In diesem Frühjahr und Sommer 2015 hat es in Deutschland eine Reihe von Streiks gegeben – so gehäuft, dass sogar von einer „Streikwelle“[1] die Rede war. Lokführer, Kita-, Krankenhaus-, Telecom und Postangestellte, Lehrer_innen, Arbeiter_innen bei Amazon und der Geldtransportfirma Prosecur traten in den Ausstand. Wir möchten in diesem Artikel die aktuelle Lage des Klassenkampfes einschätzen. – Welches Kräfteverhältnis zeichnet sich ab zwischen den beiden Hauptklassen der Gesellschaft – zwischen Bourgeoisie und Proletariat? – Und welche untergründigen Fragen sind gestellt?
Monatelang folgte ein Streik dem anderen. Es ging dabei nicht bloß um ein paar Prozent mehr Lohn, sondern ausdrücklich um mehr Gerechtigkeit. Widerstand formiert sich gegen die wachsende Ungleichheit der Löhne. Die grundlegende Frage ist gestellt: Wird die Arbeit in Deutschland gerecht entlohnt?
Die Streiks waren für die Bevölkerung in Deutschland ein Thema. Einerseits weil zu einem großen Teil Arbeitsbereiche stillstanden, die in der Gesellschaft unmittelbar mit uns in Kontakt stehen, wie Kindertagesstätten, Bahn, Post und Spital. Andererseits aber auch durch die öffentliche Berichterstattung; die bürgerlichen Medien gaben sich keine Mühe, die Kämpfe totzuschweigen, sondern berichteten im eigenen Interesse und mit ihren besonderen Botschaften über sie.
Doch schauen wir uns zunächst die konkreten Ereignisse an. In letzter Zeit standen insbesondere die folgenden Arbeitskämpfe im Rampenlicht:
– Lokführer: Die Spartengewerkschaft GDL (Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer) beginnt am 1. September 2014 den ersten Warnstreik, weitere 8 teilweise mehrtägige Streiks folgen im Herbst 2014 und in den Monaten April-Mai 2015. Einerseits geht es um Forderungen für höheren Lohn und weniger Stress bei der Arbeit, andererseits um die Anerkennung der GDL als Verhandlungspartnerin für Tarifverträge. Dank einem hohen Organisationsgrad der Lokführer (75%) ist die Beteiligung stark. Der Streik wird von den GDL-Mitgliedern entschlossen bis verbissen geführt, weitet sich aber nicht auf andere Bahnarbeiter_innen aus, die z.B. in der EVG (Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft) organisiert sind. Es kommt zwar zu zahlreichen Zugsausfällen insbesondere im Mai 2015, aber die Ersatzfahrpläne funktionieren zuverlässig. Am 21. Mai 2015 verkündet die GDL-Spitze, dass mit der DB ein Schlichtungsverfahren vereinbart worden sei und bricht den Streik ab. Der Anfang Juli 2015 akzeptierte Schlichterspruch sieht unter anderem die Anerkennung der Autonomie der GDL gegenüber anderen Gewerkschaften und eine Lohnerhöhung von insgesamt 5.1% in zwei Etappen bis Mai 2016 vor. Überstunden sollen abgebaut und zusätzliches Personal angestellt werden. Gleichzeitig einigen sich GDL und DB auf künftige Schlichtungsverfahren im Konfliktfall, die faktisch bis 2020 legale Streiks ausschließen.
– Kita: Am 8. Mai 2015 beginnt Verdi einen landesweiten Streik bei den Kindertagesstätten, der 4 Wochen dauerte, bis ein Schlichtungsverfahren eingeleitet wird. Verdi will höhere Löhne und eine Aufwertung der Berufe in der Erziehungsbranche. Die Schlichtung sieht eine durchschnittliche Lohnerhöhung von 3.3% vor, dabei gibt es aber je nach Beruf große Unterschiede. Berufserfahrene Erzieher_innen und Leiter_innen kleiner Einrichtungen erhalten nach dem Vorschlag am meisten. Schulsozialarbeiter_innen gar nichts. Für 80% der Streikenden sei nichts herausgekommen, zitiert die TAZ eine Betroffene. Da die Unzufriedenheit mit dem Resultat so weit verbreitet ist, führt Verdi eine Mitgliederbefragung durch, die im August 2015 mit einer Ablehnung des Schlichterspruchs endet. Fortsetzung folgt.
– Post: Anfang Juni 2015 kündigt Verdi einen unbefristeten Streik bei der Post an. Die Gewerkschaft fordert Lohnerhöhungen, und dass die Anfang 2015 gebildeten 49 regionalen Gesellschaften für die Paketzustellung wieder aufgelöst werden. Mit den ausgelagerten, regionalen Paketzustellungs-Gesellschaften werden die betroffenen 6000 Angestellten nach lokalen Tarifverträgen der Logistikbranche, d.h. etwa 20% schlechter bezahlt. Nach vierwöchigem Streik gibt es einen Einigung zwischen der Deutschen Post und Verdi: eine Einmalzahlung von € 400 und Lohnerhöhungen von 2% im 2016 und von 1.7% im 2017; die ausgelagerte Paketzustellung bleibt.
– Charité: in der zweiten Juni-Hälfte 2015 treten Teile der Belegschaft des berühmten Berliner Krankenhauses, v.a. Pfleger_innen, in den Streik, der 11 Tage dauert. Sie fordern, dass mehr Personal angestellt wird, damit die Angestellten mehr Zeit für die einzelnen Patient_innen haben. Patient_innen solidarisieren sich mit den Anliegen des kämpfenden Personals. Der Streik endet mit einer Vereinbarung zwischen der Charité-Leitung und der Gewerkschaft Verdi über die Verringerung der Arbeitsbelastung und die Einstellung zusätzlicher Arbeitskräfte.
– Amazon: Zwei Tage lang streiken ca. 400-450 Angestellte von Amazon im hessischen Bad Hersfeld. Verdi organisiert den Streik. Die Beschäftigten der riesigen Versandlager des Internet-Händlers werden nach dem Tarifvertrag der Logistikbranche entlohnt; Verdi fordert die Unterstellung unter den Tarifvertrag des Einzel- und Versandhandels, welcher höhere Löhne vorsieht. Amazon beschäftigt in Deutschland etwa 10‘000 Angestellte. Verdi versucht seit Jahren in mehreren deregulierten Bereichen mit solchen Auseinandersetzungen den Organisierungsgrad zu erhöhen. Amazon will aber mit Verdi nicht in Verhandlungen treten. Die Gewerkschaft verspricht weitere Aktionen an anderen Standorten, z.B. Pforzheim.
– Prosegur: Der mehrere Wochen dauernde Streik der Geldtransporteure der Potsdamer Niederlassung von Prosegur führt im Mai 2015 in Berlin und Brandenburg zu leeren Geldautomaten. Verdi fordert eine Lohnerhöhung von einem Euro pro Stunde und mehr Sicherheit für die Angestellten bei Raubüberfällen. Die Firma sperrt vorübergehend 150 Streikende aus. Anfang Juni setzt Verdi den Streik aus. Es kommt zu neuen Tarifverhandlungen, dabei schaut eine Lohnerhöhung in der Form einer Erfolgsbeteiligung heraus.
Wie sind diese Streiks einzuschätzen? – Es gibt einige Gemeinsamkeiten, die teils auffällig sind oder aber schlicht wegen ihrer zentralen Bedeutung erwähnt werden müssen:
a) Die meisten der Streikenden waren diesmal nicht klassische Industriearbeiter_innen, sondern vorwiegend Proletarier_innen, die Dienstleistungen erbringen. Diese Teile der Arbeiterklasse sind im Allgemeinen weniger kampferfahren (wenn auch mit Ausnahmen: Post).
b) Die Kämpfe entwickelten sich im strengen Korsett der gewerkschaftlichen Kontrolle. Die Fragen eines spontanen Streiks, der Selbstorganisation, der Ausweitung der Kämpfe haben sich anscheinend nirgends gestellt.
c) Im Gegensatz zu zahlreichen Streiks der letzten 15 Jahre gegen Betriebsschließungen, die meist mit trostlosen Niederlagen endeten, gab es diesmal meist Zugeständnisse: kleine Lohnerhöhungen, das Versprechen, dass mehr Personal angestellt werde, und andere, vor allem gewerkschaftliche Anliegen.
d) Die bürgerlichen Medien insbesondere in Deutschland haben den Streiks Beachtung geschenkt und mehrheitlich Verständnis für die Anliegen der Streikenden zur Schau getragen.
Die Botschaft, die vermittelt wird, ist die, welche Wolfgang Schäuble schon 2012 im Zusammenhang mit Lohnkämpfen in den alten Industrien (Metall-, Elektro- und Chemiebranchen) zur Freude der Gewerkschaften IGM und IG BCE verkündete: „Es ist in Ordnung, wenn bei uns die Löhne aktuell stärker steigen als in allen anderen EU-Ländern.“ Deutschland habe seine Hausaufgaben gemacht und könne sich höhere Tarifabschlüsse besser leisten als andere Staaten. „Wir haben viele Jahre der Reformen hinter uns“, sagte Schäuble in einem Interview der Zeitschrift Focus.
Mit anderen Worten lautet die Message: „Den Gürtel enger zu schnallen, lohnt sich – nach ein paar mageren Jahren gibt es eine Belohnung. Die anderen EU-Staaten sollen auch diesen Weg gehen, den Deutschland schon gegangen ist.“
In der Tat war es ja die rot-grüne Sparpolitik in den Nullerjahren, welche den Standort Deutschland nach den Wünschen des Kapitals trimmte. Nur eine linke Regierung war in der Lage, eine Agenda 2010 und Hartz IV ohne starken Widerstand der Arbeiterklasse umzusetzen. Die mit diesen Maßnahmen eingeleitete Umstrukturierung führte dazu, dass in Deutschland im Durchschnitt die Lohnkosten sanken, die Lohnarbeit prekärer und flexibler, die Produktion in Deutschland wieder richtig profitabel wurde. Deutschlands Wirtschaft, namentlich die Industrie, eroberte sich auf dem Weltmarkt einen Spitzenplatz – ja wurde Exportweltmeister trotz ernsthafter Gegner wie China oder USA. Im EU-Binnenmarkt ohne Zollschranken, v.a. im Euroraum, war das deutsche Kapital kaum aufzuhalten, es machte sich breit, eroberte für sich neue Märkte und beschäftigte im Inland mehr Arbeitskräfte, wenn auch zu schlechteren Bedingungen. Die Arbeitslosigkeit ging zurück. Die Ungleichheit der Arbeitsverhältnisse und der Löhne ist gewachsen.[2] Viele Großbetriebe lagern ihre Produktion aus, verschwinden oder verkleinern sich. Kurz: In den letzten 10-15 Jahren hat sich die deutsche Wirtschaft, das Kapital, neue effizientere Strukturen gegeben; die Arbeiter_innen werden im Durchschnitt mehr ausgebeutet, leben aber in sehr verschiedenen Umständen und fühlen sich oft gar nicht als Teil einer Klasse.
Eine erste Zwischenbilanz muss deshalb trotz kleiner Streikerfolge nüchtern ausfallen: Es hat zwar eine Häufung von Streiks in Deutschland gegeben, aber anscheinend haben sie sich in den Bahnen bewegt, welche die herrschende Klasse in diesem Land – von Bsirske (Verdi-Chef) bis zu Schäuble – vorgesehen haben. Dabei hat die Bourgeoisie natürlich keine Hemmungen, die nationale Karte zu spielen und so zu tun, als ob Arbeiter und Kapital im gleichen Boot säßen. Sie klopft dem deutschen Arbeiter auf die Schulter und billigt ihm eine Lohnaufbesserung zu, während die angeblich faulen Südländer in der EU zuerst ihre Hausaufgaben erledigen sollen. Die deutschen Arbeiter werden so zu Komplizen gemacht und in einen Gegensatz gestellt zu beispielsweise den griechischen Arbeitern – denen ja umgekehrt dasselbe nationalistische Gift in die tägliche Suppe gemischt wird: die deutschen Arbeiter würden von der griechischen Misere profitieren.
Wir meinen aber, unter dieser scheinbar desolaten Oberfläche einige Keime von Fragestellungen zu entdecken, die in der Zukunft für die Entwicklung neuer Kämpfe und Perspektiven wichtig werden können.
Auch wenn die Schwierigkeiten der Klasse, sich gegen die Angriffe der letzten Jahre zur Wehr zu setzen, handgreiflich sind, so sind die Kämpfe als Zeichen einer immer noch vorhandenen Kampfbereitschaft zu werten. Die Streiks waren zwar weder grandios noch außerhalb gewerkschaftlicher Kontrolle, aber sie haben einen nicht erloschenen Kampfgeist gezeigt, und zwar gerade in Bereichen der Lohnarbeit, wo bis jetzt eher selten gestreikt worden ist.
