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Internationale Revue 41

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Internationale Revue Nr. 41

Editorial - USA: Die Lokomotive der Weltwirtschaft ... fährt auf den Abgrund zu

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Es sind wahrlich harte Zeiten für die Weltwirtschaft seit der anhaltenden Immobilienkrise, die während des letzten Jahres in den USA ausbrach. Die Situation war seit dem Beginn der offenen Krise des Kapitalismus Ende der 1960er Jahre noch nie so heikel wie heute, auch wenn die herrschende Klasse all ihre Mittel einsetzt, um die Auswirkungen einzudämmen:

- Die Immobilienkrise in den USA hat sich in eine weltweite Finanzkrise ausgeweitet, begeleitet durch den schallenden Lärm über die Zahlungsunfähigkeit der amerikanischen und europäischen Banken.[i] Diejenigen Bankinstitute, welche nicht scheiterten, schafften es nur mit Hilfe von Rettungsszenarien durch den Staat. Und es gibt grosse Ängste, dass viele Banken, die aus verschiedenen Gründen kurz vor dem Abgrund standen, in einer potentiellen Krisensituation stecken, was wiederum die Gefahr eines noch größeren Finanzkrachs birgt.

- Die Zeichen stehen deutlich auf einer Verlangsamung der ökonomischen Aktivitäten, wenn man die Rezession, in einigen Ländern, darunter den USA, betrachtet. Die herrschende Klasse hat die verschiedenen Rezessionen mit denen sie seit den 1970er Jahren konfrontiert war, mit einer verstärkten Verschuldung überwunden. Der Aufwand war jedes Mal größer, der Effekt jedes Mal geringer. Wird sie ein erneutes Mal die kommende Rezession austricksen können, wenn dazu lediglich das Mittel einer enormen Erhöhung der weltweiten Verschuldung existiert und damit das Risiko eines Zusammenbruchs des internationalen Kreditsystems?

- Das Sinken der Börsenkurse mit gelegentlich brutalen Einbrüchen erschüttert das Vertrauen in die Grundlage der Börsenspekulation, deren Erfolge es zeitweise erlaubt haben, die Probleme der realen Ökonomie zu verschleiern. Diese Erfolge haben stark zur Erhöhung der Profitrate vieler Unternehmen seit Mitte der 1980er Jahre beigetragen und sie bilden die Basis eines verankerten Mythos, der aber heute in Frage gestellt wird, dass unabhänging von allen unvorhergesehenen Risiken die Börsenkurse nichts anderes als steigen würden.

- Die Militärausgaben, das sieht man deutlich in den USA, bilden eine immer unüberwindbarere Bürde für die Wirtschaft. Sie können nicht einfach willentlich zurückgeschraubt werden. Sie sind die Konsequenz des immer größeren Gewichtes, welches der Militarismus in der Gesellschaft einnimmt. Denn durch die immer unlösbarer werdenden ökonomischen Probleme ist jede Nation gezwungen, die Flucht nach vorne in den Krieg zu ergreifen.

- Die erneute Inflation ist für die Bourgeoisie in zweifacher Weise ein Schreckgespenst. Einerseits ist sie eine Bremse für den Warenhandel, weil sie immer schwerer vorhersehbare Schwankungen des Warenhandels mit sich bringt. Auf der anderen Seite, weil sie noch mehr als die Antwort der Arbeiterklasse auf die Angriffe durch Arbeitslosigkeit, den Verteidigungskampf der Arbeiterklasse um eine Erhöhung der Löhne gegen die Erhöhung der Preise und damit eine Generalisierung der Arbeiterkämpfe über die Sektoren hinweg hervorruft. Die Instrumente, über welche die Bourgeoise heute noch verfügt, um der Inflation entgegenzuwirken, die harte Sparpolitik und die Ausgabenreduktion des Staates, werden konsequent eingesetzt, doch sie verschärfen lediglich den Kurs in Richtung Rezession.

Die heutige Situation ist nicht einfach eine Wiederholung all der Auswirkungen der Krise seit Ende der 1960er Jahre. Sie ist eine Konzentration der Krise in einer viel geballteren und explosiveren Form und führt zu einer ökonomischen Katastrophe neuer Schärfe, die das System in Frage stellt. In den vergangenen Jahrzehnten war es oft die Aufgabe der mächtigsten Wirtschaftsmacht der Welt, die Lokomotive zu spielen und Rezessionen zu vermeiden oder zu überwinden. Heute aber ist der Effekt, den die USA auf die gesamte Welt hat, ein umgekehrter: hin zur Rezession und auf den Abgrund zu.

Die Verschärfung der Wirtschaftskrise in den USA

George Bush ist gewiss der größte Optimist in den USA und vielleicht ist er mit diesem Optimismus alleine, wenn man die wirtschaftliche Situation des Landes betrachtet. Am 28. Februar, in Gewissheit des Risikos einer Verlangsamung der Wirtschaft, erklärte der Präsident: „Ich denke nicht, dass wir einer Rezession entgegen gehen (...). Ich glaube, dass die Grundlagen unserer Wirtschaft in guter Gesundheit sind (...), dass das Wachstum anhält und auch noch in einer robusteren Art anhalten wird als heute. Wir haben immer noch einen starken Dollar auf unserer Seite."[ii] Zwei Wochen später, am 14. März in einer Sitzung von Ökonomen in New York, wiederholte der Präsident seinen optimistischen Standpunkt und sprach sein Vertrauen in die „schlagfertige" Kapazität der US-Wirtschaft aus. Dies am selben Tag, als die US-Staatsbank und die JP Morgan Bank sich zusammenrauften, um einen Rettungsplan für die Bear Stearns Bank, eine große Börsenanlage-Bank an der Wall Street, auf die Beine zu stellen, die durch einen massiven Anlagenrückzug von Seiten ihrer Klienten betroffen war. Ein Szenario, das an die große Depression von 1929 erinnert. Am selben Tag spielte sich zudem folgendes ab: Der Preis für ein Fass Öl erreichte eine Rekordhöhe von 111 Dollar, und dies trotz höherem Angebot als herrschender Nachfrage; die Regierung kündigte eine Intensivierung der Immobilienpfändungen um 60% für den Februar an; der Stand des Dollars gegenüber dem Euro erreichte ein Rekordtief. Auch die realitätsferne Negierung der Wirklichkeit des Herrn Bush lässt nicht übersehen, wie die angebliche Prosperität durch den Immobilienboom und die Immobilienblase der letzten Jahre den Weg in eine ökonomische Katastrophe eröffnet hat. Im wirtschaftlich mächtigsten Land der Welt, sowie auf internationaler Ebene, ist die Wirtschaftskrise wieder in den Brennpunkt gerückt.

Die Immobilienkrise: Symptom eines Systems in permanenter Krise

Seit Beginn des Jahres 2007, als die ersten Anzeichen für ein Ende des Immobilienbooms manifest werden, diskutiert die Clique der bürgerlichen Ökonomen über die Möglichkeit einer Rezession in den USA. Seit Anfang 2008 tauchen immer mehr „pessimistische" Wirtschaftsprognosen auf, die schon von einer Rezession seit Dezember 2007 ausgehen, gegenüber den „Optimisten", welche auf ein Wunder warten. Zwischen den beiden Lagern befinden sich jene, die sich nicht auf die Äste hinauslassen und behaupten, dass sich „die Wirtschaft sowohl in die eine als auch in die andere Richtung entwickeln" könne. Doch die Situation hat sich in den vergangenen Monaten dermaßen schnell zugespitzt (außer vielleicht für Herrn Bush), dass es kaum mehr Platz gibt für Optimismus oder „Zentrismus". Heute sind sie sich einig darüber, dass die schönen Zeiten vorüber sind. Mit anderen Worten: Die US-Ökonomie befindet sich heute in einer Rezession, oder zumindest an deren Beginn.

Dass die Bourgeoisie die Schwierigkeiten des US-amerikanischen Kapitalismus anerkennt, ändert aber kaum etwas an ihrem Verständnis über die wirkliche Lage des gesamten Systems. Die gebräuchliche Beschreibung einer Rezession von Seiten der herrschenden Klasse ist folgende: ein negatives Wirtschaftswachstum während zwei aufeinander folgenden Quartalen. Das National Bureau of Economic Research verwendet eine andere Definition, welche einen Hauch brauchbarer ist. Es definiert die Rezession als einen bedeutsamen und anhaltenden Niedergang aller wirtschaftlichen Aktivitäten, sichtbar an den Einkünften, dem Beschäftigungsgrad, dem Warenverkauf und der industriellen Produktion. Auf der Basis dieser Definition kann die herrschende Klasse eine Rezession nur erkennen, wenn sie schon eine gewisse Zeit andauert, und oft erst dann, wenn das Schlimmste schon vorbei ist. Nach gewissen Aussagen müsse man dann noch einige Monate warten, bis man, diesen Kriterien folgend, wisse, ob bereits eine Rezession herrsche oder ob sie erst beginne.

All die Prognosen, welche die Wirtschaftsseiten der Zeitungen füllen, sind sehr trügerisch. Sie tragen nur dazu bei, den katastrophalen Zustand des amerikanischen Kapitalismus zu verschleiern, der sich in den kommenden Monaten nur verschlechtern kann und dann wohl als das offizielle Datum des Eintritts der Wirtschaft in die Rezession dargestellt werden wird.

Es ist wichtig zu sehen, dass die gegenwärtige Krise keinesfalls eine ansonsten „gute Gesundheit" der US-amerikanischen Wirtschaft widerspiegelt, die gerade eine schlechte Phase in einem ansonst normalen Zyklus von Expansion und Rezession durchmacht. Was wir heute erleben, sind Erschütterungen eines Systems, das sich in einer permanenten Krise befindet und das ab und zu durch trügerische Heilmittel kurze Momente der Erholung erlebt, die dann den nächsten Absturz noch schlimmer machen.

Das ist die Geschichte des amerikanischen Kapitalismus - und des Kapitalismus insgesamt - seit dem Ende der 1960er Jahre und der Rückkehr der offenen Wirtschaftskrise. Während vier Jahrzehnten, durch Phasen des Aufschwungs und der offiziell anerkannten Rezession hat die gesamte Wirtschaft den Schein, dass sie funktioniere, nur dank staatskapitalistischer Maßnahmen auf den Ebenen der Geld- und der Steuerpolitik aufrecht erhalten können, die die Regierungen gezwungen sind zu ergreifen, um die Auswirkungen der Krise zu bekämpfen. Aber die Lage ist nicht statisch geblieben. Während all diesen Jahren der Krise und der Staatsinterventionen zu deren Management hat die Wirtschaft so viele Widersprüche angehäuft, dass heute eine reale Gefahr einer wirtschaftlichen Katastrophe besteht, wie sie in der Geschichte des Kapitalismus noch nie zu sehen war.

Nach dem Zerplatzen der Internet- und Technologieblase 2000-2001 hat sich die Bourgeoisie in eine neue Blase geflüchtet, diejenige des Immobilienmarktes. Obwohl die Spitzenbereiche des industriellen Sektors, wie die Autoindustrie oder die Flugzeugherstellung, weiterhin Pleiten erlebten, schaffte der Immobilienboom der letzten fünf Jahre die Illusion einer expandierenden Ökonomie. Doch dieser Boom hat sich nun in einen Krach verwandelt, der das ganze Gebäude des kapitalistischen Systems erschüttert und der in der Zukunft Auswirkungen haben wird, die noch niemand voraussehen kann.

Nach den jüngsten Daten sind sämtliche Transaktionen im privaten Immobilienbereich ins Trudeln geraten. Die Erstellung von Neubauten ist schon um rund 40% zusammengebrochen im Vergleich zum Kulminationspunkt im Jahr 2006, und die Verkäufe sind noch schneller abgesackt, was einen Preiseinbruch nach sich gezogen hat. Der Preis der Häuser ist im ganzen Land um 13% gesunken seit dem Höhepunkt 2006, und es wird erwartet, dass er um weitere 15 bis 20% fallen wird, bis er die Talsohle erreicht hat. Der Immobilienboom hinterlässt eine gewaltige Anzahl von leerstehenden Wohnungen, die nicht verkauft worden sind - ungefähr 2,1 Millionen, also etwa 2,6% der Gesamtzahl im ganzen Land. Im letzten Jahr waren die Zwangsversteigerungen im Großen und Ganzen auf die Subprime-Hypothekarkredite beschränkt, die Leuten gewährt worden waren, denen im Grunde genommen die Mittel fehlten, um sie zurück zu bezahlen. Etwa ein Viertel dieser Darlehen befanden sich im letzten November im Zahlungsstopp. Die Zahlungsunfähigkeit beginnt jetzt aber zunehmend auch diejenigen zu ergreifen, deren finanzielle Lage noch relativ gut ist. Im November befinden sich 6,6% der Schuldner im Zahlungsverzug, wenn nicht sogar im Verfahren der Zwangsversteigerung. Ein schlechtes Vorzeichen ist, dass der Höhepunkt der Immobilienzwangsversteigerungen stattfindet, noch bevor die Zinssätze auf den Hypothekarkrediten erhöht werden. Mit dem Zusammenbruch der Immobilienpreise, der mit der Krise einhergeht, erlaubt der Wert der Häuser vieler Leute nicht mehr die Rückzahlung ihrer Hypothekarschulden, so dasss ihnen der Verkauf des Hauses nicht nur keinen Gewinn einbrächte, sondern ihnen sogar noch eine Schuld aufbürdete. Das führt zu einer Situation, in welcher es finanziell gesehen klüger ist, seine Verpflichtungen loszuwerden, indem man Privatkonkurs erklärt.

Das Platzen der Immobilienblase zieht den Finanzsektor in Mitleidenschaft. Bis jetzt hat die Immobilienkrise bei den größten Finanzinstituten Verluste von mehr als 170 Milliarden Dollar verursacht. Milliarden von Dollar an Börsenwerten sind vernichtet, die Wall Street erschüttert worden. Unter den Großen, die 2007 mindestens ein Drittel ihres Wertes verloren haben, kann man Fannie Mae, Freddie Mac, Bear Stearns, Moody's und Citigroup nennen.[iii] MBIA, eine Gesellschaft, die sich auf die Garantie der finanziellen Gesundheit anderer Gesellschaften spezialisiert hat, hat fast drei Viertel ihres Wertes verloren! Verschiedene Firmen, die im Bereich der Hypothekarkredite tätig und an der Börse besonders hoch kotiert gewesen sind, sind bankrott gegangen.

Und dies ist erst der Anfang. Mit der zu erwartenden Zunahme der Zwangsversteigerungen in den nächsten Monaten werden die Banken weitere Verluste einstecken müssen, und die plötzliche Knappheit an Krediten (der credit crunch) wird sich weiter zuspitzen, was auch die anderen Bereiche der Wirtschaft in Mitleidenschaft ziehen wird.

Von der Immobilienkrise zur Kreditkrise

Außerdem stellt die Finanzkrise, die mit den Hypothekarkrediten zusammenhängt, nur die Spitze des Eisbergs dar. Die unvorsichtigen Kreditpraktiken, die den Immobilienmarkt beherrscht haben, gelten auch in den Bereichen der Kreditkarten und des Autokredits, in denen sich die Probleme ebenfalls ausbreiten. Und genau diese Bereiche stellen den Kern der gegenwärtigen „Gesundheit" des Kapitalismus dar. Sein kleines, ja nicht zu verratendes Geheimnis ist die Perversion des Kreditmechanismus mit dem Zweck, dem Mangel an zahlungsfähigen Märkten zu begegnen, auf denen er seine Waren verkaufen muss. Der Kredit ist wesentlich das Mittel geworden, die Wirtschaft künstlich aufrechtzuerhalten und zu verhindern, dass das System unter dem Gewicht seiner historischen Krise zusammenbricht. Ein Mittel, das bereits seine Grenzen und Risiken offenbart hat: Schon in den 80er Jahren folgte die Finanzkrise der Pleite der Staaten in Lateinamerika, die mit gewaltigen Darlehen eingedeckt worden waren, die sie nie und nimmer zurückzahlen konnten; der Zusammenbruch der asiatischen Tiger und Drachen in den Jahren 1997 und 1998 stellte eine Wiederholung der Geschichte dar. In der Tat war die Immobilienblase selbst eine Reaktion auf das Platzen der Internetblase und ein Versuch, diesen Schlamassel zu überwinden.

Die derzeitige Finanzkrise hat ganz andere Ausmaße, die sich aus der schleichenden Spekulation ergeben, welche die Immobilienblase begleitet hat. Es handelt sich dabei nicht um eine nebensächliche Spekulation eines Investors, der ein Haus kauft, um es bei steigenden Preisen gleich wieder mit Gewinn weiter zu verkaufen. Das ist eine Lappalie. Was ins Gewicht fällt, ist vielmehr die Spekulation im großen Stil, die alle Finanzinstitute durch Verbriefung[iv] und Verkauf von Hypothekarforderungen an den Börsen betreiben. Die Mechanismen dieser Abläufe werden nicht genau durchschaut, sie ähneln in vielerlei Hinsicht dem Ponzi-Trick.[v] Was diese gewaltige Spekulation aufzeigt, ist das Ausmaß, in dem die Wirtschaft eine „Kasino-Wirtschaft" geworden ist, in der das Kapital nicht mehr in der realen Produktion investiert, sondern für Wetten eingesetzt wird.

Die derzeitige Krise enthüllt den Betrug des Liberalismus und die Wirklichkeit des Staatskapitalismus

Die amerikanische Bourgeoisie stellt sich gerne als ideologischen Weltmeister des Liberalismus dar. Diese Haltung ist ihrerseits höchst ideologisch. Die Wirtschaft ist durch und durch geprägt von der staatlichen Intervention. Darum geht es in der gegenwärtigen „Debatte" der Bourgeoisie über die Art und Weise, wie die in Bedrängnis geratene Wirtschaft zu verwalten sei. Grundsätzlich wird nichts Neues vorgeschlagen. Dieselben alten währungs- und steuerpolitischen Maßnahmen werden angewandt in der Hoffnung, die Wirtschaft damit zu stimulieren.

Was gegenwärtig gemacht wird, um die Krise abzufedern, läuft auf die altbekannte Methode hinaus - die alten Programme des schnellen Geldes und einfachen Kredits werden lanciert, um der Wirtschaft wieder etwas Boden unter den Füssen zu verschaffen. Die amerikanische Antwort auf den credit crunch (Kreditklemme) lautet: noch mehr Kredit! Die amerikanische Notenbank hat nun seit September 2007 fünfmal den Zinssatz gesenkt und scheint bereit, dies ein weiteres Mal an der für März vorgesehenen Sitzung zu tun. Da die Notenbank weiß, dass dieses Heilmittel nichts ausrichtet, hat sie ihre Intervention auf den Kapitalmärkten erhöht und den an flüssigen Mitteln notleidenden Finanzinstituten billiges Geld angeboten - 200 Milliarden Dollar zusätzlich zu den im letzten Dezember schon angebotenen Milliarden.

Das Weiße Haus und der Kongress haben ihrerseits auch schnell Ankurbelungsmaßnahmen (unter der Bezeichnung „economic stimulus package") vorgeschlagen, die im Wesentlichen auf Steuerreduktionen für Familien und -nachlasse für Unternehmen hinauslaufen und ein Gesetz beinhalten, das die Epidemie der ausbleibenden Schuldentilgung bei Hypotheken eindämmen und den ausgebluteten Immobilienmarkt wiederbeleben soll. Doch angesichts des Ausmaßes der Immobilien- und Finanzkrise wird die Lösung einer massiven staatlichen Sanierung des ganzen Immobiliendebakels immer ernsthafter in Betracht gezogen. Die ungeheuren Kosten einer solchen Maßnahme würden die Summen, die der Staat 1990 zur Rettung der Saving and Loans Industry (Sparkassensystem) zur Verfügung stellte - 124,6 Milliarden Dollar -, als lächerlich erscheinen lassen.

Wie groß die Anstrengungen des Staates, die Krise zu verwalten, schließlich sein werden, bleibt abzuwarten. Offensichtlich ist, dass der Spielraum der Bourgeoisie für ihre wirtschaftspolitischen Maßnahmen je länger je enger wird. Nach Jahrzehnten des Krisenmanagements führt die amerikanische Bourgeoisie eine sehr kranke Wirtschaft. Der gewaltige staatliche und private Schuldenberg, das Bundeshaushaltsdefizit, die Zerbrechlichkeit des Finanzsystems und das enorme Außenhandelsdefizit - all das treibt die Schwierigkeiten der Bourgeoisie, dem Zusammenbruch des Systems zu begegnen, auf die Spitze. In der Tat haben die herkömmlichen Mittel der Regierung, um der Wirtschaft ein wenig neues Leben einzuhauchen, bis jetzt nichts gefruchtet. Im Gegenteil scheinen sie die Krankheit zu verschlimmern, die sie angeblich heilen sollen. Trotz den Anstrengungen der Notenbank, die Kreditvergabe zu entkrampfen, den Finanzsektor zu stabilisieren und den Immobilienmarkt wieder zu beleben, sind Kredite schwierig zu erhalten und teuer. Die Wall Street befindet sich pausenlos auf einer Achterbahn mit gewaltigen Ausschlägen und einer vorherrschenden Tendenz nach unten.

Außerdem trägt die Notenbank-Politik des billigen Geldes zum Wertverlust des Dollars bei, der alle Wochen neue Negativrekorde gegenüber dem Euro und anderen Währungen aufstellt und die Preise der Waren wie des Erdöls steigen lässt. Die Erhöhung der Preise für Energie, Nahrungsmittel und andere Waren, während sich gleichzeitig die Wirtschaft verlangsamt, treibt die Angst bei den „Experten" vor einer „Stagflationsphase" der amerikanischen Wirtschaft an. Die derzeitige Inflation schränkt bereits den Konsum der Bevölkerung ein, die versucht, mit Einkommen zu leben, die nicht steigen und die Arbeiterklasse und andere Sektoren der Bevölkerung zwingen, den Gurt enger zu schnallen.

Die Angriffe gegen die Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten

Die Nachricht des amerikanischen Arbeitsdepartements vom 7. März, dass 63.000 Arbeitsplätze im Land im Laufe des Monats Februar verloren gingen, alarmierte den Bourgeois. Natürlich nicht deshalb, weil er sich über das Schicksal der entlassenen Arbeiter Sorgen macht, sondern weil dieser starke Abbau die schlimmsten Albträume der Wirtschaftsexperten von der Vertiefung der Krise bestätigt. Es war der zweite Beschäftigungsrückgang in Folge und der dritte im Privatsektor. Wie eine Art schlechter Witz auf Kosten der Arbeitslosen mutet an, dass die Quote der Gesamtarbeitslosigkeit von 4,9 auf 4,8% zurückging. Wie war dies möglich? Es geschah aufgrund eines statistischen Tricks, den die Bourgeoisie benützte, um die Zahl der Arbeitslosen zu tief zu veranschlagen. Für die amerikanische Regierung bist du nur dann ein Arbeitsloser, wenn du keine Arbeit hast und während dem vergangenen Monat aktiv einen Arbeitsplatz gesucht hast und bereit bist, im Zeitpunkt der Umfrage zu arbeiten. Die offiziellen Arbeitslosenzahlen unterschätzen denn auch erheblich die Beschäftigungskrise. Sie ignorieren die Millionen amerikanischer Arbeiter, die „entmutigt" sind, nachdem sie ihre Arbeit verloren und die Hoffnung aufgegeben haben, eine neue zu finden; die folglich in den letzten 30 Tagen vor der Umfrage keine neue Stelle gesucht haben; oder die zwar arbeiten wollen, aber zu entmutigt sind, es zu versuchen, da die Anstellung zu erdrückend ist; oder die schlicht nicht für die Hälfte des früheren Lohnes arbeiten wollen; oder (auch dies Millionen) die ganztags arbeiten wollen, aber nur Teilzeitarbeitsstellen finden. Wenn man all diese Arbeiter in die Arbeitslosenstatistiken aufnehmen würde, wäre die Quote deutlich höher. Um die Arbeitslosenziffern noch weiter nach unten zu frisieren, wird seit dem geschickten Trick der Statistiker Ronald Reagans das Militärpersonal in den Vereinigten Staaten zur Arbeitskraft des Landes gerechnet (zuvor ist die Arbeitslosigkeit nur ins Verhältnis zur zivilen Arbeitskraft gestellt worden). Diese Manipulation lässt die Zahl der „Beschäftigten" um etwa zwei Millionen ansteigen.

Der derzeitige Zustand der amerikanischen Wirtschaft lässt Katastrophales für die Ökonomie auf Weltebene befürchten. Die wichtigste Volkswirtschaft der Welt wird auch ihre Mitstreiter hinunter ziehen. Es gibt keine wirtschaftliche Lokomotive, die den Taucher der USA wettmachen und die Weltwirtschaft auf Kurs halten könnte. Der Rückgang des Kredits wird den Welthandel untergraben, der Zusammenbruch des Dollars wird die Importe der USA einschränken, was wiederum die wirtschaftliche Lage der anderen Länder verschlimmern wird. Die Angriffe auf die Lebensbedingungen des Proletariats werden überall brutaler. Wenn es in diesem düsteren Panorama einen Lichtblick gibt, so ist es die durch diese Lage vorangetriebene Rückkehr des Proletariats auf den Boden des Klassenkampfs gegen den Kapitalismus; die Arbeiterklasse wird gezwungen, sich gegen die verheerenden Auswirkungen der kapitalistischen Krise zu Wehr zu setzen.

Die Perspektive der Beschleunigung und Vertiefung der Krise des Kapitalismus geht einher mit der Aussicht auf eine Entwicklung des Klassenkampfs, der seinerseits über die Schritte, die das Proletariat seit der historischen Wiederaufnahme der Klassenkämpfe Ende der 1960er Jahre getan hat, hinausgehen muss.

 

ES/JG, 14. März 2008

 



[i] Siehe dazu unseren Artikel in der Internationalen Revue Nr. 40 „Finanzkrise: Von der Liquiditätskrise zur Liquidierung des Kapitalismus!"

 

[ii] Ein schlecht platzierter Optimismus scheint das Markenzeichen amerikanischer Präsidenten zu sein. Auch Richard Nixon erklärte 1969, zwei Jahre bevor die Krise die USA zwang die Bindung an den Dollar und das gesamte System von Bretton Woods aufzulösen, folgendes: „Wir haben endlich gelernt eine moderne Wirtschaft zu entwickeln die ein kontinuierliches Wachstum erlaubt". Einer seiner Vorgänger, Calvin Coolidge, hatte vor dem amerikanischen Kongress am 4. Dezember 1928 (also kurz vor der Krise von 1929) erklärt: „Kein je versammelter US-Kongress der den Stand der Nation betrachtetet konnte je eine komfortablere Situation wie die heutige feststellen...(Das Land) kann die Gegenwart mit Befriedigung betrachten und der Zukunft mit Optimismus entgegensehen."

 

[iii] Dieser Artikel ist unmittelbar vor der Ankündigung geschrieben worden, dass Bear Stearns - die fünftgrößte Handelsbank der USA - an JP Morgan Chase zu 2 Dollar pro Aktie verkauft wird, was bedeutet, dass die Bank 98% ihres einstigen Wertes verloren hat.

 

[iv] Verbriefung bedeutet die Verwandlung von Forderungen (zukünftigen Zahlungen) oder Eigentumsrechten in handelbare Wertpapiere.

 

[v] Im englischen Sprachraum wird mit „Ponzi Scheme" (Ponzi-Trick) ein Schneeballsystem bezeichnet. Charles Ponzi war ein Immobilienbetrüger in Kalifornien. Ein Schneeballsystem ist ein Geschäftsmodell, bei dem ständig mehr Leute mitmachen müssen, damit es funktioniert. Gewinne für die Teilnehmer entstehen dadurch, dass neue Teilnehmer einsteigen und Geld investieren.

 

Geographisch: 

  • Vereinigte Staaten [1]

Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [2]

Mai 68 und die revolutionäre Perspektive Die weltweite Studentenbewegung in den 1960er Jahren

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Im Januar 1969 erklärte der Präsident der USA, Richard Nixon, bei seiner Amtsübernahme: „Wir haben endlich gelernt, eine Wirtschaft so zu gestalten, dass ihr ständiges Wachstum sichergestellt ist.“ Rückblickend können wir sehen, in welchem Maße dieser Optimismus durch die Wirklichkeit brutal widerlegt wurde. Schon zu Beginn seiner zweiten Amtszeit, vier Jahre später, schlitterten die USA in die schlimmste Rezession seit dem 2. Weltkrieg. Dieser folgten viele andere, die alle jeweils verheerender waren als die vorhergehenden. Aber was weltfremden Optimismus angeht, so war Nixon ein Jahr zuvor von einem viel erfahreneren Staatschef übertroffen worden – dem General de Gaulle, seit 1958 Präsident der französischen Republik und Führer des „freien Frankreich“ während des 2. Weltkriegs. Hatte der große Führer in seiner Neujahresansprache nicht erklärt: „Ich begrüße das Jahr 1968 mit großer Ruhe und Frieden“. In seinem Falle vergingen keine vier Monate, bevor der Optimismus verflogen war. Vier Monate reichten, bis die Ruhe des Generals der größten Verwirrung wich. De Gaulle musste nicht nur einer gewalttätigen und massiven Studentenrevolte entgegentreten, sondern auch dem größten Streik in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung. 1968 war also nicht nur kein Jahr der Ruhe und des Friedens für Frankreich, sondern es war und bleibt bis heute das Jahr mit den größten Erschütterungen seit dem 2. Weltkrieg. Aber nicht nur in Frankreich kam es in jenem Jahr zu großen Erschütterungen. Zwei Autoren, denen man keinen Vorwurf der Beschränkung des Blickes auf Frankreich machen kann, der Engländer David Caute und der Amerikaner Mark Kulansky, machen dazu eindeutige Aussagen: „1968 war das turbulenteste Jahr seit dem
Ende des 2. Weltkriegs. Reihenweise kam es zu Aufständen in Amerika und Westeuropa, bis hin zur Tschechoslowakei. Durch sie wurde die Weltnachkriegsordnung in Frage gestellt.“
[i] „Zuvor hatte es kein Jahr wie 1968 gegeben. Und wahrscheinlich wird es ein Jahr mit solchen Ereignissen nicht mehr geben. Zu einer Zeit, als die Nationen und Kulturen noch gespalten und sehr unterschiedlich waren, (…) tauchte ein rebellischer Geist spontan auf der ganzen Welt auf. Zuvor hatte es schon andere Revolutionsjahre gegeben: 1848 zum Beispiel; aber im Gegensatz zu 1968 waren die Ereignisse auf Europa beschränkt geblieben…“[ii] Während gegenwärtig 40 Jahre nach diesem „heißen Jahr“ in mehreren Ländern eine wahre Flut von Berichten in der Presse und im Fernsehen zu diesem Thema präsentiert wurde, müssen die Revolutionäre auf die wichtigsten Ereignisse von 1968 zurückkommen, nicht so sehr um diese hier detailliert und erschöpfend wieder aufzurollen, sondern um die wirkliche Bedeutung dieser Ereignisse herauszuarbeiten[iii]. Insbesondere müssen sie gegenüber einer heute sehr weit verbreiteten Idee Stellung beziehen, die auch auf der Umschlagseite des Buches von Kurlansky aufgegriffen wird: „Sowohl Historiker als auch Politikwissenschaftler – die Experten der Sozialwissenschaften auf der ganzen Welt sind sich darin einig, dass man zwischen einem Vor-1968 und einem Nach-1968 unterscheiden kann.“ Um es gleich vorweg zu sagen, wir teilen diese Einschätzung, aber sicher nicht aus den gleichen Gründen, wie man sie immer wieder hört: Weil es zu einer „sexuellen Befreiung“, der „Frauenbefreiung“, der Infragestellung familiärer autoritärer Strukturen, der „Demokratisierung“ bestimmter Institutionen (wie der Universität), der Entwicklung neuer Kunstformen usw. gekommen sei. Deshalb wollen wir in diesem Artikel die wirklichen Umwälzungen aufzeigen, die aus der Sicht der IKS im Jahre 1968 stattfanden.

