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Internationale Revue 39

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Brief von Marx an Arnold Ruge, September 1843

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M. an R.
Kreuznach, im September 1843

Es freut mich, dass Sie entschlossen sind und von den Rückblicken auf das Vergangene Ihre Gedanken zu einem neuen Unternehmen vorwärts wen­den. Also in Paris, der alten Hochschule der Philosophie, absit omen! (möge es nichts Schlimmes bedeuten!) und der neuen Hauptstadt der neuen Welt. Was notwendig ist, das fügt sich. Ich zweifle daher nicht, dass sich alle Hindernisse, deren Gewicht ich nicht ver­kenne, beseitigen lassen.
Das Unternehmen mag aber zustande kommen oder nicht; jedenfalls werde ich Ende dieses Monats in Paris sein, da die hiesige Luft leibeigen macht und ich in Deutschland durchaus keinen Spielraum für eine freie Tätigkeit sehe.
In Deutschland wird alles gewaltsam unterdrückt, eine wahre Anarchie des Geistes, das Regiment der Dummheit selbst ist hereingebrochen, und Zürich gehorcht den Befehlen aus Berlin; es wird daher immer klarer, dass ein neuer Sammelpunkt für die wirklich denkenden und unabhängigen Köpfe gesucht werden muss. Ich bin überzeugt, durch unsern Plan würde einem wirklichen Bedürfnis entsprochen werden, und die wirklichen Bedürfnisse müssen sich doch auch wirklich erfüllen lassen. Ich zweifle also nicht an dem Unternehmen, sobald damit ernst gemacht wird.
Größer noch als die äussern Hindernisse scheinen beinahe die inneren Schwierigkeiten zu sein. Denn wenn auch kein Zweifel über das „Woher", so herrscht desto mehr Konfusion über das „Wohin". Nicht nur, dass eine allge­meine Anarchie unter den Reformern ausgebrochen ist, so wird jeder sich selbst gestehen müssen, das er keine exakte Anschauung von dem hat, was werden soll. Indessen ist das gerade wieder der Vorzug der neuen Richtung, dass wir nicht dogmatisch die Welt antizipieren, sondern erst aus der Kritik der alten Welt die neue finden wollen. Bisher hatten die Philosophen die Auflösung aller Rätsel in ihrem Pulte liegen, und die dumme exoterische Welt hatte nur das Maul aufzusperren, damit ihr die gebratenen Tauben der absoluten Wissen­schaft in den Mund flogen. Die Philosophie hat sich verweltlicht, und der schlagendste Beweis dafür ist, dass das philosophische Bewusstsein selbst in die Qual des Kampfes nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich hinein­gezogen ist. Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, dass die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebensowenig vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten.
Ich bin daher nicht dafür, dass wir eine dogmatische Fahne aufpflanzen, im Gegenteil. Wir müssen den Dogmatikern nachzuhelfen suchen, dass sie ihre Sätze sich klarmachen. So ist namentlich der Kommunismus eine dogma­tische Abstraktion, wobei ich aber nicht irgendeinen eingebildeten und mög­lichen, sondern den wirklich existierenden Kommunismus, wie ihn Cabet, Dézamy, Weitling etc. lehren, im Sinn habe. Dieser Kommunismus ist selbst nur eine aparte, von seinem Gegensatz, dem Privatwesen, infizierte Erschei­nung des humanistischen Prinzips. Aufhebung des Privateigentums und Kommunismus sind daher keineswegs identisch, und der Kommunismus hat andre sozialistische Lehren, wie die von Fourier, Proudhon etc., nicht zu­fällig, sondern notwendig sich gegenüber entstehn sehn, weil er selbst nur eine besondre, einseitige Verwirklichung des sozialistischen Prinzips ist.
Und das ganze sozialistische Prinzip ist wieder nur die eine Seite, welche die Realität des wahren menschlichen Wesens betrifft. Wir haben uns eben­sowohl um die andre Seite, um die theoretische Existenz des Menschen zu kümmern, also Religion, Wissenschaft etc. zum Gegenstande unserer Kritik zu machen. Außerdem wollen wir auf unsere Zeitgenossen wirken, und zwar auf unsre deutschen Zeitgenossen. Es fragt sich, wie ist das anzustellen? Zweierlei Fakta lassen sich nicht ableugnen. Einmal die Religion, dann die Politik sind Gegenstände, welche das Hauptinteresse des jetzigen Deutsch­lands bilden. An diese, wie sie auch sind, ist anzuknüpfen, nicht irgendein System wie etwa die „Voyage en Icarie" ihnen fertig entgegenzusetze
n.
Die Vernunft hat immer existiert, nur nicht immer in der vernünftigen Form. Der Kritiker kann also an jede Form des theoretischen und praktischen Bewusstseins anknüpfen und aus den eigenen Formen der existierenden Wirk­lichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck entwickeln. Was nun das wirkliche Leben betrifft, so enthält grade der politische Staat, auch wo er von den sozialistischen Forderungen noch nicht bewussterweise erfüllt ist, in allen seinen modernen Formen die Forderungen der Vernunft. Und er bleibt dabei nicht stehn. Er unterstellt überall die Vernunft als reali­siert. Er gerät aber ebenso überall in den Widerspruch seiner ideellen Be­stimmung mit seinen realen Voraussetzungen.
Aus diesem Konflikt des politischen Staates mit sich selbst lässt sich da­her überall die soziale Wahrheit entwickeln. Wie die Religion das Inhalts­verzeichnis von den theoretischen Kämpfen der Menschheit, so ist es der politische Staat von ihren praktischen. Der politische Staat drückt also inner­halb seiner Form sub specie rei publicael (als einer besonderen Staatsform) alle sozialen Kämpfe, Bedürfnisse, Wahrheiten aus. Es ist also durchaus nicht unter der hauteur des principes (dem Niveau der Prinzipien), die speziellste politische Frage - etwa den Unterschied von ständischem und repräsentativem System - zum Gegenstand der Kritik zu machen. Denn diese Frage drückt nur auf politische Weise den Unterschied von der Herr­schaft des Menschen und der Herrschaft des Privateigentums aus. Der Kritiker kann also nicht nur, er muss in diese politischen Fragen (die nach der Ansicht der krassen Sozialisten unter aller Würde sind) eingehn. Indem er den Vorzug des repräsentativen Systems vor dem ständischen entwickelt, interessiert er praktisch eine große Partei. Indem er das repräsentative System aus seiner politischen Form zu der allgemeinen Form erhebt und die wahre Bedeutung, die ihm zugrunde liegt, geltend macht, zwingt er zugleich diese Partei, über sich selbst hinauszugehn, denn ihr Sieg ist zu­gleich ihr Verlust.
Es hindert uns also nichts, unsre Kritik an die Kritik der Politik, an die Parteinahme in der Politik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und mit ihnen zu identifizieren. Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder! Wir ent­wickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien. Wir sagen ihr nicht: Lass ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir wollen dir die wahre Parole des Kampfes zuschrein. Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft, und das Bewusstsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muss, wenn sie auch nicht will.
Die Reform des Bewusstseins besteht nur darin, dass man die Welt ihr Bewusstsein innewerden lässt, dass man sie aus dem Traum über sich selbst aufweckt, dass man ihre eignen Aktionen ihr erklärt. Unser ganzer Zweck kann in nichts anderem bestehn, wie dies auch bei Feuerbachs Kritik der Religion der Fall ist, als dass die religiösen und politischen Fragen in die selbstbewusste menschliche Form gebracht werden.
Unser Wahlspruch muss also sein: Reform des Bewusstseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewusstsein, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen, dass die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen, dass es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Ver­gangenheit. Es wird sich endlich zeigen, dass die Menschheit keine neue Arbeit beginnt, sondern mit Bewusstsein ihre alte Arbeit zustande bringt.
Wir können also die Tendenz unsers Blattes in ein Wort fassen: Selbst­verständigung (kritische Philosophie) der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche. Dies ist eine Arbeit für die Welt und für uns. Sie kann nur das Werk vereinter Kräfte sein. Es handelt sich um eine Beichte, um weiter nichts. Um sich ihre Sünden vergeben zu lassen, braucht die Menschheit sie nur für das zu er­klären, was sie sind.

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Das Klassenbewusstsein [1]

Der Kommunismus: Der Beginn der wirklichen Geschichte der Menschheit [Serie III - Teil 1]

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Der Kommunismus ist die einzige Zukunft

Mit diesem Artikel beginnen wir den dritten Band unserer Kommunismus-Reihe, die vor fast 15 Jahren begonnen wurde. Der zweite Band dieser Reihe (in Internationale Revue Nr. 111, engl., franz. und span. Ausgabe) schloss mit dem Ende einer Periode - der Erschöpfung der internationalen revolutionären Welle, die den Kapitalismus bis in seine Grundfeste erschüttert hatte - und, noch spezifischer, mit einer kühnen Beschreibung der kommunistischen Kultur der Zukunft, die 1924 von Trotzki in seinem Werk Literatur und Revolution umrissen worden war.

Für die proletarische Bewegung war die Klärung ihrer allgemeinen Ziele ein konstantes Element ihres Kampfes gewesen. Diese Artikelreihe hat versucht, ihren eigenen Teil zu diesem Kampf beizutragen, nicht nur indem sie die Geschichte dieser Bewegung nochmals schilderte – auch wenn dies wichtig genug ist angesichts der fürchterlichen Verzerrungen der tatsächlichen Geschichte des Proletariats durch die herrschende Ideologie -, sondern auch indem sie danach strebte, neue oder lange vernachlässigte Gebiete zu erforschen und ein tieferes Verständnis des gesamten kommunistischen Projekts zu entwickeln. In den nächsten Artikeln werden wir daher an den chronologischen Faden der bisherigen Reihe anknüpfen, insbesondere indem wir die Beiträge zu den Problemen der Übergangsperiode untersuchen, die von den linkskommunistischen Fraktionen in der Epoche der Konterrevolution geleistet wurden, welche der historischen Niederlage der Arbeiterklasse gefolgt war. Doch statt die neuen theoretischen Entwicklungen in der Arbeiterbewegung in Fragen des Kommunismus und der Übergangsperiode im Licht der ersten Machtergreifung durch das revolutionäre Proletariat nur zu porträtieren, denken wir, dass es sowohl nützlich als auch notwendig ist, die Ziele und die Methodik dieser Reihe zu klären, indem wir noch einmal zu den Anfängen zurückkehren: Einerseits werden wir zum Beginn dieser Artikelreihen und zum Anfang des Marxismus selbst zurückkehren. Andererseits werden wir die Hauptargumente rekapitulieren, die in den ersten beiden Bänden dieser Reihe entwickelt worden waren, um einen Bericht über die Untersuchungen und Klärungen des Inhalts der kommunistischen Gesellschaft zu erstellen, der die Entwicklung der historischen Erfahrungen des Proletariats begleitet hat. Dies wird schließlich einen stabileren Ausgangspunkt ermöglichen, um die Fragen zu betrachten, welche von den Revolutionären der 1930er und 1940er Jahre gestellt worden waren, und um auch weiterhin das Problem der proletarischen Revolution in unseren Zeiten zu berücksichtigen.

In dieser Ausgabe der Internationalen Revue wollen wir daher detailliert einen zukunftsweisenden Text des jungen Karl Marx untersuchen: den Brief an Arnold Ruge[1] [2] aus dem September 1843, ein Text, der sehr häufig zitiert worden war, aber kaum umfassend analysiert wurde. Es gibt mehr als einen Grund, um auf den Brief an Ruge zurückzukommen. Für Marx und den Marxismus ist es nicht schlicht eine Frage des Kampfes für eine neue Wirtschaftsform anstelle des Kapitalismus, sobald dieser seine historischen Grenzen erreicht hat. Es ist nicht einfach eine Frage des Kampfes für die Emanzipation der Arbeiterklasse. Wie Engels später sagte, geht es darum, es der menschlichen Spezies zu ermöglichen, vom „Reich der Notwendigkeit zum Reich der Freiheit“ überzugehen, von ihrer „Vorgeschichte“ zu ihrer wahren Geschichte. Es geht darum, all das Potenzial zu befreien, das die Menschheit in sich trägt und das in Hunderttausenden von Jahren des Mangels und besonders in den Jahrtausenden der Klassenherrschaft unterdrückt worden war. Der Brief an Ruge weist uns einen Weg aus dieser Problematik, indem er darauf pocht, dass wir kurz vor einer allgemeinen Wiedererweckung der Menschheit stehen. Und wir können sogar noch weiter gehen: Wie Marx in den Ökonomischen und Philosophischen Manuskripten argumentierte, findet das Wiedererwachen des Menschen zur gleichen Zeit statt wie das Wiedererwachen der Natur. Wie der Mensch durch das Proletariat sich seiner selbst bewusst wird, so wird sich die Natur durch den Menschen ihrer selbst bewusst. Zweifellos handelt es sich hier um Fragen, die uns tief in die Erforschung des Menschen führen. Dabei sind die Umrisse ihrer Lösung nicht eine Erfindung eines brillanten Individuums Marx, sondern die theoretische Synthese der realen Möglichkeiten, die sich in der Geschichte eröffnet haben.

Der Brief an Ruge ist eine sehr gute Illustration des Prozesses, durch den sich Marx vom Milieu der Philosophie zur kommunistischen Bewegung entwickelte. Wir haben uns mit dieser Frage bereits im zweiten Artikel der Reihe befasst („Wie das Proletariat Marx für den Kommunismus gewonnen hat“, in unserem Buch Kommunismus: Kein schönes Ideal, sondern eine materielle Notwendigkeit) wo wir zeigen, dass Marx‘ politischer Werdegang in sich selbst eine Veranschaulichung der Tatsache war, die auch im Kommunistischen Manifest geäußert wurde: dass die Ansichten der Kommunisten nicht die Erfindungen individueller Ideologen sind, sondern der theoretische Ausdruck einer lebenden Bewegung, der Bewegung des Proletariats. Wir zeigten insbesondere, wie Marx‘ Einführung in die Arbeiterassoziationen von Paris 1844 einen entscheidenden Anteil daran hatte, ihn für eine kommunistische Bewegung zu gewinnen, die Marx vorausging und unabhängig von ihm entstand. Das Studium von Ruges Brief und anderer Arbeiten durch Marx vor seiner Ankunft in Paris macht deutlich, dass dies keine plötzliche „Konvertierung“ war, sondern der Höhepunkt eines Prozesses, der bereits zuvor im Gange gewesen war. Doch dies ändert nichts an der grundlegenden These. Marx war kein reservierter Philosoph, der aus der sicheren Entfernung seines Elfenbeinturms die Rezeptbücher für die Zukunft ausbrütete. Er bewegte sich zum Kommunismus unter der magnetischen Anziehungskraft einer revolutionären Klasse, die schließlich in der Lage war, sich all seine unbestreitbaren Talente anzueignen und in den Kampf für eine neue Welt einzubeziehen. Und der Brief an Ruge beginnt bereits, wie wir sehen werden, diese biographische Realität in einer kohärenten, theoretischen Herangehensweise gegenüber der Frage des Bewusstseins zu artikulieren.

Von der Kritik der Entfremdung zum historischen Materialismus

Im September 1843 verbrachte Marx mehrere Wochen „Urlaub“ in Kreuznach, zum Teil dank der Aktionen der allgegenwärtigen preußischen Zensur, die Marx der Verantwortung für die Herausgabe der Rheinischen Zeitung enthoben hatte. Die Zeitung wurde nach der Veröffentlichung einer Reihe von „subversiven“ Stücken, einschließlich der Artikel von Marx über die Leiden der Weinbauern der Mosel, geschlossen. Marx nutzte die Freiheit, die ihm so gewährt wurde, um nachzudenken und zu schreiben. Er machte eine eminent wichtige Entwicklungsphase durch, eine Phase des Übergangs von einem radikal-demokratischen Standpunkt zu einer ausdrücklich kommunistischen Position, die er im darauf folgenden Jahr in Paris vertreten sollte.

Es wurde viel geschrieben über „den jungen Marx“, insbesondere über die Arbeiten in den Jahren 1843-44. Einige der wichtigsten Werke dieser Periode blieben noch lange nach dem Tode von Marx unbekannt; insbesondere die Ökonomischen und Philosophischen Manuskripte, die er 1844 in Paris verfasst hatte, wurden erst 1932 veröffentlicht.

Infolgedessen war in einer sehr bedeutsamen Entwicklungsphase der Arbeiterbewegung - nämlich in der gesamten Periode der Zweiten Internationale und während der Bildung der Dritten - den Marxisten viel von den Frühwerken und Ideen von Marx unbekannt geblieben. Einige von den kühnsten Entdeckungen, die in den Ökonomischen und Philosophischen Manuskripten enthalten sind – Schlüsselelemente, die sowohl das Konzept der Entfremdung als auch den Inhalt der menschlichen Erfahrungen in einer Gesellschaft betreffen, in der die Entfremdung überwunden ist -, konnten nicht direkt in die Entwicklung des marxistischen Denkens in dieser gesamten Periode integriert werden.

Dies hatte eine Reihe von ideologischen Interpretationen und Abstufungen zur Folge, die sich im Allgemeinen zwischen zwei Polen ansiedelten. Der eine Pol wurde vom Sprecher der senilsten Form des stalinistischen Intellektualismus personifiziert – Louis Althusser, für den die frühen Werke von Marx in die Kategorie des sentimentalen Humanismus und des jugendlichen Übermuts gehören, die später wohlweislich vom Wissenschaftler Marx abgelegt worden seien, der die zentrale Bedeutung der objektiven Gesetze der Ökonomie betont habe. Objektive Gesetze, die - wenn man vom erhabenen Kauderwelsch der Althusser’schen Theorie zur verständlicheren Anwendung in der Welt der Politik gelangt - glücklicherweise nicht auf ein Ende der Entfremdung weist, sondern auf ein viel erstrebenswerteres staatskapitalistisches Programm der stalinistischen Bürokratie. Der andere Pol ist das Spiegelbild des Hardcore-Stalinisten: Es ist die Ideologie einer Kongregation von Katholiken, Existenzialisten und anderen Philosophen, die zwar ebenfalls eine Kontinuität zwischen den Spätwerken von Marx und den Fünfjahresplänen in der UdSSR ausfindig machen wollen, die uns aber zuflüstern, dass es einen anderen Marx gibt, einen jungen, romantischen und idealistischen Marx, der uns eine Alternative zur geistigen Verarmung anbietet, die den materialistischen Westen plagt. Zwischen diesen beiden Polen gibt es allerlei Arten von Theoretiker – einige von ihnen der Frankfurter Schule[2] [2] oder dem Werk von Lucio Colletti[3] [2] zugetan, andere von Teilaspekten des Linkskommunismus beeinflusst (wie die Publikation Aufheben in Großbritannien) -, die die Tatsache, dass die Zweite Internationale in Angelegenheiten der Philosophie mehr Engels als dem frühen Marx vertraut hatte, dazu benutzt haben, um einen Keil nicht so sehr zwischen den beiden Marx‘, sondern zwischen Marx und Engels bzw. zwischen Marx und der Zweiten und Dritten Internationale zu treiben. In jedem Fall werden die Schurken in diesem Stück als Verfechter einer mechanischen, positivistischen Verzerrung des Denkens von Marx gesehen.

Diese Vorgehensweisen enthalten sicherlich Bruchstücke der Wahrheit in ihren Rezepten. Es ist richtig, dass insbesondere die Periode der Zweiten Internationale eine Arbeiterbewegung erblickte, die immer verwundbarer gegenüber der Penetration der herrschenden Ideologie wurde, was nicht weniger der Fall war auf der Ebene der allgemeinen Theorie (z.B. die Philosophie, die Frage des historischen Fortschritts, die Ursprünge des Klassenbewusstseins) oder auf der Ebene der politischen Praxis (z.B. die Frage des Parlaments, des Minimal- und Maximalprogramms, etc.). Es ist ebenfalls zutreffend, dass das Unwissen über das Frühwerk von Marx die Verwundbarkeit noch verstärkte, manchmal im Zusammenhang mit den weitreichendsten Problemen. Engels seinerseits leugnete nie, dass Marx der größere Denker war, und es gibt Momente in Engels‘ theoretischem Werk, in denen eine volle Assimilierung einiger der Fragen, die in Marx‘ Frühwerk am hartnäckigsten gestellt wurden, in der Tat seine Beiträge auf eine höhere Ebene gehoben hätte. Doch was all den auseinanderstrebenden Vorgehensweisen mangelt, das ist der Sinn für die Kontinuität im Denken von Marx und für die Kontinuität der revolutionären Strömung, die trotz aller Schwächen und Defizite die marxistische Methode angenommen hat, um in der Sache des Kommunismus voranzukommen. In früheren Artikeln dieser Reihe haben wir gegen die Idee argumentiert, dass es eine unüberbrückbare Kluft zwischen der Zweiten Internationale und dem authentischen Marxismus gibt, sowohl vorher als auch nachher (siehe Internationale Revue Nr. 84, engl., franz. und span. Ausgabe). Wir haben ebenfalls auf die Versuche geantwortet, Marx auf der philosophischen Ebene gegen Engels auszuspielen (siehe den Artikel „Die Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse“ in Internationale Revue Nr. 85, engl., franz. und span. Ausgabe, der die von Schmidt und Colletti vertretene Idee ablehnt, dass es bei Marx kein Konzept der Dialektik der Natur gegeben habe). Und wir haben wie Bordiga auf die faktische Kontinuität zwischen dem Marx von 1844 und der Ökonomischen und Philosophischen Manuskripte sowie dem reifen Marx des Kapital bestanden, der seinen früheren Visionen keinesfalls den Rücken kehrte, sondern danach strebte, ihnen ein solideres Fundament und eine wissenschaftlichere Basis zu verschaffen, vor allem durch die Entwicklung der Theorie des historischen Materialismus und durch eine umfassendere Untersuchung der kapitalistischen Nationalökonomie (siehe Internationale Revue Nr. 75, engl., franz. und span. Ausgabe, „Das Kapital und die Prinzipien des Kommunismus“).

Ein Blick auf die unmittelbar „vor-kommunistische“ Phase von Marx, auf den Marx von 1843, unterstützt voll und ganz diese Vorgehensweise gegenüber dem Problem. In der vorhergehenden Periode wurde Marx in wachsendem Maße mit kommunistischen Ideen konfrontiert. Beispielsweise hatte er, als er als Mitherausgeber an der Rheinischen Zeitung beteiligt war, die Treffen eines Diskussionszirkels in den Kölner Büros der Zeitung besucht, der von Moses Hess[4] [2] angeregt wurde, der seine Unterstützung für den Kommunismus bereits erklärt hatte. Sicherlich verpflichtete sich Marx nicht leichtfertig einer Sache. So wie er lange darüber nachdachte, ob er Anhänger Hegels werden sollte, so verweigerte er jegliche oberflächliche Übernahme kommunistischer Theorien, da er wusste, dass viele der existierenden Formen des Kommunismus krude und unterentwickelt waren – dogmatische Abstraktionen, wie er sie in seinem Brief vom September 1843 an Ruge beschrieb. In einem früheren Brief an Ruge (November 1842) schrieb er: „Ich erklärte, dass ich das Einschmuggeln kommunistischer und sozialistischer Dogmen, also einer neuen Weltanschauung, in beiläufigen Theaterkritiken ect. für unpassend, ja für unsittlich halte und eine ganz andere und gründlicher Besprechung des Kommunismus, wenn er einmal besprochen werden sollte, verlange.“ (MEW, Bd. 27, S. 412).

Die Überwindung der Trennung zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft

Schon eine flüchtige Untersuchung der Texte, die Marx in dieser Phase geschrieben hatte, zeigt, dass sein Übergang zum Kommunismus bereits voll im Gange war. Der Haupttext, an dem er während seines Aufenthaltes in Kreuznach arbeitete, war die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Dies ist ein langer und unvollständiger Text, der schwierig zu lesen ist, der aber Marx‘ Ringen mit Feuerbachs Kritik an Hegel aufzeigt. Marx war besonders beeinflusst von Feuerbachs richtiger Umkehrung der idealistischen Spekulationen Hegels, die betont, dass das Denken vom Sein kommt und nicht umgekehrt. Diese Methode durchdringt die Kritik des Staates, der von Hegel als Inkarnation des Denkens statt als die Widerspiegelung der eher erdverbundenen Realitäten des menschlichen Lebens angesehen wurde. Somit waren die Grundlagen gelegt für eine fundamentale Kritik des Staates als solchen. Aus dem Blickwinkel der 1843 verfassten Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie wurde der Staat – auch der moderne repräsentative Staat – schon als ein Ausdruck der Entfremdung der gesellschaftlichen Kräfte des Menschen aufgefasst. Und obwohl Marx noch immer auf das Kommen des allgemeinen Wahlrechts und einer demokratischen Republik setzte, schaute er von Anfang an über das Ideal eines liberalen politischen Regimes hinaus. Denn in den zugegebenermaßen hybriden Formulierungen in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie argumentiert Marx, dass das allgemeine Wahlrecht und – mehr noch - eine radikale Demokratie Vorboten der Überwindung sowohl des Staates als auch der Zivilgesellschaft, d.h. der bürgerlichen Gesellschaft seien: „Im politisch abstrakten Staat ist die Reform des Wahlrechts eine Auflösung des Staates, und gleichfalls die Auflösung der sozialen Gesellschaft.“.

Hier zeigt sich in Embryonalform bereits ein Ziel, das die marxistische Bewegung in ihrer ganzen Geschichte animiert hat: das Absterben des Staates.

In seinem Essay Über die jüdische Frage, gegen Ende 1843 geschrieben, schaut Marx erneut über den Kampf für die Abschaffung feudaler Barrieren hinaus – in diesem Fall die Beschränkungen der Bürgerrechte für Juden, deren Außerkraftsetzung er als einen Schritt vorwärts befürwortete, im Gegensatz zu den Sophismen von Bruno Bauer. Marx zeigt die inhärenten Grenzen des eigentlichen Begriffs der Bürgerrechte, die lediglich das Recht der atomisierten Bürger in einer Gesellschaft konkurrierender Egos bedeuten. Für Marx sollte die politische Emanzipation – mit anderen Worten, die Ziele der bürgerlichen Revolution, die es im rückständigen Deutschland noch zu erreichen galt – nicht mit einer echten gesellschaftlichen Emanzipation verwechselt werden, bei der die Menschheit nicht nur von der Herrschaft fremder politischer Mächte befreit wird, sondern auch von der Tyrannei des Kaufens und Verkaufens. Dies schloss die Überwindung der Trennung zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft mit ein. Das Wort Kommunismus wird nicht benutzt, aber die Implikationen sind bereits vorhanden (siehe „Marx und die Judenfrage“ in Internationale Revue Nr. 32, deutsche Ausgabe).

Schließlich sind in der kürzeren, aber weitaus fokussierteren Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (Ende 1843 oder Anfang 1844 verfasst) die Errungenschaften von Marx enorm, und es bedarf eines eigenen Artikels, um sie zu zusammenzufassen. So kurz wie möglich zusammengefasst, umfassen sie zweierlei: Erstens stellt Marx seine berühmte Kritik der Religion vor, die bereits die rationalistische Kritik der bürgerlichen Aufklärung übertraf, indem er erkannte, dass die Macht der Religion aus der Existenz einer Gesellschaftsordnung herrührt, die menschliche Bedürfnisse leugnen muss; zweitens identifiziert er das Proletariat als den Urheber der sozialen Revolution: „In der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, (…) einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat.“ (MEW, Bd. 1, S. 390).

Die Emanzipation des Proletariats ist nicht zu trennen von der allgemeinen menschlichen Emanzipation: Die Arbeiterklasse kann nicht bloß sich selbst von der Ausbeutung befreien, kann nicht als herrschende Klasse ewig fortbestehen, sondern muss als Fahnenträger aller Unterdrückten agieren; es kann sich selbst und die Menschheit auch nicht vom Kapitalismus allein befreien, sondern muss das albtraumartige Gewicht aller bisher existierenden Formen der Ausbeutung und Unterdrückung abschütteln.

Das Proletariat: Urheber des revolutionären Wechsels

Wir sollten auch hinzufügen, dass die beiden letzten Texte, zusammen mit einer Sammlung von Briefen von Marx an Ruge, in einer einzigen Ausgabe der Deutsch-Französischen Jahrbücher im Februar 1844 veröffentlicht wurden. Diese Zeitschrift war die Frucht der Zusammenarbeit von Marx mit Ruge, Engels und anderen[5] [2]. Marx hatte grosse Erwartungen in dieses Unternehmen, von dem er hoffte, dass es Ruges verbotene Deutsche Jahrbücher ersetzen und einen großen Schritt nach vorn machen könnte, indem es feste Verbindungen zwischen französischen und deutschen revolutionären Ideen knüpft, obgleich letztendlich keiner seiner in Aussicht gestellten französischen Mitstreiter diese Ansprüche teilte. Alle Beiträge kamen von deutscher Seite. Es ist äußerst interessant, dass im August-September 1843 Marx einen kurzen Programmentwurf für die Publikation schrieb: „Die Artikel unserer Schrift sollen von Deutschen und Franzosen gemeinsam geschrieben werden und folgendes behandeln:

1. Menschen und Systeme, welche einen nützlichen oder gefährlichen Einfluss errungen haben, und politisch aktuelle Fragen, ob sie nun die Verfassungen, die politische Ökonomie oder die öffentlichen Institutionen und die Moral betreffen.

2. Wir sollten Besprechungen der Presse vorsehen, die eine strenge Kritik der oft in Publikationen vorhandenen Unterwürfigkeit und Niederträchtigkeit darstellen, und helfen, die Aufmerksamkeit auf andere zu lenken, welche im Namen der Menschlichkeit und Freiheit stehen.

3. Wir sollten einen Überblick über die Literatur und die Publikationen des alten Regimes in Deutschland geben, welches niedergeht und sich selber zerstört. Und schlussendlich einen Überblick über die Bücher der zwei Nationen, welche den Beginn und die Fortführung der neuen Ära darstellen, in die wir eintreten.“ (eigene Übersetzung).

