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Im Frühjahr 2012 ist es der offiziellen Schweiz wieder einmal gelungen, nach einem „Volksentscheid“ Verwunderung in der internationalen Presse hervorzurufen. Dieses Mal ging es um die Frage: mehr Urlaub oder nicht. Eine Volksinitiative des zweitgrössten nationalen Gewerkschaftsbundes Travail.Suisse wollte das Recht auf sechs Wochen Ferien für alle ArbeitnehmerInnen in der Verfassung verankern. Der Initiativtext sah vor, dass sich der Ferienanspruch im Jahr nach Annahme des Volksbegehrens auf fünf Wochen erhöht. In den folgenden fünf Jahren sollte der Anspruch jeweils um einen Tag steigen. Die Idee dahinter war laut Abstimmungspropaganda, „so einen gezielten und wirksamen Ausgleich für die gestiegene Belastung am Arbeitsplatz zu schaffen“. Derzeit beziehen die LohnarbeiterInnen in der Schweiz im Durchschnitt fünf Wochen bezahlte Ferien. Gesetzlich garantiert sind für Festangestellte nur deren vier (Art. 329a Obligationenrecht).
Am 11. März 2012 fand die Abstimmung über die Initiative statt. Sie wurde deutlich abgelehnt: 66,5 Prozent der Stimmenden sagten Nein, in keinem einzigen Kanton resultierte ein Ja. Am meisten Zustimmung erhielt die Initiative in der französischsprachigen Westschweiz. Abgelehnt wurde sie allerdings auch dort. Am knappsten war die Ablehnung im Kanton Jura mit rund 51 Prozent Nein-Stimmen. Am deutlichsten verworfen wurde die Initiative im Kanton Appenzell Innerrhoden mit 82 Prozent Nein-Stimmen.
Die Stimmbeteiligung lag bei 45 Prozent. Das heißt, dass 55 Prozent der Stimmberechtigten sich gar nicht beteiligten. Mehr als ein Fünftel der Bevölkerung hat keinen Schweizer Pass und ist deshalb ohnehin nicht stimmberechtigt.
Schon vor der Abstimmung im Januar 2012 ergaben Meinungsumfragen offenbar folgendes: „Während die Erwerbstätigen aller Alterskategorien der Initiative zustimmen, hat sie bei den Pensionierten keine Ja-Mehrheit (39% Ja, 49% Nein).“ (Travail.Suisse, Medienmitteilung vom 8.1.12) Soviel zu den Zahlen und der übrigen Faktenlage.
Gleich nach der Bekanntgabe des Ergebnisses kam es zu Reaktionen nicht nur in der Schweiz, sondern auch in andern Ländern. Abgesehen von der Medienberichterstattung, die je nach politischer Couleur die Entscheidung des Stimmvolks verhöhnte oder bewunderte, brach eine Diskussion darüber aus, ob die Schweizer Arbeiter verrückt, ob sie arbeitswütig seien oder nicht wüssten, was sie mit ihrer Freizeit anfangen sollen.
Aus der Sicht der Arbeiterklasse stellen sich dabei insbesondere folgende Fragen:
Warum stimmen die ArbeiterInnen nicht für mehr Ferien? Gibt es denn da etwas zu verlieren? Wäre die Initiative angenommen worden, wenn alle ArbeiterInnen abgestimmt hätten (auch diejenigen, die keinen Schweizer Pass haben, oder die unter 18-jährigen)? Oder auf einer allgemeineren Ebene: drückt sich in Abstimmungsresultaten ein bestimmter Stand des Arbeiterbewusstseins aus? Sind Abstimmungen eine Messlatte für das Klassenbewusstsein? Ist die Stimmabstinenz (die in der Schweiz meist geringe Beteiligung an Referenden und Wahlen) Ausdruck einer Politikverdrossenheit, eines Illusionsverlustes gegenüber der parlamentarischen Demokratie?
Diese Fragen stellen sich natürlich nicht allein aufgrund einer einzelnen seltsamen Abstimmung in der Schweiz. Vielmehr rieben sich auch in Ägypten in den letzten Wochen viele Revolutionäre vom Tahrirplatz die Augen, als sie in den Präsidentschaftswahlen plötzlich vor der korrekt demokratischen, aber alles andere als revolutionären Alternative standen, entweder einen Luftwaffengeneral und ehemaligen Premierminister Hosni Mubaraks (Ahmad Schafiq) oder einen Islamisten (Mohammed Mursi) zu wählen. Ist dies alles, was vom Arabischen Frühling übrig bleibt?
Wir werfen solche Fragen hier nicht auf, um ein Abstimmungsergebnis im Hinblick auf künftige Urnengänge präziser zu analysieren. Dieser Aspekt der Einschätzung der Stärke oder Schwäche der bürgerlich-demokratischen Herrschaft ist zwar interessant. Aber zentral für die kommenden Kämpfe unserer Klasse (nicht nur in der Schweiz) scheint uns die umgekehrte Perspektive zu sein – jene von unten, der Bruch mit der Logik dieser bürgerlichen Demokratie. Dabei sei hier im Sinne einer Begriffsklärung voraus geschickt, dass es für uns zwischen der repräsentativen Demokratie (z.B. à la française) und der direkten Demokratie (nach Schweizer Art) keinen wesentlichen Unterschied gibt. Beiden gemeinsam ist das Prinzip der Stellvertreterpolitik anstelle der Selbsttätigkeit, die umgekehrt beispielsweise in Vollversammlungen der Indignados in Spanien oder in den Arbeiterräten gelebt worden ist.
Interessant finden wir insbesondere die Diskussionen auf zwei Internet-Foren, auf denen sich internationalistische Stimmen zu treffen pflegen. Das eine ist das englischsprachige Forum libcom.org, das andere das Forum undergrounddogs.net aus der Schweiz. Werfen wir einen Blick auf ein paar Argumente, die da ausgetauscht worden sind. Zunächst ein paar Kommentare aus libcom.org, übersetzt auf Deutsch. Schon bald fand sich da der Erste, der einfach schrieb:
- „Idioten“ – gemeint waren damit, aus dem Zusammenhang zu schliessen, die „Schweizer“. Ob Schweizer Stimmbürger oder Schweizer Arbeiter, blieb zunächst unklar.
- Ein weiterer Kommentar nahm dann aber Bezug auf das Klassenbewusstsein: Er habe in einem anderen Diskussionsstrang auf dem Forum gelesen, „die Schweizer seien eine der am wenigsten klassenbewussten Bevölkerungen auf der Welt. Ich bin geneigt, ihm/ihr zu glauben.“
- Ein dritter Teilnehmer brachte eine neue Sichtweise in die Diskussion. Er fand, das Abstimmungsresultat sei “ein gutes Bespiel dafür, dass es wenig Sinn macht, den Kapitalismus häppchenweise zu ‘demokratisieren’, denn in einem gewissen Sinn (innerhalb des Kapitalismus) ist es vernünftig, gegen deine Klasseninteressen zu stimmen – wie die Genossenschaftsarbeiter, die Lohnkürzungen absegnen.“
- In der gleichen Richtung intervenierte ein Vierter: “Es ist auch ein schönes Beispiel dafür, wie das Proletariat ständig im Dilemma ist. Egal was es tut, zieht es den Kürzeren.”
- Jemand, der sich auf den hier eingangs zitierten Ausruf bezog, warf die Frage auf: “Macht es dich zum Idioten, wenn du so abstimmst, wie es dir ein quasselnder Idiot vorsagt? Irgendwie schon, aber das macht es auch nicht besser …”
Da sind wir also wieder einmal am Punkt angelangt, wo das Bewusstsein reift, dass wir alle verschiedene Teile der gleichen kollektiven Bewusstseinsentwicklung sind – die sich leider noch auf ziemlich bescheidenem Niveau bewegt, aber eben doch bewegt. Jemand auf libcom.org sprach es offen so aus:
- “Wenn es da Idioten gibt, so sind wir alle Idioten. Zeig mir einen (nationalen/regionalen/lokalen) Teil der Arbeiterklasse, der sich nicht irgendwann verarschen und in die scheiss Chef-Klassenpropaganda einlullen liess. Wenn ad infinitum wiederholt wird, dass mehr Ferien bekanntermassen das Ende der Welt bedeuten, so ist es keineswegs eine Überraschung, wenn Arbeiter einen solchen Vorschlag ablehnen.“
Welches Zwischenfazit können wir in Frage, ob die Arbeiter Idioten sind, ziehen? Wenn die Arbeiter den bürgerlich-demokratischen Wahlzettel einwerfen, haben sie schon verloren. Ihnen daraus auch noch einen moralischen Vorwurf zu machen bringt nichts. Es geht um unsere Klasse.
Da
wird es Zeit, auf die Diskussion im undergrounddogs.net zu schauen. Einer
schlägt hier den Bogen zur alten Einsicht (aus dem Kommunistischen Manifest),
dass die herrschenden Ideen einer Zeit stets nur die Ideen der herrschenden
Klasse waren:
„Ich finde das Resultat nicht so
erstaunlich, sonst könnte sich ja eine Minderheit wie die Bourgeoisie sie ist,
nicht an der Macht halten, wenn sie nicht fähig ist, ihre Ideen
durchzubringen.“ Ein anderer konkretisierte den Stand des Bewusstseins bei den
ArbeiterInnen so: „Die Arbeiter machen
sich in der Regel eben gerade keine Gedanken über wirkungsvollen Klassenkampf.
Eben weil sie sich andauernd überlegen wie sie sich - individuell - am besten
im Kapitalismus einrichten können. Und weil sie denken, dass ihr Wohl vom Gang
der kapitalistischen Geschäfte und vom Abschneiden der Schweiz in der
Standortkonkurrenz abhängt, verhalten sie sich entsprechend. Mehr Ferien, das
ist ja ein Konkurrenznachteil gegenüber dem Ausland und gefährdet
Arbeitsplätze. Die Konsequenz heisst dann halt: williges und billiges Anhängsel
will ich sein.“
Die Diskussionsteilnehmer verfolgen meist mehrere Ideen gleichzeitig, die sie rüberbringen wollen. Wir möchten uns hier bewusst auf einen Aspekt konzentrieren, auf den Aspekt der kollektiven Bewusstseinsentwicklung; natürlich sind Missverständnisse (sei es kreativer oder destruktiver Art …) nie ausgeschlossen. Die Missverstandenen werden sich hoffentlich melden! Aber eines sticht doch aus all den bisher zitierten Argumenten heraus: Wenn sich die Summe aller Arbeiter als Stimmbürger sowohl der Form als auch dem Inhalt nach zu 100 Prozent in der kapitalistischen Logik bewegt (und genau dies geschieht bei Volksabstimmungen), so ist es kein Wunder, wenn ein kapitalistisch sinnvoller Entscheid herausschaut – selbst wenn scheinbar die „Arbeiterklasse“ die Möglichkeit gehabt hätte, anders zu entscheiden. Wie hätte sie denn sonst entscheiden sollen? Für die Revolution? Die Revolution wird gerade nicht von vereinzelten Individuen, die getrennt jedes für sich zur Abstimmungsurne gehen und anonym ihren Zettel einwerfen, gemacht, sondern von der Masse der ProletarierInnen im Kollektiv, selbstbestimmt und selbstorganisiert.
Im Kern geht es also um die Frage, ob sich die ArbeiterInnen ausschliesslich in der Logik des Kapitals bewegen, oder ob sie sich eine eigene Logik zulegen. Diese Logik hat einerseits mit der Form zu tun: Stellvertretung durch demokratische (individuelle) Stimmabgabe oder (kollektive) Selbsttätigkeit und Selbstorganisation. Andererseits hat die proletarische Logik auch eine inhaltliche Seite. Es geht darum, sich ein eigenes Terrain zu schaffen und sich darauf zu bewegen. Ein Genosse auf undergrounddogs.net:
„Es gibt da doch zwei
verschiedene Terrains.
1. das demokratisch-nationale Terrain.
Dies ist für den Klassenkampf zwar nicht das wichtige, aber es war nun mal eine
Abstimmung. Auf der Ebene stimmt zwar einerseits das, was R [der zuletzt zitierte
Genosse] sagt, dass die Arbeiter hier als
einzelne (Insassen der Nation) agieren und sich diese Konkurrenzgedanken
machen. Zumindest die, die so abgestimmt haben. Zusätzlich sollte es auch klar
sein, dass auf dieser Ebene sowieso nicht gewonnen werden kann, weil hier
antagonistische Interessen gegeneinander stehen, wo ein grosser Teil der
Abstimmenden eh schon auf der anderen Seite steht, von Kleinbürgern aufwärts.