Neben einer ganzen Reihe von als solchen schon wichtigen Ereignissen (wie z.B. die Tet-Offensive der Vietcong im Februar, welche zwar schlussendlich von der US-Armee abgewehrt wurde, dennoch deutlich machte, dass die USA den Krieg in Vietnam niemals gewinnen könnten oder auch der Einmarsch sowjetischer Panzer in der Tschechoslowakei im August 1968) war das Jahr 1968 – wie Caute und Kurlansky hervorheben – durch diesen „Geist der Rebellion, welcher auf der ganzen Welt zu spüren war, geprägt“. Bei dieser Infragestellung der bestehenden Ordnung muss man zwischen zwei Komponenten unterscheiden, die sowohl unterschiedliche Ausmaße als auch unterschiedliche Bedeutungen annahmen.

Es handelte sich einerseits um die Studentenrevolte, die fast alle Länder des westlichen Blocks erfasste, und die sich in einem gewissen Maße gar bis in die damaligen Ostblockstaaten ausbreitete. Die andere Komponente war der massive Kampf der Arbeiterklasse, der sich im Jahre 1968 im Wesentlichen nur in einem Land, Frankreich, entwickelte.

In diesem ersten Artikel werden wir ausschließlich diese erste Komponente untersuchen, nicht weil sie die wichtigste wäre. Das Gegenteil ist der Fall. Sie entfaltete sich lediglich vor den Arbeiterkämpfen. Der Kampf der Arbeiter sollte eine besondere historische Bedeutung erlangen, die weit über die Bedeutung der Studenten-revolten hinausging.

Die Studentenbewegung – weltweit

Im mächtigsten Land der Erde, den USA, entfalteten sich damals ab 1964 die massivste und radikalste Bewegung jener Zeit. Insbesondere an der Universität Berkeley, im Norden Kaliforniens, breiteten sich die Studentenproteste zum ersten Mal in größerem Umfang aus. Die von den Studenten erhobene Hauptforderung war die der „free speech movement“ (Bewegung für Redefreiheit) zugunsten der freien politischen Äußerung in den Universitäten.

Gegenüber den gut ausgerüsteten Anwerbern der US-Armee wollten die protestierenden Studenten Propaganda gegen den Vietnamkrieg und gegen die Rassentrennung betreiben (all dies spielte sich ein Jahr nach dem „Marsch für die Bürgerrechte“ am 28.8.1963 in Washington ab, auf dem Martin Luther King seine berühmte Rede „I have a dream“ hielt). Anfänglich reagierten die Behörden sehr repressiv, insbesondere durch den Einsatz von Polizeikräften gegen die „Sit-ins“, die friedliche Besetzung der Uniräume, wobei 800 Studenten verhaftet wurden. Anfang 1965 gestattete die Universitätsleitung politische Aktivitäten an der Uni, die damit zu einem Hauptzentrum des Studentenprotestes in den USA wurden. Gleichzeitig wurde damals Ronald Reagan 1965 unerwartet zum Gouverneur von Kalifornien mit der Parole gewählt „Räumen wir mit der Unordnung in Berkeley auf“. Die Bewegung erlebte einen mächtigen Auftrieb und radikalisierte sich in den darauf folgenden Jahren durch die Proteste gegen die Rassentrennung, für die Verteidigung der Frauenrechte und vor allem gegen den Vietnamkrieg. Während gleichzeitig viele junge Amerikaner, vor allem Studenten, scharenweise ins Ausland flüchteten, um einer Einberufung nach Vietnam zu entgehen, wurden die meisten Universitäten des Landes zum Schauplatz von Antikriegsbewegungen, während gleichzeitig die gewaltsamen Aufstände in den schwarzen Ghettos der Großstädte aufflammten (der Anteil junger Schwarzer, die in den Vietnamkrieg geschickt wurden, lag viel höher als der nationale Durchschnitt der nach Vietnam-Einberufenen).

Diese Protestbewegungen wurden oft grausam unterdrückt. So wurden Ende 1967 952 Studenten zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie sich geweigert hatten, der Einberufung nach Vietnam Folge zu leisten. Am 8. Februar 1968 wurden 3 Studenten während einer Demonstration für die Bürgerrechte in Süd Carolina getötet. 1968 breiteten sich die Bewegungen am stärksten aus. Im März besetzten schwarze Studenten in der Universität Howard in Washington vier Tage lang das Uni-Gelände. Vom 23. bis 30. April 1968 wurde die Columbia-Universität von New York aus Protest gegen die Zusammenarbeit mit dem Pentagon und aus Solidarität mit den Bewohnern des schwarzen Ghettos von Harlem besetzt. Die Unzufriedenheit und Radikalisierung nahmen weiter durch die Ermordung Martin Luther Kings am
4. April weiter zu, die zahlreiche gewalttätige Zusammenstöße in den schwarzen Ghettos des Landes auslösten. Die Besetzung der Columbia-Universität war einer der Höhepunke der Studentenproteste in den USA, was wiederum neue Zusammenstöße hervorrief.

Im Mai traten die Studenten von 12 Universitäten in den Streik, um gegen den Rassismus und den Vietnamkrieg zu protestieren. Im Sommer geriet Kalifornien in den Sog der Bewegung. Zwei Nächte lang kam es zu Zusammenstößen zwischen Polizei und Studenten in der Universität Berkeley, wonach der Gouverneur Kaliforniens, Ronald Reagan, den Notstand ausrief und ein Ausgehverbot verhängte. Diese neue Welle von Zusammenstößen erreichte ihren Höhepunkt nach gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen dem 22. und 30. August in Chicago, als es während der Konferenz der Demokratischen Partei zu großen gewaltsamen Auseinandersetzungen kam.

Die Revolten der amerikanischen Studenten breiteten sich in der gleichen Zeit auf viele andere Länder aus.

Auf dem amerikanischen Kontinent selbst traten die Studenten in Brasilien und in Mexiko am aktivsten auf den Plan.

Immer wieder kam es 1967 in Brasilien zu Kundgebungen gegen die brasilianischen und amerikanischen Regierungen. Am 28. März griff die Polizei gegen Studenten ein und tötete einen von ihnen, Luis Edson; mehrere wurden schwer verletzt, von denen wiederum einer einige Tage später verstarb. Das Begräbnis von Luis Edson am 29. März schlug in eine gewaltige Demonstration um. Von der Universität Rio de Janeiro, welche in einen unbefristeten Streik trat, dehnte sich die Bewegung über die Universitäten in Sao Paulo aus, wo Barrikaden errichtet wurden. Am 30. und 31. Märzen fanden erneut Kundgebungen im ganzen Land statt. Am 4. April wurden in Rio ca. 600 Menschen verhaftet. Trotz einer heftigen Repression und massenhafter Verhaftungen fanden fast täglich Demonstrationen bis Oktober 1968 statt.

Einige Monate später wurde Mexiko erfasst. Ende Juli brach in Mexiko Stadt eine Studentenrevolte aus. Als Reaktion setzte die Polizei Panzer ein. Der Polizeichef der Hauptstadt rechtfertige die Repression folgendermaßen : Man muss einer „subversiven Bewegung“ entgegentreten, welche „am Vorabend der 19. Olympischen Spiele dazu neigt, eine Atmosphäre der Feindschaft gegenüber unserer Regierung zu erzeugen.“ Die Repression ging weiter und wurde sogar noch verschärft. Am 18. September wurde das Universitätsgelände von der Polizei besetzt. Am 21. September verhaftete die Polizei im Verlaufe von neuen Zusammenstößen in der Hauptstadt 736 Personen. Am 30. September wurde die Universität Veracruz besetzt. Am 2. Oktober schließlich ließ die Regierung auf eine Studentendemonstration mit ca. 10.000 Teilnehmern auf dem Platz der Drei Kulturen in Mexiko schießen; dabei kamen paramilitärische Kräfte ohne Uniform zum Einsatz. Bei dieser Niederschlagung, die als „das Massaker von Tlatelolco“ in Erinnerung blieb, wurden mindestens 200 Teilnehmer getötet, mehr als 500 schwer verletzt und über 2000 verhaftet. Dem Präsidenten Díaz Ordaz gelang es somit, die am 12. Oktober begonnenen Olympischen Spiele „in Ruhe“ durchzuführen. Nach der „Zwangspause“ der Olympischen Spiele setzten die Studenten ihre Bewegung jedoch noch einige Monate lang fort.

Aber nicht allein der amerikanische Kontinent wurde von dieser Welle von Studentenrevolten ergriffen. Tatsächlich waren alle Kontinente betroffen.

So kam es in Asien in Japan zu besonders spektakulären Bewegungen. Seit 1963 fanden gewalttätige Demonstrationen gegen die USA und den Vietnamkrieg statt, die hauptsächlich von den Zengakuren (Nationaler Verband der autonomen Komitees der japanischen Studenten) getragen wurden. Am Ende des Frühjahrs 1968 erreichten die Studentenproteste die Schulen und Universitäten. Ein Schlachtruf lautete: „Wandeln wir den Kanda [Universitätsviertel von Tokio] in ein Quartier Latin um.“ Nachdem sich der Bewegung Arbeiter angeschlossen hatten, erreichte diese im Oktober 1968 ihren Höhepunkt. Am 9. Oktober prallten in Tokio, Osaka und Kyoto Polizisten und Studenten aufeinander – 80 Menschen wurden verletzt, 188 verhaftet. Das Antiaufstandsgesetz wurde verabschiedet – dagegen protestierten ca. 800.000 Menschen auf der Straße. Als Reaktion auf das Eingreifen der Polizei in der Tokioter Uni gegen die Besetzung derselben traten am 25. Oktober 6000 Studenten in den Ausstand. Mitte Januar 1969 fiel dann allerdings die Tokioter Uni, die letzte Bastion der Studentenbewegung.

In Afrika ragten insbesondere zwei Länder heraus: Senegal und Tunesien.

Im Senegal prangerten die Studenten den Rechtsdrall der Regierung und den neokolonialen Einfluss Frankreichs an und forderten die Umstrukturierung der Universitäten. Am 29. Mai 1968 wurde der Generalstreik der Studenten und Arbeiter von Léopold Sédar Senghor, Mitglied der ‚Sozialistischen Internationale’ mit Hilfe der Armee niedergeschlagen. Bei der Repression wurde in der Uni Dakar ein Mensch getötet und 20 verletzt. Und am 12. Juni wurde erneut bei einer Studenten- und Schülerdemo in den Vororten von Dakar ein Mensch getötet.

In Tunesien fing die Bewegung 1967 an. Am 5. Juni wurde bei einer Demonstration gegen die USA und Großbritannien, welche beschuldigt wurden, Israel gegen die arabischen Staaten zu unterstützen, das Amerikanische Kulturzentrum verwüstet und die britische Botschaft angegriffen. Ein Student, Mohamed Ben Jennet, wurde verhaftet und zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Am 17. November protestierten Studenten zahlreich gegen den Vietnamkrieg. Vom 15.–19. März 1968 traten die Studenten in den Streik und forderten die Freilassung Mohamed Ben Jennets. Schließlich wurde die Bewegung durch eine Reihe von Verhaftungen niedergeschlagen.

... Europa ...

Aber in Europa entfaltete sich die reifste und spektakulärste Bewegung.

In Großbritannien fing es schon Ende 1966 in der sehr respektablen „London School of Economics“ an zu brodeln, die eine Hochburg der bürgerlichen Wirtschaftsschulen ist, als die Studenten gegen die Nominierung einer Persönlichkeit zum Präsidenten ihrer Schule protestierten, die für ihre Beziehungen zum rassistischen Regime des damaligen Rhodesiens und Südafrikas bekannt war. Später wurde die LSE immer wieder von Protestbewegungen heimgesucht. So gab es beispielsweise im März 1967 ein sit-in von fünf Tagen gegen Disziplinarmaßnahmen, in deren Anschluss, dem amerikanischen Vorbild folgend, eine „Freie Universität“ gebildet wurde. Im Dezember fanden in der Regent Street Polytechnic und im Holborn College of Law and Commerce Sit-ins statt, welche eine Studentenvertretung in der College Leitung forderten. Im Mai wurde die Universität Essex, das Hornsey College of Art in Hull, Bristol und Keele besetzt ; diesen folgten andere Bewegungen in Croydon, Birmingham, Liverpool, Guildford und im Royal College of Arts.

Die spektakulärsten Demonstrationen (an denen sich viele Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und unterschiedlichen Auffassungen beteiligten) waren die gegen den Vietnamkrieg: Im März und Oktober 1967, im März und Oktober 1968 (letztere war die zahlenmäßig größte); alle führten zu gewalttätigen Zusammenstößen mit der Polizei. Dabei gab es jeweils Hunderte von Verletzten und Verhaftungen vor der US-Botschaft am Grosvenor Square.

In Belgien zogen die Studenten von April 1968 an mehrfach auf die Straße, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren und Verbesserungen des Bildungswesens zu fordern. Am 22. Mai wurde die Freie Universität Brüssel besetzt und zur für das „Volk offenen Universität“ erklärt. Das Gelände wurde Ende Juni wieder geräumt, nachdem der Akademische Rat der Uni auf einige ihrer Forderungen eingegangen war.

In Italien wurden ab 1967 immer mehr Universitäten besetzt, auch gab es regelmäßig Zusammenstöße zwischen Polizei und Studenten. Die Universität Rom wurde im Februar 1968 besetzt. Die Polizei räumte das Gelände; daraufhin zogen die Studenten zu den Gebäuden der Architektur in der Villa Borghese. Schließlich kam es zu gewalttätigen Zusammenstößen, die unter dem Namen “Schlacht von Valle Grulia” bekannt wurden. Gleichzeitig protestierten spontan Beschäftigte der Industriebranchen, in denen die Gewerkschaften schwach waren (in dem Marzotto-Werk in Venezien). Darauf hin proklamierten die Gewerkschaften einen eintägigen Generalstreik in der Industrie, an dem sich viele Beschäftigte beteiligten. Schließlich bedeuteten die Wahlen im Mai das Ende der Bewegung, die schon ab dem Frühjahr abflachte.

Im Spanien Francos entfaltete sich ab 1966 eine Welle von Arbeiterstreiks und Universitätsbesetzungen. 1967 schwoll die Bewegung weiter stark an; sie setzte sich bis ins Jahr 1968 fort. Studenten und Arbeiter zeigten sich jeweils solidarisch, wie z.B. am 27. Januar 1967, als 100.000 Demonstranten gegen die brutale Repression gegen die Teilnehmer an einer Demonstration in Madrid protestierten, bei denen die Studenten, die sich ins Gebäude der Wirtschaftswissenschaften zurückgezogen hatten, sich mit der Polizei sechs Stunden lang Auseinandersetzungen lieferten. Die Behörden setzten alle Mittel gegen die Protestierer ein. Die Presse wurde kontrolliert, die Mitglieder der Bewegung und im Untergrund tätige Gewerkschafter wurden verhaftet. Am 28. Januar 1968 errichtete die Regierung in jeder Uni eine “Universitätspolizei”. Diese konnte jedoch die Studentenbewegung nicht an der Fortsetzung ihres Widerstandes gegen den Vietnamkrieg und das Franco-Regime hindern. Darauf hin wurde die Universität von Madrid im März geschlossen.

Von allen Ländern Europas war die Studentenbewegung in Deutschland am stärksten.

In Deutschland entstand Ende 1966 eine „Außerparlamentarische Opposition“, insbesondere als Reaktion auf die Beteiligung der Sozialdemokratie an der Regierung. Die APO stützte sich insbesondere auf studentische Vollversammlungen, in denen man in hitzigen Debatten über Mittel und Wege des Protestes stritt. An vielen Universitäten bildeten sich – dem US-Vorbild folgend – Diskussionsgruppen, als Gegenpol zur „etablierten“, bürgerlichen wurde die „kritische Universität“ gegründet. In dieser Phase wurde eine alte Tradition der Debatte, der Diskussionen in öffentlichen Vollversammlungen zum Teil wiederbelebt. Auch wenn sich viele durch den Drang zum spektakulären Handeln angezogen fühlten, blühte wieder das Interesse an Theorie, an der Geschichte revolutionärer Bewegungen auf und der Mut an den Gedanken der Überwindung des Kapitalismus auf. Bei vielen keimte Hoffnung auf andere Gesellschaft auf. Die Protestbewegung in Deutschland galt international als am „theo-retischsten, am meisten in den Diskussionen in die Tiefe gehend, am politischsten“.

Parallel zu diesen Diskussionen fanden zahlreiche Protestkundgebungen statt. Der Vietnamkrieg war sicherlich die Haupttriebkraft in einem Land, dessen Regierung die US-Militärmacht voll unterstützte, welches aber auch vom 2. Weltkrieg nachhaltig geprägt worden war. Am 17./18. Februar 1968 wurde in West-Berlin ein Internationaler Vietnam-Kongress mit anschließender Demonstration von 12.000 Teilnehmern abgehalten. Aber die seit 1965 einsetzenden Demonstrationen prangerten ebenso den Aufbau der Notstandsgesetze an, welche den Staat mit umfassenden Rechten der Militarisierung im Inneren und verschärfter Repression ausstatten sollten. Die 1966 in die Große Koalition eingetretene SPD bestand auf diesem Vorhaben in Fortsetzung ihrer alter Tradition von 1918–1919, als sie die blutige Niederschlagung des deutschen Proletariats angeführt hatte. Am 2. Juni 1967 wurde eine Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien in Berlin mit der größten Brutalität vom „demokratischen“ deutschen Staat, welcher beste Beziehungen mit diesem blutrünstigen Diktator unterhielt, angegriffen. Bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen wurde dabei von einem Zivilpolizisten der Student Benno Ohnesorg hinterrücks erschossen (der Polizist wurde nachher freigesprochen). Nach diesem Mord wurde die Stimmung gegen die Protestierenden weiter aufgeheizt, insbesondere gegen ihre Führer. Die Bild-Zeitung forderte: „Stoppt den Terror der Jungroten jetzt!“ Bei einer vom Berliner Senat organisierten „Pro-Amerika-Demonstration“ am 21. Februar 1968 trugen Teilnehmer Plakate mit der Aufschrift „Volksfeind Nr. 1: Rudi Dutschke“, die prominenteste Führerpersönlichkeit der Protestbewegung. Bei dieser Kundgebung wurde ein Passant mit Dutschke verwechselt, Demonstrationsteilnehmer drohten diesen totzuschlagen. Eine Woche nach der Ermordung von Martin Luther King in den USA erreichte schließlich in Deutschland am „Gründonnerstag“ 11. April die Hetzkampagne ihren Höhepunkt nach dem Attentat auf Rudi Dutschke in Berlin durch einen jungen Attentäter, der durch die Springer-Presse aufgestachelt worden war. Die darauf folgenden Osterunruhen richteten sich hauptsächlich gegen die Springer-Presse. Mehrere Wochen lang spielte die Studentenbewegung in Deutschland den Bezugspunkt für die meisten Länder Europas, bevor sich dann die Blicke auf Frankreich richteten.

… und in Frankreich

Die Hauptepisode der Studentenrevolten in Frankreich begann am 22. März 1968 in Nanterre in einem westlichen Vorort von
Paris.

Als solche waren die Ereignisse jenes Tages nichts Besonderes. Um gegen die Verhaftung eines linksextremen Studenten der Universität Nanterre zu protestieren, der unter dem Verdacht stand, an einem Attentat gegen ein Büro von American Express in Paris zu einem Zeitpunkt beteiligt gewesen zu sein, als in Paris viele gewalttätige Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg stattfanden, hielten 300 seiner Kommilitonen ein Treffen in einem Hörsaal ab. 142 von ihnen beschlossen die nächtliche Besetzung des Gebäudes des Akademischen Rates der Universität. Die Studenten der Uni Nanterre hatten nicht zum ersten Mal ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck gebracht. So war es kurz zuvor schon zu einem Konflikt zwischen Studenten und Polizisten wegen des Zugangs zu einem Studentinnenheim gekommen, dessen Zugang den männlichen Studenten verboten war. Am 16. März 1967 hatte eine Versammlung von 500 Studenten, ARCUN, die Abschaffung der Hausordnung beschlossen, die unter anderem besagte, dass die Studentinnen (auch die Volljährigen, was damals erst mit 21 Jahren der Fall war) weiterhin als Minderjährige anzusehen seien. Daraufhin hatte die Polizei am 21. März 1967 auf das Verlangen der Uni-Verwaltung hin das Studentinnenwohnheim umzingelt, um dort 150 Studenten festzunehmen, die sich in deren Gebäude befanden und sich in der obersten Etage verbarrikadiert hatten. Aber am nächsten Tag waren die Polizisten selbst von mehreren Tausend Studenten umzingelt worden. Diese hatten daraufhin den Befehl erhalten, die verbarrikadierten Studenten ohne irgendeine Belästigung abziehen zu lassen. Aber sowohl dieser Vorfall als auch andere Demonstrationen der Studenten, in denen sie ihre Wut abließen, insbesondere gegen den im Herbst 1967 verkündeten „Fouchet-Plan“ der Universitätsreform, blieben ohne Folgen. Nach dem 22. März 1968 verlief aber alles anders. Innerhalb weniger Wochen sollte eine Reihe von Ereignissen nicht nur zur größten Studentenmobilisierung seit dem Krieg führen, sondern auch zum größten Streik in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung.

Bevor sie das Gebäude verließen, beschlossen die 142 Besetzer des Akademischen Rates der Uni die Bildung einer Bewegung des 22. März (M22), um so die Agitation aufrechtzuerhalten und sie voranzutreiben. Es handelte sich um eine informelle Bewegung, der zu Beginn die Trotzkisten der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) und die Anarchisten (zu ihnen gehörte unter anderem Daniel Cohn-Bendit) angehörten; Ende April traten ihnen die Maoisten der Union der marxistisch-leninistischen kommunistischen Jugend (UCJML) bei. Insgesamt beteiligten sich in den darauf folgenden Wochen ca. 1200 Studenten daran. An den Wänden der Universität tauchten mehr und mehr Plakate und Graffitis auf: “Professoren, Ihr seid alt und Eure Kultur ebenso.”; “Lasst uns leben!”, “Nehmt Eure Wünsche für Wirklichkeit!” Die M22 kündigte für den 29. März einen Tag der “kritischen Universität” an und trat damit in die Fußstapfen der deutschen Studenten. Der Universitätsrektor beschloss die Schließung der Universität bis zum 1. April, aber die Agitation flammte sofort wieder nach der Öffnung der Universität auf. Vor 1000 Studenten erklärte Cohn-Bendit: “Wir wollen nicht die zukünftigen Manager der kapitalistischen Ausbeutung sein.” Die meisten Lehrenden reagierten ziemlich konservativ: Am 22. April verlangten 18 von ihnen, darunter “linke Dozenten”, “Maßnahmen und Mittel, damit die Agitatoren entlarvt und bestraft” werden. Der Rektor beschloss eine Reihe von Repressionsmaßnahmen, insbesondere gestattete er der Polizei freien Zugang und Bewegungsfreiheit auf dem Unigelände. Gleichzeitig hetzte die Presse gegen die “Wütenden”, die “Sekten” und “Anarchisten”. Die “Kommunistische” Partei Frankreichs hieb in die gleiche Kerbe: Am 26. April kam Pierre Juquin, Mitglied des Zentralkomitees, zu einem Treffen in Nanterre: “Die Störenfriede, die wohlbetuchte Muttersöhnchen sind, hindern die Arbeiterkinder daran, ihre Prüfungen abzulegen.” Er konnte seine Rede nicht zu Ende bringen, sondern musste stattdessen die Flucht antreten. In der Humanité vom 3. Mai, hetzte dann Georges Marchais, die Nummer 2 der PCF, wiederum: “Diese falschen Revolutionäre müssen energisch entlarvt werden, denn objektiv dienen sie den Interessen der Macht der Gaullisten und der großen kapitalistischen Monopole.”

Auf dem Unigelände in Nanterre kam es immer häufiger zu Schlägereien zwischen linksextremen Studenten und Faschisten aus der Gruppe Occident, die aus Paris angereist waren, um “Bolschewiki zu verprügeln”. In Anbetracht dieser Lage beschloss der Rektor am 2. Mai die Universität erneut zu schließen, die danach von der Polizei abgeriegelt wurde. Die Studenten von Nanterre beschlossen am darauf folgenden Tag eine Versammlung im Hof der Universität Sorbonne abzuhalten, um gegen die Schließung der Universität und gegen die disziplinarischen Maßnahmen gegen 8 Mitglieder der M22, darunter Cohn-Bendit, durch den Akademischen Rat zu protestieren.

An dem Treffen nahmen nur 300 Leute teil. Die meisten Studenten bereiteten aktiv ihre Jahresabschlussprüfungen vor. Aber die Regierung, die die Agitation endgültig auslöschen wollte, wollte zu einem großen Schlag ausholen, als sie die Besetzung des Quartier Latin (Univiertel in Paris) und die Umzingelung der Sorbonne durch die Polizei anordnete. Die Polizei drang zum ersten Mal seit Jahrhunderten in die Universität Sorbonne ein. Den Studenten, die sich in die Sorbonne zurückgezogen hatten, wurde freies Geleit zugesagt. Doch während die Studentinnen unbehelligt abziehen konnten, wurden die Studenten systematisch in Polizeiwagen verfrachtet, sobald sie das Unigelände verlassen hatten. In Windeseile versammelten sich Hunderte von Studenten auf dem Platz der Sorbonne und beschimpften die Polizisten. Die Polizei schoss mit Tränengas auf die Studenten. Die Studenten wurden gewaltsam vom Platz vertrieben, aber im Gegenzug fingen immer mehr Studenten an, die Polizisten und ihre Fahrzeuge einzukreisen. Die Zusammenstöße dauerten an jenem Abend vier Stunden: 72 Polizisten wurden verletzt, 400 Demonstranten verhaftet. In den darauf folgenden Tagen riegelte die Polizei das Gelände der Sorbonne vollständig ab. Gleichzeitig wurden vier Studenten zu Gefängnisstrafen verurteilt. Diese Politik der “entschlossenen Hand” bewirkte jedoch das Gegenteil dessen, was die Regierung von ihr erhoffte: Anstatt die Agitation zu beenden, wurde diese
noch massiver. Ab Montag, dem 6. Mai kam es immer wieder zu Zusammenstößen mit den um die Sorbonne zusammengezogenen Polizeikräften und den zahlenmäßig immer größer werdenden Demonstrationen, zu denen von der M22, UNFEF (Studentische Gewerkschaft) und Snesup (Gewerkschaft des Uni-Lehrkörpers) aufgerufen wurde. Bis zu 45.000 Studenten beteiligten sich an ihnen mit dem Schlachtruf “Die Sorbonne gehört in die Hände der Studenten”, “Bullen raus aus dem Quartier Latin”, und vor allem “Befreit unsere Genossen”. Den Studenten schlossen sich immer mehr Schüler, Lehrer, Arbeiter und Arbeitslose an. Am 7. Mai überschritten die Demonstrationszüge überraschenderweise die Seine und zogen die Champs-Elysées entlang und drangen bis in die Nähe des Präsidentenpalastes vor. Die Internationale wurde unter dem Triumphbogen angestimmt, dort wo man meistens die Marseillaise hört oder Totengeläut. Die Demonstrationen griffen auch auf einige Provinzstädte über. Die Regierung wollte einen Beweis für ihren guten Willen zeigen und öffnete die Universität von Nanterre am 10. Mai. Am Abend des gleichen Tages strömten Zehntausende von Demonstranten im Quartier Latin zusammen und fanden sich den Polizeikräften gegenüber, die die Sorbonne abgeriegelt hatten. Um 21 Uhr fingen einigen Demonstranten an, Barrikaden zu errichten (insgesamt wurden ca. 60 errichtet). Um Mitternacht wurde eine Delegation von drei Studenten (unter ihnen Cohn-Bendit) vom Rektor der Akademie von Paris empfangen. Der Rektor stimmte der Wiedereröffnung der Sorbonne zu, konnte aber keine Versprechungen hinsichtlich der Freilassung der am 3. Mai verhafteten Studenten machen. Um zwei Uhr morgens starteten die CRS (Bürgerkriegspolizei) den Sturm auf die Barrikaden, nachdem sie zuvor viele Tränengasgeschosse auf sie gefeuert hatten. Die Zusammenstöße verliefen sehr gewalttätig; Hunderte von Menschen wurden auf beiden Seiten verletzt. Mehr als 500 Demonstranten wurden verhaftet. Im Quartier Latin bekundeten viele Anwohner ihre Sympathie mit den Demonstranten; sie ließen sie in ihre Wohnungen rein oder spritzten Wasser auf die Straße, um sie vor dem Tränengas und den anderen Geschossen der Polizei zu schützen. All diese Ereignisse, insbesondere die Berichte über die Brutalität der Repressionskräfte, wurden im Radio permanent von Hunderttausenden Menschen verfolgt. Um sechs Uhr morgens ‚herrschte Ordnung’ im Quartier Latin, das wie von einem Tornado durchpflügt schien.

