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Internationale Revue - 2023

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Kommunistische Weltrevolution oder Zerstörung der Menschheit - Die entscheidende Verantwortung revolutionärer Organisationen

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Im vergangenen Frühjahr hielt die IKS ihren 25. internationalen Kongress ab. Als Hauptorgan ist der Kongress ein entscheidender Moment im Leben unserer Organisation; er ist der höchste Ausdruck des zentralisierten und internationalen Charakters der IKS. Der Kongress ermöglicht es unserer Organisation als Ganzes, zu debattieren, zu klären und sich zu orientieren. Er ist das souveräne Organ und hat folgende Aufgaben:

a) die allgemeinen Analysen und Orientierungen der Organisation zu erarbeiten, insbesondere im Hinblick auf die internationale Lage;

b) die Aktivitäten der Organisation seit dem letzten Kongress zu überprüfen und zu bilanzieren;

c) ihre Orientierungen für die Zukunft festzulegen.

Revolutionäre Organisationen existieren jedoch nicht um ihrer selbst willen. Sie sind sowohl Ausdruck des historischen Kampfes des Proletariats als auch der entschlossenste Teil dieses Kampfes. Es ist die Arbeiterklasse, die den Revolutionären ihre Organisationen anvertraut, damit sie ihre Aufgabe wahrnehmen können und ein aktiver Faktor in der Entwicklung des proletarischen Bewusstseins und des proletarischen Kampfes zur Revolution sind.

Es die Aufgabe der revolutionären Organisationen, der Arbeiterklasse im Gesamten Rechenschaft über ihre Arbeit abzulegen. Durch die Veröffentlichung eines großen Teils der Dokumente, die auf unserem letzten Kongress verabschiedet wurden, nimmt die vorliegende Ausgabe unserer Internationalen Revue diese Aufgabe wahr. Die Hauptaufgabe des 25. Kongresses bestand darin, den Ernst der historischen Situation zu verstehen.

Wie im Bericht über den Klassenkampf dargelegt, werden in den 2020er Jahren mit Covid 19, dem Krieg in der Ukraine und der weltweiten Zunahme der Kriegswirtschaft, der Wirtschaftskrise mit ihrer verheerenden Inflation, mit der globalen Erwärmung und der Verwüstung der Natur, mit der Zunahme des Jeder-für-sich, des Irrationalismus und des Obskurantismus, dem Zerfall des gesamten sozialen Gefüges nicht nur verheerende Dynamiken addiert. Alle diese Dynamiken treffen zusammen und verstärken sich in einer Art "Strudel-Effekt". Diese katastrophale Dynamik des Kapitalismus bedeutet somit weit mehr als eine Verschärfung der internationalen Situation. Sie stellt schlicht das Überleben der Menschheit selbst in Frage.

Der "Strudel-Effekt" des Zerfalls

Der 25. Internationale Kongress verabschiedete als ersten Bericht die Aktualisierung der Thesen über den Zerfall (2023).

Die IKS hatte im Mai 1990 die Thesen mit dem Titel Der Zerfall, die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus verabschiedet, die unsere Analyse der Weltlage rund um den Zusammenbruch des imperialistischen Ostblocks Ende 1989 und danach darstellten. Der Kerngedanke dieser Thesen war, dass die Dekadenz der kapitalistischen Produktionsweise, die mit dem Ersten Weltkrieg begonnen hatte, in eine neue Phase eingetreten war, die vom allgemeinen Zerfall der Gesellschaft beherrscht wird. 27 Jahre später, auf ihrem 22. Kongress im Jahr 2017, hatte unsere Organisation es für notwendig erachtet, eine erste Aktualisierung dieser Thesen vorzunehmen, indem sie den Bericht über den Zerfall heute (Mai 2017) annahm. Dieser Text machte deutlich, dass sich nicht nur die 1990 angenommene Analyse weitgehend bestätigt hatte, sondern dass bestimmte Aspekte eine neue Bedeutung erlangt hatten: die Explosion der Flüchtlingsströme, die vor Kriegen, Hunger und Verfolgung flohen, der Anstieg des fremdenfeindlichen Populismus, der sich zunehmend auf das politische Leben der herrschenden Klasse auswirkte, usw.

Heute, nur sechs Jahre später, hielt es die IKS für notwendig, die Texte von 1990 und 2017 erneut zu aktualisieren. Warum so schnell? Weil wir heute eine dramatische Verstärkung der Auswirkungen dieses allgemeinen Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft erleben.

Angesichts der unübersehbaren Realität ist selbst die herrschende Klasse gezwungen, diesen schwindelerregenden Sturz des Kapitalismus ins Chaos anzuerkennen. So zitiert unser Bericht auch Texte, die für die politischen und wirtschaftlichen Führer der kapitalistischen Welt bestimmt sind, wie den Global Risks Report (GRR), der auf den Analysen einer Vielzahl von sog. "Experten" beruht und jedes Jahr auf dem Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos vorgestellt wird. Die IKS führt hier eine Methode der Arbeiterbewegung fort, sich auf die Arbeit der Experten der herrschenden Klasse zu stützen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, um jene Statistiken und Fakten hervorzuheben, die die Realität der kapitalistischen Welt offenbaren.

Die gleiche Methode findet sich auch in marxistischen Klassikern wie Engels' Die Lage der arbeitenden Klasse in England oder Marx' Das Kapital. Im Global Risks Report heißt es: "Die ersten Jahre dieses Jahrzehnts kündigten eine besonders unruhige Periode in der menschlichen Geschichte an. ... COVID-19 ... Krieg in der Ukraine ... Nahrungsmittel- und Energiekrisen ... Inflation ... geopolitische Auseinandersetzungen und das Gespenst eines Atomkriegs ... unhaltbare Schuldenniveaus ... Rückgang der menschlichen Entwicklung ... alle diese Elemente kommen zusammen, um ein einzigartiges, unsicheres und unruhiges Jahrzehnt zu gestalten."

Die grossen Experten der Bourgeoisie legen hier den Finger auf eine Dynamik, die sie grundsätzlich nicht verstehen können. Ja, in der Tat: "Alle diese Elemente kommen zusammen, um ein einzigartiges, unsicheres und unruhiges Jahrzehnt zu gestalten."  Sie bezeichnen diese Dynamik übrigens als "Polykrisen", als ob es sich um verschiedene Krisen handeln würde, die sich nur addieren. In Wirklichkeit - und nur unsere Thesen über den Zerfall machen es möglich, dies zu verstehen - verbirgt sich hinter dieser Explosion schlimmster Ausdrücke des Kapitalismus ein und dieselbe Dynamik: die Fäulnis dieses dekadenten Systems. Die kapitalistische Produktionsweise hat keine Perspektive mehr zu bieten, und da das Proletariat bis heute nicht in der Lage ist, seine revolutionäre Aufgabe zu verwirklichen, taucht die gesamte Menschheit ins No Future und seine Folgen ein: Irrationalität, Abschottung, Atomisierung... In dieser Perspektivlosigkeit liegen die tiefsten Wurzeln der Zersetzung der Gesellschaft in all ihren Aspekten.

Selbst im proletarischen Lager gibt es eine Tendenz, für jede der katastrophalen Erscheinungen der gegenwärtigen Geschichte eine spezifische und isolierte Ursache zu finden und den Zusammenhang der gesamten Dynamik nicht zu sehen. Die Gefahr ist dann so groß, dass man:

- durch die sich überschlagenden Ereignisse verwirrt, verloren und hin und her geworfen wird;

- sich auf einen einzigen Aspekt zu konzentrieren, egal wie spektakulär und verheerend er ist (wie z.B. der Krieg in der Ukraine), und dann in eine Art unmittelbaren Katastrophismus gleitet ("Schnell, wir müssen unbedingt handeln, weil der dritte Weltkrieg ausbricht");

- die Gefahr unterschätzt und nicht versteht, dass die gesamte Dynamik wie ein Getriebe ist, in dem alle Rädchen, alle Krisen und alle Faktoren ineinandergreifen, sich gegenseitig antreiben, beeinflussen und sich vervielfachen.

Wir müssen uns mit der Gefahr, den historischen Zerfall zu unterschätzen, beschäftigen. Auf den ersten Blick meint man, wenn man den Ausbruch eines dritten Weltkriegs ankündigt, damit das Schlimmste vorauszusehen. In Wirklichkeit - und der Krieg in der Ukraine bestätigt dies erneut - ist der tatsächliche Prozess, der zu allgemeiner Barbarei und sogar zur Vernichtung der Menschheit führen kann, eine Kombination von Faktoren: Ein Krieg, der sich durch eine Vervielfachung der Konflikte (Naher und Mittlerer Osten, Balkan, Osteuropa etc.) auszeichnet und immer unberechenbarer und irrationaler wird; das sich erwärmende Klima mit seinen Katastrophen; ein Gangstertum und No Future-Denken; Konflikte und Auswirkungen, die immer größere Teile der Weltbevölkerung befallen, ... Dieser Prozess der Fäulnis ist umso gefährlicher, da er immer undurchschaubarer und hinterhältiger wird und sich allmählich in jede Pore der Gesellschaft einschleicht.

Unter diesen verschiedenen Ausdrucksformen, die den Zerfall nähren und beschleunigen, ist der Krieg (und die allgemeine Entwicklung des Militarismus) als gewollter und bewusster Akt der herrschenden Klasse, der zentrale Faktor für die Beschleunigung des Zerfalls. Aus diesem Grund stand der Bericht über die imperialistische Situation auf unserem Kongress an zweiter Stelle der Tagesordnung: "In der Phase des Zerfalls wird vor allem einer der verhängnisvollsten Aspekte des Krieges in der Dekadenz hervorgehoben: seine Irrationalität. Mit dem Beginn dieser Phase werden die Auswirkungen des Militarismus immer unvorhersehbarer und katastrophaler. Unsere Vulgärmaterialisten verstehen diesen Aspekt nicht und wenden ein, dass Kriege immer eine wirtschaftliche Motivation und damit eine Rationalität haben. Sie übersehen, dass die heutigen Kriege im Grunde nicht wirtschaftlich, sondern geostrategisch motiviert sind, und selbst dann erreichen sie nicht mehr ihre ursprünglichen Ziele, sondern führen zum gegenteiligen Ergebnis. (...) Der Krieg in der Ukraine ist eine beispielhafte Bestätigung dafür: Unabhängig von den geostrategischen Zielen des russischen oder amerikanischen Imperialismus wird das Ergebnis ein Land in Trümmern (Ukraine), ein wirtschaftlich und militärisch ruiniertes Land (Russland), eine noch angespanntere und chaotischere imperialistische Situation von Europa bis Zentralasien und Millionen von Flüchtlingen in Europa sein."

In der Organisation gibt es einige Genossen, die mit dieser Analyse der gegenwärtigen imperialistischen Dynamik deutlich nicht einverstanden sind. Für sie konkretisiert der Krieg in der Ukraine nicht nur eine Tendenz zur Bi-Polarisierung der Welt. Rund um China auf der einen und die USA auf der anderen Seite würden sich zwei immer klarer definierte Lager herausbilden, zwei Lager, die sich letztendlich zu Blöcken formieren und in einem dritten Weltkrieg gegeneinander antreten könnten. Der Kongress war eine Gelegenheit ihnen erneut zu antworten: "Die Folgen des Konflikts in der Ukraine führen nicht zu einer "Rationalisierung" der Spannungen durch eine "bipolare" Ausrichtung der Imperialismen hinter zwei dominanten "Paten", sondern im Gegenteil zur Explosion einer Vielzahl von imperialistischen Ambitionen, die sich nicht auf die Ambitionen der großen Imperialismen (die im nächsten Abschnitt untersucht werden) oder auf Osteuropa und Zentralasien beschränken, wodurch der chaotische und irrationale Charakter der Konfrontationen noch verstärkt wird."

Um ihrer Verantwortung gerecht zu werden und die Gesamtheit der Gefahren zu erkennen welche die Menschheit und insbesondere der Arbeiterklasse schweben, müssen Revolutionäre den Zusammenhang der Gesamtsituation und den tatsächlichen Ernst der Lage verstehen. Unser Bericht zeigt, dass nur die marxistische Methode und ihr Materialismus ein solches Verständnis ermöglichen. Es bedarf eines Materialismus, der nicht vulgär ist, eines dialektischen und historischen Materialismus, der in der Lage ist, alle Faktoren in ihrer Beziehung und Bewegung zu erfassen, eines Materialismus, der die Kraft des Denkens in seiner Beziehung und seinem Einfluss auf die gesamte materielle Welt einbezieht, denn das Denken ist eine der treibenden Kräfte der Geschichte. Unser Bericht hebt vier zentrale Punkte hervor, die Teile dieser Methode sind:

1. Die Umwandlung von Quantität in Qualität

Auf die 1989/90 eröffnete historische Situation angewandt, können wir sagen: Es existierten in dieser historischen Situation durchaus Manifestationen der Zersetzung in der Phase der Dekadenz des Kapitalismus aber heute beweist die Häufung dieser Manifestationen eine Bruchstelle im Leben der Gesellschaft. Sie signalisiert den Eintritt in eine neue Epoche der kapitalistischen Dekadenz. Es ist der Eintritt eine Phase, in der der Zerfall das bestimmende Element wird.

2. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile

Dies ist eines der wichtigsten Phänomene der gegenwärtigen Situation. Die verschiedenen Erscheinungsformen des Zerfalls erschienen anfangs unabhängig voneinander. Ihre Häufung deutete bereits darauf hin, dass wir in eine neue Epoche des kapitalistischen Verfalls eingetreten waren. Diese verschiedenen Erscheinungsformen wirken nun vor unseren Augen zunehmend in einer Art "Kettenreaktion", einem "Wirbel" zusammen, welcher der Geschichte eine immense Beschleunigung verleiht. Diese kumulierten Effekte gehen weit über ihre bloße Addition hinaus.

3. Der historische Ansatz der gegenwärtigen Ereignisse

Bei diesem historischen Ansatz geht es darum, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die untersuchten Ereignisse keine statischen, unantastbaren Dinge sind, die seit jeher und in alle Zeit existieren. Vielmehr handelt es um sich um Prozesse, die sich ständig verändern, durchaus mit Elementen der Kontinuität, aber auch und vor allem der Transformation und sogar des Bruches.

4. Die Bedeutung der Zukunft für das Leben menschlicher Gesellschaften

Die marxistische Dialektik weist der Zukunft einen grundlegenden Platz in der Entwicklung und Bewegung der Gesellschaft zu. Von den drei Momenten eines historischen Prozesses - Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft - ist es der letztere, der den grundlegenden Faktor in ihrer Dynamik darstellt. Gerade weil der heutigen Gesellschaft dieses grundlegende Element der Zukunft und der Perspektive fehlt (eine Perspektive die nur die Arbeiterklasse aufzeigen kann), was immer mehr Menschen, insbesondere die Jugend, zu spüren bekommen, versinkt diese Gesellschaft in eine tiefe Verzweiflung und verrottet auf der Stelle.

Es ist diese Methode, die es unserer Resolution zur internationalen Lage ermöglicht, unsere Analyse vom Abstrakten zum Konkreten zu erheben: "(…) [nun]erleben wir diesen "Strudel-Effekt", bei dem all die verschiedenen Ausdrucksformen einer sich zersetzenden Gesellschaft aufeinander einwirken und den Abstieg in die Barbarei beschleunigen. So hat sich die Wirtschaftskrise durch die Pandemie und die Lockdowns, den Ukraine-Krieg und die steigenden Kosten der Umweltkatastrophen spürbar verschärft. Der Krieg in der Ukraine wird inzwischen schwerwiegende Auswirkungen auf ökologischer Ebene und weltweit haben; der Wettbewerb um die schwindenden natürlichen Ressourcen wird die militärischen Rivalitäten weiter verschärfen und soziale Revolten weiter anfachen."

Die Rückkehr einer kämpferischen Arbeiterklasse

Auf der anderen Seite dieses Pols der Zerstörung befindet sich der Pol der revolutionären Perspektive des Proletariats. Die letzten Monate haben gezeigt, dass das Proletariat nicht besiegt ist, sondern beginnt, seinen Kopf zu heben und den Weg zurück in den Kampf zu finden. 2022 erkannte die IKS in den Streiks in Großbritannien eine Veränderung der Situation der Arbeiterklasse. In unserem internationalen Flugblatt vom 31. August Die Bourgeoisie erzwingt neue Opfer, die Arbeiterklasse antwortet mit Streiks schrieben wir: "Die Bourgeoisie erzwingt neue Opfer, die Arbeiterklasse antwortet mit Kampf": "Enough is enough", "Zu viel ist zu viel". Das ist der Ruf, der sich in den letzten Wochen in Grossbritannien wie ein Echo von Streik zu Streik verbreitet hat. Diese massive Bewegung, die in Anlehnung an den "Winter des Zorns" von 1979 "Sommer des Zorns" genannt wird, betrifft jeden Tag Arbeiter in immer mehr Bereichen. (…) Man muss bis zu den riesigen Streiks von 1979 zurückgehen, um eine größere und massivere Bewegung zu finden. Eine Bewegung dieser Größenordnung in einem Land wie Grossbritannien ist kein "lokales" Ereignis. Es ist ein Ereignis von internationaler Bedeutung, eine Botschaft an die Ausgebeuteten aller Länder. Die Rückkehr der Massenstreiks in Großbritannien markiert die Rückkehr der Kampfbereitschaft des Weltproletariats."

