen Wirtschaft, oder ist sie Zeichen einer Zersetzung, einer internen Panne des Kapitalismus, welche sich durch immer heftiger werdende Erschütterungen ausdrückt?

Um auf diese Frage eine Antwort geben zu können, ist es zuerst notwendig, die Auffassung zu beleuchten, nach der das Anwachsen der Spekulation und die daraus entspringende Kreditkrise lediglich eine Abweichung eines ansonsten gesunden Systems seien und durch die Kontrolle des Staates oder eine bessere Regulation im Griff behalten werden könnten. Oder mit anderen Worten: Ist die gegenwärtige Krise das Produkt von unverantwortungsvollen Spekulanten?

Die Rolle des Kredits im Kapitalismus

Die Entwicklung des Bankensystems, der Börse und anderer Kreditmechanismen ist ein integraler Bestandteil der Entwicklung des Kapitalismus seit dem 18. Jahrhundert. Sie waren notwendig zur Anhäufung und Zentralisierung von Geldern und ermöglichten für eine breite industrielle Expansion die notwendigen Investitionen, welche selbst der reichste Einzelkapitalist nicht aufbringen konnte. Die Vorstellung vom Industrieunternehmer, der Kapital anhäuft, indem er sein eigenes Geld einsetzt oder riskiert, ist eine Fiktion. Die Bourgeoisie benötigt den Zugriff auf Kapital, das bereits auf den Kreditmärkten konzentriert ist. Auf den Finanzmärkten pokern die Vertreter der herrschenden Klasse nicht mit ihrem individuellen Eigentum, sondern mit bereits angehäuftem, sozialem Reichtum in Geldform.

Der Kredit spielte im Vergleich zu früheren Epochen eine wichtige Rolle in der Steigerung der Produktivkräfte und in der Bildung eines Weltmarktes.

Auf der anderen Seite war aufgrund der dem Kapitalismus innewohnenden Tendenzen der Kredit auch ein gewaltiger Faktor bei der Überproduktion und der Überschätzung der Möglichkeiten des Marktes, Produkte aufzunehmen, und wurde somit zu einem Katalysator der Spekulationsblase mit ihrer Konsequenz der Krise und Austrocknung des Kredits. Gleichzeitig mit der Verursachung sozialer Katastrophen haben die Börsen und das Bankensystem die ganzen individuellen Sittenlosigkeiten wie Habgier und Doppelzüngigkeit gefördert, welche bezeichnend sind für eine ausbeutende Klasse, die von der Arbeit anderer lebt: Vermögensdelikte, fiktive Zahlungen, skandalöse Sonderleistungen, goldene Fallschirme (Abgangsentschädigungen von CEOs), Hinterziehung, oder schlicht und einfach Diebstahl, usw.

Die Spekulation, die riskanten Schulden, die Schwindeleien, die Börsenkrisen und das Verschwinden unglaublicher Mengen von Mehrwert sind ein fester Bestandteil der Anarchie der kapitalistischen Produktion.

Die Spekulation ist in Wirklichkeit eine Folge und nicht eine Ursache der kapitalistischen Krisen. Wenn es heute so scheint, als dominierten die spekulativen Finanzaktivitäten die gesamte Wirtschaft, dann lediglich deshalb, weil die kapitalistische Überproduktion seit mehr als 40 Jahren eine stetig tiefer werdende Krise verursacht, in der der Weltmarkt vollkommen mit Produkten übersättigt ist und die Investition in die Produktion immer weniger lukrativ wird. Das Finanzkapital hat keine andere Wahl, als zu spekulieren - das ist die heutige „Kasinoökonomie"[2].

Ein Kapitalismus ohne finanzielle Exzesse ist unvorstellbar. Sie sind ein typischer Teil der kapitalistischen Tendenz, so zu produzieren als hätte der Markt keine Schranken, und der Unfähigkeit selbst eines Allan Greenspan, des ehemaligen Präsidenten der FED, zu erkennen, dass „der Markt überschätzt wird".

Der kürzliche Zusammenbruch des Immobilenmarktes in den USA und anderen Ländern ist eine Illustration des wahren Verhältnisses zwischen der Überproduktion und dem Kreditzwang.

Der Immobiliensektor zeigt den Anachronismus der kapitalistischen Produktion auf

Die Krise im Immobilienmarkt erinnert an die Beschreibung der kapitalistischen Krise wie sie schon Marx im Kommunistischen Manifest 1848 formuliert hatte: „In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre - die Epidemie der Überproduktion. (...) Weil sie zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt."

So ist Obdachlosigkeit heutzutage nicht Resultat eines Mangels an Wohnungen oder Häusern, sondern paradoxerweise eines Überflusses, und es gibt eine regelrechte Überfülle an leeren Wohnungen und Häusern. Die Bauindustrie hat grenzenlos gearbeitet in den letzten fünf Jahren. Doch gleichzeitig ist die Kaufkraft der amerikanischen Arbeiter zurückgegangen, weil der amerikanische Kapitalismus seinen Profit erhöhen wollte. Es ist ein Graben entstanden zwischen den neu auf den Markt geworfenen Häusern und der Fähigkeit der Leute, welche diese wirklich benötigen, sie sich auch zu leisten. Die riskanten Darlehen - sprich „Subprimes" - hatten den Zweck, neue Käufer zu finden, welche sich dies aber gar nicht leisten konnten. Eine Quadratur des Zirkels! Schlussendlich brach der Markt zusammen. Heute werden immer mehr Hauseigentümer aus ihren vier Wänden herausgeschmissen, weil sie die steigenden Zinsen nicht mehr bezahlen können, und der Immobilienmarkt wird dadurch noch mehr gesättigt. In den USA wird erwartet, dass 3 Millionen Leute ihr Haus verlieren werden, weil sie ihre „Subprime"-Anleihen nicht zurück bezahlen können. Auch in anderen Ländern, in denen die Immobilienblase geplatzt oder auf gutem Weg dazu ist, zeichnet sich eine ähnliche Tragödie ab. Die gesteigerte Bautätigkeit und Hypothekengewährung in den letzten 10 Jahren, weit davon entfernt, die Obdachlosigkeit zu reduzieren, hat ein angenehmes Wohnen für einen großen Teil der Bevölkerung unerschwinglich gemacht und Hauseigentümer in eine prekäre Lage gebracht[3].

Was die Führer des kapitalistischen Systems - die „Hedge-Fund"-Manager, die Finanzminister, die Leiter der Zentralbanken, usw. - kümmert, ist nicht die menschliche Tragödie, welche durch das „Subprime"-Debakel ausgelöst wurde, nicht die Hoffnungen auf ein besseres Leben (oder nur dann, wenn es zu einer Infragestellung des Kapitalismus führt), sondern die Unfähigkeit der Konsumenten, die Wucherzinse für ihre Kredite zu bezahlen.

Das „Suprime"-Debakel zeigt deutlich die Krise des Kapitalismus auf, seine in der Jagd nach Profit begründete Tendenz zu einer Überproduktion, gemessen an der Kaufkraft der Märkte. Es zeigt seine Unfähigkeit auf, trotz der immensen materiellen, technologischen und menschlichen Ressourcen, die elementaren Bedürfnisse der Menschheit zu befriedigen[4].

Auch wenn das kapitalistische System im Lichte der heutigen Krise noch so absurd, verschwenderisch und anachronistisch erscheint, versucht die herrschende Klasse sich und die ganze Bevölkerung zu beruhigen und behauptet, es sei alles niemals so schlimm wie die Krise von 1929.

Die heutige Lage: dasselbe Problem wie 1929

Der Krach der Wall Street im Jahre 1929 und die Große Depression ängstigen die Bourgeoisie nach wie vor, wie die Medienberichterstattung über die neuen Ereignisse beweist. Mit Leitartikeln, Hintergrundberichten und historischen Analogien wird versucht, uns zu überzeugen, dass die derzeitige Bankenkrise nicht zur selben Katastrophe führen werde, dass 1929 ein einmaliges Ereignis gewesen sei, das sich nur deshalb in eine Katastrophe verwandelt habe, weil falsche Entscheide gefällt worden seien.

Die „Experten" der Bourgeoisie schüren die Illusion, nach der die derzeitige Finanzkrise eine Art Wiederholung der Krachs des 19. Jahrhunderts sei, die in zeitlicher und räumlicher Ausdehnung vergleichsweise begrenzt waren. In Wirklichkeit hat die derzeitige Lage aber mehr gemeinsam mit 1929 als mit jener früheren Phase des kapitalistischen Aufstiegs; sie weist Eigenschaften auf, die typisch sind für die verhängnisvollen wirtschaftlichen und finanziellen Krisen der Niedergangsphase, die mit dem Ersten Weltkrieg begonnen hat, einer Phase der Erschütterung der kapitalistischen Produktionsweise, eines Zeitalters der Kriege und der Revolutionen.

Die wirtschaftlichen Krisen des kapitalistischen Aufstiegs und die spekulativen Aktivitäten, die sie oft begleiteten oder ihr vorausgingen, stellten den Puls eines gesunden Systems dar und ebneten den Weg für eine neue kapitalistische Expansion durch ganze Kontinente, für wichtige technologischen Fortschritte, die Eroberung kolonialer Märkte, die Umwandlung der Handwerker und Bauern in Armeen von Lohnarbeitern usw.

Der Börsenkrach in New York im Jahre 1929, der die erste große Krise des dekadenten Kapitalismus einläutete, stellte alle Spekulationskrisen des 19. Jahrhunderts in den Schatten. Während der „verrückten 20er Jahre" hatten sich die Aktienwerte an der Börse von New York, der wichtigsten der Welt, verfünffacht. Der weltweite Kapitalismus hatte die Katastrophe des Ersten Weltkrieges nicht überwunden, und im Land, das das reichste der Welt geworden war, suchte die Bourgeoisie einen Ausweg in der Börsenspekulation.

Doch der „Schwarze Donnerstag", der 24. Oktober 1929, war der brutale Absturz. Die Panikverkäufe setzten sich am „Schwarzen Dienstag" der folgenden Woche fort. Und die Börse befand sich bis zum Jahre 1932 auf dem absteigenden Ast; mittlerweile hatten die Titel 89% von ihrem maximalen Wert von 1929 verloren. Sie sanken auf Niveaus, die seit dem 19. Jahrhundert nie mehr gesehen worden waren. Der Höchststand der Aktienwerte von 1929 wurde erst wieder im Jahre 1954 erreicht!

In dieser Zeit brach auch das amerikanische Bankensystem, das Geld für den Kauf von Titeln ausgeliehen hatte, zusammen. Diese Katastrophe kündigte die große Depression der Dreißiger Jahre an, die bisher tiefste Krise des Kapitalismus. Das amerikanische BIP wurde halbiert. 13 Millionen Arbeiter verloren praktisch ohne jede Absicherung die Arbeit. Ein Drittel der Bevölkerung sank in die bitterste Armut ab. Die Auswirkungen davon waren auf dem ganzen Planeten zu spüren.

Aber es folgte kein wirtschaftlicher Wiederaufschwung wie jeweils nach den Krisen des 19. Jahrhunderts. Die Produktion nahm erst wieder einen Anlauf, nachdem sie auf die Rüstungsproduktion ausgerichtet worden war zur Vorbereitung des Blutbads zur Neuaufteilung des Weltmarktes, des Zweiten Weltkrieges; mit anderen Worten, nachdem die Arbeitslosen in Kanonenfutter verwandelt worden waren.

Die Rezession der Dreißiger Jahre schien die Folge von 1929 zu sein, aber in Wirklichkeit beschleunigte der Krach der Wall Street nur die chronische Überproduktionskrise des Kapitalismus in seiner Niedergangsphase, die der gemeinsame Wesenszug der Krise der Dreißiger Jahre und jener von heute ist, die im Jahre 1968 begonnen hat.

Die Bourgeoisie der 50er und 60er Jahre verkündete zur Genüge, dass sie das Problem der Krisen gelöst und dank den Gegenmitteln der staatlichen Eingriffe in die nationale und internationale Wirtschaft, der Defizitfinanzierung und der progressiven Besteuerung auf ein geschichtliches Kuriosum reduziert habe. Zu ihrer Bestürzung trat die weltweite Überproduktionskrise im Jahre 1968 doch wieder auf.

Seit 40 Jahren torkelt diese Krise von einer Rezession in die andere; von einer offenen Rezession in die nächste, die noch ernsthafter ist; von einer Fata Morgana in die folgende. Die Krise seit 1968 hat nicht die schroffe Form des Krachs von 1929 angenommen.

Im Jahre 1929 ergriffen die bürgerlichen Finanzexperten Maßnahmen, die die finanzielle Krise nicht eindämmen konnten. Diese Maßnahmen waren keine Fehler, sondern Methoden, die bei den früheren Einbrüchen des Systems funktioniert hatten, wie bei jenem von 1907 und der Panik, die er verursacht hatte; aber sie waren in der neuen Phase nicht mehr ausreichend. Der Staat lehnte es ab zu intervenieren. Die Zinssätze stiegen, man ließ die Währungsreserven zurückgehen, die Kredithindernisse sich verstärken und das Vertrauen ins Banken- und Kreditsystem sich in Luft auflösen. Die Smoot-Hawley-Zollgesetze stellten Schranken gegen Einfuhren auf, was den weltweiten Handel weiter verlangsamte und folglich die Rezession nur noch vertiefte.

In den 40 letzten Jahren hat die Bourgeoisie es verstanden, das staatliche Instrumentarium zu benützen, um die Zinssätze zu reduzieren, flüssige Mittel ins Bankensystem einzuspritzen und damit den Finanzkrisen entgegenzutreten. Sie war fähig, die Krise zu begleiten, aber zum Preis einer Überladung des kapitalistischen Systems mit Schuldenbergen. Der Niedergang war gradueller als in den Dreißiger Jahren; aber die Linderungsmittel wirken je länger je weniger, und das finanzielle System wird immer zerbrechlicher.

Das phänomenale Anwachsen der Schulden in der weltweiten Wirtschaft während des letzten Jahrzehnts wird auf dem Kreditmarkt durch das außergewöhnliche Wachstum der heute berühmt berüchtigten Hedge Funds veranschaulicht. Das geschätzte Kapital dieser Fonds ist von 491 Milliarden Dollar im Jahre 2000 auf 1745 Milliarden im 2007 angeschwollen[5]. Ihre komplizierten Finanztransaktionen, die mehrheitlich geheim und nicht reglementiert ablaufen, benutzen Schulden als eine handelbare Sicherheit auf der Jagd nach dem kurzfristigen Gewinn. Hedge Funds werden als dafür verantwortlich erachtet, dass sich faule Schulden im ganzen Finanzsystem verbreitet haben, womit sich die derzeitige Finanzkrise beschleunigt und ausgedehnt hat.

Der Keynesianismus, das System der Finanzierung mittels staatlicher Defizite mit dem Zweck, die Vollbeschäftigung aufrechtzuerhalten, hat sich mit der galoppierenden Inflation der Siebziger Jahre und der Rezessionen von 1975 und 1981 in Luft aufgelöst. Die Reaganomics und der Thatcherismus - Methoden, mit denen die Profite durch Reduzierung des sozialen Lohns sowie Senkung der Steuern erhöht und die nicht rentablen Unternehmen dem Konkurs überlassen wurden, was eine Massenarbeitslosigkeit verursachte - sind seit dem Börsenkrach von 1987, dem Skandal um Savings and Loans (Kreditgesellschaft für den Sozialwohnungsbau) und der Rezession von 1991 passé. Den asiatischen Drachen ging im Jahre 1997 die Luft aus, und sie hinterließen gewaltige Schulden. Die Internet-Revolution, die „New Economy", hat sich als nicht nachhaltig erwiesen, und der Aktienboom erlitt im Jahre 1999 ebenfalls Schiffbruch. Der Immobilienboom, das gewaltige Aufblähen des Konsumkredites in den letzten fünf Jahren, die gigantische Auslandverschuldung der Vereinigten Staaten zur Herstellung einer Nachfrage für die weltweite Wirtschaft und die „wunderbare" Expansion der chinesischen Wirtschaft - all das wird auch in Frage gestellt.

Man kann nicht genau vorhersagen, wie die Weltwirtschaft ihren Niedergang fortsetzen wird, doch unausweichlich wird es zu immer größeren Störungen und einer immer härteren Sparpolitik kommen.