Auf diesem Hintergrund möchten wir auf einige Anliegen eingehen, die in den Kämpfen zur Sprache gekommen sind und die wichtig werden können für die Perspektive. Sie sind Boten, die eine unterirdische Bewusstseinsentwicklung ankündigen.
Der Krankhausstreik in der Charité richtete sich gegen den Stress der Pfleger_innen, unter dem nicht nur die Angestellten, sondern auch die Kranken, die gepflegt werden müssen, leiden. Nicht erstaunlich ist es deshalb, dass sich Patient_innen und Angehörige mit dem Streik und seinen Zielen solidarisiert haben. Die Solidarität mit anderen Teilen der Klasse ist elementar, wenn sich Kämpfe in Zukunft entwickeln und ausbreiten sollen. Mit der Solidarisierung werden weitere Teile des Proletariats in einen Kampf einbezogen, der Druck steigt. Ob der Streik bei der Charité aus diesem Grund so rasch zu Zugeständnissen geführt hat, möchten wir offen lassen. Es geht uns hier nicht in erster Linie um die taktische Frage, wie effizient ein Anliegen durchgesetzt werden kann, als vielmehr um die langfristige Notwendigkeit, dass breite Teile der Klasse zu Kämpfen und Diskussionen zusammenkommen. Wenn unsere Klasse die Geschichte in die eigenen Hände nehmen will, wird sie nicht anders können, als sich auf gemeinsame Ziele zu einigen, über die Vereinzelung hinaus zusammen die Umwälzungen anzupacken. Die Solidarität zwischen den heute scheinbar isolierten Teilen der Klasse wird auf diesem Weg wachsen; so wie umgekehrt dieses wachsende Zusammengehörigkeitsgefühl die Kämpfe beschleunigen kann. Die Solidarität ist zwar in den Kämpfen dieses Jahres nur selten ausdrücklich thematisiert worden – sie ist aber grundlegend für die Einheit der Klasse in Zukunft. In den letzten Monaten haben wir zudem den Eindruck gewonnen, dass die Bevölkerung, insbesondere die Arbeiter_innen, den Streiks mit Verständnis und einer stillschweigenden Solidarität begegnet sind. Die Zugausfälle und die verspätete Postzustellung waren zwar zu spüren, aber reklamiert wurde nur wenig – im Gegenteil haben wir immer wieder Sympathiebekundungen gehört.
In einem anderen Kontext, aber gleichzeitig ist die Solidarität ja auch spürbar: beim Empfang der Flüchtlinge durch breite Teile der Bevölkerung in Deutschland und anderen Ländern. Wir können an dieser Stelle nicht tiefer auf die aktuelle Ankunft von Zehntausenden Proletarier_innen eingehen, die dem Elend und der Gewalt im Nahen Osten und in Afrika entfliehen. Wenn wir aber von einer Solidarität sprechen, die in einzelnen Kämpfen von verschiedenen direkt oder indirekt Betroffenen gepflegt worden ist, so sollten wir diese Grundstimmung auch im Zusammenhang mit den Flüchtlingen begrüßen und in den gleichen Zusammenhang stellen. Das Proletariat hat kein Vaterland. Und: Vereinigt euch!
Auch die oft gehörte Forderung nach Gerechtigkeit, die wir schon eingangs erwähnt haben, hat mit der Einheit der Klasse zu tun. Der Unmut über die ständig zunehmende Diskrepanz bei den Arbeitsbedingungen, über die schreiende Ungleichheit = Ungerechtigkeit im Arbeitsalltag nimmt zu. Die Kampfbereitschaft der Streikenden gründete auf dieser Wut. Es ist in der Tat empörend zu sehen, wie ein großer Teil der gesellschaftlich notwendigen Arbeit zu immer miserableren Bedingungen geleistet werden muss. Mit der Agenda 2010 hat das deutsche Kapital ja auch nicht die gesamte Klasse frontal angegriffen, sondern richtig dosiert jeweils Teile davon, nämlich in erster Linie die nicht Festangestellten, und zwar so, dass die Klasse aufgrund ihrer neuen Arbeitsbedingungen möglichst aufgespalten ist in Beschäftigte und Erwerbslose, Festangestellte und befristet Angestellte, Männer und Frauen, Alte und Junge, etc., wobei sogar im gleichen Betrieb krasse Unterschiede geschaffen wurden.
Auf diesem Hintergrund heißt Gerechtigkeit Widerstand gegen die neu geschaffenen Ungleichheiten, gegen die Zerstückelung der Belegschaft in einem Betrieb, wo für die gleiche Arbeit ganz verschiedene Arbeitsverträge existieren mit den unterschiedlichsten Löhnen und Kündigungsfristen. Auch hier ist also das Kernanliegen die Einheit der Klasse, die nicht länger in möglichst weit voneinander entfernte Atome gespalten werden soll.
Und der Aufschrei gegen die Ungerechtigkeit in dieser kapitalistischen Welt ist eine wichtige Triebfeder für moralische Empörung und damit für die Entwicklung einer kämpferischen Haltung. Wir kämpfen nicht für abstrakte Gleichheit, nicht für Gleichmacherei, denn die Menschen sind verschieden, vielfältig. Gerade die Vielfalt und die Kooperation der verschiedenen Talente machen uns zu Menschen, im Unterschied zu Robotern. Der alte kommunistische Grundsatz, ursprünglich von Saint-Simon formuliert, heißt: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. In diesem Sinn greifen wir sicher den Kampf gegen die Ungerechtigkeit auf, aber wir hüten uns davor, uns für die bürgerliche, abstrakte Gerechtigkeit, für die Gleichmacherei einspannen zu lassen.[3]
Allerdings offenbaren auch hier die Gewerkschaften ihren unwiderruflich bürgerlichen Charakter, da sie den Aufschrei gegen die zunehmende Ungerechtigkeit in ihre sterilen Tarifverträge kanalisieren. Bei der Post, den Kitas und bei Amazon haben die Gewerkschaften die Parole der „Gerechtigkeit“ eingesetzt: Es sei ungerecht, wenn die gleiche Arbeit unter verschiedenen Tarifverträgen stehe und ungleich bezahlt werde. Dabei landen wir aber wieder bei der abstrakten Gleichheit bestimmter Berufe in einer bestimmten Branche – und der konkreten, tarifvertraglich verbrieften Ungleichheit, die der Kapitalismus ständig verstärkt.
Ein drittes wiederkehrendes Thema in den verschiedenen Streiks war der Kampf gegen den Stress bei der Arbeit. Die Streiks der Charité-Angestellten und der Lokführern richteten sich insbesondere gegen die zunehmende Belastung. Auch dabei stellen sich grundsätzliche Fragen des kapitalistischen Systems von Produktion und Verteilung. Obwohl die Produktivkräfte immer noch weiter entwickelt und ständig mehr in immer kürzerer Zeit produziert werden kann, arbeiten wir nicht weniger und nicht ruhiger. Das Gegenteil ist der Fall: Die Intensität der Arbeitsabläufe wächst. Diejenigen, die noch eine Erwerbsarbeit haben, müssen sich dem immer intensiver werdenden Rhythmus unterwerfen. Und wer keine Arbeit hat, muss wieder welche suchen, und zwar sofort und effizient. Nicht nur die Maschinen mit ihrer Kadenz stressen, sondern auch die Bürokratie, der wir in jeder Lebenssituation ausgeliefert sind, der Verkehr im Beruf und in der Freizeit. Apropos: Auch die Freizeit MUSS effizient organisiert sein. Sei’s im Fitnessstudio oder beim Komasaufen. – Krank werden wir so oder anders. Burn-outs und Depressionen nehmen schon lange und nach wie vor zu.
Der Kampf gegen den Stress am Arbeitsplatz und im sonstigen Alltag konfrontiert uns deshalb mit den Fragen: In was für einem System leben wir? – Welche Bedingungen müsste ein menschliches System erfüllen? – Auch hier gibt es eine unterirdische Reifung im Bewusstsein über grundsätzliche Fragen.
Angesichts der aktuellen Lage können wir uns keine Illusionen über die Schwächen der Arbeiterklasse machen. Dabei sollten wir aber die Anzeichen, die zu Hoffnung Anlass geben, nicht übersehen. Die Klasse ist nicht geschlagen, nicht völlig unterworfen unter die Gesetze der blind wütenden Kapitalakkumulation und Verarmung. Die Kampffähigkeit drückt sich in 'untypischen' Formen und Fragen aus, in zaghaften Versuchen von neueren Teilen der Klasse, die sich nicht als Teil der Klasse verstehen, Gegenwehr zu leisten. Wir haben ähnliche Erscheinungen der Bewusstseinsreifung auch schon in den Bewegungen 2011/2012 gesehen: das Bedürfnis zusammen zu kommen, die Einheit auf Plätzen und Straßen zum Ausdruck zu bringen, sich über die Grenzen der Nationalstaaten solidarisch aufeinander zu beziehen.
Die Hauptschwierigkeiten können wir so zusammenfassen:
a. Fehlende Klassenidentität: vordergründig das fehlende Bewusstsein, zu einer und derselben Klasse von Ausgebeuteten und Besitzlosen zu gehören; grundsätzlicher die noch nicht vorhandene Perspektive einer großen kulturellen Umwälzung zur Menschwerdung unserer Gattung, bei der wir – die Arbeiterklasse – das kreative Subjekt sind.
b. Die Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse: Die Arbeitsbedingungen im Kapitalismus gleichen sich nicht an, sondern werden je länger je differenzierter. Dies entspricht der immer komplizierteren Arbeitsteilung einerseits; aber auch den Herrschaftsbedürfnissen des Kapitals andererseits. Nur wenn wir gespalten, statt vereint agieren, sind wir machtlos.
c. Auf der ideologischen Ebene ist die Arbeiterklasse heute potentiell Geisel der nationalen Bourgeoisie. Für den in Deutschland arbeitenden Teil des Weltproletariats hat sich dies beispielsweise in diesem Sommer während den Verhandlungen um die griechischen Schulden gezeigt; auf diesem Terrain hat die Arbeiterklasse keine Stimme. Unter etwas anderen Vorzeichen stellt sich die Frage heute erneut angesichts der in Wien, München, Dortmund und Hamburg eintreffenden Flüchtlinge.
Josef, Sept. 2015
[1] So auch Wildcat Nr. 98, Sommer 2015, S. 33
[2] Diese Tendenz wird in aktuelle Studien bestätigt, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 26. August 2015: „Trotz eines neuen Beschäftigungsrekords ist die deutsche Mittelschicht in den vergangenen 20 Jahren deutlich geschrumpft. Nach einer Studie der Universität Duisburg-Essen ging der Anteil von Haushalten mit mittleren Einkommen zwischen 1993 und 2013 von 56 auf 48 Prozent zurück. Gleichzeitig stieg die Quote der schlechter Verdienenden.“
[3] Dass im Kapitalismus der Ruf nach gleichem Lohn ein „unerfüllbarer törichter Wunsch“ ist, hat Marx in Lohn, Preis und Profit (1865) aufgezeigt und so kommentiert: „Nach gleicher oder gar gerechter Entlohnung auf Basis des Lohnsystems rufen, ist dasselbe, wie auf Basis des Systems der Sklaverei nach Freiheit zu rufen.“
Vor 70 Jahren, am 6. August 1945, wurden in Hiroshima als Opfer der Demonstration der neuen amerikanischen Nuklearwaffe mehr als Hunderttausend Menschen getötet. Nach offiziellen Zahlen starben 70`000 bei der Explosion und Tausende erlitten in den Tagen danach dasselbe Schicksal. Drei Tage danach, am 9. August, explodierte in Nagasaki eine zweite Atombombe, die eine ähnlich hohe Zahl von Opfern forderte1. Die Barbarei und das Leid, die die Bevölkerung in Japan erlitt, lassen sich kaum beschreiben.