Aus diesem Dokument können wir zwei Dinge entnehmen. Erstens, dass selbst auf dieser Stufe Marx‘ Streben ein militantes war: Einen Programmentwurf für eine Publikation zu entwerfen ist, auch wenn nur kurz und allgemein, ein Zeichen dafür, dass die Publikation Ausdruck einer organisierten Tat war. Diese Dimension im Leben von Marx – der Gedanke, sein Leben einer Sache und der Notwendigkeit zu widmen, eine Organisation von Revolutionären aufzubauen – bleibt ein fundamentales Merkmal des proletarischen Einflusses auf Marx, den „Mensch und Kämpfer“, um den Titel der Biographie von Nikolaevski aus dem Jahr 1936 zu benutzen.

Zweitens: wenn Marx über die „neue Ära“ spricht, so müssen wir uns vergegenwärtigen, dass, während in Deutschland und im größten Teil Europas die neue Ära den Sturz des Feudalismus und den Triumph der demokratischen Bourgeoisie bedeutete, es auch eine mächtige Tendenz in Marx‘ und Engels‘ anfänglichem Bekenntnis zum Kommunismus gab, die bürgerliche mit der proletarischen Revolution zu verschmelzen und zu meinen, dass ziemlich schnell eine nach der anderen folgen werde. Dies wird deutlich aus Marx‘ Identifizierung des Proletariats als Urheber des revolutionären Wechsels selbst im rückständigen Deutschland, und es wird noch deutlicher im Anspruch, der vom Kommunistischen Manifest und in seiner Theorie der permanenten Revolution, die er im Anschluss an die Aufstände von 1848 erarbeitet hatte, erhoben wurde. Bezogen auf das Denken von Marx 1843 und 1844, müssen wir folgern, dass bei der Vorwegnahme einer „neuen Ära“ der Blick von Marx weniger auf die Übergangskämpfe für eine bürgerliche Republik gerichtet war, sondern weitaus mehr auf die nachfolgende Auseinandersetzung für eine wahrhaft menschliche Gesellschaft, die frei von kapitalistischem Egoismus und Ausbeutung ist. Was Marx sein ganzes Leben hindurch antrieb, war vor allem dieses Gespür für die Möglichkeit solch einer Gesellschaft. Später erkannte er immer deutlicher, dass der direkte Kampf für solch eine Welt noch nicht auf der Tagesordnung der Geschichte stand, dass die Menschheit noch die Kavallerie des Kapitalismus vorbeiziehen lassen musste, damit die materiellen Grundlagen für die neue Gesellschaft gelegt werden; doch diese ursprüngliche Inspiration hat ihn niemals verlassen.

Der Marxismus ist kein geschlossenes System

Es ist daher unsinnig, eine strikte Unterscheidung zwischen dem jungen und dem alten Marx zu machen. Die Texte von 1843-44 waren allesamt wichtige Schritte in Richtung einer voll entwickelten kommunistischen Weltanschauung, noch bevor er bewusst oder ausdrücklich sich selbst als Kommunist definierte. Darüber hinaus ist das Tempo der Entwicklung von Marx äußerst bemerkenswert. Nach dem Verfassen der oben erwähnten Texte zog er nach Paris. Im Sommer 1844 stellte Marx, offensichtlich beeinflusst von seiner direkten Einbeziehung in die kommunistischen Arbeiterassoziationen dieser Stadt, die Ökonomischen und Philosophischen Manuskripte fertig, in denen er sich für den Kommunismus ausspricht. Ende August traf er Engels, der in der Lage war, zu einem weitaus direkteren Verständnis der Funktionsweise des Kapitalismus beizutragen. Ihre Zusammenarbeit wirkte sich auf das Werk von Marx noch dynamisierender aus, und ab 1845 war er durch seine Thesen zu Feuerbach und die Deutsche Ideologie in der Lage, die Grundlagen der materialistischen Theorie der Geschichte zu präsentieren. Und da der Marxismus, im Gegensatz zu seinen Vorgängern, kein geschlossenes System ist, sollte sich dieser Prozess der Evolution und Selbstentwicklung bis zum Ende des Lebens von Marx fortsetzen (siehe zum Beispiel den Artikel aus dieser Reihe über den „späten Marx“ in Internationale Revue, Nr. 81, engl., franz. und span. Ausgabe, der erzählt, wie Marx sich selbst Russisch beigebracht hat, um sich mit der russischen Frage zu befassen, und Antworten produziert hat, die einige seiner engen Anhänger durcheinandergebracht haben).

Der September-Brief an Ruge, den wir unten in Gänze abdrucken, muss im Zusammenhang mit dem oben Genannten verstanden werden. Es ist kein Zufall, dass die gesamte Sammlung der Briefe in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern veröffentlicht wurde; diese Briefe wurden selbst damals selbstverständlich als Beiträge zur Erarbeitung eines neuen Programms oder zumindest einer neuen politischen Methode betrachtet. Und der letzte Brief ist der „programmatischste“ von allen. Durch die Chronologie der Briefe können wir Marx‘ Entscheidung nachvollziehen, Deutschland zu verlassen, wo seine Aussichten noch prekärer geworden waren aufgrund einer Kombination von familiären Unstimmigkeiten und Schikanierungen durch die Behörden. Im September-Brief räumt Marx ein, dass er es immer schwieriger fand, in Deutschland zu atmen, und dass er sich entschlossen habe, nach Frankreich zu gehen – das Land der Revolutionen, wo sich sozialistisches und kommunistisches Gedankengut überschäumend und in mannigfaltigen Richtungen entwickelte. Ruge, der ehemalige Herausgeber der unterdrückten Deutschen Jahrbücher, war ein williger Helfer bei der Umsetzung des Plans, die Deutsch-Französischen Jahrbücher zu etablieren. Doch ihre Wege sollten sich trennen, als Marx einen ausdrücklich kommunistischen Standpunkt einnahm, und Ruge gegenüber Marx seine Entmutigung infolge der Erfahrungen mit der deutschen Zensur und mit der philisterhaften Atmosphäre in Deutschland eingestand. So war Marx‘ vorletzter Brief an Ruge (im Mai 1843 in Köln verfasst) zu einem gewissen Teil dem Zweck gewidmet, Ruges Stimmung aufzuhellen, und gibt uns einen guten Einblick in die optimistische Geistesverfassung von Marx in jener Zeit: „Von unserer Seite muss die alte Welt vollkommen ans Tageslicht gezogen und die neue positiv ausgebildet werden. Je länger die Ereignisse der denkenden Menschheit Zeit lassen, sich zu besinnen, um so vollendeter wird das Produkt in die Welt treten, welches die Gegenwart in ihrem Schosse trägt.“ (MEW, Bd. 1, S. 343).

Der Kampf gegen den Dogmatismus

Zu der Zeit, als Marx den September-Brief schrieb, hatte sich Ruges Depression gebessert. Marx wollte unbedingt das politische Vorgehen skizzieren, das in ihrem angestrebten Unternehmen herrschen sollte. So war er sorgsam darauf bedacht, jegliches dogmatische und sektiererische Vorgehen zu vermeiden. Es muss daran erinnert werden, dass dies der Gipfelpunkt des utopischen Sozialismus aller Arten war, von denen fast alle auf abstrakten Spekulationen darüber beruhten, wie eine neue und gerechtere Gesellschaft funktionieren kann, und wenig oder keine Verbindung zu den realen, bodenständigen Kämpfen hatten, die sich rings um sie herum ereigneten. In vielen Fällen offenbarten die Utopisten eine überhebliche Verachtung sowohl gegenüber den Forderungen der demokratischen Opposition gegen den Feudalismus als auch gegenüber den unmittelbaren ökonomischen Forderungen der frisch aus der Taufe gehobenen Arbeiterklasse. Und selten warteten sie mit einem besseren Plan für die Institutionalisierung der neuen gesellschaftlichen Ordnung auf, als die Bettelschale an reiche bürgerliche Philantropen zu übergeben. Daher tat Marx viele Abarten des zeitgenössischen Sozialismus als Formen des Dogmatismus ab, die die Welt mit fertigen Schemata konfrontierten und den praktischen politischen Kampf als ihrer Aufmerksamkeit nicht wert betrachteten. Gleichzeitig macht Marx klar, dass er sich der verschiedenen Richtungen innerhalb der kommunistischen Bewegung wohl bewusst war und dass einige von ihnen – er erwähnt Proudhon und Fourier[6] [2] – lohnenswerter für Untersuchungen sind als andere. Doch der Schlüssel ist seine Überzeugung, dass eine neue Welt nicht vom Himmel fällt, sondern dass Resultat von Kämpfen in der realen Welt sein muss. Daher die berühmten Zeilen: „Es hindert uns also nichts, unsre Kritik an die Kritik der Politik, an die Parteinahmen in der Politik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und mit ihnen zu identifizieren. Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien. Wir sagen ihr nicht: Lass ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir wollen dir die wahre Parole des Kampfs zuschrein. Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft, und das Bewusstsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muss, wenn sie auch nicht will.“ (MEW, Bd. 1, S. 345).

Im Kern ist dies, wie Lukacs in seinem 1920er Essay Klassenbewusstsein unterstreicht, bereits eine materialistische Analyse: Es geht nicht darum, einem unbewussten Ding Bewusstsein beizubringen – die Essenz des Idealismus -, sondern darum, einen Prozess bewusst zu machen, der sich bereits in eine bestimmte Richtung bewegt; einen Prozess, der von materiellen Notwendigkeiten angetrieben wird, was auch die Notwendigkeit umfasst, sich seiner selbst bewusst zu werden.

Es trifft sicherlich zu, dass Marx noch immer größtenteils über den Kampf für die politische Emanzipation spricht – zur Vervollständigung der bürgerlichen Revolution vor allem in Deutschland. Die Betonung der Kritik an der Religion, der Intervention in zeitgenössischen politischen Fragen (wie die Unterschiede zwischen dem Ständestaat und der repräsentativen Regierung), aber auch der Möglichkeit, dass diese Aktivitäten „das Interesse einer großen Partei gewinnen“ werden – d.h. Einfluss auf die liberale Bourgeoisie - bestätigt dies. Doch wir sollten nicht vergessen, dass Marx kurz davor stand, das Proletariat als Urheber des gesellschaftlichen Wandels anzukündigen, eine Schlussfolgerung, die bald darauf sowohl auf das feudale Deutschland als auch auf die höher entwickelten kapitalistischen Länder angewandt werden sollte. Daher kann die Methode gleichermaßen – ja, sogar noch spezifischer – auf den proletarischen Kampf für Sofortforderungen angewendet werden, ob wirtschaftlich oder politisch. Dies ist in der Tat eine profunde Antizipation des Kampfes gegen die sektiererische Vorgehensweise, die später für Bakunin typisch war. Doch es ist auch mit den Formulierungen in Die Deutsche Ideologie verknüpft, die den Kommunismus als „die reelle Bewegung, welche die bestehenden Verhältnisse überwindet“, die das revolutionäre Bewusstsein in der Existenz einer revolutionären Klasse lokalisiert und das kommunistische Bewusstsein ausdrücklich als eine historische Auswirkung der ausgebeuteten Klasse definiert. Die Kontinuität mit den Thesen über Feuerbach – das Verständnis, dass die Erzieher auch erzogen werden müssen – ist gleichermaßen evident. Zusammen sind diese Arbeiten eine Warnung gegen all die modernen Erlöser des Proletariats, gegen all jene, die das sozialistische Bewusstsein als etwas betrachten, das den niederen Arbeitern von irgendeiner höheren Instanz beigebracht werden muss.

<<>>Der Kommunismus in Kontinuität mit der Geschichte der Menschheit>

Die abschließenden Paragraphen des Briefes fassen das Vorgehen von Marx bei der politischen Intervention zusammen, aber sie nehmen uns auch mit in tieferes Wasser: „Unser Wahlspruch muss also sein: Reform des Bewusstseins nicht durch Dogmen, sondern durch die Analysierung des mythischen, sich selbst unklaren Bewusstseins, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen, dass die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen, dass es sich nicht um einen grossen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit. Es wird sich endlich zeigen, dass die Menschheit keine neue Arbeit beginnt, sondern mit Bewusstsein ihre alte Arbeit zustande bringt.

Wir können also die Tendenz unseres Blattes in ein Wort fassen: Selbstverständigung (kritische Philosophie) der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche. Dies ist eine Arbeit für die Welt und für uns. Sie kann nur das Werk vereinter Kräfte sein. Es handelt sich um eine Beichte, um weiter nichts. Um sich ihre Sünden vergeben zu lassen, braucht die Menschheit sie nur für das zu erklären, was sie sind.“ (MEW, Bd. 1, S. 346)

In George Elliots großartigem Roman über das Gesellschaftsleben in England Mitte des 19. Jahrhunderts, Middlemarch, gibt es eine Figur, die sich Casaubon nennt, ein staubtrockener Gelehrter und ein Mann der Kirche mit unabhängigen Mitteln, der sein Leben dem Verfassen eines monumentalen und möglichst definitiven Werkes widmet, das den Titel Der Schlüssel zu allen Mythologien tragen soll. Dieses Werk wird niemals vollendet, und dies ist ein symbolischer Ausdruck für die Trennung dieser Figur vom realen menschlichen Leben und seinen Leidenschaften. Doch wir können dies auch als eine Gleichnis über das bürgerliche Gelehrtentum im Allgemeinen nehmen. In ihrer Aufstiegsperiode entwickelte die Bourgeoisie ein Gespür für universelle Fragen und für die Suche nach universellen Antworten. Doch diese Suche wurde in ihrer dekadenten Phase immer mehr aufgegeben, denn das Stellen solcher Fragen führt zur unbequemen Konsequenz ihres Dahinscheidens als Klasse. Casaubons Scheitern nimmt somit die intellektuelle Sackgasse des bürgerlichen Denkens vorweg. Marx dagegen bietet uns in einigen kurzen Bemerkungen den Ansatz einer Vorgehensweise an, die uns einen Zugang zu sämtlichen Mythologien anbietet. So wie Marx im September-Brief sagt, dass die Religion das „Inhaltsverzeichnis von den theoretischen Kämpfen der Menschheit ist.“, so ist die Mythologie das Register der Psyche der Menschheit seit ihren Anfängen, sowohl in ihren Grenzen als auch in ihrem Streben. Das Studium der Mythologie verschafft uns einen Einblick in die Bedürfnisse, die diesem Streben Vorschub leisten.

David McLellan, vielleicht einer der besten Marx-Biographen seit Mehring, kommentiert, dass „der Begriff der Erlösung durch eine ‚Reform des Bewusstseins‘ natürlich sehr idealistisch war. Doch dies war nur zu typisch für die deutsche Philosophie jener Zeit“ (Karl Marx, His Life and Thought, 1973, S. 77; eigene Übersetzung). Dies ist sicherlich ein zu statischer Blick auf die Formulierungen von Marx. Wenn wir die Tatsache berücksichtigen, dass Marx diese „Reform des Bewusstseins“ bereits als das Produkt der realen Kämpfe betrachtete, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass Marx bereits im Begriff war, das Proletariat als Träger dieses „reformierten“ Bewusstseins zu betrachten, dann ist es offensichtlich, dass Marx bereits die Dogmen der zeitgenössischen deutschen Philosophie hinter sich gelassen hat. Wie Lukacs später in den Essays, die in Geschichte und Klassenbewusstsein enthalten sind, klarstellte, hat das Proletariat als erste Klasse, die sowohl ausgebeutet als auch revolutionär ist, kein Bedürfnis nach ideologischen Mystifikationen. Sein Klassenbewusstsein ist daher erstmals ein klares Bewusstsein, das einen fundamentalen Bruch mit allen Formen der Ideologie markiert[7] [2]. Der Begriff eines Bewusstseins, das so klar über sich ist, ist eng mit Marx‘ Annäherung gegenüber dem Proletariat verknüpft. Und es war dieselbe Bewegung, die Marx und Engels in die Lage versetzte, eine materialistische Geschichtstheorie zu erarbeiten, die anerkennt, dass der Kommunismus nicht mehr nur eine „schöne Idee“ ist, weil der Kapitalismus die materiellen Voraussetzungen für eine Gesellschaft des Überflusses gelegt hat. Die Fundamente dieses Verständnisses sollten nur zwei Jahre später in Die deutsche Ideologie vorgestellt werden.

<<>>Das Proletariat sieht sich selbst als Verteidiger all dessen, was menschlich ist>

Es könnte auch der Vorwurf erhoben werden, dass die Formulierungen von Marx im September-Brief noch im Rahmen des Humanismus, einer alle Klassen umfassenden Sichtweise der Menschheit gefangen waren. Doch wie wir gezeigt haben, ist es augenscheinlich, dass keines der humanitären Überbleibsel ihn daran hinderte, einen Klassenstandpunkt einzunehmen, da Marx bereits zur proletarischen Bewegung tendierte. Abgesehen davon, ist es nicht nur zulässig, sondern auch notwendig, von der Menschheit, von der Spezies als eine Realität und nicht als eine Abstraktion zu sprechen, wenn wir die wahren Dimensionen des kommunistischen Projektes begreifen wollen. Denn auch wenn das Proletariat die kommunistische Klasse par excellence ist, so beginnt das Proletariat dennoch keine „neue Arbeit“. Die Ökonomischen und Philosophischen Manuskripte sollten, wie wir gesehen haben, klar machen, dass der Kommunismus auf der Wiederentdeckung des gesamten Reichtums der menschlichen Vergangenheit beruhen muss. Aus dem gleichen Grund lesen wir darin: „Die ganze Bewegung der Geschichte ist daher, wie sein wirklicher Zeugungsakt – der Geburtsakt seines empirischen Daseins – so auch für sein denkendes Bewusstsein die begriffne und gewusste Bewegung seines Werdens, (…)“ (MEW, Bd. 40, S. 536). Der Kommunismus ist daher das Werk der Geschichte, und der Kommunismus des Proletariats ist die Klärung und Synthese aller früheren Kämpfe gegen Elend und Ausbeutung. Daher nannte Marx unter anderen auch Spartakus als eine der historischen Figuren, die er am meisten bewunderte. Indem er noch weiter zurückschaut, wird der künftige Kommunismus auf einer höheren Stufe die Einheit der Stammesgemeinschaften wieder entdecken, in der die Menschheit den größten Teil ihrer Existenz verbrachte, vor dem Aufkommen der Klassenteilungen und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.

Das Proletariat sieht sich selbst als Verteidiger all dessen, was menschlich ist. Auch wenn es heftig die Unmenschlichkeit der Ausbeutung anprangert, predigt es nicht eine Haltung des Hasses, nicht einmal gegenüber dem einzelnen Ausbeuter. Auch betrachtet es andere unterdrückte Klassen und gesellschaftliche Schichten, vergangene oder gegenwärtige, nicht mit Geringschätzung oder Überheblichkeit. Die falsche Ansicht, dass der Kommunismus die Vernichtung aller Kultur bedeute, da diese bis jetzt den Ausbeutern gehörte, wurde in den Ökonomischen und Philosophischen Manuskripten als „kruder Kommunismus“ zusammengestaucht. Es ist eine negative Tradition, die die Arbeiterbewegung seit jeher plagte, zum Beispiel in gewissen Formen des Anarchismus, welche sich an der Plünderung und Zerstörung der kulturellen Symbole der Vergangenheit ergötzten. Und als die Dekadenz des Kapitalismus sich mit der stalinistischen Konterrevolution verband, hat sie besonders abscheuliche Charaktere ausgebrütet, wie die maoistischen Kampagnen gegen „die vier Alten“[8] [2] während der so genannten Kulturrevolution. Doch simplifizierende und destruktive Verhaltensweisen gegenüber der vergangenen Kultur manifestierten sich auch während der heroischen Tage der Russischen Revolution, als besonders Repressionsorgane wie die Tscheka oftmals ein schroffes und rachsüchtiges Verhalten gegenüber „Nicht-Proletariern“ an den Tag legten, was gelegentlich betrachtet wurde, als sei es eine nahezu natürliche Eigenschaft des „reinen“ Proletariers. Die marxistische Anerkennung der historischen Rolle der Arbeiterklasse hat nichts gemein mit dieser Art von „Arbeitertümelei“, mit der permanenten Huldigung des Proletariats und auch nichts mit dem Philistertum, das die gesamte Kultur der alten Welt ablehnt (siehe insbesondere den Artikel in dieser Reihe über Trotzki und die proletarische Kultur in Internationale Revue, Nr. 30, deutsche Ausgabe). Der Kommunismus der Zukunft wird das Beste aus den kulturellen und moralischen Bestrebungen der menschlichen Spezies in sich einverleiben.

Amos


[1] [2] Arnold Ruge (1802-1880) war ein junger Linkshegelianer, der mit Marx in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern zusammenarbeitete, ehe er die Beziehungen zu ihm abbrach. 1866 wurde er Anhänger Bismarcks.

[2] [2] Die Frankfurter Schule wurde 1923 gegründet. Ihr anfänglicher Zweck war das Studium gesellschaftlicher Phänomene. Nach dem Krieg war sie weniger ein Institut für gesellschaftliche Untersuchungen sondern mehr eine intellektuelle Strömung (Marcuse, Adorno, Horkheimer, Pollock, Grossman, etc.), die behauptete, von Marx beeinflusst zu sein.

[3] [2] Lucio Colletti (1924-2001) war ein italienischer Philosoph, der Marx eher für einen Nachfolger Kants denn Hegels hielt. Autor zahlreicher Werke einschließlich Marxismus und Hegel und die Einleitung zu Marx‘ frühen Schriften. Nachdem er eine gewisse Zeitlang Mitglied der italienischen KP gewesen war, bewegte er sich auf die Sozialdemokratie zu und beendete seine politische Karriere schließlich als Mitglied in Berlusconis Regierung.

[4] [2] Moses Hess (1812-1875) war Junghegelianer, Mitbegründer und Mitarbeiter von Marx in der Rheinischen Zeitung. Ein Gründer des „wirklichen Sozialismus“ in den 1840er Jahren.

[5] [2] So wie auch die Texte von Marx die bereits erwähnt wurden, enthalten die Deutsch-Französischen Jahrbücher den Brief von Marx an den Herausgeber der Allgemeinen Zeitung (Augsburg), zwei Artikel von Engels: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie und eine Revue von Thomas Carlyle Vergangenheit und Gegenwart. Marx hat im Oktober 1843 auch an Feuerbach geschrieben, in der Hoffnung, dass Feuerbach mitarbeiten würde, doch anscheinend war Feuerbach noch nicht bereit, vom Gebiet der Theorie auf das Feld der politischen Tat überzuwechseln.

[6] [2] Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865): französischer Drucker, Journalist und Mitglied der Nationalversammlung im Jahr 1848. Marx kritisierte seine ökonomischen Theorien in Das Elend der Philosophie. Charles Fourier (1772-1837): französischer utopischer Sozialist, der einen beträchtlichen Einfluss auf die spätere Entwicklung des sozialistischen Denkens ausgeübt hat.

[7] [2] Es ist möglicherweise kein Zufall, dass mit diesen Essays Lukacs auch einer der ersten war – obgleich er damals nichts von den Ökonomischen und Philosophischen Manuskripten wusste -, der zum Problem der Entfremdung zurückkehrte, dem er sich via dem Konzept der Konkretisierung näherte.

[8] [2] Die „vier Alten“ standen für die „alten Ideen, Kulturen, Sitten und Gebräuche“ und waren Zielscheibe der angeblichen „Kulturrevolution“.

 

Theorie und Praxis: 

  • Kommunismus - Keine schöne Utopie,sondern eine Notwendigkeit [3]

Theoretische Fragen: 

  • Kommunismus [4]

Die Theorie der Dekadenz im Zentrum des historischen Materialismus

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Von Marx zur Kommunistischen Linken: Die Positionen der 3. Internationale

Im ersten Artikel dieser Serie, der in der Internationalen Revue Nr. 34 veröffentlicht wurde, zeigten wir, dass die Dekadenztheorie sich im eigentlichen Zentrum des historischen Materialismus bei der Analyse der Evolution der Produktionsweisen durch Marx und Engels befindet. Sie steht an zentraler Stelle in den programmatischen Texten der Organisationen der Arbeiterbewegung. Im zweiten Artikel, der in der Internationalen Revue Nr. 35 erschien, sahen wir, wie die Organisationen der Arbeiterbewegung, beginnend mit der Zeit von Marx und Engels über die Zweite Internationale und ihre marxistische Linke bis hin zur Kommunistischen Internationale, diese Analyse zum Grundstein ihres Verständnisses der Evolution des Kapitalismus machten und sich so in die Lage versetzten, die Prioritäten für die Periode zu bestimmen. Tatsächlich stellten Marx und Engels stets sehr deutlich fest, dass die Perspektive der kommunistischen Revolution von der objektiven, historischen und globalen Entwicklung des Kapitalismus abhängt. Besonders die Dritte Internationale machte diese Analyse zum allgemeinen Rahmen ihres Verständnisses der neuen Epoche, die mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges eingeleitet wurde. Alle politischen Strömungen, die die Dritte Internationale bildeten, erkannten, dass der erste globale Krieg den Beginn der dekadenten Phase des Kapitalismus markierte. Wir setzen hier nun unseren historischen Überblick über die wichtigsten Ausdrücke der Arbeiterbewegung fort, indem wir die spezifischen politischen Positionen der Kommunistischen Internationale in der Frage des Parlamentarismus und der Gewerkschaften, für die der Eintritt des Systems in seine Niedergangsphase wichtige Auswirkungen hatte, näher untersuchen.

Der Erste Kongress der Kommunistischen Internationale wurde vom 2. – 6. März 1919 abgehalten, auf dem Höhepunkt der internationalen revolutionären Welle, die über die großen Arbeiterkonzentrationen in Europa dahinfegte. Die junge Sowjetrepublik in Russland war kaum zwei Jahre an der Macht. Im September 1918 fand ein wichtiger Aufstand in Bulgarien statt. Deutschland befand sich auf dem Höhepunkt der gesellschaftlichen Gärung, überall wurden Arbeiterräte gebildet, und zwischen November 1918 und Februar 1919 fand in Berlin eine große Erhebung statt. In Bayern wurde im November 1918 sogar eine Räterepublik gegründet; tragischerweise sollte sie nur bis zum Februar 1919 überleben. In Ungarn brach eine sozialistische Revolution aus und widerstand sechs Monate lang, von März bis August 1919, erfolgreich den Anschlägen der konterrevolutionären Kräfte. Infolge der Kriegsgräuel und der Probleme nach Kriegsende erschütterten wichtige gesellschaftliche Bewegungen auch alle anderen Länder Europas.

Zur gleichen Zeit befanden sich die revolutionären Kräfte aufgrund des Verrats der Sozialdemokratie, die beim Ausbruch des Krieges im August 1914 auf die Seite der herrschenden Klasse gewechselt war, im Prozess der Reorganisierung. Neue Formationen, die aus dem schwierigen Reifungsprozess entstanden, strebten danach, die Prinzipien und die größten Errungenschaften der alten Parteien zu sichern. Die Konferenzen von Zimmerwald (September 1915) und Kienthal (April 1916) haben mit der Regruppierung aller Gegner des imperialistischen Krieges nachdrücklich zu dieser Reifung beigetragen und ermöglicht, dass das Fundament einer neuen Internationale gelegt wurde.

   Im letzten Artikel sahen wir, wie infolge des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs diese neue Internationale den Eintritt des Kapitalismus in eine neue historische Epoche zum Rahmen ihres Verständnisses der unmittelbaren Aufgaben machte. Wir wollen nun untersuchen, wie dieser Rahmen direkt oder indirekt bei der Erarbeitung der programmatischen Positionen berücksichtigt wurde. Wir werden ebenfalls zeigen, dass die Schnelligkeit der Ereignisse und die komplizierten Bedingungen seinerzeit den Revolutionären nicht erlaubte, alle politischen Implikationen aus dem Eintritt des Kapitalismus in seine dekadente Phase in Bezug auf den Inhalt und die Form des Kampfes der Arbeiterklasse zu erkennen.

Die Gewerkschaftsfrage

Als der Erste Kongress der Dritten Internationale im März 1919 abgehalten wurde, war die erste Frage, der sich die entstehenden kommunistischen Organisationen gegenüberstanden, jene nach dem Inhalt, der Form und der Perspektiven der revolutionären Bewegung, die sich fast überall in Europa entwickelte. In dem Maße, wie die unmittelbaren Aufgaben nicht mehr die Erlangung fortschrittlicher Reformen im Rahmen eines sich im Aufstieg befindlichen Kapitalismus waren, sondern die Eroberung der Macht angesichts einer Produktionsweise, die zur Jahrhundertwende, mit dem Ausbruch des Weltkrieges[1] [5], ihren historischen Bankrott offenbart hatte, korrespondierte auch die Form, die der Klassenkampf annahm, mit seinem neuen Inhalt und Ziel. Die Organisierung in Gewerkschaften - im Wesentlichen ökonomische Organe, die eine Minderheit der Arbeiterklasse um sich scharten – war den Zielen der Bewegung in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus angepasst, aber sie entsprach nicht der Machtergreifung. Daher schuf die Arbeiterklasse, beginnend mit den Massenstreiks in Russland 1905[2] [5], die Sowjets (Arbeiterräte), die Organe verkörpern, welche alle Arbeiter im Kampf um sich sammeln, deren Inhalt sowohl ökonomischer als auch politischer Natur ist[3] [5], und deren fundamentales Ziel darin besteht, die Machtergreifung vorzubereiten. „Nur muss eine praktische Form gefunden werden, die das Proletariat in den Stand setzt, seine Herrschaft zu verwirklichen. Diese Form ist das Sowjetsystem mit der Diktatur des Proletariats. Diktatur des Proletariats! Das war bisher Latein für die Massen. Mit der Ausbreitung des Sowjetsystems in der ganzen Welt ist dieses Latein in alle Sprachen übersetzt worden: die praktische Form der Diktatur ist durch die Arbeitermassen gefunden. Sie ist den grossen Arbeitermassen verständlich geworden durch die Sowjetmacht in Russland, durch die Spartakisten in Deutschland und ähnliche Bewegungen in anderen Ländern (…).“ („Rede Lenins zur Eröffnung des Ersten Kongresses der Kommunistischen Internationale“)

Basierend auf der Erfahrung der Russischen Revolution und dem breiten Auftreten der Arbeiterräte in allen Aufständen in Europa, war sich die Kommunistische Internationale auf ihrem Ersten Kongress sehr wohl bewusst, dass große Arbeiterkämpfe nicht mehr im gewerkschaftlichen Rahmen stattfinden werden, sondern im Rahmen der neuen Einheitsorgane, der Arbeiterräte: „Der Sieg kann nur dann als gesichert gelten, wenn nicht nur die städtischen Arbeiter, sondern auch die ländlichen Proletarier organisiert sind, und zwar organisiert nicht wie früher in Gewerkschaften und Genossenschaften, sondern in Sowjets.“ („Thesen und Referat Lenins über bürgerliche Demokratie und Diktatur des Proletariates“, Erster Kongress der Komintern). Außerdem bestand die Hauptlehre, die der Erste Kongress der Dritten Internationale gezogen hatte, in Lenins Worten darin: „Aber ich glaube, dass wir nach fast zwei Jahren Revolution die Frage nicht so stellen dürfen, sondern direkte Vorschläge machen müssen, denn die Ausbreitung des Rätesystems ist für uns, besonders für die meisten westeuropäischen Länder, die wichtigste Aufgabe. (…) Ich habe einen praktischen Vorschlag zu machen, der dahin geht, eine Resolution anzunehmen, in der speziell drei Punkte angenommen werden.  Erstens: Eine der wichtigsten Aufgaben für die Genossen der westeuropäischen Länder besteht darin, die Massen über die Bedeutung, die Wichtigkeit und die Notwendigkeit des Rätesystems aufzuklären. (…) Drittens müssen wir sagen, dass die Eroberung einer kommunistischen Mehrheit in den Räten die Hauptaufgabe in allen Ländern ist, in denen die Sowjetmacht noch nicht gesiegt hat.“ (ebenda).