Der Kapitalismus hat die Vorbedingungen für den Sozialismus geschaffen

Im Dritten Band des Kapital argumentiert Karl Marx, dass das durch den Kapitalismus entwickelte Kreditsystem in embryonaler Form eine neue Produktionsweise innerhalb der alten hervorgebracht hat. Indem der Reichtum ausgeweitet und vergesellschaftet, aus den Händen der individuellen Mitglieder der Bourgeoisie genommen wurde, bereitete der Kapitalismus den Weg für eine Gesellschaft, in der die Produktion zentralisiert und von den Produzenten selbst kontrolliert und wo das bürgerliche Eigentum als ein historischer Anachronismus abgeschafft werden könnte: „Das Kreditwesen beschleunigt daher die materielle Entwicklung der Produktivkräfte und die Herstellung des Weltmarkts, die als materielle Grundlagen der neuen Produktionsform bis auf einen gewissen Höhegrad herzustellen, die historische Aufgabe der kapitalistischen Produktionsweise ist. Gleichzeitig beschleunigt der Kredit die gewaltsamen Ausbrüche dieses Widerspruchs, die Krisen, und damit die Elemente der Auflösung der alten Produktionsweise."[6]

Seit nunmehr einem Jahrhundert sind die Voraussetzungen reif für die Abschaffung der bürgerlichen Herrschaft und der kapitalistischen Ausbeutung. Da es bis jetzt keine radikale Antwort des Proletariats gibt, die dazu führen könnte, den Kapitalismus weltweit zu überwinden, spitzen sich die Widersprüche dieses kranken Systems, insbesondere die Wirtschaftskrise, immer mehr zu. Wenn heute der Kredit immer noch eine Rolle bei der Entwicklung dieser Widersprüche spielt, so geht es dabei nicht mehr um die Eroberung des Weltmarktes, denn der Kapitalismus hat schon seit langem die Herrschaft seiner Produktionsverhältnisse auf den ganzen Planeten ausgedehnt. Die massive Verschuldung aller Staaten hat es aber dem Kapitalismus tatsächlich erlaubt, einen brutalen Absturz der Wirtschaft zu vermeiden, was aber nicht umsonst geschah. So war die verrückte Flucht nach vorn in den allgemeinen und massiven Einsatz des Kredits anfänglich während Jahrzehnten ein Faktor der Abdämpfung des unüberbrückbaren Widerspruchs zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den hinfällig gewordenen kapitalistischen Produktionsverhältnissen, doch werden „die gewaltsamen Ausbrüche dieses Widerspruchs" brutal beschleunigt, so dass das gesellschaftliche Gebilde wie noch nie erschüttert wird. Doch werden solche Erschütterungen allein noch keine Bedrohung für die Spaltung der Gesellschaft in Klassen darstellen. Sie werden es erst, sobald sie dazu beitragen, das Proletariat in Bewegung zu setzen.

Die Revolutionäre haben immer hervorgehoben, dass die Krise den Prozess der Bewusstwerdung darüber, in welcher Sackgasse die derzeitige Welt steckt, beschleunigen wird. Sie wird langfristig immer mehr Teile der Arbeiterklasse in Kämpfe stoßen, die es ihr erlauben, Erfahrungen zu sammeln. Die Herausforderung dieser künftigen Erfahrungen ist die Fähigkeit der Arbeiterklasse, sich gegenüber allen Kräften der Bourgeoisie zu verteidigen und zu behaupten, Vertrauen in ihre eigenen Kräfte zu gewinnen und sich je länger je mehr das Bewusstsein anzueignen, dass sie die einzige Kraft der Gesellschaft darstellt, die fähig ist, den Kapitalismus zu beseitigen.

Como, 29/10/2007



[1] In der britischen Wirtschaftszeitschrift The Economist wurde diese Garantie als ein Bluff betitelt.

[2] „Und es gibt keine Weisheiten von ‚Globalisierungsgegnern‘ und anderen Gegnern der ‚Verfinanzung‘ der Wirtschaft, die daran auch nur das Geringste ändern könnten. Diese politischen Strömungen möchten einen ‚sauberen‘, ‚gerechten‘ Kapitalismus, der insbesondere die Spekulation unterbindet. In Tat und Wahrheit ist Letztere keineswegs Auswuchs eines ‚schlechten‘ Kapitalismus, der seine Verantwortung dafür ‚vergessen‘ habe, in wirklich produktive Sektoren zu investieren. Wie Marx schon im 19. Jahrhundert festgestellt hat, ist die Spekulation eine Folge der Tatsache, dass die Kapitalbesitzer angesichts des Mangels an zahlungskräftigen Absatzmärkten für ihre produktiven Investitionen es vorziehen, ihr Kapital zwecks Gewinnmaximierung kurzfristig in eine gigantische Lotterie zu stecken, eine Lotterie, die heute den Kapitalismus in ein weltumspannendes Kasino verwandelt hat. Der Wunsch, dass der Kapitalismus heutzutage auf die Spekulation verzichtet, ist so realistisch wie der Wunsch, dass aus Tigern Vegetarier werden." (Resolution zur internationalen Lage, 17. Kongress der IKS, siehe in dieser Nummer)

[3] Benjamin Bernanke, der Präsident der FED sprach von Hypothekarschuldnern als „Delinquenten". Mit anderen Worten: „Kriminelle gegen den Reichtum". Die „Kriminellen" wurden gebüßt - durch die Erhöhung der Zinsen!

[4] Wir können hier nicht auf die Frage der Obdachlosigkeit auf der Welt eingehen. Laut der UNO-Kommission für Menschenrechte leben 1 Milliarde Menschen ohne angemessene und 100 Millionen ganz ohne Unterkunft.

[5] www.mcclatchydc.com [21]

[6] 27. Kapitel, Die Rolle des Kredits in der kapitalistischen Produktion.

 

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [10]

Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [22]

Interne Debatte der IKS: Marxismus und Ethik (Teil II)

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In der vorherigen Ausgabe unserer Internationalen Revue begannen wir mit der Veröffentlichung großer Auszüge aus einem Orientierungstext über den Marxismus und die Ethik, der Gegenstand interner Diskussionen in unserer Organisation war und ist. In den veröffentlichten Auszügen lasen wir:

„Wir haben stets darauf bestanden, dass die Statuten nicht eine Kollektion von Regeln sind, die festlegen, was erlaubt ist und was nicht, sondern eine Orientierung für unser Verhalten und unsere Haltung, die eine in sich zusammenhängende Sammlung von moralischen Werten (besonders bezüglich des Verhältnisses unter den Mitgliedern und gegenüber der Organisation) zusammenfasst. Daher verlangen wir von jedem, der Mitglied der Organisation werden will, eine tiefgehende Übereinstimmung mit diesen Werten.

Doch die Statuten als integraler Bestandteil unserer Plattform regeln nicht allein, wer unter welchen Umständen Mitglied der IKS werden kann. Sie bedingen auch den Rahmen und den Geist des militanten Lebens der Organisation und jedes ihrer Mitglieder.

Die Bedeutung, die die IKS stets diesen Verhaltensprinzipien zugemessen hat, wird von der Tatsache veranschaulicht, dass sie nie zögerte, diese Prinzipien zu verteidigen, selbst wenn sie dabei eine Organisationskrise riskierte. Indem sie so verfährt, stellt sich die IKS bewusst und unerschütterlich in die Tradition des Kampfes von Marx und Engels in der Ersten Internationale, des Bolschewismus und der Italienischen Fraktion des Kommunistischen Linken. Indem sie so verfuhr, war sie in der Lage gewesen, eine Reihe von Krisen zu überstehen und fundamentale Verhaltensprinzipien der Klasse aufrechtzuerhalten.

Jedoch wurde das Konzept der proletarischen Moral mehr implizit denn explizit hochgehalten, wurde es eher in empirischer Manier als theoretisch verallgemeinert in die Praxis umgesetzt. Angesichts massiver Vorbehalte der neuen Generation von Revolutionären nach 1968 gegenüber jeglichen Moralkonzepten, welche im Allgemeinen als notwendigerweise reaktionär betrachtet wurden, hielt es die Organisation für wichtiger, die Verhaltensweisen der Arbeiterklasse zu berücksichtigen, statt diese sehr allgemeine Debatte zu einer Zeit zu eröffnen, die noch nicht reif genug dafür war.

Fragen der Moral waren nicht das einzige Gebiet, wo die IKS auf diese Weise verfuhr. In den frühen Tagen der Organisation existierten ähnliche Vorbehalte gegenüber der Notwendigkeit der Zentralisierung oder der Intervention der Revolutionäre, der führenden Rolle der Organisation bei der Entwicklung von Klassenbewusstsein, der Notwendigkeit des Kampfes gegen den Demokratismus oder der Anerkennung der Aktualität der Auseinandersetzung mit dem Opportunismus und Zentrismus."

Dieser erste Artikel mit Auszügen des Textes behandelte folgende Themen:

- das Problem des Zerfalls und des Vertrauensverlustes im Proletariat und in der Menschheit insgesamt;

- die Ursachen für die Vorbehalte unter den Revolutionären gegenüber dem Konzept der proletarischen Moral nach 1968;

- die Natur der Moral;

- die Ethik, das heißt, die vor-marxistische Theorie der Moralität;

- der Marxismus und die Ursprünge der Moral;

- der Kampf des Proletariats gegen die bürgerliche Moral;

- die proletarische Moral.

In dieser Ausgabe werden wir mit der Veröffentlichung von Auszügen fortfahren und an den Kampf erinnern, der vom Marxismus gegen verschiedene Formen und Manifestationen der bürgerlichen Moral geführt wurde. Ferner werden wir auf die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung des Proletariats mit den Auswirkungen des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft besonders auf seine Perspektive hinweisen, nämlich die Wiederaneignung eines sehr wesentlichen Elements seines Kampfes und seiner historischen Perspektive - die Solidarität.

Der marxistische Kampf gegen den ethischen Idealismus

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts behauptete die Bernsteinsche Strömung in der Zweiten Internationale, dass der Anspruch des Marxismus, eine wissenschaftliche Vorgehensweise zu sein, die Rolle der Ethik im Klassenkampf ausschließe. Davon ausgehend, dass sich wissenschaftliche und ethische Vorgehensweise gegenseitig negieren, befürwortete diese Strömung den Verzicht auf Erstere zugunsten Letzterer. Sie schlug die „Vervollständigung" des Marxismus durch die Ethik von Kant vor. Hinter ihrer Praxis, die Gier des einzelnen Kapitalisten zu verdammen, steckte die Entschlossenheit des bürgerlichen Reformismus, die fundamentale Unvereinbarkeit von Kapitalismus und Kommunismus zu begraben.

Doch weit entfernt davon, die Ethik auszuschließen, führte die wissenschaftliche Vorgehensweise des Marxismus erstmals eine wirklich wissenschaftliche Dimension im gesellschaftlichen Denken und damit in die Moral ein. Der Marxismus entwirrte das Puzzle der Geschichte, weil er verstand, dass das wichtigste gesellschaftliche Verhältnis das zwischen der lebendigen Arbeitskraft und den toten Produktionsmitteln ist. Der Kapitalismus öffnete den Weg zu dieser Erkenntnis, so wie er den Weg zum Kommunismus ebnete, indem er die Ausbeutungsmechanismen entpersonalisierte.

In Wahrheit stellte der Ruf nach einer Rückkehr zur Ethik von Kant einen theoretischen Rückfall weit hinter den bürgerlichen Materialismus dar, der bereits die sozialen Ursprünge von „gut und böse" begriffen hatte. Seither hat jeder Fortschritt im gesellschaftlichen Wissen dieses Verständnis bekräftigt und vertieft. Dies trifft nicht nur auf den Fortschritt in der Wissenschaft zu, wie im Falle der Psychoanalyse, sondern auch auf die Künste. Wie Rosa Luxemburg schrieb: „Wie für Hamlet durch das Verbrechen seiner Mutter alle Bande der Menschheit aufgelöst, die Welt aus den Fugen ist, so für Dostojewski angesichts der Tatsache, dass ein Mensch einen Menschen ermorden kann. Er findet keine Ruhe, er fühlt die Verantwortung, die auf ihm wie auf jeden von uns für dies Entsetzliche lastet. Er muss sich die Psyche des Mörders klarmachen, seinen Leiden, seinen Qualen bis in die verborgenste Falte seines Herzens nachspüren. Er hat diese Foltern alle durchkostet und ist geblendet durch die furchtbare Erkenntnis: Der Mörder ist selbst das unglücklichste Opfer der Gesellschaft (...) Die Romane Dostojewskis sind die furchtbarste Anklage gegen die bürgerliche Gesellschaft, der er ins Gesicht schleudert: Der wahre Mörder, der Mörder der Menschenseelen bist du!"[1]

Diesen Standpunkt vertrat auch die junge proletarische Diktatur in Russland. Sie rief die Strafgerichte dazu auf, „vollkommen frei (zu sein) vom Geist der Revanche. Sie können nicht Rache an Leuten nehmen, nur weil sie in der bürgerlichen Gesellschaft gelebt haben."[2]

Nicht zuletzt dieses Verständnis, dass wir alle Opfer unserer Umstände sind, macht die marxistische Ethik zum fortgeschrittensten Ausdruck des moralischen Fortschritts bis heute. Diese Vorgehensweise schafft nicht die Moral ab, wie die Bourgeoisie behauptet, oder beseitigt die individuelle Verantwortung, wie es der kleinbürgerliche Individualismus gerne hätte. Stattdessen stellt sie einen gewaltigen Fortschritt darin dar, die Moral auf Verständnis statt auf Schuld - jenes Schuldgefühl, das den moralischen Fortschritt behindert, indem es die innere Persönlichkeit vom Mitmenschen abschneidet - zu stützen. Sie ersetzt den Hass von Menschen - diese Hauptquelle von anti-sozialen Trieben - durch die Empörung und die Revolte gegen gesellschaftliche Verhältnisse und Verhaltensweisen.

Die reformistische Kant-Nostalgie war in Wirklichkeit der Ausdruck einer Erosion des Kampfwillens. Die idealistische Interpretation der Moral versöhnte sich auf emotionaler Ebene mit der herrschenden Klasse, indem sie die Rolle der Moral bei der Umwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse leugnete. Doch das höchste Ideal der Menschheit, der innere Frieden und Einklang mit der umgebenden gesellschaftlichen und natürlichen Welt, kann nur durch einen beständigen Kampf erreicht werden. Die erste Bedingung des menschlichen Glücks ist die Kenntnis darüber, was notwendig ist, ist das freiwillige Dienen für eine große Sache.

Kant verstand den widersprüchlichen Charakter der bürgerlichen Moral weitaus besser als die bürgerlichen Utilitaristen wie Bentham.[3] Insbesondere begriff er, dass ungezügelter Individualismus selbst in der positiven Form des Strebens nach persönlichem Glück zur Auflösung der Gesellschaft führen kann. Die Tatsache, dass es innerhalb des Kapitalismus nicht nur Gewinner im Konkurrenzkampf geben kann, bewirkt unvermeidlich die Trennung zwischen Pflicht und Neigung. Kants Beharren auf den Vorrang der Pflicht korrespondiert mit der Auffassung, dass das höchste Gut der bürgerlichen Gesellschaft nicht das Individuum, sondern der Staat und besonders die Nation ist. In der bürgerlichen Moralität besitzt der Patriotismus einen viel höheren Stellenwert als die Menschenliebe. In der Tat lauerte hinter dem Mangel an Empörung innerhalb der Arbeiterbewegung über den Reformismus bereits die Erosion des proletarischen Internationalismus.

Für Kant ist eine moralische Handlung, die vom Pflichtgefühl motiviert wird, von größerem ethischem Wert als jene, die mit Begeisterung, Leidenschaft und Freude ausgeübt wird. Hier ist der ethische Wert mit dem Verzicht, mit der Idealisierung der Selbstaufopferung durch die nationalistische und staatliche Ideologie aufs Engste verknüpft. Das Proletariat lehnt diesen unmenschlichen Opferkult um seiner selbst willen, den die Bourgeoisie von der Religion geerbt hat, rigoros ab. Auch wenn der Kampfwille notgedrungen die Leidensbereitschaft mit einschließt, hat die Arbeiterbewegung niemals aus solch einem notwendigen Übel eine moralische Qualität gemacht. Tatsächlich haben schon vor dem Marxismus die besten Beiträge zur Ethik stets die pathologischen und unmoralischen Konsequenzen solch einer Vorgehensweise unterstrichen. Denn im Gegensatz zu dem, was die bürgerliche Ethik glaubt, heiligt die Selbstaufopferung nicht jedes unwerte Ziel.

Wie Franz Mehring betonte, repräsentierte selbst Schopenhauer, der seine Ethik auf das Mitgefühl statt auf die Pflicht stützte, im Verhältnis zu Kant einen Fortschritt.[4]

Die bürgerliche Moral, unfähig, sich die Überwindung des Gegensatzes zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Egoismus und Altruismus auch nur vorzustellen, bezieht Stellung zugunsten des einen gegen den anderen oder sucht nach einem Kompromiss zwischen beiden. Sie ist nicht in der Lage zu begreifen, dass das Individuum selbst einen sozialen Charakter besitzt. Entgegen der idealistischen Moral vertritt der Marxismus den moralischen Idealismus der Freuden spendenden Aktivität als einen der wichtigsten Aktivposten in der Erhebung gegen die niedergehende Klasse.