1995 schrieben wir angesichts des 50. Jahrestages dieses schrecklichen Ereignisses: “Um ein solches Verbrechen zu legitimieren und um auf den berechtigten Schock eine Antwort zu geben, der durch die katastrophalen Auswirkungen der Bomben verursacht wurde, setzten Truman, der US-Präsident, der diesen nuklearen Holocaust angeordnet hatte, und sein Busenfreund Churchill eine durch und durch zynische Lüge in die Welt: Der Einsatz der Atombomben habe eine Million Menschenleben gerettet, die die Invasion der amerikanischen Truppen erfordert hätte. Trotz der grausamen Auswirkungen seien die Bomben, die Hiroshima und Nagasaki zerstört hätten, Bomben für den Frieden gewesen! Diese besonders widerliche Behauptung wurde jedoch von zahllosen, von der Bourgeoisie selbst herausgegebenen Geschichtsstudien widerlegt.“
Wenn wir Japans militärische Situation zur Zeit der Kapitulation Deutschlands näher unter die Lupe nehmen, so sehen wir ein Land, das am Rande der Niederlage stand. Die Luftwaffe, seine wohl wichtigste Waffe im Zweiten Weltkrieg, war auf eine Handvoll Kampfflugzeuge geschrumpft, die von jugendlichen Piloten geflogen wurden, deren Unerfahrenheit durch Fanatismus wettgemacht wurde. Auch die Kriegs- und Handelsflotte war praktisch ausgeschaltet. Die Flugabwehr wies so viele Lücken auf, dass die amerikanischen B29-Bomber im Frühling 1945 Tausende von nahezu verlustfreien Angriffen starten konnten, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Churchill selbst hielt dies im 12. Band seiner Kriegsmemoiren fest.
Eine 1989 in der New York Times veröffentlichte Studie, die vom US-Geheimdienst 1945 erstellt worden war, zeigte, dass „der japanische Kaiser, die Niederlage eingestehend, am 20. Juni 1945 entschied, alle Kampfhandlungen zu beenden und vom 11. Juli an Friedensverhandlungen in Gang zu setzen mit dem Ziel, die kriegerischen Auseinandersetzungen zu beenden".2 Doch da in der kapitalistischen Gesellschaft Zynismus und Verachtung keine Grenzen kennen, ist hier noch anzufügen, dass die Überlebenden dieser Explosionen, die „Hibakusha“, erst im Jahr 2000 vom japanischen Staat als Opfer anerkannt wurden und immer noch unter Diskriminierungen leiden.3
Bezüglich der wirklichen Ziele der Bombardierungen schrieben wir 2005: „Im Gegensatz zu all den Lügen, die seit 1945 über den angeblichen Sieg der Demokratie und des Friedens in die Welt gesetzt wurden, war der Zweite Weltkrieg dann zu Ende, als die imperialistische Neuaufteilung der Welt erfolgt war. Enthielt der Vertrag von Versailles den Keim eines neuen Krieges in sich, so enthielt auch Jalta den Gegensatz zwischen den zwei Hauptsiegern des Zweiten Weltkrieges, den USA und ihrem russischen Gegner. Durch den Zweiten Weltkrieg von einer ökonomisch schwachen Macht zu einem Imperialismus von Weltrang aufgestiegen, konnte die Sowjetunion nicht anders, als die US-amerikanische Supermacht zu bedrohen. Bereits im Frühling 1945 benutzte die UdSSR ihre militärische Stärke, um einen Block in Osteuropa auf die Beine zu stellen. Jalta diente nur dazu, das existierende Kräfteverhältnis zwischen den mächtigsten imperialistischen Haien, die aus der größten Schlächterei der Geschichte hervorgingen, zu sanktionieren. Die Situation, die durch das eine Kräftegleichgewicht geschaffen worden war, wurde nun durch ein anderes über den Haufen geworfen. Im Sommer 1945 war das wahre Problem, vor dem die USA stand, nicht, wie es uns in den Schulbüchern eingetrichtert wird, Japan sobald als möglich zur Kapitulation zu zwingen, sondern, wie man dem imperialistischen Feldzug des ‚großen russischen Verbündeten‘ begegnen konnte.“
In Wirklichkeit begann schon vor 1945 aufgrund der sich zuspitzenden imperialistischen Spannungen ein regelrechter nuklearer Aufrüstungswettlauf. Kapitalistische Großmächte konnten ihre Position auf der imperialistischen Bühne nur noch aufrechterhalten und wurden von ihren Gegnern nur dann ernstgenommen, wenn sie Atomwaffen besaßen oder, noch besser, selbst entwickelten. Dies galt vor allem für die „Blockführer“ USA und UdSSR. Ab 1949 begann Russland seine eigenen Atombomben zu testen. 1952 war Großbritannien an der Reihe. 1960 wurde die erste französische Atombombe, zynischerweise „Blaue Springmaus“ (gerboise bleue) genannt, in der algerischen Sahara gezündet. Während dieser Periode wurden - und dies ist nicht übertrieben - Hunderte von Atombombentests mit tragischsten Konsequenzen für die Natur (und oft auch für die Bevölkerung in der Umgebung) durchgeführt, die von den jeweiligen Staaten geheim gehalten wurden. Nicht nur entfaltete sich ein irrsinniger Wettlauf zwischen den USA und der UdSSR um die Erhöhung der Anzahl von immer größeren Nuklearwaffen; es wurden auch alle erdenklichen Anstrengungen zur Verstärkung der Zerstörungskraft dieser Waffen unternommen. Zwar stellten die Bomben vom August 1945 einen Moment äußerster Grausamkeit in der kapitalistischen Barbarei dar, doch waren sie weit entfernt vom Zerstörungspotenzial der heute existierenden Waffen.
Die kapitalistische Barbarei kennt keine Grenzen. Als wären die mehr als Hunderttausend Toten von Hiroshima und Nagasaki lediglich ein Vorgeschmack auf das, was der dekadente Kapitalismus anzurichten vermag, gingen die USA noch einen Schritt weiter, als sie 1952 eine Wasserstoffbombe namens „Ivy Mike“ mit 10,4 Megatonnen Sprengkraft zündeten, eine Bombe mit der sechshundertfachen Zerstörungskraft der Atombombe von Hiroshima. Russland zündete 1961 in dieser fatalen Rüstungsspirale mit der berühmten „Tsar-Bomba“ auf der Insel Nowaja Semlija die stärkste je getestete Wasserstoffbombe. Sie hatte eine Kraft von mehr als 50 Megatonnen, verglaste buchstäblich die Erde in einem Radius von 25 Kilometern und zerstörte alle hölzernen Gebäude im Umkreis von Hunderten von Kilometern. Die Armeeführung war von der Vorstellung angetan, dass die Hitze, die durch die Explosion entstand, noch in einem Umkreis von 100 Kilometern Verbrennungen dritten Grades verursachte.1968 unterzeichneten die großen Atommächte USA, Russland, Großbritannien und Frankreich formell einen Atomwaffensperrvertrag. Dieser Vertrag, der das Ziel hatte, die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen zu bremsen, hatte aber kaum Wirkung. Er war genau so heuchlerisch wie Jahre später das Kyoto-Protokoll gegen die Erderwärmung. Seit dem Inkrafttreten des Atomwaffensperrvertrages 1970 erweiterte sich die Liste der Nuklearmächte um eine Reihe von Ländern: Indien, China, Pakistan, Nordkorea, Israel. Dazu kommt eine Reihe von Staaten, bei denen der Besitz von Atomwaffen Gegenstand von Diskussionen zwischen den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse ist: der Iran natürlich, aber auch Brasilien, das verdächtigt wird, ein Atomwaffenprogramm zu entwickeln4, Saudi-Arabien und Syrien, über dessen Kernreaktor in Damaskus schon viel gesprochen wurde. Es ist unübersehbar, dass dieser Sperrvertrag nichts anderes als Augenwischerei ist, der die brutale Realität des illegalen Handels mit nuklearem Material verheimlichen soll. In einem System, basierend auf der Konkurrenz und dem Kräftemessen, ist die Idee, zur Vernunft zurückzukehren, reine Mystifikation. Seit dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung der Blöcke 1990 hat die militärische Instabilität in fortschreitendem Maße alle Zonen des Planeten ergriffen. Die internationale Situation zeigt uns dies täglich. Es handelt sich um einen wahren Zerfallsprozess, der immer mehr Barbarei und Irrationalität erzeugt. In diesem Rahmen muss man auch die Ankündigung Putins vom 16. Juni verstehen, laut der: „… Russland sein nukleares Arsenal mit der Installierung von mehr als 40 neuen Interkontinentalraketen bis Ende des Jahres verstärken wird (…) Diese Ankündigung wurde vor dem Hintergrund zunehmender Spannungen zwischen Russland und den USA gemacht, deren Pläne, schwere Waffen in Europa zu stationieren, wie von der New York Times enthüllt wurde, Moskau in Rage gebracht hatten“.5 Angesichts des 70. Jahrestages des nuklearen Holocaust ist eine solche Deklaration bezeichnend für die Verwesung, in die die kapitalistische Gesellschaft abgleitet.
Die Arbeiterklasse, die als einzige Klasse der Menschheit eine Perspektive bieten kann, ist auch die einzige Klasse, die der kriegerischen Barbarei der imperialistischen Mächte etwas entgegenzusetzen vermag. Das Proletariat darf sich nicht durch den Schrecken und die Angriffe, die die kapitalistische Klasse zu veranstalten fähig ist, einschüchtern und lähmen lassen. Zweifellos löst das Grauen vom August 1945 in Japan und des Krieges insgesamt Angst aus. Und dies aus gutem Grund. Im Getümmel der kapitalistischen Konkurrenz will die Bourgeoisie stets ihre Rivalen auslöschen. Die einzig reale Bremse gegen diese Barbarei ist das Bewusstsein der revolutionären Klasse und ihre Fähigkeit, sich über die Schrecken einer zerfallenden Gesellschaft zu empören.
Erinnern wir uns schließlich daran, dass der Sommer 2015 auch ein anderer Jahrestag ist, auch wenn er von den Medien viel diskreter behandelt wird: der 110. Jahrestag der Meuterei auf dem Panzerkreuzer Potemkin (Juni 1905). Die über das Misstrauen der Offiziere aufgebrachten russischen Matrosen richteten, erschöpft durch den Krieg gegen Japan, ihre Waffen gegen die eigenen Offiziere und begannen einen Aufstand, der einen Markstein in der Geschichte der Arbeiterbewegung darstellt.6 Es sind nicht die Tränen der Verzweiflung, sondern die Empörung, die Kampfbereitschaft und das Bewusstsein, die in sich die Perspektive einer kommunistischen Gesellschaft tragen.
Tim 2. 7. 2015
1 Auf dem „Friedensdenkmal in Japan wird die Zahl der Opfer mit 140`000 angegeben.
2 Le Monde Diplomatique, August 1990. Für einen tieferen Einblick in den Zynismus dieser Lügengeschichten siehe unseren Artikel „Hiroshima, Nagasaki: Die Lügen der Bourgeoisie“ in Internationale Revue Nr. 17
3 Zuvor bekamen die Opfer keinerlei Unterstützung vom japanischen Staat. „Im Mai 2005 gab es 266`598 von der japanischen Regierung anerkannte Hibakusha.“, Japan Times, 15. März 2006.
4 Lula unterzeichnete mit Argentinien einen Vertrag zur gemeinsamen Entwicklung eines atomaren Programms, das militärische Ziele nicht ausschließt.
5 Le Monde, 16. 6. 2015
6 Es ist wichtig sich auch daran zu erinnern, dass es die Arbeiterbewegung war, die dem Ersten Weltkrieg mit der revolutionären Bewegung ab 1917 ein Ende setzte.
Wir veröffentlichen hier eine Stellungnahme zum Streik der technischen Arbeiter von Movistar, der in diesem Frühjahr stattfand. Diese Stellungnahme ist das Ergebnis einer breiten Debatte unter nahen Weggefährten der IKS. Der Beitrag eines Genossen hat die Diskussion angestoßen und stellt das Gerüst des Artikels dar; darauf sind verschiedene Entgegnungen gefolgt, die nun in den vorliegenden Text eingeflossen sind.
Die unmittelbaren Kämpfe zur Verteidigung der Lebensbedingungen des Proletariats stellen einen Faktor im Prozess der Bildung des Bewusstseins, der Solidarität, der Einheit und der Entschlossenheit des Proletariats dar. Die Revolutionäre schenken diesen Kämpfen eine große Aufmerksamkeit und nehmen an ihnen im Rahmen ihrer Möglichkeiten teil. Sie unterstützen sie mit all ihren Kräften und schätzen die wirtschaftlichen Verbesserungen keineswegs gering, die sich herausholen lassen, denn diese sind nötig für das Überleben der Arbeiter_innen im Alltag und sie konkretisieren den Elan und die Initiative der Proletarier_innen, damit ihre Bedürfnisse gegenüber dem Kapital zur Geltung gebracht werden; diese Kämpfe stellen eine Kriegserklärung gegen die nationale und Warenlogik des Kapitals dar.