Theoretisch gewappnet, um die Streiks und Demonstrationen, die in vielen Ländern entstanden, zu verstehen, konnte die IKS im Rahmen ihrer Möglichkeiten intervenieren und acht verschiedene Flugblätter verbreiten und die Entwicklung der Bewegung und die Überlegungen der Arbeiterklasse verfolgen.

Allen Flugblättern ist gemeinsam, dass sie Folgendes betonen:

- die Rückkehr der Kampfkraft der Arbeiterklasse

- die historische und internationale Dimension der Dynamik

- das wachsende Gefühl in den Reihen der Arbeiter, dass alle "im selben Boot" sitzen, ein Nährboden für eine Wiedergewinnung der Klassenidentität

- die Notwendigkeit, die Kämpfe selbst in die Hand zu nehmen und sich die Lehren aus den

  vergangenen Kämpfen wieder anzueignen

Auch hier gibt es, wie bezüglich des Kriegs in der Ukraine, eine Meinungsverschiedenheit und eine Debatte innerhalb der Organisation.

Dieselben Genossen, die glauben, im Krieg in der Ukraine einen Schritt in Richtung Blockbildung und eines dritten Weltkrieges zu sehen, argumentieren, dass die aktuellen Kämpfe und die Kampfbereitschaft der Arbeiter keinen Bruch in einer negativen Dynamik seit den 1980er Jahren darstellen, keinen Bruch mit einer langen Reihe von Niederlagen, die zwar nicht endgültig seien, die aber zu einer besonders schweren Schwächung vor allem auf der Ebene des Bewusstseins geführt hätten.

In dieser Sicht "bleibt in einer kapitalistischen Welt, die seit 1989 mehr denn je chaotisch und ‘naturgemäß’ auf einen Krieg zusteuert, die politische Antwort des Proletariats weit hinter dem zurück, was die Situation von ihm verlangt" (einer der vom Kongress abgelehnten Änderungsanträge der Genossen zur Resolution des 25. Kongresses über die internationale Lage).

Für sie erinnert die aktuelle Situation, ohne identisch zu sein (siehe Historischer Kurs), an die 1930er Jahre, mit einem kämpferischen Proletariat in vielen zentralen Ländern, das aber trotzdem nicht in der Lage war, den Krieg zu verhindern. "(...), im Moment hat die notwendige Entwicklung von Massenversammlungen und einer echten Debattenkultur noch nicht stattgefunden. Ebenso wenig wie die Entstehung einer neuen Generation politisierter proletarischer KämpferInnen." (ebd.) Ein weiteres Argument für das Ausmaß der sozialen Bewegungen und die Ausbreitung von Streiks in sehr vielen Ländern ist, dass der Mangel an Arbeitskräften in vielen Bereichen und die Notwendigkeit, die Kriegswirtschaft voll in Gang zu halten, die Situation für die Arbeiterklasse günstig machen, um höhere Löhne zu fordern. Für den Kongress widerlegt die Realität, die sich vor unseren Augen entwickelt, nämlich die laufende Verarmungswelle mit steigenden Preisen bei stagnierenden Löhnen und hagelnden Regierungsangriffen, diese Theorie.

Für die Genossen entsprechen die Flugblätter, die die IKS in den letzten Monaten in den verschiedenen sozialen Bewegungen verteilt hat - etwa 150.000 Stück - nicht den Erfordernissen der Situation. In Übereinstimmung mit ihrer Analyse eines besiegten Proletariats und einer Dynamik hin zur Bildung zweier Blöcke und zum Weltkrieg sei die erste Aufgabe von Revolutionären nicht die Intervention, sondern die theoretische Vertiefungsarbeit.

Der Kongress zog stattdessen eine sehr positive Bilanz der internationalen Intervention der Organisation in die Kämpfe. Die IKS wusste, dass sie nicht die gesamte Klasse und die Mobilisierungen beeinflussen kann, denn revolutionäre Organisationen können in der gegenwärtigen historischen Periode keinen solchen Einfluss haben. Diese Rolle, die Massen zu lenken, ist nur möglich, wenn die Klasse ihr Bewusstsein und ihren historischen Kampf auf einer viel höheren Ebene als heute entwickelt hat. Unsere Intervention richtete sich an Minderheiten auf der Suche nach Klassenpositionen. Die beträchtliche Anzahl von Diskussionen, die das Verteilen dieser Flugblätter in den Demonstrationszügen mit sich brachten, die erhaltenen Briefe und die neuen Besucher unserer verschiedenen öffentlichen Diskussionsveranstaltungen zeigen, dass unsere Intervention ihren Zweck erfüllt: die Reflexion eines Teils der politisierten Minderheiten anzuregen, die Debatte zu stimulieren und die revolutionären Kräfte zur Umgruppierung anzuregen.

Hinter der Erkenntnis der historischen Bedeutung der Rückkehr des Klassenkampfes nach Großbritannien und ihrer Auswirkungen auf unsere Intervention in den Kampf steht die gleiche Methode, die es uns ermöglicht hat, das Neue in der gegenwärtigen Beschleunigung der Zersetzung mit ihrem Strudel-Effekt zu begreifen: die Umwandlung von Quantität in Qualität, der historische Ansatz. Eine Facette dieser Methode ist hier von besonderer Bedeutung - ihre internationale Dimension.

Die Berücksichtigung der zwangsläufig internationalen Dimension des Klassenkampfes ermöglichte es 1968 den späteren Gründern der IKS, die wahre und tiefere Bedeutung der Mai-Ereignisse sofort zu erkennen. Während das gesamte damalige proletarische Milieu nur eine Studentenrevolte sah und behauptete, es gebe "nichts Neues unter der Sonne", erkannten unser Genosse Marc Chirik und die Militanten, die sich allmählich zusammenschlossen, dass diese Bewegung das Ende der Konterrevolution und die Eröffnung einer neuen Periode des internationalen Klassenkampfes ankündigte.

Deshalb heißt es in Punkt 8 der Resolution des 25. Internationalen Kongresses der IKS zur internationalen Lage, die wir verabschiedet haben, ausdrücklich: "Die Wiederbelebung der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse in einer Reihe von Ländern ist ein bedeutendes historisches Ereignis, das nicht nur auf lokale Umstände zurückzuführen ist und sich nicht durch rein nationale Bedingungen erklären lässt. Die Kämpfe, die seit dem Sommer 2022 in Großbritannien stattfinden, haben eine Bedeutung, die über den britischen Rahmen hinausgeht. Die Reaktion der britischen Arbeiter und Arbeiterinnen wirft ein Licht auf die Kämpfe in anderen Ländern und verleiht ihnen eine neue und besondere Bedeutung. Die Tatsache, dass die gegenwärtigen Kämpfe von einem Teil des Proletariats initiiert wurden, der am meisten unter dem allgemeinen Rückzug des Klassenkampfes seit Ende der 80er-Jahre gelitten hat, ist von großer Bedeutung: So wie die Niederlage in Großbritannien 1985 den allgemeinen Rückzug Ende der 80er-Jahre ankündigte, offenbart die Rückkehr der Streiks und der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse in Großbritannien die Existenz einer tiefen Dynamik innerhalb des Proletariats der ganzen Welt."

In Wirklichkeit hatten wir uns schon Anfang 2022 auf diese Möglichkeit vorbereitet! Im Januar veröffentlichten wir ein internationales Flugblatt mit der Ankündigung Auf dem Weg zu einer brutalen Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Auf der Grundlage von Indizien für die Entwicklung des Kampfes, die sich abzuzeichnen begannen, kündigten wir die Möglichkeit eines Gegenschlags unserer Klasse an. Die Rückkehr der Inflation stellte in der Tat einen fruchtbaren Boden für die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse dar. Einen Monat später verschärfte der Ausbruch des Krieges in der Ukraine die Auswirkungen der Wirtschaftskrise noch erheblich, indem er die Preise für Energie und Lebensmittel in die Höhe trieb.

In Anbetracht der grossen Schwierigkeiten unserer Klasse, aber auch in Kenntnis der Geschichte der Kämpfe, wusste die IKS, dass es keine direkte und umfassende Reaktion unserer Klasse auf die Barbarei des Krieges geben würde, dass es aber die Möglichkeit einer Reaktion auf die Auswirkungen des Krieges im "Hinterland", in Europa und den USA[1], gab: Streiks angesichts der Opfer, die im Namen der Kriegswirtschaft verlangt wurden. Und genau das geschah auch.

Auf dieser theoretischen und historischen Grundlage hatte die IKS keine Illusionen über die Möglichkeit einer Klassenreaktion direkt gegen den Krieg. Sie glaubte nicht, dass überall internationalistische Komitees aus dem Boden schiessen würden, und sie versuchte erst recht nicht, solche künstlich zu schaffen. Unsere Antwort bestand in erster Linie darin, dass wir versuchten, die internationalistische Tradition der Kommunistischen Linken so entschieden wie möglich zu verteidigen, indem wir alle Kräfte des Proletarischen Politischen Milieus dazu aufriefen, eine gemeinsame Erklärung zu verfassen. Während ein Großteil dieses revolutionären Milieus unseren Aufruf ignorierte oder sogar ablehnte[2], antworteten drei Gruppen (Internationalist Voice, Instituto Onorato Damen und Internationalist Communist Perspective) positiv, um die Methode des Kampfes und der Bündelung internationaler Kräfte am Leben zu erhalten, die die Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal im September 1915 und April 1916 angesichts des Ersten Weltkriegs initiiert hatten.[3]

Zimmerwald und Kienthal in der Schweiz wurden berühmt als Orte, an denen sich Sozialisten aus zwei verschiedenen Lagern während des Ersten Weltkriegs trafen, um einen internationalen Kampf zur Beendigung der kriegerischen Schlächterei zu beginnen und die patriotischen Führer der sozialdemokratischen Parteien zu entlarven. Auf diesen Konferenzen stellten die Bolschewiki, unterstützt von der Bremer- und Holländischen Linken, die wichtigsten Grundsätze des Internationalismus gegen den imperialistischen Krieg heraus, die bis heute gültig sind: keine Unterstützung für eines der imperialistischen Lager, Ablehnung aller pazifistischen Illusionen und die Erkenntnis, dass nur die Arbeiterklasse und ihr revolutionärer Kampf das System überwinden können, das auf der Ausbeutung der Arbeitskraft beruht und permanent den imperialistischen Krieg produziert. Heute, angesichts der Beschleunigung des imperialistischen Konflikts in Europa, ist es die Pflicht der politischen Organisationen, die auf dem Erbe der Kommunistischen Linken basieren, weiterhin das Banner eines kohärenten proletarischen Internationalismus hochzuhalten und einen Bezugspunkt für diejenigen zu bieten, die die Prinzipien der Arbeiterklasse verteidigen. Dies ist zumindest die Entscheidung jener Organisationen und Gruppen der Kommunistischen Linken, die beschlossen haben, diese gemeinsame Erklärung zu veröffentlichen, um die internationalistischen Prinzipien, die gegen die Barbarei des Krieges geschmiedet wurden, so weit wie möglich zu verbreiten.

Diese Art und Weise, revolutionäre Kräfte um die Grundprinzipien der Kommunistischen Linken zu gruppieren, ist eine historische Lektion für die Zukunft. Zimmerwald gestern, die Gemeinsame Erklärung von heute sind Wegweiser, die den Weg für morgen zeigen.

Die Verantwortung der revolutionären Organisationen

In den vorbereitenden Debatten und auf dem Kongress selbst stand die zentrale Frage des Aufbaus der Organisation im Mittelpunkt. Auch wenn es sich dabei um die zentrale Dimension der Aktivitäten der IKS handelt, geht diese Sorge um die Zukunft weit über unsere Organisation allein hinaus:

"Angesichts des zunehmenden Aufeinandertreffens der beiden alternativen Pole - Zerstörung der Menschheit oder kommunistische Revolution - haben die revolutionären Organisationen der Kommunistischen Linken, und insbesondere die IKS, eine unersetzliche Rolle bei der Entwicklung des Klassenbewusstseins zu spielen und müssen ihre Energien zur permanenten theoretischen Vertiefung und Erarbeitung einer klaren Analyse der Weltlage verwenden. Gleichzeitig müssen sie in die Kämpfe unserer Klasse eingreifen, um die Notwendigkeit der Klassenautonomie, der Selbstorganisation und der Vereinigung sowie der Entwicklung der revolutionären Perspektive zu verteidigen. Diese Arbeit kann nur auf der Grundlage eines geduldigen Aufbaus der revolutionären Organisation durchgeführt werden, der die Grundlage für die Weltpartei der Zukunft schafft. All diese Aufgaben erfordern einen energischen Kampf gegen alle Einflüsse der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideologie auf das Milieu der Kommunistischen Linken und der IKS selbst. Gegenwärtig sind die Gruppen der Kommunistischen Linken mit der Gefahr einer echten Krise konfrontiert. Mit einigen Ausnahmen waren sie nicht in der Lage, zur Verteidigung des Internationalismus angesichts des imperialistischen Krieges in der Ukraine gemeinsam die Stimme zu erheben, und sie sind zunehmend offen für das Eindringen von Opportunismus und Parasitismus. Ein rigoroses Festhalten an der marxistischen Methode und den proletarischen Prinzipien ist die einzige Antwort auf diese Gefahren." (Resolution des 25. Internationalen Kongresses der IKS zur internationalen Lage, Punkt 9)

Damit die Revolution letztendlich möglich ist, muss das Proletariat die Waffe der Partei in den Händen halten. Diesen zukünftigen Aufbau der Partei gilt es bereits heute vorzubereiten. Mit anderen Worten: Eine Minderheit von organisierten Revolutionären trägt die Verantwortung dafür, die bestehenden Organisationen am Leben zu erhalten, den historischen Prinzipien der Arbeiterbewegung und insbesondere der Kommunistischen Linken treu zu bleiben und diese Prinzipien und Positionen an die neue Generation weiterzugeben, die sich nach und nach dem revolutionären Lager anschließen wird.

Konkurrenzdenken, Opportunismus, Zugeständnisse an die bürgerliche Ideologie und Trittbrettfahrerei innerhalb des Proletarischen Politischen Milieus sind allesamt Dolchstöße in den Rücken der Revolution. In der äußerst schwierigen Situation des beschleunigten Zerfalls, der die Menschen verwirrt, zum Jeder-für-sich verleitet und das Vertrauen in die Fähigkeit der Klasse und ihrer Minderheiten, sich zu organisieren und zu vereinigen, untergräbt, ist es die Verantwortung der revolutionären Organisationen, nicht nachzugeben und weiterhin die Prinzipien der Kommunistischen Linken zu verteidigen. Revolutionäre Organisationen stehen vor einer gewaltigen Herausforderung: Sie müssen in der Lage sein, die Erfahrungen weiterzugeben, die die Generation gesammelt hat, welche aus der Welle des Mai 68 hervorgegangen ist.

Seit Ende der 1960er Jahre, also fast sechzig Jahre lang, ist der dekadente Kapitalismus langsam in eine endlose Wirtschaftskrise und zunehmende Barbarei geschlittert. Während das Proletariat von 1968 bis Mitte der 1980er Jahre eine ganze Reihe von Kämpfen führte und insbesondere in der Konfrontation mit den Gewerkschaften große Erfahrungen sammelte, ging der Klassenkampf ab 1985/86 stark zurück und war bis heute fast erloschen. In diesem sehr schwierigen Umfeld schlossen sich nur sehr wenige militante Kräfte den revolutionären Organisationen an. Eine ganze Generation ging unter dem Eindruck der Propaganda vom "Tod des Kommunismus" nach 1989/1990 verloren. Seitdem haben mit der Entwicklung des Zerfalls, die die militante Überzeugung durch die Verstärkung von No Future Denken, Individualismus, Verlust des Vertrauens in das organisierte Kollektiv und in den historischen Kampf der Arbeiterklasse heimtückisch angreift, viele militante Kräfte nach und nach den Kampf aufgegeben und sind verschwunden.

Ja, die Zukunft der Menschheit liegt heute auf einer sehr kleinen Anzahl von Schultern, die über die ganze Welt verstreut sind. Ja, der desolate Zustand des Politischen Proletarischen Milieus, das von Konkurrenzdenken und Opportunismus durchsetzt ist, macht die Erfolgsaussichten der Revolution noch geringer. Und gerade deshalb ist die Rolle der revolutionären Organisationen im Allgemeinen und der IKS im Besonderen noch entscheidender. Der Schlüssel zur Zukunft liegt darin, den neuen Generationen von revolutionären Aktivisten, die langsam heranwachsen, die Lehren aus unserer Geschichte zu vermitteln und Organisationen zu schaffen, die vom revolutionären Geist vergangener Generationen von Militanten erfüllt sind.