Rechnerisch fällt da also schon einiges weg. Zusätzlich kommt noch hinzu, dass
ein grosser Teil von denen, die ein unmittelbares Interesse an so einer
Verbesserung hätten (sagen wir mal, die Proletarier seien hierzulande etwa zu Hälfte
Ausländer) eh aus der demokratischen Willensbildung ausgeschlossen sind.
Von der Seite her kann man die Aussage von R auch gar nicht beurteilen, weil
man dafür erst mal untersuchen müsste: Wer hat alles abgestimmt? Wie haben die
verschiedenen Klassen abgestimmt? Was hätten diejenigen gestimmt, die nicht abstimmen
dürfen? usw. Das mal zur demokratisch-arithmetischen Wahlhuberei.
2. das Klassenterrain.
Der Punkt ist doch, dass diese ganze Abstimmung sich um den alten Antagonismus
dreht, er aber nicht als ein solcher behandelt wird, sondern die Frage nach dem
Wohl der Nation im Zentrum einer solchen Abstimmung steht. Der
Klassenantagonismus wird also gar nicht erst zur organisatorischen Struktur so
einer Abstimmung. Man müsste sich also fragen, wie man das Interesse der
Arbeiter als Klasseninteresse organisieren kann. Also Formen zu finden, wo
nicht Schweizer Kapitalisten und Schweizer Proletarier gemeinsam über das Wohl
der Nation abstimmen, sondern wie man den Klassenkampf so organisieren kann,
dass unsere Seite zu maximaler Stärke kommt und wie man gegen die anderen
gewinnt. Das ist aber keine Frage demokratischer Willensbildung, sondern eine
Frage der Macht.“
Das sind wohl die entscheidenden Fragen: Nation oder Klasse, Kapitallogik oder proletarisches Klassenterrain.
Wenn wir auf die eingangs aufgeworfenen Fragen zurückblicken, können wir aufgrund der verschiedenen Argumente folgende Schlussfolgerung ziehen:
In einem Abstimmungsresultat im Rahmen der repräsentativen oder direkten bürgerlichen Demokratie kommt das Bewusstsein der Arbeiterklasse nur mehrfach gebrochen zum Ausdruck:
1. Zunächst einmal sind die Stimmberechtigten keineswegs identisch mit der Arbeiterklasse; viele ArbeiterInnen sind nicht stimmberechtigt, und ein grosser Teil des Stimmvolkes ist nicht proletarisch. Im Abstimmungszirkus wird das Proletariat im Volk der Staatsbürger aufgelöst.
2. Noch wichtiger ist aber das Prinzip der Vereinzelung in der demokratischen Abstimmung: Jeder Arbeiter/jede Arbeiterin geht als Individuum und als StaatsbürgerIn anonym einen Zettel einwerfen, auf dem nur ein Ja oder ein Nein steht. Die Volksabstimmung ist das Gegenteil einer kollektiven Debatte. Die Politiker führen stellvertretend eine (Schein-)Debatte. Die StimmbürgerInnen sollen dann Ja oder Nein dazu sagen. Das Resultat dieser „Partizipation“ ist eine rein quantitative Grösse, wie der Preis einer Ware. Die differenzierte Qualität einer proletarischen Debatte wäre blosser Störfaktor. Das Gefühl, dass man als Ausgebeuteter ein- und derselben Klasse angehört und als Kollektiv ein Gewicht hätte, kann so gar nicht erst aufkommen.
3. Ein Ausbrechen aus der vorgegebenen kapitalistischen Logik ist nicht möglich. Das Proletariat kann im Rahmen dieser demokratischen Spielregeln innerhalb eines bestimmten Nationalstaats nur Ja oder Nein sagen zu (Schein-)Lösungen innerhalb dieses Systems, selbst wenn sich immer mehr ProletarierInnen bewusst werden, dass es eine grundlegende Umwälzung der gesamten Gesellschaft und Wirtschaft bedarf.
Damit ist auch gesagt, dass selbst eine perfektionierte bürgerliche Demokratie, z.B. mit einem AusländerInnen-Stimmrecht, kein brauchbares Mittel für unsere Interessen ist. Vielmehr setzt eine proletarische Revolution die Selbsttätigkeit, die kollektive Debatte und die Selbstorganisierung immer grösserer Massen unserer Klasse voraus. Nur so lässt sich eine neue Welt ohne Ausbeutung von Mensch und Natur schaffen.
Noch nicht entschieden ist damit allerdings die Frage, ob aus einer grossen Stimmabstinenz, z.B. im konkreten Fall der Schweiz, abgeleitet werden kann, dass die Leute von der Politik verdrossen oder sogar tendenziell revolutionär sind. Die letztere Schlussfolgerung wäre sicher falsch, und zwar genau wegen des zuvor beschriebenen Prinzips: Eine Revolution setzt die bewusste Selbsttätigkeit der Massen voraus, d.h. eine aktive Haltung. Die heute praktizierte Wahlabstinenz ist aber in den allermeisten Fällen ein passiver Reflex, der sicher mit Resignation zu tun hat, aber nur ausnahmsweise mit einer alternativen Perspektive.
Ob eine Politikverdrossenheit herrscht, lässt sich nicht direkt an einem bestimmten Stand der Wahlabstinenz ablesen. Gerade bei den Wahlen stellt man oft fest, dass sich eine erste Empörung im „Volk“ gegen eine bestimmte Regierung zunächst einmal in einer hohen Wahlbeteiligung ausdrückt; die WählerInnen wollen die regierende Partei abstrafen. Die Desillusionierung verschafft sich Luft – in einer neuen Illusion.
Der Weg zum Bruch mit der demokratischen Ideologie ist noch lang. Dieser Wall, der die herrschende Ordnung schützt, ist deshalb ein perfides Hindernis, weil er nirgends physisch sichtbar ist, sondern in den Köpfen der ProletarierInnen existiert und sich ständig reproduziert, solange wir nicht gemeinsam die Stärke und das Selbstvertrauen für die Befreiung gewinnen. Es ist aber sicher nötig, dass revolutionäre Minderheiten der Klasse beginnen, den Weg zur Überwindung dieses Walls abzustecken.
GF, 10.7.12
In der Tat stellten die Verwerfungen des Krieges in allen Ländern die an ihm teilgenommen hatten, die Bedingungen für vielfältige soziale Unruhen, Massenstreiks und Revolutionen her, zeigten aber auch die Grenzen der alten Arbeiterbewegung auf. Ein besonders symptomatisches Beispiel hierfür ist die Revolution von 1918/19 in Deutschland, eines der am stärksten industrialisierten Länder in Europa mit der größten sozialistischen Massenpartei und Gewerkschaftsbewegung.
Zumeist wird mit Verweis auf die anfänglich dominante Position der im Krieg kollaborierenden Mehrheitssozialdemokratie und die schnelle Niederlage revolutionärer Kräfte im „Spartakusaufstand“ vom Januar 1919, ein sozialrevolutionärer oder gar „sozialistischer“ Charakter der Revolution abgesprochen. Bisher weniger beachtet wird dabei jedoch eine breite Streikbewegung im Frühjahr 1919, welche die industriellen Zentren in Deutschland erschütterte. Getragen wurde sie von den im November 1918 entstandenen Arbeiterräten, welche als Organisationsformen proletarischer Selbstermächtigung revitalisiert wurden. Erstmals erhielten dabei Sozialisierungsforderungen einen zentralen Stellenwert in der Bewegung und drückten damit die eigentliche sozialrevolutionäre Komponente der Revolution aus. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Bewegung im Generalstreik vom März 1919 in Berlin, der schließlich im bis dahin größten Blutbad, durch Freikorps und sozialdemokratische Führungsebene, ertränkt wurde.
In „Massenstreik und Schießbefehl“ werden diese Ereignisse in Berlin vom März 1919 unter Auswertung der verfügbaren Quellen rekonstruiert. Dabei geht es vor allem um eine Analyse der Streikbewegung auf lokaler Ebene und ihrer Verknüpfung mit der Berliner Rätebewegung seit November 1918. Die Hauptthese besteht darin, dass sich in der Streikbewegung vom Frühjahr 1919 die sozialrevolutionären Erwartungen der Arbeiter und Soldaten vom November 1918 nun gegen die neuen parlamentarischen Institutionen und die alte sozialdemokratische Parteiführung ausdrückten. Der politische Radikalisierungsprozess vollzog sich allerdings parallel zur Restauration bürgerlicher und monarchistischer Kräfte in Heer und Verwaltung und traf daher bei seiner Eruption auf eine bestens vorbereitete Gegenrevolution. Dennoch bestand, so die These, für einen kurzen Zeitraum die Möglichkeit die gegenrevolutionäre Entwicklung aufzuhalten oder wieder in die Richtung einer sozialrevolutionären Perspektive zu lenken. Die Bedingungen hierfür und die Gründe für das Scheitern dieser Möglichkeiten sind der Gegenstand des Buches.
Titel: Dietmar Lange, Massenstreik und Schießbefehl. Generalstreik und Märzkämpfe in Berlin 1919, Edition Assemblage, Münster 2012.
[1]Friedrich Engels, Einleitung zu Sigismund Borkheims Broschüre "Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten. 1806-1807", in: Karl Marx; Friedrich Engels, Werke, Band 21, 5. Auflg., Berlin 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 346-351, Zitat S. 351.
Aber diese historische Krise des Kapitalismus wurde zum Teil vertuscht und unter einem Berg von Lügen und Propaganda begraben. In jedem Jahrzehnt wurde das gleiche Register gezogen: Ein Land, eine Weltregion oder ein Wirtschaftsbereich, dem es etwas besser ging als den anderen, wurde besonders herausgehoben, um uns einzutrichtern, die Krise sei keine Fatalität, es reiche aus, die richtigen „Strukturreformen“ einzuleiten, damit der Kapitalismus wieder zu seiner Dynamik zurückfinde und Wachstum und Wohlstand bringe. In den 1980-1990er Jahren wurden Argentinien und die „asiatischen Tiger“ als Erfolgsmodelle dargestellt, dann, von 2000 an, galten Irland und Spanien als Aushängeschilder. Natürlich stellten sich diese „Wunder“ samt und sonders als Schimären heraus: 1997 wurden die „asiatischen Tiger“ als „Papiertiger“ entblößt, Ende der 1990er Jahr musste Argentinien seine Zahlungsunfähigkeit erklären, heute stehen Irland und Spanien am Abgrund. Jedes Mal wurde das “unglaubliche Wachstum” durch Schulden finanziert und jedes Mal führte die Schuldenlast dazu, dass die willkürlich aufgebauschten Hoffnungen allesamt verflogen. Und als ob man auf unser schlechtes Gedächtnis setzt, tischt man uns jetzt wieder die gleichen Lügengeschichten und Schönfärbereien auf. Schenkt man ihnen Glauben, so krankt Europa an hausgemachten Problemen: Schwierigkeiten, Reformen durchzusetzen und die Schulden der Mitglieder auf alle umzulegen, ein Mangel an Einheit und Solidarität unter den Ländern, eine Zentralbank, der die Ankurbelung der Wirtschaft nicht gelingt, weil sie nicht Geld nach ihrem Belieben drucken kann. Aber diese Argumente ziehen nicht mehr. Die USA und ihre Fed, Weltmeister im willkürlichen Ankurbeln der Notenpresse seit 2007, stehen ebenfalls schlecht da.
Mit der Abkürzung „BRIC“ bezeichnet man die boomenden Wirtschaften der letzten Jahre: Brasilien, Russland, Indien und China. Wie bei jedem Eldorado entspricht auch ihr „guter Zustand“ eher einem Mythos als der Wirklichkeit. All diese „Booms“ werden im Wesentlichen durch Schulden finanziert und enden da, wo ihre Vorgänger auch gelandet sind. Auch sie werden vom Würgegriff der Rezession erfasst. Schon jetzt hat sich der Wind gedreht.
In Brasilien sind in den letzten zehn Jahren die Verbraucherkredite buchstäblich explodiert. Ähnlich wie in den USA im letzten Jahrzehnt verfügen die Privathaushalte in Brasilien jedoch über immer weniger Mittel, um die Schulden zurückzuzahlen. Die Zahlungsunfähigkeit von Privatkonsumenten bricht alle Rekorde. Die Währungsblase gleicht exakt der spanischen Blase, bevor diese platzte: Jüngst errichtete Gebäude – Wohn- und Bürohäuser – stehen oft weitestgehend leer.
In Russland beträgt die Inflation offiziell sechs Prozent, andere Instanzen sprechen von 7,5 Prozent. Und die Obst- und Gemüsepreise sind im Juni und Juli gewaltig angestiegen, nämlich um 40 Prozent!