  Die Arbeiterklasse schuf nicht nur neue Kampforgane – die Arbeiterräte -, die den neuen Zielen und dem neuen Inhalt des Kampfes in der Dekadenz des Kapitalismus angepasst waren. Darüber hinaus machte der Erste Kongress den Revolutionären klar, dass das Proletariat sich auch den Gewerkschaften stellen musste, die mit Sack und Pack ins Lager der Bourgeoisie übergegangen waren, wie aus den Berichten der Delegierten der verschiedenen Ländern ersichtlich wird. So sagte Albert, ein Delegierter aus Deutschland, in seinem Bericht über die Lage in Deutschland: „Für uns ist von Bedeutung, dass durch diese Betriebsräte die bisher in Deutschland so sehr einflussreichen Gewerkschaften an die Wand gedrückt worden sind, die Gewerkschaften, die mit den Gelben eins waren, die den Arbeitern verboten hatten zu streiken, die gegen jede offene Bewegung der Arbeiter waren, die den Arbeitern überall in den Rücken gefallen sind. Diese Gewerkschaften sind seit dem 9. November vollständig ausgeschaltet. Alle Lohnbewegungen seit dem 9. November wurden ohne, ja gegen die Gewerkschaften geführt, die selbst keine einzige Lohnforderung der Arbeiter durchgedrückt hatten.“ („Protokolle des Ersten Kongresses der Kommunistischen Internationale“). Dasselbe gilt auch für Plattens Bericht aus der Schweiz: „Die gewerkschaftliche Bewegung in der Schweiz hat dieselben Krankheiten aufzuweisen wie die deutsche. (…) Die Arbeiter in der Schweiz haben frühzeitig erkannt, dass sie ihre materielle Lage nur verbessern können, wenn sie über die Statuten der Gewerkschaften hinaus einfach zum Kampf schreiten, nicht unter der Führung des alten Gewerkschaftsbundes, sondern unter selbst gewählter Leitung. Es kam zur Gründung eines Arbeiterkongresses und eines Arbeiterrats (…) Der Arbeiterkongress kam zustande trotz des Widerstandes des Gewerkschaftsbundes (…)“ (ebenda). Diese Realität einer oft gewaltsamen Konfrontation zwischen der in Räten organisierten Arbeiterbewegung und den Gewerkschaften, die zur letzten Verteidigungslinie des Kapitalismus geworden waren, ist eine Erfahrung, die sich mehr oder weniger deutlich durch die Berichte aller Delegierten zieht.[4] [5]

Die Realität der mächtigen konterrevolutionären Rolle der Gewerkschaften war neu für die bolschewistische Partei: In seinem Bericht über Russland konnte Sinowjew noch immer sagen: „Die Gewerkschaften haben bei uns eine andere Entwicklung durchgemacht als in Deutschland. Sie haben während der Jahre 1904-1905 eine grosse revolutionäre Rolle gespielt, und sie gehen parallel mit unserem Kampf für den Sozialismus. (…) Die grösste Mehrheit der Mitglieder vertritt den Standpunkt unserer Partei, und alle Beschlüsse werden nur im Geiste unserer Partei gefasst.“ Auch sagte Bucharin, Mitverfasser und Co-Rapporteur der Plattform, die verabschiedet wurde: „Genossen! Meine Aufgabe besteht darin, die von uns vorgelegten Richtlinien zu analysieren. (…) Wenn wir für die Russen schreiben würden, so hätten wir die Rolle der Gewerkschaften in dem revolutionären Umwandlungsprozess beschrieben. Aber nach der Erfahrung der deutschen Kommunisten ist dies unmöglich, denn die dortigen Genossen erzählen uns, dass die Stellung der dortigen Gewerkschaften der unseren völlig entgegengesetzt ist. Bei uns spielen die Gewerkschaften im Prozess der positiven Arbeit die Hauptrolle; die Sowjetmacht stütz sich gerade auf sie, in Deutschland ist es umgekehrt.“ (ebenda).

Dies ist wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass die Gewerkschaften bis 1905 nicht wirklich in Russland in Erscheinung traten, dass sie erst durch die Sowjets angespornt wurden. Als die Bewegung nach dem Scheitern der Revolution abebbte, neigten die Gewerkschaften ebenfalls dazu, zu verschwinden. Die relative Schwäche des zaristischen Staates ließ es im Gegensatz zu den westlichen Ländern nicht zu, dass die Gewerkschaften in den Staat integriert werden konnten. In den meisten entwickelten, westlichen Ländern wie Deutschland, England oder Frankreich hatten sich die Gewerkschaften durch ihre Beteiligung in verschiedensten Organismen und Schlichtungskommissionen immer mehr in die Verwaltung der Gesellschaft eingegliedert. Der Ausbruch des Krieges beschleunigte diese Tendenz und die Gewerkschaften mussten ihr Lager definitiv wählen. Dies machten sie in den angeführten Ländern, indem sie die Arbeiterklasse verrieten, einschliesslich der anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft CGT in Frankreich[5] [5]. In Russland wurden die Gewerkschaften durch den Klassenkampf, ausgelöst durch die Privatisierungen und die Schrecken des Krieges, aktiviert. Ihre Rolle beschränkte sich jedoch mehr auf Anhängsel der Sowjets, wie schon 1905. Es muss jedoch festgehalten werden, dass trotz ihrer geringeren Integration in den Staat einige Gewerkschaften in Russland zur Zeit der revolutionären Periode von 1917 eine reaktionäre Rolle spielten, so die Eisenbahnergewerkschaft.

Diese unterschiedlichen Erfahrungen in der Arbeiterschaft sollten mit der nachlassenden Dynamik der revolutionären Welle und mit der Isolierung Russlands (zu diesem Zeitpunkt behauptete noch niemand, dass die bolschewistische Partei die Speerspitze der Konterrevolution sei) die Fähigkeit der Internationale beeinträchtigen, alle Lehren und Erfahrungen des Proletariats weltweit zu ziehen und zu vereinheitlichen. Die Stärke der revolutionären Bewegung, die zur Zeit des Ersten Kongresses beträchtlich war, wie auch die Übereinstimmung der Erfahrungen aller Delegierten aus den höchst entwickelten kapitalistischen Ländern in der Gewerkschaftsfrage ließ diese Frage offen. Genosse Albert zog somit für das Präsidium und als Co-Rapporteur in der Gewerkschaftsfrage folgende Schlussfolgerung: „Ich komme gleich auf eine sehr wichtige Frage, die in den Richtlinien nicht behandelt ist, das ist die gewerkschaftliche Bewegung. Wir haben uns lange mit dieser Frage beschäftigt. Wir haben die Vertreter der einzelnen Länder über die gewerkschaftliche Bewegung ausgefragt und müssen feststellen, dass es heute unmöglich ist, zu dieser Frage in den Richtlinien international Stellung zu nehmen, da die Stellung des Proletariat in den einzelnen Ländern völlig verschieden ist. (…) Das alles sind Verhältnisse, die in den einzelnen Ländern verschieden sind, so dass es uns unmöglich erscheint, den Arbeitern klare internationale Richtlinien zu geben. Weil dies nicht möglich ist, können wir diese Frage heute nicht entscheiden, wir müssen es den einzelnen Landesorganisationen überlassen, zu ihr Stellung zu nehmen.“ (ebenda). Auf die Idee der Revolutionierung der Gewerkschaften, die von Reinstein, einem ehemaligen Mitglied der amerikanischen sozialistischen Arbeiterpartei, der als Delegierter der Vereinigten Staaten anerkannt wurde[6] [5], vorgebracht wurde, entgegnete Albert, Delegierter der Kommunistischen Partei Deutschlands: „Man könnte leicht sagen: ihr müsst sie revolutionieren, an Stelle der gelben Führer revolutionäre setzen. Aber das lässt sich nicht so ohne weiteres machen, weil die ganzen Organisationsformen der Gewerkschaften dem alten Staat angepasst sind, weil das Rätesystem auf der Grundlage der Fachverbände nicht durchführbar ist.“ (ebenda).

Das Kriegsende, eine gewisse „Sieges-Euphorie“ in den Siegerländern und die Fähigkeit der Bourgeoisie, mit der unerschütterlichen Unterstützung durch die sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften eine heftige Repression gegen gesellschaftliche Bewegungen zu entfesseln und gleichzeitig wichtige wirtschaftliche und politische Zugeständnisse gegenüber der Arbeiterklasse (wie das allgemeine Wahlrecht und den Achtstundentag) zu machen, ermöglichten es Stück für Stück, die sozioökonomische Lage in allen Ländern zu stabilisieren. Dies verursachte einen fortschreitenden Verfall in der Intensität der revolutionären Welle, die gerade wegen der Kriegsgräuel und deren Folgen entstanden war. Die Erschöpfung des revolutionären Elans und der Beginn einer Verbesserung der wirtschaftlichen Lage lastete schwer auf der Fähigkeit der revolutionären Bewegung, die Lehren aus all den Kampferfahrungen auf internationaler Ebene zu ziehen und ihr Verständnis aller Folgen des historischen Wandels für die Formen und den Inhalt des proletarischen Kampfes zu vereinheitlichen. Mit der Isolierung der Russischen Revolution wurde die Kommunistische Internationale immer stärker von den Positionen der bolschewistischen Partei dominiert. Diese wurde unter dem fürchterlichen Druck der Ereignisse in wachsendem Maße dazu gezwungen, Zugeständnisse zu machen, um zu versuchen, Zeit zu gewinnen und aus dem Schraubstock auszubrechen, in dem sie gezwängt worden war. Drei wichtige Ereignisse in dieser Rückentwicklung fanden zwischen dem Ersten und Zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale (Juli 1920) statt. Kurz vor ihrem Zweiten Kongress 1920 schuf die KI eine Rote Gewerkschaftsinternationale, die in Konkurrenz zur Internationale der „gelben“ Gewerkschaften in Amsterdam (die mit den verräterischen sozialdemokratischen Parteien verknüpft waren) stand. Im April 1920 löste die Exekutivkommission der KI ihr Amsterdamer Büro für Westeuropa auf, das die radikalen Positionen der westeuropäischen Parteien gegen einige der Orientierungen der KI, insbesondere in der Frage der Gewerkschaften und des Parlamentarismus, artikuliert hatte. Und schließlich verfasste Lenin im April - Mai 1920 eines seiner schwächsten Werke: Der Linksradikalismus, eine Kinderkrankheit des Kommunismus, in dem er in ungerechtfertigter Weise all jene kritisierte, die er „Linksradikale“ nannte und die genau jene Ausdrücke der Linken waren, welche die Erfahrungen der geballtesten und fortgeschrittensten Bastionen des europäischen Proletariats zum Ausdruck brachten[7] [5]. Statt die Diskussion, die Konfrontation und Vereinheitlichung der unterschiedlichen Erfahrungen des internationalen Kampfes des Proletariats weiterzuverfolgen, öffnete dieser Wechsel in der Perspektive und Stellung die Tür zum Rückzug zu den alten Positionen der radikalen Sozialdemokraten[8] [5].

Trotz des immer ungünstigeren Verlaufs der Ereignisse bewies die Kommunistische Internationale in ihren Leitsätzen zur Gewerkschaftsfrage, die auf dem Zweiten Kongress angenommen wurden, dass sie ihre Fähigkeit zur theoretischen Klärung noch nicht ganz verloren hatte. Dank der Auseinandersetzung mit den Erfahrungen aus dem Kampf in allen Ländern und einer Annäherung an die Lehren aus der konterrevolutionären Rolle der Gewerkschaften, gelangte sie zur Überzeugung, dass Letztere, trotz der entgegen gesetzten Erfahrungen in Russland, während des Ersten Weltkriegs auf die Seite der Bourgeoisie übergewechselt waren. „Aus denselben Gründen, denen zufolge die internationale Sozialdemokratie sich mit geringen Ausnahmen nicht als Werkzeug des revolutionären Kampfes des Proletariats zum Sturz des Kapitalismus, sondern als eine Organisation erwies, die das Proletariat im Interesse der Bourgeoisie von der Revolution zurückhält, erwiesen sich die Gewerkschaften während des Krieges in den meisten Fällen als Teil des Kriegsapparates der Bourgeoise und halfen dieser, aus der Arbeiterklasse möglichst viel Schweiss auszupressen, zwecks möglichst energischer Kriegsführung für die Interessen des kapitalistischen Gewinns.“ („Leitsätze über die Gewerkschaftsbewegung, Betriebsräte und die Kommunistische Internationale“). Im Gegensatz zu ihren eigenen Erfahrungen in Russland akzeptierten die Bolschewiki auch, dass von nun an die Gewerkschaften im Wesentlichen eine negative Rolle spielten und eine mächtige Bremse gegen die Entwicklung des Klassenkampfes bildeten, da sie genauso wie die Sozialdemokratie vom Reformismus kontaminiert waren.

Jedoch führte der fürchterliche Druck der Ereignisse – das Umschlagen der revolutionären Welle, die sozioökonomische Stabilisierung des Kapitalismus und die Isolation der Russischen Revolution – die Komintern dazu, unter Federführung der Bolschewiki an den alten radikalen sozialdemokratischen Positionen festzuhalten, statt die politische Vertiefung zu vervollständigen, die notwendig war, um den Wandel in der Dynamik, im Inhalt und in der Form des Klassenkampfes in der dekadenten Phase des Kapitalismus zu verstehen. So wundert es nicht, dass die programmatischen Leitsätze, die gegen den Widerstand vieler kommunistischer Organisationen und nicht zuletzt der Repräsentanten der fortgeschrittensten Fraktionen des westeuropäischen Proletariats vom Zweiten Kongress der Komintern verabschiedet wurden, einen Rückschritt darstellen. Ohne jegliche Argumente und in völligem Widerspruch zur allgemeinen Orientierung, die auf dem Ersten Kongress entwickelt worden war, aber auch zur konkreten Realität des Kampfes vertraten die Bolschewiki die Idee: „Die Gewerkschaften, die während es Krieges zu Organen für die Beeinflussung der Arbeitermassen im Interesse der Bourgeoisie geworden waren, werden jetzt zu Organen der Zerstörung des Kapitalismus“ (ebenda). Diese Behauptung wurde zwar sofort stark modifiziert[9] [5], doch die Tür war nun offen für alle möglichen taktischen Mittel, um die Gewerkschaften „wiederzuerobern“, sie „in die Enge zu treiben“ und die Taktik der Einheitsfront zu entwickeln, etc. – alles unter dem Vorwand, dass die Kommunisten noch immer eine Minderheit seien, dass die Situation immer ungünstiger werde, dass es notwendig sei, „mit den Massen zu gehen“, etc.

Die Entwicklung in der Gewerkschaftsfrage, die wir oben kurz umrissen haben, ähnelte in vielen Details dem Werdegang der anderen politischen Positionen der Kommunistischen Internationale. Nachdem sie wichtige Fortschritte und eine theoretische Klärung erzielt hatte, entwickelte sie sich mit dem Rückgang der internationalen revolutionären Welle zurück. Es ist nicht an uns, den Richter der Geschichte zu spielen und Zensuren zu verteilen, sondern einen Prozess zu verstehen, an dem alle mit ihren Stärken und Schwächen teilhatten. Angesichts einer wachsenden Isolation und des Drucks durch den Rückzug sozialer Bewegungen versuchte jede Partei, Verhaltensweisen und Positionen anzunehmen, die von den spezifischen Erfahrungen der Arbeiterklasse in den einzelnen Ländern bestimmt wurden. Der vorherrschende Einfluss der Bolschewiki in der Kommunistischen Internationale, einst ein aktiver Faktor bei ihrer Gründung, war allmählich in eine Behinderung des Klärungsprozesses umgeschlagen, indem ihre Positionen im Wesentlichen aus der Erfahrung der Russischen Revolution allein abgeleitet wurden[10] [5].

Die Frage des Parlamentarismus

Die Position zur Parlamentspolitik entwickelte sich wie auch jene zur Gewerkschaftsfrage von einem Bestreben zur Klärung, einschließlich der Leitsätze über den Parlamentarismus, die auf dem Zweiten Kongress der Komintern angenommen wurden, hin zu einer zweiten Periode. Diese zeichnete sich durch die Leitsätze aus, diese Thesen wieder zurückzunehmen[11] [5]. Doch mehr noch als die Gewerkschaftsfrage, auf die wir uns in diesem Artikel konzentriert haben, wurde die Parlamentarismusfrage im Rahmen der Entwicklung des Kapitalismus von seiner aufsteigenden zu seiner dekadenten Phase betrachtet. So können wir in den Leitsätzen des Zweiten Kongresses lesen: „Der Kommunismus muss von einer klaren theoretischen Einschätzung des Charakters der gegenwärtigen Epoche ausgehen (Höhepunkt des Kapitalismus; seine imperialistische Selbstverneinung und Selbstvernichtung; ununterbrochenes Anwachsen des Bürgerkrieges usw.) (…) Die Stellung der III. Internationale zum Parlamentarismus wird nicht durch eine neue Doktrin, sondern durch die Änderungen der Rolle des Parlamentarismus selbst bestimmt. In der vergangenen Epoche hat das Parlament als Instrument des sich entwickelnden Kapitalismus in gewissem Sinne eine historisch fortschrittliche Arbeit geleistet. Aber unter den gegenwärtigen Verhältnissen, unter dem zügellosen Imperialismus, ist das Parlament zu einem Werkzeug der Lüge, des Betrugs, der Gewalttat und des entnervten Geschwätzes geworden. Angesichts der imperialistischen Verheerungen, Plünderungen, Gewalttaten, Räubereien und Zerstörungen verlieren die jeder Planmässigkeit und Festigkeit baren parlamentarischen Reformen für die werktätigen Massen jede praktische Bedeutung. (…) Gegenwärtig kann das Parlament für die Kommunisten auf keinen Fall ein Schauplatz des Kampfes um Reformen, um Verbesserung der Lage der Arbeiter sein, wie das in gewissen Augenblicken der vergangenen Periode der Fall war. Der Schwerpunkt des politischen Lebens hat sich vollkommen aus dem Parlament verschoben, und zwar endgültig. (…) Dabei muss man stets die relative Unwichtigkeit dieser Frage im Auge behalten. Da der Schwerpunkt in dem ausserparlamentarischen Kampf um die Staatsmacht liegt, so versteht es sich von selbst, dass die Frage der proletarischen Diktatur und des Kampfes der Massen für diese Diktatur mit der Teilfrage der Ausnutzung des Parlamentarismus nicht gleichzusetzen ist.“ („Leitsätze über die kommunistischen Parteien und den Parlamentarismus“). Leider standen diese Leitsätze nicht in einem Zusammenhang mit ihren eigenen theoretischen Untermauerungen. Trotz dieser klaren Stellungnahmen hatte die Kommunistische Internationale insofern nicht alle Auswirkungen mit einbezog, als sie von allen Kommunistischen Parteien verlangte, weiterhin „revolutionäre“ Propaganda auf der parlamentarischen Tribüne und in den Wahlen zu betreiben.

Die nationale Frage

Das Manifest, das vom Ersten Kongress der Kommunistischen Internationale verabschiedet wurde, war besonders in der nationalen Frage sehr weitsichtig, als es angesichts der neuen Periode, die vom Ersten Weltkrieg eingeleitet wurde, verkündete: „Der nationale Staat, der der kapitalistischen Entwicklung einen mächtigen Impuls gegeben hat, ist für die Fortentwicklung der Produktivkräfte zu eng geworden.“ Die Folge: „Um so unhaltbarer wurde die Lage der unter den Grossmächten Europas und anderer Weltteile verstreuten kleinen Staaten.“ Bis zu dem Punkt, wo die kleinen Staaten sich selbst genötigt sehen, ihre eigene imperialistische Politik zu entwickeln. „Diese Kleinstaaten, die zu verschiedenen Zeiten als Bruchstücke von grossen Staaten, als Scheidemünze zu Bezahlung verschiedener Dienstleistungen, als strategische Puffer entstanden sind, haben ihre Dynastien, ihre herrschenden Banden, ihre imperialistischen Ansprüche, ihre diplomatischen Machenschaften. (…) Gleichzeitig ist die Zahl der Kleinstaaten gestiegen: aus dem Bestand der österreichisch-ungarischen Monarchie, aus den Teilen des Zarenreichs sondern sich neue Staatswesen ab, die, kaum in die Welt gesetzt, sich gegenseitig wegen der staatlichen Grenzen an die Kehle springen.“ Unter Berücksichtigung dieser Schwächen im Rahmen eines Systems, das für die Expansion der Produktivkräfte zu klein geworden ist, wird die nationale Unabhängigkeit als „illusorisch“ beschrieben. Den kleinen Nationen bleibe keine andere Wahl, als das Spiel der Großmächte mitzuspielen und sich so teuer wie möglich in den interimperialistischen Beziehungen zu verkaufen. „Ihre illusorische Unabhängigkeit hatte bis zum Kriege dieselben Stützen wie das europäische Gleichgewicht: den ununterbrochenen Gegensatz zwischen den beiden imperialistischen Lagern. Der Krieg hat dieses Gleichgewicht zerstört. Indem der Krieg anfänglich Deutschland ein gewaltiges Übergewicht verlieh, zwang er die Kleinstaaten, Heil und Rettung in der Grossmut des deutschen Militarismus zu suchen. Nachdem Deutschland geschlagen wurde, wandte sich die Bourgeoisie der Kleinstaaten gemeinsam mit ihren patriotischen „Sozialisten“ dem siegreichen Imperialismus der Verbündeten zu und begann in den heuchlerischen Punkten des Wilsonschen Programms Sicherungen für ihr weiteres selbständiges Fortbestehen zu suchen. (…) Unterdessen bereiteten die alliierten Imperialisten solche Kombinationen von neuen und alten Staaten vor, um sie durch die Haftpflicht des gegenseitigen Hasses und allgemeiner Ohnmacht zu binden.“ („Manifest an das Proletariat der ganzen Welt“, Erster Kongress der Kommunistischen Internationale).

Diese Klarheit wurde unglücklicherweise seit dem Zweiten Kongress, mit der Annahme der „Leitsätze über die Nationalitäten- und Kolonialfrage“, Zug um Zug preisgegeben, als nicht mehr davon ausgegangen wurde, dass alle Nationen, ob groß oder klein, gezwungen waren, eine imperialistische Politik zu praktizieren und sich selbst an die Strategie der Großmächte zu binden. Tatsächlich wurden die Nationen in zwei Gruppen aufgeteilt: „(…) genaue Trennung der unterdrückten, abhängigen, nicht gleichberechtigten Nationen von den unterdrückenden, ausbeutenden, vollberechtigten Nationen (…)“ („Leitsätze über die Nationalitäten- und Kolonialfrage“) Was beinhaltete: „Jede Partei die der III. Internationale anzugehören wünscht, ist verpflichtet (…) jede Freiheitsbewegung in den Kolonien nicht nur mit Worten, sondern auch durch Taten zu unterstützen (…) Parteimitglieder, die die von der Kommunistischen Internationale aufgestellten Verpflichtungen und Leitsätze grundsätzlich ablehnen, müssen aus der Partei ausgeschlossen werden.“ („Leitsätze über die Bedingungen der Aufnahme in die Kommunistische Internationale“). Darüber hinaus – und im Gegensatz zu dem, was richtigerweise im „Manifest“ des Ersten Kongresses festgestellt wurde – wurde der Nationalstaat nicht mehr betrachtet als „zu eng geworden für die Fortentwicklung der Produktivkräfte“, denn „die Fremdherrschaft hemmt beständig die Entwicklung des sozialen Lebens; daher muss der erste Schritt der Revolution die Beseitigung dieser Fremdherrschaft sein.“ („Ergänzungsthesen über die Nationalitäten- und Kolonialfrage“, Punkt 6). Hier können wir sehen, dass durch den Verzicht auf eine Vertiefung der Konsequenzen aus der Analyse über den Eintritt des kapitalistischen Systems in die Dekadenz die Kommunistische Internationale schnell auf das dünne Eis des Opportunismus geriet.

Schlussfolgerungen

Wir erheben nicht den Anspruch, dass die Kommunistische Internationale ein vollständiges Verständnis der Dekadenz der kapitalistischen Produktionsweise hätte haben müssen. Wie wir im nächsten Artikel sehen werden, waren sich die Dritte Internationale und ihre Parteien sicherlich mehr oder weniger bewusst darüber, dass eine neue Epoche angebrochen war, dass der Kapitalismus ausgedient hatte, dass die unmittelbare Aufgabe darin bestand, nicht mehr Reformen, sondern die Macht zu erringen, und dass die Klasse, die den Kapitalismus verkörpert, die Bourgeoisie, reaktionär geworden ist, zumindest in den zentralen Ländern. Es war eine der Schwächen der Komintern, dass sie nicht imstande war, alle Lehren aus der neuen Epoche zu ziehen, die durch den Ersten Weltkrieg eingeleitet worden war, Lehren über den Inhalt und die Form des proletarischen Kampfes. Weit entfernt davon, ausschließlich auf die Komintern und ihre Parteien beschränkt gewesen zu sein, war diese Schwäche vielmehr die Frucht allgemeiner Schwierigkeiten, die die Arbeiterbewegung als solche hatte: die tiefe Spaltung der Revolutionäre zum Zeitpunkt des Verrats durch die Sozialdemokratie und die Notwendigkeit ihres Wiederaufbaus unter den schwierigen Umständen des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegsperiode; die Spaltung zwischen Sieger- und Verliererländern, die keine günstigen Bedingungen für die Generalisierung der revolutionären Bewegung schuf; der rapide Rückgang der Bewegungen und Kämpfe, als die einzelnen Länder wieder soweit waren, die wirtschaftliche und soziale Lage nach dem Krieg zu stabilisieren, etc. Diese Schwäche konnte nur wachsen, und es fiel den linken Fraktionen zu, die sich von der Komintern trennten, die Arbeit fortzusetzen, die es noch zu machen galt.

C. Mcl.


[1] [5] „Die 2. Internationale hat ihren Teil an nützlicher Vorarbeit geleistet, um die proletarischen Massen zunächst während der langen „friedlichen“ Periode härtester kapitalistischer Sklaverei und raschesten kapitalistischen Fortschritts im letzten Drittel des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts zu organisieren. Der 3. Internationale steht die Aufgabe bevor die Kräfte des Proletariats zum revolutionären Ansturm  gegen die kapitalistischen Regierungen zu organisieren, zum Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie aller Länder, für die proletarische Macht, für den Sieg des Sozialismus!“ (Lenin, „Lage und Aufgaben der Sozialistischen Internationale“, Werke, Band, 21)             

[2] [5] siehe die dreiteilige Artikelserie „Die Revolution von 1905 in Russland“, Internationale Revue Nr. 36-38

[3] [5] „Der wirtschaftliche Kampf des Proletariats verwandelt sich in der Epoche des Zerfalls des Kapitalismus viel schneller in einen politischen Kampf, als dies im Zeitalter der friedlichen Entwicklung des Kapitalismus geschehen konnte. Jeder grosse wirtschaftliche Zusammenstoss kann die Arbeiter unmittelbar vor die Frage der Revolution stellen.“ („Leitsätze über die Gewerkschaftsbewegung, die Betriebsräte und die Kommunistische Internationale“, 2. Kongress der Komintern) „Lohnkämpfe der Arbeiter bringen  – auch wenn sie erfolgreich sind – nicht die erhoffte Hebung der Lebenslage, da der sprungweise sich erhöhende Kaufpreis aller Bedarfsgüter jeden Erfolg illusorisch macht. Die Lebenslage der Arbeiter kann nur dann gehoben werden, wenn nicht die Bourgeoise, sondern das Proletariat selbst die Produktion beherrscht. Die gewaltigen Lohnkämpfe der Arbeiter in allen Ländern, in denen deutlich die verzweifelte Lage zum Ausdruck kommt, machen durch ihre elementare Wucht und Tendenz der Verallgemeinerung die Fortführung der kapitalistischen Produktionsweise unmöglich.“ („Richtlinien der Kommunistischen Internationale“, 1. Kongress der Komintern)

[4] [5] Auch der Bericht von Feinberg über England unterstreicht: „Die Gewerkschaften gaben die Errungenschaften, die sie in langjährigem Kampf erobert hatten, auf, und das Zentralkomitee der Gewerkschaften schloss den Burgfrieden mit der Bourgeoisie. Aber das Leben, die Verstärkung der Ausbeutung, die Erhöhung der Lebensmittelpreise zwangen die Arbeiter, sich gegen die Kapitalisten, die den Burgfrieden zu ihren Ausbeutungszwecken ausnützen, zu wehren. Sie sahen sich gezwungen, erhöhte Arbeitslöhne zu verlangen und diese Forderungen durch Streik zu unterstützen. Das Zentralkomitee der Gewerkschaften und die früheren Führer der Bewegung hatten der Regierung versprochen, die Arbeiter im Zaum zu halten, und deshalb versuchten sie die Bewegung zurückzuhalten und desavouierten die Streiks. Dennoch fanden die Streiks „unoffiziell“ statt.“ („Protokoll des Ersten Kongresses der Kommunistischen Internationale“). Der Bericht von Reinstein über die USA hob hervor: „Nur muss man hier betonen, dass die amerikanische kapitalistische Klasse praktisch und schlau genug war, einen praktischen und tatkräftigen Blitzableiter für sich zu schaffen, und dieser bestand in der Entwicklung einer antisozialistischen grossen gewerkschaftlichen Organisation unter der Führung von Gompers. (…) Gompers ist aber eher ein amerikanischer Subatow (…) (Subatow war der Organisator der „gelben“ Gewerkschaften für die zaristische Polizei). Kuusinen, der Delegierte für Finnland, ging in der Diskussion über die „Richtlinien der Kommunistischen Internationale“ in dieselbe Richtung: „Es gibt eine Anmerkung zu machen bezüglich des Abschnitts „Demokratie und Diktatur“, bei dem es um die revolutionären Gewerkschaften und Genossenschaften geht. In Finnland haben wir weder revolutionäre Gewerkschaften als auch keine revolutionären Genossenschaften und wir zweifeln auch daran, dass es solche jemals in unserem Land geben wird. Die Struktur dieser Gewerkschaften und Genossenschaften überzeugt uns, dass nach der Revolution die neue soziale Ordnung besser aufgebaut werden kann ohne diese Organisationen.“

[5] [5] Dies war auch der Grund, weshalb die CGT in Spanien 1914 nicht sofort ins Lager der Bourgeoisie überwechselte, was sie später dann tat. Da Spanien nicht am Ersten Weltkrieg teilnahm, wurde sie nicht auf die Feuerprobe gestellt zwischen den Lagern des Proletariates und der Bourgeoise zu wählen.   