Diese Logik besagt, dass wir uns zu opfern hätten für die Zwänge der Kapitalakkumulation und dass wir folglich länger zu arbeiten, weniger zu verdienen und die Entlassungen, die Verschärfung der Arbeitsbedingungen, der Verlust der Sozialleistung usw. zu akzeptieren hätten, damit die Gewinne der Kapitalisten stiegen und vor allem damit die Nation – die spanische, die griechische, die deutsche oder die katalanische – ihren Platz im internationalen Konzert verteidige und ihr Label „anerkannt“ werde.
Wenn die Proletarier_innen für ihre Lebensbedingungen kämpfen, wenden sie sich gegen diese Logik und stellen ihr implizit entgegen, dass das menschliche Leben nicht der Produktion untergeordnet sei – wie es die kapitalistische Logik besagt –, sondern dass die Produktion umgekehrt dem Leben zu dienen habe – dies ist die Logik der neuen kommunistischen Gesellschaft, die das Proletariat in sich trägt[1].
Auf dieser impliziten Position zu verharren ist aber nicht genug, denn die überwältigende Mehrzahl dieser Kämpfe endet ohne Ergebnis. Deshalb besteht ihr wichtigster Beitrag darin, uns Lehren – meist negativer Art – zu erteilen für den historischen Kampf um eine neue Gesellschaft. Wir müssen sie kritisch betrachten, um die theoretischen, organisatorischen und moralischen Errungenschaften des Proletariats zu entwickeln und zu vertiefen.
Der Streik ist die Grundlage, von der aus die Proletarier_innen klassischerweise ihrer selbst als Klasse bewusst werden, den er stellt den besten Nährboden dafür dar: der Kampf gegen die wirtschaftlichen Angriffe des Kapitals, die Wahrnehmung oder zumindest die Intuition in der unmittelbaren Lage, dass alle Lohnarbeiter_innen früher oder später sich verteidigen und in den Kampf treten müssen in diesem Gesellschaftsverhältnis, das die kapitalistische Produktion ist.
Doch was ist der wesentliche Sinn des Streiks? Früher, in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus, der damals noch eine ganze Welt zu erobern hatte, konnten wirkliche und mehr oder weniger dauerhafte wirtschaftliche Verbesserungen für das Proletariat herausgeschlagen werden. Aber sogar in jener Zeit unterstrichen die Revolutionäre die Notwendigkeit zu begreifen, dass die wahre Bedeutung der Streiks darin besteht, was sie die Proletarier_innen lehren, was sie massenhaft debattieren und lernen, und dass sie sich politisch stärken. Heutzutage bietet die kapitalistische Akkumulation in einer sich zersetzenden Produktionsweise nur noch wenig Spielraum für eine wirkliche und dauerhafte Verbesserung der Lage des Proletarier_innen, wenn überhaupt. Wenn wir hier als Revolutionäre den selbstorganisierten Streik verteidigen, so deshalb, weil er die optimalsten Bedingungen liefert, um Beziehungen der Solidarität und des Vertrauens unter Arbeiter_innen zu knüpfen, und weil der Streik sie dazu drängt, massenhafte Debatten zu führen, Massenversammlungen zu organisieren, wo jeder Aspekt dieser Gesellschaft auf den Prüfstein der Kritik und der Diskussion gestellt wird.
Es geht also nicht darum, den Streik als eine für einen konkreten Kapitalisten an sich „schädliche“ Aktion hervorzuheben oder der Produktion oder der Geldbörse des Bourgeois um jeden Preis „Schaden zuzufügen“. Vorrangig sind für uns vielmehr die Debatte, die Versammlungen als vom Staat und vom Kapital politisch unabhängiges Mittel, damit der Streik die Proletarier_innen dazu ermutige, vorwärts zu schreiten, Kontakt aufzunehmen mit ihresgleichen und sich die in der Geschichte erprobten Mittel des Kampfes jenseits vom Einfluss der bürgerlichen staatlichen Politik wieder anzueignen.
Der Streik ist Teil des Arsenals, auf welches der Klassenkampf des Proletariats zurückgreifen kann. Dieser Klassenkampf ist eine Einheit von wirtschaftlichen, politischen und geistigen Schlachten, die zusammen das proletarische Bewusstsein nähren.
Der unbefristete Streik, den die technischen Arbeiter_innen von Movistar organisierten, war praktisch seit Beginn zweischneidig: Einerseits wurde er, was für seinen Erfolg abträglich war, und soweit wir wissen, von den Gewerkschaften CCOO und UGT ausgerufen, was ihm in seiner Dynamik den Stempel eines allein in einer Sparte geführten Kampfes aufdrückte und entsprechende Tendenzen verstärkte. Andererseits gab es zum Glück die bemerkenswerten Anstrengungen der Arbeiter_innen im Kampf, Versammlungen außerhalb und unabhängig von den großen Gewerkschaftszentralen abzuhalten, sich selber zu organisieren und darüber hinaus zu gehen. Aus diesem Grund können wir behaupten, dass der Kampf während einer beachtlichen Zeitspanne eine Perspektive eines echten selbstorganisierten proletarischen Kampfes hatte und sein Potential aufrecht erhielt.
Die Versammlungen drücken erstens den Willen zur Vereinigung, den es in der Arbeiterklasse gibt, aus; zweitens den Versuch, den Kampf in die eigenen Hände zu nehmen und der Kontrolle der staatskapitalistischen Organisationen zu entreißen, die ihn in die Niederlage führen würden. Drittens kündigen sie eine neue gesellschaftliche Organisationsweise an – den Kommunismus –, die auf der assoziierten Entscheidung der Menschheit beruht, die von jeder Form der Ausbeutung befreit ist. Wir betrachten die Vollversammlungen als eines der herausragenden Merkmale der Bewegung der Indignados und auch von Gamonal[2].
Jeden Kampf müssen wir in seinem geschichtlichen und internationalen Zusammenhang sehen, andernfalls schauen wir durch die empiristische Brille der Unmittelbarkeit, die uns daran hindert, den reichhaltigen Saft zu gewinnen, den sie beinhalten. Der Kampf von Movistar findet statt in einem geschichtlichen Augenblick der Schwäche des Proletariats aufgrund des Verlusts seiner Klassenidentität und eines schrecklichen Mangels an Vertrauen in seine Fähigkeiten zur Aktion als unabhängige gesellschaftliche Kraft.
Er ist Teil eines Fadens von Kämpfen, die trotz allem, was sie erreichen, weit unter dem stehen, was die Ernsthaftigkeit der Lage des Kapitalismus erfordern würde. Einerseits die Streikbewegungen in Asturien (2012), Bangladesch[3], China[4], Südafrika[5], in Vietnam und vor kurzem in einigen Gebieten der Türkei … Andererseits die Besetzung von Plätzen und Massenversammlungen, wie sie in der Bewegung gegen den CPE in Frankreich (2006)[6] zum Ausdruck kamen und in der Bewegung der Indignados in Spanien (2011)[7], wovon abgeschwächte Echos in Brasilien[8], der Türkei[9] (2013) und in Peru (2015)[10] zu hören waren.
Die politischen und gewerkschaftlichen Kräfte der Bourgeoisie sind erpicht darauf, die Proletarier_innen zu spalten und voneinander zu isolieren, und stellen die beiden Arten von Kämpfen einander gegenüber, die zwar ihre Unterschiede haben, aber tiefgründig Teile einer Einheit sind. In diese Einheit und insbesondere in den Drang zur Selbstorganisierung reiht sich der Kampf bei Movistar ein.
Wir haben auch Versuche der Solidarisierung festgestellt. Ein starkes Gefühl der Solidarität unter den Arbeiter_innen – das sich aber nicht als eines der Klasse ausbreitet, das heißt als „externe“ Solidarität, von Arbeiter_innen anderer Bereiche praktiziert; es wird nicht als Teil ein und derselben Kampfbewegung gelebt, sondern nur als Unterstützung (die zwar mit ehrlicher Dankbarkeit empfangen wird); es fehlt somit logischerweise am Bewusstsein, zu ein und derselben weltweiten Klasse zu gehören, die für die gleichen Interessen kämpft. Die Linksextremen, die auf dem Papier die Vokabeln aus dem sehr proletarischen Wörterbuch benützen, verbreiten diese verkürzte Sichtweise, stellen das Unmittelbare und den „gesunden Menschenverstand“ in den Vordergrund, der behauptet, dass man sich um das „Dringende“ zu kümmern habe – immer im möglichst bornierten Sinn.
Der Kampf selber drückt ein deutliches Streben nach Einheit aus, der im Falle von Movistar besonders anerkennenswert ist, da es sich hier um ein Unternehmen handelt, in dem die technischen Angestellten in einer stark ausgeprägten Vereinzelung arbeiten müssen, ohne in Arbeitszentren zusammenzukommen, mit zerstückelten Belegschaften, wobei viele der Arbeiter_innen nach dem Buchstaben des Gesetzes nicht als Lohnabhängige angestellt sind, sondern Verträge als „Selbständigerwerbende“ haben[11].
Auf der anderen Seite hat der Kampf auch die ernsthafte Gefahr der Gewerkschaftsideologie zum Vorschein gebracht, des „spartanischen“ Handelns: Das ist schon den Arbeiter_innen von Coca Cola passiert und auch denjenigen von Panrico, denn zu merken, was die großen Gewerkschaftszentralen im Schilde führen, heißt noch nicht automatisch, dass man die gewerkschaftliche Logik überwunden hat. Es gab und gibt in den beschränkten Kämpfen des Proletariats eine starke Tendenz dazu, nicht ausdrücklich die Vereinigung, die Ausweitung und die Massendebatte in den Versammlungen zu suchen und sich stattdessen im Betrieb oder im Produktionsbereich zu verschanzen und auszuharren, bis man ein Gerichtsurteil oder einen günstigen Vertrag erhält.
Solche Reaktionen, die darin bestehen, sich im dunklen Loch der Branche, des Unternehmens oder der Berufssparte einzuschließen, haben verschiedene Ursachen. Eine erste ist klar, und wir haben sie soeben analysiert: Der Verlust der Klassenidentität ruft ein Gefühl der Leere hervor, man weiß nicht, an wen man sich wenden soll auf der Suche nach Solidarität, man klammert sich verzweifelt an den vermeintlich schützenden Zufluchtsort, den der beschränkte und scheinbar „naheliegende“ Bereich des Unternehmens, der Berufssparte, der „Kollegen“ bietet.
Dies ist der Stempel einer historischen Situation, die wir als den Zerfall des Kapitalismus umschrieben haben und in der in allen Bereichen der Gesellschaft eine gefährliche Tendenz zum Auseinanderbrechen, des Jeder-für-sich, zur Zersplitterung vorherrscht. Wie wir in den Thesen zum Zerfall 1990 gesagt haben: „die Haltung des 'Jeder für sich', die Atomisierung des Einzelnen, die Zerstörung der Familienbeziehungen, die Abgrenzung und Isolierung der Rentner, die Zermürbung des Emotionalen und der Erotik, die durch Pornographie ersetzt wird, der total kommerzialisierte und in denen Medien vollkommen vermarkte Sport, die Massenversammlungen von Jugendlichen mit kollektiver Hysterie, bei denen gemeinsam Lieder gesungen werden und getanzt wird, die allemal ein finsterer Ersatz für eine Solidarität und gesellschaftliche Beziehungen sind, die heute vollkommen verloren gegangen sind. All diese Merkmale der gesellschaftlichen Verfaulung haben heute ein bislang in der Geschichte nie dagewesenes Ausmaß angenommen; sie dringen in alle Poren der Gesellschaft ein und spiegeln nur ein Element wider: nicht nur das Auseinanderbrechen der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch das Erlöschen jeglichen Prinzips kollektiven Lebens innerhalb einer Gesellschaft, in der es selbst kurzfristig nicht die geringsten Perspektiven auch nicht die illusorischsten gibt“[12].
Das ist natürlich ein Boden, auf dem gewerkschaftliche und linksextreme Tendenzen und Organisationen sich breit machen, die immer bereit sind, die Kämpfe der Arbeiter_innen in den „sicheren Hafen“ der bürgerlichen Legalität zu führen, „zu ihrem Besten“ oder demjenigen „des Kampfes“ an sich, abstrakt. In einem Klima der Vereinzelung, des fehlenden Nachdenkens, des Mangels an Debatte und Kontakt zwischen Streikenden und Arbeiter_innen anderer Sektoren findet die gewerkschaftliche und reformistische Logik ihren Nährboden vor, und dieser ist das optimale Betätigungsfeld für Organisationen, die nur darauf aus sind, die Arbeiter_innen hinter sich zu scharen und sich damit deren Stimmen und passive Gefolgschaft zu sichern.