In Indien nimmt das Haushaltsdefizit weiter gefährlich zu; für das Jahr 2012 werden 5,8 Prozent des BIP erwartet. Die Industrieproduktion ist rückläufig (-0,3 Prozent im ersten Quartal 2012), der Privatverbrauch ist ebenso rückläufig; die Inflation hat zugenommen (7,2% im April, im letzten Oktober kletterten die Lebensmittelpreise sogar um zehn Prozent). Indien wird heute von der Finanzwelt als risikoreich eingestuft. Sein Rating beträgt BBB (die niedrigste Bewertung der Kategorie „untere mittlere Qualität“). Indien läuft Gefahr, demnächst jener Reihe von Ländern zugeordnet zu werden, bei denen man von Investitionen ganz abrät.
In China flacht die wirtschaftliche Aktivität langsam weiter ab. Im Juni war die Produktion zum achten Mal in Folge rückläufig. Die Wohnungspreise sind zusammengebrochen, die Aktivitäten der Bauindustrie scheinen sich im freien Fall zu befinden. Ein Beispiel ist sehr aufschlussreich: Allein in Beijing stehen mehr Wohnungen leer als in den USA zusammengenommen (3,8 Millionen in Beijing im Vergleich zu 2,5 Millionen leer stehender Wohnungen in den USA) (https://www.germanyinews.com/Nachrichten-920819-Peking-Immobilien-Leerst... [7]). Doch am bedrohlichsten sind ohne Zweifel die Haushaltsdefizite in den Provinzen. Denn wenn der Staat nicht offiziell unter der Schuldenlast erstickt, dann geschieht dies nur aufgrund von Buchungstricks, mit denen beispielsweise all diese Defizite auf die Kommunen abgewälzt werden. Zahlreiche Kommunen in den Provinzen stehen am Rand des Bankrotts.
Die Investoren sind sich des schlechten Zustands der BRIC-Länder bewusst. Deshalb flüchten sie aus den vier Landeswährungen – Real, Rubel, Rupie und Yuan -, deren Wechselkurse seit Monaten absacken.
Die Stadt Stockton, Kalifornien, hat am 26. Juni Zahlungsunfähigkeit angemeldet, wie vor ihr bereits Jefferson County, Alabama und Harrisburg, Pennsylvania. Dabei haben die 300.000 Einwohner Stocktons alle möglichen notwendiger Opfer für die „Sanierung“ erbracht: Der Stadthaushalt wurde um 90 Millionen Dollar gekürzt, 30 Prozent der Feuerwehrleute und 40 Prozent der anderen städtischen Beschäftigten wurden entlassen, die Löhne der städtischen Beschäftigten um 11.2 Millionen Dollar wurden gekürzt, die Renten drastisch reduziert. Dieses sehr konkrete Beispiel spiegelt den ganz realen Auflösungszustand der US-Wirtschaft wider. Die Haushalte, Betriebe, Banken, Städte, die Bundesstaaten und die Washingtoner Regierung – alle sind davon betroffen. All diese Teile der Wirtschaft werden buchstäblich unter einem Schuldenberg begraben, der nie zurückbezahlt werden wird. Vor diesem Hintergrund besteht die Gefahr, dass die anstehenden Verhandlungen zwischen Demokraten und Republikanern über die Schuldengrenze wie im Sommer 2011 zu einem Psychodrama zu werden drohen. Eigentlich steht die amerikanische Bourgeoisie vor einem unlösbaren Problem: Um die Wirtschaft anzukurbeln, muss sie sich immer mehr verschulden. Um nicht pleite zu gehen, muss sie die Verschuldung reduzieren.
Jeder verschuldete Teil der Wirtschaft wirkt wie eine Mine: Hier steht eine Bank kurz vor dem Bankrott, dort ist eine Stadt oder ein Betrieb nahezu pleite… und wenn eine Mine hochgeht, besteht die Gefahr einer Kettenreaktion.
Heute droht die “Blase der Studentenkredite“ zu platzen, befürchten jedenfalls die Finanzexperten. Das Studium wird immer kostspieliger, immer weniger Jugendliche finden einen Job nach ihrem Studienabschluss. Mit anderen Worten – die Studentenkredite werden immer umfangreicher, und das Risiko der Zahlungsunfähigkeit wird immer wahrscheinlicher. Konkret heißt das:
- Am Ende ihres Studiums sind die US-Studenten im Durchschnitt mit 25.000 Dollar pro Kopf verschuldet;
- Die laufenden Studentenkredite übertreffen sogar die Verbraucherkredite in den USA; sie betragen ca. 904 Milliarden Dollar (und haben sich während der letzten fünf Jahre praktisch verdoppelt); dies entspricht ca. sechs Prozent des BIP.
- Die Arbeitslosigkeit der Universitätsabsolventen unter 25 Jahren liegt über neun Prozent.
- 14 Prozent der Diplominhaber, die sich verschuldet haben, werden drei Jahre nach ihrem Studienabschluss zahlungsunfähig.
Dieses Beispiel ist sehr typisch dafür, was aus dem Kapitalismus geworden ist: ein krankes System, das seine Zukunft (im wahren Sinne des Wortes) nur noch mehr mit Hypotheken belasten kann. Um zu überleben, müssen die Jugendlichen sich heute verschulden und die Gehälter von morgen, die ihnen nicht ausgezahlt werden, „investieren“. Es ist kein Zufall, wenn auf dem Balkan, in England oder in Quebec in den letzten beiden Jahren die neue Generation mit massiven Protestbewegungen auf die Erhöhung der Studiengebühren reagiert hat (siehe Artikel auf unserer Webseite dazu). Mit Anfang 20 von einem Schuldenberg erdrückt zu werden, um später arbeitslos oder unterbezahlt zu sein - das führt uns die Zukunftslosigkeit im Kapitalismus vor Augen. Die USA sind wie Europa, ja die ganze Welt krank. Unter dem Kapitalismus wird es keine wirkliche und dauerhafte Gesundung geben, denn dieses Ausbeutungssystem ist unheilbar krank.
Wenn es trotz dieses Artikels immer noch Leser gibt, die ein wenig Hoffnung haben und glauben, dass ein „Wirtschaftswunder“ noch möglich ist, so sei ihnen gesagt, dass auch der Vatikan in den roten Zahlen steckt…
- Auf die Entwicklung der Krise in Deutschland werden wir in kürze in einem gesonderten Artikel eingehen.
Pawel, 6. 7. 2012.
(1) Allein in Madrid werden jeden Tag 40 Familien aus ihren Wohnungen geholt. Laut der Bürgerplattform PAH, die in allen spanischen Städten versucht, Zwangsräumungen zu verhindern, wurden seit Beginn der Krise rund 300.000 Zwangsvollstreckungen ausgesprochen. 125.000 Familien wurden bereits vor die Tür gesetzt. Bei den Gerichten sind weitere anderthalb Millionen Fälle anhängig. "Das sind fast zwei Millionen Familien, die am Rande der Gesellschaft leben, eine echte Zeitbombe", resümiert PAH-Sprecher José Maria Ruiz die Lage. In Spanien gibt es 3,1 Millionen leer stehende Wohnungen. (https://www.welt.de/wirtschaft/article13939609/Dutzende-spanische-Famili... [8])
Der sozialistische Gedanke, der in unserer Zeit stärker als je die Geister bewegt, ist nicht erst in der Gegenwart oder der jüngsten Vergangenheit lebendig geworden, sondern er kann auf eine Jahrtausende lange Geschichte zurückblicken. Das was man heute gemeinhin unter Sozialismus oder Kommunismus versteht, der proletarische Sozialismus, ist zwar jungen Datums, ist kaum ein Jahrhundert alt. Aber zu allen Zeiten hat es Denker gegeben, die, wenn auch gefühlmäßig und unklar, der auf Ausbeutung und Unterdrückung beruhenden Gesellschaft ein neues Kulturideal gegenüberstellten, die einen Zustand herbeisehnten, in dem nicht mehr Willkür und Macht, sondern Recht und Gerechtigkeit bestimmend wären für die Beziehungen von Mensch zu Mensch. Alle diese Denker können sich Sozialisten nennen, können darauf Anspruch erheben, als Sozialisten anerkannt zu werden; denn sie alle weisen in ihrer Zielsetzung auf das Ideal des Sozialismus hin. Es kann aber nicht wundernehmen, dass über dieses eine, allen sozialistischen Denkern gemeinsame Ziel hinaus die Gedanken dieser verschiedenen Sozialisten in mannigfacher Weise von einander abweichen. Klar und deutlich lassen sich in der sozialistischen Geistesweit namentlich zwei Strömungen unterscheiden, in die wir die Gesamtheit der sozialistischen Systeme gliedern wollen: 1. der utopische oder naturrechtliche Sozialismus, auch als „nationaler" Sozialismus bezeichnet, und 2. der entwicklungsgeschichtliche, moderne oder wissenschaftliche Sozialismus: der Marxismus.
Alle sozialistischen Theorien, alle sozialistischen Denker lassen sich in eine dieser beiden Gruppen einordnen. Unsere Aufgabe ist es nun, die gemeinsamen Züge und die Unterschiede dieser Spielarten des Sozialismus festzustellen. Gemeinsam ist dem utopistischen mit dem modernen Sozialismus: 1. der Gegensatz gegen die bestehende Gesellschaftsordnung 2. das Ziel einer von Ausbeutung und Unterdrückung freien Gesellschaft. Die Scheidung beginnt bereits, sobald es sich um: 1. eine nähere Kennzeichnung dieses Zieles handelt. Der utopische Sozialismus ergeht sich in weitschweifigen Darstellungen des "Zukunftsstaates". dessen „vernünftige" und „gerechte" Einrichtungen genau beschrieben werden, als ob sie schon verwirklicht wären. Es ist eines der Kennzeichen des Utopismus, dass seine literarischen Erzeugnisse häufig nichts anderes sind als Beschreibungen der sozialen Zustände von Ländern, die es in Wirklichkeit nicht gibt, die nur in der Phantasie des betreffenden Schriftstellers existieren. Daher auch der aus dem Griechischen stammende Name „Utopie", das heißt Nicht‑Ort, Nirgendwo. Wie dieser ersehnte Zukunftsstaat im Einzelnen aussieht, darüber gehen die Wünsche der Utopisten selbst welt auseinander, darüber denkt z.B. Thomas Morus ganz anders als Fourier. Das wesentliche ist an dieser Stelle nur, dass die Utopisten auf die genaue Ausmalung des künftigen Reiches das Hauptgewicht legen. Damit stehen sie im Gegensatz zu den modernen Sozialisten: diese haben es im Allgemeinen mit Recht abgelehnt zu sagen, wie sie sich den Zukunftsstaat" im Einzelnen „vorstellen", und sich darauf beschränkt. die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaft und der Klassengegensätze und die Schaffung der gleichen EntwicklungsmögIichkeiten für alle als die Grundlagen der künftigen Gesellschaft aufzuzeigen.