[6] [5] Dieser Delegierte schlug einen Anhang in diesem Sinne zur den „Richtlinien“ vor, der vom Kongress abgelehnt wurde.

[7] [5] Lenin ging soweit, dass er schrieb: „Aus all dem ergibt sich die Notwendigkeit, die absolute Notwendigkeit für die kommunistische Partei, die Vorhut des Proletariats, zu lavieren, Absprachen zu machen, Kompromisse zu schliessen, mit den verschiedenen Gruppen von Arbeitern, mit den verschiedenen Parteien der Arbeiter und denen anderer Unterdrückter.“

[8] [5] „ (…) so kann die zweite Aufgabe, die nun zur nächsten wird und die in der Fähigkeit besteht, die Massen heranzuführen an die neuen Positionen, die den Sieg der Vorhut in der Revolution zu sichern vermag – so kann diese nächste Aufgabe nicht erfüllt werden, ohne dass man mit dem linken Doktrinarismus aufräumt, ohne dass man seine Fehler völlig überwindet und sich von ihnen frei macht.“

[9] [5] Die „Leitsätze“ merkten an: „Diese Änderung des Charakters der Gewerkschaften wird von der alten Gewerkschaftsbürokratie und durch die alten Organisationsformen der Gewerkschaften auf jede Weise behindert.“

[10] [5] „Der 2. Kongress  der Kommunistischen Internationale erkennt als unrichtig die Ansichten über die Beziehungen der Partei zu Klasse und Masse, über die Unverbindlichkeit der Teilnahme der kommunistischen Parteien an den bürgerlichen Parlamenten und reaktionärsten Gewerkschaften an, die in besonderen Beschlüssen des 2. Kongresses eingehend widerlegt sind und am vollständigsten durch die „Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands“ (KAPD) verteidigt werden, sowie teilweise von der „Kommunistischen Partei der Schweiz“, dem Organ des Osteuropäischen Sekretariats der Kommunistischen Internationale „Der Kommunismus“ in Wien, und einigen holländischen Genossen, ferner von einigen kommunistischen Organisationen in England, z.B. der „Sozialistischen Arbeiterföderation“ u. a., sowie von den „Industriearbeitern der Welt“ (IWW) in Amerika und von den Shop Stewards Committees in England usw. („Leitsätze über die Grundaufgaben der Kommunistischen Internationale“, Punkt 18)               

[11] [5] Nachdem wir in der Gewerkschaftsfrage ins Detail gegangen sind, können wir dies im Rahmen dieses Artikels über die Dekadenz nicht auch noch in der Frage des Parlamentarismus machen. Wir verweisen französischsprachige Leser auf unsere Artikelsammlung „Mobilisation électorale – demobilisation de la classe ouvrière“, die zwei Untersuchungen über diese Frage wieder veröffentlichten, die in Révolution Internationale Nr. 2, Februar 1973, unter dem Titel „Les Barricades de la bourgeoisie“ und in Révolution Internationale Nr. 10, Juli 1974, unter dem Titel „Les élections contre la classe ouvrière“ erschienen. Der letztgenannte Artikel erschien auf Englisch in World Revolution Nr. 2, November 1974, unter dem Titel „Elections: the discreet charm of the bourgeoisie“.

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [6]

Internationale Revue 39 - Editorial

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Imperialistisches Chaos, Ökokatastrophe: Der Kapitalismus in der Sackgasse

Vor mehr als hundert Jahren sagte Engels voraus, dass die kapitalistische Gesellschaft, sich selber überlassen, die Menschheit in die Barbarei stürzen würde. Und tatsächlich, in den letzten hundert Jahren haben imperialistische Kriege nicht aufgehört, auf immer abstoßendere Weise diese Voraussage zu bestätigen. Heute hat die kapitalistische Welt eine neue Türe zur Apokalypse geöffnet, zu der von Menschenhand geschaffenen ökologischen Katastrophe, welche in wenigen Generationen den Planeten Erde zu einem unwirtlichen Ort wie den Planeten Mars machen könnte. Obwohl sich die Verteidiger der kapitalistischen Ordnung dieser Perspektive bewusst sind, können sie rein gar nichts dagegen tun, denn es ist ihre eigene Produktionsweise, welche die imperialistischen Kriege wie auch die ökologische Katastrophen hervorruft.

Imperialistischer Krieg = Barbarei

Das blutige Fiasko des Irakfeldzuges der 2003 von den USA angeführten Koalition stellt ein schicksalhaftes Moment in der Entwicklung der imperialistischen Kriege auf dem Weg der Zerstörung der Gesellschaft selber dar. Vier Jahre nach der Invasion ist der Irak weit davon entfernt, „befreit“ zu sein, und hat sich in das verwandelt, was die bürgerliche Presse vorsichtig als einen „gescheiterten Staat“ definiert; dieses Land, dessen Bevölkerung die Massaker von 1991 über sich ergehen lassen musste, danach während eines Jahrzehnts durch die Wirtschaftssanktionen1[1] [7] ausgeblutet wurde und nun täglich durch Selbstmordattentate, Pogromen der verschiedenen „Aufständischen“, von den Todesschwadronen des Innenministeriums oder durch willkürliche Hinrichtungen durch die Besatzungstruppen aufgerieben wird. Die Situation im Irak ist nichts anderes als das Epizentrum eines Prozesses des Zerfalls und des militärische Chaos, welches sich über Palästina, Somalia, den Sudan, den Libanon und Afghanistan ausbreitet und immer neue Regionen zu befallen droht. Die kapitalistischen Metropolen sind nicht davon ausgenommen, wie die Anschläge in New York, Madrid oder London im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts zeigen. Weit davon entfernt, eine neue Ordnung im Nahen und Mittleren Osten aufzubauen, hat die amerikanische Militärmacht das Chaos nur vergrößert.

In diesem Sinn gibt es nichts Neues an diesem Massaker. Der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 war ein erster Schritt zu einer barbarischen „Zukunft“. Das Gemetzel von Millionen junger Arbeiter, welche die jeweiligen imperialistischen Herrscher in die Schützengräben geschickt hatten, wurde abgelöst durch die Pandemie der „spanischen Grippe“, welche weitere Millionen von Opfern forderte. Die mächtigsten europäischen Nationen befanden sich am Ende des Krieges ökonomisch am Boden. Nach der Niederlage der Oktoberrevolution von 1917 und der verschiedenen Arbeiterrevolutionen, die im Laufe der 20er Jahren unter diesem Einfluss ausbrachen, war der Weg zu einem noch katastrophaleren Krieg geebnet, zum Zweiten Weltkrieg von 1939 bis 1945. Hier wurde die wehrlose Zivilbevölkerung das Hauptziel eines systematischen Massakers durch die Luftstreitkräfte; ein Völkermord im Herzen der europäischen Zivilisation forderte Millionen von Menschenleben.

Während des Kalten Krieges von 1947 bis 1989 gab es eine ganze Reihe von zerstörerischen Kriegen, in Korea, Vietnam, Kambodscha und quer durch ganz Afrika, während der Antagonismus zwischen den USA und der UdSSR die Welt dauernd mit der weltweiten nuklearen Apokalypse bedrohte.

Was heute am imperialistischen Krieg neu ist, ist nicht das absolute Ausmaß der Zerstörung, obwohl die Zerstörungskraft mindestens der USA sehr viel größer ist als je zuvor, denn die jüngeren militärischen Konflikte haben noch nicht die wesentlichen Bevölkerungskonzentrationen im Herzen des Kapitalismus in den Abgrund geführt, wie dies während des Ersten und Zweiten Weltkriegs der Fall war. 1918 verglich Rosa Luxemburg die Barbarei des Ersten Weltkrieges mit dem Niedergang des Alten Roms und der düsteren Zeit, die darauf folgte. Heute scheint selbst dieser dramatische Vergleich unangemessen, wenn man den grenzenlosen Schrecken beschreiben will, den uns der Kapitalismus bietet. Trotz der Brutalität und dem Chaos der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts gab es dabei immer noch eine Perspektive - wenn auch eine illusorische - eines Wiederaufbaus einer gesellschaftlichen Ordnung im Interesse der herrschenden imperialistischen Mächte. Die Spannungsfelder unserer Zeit bieten hingegen keine andere Perspektive als diejenige des immer tieferen Versinkens im gesellschaftlichen Auseinanderdriften auf allen Ebenen, im Zerfall jeglicher sozialen Ordnung, in einem endlosen Chaos.

Die Sackgasse des US-amerikanischen Imperialismus ist diejenige des Kapitalismus

Ein ganz großer Teil der US-amerikanischen Bourgeoisie ist gezwungen worden zu anerkennen, dass die Strategie des Unilateralismus bei ihren weltweiten Hegemonialansprüchen sowohl auf der diplomatischen als auch auf der militärischen und der ideologischen Ebene gescheitert ist. Der Bericht der Irak-Studiengruppe (Irak Study Group, ISG), der dem amerikanischen Kongress vorgelegt worden ist, verheimlicht diese offensichtliche Tatsache nicht. Statt das Ansehen der USA zu stärken, hat die Besetzung des Iraks ihr Prestige in praktisch allen Bereichen geschwächt. Aber welche Alternative schlagen die härtesten Kritiker der Bush-Administration innerhalb der herrschenden Klasse der USA vor? Der Rückzug der Truppen ist nicht möglich, ohne die amerikanische Hegemonie weiter zu schwächen und das Chaos zu beschleunigen. Eine Teilung des Iraks in ethnische Zonen hätte den gleichen Effekt. Einige schlagen eine Politik der Eindämmung vor wie während der Zeit des Kalten Krieges, aber es ist klar, dass man nicht zur Politik der zwei imperialistischen Blöcke zurückkehren kann. Außerdem ist das Versagen der US-Truppen im Irak viel schlimmer als dasjenige in Vietnam, denn im Gegensatz zu Vietnam geht es für die USA im Irak darum, die ganze restliche Welt in die Schranken zu weisen, und nicht mehr bloß den seinerzeit rivalisierenden Block der UdSSR.

Trotz der harschen Kritik der ISG und der durch die demokratische Partei errungenen Kontrolle über den Kongress wurde Bush ermächtigt, die Zahl der Soldaten im Irak um 20´000 zu erhöhen. Gleichzeitig begann eine Politik der militärischen und diplomatischen Drohung gegenüber dem Iran. Welches die alternativen Strategien der herrschenden Klasse der USA auch immer sind, wird sie früher oder später gezwungen sein, einen weiteren blutigen Beweis für ihren Status als Supermacht zu liefern mit noch widerwärtigeren Konsequenzen für die Menschen der ganzen Welt, was einmal mehr die Ausbreitung der Barbarei beschleunigen wird.

Das ist weder das Resultat der Inkompetenz noch der Arroganz der republikanischen Administration unter Bush und der Neokonservativen, wie dies die Bourgeoisien der anderen imperialistischen Mächte unaufhörlich wiederholen. Sich auf die UNO und den Multilateralismus abzustützen, ist keine wirkliche Friedensoption, entgegen den Empfehlungen dieser Bourgeoisien und der Pazifisten jeder Couleur. Seit 1989 hat Washington sehr gut verstanden, dass die UNO eine Tribüne geworden ist, auf der die Rivalen der USA die amerikanischen Pläne durchkreuzen können: ein Ort, wo ihre weniger mächtigen Rivalen die amerikanische Politik verzögern und verwässern oder gar mit einem Veto verhindern können, um der Schwächung ihrer eigenen Position entgegen zu wirken. Indem Frankreich, Deutschland und die anderen die USA als die einzigen Verantwortlichen für Chaos und Krieg darstellen, offenbaren sie lediglich, dass sie selber ihren vollen Anteil an der zerstörerischen Logik des Kapitalismus haben: einer Logik, nach der jeder für sich selber spielt und sich gegen alle anderen durchsetzen muss.

Es überrascht nicht, dass die regelmäßigen Antikriegsdemonstrationen in großen Städten der wichtigen Metropolen im allgemeinen laut die kleinen imperialistischen Mächte des Nahen und Mittleren Ostens unterstützen, wie beispielsweise die Aufständischen im Irak oder die Hisbollah im Libanon, welche die USA bekämpfen. Das zeigt, dass dem Imperialismus eine Logik innewohnt, der sich keine Nation entziehen kann, und dass der Krieg nicht nur das Resultat der Aggressionen der Großmächte ist.

Andere verkünden dauernd wider besseres Wissen, dass das Abenteuer der USA im Irak ein „Krieg ums Öl“ sei. Dabei werden die Gefahren ihrer grundlegenden geostrategischen Ziele völlig außer acht gelassen. Dies ist eine grobe Unterschätzung der aktuellen Lage. Die Situation, in der sich die USA im Irak befinden, ist nur der Ausdruck der weltweiten Sackgasse, in der die ganze kapitalistische Gesellschaft steckt. George Bush senior proklamierte seinerzeit, dass mit dem Wegfall des Ostblocks eine Zeit des Friedens und der Stabilität begonnen habe, eine „neue Weltordnung“. Schon schnell sollte die Realität diese Vorhersage Lügen strafen, zunächst mit dem ersten Irakkrieg, dann mit dem barbarischen Konflikt in Jugoslawien, einem Krieg im Herzen Europas. Die 90er Jahre waren keineswegs Jahre der Ordnung, sondern des zunehmenden militärischen Chaos. Ironischerweise ist George Bush junior die Rolle zugefallen, einen weiteren entscheidenden Schritt hin zu diesem unumkehrbaren Chaos zu tun.

Die Zerstörung der Biosphäre

Gleichzeitig zur Verschärfung seines imperialistischen Kurses hin zu einer immer sichtbareren Barbarei, verstärkt der zerfallende Kapitalismus seine Attacke gegen die Biosphäre in einem solchen Ausmaß, dass ein künstlicher klimatischer Holocaust die Zivilisation und die Menschen zu zerstören droht. Laut den Erkenntnissen, zu denen die Umweltwissenschaftler im Bericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaveränderung (IPCC) gekommen sind, wird bestätigt, dass die Theorie über die Klimaerwärmung durch hohe Kohlendioxid-Werte in der Atmosphäre, verursacht durch die massenhafte Verbrennung fossiler Brennstoffe, nicht nur eine simple Hypothese, sondern „Wahrscheinlichkeit“ sei. Das Kohlendioxid in der Atmosphäre hält die von der Erdoberfläche und der Umgebungsluft abgestrahlte Sonnenwärme zurück und führt zu einem „Treibhauseffekt“. Dieser Prozess hat um 1750 begonnen, zur Zeit der kapitalistischen industriellen Revolution, und seither haben die Kohlendioxid-Emissionen und die Erderwärmung stetig zugenommen. Seit 1950 hat sich dies ständig beschleunigt, und während des letzten Jahrzehnts wurden jedes Jahr neue Temperaturrekorde gemessen. Die Konsequenzen dieser Erderwärmung haben bereits alarmierende Ausmaße angenommen: Die Klimaveränderung führt zu wiederkehrenden Dürren und riesigen Überschwemmungen, zu tödlichen Hitzewellen in Nordeuropa und Klimabedingungen mit einer großen Zerstörungskraft. Sie führt zur Verschärfung der Hungersnöte und der Krankheiten in der Dritten Welt und selbst zum Ruin von Städten wie New Orleans nach dem Hurrikan Katrina.

Sicher, man darf nicht den Kapitalismus anklagen, damit begonnen zu haben, fossile Brennstoffe zu verbrennen, oder mit der Umwelt in gefährlicher und zerstörerischer Weise umzugehen. Dies war schon zu Beginn der menschlichen Zivilisation der Fall:

„Die Leute, die in Mesopotamien, Griechenland, Kleinasien und anderswo die Wälder ausrotteten, um urbares Land zu gewinnen, träumten nicht, dass sie damit den Grund zur jetzigen Verödung jener Länder legten, indem sie ihnen mit den Wäldern die Ansammlungszentren und Behälter der Feuchtigkeit entzogen. Die Italiener der Alpen, als sie die am Nordabhang des Gebirges so sorgsam gehegten Tannenwälder am Südabhang vernutzten, ahnten nicht, dass sie damit der Sennwirtschaft auf ihrem Gebiet die Wurzeln abgruben; sie ahnten noch weniger, dass sie dadurch ihren Bergquellen für den größten Teil des Jahrs das Wasser entzogen, damit diese zur Regenzeit um so wütender Flutströme über die Ebene ergießen könnten. Die Verbreiter der Kartoffel in Europa wussten nicht, dass sie mit den mehligen Knollen zugleich die Skrofelkrankheit verbreiteten. Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht – sondern dass wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und dass unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen andern Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.“ (Friedrich Engels, Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen in Dialektik der Natur)

Doch der Kapitalismus ist verantwortlich für die enorme Zunahme dieser Umweltzerstörung. Dies nicht wegen der Industrialisierung an sich, sondern wegen seiner Jagd nach einem maximalen Profit und seiner Blindheit gegenüber den ökologischen und menschlichen Bedürfnissen, außer wenn sie zufällig mit dem Ziel der Anhäufung von Reichtum zusammenfallen. Die kapitalistische Produktionsweise hat aber noch andere Charakteristiken, welche zur ungebremsten Zerstörung der Umwelt führen. Die gnadenlose Konkurrenz unter den Kapitalisten, vor allem unter den verschiedenen Nationalstaaten, verhindert schlussendlich jegliche Kooperation auf Weltebene. Und verbunden mit dieser Charakteristik die Tendenz des Kapitalismus zur Überproduktion, in seiner unersättlichen Suche nach Profit.

Im dekadenten Kapitalismus, in seiner Periode der permanenten Krise, wird diese Tendenz zur Überproduktion chronisch. Dies ist seit Ende des Zweiten Weltkrieges besonders deutlich geworden, da die Erweiterung der kapitalistischen Wirtschaft auf einer künstlichen Basis vorangetrieben wird, vor allem durch die Politik der Finanzierung über Defizite und die enorme Zunahme der Verschuldung in der Wirtschaft. All dies hat nicht zur Befriedigung der Bedürfnisse der Masse der arbeitenden Bevölkerung geführt, welche weiterhin im Morast der Armut steckt, sondern zu einer enormen Vergeudung, zu Bergen von unverkauften Gütern; zur Verschleuderung von Millionen Tonnen von Lebensmitteln; wegen fehlender Planung der Produktion zu immensen Mengen von überschüssigen Gütern; vom Auto bis zum Computer zu Produkten, die schnell wieder auf den Müll geworfen werden; zu einer gigantischen Masse von identischen Produkten aus der Produktion der verschiedenen Konkurrenten für denselben Markt.

Während der Rhythmus der technologischen Entwicklung und Spezialisierung in der Dekadenz des Kapitalismus zunimmt, werden die daraus resultierenden Innovationen vor allem durch den militärischen Sektor angeregt, dies im Gegensatz zur Zeit des aufsteigenden Kapitalismus. Auf der Ebene der Infrastruktur: Gebäude, sanitäre Einrichtungen, Energieproduktion, Transportwesen, sind wir aber keineswegs Zeugen von revolutionären Entwicklungen, welche mit dem Beginn der kapitalistischen Produktionsweise vergleichbar wären. In der Phase des Zerfalls des Kapitalismus, der letzten Phase der Dekadenz, herrscht eine andere Tendenz vor: das Herunterschrauben der Kosten für die Aufrechterhaltung selbst der alten Infrastruktur, in der Hoffnung auf kurzfristige Profite. Man kann eine Karikatur dieses Prozesses in der Entwicklung der Produktion in China und Indien beobachten, wo die industrielle Infrastruktur größtenteils fehlt. Anstatt dem Kapitalismus einen neuen Lebenselan einzuhauchen, führt diese Entwicklung zu grausamsten Verschmutzungen: zur Zerstörung der Flüsse, enormen Smog-Decken, die ganze Länder überdecken, usw.

Dieser lange Prozess des Niedergangs und Zerfalls der kapitalistischen Produktionsweise liefert eine Erklärung, weshalb es eine dermaßen dramatische Zunahme der Kohlendioxid-Verschmutzung und der Erwärmung des Planeten in den letzten Jahrzehnten gibt. Er lässt auch begreifen, weshalb gegenüber einer solchen wirtschaftlichen und klimatischen Entwicklung der Kapitalismus und seine „Machthaber“ unfähig sind, die katastrophalen Auswirkungen der Erderwärmung zu bekämpfen.

Die apokalyptischen Szenarien, welche zur Zerstörung der Menschheit führen können, werden in einem gewissen Sinne durch die Sprecher und Medien der Regierungen aller kapitalistischer Länder anerkannt und öffentlich dargestellt. Die Tatsache, dass sie zahllose Heilmittel anpreisen, um diese Auswirkungen zu vermeiden, heißt noch lange nicht, dass nur ein Einziger von ihnen eine realistische Alternative gegenüber der barbarischen Perspektive anzubieten hätte. Ganz im Gegenteil. Angesichts des ökologischen Desasters ist der Kapitalismus, gleich wie gegenüber der imperialistischen Barbarei, absolut hilflos.   

„Viel Wind“ um die Klimaerwärmung

Die Regierungen der ganzen Welt finanzieren seit 1990 über die Vereinten Nationen großzügig die Forschung des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderung, und ihre Medien haben die kürzlich gezogenen, schrecklichen Schlussfolgerungen breit gewalzt.

Die wichtigsten politischen Parteien der Bourgeoisie aller Länder stellen sich alle als Variationen von Ökologen dar. Aber wenn man genauer hinschaut, verschleiert die „grüne“ Politik dieser Parteien, wie radikal sie auch erscheinen mögen, vorsätzlich den Ernst des Problems, denn die einzige Erfolg versprechende Lösung würde gerade das System in Frage stellen, dessen Lob sie singen. Der gemeinsame Nenner all dieser „grünen“ Kampagnen besteht darin, die Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins in einer Bevölkerung zu verhindern, die zu Recht über die klimatische Erwärmung entsetzt ist. Die ständig wiederholte ökologische Botschaft der Regierungen lautet, dass „den Planeten zu retten die Verantwortung jedes und jeder Einzelnen“ sei, während die überwiegende Mehrheit keinerlei wirtschaftliche oder politische Macht hat und von jeder Kontrolle über die Produktion und den Konsum ausgeschlossen ist. Und die Bourgeoisie, die diese Entscheidungsmacht hat, beabsichtigt in keiner Weise, ihre Profite den allgemeinen ökologischen und menschlichen Bedürfnissen zu opfern.

Al Gore, der im Jahre 2000 beinahe demokratischer Präsident der Vereinigten Staaten geworden wäre, stellte sich mit seinem Film „Eine unbequeme Wahrheit“ an die Spitze einer internationalen Kampagne gegen den Kohlendioxidausstoß. Der Film gewann in Hollywood einen Oscar für die lebendige Art und Weise, mit der er die Gefahr des globalen Temperaturanstiegs, des Schmelzens der Polarkappen, des Anstiegs der Meere und aller Zerstörungen behandelt, die sich daraus ergeben. Aber der Film ist auch eine Wahlplattform für Al Gore selbst. Er ist nicht der einzige alte Politiker, der auf die Idee kommt, die gerechtfertigte Angst der Bevölkerung vor der ökologischen Katastrophe für die Jagd aufs Präsidentenamt auszunutzen, die das demokratische Spiel der großen kapitalistischen Länder ausmacht. In Frankreich haben alle Präsidentschaftskandidaten den „ökologischen Pakt“ des Journalisten Nicolas Hulot unterzeichnet. In Großbritannien rivalisieren die politischen Hauptparteien darum, wer der „grünste“ sei. Der von Gordon Brown und seiner New Labour in Auftrag gegebene Stern-Bericht hat mehrere Regierungsinitiativen nach sich gezogen, die die CO2-Emissionen reduzieren sollen. David Cameron, Chef der konservativen Opposition, geht mit dem Fahrrad zum Parlament (während seine Entourage im Mercedes folgt).

Es reicht, die Ergebnisse der früheren Regierungsstrategien anzuschauen, die angeblich den Zweck hatten, den Kohlendioxidausstoß zu reduzieren, um die Unfähigkeit der Staaten festzustellen, den Beweis irgendeiner Wirksamkeit ihrer Politik zu erbringen. Statt die Emission von Gasen mit Treibhauseffekt bis ins Jahr 2000 auf dem Stand von 1990 zu stabilisieren, wie sich die Unterzeichner des Kyoto-Protokolls im Jahre 1997 bescheiden verpflichteten, gab es in Tat und Wahrheit bis Ende des Jahrhunderts in den wichtigsten Industrieländern eine Erhöhung des Ausstoßes um 10,1%, und die Voraussage lautet, dass diese Umweltverschmutzung bis ins Jahr 2010 noch um 25,3% steigen wird! (Deutsche Umwelthilfe)

Es genügt auch, die grobe Fahrlässigkeit der kapitalistischen Staaten bei den Unglücken festzustellen, die sich bereits wegen der Klimaänderung ereignet haben, um sich ein Urteil über die Aufrichtigkeit der zahllosen Erklärungen guter Absichten zu machen.

Es gibt natürlich diejenigen, die erkennen, dass das Interesse an der Profitmaximierung einen mächtigen Faktor darstellt, welcher der wirksamen Begrenzung der Umweltverschmutzung entgegenwirkt; sie glauben, dass man das Problem lösen könne, indem man die liberale Politik durch Lösungen ersetze, die der Staat organisiere. Aber er ist insbesondere auf internationaler Ebene klar, dass die kapitalistischen Staaten, selbst wenn sie innenpolitisch etwas umsetzen würden, unfähig sind, untereinander in dieser Frage zusammenzuarbeiten, denn jeder müsste wirtschaftliche Opfer bringen. Kapitalismus heißt Konkurrenz, und er ist heute mehr denn je durch das Jeder-für-sich beherrscht.

Die kapitalistische Welt ist unfähig, sich für ein gemeinsames Vorhaben zusammenzuschließen, das so massiv und kostspielig wäre wie eine vollständige Umstrukturierung der Industrie und des Verkehrs, die nötig wäre, um eine drastische Reduzierung der Erzeugung von Energie zu erreichen, die Kohlenstoff verbrennt. Vielmehr besteht das Hauptanliegen aller kapitalistischen Nationen darin zu versuchen, dieses Problem zu benutzen, um ihren eigenen widerwärtigen Ehrgeiz zu befriedigen. Wie auf der imperialistischen und militärischen Ebene ist der Kapitalismus auch auf der ökologischen Ebene von unüberwindbaren nationalen Grenzen durchzogen und kann deshalb nicht einmal auf die dringendsten Bedürfnisse der Menschheit eingehen.

Für das Proletariat ist noch nicht alles verloren – wir haben immer noch eine Welt zu gewinnen

Aber es wäre falsch, einfach zu resignieren und zu meinen, der Untergang in der Barbarei sei aufgrund der mächtigen Tendenzen – des Imperialismus und der ökologischen Zerstörung - unvermeidlich. Angesichts der Selbstgefälligkeit aller halben Maßnahmen, die der Kapitalismus uns vorschlägt, um den Frieden und die Harmonie mit der Natur herzustellen, ist der Fatalismus eine gleichermaßen falsche Einstellung wie der naive Glauben an die Wirksamkeit kosmetischer Mittel.

Während der Kapitalismus alles dem Kampf um den Profit und der Konkurrenz opfert, hat er gleichzeitig die Elemente geschaffen, die seine Überwindung als Ausbeutungsweise erlauben. Er hat die technologischen und kulturellen Mittel entwickelt, die für ein weltweites Produktionssystem nötig sind, das als Gesamtheit und nach einem Plan funktioniert und in Einklang mit den Bedürfnissen der Menschheit und der Natur steht. Er hat eine Klasse hervorgebracht, das Proletariat, die aus nationalen Vorurteilen oder Konkurrenzdenken allgemein keinen Vorteil schöpft und jedes Interesse an der Entwicklung der internationalen Solidarität hat. Die Arbeiterklasse hat kein Interesse an der gierigen Jagd nach Profit. Mit anderen Worten hat der Kapitalismus die Grundlagen für eine höhere Gesellschaftsordnung, für seine Überwindung durch den Sozialismus gelegt. Der Kapitalismus hat die Mittel entwickelt, die menschliche Gesellschaft zu zerstören, aber er hat auch ihren eigenen Totengräber, die Arbeiterklasse, geschaffen, die diese menschliche Gesellschaft erhalten und sie einen entscheidenden Schritt in ihrer Entfaltung weiter bringen kann.