Sie behaupten, die Interessen der Arbeiter zu vertreten, aber wir sehen, was sie tun, wenn sie einmal die Regierungsverantwortung haben, wie es bei Syriza der Fall ist. Doch müssen wir ihr Wesen auch dann durchschauen, wenn sie nicht an der Macht sind, denn sie rufen ständig dazu auf, eine Lösung in den gesetzlichen Gremien der Ausbeuter, des Staates zu suchen, statt in der Hitze des Gefechtes zu lernen, nachzudenken und zu debattieren - sie wollen die Lösung des Konfliktes den Vertretern dieser Produktionsweise überlassen, die ihn hervorgerufen haben und ständig und überall hervorrufen. Ein mehr als sattsam bekanntes Beispiel dafür ist die trotzkistische Tendenz „El Militante“, die es wärmstens begrüßte, als die Arbeiter von Coca Cola ihren Kampf aufgaben und sich an das Hohe Gericht wandten mit dem Begehren, dass es die Schließung ihrer Fabrik in Fuenlabrada verbiete, und dabei die Parole ausgaben: „Gerechtigkeit in der Justiz“.
Im Kampf bei Movistar tönt die Unterbrechung des Streiks zugunsten „anderer Kampfformen“ nach Beendigung des Kampfes der Techniker. Schon seit Wochen ist festzustellen, wie die fehlende Vereinigung und Ausweitung den Kampf zermürbt, wobei „neue Protagonisten“ auftauchten wie Cayo Lara, der Chef der Izquierda Unida (Vereinigte Linke), oder Pablo Iglesia von Podemos, den eine – wenn auch kleine – Gruppe von Arbeitern mit dem Ruf „Presidente“ verabschiedete, nachdem er an einer der Demonstrationen der Streikenden eine Rede gehalten hatte.
Den gegenwärtigen Kämpfen fehlen wesentliche Bestandteile – von denen wir hier gesprochen haben – und die sich noch nicht in greifbarer Nähe befinden: Was fast intuitiv auftaucht (die Solidarität und die Selbstorganisierung), muss bewusster gepflegt werden, damit sich auch die weiteren Elemente entwickeln: die Identität als Klasse, das Klassenbewusstsein (als historisches und internationales), die Ausweitung des Kampfes – damit wir voran kommen bei der Wiederaneignung einer revolutionären Theorie durch die Massen.
Selbstverständlich ist eine Propaganda gegen alle Versuche notwendig, die Glaubwürdigkeit des bürgerlichen Staates in den Augen der Arbeiter zu verstärken, seiner Demokratie und der Organe, die dazu geschaffen wurden, die Konflikte zwischen den Arbeitern und ihren Ausbeutern zu schlichten; wie auch eine Propaganda gegen jede Art von Gewerkschaftsideologie, die reformistisch und Kennzeichen einer längst vergangenen Epoche von Kämpfen ist und von linksextremen Organisationen ständig im Proletariat verbreitet wird. Diese Ideologie ist ein zusätzliches Hindernis gerade in den Ländern, in denen die Bourgeoisie es geschafft hat, auf der Grundlage langer Erfahrungen mit Situationen wie der vorliegenden einen gut geschmierten demokratischen Apparat aufzubauen. Die Propaganda gegen diese Ideologie und ihre Repräsentanten ist so notwendig wie die Intervention der Revolutionäre – soweit es ihre Kräfte erlauben – in den Streiks und ihre aktive Teilnahme an der Reifung des Bewusstseins und dem Kampf gegen die reformistischen Auffassungen und ihre Vertreter, die – seien sie Demokraten oder nicht – im Solde des Staates gewiss zur Stelle sind und/oder ihren Einfluss in den Kämpfen des Proletariats geltend machen und ebenfalls, aber in umgekehrter Richtung einen aktiven Faktor darstellen: in der Auflösung, der Zersplitterung, der Demoralisierung – der physischen und ideologischen.
Es ist wichtig, Bilanzen zu ziehen, Kritik zu üben – und dies solidarisch zu tun, nicht als Gruppen von außerhalb, sondern als Teil einer und derselben kämpfenden Klasse. Es ist wichtig, in diesen Kämpfen zu sein, denn sie führen uns zur Wirklichkeit des Kampfes in seinen unmittelbaren Momenten; sie bringen uns konkrete Elemente, die wir für die Theorie und ihre Weiterentwicklung brauchen; sie helfen uns, die unmittelbaren Kämpfe mit dem revolutionären Kampf zu verbinden und die geschichtliche Perspektive zu entwickeln.
23.07.2015
[1] Kommunismus hat nichts zu tun mit der Gesellschaft des Kasernen-Staatskapitalismus, der in der früheren UdSSR herrschte oder heute noch in Ländern wie Nordkorea, Kuba oder China regiert.
[5] de.internationalism.org/content/2330/die-streikwelle-sudafrika-gegen-den-anc-und-die-gewerkschaften [13]
[10] es.internationalism.org/cci-online/201501/4071/la-ley-pulpin-es-un-ataque-mas-contra-la-clase-obrera [18] und es.internationalism.org/cci-online/201503/4085/balance-de-las-movilizaciones-contra-la-ley-de-empleo-juvenil [19]
[11] Klärung für Leser_innen, die nicht in Spanien leben: Wer in diesem Land auf eigene Rechnung Arbeit für Unternehmen (oder Einzelpersonen) leistet oder Dienstleistungen erbringt, wird gesetzlich als „selbständigerwerbend“ oder sogar als „Kleinunternehmer“ eingestuft. Diese rechtliche und gesellschaftliche Lage ist bedeutsam unter dem Gesichtspunkt der Klassenidentität: Es sind zwar Arbeiter_innen, die Arbeiten verrichten, die typisch sind für Lohnarbeiter_innen, sie tun es aber als Kleinunternehmer, die scheinbar selbständig sind.
[12] Thesen zum Zerfall – Der Zerfall: letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus, in Internationale Revue Nr. 13, /content/748/der-zerfall-die-letzte-phase-der-dekadenz-des-kapitalismus [20]
Der folgende Artikel ist ein Beitrag zur Flüchtlingsfrage, wie sie sich heute in Deutschland stellt. Gewisse Aspekte der Analyse sind nicht ohne weiteres auf andere Länder Europas übertragbar. So präsentiert sich beispielsweise das im Artikel behandelte demographische Problem in Ländern wie Frankreich nicht, in Spanien oder Italien anders, da in diesen Ländern trotz tiefer Geburtenrate eine hohe Jugendarbeitslosigkeit besteht. Aufgrund des politischen und wirtschaftlichen Gewichts Deutschlands in der EU und mit ihr in der Welt ist aber der Artikel über die nationalen Grenzen hinaus von Belang.
Als Anfang September Bundeskanzlerin Merkel ebenso aufsehenerregend wie plötzlich für die vielen Tausenden unter unwürdigen Bedingungen im und um den Budapester Hauptbahnhof campierenden Flüchtlinge die Tore ins Gelobte Deutschland weit öffnete (und seither mehr oder weniger offen ließ), als sie die Öffnung der Grenzen für syrische Flüchtlinge mit für ihre Verhältnisse geradezu emotionalen Worten gegen die aufkeimende Kritik aus den eigenen Reihen verteidigte und trotz der immer offeneren Proteste seitens der förmlich überrannten Kommunen feststellte, dass es keine Obergrenze für politische Flüchtlinge gebe, da fragte sich alle Welt, warum sich Merkel, die bisher bekannt dafür war, dass sie „vom Ende aus denkt“, sprich: alle Konsequenzen gründlich miteinander abwägt, ehe sie handelt, auf dieses „Abenteuer“ eingelassen hat. Denn es ist in der Tat eine Rechnung mit etlichen Unbekannten, die der Großen Koalition präsentiert wird. So stellt sich ihr die Frage, wie man diesen Flüchtlingsstrom stoppen kann; war bis vor kurzem noch die Rede von 800.000 Flüchtlingen, die in diesem Jahr nach Deutschland kommen, so kursieren mittlerweile Prognosen in der Öffentlichkeit, die von mindestens anderthalb Millionen ausgehen. Auch scheint sich Merkel, was ungewöhnlich wäre, hinsichtlich der Wirkung, die die Politik des ausgestreckten Arms auf die einheimische Bevölkerung ausübt, verkalkuliert zu haben; zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit ist sie laut Umfragen in der Gunst des Wählers gefallen, ja gar von einem Sozialdemokraten (Außenminister Steinmeier) überholt worden. Und der Eindämmung des Rechtspopulismus hat sie einen Bärendienst erwiesen; der nicht endende Strom von vorwiegend muslimischen Flüchtlingen ist Wasser auf den Mühlen der AfD, die in Umfragen zumindest in Thüringen mit der drittstärksten Partei, der SPD, gleichgezogen hat.
Warum also hat sich die Regierungskoalition unter Führung von Merkel und Gabriel auf dieses riskante Spiel eingelassen? Geschah dies, um nach dem Merkel-Bashing im Zusammenhang mit der Griechenland-Krise das eigene Image aufzupolieren oder gar aus reiner Gefühlsduselei? Mag sein, dass Merkels Rührung auf ihrem letzten „Townhall-Meeting“ angesichts des Schicksals jenes von der Abschiebung bedrohten palästinensischen Mädchens und Gabriels Gefühlswallungen angesichts des nicht minder grausamen Schicksals der syrischen Familie in dem von ihm besuchten Flüchtlingslager in Jordanien echt waren; auch bürgerliche Politiker sollen bekanntlich ja ein Gefühlsleben haben. Doch ausschlaggebend für diese Politik der offenen Tür waren nach unserem Dafürhalten andere, weitaus profanere Gründe. Es sind Motive, die nicht so altruistisch und selbstlos sind wie der Einsatz der vielen ehrenamtlichen Helfer aus der Bevölkerung, ohne die das Chaos, was sich bereits heute in den Anlaufstellen für die Asylsuchenden abspielt, noch ungleich größer wäre. Es sind Beweggründe, deren Relevanz die Risiken und Nebenwirkungen einer solchen Politik weit übersteigt. Gehen wir die Ziele, die die „Politik der offenen Grenzen“ insgeheim verfolgt, im Einzelnen durch.
Schon seit Jahren geistert das Wort von der „Demografiefalle“ durch die Medien. Laut dem Statistischen Bundesamt droht der Bundesrepublik eine Überalterung und Schrumpfung der einheimischen Bevölkerung, die bis zum Jahr 2050 um sieben Millionen auf dann rund 75 Millionen abnehmen soll. Schon seit der Wiedervereinigung 1989 hat die gesamtdeutsche Bevölkerung um drei Millionen abgenommen, insbesondere durch den dramatischen Einbruch in den Geburtenraten Ostdeutschlands. Die deutsche Bourgeoisie ist sich, das zeigt die zahlreiche einschlägige Literatur in den letzten Jahren, im Klaren: Geht dieser Prozess ungebremst weiter, dann führt dies langfristig auf ökonomischer, militärischer und politischer Ebene zu einem erheblichen Bedeutungsverlust des deutschen Kapitalismus.
Bereits heute erweist sich der Mangel an gut ausgebildeten Arbeitskräften als Hemmschuh der ansonsten starken Konjunktur der deutschen Wirtschaft. In rund einem Sechstel aller Berufsgruppen gibt es einen Fachkräftemangel, der zum Teil solch gravierende Züge angenommen hat, dass er die Wettbewerbsfähigkeit etlicher Unternehmen beeinträchtigt, glaubt man den Stimmen von Personalmanagern. Nach einer Studie der Prognos AG („Arbeitslandschaft 2030“) „fehlen (…) 2015 gut eine Million Fachkräfte mit Hochschulabschluss - 180 000 mehr als die Ökonomen vor dem Einbruch für das gleiche Jahr erwarteten. Für Beschäftigte mit Berufsausbildung wird die Lücke nach wie vor auf 1,3 Millionen geschätzt. Und selbst von den Arbeitskräften ohne Berufsausbildung werden den Unternehmen 2015 rund 550 000 fehlen.“ (HANDELSBLATT, 9.10.15) In Ostdeutschland hat der Facharbeitermangel bereits einen verhängnisvollen Kreislauf eingeläutet: Die Abwanderung junger Arbeitskräfte nach Westdeutschland, deren Quote nach wie vor höher als die der Zuwanderer ist, bewirkt die Schließung mittelständischer Unternehmen, was wiederum den Abwanderungsprozess beschleunigt.