Am 11. Mai war die Empörung in Paris und in ganz Frankreich riesengroß. Die Menschen strömten überall zu spontanen Demonstrationszügen zusammen. Diesen schlossen sich nicht nur Studenten sondern Hunderttausende anderer Demonstranten mit unterschiedlichster Herkunft an, insbesondere junge Arbeiter oder Eltern von Studenten. In der Provinz wurden viele Universitäten besetzt; überall auf den Straßen, auf den Plätzen fing man an zu diskutieren und verurteilte die Haltung der Repressionskräfte.

In Anbetracht dieser Entwicklung kündigte der Premierminister Georges Pompidou abends an, dass vom 13. Mai an die Polizeikräfte aus dem Quartier Latin abzuziehen, die Sorbonne wieder zu öffnen und die verhafteten Studenten freizulassen sind.

Am gleichen Tag riefen die Gewerkschaftszentralen, die CGT eingeschlossen (die bis dahin die ‚linksextremen’ Studenten angeprangert hatten), sowie einige Polizeigewerkschaften zum Streik und Demonstrationen für den 13. Mai auf, um gegen die Repression und die Regierungspolitik zu protestieren.

Am 13. Mai fanden in allen Städten des Landes die größten Demonstrationen seit dem 2. Weltkrieg statt. Die Arbeiterklasse beteiligte sich massiv an der Seite der Studenten. Einer der am meisten verbreiteten Schlachtrufe lautete “10 Jahre, das reicht” (man bezog sich auf den 13. Mai 1958, als De Gaulle wieder die Macht übernommen hatte). Am Ende der Demonstrationen wurden fast alle Universitäten nicht nur von den Studenten besetzt, sondern auch von vielen jungen Arbeitern. Überall ergriff man das Wort. Die Diskussionen begrenzten sich nicht nur auf die universitären Fragen oder die Repression. Man fing an, alle möglichen gesellschaftlichen Fragen aufzugreifen: die Arbeitsbedingungen, die Ausbeutung, die Zukunft der Gesellschaft.

Am 14. Mai gingen die Diskussionen in vielen Betrieben weiter. Nach den gewaltigen Demonstrationen am Vorabend, die den ganzen Enthusiasmus und ein Gefühl der Stärke zum Vorschein gebracht hatten, war es schwierig die Arbeit wieder aufzunehmen, so als ob nichts passiert wäre. In Nantes traten die Beschäftigen von Sud-Aviation in einen spontanen Streik und beschlossen die Besetzung des Werkes. Vor allem die jüngeren Beschäftigten trieben die Bewegung voran. Die Arbeiterklasse war auf den Plan getreten.

Die Bedeutung der Studentenbewegung der 1960er Jahre

Ein Merkmal dieser ganzen Bewegung war natürlich vor allem die Ablehnung des Vietnamkrieges. Aber während man eigentlich hätte erwarten können, dass die stalinistischen Parteien, die mit dem Regime in Hanoi und Moskau verbunden waren, wie zuvor bei den Antikriegsbewegungen während des Koreakrieges zu Beginn der 1950er Jahre, die Führung dieser Bewegung übernehmen würden, geschah dies nicht. Im Gegenteil; diese Parteien verfügten praktisch über keinen Einfluss, und sehr oft standen sie im völligen Gegensatz zu den Bewegungen.[iv] Dies war eines der Merkmale der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre; es zeigte die tiefgreifende Bedeutung auf, die ihr zukommen sollte. Diese Bedeutung werden wir jetzt aufzuzeigen versuchen. Dazu müssen wir natürlich unbedingt die damaligen Themen der studentischen Mobilisierung in
Erinnerung rufen.

Die Themen der Studentenrevolte in den 1960er Jahren in den USA ...

Wenn der Widerstand gegen den Vietnamkrieg der USA der wichtigste und weitest verbreitete Mobilisierungsfaktor in allen Ländern der westlichen Welt war, ist es sicherlich kein Zufall, dass die Studentenrevolten im mächtigsten Land der Erde einsetzten. Die Jugend in den USA wurde direkt und unmittelbar mit der Frage des Krieges konfrontiert, da in ihren Reihen junge Männer rekrutiert wurden, die zur Verteidigung „der freien Welt“ in den Krieg geschickt wurden. Zehntausende amerikanische Jugendliche haben für die Politik ihrer Regierung ihr Leben gelassen; Hunderttausende sind verletzt und verstümmelt aus Vietnam zurückgekehrt, Millionen bleiben ihr Leben lang geprägt durch das, was sie in diesem Land erlebt haben. Abgesehen von dem Horror, den sie vor Ort durchgemacht haben, wurden viele mit der Frage konfrontiert: Was machen wir eigentlich in Vietnam? Den offiziellen Erklärungen zufolge waren sie dorthin geschickt worden, um die ‚Demokratie’, ‚die freie Welt’ und die ‚Zivilisation’ zu verteidigen. Aber was sie vor Ort erlebten, widersprach völlig den offiziellen Rechtfertigungen: Das Regime, das sie angeblich verteidigen sollten, die Regierung in Saigon, war weder ‚demokratisch’ noch ‚zivilisiert’. Sie war eine Militärdiktatur und extrem korrupt. Vor Ort fiel es den Soldaten sehr schwer nachzuvollziehen, dass sie die ‚Zivilisation’ verteidigten, wenn von ihnen verlangt wurde, dass sie sich selbst wie Barbaren verhalten sollten, die unbewaffnete arme Bauern, Frauen, Kinder und Alte terrorisieren und umbringen sollten. Aber nicht nur die Soldaten vor Ort waren von den Schrecken des Krieges angeekelt, sondern dies traf auch auf wachsende Teile der US-Jugend insgesamt zu. Junge Männer fürchteten nicht nur in den Krieg geschickt zu werden, und junge Frauen fürchteten nicht nur den Verlust ihrer Freunde, sondern man erfuhr auch immer mehr von den rückkehrenden „Veteranen“, oder ganz einfach durch das Fernsehen von der Barbarei, die dort herrschte.[v] Der schreiende Widerspruch zwischen den offiziellen Reden der US-Regierung von der ‚Verteidigung der Zivilisation und der Demokratie’, auf die sich die US-Regierung berief und ihr tatsächliches Handeln in Vietnam war einer der wichtigsten Faktoren, der zur Revolte gegen die Autoritäten und die traditionellen Werte der US-Bourgeoisie führte.[vi] Diese Revolte hatte in einer ersten Phase die Hippie-Bewegung mit hervor gebracht, eine gewaltlose und pazifistische Bewegung, die sich auf ‚Flower power“ (Macht der Blumen) berief, und von der ein Slogan lautete: „Make Love, not War“ (Macht Liebe, nicht Krieg). Es war wahrscheinlich kein Zufall, dass die erste größere Studentenmobilisierung an der Universität Berkeley entstand, d.h. in einem Vorort von San Francisco, das damals das Mekka der Hippies war.

Die Themen und vor allem die Mittel dieser Mobilisierungen ähnelten noch dieser Hippie-Bewegung: „Sit-in“; eine gewaltlose Methode, um die „Free Speech“ (Redefreiheit) für politische Propaganda an den Universitäten zu fordern, insbesondere auch um die ‚Bürgerrechte’ der Schwarzen zu unterstützen und die Rekrutierungskampagnen der Armee, die in den Universitäten stattfanden, anzuprangern. Jedoch stellte wie in anderen Ländern später auch, insbesondere 1968 in Frankreich, die Repression in Berkeley einen wichtigen Faktor der ‚Radikalisierung’ der Bewegung dar. Von 1967 an, nach der Gründung der Youth International Party (Internationalen Partei der Jugend) durch Abbie Hoffman und Jerry Rubin, der eine kurze Zeit bei der Bewegung der Gewaltlosen mitgewirkt hatte, gab sich die Bewegung der Revolte eine ‚revolutionäre’ Perspektive gegen den Kapitalismus. Die neuen ‚Helden’ der Bewegung waren nicht mehr Bob Dylan oder Joan Baez, sondern Leute wie Che Guevara (den Rubin 1964 in La Havanna getroffen hatte). Die Ideologie dieser Bewegung war unglaublich konfus. Es gab anarchistische Bestandteile (wie den Freiheitskult, insbesondere die sexuelle Freiheit oder Freiheit des Drogenkonsums), aber auch stalinistische Bestandteile (Kuba und Albanien wurden als Beispiele gepriesen). Die Aktionen ähnelten sehr denen der Anarchisten – wie Lächerlichmachen und Provokationen. So bestand eine der ersten spektakulären Aktionen des Tandems Hoffman-Rubin darin, Bündel Falschgeld in der New Yorker Börse zu verteilen, woraufhin sich die dort Anwesenden wie wild auf sie stürzten, um welche zu ergattern. Und während des Kongresses der Demokratischen Partei im Sommer 1968 schlugen sie als Präsidentenkandidaten das Schwein Pegasus vor[vii], während sie gleichzeitig bewaffnete Auseinandersetzungen mit der Polizei vorbereiteten. Zusammenfassend kann man zu den Hauptmerkmalen der Proteste, welche sich in den 1960er Jahren in den USA ausbreiteten, sagen, dass sie sich sowohl gegen den Vietnamkrieg als auch gegen die Rassendiskriminierung, gegen die ungleiche Behandlung der Geschlechter und gegen die traditionelle Moral und die Werte Amerikas wandten. Wie die meisten der Beteiligten feststellten (als sie sich wie revoltierende Bürgerkinder verhielten), waren diese Bewegungen keineswegs Regungen der Arbeiterklasse. Es ist sicherlich kein Zufall, dass einer ihrer ‚Theoretiker’, der Philosophieprofessor Herbert Marcuse, meinte, die Arbeiterklasse sei ‚integriert’ worden, und dass die revolutionären Kräfte gegen den Kapitalismus unter anderen Gesellschaftsschichten zu finden seien, so beispielsweise die Schwarzen, die Opfer der Rassendiskriminierung waren, die Bauern der Dritten Welt oder revoltierende Intellektuelle.

… und in den anderen Ländern

In den meisten anderen Ländern des Westens ähnelten die Studentenbewegungen der 1960er Jahre stark denen der USA: Verwerfung der US-Intervention in Vietnam, Revolte gegen die Autoritäten, insbesondere die akademischen Autoritäten, gegen die Autorität im Allgemeinen, gegen die traditionelle Moral, insbesondere gegen die Sexualmoral. Dies ist einer der Gründe, weshalb die stalinistischen Parteien, die ein Symbol des Autoritären waren, keinen Widerhall unter den Revoltierenden finden konnten, obgleich sie die US-Intervention in Vietnam heftig an den Pranger stellten. Dabei wurden die von den USA bekämpften militärischen Kräfte in Vietnam, welche als ‚anti-kapitalistisch’ auftraten, total vom sowjetischen Block unterstützt. Es stimmt, dass der Ruf der UdSSR sehr stark unter der Niederschlagung des Aufstands in Ungarn 1956 gelitten hatte, und dass das Bild des alten Apparatschiks Breschnew keine großen Träume aufkommen ließ. Die Revoltierenden der 1960 Jahre hingen lieber Poster von Ho Chi Minh (ein alter Apparatschik, der aber eher vorzeigbar war und als ‚heldenhafter’ erschien) und am liebsten noch das romantische Photo von Che Guevara auf (ein anderes Mitglied einer stalinistischen Partei, aber halt ‚exotischer’) oder von Angela Davis (sie war auch Mitglied der stalinistischen Partei der USA, aber sie hatte den doppelten Vorteil eine Schwarze und Frau zu sein, und zudem noch genau wie Che Guevara ‚gut’ auszusehen).

Diese Komponente, sowohl gegen den Vietnamkrieg gerichtet zu sein und als ‚libertär’ zu erscheinen, tauchte ebenfalls in Deutschland auf. Die berühmteste Figur der Bewegung, Rudi Dutschke, stammte aus der ehemaligen DDR, wo er sich als junger Mann schon gegen die Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes geäußert hatte. Seine ideologischen Bezugspunkte waren der ‚junge Marx’ sowie die Frankfurter Schule (der Marcuse angehörte), und auch die Situationistische Internationale (auf die sich die Gruppe „Subversive Aktion“, deren Berliner Sektion er 1962 gründete, berief).[viii]

Während der Diskussionen, die sich von 1965 an in den deutschen Universitäten entfalteten, stieß die Suche nach einem “wahren anti-autoritären Marxismus” auf einen großen Erfolg. Damals wurden viele Texte der Rätebewegung wieder aufgelegt.

Die Themen und Forderungen der Studentenbewegung, die sich 1968 in Frankreich entfaltete hat, waren im Wesentlichen die gleichen. Im Laufe der Entwicklung wurde der Widerstand gegen den Vietnamkrieg durch eine Reihe von Slogans in den Hintergrund gedrängt, die situationistisch oder anarchistisch inspiriert waren (oder gar surrealistisch), und die man immer häufiger auf den Mauern lesen konnte („Die Mauern haben das Wort“). Die anarchistische Ausrichtung wurde insbesondere in folgenden Slogans deutlich:

„Die Leidenschaft der Zerstörung ist eine schöpferische Freude.“ (Bakunin)

„ Es ist verboten zu verbieten.“

„Freiheit ist das Verbrechen, das alle Verbrechen beinhaltet.“

„Wahlen sind Fallen für Dumme.“

„Frech und unverschämt zu sein, ist die neue revolutionäre Waffe.“

Diese wurden durch jene Forderungen ergänzt, die zur „sexuellen Revolution“ aufriefen:

„Liebt euch aufeinander liegend!“

„Knöpft euer Gehirn so oft auf wie euren Hosenschlitz!“

„Je mehr ich Liebe mache, desto mehr habe ich Lust die Revolution zu machen. Je mehr ich die Revolution mache, desto mehr habe ich Lust Liebe zu machen.“

Der Einfluss des Situationismus spiegelte sich in Folgendem wider:

„Nieder mit der Konsumgesellschaft!“

„Nieder mit der Warengesellschaft des Spektakels!“

„Schaffen wir die Entfremdung ab!“

„Arbeitet nie!“

„Seine Wünsche für die Wirklichkeit nehmen, denn ich glaube an die Wirklichkeit meiner Wünsche.“

„Wir wollen keine Welt, in der die Sicherheit nicht zu verhungern eingetauscht wird mit dem Risiko vor Langeweile zu sterben.“

„Langeweile ist konterrevolutionär.“

„Wir wollen leben ohne Stillstand und uns grenzenlos amüsieren.“

„Seien wir realistisch, verlangen wir das Unrealistische!“

Übrigens tauchte auch die Generationenfrage (die in den USA und in Deutschland sehr präsent war) in verschiedenen Slogans (oft auf sehr schändliche Weise) auf:

„Lauf Genosse, die alte Welt liegt hinter dir!“

„Die Jungen machen Liebe, die Alten machen obszöne Gesten.“

Im Frankreich des Mai 68, wo Barrikaden errichtet wurden, hörte man auch Slogans wie:

„Die Barrikaden versperren die Straßen, aber öffnen den Weg.“

„Der Abschluss allen Denkens ist der Pflasterstein in deiner Fresse, CRS [Bürgerkriegs-polizei].”

„Unter dem Pflasterstein liegt der Strand.“

Die größte Verwirrung, die in dieser Zeit vorzufinden war, kommt durch die beiden folgenden Slogans zum Ausdruck:

„Es gibt kein revolutionäres Denken. Es gibt nur revolutionäre Handlungen.“

„Ich habe etwas zu sagen, aber ich weiß nicht was.“

Das Klassenwesen der Studentenbewegung der 1960er Jahre

Diese Slogans wie die meisten, die in den anderen Ländern zirkulierten, zeigen deutlich, dass die Studentenbewegung der 1960er Jahre keineswegs das Wesen der Arbeiterklasse widerspiegelte, auch wenn es in verschiedenen Ländern (wie natürlich in Frankreich, und auch in Italien, Spanien oder im Senegal) den Willen gab, eine Brücke zu den Arbeiterkämpfen zu schlagen. Diese Herangehensweise spiegelte übrigens eine gewisse Überheblichkeit gegenüber der Arbeiterklasse wider, die mit einer gewissen Faszination für den Arbeiter als Blaumann durchmischt war, welcher der Held von schlecht verdauten Texten der Klassiker des Marxismus war. Im Kern war die Studentenbewegung der 1960er Jahre kleinbürgerlicher Natur. Einer der klarsten Aspekte neben ihrem anarchisierenden Erscheinungsbild war der Wille „das Leben sofort umzuwälzen“. Die Ungeduld und das “alles sofort” waren die Merkmale einer gesellschaftlichen Schicht wie des Kleinbürgertums, die in der Geschichte keine Zukunft haben.

Der ‚revolutionäre’ Radikalismus der Führung dieser Bewegung, sowie die Gewaltverherrlichung, die von einigen Teilen der Bewegung betrieben wurde, spiegelt ebenfalls ihr kleinbürgerliches Wesen wider. Die ‚revolutionären’ Anliegen der Studenten von 1968 waren zweifelsohne aufrichtig, aber sie waren stark geprägt von einer Sicht der Welt aus einer Dritten-Welt-Perspektive (Guevarismus und Maoismus) sowie vom Antifaschismus. Die Bewegung hatte eine romantische Sichtweise der Revolution, ohne auch nur die geringste Vorstellung von der wirklichen Entwicklung der Bewegung der Arbeiterklasse zu haben, die zur Revolution führt. Die Studenten in Frankreich, die sich für „revolutionär“ hielten, glaubten, dass die Bewegung des Mai 68 schon die Revolution war, und die Barrikaden, die Tag für Tag errichtete wurden, wurden als die Erben der Barrikaden von 1848 und der Kommune von 1871 dargestellt.

Eines der Merkmale der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre war der „Generationenkonflikt“, der sehr große Graben zwischen der neuen Generation und der ihrer Eltern, denen verschiedene Vorwürfe gemacht wurden. Insbesondere die Tatsache, dass
diese hart hatte schuften müssen, um Armut und auch Hunger zu überwinden, die durch den 2. Weltkrieg entstanden waren. Man warf ihr vor, dass sie sich nur um ihr materielles Wohlergehen kümmerte. Deshalb feierten die Fantastereien über die „Konsumgesellschaft“ und Slogans wie „Arbeitet nie!“ solche Erfolge. Als Nachfolger einer Generation, die von der Konterrevolution voll getroffen worden war, warf die Jugend der 1960er Jahre der älteren Generation vor, sich den Ansprüchen des Kapitalismus unterworfen und angepasst zu haben. Im Gegenzug verstanden viele Eltern nicht und hatten Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass ihre Kinder Verachtung für die Opfer zeigten, die sie hatten erbringen müssen, um ihren Kindern bessere wirtschaftliche Verhältnisse zu ermöglichen, als sie sie selbst erlebt hatten.

Aber dennoch gab es einen wirklichen ökonomischen Bestimmungsgrund für die Studentenrevolte der 1960er Jahre. Damals gab es keine größere Bedrohung durch Arbeitslosigkeit oder durch prekäre Arbeitsbedingungen nach dem Studium, wenn man die Lage mit der heute vergleicht. Die Hauptsorge der studentischen Jugend war damals, dass sie nicht mehr den gleichen sozialen Aufstieg würde machen können wie die vorhergehende Akademikergeneration. Die Generation von 1968 war die erste Generation, die mit einer gewissen Brutalität mit dem Phänomen der „Proletarisierung der Führungskräfte“ konfrontiert wurde, welches von den Soziologen der damaligen Zeit eingehend untersucht wurde. Dieses Phänomen hatte sich seit einigen Jahren ausgebreitet, noch bevor die Krise offen in Erscheinung trat, sobald die Studentenzahl beträchtlich zugenommen hatte (so war zum Beispiel die Zahl der Studenten in Deutschland von 330.000 auf
1.1 Millionen zwischen 1964–1974 gestiegen). Diese Zunahme entsprach den Bedürfnissen der Wirtschaft aber auch dem Willen und der Möglichkeit der Generation ihrer Eltern, ihren Kindern eine bessere wirtschaftliche und soziale Lage als ihre eigene angedeihen zu lassen.

Unter anderem hatte diese massenhafte Zunahme der Studenten die wachsende Malaise hervorgerufen, die auf den Fortbestand von Strukturen und Praktiken an den Universitäten zurückzuführen war, welche aus einer Zeit stammten, in der nur eine Elite die Uni besuchen konnte, und in der stark autoritäre Strukturen vorherrschten.

Während die Studentenbewegung, welche 1964 einsetzte, sich in einer Zeit des „Wohlstandes“ des Kapitalismus entfaltete, sah die Lage 1967 schon anders aus, als die wirtschaftliche Situation sich schon sehr stark verschlechtert hatte – wodurch die studentische Malaise vergrößert wurde. Dies war einer der Gründe, weshalb die Bewegung 1968 ihren Höhepunkt erlebte. Und dies erklärt auch, warum im Mai 1968 die Arbeiterklasse auf den Plan trat und die Bewegung anführte. Darauf werden wir in einem nächsten Artikel eingehen.

Fabienne


[i] David Caute, 1968 dans le monde, Paris, Laffont, 1988, übersetzt aus Sixty-Eight: The Year of the Barricades, London, Hamilton 1988. Es erschien in den USA ebenso unter dem Titel „The Year of the Barricades – A Journey through 1968, New Yorker: Harper & Row, 1988.

[ii] Mark Kurlansky, 1968: l‘année qui ébranla le monde. Paris: Presses De La Cite, 2005 ; übersetzt aus 1968: The Year That Rocked the World. New York: Ballan-tine Books, 2004.

[iii] Einige unserer territorialen Publikationen haben schon oder werden noch Artikel über die Ereignisse in den jeweiligen Ländern veröffentlichen.

[iv] Studentenbewegungen griffen 1968 auch auf stalinistische Regime über. In der Tschechoslowakei waren sie Teil des „Prager Frühlings“, welcher von einem Teil der stalinistischen Partei propagiert wurde. Sie können nicht als eine Bewegung angesehen werden, die das Regime infragestellten. In Polen nahm die Bewegung einen anderen Charakter an. Am 8. März wurden Studentenproteste gegen das Verbot einer als Russland-feindlichen angesehenen Aufführung von der Polizei unterdrückt. Im März stieg die Spannung weiter an. Immer mehr Universitäten wurden von den Studenten besetzt, immer mehr wurde demonstriert. Unter der Führung des Innenministers, General Moczar, Anführer der „Partisanenströmung“ in der stalinistischen Partei, wurden sie brutal unterdrückt, während gleichzeitig die Juden in der Partei auf-grund von „Zionismusvorwürfen“ herausgeschmissen wurden.

[v] Während des Vietnamkrieges waren die US-Medien den Militärbehörden nicht unterworfen. Diesen „Fehler“ beging die US-Regierung während der Auslösung des Irakkrieges 1991 und 2003 nicht mehr.

[vi] Solch ein Phänomen wiederholte sich nicht mehr nach dem 2. Weltkrieg. Die US-Soldaten hatten ebenfalls eine Hölle er-lebt, insbesondere jene, die 1944 in der Normandie gelandet waren, aber fast alle Soldaten und die Bevölkerung insgesamt waren angesichts der Barbarei des Nazi-Regimes bereit, diese Opfer zu bringen

[vii] Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten die französischen Anarchisten einen Esel für die Parlamentswahlen nominiert.

[viii] Für eine zusammenfassende Darstellung der politischen Positionen des Situationismus siehe unseren Artikel: „Guy Debord – Der zweite Tod der Situa-tionistischen Internationale“ in Revue Internationale, Nr. 80.

Theoretische Fragen: 

  • Historischer Kurs [3]

Vor 60 Jahren: Eine Konferenz revolutionärer Internationalisten

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Die IKS hielt 2007 ihren 17. Kongress ab. Zum ersten Mal seit 1979 konnte dieser Kongress wieder Delegationen anderer internationalistischer Gruppen willkommen heißen, welche buchstäblich aus verschiedensten Ecken der Welt (von Brasilien bis Südkorea) angereist waren. Wie wir im Artikel über die Arbeit des Kongresses[i] festgehalten haben, ist diese Praxis keine Erfindung der IKS. Wir tun damit nichts anderes, als die Haltung wieder aufzunehmen, welche wir bereits bei unserer Gründung 1975 hatten und die wir von der Kommunistischen Linken und besonders von der Französischen Kommunistischen Linken (Gauche Communiste de France, GCF), geerbt haben. Dies zeigt der Artikel auf, den wir hier wiederveröffentlichen und der ursprünglich in INTERNATIONALISME, Nr. 23, anlässlich einer Konferenz von Internationalisten im Mai 1947 – also genau 60 Jahre vor unserem
17. Kongress – publiziert wurde.
[ii]

Die Konferenz von 1947 wurde vom holländischen Communistenbond Spartacus, einer „rätekommunistischen“ Gruppe, ins Leben gerufen. Diese Gruppe hatte den Krieg von 1939-45 trotz all der brutalen Repressalien, die sie wegen ihrer Beteiligung an Arbeiterkämpfen unter dem Besatzungsregime erdulden musste, überlebt.[iii] Die Konferenz wurde in einem für die wenigen Revolutionäre, welche an den proletarischen internationalistischen Prinzipien festhielten und den Kampf für die bürgerliche Demokratie oder das „sozialistische Vaterland“ Stalins zurückwiesen, außerordentlich düsteren Moment der Geschichte abgehalten. 1943 hatte eine Streikwelle in Norditalien Anlass zur Hoffnung gegeben, dass der Zweite Weltkrieg auf dieselbe Weise wie der Erste enden wird: mit einem Aufstand, der diesmal nicht nur den Krieg beenden, sondern auch den Weg zu einer neuen proletarischen Revolution eröffnen sollte, die den Horror des Kapitalismus für immer beseitigt. Doch die herrschende Klasse hatte ihre Lehren aus 1917 gezogen, und der Zweite Weltkrieg endete mit einer systematischen Zerschlagung der Arbeiterklasse, bevor sie sich erheben konnte. In Italien wurden die ArbeiterInnen in ihren Quartieren von der deutschen Besatzungsmacht blutig unterdrückt, der Aufstand in Warschau durch deutsche Truppen unter den „wohlwollenden“ Blicken des sowjetischen Gegners[iv] niedergeschlagen und die deutschen Arbeiterbezirke unter einem Bombenhagel amerikanischer und britischer Flugzeuge begraben. Dies sind nur einige Beispiele. Die GCF realisierte, dass in dieser Zeit der Weg zur Revolution nicht unmittelbar offen stand, und schrieb im Rahmen der Vorbereitungen der Konferenz an den Communistenbond Spartacus:

„Es war in einem gewissen Sinne logisch, dass die Abscheulichkeiten des Krieges die Augen öffnen und neue Revolutionäre hervorbringen würden. Ein Resultat war hier und dort das Entstehen von kleinen Gruppen, welche trotz ihren unvermeidbaren Konfusionen und ihrer politischen Unreife eine ernste Anstrengung unternahmen, die revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse wieder auf die Beine zu stellen.

Der Zweite Weltkrieg endete nicht wie der Erste in einer Welle von revolutionären Klassenkämpfen. Ganz im Gegenteil. Nach einigen schwachen Anstrengungen erlitt das Proletariat eine schwere Niederlage, welche einen weltweiten reaktionären Kurs eröffnete. Unter solchen Bedingungen bestand die Gefahr, dass die schwachen Gruppen, welche gegen Kriegsende entstanden waren, weggespült wurden oder zerbrachen. Mit der Schwächung einiger dieser Gruppen und mit dem Verschwinden anderer, wie die ‚Communistes Révolutionnaires‘ in Frankreich, haben wir diesen Prozess schon erlebt“.[v]

Die GCF hatte keine Illusionen über die Möglichkeiten dieser Konferenz: „In einer Zeit wie der unsrigen, in einer Zeit der Reaktion und des Rückschritts steht es nicht an, neue Parteien oder gar eine neue Internationale zu gründen – so wie es die Trotzkisten und Konsorten machen –, denn die Hochstapelei solch künstlicher Konstruktionen hat immer nur dazu geführt, noch größere Verwirrung in der Arbeiterklasse zu stiften“.[vi] Die GCF betrachtete die Konferenz deshalb aber keinesfalls als eine Zeitverschwendung. Ganz im Gegenteil stellte sie einen lebenswichtigen Schritt dar, um das Überleben der internationalistischen Gruppen zu sichern: „Keine Gruppe besitzt die ‚absolute und ewige Wahrheit‘ und keine Gruppe wird allein fähig sein, dem schrecklichen historischen Kurs von heute zu widerstehen. Das Leben der Gruppen und ihre ideologische Entwicklung hängen direkt von den Beziehungen ab, die sie untereinander aufbauen können, vom Austausch der Standpunkte, von der Konfrontation der Ideen und der Debatte, die sie international entwickeln können.