IKS, 11. Juni 2023

 

[1] Unser Bericht über den Klassenkampf und die Debatte auf dem Kongress haben erneut die entscheidende Rolle des Proletariats der westlichen Länder hervorgehoben, welches aufgrund seiner Geschichte und Erfahrung die Verantwortung hat, dem Weltproletariat den Weg zur Revolution zu weisen. In unserem Bericht wurde auf unsere Position der "Kritik des schwächsten Gliedes" hingewiesen. Es ist auch dieser Ansatz, der uns die Heterogenität des Proletariats in den verschiedenen Teilen der Welt, die enorme Schwäche des Proletariats in den östlichen Ländern und die Möglichkeit von Konflikten in der Balkanregion vor Augen geführt hat. So gelang es unserem Bericht bereits in diesem Frühjahr, die Lehren aus dem Krieg in der Ukraine zu ziehen und vorherzusagen: "Die Unfähigkeit der Arbeiterklasse dieses Landes, sich dem Krieg und ihrer Rekrutierung zu widersetzen, die die Möglichkeit dieses imperialistischen Gemetzels eröffnet hat, zeigt, in welchem Maße die kapitalistische Barbarei und Fäulnis in immer größeren Teilen der Welt an Boden gewinnt. Nach Afrika, dem Nahen Osten und Zentralasien ist nun auch ein Teil Mitteleuropas von der Gefahr bedroht, langfristig ins imperialistische Chaos zu stürzen. Die Ukraine hat gezeigt, dass es in einigen Satellitenstaaten der ehemaligen UdSSR, in Weißrussland, Moldawien und im ehemaligen Jugoslawien ein Proletariat gibt, das durch jahrzehntelange Ausbeutung durch den Stalinismus im Namen des "Kommunismus", die Last der demokratischen Illusionen und den Nationalismus sehr geschwächt ist, sodass ein Krieg wüten kann. Im Kosovo, in Serbien und in Montenegro nehmen die Spannungen tatsächlich zu."

 

[2] Die Internationalistische Kommunistische Tendenz IKT hat es vorgezogen, sich auf das Abenteuer von No War But The Class War einzulassen. Siehe: No War But The Class War, Ein Komitee das seine Teilnehmer in eine Sackgasse führt https://de.internationalism.org/content/3105/no-war-class-war-ein-komitee-das-seine-teilnehmer-eine-sackgasse-fuehrt [2]

 

[3] Siehe: Gemeinsame Erklärung von Gruppen der Internationalen Kommunistischen Linken zum Krieg in der Ukraine https://de.internationalism.org/content/3043/gemeinsame-erklaerung-von-gruppen-der-internationalen-kommunistischen-linken-zum-krieg [3]

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25. IKS-Kongress

Resolution des 25. Internationalen Kongresses der IKS zur internationalen Lage

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1. Vorwort

Der Text der IKS über die Perspektiven, die sich in den 2020er-Jahren eröffnen[1], begründet, dass die vielfältigen Widersprüche und Krisen des kapitalistischen Weltsystems – ökonomisch, medizinisch, militärisch, ökologisch, sozial – immer mehr zusammenkommen und sich gegenseitig beeinflussen, um eine Art „Strudeleffekt“ zu erzeugen, der die Zerstörung der Menschheit zu einem immer wahrscheinlicheren Ergebnis macht. Diese Schlussfolgerung ist inzwischen so offensichtlich geworden, dass wichtige Teile der herrschenden Klasse ein ähnliches Bild zeichnen. Die Alarmglocken läuteten bereits im UN-Bericht über die Entwicklung der Menschheit 2022[2], aber der im Januar 2023 veröffentlichte „Global Risk Report“ des Weltwirtschaftsforums WEF ist sogar noch deutlicher und spricht von einer „Polykrise“, dem die menschliche Zivilisation gegenübersteht: „Zu Beginn des Jahres 2023 ist die Welt mit einer Reihe von Risiken konfrontiert, die sich sowohl als völlig neu als auch unheimlich vertraut anfühlen. Wir haben eine Rückkehr ‚älterer‘ Risiken erlebt – Inflation, Lebenshaltungskostenkrisen, Handelskriege, Kapitalabflüsse aus den Schwellenländern, weit verbreitete soziale Unruhen, geopolitische Konfrontationen und das Schreckgespenst eines Atomkriegs –, die nur wenige der Wirtschaftsführer und politischen Entscheidungsträger dieser Generation erlebt haben. Hinzu kommen vergleichsweise neue Entwicklungen in der globalen Risikolandschaft, darunter eine nicht mehr tragbare Verschuldung, eine neue Ära niedrigen Wachstums, geringe globale Investitionen und De-Globalisierung, ein Niedergang der menschlichen Entwicklung nach jahrzehntelangen Fortschritten, die rasche und uneingeschränkte Entwicklung von Technologien mit doppeltem Verwendungszweck (zivil und militärisch) sowie der wachsende Druck durch die Auswirkungen des Klimawandels und die Ambitionen in einem immer kleiner werdenden Zeitfenster für den Übergang zu einer 1,5°Celsius-Welt. Zusammengenommen werden diese Faktoren ein einzigartiges, unsicheres und turbulentes Jahrzehnt prägen“.

Das ist die Bourgeoisie, die ehrlich mit sich selbst über die aktuelle globale Situation spricht, auch wenn sie sich über die Möglichkeit, Lösungen innerhalb des bestehenden Systems zu finden, nur Illusionen machen kann. Und sie wird diese Illusionen weiterhin an die Weltbevölkerung verkaufen, unterstützt von jeder Menge politischer Parteien und Protestkampagnen, die radikal klingende Programme anbieten, die niemals die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse in Frage stellen, die zu der drohenden Katastrophe geführt haben.

Für uns als Kommunisten kann es natürlich keine Lösung geben, die nicht die kapitalistischen Verhältnisse abschafft und die Grundlage für eine weltweite kommunistische Gesellschaft schafft. Und das, was das WEF als weiteres „Risiko“ in der kommenden Periode bezeichnet – „weit verbreitete soziale Unruhen“ – beinhaltet, wenn wir den Begriff von all den verschiedenen bürgerlichen oder klassenübergreifenden Bewegungen, die er unter dieser Kategorie einordnet, lösen, den Gegenpol der Alternative, mit der die Menschheit konfrontiert ist: der internationale Klassenkampf, der allein zum Sturz des Kapitals und zur Schaffung des Kommunismus führen kann.

2. Der historische Rahmen

Die Bourgeoisie ist nicht in der Lage, die „Polykrise“ im Rahmen der unlösbaren wirtschaftlichen Widersprüche zu sehen, die sich aus den bestehenden antagonistischen gesellschaftlichen Verhältnissen ergeben, sondern sieht ihre Ursache in der Abstraktion der „menschlichen Tätigkeit“; sie kann sie auch nicht in einen kohärenten historischen Rahmen einordnen. Für die Kommunisten hingegen ist die katastrophale Entwicklung des Weltkapitalismus das Ergebnis eines mehr als ein Jahrhundert andauernden Niedergangs dieser Produktionsweise.

Der Krieg von 1914–18 und die revolutionäre Welle, die er auslöste, veranlassten den Ersten Kongress der Kommunistischen Internationale zu der Aussage, dass der Kapitalismus seine Epoche der „inneren Auflösung“, der „Kriege und Revolutionen“ erreicht habe und vor der Wahl zwischen Sozialismus und einem Abstieg in Barbarei und Chaos stehe. Die Niederlage der ersten revolutionären Versuche des Proletariats bedeutete, dass die Ereignisse der 1920er, 30er und 40er-Jahre (die größte wirtschaftliche Depression in der Geschichte des Kapitalismus, ein noch verheerenderer Weltkrieg, systematischer Völkermord usw.) die Waage in Richtung Barbarei kippen ließen. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestätigte der darauffolgende Konflikt zwischen dem US-amerikanischen und dem russischen Block, dass der dekadente Kapitalismus nun die Fähigkeit hatte, die Menschheit zu zerstören. Doch die Dekadenz des Kapitalismus setzte sich in mehreren Phasen fort: der Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit, die Rückkehr der offenen Krise Ende der 1960er-Jahre, das Wiederaufleben der internationalen Arbeiterklasse nach 1968. Letzteres beendete die Vorherrschaft der Konterrevolution, verhinderte den Drang zu einem neuen Weltkrieg und eröffnete einen neuen historischen Kurs in Richtung Klassenauseinandersetzungen, der das Potenzial für die Wiederbelebung der kommunistischen Perspektive enthielt. Doch die Unfähigkeit der Arbeiterklasse, als Ganzes diese Perspektive zu entwickeln, führte zu einer Pattsituation zwischen den Klassen, die in den 1980er-Jahren immer deutlicher zutage trat. In dieser Periode trat der Kapitalismus in eine qualitativ neue und terminale Phase innerhalb der Dekadenz des Kapitalismus ein, die Phase des Zerfalls. Der spektakulärste Ausdruck davon war der Kollaps der alten imperialistischen Weltordnung in den Jahren 1989–91. Die Tatsache, dass diese Phase durch eine wachsende Tendenz zum Chaos in den internationalen Beziehungen gekennzeichnet war, stellte ein weiteres Hindernis auf dem Weg zum Weltkrieg dar, was die Zukunft der menschlichen Gesellschaft jedoch keineswegs sicherer machte. In unseren 1990 veröffentlichten „Thesen zum Zerfall“ sagten wir voraus, dass der Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft durch eine Kombination aus regionalen Kriegen, ökologischer Zerstörung, Pandemien und sozialem Zusammenbruch auch ohne einen Weltkrieg zwischen den organisierten imperialistischen Blöcken zur Zerstörung der Menschheit führen könnte. Wir sagten auch voraus, dass der Zyklus der Arbeiterkämpfe von 1968–89 zu Ende war und dass die Bedingungen der neuen Phase große Schwierigkeiten für die Arbeiterklasse mit sich bringen würden.

3. Die Beschleunigung des Zerfalls

Die gegenwärtige Situation des Weltkapitalismus bestätigt diese Prognose auf eindrucksvolle Weise. Die 2020er-Jahre begannen mit der Covid-Pandemie, auf die 2022 der Krieg in der Ukraine folgte. Gleichzeitig wurden wir Zeuge zahlreicher Bestätigungen der weltweiten ökologischen Krise (Hitzewellen, Überschwemmungen, Abschmelzen der Polkappen, massive Verschmutzung der Luft und der Ozeane, usw.). Seit 2019 erleben wir auch einen neuen Absturz in die Wirtschaftskrise, da die „Heilmittel“ für die sogenannte Finanzkrise von 2008 alle ihre Grenzen offenbaren. Doch während es der herrschenden Klasse der großen Länder in den vorangegangenen Jahrzehnten gelungen war, die Wirtschaft bis zu einem gewissen Grad vor den Auswirkungen des Zerfalls zu bewahren, erleben wir jetzt diesen „Strudeleffekt“, bei dem all die verschiedenen Ausdrucksformen einer sich zersetzenden Gesellschaft aufeinander einwirken und den Abstieg in die Barbarei beschleunigen. So hat sich die Wirtschaftskrise durch die Pandemie und die Lockdowns, den Ukraine-Krieg und die steigenden Kosten der Umweltkatastrophen spürbar verschärft. Der Krieg in der Ukraine wird inzwischen schwerwiegende Auswirkungen auf ökologischer Ebene und weltweit haben; der Wettbewerb um die schwindenden natürlichen Ressourcen wird die militärischen Rivalitäten weiter verschärfen und soziale Revolten weiter anfachen. In dieser Verkettung von Auswirkungen spielt der imperialistische Krieg, der das Ergebnis bewusster Entscheidungen der herrschenden Klasse ist, eine zentrale Rolle. Aber selbst die Auswirkungen einer „natürlichen“ Katastrophe wie des schrecklichen Erdbebens in der Türkei und in Syrien werden durch die Tatsache, dass sie sich in einer Region ereignet hat, die bereits durch den Krieg zerstört war, erheblich verschlimmert. Und auch die endemische Korruption von Politikern und Unternehmern ist ein weiteres Merkmal des sozialen Verfalls: In der Türkei führte das rücksichtslose Profitstreben der lokalen Bauindustrie zur Missachtung von Sicherheitsstandards, die die Zahl der Todesopfer des Erdbebens erheblich hätten verringern können. Diese Beschleunigung und Wechselwirkung der Phänomene des Zerfalls markiert eine weitere Umwandlung von Quantität in Qualität innerhalb dieser Endphase der Dekadenz und macht deutlicher denn je, dass die weitere Existenz des Kapitalismus zu einer greifbaren Bedrohung für das menschliche Überleben geworden ist.

4. Die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine

Auch der Krieg in der Ukraine hat eine lange „Vorgeschichte“. Er ist der Höhepunkt der wichtigsten Entwicklungen der imperialistischen Spannungen der letzten drei Jahrzehnte, insbesondere:

– Der Zusammenbruch des Blocksystems seit 1945 Ende der 1980er-Jahre und die Entfesselung des „Jeder für sich“ in den imperialistischen Beziehungen, was einen erheblichen Niedergang der globalen Führungsrolle der USA zur Folge hatte.

– Das Auftauchen Chinas in diesem neuen globalen Umfeld des „Jeder für sich“ als wichtigster imperialistischer Herausforderer der USA mit seiner langfristigen Strategie, die weltweiten wirtschaftlichen Grundlagen für seine künftige imperialistische Vorherrschaft zu schaffen. Die Reaktion der USA auf ihren eigenen Niedergang und den Aufstieg Chinas bestand nicht darin, sich aus dem Weltgeschehen zurückzuziehen, im Gegenteil. Die USA haben ihre eigene Offensive gestartet, die darauf abzielt, den Vormarsch Chinas einzuschränken, von Obamas „Schwenk nach Osten“ über Trumps Fokus auf Handelskrieg bis hin zu Bidens direkterem militärischen Ansatz (Provokationen rund um Taiwan, Abschuss chinesischer Spionageballons, die Gründung von AUKUS, die neue US-Basis auf den Philippinen usw.). Ziel dieser Offensive ist es, eine Brandmauer um China zu errichten, die dessen Fähigkeit, sich als Weltmacht zu entwickeln, blockiert.

– Gleichzeitig haben die USA die schrittweise Einkreisung Russlands durch die Erweiterung der NATO weiter vorangetrieben, nicht nur mit dem Ziel, Russland selbst einzudämmen und zu schwächen, sondern vor allem, sein Bündnis mit China zu sabotieren. Die Falle, die Russland in der Ukraine gestellt wurde, war der letzte Zug in diesem Schachspiel, der Moskau keine andere Wahl ließ, als militärisch zurückzuschlagen und es in einen Krieg zu treiben, der das Potenzial hat, es auszubluten und seine Ambitionen als regionale und globale Macht zu untergraben.

Im Schatten dieser globalen imperialistischen Rivalitäten kommt es zu einer Ausweitung und Verschärfung anderer Konfliktbereiche, die ebenfalls mit dem Kampf zwischen den Hauptmächten zusammenhängen, jedoch auf noch chaotischere Weise. Zahlreiche Regionalmächte spielen zunehmend ihr eigenes Spiel, sowohl im Hinblick auf den Ukraine-Krieg als auch auf die Konflikte in ihrer eigenen Region. So agiert die Türkei, Mitglied der NATO, als „Vermittler“ für Putins Russland, indem sie Russland militärische Drohnen für den Einsatz in der Ukraine liefert, während sie im libyschen „Bürgerkrieg“ direkt gegen Russland auftritt. Saudi-Arabien hat sich den USA widersetzt, indem es sich weigerte, die Öllieferungen zu erhöhen und damit die Weltölpreise zu senken; Indien hat sich geweigert, die von den USA angeführten Wirtschaftssanktionen gegen Russland einzuhalten. In der Zwischenzeit hat der Krieg in Syrien, über den in den großen Medien seit dem Einmarsch in der Ukraine kaum noch berichtet wird, seine Verwüstungen fortgesetzt, wobei die Türkei, der Iran und Israel mehr oder weniger direkt in das Gemetzel verwickelt sind. Jemen ist ein blutiges Schlachtfeld zwischen Iran und Saudi-Arabien geblieben; der Regierungsantritt einer rechtsextremen Regierung in Israel gießt Öl ins Feuer des Konflikts mit der PLO, der Hamas und dem Iran. Im Anschluss an ein neues Gipfeltreffen zwischen den USA und Afrika hat Washington eine Reihe wirtschaftlicher Maßnahmen angekündigt, die ausdrücklich darauf abzielen, dem wachsenden Engagement Russlands und Chinas auf dem afrikanischen Kontinent entgegenzuwirken. Afrika leidet unter den Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf die Lebensmittelversorgung und unter einem ganzen Mosaik regionaler Kriege und Spannungen (Äthiopien-Tigray, Sudan, Libyen, Ruanda-Kongo usw.), die allen regionalen und globalen imperialistischen Geiern Tür und Tor öffnen. Im Fernen Osten rasselt Nordkorea, eines der wenigen Länder, die Russland direkt mit Waffen beliefern, mit dem Säbel gegenüber Südkorea (insbesondere durch neue Raketenstarts, die auch eine Provokation gegenüber Japan darstellen). Und hinter Nordkorea steht China, das auf die zunehmende Einkreisung der USA reagiert.