Der Kapitalismus hat die Schaffung einer Wissenschaftskultur erlaubt, die fähig ist, unsichtbare Gase wie Kohlendioxid zu erkennen und seine Konzentration sowohl in der Atmosphäre von heute als auch in jener von vor 10’000 Jahren zu messen. Die Wissenschaftler können die spezifischen Isotope von Kohlendioxid erfassen, die durch die Verbrennung von fossilen Energieträgern produziert wurden. Die wissenschaftliche Gemeinschaft war fähig, die Hypothese des „Treibhauseffektes“ zu prüfen und zu bestätigen. Jedoch sind die Zeiten längst vorbei, zu denen der Kapitalismus als Gesellschaftssystem fähig war, die wissenschaftliche Methode und ihre Ergebnisse im Interesse des Fortschritts der Menschheit zu nutzen. Der größte Teil der Forschungsarbeiten und der wissenschaftlichen Entdeckungen von heute wird der Zerstörung gewidmet, der Entwicklung immer raffinierterer Methoden der Massentötung. Nur eine neue Gesellschaftsordnung, eine kommunistische Gesellschaft, kann die Wissenschaft in den Dienst der Menschheit stellen.

Trotz der hundert letzten Jahre des Niedergangs und der Fäulnis des Kapitalismus und der ernsthaften Niederlagen, welche die Arbeiterklasse eingesteckt hat, ist die notwendige Grundlage für eine neue Gesellschaft immer noch vorhanden.

Dass das Proletariat nach 1968 weltweit wieder auf der Bühne erschienen ist, belegt diese Ausgangslage. Die Entwicklung seines Klassenkampfes gegen den konstanten Druck auf den Lebensstandard der Proletarier während der Jahrzehnte, die auf 1968 gefolgt sind, hat den barbarischen Ausgang verhindert, der durch den Kalten Krieg vorgezeichnet war: den vernichtende Zusammenstoß zwischen den imperialistischen Blöcken. Seit 1989 jedoch und dem Verschwinden der Blöcke hat die defensive Haltung der Arbeiterklasse nicht ausgereicht, eine Abfolge entsetzlicher lokaler Kriege zu verhindern, die drohen, sich außerhalb jeder Kontrolle zu beschleunigen und immer mehr Regionen des Planeten in Mitleidenschaft zu ziehen. In dieser kapitalistischen Zerfallsperiode läuft dem Proletariat die Zeit davon, und dies umso mehr als noch eine drohende ökologische Katastrophe in die historische Gleichung aufgenommen werden muss.

Aber es ist noch nicht so weit, dass wir sagen müssten, der Niedergang und der Zerfall des Kapitalismus hätten einen Punkt erreicht, wo es kein Zurück mehr gibt - einen Punkt, von dem an seine Barbarei nicht mehr aufzuhalten wäre.

Seit 2003 beginnt die Arbeiterklasse, den Kampf mit einer neu gewonnenen Kraft wieder aufzunehmen, nachdem der Zusammenbruch des Ostblocks für eine gewisse Zeit den 1968 begonnenen Aufbruch gestoppt hat.

Unter diesen Bedingungen der Entwicklung des Vertrauens in der Klasse können die wachsenden Gefahren, die der imperialistische Krieg und die ökologische Katastrophe darstellen, statt Ohnmachts- und Fatalismusgefühle hervorzurufen auch zu einem vertieften politischen Nachdenken und zu einem stärkeren Bewusstsein darüber führen, was weltweit auf dem Spiel steht, zu einem Bewusstsein über die Notwendigkeit der revolutionären Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft. Es ist die Verantwortung der Revolutionäre, aktiv an dieser Bewusstseinsbildung teilzunehmen.

Como, 3/04/2007


[1] [8] Die Kindersterblichkeit im Irak ist zwischen 1990 und 2005 von 40 auf 102 Promille angestiegen, The Times, 26. März 2007.

Theoretische Fragen: 

  • Umwelt [9]

Interne Debatte der IKS: Marxismus und Ethik (Teil I/a)

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Warum ein Text über Ethik heute?

Mehr als zwei Jahre lang dauerte die Debatte in der IKS über die Frage der Moral und der proletarischen Ethik. Diese Debatte fand auf der Grundlage eines Orientierungstextes statt, dessen Inhalt wir hier in großen Auszügen veröffentlichen wollen. Wenn wir eine solche theoretische Debatte eröffneten, so taten wir dies, weil unsere Organisation zurzeit ihrer Krise 2001 intern mit einem besonders zerstörerischen Verhalten konfrontiert war, das jener Klasse völlig fremd ist, die den Kommunismus errichten soll. Dieses Verhalten hat sich in brutalen Methoden kristallisiert, die von einigen Elementen angewendet wurden, welche der „internen Fraktion“ der IKS (IFIKS) zum Leben verholfen hatten[1]: Diebstahl, Erpressung, Lügen, Verleumdungskampagnen, Spitzeltum, Rufmord und Todesdrohungen gegen unsere Genossen. Die Notwendigkeit, die Organisation in der Frage der proletarischen Moral zu wappnen – eine Frage, die die Arbeiterbewegung seit ihren Ursprüngen beschäftigt hat –, entspringt also einem konkreten Problem, das auch das politische Milieu des Proletariats gefährdet. Wir haben stets bekräftigt (besonders in unseren Statuten), dass die Frage des militanten Verhaltens eine ganz und gar politische Frage ist. Doch bis jetzt war die IKS nicht in der Lage gewesen, tiefer über diese Frage nachzudenken und sie mit der Frage der proletarischen Ethik und Moral zu verknüpfen. Um die ursprünglichen Absichten und Merkmale der Ethik der Arbeiterklasse zu begreifen, hat sich die IKS auf die Entwicklung der Moral in der Geschichte der Menschheit berufen und sich die theoretischen Errungenschaften des Marxismus angeeignet, die von den Fortschritten der menschlichen Zivilisation insbesondere auf dem Gebiet der Wissenschaften und der Philosophie gestützt wurden. Dieser Orientierungstext verfolgt nicht das Ziel, ein endgültiges theoretisches Elaborat zu liefern, sondern mehrere Denkanstöße zu verfolgen, um der Organisation die Vertiefung einer Reihe von fundamentalen Fragen zu ermöglichen (Ursprung und Charakter der Moral in der menschlichen Geschichte, der Unterschied zwischen bürgerlicher Moral und proletarischer Moral, der Verfall der Werte und der Ethik des Kapitalismus in der Epoche seines Zerfalls, etc.). Angesichts der Tatsache, dass diese interne Debatte noch nicht beendet ist, werden wir hier nur Auszüge des Orientierungstextes veröffentlichen, die uns am verständlichsten für den Leser erscheinen. Weil es sich hier um einen internen Text handelt, erscheinen die Ideen äußerst kondensiert und beziehen sich auf komplexe theoretische Konzepte; wir sind uns im Klaren, dass gewisse Passagen sich als schwierig erweisen könnten. Dennoch sind gewisse Aspekte unserer Debatte soweit herangereift, dass wir es für nützlich erachten, Auszüge aus diesem Orientierungstext nach außen zu tragen, damit die Arbeiterklasse und das politische Milieu des Proletariats sich am von der IKS angestoßenen Denkprozess beteiligen können.
Von Anfang an spielte die Frage des politischen Verhaltens und somit der proletarischen Moral eine zentrale Rolle im Leben der IKS. Unsere Auffassung zu dieser Frage findet ihren lebendigen Ausdruck in unseren Statuten (1982 verabschiedet).[2]

Wir haben stets darauf bestanden, dass die Statuten nicht eine Kollektion von Regeln sind, die festlegen, was erlaubt ist und was nicht, sondern eine Orientierung für unser Verhalten und unsere Haltung, die ein in sich zusammenhängendes Ganzes von moralischen Werten (besonders bezüglich des Verhältnisses unter den Mitgliedern und gegenüber der Organisation) zusammenfasst. Daher verlangen wir von jedem, der Mitglied der Organisation werden will, eine tiefgehende Übereinstimmung mit diesen Werten.

Doch die Statuten als integraler Bestandteil unserer Plattform regeln nicht allein, wer unter welchen Umständen Mitglied der IKS werden kann. Sie bedingen auch den Rahmen und den Geist des militanten Lebens der Organisation und jedes ihrer Mitglieder.

Die Bedeutung, die die IKS stets diesen Verhaltensprinzipien zugemessen hat, wird von der Tatsache veranschaulicht, dass sie nie zögerte, diese Prinzipien zu verteidigen, selbst wenn sie dabei eine Organisationskrise riskierte. Indem sie so verfährt, stellt sich die IKS bewusst und unerschütterlich in die Tradition des Kampfes von Marx und Engels in der Ersten Internationale, des Bolschewismus und der Italienischen Fraktion des Kommunistischen Linken. Indem sie so verfuhr, war sie in der Lage, eine Reihe von Krisen zu überstehen und fundamentale Verhaltensprinzipien der Klasse aufrechtzuerhalten.

Jedoch wurde das Konzept der proletarischen Moral mehr implizit denn explizit hochgehalten, es wurde eher in empirischer Manier als theoretisch verallgemeinert in die Praxis umgesetzt. Angesichts massiver Vorbehalte der neuen Generation von Revolutionären nach 1968 gegenüber jeglichen Moralkonzepten, welche im Allgemeinen als notwendigerweise reaktionär betrachtet wurden, hielt es die Organisation für wichtiger, die Verhaltensweisen der Arbeiterklasse zu berücksichtigen, statt diese sehr allgemeine Debatte zu einer Zeit zu eröffnen, die noch nicht reif genug dafür war.

Fragen der Moral waren nicht das einzige Gebiet, wo die IKS auf diese Weise verfuhr. In den frühen Tagen der Organisation existierten ähnliche Vorbehalte gegenüber der Notwendigkeit der Zentralisierung oder der Intervention der Revolutionäre, der führenden Rolle der Organisation bei der Entwicklung von Klassenbewusstsein, der Notwendigkeit des Kampfes gegen die demokratische Ideologie oder der Anerkennung der Aktualität der Auseinandersetzung mit dem Opportunismus und Zentrismus.

Und in der Tat zeigte der Verlauf unserer wichtigsten Debatten, dass die Organisation stets in der Lage war, nicht nur ihr theoretisches Niveau anzuheben, sondern auch jene Fragen zu klären, die zu Beginn unklar geblieben waren. Gerade in den Organisationsfragen ist es der IKS immer wieder gelungen, auf Herausforderungen zu reagieren, indem sie ihr theoretisches Verständnis der gestellten Fragen vertiefte und erweiterte.

Die IKS hat bereits ihre jüngste Krise so wie auch die ihr zugrundeliegende Tendenz des Verlustes der Errungenschaften der Arbeiterbewegung als Manifestationen des Eintritts des Kapitalismus in eine neue und letzte Phase, die seines Zerfalls, analysiert. Die Klärung einer solch wichtigen Frage ist eine Notwendigkeit der historischen Periode als solche und betrifft die gesamte Arbeiterklasse.

„... die Sittlichkeit ist ein Erfolg der geschichtlichen Entwicklung, ein Kulturprodukt. Sie beruht auf dem sozialen Triebe des Menschengeschlechts, auf der materiellen Notwendigkeit des gesellschaftlichen Lebens. Weil die Tendenz der Sozialdemokratie vornehmlich auf ein soziales, auf ein gesellschaftliches Leben in höherem Grade gerichtet ist, darum kann sie nicht anders, als ganz wahrhaftig eine moralische Tendenz sein.“ [3]

Der Zerfall des Kapitalismus untergräbt das Vertrauen in das Proletariat und in die Menschheit

Aufgrund der Unfähigkeit der beiden Hauptgesellschaftsklassen, Bourgeoisie und Proletariat, ihre Lösung der Krise durchzusetzen, hat der Kapitalismus seine ultimative Phase des Zerfalls betreten, die sich durch die allmähliche Auflösung nicht nur der gesellschaftlichen Werte, sondern auch der Gesellschaft selbst auszeichnet.

Heute, angesichts des „Jeder-für-sich“ des kapitalistischen Zerfalls und der Aushöhlung aller moralischen Werte, wird es für revolutionäre Organisationen – und, allgemeiner noch, für die aufkommende neue Generation von Militanten – unmöglich sein, sich zu behaupten, ohne sich Klarheit über moralische und ethische Themen verschafft zu haben. Nicht nur die bewusste Entwicklung der Arbeiterkämpfe, sondern auch eine spezifische theoretische Auseinandersetzung mit diesen Fragen und die Wiederaneignung des Werkes der marxistischen Bewegung sind zu einer Überlebensfrage geworden. Dieser Kampf ist unverzichtbar nicht nur für den proletarischen Widerstand gegen den Zerfall und die aus diesem resultierende amoralische Haltung, sondern auch, um das proletarische Vertrauen in eine Zukunft der Menschheit mithilfe des eigenen historischen Projekts wiederzugewinnen.

Die besondere Form, die die Konterrevolution in der UdSSR annahm – der Stalinismus, der sich selbst als Vollendung statt als Totengräber der Oktoberrevolution darstellte –, hatte bereits das Vertrauen in das Proletariat und in seine kommunistische Alternative erschüttert. Nach dem Ende der Konterrevolution 1968 hat der Zusammenbruch der stalinistischen Regimes 1989 – die historische Epoche des Zerfalls einleitend – noch einmal das Vertrauen des Proletariats in sich selbst als Vermittler der Befreiung der gesamten Menschheit erschüttert.

Die Schwächung des Selbstvertrauens, der Klassenidentität und der Vision einer proletarischen Alternative zum Kapitalismus haben mit den ersten Schockwellen des Zerfalls die Bedingungen verändert, unter denen sich die Frage der Ethik stellt. In der Tat haben die Rückschläge der Arbeiterklasse ihr Vertrauen nicht nur in eine kommunistische Perspektive, sondern auch in die Gesellschaft insgesamt beschädigt.

Die Behauptung, dass der grundsätzlich „schlechte“ Charakter der Menschen die Probleme der zeitgenössischen Gesellschaft bedingt, erntete bei klassenbewussten Arbeitern in der Epoche des kapitalistischen Aufstiegs und noch mehr in der ersten revolutionären Welle nur Hohn und Spott. Dagegen scheint heute die Behauptung von der Unmöglichkeit fundamentaler gesellschaftlicher Verbesserungen und der Entwicklung höherer Formen der menschlichen Solidarität zu einer gegebenen Tatsache der historischen Lage geworden zu sein. Heutzutage suchen die tiefen Zweifel an den moralischen Qualitäten unserer Spezies nicht nur die herrschende Klassen und die Zwischenschichten heim, sondern bedrohen auch das Proletariat einschließlich seiner revolutionären Minderheiten. Dieser Mangel an Vertrauen in die Möglichkeit eines kollektiveren und verantwortlicheren Umgangs mit der menschlichen Gemeinschaft ist nicht nur das Resultat der Propaganda der herrschenden Klasse. Die historische Entwicklung selbst hat zu diesem Verlust an Vertrauen in die Zukunft der Menschheit geführt.

Wir leben in einer Zeit, die gekennzeichnet ist von:

– einem extremen Pessimismus gegenüber der „menschlichen Natur“;

– Skeptizismus und gar Zynismus gegenüber der Notwendigkeit oder gar der Möglichkeit von moralischen Werten;

– einer Unterschätzung oder gar Leugnung der Wichtigkeit ethischer Fragen.

Die öffentliche Meinung glaubt das Urteil des englischen Philosophen Thomas Hobbes (1588–1679) bestätigen zu können, dass der Mensch unter seinesgleichen wie ein Wolf unter Wölfen ist. Der Mensch wird im Grunde als destruktiv, räuberisch, egoistisch, heillos irrational und in seinem Sozialverhalten als unter vielen Tierarten stehend betrachtet. Der kleinbürgerliche Umweltschutz zum Beispiel betrachtet die kulturelle Entwicklung als einen „Fehler“ oder als „Sackgasse“. Die Menschheit selbst wird als Krebsgeschwür der Geschichte gesehen, an dem die Natur „Rache“ nehmen wird – ja, sogar soll.

Natürlich hat der kapitalistische Zerfall diese Probleme nicht geschaffen, aber er hat die bereits herrschenden Probleme unerträglich verschärft.

In den letzten Jahrhunderten hat die Verallgemeinerung der kapitalistischen Warenwirtschaft die Bande der Solidarität als Gesellschaftsgrundlage fortschreitend aufgelöst, so dass selbst die Erinnerung an sie aus dem kollektiven Bewusstsein zu verschwinden droht.

Die Niedergangsphase von Gesellschaftsformationen war stets von der Auflösung etablierter moralischer Werte und – solange sich eine historische Alternative noch nicht durchzusetzen begann – von einem Vertrauensverlust in die Zukunft geprägt.

Doch die Barbarei und Unmenschlichkeit der kapitalistischen Dekadenz ist einmalig. Es ist nicht leicht, nach Auschwitz und Hiroshima und angesichts permanenter, allgemeiner Zerstörung das Vertrauen in die Möglichkeit eines moralischen Fortschritts aufrecht zu halten.

Der Kapitalismus hat auch das frühere, rudimentäre Gleichgewicht zwischen dem Menschen und dem Rest der Natur zerstört und somit die langfristigen Grundlagen der Gesellschaft untergraben.

Zu diesen Merkmalen der historischen Entwicklung des Kapitalismus müssen wir noch die sich häufenden Auswirkungen eines allgemeineren Phänomens beim Aufstieg der Menschheit im Rahmen von Klassengesellschaften hinzufügen. Dies ist die Ungleichmäßigkeit bei der Entwicklung der verschiedenen Kapazitäten der Menschheit; im Besonderen die Kluft zwischen der moralischen und der gesellschaftlichen sowie technologischen Entwicklung. 

„Die Naturwissenschaften werden richtigerweise als das Gebiet betrachtet, auf dem das menschliche Denken seine logischen Formen in einer kontinuierlichen Serie von Triumphen am mächtigsten entwickelt hat (...) Umgekehrt steht als Gegenbeweis auf der anderen Seite das große Gebiet der menschlichen Handlungsweisen und Beziehungen, in denen der Gebrauch von Werkzeugen keine unmittelbare Rolle spielt und die nur undeutlich und als zutiefst unbekannte und unsichtbare Phänomene wirken. Dort sind Gedanke und Tat meistens von Leidenschaft und Trieben bestimmt, von Willkür und Verschwendung, von Tradition und Glaube; dort führt keine methodische Logik zu der Gewissheit von Wissen (...) Der Gegensatz, der hier zwischen der Perfektion einerseits und der Unvollkommenheit andererseits auftritt, bedeutet, dass der Mensch die Naturkräfte beherrscht oder dabei ist, dies mit noch größeren Maßnahmen zu erreichen, jedoch nicht in der Lage ist, die Kräfte des Willens und der Leidenschaften, die in ihm sind, zu kontrollieren. Wo er auf der Stelle tritt, vielleicht sogar zurückgefallen ist, das ist der offensichtliche Mangel an Kontrolle über seine eigene ‚Natur‘ (Tilney). Daher hinkt offensichtlich die Gesellschaft so weit hinter den Wissenschaften hinterher. Der Mensch hat das Potenzial, die Natur zu beherrschen. Doch er besitzt keine Herrschaft über seine eigene Natur.“ [4]

 

Warum die Idee von der „proletarischen Moral“ nach 1968 so verdächtig erschien

Nach 1968 war die Elementarkraft des Arbeiterkampfes ein mächtiges Gegengewicht zum wachsenden Skeptizismus der kapitalistischen Gesellschaft. Gleichzeitig führte eine unzureichende Assimilierung des Marxismus zu der allgemeinen Behauptung innerhalb der neuen Generation von Revolutionären, dass es innerhalb der sozialistischen Gesellschaft keinen Platz für Moral oder ethische Fragen gibt.

Diese Haltung war an erster Stelle das Produkt des Bruchs in der organischen Kontinuität, der von der Konterrevolution verursacht wurde, welche der revolutionären Welle von 1917–23 gefolgt war. Bis dahin wurden die ethischen Werte der Arbeiterbewegung stets von einer Generation zur nächsten weitergereicht. Die Assimilierung dieser Werte war also von der Tatsache begünstigt, dass sie Teil einer lebendigen, kollektiven, organisierten Praxis war. Die Konterrevolution löschte zu einem großen Teil die Kenntnis von diesen Errungenschaften aus, so wie sie die revolutionären Minderheiten fast vollständig eliminierte, die diese verkörperten.

Darüber hinaus pervertierte der Stalinismus als politisches Produkt der Konterrevolution in Reinkultur diese Lehren, indem er das Vokabular der Arbeiterbewegung beibehielt und gleichzeitig den Auffassungen eine neue, bürgerliche Bedeutung verlieh. So wie er den Begriff Kommunismus diskreditierte, indem er diesen Titel der staatskapitalistischen Konterrevolution in den UdSSR verlieh, so erklärte er die Besetzung der Tschechoslowakei 1968 zu einem Ausdruck des „proletarischen Internationalismus“, so stellte er die schändliche Praxis der Einschüchterung, Denunzierung und Terrorisierung von Proletariern – die staatliche „Ethik“ des dekadenten kapitalistischen Totalitarismus – als das A und O der „proletarischen Moral“ dar.

Dies verstärkte umgekehrt den Eindruck, dass Moral an sich eine reaktionäre, der herrschenden, ausbeutenden Klasse innewohnende Angelegenheit ist. Und natürlich ist es richtig, dass in der gesamten Geschichte der Klassengesellschaften die herrschende Moral stets die Moral der herrschenden Klasse gewesen war. Dies ist insoweit richtig, als die Moral und der Staat, aber auch Moral und Religion stets synonym in der öffentlichen Meinung waren. Die moralischen Gefühle der Gesellschaft im Ganzen sind stets von den Ausbeutern, durch Staat und Religion, benutzt worden, um den herrschenden Zustand heilig zu sprechen und für ewig zu erklären. Und in der Realität bestand die Hauptrolle, die die Moral in dieser Geschichtsepoche gespielt hat, faktisch darin, den Status quo zu erhalten, die ausgebeuteten Klassen dazu zu bringen, sich in ihrer Unterdrückung zu ergeben.

Die Attitüde des Moralisierens, mit der die herrschende Klasse stets danach getrachtet hat, den Widerstand der arbeitenden Klassen durch die Einflößung eines Schuldbewusstseins zu brechen, ist eine der großen Geißeln der Menschheit. Sie ist auch eine der subtilsten und effektivsten Waffen zur Absicherung der Klassenherrschaft.

Der Marxismus hat immer die Moral der herrschenden Klassen bekämpft, so wie er das philisterhafte Moralisieren des Kleinbürgertums bekämpft hat. Entgegen der Heuchelei der Moralapostel des Kapitalismus hat der Marxismus immer und besonders darauf bestanden, dass die Kritik der politischen Ökonomie auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, nicht auf einem ethischen Urteil beruhen müsse.

Ungeachtet all dessen ist seine Pervertierung durch die Hände des Stalinismus kein Grund, das Konzept der proletarischen Moral beiseitezulegen, so wie sie denn auch keine Rechtfertigung dafür ist, dem Konzept des Kommunismus den Rücken zuzukehren. Der Marxismus hat gezeigt, dass die moralische Geschichte der Menschheit nicht nur die Geschichte der Moral der herrschenden Klasse ist. Er hat vorgeführt, dass ausgebeutete Klassen eigene ethische Werte besitzen und dass diese Werte eine revolutionäre Rolle im Fortschreiten der Menschheit spielten. Er hat bewiesen, dass Moral weder mit der Funktion der Ausbeutung noch mit dem Staat oder mit der Religion identisch ist und dass die Zukunft – wenn es denn eine Zukunft geben sollte – einer Moral jenseits von Ausbeutung, Staat und Religion gehört.

„... Menschen (werden) sich nach und nach gewöhnen (...), die elementaren, von alters her bekannten und seit Jahrtausenden in allen Vorschriften gepredigten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens einzuhalten, sie ohne Gewalt, ohne Zwang, ohne Unterordnung, ohne den besonderen Zwangsapparat, der sich Staat nennt, einzuhalten“[5].

Der Marxismus hat enthüllt, dass das Proletariat genau dazu berufen ist, die Moral und somit die Menschheit von der Geißel des Schuldbewusstseins und dem Durst nach Rache und Bestrafung zu befreien zu helfen.

Darüber hinaus war der Marxismus durch die Verbannung des kleinbürgerlichen Moralisierens aus der Kritik der politischen Ökonomie in der Lage, die Rolle der moralischen Faktoren im proletarischen Klassenkampf wissenschaftlich aufzuzeigen. So deckte er beispielsweise auf, dass die Bestimmung des Wertes der Arbeitskraft – im Gegensatz zu jeder anderen Ware – ein moralisches Element enthält: den Mut, die Entschlossenheit, Solidarität und Selbstachtung der Arbeiter.

Der Widerstand gegen das Konzept der proletarischen Moral drückt auch das Gewicht der kleinbürgerlichen und demokratischen Ideologie aus – die Abscheu vor Verhaltensregeln, vor jederlei Prinzip, vor so vielen Fesseln der individuellen „Freiheit“. Diese Schwäche betonte die Unreife dieser Generation gerade in den Fragen des menschlichen und organisatorischen Verhaltens und ihr Scheitern, von neuem eine starke Tradition der proletarischen Solidarität zu entwickeln.

Das Wesen der Moral

Die Moral ist ein unverzichtbarer Verhaltensführer in der Welt der menschlichen Kultur. Sie identifiziert die Prinzipien und Regeln, die das Zusammenleben der Gesellschaftsmitglieder moderieren. Solidarität, Sensibilität, Großzügigkeit, Unterstützung der Bedürftigen, Ehrlichkeit, Freundlichkeit und Höflichkeit, Bescheidenheit, Solidarität zwischen den Generationen – all dies sind Schätze, die zum Erbe der Menschheit gehören. Sie sind Qualitäten, ohne die eine Gesellschaft unmöglich ist. Daher haben die Menschen stets Werte anerkannt, so wie umgekehrt Gleichgültigkeit gegenüber den anderen, Brutalität, Gier, Neid, Arroganz und Eitelkeit, Unehrlichkeit und Untreue stets Ablehnung und Abscheu provoziert haben.

Als solche erfüllt die Moral die Funktion, im Interesse der Aufrechterhaltung der Gemeinschaft die sozialen gegenüber den antisozialen Impulsen zu begünstigen. Sie kanalisiert die psychische Energie im Interesse der Gesamtheit. Die Art und Weise, wie diese Energie kanalisiert wird, variiert entsprechend der Produktionsweise, der gesellschaftlichen Konstellationen, etc. Die Tatsache der Einspannung dieser Kräfte ist so alt wie die Gesellschaft selbst.

Innerhalb der Gesellschaft kristallisieren sich infolge einer ständigen Wiederholung von charakteristischen Situationen auf der Grundlage der lebendigen Erfahrung Verhaltensnormen und -maßstäbe, die der gegebenen Lebensweise entsprechen. Dieser Prozess ist Teil dessen, was Marx im Kapital die relative Emanzipation von Willkür und bloßem Schicksal durch die Etablierung einer Ordnung nannte.

Die Moral hat einen imperativen Charakter. Sie ist eine Aneignung der sozialen Welt durch eine Einteilung in „gut“ und „böse“, in akzeptabel und nicht-akzeptabel. Diese Form, sich der Realität anzunähern, instrumentalisiert bestimmte psychische Mechanismen, wie das Gewissen und das Verantwortungsgefühl. Diese Mechanismen beeinflussen Entscheidungen und allgemeines Verhalten, ja bestimmen sie häufig. Die moralischen Forderungen enthalten eine Kenntnisnahme der Gesellschaft – eine Kenntnis, die auf emotionaler Ebene absorbiert und assimiliert worden war. Wie alle Mittel der Aneignung und Umwandlung der Realität hat sie einen kollektiven Charakter. Via Einbildung, Intuition und Beurteilung erlaubt sie dem Subjekt, die geistige und emotionale Welt anderer Menschen zu betreten. Sie ist also eine Quelle menschlicher Solidarität und ein Mittel gegenseitiger spiritueller Bereicherung und Entwicklung. Sie kann sich nicht ohne soziale Interaktion entfalten, ohne die Weiterreichung der Errungenschaften und Erfahrungen unter den Mitgliedern der Gesellschaft, von der Gesellschaft zum Einzelnen und von einer Generation zur nächsten.

Eine Besonderheit der Moral besteht darin, dass sie die Realität an dem misst, wie sie sein sollte. Ihr Vorgehen ist eher teleologisch denn kausal. Der Zusammenstoß zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte,  ist kennzeichnend für die moralische Handlungsweise und macht sie zu einem aktiven und wichtigen Faktor.

Der Marxismus hat nie die Notwendigkeit oder die Bedeutung des Beitrags nicht-theoretischer und nicht-wissenschaftlicher Faktoren beim Aufstieg der Menschheit geleugnet. Im Gegenteil, er hat immer ihre Notwendigkeit und gar ihre relative Unabhängigkeit begriffen. Daher war er in der Lage, ihre gegenseitigen Verbindungen in der Geschichte zu untersuchen und ihre gegenseitige Ergänzung zu erkennen.

In Urgesellschaften, aber auch unter dem Klassenrecht entwickelt sich die Moral auf spontane Weise. Verhaltensweisen und ihre Einschätzung existierten schon lange vor der Entwicklung der Fähigkeit, moralische Werte zu kodifizieren oder über sie nachzudenken. Jede Gesellschaft, jede Klasse oder gesellschaftliche Gruppe (selbst jeder Beruf, wie Engels betonte) und jedes Individuum besitzt ein eigenes Verhaltensmuster. Wie Hegel anmerkte, ist eine Reihe von Handlungen durch ein Subjekt das Subjekt selbst.

Die Moral ist mehr als eine Summe von Verhaltensregeln und Gebräuchen. Sie ist ein wesentlicher Teil der Färbung der menschlichen Beziehungen in einer gegebenen Gesellschaft. Sie reflektiert, wie die Menschen sich selbst sehen und wie sie zu einem Verständnis untereinander gelangen, und ist gleichzeitig treibender Faktor in diesem Prozess.

Moralische Einschätzungen sind nicht nur als Antwort auf tägliche Probleme notwendig, sondern auch als Bestandteil einer planvollen Handlungsweise, die sich bewusst auf ein Ziel richtet. Sie leiten nicht nur individuelle Entscheidungen, sondern auch die Orientierung eines ganzen Lebens oder einer ganzen historischen Epoche.