Diese Aufgabe scheint uns von größter Wichtigkeit für die Genossen in der heutigen Zeit zu sein, und aus diesem Grund haben wir uns dafür ausgesprochen. Wir werden alles daran setzen, den Kontakt aufrechtzuerhalten, weitere Treffen zu organisieren und die Korrespondenz zu erweitern“.[vii]

Der historische Kontext

Die Konferenz war vor allem von Bedeutung, weil sie nach sechs schrecklichen Jahren des Krieges, der Repression und Isolation das erste internationale Treffen unter Revolutionären darstellte. Doch der historische Kontext – die Periode von „Reaktion und Rückschritt“ – war stärker als die Initiative von 1947. Das Resultat der Konferenz fiel denn auch sehr mager aus. Im Oktober 1947 schrieb die GCF dem Communistenbond und bat ihn um die Organisierung einer zweiten Konferenz, die mit einem Diskussionsbulletin vorbereitet werden sollte. Doch von Letzterem wurde lediglich eine Nummer erstellt, und die zweite Konferenz fand nie statt. In den folgenden Jahren zerfielen die meisten teilnehmenden Gruppen. Auch die GCF, welche auf einige isolierte Genossen zusammenschrumpfte, die ihren Kontakt so gut wie möglich brieflich aufrechterhielten.[viii]

Heute ist der historische Kontext ein ganz anderer. Nach Jahren der Konterrevolution bewies die Welle von Streiks, die den Ereignissen von 1968 in Frankreich folgte, dass die revolutionäre Klasse wieder auf die Bühne der Geschichte zurückgekehrt war. Doch
diese Kämpfe konnten der Stärke der kapitalistischen Angriffe während den 1980er Jahren nicht trotzen und endeten abrupt mit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989. Es folgte darauf die schwierige Periode der 1990er Jahre, gekennzeichnet durch Entmutigung und Verwirrung innerhalb der Arbeiterklasse und ihren revolutionären Minderheiten. Doch mit dem neuen Jahrtausend kam wieder Bewegung auf. Einerseits entwickelte sich in den letzten Jahren ein Kampf der Arbeiterklasse um die Stärkung des Solidaritätsprinzips. Gleichzeitig bewies die Anwesenheit der zum 17. Kongress der IKS eingeladenen Gruppen die Entwicklung eines weltweiten politischen Nachdenkens unter den kleinen Minderheiten, die internationalistische Positionen aufrechterhalten und Kontakt untereinander herzustellen versuchen.

In dieser Situation ist die Erfahrung von 1947 wichtig und aktuell. Wie eine Saat, die über den Winter unter der Erde verborgen bleibt, stellt sie ein Potenzial für die Internationalisten von heute dar. In dieser kurzen Einführung wollen wir die wichtigsten Lehren der Konferenz von 1947 und der Beteiligung der GCF daran beleuchten.

Die Notwendigkeit politischer Kriterien für die Beteiligung an der Konferenz

Seit dem Verrat der sozialistischen Parteien und Gewerkschaften 1914 und noch mehr seit den 1930er Jahren, als die kommunistischen Parteien - gefolgt von den Trotzkisten in den 1940er Jahren - denselben Weg einschlugen, gab es ein Haufen Gruppen und Parteien, welche behaupteten, der Arbeiterklasse anzugehören, deren wirklicher Existenzgrund aber kein anderer als die Unterstützung der Herrschaft der kapitalistischen Klasse und ihres Staates war. Aus diesem Grund schrieb die GCF 1947: „Es geht nicht um Diskussionen im Allgemeinen, sondern um ein Treffen, das die Diskussion zwischen revolutionären proletarischen Gruppen ermöglicht. Dies bedingt notwendigerweise eine Unterscheidung auf der Basis politischer ideologischer Kriterien. Um jegliche Unklarheiten und Schwankungen zu vermeiden, ist es notwendig, diese Kriterien so klar wie möglich zu formulieren“.[ix]Die GCF formulierte vier Kriterien:

1. den Ausschluss der Trotzkisten aufgrund ihrer Unterstützung des russischen Staates und ihrer Beteiligung am imperialistischen Krieg von 1939-45 auf der Seite der demokratischen und stalinistischen imperialistischen Länder;

2. den Ausschluss derjenigen Anarchisten (in diesem Fall der französischen
anarchistischen Föderation), welche sich an der Volksfront, der kapitalistischen spanischen Regierung von 1936–38 und unter der Fahne des Antifaschismus von 1939-45 an der Résistance beteiligt hatten;

3. den Ausschluss aller Gruppen, die, aus welchem Grund auch immer, am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hatten;

4. die Anerkennung der Notwendigkeit, „den bürgerlichen Staat mit Gewalt zu zerschlagen“, und damit auch die Anerkennung der historischen Bedeutung der Oktoberrevolution von 1917.

Nach der Konferenz wurden die Kriterien von der GCF in ihrem Brief vom Oktober 1947 auf zwei reduziert:

1. „Entschlossenheit für den Kampf für die proletarische Revolution durch die gewaltsame Zerstörung des bürgerlichen Staates und den Aufbau des Sozialismus“;

2. „die Ablehnung jeglicher Akzeptanz gegenüber der Beteiligung am Zweiten imperialistischen Weltkrieg und all den ideologischen Korruptionen, die damit einher gehen, wie die Ideologien des Faschismus und Antifaschismus und ihre nationalen Versatzstücke (die französische Résistance, die nationale und koloniale Befreiung) und ihre politischen Seiten (die Verteidigung der UdSSR, der Demokratien oder des europäischen Nationalsozialismus)“.

Wie wir sehen, sind diese Kriterien auf die Frage des Krieges und der Revolution ausgerichtet, und sie bleiben unseres Erachtens bis heute gültig.[x] Was sich verändert hat, ist der historische Kontext, in dem sie sich heute stellen. Für die Generationen, die heute politisch aktiv werden, sind der Zweite Weltkrieg und die Russische Revolution längst vergangene Ereignisse, die man lediglich aus Geschichtsbüchern kennt. Aber sie bleiben dennoch bedeutend für die revolutionäre Perspektive der Arbeiterklasse und für das Engagement für die Sache des Proletariats. Denn die heutigen Generationen sind durch die notwendige Denunzierung all der Kriege, die den Planeten zerstören (Irak, Israel-Palästina, Tschetschenien, Atomversuche in Nordkorea, usw.), wieder direkt mit der Frage des Krieges konfrontiert.

Die Frage der Revolution stellt sich heute mehr durch die notwendige Entlarvung der himmelschreienden Verfälschungen à la Chavéz als durch einen direkten Bezug zur Russischen Revolution von 1917.

Es existiert heute keine Gefahr einer faschistischen Mobilisierung der Arbeitermassen in einen imperialistischen Krieg, auch wenn es Länder gibt (vor allem im ehemaligen Ostblock), die unter faschistischen Banden leiden, welche, mehr oder weniger durch den Staat gesteuert, die Bevölkerung terrorisieren und für die Revolutionäre ein Problem darstellen. Als Resultat ist auch der Antifaschismus unter den heutigen Bedingungen kein Hauptelement zur ideologischen Kontrolle der Arbeiterklasse, wie dies während des Krieges von 1939–45 der Fall war, als der Antifaschismus als Mittel zur Mobilisierung der Arbeiter hinter den demokratischen Staat diente. Doch auch heute wird er eingesetzt, um die Arbeiter von der Verteidigung ihrer eigenen Klasseninteressen abzubringen.

Die Haltung gegenüber dem Anarchismus

Eine wichtige Diskussion vor und während der Konferenz war die Haltung, die es gegenüber dem Anarchismus einzunehmen galt. Für die GCF war klar: „Wie die Trotzkisten oder jede andere Bewegung, welche mit dem Argument, ein Land (wie Russland) oder eine bürgerliche Herrschaftsform gegenüber der anderen (die Verteidigung der Republik und Demokratie gegen den Faschismus) verteidigen zu müssen, am imperialistischen Krieg teilgenommen haben (oder nehmen), findet die anarchistische Bewegung keinen Platz in dieser Konferenz revolutionärer Gruppen“. Der Ausschluss der Anarchisten war keinesfalls davon bestimmt, dass sie Anarchisten waren, sondern durch ihre Haltung gegenüber dem imperialistischen Krieg. Diese Unterscheidung ist sehr wichtig und wird verdeutlicht durch die Tatsache, dass die Konferenz von einem Anarchisten präsidiert wurde (wie wir in einer „Korrektur“ des Berichts in INTERNATIONALISME, Nr. 24 nachlesen können).

Die Heterogenität der anarchistischen Bewegung ist heute derart groß, dass diese Frage nicht mehr in einer derart einfachen Weise beantwortet werden kann. Unter der Bezeichnung „Anarchisten“ finden wir heute Gruppen, die sich von den Trotzkisten lediglich in der „Parteifrage“ unterscheiden, aber in allen anderen Fragen (bis hin zur Forderung nach einem „palästinensischen Staat“!) die trotzkistischen Positionen unterstützen. Andererseits gibt es wirklich internationalistische Gruppen, mit denen Kommunisten nicht nur eine gute politische Debatte führen, sondern auch gemeinsame Aktivitäten auf der Basis des Internationalismus unternehmen können.[xi] Unserer Ansicht nach gibt es heute absolut keinen Grund, Debatten mit Gruppen oder Individuen abzulehnen, nur weil sie sich als „Anarchisten“ bezeichnen.

Einige andere Punkte

Wir wollen zum Schluss drei andere wichtige Punkte der Konferenz unterstreichen:

– Der erste ist das Vermeiden jeglicher grandioser und leerer Erklärungen: Die Konferenz blieb bezüglich ihrer Wichtigkeit und ihrer Möglichkeiten auf dem Boden. Das bedeutet nicht, dass die GCF damals die Formulierung gemeinsamer Positionen für unmöglich gehalten hätte - ganz im Gegenteil. Doch nach sechs Jahren Krieg konnte die Konferenz nicht mehr sein als eine erste Kontaktaufnahme, bei der unvermeidlich „die Diskussionen nicht genügend vorangekommen waren, um irgendwelche wohlklingenden Resolutionen zu verabschieden“. Heute müssen Revolutionäre sich ihrer enormen Verantwortung bewusst sein, aber gleichzeitig realistisch bleiben bezüglich ihrer Möglichkeiten und Kräfte, mit denen sie ihre Arbeit leisten können.

– Der zweite Punkt ist die Wichtigkeit der Gewerkschaftsfrage. Unserer Ansicht nach ist die Gewerkschaftsfrage seit langem geklärt. Doch dies war nicht vollumfänglich der Fall für die GCF, welche sich 1947 gerade erst die Positionen der Deutsch-Holländischen Linkskommunisten in dieser Frage angeeignet hatte. 1947, genau wie auch heute, lag hinter der Gewerkschaftsfrage das Problem der Kampfmethode. Die Kampfmethode und die Haltung gegenüber den Gewerkschaften ist eine brennende Frage für die Arbeiterklasse und die Revolutionäre auf der ganzen Welt.[xii]

– Drittens wollen wir den Abschnitt wiederholen, den wir zu Beginn des Artikels zitiert haben: „Keine Gruppe besitzt die ‚absolute und ewige Wahrheit‘ (…) Das Leben der Gruppen und ihre ideologische Entwicklung hängen direkt von den Beziehungen ab, die sie untereinander aufbauen können, vom Austausch der Standpunkte, von der Konfrontation der Ideen und der Debatte, die sie international entwickeln können“. Dies ist für uns ein Leitfaden für die kommenden Jahre und ein Grund, weshalb der 17. Kongress der IKS der Frage der Debattenkultur einen derart großen Platz einräumte.[xiii]

IKS, 6. Januar 2008

(Anmerkung: Im nachfolgend abgedruckten Text sind die Fußnoten a und b am Ende des Dokumentes aus dem Original von 1947. Die Fußnoten 1 und 2 am Seitenende haben wir jetzt angefügt, um zwei historische Aspekte kurz zu


[i] Siehe Internationale Revue Nr. 40

[ii] Die in diesem Artikel zitierten Texte sind vollumfänglich in unserer auf Französisch publizierten Broschüre La Gauche Communiste de France zu finden.

[iii] Siehe unser Buch Die Deutsch-Holländische Linke, vor allem das vorletzte Kapitel. Der Communistenbond Spartacus hatte seine Wurzeln in der Marx-Lenin-Luxemburg Front, welche mit aller Kraft an den Streiks der holländischen Arbeiter von 1941 teilnahm, die sich gegen die Deportation von Juden durch die deutsche Besatzungsmacht richteten. Sie verteilten während des Krieges selbst in deutschen Kasernen Flugblätter mit dem Aufruf zur Verbrüderung.

[iv] Es war ein Entscheid Churchills, „die Italiener in ihrem Saft schmoren zu lassen“. Stalin stoppte den Vormarsch der Roten Armee vor den Toren Warschaus, am anderen Ufer der Weichsel, bis das Gemetzel durch die deutschen Truppen abgeschlossen war.

[v] Publiziert in INTERNATIONALISME Nr. 23. Die Hervorhebung ist aus dem Originaltext. Die Communistes Révolutionnaires entstammten der RKD, einer Gruppen österreichischer Trotzkisten, welche nach Frankreich geflüchtet waren. Sie waren die einzige Delegation am Kongress von Périgny, die sich der Gründung der 4. Internationale widersetzte und sie als „Abenteurertum“ bezeichnete.

[vi] ebenda

[vii] ebenda

[viii] Es ist hier nicht der Platz , um die Nachkriegsgeschichte des Communistenbond Spartacus niederzuschreiben. Siehe dazu unser Buch Die Deutsch-Holländische Linke. Hier nur einige Meilensteine: Bald nach der Konferenz von 1947 übernahm der Communistenbond deutlich „rätistische“ Orientierungen in der Organisationsfrage, in der Art der früheren GIC (Groepen van Internationale Communisten). 1964 spaltete sich die Gruppe, und es entstanden der Spartacusbond und Daad en Gedachte (Tat und Gedanke), die vorwiegend von Cajo Brendel angeregt wurde. Der Spartacusbond schlug nach 1968 einen aktivistischen Kurs ein und verschwand 1980. Daad en Gedachte folgte der Logik des Rätismus, um schlussendlich 1989 aufgrund eines Mangels an Beiträgen für ihre Zeitschrift zu verschwinden.

[ix] ebenda

[x] Dies war auch 1976 unsere Haltung, als die Gruppe Battaglia Communista einen Aufruf zu einer Konferenz linkskommunistischer Gruppen machte, aber keinerlei Kriterien für die Teilnahme vorschlug. Wir begrüßten den Aufruf, insistierten aber gleichzeitig: „Damit dieser Vorstoß ein Erfolg wird, damit er wirklich zu einer Annäherung unter den Revolutionären beiträgt, ist es notwendig klare politische Kriterien aufzustellen, die als Basis und Rahmen dienen, damit die Diskussion und die Gegenüberstellung von Ideen fruchtbar und konstruktiv wird“. (siehe Internationale Revue Nr. 40 (engl., franz., span.): „Die Gründung des IBRP, ein opportunistischer Bluff“.

[xi] Die IKS führte verschiedene Debatten und unternahm auch gemeinsame Aktivitäten mit der in Moskau ansässigen KRAS-AIT.

[xii] Siehe auf unserer Website den Artikel zu den Kämpfen in der MEPZA auf den Philippinen.

[xiii] Siehe unsere Artikel über den 17. Kongress der IKS (Internationale Revue Nr. 40) und über die Debattenkultur (in dieser Ausgabe).

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Kommunistische Linke [4]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Französische Kommunistische Linke [5]

Theoretische Fragen: 

  • Internationalismus [6]

Dokument von 1947: Eine internationale Konferenz revolutionärer Gruppen

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Am 25. und 26. Mai hat eine internationale Konferenz für den Kontakt unter den revolutionären Gruppen stattgefunden. Die Konferenz wurde nicht nur aus Sicherheitsgründen nicht groß im Voraus angekündigt, wie wir das von stalinistischer und sozialistischer Seite gewohnt sind. Die Teilnehmer der Konferenz sind sich vollumfänglich der schrecklichen konterrevolutionären Periode, die zurzeit das Proletariat heimsucht, sowie der eigenen Isolation bewusst –unvermeidlich in einer Zeit der sozialen Reaktion. Sie geben sich auch nicht den spektakulären Bluffs hin, die so ganz nach dem Geschmack – nach dem schlechten Geschmack – all der trotzkistischen Gruppen sind.

Diese Konferenz versuchte nicht, sich unmittelbare, konkrete Ziele zu setzen, die in der gegenwärtigen Zeit nicht realistisch sind. Auch versuchte sie nicht, irgendwelche willkürlichen Strukturen im Gewande einer Internationale zu schaffen oder flammende Aufrufe an die Arbeiterklasse zu verfassen. Das einzige Ziel war die Wiederaufnahme des Kontaktes unter den verstreuten revolutionären Gruppen und die Konfrontation ihrer Ansichten über die heutige Situation und die Perspektive des Kampfes der Arbeiterklasse.

Durch die Initiative zu dieser Konferenz hat der Communistenbond Spartacus aus Holland (besser bekannt unter dem Namen RätekommunistenA) die unselige Isolation durchbrochen, in der die Mehrheit der revolutionären Gruppen lebt, und die Klärung einiger gewisser Fragen ermöglicht.

Die Teilnehmer

Folgende Gruppen waren auf der Konferenz vertreten und haben an der Debatte teilgenommen:

– Holland: der Communistenbond Spartacus;

– Belgien: die Gruppen aus Brüssel und Gent, die sich auf den Communistenbond Spartacus beziehen;

– Frankreich: die Gauche Communiste de France und die Gruppe Prolétaire;

– Schweiz: die Gruppe Klassenkampf.[i]

Darüber hinaus nahmen Genossen etlicher revolutionärer Gruppierung entweder persönlich oder durch schriftliche Interventionen an den Debatten der Konferenz teil.

Es gilt auch einen langen Brief zu erwähnen, den die Sozialistische Partei Großbritanniens an die Konferenz adressierte, in dem sie ausführlich ihre spezifischen politischen Positionen formulierte.

Auch die FFGC[ii] sandte einen kurzen Brief, in welchem sie der Konferenz „erfolgreiche Arbeit“ wünschte, aber schrieb, dass sie wegen Zeitmangel und dringender Aufgaben nicht an der Konferenz teilnehmen könne.B

Die Arbeit der Konferenz

Folgende Tagesordnung wurde als Diskussionsrahmen für die Konferenz angenommen:

1. die gegenwärtige Periode;

2. die neuen Kampfformen der Arbeiterklasse (von den alten zu den neuen Kampfformen);

3. Aufgaben und Organisation der revolutionären Avantgarde;

4. Staat – Diktatur des Proletariates – Arbeiterdemokratie;

5. konkrete Fragen und Schlussfolgerungen (Übereinkunft über die internationale Solidarität, Kontakte, internationaler Informationsaustausch usw.).

Diese erste Konferenz war nicht gut genug vorbereitet. Es stand ihr zuwenig Zeit zur Verfügung, und die Tagesordnung erwies sich als viel zu ambitiös, um vollständig absolviert zu werden. Lediglich auf die ersten drei Punkte der Tagesordnung konnte genügend eingegangen werden. Jeder dieser Punkte löste interessante Diskussionen aus.

Natürlich wäre es übertrieben gewesen, zu erwarten, dass dieser Meinungsaustausch Einmütigkeit erzielt. Die Teilnehmer dieser Konferenz hegten keinesfalls solche Ansprüche. Dennoch kann man feststellen, dass die leidenschaftlichen Debatten eine größere Übereinstimmung als erwartet zeitigten.

Beim ersten Punkt der Tagesordnung, der allgemeinen Analyse der gegenwärtigen Epoche des Kapitalismus, hat die Mehrheit der Beiträge die Theorien von James Burnham über die unmittelbare Möglichkeit einer Revolution und die Notwendigkeit, sie anzuführen, abgelehnt. Ebenfalls wurde die Idee zurückgewiesen, nach der die kapitalistische Gesellschaft aufgrund einer möglichen Weiterentwicklung der Produktion fortdauern könne. Die gegenwärtige Periode wurde als die Periode des dekadenten Kapitalismus und der permanenten Krise bezeichnet, die ihren kulturellen und politischen Ausdruck im Staatskapitalismus findet.

Die Frage, ob die Gewerkschaften und die Beteiligung am Parlamentarismus in der heutigen Zeit für die Arbeiterklasse als Organisationsform und Aktionsfeld noch von Nutzen ist, hat eine lebendige und interessante Diskussion ausgelöst. Es ist bedauernswert, dass die Tendenzen, welche diese Formen des Klassenkampfes noch immer befürworten und deren überholten und antiproletarischen Charakter übersehen, nicht an der Konferenz teilnahmen, um ihre Position darzulegen. Dies gilt vor allem für den PCInt in Italien. Die Belgische Fraktion und die Autonome Föderation von Turin waren anwesend, doch ihre Überzeugung gegenüber diesen Positionen, die sie noch kürzlich verteidigt hatten, war dermaßen ins Schwanken geraten, dass sie es vorzogen, sich auf der Konferenz nicht dazu zu äußern.

Die Debatte drehte sich daher nicht um eine mögliche Verteidigung der Gewerkschaften und des Parlamentarismus als Formen des proletarischen Kampfes, sondern diskutierte ausschließlich die historischen Gründe, die Erklärung, warum es unmöglich ist, solche Formen des Kampfes in der gegenwärtigen Zeit weiterhin zu benutzen. In der Frage der Gewerkschaften wurde die Diskussion erweitert; sie drehte sich nicht ausschließlich um die Frage der Organisationsform als solche, die lediglich ein zweitrangiger Aspekt ist. Die Diskussion untersuchte vielmehr die Ziele, die den Kampf zu korporatistischen und ökonomischen Teilforderungen führen, welche im heutigen dekadenten Kapitalismus nicht mehr verwirklicht werden können; noch weniger können sie als Grundlage für eine Mobilisierung der Klasse dienen.

Die Frage der Fabrikkomitees oder Fabrikräte als neue Einheitsorganisation der Arbeiterklasse enthüllt nur ihre volle Bedeutung, wenn sie eng und untrennbar mit den Zielen verknüpft wird, vor denen das Proletariat heute steht. Das Ziel sind nicht ökonomische Reformen im Rahmen des kapitalistischen Regimes, sondern ist eine soziale Umwälzung des kapitalistischen Systems.

Der dritte Punkt der Tagesordnung – Aufgaben und Organisation der revolutionären Avantgarde – griff die Fragen auf, ob eine politische Klassenpartei notwendig ist oder nicht, welche Rolle dieser Partei im Emanzipationskampf der Arbeiterklasse spielt und wie das Verhältnis zwischen der Partei und der Klasse aussieht. Leider konnten diese Fragen nicht so ausführlich besprochen werden, wie wir es uns wünschten.

Die kurze Diskussion darüber erlaubte es den verschiedenen Tendenzen lediglich, ihre Positionen über diese Fragen grob darzulegen. Alle fühlten, dass damit eine entscheidende Frage angeschnitten wurde für eine eventuelle Annäherung unter den verschiedenen revolutionären Gruppen sowie auch für die Zukunft und den Erfolg des Proletariats in seinem Kampf für die Überwindung des Kapitalismus und den Aufbau des Sozialismus. Diese grundlegenden Fragen konnten nur gestreift werden und erfordern weitere Diskussionen zur Vertiefung und Präzisierung. Doch es ist wichtig festzustellen, dass, auch wenn es auf dieser Konferenz Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Rolle einer Organisation von bewussten kommunistischen Militanten gab, die Rätekommunisten und auch die anderen Teilnehmer die Notwendigkeit einer solchen Organisation – ob sie nun Partei genannt wird oder nicht – nicht ablehnten, damit der Sozialismus am Ende triumphiert. Diese Übereinstimmung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Wir hatten auf der Konferenz nicht genügend Zeit, um auf die anderen Punkte der Tagesordnung einzugehen. Gegen Ende fand eine sehr wichtige Diskussion über den Charakter und die Funktion der anarchistischen Bewegung statt. In der Diskussion über die Gruppen, die zu den nächsten Konferenzen eingeladen werden sollten, wurde die – trotz ihrer revolutionären Phraseologie – sozial-patriotische Rolle der anarchistischen Bewegung im Krieg von 1939-45 zur Sprache gebracht. Es wurde festgestellt, dass ihre Beteiligung am Partisanenkampf für die „nationale Befreiung und Demokratie“ in Frankreich, Italien und noch heute in Spanien ein logisches Resultat ihrer Beteiligung an der bürgerlichen „republikanischen und antifaschistischen“ Regierung Spaniens und am imperialistischen Krieg von 1936-38 in Spanien ist.

Unserer Auffassung, dass die anarchistische Bewegung wie die Trotzkisten oder alle anderen Tendenzen, die sich am imperialistischen Krieg beteiligten und noch beteiligen – sei es im Namen der Verteidigung eines Landes (Verteidigung Russlands) oder sei es im Namen der Verteidigung einer bürgerlichen Herrschaftsform gegen eine andere (Verteidigung der Republik und der Demokratie gegen den Faschismus) -, keinen Platz auf einer Konferenz revolutionärer Gruppen hat, wurde von den meisten Teilnehmern zugestimmt. Lediglich der Vertreter der Gruppe Prolétaire sprach sich für die Einladung gewisser nicht-orthodoxer Tendenzen aus dem anarchistischen und trotzkistischen Lager aus.

Schlussfolgerung

Wie schon gesagt, wurde die Konferenz beendet, ohne die Tagesordnung vollständig diskutiert zu haben, ohne praktische Beschlüsse und ohne die Annahme irgendwelcher Resolutionen. Es konnte auch nicht anders sein. Dies nicht so sehr, um die, wie einige Genossen es ausdrückten, religiöse Zeremonie am Ende einer jeden Konferenz zu vermeiden, die in einer Schlussabstimmung über Resolutionen besteht, die nicht viel bedeuten. Unserer Auffassung nach lag dies eher daran, dass die Diskussionen nicht genügend entwickelt waren, um die Abstimmung über eine Resolution zu ermöglichen.

Die Skeptiker und jene, die es nicht gut mit uns meinen, mögen denken: „Also war diese Konferenz nichts anderes als ein Treffen, auf dem dieselben alten Diskussionen wieder aufgegriffen wurden, und daher kaum der Rede wert“. Nichts könnte falscher sein. Wir denken dagegen, dass die Konferenz in der Tat von Interesse war und dass ihre Bedeutung sich künftig im Verhältnis zwischen den verschiedenen revolutionären Gruppen zeigen wird. Denken wir daran, dass diese Gruppen, die letzten 20 Jahre in der Isolation verbracht hatten und auf sich selbst gestellt gewesen waren. Dies hat bei allen eine Art Bunkermentalität oder Sektierertum hervorgerufen. Die vielen Jahre der Isolation haben das Denken, die Auffassungen und die Ausdrucksweise dieser Gruppen derart geprägt, dass sie für die anderen Gruppen oft unverständlich sind. Es besteht unbestritten die Notwendigkeit, sich mit den Ideen und Argumenten der anderen Gruppen auseinanderzusetzen und die eigenen Ansichten der Kritik der Anderen auszusetzen. All das ist Bedingung für das Weiterleben von revolutionären Ideen und gegen den Dogmatismus und macht diese Konferenz so bedeutend.

Der erste Schritt, der wenn auch kein spektakulärer, so doch ein schwieriger war, ist gemacht. Alle Teilnehmer der Konferenz, einschließlich der Belgischen Fraktion, welche erst nach langem Zögern und mit Skepsis teilnahm, haben ihre Zufriedenheit ausgesprochen und waren über die brüderliche Atmosphäre und die Ernsthaftigkeit der Diskussion erfreut. Alle haben gesagt, dass sie eine weitere Konferenz einberufen wollen, die breiter und besser vorbereitet sein soll, und dass sie die begonnene Arbeit der Klärung und Gegenüberstellung von Ideen weiterzuführen beabsichtigen.

Das positive Ergebnis weckt die Hoffnung, den eingeschlagenen Weg fortzuführen, und wird den revolutionären Militanten und Gruppen helfen, die gegenwärtige Situation der Zersplitterung zu überwinden und die Arbeit für die Emanzipation unserer Klasse wirkungsvoller zu gestalten. Dies ist die Klasse, welche vor der Aufgabe steht, die gesamte Menschheit vor der schrecklichen und blutigen Zerstörung durch den dekadenten Kapitalismus zu bewahren.

Marco

A In der Zeitschrift Le Libertaire vom 29. Mai findet man einen Artikel über diese Konferenz, der ein Phantasiegebilde ist. Der Autor, der mit AP unterschreibt und sich als Spezialist für die Geschichte der kommunistischen Arbeiterbewegung bezeichnet, nimmt die „Freiheit“ im Umgang mit der Geschichte etwas zu wörtlich. Er beschreibt die Konferenz – an der er gar nicht teilnahm und von der er auch gar nichts weiß – als eine Konferenz von Rätekommunisten. In Wirklichkeit nahmen Letztere, obwohl sie zur Konferenz aufgerufen hatten, mit demselben Status daran teil wie alle anderen. AP nimmt die „Freiheit“ aber nicht nur bezüglich der Vergangenheit, sondern auch bezüglich der Zukunft auf die leichte Schulter. In der Manier jener Journalisten, die die Exekution Görings schon im Voraus in Details beschrieben hatten, ohne auf die Idee zu kommen, dass dieser die Unverschämtheit besitzen könnte, im letzten Moment Selbstmord zu begehen, hat der Historiker AP in Le Libertaire die Beteiligung anarchistischer Gruppen an der Konferenz angekündigt, obwohl dem gar nicht so war. Es stimmt, dass Le Libertaire tatsächlich eingeladen war, doch sie schlugen diese Einladung unserer Ansicht nach zu Recht aus. Die Beteiligung von Anarchisten an der republikanischen Regierung und am imperialistischen Krieg in Spanien 1936-38, die Weiterführung ihrer Kollaborationspolitik mit allen spanischen politischen Formationen in der Emigration unter der Fahne des Antifaschismus und des Kampfes gegen Franco, die ideologische und aktive Beteiligung von Anarchisten in der „Résistance“ gegen die „fremde“ Besatzungsmacht haben aus ihnen eine Strömung gemacht, die dem revolutionären Kampf der Arbeiterklasse absolut fremd ist. Die anarchistische Bewegung hatte aus diesem Grund keinen Platz in dieser Konferenz, und es war ein Fehler, sie überhaupt einzuladen.