Ein weiteres Kriegsziel der USA in der Ukraine – ein klarer Bruch mit Trumps Bemühungen, das NATO-Bündnis zu untergraben – besteht darin, die unabhängigen Ambitionen ihrer europäischen „Verbündeten“ zu zügeln und sie zu zwingen, die US-Sanktionen gegen Russland zu befolgen und die Ukraine weiter aufzurüsten. Diese Politik, die darauf abzielt, das NATO-Bündnis zusammenzuhalten, hatte einen gewissen Erfolg, wobei Großbritannien der eifrigste Unterstützer der ukrainischen Kriegsanstrengungen war. Die Wiederherstellung eines echten, von den USA kontrollierten Blocks liegt jedoch in weiter Ferne. Frankreich und Deutschland – wobei letzteres angesichts seiner Abhängigkeit von russischen Energielieferungen am meisten zu verlieren hat, wenn es seine traditionelle „Ostpolitik“ aufgibt – sind nach wie vor inkonsequent, was die Lieferung der von Kiew geforderten Waffen angeht, und haben ihre eigenen diplomatischen „Initiativen“ gegenüber Russland und China fortgesetzt. In der Zwischenzeit hat China eine sehr vorsichtige Haltung gegenüber dem Krieg in der Ukraine eingenommen, indem es vor kurzem seinen eigenen „Friedensplan“ vorstellte und sich nicht bereit erklärte, Moskau die „tödliche Hilfe“ zu liefern, die es so dringend fordert.

Die Gesamtlage – selbst wenn man die Frage der dafür erforderlichen Mobilisierung des Proletariats in den zentralen Ländern außer Acht lässt – bestätigt also die Auffassung, dass wir uns nicht auf die Bildung stabiler imperialistischer Blöcke zubewegen. Das mindert aber keineswegs die Gefahr einer unkontrollierten militärischen Eskalation, einschließlich des Einsatzes von Atomwaffen. Seit George Bush Senior nach dem Zusammenbruch der UdSSR 1989 eine „neue Weltordnung“ verkündet hat, sind die USA mit ihren Versuchen, diese „Ordnung“ durchzusetzen, zur bedeutendsten Kraft geworden, die Unordnung und Instabilität in der Welt verstärkt. Diese Dynamik wurde durch das alptraumhafte Chaos, das in Afghanistan und im Irak nach den US-Invasionen in diese Länder weiterhin herrscht, deutlich veranschaulicht, aber der gleiche Prozess ist auch im Ukraine-Konflikt am Werk. Russland an die Wand zu drücken, birgt also die Gefahr einer verzweifelten Reaktion des Moskauer Regimes, einschließlich des Einsatzes von Atomwaffen; andererseits könnte ein Zusammenbruch des Regimes den Zerfall Russlands selbst auslösen, wodurch eine neue Chaoszone mit höchst unvorhersehbaren Folgen entstehen würde. Die Irrationalität des Krieges in der Dekadenz des Kapitalismus lässt sich nicht nur an seinen gigantischen wirtschaftlichen Kosten messen, die alle Möglichkeiten für kurzfristige Gewinne oder Wiederaufbaumaßnahmen bei weitem übersteigen, sondern auch am rasanten Zusammenbruch der militärisch-strategischen Ziele, die in der Periode der kapitalistischen Dekadenz die wirtschaftliche Rationalität des Krieges mehr und mehr verdrängt haben. Nach dem ersten Golfkrieg haben wir in unserem Orientierungstext „Militarismus und Zerfall“ (Internationale Revue Nr. 13, 1991) das folgende Szenario für die imperialistischen Beziehungen in der Phase des Zerfalls vorausgesagt:

„In der neuen historischen Epoche, in die wir eingetreten sind und die von den Ereignissen am Persischen Golf bestätigt wird, zeigt sich die Welt als ein riesiger Hexenkessel, in dem die Tendenz zum „Jeder für sich“ voll zum Tragen kommt und in dem die zwischenstaatlichen Allianzen weit entfernt von jener Stabilität sind, die die Blöcke auszeichnen, sondern von den Bedürfnissen des Moments diktiert sind. Eine Welt in tödlicher Unordnung, in blutigem Chaos, in dem der amerikanische Gendarm für ein Minimum an Ordnung durch den immer massiveren und brutaleren Einsatz seiner Militärmacht zu sorgen versucht.“[3]

Wie die Invasionen in Afghanistan und im Irak Anfang der 2000er-Jahre gezeigt haben, hat die zunehmende Abhängigkeit der USA von ihrer Militärmacht deutlich gezeigt, dass die „imperialistische Politik der USA weit davon entfernt ist, dieses Minimum an Ordnung zu erreichen, und dass sie zu einem der Hauptfaktoren für die weltweite Instabilität geworden ist.“ (Resolution zur internationalen Lage, 17. IKS-Kongress, Internationale Revue Nr. 40, 2007)[4] , und die Ergebnisse der Offensive der USA gegen Russland haben noch deutlicher gemacht, dass der „Weltpolizist“ zum Hauptfaktor für die Verschärfung des Chaos auf globaler Ebene geworden ist.

5. Die Wirtschaftskrise

Der Krieg in der Ukraine ist ein weiterer Schlag für eine kapitalistische Wirtschaft, die bereits durch ihre inneren Widersprüche und durch die aus ihrem Zerfall resultierenden Erschütterungen geschwächt und untergraben ist. Die kapitalistische Wirtschaft befand sich bereits inmitten eines Abschwungs, der durch die Entwicklung der Inflation, den zunehmenden Druck auf die Währungen der Großmächte und die wachsende finanzielle Instabilität (die sich im Platzen der Immobilienblasen in China sowie in den Kryptowährungen und der Technologie widerspiegelt) gekennzeichnet war. Der Krieg verschärft nun die Wirtschaftskrise auf allen Ebenen. Der Krieg bedeutet die wirtschaftliche Vernichtung der Ukraine, die starke Schwächung der russischen Wirtschaft durch die immensen Kosten des Krieges und die Auswirkungen der von den westlichen Mächten verhängten Sanktionen. Die Schockwellen des Krieges sind in der ganzen Welt zu spüren und führen zu einer Nahrungsmittelkrise und Hungersnöten, da die Preise für Grundnahrungsmittel in die Höhe schnellen und Getreide knapp wird.

Die greifbarste Folge des Krieges in der Welt ist die Explosion der Militärausgaben, die auf über 2000 Milliarden Dollar angestiegen sind. Alle Staaten der Welt befinden sich in einer Aufrüstungsspirale. Mehr denn je werden die Volkswirtschaften den Erfordernissen des Krieges unterworfen und der Anteil des nationalen Reichtums, der für die Produktion von Zerstörungsinstrumenten aufgewendet wird, steigt. Das Krebsgeschwür des Militarismus bedeutet die Sterilisierung des Kapitals und stellt eine erdrückende Belastung für den Handel und die Volkswirtschaft dar, was dazu führt, dass von den Ausgebeuteten immer größere Opfer verlangt werden.

Gleichzeitig haben sich die schwersten Finanzkonvulsionen seit der Krise von 2008, die aus einer Reihe von Bankenpleiten in den USA (darunter die sechzehnt-größte Bank der USA) und dann der Credit Suisse (die zweitgrößte Bank des Landes) hervorgegangen ist, auf internationaler Ebene ausgebreitet, während die massiven Interventionen der US-amerikanischen und der schweizerischen Zentralbank die Ansteckungsgefahr für andere Länder in Europa und andere risikoreiche Sektoren nicht bannen oder verhindern konnten, dass sich diese Pleiten zu einer “systemischen“ Kreditkrise ausweiten.

Anders als im Jahr 2008, als der Zusammenbruch großer Banken durch ihr Engagement in Subprime-Hypotheken verursacht wurde, sind die Banken diesmal vor allem durch ihre langfristigen Investitionen in Staatsanleihen geschwächt, die durch den plötzlichen Anstieg der Zinssätze zur Bekämpfung der Inflation an Wert verlieren. Die derzeitige finanzielle Instabilität ist zwar (noch) nicht so dramatisch wie im Jahr 2008, trifft aber den Kern des Finanzsystems, da der Rückgriff auf Staatsanleihen – insbesondere durch das US-Finanzministerium im Zentrum dieses Systems – immer als der sicherste Hafen galt.

Auf jeden Fall sind Finanzkrisen, unabhängig von ihrer inneren Dynamik und ihren unmittelbaren Ursachen, letztlich immer eine Manifestation der Überproduktionskrise, die 1967 wieder auftrat und durch Faktoren im Zusammenhang mit dem Zerfall des Kapitalismus noch verschärft wurde.

Der Krieg offenbart vor allem den Triumph des Kampfes des „Jeder für sich“ und das Scheitern, ja sogar das Ende jeglicher „Global Governance“ auf der Ebene der Koordinierung der Volkswirtschaften, der Lösung der Klimaprobleme, usw. Diese Tendenz des „Jeder für sich“ in den Beziehungen zwischen den Staaten hat sich seit der Krise von 2008 immer weiter verstärkt, und der Krieg in der Ukraine hat viele der wirtschaftlichen Tendenzen, die seit den 1990er-Jahren unter dem Begriff „Globalisierung“ zusammengefasst werden, zum Stillstand gebracht.

Nicht nur, dass die Fähigkeit der wichtigsten kapitalistischen Mächte zur Zusammenarbeit, um die Auswirkungen der Wirtschaftskrise einzudämmen, mehr oder weniger verschwunden ist, sondern die USA haben angesichts der Verschlechterung ihrer Wirtschaft und der Verschärfung der globalen Krise und um ihre Position als führende Weltmacht zu bewahren, zunehmend bewusst versucht, ihre Konkurrenten zu schwächen. Dies ist ein offener Bruch mit einem großen Teil der Regeln, die sich die Staaten seit der Krise von 1929 gegeben haben. Er öffnet den Weg in eine Ungewissheit, die mehr und mehr von Chaos und unvorhersehbaren Folgen beherrscht wird.

In der Überzeugung, dass die Wahrung ihrer Führungsposition gegenüber dem Aufstieg Chinas in hohem Maße von ihrer Wirtschaftsmacht abhängt, die durch den Krieg politisch und militärisch gestärkt wurde, gehen die USA auch auf wirtschaftlicher Ebene gegen ihre Rivalen in die Offensive. Diese Offensive geht in mehrere Richtungen. Die USA sind der große Gewinner des gegen Russland geführten „Gaskriegs“ zum Nachteil der europäischen Staaten, die gezwungen sind, die russischen Gasimporte einzustellen. Nachdem die USA dank der unter Obama eingeleiteten langfristigen Energiepolitik die Selbstversorgung mit Öl und Gas erreicht haben, hat der Krieg die Vormachtstellung der USA im strategischen Bereich der Energie bestätigt. Die USA haben ihre Rivalen auf dieser Ebene in die Defensive gedrängt: Europa musste sich mit seiner Abhängigkeit von amerikanischem Flüssigerdgas abfinden. China, das in hohem Maße von importierten Kohlenwasserstoffen abhängig ist, wurde dadurch geschwächt, dass die USA nun in der Lage sind, Chinas Versorgungswege zu kontrollieren. Die USA verfügen nun über eine noch nie dagewesene Fähigkeit, auf dieser Ebene Druck auf den Rest der Welt auszuüben.

Die verschiedenen geldpolitischen, finanziellen und industriellen Initiativen (von Trumps Konjunkturprogrammen bis hin zu Bidens massiven Subventionen für Produkte „Made in the USA“, dem Inflation Reduction Act, usw.) haben die „Widerstandsfähigkeit“ der US-Wirtschaft erhöht, was Kapitalinvestitionen und Industrieverlagerungen auf amerikanisches Territorium anlockt. Die USA begrenzen die Auswirkungen der derzeitigen weltweiten Konjunkturabschwächung auf ihre Wirtschaft und schieben die schlimmsten Auswirkungen von Inflation und Rezession auf den Rest der Welt ab.

Um ihren entscheidenden technologischen Vorsprung zu sichern, streben die USA außerdem die Verlagerung strategischer Technologien (Halbleiter) in die USA bzw. die internationale Kontrolle über diese Technologien an, von denen sie China ausschließen wollen, während sie gleichzeitig mit Sanktionen gegen jeden Konkurrenten um ihr Monopol drohen.

Das Bestreben der USA, ihre wirtschaftliche Macht zu erhalten, hat zur Folge, dass das kapitalistische System insgesamt geschwächt wird. Der Ausschluss Russlands vom internationalen Handel, die Offensive gegen China und die Abkopplung der beiden Volkswirtschaften, kurzum der erklärte Wille der USA, die Weltwirtschaftsbeziehungen zu ihren Gunsten umzugestalten, markiert einen Wendepunkt: Die USA erweisen sich als Faktor der Destabilisierung des Weltkapitalismus und der Ausweitung des Chaos auf wirtschaftlicher Ebene.

Europa wurde durch den Krieg, der es seiner wichtigsten Stärke, nämlich seiner Stabilität, beraubt hat, besonders hart getroffen. Das Kapital Europas leidet unter der beispiellosen Destabilisierung seines „Wirtschaftsmodells“ und läuft Gefahr, infolge des Drucks des „Gaskriegs“ und des amerikanischen Protektionismus in einen Prozess der Deindustrialisierung und der Rückverlagerung von Produktionsstätten in den amerikanischen oder asiatischen Raum zu geraten.

Vor allem in Deutschland konzentrieren sich alle Widersprüche dieser beispiellosen Situation explosionsartig. Das Ende der russischen Gaslieferungen bringt Deutschland in eine Situation wirtschaftlicher und strategischer Fragilität, die seinen Wettbewerbsvorteil und seine gesamte Industrie bedroht. Das Ende des Multilateralismus, von dem das deutsche Kapital mehr als jede andere Nation profitiert hat (und der es auch von der Last der Militärausgaben befreit hat), wirkt sich direkter auf seine vom Export abhängige Wirtschaftskraft aus. Es läuft auch Gefahr, bei der Energieversorgung von den USA abhängig zu werden, während letztere ihre „Verbündeten“ dazu drängen, sich dem wirtschaftlichen/strategischen Krieg gegen China anzuschließen und auf ihre chinesischen Märkte zu verzichten. Da China ein so wichtiger Absatzmarkt für das deutsche Kapital ist, stellt dies Deutschland vor ein großes Dilemma, das von anderen europäischen Mächten in einer Zeit geteilt wird, in der die EU selbst von der Tendenz ihrer Mitgliedstaaten bedroht ist, ihre nationalen Interessen über die der Union zu stellen.

China, das vor zwei Jahren noch als der große Gewinner der Covid-Krise dargestellt wurde, ist eine der charakteristischsten Ausprägungen des Strudeleffekts. Das Land, das bereits unter einer wirtschaftlichen Verlangsamung leidet, steht nun vor großen Turbulenzen.

Seit Ende 2019 lähmen die Pandemie, die wiederholten Schließungen und die Flut von Infektionen, die auf die Abkehr von der „Null-Covid“-Politik folgten, die chinesische Wirtschaft.

China ist in die globale Krisendynamik verwickelt, sein Finanzsystem ist durch das Platzen der Immobilienblase bedroht. Der Niedergang des russischen Partners und die Unterbrechung der „Seidenstraßen“ nach Europa durch bewaffnete Konflikte oder das herrschende Chaos richten erheblichen Schaden an. Der starke Druck der USA verschärft die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes weiter. Und angesichts der wirtschaftlichen, gesundheitlichen, ökologischen und sozialen Probleme stellt die angeborene Schwäche der stalinistischen Staatsstruktur ein großes Handicap dar. China ist weit davon entfernt, die Rolle einer Lokomotive der Weltwirtschaft spielen zu können, es stellt eine tickende Zeitbombe dar, deren Destabilisierung unvorhersehbare Folgen für den Weltkapitalismus hat.

Die wichtigsten Zonen der Weltwirtschaft befinden sich bereits in einer Rezession oder stehen kurz davor, in eine solche abzurutschen. Die Schwere der „Krise, die sich seit Jahrzehnten abzeichnet und die sich zur schwersten Krise der gesamten Dekadenzperiode entwickeln wird, deren historische Bedeutung sogar die größte Krise dieser Epoche, die von 1929, übertreffen wird „, beschränkt sich jedoch nicht auf das Ausmaß dieser Rezession. Die historische Schwere der gegenwärtigen Krise markiert einen fortgeschrittenen Punkt im Prozess der „inneren Zersetzung“ des Weltkapitalismus, der von der Kommunistischen Internationale 1919 angekündigt wurde und der sich aus dem allgemeinen Kontext der Endphase der Dekadenz ergibt, deren Haupttendenzen folgende sind:

– Die Beschleunigung des Zerfalls und die vielschichtigen Auswirkungen seiner Folgen auf eine kapitalistische Wirtschaft, deren Zustand sich bereits verschlechterte;

– die Beschleunigung des Militarismus im Weltmaßstab,

– die akute Entwicklung des „Jeder für sich“ zwischen den Nationen vor dem Hintergrund eines immer schärferen Wettbewerbs zwischen China und den USA um die Weltherrschaft,

– die Abkehr von den Regeln der Zusammenarbeit zwischen den Nationen, um den Widersprüchen und Erschütterungen des Systems zu begegnen,

– das Fehlen einer Lokomotive, die die kapitalistische Wirtschaft wieder anschieben kann,

– die Perspektive der absoluten Verarmung des Proletariats in den zentralen Ländern, die bereits im Gange ist.