Obgleich das Intuitive, das Instinktive und das Unbewusste wesentliche Aspekte in der moralischen Welt sind, wächst mit dem Aufstieg der Menschheit auch die Rolle des Bewusstseins in dieser Sphäre. Moralische Fragen berührten die eigentlichen Tiefen der menschlichen Existenz. Eine moralische Ausrichtung ist das Produkt von gesellschaftlichen Bedürfnissen, aber auch der Denkweise einer gegebenen Gesellschaft oder Gruppe. Sie erfordert eine Beurteilung des Wertes des menschlichen Lebens, des Verhältnisses des Individuums zur Gesellschaft, eine Definition des eigenen Platzes in der Welt, der eigenen Verantwortlichkeiten und Ideale. Doch hier findet die Beurteilung nicht so sehr in wechselseitiger Weise statt, sondern in der Form von Verhaltensfragen. Die ethische Ausrichtung leistet somit ihren spezifischen – praktischen, einschätzbaren, imperativen – Beitrag, dem menschlichen Leben eine Bedeutung zu verleihen. Die Ausbreitung des Universums ist ein Prozess, der sich fern und unabhängig von jeglichen Zielen und objektiven „Bedeutungen“ abspielt. Doch die Menschheit ist jener Teil der Natur, der sich selbst Ziele setzt und für ihre Verwirklichung kämpft.

In seinem Werk Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates legt Engels die Wurzeln der Moral in den sozioökonomischen Verhältnissen und den Klasseninteressen bloß. Doch er weist auch auf ihre regulierende Rolle nicht nur bei der Reproduktion der existierenden gesellschaftlichen Strukturen, sondern auch beim Aufkommen neuer Verhältnisse hin. Die Moral kann den historischen Fortschritt entweder behindern oder beschleunigen. Sie reflektiert häufig früher als die Philosophie oder die Wissenschaft verborgene Veränderungen unter der Oberfläche der Gesellschaft.

Der Klassencharakter einer gegebenen Moral sollte uns nicht blind gegenüber der Tatsache machen, dass jedes Moralsystem allgemeine menschliche Elemente enthält, die zum Schutz der Gesellschaft  auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung beitragen. Wie Engels im Antidühring hervorhebt, enthält die proletarische Moral weitaus mehr Elemente der allgemeinen menschlichen Werte, da sie die Zukunft gegen die Moral der Bourgeoisie repräsentiert. Engels beharrt auf der Existenz eines moralischen Fortschritts in der Geschichte. Durch die Bemühungen, Generation für Generation die menschliche Existenz besser zu meistern, und durch die Kämpfe der historischen Klassen ist der Reichtum der moralischen Erfahrungen der Gesellschaft stetig angewachsen. Obwohl der ethische Fortschritt des Menschen alles andere als linear verläuft, kann er an der Notwendigkeit und Möglichkeit abgelesen werden, immer komplexere menschliche Probleme zu lösen. Dies enthüllt das Potenzial für eine wachsende Bereicherung der inneren und gesellschaftlichen Welt der Persönlichkeit, die, wie Trotzki betonte, einer der wichtigsten Maßstäbe für den Fortschritt ist.

Ein anderes fundamentales Kennzeichen auf dem moralischen Gebiet ist, dass ihre Existenz, auch wenn sie das Bedürfnis der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit ausdrückt, nicht vom eigentlichen persönlichen und intimen Leben des Individuums, von der inneren Welt des Gewissens und der Persönlichkeit zu trennen ist. Jedes Vorgehen, das den subjektiven Faktor unterschätzt, bleibt notgedrungen abstrakt und passiv. Es ist die intime und tiefe Identifizierung der Persönlichkeit mit moralischen Werten, die nebst anderen den Menschen vom Tier unterscheidet und ihm eine gesellschaftliche, wandlungsfähige Macht verleiht. Hier wird das, was gesellschaftlich notwendig ist, zur inneren Stimme des Gewissens und verbindet die Gefühle mit dem Strom des gesellschaftlichen Fortschritts. Seine moralische Reifung rüstet das Subjekt gegen Vorurteile und Fanatismus, steigert seine Fähigkeiten, bewusst und kreativ gegenüber ethischen Konflikten zu reagieren und moralische Verantwortung zu übernehmen.

Es ist ebenfalls notwendig zu unterstreichen, dass, obwohl die Moral ihre biologische Grundlage in den sozialen Instinkten hat, ihre Entwicklung nicht von der menschlichen Kultur zu trennen ist. Der Aufstieg der Menschheit hängt nicht nur von der Entwicklung des Denkens ab, sondern auch von der Erziehung und der Veredelung der Gefühle. Tolstoi hatte also Recht, als er die Rolle der Kunst beim menschlichen Fortschritt im breitesten Sinne in eine Reihe mit den Wissenschaften stellte.

„So wie dank der menschlichen Fähigkeit, durch Worte ausgedrückte Gedanken zu verstehen, jeder Mensch all das erfahren kann, was auf dem Gebiet des Denkens die gesamte Menschheit für ihn geleistet hat (...) ganz genauso wird ihm dank der menschlichen Fähigkeit, vermittels der Kunst mit den Gefühlen anderer Menschen angesteckt zu werden, auf dem Gebiet des Gefühls all das zugänglich, was die Menschheit vor ihm erlebt hat, werden ihm die Gefühle zugänglich, die seine Zeitgenossen empfinden, die andere Menschen vor Jahrtausenden empfunden haben, und wird es ihm möglich, seine eigenen Gefühle anderen mitzuteilen. Besäßen die Menschen nicht die Fähigkeit, alle durch Worte übermittelten Gedanken aufzunehmen, die von früher lebenden Menschen gedacht worden sind, und anderen ihre eigenen Gedanken mitzuteilen, die Menschen glichen wilden Tieren oder einem Kaspar Hauser. Gäbe es nicht die andere menschliche Fähigkeit, sich mit der Kunst anstecken zu lassen, die Menschen wären gewiss in noch größerem Maße Wilde und vor allem noch weit mehr voneinander geschieden und einander feindlich.“ [6]

 


[1] Um eine Ahnung von dem Verhalten der IFIKS-Elemente zu bekommen, siehe unsere Artikel „Morddrohungen gegen IKS-Mitglieder“, „Informanten aus den öffentlichen Veranstaltungen der IKS verbannt“, „Die Polizeimethoden der IFIKS“ (Révolution Internationale Nr. 354, 338 und 330) sowie „Außerordentliche Konferenz der IKS: Der Kampf für die Verteidigung organisatorischer Prinzipien“ in International Review Nr. 110 (franz., engl. und span. Ausgabe) und „Bilanz des 16. Kongresses der IKS: Sich auf den Klassenkampf und das Auftauchen neuer kommunistischer Kräfte vorbereiten“ in Internationale Revue Nr. 36 (deutschsprachige Ausgabe).

 

[2] Diese Sichtweise wird in dem Text „Die Frage des organisatorischen Funktionierens in der IKS“ entwickelt, der in der Internationalen Revue Nr. 30 veröffentlicht wurde.

 

[3] Josef Dietzgen: Die Religion der Sozialdemokratie – Kanzelreden, 1870.

[4] Anton Pannekoek, Anthropogenesis: A study of the origin of man, 1953, S. 101, 103 (eigene Übersetzung aus dem Englischen).

[5] Lenin, Staat und Revolution, 1917.

[6] Tolstoi, Was ist Kunst?, 1897, Kap. 5. In einem Artikel, der über dieses Essay in der Neuen Zeit veröffentlicht wurde, erklärte Rosa Luxemburg, dass Tolstoi bei der Formulierung dieses Standpunktes sich viel mehr als Sozialist und historischer Materialist erwiesen habe als das meiste, was in der Parteipresse darüber erschienen sei.

 

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [10]

Theoretische Fragen: 

  • Arbeiterklasse [11]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Marxismus: die Theorie der Revolution [12]

Interne Debatte der IKS: Marxismus und Ethik (Teil I/b)

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Die Ethik vor dem Marxismus

Die Ethik ist das theoretische Verständnis der Moral, mit dem Ziel, ihre Rolle besser zu begreifen und ihre Inhalte und Aktionsfelder zu verbessern und zu systematisieren. Auch wenn sie eine theoretische Disziplin ist, ist ihr Ziel stets ein praktisches gewesen. Eine Ethik, die nicht dazu beiträgt, das Verhalten im wirklichen Leben zu verbessern, ist per se wertlos. Die Ethik ist erschienen und hat sich entwickelt als eine Art philosophische Wissenschaft, und zwar nicht nur aus historischen Gründen, sondern weil die Moral kein präzises Objekt ist, sondern ein Verhältnis, das die Gesamtheit des menschlichen Lebens und Bewusstseins durchdringt. Die Ethik hat die größten Geister der Menschheit beschäftigt; sie wurde von den klassischen griechischen Philosophen bis hin zu Spinoza und Kant stets als eine wichtige Frage angesehen.

Ungeachtet der Vielheit der verschiedenen Vorgehensweisen und der gegebenen Antworten ist ein gemeinsames Ziel, das sämtliche Spielarten der Ethik auszeichnet, die Beantwortung der Frage: Wie kann man ein Maximum an Glück für die größtmögliche Zahl von Menschen erreichen? Die Ethik war immer eine Waffe für den Kampf, insbesondere für den Klassenkampf gewesen.

Die Konfrontation mit Krankheit und Tod, mit dem Interessenkonflikt oder mit der Enttäuschung und dem emotionalen Leiden war oft eine mächtige Stimulans gewesen, um Ethik zu studieren. Doch während die Moral, so rudimentär sie in ihren Manifestationen ist, eine uralte Bedingung der menschlichen Existenz ist, ist die Ethik ein weitaus jüngeres Phänomen. Das Bedürfnis, seinem eigenen Verhalten und seinem eigenen Leben bewusst eine Richtung zu geben, ist das Produkt der immer komplexeren Natur des gesellschaftlichen Lebens. In der Urgesellschaft wurde der Aktivitätssinn ihrer Mitglieder direkt von der bittersten Armut, der Trägheit und Gleichförmigkeit des Lebens diktiert. Individuelle Freiheit existierte noch nicht. Vor dem Hintergrund des wachsenden Widerspruchs zwischen dem öffentlichen und privaten Leben, zwischen Individualisierung und den Bedürfnissen der Gesellschaft begann ein theoretischer Denkprozess über das Verhalten und seine Prinzipien. Dieses Nachdenken ist nicht zu trennen vom Auftreten einer kritischen Haltung gegenüber der Gesellschaft und vom Willen, sie auf planvolle Weise zu ändern. Somit wird, wie im antiken Griechenland, das Aufkommen einer solchen Haltung – wie jene der Philosophie im Allgemeinen –, während das Auseinanderbrechen der Urgesellschaft in Klassen die Vorbedingung für sie ist, insbesondere von der Entwicklung der Warenproduktion stimuliert.

Nicht nur das Erscheinen der Ethik, sondern auch ihre Evolution hängt wesentlich vom Fortschritt im Materiellen, insbesondere von der ökonomischen Grundlage der Gesellschaft ab. Mit der Klassengesellschaft änderten sich moralische Forderungen und Sitten notgedrungen, da jede Gesellschaftsformation von einer Moral abhängt, die ihren Bedürfnissen entspricht. Dies führte umgekehrt die Ethik zur Konfrontation mit neuen Fragen, neuen Widersprüchen, die die treibenden Kräfte hinter diesem Prozess sind. Wenn die herrschende Moral in Widerspruch zur historischen Weiterentwicklung tritt, wird sie zur Quelle der fürchterlichsten Leiden, die in wachsendem Maße physischer und psychischer Gewalt zu ihrer eigenen Stärkung bedarf und zu allgemeiner Desorientierung, wuchernder Heuchelei, aber auch zur Selbstgeißelung führt. Solche Phasen sind eine besondere Herausforderung für die Ethik, denn diese hat das Potenzial, neue Prinzipien zu formulieren, die erst in einer künftigen Zeit greifen und die Massen orientieren werden.

Trotz dieser Abhängigkeit ist die Entwicklung der Ethik jedoch alles andere als eine passive, mechanische Reflexion der ökonomischen Lage. Sie besitzt eine eigene innere Dynamik. Dies wird bereits von der Entwicklung des Materialismus der alten Griechen illustriert, der Beiträge zur Ethik leistete, die noch heute zum unschätzbaren theoretischen Erbe der Menschheit gehören. Dies schließt die Identifizierung des Strebens nach Glück als eine Hauptsorge der Ethik mit ein. Es beinhaltet die Erkenntnis, dass hinter dem Ruf nach einer Moral der „Mäßigung“ die „entmystifizierte“ materielle Tatsache steht, dass dieses Glück von der Erlangung einer Harmonie innerhalb des individuellen oder sozialen Organismus und von einem dynamischen Gleichgewicht innerhalb der Gesamtheit der verschiedenen menschlichen Bedürfnisse und ihrer Befriedigung abhängt. Bereits Heraklit machte die zentrale Frage der Ethik aus: das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen dem, was das Individuum tatsächlich tut, und dem, was es im allgemeinen Interesse tun sollte. Doch diese „Naturphilosophie“ war nicht in der Lage, eine materialistische Erklärung für die Ursprünge der Moral und insbesondere des Gewissens zu geben. Darüber hinaus hinderte die einseitige Betonung der Kausalität, zum Schaden der „teleologischen“ Seite der menschlichen Existenz (planvolle Aktivitäten für ein bewusstes Ziel), sie daran, befriedigende Antworten auf einige der größten Probleme der Ethik zu geben.

Daher ebnete nicht nur die objektive gesellschaftliche Entwicklung, sondern auch dieser Mangel an Lösungen für die gestellten theoretischen Fragen den Weg zum philosophischen Idealismus. Das Interesse des Idealismus und mit ihm das neue religiöse Credo des Monotheismus galt nicht mehr der Erklärung der Natur, sondern der Erforschung des ethischen, spirituellen Lebens. Dies kulminierte in der Aufteilung der Persönlichkeit in einen himmlischen (moralischen) und einen materiellen (körperlichen) Teil: halb Engel, halb Tier. Eine Sichtweise, die perfekt der Konsolidierung der Macht der herrschenden Klasse des Adels entsprach.

Der Triumph des ethischen Idealismus wurde erst durch den revolutionären Materialismus der aufsteigenden Bourgeoisie ernsthaft herausgefordert. Der neue Materialismus postulierte, dass die natürlichen Impulse des Menschen den Keim all dessen enthalten, was gut ist, und machte die alte Ordnung und den Zustand der Gesellschaft zur Quelle allen Übels. Aus dieser Denkschule entstammten nicht nur die theoretischen Waffen der bürgerlichen Revolution, sondern auch der utopische Sozialismus (Fourier vom französischen Materialismus, Owen von Benthams System der „Nützlichkeit“).

Doch auch dieser Materialismus war unfähig zu erklären, woher die Moral stammt. Die Moral kann nicht „natürlich“ erklärt werden, weil die menschliche Natur bereits die Moral in sich trägt. Auch kann diese revolutionäre Theorie nicht ihren eigenen Ursprung erklären. Wenn der Mensch im Moment seiner Geburt nichts als ein unbeschriebenes Blatt Papier, eine Tabula rasa, ist, wie dieser Materialismus behauptet, und allein von der herrschenden sozialen Ordnung geformt wird – woher kommen dann die revolutionären Ideen und wo liegt der Ursprung der moralischen Entrüstung, diese unerlässliche Voraussetzung für eine neue und bessere Gesellschaft? Sein wertvollster Beitrag besteht darin, dass er dem Pessimismus des Idealismus – der die Möglichkeit eines historischen ethischen Fortschritts leugnet und durch die Aufstellung unerfüllbarer moralischer Forderungen demoralisiert – den Krieg erklärt hat. Doch trotz seines scheinbar grenzenlosen Optimismus lieferte dieser allzu mechanische und metaphysische Materialismus nur eine dürftige Grundlage für ein wirkliches Vertrauen in die Menschheit. Letztendlich erscheint in dieser Weltsicht der „Aufklärer“ selbst als einzige Quelle der ethischen Vervollkommnung der Gesellschaft.

Die Tatsache, dass der bürgerliche Materialismus in seinen Bemühungen scheiterte, die Ursprünge der Moralität allein auf der Basis der Erfahrung zu erklären (und nicht nur der Rückständigkeit von Deutschland oder der Provinzialität von Königsberg), steuerte zu Kants Rückfall in den ethischen Idealismus bei der Erklärung des Phänomens des Gewissens bei. Indem er das „moralische Gesetz in uns“ zu einem „Ding an sich“ machte, das a priori existiere, außerhalb von Zeit und Raum, erklärte Kant faktisch, dass wir nicht die Ursprünge der Moral kennen können.

Und in der Tat war es, trotz aller unschätzbarer Beiträge, die die Menschheit geleistet hat und die sozusagen die Teile eines noch nicht zusammengesetzten Puzzles bildeten, erst das Proletariat, das mit Hilfe der marxistischen Theorie in der Lage war, eine befriedigende und kohärente Antwort auf diese Frage zu geben.

Der Marxismus und die Ursprünge der Moral

Für den Marxismus liegt der Ursprung der Moral im durch und durch gesellschaftlichen, kollektiven Wesen der menschlichen Gattung. Diese Moral ist das Ergebnis nicht nur von zutiefst sozialen Trieben, sondern der Abhängigkeit der Art von geplanter gemeinschaftlicher Arbeit und vom immer komplexer werdenden Produktionsapparat, den diese Arbeit erfordert. Die Grundlage und der Kern der Moral ist die Einsicht in die Notwendigkeit der Solidarität als Antwort auf das Ungenügen des Individuums, auf die Abhängigkeit von der Gesellschaft. Diese Solidarität ist der gemeinsame Nenner von allem, was im Laufe der Geschichte der Moral an Positivem und Dauerhaftem hervorgebracht wurde. Insofern ist sie sowohl Maßstab des moralischen Fortschritts als auch Ausdruck der Kontinuität dieser Geschichte – trotz aller Unterbrüche und Rückschläge.

Diese Geschichte ist geprägt von der Erkenntnis, dass die Überlebenschancen umso größer sind, je mehr die Gesellschaft oder gesellschaftliche Klasse eine Einheit bildet, je stärker ihr Zusammenhalt ist, je größer  die Harmonie zwischen ihren verschiedenen Teilen. Aber es geht nicht allein um die Überlebensfrage. Tiefere Formen der Kollektivität sind die Voraussetzung für die Entfaltung der Persönlichkeit und die volle Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Gesellschaft und ihrer Mitglieder. Nur durch die Beziehung zu anderen kann der Mensch seine eigene Menschlichkeit entdecken. Die praktische Verfolgung des gemeinsamen Interesses ist das Mittel, mit dem die Mitglieder der Gesellschaft die Moral veredeln. Das reichste Leben ist dasjenige, das am stärksten in der Gesellschaft verwurzelt ist, mit den meisten Verknüpfungen zum Leben anderer.

Der Grund, weshalb nur das Proletariat die Frage des Ursprungs und des Wesens der Moral beantworten konnte, liegt darin, dass die Perspektive einer Weltgemeinschaft, einer kommunistischen Gesellschaft den Schlüssel für das Verständnis der Geschichte der Moral darstellt. Das Proletariat ist die erste Klasse in der Geschichte, die kein Sonderinteresse zu verteidigen hat und die durch eine wirkliche Vergesellschaftung der Produktion vereinigt ist – die Grundlage einer qualitativ höheren Ebene der menschlichen Solidarität.

Die materialistische Ethik des Marxismus erlaubt es dank ihrer Fähigkeit, wissenschaftliche Erkenntnisse (namentlich diejenigen von Darwin, dem Marx Das Kapital gewidmet hat) zu integrieren, zu verstehen, dass der Mensch als Produkt der Evolution in Tat und Wahrheit nicht als tabula rasa, als unbeschriebenes Blatt zur Welt kommt. Er bringt eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Bedürfnissen „in die Welt“, die Ergebnis seines tierischen Ursprungs sind (beispielsweise das Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Zuneigung, ohne die das Neugeborene sich nicht entwickeln, ja nicht einmal überleben kann).

Aber der Fortschritt der Wissenschaft hat auch offen gelegt, dass der Mensch darüber hinaus eine Kämpfernatur hat. Diese hat es ihm ermöglicht aufzubrechen, um die Welt zu erobern, die Naturkräfte zu beherrschen, sie zu gebrauchen, um das gesellschaftliche Leben auf dem ganzen Planeten zu entfalten. Die Geschichte zeigt auch, dass der Mensch in aller Regel vor Schwierigkeiten nicht zurückschreckt. Der Kampf der Menschheit stützt sich auf eine Reihe von Trieben, die sie aus dem Tierreich geerbt hat: diejenigen der Selbsterhaltung, der sexuellen Fortpflanzung, des Schutzes der Nachkommen usw. Im Rahmen der Gesellschaft konnten sich diese Arterhaltungstriebe nur dadurch entwickeln, dass der Mensch seine Gefühle mit den Artgenossen teilte. Es stimmt zwar, dass diese Qualitäten das Ergebnis der Sozialisierung sind; aber ebenso erlauben diese Qualitäten umgekehrt erst ein Leben in der Gesellschaft. Die Geschichte der Menschheit hat auch gezeigt, dass der Mensch ein Potential an Aggressivität mobilisieren kann und muss, ohne das er sich nicht gegen eine feindliche Umwelt verteidigen und behaupten kann.

Doch die Grundlage der Kampfbereitschaft der menschlichen Gattung geht noch viel mehr in die Tiefe, sie wurzelt vor allem in der Kultur. Die Menschheit ist der einzige Teil der Natur, der sich durch den Prozess der Arbeit ständig selbst verwandelt. Das bedeutet, dass das Bewusstsein zum wichtigsten Mittel ihres Überlebenskampfes geworden ist. Jedes Mal, wenn der Mensch ein neues Ziel erreicht hat, hat er seine Umwelt verändert und sich neue, höhere Ziele gesteckt. Dies wiederum hat eine Weiterentwicklung seines gesellschaftlichen Wesens bedingt.

Die wissenschaftliche Methode des Marxismus hat die biologischen, „natürlichen“ Ursprünge der Moral und des gesellschaftlichen Fortschritts aufgedeckt. Weil er die Bewegungsgesetze der menschlichen Geschichte entdeckte und den metaphysischen Standpunkt überwand, löste der Marxismus die Fragen, die der alte, bürgerliche Materialismus nicht beantworten konnte. Damit bewies er die Relativität, aber auch den relativen Wert der verschiedenen moralischen Systeme der Geschichte. Er legte ihre Abhängigkeit von der Entwicklung der Produktivkräfte und – ab einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt – dem Klassenkampf offen. Dadurch legte er das theoretische Fundament für eine praktische Überwindung dessen, was eine der größten Geißeln der Menschheit bis heute gewesen ist: die fanatische, dogmatische Tyrannei jedes moralischen Systems.

Indem der Marxismus aufzeigte, dass die Geschichte eine Bedeutung hat und ein kohärentes Ganzes bildet, überwand er den falschen Gegensatz zwischen dem moralischem Pessimismus des Idealismus und dem hohlen Optimismus des bürgerlichen Materialismus. Durch den Nachweis eines moralischen Fortschritts in der Geschichte der Menschheit, erweiterte er die Grundlage für das Vertrauen des Proletariats in die Zukunft.

Trotz der erhabenen Schlichtheit der gemeinschaftlichen Grundsätze des Urkommunismus waren seine Tugenden an die blinde Unterwerfung unter Rituale und Aberglauben gebunden, sie waren nie das Ergebnis einer bewussten Wahl. Typisch war die örtliche Gebundenheit der moralischen Grundsätze: Der Fremde verkörperte Böses. Erst mit dem Aufkommen der Klassengesellschaft (in Europa zur Zeit der Blüte der Sklavenhaltergesellschaften) konnten menschliche Wesen einen moralischen Wert unabhängig von Blutsbanden besitzen. Diese Errungenschaft war das Produkt von Kultur und der Revolte von Sklaven und anderer unterdrückter Schichten. Es ist wichtig festzuhalten, dass die Kämpfe der ausgebeuteten Klassen, selbst wenn sie keine revolutionäre Perspektive hatten, das moralische Erbe der Menschheit durch die Kultivierung eines rebellischen Geistes und einer Empörung, durch die Erringung eines Respekts vor der menschlichen Arbeit sowie die Idee der Würde eines jeden menschlichen Wesens bereicherten. Der moralische Reichtum einer Gesellschaft ist nie bloß das Ergebnis der unmittelbaren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Konstellation, sondern eine Zusammenfassung von Errungenschaften der Geschichte. Wir sollten dabei auch nicht vergessen, dass die Individualisierung nicht allein die Einsamkeit hervorbrachte, sondern auch zur Entdeckung und Untersuchung der tiefsten Schichten unserer Seele und zur Grundlegung für die Übernahme individueller Verantwortung führte. So wie die Erfahrung und das Leiden eines langen und schwierigen Lebens zur Reifung derjenigen beiträgt, die sich dadurch nicht brechen lassen, wird die Hölle der Klassengesellschaft zum Wachstum der moralischen Erhabenheit der Menschheit beitragen – unter der Bedingung, dass diese Gesellschaft überwunden werden kann.

Es sollte weiter hinzugefügt werden, dass der historische Materialismus den alten Gegensatz zwischen Trieb und Bewusstsein, und zwischen Kausalität und Teleologie, der den Fortschritt der Moral behinderte, auflöste. Die objektiven Gesetzmäßigkeiten der geschichtlichen Entwicklung sind ihrerseits Ausdrücke der menschlichen Tätigkeit. Sie erscheinen nur deshalb als äußerliche Kräfte, weil die Ziele, die sich die Menschen setzen, von den Umständen abhängen, die die Vergangenheit der Gegenwart vermacht hat. Wenn man diesen Prozess aber als dynamischen begreift, als Bewegung von der Vergangenheit in die Zukunft, ist die Menschheit sowohl das Ergebnis als auch die Ursache der Veränderung. In diesem Sinn sind auch die Moral und die Ethik sowohl das Produkt als auch aktive Faktoren der Geschichte.

Indem der Marxismus das wahre Wesen der Moral aufdeckt, ist er auch in der Lage, ihre Richtung zu beeinflussen und sie als Waffe des proletarischen Klassenkampfes zu schärfen. 

Der Kampf gegen die bürgerliche Moral

Die proletarische Moral entwickelt sich im Kampf gegen die herrschenden Werte, nicht in der Isolierung von ihnen. Die wachsende Unerträglichkeit der herrschenden Werte wird zu einer der Hauptantriebskräfte bei der Entwicklung einer konträren, revolutionären Moral und ihrer Fähigkeit, die Massen zu ergreifen.

Der Kern der Moral der bürgerlichen Gesellschaft ist in der Verallgemeinerung der Warenproduktion enthalten. Diese bestimmt ihren wesentlich demokratischen Charakter, der eine höchst fortschrittliche Rolle bei der Auflösung des Feudalismus spielte, der jedoch mit dem Niedergang des kapitalistischen Systems in wachsendem Maße seine irrationale Seite enthüllt.

Der Kapitalismus ordnet die gesamte Gesellschaft, einschließlich der Arbeitskraft selbst, der Quantifizierung des Tauschwerts unter. Der Wert der Menschen und ihrer produktiven Aktivitäten liegt nicht mehr in ihren konkreten menschlichen Qualitäten und ihrem einzigartigen Beitrag zur Kollektivität, sondern kann nur noch quantitativ, im Vergleich zu anderen und einem abstrakten Durchschnitt ermessen werden – was sie mit der Gesellschaft als unabhängige, blinde Kraft konfrontiert. Indem also der Mensch als Konkurrent gegen den Mitmenschen ausgespielt wird und gezwungen ist, sich ständig an anderen zu messen, höhlt der Kapitalismus die menschliche Solidarität als Grundlage der Gesellschaft aus. Indem er von den realen Qualitäten der lebenden Menschen, einschließlich ihrer moralischen Qualitäten,  abstrahiert, unterminiert er die eigentliche Grundlage der Moral. Indem er die Frage: „Was kann ich zur Gemeinschaft beitragen?“ durch die Frage: „Was ist mein eigener Wert innerhalb der Gemeinschaft?“ (Reichtum, Macht, Prestige) ersetzt, stellt er die Möglichkeit einer Gemeinschaft schlechthin in Frage.

Die bürgerliche Gesellschaft neigt dazu, die moralischen Errungenschaften auszuhöhlen, die die Menschheit in Jahrtausenden angehäuft hat, von den simplen Traditionen der Gastfreundschaft und des Respekts gegenüber den anderen im täglichen Leben bis hin zum elementaren Reflex, jenen zu helfen, die in Not sind.

Mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine Schlussphase, den Zerfall, neigt diese ihm innewohnende Tendenz dazu, vorherrschend zu werden. Der irrationale Charakter dieser Tendenz – langfristig unvereinbar mit dem Schutz der Gesellschaft – enthüllt sich in der Notwendigkeit selbst für die  Bourgeoisie, im Interesse einer profitablen Produktion wissenschaftliche Untersuchungen anzustellen und Strategien gegen das „Mobbing“ auszuhecken, Pädagogen einzustellen, die Schulkindern beibringen, wie man mit Konflikten umgeht und wie man die Qualität der immer selteneren Fähigkeit, in einer Gruppe zu arbeiten, erlernt, die wichtigste Qualifikation, die viele Betriebe von den neuen Beschäftigten verlangen.

Eine Besonderheit des Kapitalismus ist die Ausbeutung auf der Grundlage der „Freiheit“ und juristischen „Gleichheit“ der Ausgebeuteten. Daher der im Prinzip heuchlerische Charakter seiner Moral. Doch diese Besonderheit verändert auch die Rolle, die die Gewalt in der Gesellschaft spielt.