In dieser Situation erweist sich der Zustrom der vielen Kriegsflüchtlinge in den letzten Wochen als ein wahrer Segen für die deutsche Wirtschaft. Und Letztere zeigt sich überaus dankbar dafür: Die Telekom bietet ihre Hilfe bei der Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen und den verantwortlichen Behörden gegenüber personelle Unterstützung an, Audi spendete eine Million Euro für Flüchtlingsinitiativen, Daimler und Porsche wollen Ausbildungsplätze für junge Flüchtlinge schaffen, Bayer unterstützt Mitarbeiter-Initiativen für Flüchtlinge. Selbstredend, dass die „soziale Verantwortung“, derer sich die Unternehmen rühmen, in Wahrheit einem Eigennutz dient. Es geht schlicht darum, sich das Ausbeutungspotenzial, das in den Flüchtlingen steckt, nutzbar zu machen.
Insbesondere die syrischen Flüchtlinge stellen eine interessante Quelle von Humankapital dar, die die hiesigen Unternehmen so dringend benötigen. Erstens sind sie in der überwiegenden Mehrheit jung; sie könnten mit dazu beitragen, die Altersstruktur in den Betrieben zu verjüngen und – ganz allgemein – den Altersdurchschnitt in der Gesellschaft zu senken. Zweitens sind syrische Flüchtlinge deutlich besser ausgebildet als andere Flüchtlinge, wie Befragungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ergaben. Mehr als ein Viertel von ihnen hat nach eigenen Angaben eine Hochschulausbildung und stellt eine besonders lukrative Quelle von Arbeitskräften dar, deren Qualifikationen als Ingenieure, Techniker, Ärzte, Pflegepersonal u.ä. hierzulande so nachdrücklich (s.o.) gesucht werden. Die deutschen Unternehmen profitieren gleich in zweifacher Hinsicht von diesen Flüchtlingen: Zum einen wird es ihnen ermöglicht, Lücken in ihrem Personal zu schließen; zum anderen zieht das deutsche Kapital aus einem Effekt Nutzen, der bereits in den 1970er Jahren unter dem Begriff „brain drain“ thematisiert worden war: das Absaugen hochqualifizierter Arbeitskräfte aus der sog. Dritten Welt und somit die Einsparung eines beträchtlichen Teils der Reproduktionskosten (d.h. Kosten für Erziehung, Schule, Universität, etc.) zuungunsten der Heimatländer.
Kommen wir zum dritten Pluspunkt, der die syrischen Flüchtlinge derart attraktiv macht für die deutsche Wirtschaft. Es ist die außerordentliche Motivation dieser Menschen, die Spitzenmanager wie den Daimler-Vorstandsvorsitzenden Dieter Zetsche so fasziniert. Die Mentalität dieser Menschen, die jahrelang dem Terror von Assads Fassbomben und dem Schrecken des IS hilflos ausgesetzt waren, die bis auf ihr nacktes Leben alles verloren haben und selbst auf ihrer Flucht nach Europa fürchterlichen Erfahrungen ausgesetzt waren, macht sie zu dankbaren Opfern des kapitalistischen Ausbeutungssystems. Der Hölle entkommen, sind sie bereit, für wenig Geld zu schuften, im Bewusstsein, dass es nur aufwärts gehen kann. Es ist dieselbe Mentalität, mit der vor 70 Jahren die „Trümmerfrauen“, statt sich ihrem Schicksal zu fügen und die Hände in den Schoß zu legen, mit bloßen Händen die verwüsteten Städte in Deutschland von ihren Trümmern befreiten und so einen entscheidenden Anteil an Wiederaufbau und „Wirtschaftswunder“ hatten, wie gerne von den Nationalökonomen übersehen wird.
Diese unglaubliche Energie und Initiative, die auch die syrischen Flüchtlinge bewiesen haben, bietet vom Standpunkt der deutschen Bourgeoisie eine gewinnversprechende Quelle des Humankapitals. Ähnlich wie die sog. Gastarbeiter in den 1960er und 1970er Jahren drohen sie zudem auf kurze Sicht zur Verfügungsmasse des Kapitals zu werden, um auch in Zukunft den Druck auf die Löhne und Gehälter hochzuhalten oder gar zu steigern.
Die syrischen Flüchtlinge sind aber auch Manövriermasse für den deutschen Imperialismus, wie sich in den vergangenen Tagen und Wochen im Zusammenhang mit der Zuspitzung des Bürgerkriegs herausgestellt hat. Dies gleich in mehrfacher Hinsicht. So instrumentalisiert die Bundesregierung die Flüchtlingsfrage nicht nur auf moralischer Ebene, indem sie nicht nur die restlichen EU-Länder, sondern ausgerechnet auch das Einwanderungsland per se, die USA wegen deren zögerlicher Aufnahmebereitschaft an den Pranger stellt, sondern auch auf politischer Ebene. Wir haben in den letzten Tagen klare Anzeichen dafür gesehen, dass Deutschland seine Syrien-Politik neu ausrichtet. Geschickt das Flüchtlingsdrama mit einer angeblichen Lösung des Syrien-Konflikts verknüpfend, sind die Hauptrepräsentanten der deutschen Außenpolitik (Steinmeier, Genscher u.a.) dazu übergegangen, die Notwendigkeit zu betonen, Russland, den Iran und (vorübergehend) gar den Fassbomber Assad in den sog. Friedensprozess für Syrien einzubinden. Mehr noch, Berlin ist sich mit dem Kreml darin einig, dass der Krieg in der Ostukraine zurückgefahren werden soll, damit sich alle Kräfte auf die Bewältigung der Situation in Syrien konzentrieren können. Nicht einmal die Tatsache, dass Putin mit der Stationierung zusätzlicher militärischer Kräfte im syrischen Latakia Nägeln mit Köpfe macht, hat die Bundesregierung sonderlich irritiert. Wirtschaftsminister Gabriel fordert gar ein Ende der Wirtschaftssanktionen gegen Russland, schließlich könne „man nicht auf der einen Seite Sanktionen dauerhaft aufrechterhalten und auf der anderen Seite darum bitten (…), zusammenzuarbeiten“.
Mit dieser Neuausrichtung begibt sich die deutsche Politik erstmals seit dem Irak-Krieg wieder auf einen offenen Konfrontationskurs gegen die USA. Diese hat in Gestalt des State Departments (Außenministerium) in den letzten Tagen ihren Tonfall gegenüber Assad verschärft und zeigte sich zuletzt angesichts des diplomatischen Vorstoßes Putins auf der vergangenen UN-Generalversammlung alles andere als amüsiert. Ihr Verhältnis zum IS ist dagegen zumindest sehr ambivalent; ihre Rolle beim Durchbruch des IS zu einer Massenbewegung war äußerst dubios, und die Halbherzigkeit, mit der die USA ihm zu Leibe rückt, lässt viele Fragen hinsichtlich der wahren Absichten des US-Imperialismus gegenüber dieser Terrororganisation offen.
Der Kurswechsel in der deutschen Außenpolitik scheint zum Teil auch das Ergebnis der Interventionen und des Drucks der deutschen Industrie zu sein. In ihren Reihen verschärft sich die Kritik an den Sanktionen gegen Russland, zumal immer deutlicher wird, dass der Hauptgeschädigte die deutsche Wirtschaft ist, während US-amerikanische Konzerne wie beispielsweise Bell und Boeing trotz der Sanktionen immer noch glänzende Geschäfte mit den Russen machen. Brach der Umsatz der deutschen Wirtschaft aus dem Russland-Geschäft um mehr als 30 Prozent ein, so wuchs der Handel zwischen den USA und Russland in demselben Zeitraum um sechs Prozent. Neben den ökonomischen Gründen sprechen aber auch politische Argumente aus Sicht des deutschen Kapitalismus gegen die Aufrechterhaltung des Wirtschaftsembargos gegen Russland. In Ermangelung eines militärischen Droh- und Einschüchterungspotenzials, wie es der US-Imperialismus besitzt, muss der deutsche Imperialismus auf andere Mittel zurückgreifen, um seinen Einfluss weltweit geltend zu machen. Eines davon ist seine Wirtschaftsmacht, seine industrielle Potenz, auf deren Grundlage der Ausbau von Handelsbeziehungen durch die deutsche Politik forciert wird. (Ein Aspekt, der die Verquickung von Politik und Business, die politische Instrumentalisierung von Wirtschaftsprojekten aufzeigt, ist der Umstand, dass, wenn der Kanzler/die Kanzlerin zu offiziellen Staatsbesuchen in Ländern wie China, Indien, Brasilien, Russland, etc. unterwegs ist, sich in seinem/ihrem Schlepptau stets die Spitzenmanager deutscher Großkonzerne, aber auch Vertreter mittelständischer Maschinenbauer befinden.) In diesem Sinn bringt die Sanktionspolitik die deutsche Bourgeoisie um mehr als ein paar Aufträge, sie läuft auch ihren imperialistischen Interessen zuwider.
Als weiteres Mittel zur Kompensation seiner militärischen Schwäche sind – und da schließt sich der Kreis – die Massen der von Deutschland aufgenommenen syrischen Flüchtlinge zu betrachten. Man sollte in diesem Zusammenhang nicht die langfristige politische Wirkung unterschätzen, die eine zutiefst menschliche Regung wie die Dankbarkeit auf die Beziehung zwischen ganzen Ländern haben kann. Die offenkundige Sympathie der von der Hilfsbereitschaft großer Teile der einheimischen Bevölkerung tief beeindruckten Flüchtlinge ist ein Pfund, mit dem die deutsche Bourgeoisie wuchern kann. Aus der Dankesschuld, die viele dieser gestrandeten Menschen für Deutschland empfinden, könnte langfristig ein Türöffner für die Interessen des deutschen Imperialismus im Nahen und Mittleren Osten werden, könnten pro-deutsche Fraktionen entwachsen, die in ihren Heimatländern zugunsten deutscher Interessen antichambrieren können.
Was sofort ins Auge sticht, ist der Kostümwechsel des deutschen Nationalismus. Bis vor kurzem, in der Griechenland-Krise, im Ausland noch als „IV. Reich“ tituliert, dessen Repräsentanten gerne mit Nazi-Emblemen geschmückt und als hartherzig, ja gnadenlos dargestellt wurden, sonnen sich Deutschland und seine Epigonen derzeit in ihrem frisch erworbenen Ruhm als Retter der Verdammten dieser Erde. Die Deutschen gelten weltweit als „die Guten“. Nie seit ihrer Gründung war der Ruf der Bundesrepublik so gut wie heute. Neben der Außenwirkung soll dieses Facelifting auch nach innen abstrahlen, und zwar in Gestalt des Demokratismus. Der deutsche Staat geriert sich derzeit als Ausbund an Bürgernähe, Weltoffenheit und Toleranz und treibt damit einen für die Arbeiterklasse verhängnisvollen Prozess an – die Auflösung der sozialen Klassen in der nationalen Einheit. Und Bundeskanzlerin Merkel, die kühle Physikerin, findet offenbar zunehmend Gefallen an ihrer neuen Rolle der Heiligen Johanna der Asylsuchenden. Wie sagte sie noch? „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist dies nicht mein Land“.
Treffender kann man es nicht sagen. In der Tat geht es lediglich darum, ein nettes Gesicht zu machen; hinter der freundlichen Miene wird munter weiter gehetzt und gespalten. So findet parallel zur „Willkommenskultur“ eine zynische Spaltung zwischen Kriegsflüchtlingen und „Scheinasylanten“, eine gnadenlose Aussonderung der sog. Wirtschaftsflüchtlinge, zumeist junge Leute aus dem Balkan ohne jegliche Perspektive außer der Verelendung, statt. Flugs haben sich Bund und Länder darauf verständigt, den Kosovo, Serbien und Montenegro wider besseres Wissen zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären, womit jeglicher Asylgrund für Menschen aus dieser Region entfällt. Doch auch die „echten“ Asylsuchenden sind nicht sakrosankt vor den Giftspritzen aus Politik und Medien, wie die Attacken von Bundesinnenminister de Maizière gegen renitente Flüchtlinge zeigen.
Darüber hinaus werden bestimmte Medien, trotz aller Durchhalte-Rhetorik seitens der Bundeskanzlerin („Wir schaffen das“), nicht müde, Panik und Ängste in der einheimischen Bevölkerung zu schüren. Da wird von ganzen Völkern gesprochen, die sich auf dem Weg nach Europa machen, da wird die Gefahr von terroristischen Anschlägen durch islamistische „Schläfer“ im Flüchtlingsheer beschrien und darüber gemunkelt, wann die Stimmung in der Bevölkerung „umkippt“. Vor allem aber schwillt der Chor jener an, die hysterisch vor einer „Überforderung“ Deutschlands angesichts der Flüchtlingsmassen warnen und zetern, dass das Boot voll sei.