Wir beobachten das Zusammentreffen verschiedener Ausdrucksformen der Wirtschaftskrise, und vor allem ihrer Wechselwirkung in der Dynamik ihrer Entwicklung: So erfordert die hohe Inflation eine Anhebung der Zinssätze; dies wiederum provoziert eine Rezession, die ihrerseits eine Quelle der Finanzkrise ist und zu neuen Liquiditätsspritzen und damit zu einer noch höheren Verschuldung führt, die bereits astronomisch ist und einen weiteren Faktor der Inflation darstellt.... All dies zeigt den Bankrott dieses Systems und seine Unfähigkeit, der Menschheit eine Perspektive zu bieten.

Die Weltwirtschaft steuert auf eine Stagflation zu, eine Situation, die durch die Auswirkungen der Überproduktion und die Entfesselung der Inflation infolge des Anstiegs der unproduktiven Ausgaben (in erster Linie Rüstungsausgaben, aber auch die exorbitanten Kosten für die Folgen des Zerfalls) und des Rückgriffs auf das Drucken von Geld gekennzeichnet ist, was die Verschuldung weiter anheizt. Vor dem Hintergrund des zunehmenden Chaos und der unvorhergesehenen Beschleunigungen offenbart die Bourgeoisie nicht nur ihre Ohnmacht, sondern alles was sie tut verschlimmert die Situation noch.

Für das Proletariat bedeuten der Inflationsschub und die Weigerung der Bourgeoisie die „Lohn-Preis-Spirale“ zu bremsen, einen drastischen Rückgang der Kaufkraft. Hinzu kommen die massiven Entlassungen, die brutalen Kürzungen der Sozialbudgets und die Angriffe auf die Renten, die für uns eine Zukunft in Armut mit sich bringen werden, wie sie in den Ländern der Peripherie bereits Realität ist. Für immer breitere Schichten des Proletariats in den zentralen Ländern wird es zunehmend schwieriger werden, eine Wohnung, eine Heizung, Lebensmittel oder Sozialleistungen zu erhalten.

Die Bourgeoisie ist mit einem massiven Arbeitskräftemangel in einer Reihe von Sektoren konfrontiert. Dieses Phänomen, das in seinem Ausmaß und seinen Auswirkungen auf die Produktion etwas Neues ist, scheint das Ergebnis einer Reihe von Faktoren zu sein, die die inneren Widersprüche des Kapitalismus und die Auswirkungen des Zerfalls zusammenführen. Es ist gleichzeitig das Produkt der Unkontrolliertheit des Kapitalismus, die sowohl Überkapazitäten – Arbeitslosigkeit – als auch Arbeitskräftemangel erzeugt. Weitere Faktoren dieses Phänomens sind die Globalisierung und die zunehmende Zersplitterung des Weltmarktes, die die internationale Verfügbarkeit von Arbeitskräften erschweren; demografische Faktoren wie sinkende Geburtenraten und die Überalterung der Bevölkerung, die die Zahl der für die Ausbeutung verfügbaren Arbeitskräfte einschränken, sowie der relative Mangel an ausreichend qualifizierten Arbeitskräften, dies trotz der selektiven Einwanderungspolitik zahlreicher Staaten. Hinzu kommt die Abwanderung von Lohnabhängigen aus Branchen, in denen die Arbeitsbedingungen unerträglich geworden sind.

6. Die Zerstörung der Natur

Der Krieg in der Ukraine ist auch ein deutliches Beispiel dafür, wie ein Krieg die ökologische Krise weiter beschleunigen kann, die sich während der gesamten Periode der Dekadenz aufgebaut hat, aber bereits in den ersten Jahrzehnten der Endphase des Kapitalismus ein neues Niveau erreicht hatte. Die Zerstörung von Gebäuden, Infrastruktur, Technologie und anderen Ressourcen stellt eine enorme Energieverschwendung dar, und ihr Wiederaufbau wird noch mehr Kohlenstoffemissionen verursachen. Der allumfassende Einsatz hochgradig zerstörerischer Waffen führt zur Verschmutzung von Boden, Wasser und Luft, wobei die ständige Gefahr besteht, dass die gesamte Region erneut zu einer Quelle atomarer Strahlung wird, sei es durch die Bombardierung von Kernkraftwerken oder durch den gezielten Einsatz von Atomwaffen. Aber auch auf globaler Ebene hat der Krieg ökologische Auswirkungen, da er das Erreichen der globalen Ziele zur Begrenzung der Emissionen in noch weitere Ferne rücken lässt, da jedes Land mehr auf seine „Energiesicherheit“ bedacht ist, was im Allgemeinen eine weitere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen bedeutet.

So wie die ökologische Krise ein Faktor des Strudeleffekts ist, erzeugt sie auch ihre eigenen „Rückkopplungsschleifen“, die den Prozess der globalen Erwärmung bereits beschleunigen. So birgt das Schmelzen der Polkappen nicht nur die Gefahr eines steigenden Meeresspiegels in sich, sondern wird selbst zu einem Faktor des globalen Temperaturanstiegs, da der Verlust des Eises eine geringere Fähigkeit mit sich bringt, die Sonnenenergie zurück in die Atmosphäre zu reflektieren. Ebenso wird durch das Abschmelzen des Dauerfrostbodens in Sibirien ein riesiger Vorrat an dem starken Treibhausgas Methan freigesetzt. Die sich verschlimmernden und kombinierten Auswirkungen der globalen Erwärmung (Überschwemmungen, Waldbrände, Dürre, Bodenerosion usw.) machen bereits jetzt immer mehr Teile des Planeten unbewohnbar und verschärfen das globale Flüchtlingsproblem, das durch die Fortdauer und Ausweitung imperialistischer Konflikte bereits angeheizt wird.

Wie Marx und Rosa Luxemburg erklärten, hat das unerbittliche Streben nach Märkten und Rohstoffen den Kapitalismus dazu getrieben, in den gesamten Planeten einzudringen und ihn zu ‚besetzen‘ und die verbleibenden „wilden“ Gebiete zu zerstören oder dem Gesetz des Profits zu unterwerfen. Dieser Prozess ist untrennbar mit der Entstehung von Zoonose-Krankheiten wie Covid verbunden und legt damit die Grundlage für künftige Pandemien.

Die herrschende Klasse ist sich der Gefahren, die von der ökologischen Krise ausgehen, zunehmend bewusst, vor allem, weil all dies mit enormen wirtschaftlichen Kosten verbunden ist. Aber die jüngsten Umweltkonferenzen haben die grundsätzliche Unfähigkeit der herrschenden Klasse, mit der Situation umzugehen, bestätigt, da der Kapitalismus ohne die Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten und die Anforderungen des „Wachstums“ nicht existieren kann. Ein Teil der Bourgeoisie, wie z.B. ein beträchtlicher Flügel der Republikanischen Partei in den USA, deren Ideologie von der für die Zerfallsphase des Kapitalismus typischen tiefgreifenden Irrationalität getragen wird, leugnet weiterhin die Klimawissenschaft, aber wie die Berichte des WEF und der UNO zeigen, sind sich die intelligenteren Fraktionen des Ernstes der Lage durchaus bewusst. Aber die angeblichen Lösungen, die sie anbieten, können nie an der Wurzel des Problems ansetzen und stützen sich auf technische Lösungen, die genauso giftig sind wie die bestehende Technologie (wie im Fall der „sauberen“ Elektrofahrzeuge, deren Lithiumbatterien auf riesigen und hochgradig umweltschädlichen Bergbauprojekten beruhen) oder weitere Angriffe auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse bedeuten. So ist die Idee einer „Postwachstums“-Wirtschaft, in der ein „wohlwollender“ und „wahrhaft demokratischer“ Staat über alle grundlegenden Verhältnisse des Kapitalismus (Lohnarbeit, verallgemeinerte Warenproduktion) waltet, nicht nur eine logische Absurdität – da gerade diese Verhältnisse die Notwendigkeit einer endlosen Akkumulation begründen –, sondern würde auch heftige Sparmaßnahmen nach sich ziehen, die mit dem Slogan „weniger konsumieren“ gerechtfertigt werden. Und während der radikalere Flügel der „grünen“ Bewegungen (Fridays for Future, Extinction Rebellion usw.) zunehmend das Geschwätz der Umweltkonferenzen der Regierungen kritisiert, können ihre Aufrufe zu direktem Handeln durch besorgte „Bürger“ nur die Notwendigkeit verschleiern, dass die Arbeiterklasse dieses System auf ihrem eigenen Klassenterrain bekämpfen und erkennen muss, dass ein wirklicher „Systemwechsel“ nur durch die proletarische Revolution zustande kommen kann. Da die Umweltkatastrophen immer schneller aufeinander folgen, wird die Bourgeoisie solche Formen des Protests mit Sicherheit als falsche Alternativen zum Klassenkampf nutzen, der allein die Perspektive einer radikal neuen Beziehung zwischen der Menschheit und ihrer natürlichen Umwelt entwickeln kann.

7. Politische Instabilität der herrschenden Klasse

1990 wiesen unsere „Thesen zum Zerfall“ auf die wachsende Tendenz der herrschenden Klasse hin, die Kontrolle über ihr politisches Spiel zu verlieren. Der Aufstieg des Populismus, der durch die völlige Perspektivlosigkeit des Kapitalismus und die Entwicklung des „Jeder für sich“ auf internationaler Ebene genährt wird, ist wahrscheinlich der deutlichste Ausdruck dieses Kontrollverlusts. Diese Tendenz hat sich trotz der Gegenbewegungen anderer, „verantwortungsbewussterer“ Fraktionen der Bourgeoisie fortgesetzt (z.B. die Ablösung von Trump und die rasche Absetzung von Truss in Großbritannien). In den USA bereitet Trump immer noch eine neue Präsidentschaftskandidatur vor, die im Falle eines Erfolgs die gegenwärtige außenpolitische Ausrichtung der US-Regierung ernsthaft untergraben würde; in Großbritannien, dem klassischen Land der stabilen parlamentarischen Regierung, haben wir eine Reihe von vier aufeinanderfolgenden Tory-Premierministern erlebt, die Ausdruck tiefer Spaltungen in der Tory-Partei als Ganzes sind und wiederum hauptsächlich von den populistischen Kräften angetrieben werden, die das Land in das Fiasko des Brexit getrieben haben. Abseits der historischen Zentren des kapitalistischen Systems agieren nationalistische Demagogen wie Erdogan und Modi weiterhin als Außenseiter und verhindern die Bildung einer soliden Allianz hinter den USA in ihrem Konflikt mit Russland. In Israel ist Netanjahu ebenfalls aus seinem scheinbaren politischen Grab auferstanden, unterstützt von ultrareligiösen, offen für weitere Annexionen eintretenden Kräften, und seine Bemühungen, den Obersten Gerichtshof seiner Regierung unterzuordnen, haben eine riesige Protestbewegung ausgelöst, die ganz von Aufrufen zur Verteidigung der „Demokratie“ beherrscht wird.

Der Sturm von Trump-Anhängern auf das Kapitol am 6. Januar 2020 hatte deutlich gemacht, dass sich die Spaltungen innerhalb der herrschenden Klasse selbst im mächtigsten Land der Welt immer mehr verfestigen und das Potenzial haben, in gewaltsame Auseinandersetzungen und sogar Bürgerkriege auszuarten. Nach der Wahl von Lula in Brasilien versuchten die Kräfte hinter Bolsonaro ihre eigene Version des 6. Januar 2020. In Russland gibt es immer mehr Anzeichen für eine Opposition gegen Putin innerhalb der herrschenden Klasse, vielleicht am deutlichsten bei ultra-nationalistischen Gruppen, die mit dem Verlauf der derzeitigen „militärischen Sonderoperation“ in der Ukraine nicht zufrieden sind. Gerüchte über Militärputsche machen die Runde; und während Putin selbst sich derzeit dem Druck von rechts durch ständige Drohungen, den „Krieg mit dem Westen“ zu eskalieren, anpasst, wäre eine Ablösung Putins durch eine rivalisierende Bande alles andere als ein friedlicher Prozess. Schließlich treten auch in China die Spaltungen innerhalb der Bourgeoisie immer deutlicher zutage, insbesondere zwischen der Fraktion um Xi Jinping, die für eine verstärkte zentralstaatliche Kontrolle der gesamten Wirtschaft und eine energisch nationalistische Außenpolitik eintritt, und den Rivalen, die sich stärker für die Möglichkeiten der Entwicklung von Privatkapital und ausländischen Investitionen einsetzen. Obwohl noch auf dem Parteitag im Oktober 2022 die Herrschaft der Xi-Fraktion unangreifbar schien, haben ihr katastrophaler Umgang mit der Covid-Krise, die sich verschärfende Wirtschaftskrise und die durch den Ukraine-Krieg entstandenen schwerwiegenden Dilemmata die wahren Schwächen der chinesischen herrschenden Klasse offenbart, die durch einen starren stalinistischen Apparat belastet wird, dem die Mittel zur Anpassung an die großen sozialen und wirtschaftlichen Probleme fehlen.

Diese Spaltungen setzen jedoch der Fähigkeit der herrschenden Klasse die Auswirkungen des Zerfalls gegen die Arbeiterklasse zu wenden, oder angesichts eines zunehmenden Klassenkampfes ihre Spaltungen vorübergehend beiseite zu schieben, um ihrem historischen Todfeind entgegenzutreten, kein Ende. Und selbst wenn die Bourgeoisie nicht in der Lage ist, ihre internen Spaltungen zu kontrollieren, ist die Arbeiterklasse ständig von der Gefahr bedroht, hinter rivalisierenden Fraktionen ihres Klassenfeindes mobilisiert zu werden.

8. Der Bruch mit 30 Jahren Rückfluss und Desorientierung

Die Wiederbelebung der Kampfbereitschaft der Arbeiter in einer Reihe von Ländern ist ein bedeutendes historisches Ereignis, das nicht nur auf lokale Umstände zurückzuführen ist und sich nicht durch rein nationale Bedingungen erklären lässt. Die Kämpfe, die seit dem Sommer 2022 in Großbritannien stattfinden, haben eine Bedeutung, die über den britischen Kontext hinausgeht. Die Reaktion der britischen Arbeiter und Arbeiterinnen wirft ein Licht auf die Kämpfe in anderen Ländern und verleiht ihnen eine neue und besondere Bedeutung. Die Tatsache, dass die gegenwärtigen Kämpfe von einem Teil des Proletariats initiiert wurden, der am meisten unter dem allgemeinen Rückzug des Klassenkampfes seit Ende der 80er-Jahre gelitten hat, ist von großer Bedeutung: So wie die Niederlage in Großbritannien 1985 den allgemeinen Rückzug Ende der 80er-Jahre ankündigte, offenbart die Rückkehr der Streiks und der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse in Großbritannien die Existenz einer tiefen Dynamik innerhalb des Proletariats der ganzen Welt. Angesichts der Verschärfung der Weltwirtschaftskrise beginnt die Arbeiterklasse, ihre Antwort auf die unaufhaltsame Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in derselben internationalen Bewegung zu entwickeln. Diese Analyse gilt auch für die drei Monate andauernden Massenmobilisierungen der Arbeiterklasse in Frankreich angesichts des Angriffs der Regierung auf die Renten. Seit Jahrzehnten gehört die Arbeiterklasse in diesem Land zu den kämpferischsten der Welt, aber ihre Mobilisierungen Anfang 2023 sind nicht einfach eine Fortsetzung der großen Kämpfe der vorangegangenen Periode. Das Ausmaß dieser Mobilisierungen erklärt sich auch und grundlegend dadurch, dass sie Teil einer Kampfbereitschaft sind, die das Proletariat heute in vielen Ländern hervorbringt.

Die gegenwärtigen Arbeiterkämpfe in Europa bestätigen, dass die Klasse nicht besiegt ist und ihr Potenzial bewahrt. Die Tatsache, dass die Gewerkschaften diese Bewegungen kontrollieren, ohne dabei in Frage gestellt zu werden, schmälert oder relativiert deren Bedeutung nicht. Im Gegenteil, die Haltung der herrschenden Klasse, die seit langem auf eine Wiederbelebung der Arbeiterkämpfe vorbereitet ist, zeugt von deren Potenzial: Die Gewerkschaften waren von vornherein darauf ausgerichtet, eine „kämpferische“ Haltung einzunehmen und sich an die Spitze der Bewegung zu stellen, um ihre Rolle als Hüter der kapitalistischen Ordnung voll zu spielen.

Das Ausmaß und die Gleichzeitigkeit dieser Bewegungen, die von einer neuen Generation von Arbeitern und Arbeiterinnen getragen werden, zeugen von einem Stimmungswandel in der Klasse und stellen einen Bruch mit der Passivität und Orientierungslosigkeit dar, die seit Ende der 80er-Jahre bis heute vorherrschte.

Angesichts der Bewährungsprobe des Krieges in der Ukraine war eine direkte Reaktion der Arbeiterklasse nicht zu erwarten. Die Geschichte zeigt, dass sich die Arbeiterklasse nicht direkt gegen den Krieg mobilisiert, sondern gegen seine Auswirkungen auf das Leben „an der Front in der Heimat“. Die Abwesenheit an pazifistischen Mobilisierungen – die von der Bourgeoisie organisiert werden – bedeutet nicht, dass das Proletariat am Krieg festhält, aber es zeigt die Wirksamkeit der Kampagne zur „Verteidigung der Ukraine gegen den russischen Aggressor“. Es handelt sich jedoch nicht nur um eine passive Verweigerung. Die Arbeiterklasse in den zentralen Ländern ist bisher nicht bereit, das höchste Opfer des Todes zu akzeptieren, lehnt aber auch die vom Krieg geforderten Opfer der Lebens- und Arbeitsbedingungen ab. Die gegenwärtigen Kämpfe sind genau die Antwort der Arbeiter und Arbeiterinnen auf dieser Ebene; sie sind die einzig mögliche Antwort und enthalten die Voraussetzungen für die Zukunft, aber gleichzeitig zeigen sie, dass die Arbeiterklasse noch nicht in der Lage ist, die Verbindung zwischen Krieg und der Verschlechterung ihrer Bedingungen herzustellen.