Dieser Unterschied in der Zielsetzung führt uns unmittelbar auf: 2. die Verschiedenheit in der Methode, d.h. der Begründung der sozialistischen Anschauung. Hier liegt rechteigentlich der springende Punkt, der wesentlichste Unterschied zwischen utopischen und wissenschaftlichen Sozialismus: a) die Utopisten begründen ihre Forderungen naturrechtlich, d.h. sie stellen der bestehenden „unnatürlichen" Gesellschaftsordnung eine andere, bessere gegenüber, die sie für die „natürliche" Ordnung ausgeben. Mit anderen Worten: die Utopisten erheben sittliche Forderungen, die sie nicht aus den gegebenen Verhältnissen, sondern aus ihrer höheren Einsicht herleiten. Die Utopisten sind Erfinder einer neuen, bisher unbekannten Gesellschaftsordnung. Der Utopismus sagt, was „gut" ist und daher kommen soll. b) die modernen wissenschaftlichen Sozialisten, voran Marx und Engels, leiten das sozialistische Ziel historisch aus dem bisherigen Verlauf der Geschichte und der Erkenntnis der gegenwärtigen Verhältnisse her. Es gibt für sie keine „natürliche", über Zeit und Raum erhabene Ordnung, sondern jeder Epoche ist die ihr eigene Ordnung „natürlich", und: „Alles was besteht, ist welt, dass es zugrunde geht". Der Marxismus stellt keine moralischen Forderungen auf, sondern er sagt, was nach wissenschaftlicher Einsicht kommen muss. Marx ist kein Erfinder bisher nicht existierender Dinge, sondern ein Entdecker von Zuständen, die zwar bisher unbekannt waren, aber doch schon im Keime in der bestehenden Gesellschaft schlummerten. Kurz: der wissenschaftliche moderne Sozialismus sagt, was notwendig ist und daher kommen muss und kommen wird. 3. Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen utopischen und wissenschaftlichen Sozialismus liegt in der Taktik, der Anschauung über den Weg zum Ziel. Dieser Gegensatz ergibt sich mit Notwendigkeit aus dem obigen:
a) Die Utopisten, soweit sie überhaupt die Frage nach dem Weg zum Ziel aufwerfen (was keineswegs durchgehend der Fall ist), wollen den Sozialismus sozusagen „machen", künstlich herbeiführen. Sie glauben, dass es nur des Planes eines klugen Kopfes bedürfe, um alle Menschen von der Vortrefflichkeit der sozialistischen Ordnung zu überzeugen und die Reichen und Großen dieser Welt zum freiwilligen Aufgeben ihrer Vorrechte, ja sogar zur Hilfeleistung zu bewegen. Als Mittel dazu dient ihnen neben der Überredung vor allem das soziale Experiment: die Utopisten haben zahlreiche kommunistische Gemeinwesen nach ihren Plänen errichtet, um durch die Macht des Beispiels Anhänger für ihre Ideen zu gewinnen und zugleich den Keim für die künftige Gesellschaft zu legen. Alle diese Versuchskolonien haben sich nicht lange behaupten können innerhalb einer ganz anders gearteten Welt. Klassenkampf und revolutionäre Betätigung als Mittel zum Ziel lehnen die Utopisten ab: sie stützen sich überhaupt nicht auf das Proletariat als Klasse, sie treten nicht als Interessenvertreter der Lohnarbeiterschaft auf, sondern als Vertreter aller Armen und Bedrängten. Auch das ist erklärlich; denn zu der Zeit, als der Utopismus in Blüte stand. gab es noch gar keine zum Bewusstsein ihrer selbst gelangte Lohnarbeiterklasse. Das moderne Proletariat steckte noch in den Kinderschuhen: als es erst zum Klassenbewusstsein erwacht war, da war notwendig auch die Zeit des unklaren Utopismus vorbei.
b) Der wissenschaftliche moderne Sozialismus will keine künstlichen Gebilde schaffen, sondern erwartet alles von der notwendigen Entwicklung, die durch menschliches Eingreifen zwar gefördert oder gehemmt werden kann. Nicht das „Genie" wird die künftige Gesellschaft durch Erfindung eines klugen Planes herbeiführen: denn es übersteigt die Kraft eines einzelnen, der Weltgeschichte ohne weiteres die Bahn zu weisen. Auch die Hoffnung auf Hilfe seitens der Reichen und Mächtigen wird als utopistisch abgelehnt; denn nie werden sich die herrschenden Klassen dazu bequemen, freiwillig das Feld zu räumen. Soweit es menschlichen Eingreifens bedarf, um die kommende Entwicklung zu fördern und Hindernisse aus dem Weg zu räumen, erwartet der Sozialismus dieses Eingreifen nur von unten her, von der unterdrückten Klasse: von dem Proletariat. Er appelliert an die Proletarier, die sich damals (zurzeit von Marx) allmählich von der Bevormundung durch dass Bürgertum lossagten und nun nicht mehr als unterste Stufe, als „Anhängsel" dieses Bürgertums, sondern als ständige Klasse zu fühlen begannen. Das Proletariat soll durch seinen Klassenkampf (von dem ja bekanntlich die Utopisten nichts wissen wollten) nicht nur in der kommenden Entwicklung von sich aus richtunggebend wirken, sondern auch seine Klasseninteressen während dieses Umbildungsprozesses wahrnehmen. Aus dem Gesagten folgt bereits, dass der moderne wissenschaftliche Sozialismus grundsätzlicher Gegner jedes utopistischen Experiments ist; er erkennt klar die Unmöglichkeit, in einer von Kapitalismus beherrschten Umwelt sozialistische Eilande zu schaffen, wie er überhaupt in der sozialen Entwicklung nur die Daseinsberechtigung des natürlich Gewordenen anerkennt.
Alles in allem kann man den Unterschied zwischen utopischem und wissenschaftlichem Sozialismus dahin zusammenfassen: Die Utopischen erwünschen und erhoffen das Gute und Schöne, Marx erforscht das Wirkliche und erkennt das Notwendige. Aus dem Gesagten ergeben sich nun folgende Begriffsbestimmungen: Unter utopischem Sozialismus verstehen wir diejenige Spielart des Kommunismus oder Sozialismus, die sich in erster Reihe mit der Ausmalung eines Zukunftsstaates beschäftigt, ihr Ziel naturrechtlich begründet und den Weg zu diesem Ziel entweder gar nicht oder in wirklichkeitsfremder Weise behandelt. Unter dem modernen wissenschaftlichen Sozialismus oder Kommunismus verstehen wir diejenige Art des Sozialismus, die unter Verzicht auf die nähere Ausmalung des Zukunftsstaates ihr Ziel historisch begründet und die Entwicklung selbst sowie den Klassenkampf des Proletariats als die Hebel zur sozialistischen Gesellschaft betrachtet.
Die bisherige Betrachtung hat uns zwei große Gruppen von sozialistischen Systemen erkennen lassen. Der utopische Sozialismus 1st heute praktisch überwunden, d.h. es gibt keine ernst zu nehmende sozialistische Bewegung. die noch heute auf den Lehren der Plato, Morus. Fourier usw. fußt. Wir wollen aber nicht verkennen, dass der Utopismus in der sozialistischen Geistesgeschichte Jahrhunderte hindurch eine große und eine - damals - notwendige Aufgabe erfüllt hat: Das Fundament einer über Ziel und Weg klaren sozialistischen Bewegung hat er nicht werden können, wohl aber haben die Utopisten durch die sittliche Kraft ihrer Gedanken die Geister erst einmal aufgerüttelt. Zudem knüpft der moderne Sozialismus geistig unmittelbar an sie an, und - auch darüber wollen wir uns klar sein - so mancher Gedanke, den Vertreter des utopischen Sozialismus zum ersten Male ausgesprochen haben. ist als unveräußerlicher Besitz in den Ideenansatz der modernen Arbeiterbewegung übergegangen.
All das macht es notwendig, dass wir nach der zusammenfassenden Kennzeichnung der Eigenart des Utopismus auch noch einige der bedeutsamsten utopistischen Systeme kurz besprechen.
„Die marxistische Methode gibt die Möglichkeit, die Entwicklungsbedingungen der neuen Kunst zu beurteilen, alle ihre Veränderungen zu verfolgen und durch kritische Verfolgung der Wege die fortschrittlichsten zu fördern – aber auch nicht mehr. Ihre Wege muß die Kunst auf eigenen Füßen zurücklegen.“ (Trotzki, Parteipolitik in der Kunst, 1923; in „Literatur und Revolution“, 1924).
1. Kunst im Kapitalismus
Der Aufstieg des Kapitalismus entfesselt eine beispiellose, bis dato unvorstellbare Produktivkraft, die neue Gefühle und Ideen ins Leben ruft, zusammen mit neuen künstlerischen Mitteln, um ihnen Ausdruck zu verleihen. Die Ausweitung dieser neuen Produktionsweise über den gesamten Globus und ihre Durchdringung aller Bereiche menschlicher Erfahrungen löst die Barrieren zwischen den Nationalkulturen und lokal fixierten Stilarten auf, indem sie erstmals eine einzige Weltkultur schafft.
Durch die ständige Revolutionierung der Produktion und den Anstieg in der Produktivität zerstört der Kapitalismus auch die alten, engstirnigen Gesellschaftsverhältnisse und wandelt alles, einschließlich der Kunst, in eine Ware um. War der Künstler bis dahin eine geachtete und geehrte Person, die direkt für den Kunden produzierte, so ist er nun mehr oder weniger auf eine bezahlte Lohnarbeitskraft reduziert, deren Produkte auf einen anonymen Markt geworfen und den Gesetzen der Konkurrenz unterworfen werden.
Einmal abgesehen davon, dass die Kunst vom einzelnen Kapitalisten gern als Investition oder zur Ausschmückung seines Privatlebens verwendet wird, steht der Kapitalismus im Grunde der Kunst als Ablenkung von seiner einzigen Triebkraft, der Kapitalakkumulation um ihrer selbst willen, feindlich gegenüber. Mehr noch, als ein ausbeuterisches System, verhält sich der Kapitalismus grundsätzlich unversöhnlich gegenüber den Interessen der Humanität und daher zu den humanistischen Idealen der besten Art. Je bewusster sich die Kunst darüber ist, desto mehr führt sie zum Protest gegen die Unmenschlichkeit der kapitalistischen Gesellschaft. Auf diese Weise sind die größten Künstler in der Lage, über die Grenzen ihrer Epoche und Klassenherkunft hinauszugehen, um wortgewaltige Anklagen gegen die Verbrechen und menschlichen Tragödien des Kapitalismus zu erheben (Goethe, Balzac, Goya).
Diese Antagonismen zwischen Kapitalismus und Humanität kommen in den frühesten Stufen der neuen Produktionsweise noch nicht völlig zum Vorschein, da die Bourgeoisie noch in einem revolutionären Kampf gegen den feudalen Absolutismus steckt. Die schöne Kunst ist imstande, die fortschrittliche Moral und die geistigen Werte dieser neuen ausbeutenden Klasse zu reflektieren, deren Energie und Selbstvertrauen – sowie generöse Patronage – die künstlerischen Errungenschaften der Renaissance ermöglichten, lange bevor ihre eigene Herrschaft etabliert ist.
2. Kunst in der Ära der bürgerlichen Revolutionen
In der Ära der bürgerlich-demokratischen Revolutionen (ca. 1776-1848) ist die Kunst noch in der Lage, die revolutionären Ziele der Bourgeoisie auszudrücken, doch die schmutzige Realität des Kapitalismus wird bereits deutlich. Die Romantik (Blake, Goethe, Goya, Puschkin, Shelley, Turner) spiegelt die widersprüchliche Natur dieser Periode wider, indem sie feudale und aristokratische Werte in der Kunst ablehnt, aber auch leidenschaftlich gegen die brutalen Auswirkungen der kapitalistischen Industrialisierung auf die Kunst und das Individuum protestiert.
Entgegen der „Rationalität“ der neuen ausbeutenden Klasse streitet die Romantik für die Macht der subjektiven Erfahrung, Vorstellungskraft und die Erhabenheit der Natur, indem sie ihre Inspirationen aus dem Mittelalter, der Mythologie und der volkstümlichen Kunst bezieht. Politisch nimmt sie häufig eine reaktionäre, rückwärtsgewandte Form an, führt aber auch zu eindeutig revolutionären Tendenzen, die eine internationalistische, kommunistische Vision zum Ausdruck bringen (Heine, Blake, Byron, Shelley).( 1) Die profundesten unter den dichterischen Einblicken dieser Tendenz nehmen nicht nur die späteren künstlerischen Ideen des Expressionismus und Surrealismus, sondern auch die theoretischen Entwicklungen des Marxismus und der Psychoanalyse vorweg.
Sobald sie an die Macht gekommen und das Proletariat auf der historischen Bühne erschienen ist, kehrt die Bourgeoisie ihren fortschrittlichen Werten den Rücken zu und begräbt die ganze Idee der Revolution, stellt diese doch eine tödliche Gefahr für ihre Klassenherrschaft dar. Von da an treten die Versuche der Kunst, die Wirklichkeit zu verstehen und die Interessen der Humanität auszudrücken, unvermeidlich mit der kapitalistischen Ideologie in Konflikt.
3. Die Geburt der modernen bürgerlichen Kunst
Das bestimmende Kennzeichen der modernen bürgerlichen Kunst besteht darin, dass sie just zu dem Zeitpunkt erscheint, als die Bedingungen für die Weiterentwicklung des Kapitalismus ihren Zenit erreicht haben.
Der entscheidende Triumph des Industriekapitalismus Mitte des 19. Jahrhunderts in den am meisten fortgeschrittenen Ländern Europas und Amerikas spiegelt sich im Wachstum rationalistischer, positivistischer und materialistischer Ideologien in den Wissenschaften und in der Philosophie sowie in den realistischen oder naturalistischen Annäherungen der Künste wider. Marx und Engels betrachten den Realismus in der Literatur (Flaubert, Balzac, Elliot) als die höchste Errungenschaft in der Weltkunst. Der Realismus in den visuellen Künsten (Courbet, Millet, Degas) ist die Reaktion sowohl auf die klassische Kunst als auch auf den Emotionalismus und Subjektivismus der Romantik und bekräftigt an Stelle dessen die Ziele der Wahrhaftigkeit und Präzision sowie der Schilderungen des Alltags, einschließlich der bis dahin ignorierten rauen Realität des ArbeiterInnenlebens. Für die Bourgeoisie ist jede Kunst, die die hässliche Wirklichkeit des Lebens im Kapitalismus akkurat schildert, per se revolutionär und somit abzulehnen.