Es ist nicht schwer zu ermessen, welcher Weg, Öffnung oder Schließung der Grenzen, sich letztendlich durchsetzen wird. Die „Politik der offenen Grenzen“ war, davon kann man ausgehen, ein einmaliges Intermezzo; die nahe Zukunft wird von einer weiteren Abriegelung der Grenzen geprägt sein, sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene. In Zukunft soll, so sind die Pläne, die Auswahl der für Deutschland „nützlichen“ Asylanten schon vor Ort, in den Heimatländern erfolgen. Besonders perfide ist die Kampagne gegen die sog. Schleuser bzw. Schlepper, die sich beileibe nicht nur gegen gewerbsmäßige Schleuserbanden richtet, sondern auch gegen durchaus professionelle, jedoch nicht gewinnorientierte Fluchthelfer. „Die Europäische Union, die ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sein will, und ihre Mitgliedstaaten haben ein System geschaffen, das es verfolgten, gequälten und erniedrigten Menschen, die dringend Hilfe benötigen, nahezu unmöglich macht, ohne professionelle Fluchthilfe Schutz in Europa zu finden. Diese Helfer dann vor Strafgerichte zu stellen und in Gefängnisse zu sperren, ist pharisäerhaft, widersprüchlich und zutiefst inhuman“, schreibt hierzu der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) in seinem Infobrief „Lob der Schleuser“.
Es ist unbestritten, dass die Welt derzeit ein Flüchtlingsdrama nie gekannten Ausmaßes erlebt. Waren 2013 noch 51,2 Millionen Menschen auf der Flucht, so stieg die Zahl der Flüchtlinge Ende 2014 auf 59,5 Millionen – der höchste Zuwachs binnen eines Jahres und die höchste jemals von der UN-Flüchtlingsagentur UNHCR verzeichnete Gesamtzahl von Flüchtlingen weltweit. Und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Dinge allmählich aus der Kontrolle geraten. Nach Syrien droht nun auch Libyen in einen finalen Bürgerkrieg zu entgleiten – mit all den aus Syrien bekannten Folgen. In den Flüchtlingslagern im Libanon, in Jordanien und in der Türkei, wo der weitaus größte Teil der syrischen Kriegsflüchtlinge Asyl gefunden hat, droht eine weitere Massenabwanderung Richtung Europa, nachdem die UN ihre Hilfen drastisch zusammengestrichen hat, denn nun gesellt sich zur trostlosen Perspektivlosigkeit auch noch der Hunger hinzu.
Dennoch sind die Medien geradezu erpicht darauf, die ohnehin schlimmen Zustände zu überdramatisieren, noch eins drauf zu setzen. So geistert seit einiger Zeit der Begriff der Völkerwanderung durch die Öffentlichkeit, und im Fernsehen wird das Schreckensszenario verbreitet, dass Millionen von Afrikanern auf gepackten Koffern säßen und nur auf eine Gelegenheit warteten, ihr Glück in Europa zu versuchen. Beide Aussagen dienen offenbar dem Versuch, die einheimische Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen, und entsprechen – zumindest noch - nicht den Tatsachen. Schaut man sich die Fluchtbewegungen genauer an, so stellt man fest, dass der Löwenanteil der weltweiten Flüchtlinge Unterschlupf in den Nachbarländern ihrer Heimat sucht; erst wenn sich jede Hoffnung auf eine Rückkehr zerschlagen hat, nehmen jene Flüchtlinge, die es sich finanziell leisten können, den langen, lebensgefährlichen Weg nach Europa, Nordamerika und Australien auf sich. Und auch das Gerücht vom Massenexodus aus Afrika entbehrt bisher jeder Grundlage; die Migration auf dem schwarzen Kontinent ist weitaus weniger chaotisch, als es die Schreckensmeldungen der Medien vermuten lassen. Häufig verkaufen ganze Dorfgemeinschaften ihr bewegliches Hab und Gut, um einen einzigen jungen Mann aus der Mitte der Gemeinschaft die Flucht nach Europa zu finanzieren, der dann verantwortlich für die künftige Unterstützung des Dorfes ist - ein seit Jahrzehnten erprobtes Modell der Arbeitsmigration.
Dennoch: aufgeschreckt durch die anschwellenden Flüchtlingszahlen, sieht sich die Bundesregierung veranlasst, den tieferen Ursachen des Flüchtlingsdramas auf den Grund zu gehen, wie sie sagt. Allein, der Berg kreißte und gebar eine Maus: Alles, was Merkel & Co. zur grundsätzlichen Lösung dieses globalen Problems einfällt, sind schöne Worte und ein paar Hundert Millionen Euro aus der Portokasse zur Finanzierung der Flüchtlingslager in der Türkei und im Libanon. Kein Wort über die Mitwirkung der führenden Industrienationen bei der Vernichtung der Existenzgrundlagen für den Großteil der Menschheit in der Dritten Welt. Lassen wir noch einmal den RAV zu Wort kommen, der den wahren Ursachen des Elends in den sog. Entwicklungsländern weitaus näher kommt, auch wenn er die eine oder andere Ungenauigkeit aufweist (wer ist mit „Europäer“ gemeint, wer ist „wir“?): „Europa hat für viele dieser Gründe die Ursachen gesetzt und tut dies noch heute. Die politischen Verhältnisse, die die europäischen Kolonialmächte bei ihrem Rückzug hinterlassen haben, einschließlich oft willkürlicher Grenzziehungen, sind nur ein Teil davon. Vom 16. bis 18. Jahrhundert sind Europäer in Südamerika eingefallen und haben, bis an die Knie in Blut watend, schiffsladungsweise Gold und Silber geraubt, das in Europa das Startkapital für die aufblühende Wirtschaft darstellte. Europäer haben ca. 20 Millionen Afrikaner zu Sklaven gemacht und in alle Welt verkauft. Durch die Ausbeutung ihrer Rohstoffe, das Leerfischen ihrer Meere, die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft für Billigprodukte und den Export hochsubventionierter Lebensmittel, die die Landwirtschaft dieser Länder vernichtet, stehen wir heute noch auf den Schultern der Bevölkerung der meisten Fluchtländer.“ (ebenda)
Die Bildung der modernen Nationalstaaten in den Industrieländern des 19. Jahrhunderts stand auf zwei Fundamenten. Das eine Fundament war ein sehr rationales – die wirtschaftliche Zentralisierung -, das andere dagegen war irrationaler Natur: Die Nationenbildung im 18. und 19. Jahrhundert fand auf der Grundlage von Gründungsmythen statt, die alle möglichen nationalen Narrative beinhalten konnten, die aber alle eine Grundidee, ein gemeinsamer erfundener Mythos eint: die Mär von der großen nationalen Gemeinschaft bzw. Familie, die sich definiert durch die gemeinsame Abstammung („Blutsverwandtschaft“), Kultur und Sprache. Dieser nach innen gerichtete, sich nach außen abschottende Charakterzug der bürgerlichen Nation auf der einen Seite bildet zusammen mit dem nach außen gerichteten, die Welt erobernden Streben des einzelnen Kapitalisten auf der anderen Seite einen der Hauptwidersprüche, in dem der Kapitalismus unentrinnbar feststeckt.
Wie heikel es ist, beide Prinzipien unter einen Hut zu bekommen, zeigt sich gerade in der aktuellen Flüchtlingskrise. Ginge es allein nach den Wirtschaftsführern, so sollte der Strom der zumeist sich im besten Arbeitsalter befindlichen Flüchtlinge möglichst nie abreißen. Sie hätten kein Problem damit, wenn eine Million Flüchtlinge kommen – jährlich. Doch was wirtschaftlich durchaus Sinn macht, könnte politisch fatale Folgen haben. Denn im Kapitalismus sind Flüchtlinge nicht nur arme Habenichtse, sondern zugleich auch Konkurrenten im Kampf um Wohnungen, Sozialfürsorge, Arbeitsplätze. Für den Kapitalisten ist dies kein Anlass zum Fürchten, für die armen Bevölkerungsschichten, für die Hartz IV-Empfänger, Niedriglohnbeschäftigten, für die hiesigen Entwurzelten sehr wohl.
Es ist bekanntlich nicht das erste Mal, dass Deutschland von einer Flüchtlingswelle überrollt wurde. In den ersten fünf Nachkriegsjahren (1945-50) strömten über zwölf Millionen Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten und aus Böhmen und Mähren nach Deutschland, das selbst in Trümmern lag und dessen eigene Bevölkerung darbte. Es liegt auf der Hand, dass von einer „Willkommenskultur“ damals nicht die Rede sein konnte; im Gegenteil, die Vertriebenen stießen auf massive Ressentiments, Ablehnung und Hass unter den Einheimischen. Dennoch gelang die gesellschaftliche, nicht nur berufliche Integration der Vertriebenen viel reibungsloser als befürchtet, was vor allem an zwei Umständen lag: erstens an der Tatsache, dass die Vertriebenen aus dem gleichen Sprach- und Kulturraum kamen; zweitens an den Begleitumständen des Wiederaufbaus, der mit der Währungsunion zumindest in Westdeutschland ins Rollen kam und der sämtliche verfügbare Arbeitskraft aufsog, so dass es die Unternehmen waren, die im Kampf um die raren Arbeitskräfte Konkurrenz zueinander standen. Heute dagegen kommen die Flüchtlingsmassen durchweg aus einem fremden Kultur- und Sprachraum und stoßen auf eine Gesellschaft, die sich schon seit vielen Jahren in einer krisenhaften, allgemeinen und sich immer weiter zuspitzenden Abwärtsbewegung befindet und in der die Verteilungskämpfe um Arbeit, Wohnraum, Bildung ungeahnte Ausmaße angenommen haben, dabei immer größere Bevölkerungsteile in die Armut katapultierend.
Wenn sich dann zur allgemeinen Krise auch noch eine Perspektivlosigkeit, der Mangel an einem gesellschaftlichen Gegenentwurf zum kapitalistischen Elend hinzugesellt, feiert der politische Populismus, der sich aus einem Phänomen speist, das Marx die „Religion des Alltagslebens“ nannte, Hochzeit. Es handelt sich um die Mentalität des „kleinen Mannes“, der nicht anerkennen will, dass der Kapitalismus, anders als die früheren Gesellschaftsformen, ein entpersonalisiertes, verdinglichtes System ist, in dem selbst der einzelne Kapitalist kein souveräner Akteur auf dem Markt ist, sondern ein Getriebener desselben oder – wie Engels sagt – ein von seinem eigenen Produkt Beherrschter und in dem die politische Klasse von „Sachzwängen“ und nicht von Vorlieben geleitet wird. Es ist die Geisteshaltung des beleidigten Spießbürgers, der sich zwar gegen die Politik der herrschenden Klasse auflehnt und gegen „seine“ politischen Repräsentanten zetert, der sich aber letztendlich doch wieder den eben noch beschimpften „Volksverrätern“ an die Brust wirft, in der Hoffnung, Schutz bei ihnen zu finden vor der Bedrohung durch die „Fremden“. Es ist eine durch und durch reaktionäre Denkweise, die den Konformismus als höchstes Ideal feiert und willens ist, Pogrome gegen Andersdenkende, Andersfarbige und Andersartige zu entfesseln.
Die vorwiegend im Osten Deutschlands ansässige Pegida-Bewegung ist ein genauso anschauliches wie abstoßendes Beispiel für diese äußerst engstirnige, intolerante und scheinheilige Geisteshaltung. Ihr Schlachtruf „Wir sind das Volk“ blendet völlig aus, dass die Arbeiterklasse bzw. das „Volk“ (um in ihrem Jargon zu bleiben) in Deutschland und anderswo nie - und heute noch weniger denn je - solch eine homogene Zusammensetzung aufwies, wie diese Bewegung fantasiert. Sowohl ihr Boykott der sog. „Lügenpresse“ als auch ihr Wutgeheul gegen die etablierten Parteien (einschließlich der Morddrohungen gegen Politiker) bilden lediglich ihre Enttäuschung über den „Verrat“ durch Politik und Medien ab, als sei es Aufgabe dieser zutiefst bürgerlichen Institutionen, „Volkes Wille“ wiederzugeben bzw. zu vertreten. In Wahrheit richtet sich, wie ihre Aufläufe vor Flüchtlingsheimen, ihre feigen Anschläge gegen Flüchtlingsunterkünfte und Ausländer Tag für Tag beweisen, ihr zügelloser Hass nicht gegen die Herrschenden, sondern gegen die Schwächsten der Gesellschaft. Als Sündenbock für ihr eigene verkorkste Existenz (man denke nur an die kleinkriminelle Vergangenheit eines Lutz Bachmann!) müssen, was ganz typisch ist für den Pogromismus, ausgerechnet jene Teile der Bevölkerung herhalten, die sich am wenigsten wehren können.