Eine andere Attraktion der Kantschen Ethik bestand für den Opportunismus darin, dass ihre Formulierung des „kategorischen Imperativs" eine Art Kodex in Aussicht stellte, mit dem sämtliche moralischen Konflikte automatisch gelöst werden können. Nach Kant ist die Gewissheit, dass man im Recht ist, ein Merkmal der moralischen Handlungsweise (...) Auch hier drückt sich der Wille aus, den Kampf zu umgehen.

Der dialektische Charakter der Moral, der die Tugend und Untugend im konkreten Leben nicht immer leicht unterscheidbar macht, wird verleugnet. Wie Josef Dietzgen betonte, kann die Vernunft den Verlauf einer Handlung nicht im Voraus bestimmen, da jedes Individuum und jede Situation einmalig und unvorhersehbar sind. Es müssen komplexe moralische Probleme studiert werden, um zu einem Verständnis und zu einer kreativen Lösung zu gelangen. Dies kann gelegentlich eine besondere Untersuchung oder die Etablierung eines spezifischen Organs erforderlich machen, wie die Arbeiterbewegung lange Zeit verstanden hat.[5]

In Wahrheit sind moralische Konflikte ein unvermeidlicher Bestandteil des Lebens - nicht nur innerhalb der Klassengesellschaft. Beispielsweise können verschiedene ethische Prinzipien (...) oder verschiedene Ebenen der Sozialisation des Menschen (die Verantwortung gegenüber der Klasse, der Familie, dem persönlichen Gleichgewicht, etc.) miteinander in Konflikt treten. Dies erfordert die Bereitschaft, mit der momentanen Ungewissheit zu leben, um eine wirkliche Prüfung zu erlauben und der Versuchung zu widerstehen, das eigene Gewissen zum Schweigen zu bringen; es erfordert die Fähigkeit, seine eigenen Vorurteile zu hinterfragen, vor allem aber eine rigorose, kollektive Methode der Klärung.

Im Kampf gegen den Neo-Kantianismus zeigte Kautsky, wie der Beitrag Darwins über den biologischen, animalischen Ursprung des Gewissens das stärkste Bollwerk der idealistischen Moral zerschlug. Diese unsichtbare Kraft, diese kaum hörbare Stimme, die nur in den Tiefen der Persönlichkeit vernehmbar ist, war stets der Kern der ethischen Kontroverse gewesen. Die idealistische Moral war im Recht, wenn sie darauf bestand, dass das Gewissen nicht durch die Angst vor der öffentlichen Meinung oder vor Sanktionen durch die Mehrheit erklärt werden kann. Im Gegenteil, das Gewissen kann uns zwingen, uns der öffentlichen Meinung und Repression zu widersetzen oder unser Handeln zu bedauern, obwohl es auf allgemeine Zustimmung stößt. „Daher seine geheimnisvolle Natur, diese Stimme in uns, die mit keinem äusserlichen Anstoss, keinem sichtbaren Interesse zusammenhängt; dieser Dämon oder Gott, den seit Sokrates und Plato bis Kant jene Ethiker in sich empfanden, die es ablehnten, die Ethik aus der Selbstliebe oder der Luft abzuleiten. Sicher ein geheimnisvoller Drang, aber nicht geheimnisvoller als die Geschlechtsliebe, die Mutterlieb, der Selbsterhaltungstrieb, das Wesen des Organismus überhaupt und so viele andere Dingen, die nur der Welt der ´Erscheinungen´ angehören und die niemand als Produkt einer übersinnlichen Welt ansehen wird. Weil das Sittengesetz ein tierischer Trieb ist, der den Trieben der Selbsterhaltung und Fortpflanzung ebenbürtig, deshalb seine Kraft, deshalb sein Drängen, dem wir ohne zu überlegen gehorchen, deshalb unsere rasche Entscheidung in einzelnen Fällen...".[6]

Diese Schlussfolgerungen sind seitdem von der Wissenschaft bestätigt worden, zum Beispiel durch Freud, der darauf bestand, dass die entwickeltsten und sozialisiertesten Tiere grundsätzlich einen ähnlichen psychischen Apparat wie der Mensch besitzen und an vergleichbaren Neurosen leiden. Doch Freud hat nicht nur unser Verständnis in diesen Fragen vertieft. Wegen der Vorgehensweise der Psychoanalyse, die nicht nur untersucht, sondern auch eingreift, therapiert, teilt sie mit dem Marxismus das Anliegen einer fortschreitenden Entwicklung des moralischen Apparates des Menschen.

Freud unterschied zwischen den Trieben („Es"), dem „Ego", das ihn die Umwelt kennen lernen lässt und die Existenz sichert (eine Art Realitätsprinzip), und dem „Über-Ich", das das Gewissen enthält und die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft gewährt. Obwohl Freud manchmal polemisch behauptete, das das Gewissen „nichts anderes als gesellschaftliche Furcht" sei, macht seine ganze Auffassung, wie Kinder die Moral der Gesellschaft verinnerlichen, deutlich, dass dieser Prozess von der emotionalen Liebe zu den Eltern und deren Akzeptanz als nachahmenswerte Beispiele abhängt.[7] (...)

Freud untersuchte auch die Interaktion zwischen bewussten und unbewussten Faktoren des Gewissens selbst. Das Über-Ich entwickelt die Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren. Das Ego kann und muss seinerseits in der Lage sein, über die Reflexionen des Über-Ichs nachzudenken. Erst durch diese „Doppelreflexion" wird der Verlauf einer Handlung zu einem bewussten Akt des Menschen.

Dies entspricht der marxistischen Sichtweise, dass der moralische Apparat des Menschen auf sozialen Triebkräften beruht, dass er aus unbewussten, halbbewussten und bewussten Komponenten besteht, dass mit dem Fortschreiten der Menschheit die Rolle der bewussten Faktoren wächst, bis mit dem revolutionären Proletariat die Ethik, auf einer wissenschaftlichen Methode basierend, immer mehr zur Richtschnur des moralischen Verhaltens wird, und dass im Gewissen selbst der moralische Fortschritt untrennbar mit der Stärkung des Bewusstseins zu Lasten der Schuldgefühle verknüpft ist.[8] Der Mensch kann in wachsendem Maße Verantwortung übernehmen, und dass nicht nur gegenüber seinem Gewissen, sondern auch hinsichtlich der Inhalte seiner eigenen moralischen Werte und Überzeugungen.

Der marxistische Kampf gegen den ethischen Utilitarismus

Trotz seiner Schwächen repräsentierte der bürgerliche Materialismus, besonders in seiner utilitaristischen Form - mit dem Konzept, dass die Moral Ausdruck realer, objektiver Interessen ist - , einen enormen Fortschritt in der ethischen Theorie. Er ebnete den Weg für ein historisches Verständnis der moralischen Entwicklung. Indem er den relativen Übergangscharakter aller moralischen Systeme enthüllte, versetzte er der religiösen und idealistischen Vision eines ewigen, unveränderlichen, vermeintlich Gott gegebenen Kodex‘ einen schweren Schlag.

Wie wir gesehen haben, zog die Arbeiterklasse bereits sehr früh ihre eigenen, sozialistischen Schlüsse aus dieser Vorgehensweise. Obgleich frühe sozialistische Theoretiker wie Robert Owen oder William Thompson weit über die Philosophie eines Jeremy Bentham - den sie als Ausgangspunkt benutzten - hinausgingen, übte die utilitaristische Vorgehensweise selbst nach dem Erscheinen des Marxismus einen starken Einfluss innerhalb der Arbeiterbewegung aus. Die Frühsozialisten revolutionierten Benthams Theorie, indem sie seine Hauptvoraussetzungen auf gesellschaftliche Klassen statt auf Individuen anwandten und so den Weg zum Verständnis des gesellschaftlichen Klassencharakters der Geschichte der Moral öffneten. Und die Erkenntnis, dass Sklavenhalter nicht denselben Wertekatalog haben wie Kaufleute oder dass Wüstennomaden dieselbe Moral haben wie Bergschäfer, ist bereits nachdrücklich von der im Kielwasser der kolonialen Expansion entstandenen Anthropologie bestätigt worden. Der Marxismus hat von diesen vorbereitenden Arbeiten profitiert, so wie er auch von den Studien Morgans oder Maurers, die die „Genealogie der Moral" ins Licht gerückt haben, profitiert hat.[9] Doch trotz des Fortschritts, den er verkörperte, ließ dieser Utilitarismus auch in seiner proletarischen Form eine Reihe von Fragen ungelöst.

Erstens: Wenn die Moral nichts anderes ist als die Kodifizierung der materiellen Interessen, wird die Moral selbst überflüssig und verschwindet als gesellschaftlicher Faktor. Der britische Radikalmaterialist Mandeville hatte bereits in diesem Zusammenhang behauptet, dass die Moral nichts als Heuchelei sei, die dazu diene, die eigentlich Interessen der herrschenden Klassen zu verbergen. Später sollte Nietzsche etwas unterschiedliche Schlussfolgerungen aus derselben Prämisse ziehen: dass die Moral das Mittel der schwachen Masse sei, um die Herrschaft der Eliten zu verhindern, so dass die Befreiung Letzterer das Eingeständnis erfordere, dass für sie alles erlaubt sei. Doch wie Mehring betonte, ist die angebliche Abschaffung der Moral in Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse" nichts anderes als die Etablierung einer neuen Moral - eine Moral des reaktionären Kapitalismus in seinem Hass auf das sozialistische Proletariat, eine Moral, die sich von den Fesseln des kleinbürgerlichen Anstandes und der großbürgerlichen Respektabilität befreit.[10] Insbesondere beinhaltet die Identität von Interesse und Moral, dass, wie die Jesuiten bereits behauptet hatten, der Zweck die Mittel heiligt.[11]

Zweitens: Indem die gesellschaftlichen Klassen als „kollektive Individuelle" postuliert werden, die lediglich ihre eigenen Interessen verfolgen, erscheint die Geschichte als bedeutungsloses Hauen und Stechen, als eine Angelegenheit, die vielleicht für die verwickelten Klassen wichtig ist, aber nicht für die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Diese Sichtweise stellt einen Rückschritt gegenüber Hegel dar, der (wenn auch in einer mystifizierten Form) nicht nur die Relativität aller Moral bereits verstanden hatte, sondern auch den progressiven Charakter emporstrebender ethischer Systeme, die gegen die bestehende Moral verstießen. (In diesem Sinn erklärte Hegel: „Man kann der Meinung sein etwas Grossartiges zu sagen wenn man behauptet: Der Mensch ist von Natur aus gut. Doch man vergisst, dass man etwas viel Grösseres sagt mit der Aussage: Der Mensch ist von Natur aus schlecht."[12]

Drittens: Die utilitaristische Herangehensweise führt zu einem sterilen Rationalismus, der die sozialen Gefühle aus dem ethischen Leben tilgt.

Die negativen Konsequenzen dieser bürgerlichen, utilitaristischen Überbleibsel wurden in dem Moment sichtbar, als mit der Ersten Internationale die Arbeiterbewegung begann, die Sektenphase zu überwinden. Die Untersuchung des Komplotts der Allianz gegen die Internationale - insbesondere die Kommentare von Marx und Engels über Bakunins „Revolutionskatechismus" - enthüllen, dass die „alleszerstörenden Anarchisten (...) die Anarchie in die Moral ein (führen), indem sie die Unsittlichkeit der Bourgeoisie aufs äußerste übertreiben". Der Bericht, der vom Haager Kongress 1872 in Auftrag gegeben wurde, zählt die einzelnen Elemente aus Bakunins Anschauung auf: Der Revolutionär hat keine persönlichen Interessen, Angelegenheiten, Gefühle oder Neigungen; er hat nicht nur mit der bürgerlichen Ordnung gebrochen, sondern auch mit der Moral und den Sitten der gesamten zivilisierten Welt; er sieht in allem, was den Triumph der Revolution fördert, eine Tugend und in allem, was sie behindert, eine Laster; er ist stets bereit, alles zu opfern, einschließlich seinen eigenen Willen und seine Persönlichkeit; er unterdrückt alle Gefühle der Freundschaft, Liebe oder Dankbarkeit; er zögert niemals, Menschen, falls nötig, zu liquidieren; er kennt keinen anderen Wertekanon als den Maßstab der Nützlichkeit.

Tief empört über dieses Vorgehen, nannten Marx und Engels dies die Moral der Gosse, des Lumpenproletariats. Genauso grotesk wie infam und autoritärer als der primitivste Kommunismus, wird die Revolution bei Bakunin „zu einer Reihe von erst einzelnen individuellen, dann Massenmorden; die einzige Verhaltensregel ist die gesteigerte Jesuitenmoral...".[13]

Wie wir wissen, hat die Arbeiterbewegung in ihrer Gesamtheit die Lehren aus dem Kampf gegen den Bakunismus nicht allzu tief assimiliert. In seinem „Historischen Materialismus" präsentierte Bucharin die ethischen Normen als bloßes Regelwerk. Die Taktik ersetzte die Moral. Noch konfuser war die Haltung von Lukacs gegenüber der Revolution. Nachdem er ursprünglich das Proletariat als die Verwirklichung des moralischen Idealismus von Kant und Fichte dargestellt hatte, wandte Lukacs sich dem Utilitarismus zu. In „Was bedeutet revolutionäres Handeln?" (1919) erklärte er: „Die Herrschaft der Gesamtheit über die Teile bedeutet (...) die entschlossene, zu allem bereite Selbstaufopferung (...) Derjenige ist ein Revolutionär (...), der zu allem bereit ist, wenn es um die Verwirklichung dieser Interessen geht."

Doch die Stärkung der utilitaristischen Moral nach 1917 in der UdSSR war vor allem eine Widerspiegelung der Bedürfnisse des Übergangsstaates. In seiner „Moral und Klassennormen" präsentierte Preobraschenski die revolutionäre Organisation als eine Art moderne Klosterordnung. Er wollte sogar den Geschlechtsverkehr den Prinzipien einer erbhygienischen Selektion unterordnen, und zwar in einer Welt, in welcher der Unterschied zwischen Individuum und Gesellschaft abgeschafft worden sei und Emotionen den Befunden der Naturwissenschaften unterworfen seien. Selbst Trotzki war nicht frei von diesem Einfluss, vertrat er doch in „Ihre Moral und unsere" faktisch den Standpunkt, dass der Zweck die Mittel heiligt.

Es ist sicherlich richtig, dass jede Gesellschaftsklasse dazu neigt, das „Gute" und „Sittliche" in ihrem Interesse zu interpretieren. Nichtsdestotrotz sind Interessen und Moral nicht identisch. Der Einfluss der Klassen auf gesellschaftliche Werte ist äußerst vielgestaltig und verkörpert die Stellung einer gegebenen Klasse im Produktionsprozess und im Klassenkampf, ihre Traditionen, Ziele und Zukunftserwartungen, ihren Anteil an der Kultur. All dies manifestiert sich in der Form der Lebensweise, der Emotionen, der Intuitionen und Bestrebungen.

Im Gegensatz zur utilitaristischen Vermengung von Interessen und Moral (oder „Pflicht", wie er hier formuliert) unterscheidet Dietzgen zwischen beiden. „Das Interesse ist mehr das konkrete, gegenwärtige, handgreifliche Heil; die Pflicht dagegen das erweiterte, auch auf die Zukunft bedachte, allgemeine Heil (...) verlangt die Pflicht dagegen, dass wir nicht nur einen Teil, auch das Ganze, nicht nur gegenwärtige, nächste, auch das entfernte, künftige, nicht nur das leibliche, auch das geistige Wohl im Auge halten. Die Pflicht kümmert sich auch um das Herz, um die sozialen Bedürfnisse, die Zukunft, das Seelenheil, kurz um die Interessen im Großen und Ganzen und schärft uns ein, dem Überflüssigen zu entsagen, um das Notwendige zu erlangen und zu erhalten."[14]

In Reaktion auf die idealistische Befürwortung einer unveränderlichen Moral geht der soziale Utilitarismus ins andere Extrem, indem er so einseitig auf ihren Übergangscharakter beharrt, dass er die Existenz gemeinsamer Werte, die die Gesellschaft zusammenhalten, und den ethischen Fortschritt aus den Augen verliert. Die Kontinuität des Gemeinschaftsgefühls ist jedoch keine metaphysische Fiktion.