Diese Periode erblickt auch den Aufschwung der Arbeiterbewegung, und es ist daher nicht überraschend, dass der Realismus einer revolutionären Tendenz zum Leben verhilft, die sich ausdrücklich mit der Arbeiterklasse und dem Kampf für den Sozialismus identifiziert. Courbet, Anführer der realistischen Bewegung in Frankreich, bekräftigte: „Ich bin nicht nur ein Sozialist, sondern auch ein Demokrat und Republikaner, mit einem Wort: ein Anhänger der Revolution und vor allem ein Realist, das heißt, ein aufrichtiger Freund der wirklichen Wahrheit.“ (2)
Der Impressionismus (Picasso, Manet, Degas, Cézanne, Monet) ist die künstlerische Antwort auf das Wachstum der industriellen und urbanen Gesellschaft, auf neue technologische Entwicklungen und wissenschaftliche Entdeckungen (Photographie und Optiken), auf die Globalisierung des Handels (ersichtlich beispielsweise im Einfluss japanischer Drucke) und auf das Wachstum der Mittelschichten als eine Klientel für die neuen Künste. Er stützt sich auf die Hingabe zur Wahrheit und Akkuratesse, aber konzentriert sich auf die subjektive Wahrnehmung von Bewegung und Licht: „Während der alte akademische Stil sagte: ‚Hier sind die Regeln (oder Bilder), denen zufolge die Natur beschrieben werden muss‘, und der Naturalismus sagte: ‚Hier ist die Natur‘, sagte der Impressionismus: ‚So sehe ich die Natur‘.“ (3). Impressionistische Ideen und Einflüsse befinden sich auch in der Musik (Debussy, Ravel) und in der Literatur (Lawrence, Conrad).
Als echte moderne bürgerliche Kunstbewegung ist der Impressionismus eine widersprüchliche Bewegung. Während die klassische Kunst der Renaissance einen grundlegenden Sinn für die Einheit ausdrückt, der aus der Vision und dem Selbstvertrauen der revolutionären Bourgeoisie herrührt, reflektiert der Impressionismus den Triumph des Kapitalismus und die Atomisierung des Einzelnen in der Industriegesellschaft. Indem er sich auf subjektive und Sinneswahrnehmungen stützt, repräsentiert er die Realität entsprechend als ein Flickwerk:
„Und so war der Impressionismus in einem gewissen Sinne ein Symptom des Niedergangs, der Fragmentierung und Entmenschlichung der Welt. Doch gleichzeitig war er in der langen ‚Schonzeit‘ des bürgerlichen Kapitalismus (…) ein glorreicher Gipfel der bürgerlichen Kunst, ein goldener Herbst, eine späte Ernte, eine enorme Bereicherung der dem Künstler zur Verfügung stehenden Ausdrucksmittel.“ (4)
4. Die Kunst am Ende des kapitalistischen Aufstiegs
Der Zeitraum zwischen ca. 1890 und 1914 – die so genannte Belle Epoque bzw. das Goldene Zeitalter – erlebt den Kapitalismus am optimistischsten und technologisch am weitesten fortgeschritten, besonders mit einem mächtigen Wirtschaftswachstum, das fruchtbare Bedingungen für künstlerische und wissenschaftliche Entwicklungen schafft (Freuds Theorie des Unbewussten, die Quanten- und Relativitätstheorie). Doch unter der Oberfläche der Gesellschaft machen sich nagende Zweifel und Ungewissheiten breit, kommt es zum Anstieg des Militarismus und der imperialistischen Spannungen, zu den wachsenden staatlicher Eingriffen in die Gesellschaft und zu massiven Arbeiterkämpfen – alles Anzeichen einer wachsenden Krise im Herzen des Kapitalismus.
Die künstlerischen Bewegungen, die in dieser Periode entstehen (Kubismus, Expressionismus, Symbolismus) spiegeln diese Widersprüche notgedrungen wider, indem sie sowohl ein letztes Aufblühen fortschrittlicher bürgerlicher Kunst als auch die ersten Symptome ihres Endes zum Ausdruck bringen. Der Kubismus (Picasso, Braque), der den Einfluss der jüngsten wissenschaftlichen und philosophischen Theorien zeigt, wendet sich ab von Schilderung von Objekten aus einer Perspektive, analysiert die Objekte, zerlegt sie und setzt sie aus mannigfaltigen Perspektiven neu zusammen. Der Expressionismus lehnt den Realismus gänzlich ab, indem er subjektive Bedeutungen oder emotionale Erfahrungen statt der physischen Realität schildert. Er übt auch auf die Literatur (Kafka) und Musik (Schönberg, Webern, Berg) großen Einfluss aus, wo er die traditionelle Tonalität zugunsten einer A-Tonalität und Dissonanz aufgibt. Der Symbolismus (Baudelaire, Verlaine) ist eine poetische Reaktion gegen Realismus und Naturalismus zugunsten des Mystizismus und der Vorstellungskraft, die später als „träumerischer Rückzug in absterbende Gebiete“ (5) beschrieben wurde.
Innerhalb der modernen bürgerlichen Kunst gibt es eine radikale Tendenz, die sich selbst als Avantgarde einer neuen fortschrittlichen Gesellschaft mit neuen künstlerischen Werten betrachtet; diese Tendenz argumentiert, dass Kunst eine große Rolle bei der Modernisierung der kapitalistischen Gesellschaft spielt. Diese „modernistische“ Avantgarde erscheint ausgerechnet in dem Moment, als die Möglichkeiten einer Reformierung des Kapitalismus nahezu ausgeschöpft sind. Der Futurismus (Marinetti, Majakowski, Malewitsch), dessen Einfluss sich in der Malerei, Poesie, Architektur und Musik im frühen 20. Jahrhundert niederschlägt, besonders in Italien und Russland, glorifiziert Themen und Symbole des kapitalistischen Fortschritts wie die Jugend, die Geschwindigkeit, den Dynamismus und die Macht. Doch andere modernistische Elemente, besonders in Deutschland, verhalten sich kritischer gegenüber der kapitalistischen „Modernität“ und artikulieren die Entfremdung des Lebens in der bürgerlichen Gesellschaft (Munchs „Der Schrei“).
5. Der Tod der modernen bürgerlichen Kunst
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs spaltet diese modernistische Avantgarde in einerseits die Glorifizierer des kapitalistischen Fortschritts, wie Marinetti und die italienischen Futuristen, die begeistert Partei ergreifen für die Barbarei (und später für den Faschismus), und andererseits in radikalere Tendenzen wie die russischen Futuristen und die deutschen Expressionisten, die gegen den Krieg sind und auf eine mehr oder weniger konfuse, bruchstückhafte Weise beginnen, sich auf die proletarische Bewegung zu beziehen.
Die erste spezifisch künstlerische Reaktion auf den Krieg ist Dada. Als internationale Antikriegs- und antikapitalistische Bewegung erblickt Dada im Gemetzel auf dem Schlachtfeld einen Beweis für den Bankrott aller bürgerlichen Kultur. Sein „Programm“ steht dem Anarchismus nahe: die Zertrümmerung der Kultur und die Abschaffung der Kunst; und seine Praxis begrüßt das Chaos und die Irrationalität (Gedichte, die sich aus wahllos zusammengewürfelten Worten aus Zeitungsausschnitten, etc. zusammensetzen). Die Berliner Dadaisten (Heartfield, Grosz, Dix, Ernst), die den proletarischen Kämpfen gegen den Krieg näher stehen, nehmen eher ausdrücklich kommunistische Positionen ein, ja bilden ihre eigene politische Partei und unterstützen aktiv die deutsche Revolution. (6)
Die russische Revolution im Oktober 1917 war der Höhepunkt der revolutionären Welle nach dem Krieg und der Versuche der modernistischen Avantgarde, eine befreiende Kunst zu kreieren. Für eine kurze Zeit im Anschluss an die Machtergreifung durch die Sowjets gibt es eine riesige Flut von künstlerischen Experimenten und Aktivitäten, von denen sich viele ausdrücklich mit der Revolution identifizieren. Unter dem Schutz des jungen Sowjetstaates und mit kritischer Unterstützung durch die bolschewistische Partei geben Bereiche der russischen Avantgarde (Futuristen, Produktivisten, Konstruktivisten), angeregt von Majakowskis Erklärung „Straßen sind unsere Pinsel, die Plätze unsere Paletten" die „reine“ Kunst zugunsten der Industrieproduktion auf, begrüßen Architektur, Industriedesign, Kino, Werbung, Möbel, Verpackung und Bekleidung, mit dem erklärten Ziel, Kunst zu benutzen, um den Alltag umzuwandeln. Es gibt hitzige Debatten über Kultur und die Zukunft der Kunst. Die einflussreiche Proletkult-Bewegung neigt dazu, alle frühere Kultur abzulehnen, und will eine neue revolutionäre, proletarische Ästhetik schaffen, wohingegen andere wie Trotzki das gesamte Konzept der proletarischen Kultur ablehnen, jedoch das Aufkommen einer neuen revolutionären Kunst unterstützen, die sie unmittelbar erwarten. (7)
Im Kontext der revolutionären Welle, die den Kapitalismus in den Jahren 1917 bis 1923 bis in seine Grundfeste erschütterte, erscheint dies nicht unrealistisch zu sein. Das Urteil, das Dada über die gesamte bürgerliche Kultur und Kunst fällt, scheint nun vom Weltproletariat in Deutschland, Großbritannien, Amerika, etc. ausgeführt zu werden….
Doch mit der Isolation der russischen Bastion und des Scheiterns des revolutionären Ansturms des Proletariats in Europa wird der anfängliche Rückhalt des modernistischen Experimentierens durch die Bolschewiki durch die Unterdrückung des Dissens‘ und durch eine wachsende staatliche Kontrolle ersetzt, als die stalinistische Konterrevolution ihren Griff verstärkt. Auf internationaler Ebene endet der Modernismus letztendlich damit, dass er von den reaktionären staatskapitalistischen Regimes, gleich ob stalinistisch, faschistisch (besonders in Italien) oder sozialdemokratisch, zum offiziellen Architekturstil auserwählt wird.
6. Kunst und die kapitalistische Konterrevolution
In der sich ausbreitenden bürgerlichen Konterrevolution sieht sich die russische Kunstavantgarde im Wesentlichen mit derselben Wahl konfrontiert wie die überlebende kommunistische Minderheit: entweder Unterordnung unter dem stalinistischen Totalitarismus mit seiner Durchsetzung des „sozialistischen Realismus“, Schweigen oder Exil. Mit dem Aufstieg des Faschismus ist auch die europäische künstlerische Avantgarde immer mehr dazu gezwungen, auszuwandern und/oder einen ausdrücklich oppositionellen politischen Standpunkt zu vertreten.
Der Surrealismus (Breton, Aragon, Ernst, Péret, Dali, Miró, Duchamp) entstand aus Dada und wurde erst zu einer eigenen Bewegung, als die praktische Möglichkeit für eine Revolution bereits am Zurückweichen war. Er ist eine ausdrücklich revolutionäre Kunstrichtung, die sich eng mit der politischen Opposition gegen den Stalinismus verband. (8) Der Surrealismus bezieht seine Ideen aus der Freudschen Psychoanalyse wie aus dem Marxismus und betont den Nutzen der freien Assoziation, der Traumanalyse, der Gegenüberstellung und des Automatismus, um das Unbewusste zu befreien. Seine Versuche, eine permanente revolutionäre künstlerische Praxis innerhalb des Kapitalismus aufrechtzuerhalten, und dies in einer Zeit tiefer Niederlagen, macht ihn anfällig gegenüber Zerfall und schließlicher Vereinnahmung, doch üben surrealistische Ideen einen großen Einfluss auf die visuellen Künste, die Literatur, den Film und die Musik wie auch auf die philosophischen, politischen und gesellschaftlichen Theorien aus.