[i] Eine „Korrektur“, die in INTERNATIONAL-ISME Nr. 24, veröffentlicht wurde, geht auf die Teilnahme der „Autonomen Sektion von Turin“ des PCInt (Partito Comunista Internazionalista, nicht die stalinistische PCI!) ein. Die Sektion verfasste diese Korrektur, um den im Rapport entstandenen Eindruck bezüglich einiger ihrer Positionen richtigzustellen: Die Sektion „erklärte sich autonom eben wegen ihrer Meinungsverschiedenheiten über die Frage des Parlamentarismus und die Schlüsselfrage der Einheit der revolutionären Kräfte“

[ii] Die FFGC, die sogenannte „Französische Fraktion der Kommunistischen Linken“, hatte mit der GCF auf einer unklaren politischen Basis gebrochen, welche mehr mit persönlichen Unstimmigkeiten und Ressentiments zu tun hatte als mit wirklichen Differenzen. Siehe dazu unsere Broschüre La Gauche Communiste de France.

B Die „dringenden Arbeiten“ der FFGC drücken gut aus, wie ernst sie den Kontakt mit anderen revolutionären Gruppen nimmt. Worunter leidet die FFGC tatsächlich? An einem „Zeitmangel“ oder an einem Mangel an Interesse und Verständnis für die Wichtigkeit des Kontaktes und der Diskussionen unter revolutionären Gruppen? Oder macht ihnen etwa die Konfrontation ihrer Positionen mit denen anderer Gruppen wegen ihres Mangels an politischer Orientierung Angst (mal für, mal gegen die Beteiligung an den Wahlen; mal für, mal gegen die Arbeit in den Gewerkschaften, mal für, mal gegen die Beteiligung an antifaschistischen Komitees usw.)?

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Kommunistische Linke [4]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Französische Kommunistische Linke [5]

Die Debattenkultur: Eine Waffe des Klassenkampfes

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Die „Debattenkultur“ ist weder für die Arbeiterbewegung noch für die IKS eine neue Frage. Dennoch hat der Verlauf der Geschichte unsere Organisation – seit Anfang des neuen Jahrtausends – gezwungen, zu dieser Frage zurückzukehren und sie noch gründlicher zu untersuchen. Es gab zwei wichtige Entwicklungen, die uns veranlasst haben, dies zu tun: erstens das Auftreten einer neuen Generation von Revolutionären und zweitens die interne Krise, die wir zu Beginn dieses Jahrhunderts erlitten hatten.

Der politische Dialog und die neue Generation

Es war in der ersten Linie der Kontakt mit einer neuen Generation von Revolutionären, der die IKS dazu veranlasste, ihre Offenheit nach außen und ihre Fähigkeit zum politischen Dialog bewusster zu pflegen.

Jede Generation bildet ein Glied in der Kette der Menschheitsgeschichte. Jede von ihnen wird mit drei fundamentalen Aufgaben konfrontiert: damit, das kollektive Erbe von der vorherigen Generation zu übernehmen; dieses Erbe auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrung zu bereichern und es schließlich weiterzureichen, so dass die nächste Generation mehr erreichen kann, als eigentlich in ihrem Vermögen steht.

Diese Aufgaben sind alles andere als leicht und stellen eine besondere Herausforderung dar. Dies trifft auch auf die Arbeiterbewegung zu. Die ältere Generation hat ihre Erfahrungen anzubieten. Doch sie trägt auch an den Wunden und Traumata ihrer Kämpfe, musste lernen, Niederlagen, Enttäuschungen und der Tatsache ins Gesicht zu schauen, dass die Erringung von dauernden Errungenschaften des kollektiven Kampfes oftmals mehr als eine Lebensspanne erfordert.[i] Es benötigt die Energie und den Elan der folgenden Generation, aber auch ihre neuen Fragen und ihre Fähigkeit, die Welt mit anderen Augen zu betrachten.

Doch so sehr sich die Generationen gegenseitig benötigen, ist ihre Fähigkeit, die nötige Einheit zu schmieden, nicht automatisch gegeben. Je mehr sich die Gesellschaft von der Naturalwirtschaft entfernte, je unablässiger und schneller der Kapitalismus die Produktivkräfte und die gesamte Gesellschaft „revolutioniert“, desto mehr unterscheiden sich die Erfahrungen der einen Generation von der nächsten. Der Kapitalismus, das Konkurrenzsystem schlechthin, spielt die Generationen im Kampf einer gegen alle gegenseitig aus.

Dies im Hinterkopf begann unsere Organisation, sich auf die Aufgabe einzustellen, diese Verbindung zu knüpfen. Doch mehr noch als diese Vorbereitung war es die aktuelle Erfahrung, auf diese neue Generation zu stoßen, die der Frage der Debattenkultur eine - in unseren Augen - zusätzliche Bedeutung verlieh. Wir trafen auf eine Generation, die dieser Frage eine weitaus größere Bedeutung beimisst als die 68er Generation. Das erste wichtige Anzeichen für diesen Wandel in der Arbeiterklasse insgesamt war die Massenbewegung der Studenten und Schüler im Frühjahr 2006 in Frankreich gegen die „Prekarisierung“ der Beschäftigung. Hier fiel die Betonung der freiesten und breitesten Debatte insbesondere in den allgemeinen Versammlungen besonders stark ins Auge. Im Gegensatz dazu war die Studentenbewegung, die sich in den späten 60er Jahren entwickelt hatte, häufig von ihrer Unfähigkeit zum politischen Dialog gekennzeichnet. Dieser Unterschied ist in erster Linie ein Ausdruck der Tatsache, dass das Studentenmilieu heute weitaus stärker proletarisiert ist, als dies vor vierzig Jahren der Fall gewesen war. Die intensive, breite Debatte war stets ein wichtiger Eckpfeiler proletarischer Massenbewegungen gewesen und charakterisierte auch die Arbeiterversammlungen 1968 in Frankreich oder 1969 in Italien. Doch 2006 gab es eine Offenheit der kämpfenden Jugend gegenüber den älteren Generationen, eine Neugier, um von ihren Erfahrungen zu lernen. Dies unterschied sich deutlich vom Verhalten der Studentenbewegung in Deutschland Ende der 60er Jahre (was vielleicht die Stimmung zu jener Zeit am meisten karikierte). Einer ihrer Slogans war: alle über 30 ab ins Konzentrationslager! Hand in Hand mit dieser Ansicht ging die Praxis einher, jeden Anderen niederzubrüllen, „rivalisierende“ Treffen gewaltsam zu sprengen etc. Hier liegt auf psychologischer Ebene eine der Wurzeln für die Entwicklung des Terrorismus als eine Protestform nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien. Der Bruch in der Kontinuität zwischen den Generationen der Arbeiterklasse war eine der Wurzeln dieses Problems, sind doch die Beziehungen zwischen den Generationen seit altersher ein bevorzugter Bereich, um eine Dialogbereitschaft zu schaffen. Die Militanten von 1968 unterstellten der Generation ihrer Eltern, sich an den Kapitalismus „verkauft“ zu haben, oder betrachteten sie (wie in Deutschland oder Italien) als eine Generation von Faschisten und Kriegsverbrechern. Für die ArbeiterInnen, die die schreckliche Ausbeutung der Nachkriegsphase nach 1945 in der Hoffnung ertragen hatten, dass es ihren Kinder einst besser ergehen würde als ihnen, war es eine bittere Enttäuschung zu hören, wie ihre Kinder sie beschuldigten, „Parasiten“ zu sein, die von der „Ausbeutung der Dritten Welt“ lebten. Jedoch gibt es auch keinen Zweifel, dass die Elterngeneration jener Zeit weitestgehend die Dialogbereitschaft verloren hatte oder zumindest nicht gelernt hatte. Diese Generation trug durch den II. Weltkrieg und den Kalten Krieg, durch die faschistische, stalinistische und sozialdemokratische Konterrevolution schlimme Narben davon.

Im Gegensatz dazu kündigte sich 2006 in Frankreich etwas Neues und außerordentlich Fruchtbares an.[ii] Bereits einige Jahre zuvor hatte sich das Anliegen der neuen Generation in Gestalt der revolutionären Minderheiten der Arbeiterklasse angekündigt. Diese Minderheiten waren von dem Moment an, wo sie die Ebene des politischen Lebens betraten, mit ihrer eigenen Kritik am Sektierertum und an der Verweigerung der Debatte gewappnet. Eine der ersten Forderungen, die sie erhoben, war, dass die Debatte nicht als ein Luxus betrachtet werden dürfe, sondern als eine dringende Notwendigkeit; dass jene, die sich an ihr beteiligen, den Anderen ernstnehmen und lernen sollten, sich einander zuzuhören; dass Argumente die Waffen dieser Auseinandersetzung sind, und nicht die brutale Gewalt oder der Appell an moralische bzw. theoretische „Autoritäten“. In Bezug auf das internationalistische proletarische Lager kritisierten diese Genossen im All-gemeinen (und völlig richtig) den Mangel an solidarischer Debatte zwischen den existierenden Gruppen. Sie verwarfen ohne Umschweife den Gedanken, dass der Marxismus ein Dogma sei, welches die neue Generation unkritisch adoptieren müsse.[iii]

Was uns anging, so waren wir von der Reaktion dieser neuen Generation gegenüber der IKS überrascht. Die neuen Genossen, die auf unseren öffentlichen Treffen erschienen, die Kontakte überall auf der Welt, die mit uns zu korrespondieren begannen, die verschiedenen politischen Gruppierungen und Zirkel, mit denen wir debattierten – sie alle sagten uns wiederholt, dass sie den proletarischen Charakter der IKS nicht nur wegen unserer programmatischen Positionen, sondern auch wegen unserer Haltung – insbesondere die Art, wie wir debattierten – anerkannten.

Woher kommt dieses tiefe Anliegen der neuen Generation in dieser Frage? Wir denken, es resultiert aus dem Ausmaß der historischen Krise des Kapitalismus, die heute weitaus schwerwiegender und gefährlicher ist als nach 1968. Dies erfordert die radikalste Kritik am Kapitalismus, die bis in die tiefsten Wurzeln der Probleme reichen muss. Eine der ruinösesten Auswirkungen des bürgerlichen Individualismus ist die Art und Weise, wie er die Fähigkeit zerstört, zu diskutieren und insbesondere einander zuzuhören und voneinander zu lernen. Der Dialog wird von der Rhetorik ersetzt; Sieger ist jener, der den meisten Krach macht (wie in bürgerlichen Wahlen). Die Debattenkultur ist dank der menschlichen Sprache der Hauptweg, das Bewusstsein als erstrangige Waffe für jene Klasse zu entwickeln, die die Zukunft der Menschheit in sich trägt. Für das Proletariat ist sie das einzige Mittel zur Überwindung seiner Isolation und Ungeduld und dafür, in Richtung einer Vereinigung seiner Kämpfe zu gehen.

Ein anderer Aspekt dieses Anliegens heute ist der Kampf, um den Albtraum des Stalinismus zu überwinden. Viele der Mitstreiter, die heute internationalistischen Positionen zustreben, kommen direkt aus dem linksextremistischen Milieu und sind von Letzterem beeinflusst. Dieses Milieu stellt eine Karikatur der dekadenten bürgerlichen Ideologie und Haltung in einem sozialistischen Gewand dar. Diese Militanten wurden politisch dazu gebracht zu glauben, dass der Austausch von Argumenten mit dem „bürgerlichen Liberalismus“ identisch sei, dass ein „guter Kommunist“ jemand sei, der seinen Mund hält sowie seinen Kopf und seine Gefühle ausschaltet. Die Genossen, die heute entschlossen sind, diese Auswirkungen dieses todgeweihten Produkts der Konterrevolution abzuschütteln, verstehen in wachsendem Maße, dass dies die Ablehnung nicht nur ihrer Positionen, sondern auch ihrer Mentalität erfordert. Indem sie so verfahren, tragen sie zur Re-Etablierung einer Tradition der Arbeiterbewegung bei, die vom Aussterben bedroht war, als die Konterrevolution einen Bruch in ihrer organischen Kontinuität verursachte.[iv]

Organisationskrisen und die Tendenz zum Monolithismus

Der zweite bedeutende Impuls für die IKS, zur Frage der Diskussionskultur zurückzukommen, war unsere eigene interne Krise zu Beginn des neuen Jahrtausends, die von einem bösartigen Verhalten gekennzeichnet war, wie wir es in unseren Reihen noch nie erlebt hatten. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte musste die IKS nicht einen, sondern mehrere ihrer Mitglieder ausschließen.5[v] Am Anfang dieser Krise standen Schwierigkeiten und Meinungsverschiedenheiten in der Frage der Zentralisierung in unserer französischen Sektion. Eigentlich gibt es keinen Grund, warum Divergenzen dieser Art die Ursache einer Organisationskrise sein sollen. Und sie waren auch nicht die Ursache. Was die Krise verursachte, war die Weigerung, zu diskutieren, und besonders der Versuch, zu isolieren und zu verunglimpfen; d.h. jene persönlich anzugreifen, mit denen man nicht übereinstimmte.

Im Anschluss an diese Krise verpflichtete sich die Organisation, bis an die tiefsten Wurzeln der Krisen und Abspaltungen in unserer Geschichte zu gehen. Wir haben bereits Beiträge zu einigen dieser Aspekte veröffentlicht.[vi] Eine der Schlussfolgerungen, zu denen wir gelangten, war, dass in all den Abspaltungen, die wir erlitten, die Tendenz zum Monolithismus eine wichtige Rolle spielte. Sobald Divergenzen auftraten, begannen gewisse Mitglieder zu behaupten, dass sie nicht länger mit den anderen zusammenarbeiten könnten, dass die IKS zu einer stalinistischen Organisation geworden sei oder sich im Prozess der Degenerierung befinde. Diese Krisen brachen anlässlich von Divergenzen aus, die in einer nichtmonolithischen Organisation größtenteils problemlos eingedämmt und in jedem Fall diskutiert und geklärt worden wären, ehe auch nur der Gedanke an eine Trennung aufgekommen wäre.

Das wiederholte Auftreten von monolithischen Herangehensweisen ist durchaus überraschend in einer Organisation, die sich gerade auf die Traditionen der Italienischen Fraktion beruft, welche stets den Standpunkt vertrat, dass, wann immer es Divergenzen über fundamentale Prinzipien gibt, gründliche und kollektive Klärung jeder organisatorischen Trennung vorausgehen müsse.

Die IKS ist die einzige Strömung der Kommunistischen Linken heute, die sich ausdrücklich in die organisatorische Tradition der Italienischen Fraktion (Bilan) und der Französischen Kommunistischen Linken (GCF) stellt. Im Gegensatz zu den Gruppen, die aus dem PCInt stammen, welcher Ende des II. Weltkrieges in Italien gegründet worden war, erkannte die Italienische Fraktion den überaus proletarischen Charakter der anderen internationalen Strömungen der Kommunistischen Linken an, die in Reaktion auf die stalinistische Konterrevolution entstanden waren, insbesondere die Deutsche und die Holländische Linke. Weit davon entfernt, diese Strömungen als „anarchospontaneistisch“ oder „syndikalistisch“ abzutun, lernte sie von ihnen, was zu lernen war. Tatsächlich betraf ihre Hauptkritik an dem, was später zur „rätekommunistischen“ Strömung wurde, deren Sektierertum, das sich durch ihre Ablehnung der Beiträge der Zweiten Internationale und insbesondere des Bolschewismus ausgedrückt hat.[vii] Auf diese Weise hielt die Italienische Fraktion selbst in der fürchterlichen Konterrevolution das marxistische Verständnis aufrecht, dass sich Klassenbewusstsein kollektiv entwickelt und dass keine Partei oder Tradition ein Monopol darauf erheben kann. Daraus folgerte sie, dass das Bewusstsein nicht ohne solidarische, öffentliche, internationale Debatte entwickelt werden kann.[viii] Doch dieses fundamentale Verständnis, obgleich Teil des grundlegenden Erbes der IKS, ist nicht leicht in die Praxis umzusetzen. Die Debattenkultur kann nur gegen den Strom der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt werden. Da die spontane Tendenz innerhalb des Kapitalismus nicht die Klärung von Ideen ist, sondern die Gewalt, Manipulation und das Erringen von Mehrheiten (am beispielhaftesten im Wahlzirkus der bürgerlichen Demokratie), enthält die Infiltration dieses Einflusses in proletarischen Organisationen die Keime der Krise und Degeneration. Die Geschichte der bolschewistischen Partei veranschaulicht dies perfekt. So lange wie die Partei die Speerspitze der Revolution war, war die lebendigste, oft kontroverse Debatte eines ihrer Hauptmerkmale. Im Gegensatz dazu war die Verbannung realer Fraktionen (nach dem Massaker von Kronstadt von 1921) ein unübersehbares Anzeichen und aktiver Faktor ihrer Degenerierung. Desgleichen kann die Praxis der „friedlichen Koexistenz“ (d.h. die Nicht-Debatte) von einander widersprechenden Positionen, die bereits den Gründungsprozess des Partio Comunista Internazionalista auszeichnete, oder die Theoretisierung der Tugenden des Monolithismus durch Bordiga und seine Anhänger nur im Zusammenhang mit der historischen Niederlage in der Mitte des 20. Jahrhunderts verstanden werden.

Wenn revolutionäre Organisationen ihre fundamentale Rolle bei der Entwicklung und Ausbreitung von Klassenbewusstsein erfüllen wollen, ist die Kultivierung einer kollektiven, internationalen, solidarischen und öffentlichen Diskussion absolut notwendig. Es ist wahr, dass dies einen hohen Grad an politischer Reife (und auch allgemeiner, an menschlicher Reife) erfordert. Die Geschichte der IKS ist eine Illustrierung der Tatsache, dass dies nicht über Nacht erreicht werden kann, sondern das Produkt einer historischen Entwicklung ist. Heute hat die neue Generation eine wichtige Rolle in diesem Reifungsprozess zu spielen.

Die Debattenkultur in der Geschichte

Die Fähigkeit, zu debattieren, war ein Hauptkennzeichen in der Arbeiterbewegung gewesen. Doch die Debattenkultur war keine Erfindung der Arbeiterbewegung. Wie in anderen wichtigen Bereichen war auch hier der Kampf für den Sozialismus in der Lage, die großen Errungenschaften der Menschheit zu assimilieren, indem er sie auf seine eigenen Bedürfnisse anwendete. Dadurch wandelte er diese Qualitäten um und hob sie auf eine höhere Ebene.

Grundsätzlich ist die Debattenkultur ein Ausdruck des eminent sozialen Charakters der Menschheit. Sie ist insbesondere eine Auswirkung des spezifisch menschlichen Gebrauchs der Sprache. Der Gebrauch der Sprache als ein Mittel zum Informationsaustausch ist etwas, was die Menschheit mit vielen Tieren teilt. Was die Menschheit jedoch vom Rest der Natur unterscheidet, ist die Fähigkeit, Argumentationen (die mit der Entwicklung der Logik und der Wissenschaften verknüpft sind) zu pflegen, auszutauschen und die anderen kennenzulernen (die Kultivierung des Mitgefühls, das unter anderem mit der Entwicklung der Kunst verknüpft ist).

Folglich ist diese Qualität nicht neu. In der Tat ging sie der Klassengesellschaft voraus und spielte mit Sicherheit eine tragende Rolle beim Aufstieg der Menschheit. Engels beispielsweise nahm auf die Rolle der allgemeinen Versammlungen der Griechen in der homerischen Epoche, der frühen deutschen Stämme oder der Irokesen in Nordamerika Bezug und pries besonders die Debattenkultur Letztgenannter.[ix] Leider sind wir, trotz des Pionierwerks solcher Menschen wie Lewis Henry Morgan im 19. Jahrhundert und seiner Nachfolger, nur unzureichend über die frühen und mit ziemlicher Sicherheit entscheidenden Entwicklungen auf diesem Gebiet informiert.

Doch was wir wissen, ist, dass die Philosophie und die Anfänge des wissenschaftlichen Denkens in der Geschichte zu blühen begannen, als die Mythologie und der naive Realismus – dieses antike, widersprüchliche und doch unzertrennliche Paar – in Frage gestellt wurden. Beide sind Gefangene der Unfähigkeit, die un-mittelbaren Erfahrungen besser zu verstehen. Die Gedanken, die sich der frühe Mensch über seine praktische Erfahrung machte, waren religiöser Natur. „Seit der frühen Zeit, wo die Menschen, noch in gänzlicher Unwissenheit über ihren eigenen Körperbau und angeregt durch Traumerscheinungen, auf die Vorstellung kamen, ihr Denken und Empfinden sei nicht eine Tätigkeit ihres Körpers, sondern einer besonderen, in diesem Körper wohnenden und ihn mit beim Tode verlassenden Seele – seit dieser Zeit mussten sie über das Verhältnis dieser Seele zur äußern Welt sich Gedanken machen. Wenn sie im Tod sich vom Körper trennte, fortlebte, so lag kein Anlass vor, ihr noch einen besondren Tod anzudichten; so entstand die Vorstellung von ihrer Unsterblichkeit, die auf jener Entwicklungsstufe keineswegs als ein Trost erscheint, sondern als ein Schicksal, wogegen man nicht ankann, und oft genug, wie bei den Griechen, als ein positives Unglück.“ (Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, MEW 21, S. 274)

Die ersten Schritte in der langsamen Entwicklung der Kultur und der Produktivkräfte fanden im Rahmen des naiven Realismus statt. Das magische Denken hatte, auch wenn es bis zu einem gewissen Grad psychologische Weisheiten enthielt, vor allem die Aufgabe, das Un-erklärliche zu erklären, um so die Furcht zu begrenzen. Beides, Mythologie und naiver Realismus, leistete wichtige Beiträge zum Fortschritt der Menschheit. Die Behauptung, dass der reale Realismus eine besondere Affinität zur materialistischen Philosophie habe oder dass Letzterer sich direkt aus ihm entwickelt habe, entbehren jedoch jeglicher Grundlage.

„Es ist ein alter Satz der in das Volksbewusstsein übergegangenen Dialektik, dass die Extreme sich berühren. Wir werden uns demnach schwerlich irren, wenn wir die äußersten Grade der Phantasterei, Leichtgläubigkeit und Aberglauben suchen nicht etwa bei derjenigen naturwissenschaftlichen Richtung, die, wie die deutsche Naturphilosophie, die objektive Welt in den Rahmen ihres subjektiven Denkens einzuzwängen suchte, sondern vielmehr bei der entgegengesetzten Richtung, die, auf die bloße Erfahrung pochend, das Denken mit souveräner Verachtung behandelt und es wirklich in der Gedankenlosigkeit auch am weitesten gebracht hat. Diese Schule herrscht in England.“ (Engels: Dialektik der Natur, MEW 20, S. 337)

Die Religion entstand, wie Engels aufzeigt, nicht nur aus einer magischen Weltanschauung, sondern auch aus dem naiven Realismus. Ihren ersten, oft kühnen Verallgemeinerungen über die Welt war notwendigerweise ein autoritativer Charakter verliehen.

Die ersten Bauerngemeinden begriffen beispielsweise schnell ihre Abhängigkeit vom Regen, doch waren sie noch weit entfernt davon, die Bedingungen zu begreifen, von denen der Regen abhängt. Die Erfindung eines Regengottes ist ein schöpferischer, sich selbst versichernder Akt, der den Eindruck erweckt, dass es möglich ist, den Verlauf der Natur durch Zuwendungen und Hingabe zu beeinflussen. Der Homo sapiens ist eine Spezies, die sich auf die Entwicklung des Bewusstseins zur Absicherung ihres Überlebens verlässt. Als solche ist sie mit einem bis dahin nie gekannten Problem konfrontiert: mit der oft lähmenden Furcht vor dem Unbekannten. Die Erklärungen des Unbekannten müssen also über alle Zweifel erhaben sein. Aus diesen Bedürfnissen heraus entstanden als ihr höchstentwickelter Ausdruck die Religionen der Offenbarung. Die ganze emotionale Grundlage dieser Weltsicht ist der Glaube, nicht das Wissen.

Der naive Realismus ist nichts anderes als die andere Seite derselben Münze, einer Art elementare geistige „Arbeitsteilung“. Was auch immer wir nicht in einem unmittelbaren, praktischen Sinne erklären können, betritt die Welt der Magie. Mehr noch, das praktische Verständnis ist selbst in einer religiösen Vision eingebettet, ursprünglich in jener des Animismus. Hier wird die ganze Welt zum Fetisch. Selbst die Prozesse, die das menschliche Wesen bewusst produzieren und reproduzieren kann, finden allem Anschein nach unter Zuhilfenahme personalisierter Kräfte statt, die unabhängig von unserem Willen existieren.

Es ist klar, dass es in dieser Welt wenig Platz für die Debatte im modernen Sinne des Begriffes gab. Ungefähr vor zweieinhalb Tausend Jahren begann sich eine neue Qualität stärker Geltung zu verschaffen, die das Zwillingspaar von Religion und „gesundem Menschenverstand“ direkt konfrontierte. Sie entwickelte sich aus den alten traditionellen Denkmustern in dem Sinne, dass sich Letztere in ihr Gegenteil verkehrten. So wandelte sich das frühe dialektische Denken, das der Klassengesellschaft vorausging – ausgedrückt z.B. in China durch die Idee der Polarität zwischen Yin und Yang, zwischen dem männlichen und weiblichen Prinzip -, in ein kritisches Denken um, das auf den wesentlichen Komponenten der Wissenschaft, der Philosophie und des Materialismus beruhte. Doch wäre all dies undenkbar gewesen ohne das, was wir Debattenkultur nennen.

Was verhalf dieser neuen Vorgehensweise zu ihrem Aufstieg? Ganz allgemein gesprochen, war es die Vergrößerung der Welt der gesellschaftlichen Beziehungen und des sozialen Wissens. Wie Engels zu sagen beliebte, ist der gesunde Menschenverstand ein starker und gesunder Bursche, solange er sich zuhause in seinen vier Wänden aufhält, doch erlebt er alle Arten von Unfällen, sobald er sich in die große, weite Welt hinauswagt. Doch auch die Grenzen der Religion bei der Eindämmung der Furcht wurden enthüllt. In der Tat hatte sie die Furcht nicht genommen, sondern bloß nach außen verlagert. Durch diesen Mechanismus hatte die Menschheit versucht, mit einem Schrecken fertig zu werden, der sie andernfalls zu einer Zeit, als sie noch keine anderen Selbstverteidigungsmittel hatte, zerschmettert hätte. Doch dadurch machte sie ihre eigene Furcht zu einer weiteren Kraft, die über sie herrschte.

Zu „erklären“, was noch unerklärlich ist, bedeutet, auf ihre wirkliche Untersuchung zu verzichten. So kommt es zum Kampf zwischen Religion und Wissenschaft, zwischen Glauben und Wissen oder, wie Spinoza es formulierte, zwischen Unterwerfung und Untersuchung. Die griechische Philosophie entstand ursprünglich in Opposition zur Religion. Schon Thales, der erste uns bekannte Philosoph, brach aus der mystischen Weltsicht aus. Anaximander, der ihm folgte, forderte, dass die Natur aus sich selbst erklärt werden müsse.

Doch das griechische Denken war auch eine Kriegserklärung an den naiven Realismus. Heraklitus erklärte, dass das Wesen der Dinge nicht auf ihrer Stirn geschrieben steht. „Die Natur liebt es sich zu verbergen“, erklärte er. Oder wie Marx sagte: „Und alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen.“ (Marx: Kapital, Bd. 1, S. 825)

Die neue Herangehensweise forderte neben dem Glauben auch das Vorurteil und die Tradition heraus, die das Credo des Alltagslebens ist (in der deutschen Sprache haben Glaube und Aberglaube eine gemeinsame Wurzel). Dagegen standen Theorie und Dialektik. „Man mag noch so viel Geringschätzung hegen für alles theoretische Denken, so kann man doch nicht zwei Naturtatsachen in Zusammenhang brin-gen oder ihren bestehenden Zusammenhang einsehen ohne theoretisches Denken.“ (Engels: Dialektik der Natur, MEW 20, S. 346)

Der wachsende gesellschaftliche Umgang war natürlich mit der Entwicklung der Produktivkräfte verknüpft. So erschienen zusammen mit den Problemen – die Ungenügendheit der herrschenden Denkweise – auch die Mittel zu ihrer Lösung. In erster Linie ein gesteigertes Selbstvertrauen insbesondere in die Kraft des menschlichen Gedankens. Die Wissenschaft kann nur entstehen, wenn es eine Fähigkeit und Bereitschaft gibt, die Existenz von Zweifeln und Unsicherheiten zu akzeptieren. Im Gegen-satz zur Autorität der Religion und der Tradition ist die Wahrheit der Wissenschaft nicht absolut, sondern relativ. So ergibt sich nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit des Meinungsaustausches.

Es liegt auf der Hand, dass das Bekenntnis zur Herrschaft des Wissens nur gemacht werden kann, wo die Produktivkräfte (im breitesten kulturellen Sinne) einen bestimmten Reifegrad erreicht haben. Es ist unvorstellbar ohne eine entsprechende Entwicklung der Künste, der Bildung, der Literatur, der Naturbeobachtung, der Sprache. Und es geht auf einer bestimmten Stufe in der Geschichte Hand in Hand mit dem Aufkommen einer Klassengesellschaft und einer herrschenden Schicht, die von der Bürde der materiellen Produktion befreit ist. Doch diese Entwicklungen verhalfen der neuen, un-abhängigen Herangehensweise nicht automatisch zu ihrem Aufstieg. Weder die Ägypter noch die Babylonier, trotz ihrer wissenschaftlichen Fortschritte, noch die Phönizier, die als erste ein modernes Alphabet entwickelten, gingen so weit in diese Richtung wie die Griechen.