Dieser „übertriebene Idealismus" sieht die einzelnen Klassen und ihren Kampf, aber „nicht den totalen gesellschaftlichen Prozess, die Verbindung zwischen den verschiedenen Episoden, versagt also darin, die unterschiedlichen Stufen der moralischen Entwicklung als Teile eines in Wechselbeziehungen stehenden Prozesses zu unterscheiden. Er besitzt keinen allgemeinen Standard, um die verschiedenen Regeln zu würdigen, ist unfähig, über die unmittelbaren und temporären Erscheinungen hinauszugehen. Er setzt die verschiedenen Erscheinungsformen nicht durch die Mittel des dialektischen Denkens zu einer Einheit zusammen."[15]

Bezüglich des Verhältnisses zwischen Zweck und Mittel lautet die korrekte Formulierung nicht, dass der Zweck die Mittel heiligt, sondern dass der Zweck die Mittel beeinflusst und die Mittel ihrerseits den Zweck beeinflussen. Beide Seiten des Gegensatzes bestimmen sich wechselseitig und bedingen einander. Mehr noch, sowohl der Zweck als auch die Mittel sind Glieder in einer historischen Kette, wo jeder Zweck umgekehrt ein Mittel ist, um ein weiterreichendes Ziel anzustreben. Daher muss eine methodische und ethische Rigorosität Anwendung finden, die den ganzen Prozess erfasst; eine Methode, die sich auch auf die Vergangenheit und Zukunft und nicht nur auf das Unmittelbare bezieht. Mittel, die nicht einem gegebenen Zweck entsprechen, dienen lediglich dazu, ihn zu deformieren und von ihm abzulenken. Das Proletariat kann zum Beispiel die Bourgeoisie nicht besiegen, indem es ihre Waffen benutzt. Die Moral des Proletariats richtet sich sowohl nach der gesellschaftlichen Realität als auch nach sozialen Emotionen. Daher lehnt es sowohl das dogmatischen Ausschließen von Gewalt als auch das Konzept der moralischen Gleichgültigkeit gegenüber den angewandten Mitteln ab.

In seinem falschen Verständnis der Verknüpfung von Mittel und Zweck meint Preobraschenski auch, dass das Schicksal der einzelnen Teile - und insbesondere der Individuen - unwichtig sei und bedenkenlos dem Interesse des Ganzen geopfert werden könne. Dies war jedoch nicht die Haltung von Marx, der erkannte, dass die Pariser Kommune zu früh kam, und sich dennoch aus Solidarität mit ihr verbündete, und auch nicht die Haltung von Eugen Levine aus der noch jungen KPD, der der dahinscheidenden Münchener Räteregierung beitrat - deren Ausrufung sich die KPD noch widersetzt hatte - , um ihre Verteidigung zu organisieren und so die Zahl der proletarischen Opfer zu minimieren. Das einseitige Kriterium des Klassennutzens dagegen lässt faktisch Spielraum für eine sehr bedingte Klassensolidarität.

Wie Rosa Luxemburg in ihrer Polemik gegen Bernstein betonte, besteht der prinzipielle Widerspruch im Herzen der proletarischen Bewegung darin, dass der tägliche Kampf innerhalb des Kapitalismus stattfindet, während das Ziel außerhalb desselben liegt und einen fundamentalen Bruch mit jenem System darstellt. Infolgedessen ist der Gebrauch von Gewalt und Täuschung gegen den Klassenfeind notwendig und das Auftreten von Klassenhass und anti-sozialen Aggressionen kaum zu vermeiden. Doch das Proletariat ist moralisch nicht gleichgültig gegenüber solchen Manifestationen. Auch wenn es selbst Gewalt anwendet, darf es niemals vergessen, dass - wie Pannekoek sagte - sein Ziel darin besteht, die Köpfe aufzuklären, und nicht darin, sie zu zerschmettern. Und wie Bilan[16] aus den russischen Erfahrungen schloss, sollte, wo immer es geht, der Gebrauch von Gewalt gegen andere nicht-ausbeutende Schichten vermieden werden und muss gänzlich und prinzipiell aus den Reihen der Arbeiterklasse ausgeschlossen werden. Selbst unter den Begleitumständen des Bürgerkriegs gegen den Klassenfeind muss sie von der Notwendigkeit überzeugt sein, dem Aufkommen anti-sozialer Gefühle wie Rache, Grausamkeit, Zerstörungswut entgegenzuwirken, da diese zur Brutalisierung führen und das Bewusstsein trüben. Solche Gefühle signalisieren das Eindringen fremder Klasseneinflüsse. Es kam nicht von ungefähr, dass Lenin nach der Oktoberrevolution erkannte, dass die Hebung des kulturellen Bildungsgrades der Massen die - nach der Ausdehnung der Weltrevolution - höchste Priorität haben sollte. Wir sollten uns auch vergegenwärtigen, dass es die Erkenntnis von der Grausamkeit und moralischen Indifferenz Stalins war, die Lenin (in seinem Testament) befähigte, die von ihm ausgehende Gefahr zu erkennen.

Die Mittel, die vom Proletariat angewendet werden, müssen soweit wie möglich sowohl mit seinen Zielen als auch mit den sozialen Emotionen korrespondieren, die seinem Klassencharakter entsprechen. Es war nicht zuletzt im Namen dieser Gefühle, dass das Programm der KPD vom 14. Dezember 1918 zwar resolut die Notwendigkeit der Klassengewalt vertrat, aber gleichzeitig den Gebrauch von Terror ablehnte.

„Die proletarische Revolution bedarf für ihre Ziele keines Terrors, sie hasst und verabscheut den Menschenmord. Sie bedarf dieser Kampfmittel nicht, weil sie nicht Individuen, sondern Institutionen bekämpft, weil sie nicht mit naiven Illusionen in die Arena tritt, deren Enttäuschung sie blutig zu rächen hätte."[17]

Im Gegensatz dazu ist die Eliminierung der emotionalen Seite der Moral durch ein mechanistisches, utilitaristisches Vorgehen typisch bürgerlich. Gemäß diesem Vorgehen ist der Gebrauch von Lügen und Irreführungen moralisch höher zu bewerten, sofern diese der Erlangung eines gegebenen Zieles dienen. Doch die Lügen, die von den Bolschewiki in Umlauf gesetzt wurden, um die Repression von Kronstadt zu rechtfertigen, erodierten nicht nur das Vertrauen der Klasse in die Partei, sondern untergruben auch die Überzeugung der Bolschewiki selbst. Die Sichtweise, dass der Zweck die Mittel heiligt, leugnet praktisch die ethische Überlegenheit der proletarischen Revolution über die Bourgeoisie. Sie vergisst: Je mehr die Belange einer Klasse mit dem Wohl der gesamten Menschheit verknüpft sind, desto mehr kann diese Klasse auf ihre moralische Stärke bauen.

Das in der Welt des Business geläufige Motto, dass nur der Erfolg zählt, findet keine Anwendung auf die Arbeiterklasse. Das Proletariat ist die erste revolutionäre Klasse, deren endgültiger Sieg von einer Reihe von Niederlagen vorbereitet wird. Die unschätzbaren Lektionen, aber auch das moralische Beispiel der großen Revolutionäre und der großen Arbeiterkämpfe sind die Vorbedingungen für den künftigen Sieg.

Der Kampf gegen die Auswirkungen des kapitalistischen Zerfalls

In der gegenwärtigen historischen Periode ist die Bedeutung ethischer Fragen größer denn je. Die deutliche Tendenz zur Auflösung der soziale Bande und des Denkens in Zusammenhängen hat notgedrungen besonders negative Auswirkungen auf die Moral. Darüber hinaus ist die ethische Desorientierung innerhalb der Gesellschaft eine zentrale Komponente des Problems im Zentrum des Zerfalls der sozialen Bande. Die Blockade, die aus der Antwort der Bourgeoisie auf die Krise des Kapitalismus und der Antwort des Proletariats, zwischen Weltkrieg und Weltrevolution resultiert, ist direkt mit dem Bereich der gesellschaftlichen Ethik verknüpft. Die Überwindung der Konterrevolution durch eine neue und ungeschlagene Generation des Proletariats nach 1968 drückte nicht zuletzt die historische Diskreditierung des Nationalismus aus, vor allem in jenen Ländern, wo sich die stärksten Sektoren der Arbeiterklasse befanden. Doch andererseits sind die massiven Arbeiterkämpfe nach 1968 nicht von einer dementsprechenden Entwicklung der politischen und theoretischen Dimension des proletarischen Kampfes begleitet worden, insbesondere der ausdrücklichen und bewussten Bejahung des Prinzips des proletarischen Internationalismus. Als Folge ist keine der beiden Hauptklassen der zeitgenössischen Gesellschaft im Moment in der Lage, ihr eigenes Klassenideal einer sozialen Gemeinschaft durchzusetzen.

Im Allgemeinen ist die herrschende Moral in der Gesellschaft die Moral der herrschenden Klasse. Genau aus diesem Grunde muss jede dominante Moral, um den Interessen der herrschenden Klasse zu dienen, gleichzeitig Elemente von allgemeinem moralischen Interesse enthalten, die die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zusammenhalten. Eines dieser Elemente ist die Entwicklung einer Perspektive oder eines Ideals der sozialen Gemeinschaft. Solch ein Ideal ist ein unerlässlicher Faktor bei der Zügelung anti-sozialer Triebkräfte.

Wie wir gesehen haben, ist der Nationalismus das spezifische Ideal der bürgerlichen Gesellschaft. Dies entspricht der Tatsache, dass der Nationalstaat die höchste Einheit ist, die der Kapitalismus erreichen kann. Als der Kapitalismus in seine dekadente Phase trat, hörte jedoch der Nationalstaat definitiv auf, ein Vehikel des Fortschritts in der Geschichte zu sein, und wurde faktisch zum Hauptinstrument der gesellschaftlichen Barbarei. Schon lange bevor dies eintrat, war der Totengräber des Kapitalismus, die Arbeiterklasse - eben weil sie die Trägerin eines höheren, internationalistischen Ideals ist - , in der Lage gewesen, den betrügerischen Charakter der nationalen Gemeinschaft bloßzustellen. Obgleich die Arbeiter 1914 zunächst diese Lehre vergessen hatten, sollte der Erste Weltkrieg letztendlich die Haupttendenz nicht nur in der bürgerlichen Moral, sondern in der Moral aller ausbeutenden Klassen enthüllen. Diese besteht in der Mobilisierung der mutigsten und selbstlosesten sozialen Instinkte der ausgebeuteten, arbeitenden Klassen zu Gunsten der engstirnigsten und schmutzigsten Anliegen.

Doch ungeachtet ihres betrügerischen und immer barbarischeren Charakters ist die Nation das einzige Ideal, welches die Bourgeoisie vorbringen kann, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Dieses Ideal allein entspricht der heutigen Realität der staatlichen Strukturen in der bürgerlichen Gesellschaft. Daher sind all die anderen Ideale, die heute vorhanden sind - die Familie, die Lokalität, die religiöse, kulturelle oder ethnische Gemeinschaft, die Lifestyle-Szene oder die Gang - im Allgemeinen Ausdrücke des sich auflösenden Gesellschaftslebens, der Verfaulung der Klassengesellschaft.

Aber dies trifft genauso auf jene moralischen Anliegen zu, die sich an die gesamte Gesellschaft zu richten versuchen, dies jedoch auf der Grundlage des Interklassismus, der Klassen übergreifenden Aktion tun: der Humanitarismus, die Ökologie, „eine andere Globalisierung". Indem sie die Verbesserung des Individuums auf der Basis einer erneuerten Gesellschaft postulieren, bilden sie demokratistische Ausdrücke derselben individualistischen Fragmentierung der Gesellschaft. Überflüssig zu sagen, dass diese Ideologien ganz hervorragend der herrschenden Klasse in ihrem Bemühen passen, die Entwicklung einer proletarischen, internationalistischen Klassenalternative zum Kapitalismus abzublocken.

Innerhalb der Gesellschaft des Zerfalls können wir gewisse Züge mit direkten Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Werte identifizieren.

Erstens: Der Mangel an Perspektiven tendiert dazu, den Fokus des menschlichen Verhaltens auf die Gegenwart und die Vergangenheit zu richten. Wie wir gesehen haben, ist ein zentraler Bestandteil im rationalen Kern der Moral die Verteidigung der langfristigen Interessen gegen das Gewicht des Unmittelbaren. Die Abwesenheit einer langfristigen Perspektive begünstigt somit die Entsolidarisierung zwischen den Individuen und Gruppen der zeitgenössischen Gesellschaft, aber auch und besonders zwischen den Generationen. Sie mündet in der Neigung zur Pogrommentalität, d.h. zum zerstörerischen Hass gegen einen Sündenbock, der für das Verschwinden einer idealisierten, besseren Vergangenheit verantwortlich gemacht wird. Auf der Bühne der Weltpolitik können wir diese Tendenz in der Entwicklung des Antisemitismus, der antiwestlichen Haltung oder des Anti-Islamismus, in der Vervielfachung „ethnischer Säuberungen", im Aufstieg des politischen Populismus gegen Immigranten und in der Ghettomentalität unter den Immigranten selbst beobachten. Diese Mentalität neigt dazu, das gesellschaftliche Leben insgesamt zu durchdringen, wie die Entwicklung des Mobbings als allgemeines Phänomen veranschaulicht.

Zweitens: Die Entwicklung der gesellschaftlichen Ängste neigt zur Lähmung sowohl der sozialen Instinkte als auch des kohärenten Denkens - die grundlegenden Prinzipien der menschlichen Solidarität und vor allem der Klassensolidarität heute. Diese Ängste sind das Resultat der gesellschaftlichen Atomisierung, die jedem Individuum das Gefühl verleiht, es sei allein mit seinen Problemen. Diese Einsamkeit färbt auf die Art und Weise ab, wie der Rest der Gesellschaft gesehen wird und macht die Reaktion anderer menschlicher Wesen immer unkalkulierbarer, gefährlicher und feindlicher. Diese Ängste - die in allen irrationalen Denkrichtungen aufblühen, die sich der Vergangenheit und der Leere zuwenden - sollten daher von jenen Ängsten unterschieden werden, die aus der wachsenden gesellschaftlichen Unsicherheit resultieren, welche von der Wirtschaftskrise ausgelöst wurde, und die zu einem mächtigen Impuls für eine Gegenreaktion wie die Klassensolidarität werden können.

Drittens: Der Mangel an Perspektiven und die Auflösung der sozialen Bande machen für zahllose Menschen das Leben sinnentleert. Diese nihilistische Atmosphäre ist prinzipiell für die Gesellschaft unerträglich, da sie der bewussten und sozialen Essenz der Menschheit widerspricht. Sie führte somit zu einer Reihe von eng miteinander verknüpften Phänomenen, von denen die wichtigsten die Entwicklung einer neuen Religiosität und einer Todessehnsucht sind.

In Gesellschaften, die hauptsächlich auf Naturalwirtschaft beruhen, ist die Religion vor allem Ausdruck der Rückständigkeit, der Ignoranz und der Angst vor den Kräften der Natur. Im Kapitalismus nährt sich die Religion hauptsächlich aus der gesellschaftlichen Entfremdung - aus der Angst vor den gesellschaftlichen Kräften, die unerklärlich und unkontrollierbar geworden sind. In der Epoche des kapitalistischen Zerfalls ist es vor allen Dingen der allgegenwärtige Nihilismus, der religiöse Sehnsüchte antreibt. Während die traditionelle Religion, so reaktionär ihre Rolle zumeist gewesen ist, immer noch Bestandteil einer kommunitarischen Weltsicht war und die modernisierte Religion der Bourgeoisie die Adoption dieser traditionellen Weltsicht in die Perspektiven der kapitalistischen Gesellschaft darstellte, speist sich der Mystizismus des kapitalistischen Zerfalls aus dem Nihilismus. Ob in der Form der reinen Zersplitterung esoterischer Seelenwanderer, des berüchtigten „Sich-selbst-Findens" außerhalb jeglichen gesellschaftlichen Zusammenhangs oder in der Form der Festungsmentalität von Sekten und des religiösen Fundamentalismus, die die Auslöschung der Persönlichkeit und die Liquidierung der individuellen Verantwortung anbieten - all diese Tendenz sind, auch wenn sie behaupten, Antworten zu geben, in Wahrheit nichts anderes als extreme Ausdrücke dieses Nihilismus.

Darüber hinaus erwecken dieser Mangel an Perspektiven und die Auflösung der sozialen Bande den Anschein, als raube die biologische Tatsache des Todes dem individuellen Leben jegliche Bedeutung. Die daraus resultierende Morbidität (von der der Mystizismus heute zu einem beträchtlichen Umfang profitiert) drückt sowohl die unverhältnismäßig große Angst vor dem Tod als auch eine pathologische Sehnsucht nach ihm aus. Erstere konkretisiert sich zum Beispiel in der „hedonistischen" Mentalität der „Spaßgesellschaft" (deren Motto lauten könnte: „Esst, trinkt und seid fröhlich, denn morgen sterben wir"); Letztere endet mittels Kulten wie den Satanismus in Weltsekten und in der stetig wachsenden Verherrlichung der Gewalt, der Zerstörung und des Märtyrertums (wie im Falle der Selbstmordattentäter).