Mit dem Triumph der bürgerlichen Konterrevolution in den 1930er Jahren – die „Mitternacht des Jahrhunderts“ (Victor Serge) – erleben wir ein volles Aufblühen all der klassischen Symptome der Dekadenz in der kapitalistischen Kultur:
„Die Ideologie zerfällt, die alten moralischen Werte brechen auseinander, die künstlerische Schöpferkraft stagniert oder sie nimmt stagnierende Formen an, Obskurantismus und philosophischer Pessimismus blühen auf (…) Was den Bereich der Kunst angeht, so hat sich die Dekadenz hier schon lange gewalttätig ausgedrückt (…) Wie in anderen dekadenten Perioden wiederholt die Kunst, wenn sie nicht stagniert, ständig alte Formen, und sie erhebt den Anspruch, eine Haltung gegen das System einzunehmen, oder stellt sehr oft einen Ausdruck des Erschreckens dar.“ (9)
Unter diesen Umständen sieht sich Kunst, die „den Anspruch erhebt, Stellung gegen die herrschende Ordnung zu beziehen“, in wachsendem Maße isoliert oder wird von der einen oder anderen reaktionären politischen Fraktion zu propagandistischen Zwecken vereinnahmt (Picassos „Guernica“). Auch die Kunst, die den Schrei des Entsetzens über die kapitalistische Barbarei zum Ausdruck bringt, ist immer ohnmächtiger durch das schiere Ausmaß der Gräuel dieser Barbarei geworden: der Zweite Weltkrieg (über 60 Millionen Tote, zumeist Zivilisten, im Vergleich zu den 20 Millionen im Ersten Weltkrieg), die Todeslager der Nazis, Hiroshima und Nagasaki, Hamburg, Dresden, die Massenverbrechen des Stalinismus… Um Adorno frei zu übersetzen, ist es nach Auschwitz unmöglich, Poesie zu verfassen, ohne einen weiteren Beitrag zu einer bereits barbarischen Kultur zu leisten.
Doch die kapitalistische Dekadenz bedeutet nicht, dass die Produktivkräfte zu einem Halt gekommen sind. Um zu überleben, muss das System weiterhin versuchen, die Produktion zu revolutionieren und die Produktivität zu steigern. Stattdessen sehen wir, was Marx die „Entwicklung als Zerfall“ nannte. Auch in der Kunstsphäre sehen wir weiterhin eine Entwicklung von Kunstrichtungen, zum Teil als Antwort auf neue technologische Entwicklungen und den gesellschaftlichen Wandel. Doch dies zeichnet sich immer mehr durch ein rasendes Recyceln früherer Stilrichtungen, durch abrupte Stimmungswechsel zwischen Hoffnung und Verzweiflung, durch eine Fragmentierung, Zersplitterung und Auflösung jeder Richtung aus, noch bevor sie ihre volle Reife erreicht hat. Die menschliche Kreativität hört niemals auf zu existieren, doch sieht sie sich zunehmend erdrosselt, kanalisiert, blockiert und korrumpiert. Wir erleben noch immer künstlerische Weiterentwicklungen (Jazz) und die Einführung neuer Techniken und Stilarten, doch spiegeln diese Entwicklungen in wachsendem Maße den Zerfall einer Gesellschaft wider, die den Gang zur Exekution vermieden hat und nun nur noch überlebt, indem sie sich selbst kannibalisiert.
Dies wird durch den abstrakten Expressionismus veranschaulicht, der einflussreichsten Kunstrichtung (zumindest in der Malerei und Bildhauerei), die im „Nachkriegsboom“ auftritt. Der abstrakte Expressionismus ist zum Teil eine Reaktion auf den ausdrücklich politischen Inhalt des gesellschaftlichen Realismus der 1930er Jahre (Rivera). Beeinflusst durch den Surrealismus und der europäischen Avantgarde betont er den Ausdruck unbewusster Ideen und Emotionen durch spontane, improvisierte oder automatische Techniken, um Bilder von mannigfaltigen Abstraktionsausmaßen zu kreieren (Pollock, Rothko, Newman, Still). Beeinflusst durch das Trauma des II. Weltkriegs und der repressiven Nachkriegsatmosphäre in den USA, vermeidet er offen politische Inhalte, indem er sich der primitiven Kunst, der Mythologie und dem Mystizismus als Inspirationsquelle zuwendet. Dies und sein Streben nach reiner Abstraktion erleichtert die Promotion des abstrakten Expressionismus durch den US-Staat im Kalten Krieg als eine kulturelle Waffe gegen den „sozialistischen Realismus“ seines imperialistischen Rivalen aus Russland.
Kunst und die „Kulturindustrie“
Auch wenn die Kunst ab Mitte des 20. Jahrhunderts die klassischen Symptome der Dekadenz in allen Klassengesellschaften abbildet, so gibt es dennoch auch besondere Entwicklungen, insbesondere während des „Wirtschaftswunders“ nach dem II. Weltkrieg, die nicht allein die Art und Weise umwandeln, in der Kunst in der kapitalistischen Gesellschaft produziert und verteilt wird, sondern auch, wie dies von den Massen der Arbeiterklasse „erlebt“ wird. Der sich aus diesen Entwicklungen ergebende Effekt: die Bedingungen für das Aufkommen revolutionärer Kunst werden untergraben und das Verschwinden der überlebenden künstlerischen Avantgarde beschleunigt. Viele dieser Entwicklungen sind dieselben Symptome der Dekadenz oder Versuche des Kapitalismus, die Widersprüche seiner historischen Krise zu überwinden. Sie umschließen:
Infolgedessen ist der Kapitalismus zum ersten Mal in der Geschichte in der Lage, künstlerische Waren (Musik, Filme, etc.) billig für den Konsum durch die Masse der Arbeiterklasse zu produzieren, wobei er seine ihm innewohnende Feindseligkeit gegenüber der Kunst als eine unnötige Ablenkung von seinem Streben zur Akkumulation überwindet. Dies erleichtert größtenteils die Verwendung der künstlerischer Waren für ideologische Zwecke, nicht nur um die Reproduktion der Arbeit durch die Schaffung von Mitteln für das „Freizeitvergnügen“ der ArbeiterInnen sicherzustellen, sondern auch um jeglichen künstlerischen Ausdruck des Dissenses zu vereinnahmen.
Als das Proletariat in den Kämpfen vom Mai 68 auf die Bühne der Geschichte zurückkehrt, erleben wir durchaus das Auftreten radikaler Kunstrichtungen (Arte Povera), jedoch nicht in einem Umfang, den man erwarten konnte. Stattdessen werden die radikalsten Nachfahren der europäischen Avantgarde, die Situationisten, festgemacht an ihrer Kritik der „Gesellschaft des Spektakels“, d.h. der bürokratischen, kapitalistischen Umwandlung der Kultur in Waren und der Verwendung der Massenmedien durch den Kapitalismus, um subversive Ideen zu vereinnahmen , und an ihren Vorschlägen zur praktischen Aktion für „eine revolutionäre Neuordnung des Lebens, der Politik und der Kunst“. Die Situationisten übertreiben die Macht dieses „Spektakels“ genau zu dem Zeitpunkt, als die historische Krise des Kapitalismus zurückkehrt, doch sind sie näher an der Realität, wenn sie die Unfähigkeit selbst der radikalsten künstlerischen Aktivitäten deutlich machen, ihre Vereinnahmung zu verhindern, es sei denn, sie sind ausschließlich politisch, das heißt in dieser Periode: revolutionär.
7. Kunst und Zerfall
Mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine finale Phase, jene des Zerfalls, besteht die ganz reelle Möglichkeit der Zerstörung sämtlicher menschlicher Kultur, zusammen mit der Kunst, die in Trotzkis Worten unvermeidlich dahin rotten werde „wie griechische Kunst unter den Ruinen einer auf der Sklaverei gegründeten Kultur dahin rottete“. (10) Ab den 1970er Jahren ist die moderne Kunst Teil der offiziellen staatskapitalistischen Kultur in Amerika und Europa, unterstützt und subventioniert von Korporationen und Regierungsagenturen sowie sicher aufgebahrt in den Museen. Trotz fortwährender Wellen von ArbeiterInnenkämpfen bis hin zum Kollaps des russischen Blocks 1989-91 erleben wir einen weiteren Verfall der Kunst, beschleunigt durch den falschen Wirtschaftsboom in den 1980er Jahren und genährt von einer Explosion der Verschuldung, die zu einem Goldrausch von spekulativen Investitionen in die Kunst als ungemünztes Gold führt. Die Exzesse auf dem Markt beenden, was die Konterrevolution, der Nachkriegsboom und der Aufstieg der „Kulturindustrie“ begonnen hatten.
Das Erscheinen des „Post-Modernismus“ besonders ab den 1980er Jahren ist in gewissem Sinn lediglich die letzte unvermeidliche Anerkennung dieses sich lange hinziehenden Todes des Modernismus. Der „Post-Modernismus“ hat seine Ursprünge in den ausgedörrten Regionen der linksbürgerlichen Intelligentsia (Derrida et all) als ein „demokratisierendes Projekt“. Er theoretisiert die Aufgabe nicht nur jeglicher weiteren Avantgarderolle der Kunst, sondern auch jeglichen Konzepts für eine nach vorn gerichtete Bewegung in der Geschichte. Er passt somit perfekt zu all den bürgerlichen ideologischen Kampagnen in den 1990er Jahren über das „Ende des Kommunismus“ und das „Ende der Geschichte“ und fügt dem Ganzen lediglich die allgemeine Demoralisierung und Verzweiflung hinzu.
Noch vor dem Eintritt des dekadenten Kapitalismus in seine letzte Phase, jene des Zerfalls, können wir daher auf den fortgeschrittenen Zerfall der Kunst hinweisen, d.h. „die Leere und Käuflichkeit sämtlicher künstlerischer Produktion: Literatur, Musik, Malerei, Architektur sind außerstande, anderes auszudrücken als Angst, Verzweiflung, den Zusammenbruch allen kohärenten Denkens, die Leere“ (11). Tatsächlich geht diese Schilderung nicht weit genug. Wir können dem noch hinzufügen, dass ein Trend in der Kunst darin besteht, sich selbst zu zerstören, um – in den Worten des deutschen Künstlers Anselm Kiefer – zur „Anti-Kunst“ zu werden. Im zerfallenden Kapitalismus ist selbst Anti-Kunst… Kunst: „Die Kunst hat etwas, was ihre eigenen Zelle zerstört. Damien Hirst ist ein großartiger Anti-Künstler. Um zu Sotheby’s zu gehen und sein eigenes Werk direkt zu verkaufen heißt, Kunst zu zerstören. Doch indem er dies auf solch übertriebene Weise tut, wird es zur Kunst (…) die Tatsache, dass dies zwei Tage vor dem Crash (von 2008) geschah, macht die Sache noch besser“ (12).
Neben den zynischen Manipulationen von „Künstler/Unternehmer“ wie Hirst, dessen Schriften mittlerweile als ein weiteres Symptom der Spekulationsblase des Kapitalismus vor 2007 erscheinen, gibt es eine grundsätzlichere Wahrheit. Der expressionistische Dichter Rainer Maria Rilke (1875-1926) vergleicht den Künstler mit einem „ein Tänzer, dessen Bewegung sich bricht an dem Zwang seiner Zelle. Was in seinen Schritten und dem beschrankten Schwung seiner Arme nicht Raum hat, kommt in der Ermattung von seinen Lippen, oder er muss die noch ungelebten Linien seines Leibes mit wunden Fingern in die Wände ritzen.“ (13). Wenn der Künstler in der Tat ein Gefangener in der Zelle ist, dann sind im zerfallenden Kapitalismus die besten Künstler mehr und mehr dazu gezwungen, wieder auf das Äquivalent eines „schmutzigen Protests“ unter den unerträglichen Bedingungen des kapitalistischen Lebens und auf die Unmöglichkeit eines authentischen künstlerischen Ausdrucks zurückzufallen. Jedoch ist selbst das Beschmieren der Zellenwände mit dem eigenen Kot, so scheint’s, nicht mehr genug, um die Verdinglichung und Verwertung zu verhindern. 1961 produzierte der italienische Künstler ein Werk, das aus 90 Dosen eigener Scheiße bestand. 2007 verkaufte Sotheby’s eine davon für 124.000 Euros. MH 6.12.2011
(1) Siehe Heinrich Heine: Die Revolution und das Fest der Nachtigallen, IKSonline. (https://en [15]. Internationalism.org/icconline/2007/march/heine) (1)
(2) Courbet, ein Unterstützer Proudhons, wurde wegen seiner aktiven Rolle in der Pariser Kommune eingekerkert.
(3) Culture and Revolution in the Thought of Leon Trotsky, Revolutionary History, Bd. 7, Nr. 2, Porcupine Press. London 1999, S. 102, eigene Übersetzung (2)
(4) Ernst Fischer, Von der Notwendigkeit der Kunst (eigene Übersetzung). Der Impressionist Cézanne war sich dieses Rückschritts sehr wohl bewusst: Im Werk der alten Meister sei es, sagt er, als „könne man die ganze Melodie im Kopf hören, einerlei, welches Detail man vergönnt ist zu studieren. Man kann alles aus dem Ganzen reißen (…) Sie malten kein Flickwerk, wie wir es taten…“ (E. Fischer).