Im Gegensatz zu dem, was seine Apologeten behaupten, übt der Kapitalismus nicht weniger, sondern eine weitaus rohere Gewalt als jede andere Ausbeutungsweise aus. Doch weil die Verstärkung des Ausbeutungsprozesses selbst nun auf einem wirtschaftlichen Verhältnis statt auf physischem Zwang beruht, gibt es einen qualitativen Sprung in der Anwendung indirekter, moralischer, psychischer Gewalt. Verleumdungen, Anschläge auf die Persönlichkeit, die Suche nach Sündenböcken, die gesellschaftliche Isolation anderer, die systematische Degradierung der menschlichen Würde und des Selbstvertrauens sind zu täglichen Instrumenten der sozialen Kontrolle und des Konkurrenzkampfes geworden. Mehr noch: sie sind zu Manifestationen der demokratischen Freiheit, des moralischen Ideals der bürgerlichen Gesellschaft geworden. Und je mehr die Bourgeoisie sich auf diese indirekte Gewalt und auf den Einfluss ihrer Moral gegen das Proletariat verlässt, desto stärker ist ihre Position.

Die Moral des Proletariats

Der Kampf des Proletariats für den Kommunismus bildet mit Abstand den höchsten Punkt in der moralischen Entwicklung der Gesellschaft bis heute. Er beinhaltet, dass die Arbeiterklasse die gesammelten Kulturgüter geerbt und sie auf einem qualitativ höheren Niveau weiterentwickelt hat, sie auf diese Weise vor der Liquidierung durch den kapitalistischen Zerfall bewahrend. Eines der Hauptziele der kommunistischen Revolution ist der Sieg der sozialen Gefühle und Qualitäten über die anti-sozialen Impulse. Wie Engels im Antidühring argumentiert, wird eine wirklich menschliche Moral fern jeder Klassenwidersprüche erst in einer Gesellschaft möglich sein, in der nicht nur der Klassengegensatz selbst, sondern auch die Erinnerung an ihn praktisch aus dem täglichen Leben verschwunden ist.

Das Proletariat absorbiert antike Gemeinschaftsregeln wie auch die Errungenschaften der jüngeren und komplizierteren Ausdrücke der Moralkultur in seine eigene Bewegung. Dies beinhaltet auch solch elementare Regeln wie das Verbot des Diebstahls, das für die Arbeiterbewegung nicht nur eine goldene Regel der Solidarität und des gegenseitigen Vertrauens ist, sondern auch eine unersetzliche Barriere gegen fremde moralische Einflüsse der Bourgeoisie und des Lumpenproletariats.

Die Arbeiterbewegung lebt auch von der Entfaltung des sozialen Lebens, der Sorge um das Leben der anderen, des Schutzes der ganz Jungen, der ganz Alten und der Bedürftigen. Auch wenn sich die Liebe zur Menschheit nicht nur auf das Proletariat beschränkt, wie Lenin sagt, ist diese Wiederaneignung durch die Arbeiterklasse notgedrungen kritisch und strebt die Überwindung der Rohheit, Kleinlichkeit und der Provinzialität der nicht-proletarischen ausgebeuteten Klassen und Schichten an.

Das Auftreten der Arbeiterklasse als Träger des moralischen Fortschritts ist eine perfekte Veranschaulichung der dialektischen Natur der gesellschaftlichen Entwicklung. Durch die radikale Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln und ihre radikale Unterordnung unter die Marktgesetze schuf der Kapitalismus zum ersten Mal in der Geschichte eine Gesellschaftsklasse, die radikal von ihrer eigenen Menschlichkeit entfremdet war. Die Genese der modernen Klasse von Lohnarbeitern ist somit eine Geschichte der Auflösung sozialer Gemeinschaften und ihrer Errungenschaften – der Entwurzelung, Vagabundierung und Kriminalisierung von Millionen von Männern, Frauen und Kindern. Abseits der Sphäre der Gesellschaft waren sie einem unbeschreiblichen Prozess der Brutalisierung und moralischer Degradierung ausgesetzt. Anfangs waren die Arbeiterbezirke in den industrialisierten Regionen Brutstätten der Ignoranz, des Verbrechens, der Prostitution, des Alkoholismus, der Gleichgültigkeit und Hoffnungslosigkeit.

Doch schon in seiner Untersuchung der Arbeiterklasse in England konnte Engels feststellen, dass die klassenbewussten unter den Proletariern die liebenswürdigsten, edelsten und menschlichsten Seiten der Gesellschaft bildeten. Und später, bei der Bilanzierung der Pariser Kommune, setzte Marx das Heldentum, den Geist der Selbstaufopferung und Leidenschaft des kämpfenden, arbeitenden und denkenden Paris für die herkulische Aufgabe dem parasitären, skeptischen und egoistischen Paris der Bourgeoisie entgegen.

Diese Verwandlung des Proletariats, einst eine Klasse ohne eigene Menschlichkeit, ist der Ausdruck seines spezifischen Klassencharakters. Der Kapitalismus hat erstmals in der Geschichte einer Klasse zum Leben verholfen, die nur durch die Entfaltung der Solidarität ihre Menschlichkeit bekräftigen und ihre Identität sowie ihre Klasseninteressen ausdrücken kann. Wie niemals zuvor ist die Solidarität zur Waffe des Klassenkampfes und zum spezifischen Mittel geworden, durch das die Aneignung, die Verteidigung und die höhere Entwicklung der menschlichen Kultur und Moral durch eine ausgebeutete Klasse möglich werden. Wie Marx 1872 erklärte: „Bürger, denken wir an jenes Grundprinzip der Internationale: die Solidarität. Nur wenn wir dieses lebenspendende Prinzip unter sämtlichen Arbeitern aller Länder auf sichere Grundlagen gestellt haben, werden wir das große Endziel erreichen, das wir uns gesteckt haben. Die Umwälzung muss solidarisch sein, das lehrt uns das große Beispiel der Pariser Kommune ...“[1] [13]

Diese Solidarität ist das Resultat des Klassenkampfes. Ohne die ständige Auseinandersetzung zwischen Fabrikbesitzern und Arbeitern, sagt Marx, „würde die Arbeiterklasse Großbritanniens und ganz Europas eine niedergedrückte, charakterschwache, verbrauchte, unterwürfige Masse sein, deren Emanzipation aus eigner Kraft sich als ebenso unmöglich erweisen würde wie die der Sklaven des antiken Griechenlands und Roms“[2] [13].

Und Marx fügte hinzu: „Um den Wert von Streiks und Koalitionen richtig zu würdigen, dürfen wir uns nicht durch die scheinbare Bedeutungslosigkeit ihrer ökonomischen Resultate täuschen lassen, sondern müssen vor allen Dingen ihre moralischen und politischen Auswirkungen im Auge behalten.“

Diese Solidarität geht Hand in Hand mit der moralischen Empörung der Arbeiter über ihre eigene Erniedrigung. Diese Empörung ist eine Voraussetzung nicht nur für den Kampf und Selbstrespekt der Arbeiter, sondern auch für das Aufblühen ihres Klassenbewusstseins. Nachdem er die Fabrikarbeit als ein Mittel zur Verdummung der Arbeiter definiert hat, kommt Engels zu dem Schluss: „... wenn dennoch die Fabrikarbeiter nicht nur ihren Verstand gerettet, sondern auch mehr als andere ausgebildet und geschärft haben, so war dies wieder nur durch die Empörung gegen ihr Schicksal und gegen die Bourgeoisie möglich.“ [3] [13]

Die Befreiung der Arbeiter aus dem paternalistischen Gefängnis des Feudalismus versetzte sie in die Lage, die politische,  globale Dimension dieser „moralischen Resultate“ zu entwickeln und so sich ihre Verantwortung gegenüber der Gesellschaft als Ganzes zu Herzen zu nehmen. In seinem Buch über die Arbeiterklasse in England ruft Engels in Erinnerung, wie in Frankreich die Politik und in Großbritannien die Ökonomie sie aus ihrer „Gleichgültigkeit gegenüber den allgemeinen Interessen der Menschheit“ befreite, eine Gleichgültigkeit, die sie „geistig-tot“ machte.

Für die Arbeiterklasse ist die Solidarität nicht eine Waffe unter vielen anderen, die angewendet wird, wenn sie benötigt wird. Sie ist die Essenz des Kampfes und der täglichen Existenz der Klasse. Daher sind die Organisation und die Zentralisierung ihres Kampfes der lebendige Ausdruck dieser Solidarität.

Der moralische Aufstieg der Arbeiterbewegung ist nicht von der Formulierung ihres historischen Ziels zu trennen. Im Verlaufe seiner Untersuchung der utopischen Sozialisten erkannte Marx den ethischen Einfluss von kommunistischen Ideen, durch welche „unser Bewusstsein geschmiedet wird“. Und in ihrem Werk „Sozialismus und die Kirchen“ rief Rosa Luxemburg in Erinnerung, dass die Verbrechensraten in den Industriebezirken von Warschau drastisch zurückgegangen waren, sobald aus Arbeitern Sozialisten geworden waren.

Kennzeichnend für den moralischen Fortschritt ist die Erweiterung des Wirkungskreises der sozialen Tugenden und Antriebe, bis die Gesamtheit der Menschheit erfasst ist. Der bei weitem höchste Ausdruck der menschlichen Solidarität, des ethischen Fortschritts der Gesellschaft bis heute ist der proletarische Internationalismus. Dieses Prinzip ist ein unerlässliches Mittel zur Befreiung der Arbeiterklasse und bereitet die Grundlage für die künftige menschliche Gemeinschaft. Die Zentralität dieses Prinzips und die Tatsache, dass nur die Arbeiterklasse es verteidigen kann, unterstreicht die Bedeutung der moralischen Autonomie des Proletariats gegenüber allen anderen Klassen und Schichten der Gesellschaft. Es ist unerlässlich für klassenbewusste Arbeiter, sich selbst größtenteils vom Denken und Fühlen der Bevölkerung zu befreien, um ihre eigene Moral jener der Bourgeoisie entgegenzusetzen.

Ihre Stellung im Herzen des proletarischen Kampfes lässt ein neues Verständnis der Bedeutung der Solidarität in der menschlichen Gesellschaft zu.

Sie ist ein unverzichtbares Mittel, um das Ziel des Kommunismus zu erreichen, aber auch das Wesen selbst dieses Ziels. Ebenso besteht das Ziel der Arbeiterbewegung bei der Bekämpfung des Kapitalismus nicht nur darin, Ausbeutung und materiellen Eigennutz, sondern auch Einsamkeit und soziale Gleichgültigkeit zu überwinden.

Revolutionen beinhalten stets die moralische Erneuerung der Gesellschaft. Sie können nicht stattfinden und erfolgreich sein, es sei denn, die Massen waren bereits zuvor von neuen Werten und Ideen erfasst, die ihren Kampfgeist, ihren Mut und ihre Entschlossenheit galvanisieren. Die Überlegenheit der moralischen Werte des Proletariats bildet eines der prinzipiellen Elemente ihrer Fähigkeit, andere nicht ausbeutende Schichten hinter sich zu ziehen. Obgleich es unmöglich ist, eine kommunistische Moral innerhalb der Klassengesellschaft zu etablieren, deuten die Prinzipien der Arbeiterklasse die Zukunft an und helfen ihr, den Weg zu ebnen. Durch den Kampf selbst bringt die Klasse ihr Verhalten und ihre Werte allmählich mit ihren eigenen Bedürfnissen und Zielen in Einklang und erlangt so eine neue menschliche Würde.

Das Ziel des Proletariats ist nicht ein ethisches Ideal, sondern die Befreiung der bereits existierenden Elemente der neuen Gesellschaft. Es hat kein Bedürfnis nach moralischen Illusionen und verabscheut Heuchelei. Sein Interesse ist es, die Moral von allen Illusionen und Vorurteilen zu entkleiden. Als erste Klasse in der Gesellschaft mit einem wissenschaftlichen Verständnis der Gesellschaft erreicht es eine neue Qualität in dem anderen Hauptanliegen der traditionellen Moral – in der Wahrhaftigkeit. Wie die Solidarität nimmt die Aufrichtigkeit eine neue und tiefere Bedeutung an. Angesichts des Kapitalismus, der ohne Lug und Trug nicht leben kann und der die gesellschaftliche Realität verzerrt – indem er das Verhältnis zwischen den Menschen zu einem Verhältnis zwischen Objekten macht –, besteht das Ziel des Proletariats darin, die Wahrheit als unverzichtbares Mittel seiner eigenen Befreiung zu enthüllen. Daher hat der Marxismus nie versucht, die Bedeutung der Hindernisse auf dem Weg zum Sieg herunterzuspielen oder vor der Möglichkeit einer Niederlage zurückzuschrecken. Der härteste Test der Aufrichtigkeit ist es, sich selbst gegenüber wahrhaftig zu sein. Dies betrifft Klassen genauso wie Individuen. Natürlich kann dieses Streben nach einem Verständnis der eigenen Realität schmerzvoll sein und sollte nicht in einem absoluten Sinn verstanden werden. Doch die Ideologie und die Selbsttäuschung widersprechen direkt den Interessen der Arbeiterklasse.

In der Tat ist der Marxismus Erbe der besten wissenschaftlichen Ethik der Menschheit, indem er die Suche nach der Wahrheit in den Mittelpunkt seiner Beschäftigung rückt. Für das Proletariat ist der Kampf um Klarheit von höchstem Wert. Die Haltung, Debatten zu vermeiden und zu sabotieren, ist das Gegenstück davon, da eine solche Vorgehensweise stets die Tür für das Eindringen fremder Ideologien und Verhaltensweisen weit öffnet.

Neben der Absorbierung der ethischen Errungenschaften und ihrer Weiterentwicklung  auf einer höheren Ebene konfrontiert der Kampf für den Kommunismus die Arbeiterklasse mit neuen Fragen und neuen Dimensionen ethischen Handelns. Zum Beispiel stellt der Kampf um die Macht direkt die Frage des Verhältnisses zwischen den Interessen des Proletariats und jenen der Menschheit insgesamt, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Geschichte zwar einander entsprechen, aber nicht identisch sind. Angesichts einer Wahl zwischen Sozialismus und Barbarei muss die Arbeiterklasse bewusst Verantwortung für das Überleben der Menschheit in ihrer Gesamtheit übernehmen. Im September–Oktober 1917, im Angesicht eines heranreifenden Aufstandes und der Gefahr, dass das Scheitern der Revolution bei ihrer Ausbreitung zu furchtbaren Leiden für das russische und das Weltproletariat führen würde, beharrte Lenin darauf, dass dies riskiert werden müsse, weil ansonsten das Schicksal der Zivilisation selbst auf dem Spiel stünde. Ebenso wird die Wirtschaftspolitik der Umwandlung nach der Machtergreifung die Klasse mit der Notwendigkeit konfrontieren, bewusst ein neues Verhältnis zwischen Mensch und Natur zu entwickeln, das nicht mehr ein Verhältnis eines „Siegers auf erobertem Gebiet“ (Antidühring) sein kann.

 

IKS



[1] [13] Marx: „Rede über den Haager Kongress“, 1872, MEW, Bd. 18, S. 161.

 

[2] [13] Marx: „Die russische Politik gegenüber der Türkei – Die Arbeiterbewegung in England“, 1853, MEW, Bd. 9, S. 171.

 

[3] [13] Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, 1845. Kapitel „Die einzelnen Arbeitszweige. Die Fabrikarbeiter im engeren Sinne (Sklaverei. Fabrikregeln)“.

 

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [10]

Theoretische Fragen: 

  • Arbeiterklasse [11]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Marxismus: die Theorie der Revolution [12]

Ungarn 1956: Ein proletarischer Aufstand gegen den Stalinismus

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In der Nacht vom 23. auf den 24. Oktober 1956 begannen die Arbeiter in Budapest, fast unmittelbar gefolgt vom Rest der ungarischen Arbeiter, einen bewaffneten Aufstand, der das gesamte Land ergriff. Sie waren geknechtet durch die schreckliche Ausbeutung und den Terror, den das stalinistische Regime seit 1948 ausübte. Innerhalb von 24 Stunden breitete sich ein Streik auf die wichtigsten Industriestädte aus, die Arbeiterklasse bildete Räte und übernahm die Kontrolle des Aufstandes.

Es war eine Revolte des ungarischen Proletariates gegen den Kapitalismus in seiner stalinistischen Form, welcher bleischwer auf der Arbeiterklasse der Länder Osteuropas lastete. Diese Tatsache hat die herrschende Klasse in den letzten 50 Jahren zu verheimlichen versucht oder noch häufiger verdreht und verfälscht. In den zensurierten und verfälschten Geschichtsschreibungen wird die entscheidende Rolle der Arbeiterklasse auf ein Minimum reduziert. Zu den Arbeiterräten werden meist nur Lippenbekenntnisse gemacht, die sich auf Anekdoten reduzieren, oder sie werden als ein Mischmasch von Komitees und nationalen oder regionalen Räten dargestellt, von denen Einer nationalistischer als der Andere gewesen sein soll. Meist aber werden sie gänzlich übergangen.

Schon 1956 kursierten im Osten wie im Westen die plumpsten Lügen. Laut dem Kreml und den europäischen stalinistischen KPs waren die Ereignisse in Ungarn ein „faschistischer Aufstand“, manipuliert durch die „westlichen Imperialisten“. Für die Stalinisten gab es zu dieser Zeit zwei Ziele. Sie wollten die Zerschlagung des ungarischen Proletariates durch russische Panzer rechtfertigen. Gleichzeitig wollten sie gegenüber den Arbeitern im Westen die Illusion aufrechterhalten, dass der Ostblock „sozialistisch“ sei und vermeiden, dass diese den proletarischen Charakter des Kampfes der ungarischen Arbeiterklasse erkennen würden.

So wurde der Aufstand in Ungarn auf der einen Seite als ein „Werk von faschistischen Banden im Dienste der USA“ angeprangert, während auf der anderen Seite die Bourgeoisie der westlichen Staaten ihn als einen „Triumph der Demokratie“, einen Kampf für „Freiheit“ und „nationale Unabhängigkeit“ hochleben ließen. Diese beiden Lügen gehen Hand in Hand, da sie das Ziel haben, der Arbeiterklasse ihre eigene Geschichte und ihren revolutionären Charakter zu verbergen. Nachdem die Verbrechen des Stalinismus ans Licht gekommen waren und der Ostblock zusammengebrochen war, wurde die Version eines patriotischen Kampfes, in welchem sich alle sozialen Klassen in einem „Volksaufstand“ für den „Sieg der Demokratie“ finden, zum Haupttenor der Propaganda der Bourgeoisie.

Mit den Erinnerungszeremonien, welche die herrschende Klasse alle zehn Jahre abhält, führt sie ein Werk fort, welches sie schon damals begonnen hat. Ihr Hauptziel ist, die Arbeiterklasse am Verständnis zu hindern, dass der ungarische Aufstand ihre revolutionäre Natur zum Ausdruck brachte, ihre Fähigkeit zeigte, den bürgerlichen Staat herauszufordern und sich in Arbeiterräten zu organisieren. Dieses Zeichen der revolutionären Natur der Arbeiterklasse war umso bedeutsamer, da es sich 1956 in einer Zeit der schwersten Konterrevolution manifestierte. Damals war das Proletariat weltweit enorm geschwächt, niedergeschlagen durch den Zweiten Weltkrieg, aufgesplittert und kontrolliert durch die Gewerkschaften und deren Helfer, die politische Polizei. Aufgrund der Schwierigkeiten dieser Periode konnte der Aufstand von 1956 auch nicht zu einem bewussten Versuch des Proletariats heranreifen, die politische Macht zu übernehmen und eine neue Gesellschaft aufzubauen.

Die grenzenlose Ausbeutung unter dem Stalinismus

Wie üblich sieht die Realität anders aus, als sie von der Bourgeoisie dargestellt wird.

Der Aufstand in Ungarn war allem voran eine proletarische Antwort auf die wilde Ausbeutung, die in den Ländern ausgeübt wurde, welche nach dem Zweiten Weltkrieg unter russische Herrschaft gefallen waren.

Nach den Schrecken des Krieges, den Schlägen des faschistischen Regimes unter General Horth[1] [14] und der anschließenden Übergangsregierung (1944-48), waren die Gewalttaten der Stalinisten für die Arbeiterklasse in Ungarn ein weiterer Abstieg in die Hölle.

Am Ende des Krieges hatte der russische „Befreier“ in den Gebieten Osteuropas, welche durch ihn von der Naziherrschaft „befreit“ worden waren, das Ziel, sich fest zu installieren und so sein Reich bis zu den Toren Österreichs auszudehnen. Die Rote Armee, gefolgt von der russischen politischen Polizei NKVD, kontrollierte das gesamte Gebiet vom Baltikum bis zum Balkan. In der ganzen Region waren Plünderungen, Diebeszüge und Deportationen in Arbeitslager ein Markenzeichen der russischen Besatzung und gaben einen Vorgeschmack auf die stalinistischen Regime, die bald darauf eingesetzt wurden. In Ungarn wurde ab 1948, als der politische Apparat unter die vollständige Kontrolle der Kommunistischen Partei gebracht war, die Stalinisierung des Landes Realität. Mátyás Rákosi[2] [14], bekannt als der gelehrigste Schüler Stalins, umgeben von seiner Bande von Mördern und Folterknechten (wie z.B. dem finsteren Gerö[3] [14]) war die Personifizierung des Stalinismus in Ungarn. Er stützte sich, nach alt bekanntem Rezept, vornehmlich auf politischen Terror und grenzenlose Ausbeutung der Arbeiterklasse.

Als Sieger- und Besatzungsmacht in Osteuropa forderte die Sowjetunion von den besiegten Ländern und im Besonderen von denen, welche wie Ungarn mit den Achsenmächten zusammengespannt hatten, hohe Reparationsleistungen. In Wirklichkeit war dies lediglich ein Vorwand, um sich den Produktionsapparat der Länder, die nun zu ihren Satelliten geworden waren, anzueignen und sie dazu zu zwingen, mit allen Mitteln für die ökonomischen und imperialistischen Interessen der UdSSR zu arbeiten. Ein wahrhaftes Blutsaugersystem wurde 1945/46 installiert, so zum Beispiel mit der Demontage ganzer Fabriken und deren Abtransport auf russischen Boden - Arbeiter inbegriffen!

Mit derselben Absicht wurde 1949 der COMECON gegründet. Dies war ein Markt für „privilegierten Handel“, in welchem die Privilegien nur in eine Richtung galten. Der russische Staat konnte damit seine Produkte zu einem viel höheren Wert abstoßen als auf dem Weltmarkt. Umgekehrt erhielt Russland von seinen Satelliten Produkte zu lächerlich tiefen Preisen.

Die gesamte ungarische Wirtschaft hatte sich dem Diktat und den Produktionsplänen des russischen Hauptquartiers zu beugen. Dies zeigte sich sehr deutlich 1950-53 zur Zeit des Koreakrieges, als die UdSSR Ungarn dazu zwang, die Mehrzahl der Fabriken auf Waffenproduktion umzustellen. Ab diesem Zeitpunkt wurde Ungarn zum Haupt-Waffenlieferanten für die UdSSR.

Um die wirtschaftlichen und imperialistischen russischen Forderungen erfüllen zu können, musste der ungarische Produktionsapparat auf vollen Touren und unter größtem Druck laufen. Die Fünfjahrespläne, im Besonderen derjenige von 1950, sahen ein nie da gewesenes Produktions- und Produktivitätswachstum vor. Wunder fallen nicht vom Himmel, und so litt vor allem die Arbeiterklasse unter einer grenzenlosen Ausbeutung durch die galoppierende Industrialisierung. Die gesamte Energie musste zur Erfüllung des Planes von 1950-54 geopfert werden, mit dem Schwerpunkt des Aufbaus der Schwerindustrie und der Waffenproduktion. Letztere wurde zu Ende des Plans verfünffacht. Alles wurde unternommen, um das ungarischen Proletariat auszupressen. Der Akkordlohn wurde eingeführt, begleitet von ständig erhöhten Produktionsquoten. Die rumänische KP sagte mit einer gehörigen Portion Zynismus, dass „der Akkordlohn ein revolutionäres System ist, welches die Faulheit beseitigt, (…) jeder hat die Möglichkeit härter zu arbeiten (…)“. Das System „eliminierte“ jeden, der diese „Möglichkeit“ ausschlug. Die Arbeiter konnten wählen zwischen dem Hungertod und dem Dahinvegetieren am Arbeitplatz für einen erbärmlichen Lohn.

Wie der sagenhafte Sisyphus, der von Hades dazu verdammt wurde, einen Fels den Berghang hoch zu rollen, wurden die ungarischen Sisyphuse zu unhaltbaren und pausenlosen Arbeitsrhythmen verdammt.

In den meisten Betrieben stellte die Leitung jeweils Ende Monat fest, dass sie dem unmenschlichen Plan hinterherhinkte. Es wurde der Befehl zur „großen Anstrengung“ herausgegeben, eine Vervielfachung der Arbeitgeschwindigkeit im Sinne der „Stourmovtchina“[4] [14], oft schon an den russischen Arbeitern erprobt. Diese „Stourmovtchina“ fand nicht nur Ende Monat statt, sondern auch am Ende der Woche. Die Überstunden nahmen dramatisch zu und damit auch die Arbeitunfälle. Menschen und Maschinen wurden bis an ihre äußersten Grenzen getrieben.

Und als Krone des Ganzen war es für die Arbeiter nicht unüblich, bei Arbeitsantritt als Überraschung einen „Versprechensbrief“ vorzufinden, geschrieben und unterzeichnet in ihrem Namen von - den Gewerkschaften. Schon erschöpft, fanden sie nun ein „Versprechen“ vor, erneut die Produktion zu erhöhen, alles zu Ehren dieser oder jener Jubiläen und Gedenktage. Jede nur erdenkliche Möglichkeit wurde ausgeschöpft, um diese Art von „freiwilligen“ Arbeitstagen zu erzwingen, welche natürlich unbezahlt waren. Zwischen März 1950 und Februar 1951 gab es 11 solche Tage: „Befreiungstag“, 1. Mai, Korea-Woche, Rákosis Geburtstag und andere Ereignisse, die Grund waren für unbezahlte Überzeit.

Während der Periode des ersten Fünfjahresplanes wurde die Produktion verdoppelt und die Produktivität stieg um 63%. Die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse verschlechterten sich drastisch. Innerhalb von  5 Jahren, von 1949 bis 1954, wurden die Nettolöhne um 20% reduziert, und im Jahr 1956 lebten nur 15% der Familien über dem von den regimeeigenen Experten definierten Existenzminimum!

Der Stachanovismus wurde in Ungarn augenscheinlich nicht auf einer freiwilligen Basis der Liebe zum „Sozialistischen Vaterland“ eingeführt. Die herrschende Klasse führte ihn mittels Terror ein, mit gewalttätigen Repressalien und schweren Sanktionen, wenn die Produktionsnormen (welche laufend in die Höhe geschraubt wurden) nicht erfüllt waren.

Der stalinistische Terror erfasste die Fabriken gänzlich. Am 9. Januar 1950 verabschiedete die Regierung ein Gesetz, das den Arbeitern untersagte, den Arbeitsplatz ohne Erlaubnis zu verlassen. Eine strenge Disziplin wurde eingeführt und „Verstöße“ mit strengen Bußen bestraft.

Dieser alltägliche Terror erforderte einen allgegenwärtigen Polizeiapparat. Die Polizei und die Gewerkschaften mussten überall sein, was zu fast lächerlichen Situationen führte. Die MOFAR-Fabrik in Magyarovar, die sich zwischen 1950 und 1956 auf das Dreifache vergrößerte, hatte, um die Kontrolle über die Arbeiter aufrecht zu erhalten, nicht drei- sondern zehnmal soviel Überwachungspersonal anzuheuern: Gewerkschaftsfunktionäre, Parteimitglieder und Fabrikpolizei.

Die Gewerkschaftsstatuten, die das Regime 1950 erließ, sind unmissverständlich: „(…) Organisierung und Ausdehnung des sozialistischen Wettbewerbs unter den Arbeitern, Kampf für eine bessere Organisierung der Arbeit, für die Festigung der Disziplin (…) und die Erhöhung der Produktivität“.

Doch leider waren Bußen und Einschüchterungen nicht die einzigen Maßnahmen gegen die „Widerspenstigen“.

Am 6 Dezember 1948 schimpfte Istvan Kossa, der Industrieminister, anlässlich eines Besuches der Stadt Debrecen über die „(…) Arbeiter die eine terroristische Haltung gegenüber den Managern der verstaatlichten Industrie haben (…)“. Mit anderen Worten, über die, welche sich nicht „frohlockend“ den Stachanov-Normen beugten oder ganz einfach nicht die verlangten Produktionsnormen erfüllen konnten. Seither wurden Arbeiter, die ihre Arbeit nicht genug zu „lieben“ schienen, systematisch als „Agenten des westlichen Kapitalismus“, „Faschisten“ oder „Säufer“ denunziert.

Kossa fügte hinzu, wenn sie ihre Haltung nicht änderten, helfe ihnen wohl nur eine Zeit Zwangsarbeit. Dies waren nicht leere Worte, wie unter anderem der Fall eines Arbeiters der Eisenbahnwagenfabrik in Györ zeigte. Er wurde des „Lohnbetrugs“ angeklagt und zur Internierung in einem Arbeitslager verurteilt. Die Äußerung von Sandor Kopacsi, Internierungsbeamter im Jahr 1949 und Polizeipräfekt von Budapest 1956, ist ebenfalls aufschlussreich: „In den Lagern waren Arbeiter, verarmte Bauern und Leute aus Klassen, die dem Regime feindlich gesinnt waren. Die Arbeit (des Direktors) war einfach: er musste die vorgesehene Internierungsdauer verlängern, meist um sechs Monate. (…) Sechs Monate Untersuchung und sechs Monate Verlängerung. Gewiss, es war nicht dasselbe wie die „zehn Jahre“ oder „fünfzehn Jahre“ Verlängerung in den sibirischen Einöden (…) Dennoch gingen diese Verurteilten nach der Internierung nicht zurück ins Privatleben, es waren Internierungen mit dem System der Verlängerungen um sechs Monate und weitere sechs Monate – genauso wenig wie diejenigen, welche fünfzehn oder fünfundzwanzig Jahre im Norden Sibiriens verbrachten.“ [5] [14] 1955 stieg die Zahl der Gefangenen drastisch an und die Mehrzahl waren so genannte „widerspenstige“ Arbeiter.

Unter dem Rákosi-Regime verschwanden Zehntausende spurlos. Sie waren verhaftet und interniert worden. Damals sprach man von einem „Hausglocken-Unglück“ welches Ungarn heimsuchte. Wenn die Hausglocke am Morgen läutete, wusste man nie, ob es der Milchmann oder ein Agent der politischen Polizei AVH war.