Der Marxismus hat sich als revolutionäre, materialistische Weltanschauung des Proletariats stets durch seine tiefe Zuwendung zur Welt und seine leidenschaftliche Bejahung des Wertes des menschlichen Lebens ausgezeichnet. Gleichzeitig hat sein dialektischer Standpunkt Leben und Tod, Sein und Nicht-Sein als Teil einer unzertrennlichen Einheit verstanden. Weder hat er den Tod ignoriert, noch hat er dessen Rolle im Leben überbewertet. Die Menschheit ist Teil der Natur. Als solches sind das blühende Leben, aber auch Krankheit, Siechtum und Tod genauso Bestandteile ihrer Existenz wie die aufgehende Sonne oder der Fall der Blätter im Herbst. Doch der Mensch ist ein Produkt nicht nur der Natur, sondern auch der Gesellschaft. Als Erbe der Errungenschaften der menschlichen Kultur und als Träger ihrer Zukunft ist das revolutionäre Proletariat selbst mit den gesellschaftlichen Quellen einer wirklichen Stärke verbunden, deren Wurzeln die Klarheit des Gedankens sowie Brüderlichkeit, Geduld und Humor, Freude und Zuneigung, die reale Sicherheit eines gut begründeten Vertrauens sind.

Die Solidarität und die Perspektive des Kommunismus heute

Für die Arbeiterklasse ist die Ethik nicht etwas Abstraktes, das außerhalb ihres Kampfes steht. Die Solidarität, das Fundament ihrer Klassenmoral, ist gleichzeitig die erste Vorbedingung ihrer Fähigkeit, sich selbst im Kampf als Klasse zu bestätigen.

Heute sieht sich das Proletariat der Aufgabe gegenüber, seine Klassenidentität zurückzuerobern, die nach 1989 einen Rückschlag erlitten hatte. Diese Aufgabe ist nicht zu trennen vom Kampf um die Wiederaneignung seiner Traditionen der Solidarität.

Die Solidarität ist nicht nur eine zentrale Komponente des Tageskampfes der Arbeiterklasse, sondern trägt auch den Keim der künftigen Gesellschaft in sich. Diese beiden Aspekte, die sich auf Vergangenheit und Zukunft beziehen, beeinflussen sich wechselseitig. Die Wiederentdeckung der Klassensolidarität in den Arbeiterkämpfen ist ein wesentlicher Aspekt der gegenwärtigen Dynamik des Klassenkampfes und öffnet den Weg zu einer neuen revolutionären Perspektive. Und solch eine Perspektive wird, wenn sie sich auftut, umgekehrt zu einem mächtigen Faktor bei der Wiederverstärkung der Solidarität in den unmittelbaren Kämpfen des Proletariats sein.

Diese Perspektive ist also entscheidend angesichts der Probleme, mit denen die Dekadenz und der Zerfall des Kapitalismus die Arbeiterklasse konfrontiert. Zum Beispiel die Frage der Immigration: Im emporstrebenden Kapitalismus war die Position der Arbeiterbewegung, insbesondere der Linken, gleichbedeutend mit der Verteidigung der offenen Grenzen und der Bewegungsfreiheit der Arbeit. Dies war Teil des Minimalprogramms der Arbeiterklasse. Heute ist die Wahl zwischen offenen und geschlossenen Grenzen eine falsche Alternative, da nur die Abschaffung aller Grenzen diese Frage lösen kann. Unter den Bedingungen des Zerfalls neigt das Thema der Migration dazu, die Klassensolidarität auszuhöhlen und die Arbeiter gar mit der Pogrommentalität zu infizieren. Angesichts dieser Situation ist die Perspektive einer weltweiten Gemeinschaft, die auf Solidarität fußt, der wirksamste Faktor bei der Verteidigung des proletarischen Internationalismus.

Unter der Voraussetzung, dass die Arbeiterklasse nach einer langen Periode wachsender Kämpfe und politischer Denkprozesse ihre Klassenidentität wiedererlangen kann, kann die Anerkennung der tatsächlichen Unterminierung der sozialen Emotionen, Beziehungen und Verhaltensweisen durch den heutigen Kapitalismus zu einem Faktor werden, der das Proletariat dazu drängt, seine eigenen Klassenwerte zu entwickeln und bewusst zu formulieren. Die Empörung der Arbeiterklasse über das Verhalten, das vom zerfallenden Kapitalismus provoziert wird, und das Bewusstsein darüber, dass allein der proletarische Kampf eine Alternative bilden kann, sind von zentraler Bedeutung für das Proletariat, um seine revolutionäre Perspektive neu zu bekräftigen.

Die revolutionäre Organisation hat eine unverzichtbare Rolle in diesem Prozess zu spielen, nicht nur durch die Propagierung dieser Klassenprinzipien, sondern auch und vor allem dadurch, dass sie selbst ein lebendiges Beispiel für ihre Praktizierung und Verteidigung gibt.

Abgesehen davon ist die Verteidigung der proletarischen Moral ein unverzichtbares Instrument im Kampf gegen den Opportunismus und somit bei der Verteidigung des Programms der Arbeiterklasse. Entschlossener denn je müssen sich die Revolutionäre durch einen kompromisslosen Kampf gegen fremdes Klassenverhalten in die Tradition des Marxismus stellen.

„Der Bolschewismus hat den Typ des wahren Revolutionärs geschaffen, der den historischen, mit der bestehenden Gesellschaft nicht zu versöhnenden Zielen die Bedingungen seines persönlichen Daseins, seine Ideen, seine sittlichen Kriterien unterwirft. Die nötige Distanz zur bürger-lichen Ideologie wurde in der Partei durch die wachsame Unver-söhnlichkeit, deren Inspirator Lenin war, aufrechterhalten. Er wurde nicht müde, mit der Lanzette zu arbeiten, um jene Bindun-gen zu zerschneiden, die die kleinbürgerliche Umgebung zwi-schen Partei und offizieller öffentlicher Meinung schuf. Gleich-zeitig lehrte Lenin die Partei, sich eine eigene öffentliche Meinung zu formen, die sich auf Gedanken und Gefühle der emporsteigen-den Klasse stützt. So schuf sich die bolschewistische Partei durch Auslese und Erziehung in ständigem Kampfe nicht nur ihr poli-tisches, sondern auch ihr moralisches, von der bürgerlichen öffent-lichen Meinung unabhängiges und dieser unversöhnlich entgegen-gesetztes Milieu. Nur dies allein hat den Bolschewiki ermöglicht, die Schwankungen in den eigenen Reihen zu überwinden und durch die Tat jene kühne Entschlossenheit zu entwickeln, ohne die der Oktobersieg nicht möglich gewesen wäre."[18]



[1] R. Luxemburg, Einleitung zu W. Korolenko - Die Geschichte meines Zeitgenossen, geschrieben im Strafgefängnis Breslau im Juli 1918.

[2] Bucharin und Preobraschenski, Das ABC des Kommunismus. Kommentare zum Programm des 8. Parteikongresses, 1919. Kapitel IX Proletarische Justiz, §74: Proletarische Strafmethoden.

[3] Jeremy Bentham (1748-1832) war ein britischer Philosoph, Jurist und Reformer. Er war ein Freund von Adam Smith und Jean-Baptiste Say, zwei der wichtigsten Ökonomen der Bourgeoisie zu einer Zeit, als Letztere noch eine revolutionäre Klasse war. Er beeinflusste „klassische" Philosophen wie John Stuart Mill, John Austin, Herbert Spencer, Henry Sidgwick und James Mill. Er unterstützte die Französische Revolution von 1789 und unterbreitete zahlreiche Vorschläge bezüglich der Etablierung der Rechtssprechung, der Judikative, von Gefängnissen, der politischen Organisationen des Staates und bezüglich der Kolonialpolitik („Emanzipiert eure Kolonien"). Die junge französische Republik ernannte ihn am 23. August 1792 zum Ehrenbürger. Sein Einfluss machte sich im Code civile (auch bekannt als „Code Napoleon", der noch heute die zivile Rechtssprechung in Frankreich beherrscht) bemerkbar. Der Gedanke von Bentham ging von folgendem Prinzip aus: Individuen können sich ihre Interessen nur im Verhältnis zu Strafe und Belohnung vorstellen. Sie versuchen, ihr Glück zu maximieren, was sich in einem Mehr an Belohnungen als an Strafe ausdrückt. Jedes Individuum muss gemäß einer hedonistischen Logik verfahren. Jede Handlung hat eine Zeitlang positive und negative Auswirkungen mit unterschiedlicher Intensität; also muss das Individuum jene Handlung begehen, die ihm die meiste Freude einbringt. Er gab dieser Doktrin 1781 den Namen Utilitarismus.

Bentham stellte eine Methode, „Die Kalkulation des Glücks und der Strafe", vor, die beabsichtigte, die Quantität an Freude und Strafe wissenschaftlich zu bestimmen, die durch unsere vielfältigen Handlungen geprägt sind. Es gibt sieben Kriterien:

- Dauer: eine lange und andauernde Freude ist nützlicher als eine vorübergehende Freude.

- Intensität: eine intensive Freude ist nützlicher als eine schwache Freude.

- Gewissheit: eine Freude ist nützlicher, wenn man sicher ist, dass sie wahr wird.

- Nähe: eine unmittelbare Freude ist nützlicher als eine Freude, die sich erst langfristig äußert.

- Ausdehnung: eine Freude, die mehrmals genossen wird, ist nützlicher als eine einzelne Freude.

- Fruchtbarkeit: eine Freude, die zu weiteren Freuden führt, ist nützlicher als eine einfache Freude.

- Reinheit: eine Freude, die nicht zu Leiden führt, ist nützlicher als eine Freude, die ein Risiko birgt.

- Theoretisch wird die moralischste Handlung jene sein, die die größte Zahl der Kriterien erfüllt.

[4] FranzMehring: Zurück zu Schopenhauer!, in: Neue Zeit, 1908/09.

[5] So hatten die meisten politischen Organisationen des Proletariats neben Organen der Zentralisierung, die sich mit den „laufenden Angelegenheiten" befassen, Organe wie die Kontrollkommission, die sich aus erfahrenen Mitgliedern zusammensetzten, welchen das größte Vertrauen entgegengebracht wurde und besonders mit heiklen Fragen beauftragt wurden, die sensible Aspekte des Verhaltens der Militanten innerhalb wie außerhalb der Organisation berührten.

[6] Karl Kautsky, Ethik und materialistische Geschichtsauffassung., Kapitel Die sozialen Triebe.

[7] Bestätigt von der Beobachtung von Anna Freud, dass aus dem KZ befreite Waisen, während sie eine Art von rudimentärer egalitärer Solidarität unter ihresgleichen etablierten, kulturelle und moralische Standards gegenüber der Gesamtgesellschaft nur akzeptierten, wenn sie in kleineren „Familien"-Einheiten gruppiert waren, die jeweils von einer erwachsenen Respektsperson geleitet wurden, denen gegenüber die Kinder Zuneigung und Bewunderung entwickeln konnten.

[8] Kautskys Buch über die Ethik ist die erste verständliche marxistische Studie dieser Frage und auch sein Hauptbeitrag zur sozialistischen Theorie. Jedoch überschätzt er die Bedeutung des Beitrags von Darwin. Als Folge davon unterschätzt er die spezifisch menschlichen Faktoren der Kultur und des Bewusstseins, indem er zu einer statischen Sichtweise neigt, in der unterschiedliche Gesellschaftsformationen eigentlich unveränderliche soziale Impulse mehr oder weniger begünstigen oder behindern.

[9] Siehe zum Beispiel Paul Lafargue, Vom Ursprung der Ideen, 1885, wieder veröffentlicht in: Neue Zeit, 1899/1900.

[10] Franz Mehring: Über die Philosophie des Kapitalismus, 1891. Wir sollten hinzufügen, dass Nietzsche der Theoretiker der deklassierten Abenteurer und ihres Verhaltens ist.

[11] Die Vorhut der Konterrevolution gegen den Protestantismus, die Jesuiten, zeichnete sich durch die Aneignung der Methoden der Bourgeoisie bei ihrer Verteidigung gegen die Feudalkirche aus. Sie drückte daher schon sehr früh die Niederträchtigkeit der bürgerlichen Moral aus, lange bevor die bürgerliche Klasse in ihrer Gesamtheit (die damals noch eine revolutionäre Rolle spielte) die hässlichsten Seiten ihrer Klassenherrschaft enthüllte. Siehe zum Beispiel F. Mehring, Deutsche Geschichte vom Ausgange des Mittelalters, 1910.

[12] Eine Bemerkung am Rande: Die vielleicht geeignetste Antwort auf die uralte Frage, ob die Menschheit gut oder böse ist, kann vielleicht gegeben werden, indem man aus Die heilige Familie von Marx und Engels zitiert, wo sie im Kapitel über Fleur de Marie aus dem Roman von Eugene Sue, Das Geheimnis von Paris schreiben: „Die Menschheit ist nicht gut oder böse, sie ist menschlich".

[13] Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiterassoziation - Bericht über das Treiben Bakunins, 1873, Kapitel VIII: Die Allianz in Russland, MEW Bd. 18, S. 407.

[14] J. Dietzgen: Das Wesen der Kopfarbeit, 1869

[15] Henriette Roland-Holst: Communisme en moraal, 1925. Kapitel V Der ‚Sinn des Lebens‘ und die Aufgabe des Proletariats (eigene Übersetzung). Trotz einiger wesentlicher Schwächen enthält dieses Buch vor allem eine exzellente Kritik an der utilitaristischen Moral.

[16] Französischsprachige Zeitschrift der Linken Fraktion der Italienischen Kommunistischen Partei (später die italienische Fraktion der Internationalen Kommunistischen Linken).

[17] Was will der Spartakusbund?, in: Ges. Werke Bd. 4, S. 440 ff. Hier und in anderen Schriften von Rosa Luxemburg finden wir ein tiefes Verständnis der Klassenpsychologie des Proletariats. (Eine leicht veränderte englische Übersetzung dieser Passage kann man in Selected Political Writings of Rosa Luxemburg, Monthly Review Press, 1971, lesen).

[18] Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Kapitel: Lenin ruft zum Aufstand (Ausgabe: Fischer-Taschenbuch Bd. 2.2. S. 831)

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [10]

Theoretische Fragen: 

  • Arbeiterklasse [11]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Marxismus: die Theorie der Revolution [12]

Resolution zur internationalen Lage 2007

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Dekadenz und Zerfall des Kapitalismus

1 Einer der wichtigsten Faktoren, die das derzeitige Leben der kapitalistischen Gesellschaft prägen, ist ihr Eintritt in die Zerfallsphase. Die IKS hat bereits seit dem Ende der achtziger Jahre auf die Ursachen und Wesenszüge dieser Zersetzungsphase der Gesellschaft hingewiesen. Sie hat insbesondere die folgenden Tatsachen hervorgehoben:

a) Die Phase des Zerfalls des Kapitalismus ist ein wesentlicher Bestandteil der Dekadenzperiode dieses Systems, die mit dem Ersten Weltkrieg eröffnet wurde (wie dies die große Mehrheit der Revolutionäre zu jenem Zeitpunkt erkannt hatte). In diesem Zusammenhang behält sie die Haupteigenschaften bei, die der Dekadenz des Kapitalismus eigen sind, wobei aber neue, bislang unbekannte Merkmale im gesellschaftlichen Leben hinzukommen.

b) Sie stellt die letzte Phase dieses Niedergangs dar, in der sich nicht nur die verhängnisvollsten Erscheinungen der vorhergehenden Phasen häufen, sondern das gesamte gesellschaftliche Gebäude am lebendigen Leib verfault.

c) Praktisch alle Aspekte der menschlichen Gesellschaft sind durch den Zerfall betroffen, auch und besonders jene, die für ihr Schicksal entscheidend sind, wie die imperialistischen Konflikte und der Klassenkampf. In diesem Sinn und vor dem Hintergrund der Zerfallsphase mit all ihren Begleiterscheinungen ist die gegenwärtige internationale Lage unter ihren hauptsächlichen Gesichtspunkten zu untersuchen, nämlich unter den Gesichtspunkten der wirtschaftlichen Krise des kapitalistischen Systems, der Konflikte innerhalb der herrschenden Klasse insbesondere auf der imperialistischen Bühne und schließlich unter dem Gesichtspunkt des Kampfes zwischen den zwei wesentlichen Gesellschaftsklassen, der Bourgeoisie und dem Proletariat.
 