(5) Edmund Wilson, Axels’Castle (3), 1931. Die Symbolisten waren damals auch als die „Dekadenten“ bekannt.
(6) Anfang 1919 gebildet, rief der „Zentralrat von Dada (4) für die Weltrevolution“ zu Folgendem auf: „die internationale revolutionäre Gewerkschaft aller kreativen und intellektuellen Männer und Frauen auf der Grundlage des radikalen Kommunismus (…) Die sofortige Enteignung des Eigentums (…) und die kommunale Ernährung Aller (…) Einführung des simultanen Gedichts als kommunistisches Staatsgebet“ (Wikipedia).
(7) Trotzki, Parteipolitik in der Kunst. 1923. Mehr über die Proletkult-Bewegung und die Debatten innerhalb der bolschewistischen Partei über die Kultur siehe die Reihe „Der Kommunismus ist nicht nur eine schöne Idee“ in der Internationalen Revue.
(8) Obgleich einige Surrealisten wie Aragon zu Apologeten des Stalinismus wurden, während Dali den Faschismus unterstützte. Führende Surrealisten nahmen Kontakt zu Trotzki auf, und die Bewegung verband sich eng mit der Linksopposition, doch der führende surrealistische Dichter Benjamin Péret brach 1948 mit der trotzkistischen IV. Internationalen wegen deren reaktionären politischen Positionen und arbeitete eng mit der Munis-Gruppe zusammen.
(9) Die Dekadenz des Kapitalismus, IKS-Broschüre.
(10) Trotzki, Kunst und Politik in unserer Zeit, 1938, in Kunst und Revolution, in: Lev Trockij: Literaturtheorie und Literaturkritik, München 1973, S.149. Der Text über Rivera befindet sich in Fußnote 10 auf Seite 182f.
(11) „Thesen über den Zerfall, der letzten Phase in der Dekadenz des Kapitalismus“, Internationale Revue, Nr. 107, 2001 (engl., franz. Und span. Ausgabe). Man könnte dem die ganze Krise des Bildungssystems und ihre Auswirkungen auf traditionelle Kunstfertigkeiten, -kenntnisse, –techniken, etc. hinzufügen.
(12) The Guardian, 9.12.2011.
(13) Zitiert aus: Norman O. Brown, Life against death. The psychoanalytical meaning of history, S. 66, 1959, Rilke “Über Kunst”, https://www.rilke.de/phpBB3/viewtopic.php?f=14&t=4007&sid=36bfec8dfa5043... [16]
Die Bergarbeiter in Asturien verkörpern eine stolze Tradition innerhalb der Arbeiterbewegung, so beim Aufstand von 1934, und es ist nicht verwunderlich, dass sie am 31. Mai entschlossen in den Streik traten. Ihre Courage ist unübersehbar in zahlreichen Straßenblockaden, bei denen sie auch mit improvisierten Waffen die anrückenden Polizeieinheiten fernhielten wie auf der Nationalstraße N-360, oder als sie auf dem Weg nach Madrid mit Polizeigewalt, Verhaftungen und Gummigeschossen konfrontiert waren. Dies war Anstoß für die Beiträge auf den Internetforen libcom (https://libcom.org/news/coal-mines-ignite-asturias-10062012?page=1 [21]https://libcom.org/article/coal-mines-ignite-asturias-updates?page=1 [22]) und der IKT (Internationale Kommunistische Tendenz) (https://www.leftcom.org/en/articles/2012-06-19/the-struggle-of-the-asturian-miners [23]).
Alles erinnert stark an den Bergarbeiterstreik von 1984/85 in Großbritannien, als dieser kämpferische Sektor, der den Respekt der ganzen Arbeiterklasse genoss und in vielen Belangen deren Hoffnungen ausdrückte, in einen beherzten und bitteren Streik trat und dabei zahlreiche Konfrontationen mit der Polizei hatte, als er mit jeder Arten der Repression konfrontiert war. Wie heute in Spanien waren die Bergarbeiter mit geplanten Minenschließungen in einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit konfrontiert. Der Kampf endete in einer Niederlage, die zwei Jahrzehnte lang schwer auf den Schultern der britischen Arbeiterklasse lastete.
In der Diskussion auf dem Internetforum libcom warf Fingers Malone die Schwierigkeiten der spanischen Bergarbeiter angesichts des Wesens des Angriffs auf, in einem Industriesektor, der sowieso abgebaut wird: „nur der Streik an sich führt zu nichts“. Er sieht dies als Grund für die Errichtung der Straßenblockaden und auch die verzweifelten unterirdischen Minenbesetzungen, die unter ungesündesten und unangenehmsten Bedingungen stattfinden. Hilft dies für einen wirkungsvollen Kampf? In unseren Augen liegt das Problem nicht darin, dass zu streiken allein nicht genügt, sondern dass allein zu kämpfen, isoliert von anderen Sektoren der Arbeiterklasse, die Bergarbeiter angesichts der Staatsmacht in eine Position der Schwäche versetzt und der Kampf meist in einer Niederlage endet. Der Generalstreik vom 18. Juni, der von den Gewerkschaften CCOO und UGT und von den linken Parteien PCE (Stalinisten) und PSOE (Sozialdemokraten) organisiert wurde, durchbrach ihre Isolation keineswegs, sondern begrenzte den Kampf auf die Gebiete und Branchen, die von den Subventionskürzungen betroffen sind. Ihre Forderung nach einem „Kohleplan“ für Spanien, der an den Slogan “Kohle statt Almosen” der Bergarbeitergewerkschaft NUM in Großbritannien in den 80er Jahren erinnert, verschärfte die Isolation des Streiks noch mehr.
In diesem Sinne verkörpert der Slogan „Wir sind nicht empört, sondern angepisst“ die Grenzen des Kampfes mit all seinen Illusionen in ihre Stärke als Bergarbeiter, die fähig sind, sich gegen die Polizei durchzusetzen. In gewisser Weise betrachten sich die Bergarbeiter als Ausdruck eines radikaleren Standpunktes als die Indignados, deren Kampf eine der Schlüsselauseinandersetzungen des letzten Jahres war, dies nicht nur in Spanien sondern weltweit. Trotz all ihrer starken Klassenidentität ist gerade die Isolierung der Bergarbeiter in Asturien eine entscheidende Schwäche, welche die Kämpfe insgesamt zurückwerfen kann.
Auch wenn die herrschende Klasse ihre liebe Mühe hat, die Ökonomie im Griff zu behalten, so sollten wir nie ihre Erfahrung unterschätzen, die sie in der Konfrontation mit der Arbeiterklasse hat. Dies zeigten eben gerade die Isolierung der Bergarbeiter und der gewerkschaftlich organisierte Generalstreik vom 29. März auf, dem unmittelbar die Ankündigung von Sparmaßnahmen in der Höhe von 27 Milliarden Euros folgte.
Das „Zelebrieren“ des Jahrestages der 15M-Bewegung durch die herrschende Klasse ist ein weiteres Beispiel einer Parodie mit dem Zweck, die ursprünglichen Ereignisse zu verwischen oder mindestens die Erinnerung an die Ursprünge der Bewegung vollständig zu verzerren – gerade dann, wenn wir eigentlich darüber nachdenken, diskutieren und uns der Lehren daraus bewusst werden sollten. Im Mai 2012 wurde zum Jahrestag von einem Kartell linker und gewerkschaftlicher Organisationen mobilisiert, und nicht von den Vollversammlungen, die es leider nicht mehr gibt, und es wurde nun prompt die demokratische und reformistische Sichtweise des „Bürgers“ in den Vordergrund gestellt als Gegenpol zu derjenigen der Arbeiterklasse.
Die falschen politischen Alternativen, die von der rechten Regierung des Partido Popular (PP) auf der einen Seite und den Linken auf der anderen Seite angeboten werden, ergänzen sich sehr gut. Erstere hatten eine aggressive Repression durchgezogen und beschuldigten die Indignados, ein „Unterseeboot“ der sozialdemokratischen Partei PSOE zu sein. Während die PSOE, die ein Jahr zuvor die 15M-Bewegung noch als kleinbürgerlich, als hoffnungslose Leute, als Hund auf den Hinterpfoten dargestellt hatte, sie jetzt ehrte als ein „Triumpf“ mit großer Zukunft und mit einem Gewicht innerhalb der Gesellschaft. Die herrschende Klasse verunglimpft eine wirkliche soziale Bewegung immer, doch sie liebt es auch, die Erinnerungen an deren Mythos zu pflegen, wenn sie sie damit in eine leere Hülle verwandeln kann.
Die Jahrestags-Demonstrationen 2012 waren massiv, doch bei weitem nicht so wie beim Höhepunkt der Bewegung im Juni, Juli und Oktober 2011. Vollversammlungen fanden in Madrid, Barcelona, Sevilla, Valencia, Alicante und anderswo statt. Doch auch wenn die Vollversammlungen am Samstag mit Interesse und Neugier besucht waren, bröckelten sie danach schnell ab und es gab keinen Elan in der Bewegung, sich gegen die Kontrolle durch linke Organisationen zu wehren. Die Leute zogen es vor, nach Hause zu gehen. Dennoch gab es Zeichen des Lebens der Arbeiterklasse: die massive Beteiligung von jungen Leuten, eine gesunde und fröhliche Atmosphäre und auch gute Beiträge in den Diskussionen. In Madrid gab es eine gute Diskussion über Fragen des Gesundheitswesens; es waren Stimmen zu hören, die wir selber als Ausdruck des proletarischen Flügels der Bewegung sehen, auch wenn sie nicht so selbstbewusst auftraten wie im letzten Jahr. Trotz alledem konnte die Mobilisierung die Fesseln, die ihnen die herrschende Klasse angelegt hatte, nicht sprengen, und sie blieb mehr eine Karikatur der M15-Bewegung, bei der die Luft nach einem Tag des Wochenendes draußen war und wieder der Alltag einkehrte.
Die sozialen Bewegungen, die 2011 stattgefunden haben, waren für die Arbeiterklasse eine wichtige Erfahrung – mit ihrer internationalen Ausbreitung, der Besitznahme der Straßen und Plätze, den Versammlungen im Zentrum der Bewegung, wo lebendige Debatten geführt wurden (vgl. 2011: Von der Empörung zur Hoffnung in Weltrevolution Nr. 171). In Spanien gab es massive Mobilisierungen im Bildungswesen in Madrid und Barcelona, im Gesundheitswesen in Barcelona wie auch unter der Jugend in Valencia. Der Gewerkschaftsstreik vom 29. März und der Bergarbeiterstreik sind auch wichtige Erfahrungen, über die wir nachdenken sollten. (Vgl. die Artikel dazu auf unserer spanisch- oder englischsprachigen Webseite, z.B. General strike in Spain: radical minorities call for independant workers‘ action in World Revolution Nr. 353)
Unsere Genoss_innen in Spanien haben festgestellt, dass nach all diesen Erfahrungen in der Bewegung ein Gefühl der Prüfung aufgekommen ist – Prüfung ihrer Schwächen und der Schwierigkeit, einen Kampf zu entfalten, welcher der Ernsthaftigkeit der Lage und der Stärke der Angriffe entspricht. Dieser Prozess der Hinterfragung ist absolut wesentlich, ein lebendiger Beitrag für die Entwicklung eines Verständnisses in der Arbeiterklasse, das den Boden vorbereitet für eine Antwort, die einerseits von einer breiteren Bewegung kommen und andererseits tiefer gehen wird bei der Infragestellung des Kapitalismus insgesamt.
Die Erkenntnis, dass der Kapitalismus ein bankrottes System ist, greift langsam um sich; dass es keine Zukunft hat, dass die herrschende Klasse nach fünf Jahren Krise keine Antwort hat und dass das System ausgewechselt werden muss. So ergriff beispielsweise in einer Versammlung in Valencia eine Frau das Wort und unterstützte einen Beitrag der IKS, der argumentiert hatte, in der 15M-Bewegung gebe es einen revolutionären und einen reformistischen Flügel und es gehe darum, jenen zu unterstützen. Aber es gibt auch eine Suche nach unmittelbaren Antworten und Aktionen, die zu unfruchtbaren oder sogar lächerlichen Vorschlägen führen können wie die Idee, wir sollten alle unsere Guthaben bei der verstaatlichen Bankia abheben, das werde „den Kapitalismus wirklich treffen“.