In Griechenland war es die Entwicklung der Sklaverei, die das Auftauchen einer Klasse von freien Bürgern neben den Priestern ermöglichte. Diese lieferte die materielle Grundlage für die Untergrabung der Religion. (Wir können so die Formulierung von Engels im AntiDühring besser verstehen: ohne die Sklaverei in der Antike kein moderner Sozialismus.) In Indien, wo ungefähr zur gleichen Zeit eine Entwicklung von Philosophie, Materialismus (die so genannte Lokayata) und des Studiums der Natur stattfand, fiel dies mit der Bildung und Stärkung eines Kriegsadels zusammen, der sich der Brahmanischen Theokratie widersetzte, eines Adels, der teilweise auf landwirtschaftlicher Sklaverei basierte. Wie in Griechenland, wo der Kampf von Heraklitus gegen Religion, Unmoral und die Verurteilung körperlicher Freuden sich direkt gegen die Vorurteile sowohl der herrschenden Tyrannen als auch der unterdrückten Bevölkerung richtete, ging die neue militante Vorgehensweise in Indien von der Aristokratie aus. Buddhismus und Jainismus, die ungefähr zur selben Zeit erschienen, waren weitaus tiefer in der geplagten Bevölkerung verankert, aber sie blieben im religiösen Rahmen – mit ihrer Auffassung von der Re-Inkarnation der Seele, die typisch für eine Kastengesellschaft war, der sie sich widersetzten (auch in Ägypten zu finden).

Im Gegensatz dazu wurde dies in China, wo es eine Entwicklung der Wissenschaft und einer Art von rudimentärem Materialismus (zum Beispiel in der Logik von Mo’-Ti‘) gab, durch das Fehlen einer Kaste von herrschenden Priestern, gegen die man aufbegehren konnte, eingeschränkt. Das Land wurde von einer Militärbürokratie beherrscht, die im Kampf gegen die benachbarten „Barbaren“ gebildet worden war.[x]

In Griechenland gab es einen zusätzlichen und in vielerlei Hinsicht entscheidenden Faktor, der auch in Indien eine wichtige Rolle spielte: eine fortgeschrittene Entwicklung der Warenproduktion. Die griechische Philosophie nahm ihren Anfang nicht im griechischen Kernland, sondern in den Hafenkolonien in Kleinasien. Warenproduktion beinhaltet nicht nur den Austausch von Gütern, sondern auch den der Erfahrung, der sich aus ihrer Produktion ergibt. Sie beschleunigte die Geschichte; sie begünstigte die höheren Ausdrücke des dialektischen Denkens. Sie ermöglichte einen Grad der Individualisierung, ohne den ein Gedankenaustausch auf solch hohem Niveau schwierig gewesen wäre. Und sie begann der Isolation ein Ende zu bereiten, in der die soziale Evolution zuvor stattgefunden hatte. Die ökonomische Grundeinheit aller Bauerngesellschaften, die auf der Naturalwirtschaft beruhten, ist das Dorf oder allenfalls die regionale Autarkie. Doch die ersten ausbeutenden Gesellschaften, die auf einer größeren Kooperation, oft im Interesse der künstlichen Bewässerung, basierten, waren noch immer agrarwirtschaftlich in ihrem Kern. Im Gegensatz dazu öffnete der Handel und die Seefahrt der griechischen Gesellschaft die Welt. Sie reproduzierte, aber auf einem höheren Niveau, die Haltung der Eroberung und Entdeckung der Welt, die nomadische Gesellschaften auszeichnet. Die Geschichte zeigt, dass von einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung an das Auftauchen des Phänomens der öffentlichen Debatte untrennbar mit einer internationalen Entwicklung (selbst wenn sie sich auf ein Gebiet konzentrierte) verbunden war und in einem gewissen Sinne „inter-nationalistisch“ in ihrem Wesen war. Diogenes und die Zyniker waren gegen die Unterscheidung zwischen Hellenen und Barbaren und erklärten sich selbst zu Weltbürger. Democritus wurde vor Gericht gestellt, weil er angeblich eine Erbschaft verschwendet hatte, die er nutzte, um seine Bildungsreisen nach Ägypten, Babylonien, Persien und Indien zu finanzieren. Er verteidigte sich selbst und las aus Auszügen seiner Schriften, Früchte seiner Reisen, vor – und wurde freigesprochen.

Die Debatte entstand als Antwort auf eine praktische Notwendigkeit. In Griechenland entwickelte sie sich durch den Vergleich verschiedener Wissensquellen. Verschiedene Denkweisen, Untersuchungsmethoden und deren Ergebnisse, Produktionsmethoden, Sitten und Traditionen wurden miteinander verglichen. Sie waren dazu geschaffen, einander zu widersprechen, zu bestätigen oder zu ergänzen. Sie traten gegeneinander in den Kampf oder unterstützten einander oder beides. Absolute Wahrheiten relativierten sich durch den Vergleich.

Diese Debatten waren öffentlich. Sie fanden in den Häfen, auf den Marktplätzen (den Foren), in Schulen und Akademien statt. In schriftlicher Form füllten sie die Bibliotheken und verbreiteten sich überall in der bekannten Welt.

Socrates – jener Philosoph, der seine Zeit auf dem Marktplatz verbrachte – verkörperte die Essenz dieser Entwicklung. Seine Hauptbeschäftigung – zu einem wahrhaftigen Wissen über die Moral zu gelangen – ist bereits eine Attacke gegen Religion und Vorurteil, die behaupten, dass diese Fragen bereits beantwortet seien. Er erklärte, dass das Wissen die Hauptbedingung für die richtige Ethik und die Ignoranz ihr Hauptfeind sei. So ist es die Erlangung von Bewusstsein und nicht die Bestrafung, die den moralischen Fortschritt ermöglicht, da die meisten Menschen nicht lange gegen die Stimme ihres eigenen Gewissens ankämpfen könnten.

Doch Sokrates ging noch weiter und legte das theoretische Fundament aller Wissenschaft und aller kollektiven Klärung: die Erkenntnis, dass der Ausgangspunkt des Wissens das Beiseiteschieben von Vorurteilen ist. Dies machte den Weg frei für das Wesentliche: Suche (Untersuchung). Er war ein erbitterter Gegner vorgefasster Schlussfolgerungen, unkritischer selbstbefriedigender Auffassungen, der Arroganz und der Prahlerei. Woran er glaubte, war die „Bescheidenheit des Nicht-Wissens“ und die Leidenschaft, die aus einem wahrhaftigen Wissen herrühren, das auf tiefer Einsicht und Überzeugung beruht. Dies ist der Ausgangspunkt der Sokrates-Monologe. Wahrheit ist das Resultat einer kollektiven Suche, die aus dem Dialog aller Schüler besteht, wo jedermann Lehrer und Schüler zur gleichen Zeit ist. Der Philosoph ist nicht mehr ein Prophet, der Offenbarungen verkündet, sondern zusammen mit anderen ein Wahrheitssuchender. Dies bringt ein neues Führungskonzept mit sich: am entschlossensten auf eine Klärung drängen, ohne jemals das endgültige Ziel aus den Augen zu verlieren. Die Parallele zur Definition der Rolle der Kommunisten im Klassenkampf im Kommunistischen Manifest ist auffällig.

Sokrates verstand es meisterhaft, Diskussionen anzuregen und zu lenken. Er hob die öffentliche Debatte in die Sphären einer Kunst bzw. Wissenschaft. Sein Schüler, Plato, entwickelte den Dialog in einem Umfang weiter, wie er seither kaum mehr erreicht worden war.

In der Einleitung zur Dialektik der Natur spricht Engels von drei großen geschichtlichen Perioden der Naturwissenschaft bis dato, den „genialen naturwissenschaftlichen Intuitionen“ der antiken Griechen und den „höchst bedeutenden, aber sporadischen Entdeckungen“ der Araber als Vorläufer der modernen Wissenschaft, die mit der Renaissance begann. Was an der „arabisch-muslimischen Kulturepoche“ auffällt, war die bemerkenswerte Fähigkeit, eine Synthese der Errungenschaften der verschiedenen antiken Kulturen zu machen und sie zu absorbieren, sowie ihre Offenheit gegenüber der Diskussion. August Bebel zitierte einen Augenzeugen der Kultur des öffentlichen Streits in Bagdad. „Stellt Euch vor, bei der ersten Versammlung waren nicht bloß Mohammedaner von allen Sekten anwesend, Orthodoxe und Heterodoxe, sondern auch Feueranbeter (Parsen), Materialisten, Atheisten, Juden und Christen, kurzum Ungläubige jeder Art. Jede dieser Sekten hatte ihren Sprecher, der ihre Ansichten verteidigen musste. Trat einer dieser Parteihäuptlinge in den Saal, so erhoben sich alle ehrerbietig und niemand setzte sich, ehe er Platz genommen hatte. Als der Saal nahezu angefüllt war, nahm einer der Ungläubigen das Wort und sprach: ‚Wir haben uns versammelt, um zu disputieren; Ihr kennt die Vorbedingungen; Ihr Mohammedaner dürft uns nicht mit Beweisgründen bekämpfen, die aus Eurer Schrift geschöpft sind, oder auf die Reden Eures Propheten sich stützen; denn wir glauben weder an dieses Buch noch an Euren Propheten. Jeder der Anwesenden darf sich nur auf Gründe berufen, die aus der menschlichen Vernunft entnommen sind’. Diese Worte wurden allgemein bejubelt.“ (Bebel: Die Mohammedanisch-Arabische Kulturperiode, Stuttgart 1889, S. 143f)

Bebel erklärt: „Der Unterschied zwischen Mohammedanismus und Christentum war der: Die Araber sammelten bei ihren Eroberungen sorgfältig alle Werke, die ihnen zum Studium und zur Belehrung über die besiegten Völker und Länder dienen und Nutzen stiften konnten; die Christen zerstörten bei der Ausbreitung ihrer Lehre alle dergleichen Kulturdenkmäler als Werke des Satans und heidnische Gräuel, die ein guter Christ so rasch als möglich vernichten müsse.“ (ebendort, S. 137) „Die mohammedanisch-arabische Kulturperiode ist das Verbindungsglied zwischen der untergegangenen griechisch-römischen und der alten Kultur überhaupt und der seit dem Renaissancezeitalter aufgeblühten europäischen Kultur. Die letztere hätte ohne dieses Bindeglied schwerlich so bald ihre heutige Höhe erreicht. Das Christentum stand dieser ganzen Kultur-Entwicklung feindlich gegenüber.“ (ebendort, S. 169)

Einer der Gründe für den blinden Fanatismus und das Sektierertum des Christentums wurde bereits von Heinrich Heine ausgemacht und später von der Arbeiterbewegung bestätigt: Je mehr Opfer und Verzicht eine Kultur erfordert, desto unerträglicher wird allein der Gedanke, dass ihre Prinzipien in Frage gestellt werden.

Was die Renaissance und Reformation anbetrifft, die er „die größte progressive Umwälzung, die die Menschheit bis dahin erlebt hatte“ nannte, betonte Engels nicht nur die Rolle der Entwicklung des Denkens, sondern auch die der Gefühle, der Personalität, des menschlichen Potenzials und der Kampfbereitschaft. Es war „eine Zeit, die Riesen brauchte und Riesen zeugte, Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit. [...] Die Heroen jener Zeit waren eben noch nicht unter die Teilung der Arbeit geknechtet, deren beschränkende, einseitig machende Wirkungen wir so oft bei ihren Nachfolgern spüren. Was ihnen aber besonders eigen, das ist, dass sie fast alle mitten in der Zeitbewegung, im praktischen Kampf leben und weben, Partei ergreifen, mitkämpfen, der mit Wort und Schrift, der mit dem Degen, manche mit beiden.“ (Engels: Dialektik der Natur, MEW 20, S. 312)

Die Debatte und die Arbeiterbewegung

Die drei „heroischen“ Zeitalter des menschlichen Geistes Revue passieren lassend, die laut Engels die Entwicklung der modernen Wissenschaft vorbereiteten, ist es bemerkenswert, wie begrenzt sie zeitlich und räumlich waren. Angefangen damit, dass sie erst sehr spät in der Geschichte der gesamten Menschheit auftauchten. Selbst wenn wir die indischen und chinesischen Kapitel miteinbeziehen, waren diese Phasen geographisch beschränkt. Sie dauerten auch nicht lange (die Renaissance in Italien oder die Reformation in Deutschland nur ein paar Jahrzehnte). Und der Teil der oh-nehin äußerst minoritären ausbeutenden Klassen, der aktiv involviert war, war winzig.

In diesem Zusammenhang scheinen zwei Dinge doch überraschend zu sein. Erstens, dass diese Momente des Aufschwungs der Wissenschaft und der öffentlichen Debatte überhaupt stattfanden und dass ihre Auswirkung so wichtig und nachhaltig war – trotz aller Brüche und Sackgassen. Zweitens das Ausmaß, in welchem das Proletariat – trotz des Bruchs in der organischen Kontinuität seiner Bewegung Mitte des 20. Jahrhunderts, trotz der Unmöglichkeit permanenter Massenorganisationen in der kapitalistischen Dekadenz – in der Lage war, den Rahmen einer organisierten Debatte zu erhalten und gelegentlich beträchtlich zu vergrößern. Die Arbeiterbewegung hat diese Tradition, trotz Unterbrechungen, zwei Jahrhunderte lang am Leben gehalten. Und es hat Momente gegeben – wie während der revolutionären Bewegungen in Frankreich, Deutschland oder Russland –, in denen dieser Prozess Millionen von Menschen umfasste. Hier wurde Quantität zu einer neuen Qualität.

Diese Qualität ist jedoch nicht nur das Produkt der Tatsache, dass das Proletariat zumindest in den industrialisierten Ländern die Mehrheit der Bevölkerung stellt. Wir haben bereits gesehen, wie die moderne Wissenschaft und Theorie nach ihrem ruhmreichen Beginn in der Renaissance von der bürgerlichen Arbeitsteilung in ihrer Weiterentwicklung beeinträchtig und behindert wurden. Kern dieses Problems ist die Trennung der Wissenschaft von den Produzenten, und das in einem Ausmaß, wie es in der arabischen Epoche der Renaissance noch nicht möglich gewesen wäre. Dieser Bruch „vollendet sich in der großen Industrie, welche die Wissenschaft als selbständige Produktionspotenz von der Arbeit trennt und in den Dienst des Kapitals presst.“ (Marx: Kapital, Bd. 1, S. 382)

Die Schlussfolgerung aus diesem Prozess beschrieb Marx im ersten Entwurf seiner Antwort an Vera Sassulitsch: „Diese Gesellschaft führt Krieg gegen Wissenschaft, Volksmassen und gegen die Produktivkräfte, die sie hervorbringt.“ (eigene Übersetzung)

Der Kapitalismus ist das erste Wirtschaftssystem, das ohne die systematische Anwendung der Wissenschaft in der Produktion nicht existieren kann. Es muss die Bildung des Proletariats begrenzen, um seine Klassenherrschaft aufrechtzuerhalten. Es muss die Bildung des Proletariats vorwärtsdrängen, um seine wirtschaftliche Stellung zu behaupten. Heute wird die Bourgeoisie immer mehr zu einer unkultivierten und primitiven Klasse, während Wissenschaft und Kultur sich entweder in den Händen von Proletariern oder in denen bezahlter Repräsentanten der Bourgeoisie befinden, deren ökonomische und soziale Lage zunehmend jener der Arbeiterklasse ähnelt.

Die Abschaffung der Klassen „hat also zur Voraussetzung einen Höhegrad der Entwicklung der Produktion, auf dem Aneignung der Produktionsmittel und Produkte, und damit der politischen Herrschaft, des Monopols der Bildung und der geistigen Leitung durch eine besondre Gesellschaftsklasse nicht nur überflüssig, sondern auch ökonomisch, politisch und intellektuell ein Hindernis der Entwicklung geworden ist. Dieser Punkt ist jetzt erreicht.“ (Engels: Anti-Dühring, MEW 20, S. 263)

Das Proletariat ist der Erbe der wissenschaftlichen Traditionen der Menschheit. Mehr als in der Vergangenheit wird künftig jeder proletarische Kampf notwendigerweise zu einem nie gekannten Aufblühen der öffentlichen Debatte und zum Startschuss im Streben nach Wiederherstellung der Einheit von Wissenschaft und Arbeit, der Erlangung eines globalen Verständnisses, das den Anforderungen des heutigen Zeitalters eher genügt.

Die Fähigkeit des Proletariats, neue Höhen zu erklimmen, wurde bereits mit der Entwicklung des Marxismus bewiesen, der ersten wissen-schaftlichen Annäherung in Fragen der menschlichen Gesellschaft und ihrer Geschichte. Allein das Proletariat war im Stande, die größte Errungenschaft des bürgerlichen philosophischen Denkens zu assimilieren – die Philosophie von Hegel. Die beiden Formen der Dialektik, die der Antike bekannt waren, waren die Dialektik des Wandels (Heraclitus) und die Dialektik der Interaktion (Plato, Aristoteles). Hegel kombinierte lediglich diese beiden Formen und schuf so die Grundlage für eine wirklich historische Dialektik.

Hegel fügte dem ganzen Konzept der Debatte eine neue Dimension hinzu, indem er, viel weitgehender als jeder andere vor ihm, die rigide metaphysische Gegenüberstellung von Falsch und Richtig attackierte. In der Einleitung zu seiner Phänomenologie des Geistes zeigte er auf, wie die unterschiedlichen und widersprüchlichen Phasen eines Entwicklungsprozesses – wie die Geschichte der Philosophie – eine organische Einheit bilden, gleich der Blüte und der Frucht. Hegel erklärte, dass das Unvermögen, dies anzuerkennen, mit der Tendenz verknüpft war, sich auf den Gegensatz zu konzentrieren und die Entwicklung aus den Augen zu verlieren. Indem er diese Dialektik auf ihre Füße stellte, war der Marxismus in der Lage, die fortschrittlichste Seite von Hegel aufzunehmen, nämlich das Verständnis eines zukunftsorientierten Prozesses.

Das Proletariat ist die erste Klasse, die gleichzeitig revolutionär und ausgebeutet ist. Im Gegensatz zu früheren revolutionären Klassen, die ausbeuterisch waren, beschränkt sich seine Suche nicht auf irgendwelche Interessen des Selbst-Schutzes als Klasse. Im Gegensatz zu früheren ausgebeuteten Klassen, die nur überleben konnten, indem sie sich mit (insbesondere religiösen) Illusionen trösteten, erfordert sein Klasseninteresse den Verlust der Illusionen. Das Proletariat als solches ist die erste Klasse, deren natürliche Neigung, sobald sie nachdenkt, sich organisiert und auf dem eigenen Terrain kämpft, in Richtung Klärung geht.

Dieses einmalige Wesen wurde vom Bordigismus übersehen, als er sein Konzept der Invarianz (Unveränderlichkeit) erfand. Sein Ausgangspunkt ist korrekt: das Bedürfnis, den Grundprinzipien des Marxismus angesichts der bürgerlichen Ideologie treu zu bleiben. Doch die Schlussfolgerung, dass es notwendig sei, die Diskussion einzuschränken oder gar abzuschaffen, um Klassenpositionen aufrechtzuhalten, ist ein Produkt der Konterrevolution. Die Bourgeoisie hat viel besser begriffen, dass es, um die Arbeiterklasse auf das Terrain des Kapitals zu ziehen, vor allem notwendig ist, ihre Debatten zu unterdrücken und zu ersticken. Anfangs hat sie dies vor allem mit grausamer Repression versucht; später hat sie noch wirksamere Waffen, wie die Demokratie und die Sabotagearbeit der bürgerlichen Linken, entwickelt. Auch der Opportunismus hat dies schon lange begriffen. Da sein wesentlicher Charakterzug seine Inkohärenz ist, muss er sich verstecken, vor der offenen Debatte fliehen. Der Kampf gegen den Opportunismus und die Notwendigkeit einer Diskussionskultur sind nicht nur nicht widersprüchlich; das eine ist auch undenkbar ohne das andere.

Solch eine Kultur schließt überhaupt nicht harte Zusammenstöße von politischen Positionen aus – im Gegenteil. Doch dies bedeutet nicht, dass die politische Diskussion notwendigerweise traumatisierend ist und zu Spaltungen führt. Das erbaulichste Beispiel für die „Kunst“ oder „Wissenschaft“ der Debatte in der Geschichte ist jenes der bolschewistischen Partei zwischen Februar und Oktober 1917. Selbst unter dem Druck massiver Eingriffe durch fremde Ideologien waren diese Diskussionen leidenschaftlich, aber äußerst brüderlich und anregend für alle Beteiligten. Vor allem er-möglichten sie, was Trotzki die „Wiederbewaffnung“ der Partei nannte, die Re-Justierung ihrer Politik auf die veränderten Erfordernisse des revolutionären Prozesses, eine der Vorbedingungen für den Sieg.

Der „bolschewistische Dialog“ erfordert das Verständnis, dass nicht alle Debatten dieselbe Bedeutung haben. Die Polemik von Marx gegen Proudhon war vernichtend, weil es ihre Aufgabe war, in den Mülleimer der Geschichte zu schmeißen, was zu einer Fessel der gesamten Arbeiterbewegung geworden ist. Im Gegensatz dazu verlor der junge Marx, auch wenn er sich in titanischen Auseinandersetzungen mit Hegel und gegen den utopischen Sozialismus engagierte, nie seinen enormen Respekt vor Hegel, Fourier, Saint-Simon oder Owen, denen er half, für immer in unser gemeinsames Erbe einzugehen. Und Engels sollte später schreiben, dass es ohne Hegel kein Marxismus gegeben hätte und ohne die Utopisten keinen wissenschaftlichen Sozialismus, wie wir ihn kennen.

Die schwersten Krisen in den Arbeiterorganisationen, einschließlich der IKS, wurden zum größten Teil nicht durch die Existenz von Divergenzen schlechthin, wie fundamental auch immer, verursacht, sondern durch die Umgehung, ja offene Sabotage des Klärungsprozesses. Der Opportunismus nutzt jedes mögliche Mittel für diesen Zweck. Diese beinhalten nicht nur das Runterspielen wichtiger Divergenzen, sondern gleichermaßen die Übertreibung zweitrangiger Divergenzen oder die Erfindung von nicht-existenten Divergenzen. Sie beinhalten auch die Personalisierung und sogar die Verunglimpfung.

Das auf dem Rücken der Arbeiterbewegung lastende tote Gewicht des üblichen „gesunden Menschenverstandes“ einerseits, das unkritische, fast religiöse Festhalten an Gebräuche und Traditionen andererseits wurde von Lenin zu dem verbunden, was er den Zirkelgeist nannte. Er hatte völlig recht hinsichtlich der Unterwerfung des Prozesses des Organisationsaufbaus und ihres politischen Lebens unter der „Spontaneität“ des gesunden Menschenverstandes und der Konsequenzen. „Warum aber, wird der Leser fragen, führt die spontane Bewegung, die Bewegung in der Richtung des geringsten Widerstands gerade zur Herrschaft der bürgerlichen Ideologie? Aus dem einfachen Grunde, weil die bürgerliche Ideologie ihrer Herkunft nach viel älter ist als die sozialistische, weil sie vielseitiger entwickelt ist, weil sie über unvergleichlich mehr Mittel der Verbreitung verfügt.“ (Lenin: Was tun, LW, Bd. 5, S. 397)

Kennzeichnend für die Zirkelmentalität ist die Personalisierung der Diskussion, die Reaktion auf politische Argumente, indem darauf geschaut wird, wer was sagt, und nicht, was gesagt wird. Überflüssig zu sagen, dass diese Personalisierung ein enormes Hindernis auf dem Weg zu einer fruchtbaren, kollektiven Diskussion ist.

Bereits der Sokrates-Dialog verstand, dass die Entwicklung der Debatte nicht nur eine Frage des Denkvermögens ist; sie ist darüber hinaus eine ethische Frage. Heute dient das Streben nach Klärung den Interessen des Proletariats, während die Sabotage der Klärung sie bedroht. In diesem Sinn konnte die Arbeiterklasse das Motto des deutschen Aufklärers Lessing übernehmen, der sagte, dass es eine Sache gab, die er noch mehr als die Wahrheit liebte – die Suche nach der Wahrheit.

Der Kampf gegen Sektierertum und Ungeduld

Die eindruckvollsten Beispiele einer Debattenkultur als ein wichtiges Mittel der proletarischen Massenbewegungen verschaffte uns die Russische Revolution.[xi] Die Klassenpartei war, weit entfernt davon, sich ihr zu widersetzen, die Avantgarde dieser Dynamik. Die Diskussionen innerhalb der Partei in Russland 1917 betrafen Fragen wie die des Klassencharakters der Revolution, gingen darum, ob man die Fortsetzung des imperialistischen Krieges unterstützen sollte oder nicht, wann und wie man die Macht ergreifen sollte. Noch war durchgehend die Einheit der Partei gewahrt, trotz politischer Krisen, in denen das Schicksal der Weltrevolution und damit jenes der Menschheit auf dem Spiel stand.

Und doch lehrt uns die Geschichte des proletarischen Klassenkampfes und insbesondere die Geschichte der organisierten Arbeiterbewegung, dass solch eine Ebene der Debattenkultur nicht immer erreicht wurde. Wir haben bereits das wiederholte Eindringen von monolithischen Herangehensweisen in die IKS erwähnt. Es ist nicht überraschend, dass diese Störungen häufig zu Abspaltungen von der Organisation führten. Im Rahmen des Monolithismus kann es bei Divergenzen keine andere Lösung geben als die Trennung. Jedoch wird das Problem nicht durch die Abspaltung jener Elemente gelöst, die diese Vorgehensweise in karikaturhafter Weise verkörpern. Die Tatsache, dass solche nicht-proletarischen Vorgehensweisen immer wiederkehren, weist auf die Existenz weitaus größerer Schwächen in dieser Frage innerhalb der Organisation hin. Diese bestehen in häufig kleinen, kaum wahrnehmbaren Verwirrungen und Fehlauffassungen im täglichen Leben und in Diskussionen, die jedoch unter bestimmten Umständen den Weg für ernstere Schwierigkeiten ebnen können. Eine von ihnen ist die Tendenz, jede Debatte in den Rahmen einer Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Opportunismus, des direkten Kampfes gegen die bürgerliche Ideologie zu stellen. Eine der Konsequenzen daraus ist, die Debatte zu hemmen, indem den Genossen das Gefühl vermittelt wird, dass sie nicht mehr das Recht haben, falsch zu liegen oder Konfusionen zum Ausdruck zu bringen. Eine andere Konsequenz ist die „Banalisierung“ des Opportunismus. Wenn wir ihn überall wittern (und bei der leisesten Meinungsverschiedenheit „Feuer“ rufen), werden wir ihn wahrscheinlich nicht erkennen, wenn er wirklich auftritt. Ein anderes Problem ist die Ungeduld in den Debatten, die in der Unfähigkeit mündet, den anderen Argumenten zuzuhören, und in der Neigung, die „Gegner“ zu zermalmen, die anderen „mit allen Mitteln“ zu überzeugen.1[xii]

Was all diese Vorgehensweisen gemeinsam haben, ist das Gewicht der kleinbürgerlichen Ungeduld, der Mangel an Vertrauen in der lebendigen Praxis der kollektiven Klärung im Proletariat. Sie drücken Schwierigkeiten aus, zu akzeptieren, dass Diskussion und Klärung ein Prozess ist. Wie alle fundamentalen Prozesse im gesellschaftlichen Leben hat er einen inneren Rhythmus und ein eigenes Bewegungsgesetz. Seine Entfaltung entspricht der Bewegung weg von der Konfusion hin zu mehr Klarheit und enthält Fehler und falsche Wendungen sowie deren Korrektur. Solche Prozesse erfordern Zeit, wenn sie wirklich gründlich sein sollen. Sie können beschleunigt, aber nicht verkürzt werden. Je breiter die Teilnahme in diesem Prozess ist, je mehr die Beteiligung seitens der gesamten Klasse ermutigt und begrüßt wird, desto reichhaltiger wird sie werden.

In ihrer Polemik gegen Bernstein[xiii] wies Rosa Luxemburg auf den fundamentalen Widerspruch des Arbeiterkampfes hin, der einerseits eine Bewegung innerhalb des Kapitalismus ist, andererseits aber ein Ziel anstrebt, das außerhalb des Letzteren ist. Aus diesem widersprüchlichen Charakter ergeben sich zwei große Gefahren für diese Bewegung. Die erste ist der Opportunismus, d.h. die Offenheit gegenüber dem fatalen Einfluss des Klassenfeindes. Das Motto dieser Verirrung vom Weg des Klassenkampfes heißt: „Die Bewegung ist alles, das Endziel nichts.“ Die zweite Gefahr ist das Sektierertum, d.h. der Mangel an Offenheit gegenüber dem Einfluss des Lebens der eigenen Klasse, das Proletariat. Das Motto dieser Verirrung ist: „Das Ziel ist alles, aber die Bewegung ist nichts.“

Im Kielwasser der fürchterlichen Konterrevolution, die der Niederlage der Weltrevolution am Ende des I. Weltkrieges folgte, wurde innerhalb dessen, was vom revolutionären Lager übrig geblieben war, die fatale Fehlkonzeption entwickelt, dass es möglich sei, den Opportunismus mit den Mitteln des Sektierertums zu bekämpfen. Diese Vorgehensweise, die lediglich zur Sterilität und Fossilierung führt, übersieht, dass Opportunismus und Sektierertum zwei Seiten derselben Münze sind, da beide Ziel und Bewegung voneinander trennen. Ohne die vollständige Teilnahme revolutionärer Minderheiten am realen Leben und an der Bewegung ihrer Klasse kann das Ziel des Kommunismus nicht erreicht werden


[i] Selbst solch reife und theoretisch klare junge Revolutionäre wie Marx und Engels glaubten – zurzeit der Erschütterungen von 1848 –, dass die Verwirklichung des Kommunismus mehr oder minder auf der unmittelbaren Tagesordnung stünde.