2 Paradoxerweise ist die wirtschaftliche Lage des Kapitalismus am geringfügigsten vom Zerfall beeinträchtigt. Dies verhält sich hauptsächlich deshalb so, weil es gerade diese wirtschaftliche Lage ist, die in letzter Instanz die anderen Aspekte des Lebens dieses Systems bestimmt, einschließlich jener, die sich aus dem Zerfall ergeben. Ähnlich wie schon die Produktionsweisen, die dem Kapitalismus vorausgegangen waren, ist auch die kapitalistische Produktionsweise nach der Epoche ihres Aufstiegs, die Ende des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht hatte, zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Epoche ihres Niedergangs eingetreten. Die eigentlichen Ursachen dieser Dekadenz sind, wie auch bei den früheren Wirtschaftsordnungen, die wachsenden Spannungen zwischen den sich entwickelnden Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen. Was konkret den Kapitalismus angeht, dessen Entwicklung durch die Eroberung außerkapitalistischer Märkte bedingt ist, so war der Erste Weltkrieg das erste bedeutende Anzeichen seiner Dekadenz. Als die koloniale und wirtschaftliche Eroberung der Welt durch die kapitalistischen Metropolen abgeschlossen war, waren diese dazu gedrängt, sich um die bereits verteilten Märkte zu streiten. In der Folge trat der Kapitalismus in eine neue Periode seiner Geschichte ein, die 1919 von der Kommunistischen Internationale als Ära der Kriege und der Revolutionen bezeichnet wurde. Das Scheitern der revolutionären Welle, die aus dem Ersten Weltkrieg entstanden war, ebnete so den Weg zu wachsenden Erschütterungen der kapitalistischen Gesellschaft: die große Rezession der dreißiger Jahre und ihre Folge, der Zweite Weltkrieg, der noch viel mörderischer und barbarischer war als der Erste Weltkrieg. Die darauffolgende Phase, von einigen bürgerlichen „Experten" als die „glorreichen Dreißig" bezeichnet, ließ die Illusion aufkommenen, dass der Kapitalismus seine zerstörerischen Widersprüche überwunden habe, eine Illusion, der selbst Strömungen erlegen waren, die sich auf die kommunistische Revolution beriefen. Ende der 1960er Jahre folgte auf diese „Wohlstandsära", die sowohl auf zufälligen Umständen als auch auf spezifischen Gegenmaßnahmen zur Abmilderung der Auswirkungen der wirtschaftlichen Krise beruhte, erneut die offene Krise der kapitalistischen Produktionsweise, die sich Mitte der 70er Jahre noch verschärfte. Diese offene Krise des Kapitalismus deutete wieder auf die Alternative, die schon von der Kommunistischen Internationale angekündigt worden war: Weltkrieg oder Entwicklung der Arbeiterkämpfe mit der Perspektive der Überwindung des Kapitalismus. Der Weltkrieg ist im Gegensatz zu dem, was bestimmte Gruppen der Kommunistischen Linken denken, keineswegs eine „Lösung" der Krise, die es dem Kapitalismus erlauben würde, „sich zu regenerieren" und dynamisch einen neuen Zyklus zu beginnen. Die Sackgasse, in der sich dieses System befindet, die Zuspitzung der Spannungen zwischen den nationalen Sektoren des Kapitalismus führt auf der militärischen Ebene unweigerlich in die Flucht nach vorn, an deren Ende der Weltkrieg steht. Tatsächlich haben sich infolge der wachsenden wirtschaftlichen Zwänge des Kapitalismus die imperialistischen Spannungen ab den 1970er Jahren zugespitzt. Aber sie konnten nicht in dem Weltkrieg münden, da sich die Arbeiterklasse 1968 von ihrer historischen Niederlage wieder erholt hatte und sich gegen die ersten krisenbedingten Angriffe zur Wehr setzte. Trotz ihrer Fähigkeit, die einzig mögliche Perspektive (sofern man hier von „Perspektive" sprechen kann) der Bourgeoisie zu vereiteln, und trotz einer seit Jahrzehnten ungekannten Kampfbereitschaft, konnte aber auch die Arbeiterklasse ihre eigene Perspektive, die kommunistische Revolution, nicht in Angriff nehmen. Genau diese Konstellation, in der keine der beiden entscheidenden Klassen der Gesellschaft ihre Perspektive durchsetzen kann, in der sich die herrschende Klasse darauf beschränken muss, tagtäglich und sukzessiv das Versinken ihrer Wirtschaft in einer unüberwindbaren Krise zu „verwalten", ist die Ursache für den Eintritt des Kapitalismus in seine Zerfallsphase.
 

3 Eines der deutlichsten Anzeichen der fehlenden historischen Perspektive ist die Entwicklung des „Jeder-für-sich", das alle Ebenen der Gesellschaft, vom Individuum bis zu den Staaten, betrifft. Doch wäre es falsch zu meinen, dass es seit dem Beginn der Zerfallsphase im wirtschaftlichen Leben des Kapitalismus eine prinzipielle Änderung gegeben habe. Denn das „Jeder-für-sich", die Konkurrenz aller gegen alle gehört seit eh und je zum Wesen der kapitalistischen Produktionsweise. Mit Eintritt in seine Dekadenzphase konnte der Kapitalismus diese Eigenschaften nur durch eine massive Intervention des Staates in die Wirtschaft bändigen; solche Staatsinterventionen begannen im Ersten Weltkrieg und wurden in den 1930er Jahren insbesondere mit den faschistischen und keynesianischen Programmen reaktiviert. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde dieser Staatsinterventionismus durch die Etablierung von internationalen Organisationen wie den IWF, die Weltbank und die OECD ergänzt, denen später die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft folgte (die Vorläuferin der heutigen Europäischen Union). Zweck dieser Institutionen war es, zu verhindern, dass die wirtschaftlichen Widersprüche in einer allgemeinen Auflösung münden, wie dies nach dem „Schwarzen Donnerstag" von 1929 der Fall gewesen war. Trotz aller Reden über den „Triumph des Liberalismus" und das „Gesetz des freien Marktes" verzichten die Staaten heute weder auf Interventionen in die Wirtschaft noch auf Strukturen, die die Aufgabe haben, die internationalen Beziehungen wenigstens ansatzweise zu regulieren. Im Gegenteil: in der Zwischenzeit sind weitere Institutionen geschaffen worden, wie beispielsweise die Welthandelsorganisation. Doch weder jene Programme noch diese Organisationen haben es erlaubt, die Krise des Kapitalismus zu überwinden, auch wenn sie das Tempo derselben beträchtlich gebremst hatten. Trotz ihrer Reden über die „historischen" Wachstumsraten der Weltwirtschaft und die außergewöhnlichen Leistungssteigerungen der beiden asiatischen Riesen, Indien und insbesondere China, ist es der Bourgeoisie nicht gelungen, mit der Krise fertig zu werden.

Wirtschaftskrise: Kopf voran in die Verschuldung

4 Die Gründe für die Wachstumsraten im weltweiten Bruttosozialprodukt im Laufe der letzten Jahre, welche die Bourgeois und ihre intellektuellen Lakaien in Euphorie versetzen, sind grundsätzlich nicht neu. Es sind dieselben wie jene, die verhindert haben, dass die Sättigung der Märkte, die den Ausbruch der Krise Ende der 1960er Jahre bewirkte, die weltweite Wirtschaft vollständig erdrosselt hatte; sie lassen sich unter dem Begriff der wachsenden Verschuldung subsummieren. Gegenwärtig stellt die gewaltige Verschuldung der amerikanischen Wirtschaft - sowohl in ihrem Staatsbudget als auch in ihrer Handelsbilanz - die wichtigste „Lokomotive" für den weltweiten Wachstum dar. Effektiv handelt es sich dabei um eine Flucht nach vorn, die weit entfernt davon ist, die Widersprüche des Kapitalismus zu lösen und uns nur eine noch schmerzhaftere Zukunft beschert, mit einer brutalen Verlangsamung des Wachstums, wie dies seit mehr als dreißig Jahren immer wieder der Fall gewesen war. Schon jetzt lösen die Gewitterwolken, die sich im Immobiliensektor in den Vereinigten Staaten - einer wichtigen Triebkraft der nationalen Ökonomie - mit der Gefahr von katastrophalen Bankenpleiten zusammenbrauen, große Sorgen in den maßgeblichen Wirtschaftskreisen aus. Diese Sorgen werden verstärkt durch die Aussicht auf andere Pleiten, die von „Hedgefonds" (spekulative Fonds) ausgehen, wie das Beispiel von Amaranth im Oktober 2006 veranschaulicht hat. Die Bedrohungslage ist um so ernsthafter, als diese Gebilde, deren Zweck darin besteht, kurzfristig große Profite zu machen, indem mit den Kursänderungen bei den Währungen oder den Rohstoffen spekuliert wird, keineswegs Heckenschützen des internationalen Finanzsystems sind. Vielmehr platzieren die „seriösesten" Finanzinstitute einen Teil ihrer Guthaben in diesen „Hedgefonds". So sind die in diesen Fonds investierten Summen derart gewaltig, dass sie dem jährlichen Bruttoinlandsprodukt eines Landes wie Frankreich gleichkommen, wobei sie wiederum einem noch sehr viel beträchtlicheren Kapitalverkehr als „Transmissionsriemen" dienen (etwa 700.000 Milliarden Dollar im Jahr 2002, das heißt 20 Mal mehr als die Transaktionen von Gütern und Dienstleistungen, also der „realen" Produkte). Und es gibt keine Weisheiten von „Globalisierungsgegnern" und anderen Gegnern der „Verfinanzung" der Wirtschaft, die daran auch nur das Geringste ändern könnten. Diese politischen Strömungen möchten einen „sauberen", „gerechten" Kapitalismus, der insbesondere die Spekulation unterbindet. In Tat und Wahrheit ist Letztere keineswegs Auswuchs eines „schlechten" Kapitalismus, der seine Verantwortung dafür „vergessen" habe, in wirklich produktive Sektoren zu investieren. Wie Marx schon im 19. Jahrhundert festgestellt hat, ist die Spekulation eine Folge der Tatsache, dass die Kapitalbesitzer angesichts des Mangels an zahlungskräftigen Absatzmärkten für ihre produktiven Investitionen es vorziehen, ihr Kapital zwecks Gewinnmaximierung kurzfristig in eine gigantische Lotterie zu stecken, eine Lotterie, die heute den Kapitalismus in ein weltumspannendes Kasino verwandelt hat. Der Wunsch, dass der Kapitalismus heutzutage auf die Spekulation verzichtet, ist so realistisch wie der Wunsch, dass aus Tigern Vegetarier werden.
 

5 Die außergewöhnlichen Wachstumsraten, die gegenwärtig Länder wie Indien und insbesondere China erleben, stellen in keiner Weise einen Beweis für einen „frischen Wind" in der Weltwirtschaft dar, selbst wenn sie im Laufe der letzten Zeit beträchtlich zum erhöhten Wachstum derselben beigetragen haben. Die Grundlage dieses außergewöhnlichen Wachstums in beiden Ländern wiederum ist paradoxerweise die Krise des Kapitalismus. In der Tat resultiert die wesentliche Dynamik dieses Wachstums aus zwei Faktoren: den Ausfuhren und den Investitionen von Kapital, das aus den höchstentwickelten Ländern stammt. Wenn der Handel dieser Länder sich immer mehr auf Güter verlagert, die in China statt in den „alten" Industrieländern hergestellt werden, so geschieht dies, weil sie zu sehr viel niedrigeren Preisen verkauft werden können, was immer mehr zum obersten Gebot wird, je gesättigter die Märkte sind und je schärfer die Handelskonkurrenz wird. Gleichzeitig erlaubt dieser Prozess dem Kapital, die Kosten der Arbeitskraft in den Industrieländern zu vermindern. Der gleichen Logik gehorcht auch das Phänomen der „Auslagerung", des Transfers der Industrieproduktion der großen Unternehmen in Länder der Dritten Welt, wo die Arbeitskräfte unvergleichlich billiger sind als in den höchstentwickelten Ländern. Es ist übrigens festzustellen, dass die chinesische Wirtschaft einerseits von diesen „Auslagerungen" auf ihr eigenes Territorium profitiert, andererseits aber selbst dazu tendiert, genauso gegenüber Ländern zu verfahren, wo die Löhne noch niedriger sind.
 

6 Das „zweistellige Wachstum" Chinas (insbesondere seiner Industrie) findet vor dem Hintergrund einer hemmungslosen Ausbeutung der Arbeiterklasse dieses Landes statt, die oft Lebensbedingungen kennt, die mit jenen der englischen Arbeiterklasse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergleichbar sind - Arbeitsbedingungen, die von Engels 1844 in seinem bemerkenswerten Werk Die Lage der arbeitenden Klasse in England angeprangert wurden. Für sich genommen sind diese Bedingungen kein Kennzeichen des Bankrotts des Kapitalismus, denn dieses System hat sich einst mithilfe einer ebenso barbarischen Ausbeutung des Proletariats aufgemacht, die Welt zu erobern. Und doch gibt es grundlegende Unterschiede zwischen dem Wirtschaftswachstum und den Bedingungen der Arbeiterklasse in den ersten kapitalistischen Ländern des 19. Jahrhunderts einerseits und denjenigen im heutigen China andererseits:

- in den Erstgenannten hat die Erhöhung der Zahl der Industriearbeiter in dem einen Land nicht mit einer Verminderung in dem anderen korrespondiert; vielmehr haben sich die Industriesektoren in Ländern wie England, Frankreich, Deutschland oder den Vereinigten Staaten parallel entwickelt. Gleichzeitig haben sich die Lebensbedingungen des Proletariats insbesondere dank seines Widerstandes während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stetig verbessert;

- was das heutige China betrifft, so wächst die Industrie dieses Landes (wie die anderer Länder der Dritten Welt) auf Kosten zahlreicher Industriesektoren, die in den alten kapitalistischen Ländern verschwinden; gleichzeitig sind die „Auslagerungen" Waffen eines allgemeinen Angriffs auf die Arbeiterklasse dieser Länder, eines Angriffs, der begonnen hat, lange bevor die „Auslagerungen" zur gängigen Praxis geworden sind. Doch die Auslagerungen von Produktionsstätten erlaubt es der Bourgeoisie, den Angriff in puncto Arbeitslosigkeit, berufliche Dequalifizierung, Verelendung und Senkung des Lebensstandards zu intensivieren.

Somit ist das „chinesische Wunder" und anderer Länder der Dritten Welt weit entfernt davon, einen „frischen Wind" für die kapitalistische Wirtschaft darzustellen. Es ist nichts anderes als eine Variante des niedergehenden Kapitalismus. Darüber hinaus stellt die extreme Exportabhängigkeit der chinesischen Wirtschaft einen empfindlichen Punkt im Falle eines Nachfragerückgangs dar, eines Rückgangs, der unweigerlich kommen wird, insbesondere wenn die amerikanische Wirtschaft gezwungen wird, etwas Ordnung in die schwindelerregende Schuldenwirtschaft zu bringen, die es ihr momentan erlaubt, die Rolle der „Lokomotive" der weltweiten Nachfrage zu spielen. So wie das „Wunder" der asiatischen „Tiger" und „Drachen", die durch zweistellige Wachstumsraten geglänzt hatten, 1997 ein schmerzhaftes Ende fand, wird das heutige „chinesische Wunder", auch wenn es andere Ursachen hat und über wesentlich ernsthaftere Trümpfe verfügt, früher oder später unweigerlich in der historischen Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise landen.

Die Zuspitzung der imperialistischen Spannungen und des Chaos

7 In keinem Land dieser Erde kann die Wirtschaft den Zwangsläufigkeiten der Dekadenz entgehen. Und das mit gutem Grund, denn die Dekadenz geht vor allem von der ökonomischen Frage aus. Dennoch äußern sich heute die deutlichsten Zeichen des Zerfalls nicht auf der ökonomischen Ebene. Vielmehr zeigen sie sich im politischen Bereich der kapitalistischen Gesellschaft, in den Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Sektoren der herrschenden Klasse und insbesondere in den imperialistischen Auseinandersetzungen. So trat das erste bedeutende Anzeichen für den Eintritt des Kapitalismus in die Zerfallsphase auf der Ebene der imperialistischen Konflikte auf: des Zusammenbruchs des imperialistischen Ostblocks Ende der 1980er Jahre, der sehr schnell auch die Auflösung des westlichen Blocks nach sich zog. Es sind heute also vor allem die politischen, diplomatischen und militärischen Beziehungen zwischen den verschiedenen Staaten, in denen sich das „Jeder-für-sich", das Hauptmerkmal der Zerfallsphase, äußert. Das Blocksystem im Kalten Krieg beinhaltete zwar die Gefahr eines dritten Weltkrieges (der allerdings nicht ausbrach, weil seit Ende der 1960er Jahre die internationale Arbeiterklasse im Weg stand); gleichzeitig ermöglichte jedoch die Existenz der Blöcke, dass die imperialistischen Spannungen gewissermaßen in „geordnete Bahnen" gelenkt wurden, vor allem durch die Kontrolle, die in beiden Lagern durch die jeweils führende Macht ausgeübt wurde. Seit 1989 ist die Situation eine völlig andere. Zwar hat sich die akute Gefahr eines Weltkrieges vermindert, doch gleichzeitig fand eine wahre Entfesselung imperialistischer Rivalitäten und lokaler Kriege unter direkter Beteiligung der größeren Mächte statt, allen voran der USA. Das weltweite Chaos, das seit dem Ende des Kalten Krieges um sich griff, zwang die USA, ihre Rolle als „Weltpolizist", die sie seit Jahrzehnten spielt, noch zu verstärken. Jedoch führt dies keineswegs zu einer Stabilisierung der Welt; den USA geht es nur noch darum, krampfhaft ihre führende Rolle aufrechtzuerhalten. Eine Führungsrolle, die vor allem durch die ehemaligen Verbündeten permanent in Frage gestellt wird, da die Grundvoraussetzung der ehemaligen Blöcke, die Bedrohung durch den anderen Block, nicht mehr existiert. In Ermangelung der „sowjetischen Gefahr" bleibt das einzige Mittel für die USA zur Durchsetzung ihrer Disziplin das Ausspielen ihrer größten Stärke - der absoluten militärischen Überlegenheit. Dadurch wird die Politik der USA selbst zu einem der stärksten Zerrüttungsfaktoren der Welt. Seit Beginn der 1990er Jahre häufen sich die Beispiele dafür: Der erste Golfkrieg 1991 hatte zum Ziel, die sich auflösenden Verbindungen zwischen den Ländern des ehemaligen Westblocks wieder fester zu schnüren (es ging nicht, wie vorgetäuscht, um die „Verteidigung des verletzten Völkerrechts" und gegen die Besetzung Kuwaits durch den Irak). Kurz darauf zerrissen die Bande unter den Ländern des ehemaligen westlichen Blocks gänzlich: Deutschland schürte das Feuer in Jugoslawien, indem es Slowenien und Kroatien ermunterte, ihre Unabhängigkeit zu erklären. Frankreich und Großbritannien bildeten erneut, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, eine „Große Allianz", indem sie gemeinsam die imperialistischen Interessen Serbiens unterstützten, und die USA spielten sich als die Beschützer der Muslime Bosniens auf.
 