Der proletarische Aufstand vom Oktober 1956

Dennoch hatten das Terrorregime, die Präsenz der Roten Armee und die Folterer der AVH nicht den gewünschten Erfolg. Der Unmut innerhalb der Arbeiterklasse wurde ab 1948 immer spürbarer. Die Wut der Arbeiterklasse war nahe daran, sich auf der Strasse zu entladen. Es erwachte ein unbezähmbares Gefühl, sich dem hierarchischen Apparat der sowjetischen Bürokratie entgegenzusetzen, der alle Entscheide fällte, von den Produktionsnormen bis zur Auswahl der Vorarbeiter und Überwacher, welche mit der Umsetzung der Pläne in Produktionsziffern beauftragt waren.

Die ausgelaugte Arbeiterklasse war am Ende ihrer Kräfte. Die Bedingungen der Ausbeutung waren nicht länger zu ertragen und ein Aufstand bahnte sich an.

Die Situation, welche die UdSSR in Ungarn geschaffen hatte, war auch in den anderen stalinistischen Ländern des Ostblocks nicht anders. Aus diesem Grunde herrschte eine permanente Unzufriedenheit der Arbeiterklasse. Zu Beginn des Jahres 1953 waren die Arbeiter im tschechischen Pilsen mit dem stalinistischen Staatsapparat in Konflikt geraten, weil sie sich weigerten, die berühmt-berüchtigte Stücklohnproduktion zu akzeptieren. Einige Wochen später, am 17. Juni 1953, brach ein großer Streik unter den Bauarbeitern in Ostberlin aus, weil die Arbeitsnormen um 10% gestiegen und die Löhne um 30% gesenkt worden waren. Die Arbeiter demonstrierten auf der Stalin-Allee mit dem Ruf „Nieder mit der Tyrannei der Normen“, „Wir sind Arbeiter, keine Sklaven“. Streikkomitees zur Ausweitung des Kampfes entstanden spontan und sie begaben sich in die anderen Stadtteile, um die Arbeiter von Westberlin zur Teilnahme am Streik aufzurufen. Da die berühmte Berliner Mauer damals noch nicht stand, beeilten sich die westlichen Alliierten, ihre Sektoren abzuriegeln. Die in der DDR stationierten russischen Panzer erwürgten diesen Streik. So machte die herrschende Klasse im Westen und Osten in abgekarteter Manier gemeinsame Sache, um den Widerstand der Arbeiter zu erdrücken. Zur selben Zeit brachen in sieben polnischen Städten Demonstrationen und Arbeiteraufstände aus. Das Kriegsrecht wurde über Warschau, Krakau und Schlesien verhängt – und auch dort wurden die russischen Panzer zur Niederschlagung der Arbeiterklasse auf den Plan gerufen. Auch Ungarn geriet in Bewegung. Streiks brachen zuerst im großen Eisen- und Stahlproduktionsbezirk Cespel in Budapest aus, danach griffen sie auf andere Industriestädte wie Odz und Diösgyör über.

Der Sturm der Revolte gegen den Stalinismus, der über Osteuropa hinwegfegte, fand seinen Höhepunkt im Aufstand vom Oktober 1956 in Ungarn.

Das Klima in Ungarn verunsicherte den Kreml offenbar aufs Höchste. In der Absicht, der angeheizten Situation den Dampf abzulassen, entschied Moskau, den Mann, der den Terror des Regimes personifizierte, zeitweilig von der Regierung abzusetzen. Mátyás Rákosi wurde in Juni 1953 seines Postens als Premierminister enthoben. 1955 kam er wieder an die Macht zurück, wurde aber im Juli 1956 erneut abgesetzt. Doch all dies konnte die Situation nicht beschwichtigen, denn die angestaute Wut war zu groß und die Lebensbedingungen verbesserten sich nicht. Das Pulverfass stand kurz vor der Explosion.

In dieser Situation kurz vor dem Aufstand, die das Regime ins Wanken brachte, verstand die nationalistische Fraktion der ungarischen Bourgeoisie, dass sie einen Trumpf in der Hand hatte, um ihre Position als Untertan Russlands abzuwerfen oder zumindest die Leine zu verlängern, um einen größeren Spielraum zu haben. Die schnell vorangetriebene Sowjetisierung des ungarischen Staates, die totale und ungeteilte Machtkontrolle durch die Männer des Kremls und ihre Panzer der Roten Armee, die Industrie, die vollständig in den Dienst der imperialistischen Bedürfnisse der UdSSR gestellt worden war – all dies war der nationalen Bourgeoisie zuviel. Sie wartete nur auf einen Moment, um ihren Besatzer abschütteln zu können. Sogar unter den ungarischen Stalinisten herrschten starke Tendenzen zur nationalen Unabhängigkeit - die „nationalen Kommunisten“, welche zu einem „ungarischen Weg zum Sozialismus“ aufriefen, so wie er von vielen Intellektuellen vorgeschlagen wurde. Sie machten Imre Nagy[6] [14] zu ihrem „Helden“ des Oktoberaufstandes. Auch die ungarische Armee konnte nicht gänzlich sowjetisiert werden, ohne Konzessionen an den Nationalismus der alten Offiziere zu machen. In deren Augen entsprach die Allianz mit der UdSSR nicht den nationalen Interessen, welche sich traditionell am Westen orientierten. Als der Oktoberaufstand ausbrach, erblickte die Armee die Möglichkeit, sich von den stalinistischen Fesseln zu befreien. Dies ist der Grund, weshalb sie sich auch teilweise an den Straßenkämpfen beteiligte. Der patriotische Widerstand fand seine Personifizierung in der Figur des Generals Pal Maleter und die Truppen der Kilian-Kaserne in Budapest. Diese Teile der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums vergifteten die Atmosphäre des Arbeiteraufstandes mit ihrer nationalistischen Propaganda. Es ist kein Zufall, wenn bis heute die herrschende Klasse versucht, Nagy und Maleter zu Mythen der Ereignisse von 1956 zu erheben. Durch die Darstellung dieser bürgerlichen Galionsfiguren soll die Lüge bekräftigt werden, es habe sich um eine „Revolution für Demokratie und nationale Befreiung“ gehandelt.

Nach der Absetzung von Rákosi im Juli 1956 wurde das Klima stark bestimmt von Elementen des Kleinbürgertums, den nationalistischen Intellektuellen der Schriftstellergewerkschaft und den Studenten des Petöfi-Zirkels. Am 23. Oktober organisierte Letzterer eine friedliche Demonstration in Budapest, an der viele Arbeiter teilnahmen. Bei der Statue von General Bem angelangt, verlas die Schriftstellergewerkschaft eine Resolution, welche den Anspruch auf Unabhängigkeit des „ungarischen Volkes“ ausdrückte.

Für die Bourgeoisie ist dies der Charakter des ungarischen Aufstandes – ein Haufen von Studenten und Intellektuellen, welche für die nationale Unabhängigkeit von der Moskauer Fessel kämpften. In den letzten fünfzig Jahren hat die herrschende Klasse einen Schleier über den Hauptakteur des Aufstandes, die Arbeiterklasse, gelegt. Ebenso über die Gründe, die hinter dem Aufstand lagen, welcher weit entfernt von einem nationalen Widerstand oder der Liebe zum Vaterland ein Versuch der Arbeiterklasse war, sich den schrecklichen Lebensbedingungen zu widersetzen.

Die Arbeiter strömten aus den Fabriken und die Masse der Arbeiterklasse in Budapest schloss sich der Demonstration an. Als die Versammlung offiziell beendet war, gingen die Arbeiter nicht nach Hause, im Gegenteil. Sie begaben sich in die Straße des Parlaments und begannen dort, die Statue Stalins niederzureißen und mit Hämmern zu zerstören. Danach begab sich die Menschenmasse zum Radiogebäude, um gegen die Erklärung des Premierministers Gerö zu protestieren, der die Demonstranten beschuldigte, nichts anders als „eine Bande von nationalistischen Abenteurern zu sein, welche die Macht der Arbeiterklasse brechen wolle“. Als dann die politische Polizei AVH das Feuer auf die Menge eröffnete, schlug der Protest in einen bewaffneten Aufstand um. Die nationalistischen Intellektuellen, welchen zur Demonstration aufgerufen hatten, wurde nun selbst von den Ereignissen überrascht und, wie der Sekretär des Petöfi-Zirkels, Balazs Nagy, selber zugab, wollten sie „die Bewegung lieber bremsen als vorwärts treiben“.

Innerhalb von 24 Stunden schlossen sich dem Generalstreik vier Millionen Arbeiter an, und er breitete sich auf ganz Ungarn aus. In den großen Industriezentren entstanden spontan Arbeiterräte. Damit versuchte die Arbeiterklasse, den Aufstand zu organisieren und zu kontrollieren.

Die Arbeiter bildeten zweifellos das Rückgrat der Bewegung und demonstrierten dies mit ihrer ungebrochenen Kampfbereitschaft und ihrem Willen. Sie bewaffneten sich und bildeten überall Barrikaden. In den Straßen der Hauptstadt kämpften sie mit unterlegener Bewaffnung gegen die AVH und die russischen Panzer. Die AVH war jedoch sehr bald durch die Ereignisse überrumpelt. Eine neue Regierung, gebildet und angeführt durch den „progressiven“ Imre Nagy, rief ohne zu zögern nach der Intervention der russischen Armee, um die neue Regierung vor der Wut der Arbeiter zu schützen. Nagy forderte unaufhörlich die Widerherstellung der Ordnung und die „Kapitulation der Aufständischen“. Später verkündete dieser Meister der Demokratie, dass die Intervention der russischen Streitkräfte „im Interesse der sozialistischen Disziplin notwendig gewesen sei“.

Die Panzer brachen am 24. Oktober um etwa 2 Uhr Nachts in Budapest ein und trafen auf die ersten Barrikaden in den Arbeiterbezirken der Stadt. Die Csepel-Fabrik mit ihren Tausenden von Metallarbeitern leistete den härtesten Widerstand – mit altmodischen Feuerwaffen und Molotow-Cocktails gegen Divisionen von bewaffneten russischen Fahrzeugen.

Nagy, der legitime Kandidat aller nationalistischen Bestrebungen, war unfähig, die Ruhe wieder herzustellen. Es gelang ihm nie, das Vertrauen der Arbeiter zu gewinnen und sie zur Abgabe der Waffen zu bewegen, weil die Arbeiter im Gegensatz zu den Intellektuellen und einem Teil der ungarischen Armee nicht für „die nationale Befreiung“ kämpften; obwohl sie durch die herrschende Propaganda und die patriotischen Gesänge auch angesteckt werden mochten, lehnten sie sich im Grunde gegen den Terror und die Ausbeutung auf.

Am 4. November, im selben Zeitpunkt, als Moskau Nagy durch Janos Kadar ersetzte, drangen 6000 sowjetische Tanks in die Hauptstadt ein und eröffneten eine zweite Runde, um den Aufstand endgültig niederzuschlagen. Aus diesem Grund ging die ganze Gewalt des Angriffs auf die Arbeitervororte nieder: auf das rote Csepel, Ujpest, Köbanya, Dunapentele. Trotz einer 100-fachen Überlegenheit des Feindes an Menschen und Waffen schlugen sich die Arbeiter weiter und wehrten sich wie Löwen. „In Csepel sind die Arbeiter zum Kampf entschlossen. Am 7. November wird das Gebiet durch Artillerie beschossen und von Flugzeugen bombardiert. Am nächsten Tag kommt ein sowjetischer Abgesandter, um zu versuchen, die Arbeiter zur Kapitulation zu bewegen. Sie lehnen ab, und der Kampf dauert an. Am folgenden Tag erlässt ein weiterer Offizier eine letzte Aufforderung: Wenn sie die Waffen nicht abgäben, werde das Viertel ausgelöscht. Einmal mehr lehnten die Aufständischen ab, sich zu ergeben. Der Artilleriebeschuss wurde immer stärker. Die sowjetischen Streitkräfte benützten Raketenwerfer, die ernste Schäden an den Fabriken und an den benachbarten Gebäuden verursachten. Als ihnen die Munition ausging, stellten die Arbeiter den Kampf ein.“ (Budapest, der Aufstand, François Fejtö.)

Nur der Hunger und der Mangel an Munition schienen die Kämpfe und den Arbeiterwiderstand beenden zu können.

Die Arbeiterviertel blieben völlig niedergemäht zurück, und gewisse Schätzungen gehen von mehreren Zehntausenden von Toten aus. Trotz dieser Massaker dauerte der Streik während einiger weiterer Wochen an. Auch nach seinem Ende gab es immer noch sporadische Widerstandsaktionen bis in den Januar 1957.

Die wieder entstandene Organisationsform der Arbeiterräte

Der Mut, die Revolte gegen das Elend, der Überdruss über die Ausbeutungsbedingungen und den stalinistischen Terror sind die Schüsselelemente, um diesen kämpferischen Widerstand der ungarischen Arbeiter zu erklären, aber ein weiterer wichtiger Faktor ist hinzuzufügen: die Tatsache, dass diese Revolte durch Arbeiterräte organisiert wurde.

In Budapest wie in der Provinz war ein wesentliches Merkmal des Aufstandes die Bildung von Räten. Zum ersten Mal nach fast 40 Jahren fanden die ungarischen Arbeiter in ihrem Kampf gegen die stalinistische Bürokratie spontan die Form der Organisation und der proletarischen Macht wieder, die ihre Väter zum ersten Mal in Russland im Laufe der Revolution von 1905 sowie in der revolutionären Welle schufen, die im Jahre 1917 von Petrograd ausging und 1919 auch Budapest mit seiner kurzen Räterepublik erreichte. Vom 25. Oktober 1956 an wurden die Städte Dunapentele, Szolnok (wichtiger Eisenbahnknotenpunkt), Pécs (mit den Bergwerken des Südwestens), Debrecen, Szeged, Miskolc, Györ, durch Arbeiterräte geführt, die die Bewaffnung der Aufständischen und die Versorgung organisierten und die wirtschaftlichen und politischen Forderungen stellten.

Auf diesem Weg wurde der Streik in den wichtigsten industriellen Zentren Ungarns mit Geschick geführt. So grundlegende Sektoren für die Mobilität des Proletariats wie die Transporte, so lebenswichtige Bereiche wie die Krankenhäuser und die Stromerzeugung funktionierten in vielen Fällen auf Befehl der Räte weiter. Ebenso bildeten und kontrollierten die Räte beim Aufstand die Arbeitermilizen, verteilten die Waffen (unter Kontrolle der Arbeiter der Zeughäuser) und forderten die Auflösung einiger Organisationen, die vom Regime ausgingen.

Schon am 25. Oktober rief der Rat von Miskolc die Arbeiterräte aller Städte dazu auf, „ihre Anstrengungen zu koordinieren, um eine einzige und einheitliche Bewegung zu schaffen“; allerdings gestaltete sich die Umsetzung dieses Vorhabens viel langsamer und chaotischer. Nach dem 4. November gab es in Csepel einen Versuch, auf der Ebene der Distrikte die Aktivitäten der Räte zu koordinieren. Im 13. und 14. Distrikt wurde ein erster Arbeiterdistriktrat gebildet. Später, am 13. November, regte der Rat von Ujpest die Schaffung eines mächtigen Rates für die ganze Hauptstadt an; dies war die Geburt des zentralen Rates von Großbudapest. Erster, wenn auch später Schritt in Richtung einer vereinten Macht der Arbeiterklasse.

Doch für die ungarischen Arbeiter war die politische Rolle der Räte – die eigentlich den Kern dieses Organs ausmacht, das ja dazu bestimmt ist, die Macht zu ergreifen - nur ein Zufallsprodukt, eine Funktion, die die Lage mangels Alternative aufdrängte, bis die „Spezialisten“, die „Experten der Politik“ sich wieder einrichteten und die Zügel der Macht in die Hand nahmen: „Niemand schlägt vor, dass die Arbeiterräte selbst die politische Vertretung der Arbeiter sein könnten. Sicherlich... der Arbeiterrat musste bestimmte politische Funktionen ausüben, denn er widersetzte sich einem Regime, und die Arbeiter hatte keine andere Vertretung, aber aus der Sicht der Arbeiter war dies nur eine einstweilige Lösung“ (Zeugenaussage von Ferenc Töke, Vizepräsident des zentralen Rates von Großbudapest).

Die Grenzen der Bewegung und der Räte

Wir berühren hier eine der wichtigsten Grenzen des Aufstandes: das schwache Bewusstseinsniveau des ungarischen Proletariats, das ohne revolutionäre Perspektive und ohne die Unterstützung der Arbeiter aller Länder keine Wunder vollbringen konnte. In der Tat bewegten sich die Ereignisse in Ungarn  gegen den Strom, in einer finsteren Zeit, nämlich derjenigen der Konterrevolution, die auf der Arbeiterklasse des Ostens wie des Westens lastete.

Es trifft zu, dass die Arbeiter die Triebkraft des Aufstandes gegen die Regierung bildeten, die durch die russischen Panzer unterstützt wurde. Doch wenn diese Bewegung ihr proletarisches Wesen im entschlossenen Widerstand gegen die Ausbeutung zum Ausdruck brachte, so wäre es umgekehrt falsch, die gigantische Kampfbereitschaft der ungarischen Arbeiter als eine Äußerung des revolutionären Bewusstseins zu sehen. Der Arbeiteraufstand von 1956 stellt unweigerlich einen Rückgang des Bewusstseinsniveaus der Proletarier im Vergleich zu demjenigen in der revolutionären Welle von 1917-1923 dar. Während die Arbeiterräte am Ende des Ersten Weltkrieges sich als politische Organe der Arbeiterklasse verstanden, Ausdruck ihrer Diktatur waren, stellten die Räte von 1956 zu keinem Zeitpunkt den Staat in Frage. Der Arbeiterrat von Miskolc verkündete zwar am 29. Oktober „die Abschaffung der AVH“ (die ohne weiteres mit dem Terror des Regimes identifiziert wurde), fügte aber gleich hinzu, dass „die Regierung sich nur auf zwei Streitkräfte stützen darf, die nationale Armee und die gewöhnlichen Polizei“. Der kapitalistische Staat wurde nicht bloß nicht in seiner Existenz bedroht, sondern seine zwei Hauptlinien der bewaffneten Verteidigung wurden bewahrt.

Demgegenüber erkannten die Räte von 1919, die das historische Ziel ihres Kampfes klar begriffen, sofort die Notwendigkeit, die Armee aufzulösen. Damals gaben die Arbeiter der Fabriken von Csepel zur gleichen Zeit, als sie die Räte bildeten, die Losungen aus:

„- Sturz der Bourgeoisie und ihrer Institutionen

- es lebe die Diktatur des Proletariats

- Mobilisierung für die Verteidigung der revolutionären Errungenschaften durch die Bewaffnung des Volkes“.

Im Jahre 1956 gingen die Räte so weit, dass sie sich selbst die Hände banden, indem sie sich als einfache Organe der wirtschaftlichen Fabrikverwaltung definierten: „Unsere Absicht bestand nicht darin, eine politische Rolle zu beanspruchen. Wir dachten im Allgemeinen, dass es in der Politik ähnlich wie in der Wirtschaft, wo die Führung den Spezialisten überlassen wird, Experten braucht, die diese Aufgabe übernehmen.“ (Ferenc Töke). Manchmal verstanden sie sich sogar als eine Art Unternehmensausschuss: „Die Fabrik gehört den Arbeitern, diese bezahlen dem Staat Steuern, die auf Grund der Produktion von Dividenden berechnet werden, die nach den Gewinnen festgelegt sind... der Arbeiterrat entscheidet im Konfliktfall über die Beschäftigung und die Entlassung der Arbeiter“ (Resolution des Rates von Großbudapest).

In dieser dunklen Periode der fünfziger Jahre war das internationale Proletariat ausgeblutet. Die Aufrufe des Rates von Budapest an „die Arbeiter der restlichen Welt“ zugunsten von „Solidaritätsstreiks“ blieben toter Buchstabe. Und ähnlich wie ihre Klassenbrüder in den anderen Ländern hatten die ungarischen Arbeiter (trotz ihres Mutes), ein sehr geschwächtes Bewusstsein. Auf diesem Hintergrund tauchten die Räte instinktiv auf, aber ihre eigentliche Bestimmung, die Machtergreifung, konnte sich nicht verwirklichen. Die Räte von 1956 waren „Form ohne Inhalt“, sie können nur als „unvollendete“ Räte oder im besten Fall als Entwurf von Räten aufgefasst werden.

Umso einfacher ist es für die ungarischen Offiziere und die Intellektuellen, die Arbeiter im Gefängnis der nationalistischen Ideen einzuschließen, und für die russischen Panzer, sie zu massakrieren.

Während die Räte von den Arbeitern selbst nicht als politische Organe aufgefasst wurden, so sahen sie Kadar, das russische Oberkommando und die großen westlichen Demokratien aufgrund ihrer Erfahrungen durchaus als höchst politische Organe an. In der Tat entsprach die Niederschlagung des ungarischen Proletariats trotz all seiner Schwächen, die mit der damaligen Periode zusammenhingen, der ständigen Furcht, welche die Bourgeoisie angesichts jedes Ausdrucks des proletarischen Kampfes packt.

Von Anfang an, als Nagy von der Entwaffnung der Arbeiterklasse sprach, dachte er natürlich an die Maschinengewehre, aber auch und besonders an die Räte. Und als Janos Kadar die Macht im November wieder herstellte, drückte er genau dasselbe Anliegen aus: die Räte müssen „wieder unter Kontrolle gebracht und von den Demagogen gesäubert werden, die da nichts zu suchen haben“.

Ebenso widmeten sich die Gewerkschaften im Solde des Regimes seit dem Auftauchen der Räte derjenigen Arbeit, die sie am besten kennen: der Sabotage. Als der Nationale Gewerkschaftsrat (NGR) “den Arbeitern und den Angestellten vorschlägt, ... mit der Wahl von Arbeiterräten in den Fabriken, den Betrieben, den Bergwerken und an allen Arbeitsorten zu beginnen...“, so geschah dies nur, um sie besser zu kontrollieren, ihre Tendenz zur Beschränkung auf wirtschaftliche Aufgaben zu verstärken, sie daran zu hindern, die Frage der Machtergreifung zu stellen, und sie in den Staatsapparat zu integrieren. „Der Rat der Arbeiter wird für seine Verwaltung vor allen Arbeitern und vor dem Staat verantwortlich sein... [die Räte] haben unmittelbar die wesentliche Aufgabe, die Wiederaufnahme der Arbeit zu gewährleisten, die Ordnung und die Disziplin wiederherzustellen und zu garantieren.“ (Erklärung des Vorsitzes des NGR am 27. Oktober).

Glücklicherweise genossen die Gewerkschaften, die unter der Herrschaft von Rákosi ernannt worden waren, nur sehr wenig Glaubwürdigkeit unter den Arbeitern, wie es diese Richtigstellung beweist, die durch den Rat von Großbudapest am 27. November verabschiedet wurde: „Die Gewerkschaften versuchen gegenwärtig, die Arbeiterräte als Ergebnis des Kampfes der Gewerkschaften darzustellen. Es ist überflüssig darauf hinzuweisen, dass es sich dabei um eine haltlose Behauptung handelt. Einzig und allein die Arbeiter kämpften für die Schaffung der Arbeiterräte, und der Kampf dieser Räte wurde in vielen Fällen durch die Gewerkschaften gestört, die sich hüteten, ihnen zu helfen.“

Die Komplizenschaft der demokratischen Bourgeoisie mit der stalinistischen Repression

Am 6. Dezember begannen die Verhaftungen der Mitglieder der Räte (ein Vorspiel zu weiteren massenhafteren und blutigeren Festnahmen). Russische Truppen und die AVH umzingelten mehrere Fabriken. Auf der Insel von Csepel sammelten Hunderte von Arbeitern die wenigen Kräfte, die ihnen verblieben und lieferten der Polizei eine letzte Schlacht, um sie daran zu hindern, in die Fabriken einzudringen und Verhaftungen vorzunehmen. Am 15. Dezember wurde die Todesstrafe für die Beteiligung an Streiks durch Ausnahmegerichte in die Praxis umgesetzt, die befugt waren, die als „schuldig“ verurteilten Arbeiter auf der Stelle zu exekutieren. Girlanden von Gehängten zierten die Brücken der Donau.

Am 26. Dezember erklärte György Marosan, Sozialdemokrat und Minister von Kadar, dass die Regierung nötigenfalls 10’000 Menschen töten werde, um zu beweisen, dass sie, und nicht die Räte die wahre Ordnungsmacht ist.

Hinter der Repression durch Kadar stand die Entschlossenheit des Kremls, die Arbeiterklasse zu zermalmen. Für Moskau ging es nicht bloß darum, den nach Unabhängigkeit strebenden Satelliten die Flügel zu stutzen, sondern vor allem das Gespenst des proletarischen Selbstbewusstseins und ihres Sinnbilds, des Arbeiterrates, zu vernichten. Deshalb unterstützten die Titos, Maos und alle Stalinisten der ganzen Welt die Linie des Kremls bedingungslos.

Auch der Block der großen Demokratien stellte der Repression einen Persilschein aus. Der amerikanische Botschafter in Moskau, Charles Bohlen, erzählte in seinen Memoiren, dass er am 29. Oktober 1956 von Staatssekretär John Foster Dulles beauftragt worden war, den sowjetischen Führern Chruschtschow, Schukow und Bulganin  eine dringliche Mitteilung zu übermitteln. Dulles ließ den Machthabern der UdSSR sagen, dass die Vereinigten Staaten weder Ungarn noch sonst einen Satelliten als möglichen militärischen Verbündeten betrachteten. Mit anderen Worten: „Sie sind bei sich zu Hause Herr und Meister.“

Entgegen allen Lügen, die die Bourgeoisie nicht aufgehört hat, über den Aufstand von 1956 in Ungarn zu verbreiten, war er in der Tat ein Kampf der Arbeiter gegen die kapitalistische Ausbeutung. Zwar war die Periode nicht günstig. Die Gesamtheit der Arbeiterklasse schaute nicht mehr Richtung weltweite revolutionäre Welle, wie dies noch 1917-1923 der Fall war, als im März 1919 eine leider nur kurzlebige ungarische Räterepublik das Licht der Welt erblickte. Aus diesem Grund konnten sich die ungarischen Arbeiter 1956 die Überwindung des Kapitalismus und die Übernahme der Macht gar nicht zur Aufgabe machen, was auch ihr fehlendes Verständnis für das höchst politische und subversive Wesen der Räte erklärt, die sie im Laufe ihres Kampfes schufen. Und doch ist es die wirklich revolutionäre Natur des Proletariats selbst, die soeben mutig durch die Revolte der ungarischen Arbeiter und ihre Räteorganisation erneut bestätigt wurde; die Bestätigung der historischen Rolle des Proletariats, wie es Tibor Szamuelly[7] [14] im Jahre 1919 formuliert hatte: „Unser Ziel und unsere Aufgabe ist die Zerstörung des Kapitalismus.“

Jude, 28. Juli 2006


[1] [14] Früherer Militärkommandeur Ungarns und Diktator von 1920 bis 1944.

[2] [14] Generalsekretär der Kommunistischen Partei Ungarns KPU und Premierminister nach 1952.

[3] [14] Als Führer der NKVD in Spanien organisierte Gerö im Juli 1937 die Entführung und Ermordung von Erwin Wolf, einem engen Mitarbeiter Trotzkis. Er kehrte 1945 nach Ungarn zurück, um seine Arbeit als stalinistischer Schlächter in der Rolle des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei Ungarns weiterzuführen. 

[4] [14] Ein russisches Wort, welches die Erhöhung der Arbeitkadenz bis zum Letzten beschreibt.

[5] [14] Sandor Kopasci: „Im Namen der Arbeiterklasse“

[6] [14] Am 13. Juni 1953 wurde Nagy im Zuge der Entstalinisierung anstelle von Rákosi zum Premierminister ernannt. Trotz der Propaganda für einen „nationalen und menschlichen Sozialismus“ flammte der Machtkampf innerhalb der Partei erneut auf und es war die stalinistische Gruppe um Rákosi, welche den Sieg davon trug. Nagy wurde am 14. April 1955 durch die Führung der ungarischen Kommunistischen Partei seines Amtes enthoben und einige Monate später aus der Partei ausgeschlossen.  

[7] [14] Tibor Szamuelly war eine führende Figur in der ungarischen Arbeiterbewegung und ein glühender Verfechter der Gründung einer Kommunistischen Einheitspartei, die Marxisten und Anarchisten vereinen sollte und schließlich im November 1918 auch gegründet wurde. Ihr Programm beinhaltete die Diktatur des Proletariats. Er verteidigte entschlossen die Revolution in Ungarn und wurde im August 1919 von den konterrevolutionären Kräften hingerichtet.

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [15]

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Links
[1] https://de.internationalism.org/tag/2/40/das-klassenbewusstsein [2] https://de.internationalism.org/content/1435/der-kommunismus-der-beginn-der-wirklichen-geschichte-der-menschheit-serie-iii-teil-1 [3] https://de.internationalism.org/tag/1/194/kommunismus-keine-schoene-utopiesondern-eine-notwendigkeit [4] https://de.internationalism.org/tag/3/45/kommunismus [5] https://de.internationalism.org/content/1437/die-theorie-der-dekadenz-im-zentrum-des-historischen-materialismus [6] https://de.internationalism.org/tag/2/25/dekadenz-des-kapitalismus [7] https://de.internationalism.org/klima/39#_ftn1 [8] https://de.internationalism.org/klima/39#_ftnref1 [9] https://de.internationalism.org/tag/3/52/umwelt [10] https://de.internationalism.org/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/internationale-kommunistische [11] https://de.internationalism.org/tag/theoretische-fragen/arbeiterklasse [12] https://de.internationalism.org/tag/2/24/marxismus-die-theorie-der-revolution [13] https://de.internationalism.org/content/1445/interne-debatte-der-iks-marxismus-und-ethik-teil-ib [14] https://de.internationalism.org/content/1436/ungarn-1956-ein-proletarischer-aufstand-gegen-den-stalinismus [15] https://de.internationalism.org/tag/2/29/proletarischer-kampf