[ii] Siehe unsere Thesen über die Studentenbewegung in Frankreich.

[iii] Im proletarischen Lager wurde dieser Begriff vom „Bordigismus“ theoretisiert.

[iv] Die Biographien und Erinnerungen vergangener Revolutionäre sind voller Beispiele für ihre Fähigkeit, zu diskutieren und besonders zuzuhören. Lenin war in diesem Zusammenhang geradezu legendär, aber er war nicht der einzige. Nur ein Beispiel sind die Memoiren von Fritz Sternberg über seine „Konversationen mit Trotzki“ (1963 verfasst): „In seinen Konversationen mit mir war Trotzki ausgesprochen höflich. Er unterbrach mich praktisch nie, und wenn, dann um mich nach der Erläuterung eines Wortes oder Gedankens zu bitten.“

[v] Dazu die Artikel „Ausserordentliche Konferenz der IKS: Der Kampf für die Verteidigung der organisatorischen Prinzipien“, in der Internationalen Revue
Nr. 30 und „Der 15. Kongress der IKS: „Die Verstärkung der Organisation angesichts der Herausforderungen der heutigen Zeit“, in
Internationale Revue Nr. 114 (engl., franz., span.).

[vi] Siehe dazu „Vertrauen und Solidarität im Kampf der Arbeiterklasse“ in Internationale Revue Nr. 31 und 32 und „Marxismus und Ethik“ in Internationale Revue Nr. 39 und 40.

[vii] Man schlage nach in unseren Büchern über die Italienische und Holländische Kommunistische Linke.

[viii] Die GCF sollte später, nach der Auflösung der Italienischen Fraktion, dieses Verständnis aufrechterhalten. Siehe zum Beispiel ihre Kritik an dem Konzept des „brillanten Führers“ die in der Internationalen Revue Nr. 33 (engl., franz., span.) wieder veröffentlicht wurde, und an der Idee, dass Disziplin bedeutet, dass Mitglieder der Organisation blosse Befehlsempfänger sind, die nicht die politischen Orientierungen der Organisation zu diskutieren haben, wieder veröffentlicht in der Internationalen Revue Nr. 34 (engl., franz., span.)

[ix] Engels, Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates

[x] Über die Entwicklung in Asien um 500 v.Chr. siehe die Vorlesungen von August Thalheimer, die er an der Sun-Yat-Sen-Universität von Moskau 1927 abgehalten hatte: Einführungen in den Dialektischen Materialismus: www.marxists.org/archive/thalheimer/works/diamant/index.htm [7].

[xi] Siehe zum Beispiel Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, oder John Reed, Zehn Tage, die die Welt erschütterten diese Fragen weiter.

[xii] Der Bericht über die Arbeit des 17. Kongresses der IKS in der Internationalen Revue Nr. 40 entwickelt diese Fragen weiter.

[xiii] Rosa Luxemburg, Sozial-Reform oder Revolution?

Theoretische Fragen: 

  • Kultur [8]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Das Klassenbewusstsein [9]

Der Kommunismus ist keine schöne Idee, sondern eine materielle Notwendigkeit

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Wir haben zuvor eine Zusammenfassung des ersten Bandes unserer Artikelreihe zum Kommunismus veröffentlicht, in der wir die Entwicklung des kommunistischen Programms in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus anhand der Werke von Marx und Engels thematisierten. Der zweite Band dieser Reihe befasst sich eingehender mit den weiteren Präzisierungen dieses Programms, die sich aus den praktischen Erfahrungen und theoretischen Überlegungen der Arbeiterbewegung während der revolutionären Welle von Kämpfen ergaben, die die kapitalistische Welt nach 1917 erschüttert hatten. Wir teilen die Zusammenfassung dieses Bandes in zwei Teile auf: Der hier folgende Teil untersucht die heroische Phase der revolutionären Welle, als die Aussicht auf die Weltrevolution noch real und das kommunistische Programm sehr konkret war; der zweite Teil wird sich mit dem Zurückfluten der revolutionären Welle und mit den Bemühungen der revolutionären Minderheiten befassen, das unaufhaltsame Vorwärtsdrängen der Konterrevolution zu begreifen.

1. 1905: Der Massenstreik öffnete die Tür zur proletarischen Revolution (International Review Nr. 90)

Wir wollen im zweiten Band der Kommunismus-Reihe aufzeigen, wie das kommunistische Programm durch die direkte Erfahrung der proletarischen Revolution weiterentwickelt wurde. Hintergrund ist die neue Epoche von Kriegen und Revolutionen, die endgültig durch den ersten imperialistischen Weltkrieg und insbesondere durch das Aufkommen und anschließende Abflauen der ersten Welle großer revolutionärer Kämpfe der internationalen Arbeiterklasse zwischen 1917 und Ende der 1920er Jahre eingeleitet worden war. Deshalb haben wir den übergeordneten Titel dieses Bandes etwas geändert: Der Kommunismus hieß nicht mehr nur vorherzusagen, was notwendig wird, sobald der Kapitalismus keine fortschrittliche Rolle mehr spielt. Der Kommunismus stand nunmehr aufgrund der neuen Bedingungen – der Niedergang des Kapitalismus – auf der Tagesordnung. Dies bedeutete, dass der Kapitalismus nicht mehr nur zu einem Hindernis für jeglichen weiteren Fortschritt, sondern auch zu einer Bedrohung für das eigentliche Überleben der Menschheit geworden war.

Dieser Band beginnt jedoch mit den Ereignissen von 1905, mit einer Zeit des Übergangs, als die neuen Bedingungen erst in groben Zügen erkennbar waren und sich noch nicht endgültig durchgesetzt hatten – einer Zeit voller Unklarheiten. Häufig spiegelte sich dies in unklaren Perspektiven wider, die die Revolutionäre selbst entwickelt hatten. Doch der plötzliche Ausbruch von Massenstreiks und Aufständen in Russland 1905 gab der Diskussion, die bereits in der marxistischen Bewegung angestoßen worden war, eine andere Wendung. Dieses Ereignis griff Fragen auf, die für die angesprochenen Themen dieser Serie besonders wichtig sind: Auf welche Weise wird die Arbeiterklasse in der Stunde der Revolution die Macht übernehmen? Das war der eigentliche Hintergrund der Debatte über den Massenstreik, die insbesondere in der deutschen Sozialdemokratie aufgekommen war.

Diese Auseinandersetzung fand im Wesentlichen auf drei Ebenen statt: Auf der einen Seite führte die revolutionäre Linke um Luxemburg und Pannekoek diese Auseinandersetzung zunächst gegen die offen revisionistischen Thesen von Bernstein und anderen, die ausdrücklich jeglichen Bezug zur revolutionären Überwindung des Kapitalismus fallenlassen wollten, sowie gegen die Gewerkschaftsbürokratie, die sich keinen Arbeiterkampf vorstellen konnte, der nicht von ihr selbst strikt kontrolliert wurde. Dieser Teil wollte jeglichen Generalstreik hinsichtlich seiner Forderungen und Dauer stark einschränken. Und auch hier meinte das „orthodoxe“ Zentrum der Partei, welches die Idee eines Massenstreiks zwar formal unterstützte, dass der Massenstreik nur eine begrenzt gültige Taktik sei, die sich einer im Wesentlichen parlamentarischen Strategie unterzuordnen habe. Im Gegensatz dazu betrachtete die Linke den Massenstreik als ein Zeichen dafür, dass der Kapitalismus den Endpunkt seines aufsteigenden Astes erreicht habe; der Massenstreik sei ein Vorläufer der Revolution. Luxemburgs und Pannekoeks Analyse, die von allen konservativen Kräften in der Partei als „anarchistisch“ abgelehnt wurde, war in Wirklichkeit keine Neuauflage der alten anarchistischen Abstraktion des Generalstreiks in neuem Gewand, sondern ein Versuch, die tatsächlichen Charakteristiken der Massenbewegung in der neuen Zeit zu begreifen:

– ihre Tendenz, spontan von „unten“ auszubrechen, oft von Partikularforderungen oder Forderungen begleitet, die nur vorübergehender Natur waren. Doch diese Spontaneität stand keinesfalls im Gegensatz zur Organisation; im Gegenteil, in der neuen Periode wurde die Organisierung des Kampfes durch den Kampf selbst hervorgebracht und konnte infolgedessen auf ein höheres Niveau gelangen;

– die Tendenz zur schnellen, geographischen Ausdehnung auf immer größere Teile der Arbeiterklasse, die dabei auf dem Streben nach Solidarität fußte;

– die Wechselbeziehung zwischen der ökonomischen und politischen Dimension des Kampfes, bis hin zur Stufe des bewaffneten Aufstandes;

– die Bedeutung der Partei in diesem Prozess, die nicht abnahm, sondern im Gegenteil noch größer wurde. Ihre Aufgabe bestand nicht länger darin, den Kampf technisch vorzubereiten, sondern in der politischen Führung des Kampfes.

Während Luxemburg diese drei allgemeinen Charakteristiken des Massenstreiks erkannte, trugen die Revolutionäre in Russland wesentlich zum Verständnis der neuen Kampforganisation, der Sowjets, bei. Trotzki und Lenin begriffen sehr schnell die Bedeutung der Sowjets als ein Instrument zur Organisierung des Massenstreiks, als eine flexible Form, die es den Massen ermöglichte, zu debattieren, zu entscheiden und ihr Klassenbewusstsein zu entwickeln, und als das Organ des proletarischen Aufstandes und der politischen Macht. Entgegen jenen „Super-Leninisten“ in der bolschewistischen Partei, deren erste Reaktion gegenüber den Sowjets darin bestand, diese dazu aufzurufen, in der Partei aufzugehen, betonte Lenin, dass die Partei als Organisation der revolutionären Avantgarde und die Sowjets als Einheitsorganisation der gesamten Klasse keine Rivalen waren, sondern sich perfekt ergänzten. Somit verdeutlichte er, dass die bolschewistische Parteiauffassung faktisch einen Bruch mit den alten sozialdemokratischen Auffassungen über die Massenpartei darstellte, dass sie ein organisches Produkt aus der neuen Epoche revolutionärer Kämpfe war. Die Ereignisse von 1905 lösten auch heftige Debatten über die Perspektiven der Revolution in Russland aus. Die Debatte drehte sich dabei um drei Punkte:

– Die Menschewiki warfen ein, dass Russland dazu verurteilt sei, die Phase der bürgerlichen Revolution zu durchlaufen, und dass aus diesem Grund die Hauptaufgabe der Arbeiterbewegung in der Unterstützung der liberalen Bourgeoisie in deren Kampf gegen die zaristische Autokratie liege. Der revolutionsfeindliche Inhalt dieser Theorie kam 1917 deutlich zum Vorschein.

– Lenin und die Bolschewiki begriffen, dass die liberale Bourgeoisie in Russland zu schwach war, um den Kampf gegen den Zarismus anzuführen. Die Aufgaben der bürgerlichen Revolution sollten durch eine „demokratische Revolution“ durchgeführt werden, die durch einen Volksaufstand ausgelöst werde, in der die Arbeiterklasse die führende Rolle spiele.

– Trotzki, der sich auf die 1848er Auffassung von Marx über die „permanente Revolution“ stützte, ging vornehmlich von einem internationalen Standpunkt aus. Er meinte, dass die Revolution in Russland notwendigerweise die Arbeiterklasse dazu antreiben werde, die Macht zu ergreifen, und dass die Bewegung schnell in eine sozialistische Phase übergehen könne, indem sie sich mit der Revolution in Westeuropa verbünde. Diese Herangehensweise stellte eine Verbindung zwischen den Schriften Marx’ über Russland und der konkreten Erfahrung aus der Revolution von 1917 dar und wurde größtenteils auch von Lenin 1917 übernommen, als er die Auffassung über die „demokratische Diktatur“ über Bord warf, die ihn in einen Gegensatz zur „orthodoxen“ Auffassung der Bolschewiki brachte.

In der Zwischenzeit verlieh die Niederlage von 1905 den Argumenten Kautskys und Anderer in der deutschen Sozialdemokratie Auftrieb, die behaupteten, dass der Massenstreik nur als eine defensive Taktik aufgefasst werden solle und dass die beste Strategie für die Arbeiterklasse in der allmählichen, im Wesentlichen legalistischen „Ermattungsstrategie“ bestehe, wobei Parlament und Wahlen als Hauptinstrumente für die Machtübernahme durch das Proletariat betrachtet wurden. Die Antwort der Linken fasste Pannekoek zusammen, der erwiderte, dass das Proletariat neue Kampforgane entwickelt habe, die der neuen Epoche im Leben des Kapitals entsprachen. Er wandte sich gegen den Begriff „Ermattungsstrategie“ und hob hervor, dass gemäß dem Marxismus die Revolution nicht darauf abziele, den Staat zu erobern, sondern darauf, ihn zu zerstören und ihn durch neue politische Machtorgane zu ersetzen.

2. Lenins Staat und Revolution: eine bemerkenswerte Bestätigung des Marxismus (International Review Nr. 91)

Aus der Sicht der Philosophen des bürgerlichen Empirismus ist der Marxismus nie mehr als eine Pseudowissenschaft gewesen, da er keine Möglichkeit für die Verifizierung bzw. Widerlegung seiner Hypothesen biete. Tatsächlich kann der Anspruch des Marxismus, wissenschaftliche Methoden zu benutzen, nicht unter Laborbedingungen bestätigt bzw. widerlegt werden. Dies kann nur im – wenn man so will –historischen Labor der Gesellschaft überprüft werden. Dabei erwiesen sich die katastrophalen Ereignisse des Jahres 1914 als überzeugender Beweis für die Richtigkeit der grundsätzlichen Perspektive, die sowohl im Kommunistischen Manifest von 1848 – in dem von der allgemeinen Alternative zwischen dem Sozialismus und der Barbarei die Rede ist – als auch in Engels’ erstaunlich genauer Vorhersage eines zerstörerischen Krieges in Europa, die er 1887 machte, aufgezeigt wurde. Das revolutionäre Beben von 1917-1919 bestätigte die andere Seite der Prognose – die Fähigkeit der Arbeiterklasse, gegenüber der Barbarei des niedergehenden Kapitalismus eine Alternative bieten zu können.

Diese Bewegungen warfen das Problem der Diktatur des Proletariats auf eine sehr praktische Art auf. Aus der Sicht der Arbeiterbewegung kann es jedoch keine strikte Trennung zwischen Theorie und Praxis geben. Lenins Werk Staat und Revolution, das er während des entscheidenden Zeitraums zwischen Februar und Oktober 1917 in Russland verfasst hatte, entsprach dem Bedürfnis des Proletariats, ein klares theoretisches Verständnis seiner praktischen Bewegung zu entwickeln. Dies war besonders deshalb wichtig, weil der Opportunismus in den Parteien der II. Internationale noch sehr stark verbreitet war und das Konzept der proletarischen Diktatur vernebelt hatte, das immer mehr durch die Theoretisierung eines schrittweisen, parlamentarischen Weges zur Arbeitermacht ersetzt worden war. Gegen diese reformistischen Verzerrungen – aber auch gegen die von den Anarchisten verbreiteten falschen Antworten – schickte sich Lenin an, die grundlegenden Lehren des Marxismus in der Frage des Staates und der Übergangsperiode zum Kommunismus wiederherzustellen.

Lenins erste Aufgabe bestand deshalb darin, die Auffassung vom Staat als einem neutralen Instrument entgegenzutreten, das je nach Charakter seiner Führung entweder positiv oder negativ eingesetzt werden könne. Es war ungeheuer wichtig, die marxistische Sicht zu bestätigen, derzufolge der Staat nur das Instrument für die Unterdrückung einer Klasse durch eine andere sein kann. Diese Tatsache wurde durch die weit verbreiteten Argumente Kautskys und anderer Verfechter dieser Strömung, aber auch konkret von den Menschewiki und deren Verbündeten in Russland vertreten, die von „revolutionärer Demokratie“ schwadronierten und diese als ein Feigenblatt für die kapitalistische Provisorische Regierung benutzten, die nach dem Februaraufstand an die Macht gekommen war.

Da es sich bei ihm um ein Organ handelt, das auf die Bedürfnisse der Klassenherrschaft der Bourgeoisie zugeschnitten ist, konnte der bestehende bürgerliche Staat nicht im Interesse des Proletariats umgewandelt werden. So knüpfte Lenin an die historische Entwicklung der marxistischen Auffassung vom Kommunistischen Manifest bis zu seinen Lebzeiten an. Er zeigte dabei auf, wie die jeweiligen Erfahrungen des Arbeiterkampfes – die Revolutionen von 1848 und vor allem die Pariser Kommune von 1871 – die Notwendigkeit herausgestellt hatten, dass die Arbeiterklasse den bestehenden Staat zerstören und ihn durch eine neue Art von politischer Macht ersetzen musste. Diese neue Macht müsse sich auf eine Reihe fundamentaler Maßnahmen stützen, die die politische Autorität der Arbeiterklasse über alle Institutionen der Übergangsperiode aufrechterhalten müsse: die Auflösung des stehenden Heeres, die Wahl und jederzeitige Abwählbarkeit aller Beamten, deren Bezahlung dem Durchschnittslohn eines Arbeiters entsprechen sollte, die Zusammenlegung von Exekutive und Legislative in einem einzigen Organ.

Dies waren die Prinzipien der neuen Sowjetmacht, die Lenin gegenüber dem bürgerlichen Regime der Provisorischen Regierung verfocht. Die Notwendigkeit, im September/Oktober 1917 von der Theorie zur Praxis überzugehen, hinderte Lenin daran, der Frage nachzugehen, inwiefern die Sowjets eine höhere Form der proletarischen Diktatur darstellten als die Pariser Kommune. Aber Staat und Revolution kommt das große Verdienst zu, gewisse Unklarheiten in den Schriften von Marx und Engels aus der Welt geräumt zu haben, denn diese hatten darüber spekuliert, ob die Arbeiterklasse in einigen der demokratischeren Länder wie Großbritannien, Holland oder den USA friedlich an die Macht kommen könne. Lenin unterstrich, dass im Zeitalter des Imperialismus, in dem der militaristische Staat sich überall den Mantel einer „unparteiischen Macht“ zulegte, es keine Ausnahmen mehr geben könne. In den“demokratischen“ Ländern wie in den eher autoritären Regimes war das proletarische Programm dasselbe: Zerstörung des bestehenden Staatsapparates und die Gründung eines „Kommunestaates“.

Im Gegensatz zum Anarchismus erkannte Staat und Revolution ebenfalls, dass der Staat als solcher nicht über Nacht abgeschafft werden kann. Auch nach dem Sturz des bürgerlichen Staates werden weiterhin Klassen existieren, so wie auch der materielle Mangel vorerst noch fortbesteht. Diese objektiven Bedingungen machen einen Halbstaat in der Übergangsperiode erforderlich. Doch Lenin hob hervor, dass das Ziel des Proletariats nicht darin besteht, diesen Staat ständig zu verstärken, sondern darin, für die schrittweise Schwächung seiner Rolle im Gesellschaftsleben zu sorgen, um schließlich ganz auf ihn verzichten zu können. Dies erforderte die ständige Beteiligung der Arbeitermassen am politischen Leben und ihre wachsame Kontrolle über alle Staatsfunktionen. Gleichzeitig machte dies eine ökonomische Umwälzung in Richtung Kommunismus nötig. Gegenüber dieser Frage griff Lenin die Hinweise von Marx in dessen Kritik des Gothaer Programms auf, in der Letzterer ein System der Arbeitszeitgutscheine als eine vorübergehende Alternative gegenüber der Lohnarbeit propagiert hatte. Lenin verfasste diese Schrift am Vorabend einer gigantischen revolutionären Erfahrung. Er konnte eigentlich nur die allgemeinen Parameter des Problems der Übergangsperiode aufzeigen. Staat und Revolution beinhaltet deshalb unvermeidlich Lücken und Unzulänglichkeiten, die während der darauf folgenden Jahre der Siege und Niederlagen geklärt werden sollten:

– In seiner Schilderung der zum Kommunismus hinführenden ökonomischen Maßnahmen herrscht eine große Verwirrung über die Möglichkeit für die Arbeiterklasse, den Wirtschaftsapparat des Kapitals einfach zu übernehmen, sobald dieser staatliche Formen angenommen hatte. Dieses unzureichende Verständnis der Gefahren, die vom Staatskapitalismus ausgingen, wurde durch die irreführende Vorstellung vom „Sozialismus“ als Zwischenstufe der Produktion zwischen Kapitalismus und Kommunismus verstärkt. Gleichzeitig berücksichtigte er nicht ausreichend die Tatsache, dass der Übergang zum Kommunismus nur international in Angriff genommen werden kann.

– Das Buch äußert sich wenig zum Verhältnis zwischen der Partei und dem neuen Staatsapparat; damit lässt es Raum für Konfusionen über den Parlamentarismus und dafür, dass die Partei die Macht ergreifen und sich mit dem Staat verschmelzen könne.

– Es gibt eine Tendenz, das Ausmaß des Staatsapparates zu unterschätzen und ihn im Wesentlichen auf eine “bewaffnete Körperschaft” zu reduzieren, statt Engels’ Erkenntnis aufzugreifen, in der dieser vom Staat als einem Ausdruck der Klassengesellschaft sprach, der neben seiner Funktion als klassisches Unterdrückungsorgan die Aufgabe hatte, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Diese Aufgabe spiegelte damit das konservative Wesen des Staates, auch des Halbstaates in der Übergangsperiode, wider. Die Erfahrungen in Russland sollten Engels’ Aussage bekräftigen, denn es wurde deutlich, dass die Gefahren, die von diesem neuen Staat ausgingen, ihn zu einem Hort der Bürokratisierung und einer eventuellen bürgerlichen Konterrevolution machten.

Trotzdem bietet Staat und Revolution eine Reihe von Erkenntnissen über die negative Rolle des Staates. Die Schrift erkannte, dass der neue Staat mit materiellem Mangel konfrontiert sein wird und dass bei der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums somit „bürgerliches Recht“ zum Tragen kommen wird. Lenin sprach hinsichtlich dieses neuen Staates gar von einem „bürgerlichen Staat ohne Bourgeoisie“, was sicherlich eine zugespitzte Formulierung war, die zwar etwas ungenau war, aber dennoch eine gewisse Einsicht in die potenziellen Gefahren, die von dem Übergangsstaat ausgehen, erahnen ließ.

3. 1918: Das Programm der Kommunistischen Partei Deutschlands
(International Review Nr. 93)

Der Ausbruch der Revolution in Deutschland 1918 bestätigte die Perspektive, von der die Bolschewiki im Oktoberaufstand geleitet worden waren: die Perspektive der Weltrevolution. In Anbetracht der historischen Traditionen der Arbeiterklasse in Deutschland und dem Platz Deutschlands im Zentrum des Weltkapitalismus stellte die Revolution in Deutschland den Schlüssel für den gesamten weltrevolutionären Prozess dar. Sie spielte eine zentrale Rolle bei der Beendigung des Weltkrieges und bedeutete große Hoffnung für die belagerte proletarische Macht in Russland. Ebenso besiegelte ihre endgültige Niederlage in den darauf folgenden Jahren das Schicksal der Revolution in Russland, das einer schrecklichen inneren Konterrevolution zum Opfer fiel. Während der Sieg der Revolution die Tür zu einer neuen und höheren Stufe in der menschlichen Gesellschaft hätte aufstoßen können, löste ihre Niederlage ein Jahrhundert der Barbarei aus, wie sie die Menschheit noch nie zuvor erlebt hatte.

Im Dezember 1918 – einen Monat nach dem Aufstand im November und zwei Wochen vor der tragischen Niederlage des Berliner Aufstandes, in dem Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ihr Leben verloren hatten, hielt die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) ihren Gründungskongress ab. Das neue Parteiprogramm (Was will der Spartakusbund?) wurde von Rosa Luxemburg selbst vorgestellt, die das Programm in seinen historischen Kontext einordnete. Auch wenn es durch das Kommunistische Manifest von 1848 inspiriert worden war, musste das neue Programm sich auf sehr unterschiedliche Traditionen stützen; das Gleiche galt für das Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie. Dieses hatte noch zwischen Minimal– und Maximalforderungen unterschieden, was zu einer Zeit, als die proletarische Revolution noch nicht unmittelbar auf der Tagesordnung gestanden hatte, adäquat gewesen war. Der Weltkrieg hatte jedoch eine neue Epoche in der Menschheitsgeschichte eingeläutet – die Epoche des Niedergangs des Kapitalismus, die Epoche der proletarischen Revolution. Damit musste das neue Programm dem direkten Kampf für die proletarische Diktatur und dem Aufbau des Sozialismus Rechnung tragen. So verlangte es nicht nur einen Bruch mit dem formellen Programm der Sozialdemokratie, sondern auch mit den reformistischen Illusionen, die die Partei Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachhaltig infiziert hatten – und mit den Illusionen über eine allmähliche Machteroberung mittels des Parlaments, von denen auch so klare und scharfsinnige Revolutionäre wie Engels beeinflusst worden waren.

Doch die Behauptung, dass die proletarische Revolution auf der Tagesordnung der Geschichte stand, beinhaltete nicht, dass das Proletariat unmittelbar dazu in der Lage war, diese durchzuführen. So hatte die Novemberrevolution in der Tat gezeigt, dass die Arbeiterklasse in Deutschland noch lange Zeit brauchen würde, um den Ballast der Vergangenheit abzuwerfen, wie der immer noch starke Einfluss der sozialdemokratischen Verräter in den Arbeiterräten bewies. Luxemburg bestand darauf, dass die Arbeiterklasse in Deutschland sich selbst durch eine Reihe von Kämpfen erziehen müsse, die sowohl ökonomischer und politischer Art seien und auf der Ebene der Verteidigung und Offensive stattfinden müssten und die ihr schließlich das für die Leitung der Gesellschaft notwendige Vertrauen und Bewusstsein geben werden. Es war eine der großen Tragödien der Revolution in Deutschland, dass es der Bourgeoisie gelang, das Proletariat in einen vorzeitigen Aufstand zu locken, der diesen Prozess vereitelte und ihn seiner weitsichtigsten und klarsten Führer beraubte.

Das Dokument der KPD umriss eingangs die allgemeinen Ziele und Prinzipien. Es erkannte unverblümt die Notwendigkeit der gewaltsamen Unterdrückung der bürgerlichen Macht an, während gleichzeitig die Idee abgelehnt wurde, dass die proletarische Gewalt eine neue Form des Terrors sei. Es unterstrich, dass der Sozialismus einen qualitativen Schritt vorwärts in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft bedeutet und nicht durch eine Reihe von oben aufgezwungener Maßnahmen dekretiert werden kann. Stattdessen könne er nur das Ergebnis des kreativen und kollektiven Werkes von unzähligen Millionen von Arbeitern sein. Gleichzeitig war dieses Dokument ein wirkliches Programm, da es eine Reihe von praktischen Schritten vorschlug, die darauf abzielen, die Herrschaft der Arbeiterklasse zu errichten und erste Schritte zur Vergesellschaftung der Produktion zu ergreifen wie zum Beispiel:

– Entwaffnung der Polizei und Offiziere, Beschlagnahme aller Waffen– und Munitionsbestände durch die Arbeiterräte, Bildung von Arbeitermilizen;

– Aufhebung der Kommandogewalt der Armee und die Ausbreitung der Soldatenräte;

– Bildung von Revolutionstribunalen;

– Einberufung eines zentralen Kongresses der Arbeiter- und Soldatenräte, die überall durch lokale Arbeiter- und Soldatenräte gewählt werden, und die gleichzeitige Auflösung aller alten Parlamente und Gemeinderäte;

– Begrenzung des Arbeitstages auf maximal sechs Stunden;

– Konfiszierung aller Lebensmittel, um die Bevölkerung zu ernähren und mit Wohnraum sowie Kleidung zu versorgen;

– Enteignung von Grund und Boden, Banken, Bergwerken und der Großbetriebe in Industrie und Handel;

– Etablierung von Betriebsräten, um die Hauptaufgabe der Verwaltung von Fabriken und anderen Arbeitsplätzen zu übernehmen.

Die Mehrzahl der im KPD-Programm angekündigten Maßnahmen bleibt auch heute gültig, obgleich das Programm als ein Dokument, das zu Beginn der ungeheuer wichtigen revolutionären Erfahrungen verfasst wurde, nicht in allen Fragen klar sein konnte. So war die Rede von Nationalisierungen der Wirtschaft als ein Schritt zum Sozialismus: Damals konnte man nicht wissen, wie schnell sich das Kapital damit arrangieren konnte. Während jegliche Form des Putschismus abgelehnt wurde, beharrte es darauf, dass die Partei selbst die politische Macht ergreifen müsse. Seine Aussagen zu den internationalen Aufgaben der Revolution sind sehr vage. Doch dies waren Schwächen, die überwunden hätten werden können, falls die Revolution in Deutschland nicht im Keim erstickt worden wäre.

4. Die Plattform der Kommunistischen Internationale (International Review Nr. 94)

Die Plattform der Kommunistischen Internationale wurde anlässlich des Ersten Kongresses der Komintern 1919 verfasst. Dies geschah nur wenige Monate nach dem tragischen Ausgang des Berliner Aufstandes. Doch noch hatte die internationale revolutionäre Welle ihren Zenit nicht überschritten. Zum Zeitpunkt des Ersten Kongresses der Komintern traf die Nachricht von der Ausrufung einer neuen Sowjetrepublik in Ungarn ein. Die Klarheit der politischen Positionen, die auf dem Ersten Kongress verabschiedet wurden, spiegelte die vorwärts strebende Bewegung der Klasse wider, so wie das spätere Abgleiten der Komintern in den Opportunismus direkt mit der abflauenden Bewegung verbunden war.

Bucharin leitete die Kongress-Diskussionen über den Entwurf einer Plattform ein. Seine Bemerkungen wurden auch durch die beträchtlichen Fortschritte auf theoretischer Ebene bestärkt, die die Revolutionäre damals erzielt hatten. Bucharin bestand darauf, dass der Ausgangspunkt für die Plattform die Anerkennung des Bankrotts des kapitalistischen Systems auf globaler Ebene war. Von Anfang an begriff die Komintern, dass die „Globalisierung“ des Kapitals schon eine vollendete Tatsache war, ja dass sie in der Tat ein grundlegender Faktor beim Niedergang und Zusammenbruch des Systems war.