Das Problem des Populismus und Pogromismus zwingt die etablierten Parteien, insbesondere die Regierungsparteien, dazu, mit dem Feuer zu spielen. Sie gleichen in ihrem Handeln dem berühmten Zauberlehrling, der den (Un-)Geist der Panik und Fremdenfeindlichkeit aus der Flasche entlässt und dabei riskiert, die Kontrolle über ihn zu verlieren. Bisher ist es der deutschen Bourgeoisie im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Staaten gelungen, den Aufstieg einer populistischen Partei, ob rechts oder links, zu verhindern, was ihr aufgrund der unseligen Vergangenheit ein besonders wichtiges Anliegen ist. Ob dies so bleibt, hängt auch von der Bewältigung der Flüchtlingskrise ab. Bisher deuten alle Zeichen darauf hin, dass besonders die rechtspopulistischen Kreise von der Merkel-Politik profitieren. Neben der AfD, die, wie eingangs erwähnt, in Meinungsumfragen derzeit zulegt, scheint auch die o.g. Pegida-Bewegung ihren zweiten Frühling zu erleben. Auf den letzten „Montagsspaziergängen“ in Dresden kamen wieder weit über 10.000 Menschen, deren Aggressionspotenzial deutlich zugenommen hat – sowohl verbal als auch tätlich.
Wie geht die deutsche Bourgeoisie mit diesem Problem um? Zunächst ist festzustellen, dass einerseits die politische Klasse den Anschlägen rechter Dumpfbacken nicht mehr entgegentritt, indem sie sie, wie bislang, verharmlost und banalisiert, sondern indem sie sie neuerdings als „terroristisch“ etikettiert. Dies ist insofern wichtig, als der Begriff „Terrorismus“ in Deutschland bestimmte Reflexe hervorruft und Assoziationen zum II. Weltkrieg, als massenhaft so genannte Saboteure ohne viel Federlesens exekutiert wurden, oder zum „Deutschen Herbst“ 1977 weckt, in dem die Terroristen der RAF zu Staatsfeinden hochgejazzt wurden. Zudem fährt der Staat mit dem Terrorismus-Vorwurf auch juristisch und polizeilich schweres Geschütz auf, um zu verhindern, dass der Mob nicht allzu sehr über die Stränge schlägt. Gleichzeitig wurde die AfD gespalten und bekam in den Medien ihr Fett weg. Zuletzt konnte man auch beobachten, wie Politik und Medien darum bemüht waren, die Pegida-Bewegung in die Nähe des Neonazismus zu rücken, was ja schon immer ein probates Mittel war, um Protestbewegungen, gleich welcher Couleur, gesellschaftlich zu isolieren.
Andererseits bieten die etablierten Parteien alles auf, um den Eindruck zu erwecken, sie verstünden die Sorgen und Ängste der Bevölkerung. So versucht die Bundesregierung andere EU-Länder mit moralischem Druck und finanziellen Versprechungen dazu zu veranlassen, Deutschland einen Teil der syrischen Flüchtlinge abzunehmen – bisher ohne Erfolg. Hektisch bastelt die große Koalition ein Gesetz zur Ermöglichung von Turbo-Abschiebung („beschleunigtes Abschiebeverfahren“) zusammen und bringt dabei das Kunststück fertig, es bereits anzuwenden, bevor es offiziell in Kraft tritt, nur um dem Wahlvolk verkünden zu können, man schütze es vor „Überfremdung“. Schon spricht man in der Regierung offen von einer Abschiebequote von bis zu 50 Prozent aller in Deutschland ankommenden Flüchtlinge. Es sind vor allem der CSU-Vorsitzende Seehofer und sein Generalsekretär Söder, die in diesem arbeitsteiligen Prozess die bad guys spielen und vehement die Schließung der Grenzen sowie eine Einschränkung des im Grundgesetz verankerten Asylrechts verlangen.
In einem gewissen Sinn spiegeln die unterschiedlichen Auffassungen in der Koalition das diffuse Stimmungsbild innerhalb der Bevölkerung, d.h. unter den Beschäftigten und Arbeitslosen dieses Landes, wider. Es gibt eine wachsende und lautstarke Minderheit in der Bevölkerung im Allgemeinen und in der Arbeiterklasse im Besonderen, die, eher zum bildungsfernen Milieu zählend, oftmals im Schatten der verblichenen DDR sozialisiert und/oder von staatlicher Stütze lebend, den Resonanzboden für die antimuslimischen Kampagnen bestimmter Sprachrohre aus Politik und Kultur (Sarrazin, Broder, Pirinçci, Buschkowsky, etc.) bilden und als deren Fürsprecher die CSU und Teile der CDU auftreten. Und es gibt die schweigende Mehrheit, die es bisher jungen Aktivisten, zumeist aus dem Antifa-Milieu stammend, überlassen hatte, Widerstand in Form von Straßenblockaden und Gegendemos gegen den rassistischen Mob zu leisten, nun aber, angesichts der Elendsbilder vom Balkan, sich bemüßigt fühlte, ihren Protest gegen die Untätigkeit der europäischen Staaten und ihre Empörung über die fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Dresden, Heidenau und Freital vernehmbar zu artikulieren, sei es, dass sie fast schon demonstrativ applaudierend Spalier standen für die in den Bahnhöfen von München, Frankfurt und anderswo ankommenden Flüchtlinge, sei es, dass sie sich zu Tausenden als freiwillige und unbezahlte Helfer für die Bewältigung der Flüchtlingsmassen meldeten oder die Anlaufstellen mit Spenden aller Art überschwemmten.
Die spontane Solidarisierung weiter Teile der Bevölkerung hat in dieser Wucht die Herrschenden sicherlich überrascht und auf dem falschen Fuß erwischt, stand diesen doch nicht im Sinn, um Sympathie für die Kriegsflüchtlinge zu werben, sondern eine Atmosphäre der Panik und Isolation zu schaffen. Doch Merkel bewies wieder einmal ihr Gespür für die Stimmungen und Befindlichkeiten in der Gesellschaft. Ähnlich wie im Zusammenhang mit dem GAU im Kernkraftwerk von Fukushima, als sie quasi über Nacht eherne Grundsätze der Konservativen in Sachen Atomenergie zum Alteisen geworfen hatte, leitete sie nun abrupt eine Kehrtwende in der Asylpolitik ein und hob ganz nebenbei das sog. Dubliner Abkommen auf, das es der deutschen Bourgeoisie bis dahin erlaubt hatte, sich elegant aus der Verantwortung für die in Italien und in anderen EU-Ländern mit Außengrenzen gestrandeten Flüchtlinge zu stehlen.
Einige der Gründe, die Merkel zur „Politik der offenen Grenzen“ bewogen haben mag, haben wir in diesem Text bereits genannt. Möglicherweise spielt aber noch ein weiteres Motiv eine Rolle in ihrem riskanten Spiel. Spätestens seit den Bundestagswahlen von 2005, als sie einen sicher geglaubten Wahlsieg fast noch verspielt hatte, weil es dem amtierenden Bundeskanzler Schröder gelungen war, ihren auf dem Leipziger Parteitag von 2003 eingeläuteten wirtschaftsliberalen Kurswechsel gegen sie zu instrumentalisieren, hat sie gelernt, welche Konsequenzen es haben kann, wenn die politischen Repräsentanten nonchalant die Stimmung „an der Basis“ ignorieren. Nicht auszudenken, welche Auswirkungen die Bilder von Hunderttausenden von sich selbst überlassenen Flüchtlingen an der ungarischen Grenze, die stattdessen die Schlagzeilen heute und in den nächsten Monaten beherrscht hätten, auf das Wahlverhalten jener gehabt hätte, die heute die Kriegsflüchtlinge aus Syrien willkommen heißen.
Es hat den Anschein, als seien zwei Bevölkerungsgruppen besonders stark in der Solidarisierung mit den Flüchtlingen involviert. Zum einen junge Menschen, die zu anderen Zeiten und anderen Gelegenheiten sich ebenso gut an den Anti-CPE-Protesten oder der Bewegung der Indignados beteiligt hätten. Zum anderen betagte Menschen, die entweder aus eigener Erfahrung oder durch die Überlieferungen ihrer Eltern über die Vertriebenen nach dem II. Weltkrieg das Los von Flüchtlingen kennen und nicht gleichgültig gegenüber Stacheldraht, Lager und Deportationen sein können. Aufgewachsen in den dunklen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, ist diese Generation auch vom Impuls angetrieben, es heute anders zu machen. Die zahlreiche Beteiligung der Rentner zeigt aber noch etwas Anderes: die tiefe Sehnsucht vieler alter Menschen nach einer Verjüngung der Gesellschaft, nach der Anwesenheit von Kindern und Jugendlichen. Diese Sehnsucht nach Verjüngung unterscheidet sich vom Verlangen der deutschen Wirtschaft nach jungen Arbeitskräften. Die Überalterung der Gesellschaft ist ein zentrales Problem nicht nur für den Kapitalismus, sondern für die Menschheit schlechthin, denn die Abwesenheit der Jugend bedeutet nicht nur den Verlust an Lebensfreude und Vitalisierung für die Alten, sondern auch und vor allem die Beeinträchtigung einer ihrer wichtigsten Funktionen in der Evolution der Menschheit: den Transfer ihres Erfahrungsschatzes an die Enkel(Innen)generation.
Stellt sich abschließend die Frage, ob diese Welle der Solidarisierung eine Klassenbewegung ist. Wir denken, dass ihr dafür sämtliche Insignien fehlen. Was ins Auge sticht, ist ihr völlig unpolitischer Charakter; im Gegenteil, die zutage tretende Hilfsbereitschaft hat durchweg karitative Züge. Es gibt so gut wie keine Diskussionen, keinen Austausch von Erfahrungen zwischen Jung und Alt, zwischen Einheimischen und Flüchtlingen (Letzteres auch bedingt durch die Sprachbarrieren). Es fehlt jeglicher Ansatz zu außerstaatlichen, autonomen Strukturen, zur Selbstorganisation; stattdessen machen sich die Hunderttausenden von Helfer/Innen zu Handlangern eines Staates, der es trotz Merkels Kraftmeierei an allem fehlen lässt und dessen Repräsentanten jetzt, nachdem sie die freiwilligen und ehrenamtlichen Helfer/Innen durch eigene Untätigkeit in die Erschöpfung getrieben haben, von den „Grenzen der Belastbarkeit“ faseln.
Noch einmal: die Welle der Solidarisierung, die in den vergangenen Wochen durch Deutschland ging, fand nicht auf einem Klassenterrain statt. Die arbeitende Bevölkerung als das Hauptsubjekt der Solidarität hat sich nahezu spurlos im „Volk“ aufgelöst. Dies war auch bei der weltweiten Solidarität für die Opfer des Tsunamis 2004 der Fall. Damals wie heute ging der Solidarität jeglicher Klassencharakter ab, fand sie im Rahmen einer klassenübergreifenden Kampagne statt. Doch im Unterschied zum Tsunami, der sich weit weg, in Asien, ereignete, entfaltet sich das Flüchtlingselend direkt vor unserer Haustür, so dass die Solidarität und Betroffenheit von einem ganz anderen Kaliber sind.
In der Tat kann die Flüchtlingskrise, die gerade erst begonnen hat, zu einer Gretchenfrage für die Arbeiterklasse werden. Es ist noch nicht ausgemacht, wie die Arbeiterklasse bzw. ihre ausschlaggebenden Teile national wie international auf diese Herausforderung reagieren werden – mit Solidarität oder mit Ab- und Ausgrenzung. Wenn es unserer Klasse gelingt, ihre Identität wiederzufinden, kann die Solidarität ein wichtiges, verknüpfendes Mittel in ihren Kämpfen sein. Wenn sie allerdings in den Flüchtlingen nur den Konkurrenten sieht und als Bedrohung wahrnimmt, wenn es ihr nicht glückt, eine Alternative zum kapitalistischen Elend zu formulieren, in der kein Mensch mehr gezwungen ist, aus seiner Heimat zu fliehen, sei es, weil er vom Krieg oder vom Hunger bedroht ist, dann droht uns eine massive Ausbreitung der Pogrommentalität, von der auch die Kernbereiche der Arbeiterklasse nicht verschont bleiben werden.
FT, 7.11.2015
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