8 Die Niederlage der US-Bourgeoisie während der 1990er Jahre in den verschiedenen Militäroperationen, mit denen sie ihre Führungsrolle verankern wollte, hat sie dazu gezwungen, einen neuen „Feind" der „freien Welt" und der Demokratie zu suchen, mit dem sie die Großmächte, vor allem aber ihre ehemaligen Verbündeten, hinter sich scharen konnte: Sie fand ihn im islamistischen Terrorismus. Die Attentate des 11. September 2001, die in den Augen eines Drittels der amerikanischen Bevölkerung und der Hälfte der Einwohner von New York vom amerikanischen Staat wahrscheinlich so gewollt oder sogar vorbereitet wurden, dienten als Anlass für den neuen Kreuzzug. Fünf Jahre später ist das Ergebnis dieser Politik offenkundig. Wenn die Attentate des 11. September es den USA noch erlaubt hatten, Länder wie Frankreich und Deutschland in ihre Intervention in Afghanistan einzubinden, so hatte es nicht mehr dazu gereicht, diese in das Abenteuer im Irak 2003 zu zwingen. Im Gegenteil hatten diese beiden Länder zusammen mit Russland ein kurzfristiges Bündnis gegen die Intervention im Irak geschmiedet. Auch jene „Verbündete", die anfangs der „Koalition" angehörten, die im Irak intervenierte, wie Spanien und Italien, haben mittlerweile das sinkende Schiff verlassen. Die US-Bourgeoisie hat keines ihrer zu Beginn groß angekündigten Ziele erreicht: weder die Zerstörung von „Massenvernichtungswaffen" im Irak noch die Errichtung einer friedlichen „Demokratie" in diesem Land oder die Stabilisierung und Rückkehr des Friedens in der gesamten Region unter der Ägide der USA, die Zurückdrängung des Terrorismus oder die Akzeptanz der militärischen Interventionen ihres Regimes in der US-Bevölkerung.

Das Geheimnis der „Massenvernichtungswaffen" hatte sich schnell gelüftet: Es wurde klar, dass die einzigen im Irak vorhandenen Massenvernichtungswaffen von der „Koalition" selbst mitgebracht worden waren. Dies enthüllte die Lügen, mit denen die Bush-Administration ihre Intervention in dieses Land rechtfertigen wollte. Bezüglich der Zurückdrängung des Terrorismus gilt festzustellen, dass die Invasion im Irak ihm keineswegs die Flügel gestutzt hat, sondern im Gegenteil zu dessen Verstärkung beigetragen hat, sei es im Irak selbst oder in anderen Teilen der Welt so wie auch in den Metropolen des Kapitalismus, wie aus den Anschlägen im März 2004 in Madrid und im Juli 2005 in London ersichtlich wird.

Aus der geplanten Errichtung einer friedlichen „Demokratie" im Irak ist lediglich die Installation einer Marionetten-Regierung geworden, die ohne die massive Unterstützung der US-Truppen nicht die geringste Kontrolle über das Land ausüben könnte. Eine „Kontrolle", die sich ohnehin nur auf einige „Sicherheitszonen" beschränkt und den Rest des Landes der gegenseitigen Massakrierung der schiitischen und sunnitischen Bevölkerungsteile sowie den Terroranschlägen überlassen hat, die seit der Entmachtung Saddam Husseins Tausende von Menschenleben gefordert haben.

Stabilität und Frieden im Mittleren und Nahen Osten waren noch nie so weit entfernt wie heute. Im 50-jährigen Konflikt zwischen Israel und Palästina hat es in den vergangenen Jahren eine neuerliche Zuspitzung der Situation als Ganzes sowie der Zusammenstöße unter den Palästinensern zwischen Fatah und Hamas gegeben; auch der ohnerhin schon beträchtliche Gesichtsverlust der israelischen Regierung wird immer dramatischer. Zweifellos ist der Autoritätsverlust des amerikanischen Riesen in der Region infolge seiner bitteren Niederlage im Irak eng mit dem Chaos und dem Scheitern des „Friedensprozesses", dem er Paten stand, verknüpft.

Dieser Autoritätsverlust ist auch Grund für die vermehrten Schwierigkeiten der NATO-Truppen in Afghanistan und für en Kontrollverlust der Regierung Karzai gegenüber den Taliban.

Überdies ist die zunehmende Dreistigkeit, die der Iran bei der Vorbereitung seiner Atomwaffenproduktion an den Tag legt, eine direkte Konsequenz aus dem Versinken der USA im irakischen Sumpf, was Letzteren weitere militärische Interventionen verunmöglicht.

Und schlussendlich haben sich die Anstrengungen der US-Bourgeoisie, das „Vietnam-Syndrom" endlich zu überwinden, also den Widerstand innerhalb der heimischen Bevölkerung gegen die Entsendung von Soldaten auf das Schlachtfeld aufzuheben, gerade in ihr Gegenteil verkehrt. Nachdem die Emotionen, die durch die Attentate des 11. September geschürt wurden, zunächst die nationalistischen Aufwallungen, den Willen zur „nationalen Einheit" und die Entschlossenheit, sich am „Kampf gegen den Terrorismus" zu beteiligen, gestärkt hatten, sind mittlerweile die Zweifel am Krieg und an der Entsendung von amerikanischen Truppen wieder erheblich gewachsen.

Heute steckt die US-Bourgeoisie im Irak in einer regelrechten Sackgasse. Einerseits haben die USA nicht die militärischen, wirtschaftlichen und politischen Mittel, um in diesem Land irgendeine „Ordnung" wiederherzustellen. Andererseits können die USA es sich nicht erlauben, sich aus dem Irak zurückzuziehen, die Niederlage ihrer Politik offen einzugestehen und den Irak einer totalen Zerstückelung sowie die gesamte Region einer wachsenden Destabilisierung zu überlassen.
 

9 Die Regierungsbilanz von Bush junior ist sicher eine der katastrophalsten in der Geschichte der USA. Die Beförderung der so genannten „Neokonservativen" an die Staatsspitze 2001 war ein regelrechtes Desaster für die US-Bourgeoisie. Weshalb hat die führende Bourgeoisie der Welt diese Bande von Abenteurern und Stümpern dazu berufen, ihre Interessen zu vertreten? Was war der Grund für die Blindheit der herrschenden Klasse des stärksten kapitalistischen Landes der Welt? Tatsächlich war die Beauftragung der Bande um Cheney, Rumsfeld und Konsorten mit den Regierungsgeschäften keineswegs eine ebenso simple wie gigantische „Fehlbesetzung" durch die US-Bourgeoisie. Wenn sich die Lage der USA auf dem imperialistischen Terrain noch sichtbarer verschlechtert hat, so ist dies vor allem Ausdruck der Sackgasse, in der sich dieses Land schon zuvor durch den zunehmenden Verlust ihrer Führungsrolle befand, und des allgemein herrschenden „Jeder-für-sich" in den internationalen Beziehungen, das die Zerfallsphase kennzeichnet.

Dies beweist die Tatsache, dass die erfahrenste und intelligenteste Bourgeoise der Welt, die herrschende Klasse Großbritanniens, sich in das Irak-Abenteuer ziehen ließ. Ein anderes Beispiel für den Hang zu Unheil bringenden imperialistischen Schritten von Seiten der „fähigsten" Bourgeoisien - jener, die bisher meisterlich ihre militärische Stärke ausspielen konnten - ist, eine Nummer kleiner, das katastrophale militärische Abenteuer Israels im Libanon im Jahr 2006. Eine Offensive, die grünes Licht aus Washington erhalten hatte und die Hisbollah schwächen sollte, aber im Gegenteil eine Stärkung dieser Gruppierung zur Folge hatte.

Die zunehmende Zerstörung der Umwelt

10 Das militärische Chaos, das sich über die Erde ausbreitet und ganze Gebiete in einen Abgrund der Verwüstung stürzt - vor allem im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika - ist keineswegs der einzige Ausdruck der historischen Sackgasse, in der sich der Kapitalismus befindet, und letztlich auch nicht die größte Bedrohung für die Gattung Mensch. Heute wird immer deutlicher, dass die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems und seiner Funktionsweise auch die Zerstörung der Umwelt, die die Entwicklung der Menschheit erst ermöglichte, mit sich bringt. Der anhaltende Ausstoß von Treibhausgasen im heutigen Ausmaß und die Erwärmung des Planeten werden nie dagewesene klimatische Katastrophen auslösen (Orkane, Verwüstungen, Überschwemmungen, usw.), die mit schrecklichen menschlichen Leiden (Hunger, Vertreibung von Millionen von Menschen, Überbevölkerung in den bisher am meisten verschonten Regionen, usw.) einhergehen. Angesichts der unübersehbaren Anzeichen der Umweltzerstörung können die Regierungen und die führenden Teile der Bourgeoisie die Dramatik der Lage und die sich abzeichnenden Katastrophen nicht länger vor der Bevölkerung verheimlichen. Darum präsentieren sich die Bourgeoisien und fast alle bürgerlichen Parteien der Industrieländer im grünen Gewand und versprechen, Maßnahmen zu ergreifen, um die aufkommenden Katastrophen von der Menschheit abzuwenden. Doch mit dem Problem der Umweltzerstörung verhält es sich ähnlich wie mit den Kriegen: Alle Teile der herrschenden Klasse sind gegen den Krieg, und dennoch ist diese Klasse seit dem Eintritt des Kapitalismus in die Dekadenz unfähig, einen Frieden zu garantieren. Hier handelt es sich keinesfalls um eine Frage des guten oder schlechten Willens (auch wenn in den Fraktionen, die den Krieg am eifrigsten anfeuern, die schmutzigsten Interessen zu finden sind). Selbst die „pazifistischsten" Führer der herrschenden Klasse können der objektiven Logik nicht entfliehen, die ihren „humanistischen" Anwandlungen und der „Vernunft" keinen Raum lässt. Im gleichen Maße ist der von den Spitzen der herrschenden Klasse plakativ zur Schau gestellte „gute Wille", die Umwelt zu schützen, angesichts der Zwänge der kapitalistischen Wirtschaft wirkungslos. Meist handelt es sich eh nur um Lippenbekenntnisse, mit denen möglichst viele Wählerstimmen erschlichen werden sollen. Sich dem Problem des Ausstoßes von Treibhausgasen ernsthaft zu stellen würde beträchtliche Veränderungen in der Industrie, der Energieproduktion, dem Transportwesen und den Wohnverhältnissen erfordern und massive Investitionen in diese Sektoren nach sich ziehen. Es würde überdies die gewichtigen ökonomischen Interessen der großen Masse der Unternehmer, aber auch des Staates selbst in Frage stellen. Konkret: Jeder Staat, der die notwendigen Maßnahmen ergreifen würde, um einen wirkungsvollen Beitrag zur Lösung des Problems beizusteuern, fände sich sofort und massiv in seiner Konkurrenzfähigkeit auf dem internationalen Markt eingeschränkt. Die Staaten verhalten sich bezüglich der Maßnahmen zur Eindämmung der Erderwärmung so wie die Fabrikanten gegenüber den Lohnerhöhungen der Arbeiter: Sie sind alle dafür... solange die anderen davon betroffen sind. So lange die kapitalistische Produktionsweise besteht, ist die Menschheit dazu verdammt, unter einer immer dickeren Rußschicht zu leiden, die dieses System in seiner Agonie über den Erdball zieht, ein Phänomen, das das System selbst zu bedrohen beginnt.

Wie die IKS schon vor mehr als 15 Jahren hervorgehoben hat, bedeutet der zerfallende Kapitalismus eine Bedrohung für das Überleben der Menschheit. Die von Engels Ende des 19. Jahrhunderts formulierte Alternative „Sozialismus oder Barbarei" ist im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer schrecklichen Realität geworden. Was uns das 21. Jahrhundert in Aussicht stellt, ist in der Tat „Sozialismus oder Zerstörung der Menschheit". Und das ist die Herausforderung, vor der die einzige Klasse in der Gesellschaft steht, die den Kapitalismus überwinden kann, die Arbeiterklasse.

Die Perspektive des Klassenkampfes und die Entwicklung des Klassenbewusstseins

11 Mit dieser Aufgabe ist die Arbeiterklasse konfrontiert, seit sie 1968 wieder auf die historische Bühne getreten war und damit der schlimmsten Konterrevolution in ihrer Geschichte ein Ende bereitet hatte. Ihr Wiederauftreten verhinderte, dass der Kapitalismus seine Lösung für die offene Wirtschaftskrise, den Weltkrieg, durchsetzen konnte. In den darauffolgenden zwei Jahrzehnten fanden Kämpfe der Arbeiterklasse mit all ihren Höhen und Tiefen, Fortschritten und Rückschlägen statt; Kämpfe, die es der Arbeiterklasse erlaubten, Erfahrungen zu sammeln, vor allem über die Rolle der Gewerkschaften als Saboteure des Klassenkampfes. Doch gleichzeitig wurde die Arbeiterklasse zunehmend dem Gewicht des Zerfalls ausgesetzt, was vor allem erklärt, dass die Ablehnung der klassischen Gewerkschaften vom Rückzug in den Korporatismus begeleitet war, eine Folge des Jeder-gegen-Jeden, das selbst im Klassenkampf seinen Ausdruck findet. Es war tatsächlich der Zerfall des Kapitalismus, der durch seine spektakulärste Äußerung, den Zusammenbruch des Ostblocks und der stalinistischen Regimes 1989, dieser ersten Reihe von Arbeiterkämpfen ein Ende bereitet hatte. Die ohrenbetäubende Kampagne der Bourgeoisie über das „Ende des Kommunismus", den „endgültigen Sieg des liberalen und demokratischen Kapitalismus" und das „Ende des Klassenkampfes", ja der Arbeiterklasse selbst haben dem Proletariat auf der Ebene des Bewusstseins und der Kampfbereitschaft einen herben Rückschlag versetzt. Dieser Rückschlag war nachhaltig und dauerte über zehn Jahre. Er hat eine ganze Generation von Arbeitern geprägt und Ratlosigkeit, ja selbst Demoralisierung ausgelöst. Diese Ratlosigkeit machte sich aber nicht lediglich aufgrund der Ereignisse Ende der 1980er Jahre breit, sondern auch angesichts ihrer Folgeerscheinungen wie den ersten Golfkrieg 1991 und den Krieg in Ex-Jugoslawien. Diese Ereignisse widerlegten zwar klar und deutlich die euphorischen Erklärungen von US-Präsident Bush senior nach dem Ende des Kalten Krieges, dass nun eine „Ära des Friedens und Wachstums" angebrochen sei, doch bewirkten sie angesichts der allgemeinen Ratlosigkeit in der Klasse keine Weiterentwicklung des Bewusstseins. Im Gegenteil hatten diese Ereignisse ein tiefes Gefühl der Machtlosigkeit in der Arbeiterklasse hinterlassen, was das Selbstvertrauen und die Kampfbereitschaft weiter sinken ließ.