Das IKS hat immer darauf bestanden, dass trotz der Schläge gegen das Klassenbewusstsein, trotz seines Rückflusses in den letzten Jahrzehnten:

–  das Proletariat der zentralen Länder enorme Reserven an Kampfkraft bewahrt hat, die bisher nicht entscheidend auf die Probe gestellt worden sind;

– die Entwicklung eines offenen Widerstands gegen die Angriffe des Kapitals stellt in der heutigen Situation mehr denn je die wichtigste Voraussetzung für das Proletariat dar, um seine Klassenidentität als Ausgangspunkt für eine allgemeinere Entwicklung des Klassenbewusstseins zurückzugewinnen.

Bis jetzt scheinen die an die Oberfläche gekommenen kämpferischen Äußerungen „nur ein geringes Echo innerhalb des Rests der Klasse zu haben: Das Phänomen, dass die Kämpfe in einem Land auf Bewegungen anderswo ‚antworten‘, scheint nahezu nicht-existent zu sein. Unter diesen Umständen ist es selbst für die Revolutionäre schwierig, ein klares Strickmuster oder definitive Anzeichen von Fortschritt im Klassenkampf zu erkennen. Für die Klasse im Allgemeinen trug die zersplitterte und separate Natur der Kämpfe – zumindest oberflächlich – wenig dazu bei, das Selbstvertrauen des Proletariats, sein Bewusstsein über sich selbst als eine besondere gesellschaftliche Kraft, als eine internationale Klasse mit dem Potenzial, die herrschende Ordnung herauszufordern, zu verstärken oder zu erneuern“.[5]

Heute verändert die Kombination aus Rückkehr der Kampfbereitschaft der Arbeiter und Verschärfung der Weltwirtschaftskrise (im Vergleich zu 1968 oder 2008), die keinen Teil des Proletariats verschont und alle gleichzeitig trifft, objektiv die Grundlagen für den Klassenkampf.

Die Verschärfung der Krise und die Intensivierung der Kriegswirtschaft können sich nur im Weltmaßstab fortsetzen und überall eine steigende Kampfbereitschaft erzeugen. Die Inflation wird bei dieser Entwicklung von Kampfbereitschaft und Bewusstsein eine besondere Rolle spielen. Indem sie alle Länder, die gesamte Arbeiterklasse trifft, treibt die Inflation das Proletariat zum Kampf. Da es sich nicht um einen Angriff handelt, den die Bourgeoisie vorbereiten und schließlich zurückziehen kann, sondern um ein Produkt des Kapitalismus, impliziert es einen tieferen Kampf und ein tieferes Nachdenken.

Das Wiederaufleben der Kämpfe bestätigt die Analyse der IKS, dass die Krise tatsächlich der beste Verbündete des Proletariats bleibt: „Die Entfaltung der Krise ist Voraussetzung dafür, dass die Klasse in der Lage ist, dem ideologischen Gift der Fäulnis der Gesellschaft entgegenzutreten. Obwohl die Arbeiterklasse sich in den sog. Teilkämpfen gegen die Auswirkungen des Zerfalls nicht als Klasse zusammenschließen kann, bildet der Kampf gegen die direkten Auswirkungen der Krise dennoch die Grundlage für die Entfaltung ihrer Stärke und ihrer Einheit als Klasse.“ („Thesen zum Zerfall“, Internationale Revue Nr. 13).[6] Die heutige Entwicklung der Kämpfe ist keine Eintagsfliege, sondern hat eine Zukunft. Sie deutet auf einen Prozess der Wiederbelebung der Klasse nach Jahren des Rückflusses hin und birgt das Potenzial für die Wiedererlangung der Klassenidentität, also dafür, dass die Klasse sich wieder dessen bewusst wird, was sie ist, welches Gewicht sie hat, wenn sie in den Kampf eintritt.

Alles deutet darauf hin, dass diese in Europa entstandene Klassenbewegung lange anhalten kann und in anderen Teilen der Welt auch aufgenommen wird. Eine neue Situation tut sich für den Klassenkampf auf. Angesichts der Gefahr der Zerstörung durch den Zerfall des Kapitalismus zeigen diese Kämpfe, dass die historische Perspektive völlig offen bleibt: „Diese ersten Schritte werden oft zögerlich und voller Schwächen sein, aber sie sind unerlässlich, damit die Arbeiterklasse in der Lage ist, ihre historische Fähigkeit zur Durchsetzung ihrer kommunistischen Perspektive zu bekräftigen. So werden sich die beiden alternativen Pole – Zerstörung der Menschheit oder kommunistische Revolution – gegenüberstehen, auch wenn die letztere Alternative noch in weiter Ferne liegt und mit enormen Hindernissen konfrontiert ist.“[7]

Obwohl die Umstände des Zerfalls ein Hindernis für die Entwicklung der Kämpfe und die Wiederherstellung des Selbstbewusstseins des Proletariats darstellen, ist es der Klasse gelungen, zum Kampf zurückzukehren, dies auch wenn der Zerfall erschreckend weiter vorangeschritten ist und obwohl die Zeit nicht mehr auf ihrer Seite ist. Die jüngsten Ereignisse haben unsere Vorhersage in der „Resolution zur internationalen Lage“ vom 24. internationalen Kongress eindrucksvoll bestätigt: „Wie wir bereits in Erinnerung gerufen haben, birgt die Zerfallsphase in der Tat die Gefahr, dass das Proletariat einfach nicht reagiert und über einen langen Zeitraum hinweg zermalmt wird – eher ein „Tod durch tausend Stiche“ als eine frontale Klassenkonfrontation. Demgegenüber behaupten wir, dass es immer noch genügend Beweise gibt, die zeigen, dass trotz des unzweifelhaften „Voranschreitens“ des Zerfalls, trotz der Tatsache, dass die Zeit nicht mehr zugunsten der Arbeiterklasse läuft, das Potential für eine tiefgreifende proletarische Wiederbelebung – die zu einer Wiedervereinigung zwischen der ökonomischen und der politischen Dimension des Klassenkampfes führt – nicht verschwunden ist.“[8]

Der Kampf selbst ist der erste Erfolg des Proletariats; dies wird besonders deutlich anhand folgender Punkte:

– Der Weg zur Wiedererlangung der Klassenidentität. Während das fragile Wiederauftauchen des Klassenkampfes (USA 2018, Frankreich 2019) durch die Pandemie und die Aussperrungen weitgehend blockiert wurde, haben diese Ereignisse den Zustand der Arbeiterklasse als Hauptopfer der Gesundheitskrise, aber auch als Quelle aller Arbeit und aller materiellen Produktion lebenswichtiger Güter offenbart. Die Arbeiter und Arbeiterinnen machen jetzt eine kollektive Erfahrung des Kampfes, in dem es eine Suche nach Einheit und einen Beginn der Solidarität zwischen den verschiedenen Sektoren der Klasse, zwischen „Arbeitern“ und „Angestellten“, zwischen den Generationen gibt. Das Gefühl, dass alle in einem Boot sitzen, wird die Arbeiterklasse in die Lage versetzen, sich als eine soziale Kraft zu erkennen, die durch dieselben Ausbeutungsbedingungen vereint ist. Die Wiederherstellung der Klassenidentität des Proletariats beinhaltet eine Dimension, die untrennbar mit diesen ersten Schritten der Anerkennung seiner selbst und seiner Stärke verbunden ist; sie beinhaltet auch die Identifizierung seines Klassengegners, über diesen oder jenen Arbeitgeber oder diese oder jene Regierung hinaus. Diese Wiederaufnahme der Konfrontation zwischen den Klassen schafft die Voraussetzungen für die Perspektive einer bewussteren Politisierung des Kampfes – ein langer und mühsamer Prozess, der gerade erst begonnen hat.

–  Ein Fortschritt in der unterirdischen Reifung des Bewusstseins, die sich über einen längeren Zeitraum und auf verschiedenen Ebenen entwickelt hat. In den breiteren Schichten der Klasse nimmt die unterirdische Reifung zunächst die Form eines Verlusts der Illusion in die Zukunftsfähigkeit des Kapitalismus an, eines Bewusstseins, dass die Situation nur noch schlimmer werden kann, dass die gesamte Dynamik des Kapitalismus die Gesellschaft an die Wand drückt, vor allem aber eine tiefsitzende Abneigung gegen die Ausbeutungsbedingungen, die heute in der Losung „Genug ist genug“ zusammengefasst wird. In einem begrenzteren Teil der Klasse ist eine Rückbesinnung auf vergangene Kämpfe und die Suche nach Lehren über die Mittel zur Stärkung des Kampfes zu beobachten, wie ein wirksames Kräfteverhältnis gegen den bürgerlichen Staat geschaffen werden kann. Und schließlich: „In einem Teil der Klasse, der zahlenmäßig noch kleiner, aber dazu bestimmt ist, mit dem Voranschreiten des Kampfes weiter anzuwachsen, nimmt dies die Form einer ausdrücklichen, offenen Verteidigung des kommunistischen Programms an und somit der Umgruppierung einer organisierten marxistischen Avantgarde.“[9] Konkretisiert wird dies durch das Auftreten von Minderheiten, die sich für die politischen Positionen der Kommunistischen Linken interessieren.

Es war der allmähliche Verlust der Klassenidentität, der es der Bourgeoisie ermöglichte, die beiden größten Momente des proletarischen Kampfes seit den 1980er-Jahren (die Bewegung gegen den Contrat Première Embauche (CPE) in Frankreich 2006 und die Indignados in Spanien 2011) zu sterilisieren bzw. zurückzugewinnen, weil den Hauptkräften diese entscheidende Grundlage für die allgemeinere Entwicklung des Bewusstseins entzogen wurde. Heute ist die Tendenz zur Wiedererlangung der Klassenidentität und die Entwicklung der unterirdischen Reifung Ausdruck der wichtigsten Veränderung auf der subjektiven Ebene, die das Potenzial für die künftige Entwicklung des proletarischen Kampfes zeigt. Die Klassenidentität ist ein untrennbarer Bestandteil des Klassenbewusstseins, denn sie bedeutet das Bewusstsein, eine Klasse zu bilden, die durch gemeinsame Interessen vereint ist, die denen der Bourgeoisie entgegengesetzt sind, sie bedeutet die „Konstituierung des Proletariats als Klasse“ (Kommunistisches Manifest), und sie ist ein untrennbarer Bestandteil des Klassenbewusstseins für die Anerkennung des bewussten revolutionären Wesens des Proletariats. Ohne sie gibt es keine Möglichkeit für die Klasse, an ihre Geschichte anzuknüpfen, um die Lehren aus den vergangenen Kämpfen zu ziehen und so ihre gegenwärtigen und zukünftigen Kämpfe zu führen. Klassenidentität und Klassenbewusstsein können nur durch die Entwicklung des autonomen Kampfes der Klasse auf ihrem eigenen Terrain gestärkt werden.

Die Wiederbelebung der Kampfkraft der Klasse und die unterirdische Reifung des Bewusstseins erfordern für die Bourgeoisie, dass die Gewerkschaften, diese staatlichen Organe, die darauf spezialisiert sind, den Kämpfen der Arbeiterklasse Fesseln anzulegen, und die linken politischen Organisationen, die bürgerlichen falschen Freunde der Arbeiterklasse, sich an die vorderste Front des Klassenkampfes stellen.

Die derzeitige Wirksamkeit der gewerkschaftlichen Kontrolle beruht auf den Schwächen, die sich aus dem Zerfall ergeben, Schwächen, die von der Bourgeoisie politisch ausgenutzt werden, und aus dem Rückzug des Bewusstseins, der seit einigen Jahrzehnten andauert und der sich in der „Rückkehr der Gewerkschaften“ und dem Erstarken der reformistischen Ideologie in den Kämpfen der kommenden Periode, die die Arbeit der Gewerkschaften erheblich erleichtert ausdrückt.

Insbesondere das Gewicht der Atomisierung, die Perspektivlosigkeit, die Schwäche der Klassenidentität, der Verlust der Errungenschaften und der Lehren aus den Konfrontationen mit den Gewerkschaften in der Vergangenheit sind die Ursachen für den äußerst wichtigen Einfluss des in Sektoren und Berufsgruppen aufgeteilten Denkens. Diese Schwäche ermöglicht es den Gewerkschaften, einen starken Einfluss auf die Klasse zu behalten.

Obwohl sie noch nicht von einer Herausforderung die Kontrolle des Kampfes zu verlieren bedroht sind, waren die Gewerkschaften gezwungen, sich an die aktuellen Kämpfe anzupassen, um ihre übliche Arbeit der Spaltung besser ausführen zu können. Dies indem sie eine „kämpferischere“, „an die Arbeiterklasse gerichtete“ Sprache verwenden und sich selbst als Schmiede der Klasseneinheit darstellen, um diese besser sabotieren zu können.

Parallel dazu arbeiten die verschiedenen linken Organisationen (und die Linke des Kapitals im Allgemeinen) innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften und unterstützen diese nach Kräften. Als Verfechter der raffiniertesten arbeiterfeindlichen Mystifikationen in einer radikalen Verkleidung haben sie auch die Funktion, Minderheiten zu einzufangen, die nach Klassenpositionen suchen.

Die ständige Verteidigung der „Demokratie“ und der Interessen des „Volkes“ zielt darauf ab, die Existenz von Klassengegensätzen zu verschleiern, die Lüge vom Staat als Beschützer zu nähren und die proletarische Klassenidentität anzugreifen, indem die Arbeiterklasse auf eine Masse von Bürgern oder „Sektoren“ von Aktivitäten reduziert wird, die durch besondere Interessen getrennt sind.

Angesichts der Bewegungen der nicht ausbeutenden Schichten oder des von der Wirtschaftskrise zermürbten Kleinbürgertums muss sich das Proletariat vor „Volks“-Aufständen oder klassenübergreifenden Kämpfen hüten, die seine eigenen Interessen in einer undifferenzierten Summe des „Volkes“ untergehen lassen. Es muss fest auf dem Terrain der Verteidigung seiner eigenen Forderungen und seiner Klassenautonomie stehen, als Vorbedingung für die Entwicklung seiner Kraft und seines Kampfes.

Die Arbeiterklasse muss auch die von der Bourgeoisie gestellten Fallen rund um die Ein-Themen-Kämpfe (oder auch Teilkämpfe genannt: zur Rettung der Umwelt, gegen Rassenunterdrückung, Feminismus usw.) ablehnen, die sie von ihrem eigenen Klassenterrain ablenken. Eine der wirksamsten Waffen der herrschenden Klasse ist ihre Fähigkeit, die Auswirkungen des Zerfalls gegen die Klasse zu wenden und die zersetzenden Ideologien des Kleinbürgertums zu fördern. Auf dem Boden des Zerfalls, der Irrationalität, des Nihilismus und des „No-Future“ gedeihen alle möglichen ideologischen Strömungen. Ihre zentrale Rolle besteht darin, jeden abstoßenden Aspekt dieses dekadenten kapitalistischen Systems zu einem Motiv für einen spezifischen Kampf zu machen, der von verschiedenen Kategorien der Bevölkerung oder manchmal vom „Volk“ geführt wird, aber immer getrennt von jeder wirklichen Infragestellung des Systems als Ganzes.

All diese Ideologien (ob ökologische, „woke“, anti-rassistische, etc.), die den Klassenkampf leugnen, oder wie diejenigen, die „Intersektionalität“ predigen, den Klassenkampf auf die gleiche Ebene stellen wie den Kampf gegen Rassismus oder männlichen Chauvinismus, stellen eine Gefahr für die Klasse dar, insbesondere für die junge Generation von Arbeitern und Arbeiterinnen, denen es an Erfahrung mangelt, die aber zutiefst über den Zustand der Gesellschaft empört sind. Auf dieser Ebene werden diese Ideologien durch eine ganze Reihe von Linken und Modernisten („Kommunisierer“) ergänzt, deren Rolle es ist, die Bemühungen des Proletariats zur Entwicklung des Klassenbewusstseins zu unterdrücken und die Menschen vom Klassenkampf abzulenken.

Wenn der Klassenkampf von Natur aus international ist, ist die Arbeiterklasse gleichzeitig eine heterogene Klasse, die ihre Einheit durch ihren Kampf erlangen muss. In diesem Prozess hat das Proletariat der zentralen Länder die Aufgabe, dem Weltproletariat die Tür zur Revolution zu öffnen.