Während also die Frage der Notwendigkeit, den Kapitalismus zu ersetzen, aufgeworfen wird, gibt es die Schwierigkeit zu sehen, wie dies umgesetzt werden kann, und auch die Hoffnung, dass der Bankrott des Systems vielleicht doch noch abgewendet werden könne. Da haben die Linken und Linksextremen alle möglichen „Lösungen“ zur Reformierung des Kapitalismus zur Hand wie die höhere Besteuerung der Reichen, die Beseitigung der Korruption, Verstaatlichungen usw. Tatsächlich können sich die Mitte- und Rechtsparteien diesen „radikalen“ Kampagnen gegen Korruption und Steuerflucht sogar anschließen.
Wir dürfen nicht in die Falle der reformistischen Alternativen gehen. Aber ebenso wichtig ist es, dass uns der Ekel vor den Politikern insgesamt und vor den Lügen der Linken im Besonderen nicht dazu verleiten, uns in lokale Aktivitäten oder isolierte Gruppen zurück zu ziehen, die jedem Außenstehenden gegenüber misstrauisch sind. Nur wenn wir diesen Fallen aus dem Weg gehen, können wir den Prozess des Nachdenkens über die Krise des Kapitalismus, über die Notwendigkeit seiner Überwindung, über die Mittel und Wege der Arbeiterklasse zu diesem Ziel voran bringen. Diese Reflexion ist wesentlich für die Vorbereitung auf die zukünftigen Kämpfe.
Alex 30.06.12
Mit schamloser Arroganz rechtfertigen die Beschützer des Regimes die blutigen Belagerungen, behaupten, dass "bewaffnete terroristische Gruppen" diese Städte übernommen hätten. Sehr oft werfen sie die in der Öffentlichkeit bekannt gewordenen Massaker an Frauen und Kindern diesen Gruppen vor, die angeblich darauf abzielen, den Ruf der Regierung zu schädigen. Aber die ruchlosen, dreisten Verbrechen und Lügen der syrischen Regierung sind alles andere als ein Beleg dafür, dass das Regime festen Boden unter den Füßen hat. In Wirklichkeit spiegeln diese Massaker die Verzweiflung eines Regimes wider, dessen Tage gezählt sind.
In Anbetracht der sich immer mehr ausdehnenden Proteste gegen seine Herrschaft, die durch die Massenbewegungen in Nordafrika und im Nahen & Mittleren Osten angespornt wurden, versucht Assad jun. in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. 1982 wurde auch Hafez al-Assad mit einem Aufstand konfrontiert, der seinerzeit von der Muslimbruderschaft angeführt wurde und dessen Zentrum in Hama lag. Das Regime entsandte die Armee, die einen Großteil der Bevölkerung abschlachtete: Man geht von ca. 17.000-40.000 Toten aus. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, und die Assad-Dynastie konnte ihre Herrschaft über das Land während der letzten zweieinhalb Jahrzehnte mehr oder weniger unangefochten aufrechterhalten.
Doch einfach schnell zum unbarmherzigen Terror zu greifen reicht nicht mehr aus, weil sich die Geschichte seit den 1980er Jahren weiterentwickelt hat. Zunächst wurde die relative Stabilität des alten Blocksystems (in dem Syrien der konsequenteste Verbündete der UdSSR in der Region war) durch den Zusammenbruch des Ostblocks und dem darauf folgenden Auseinanderbrechen des von Washington angeführten westlichen Blocks untergraben. Diese tiefgreifende Umwälzung der internationalen Beziehungen öffnete das Tor für die Konfrontation zwischen den imperialistischen Ambitionen einer ganzen Reihe von Staaten (sowohl kleiner, mittelgroßer als auch größerer), die nun nicht mehr von den alten Supermächten beherrscht wurden. Im Mittleren Osten war der Iran schon vor dem Zusammenbruch der Blöcke ein Unruhestifter. Seine Ambitionen haben seit der Besetzung des Irak durch die von den USA angeführten Truppen mächtig Auftrieb erhalten. War der Irak unter Saddam Hussein noch ein wichtiges Gegengewicht zu Teherans Ambitionen in der Region gewesen, so wurde nach dem Sturz Saddams das Land durch innere Unruhen erschüttert. Seitdem wird auch der Irak von einer schwachen schiitischen Fraktion beherrscht, die iranischen Einflüssen sehr offen gegenübersteht. Die Türkei, einst ein zuverlässiger Verbündeter der USA, hat begonnen, ihr eigenes Spiel zu betreiben; sie tritt zunehmend als Führer des muslimischen Nahen Ostens auf. Selbst Israel macht immer mehr Unabhängigkeit gegenüber seinem Zahlmeister, den USA, geltend. Die Stimmen im israelischen Staat, die auf einen Angriff gegen die iranischen Atomkraftanlagen drängen, unterstreichen dies. Die USA schrecken jedoch vor solch einem Schritt zurück, weil er das große Risiko eines gewaltigen Chaos mit unabsehbaren Konsequenzen beinhaltet.
Auf diesem Tummelplatz nationaler Ambitionen wurde das, was einst als unbewaffneter Protest gegen das Assad-Regime begann, sehr schnell zu einem Stellvertreterkrieg zwischen regionalen und globalen imperialistischen Mächten. Der Iran, Syriens mächtigster Verbündeter in der Region, hat sich entschlossen auf die Seite des Assad-Regimes geschlagen. Es gibt Berichte von iranischen Revolutionswächtern oder anderen Handlangern der islamischen Republik, die vor Ort als Komplizen des Terrors aktiv sind, der von den Schergen Assads ausgeübt wird. Assad genießt auch weiterhin den Schutz Russlands und Chinas, die im UN-Sicherheitsrat eine Reihe von Resolutionen blockiert haben, in denen das Assad-Regime verurteilt und zu Sanktionen gegen das Land aufgerufen werden sollte. In Anbetracht der sehr starken Kritik musste Russland seine Haltung etwas abschwächen und kritisierte zum ersten Mal, wenn auch moderat die vom Assad-Regime verübten Massaker. Seine Unterstützung einer „Nicht-Interventionspolitik" läuft darauf hinaus, sicherzustellen, dass die Rebellen keine Waffen erhalten, während die regierungstreuen Kräfte weiterhin über ein gewaltiges Waffenarsenal verfügen. US-Außenministerin Hilary Clinton beschuldigte neulich Russland, Damaskus Kampfhubschrauber zu liefern, woraufhin der russische Außenminister Sergej Lawrow entgegnete, die Hubschrauber dienten lediglich "Verteidigungszwecken", und schließlich liefere der Westen über geheime Kanäle ja auch Waffen an die Rebellen.
Dies war die erste öffentliche Beschuldigung dieser Art durch die Russen, aber die Tatsache der Waffenlieferungen an die Rebellen war schon seit langem bekannt. Nachdem die Opposition zu einer größeren politischen bürgerlichen Kraft herangewachsen war und sich um die Freie Syrische Armee und den Syrischen Nationalrat zusammengeschlossen hatte, erfolgten Waffenlieferungen aus Saudi-Arabien und Qatar. Die Türkei hat in der Zwischenzeit eine Kehrtwende vollzogen und ist von der vormals freundschaftlichen Haltung gegenüber dem Assad-Regime zur Verurteilung des unmenschlichen Vorgehens des Regimes übergegangen. In der Zwischenzeit hat sie Flüchtlingen aus Syrien Unterkunft angeboten. Auf militärischer Ebene hat sie beträchtliche Kräfte an der syrischen Grenze zusammengezogen. In der gleichen Rede, in der H. Clinton Moskau die Lieferung von Kampfhubschraubern an Syrien vorwarf, meinte sie, dass der „Aufmarsch von syrischen Truppen um Aleppo, das nahe der türkischen Grenze liegt, vitale strategische oder nationale Interessen der Türkei verletzen könnte“ (The Guardian, 13. Juni 2012). Der jüngste Abschuss einer türkischen Militärmaschine, die angeblich syrischen Luftraum verletzt hatte, hat die Spannungen zwischen Ankara und Damaskus weiter verschärft.
So hat die Politik der Terrorisierung der Bevölkerung nicht die Kontrolle Assads über das Land verstärkt, sondern das Land in einen zunehmend unberechenbaren imperialistischen Konflikt getrieben, in dem auch die religiösen und ethnischen Spaltungen im Land vertieft werden. So unterstützt der Iran die dominierende alawitische Minderheit, während die Saudis versuchen, ein sunnitisches Regime durchzuboxen; gleichzeitig streifen Dschihad-Terroristen wie Hyänen durchs Land, um ihre Terrorangriffe auszuführen. Hinzu kommen Spaltungen zwischen Christen und Muslimen, Kurden und Arabern, die alle noch an Schärfe zunehmen und das Land in ein noch größeres Chaos treiben werden, wie wir es schon aus dem Irak kennen.
Je mehr Syrien zu einem gescheiterten Staat zu werden droht, je weniger die UN-Sanktionen und Beobachtermissionen sich als fähig erweisen, dem Töten ein Ende zu setzen, desto lauter werden die Rufe nach einer “humanitären” militärischen Intervention durch die westlichen Mächte werden. Schließlich, so sagen deren Befürworter, habe das doch auch in Libyen „funktioniert“, wo Frankreich und Großbritannien die Verantwortung übernommen hatten, eine Flugverbotszone durchzusetzen. Ihr militärisches Eingreifen ermöglichte letztendlich den Sieg der Rebellen und den Sturz des Gaddafi-Regimes. Doch im Falle Syriens sind Staaten wie Großbritannien, Frankreich und die USA weitaus vorsichtiger, auch wenn sie Assad immer lauter auffordern, seinen Platz zu räumen. Es gibt eine Reihe von Gründen für ihr Zögern: Die Geographie des Landes eignet sich, anders als in Libyen, das zum Großteil aus Wüste besteht, nicht für eine Kriegsführung aus der Luft. Und während Gaddafi in seinen letzten Tagen an der Macht international zunehmend isoliert wurde, pflegt Syrien viel engere Bande zu Russland, China und zum Iran. Vor dem Hintergrund, dass Israel die USA bereits dazu drängt, den Iran anzugreifen, und droht, dass es andernfalls allein vorpreschen werde, könnte eine Eskalation in Form eines Krieges in Syrien auch einen Krieg mit dem Iran auslösen, der noch viel größere Folgen nach sich ziehen würde. Zudem ist die Armee Assads viel besser ausgerüstet und gedrillt als Gaddafis Soldaten. Kurzum, die westlichen Truppen laufen Gefahr, in Syrien und seinem Umfeld in ein völlig unkontrollierbares Schlamassel zu geraten, so wie schon in Afghanistan und im Irak. Im Gegensatz zu Libyen gibt es keine Gefahr, dass wertvolle Ölreserven in die falschen Hände geraten, denn Syrien ist mit keinerlei Ölquellen gesegnet. Die sozialen und politischen Konsequenzen eines weiteren Kriegsschauplatzes mit Beteiligung der Großmächte in dieser von Kriegen übersäten Region sind - zumindest im Augenblick – nicht abzuwägen, um ein solches Risiko einzugehen. Auch die Türkei, die am stärksten durch die Folgen einer humanitären Katastrophe in Syrien betroffen wäre, geht gegenwärtig sehr vorsichtig mit ihren Karten um.
Man kann von einer Art imperialistischem Patt in Syrien sprechen, während gleichzeitig die Opfer –Tote und Verwundete - nicht mehr zu zählen sind. Das heißt nicht, dass ein westliches militärisches Eingreifen auszuschließen ist. Wie die Erfahrung im Irak und Afghanistan (und Libyen, wo die Konflikte nach einiger Zeit sich auch auf die Nachbarländer Libyens ausgedehnt haben) zeigt, sind die Folgen des militärischen Eingreifens des Westens alles andere als „humanitär“. Auch wenn es ihren imperialistischen Interessen entspricht, eine gewisse Ordnung in der Region herzustellen und die Konflikte in einigen Gebieten einzudämmen, besteht die vorherrschende Tendenz darin, dass Chaos, Gewalt und „Unordnung“ noch mehr zunehmen werden. Wie die Wirtschaftskrise, vor der der Kapitalismus wie vor einer unüberwindbaren Mauer steht, beweist die Zunahme von Kriegen und imperialistischen Spannungen auf der Welt, dass der Kapitalismus zu einer Sackgasse für die Menschheit geworden ist.
Amos 4.7.2012
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[7] https://www.germanyinews.com/Nachrichten-920819-Peking-Immobilien-Leerstand-am-Ende-wie-hoch.html
[8] https://www.welt.de/wirtschaft/article13939609/Dutzende-spanische-Familien-taeglich-zwangsenteignet.html
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[22] https://libcom.org/article/coal-mines-ignite-asturias-updates?page=1
[23] https://www.leftcom.org/en/articles/2012-06-19/the-struggle-of-the-asturian-miners
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