Bucharins Rede brachte auch ein weiteres Merkmal des Kongresses zum Ausdruck: seine offene Haltung gegenüber den neuen Entwicklungen, die den Beginn der durch den Krieg eingeläuteten Epoche anzeigten. Er erkannte an, dass zumindest in Deutschland die bestehenden Gewerkschaften keine positive Rolle mehr spielten und durch neue Klassenorgane ersetzt werden mussten, die die Massenbewegung hervorgebracht hatte, insbesondere die Fabrikkomitees. Dies hob sich deutlich von späteren Kongressen ab, als die Arbeit in den offiziellen Gewerkschaften als für alle Parteien der Internationale verbindlich erklärt wurde. Doch dies deckte sich mit den Erkenntnissen der Plattform in der Frage des Staatskapitalismus, da Bucharin an anderer Stelle argumentierte, dass die Integration der Gewerkschaften in das kapitalistische System gerade eine Funktion des Staatskapitalismus sei. Die Plattform selbst bot einen kurzen Überblick über den neuen Zeitraum und die Aufgaben des Proletariats. Sie versuchte nicht ein detailliertes Maßnahmenprogramm für die proletarische Revolution zu erstellen. Sie unterstrich erneut sehr klar, dass mit dem Weltkrieg „eine neue Epoche geboren (ist) – die Epoche der Auflösung des Kapitalismus, seiner inneren Zersetzung, die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats“ (Richtlinien der Kommunistischen Internationale)

Sie bestand darauf, dass die Machtergreifung durch das Proletariat die einzige Alternative zur kapitalistischen Barbarei ist, und rief zur revolutionären Zerstörung aller Institutionen des bürgerlichen Staates (Parlament, Polizei, Gerichte usw.) und zu ihrer Ersetzung durch proletarische Machtorgane auf, die sich auf die bewaffneten Arbeiterräte stützen. Sie entblößte die Leere der bürgerlichen Demokratie und erklärte, dass allein das Rätesystem die Massen in die Lage versetzt, eine reale Macht auszuüben. Sie stellte des Weiteren grobe Richtlinien für die Enteignung der Bourgeoisie und für die Vergesellschaftung der Produktion auf. Dazu gehörte die unmittelbare Vergesellschaftung der Hauptzentren der kapitalistischen Industrie und Landwirtschaft, die schrittweise Integration von kleinen, unabhängigen Produzenten in den vergesellschafteten Bereich und radikale Maßnahmen mit dem Ziel der Ersetzung des Marktes durch eine gleichmäßige Verteilung der Produkte.

Im Interesse eines siegreichen Kampfes bestand die Plattform auf der Notwendigkeit eines vollständigen politischen Bruchs sowohl mit der rechten Sozialdemokratie, die „ausgesprochene politische Lakaien des Kapitals und Henker der kommunistischen Revolution“ waren, als auch mit dem Zentrum um Kautsky. Diese Position, die im totalen Gegensatz zur Politik der zwei Jahre später verabschiedeten Einheitsfront steht, hatte nichts mit Sektierertum zu tun, da sie von einem Aufruf zur Einheit mit den echten proletarischen Kräften, wie Teilen der anarcho-syndikalistischen Bewegung, flankiert wurde. Angesichts der Einheitsfront der kapitalistischen Konterrevolution, die sich bereits für den Tod von Luxemburg und Liebknecht verantwortlich zeichnete, rief die Plattform zur Verbreitung des Massenkampfes in allen Ländern auf, was zu einer direkten Konfrontation mit dem bürgerlichen Staat führen werde.

5. 1919: Das Programm der Diktatur des Proletariats (International Review Nr. 95)

Die Existenz einer Reihe von verschiedenen nationalen Parteiprogrammen neben der Plattform der Kommunistischen Internationale wies auf den Fortbestand eines gewissen Föderalismus auch in der neuen Internationale hin, die danach strebte, die nationale Autonomie zu überwinden, die zum Niedergang der alten beigetragen hatte. Aber das Programm der russischen Partei, das für deren 9. Kongress 1919 verfasst wurde, ist von besonderem Interesse. Während das Programm der KP das Ergebnis einer Partei war, die vor der Aufgabe stand, die Arbeiter in eine Revolution zu führen, war das neue Programm der bolschewistischen Partei die Manifestierung der Ziele und Methoden der ersten Sowjetmacht, einer wirklichen Diktatur des Proletariats. Konkret wurde es also von einer Reihe von Dekreten begleitet, die die Politik der Sowjetrepublik in bestimmten Fragen widerspiegelten, obgleich, wie Trotzki eingestand, viele Dekrete eher propagandistischer Natur waren, als eine praktische Politik darstellten. Wie die Plattform der Komintern unterstrich auch das Programm von Anfang an den Beginn der neuen Epoche des niedergehenden Kapitalismus und die Notwendigkeit der proletarischen Weltrevolution. Ebenso wurde die Notwendigkeit hervorgehoben, einen vollständigen und tief greifenden Bruch mit den offiziellen sozialdemokratischen Parteien zu vollziehen. Das Programm war in folgende Teile aufgeteilt:

Allgemeine Politik: Die Überlegenheit des Sowjetsystems gegenüber der bürgerlichen Demokratie zeigte sich anhand ihrer Fähigkeit, die überwältigende Mehrheit der Ausgebeuteten und Unterdrückten an dem Betrieb des Staates zu beteiligen. Das Programm hob hervor, dass die Arbeiterräte durch ihre Organisierung auf der Grundlage des Arbeitsplatzes statt des Wohnortes ein direkter Ausdruck des Proletariats als Klasse sind. Da die Arbeiterklasse den revolutionären Prozess anführen muss, spiegelt sich dies in dem größeren Gewicht der städtischen Räte im Verhältnis zu den Räten auf dem Land wider. Doch wurde nicht die Idee vertreten, dass anstelle der Sowjets die Partei die Macht ausüben soll. Das übergeordnete Anliegen des Programms, das in der Zeit der Entbehrungen des Bürgerkrieges geschrieben wurde, bestand darin, Mittel und Wege zu finden, um dem wachsenden Einfluss der Bürokratie im neuen Staatsapparat entgegenzutreten, indem eine größere Zahl Arbeiter an der Leitung der Staatsgeschäfte beteiligt wird. In Anbetracht der schrecklichen Bedingungen, denen das Proletariat gegenüberstand, erwiesen sich diese jedoch als unzureichend. Die militanten Arbeiter neigten dazu, sich in Staatsbürokraten zu verwandeln, statt der Bürokratie den Willen der kämpfenden Arbeiterklasse aufzuzwingen. Dennoch reflektierte dieser Teil bereits früh ein Bewusstsein über die Gefahren, die aus dem Staatsapparat hervorgehen.

Nationalitätenfrage: Von einem richtigen Standpunkt ausgehend – nämlich der Notwendigkeit, nationale Grenzen innerhalb des Proletariats und der unterdrückten Massen zu überwinden und einen gemeinsamen Kampf gegen das Kapital zu entwickeln –, offenbarte das Programm hier einige seiner schwächsten Seiten, als es den Begriff der nationalen Selbstbestimmung übernahm. Im Grunde lief dieser Begriff nur auf die Selbstbestimmung der Bourgeoisie hinaus. In der Epoche des Imperialismus kann dies nur bedeuten, die Dominierung nationaler Einheiten von einem nationalistischen Herrscher auf einen anderen zu verlagern. Rosa Luxemburg und andere hoben die schrecklichen Folgen dieser Politik hervor, als sie aufzeigten, dass alle Nationen, denen die Bolschewiki die „Unabhängigkeit“ gewährten, tatsächlich zu Stützpfeilern der imperialistischen Intervention gegen die Sowjetmacht wurden.

Militärfragen: Nachdem das Programm die Notwendigkeit einer Roten Armee zur Verteidigung des neuen Sowjetregimes in Zeiten des Bürgerkrieges anerkannte, schlug das Programm eine Reihe von Maßnahmen vor, die sicherstellen sollten, dass die neue Armee tatsächlich eine Waffe des Proletariats blieb: Ihre Truppen sollten aus dem Proletariat und dem Halbproletariat hervorgehen. Ihre Ausbildungsmethoden sollten sich auf sozialistische Prinzipien stützen. Politische Kommissare, die aus den Reihen bewährter Kommunisten ernannt werden sollten, sollten mit früheren zaristischen Militärs zusammenarbeiten und sicherstellen, dass diese sich ganz der Sache der Sowjetmacht widmeten. Gleichzeitig sollten immer mehr Offiziere von klassenbewussten Arbeitern gestellt werden. Doch die Praxis, die Offiziere zu wählen – eine Forderung der ersten Soldatenräte -, wurde nicht zu einem Prinzip erhoben. Auf dem 9. Kongress entwickelte sich eine von der Gruppe Demokratischer Zentralisten angestoßene Debatte über die Notwendigkeit, die Prinzipien der Kommune auch in der Armee aufrechtzuerhalten und sich der Tendenzen in der Armee zu widersetzen, immer wieder in die alten hierarchischen Methoden oder Organisationsformen zurückzufallen. Eine weitere Schwäche, vielleicht die größte, bestand darin, dass der Aufbau der Roten Armee mit der Auflösung der Roten Garden einherging. Damit verloren die Arbeiterräte ihre besonderen bewaffneten Kräfte zugunsten eines sehr statisch handelnden Organs, das sich viel weniger auf die Bedürfnisse des Klassenkampfes einstellen konnte.

Proletarische Justiz: Die bürgerlichen Gerichte wurden durch die Volksgerichte ersetzt, deren Richter von der Arbeiterklasse gewählt wurden. Die Todesstrafe sollte abgeschafft, das Strafsystem von jedem Revanchismus befreit werden. Aber unter den brutalen Bedingungen des Bürgerkriegs wurde die Todesstrafe bald wieder eingeführt. Und die revolutionären Tribunale, die errichtet wurden, um mit Notlagen umzugehen, missbrauchten oft ihre Macht; ganz zu schweigen von den Aktivitäten der Sonderkommissionen gegen die Konterrevolution, der Tscheka, die immer mehr der Kontrolle der Sowjets entglitt.

Erziehung: In Anbetracht des enormen Gewichts der Rückständigkeit Russlands ging es bei den Erziehungsreformen, die vom Sowjetstaat eingeleitet wurden, schlicht und einfach darum, die Bildungspolitik Russlands auf das Niveau der fortgeschrittenen Erziehungsmethoden anzuheben, die bereits in den bürgerlichen Demokratien praktiziert wurden (wie freie Schulbildung für Kinder beider Geschlechter bis zum Alter von 17 Jahren). Gleichzeitig ging es bei den langfristigen Zielen darum, die Schule von einem Organ bürgerlicher Indoktrination zu einem Instrument der kommunistischen Umwandlung der Welt zu machen. Dies erforderte die Überwindung von Methoden, die auf Zwang und Hierarchie gebaut waren, die Abschaffung der strikten Trennung zwischen Hand– und Kopfarbeit und im Allgemeinen die Erziehung einer neuen Generation in einer Welt, in der Lernen und Arbeiten ein Vergnügen statt eine Mühsal ist.

Religion: Während man an der Notwendigkeit einer intelligenten und einfühlsamen Propaganda durch die Sowjetmacht festhielt, die darauf abzielte, die archaischen religiösen Vorurteile der Massen zu bekämpfen, wurden alle Bemühungen energisch zurückgewiesen, die Religion mit Gewalt zu unterdrücken, denn dies führte, wie die Erfahrung des Stalinismus später lehren sollte, nur zu einem Anwachsen des religiösen Einflusses.

Wirtschaftsfragen: Obgleich davon ausgegangen wurde, dass der Kommunismus nur auf weltweiter Ebene errichtet werden kann, enthielt das Programm einen allgemeinen Rahmen für eine proletarische Wirtschaftspolitik in jenen Gebieten, die unter der Kontrolle des Proletariats standen: Enteignung der alten herrschenden Klasse, Zentralisierung der Produktivkräfte unter der Kontrolle der Sowjets, Mobilisierung aller verfügbaren Arbeitskräfte, Praktizierung einer neuen Arbeitsdisziplin, die sich auf die Prinzipien der Klassensolidarität stützte, schrittweise Eingliederung der unabhängigen Produzenten in die kollektive Produktion. Das Programm erkannte auch die Notwendigkeit an, dass die Arbeiterklasse kollektiv die Verwaltung des Produktionsprozesses betreibt. Die Instrumente zur Ausführung dieser Aufgabe waren jedoch nicht die Arbeiterräte und die Fabrikkomitees (die nicht einmal in dem Programm erwähnt wurden), sondern die Gewerkschaften, die aufgrund ihres Wesens dazu neigten, der Arbeiterklasse die kollektive Kontrolle über die Produktion zu entwinden und sie in die Hände des Staates zu legen. Am meisten ausschlaggebend war, dass die schrecklichen, durch den Krieg geschaffenen Bedingungen eine Zersplitterung der proletarischen Massen in den Städten und ihre Herabstufung bewirkten. Dies machte es für die Arbeiterklasse immer schwieriger, nicht nur die Fabriken, sondern auch den Staat zu kontrollieren.

Landwirtschaft: Hier gelangte man zur Erkenntnis, dass eine auf Bauern gestützte Produktion nicht über Nacht kollektiviert werden könne, sondern einen mehr oder weniger langen Zeitraum der Integration in den vergesellschafteten Sektor erfordere. In der Zwischenzeit müsse die Sowjetmacht den Klassenkampf auf dem Land entfachen, indem die armen Bauern und die Landarbeiter die größte Unterstützung erhielten.

Güterverteilung: Die Sowjetmacht stellte sich selbst die grandiose Aufgabe, den Warenhandel durch eine sinnvolle Güterverteilung zu ersetzen, die sich an den Bedürfnissen der Menschen ausrichtet und durch ein Netzwerk von Konsumentenkommunen ersetzt wird. In der Tat brach das alte Währungssystem in der Zeit des Bürgerkrieges mehr oder weniger zusammen und wurde durch ein System der Konfiszierungen und Rationierungen ersetzt. Jedoch dies war auf einen direkten Mangel zurückzuführen und bedeutete nicht wirklich die Etablierung kommunistischer Gesellschaftsverhältnisse, obgleich diese oft als solche theoretisiert wurden. Eine reale Etablierung von Kommunen kann sich nur auf die Fähigkeit stützen, Überschüsse zu produzieren, was jedoch in einer isolierten proletarischen Bastion unmöglich ist.

Finanzen: Diese zu optimistische Einschätzung des Kriegskommunismus spiegelte sich auch in anderen Bereichen wider, insbesondere in der Idee, dass man allein durch den Zusammenschluss aller bestehenden Banken zu einer einzigen Staatsbank einen Schritt zur Auflösung der Banken als solche machen könne. Doch das Geldsystem, das während der Zeit des Bürgerkriegs nur „abgetaucht“ war, erlebte in Russland bald eine Wiederauferstehung: Geld in der einen oder anderen Form sowie Mittel zu dessen Aufbewahrung werden solange bestehen, wie es Tauschbeziehungen gibt, und können erst durch die Errichtung einer vereinten Weltgemeinschaft überwunden werden.

Wohnungsfrage und öffentliche Gesundheit: Die proletarische Macht entfaltete eine Vielzahl von Initiativen, um die Obdachlosigkeit und Überbelegung von Wohnung zu reduzieren, insbesondere durch die Enteignung bürgerlicher Wohnungen. Doch ihre weiterreichenden Bestrebungen, eine neue städtische Umgebung zu schaffen, wurden durch die ungünstigen Bedingungen nach dem Aufstand vereitelt. Das Gleiche trifft auf viele andere Maßnahmen zu, die die Sowjetmacht dekretiert hatte: Verkürzung des Arbeitstages, Unterstützungszahlungen für Behinderte und Arbeitslose, drastische Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Das unmittelbare Ziel bestand darin, Russland auf den gleichen Standard zu heben, wie er in höher entwickelten bürgerlichen Staaten erreicht worden war. Aber auch hier wurde die neue Macht an der Einführung wirklicher Verbesserungen durch das Abführen gewaltiger Ressourcen an den Kriegsapparat gehindert.

6. 1920: Bucharin und die Übergangsperiode
(International Review Nr. 96)

Bucharin verfasste neben dem Programm der russischen Partei einen theoretischen Text über die Probleme der Übergangsperiode. Obgleich in vielerlei Hinsicht mit großen Fehlern behaftet, stellen einige Teile einen ernsthaften Beitrag zur marxistischen Theorie dar. Eine Untersuchung seiner Schwächen ermöglicht, die Probleme zu beleuchten, die er zu stellen versuchte. Bucharin hatte während des I. Weltkriegs der theoretischen Avantgarde der bolschewistischen Partei angehört. Sein Buch Imperialismus und Weltwirtschaft war zur gleichen Zeit wie Rosa Luxemburgs Untersuchung der neuen Epoche des kapitalistischen Niedergangs – Die Akkumulation des Kapitals – veröffentlicht worden. In seinem Buch zeigte Bucharin als einer der ersten auf, dass diese Phase eine neue Stufe in der Organisierung des Kapitals eröffnet hatte – die Stufe des Staatskapitalismus, die er hauptsächlich mit dem globalen militärischen Kampf zwischen imperialistischen Nationalstaaten verband. In seinem Artikel Hin zu einer Theorie des imperialistischen Staates vertrat Bucharin eine sehr fortschrittliche Position zur nationalen Frage (seine Position ähnelte der Position Rosa Luxemburgs über die Unmöglichkeit der nationalen Befreiung im Zeitalter des Imperialismus) und zur Frage des Staates. Er gelangte rascher als Lenin zur Position, die dieser in Staat und Revolution vertrat – die Notwendigkeit der Zerstörung des bürgerlichen Staatsapparates.

Diese Auffassungen wurden in seinem 1920 verfassten Buch Ökonomik der Transformationsperiode weiterentwickelt. In diesem Text bekräftigte Bucharin die marxistische Auffassung über die unvermeidliche Katastrophe sowie das gewaltsame Ende der Klassenherrschaft und somit über die notwendige proletarische Revolution als der einzigen Grundlage für den Aufbau einer neuen und höheren Produktionsweise. Gleichzeitig befasste er sich eingehender mit den Eigenschaften dieser neuen Phase der kapitalistischen Dekadenz. Er hatte eine Vorahnung von der wachsenden Tendenz des senilen Kapitalismus zur Verschwendung und Zerstörung der akkumulierten Produktivkräfte, unabhängig von dem damit verbundenen möglichen quantitativen „Wachstum“. Er zeigte ebenso auf, wie unter den Bedingungen des Staatskapitalismus die alten Arbeiterparteien und die Gewerkschaften „in den Staat integriert“ wurden, d.h. wie sie in einem unglaublich aufgeblähten kapitalistischen Staatsapparat absorbiert wurden.

In seinen groben Umrissen ist die Darstellung Bucharins der kommunistischen Alternative gegenüber diesem niedergehenden kapitalistischen System ziemlich eindeutig: eine weltweite Revolution, die sich auf die Eigenaktivität der Arbeiterklasse und ihrer neuen Kampforgane stützt – die Sowjets. Eine solche Revolution zielt darauf ab, die ganze Menschheit in eine vereinte Weltgemeinschaft zusammenzuführen, die die blinden Gesetze der Produktion in der Warenwirtschaft durch die bewusste Regelung des gesellschaftlichen Lebens ersetzt.

Doch die Mittel und Ziele der proletarischen Revolution müssen konkretisiert werden. Dies kann nur das Ergebnis einer lebendigen Erfahrung und des Nachdenkens sowie der Auswertung dieser Erfahrung sein. Hier liegt die Schwäche des Buches. Obgleich Bucharin 1918 der linkskommunistischen Tendenz in der bolschewistischen Partei angehörte, beschränkte sich diese Ausrichtung vor allem auf die Frage des Brest-Litowsker Waffenstillstandes. Im Gegensatz zu anderen Linkskommunisten wie etwa Ossinksi war er weitaus weniger im Stande, eine kritische Sichtweise über die Hauptanzeichen der Bürokratisierung des Sowjetstaates zu entwickeln. Im Gegenteil, sein Buch neigte eher dazu, als eine Rechtfertigung für den Status quo während des Bürgerkriegs zu dienen, da er vor allem eine theoretische Rechtfertigung für die Maßnahmen des Kriegskommunismus als Ausdruck eines echten Prozesses kommunistischer Umwälzung lieferte.

So bedeutete aus der Sicht Bucharins das (scheinbare) Verschwinden des Geldes und der Löhne während des Bürgerkrieges – was ein direktes Ergebnis des Zusammenbruchs der kapitalistischen Wirtschaft war – die Überwindung der Ausbeutung und der Einzug einer Form des Kommunismus. Ähnlich machte er aus der bitteren Notwendigkeit des Mehrfrontenkrieges der Roten Armee, der der proletarischen Revolution in Russland aufgezwungen wurde, nicht nur eine Regel für die Phase der revolutionären Kämpfe, sondern gar ein Modell für die Ausdehnung der Revolution, die sich nunmehr in eine monumentale Schlacht zwischen kapitalistischen und proletarischen Ländern verwandelt habe. In dieser Hinsicht stand Bucharin mit seinem Standpunkt viel weiter rechts als Lenin, der niemals vergaß, dass die Ausdehnung der Revolution vor allem eine politische Aufgabe und nicht hauptsächlich eine militärische war.

Ironischerweise zeigte sich Bucharin, nachdem er eindeutig den Staatskapitalismus als die universelle Form der kapitalistischen Organisierung im Zeitalter des kapitalistischen Niedergangs identifiziert hat, blind gegenüber der Gefahr des Staatskapitalismus nach der proletarischen Revolution. Unter dem „proletarischen Staat“, unter dem System der „proletarischen Verstaatlichungen“ werde die Ausbeutung unmöglich werden. Der Umstand, dass der neue Staat der organische Ausdruck der historischen Interessen des Proletariats sei, sei für das Proletariat insofern vorteilhaft, als sämtliche Klassenorgane der Arbeiter im Staatsapparat verschmolzen und die ausgeprägtesten hierarchischen Praktiken bei der Verwaltung des gesellschaftlichen und ökonomischen Lebens wiederherstellt seien. Ihm fehlte jegliches Problembewusstsein, dass der Übergangsstaat, der ein Ausdruck der Notwendigkeit ist, eine nur vorübergehende Gesellschaftsformation zusammenzuhalten, eine konservative Rolle spielt und sich gar von den Interessen des Proletariats lösen könnte.

In der Zeit nach 1921 wandelte Bucharin sich schnell von einem Linken zu einem Anhänger eines rechten Kurses. Doch in Wirklichkeit gab es eine Kontinuität in dieser Entwicklung: die Neigung, sich dem Status quo anzupassen. Da sein Buch Die Ökonomik der Transformationsperiode ein Versuch war, zu erklären, dass das strenge Regime des Kriegskommunismus bereits das Ziel des Kampfes der Arbeiterklasse sei, bedeutete es einige Jahre später keinen großen Kurswechsel, als er erklärte, dass die Neue Ökonomische Politik NEP – die den Kräften des Marktes freien Lauf ließ, der in der vorhergehenden Phase lediglich in den Hintergrund getreten war – bereits die Vorstufe zum Sozialismus sei. Bucharin wurde mehr noch als Stalin zum Theoretiker des „Sozialismus in einem Land“. Dies kommt schon in der absurden Behauptung zum Ausdruck, dass die isolierte russische Bastion der Jahre 1918-20, in der das Proletariat durch den Bürgerkrieg dezimiert worden war und in der es sich der wachsenden neuen Bürokratie unterwerfen musste, bereits eine kommunistische Gesellschaft darstelle.

7. 1920: Das Programm der KAPD (International Review Nr. 97)

Die Isolierung der Revolution in Russland sollte sich negativ auf die politischen Positionen der neu gegründeten Kommunistischen Internationale auswirken, die ihre Klarheit, die sie auf ihrem Gründungskongress zum Ausdruck gebracht hatte, allmählich verlor, was insbesondere gegenüber den sozialdemokratischen Parteien deutlich wurde. Nachdem diese zuvor noch als Parteien der Bourgeoisie gebrandmarkt worden waren, begann die Komintern die Taktik der „Einheitsfront“ mit eben diesen Parteien zu praktizieren. Zum Teil manifestierte sich dies in dem Versuch, mehr Unterstützung für die isoliert gebliebene russische Bastion zu gewinnen. Es waren die linkskommunistischen Strömungen in einer Reihe von Ländern, insbesondere in Italien und Deutschland, die sich dem Aufkommen des Opportunismus in der Komintern vehement entgegenstellten. Einer der ersten Ausdrücke des wachsenden Opportunismus in der Komintern war Lenins Schrift Der „linke Radikalismus“ – Die Kinderkrankheit im Kommunismus. Seit seiner Veröffentlichung lieferte der Text die Grundlage für viele Verfälschungen und Verzerrungen über die Kommunistische Linke. Insbesondere zeigte sich dies im Falle der deutschen Linken um die KAPD, die 1920 aus der KPD ausgeschlossen wurde. Der KAPD wurde vorgeworfen, einer „sektiererischen“ Politik anheim zu fallen, weil sie die wirklichen Arbeitergewerkschaften willkürlich durch „revolutionäre Unionen“ ersetzen wollte. Ihr wurden vor allem anarchistische Tendenzen in der Frage des Parlamentarismus und der Rolle der Partei vorgeworfen.

In Wirklichkeit war die KAPD, die das Ergebnis eines tragischen und verfrühten Bruchs in der deutschen Partei war, nie eine homogene Organisation. Ihr gehörte eine Reihe von Mitgliedern an, die tatsächlich vom Anarchismus beeinflusst worden waren. Und als die revolutionäre Welle zurückgewichen war, sollte dieser Einfluss mit zum Auftauchen rätekommunistischer Ideen beitragen, die die Bewegung der Kommunisten in Deutschland stark prägten. Aber ein kurzer Blick auf ihr Programm zeigt, dass die KAPD in ihren besten Zeiten den damaligen Höhepunkt der marxistischen Klarheit verkörperte:

– Im Gegensatz zum Anarchismus ging ihr Programm von den objektiven, historischen Bedingungen des Weltkapitalismus aus: von der neuen, durch den Weltkrieg eröffneten Epoche der kapitalistischen Dekadenz. Es beharrte auf der Alternative zwischen Sozialismus und Barbarei.

– Im Gegensatz zum Anarchismus unterstützte das Programm vorbehaltlos seine Solidarität mit der Russischen Revolution und bekräftigte die Notwendigkeit ihrer weltweiten Ausdehnung. Dabei wurde Deutschland ausdrücklich als Schlüsselelement für diese Perspektive hervorgehoben.

– Die Ablehnung des Parlamentarismus und der Gewerkschaften durch die KAPD stützte sich nicht auf irgendeinen zeitlosen Moralismus oder auf eine Besessenheit für Organisationsformen, sondern auf ein Verständnis der neuen Bedingungen, die die Epoche der proletarischen Revolution mit sich gebracht hatte, in der Parlamentarismus und Gewerkschaften nunmehr nur den Interessen des Klassenfeindes dienten.

– Dasselbe trifft auf die Befürwortung der Fabrikorganisationen und der Arbeiterräte durch die KAPD zu. Diese waren keine willkürlichen, von einer Handvoll Revolutionäre ausgedachten Formen, sondern konkrete organisatorische Erfahrungen aus der realen Klassenbewegung in der neuen Epoche. Auch wenn es noch keine vollständige Klarheit über das Wesen der Fabrikorganisationen geben konnte (die die KAPD immer noch als eine Art ständiger Vorläufer der Räte betrachtete, die sich auf ein politisches Minimalprogramm stützten), waren sie alles andere als ein künstliches Produkt der damaligen Zeit, sondern ein Zusammenschluss der kämpferischsten Arbeiter in Deutschland.

– Weit davon entfernt, parteifeindlich zu sein, bekräftigte das Programm (das durch die Thesen zur Rolle der Partei in der Revolution untermauert wurde) deutlich die unabdingbare Rolle der Partei als ein Kern der kommunistischen Kompromisslosigkeit und Klarheit gegenüber der allgemeinen Klassenbewegung.

– Ebenso verteidigte das Programm ohne Zögern die marxistische Auffassung über die Diktatur des Proletariats.

Hinsichtlich der praktischen Maßnahmen befand sich das Programm der KAPD in direkter Kontinuität mit dem Programm der KPD, insbesondere in seinem Aufruf zur Auflösung aller parlamentarischen und Gemeindeorgane und zu ihrer Ersetzung durch ein zentralisiertes System der Arbeiterräte. Das Programm der KAPD von 1920 war dagegen in den Fragen der internationalen Aufgaben der Revolution klarer. Es rief zum Beispiel zum unmittelbaren Zusammenschluss mit anderen Sowjetrepubliken auf. Des Weiteren befasste es sich näher mit dem ökonomischen Inhalt der Revolution. Es betonte die Notwendigkeit unmittelbarer Schritte zur Ausrichtung der Produktion auf die Bedürfnisse (auch wenn wir der Behauptung des Programms widersprechen, dass allein die Bildung eines „sozialistischen Wirtschaftsblocks“ mit Russland einen bedeutenden Schritt zum Kommunismus bewirken könne). Schließlich warf das Programm einige „neue“ Themen auf, die im Programm der KPD von 1918/1919 nicht behandelt worden waren, wie das proletarische Vorgehen gegenüber der Kunst, Wissenschaft, Erziehung und Jugend. Dies zeigt, dass die KAPD weit davon entfernt war, eine Strömung zu sein, die die Arbeiterklasse mystifizierte. Sie befasste sich im Gegenteil mit all den Fragen, die durch die kommunistische Umwälzung der Gesellschaft aufgeworfen wurden.

Theoretische Fragen: 

  • Kommunismus [10]

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