In den Ländern wie China, Indien usw. hat sich die Arbeiterklasse zwar als sehr kämpferisch erwiesen, und trotz ihrer quantitativen Bedeutung sind diese Teile des Proletariats aufgrund ihrer fehlenden historischen Erfahrung besonders anfällig für die ideologischen Fallen und Mystifikationen der herrschenden Klasse. Ihre Kämpfe werden leicht zur Hilflosigkeit verdammt oder in bürgerliche Sackgassen abgeleitet (Forderungen nach mehr Demokratie, Freiheit, Gleichheit usw.) oder in klassenübergreifenden, von anderen sozialen Schichten dominierten Bewegungen völlig verwässert. Wie der arabische Frühling 2010 gezeigt hat, wurde der sehr reale Arbeiterkampf in Ägypten schnell zu einem „Volk“ verwässert, das dann hinter Fraktionen der herrschenden Klasse auf das bürgerliche Terrain von „mehr Demokratie“ gezogen wurde. Oder die gewaltige Protestbewegung im Iran, wo in Ermangelung einer klaren revolutionären Perspektive, die von den erfahreneren Teilen des Weltproletariats in Westeuropa verteidigt wird, die vielen Arbeiterkämpfe im Land nur in der Volksbewegung untergehen und von ihrem Klassenterrain hinter der Parole der Frauenrechte abgelenkt werden können.

In den USA hat das Proletariat der stärksten Weltmacht trotz der Schwächen, die damit zusammenhängen, dass die Arbeiterklasse in diesem Land nicht direkt mit der Konterrevolution konfrontiert war und weniger direkt dem Weltkrieg ausgesetzt war, und trotz des Fehlens einer tiefen revolutionären Tradition, trotz zahlreicher Hindernisse, die durch den Zerfall entstanden sind, die Fähigkeit bewiesen, seine Kämpfe (während der Pandemie, während der „Striketobers“-Streikwelle 2021) auf seinem Klassenterrain zu entwickeln. Dabei kann man die USA als Epizentrum des Zerfalls bezeichnen (das Gewicht der Rassenspaltung und des Populismus, die ganze Atmosphäre des Quasi-Bürgerkriegs zwischen Populisten und Demokraten, die Sackgasse von Bewegungen, die auf einem bürgerlichen Terrain arbeiten, wie Black Lives Matter). Das Proletariat der USA zeigt in einer sehr schwierigen politischen Situation, dass es beginnt, auf die Auswirkungen der Wirtschaftskrise zu reagieren.

Der Schlüssel zur revolutionären Zukunft des Proletariats liegt weiterhin in den Händen seiner Teile in den zentralen Ländern des Kapitalismus. Nur das Proletariat der alten industriellen Zentren Westeuropas bildet den Ausgangspunkt für die künftige Weltrevolution:

– Weil es die Hauptstätte der bedeutendsten revolutionären Erfahrung der Arbeiterklasse ist, von den ersten Kämpfen von 1848, über die Pariser Kommune von 1871, bis zur Revolution in Deutschland 1918-19.

– Weil das europäische Proletariat durch die Konfrontation mit den raffiniertesten bürgerlichen Mystifizierungen von Demokratie, Wahlen, Gewerkschaften am meisten abgehärtet wurde.

– Weil es auch mit der Konterrevolution in den verschiedenen Formen der Diktatur der herrschenden Klasse konfrontiert wurde: bürgerliche Demokratie, Stalinismus und Faschismus.

– Weil sich die Frage der Internationalisierung des Klassenkampfes durch die geographische Nähe der mächtigsten Nationen in Europa von vornherein stellt.

– Weil die politischen Gruppen der Kommunistischen Linken, obwohl sie noch eine sehr kleine und schwache Minderheit sind, dort präsent sind.

9. Die Verantwortung der Revolutionäre

Angesichts des zunehmenden Aufeinandertreffens der beiden alternativen Pole – Zerstörung der Menschheit oder kommunistische Revolution – haben die revolutionären Organisationen der Kommunistischen Linken, und insbesondere die IKS, eine unersetzliche Rolle bei der Entwicklung des Klassenbewusstseins zu spielen und müssen ihre Energien zur permanenten theoretischen Vertiefung und Erarbeitung einer klaren Analyse der Weltlage verwenden. Gleichzeitig müssen sie in die Kämpfe unserer Klasse eingreifen, um die Notwendigkeit der Klassenautonomie, der Selbstorganisation und der Vereinigung sowie der Entwicklung der revolutionären Perspektive zu verteidigen. Diese Arbeit kann nur auf der Grundlage eines geduldigen Aufbaus der revolutionären Organisation durchgeführt werden, der die Grundlage für die Weltpartei der Zukunft schafft. All diese Aufgaben erfordern einen energischen Kampf gegen alle Einflüsse der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideologie auf das Milieu der Kommunistischen Linken und der IKS selbst. Gegenwärtig sind die Gruppen der Kommunistischen Linken mit der Gefahr einer echten Krise konfrontiert. Mit einigen Ausnahmen waren sie nicht in der Lage, zur Verteidigung des Internationalismus angesichts des imperialistischen Krieges in der Ukraine gemeinsam die Stimme zu erheben, und sie sind zunehmend offen für das Eindringen von Opportunismus und Parasitismus. Ein rigoroses Festhalten an der marxistischen Methode und den proletarischen Prinzipien ist die einzige Antwort auf diese Gefahren.

IKS, Anfang Mai 2023


[1] Die Beschleunigung des kapitalistischen Zerfalls wirft offen die Frage der Vernichtung der Menschheit auf [4]

[2] UNDP-Bericht über die menschlichen Entwicklung 2022 [5]

[3] Orientierungstext: Militarismus und Zerfall [6]

[4] Resolution zur internationalen Lage 2007 [7]

[5] 14. Kongress der IKS: Bericht über den Klassenkampf: Die revolutionäre Bewegung und das Konzept des Historischen Kurses, Teil 2 [8]

[6] 14. Kongress der IKS: Bericht über den Klassenkampf: Die revolutionäre Bewegung und das Konzept des Historischen Kurses, Teil 2 [8]

[7] Die Beschleunigung des kapitalistischen Zerfalls wirft offen die Frage der Vernichtung der Menschheit auf [4]

[8] 24. Internationaler Kongress der IKS: Resolution zur internationalen Lage [9]

[9] Polemik mit der CWO: UNTERIRDISCHE REIFUNG DES BEWUSSTSEINS [10]

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25. IKS-Kongress

Aktualisierung der Thesen zum Zerfall (2023)

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Die IKS verabschiedete im Mai 1990 Thesen mit dem Titel Der Zerfall: die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus, die unsere umfassende Analyse der Lage der Welt zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs des imperialistischen Ostblocks Ende 1989 und für die Zeit danach darstellten. Der Kerngedanke dieser Thesen war, wie der Titel schon sagt, dass die Dekadenz der kapitalistischen Produktionsweise, die mit dem Ersten Weltkrieg begonnen hatte, in eine neue Phase seiner Entwicklung eingetreten war, die vom allgemeinen Zerfall der Gesellschaft beherrscht wird. Auf ihrem 22. Kongress 2017 hatte unsere Organisation durch die Annahme eines Textes mit dem Titel Bericht über den Zerfall heute (Mai 2017) eine Aktualisierung des Dokuments von 1990 für notwendig erachtet, um "die wesentlichen Punkte der Thesen mit der gegenwärtigen Situation [zu] konfrontieren: In welchem Maße sind die verschiedenen Elemente bestätigt, ja sogar verstärkt worden, und inwieweit sind sie widerlegt worden oder müssen weiterentwickelt werden". Dieses zweite Dokument, das 27 Jahre nach dem ersten verfasst wurde, machte deutlich, dass sich die 1990 angenommene Analyse weitgehend bestätigt hatte. Gleichzeitig wurden in diesem Text von 2017 Aspekte der Weltlage angesprochen, die in dem Text von 1990 nicht enthalten waren, die aber das dort gezeichnete Bild vervollständigten und an Bedeutung gewonnen hatten: die Explosion der Ströme von Menschen, die vor Kriegen, Hunger und Verfolgung fliehen, und auch der Anstieg des fremdenfeindlichen Populismus, der sich zunehmend auf das politische Leben der herrschenden Klasse auswirkt.

Die IKS hält es heute für notwendig, die Texte von 1990 und 2017 erneut zu aktualisieren, und zwar nicht ein Vierteljahrhundert nach letzterem, sondern nur sechs Jahre danach, weil wir in der letzten Zeit eine spektakuläre Beschleunigung und Verstärkung der Erscheinungsformen dieses allgemeinen Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft erlebt haben.

Diese katastrophale und beschleunigte Entwicklung des Zustands der Welt ist den wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Führern der Welt natürlich nicht entgangen. Im "Global Risks Report" (GRR), der auf den Analysen einer Vielzahl von "Experten" (1200 im Jahr 2022) beruht und jedes Jahr auf dem Davoser Wirtschaftsforum (World Economic Forum – WEF), in dem diese führenden Politiker zusammenkommen, vorgestellt wird, heißt es :

"Die ersten Jahre dieses Jahrzehnts kündigten eine besonders unruhige Periode in der menschlichen Geschichte an. Die Rückkehr zu einer ‘neuen Normalität’ nach der COVID-19-Pandemie wurde schnell durch den Ausbruch des Krieges in der Ukraine beeinträchtigt, der eine neue Serie von Nahrungsmittel- und Energiekrisen einleitete – und damit Probleme entzündete, die Jahrzehnte des Fortschritts zu lösen versucht hatten.

Zu Beginn des Jahres 2023 sieht sich die Welt mit einer Reihe von Risiken konfrontiert, die sowohl völlig neu als auch unheimlich vertraut sind. Wir haben die Rückkehr ‘alter’ Risiken – Inflation, Lebenshaltungskostenkrisen, Handelskriege, Kapitalabflüsse aus Schwellenländern, weit verbreitete soziale Unruhen, geopolitische Auseinandersetzungen und das Schreckgespenst eines Atomkriegs – erlebt, die nur wenige Wirtschaftsführer und öffentliche Entscheidungsträger dieser Generation kannten. Diese Phänomene werden durch relativ neue Entwicklungen in der globalen Risikolandschaft verstärkt, darunter unhaltbare Schuldenstände, eine neue Ära des schwachen Wachstums, geringerer globaler Investitionen und der Deglobalisierung, ein Rückgang der menschlichen Entwicklung nach Jahrzehnten des Fortschritts, die rasche und unkontrollierte Entwicklung von Technologien mit doppeltem Verwendungszweck (zivil und militärisch) und der zunehmende Druck durch die Auswirkungen des Klimawandels und der damit verbundenen Ambitionen in einem immer kleiner werdenden Zeitfenster für den Übergang zu einer Welt mit +1,5°C. All diese Elemente laufen zusammen, um ein einzigartiges, unsicheres und unruhiges Jahrzehnt zu gestalten." (Wichtigste Schlussfolgerungen: einige Auszüge)

In der Regel versucht die herrschende Klasse, sei es in Regierungserklärungen oder in den großen Medien, die Feststellungen über den extremen Ernst der Weltlage abzuschwächen. Wenn sie jedoch die wichtigsten Führungspersönlichkeiten der Welt zusammenbringt, wo sie mit sich selbst spricht, wie beim jährlichen Forum in Davos, kommt sie nicht umhin, eine gewisse Klarheit an den Tag zu legen. Es ist übrigens bezeichnend, dass die alarmierenden Feststellungen in diesem Bericht in den großen Medien nur sehr wenig Widerhall fanden, deren grundlegende Berufung nicht darin besteht, die Bevölkerung und insbesondere die Ausgebeuteten ehrlich zu informieren, sondern als Propagandaagenturen zu fungieren, die dazu bestimmt sind, sie eine Situation akzeptieren zu lassen, die immer katastrophaler wird, und ihnen den vollständigen historischen Bankrott der kapitalistischen Produktionsweise zu verheimlichen.

Tatsächlich decken sich die Feststellungen, die in dem im Januar 2023 auf dem Davoser Forum vorgelegten Bericht enthalten sind, weitgehend mit dem Text, den die IKS im Oktober 2022 unter dem Titel Die Beschleunigung des kapitalistischen Zerfalls wirft offen die Frage der Vernichtung der Menschheit auf verabschiedet hat. In Wirklichkeit ist die Analyse der IKS derjenigen der klügsten "Experten" der herrschenden Klasse nicht nur um einige Monate, sondern um Jahrzehnte vorausgegangen, da die Feststellungen, die in unserem Dokument vom Oktober 2022 getroffen werden, nur eine frappierende Bestätigung der Prognosen sind, die wir bereits Ende der 1980er Jahre, insbesondere in unseren Thesen zum Zerfall, hervorgehoben haben. Dass die Kommunisten bei der Vorhersage der großen katastrophalen Trends, die die kapitalistische Welt prägen, einen gewissen, ja sicheren Vorsprung vor den bürgerlichen "Experten" haben, ist nicht überraschend: Die herrschende Klasse kann in der Regel nur vor sich selbst und vor der Klasse, die sie ausbeutet und die als einzige eine Lösung für die Widersprüche, die die Gesellschaft untergraben, bieten kann, dem Proletariat, eine grundlegende Tatsache verschleiern: die kapitalistische Produktionsweise ist ebenso wenig wie die Produktionsweisen, die ihr vorausgingen, von ewiger Dauer. Wie die Produktionsweisen der Vergangenheit ist sie dazu bestimmt, wenn sie nicht vorher die Menschheit selbst zerstört, durch eine andere, überlegene Produktionsweise ersetzt zu werden, die der Entwicklung der Produktivkräfte entspricht, die sie zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrer Geschichte ermöglicht hat. Eine Produktionsweise, die die Warenbeziehungen, die den Kern der historischen Krise des Kapitalismus ausmachen, abschaffen wird, in der es keinen Platz mehr für eine privilegierte Klasse gibt, welche von der Ausbeutung der Produzenten lebt. Gerade weil sie ihren eigenen Untergang nicht in Betracht ziehen kann, ist die bürgerliche Klasse in der Regel unfähig, einen klaren Blick auf die Widersprüche zu werfen, die die von ihr geführte Gesellschaft in den Untergang treiben.

Im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals auf Deutsch schrieb Marx: "Die widerspruchsvolle Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft macht sich dem praktischen Bourgeois am schlagendsten fühlbar in den Wechselfällen des periodischen Zyklus, den die moderne Industrie durchläuft, und deren Gipfelpunkt – die allgemeine Krise. Sie ist wieder im Anmarsch, obgleich noch begriffen in den Vorstadien, und wird durch die Allseitigkeit ihres Schauplatzes, wie die Intensität ihrer Wirkung, selbst den Glückspilzen des neuen heiligen, preußisch-deutschen Reichs Dialektik einpauken."

Zur gleichen Zeit, als die IKS die Zerfallsthesen annahm, die den Eintritt des Kapitalismus in eine neue, letzte Phase seiner Dekadenz ankündigten, die durch eine qualitative Verschärfung der Widersprüche dieses Systems und einen allgemeinen Zerfall der Gesellschaft gekennzeichnet ist, schwärmte der "praktische Bourgeois", insbesondere in der Person von Präsident Bush senior, von der neuen glorreichen Perspektive, die der Zusammenbruch der stalinistischen Regime und des "sowjetischen" Blocks in seinen Augen einleitete, einer Ära des "Friedens" und "Wohlstands". Heute, vor der "widerspruchsvollen Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft" nicht in der Gestalt einer zyklischen Krise des 19. Jahrhunderts, sondern einer permanenten und unlösbaren Krise ihrer Wirtschaft, die zu einer zunehmenden Störung und einem Chaos in der Gesellschaft führt, ist der "praktische Bourgeois" gezwungen, sich ein wenig "Dialektik" einpauken zu lassen.

Aus diesem Grund wird sich die Aktualisierung der Zerfallsthesen weitgehend auf die Analysen und Prognosen im "Global Risks Report" von 2023 sowie auf unseren Text vom Oktober 2022 stützen, den er in vielerlei Hinsicht bestätigt. Es ist eine Bestätigung durch die klarsten Instanzen der herrschenden Klasse, in Tat und Wahrheit ein echtes Eingeständnis des historischen Bankrotts ihres Systems. Die Verwendung von Daten und Analysen, die von der feindlichen Klasse geliefert werden, ist keine "Erfindung" der IKS. Tatsächlich verfügen Revolutionäre in der Regel nicht über die Mittel, um die Daten und Statistiken zu sammeln, die der Staats- und Verwaltungsapparat der Bourgeoisie für seine eigenen Zwecke der Gesellschaftsführung erhebt. Indem er sich zum Teil – natürlich kritisch – auf diese Art von Daten stützte, gab Engels seiner Studie über Die Lage der arbeitenden Klasse in England Fleisch an den Knochen. Und Marx verwendete, insbesondere in Das Kapital, häufig die "Blue Notes" der britischen parlamentarischen Untersuchungen. Bei den Analysen und Prognosen, die von den "Experten" der Bourgeoisie erstellt werden, muss man noch kritischer sein als bei den Fakten, vor allem wenn sie einer Propaganda entsprechen, die "beweisen" soll, dass der Kapitalismus das beste oder das einzige System sei, das den Menschen Fortschritt und Wohlstand sichern könne. Wenn diese Analysen und Prognosen jedoch auf die katastrophale Sackgasse hinweisen, in der sich dieses System befindet, was natürlich nicht mit seiner Apologie übereinstimmen kann, ist es nützlich und wichtig, sich auf sie zu stützen, um unsere eigenen Analysen und Prognosen zu untermauern und zu stärken.