Doch auch in den 90er Jahren hatte die Arbeiterklasse den Kampf nicht völlig aufgegeben. Die anhaltenden Angriffe des kapitalistischen Systems zwangen sie zur Gegenwehr. Doch diese Kämpfe wiesen nicht die Dimension, das Bewusstsein und die Fähigkeit auf, den Gewerkschaften so entgegenzutreten, wie dies noch in der vorangegangenen Periode der Fall gewesen war. Erst im Laufe des Jahres 2003 begann sich das Proletariat vor allem in Gestalt der großen Mobilisierungen in Frankreich und Österreich gegen die Angriffe auf die Altersrenten wieder von den Rückschlägen nach 1889 zu erholen. Seither hat sich die Tendenz zur Wiederaufnahme des Klassenkampfes und zur Weiterentwicklung des Bewusstseins bestätigt. Überall in den zentralen Ländern haben Arbeiterkämpfe stattgefunden, auch in den wichtigsten wie in den USA (Boeing und öffentlicher Verkehr in New York 2005), in Deutschland (Daimler und Opel 2004, Spitalärzte im Frühling 2006, Deutsche Telekom im Frühling 2007), Großbritannien (Londoner Flughafen im August 2005, öffentlicher Dienst im Frühling 2006), Frankreich (Studenten und Schüler gegen den CPE im Frühling 2006), aber auch in einer eine ganze Reihe von peripheren Ländern wie Dubai (Bauarbeiter im Frühling 2006), Bangladesh (Textilarbeiter im Frühling 2006), Ägypten (Textil- und Transportarbeiter im Frühling 2007).
 

12 Engels schrieb einst, dass die Arbeiterklasse ihren Kampf auf drei Ebenen führt: auf der ökonomischen, der politischen und der theoretischen Ebene. Erst wenn wir die Welle von Kämpfen nach 1968 und jene seit 2003 auf diesen Ebenen vergleichen, können wir die Perspektive der gegenwärtigen Phase ausmachen.

Die Kämpfe nach 1968 hatten eine große politische Bedeutung: Sie stellten das Ende der Periode der Konterrevolution dar. Sie riefen auch einen theoretischen Denkprozess hervor, der das Wiederauftauchen von linkskommunistischen Strömungen begünstigte, von denen die Gründung der IKS 1975 der wichtigste Ausdruck war. Die Arbeiterkämpfe vom Mai 1968 in Frankreich und der „Heiße Herbst" 1969 in Italien ließen angesichts ihrer politischen Forderungen vermuten, dass eine Politisierung der Arbeiterklasse auf internationaler Ebene bevorsteht. Doch diese Erwartungen wurden nicht erfüllt. Die Identität, die sich innerhalb der Klasse durch diese Kämpfe entwickelte, war vielmehr von ökonomischen Kategorien geprägt und weniger eine Identifizierung mit ihrer politischen Kraft innerhalb der Gesellschaft. Die Tatsache, dass diese Kämpfe die herrschende Klasse daran hinderten, den Weg zu einem dritten Weltkrieg einzuschlagen, wurde von der Arbeiterklasse (inklusive der Mehrheit der revolutionären Gruppierungen) nicht wahrgenommen. Der Massenstreik in Polen 1980 hatte, auch wenn er einen (seit dem Ende der revolutionären Welle nach dem Ersten Weltkrieg) neuen Höhepunkt in puncto Organisationskraft der Arbeiterklasse darstellte, eine entscheidende Schwäche: Die einzige „Politisierung", die stattfand, war die Annäherung an bürgerlich-demokratische Ideen und an den Nationalismus.

Die IKS hatte schon damals folgende Feststellungen gemacht:

- das langsame Tempo der Wirtschaftskrise machte es im Gegensatz zum imperialistischen Krieg, aus dem die erste globale revolutionäre Welle hervorgegangen war, möglich, den Niedergang des Systems zu verschleiern, was Illusionen über die Fähigkeit des Kapitalismus schürte, der Arbeiterklasse ein gutes Leben zu sichern;

- es existierte aufgrund der traumatischen Erfahrung mit dem Stalinismus ein Misstrauen gegenüber den revolutionären politischen Organisationen (unter den Arbeitern in den Ländern des Ostblocks hatte dies gar große Illusionen über die „Vorteile" der traditionellen bürgerlichen Demokratie hervorgerufen);

- der organische Bruch hatte die revolutionären Organisationen von ihrer Klasse abgeschnitten.

 

13 Die Situation, in der sich heute die neue Welle von Klassenkämpfen entfaltet, ist eine völlig andere:

- nahezu vierzig Jahre der offenen Krise und Angriffe gegen die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse und vor allem die wachsende Arbeitslosigkeit und Prekarisierung haben die Illusionen weggefegt, „dass es uns morgen besser gehen wird": Die alten und auch die jungen Generationen werden sich immer bewusster, dass es ihnen morgen noch schlechter ergehen wird als heute;

- das Andauern der immer barbarischeren kriegerischen Auseinandersetzungen sowie die Bedrohung durch die Umweltzerstörung erzeugen eine (wenn auch noch konfuse) Ahnung, dass sich diese Gesellschaft grundsätzlich ändern muss. Das Auftauchen der Antiglobalisierungs-Bewegung mit ihrer Parole: „Eine andere Welt ist möglich" stellt dabei ein Gegengift dar, das von der bürgerlichen Gesellschaft verbreitet wird, um diese Ahnungen auf falsche Bahnen zu lenken;

- das Trauma, das durch den Stalinismus und die nach seinem Zerfall vor fast zwanzig Jahren ausgelösten Kampagnen verursacht wurde, klingt langsam ab. Die Arbeiter der neuen Generation, die heute ins aktive Leben treten und sich damit auch potenziell am Klassenkampf beteiligen, befanden sich zur Zeit der schlimmsten Kampagnen über den so genannten „Tod des Kommunismus" noch im Kindesalter.

Diese Bedingungen bewirken eine Reihe von Unterschieden zwischen der heutigen Welle von Kämpfen und jener, die 1989 endete.

Auch wenn sie eine Reaktion auf ökonomische Angriffe sind, die ungleich heftiger und allgemeiner sind als jene, die das spektakuläre und massive Auftauchen der ersten Welle verursacht hatten, so haben die aktuellen Kämpfe in den zentralen Ländern des Kapitalismus noch nicht denselben massiven Charakter. Dies vor allem aus zwei Gründen:

- das historische Wiederauftauftauchen der Arbeiterklasse Ende der 1960er Jahre hatte die herrschende Klasse überrascht. Heute dagegen ist dies nicht mehr der Fall. Die Bourgeoisie unternimmt alles Mögliche, um der Arbeiterklasse zuvorzukommen und die Ausdehnung der Kämpfe vor allem durch ein systematisches mediales Ausblenden zu verhindern;

- der Einsatz von Streiks ist heute viel heikler, weil das Gewicht der Arbeitslosigkeit als Druckmittel gegen die Arbeiterklasse wirkt und Letztere sich auch bewusst ist, dass der Spielraum der Bourgeoisie zur Erfüllung von Forderungen immer kleiner wird.

Dieser letzte Aspekt ist jedoch nicht nur ein Faktor, der die Arbeiter vor massiven Kämpfen zurückschrecken lässt. Er erfordert auch ein tiefes Bewusstsein über das endgültige Scheitern des Kapitalismus, das eine Bedingung dafür ist, dass sich ein Bewusstsein über die Notwendigkeit der Überwindung dieses Systems bildet. In einer gewissen Weise sind die Hemmungen der Arbeiterklasse, sich in den Kampf zu stürzen, durch das schiere Ausmaß der Aufgaben bedingt, mit denen die kämpfende Klasse konfrontiert wird, nämlich mit nichts Geringerem als die proletarische Revolution.

Auch wenn die ökonomischen Kämpfe der Klasse momentan weniger heftig sind als die Kämpfe nach 1968, enthalten sie eine gewichtigere politische Dimension. Bereits jetzt machen sich die Kämpfe, die wir seit 2003 erleben, mehr und mehr die Frage der Solidarität zu eigen, eine Frage von höchster Wichtigkeit, da sie das wirksamste „Gegengift" zum für den gesellschaftlichen Zerfall typischen „Jeder-für-sich" darstellt und vor allem weil sie in ihrem Kern die Fähigkeit des Weltproletariates ausmacht, nicht nur die gegenwärtigen Kämpfe zu entfalten, sondern auch den Kapitalismus zu überwinden:

- der spontane Streik der Daimler-Arbeiter in Bremen gegen die Angriffe auf die Belegschaft ihres Betriebes in Stuttgart;

- der Solidaritätsstreik der GepäckarbeiterInnen in einem Londoner Flughafen gegen die Entlassungen von Angestellten eines Catering-Unternehmens, und dies trotz der Illegalität des Streiks;

- der Streik der Transportangestellten in New York aus Solidarität mit der jungen Generation, die die Direktion unter schlechteren Konditionen einstellen wollte.
 

14 Die Frage der Solidarität stand auch im Zentrum der Bewegung gegen das CPE-Gesetz in Frankreich im Frühjahr 2006, die sich - unter hauptsächlicher Beteili-
gung von StudentInnen und OberschülerInnen - voll und ganz auf dem Terrain der Arbeiterklasse befand:

- aktive Solidarität der Studierenden besser gestellter Universitäten mit den StudentInnen anderer Universitäten;

- Solidarität gegenüber den Kindern der Arbeiterklasse in den Vorstädten, deren Revolten im Herbst 2005 die miserablen Lebensbedingungen und die fehlenden Perspektiven, die ihnen der Kapitalismus bietet, ans Licht gebracht hatten;

- Solidarität unter den verschiedenen Generationen: zwischen jenen, die vor der Arbeitslosigkeit und prekären Arbeitsbedingungen stehen, und jenen, die sich bereits in einem Lohnarbeitsverhältnis befinden; zwischen jenen, die nun in den Klassenkampf eintreten, und jenen, die bereits einschlägige Erfahrungen gesammelt haben.
 

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Diese Bewegung war auch beispielhaft für die Fähigkeit der Klasse, ihre Kämpfe selbst in die Hand zu nehmen, mit Vollversammlungen und ihnen gegenüber verantwortlichen Streikkomitees (dies haben wir auch während des Streiks in den Metallbetrieben im spanischen Vigo Frühjahr 2006 gesehen, wo tägliche Vollversammlungen aller beteiligten Belegschaften auf der Straße abgehalten wurden). Die extreme Schwäche der Gewerkschaften im studentischen Milieu hatte dies ermöglicht; die Gewerkschaften konnten ihre traditionelle Rolle als Saboteure des Klassenkampfes nicht ausüben, eine Rolle, die sie bis zur Revolution verkörpern werden. Ein Beispiel für die arbeiterfeindliche Rolle der Gewerkschaften ist die Tatsache, dass die jüngsten Kämpfe oft in Ländern stattfanden, in denen die Gewerkschaften noch sehr schwach vertreten sind (wie in Bangladesh) oder direkt als Organe des Staates auftreten (wie in Ägypten).
 

16 Die Bewegung gegen das CPE-Gesetz, die in jenem Land stattfand, in dem auch die erste und spektakulärste Manifestation des historischen Wiedererwachens der Arbeiterklasse stattgefunden hatte, der Generalstreik in Frankreich 1968, deutet noch auf andere Unterschiede zwischen der heutigen Welle von Klassenkämpfen und der vorangegangenen hin:

- 1968 waren die Studentenbewegung und die Kämpfe der Arbeiterklasse, auch wenn sie sich zeitlich überschnitten und eine gegenseitige Sympathie vorhanden war, Ausdruck von zwei verschiedenen Realitäten zurzeit des Eintritts des Kapitalismus in seine offene Krise: einerseits eine Revolte des intellektuellen Kleinbürgertums in Gestalt der Studenten gegen die Degradierung ihres Status‘ innerhalb der Gesellschaft, andererseits ein ökonomischer Kampf der Arbeiterklasse gegen die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen. Die Bewegung der StudentInnen im Jahr 2006 war eine Bewegung der Arbeiterklasse und zeigte klar auf, dass die Veränderungen in der Arbeitswelt in den entwickeltsten Ländern (Vergrößerung des tertiären Sektors auf Kosten des industriellen Sektors) die Fähigkeit der Arbeiterklasse, Klassenkämpfe zu führen, nicht in Frage stellen;

- in der Bewegung von 1968 wurde die Frage der Revolution tagtäglich diskutiert. Doch dieses Interesse ging hauptsächlich von den StudentInnen aus, von denen sich die große Mehrheit bürgerlichen Ideologien hingab: dem Castrismus aus Kuba oder dem Maoismus aus China. In der Bewegung von 2006 wurde die Frage der Revolution viel weniger diskutiert, dafür herrschte aber ein viel klareres Bewusstsein darüber, dass nur die Mobilisierung und Einheit der gesamten Arbeiterklasse ein wirkungsvolles Mittel sind, um den Angriffen der Bourgeoise entgegenzutreten.
 

17 Diese letzte Frage führt uns zum dritten Aspekt des Klassenkampfes, den Engels formuliert hatte: zum theoretischen Kampf, zur Entwicklung des Bewusstseins innerhalb der Arbeiterklasse über die grundsätzlichen Perspektiven ihres Kampfes und zum Auftauchen von Elementen und Organisationen, die ein Produkt dieser Anstrengungen sind. Wie 1968 geht heute die Zunahme der Arbeiterkämpfe mit einem vertieften Nachdenken einher. Dabei stellt das Auftauchen neuer Leute, die sich den Positionen der Kommunistischen Linken zuwenden, lediglich die Spitze des Eisbergs dar. Jedoch bestehen auch hier erhebliche Unterschiede zwischen dem heutigen Denkprozess und den Reflexionen nach 1968. Damals setzte das Nachdenken aufgrund massiver und spektakulärer Kämpfe ein, wohingegen der heutige Denkprozess nicht darauf wartet, bis die Arbeiterklasse Kämpfe derselben Dimension entfacht. Dies ist ein Resultat der unterschiedlichen Bedingungen, mit denen das Proletariat heute - im Gegensatz zu denen Ende der 1960er Jahre - konfrontiert ist: Ein Charakteristikum der Kampfwelle, die 1968 begann, bestand darin, dass sie aufgrund ihrer Ausbreitung das Potenzial einer proletarischen Revolution erahnen ließ. Ein Potenzial, das infolge der schlimmen Konterrevolution und der Illusionen, die das „Wachstum" des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg produziert hatte, aus den Köpfen verschwunden war. Heute ist es nicht die Möglichkeit einer Revolution, die den Denkprozess nährt, sondern - angesichts der katastrophalen Perspektive des Kapitalismus - ihre Notwendigkeit. Aus diesem Grund vollzieht sich alles langsamer und weniger sichtbar als in den 1970er Jahren. Der ganze Prozess ist jedoch viel nachhaltiger und nicht so abhängig von Schwankungen im Kampf der Arbeiterklasse.

Der Enthusiasmus für die Revolution, der sich 1968 und in den darauffolgenden Jahren ausgedrückt hatte, trieb die Mehrheit der Menschen, die an eine Revolution glaubten, in die Arme linksextremistischer Gruppen. Nur eine kleine Minderheit, die den radikalen kleinbürgerlichen Ideologien und der Momentbezogenheit der Studentenbewegung weniger stark ausgesetzt war, konnte sich den Positionen des Linkskommunismus annähern und seinen Organisationen beitreten. Die Schwierigkeiten, auf welche die Arbeiterklasse angesichts diverser Gegenoffensiven der herrschenden Klasse gestoßen war, und der gesellschaftliche Kontext, der noch Illusionen in die Überlebensfähigkeit des Kapitalismus erlaubte, ließen reformistische Ideologien wiederaufleben, die vor allem die „extremen" Gruppen links des offiziellen, diskreditierten Stalinismus förderten. Heute, nach dem Zusammenbruch des Stalinismus, nehmen die linken Gruppen seinen frei gewordenen Platz ein. Die „Etablierung" dieser Gruppierungen im politischen Spiel der Bourgeoisie löst eine Gegenreaktion ihrer ehrlichsten Anhänger aus, die auf der Suche nach Klassenpositionen sind. Aus diesem Grund drückt sich das Nachdenken in der Arbeiterklasse nicht nur durch das Auftauchen junger Leute aus, die sich dem Linkskommunismus zuwenden, sondern auch durch Ältere, die bereits Erfahrungen in Organisationen der bürgerlichen Linken gesammelt haben. Dies ist ein sehr positives Phänomen, das uns verspricht, dass die revolutionären Kräfte, die unvermeidlich aus den Kämpfen der Arbeiterklasse auftauchen, nicht mehr so einfach sterilisiert und eingebunden werden können, wie dies im Laufe der 1970er Jahre noch der Fall gewesen war, und dass sie sich vermehrt den Positionen und Organisationen der Kommunistischen Linken anschließen.

Die Verantwortung der revolutionären Organisationen, und vor allem der IKS, besteht darin, aktiver Teil in diesem Denkprozess innerhalb der Klasse zu sein. Dies nicht nur durch aktive Interventionen in den sich entwickelnden Klassenkämpfen, sondern auch durch die Stimulierung der Gruppen und Einzelpersonen, die sich diesem Kampf anschließen wollen.

 

IKS

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