Teil I: Die 2020er Jahre läuten eine neue Phase des kapitalistischen Zerfalls ein

In dem im Oktober 2022 verabschiedeten Text heißt es:

"Die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts werden zu einer der krisenhaftesten Zeiten in der Geschichte und haben bereits unbeschreibliche Katastrophen und Leid mit sich gebracht. Sie begannen mit der Covid-19-Pandemie (die immer noch andauert) und einem Krieg im Herzen Europas, in der Ukraine, der bereits seit über neun Monaten andauert und dessen Ausgang niemand vorhersehen kann. Der Kapitalismus ist in eine Phase schwerer Unruhen auf allen Ebenen eingetreten. Hinter dieser Anhäufung und Verflechtung von Katastrophen steht die drohende Vernichtung der Menschheit. (...)

Mit dem blitzartigen Ausbruch der Covid-Pandemie haben wir die Existenz von vier Merkmalen aufgezeigt, die für die Zerfallsphase typisch sind:

- Die zunehmende Schwere ihrer Auswirkungen. (...)

- Das Eindringen der Auswirkungen des Zerfalls auf wirtschaftlicher Ebene (...).

- Die zunehmende Wechselwirkung ihrer Effekte, wodurch sich die Widersprüche des Kapitalismus auf einem nie zuvor erreichten Niveau verschärfen (...).

- Die zunehmende Präsenz ihrer Auswirkungen in den Kernländern (...)

Das Jahr 2022 war ein leuchtendes Beispiel für diese vier Merkmale, durch:

- den Ausbruch des Krieges in der Ukraine;

- das Auftreten nie dagewesener Flüchtlingswellen;

- die Fortsetzung der Pandemie mit Gesundheitssystemen, die am Rande des Zusammenbruchs stehen;

- einen zunehmenden Kontrollverlust der herrschenden Klasse über ihren politischen Apparat, der sich in der Krise in Großbritannien spektakulär manifestiert hat;

- eine Agrarkrise, die bei einer allgemeinen Überproduktion zu einer Verknappung vieler Nahrungsmittel führt, was seit über einem Jahrhundert der Dekadenz des Kapitalismus ein relativ neues Phänomen darstellt (...).

- erschreckende Hungersnöte, von denen immer mehr Länder betroffen sind.

Nun führt die Aggregation und Interaktion zerstörerischer Phänomene zu einem "Strudel-Effekt", der jede seiner Teilwirkungen bündelt, katalysiert und vervielfacht, indem er noch verheerendere Verwüstungen verursacht (...). Dieser "Strudel-Effekt" stellt jedoch eine qualitative Veränderung dar, deren Folgen in der kommenden Zeit immer deutlicher zu Tage treten werden.

In diesem Zusammenhang muss die führende Rolle des Krieges als eine von den kapitalistischen Staaten gewollte und geplante Aktion hervorgehoben werden, die zum mächtigsten und schwerwiegendsten Faktor für Chaos und Zerstörung wurde. Tatsächlich bewirkt und beinhaltet der Krieg in der Ukraine einen Multiplikatoreffekt der Faktoren von Barbarei und Zerstörung (...).

In diesem Zusammenhang muss man die Ausweitung der Umweltkrise in ihrer ganzen Schwere verstehen, die auf ein bisher nicht gekanntes Niveau ansteigt:

- eine Hitzewelle im Sommer, die schlimmste seit 1961, mit der Aussicht, dass sich solche Hitzewellen dauerhaft etablieren werden;

- eine noch nie dagewesene Dürre, laut Experten die schlimmste seit 500 Jahren, die sogar Flüsse wie die Themse, den Rhein oder den Po, die normalerweise schnell fließen, in Mitleidenschaft zieht;

- verheerende Brände, ebenfalls die schlimmsten seit Jahrzehnten;

- unkontrollierbare Überschwemmungen wie in Pakistan, wo ein Drittel der Landesfläche betroffen war (ebenso wie in Thailand);

- ein drohender Kollaps der Eisschilde infolge des Abschmelzens von Gletschern, die eine Größe vergleichbar mit der Fläche Großbritanniens haben, mit katastrophalen Folgen."

Die von den "Experten" des WEF getroffenen Feststellungen sind nicht anders:

"Das nächste Jahrzehnt wird von ökologischen und gesellschaftlichen Krisen geprägt sein, die durch tiefer liegende geopolitische und wirtschaftliche Trends angeheizt werden. Die ‘Krise der Lebenshaltungskosten’ wird als das schwerwiegendste globale Risiko für die nächsten zwei Jahre eingestuft, mit einem kurzfristigen Höhepunkt. Der ‘Verlust der biologischen Vielfalt und der Zusammenbruch der Ökosysteme’ wird als eines der globalen Risiken angesehen, die sich im nächsten Jahrzehnt am schnellsten verschlechtern werden, und alle sechs Umweltrisiken gehören zu den zehn größten Risiken für die nächsten zehn Jahre. Neun Risiken sind in der Rangliste der zehn wichtigsten kurz- und langfristigen Risiken enthalten, darunter ‘geoökonomische Konfrontation’ und ‘Erosion des sozialen Zusammenhalts und gesellschaftliche Polarisierung’, sowie zwei Neuzugänge in der Rangliste: ‘weit verbreitete Cyberkriminalität und Cyberunsicherheit’ und ‘unfreiwillige Migration in großem Maßstab’.

Regierungen und Zentralbanken könnten in den nächsten zwei Jahren mit hartnäckigem Inflationsdruck konfrontiert sein, insbesondere aufgrund der Möglichkeit eines lang anhaltenden Krieges in der Ukraine, anhaltender Engpässe aufgrund einer anhaltenden Pandemie und eines Wirtschaftskrieges, der zu einer Entkopplung der Lieferketten führt. Auch die Risiken einer Verschlechterung der Wirtschaftsaussichten sind erheblich. Ein Ungleichgewicht zwischen Geld- und Fiskalpolitik wird die Wahrscheinlichkeit von Liquiditätsschocks erhöhen und damit einen längeren Wirtschaftsabschwung und eine weltweite Überschuldung signalisieren. Eine anhaltende angebotsinduzierte Inflation könnte zu einer Stagflation führen, deren sozioökonomische Folgen angesichts einer beispiellosen Wechselwirkung mit historisch hohen Staatsverschuldungsniveaus schwerwiegend sein könnten. Die Fragmentierung der Weltwirtschaft, geopolitische Spannungen und schwierigere Umstrukturierungen könnten in den nächsten zehn Jahren zu einer weit verbreiteten Überschuldung beitragen. (...)

Der Wirtschaftskrieg wird zur Normalität, mit zunehmenden Auseinandersetzungen zwischen den Weltmächten und staatlichen Eingriffen in die Märkte in den nächsten zwei Jahren. Die Wirtschaftspolitik wird defensiv eingesetzt werden, um die Autarkie und Souveränität gegenüber rivalisierenden Mächten zu stärken, aber sie wird auch zunehmend offensiv eingesetzt werden, um den Aufstieg anderer zu begrenzen. Die intensive geoökonomische Militarisierung wird die Sicherheitsanfälligkeiten hervorheben, die sich aus der wechselseitigen Abhängigkeit von Handel, Finanzen und Technologie zwischen den global integrierten Volkswirtschaften ergeben, und damit das Risiko bergen, dass der Zyklus von Misstrauen und Entkopplung eskaliert.

Die Befragten des GRPS [Global Risks Perception Survey] erwarten, dass die zwischenstaatlichen Konfrontationen in den nächsten zehn Jahren weitgehend wirtschaftlicher Natur bleiben werden. Allerdings könnten der jüngste Anstieg der Militärausgaben und die Verbreitung neuer Technologien an eine größere Anzahl von Akteuren zu einem globalen Wettrüsten bei aufstrebenden Technologien führen. Die längerfristige globale Risikolandschaft könnte durch Multi-Domain-Konflikte und asymmetrische Kriege definiert werden, wobei der gezielte Einsatz von Waffen der neuen Technologien in einem potenziell zerstörerischeren Ausmaß als in den letzten Jahrzehnten stattfindet.

Die immer stärkere Verflechtung von Technologien mit dem kritischen Funktionieren von Gesellschaften setzt die Bevölkerung direkten inneren Bedrohungen aus, einschließlich solcher, die versuchen, das Funktionieren der Gesellschaft zu zerschlagen. Parallel zur Zunahme der Cyberkriminalität werden Versuche, wichtige technologische Ressourcen und Dienstleistungen zu stören, häufiger werden, wobei Angriffe auf Landwirtschaft und Wasser, Finanzsysteme, öffentliche Sicherheit, Transport, Energie und Kommunikationsinfrastrukturen in den Nationalstaaten, im Weltraum und unter Wasser erwartet werden.

Die Zerstörung der Natur und der Klimawandel sind intrinsisch miteinander verbunden – ein Versagen in einem Bereich wird sich kaskadenartig auf den anderen auswirken. Ohne politische Veränderungen oder bedeutende Investitionen wird die Wechselwirkung zwischen den Auswirkungen des Klimawandels, dem Verlust der biologischen Vielfalt, der Ernährungssicherheit und dem Verbrauch natürlicher Ressourcen den Zusammenbruch von Ökosystemen beschleunigen, die Nahrungsmittelversorgung und den Lebensunterhalt in klimasensiblen Volkswirtschaften gefährden, die Auswirkungen von Naturkatastrophen verstärken und die Fortschritte bei der Eindämmung des Klimawandels begrenzen.

Verschärfte Krisen weiten ihre Auswirkungen auf die Gesellschaften aus, beeinträchtigen die Lebensgrundlagen eines viel größeren Teils der Bevölkerung und destabilisieren weltweit mehr Volkswirtschaften als traditionell gefährdete Gemeinschaften und fragile Staaten. Aufbauend auf den für 2023 erwarteten größten Risiken – insbesondere der ‘Energieversorgungskrise’, der ‘steigenden Inflation’ und der ‘Nahrungsmittelversorgungskrise’ – macht sich bereits eine globale Krise der Lebenshaltungskosten bemerkbar. (...)

Die daraus resultierenden sozialen Unruhen und die politische Instabilität werden nicht auf die Schwellenländer beschränkt bleiben, da der wirtschaftliche Druck die mittleren Einkommensschichten weiter aushöhlt. Die zunehmende Frustration der Bürger über die Verluste bei der menschlichen Entwicklung und den Rückgang der sozialen Mobilität sowie die wachsende Kluft bei Werten und Gleichheit stellen eine existenzielle Herausforderung für die politischen Systeme auf der ganzen Welt dar. Die Wahl weniger zentristischer Führungspersönlichkeiten sowie die politische Polarisierung zwischen den wirtschaftlichen Supermächten in den nächsten zwei Jahren könnten zudem den Raum für kollektive Problemlösungen weiter einschränken, Allianzen zerbrechen und zu einer volatileren Dynamik führen.

Angesichts der geringeren Finanzierung des öffentlichen Sektors und konkurrierender Sicherheitsbedenken schwindet unsere Fähigkeit, den nächsten globalen Schock abzufangen. In den nächsten zehn Jahren werden weniger Länder über den nötigen Haushaltsspielraum verfügen, um in zukünftiges Wachstum, grüne Technologien, Bildung, Pflege und Gesundheitssysteme zu investieren.

Durch gleichzeitige Schocks, tief vernetzte Risiken und die Erosion der Widerstandsfähigkeit entsteht das Risiko von Polykrisen – bei denen disparate Krisen so interagieren, dass die Gesamtauswirkungen die Summe der einzelnen Teile bei weitem übersteigen. Die Erosion der geopolitischen Zusammenarbeit wird mittelfristig eine Kettenreaktion auf die globale Risikolandschaft auslösen, insbesondere indem sie zu einer potenziellen Polykrise aus interdependenten ökologischen, geopolitischen und sozioökonomischen Risiken beiträgt, die mit dem Angebot und der Nachfrage nach natürlichen Ressourcen zusammenhängen. Der Bericht beschreibt vier potenzielle Zukünfte, die sich auf die Verknappung von Nahrungsmitteln, Wasser, Metallen und Mineralien konzentrieren und die alle eine humanitäre und ökologische Krise auslösen könnten, von Wasserkriegen und Hungersnöten bis hin zur anhaltenden Übernutzung der ökologischen Ressourcen und einer Verlangsamung der Eindämmung des Klimawandels und der Anpassung an ihn." (Wichtigste Schlussfolgerungen: einige Auszüge)

"Die globale ‘neue Normalität’ ist eine Rückkehr zu den Grundlagen – Nahrung, Energie, Sicherheit – der Probleme, die unsere globalisierte Welt zu lösen bestimmt war. Diese Risiken werden verstärkt durch das anhaltende gesundheitliche und wirtschaftliche Risiko einer globalen Pandemie, durch einen Krieg in Europa und Sanktionen, die sich auf eine global integrierte Wirtschaft auswirken, sowie durch die Eskalation des technologischen Wettrüstens, das durch den industriellen Wettbewerb und verstärkte staatliche Interventionen unterstützt wird. Längerfristige strukturelle Veränderungen der geopolitischen Dynamik (...) fallen mit einem schnelleren Wandel der Wirtschaftslandschaft zusammen und ebnen den Weg für eine Ära geringen Wachstums, niedriger Investitionen und geringer Kooperation sowie für einen potenziellen Rückgang der menschlichen Entwicklung nach jahrzehntelangem Fortschritt." (1.1. Die aktuellen Krisen, S. 13)

"Die Kombination aus extremen Wetterereignissen und begrenzter Versorgung könnte die aktuelle Krise der Lebenshaltungskosten in ein katastrophales Szenario von Hunger und Not für Millionen von Menschen in importabhängigen Ländern verwandeln oder die Energiekrise in eine humanitäre Krise in den ärmsten Schwellenmärkten verwandeln.

Schätzungen zufolge wurden in Pakistan mehr als 800.000 Hektar Ackerland durch Überschwemmungen zerstört (...). Prognostizierte Dürren und Wasserknappheit könnten zu geringeren Ernten und Viehsterben in Ostafrika, Nordafrika und im südlichen Afrika führen und damit die Ernährungsunsicherheit verschärfen.

‘Schwere Schocks oder Preisschwankungen bei Rohstoffen’ sind in 47 Ländern, die im Rahmen der Meinungsumfrage des Forums unter Führungskräften (EOS) befragt wurden, eines der fünf größten Risiken für die nächsten zwei Jahre, während ‘schwere Krisen bei der Rohstoffversorgung’ ein eher lokal begrenztes Risiko darstellen und in 34 Ländern, darunter die Schweiz, Südkorea, Singapur, Chile und die Türkei, als Hauptsorge genannt werden. Die katastrophalen Auswirkungen von Hungersnöten und der Verlust von Menschenleben können auch weiter entfernte Folgen haben, da das Risiko allgemeiner Gewalt steigt und unfreiwillige Migrationen zunehmen" (Krise der Lebenshaltungskosten, S. 15).

"Einige Länder werden nicht in der Lage sein, künftige Schocks einzudämmen, in künftiges Wachstum und grüne Technologien zu investieren oder die künftige Widerstandsfähigkeit von Bildungs-, Gesundheits- und Umweltsystemen zu stärken, da die Auswirkungen von den Mächtigsten verschärft und von den Schwächsten unverhältnismäßig stark getragen werden." (Wirtschaftliche Verlangsamung, S. 17)

"Angesichts der Verwundbarkeiten, die durch die Pandemie und später den Krieg aufgezeigt wurden, orientiert sich die Wirtschaftspolitik, insbesondere in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften, zunehmend an geopolitischen Zielen. Die Länder versuchen, eine ‘Selbstversorgung’ aufzubauen, die durch öffentliche Hilfen unterstützt wird, und ‘Souveränität’ gegenüber rivalisierenden Mächten zu erlangen, (...).

Dies könnte zu Ergebnissen führen, die dem angestrebten Ziel zuwiderlaufen, zu einer geringeren Widerstandsfähigkeit und einem geringeren Produktivitätswachstum führen und das Ende einer Wirtschaftsära einläuten, die durch billigeres und globalisiertes Kapital, Arbeitskräfte, Rohstoffe und Güter gekennzeichnet war.

Diese Situation wird wahrscheinlich weiterhin bestehende Bündnisse schwächen, da sich die Nationen auf sich selbst zurückziehen werden" (Geoökonomische Konfrontation, S. 19).

"Heute haben die atmosphärischen Werte von Kohlendioxid, Methan und Distickstoffoxid allesamt Höchststände erreicht. Die Emissionspfade machen es sehr unwahrscheinlich, dass die globalen Ambitionen, die Erwärmung auf 1,5°C zu begrenzen, erreicht werden.

Die jüngsten Ereignisse haben eine Diskrepanz zwischen dem, was wissenschaftlich notwendig ist, und dem, was politisch opportun ist, deutlich gemacht.

Dennoch haben geopolitische Spannungen und wirtschaftlicher Druck die Fortschritte bei der Eindämmung des Klimawandels bereits eingeschränkt – und in einigen Fällen sogar umgekehrt –, zumindest auf kurze Sicht. So hat die EU beispielsweise mindestens 50 Milliarden Euro für den Auf- und Ausbau der Infrastruktur und der Versorgung mit fossilen Brennstoffen ausgegeben, und einige Länder haben Kohlekraftwerke wieder in Betrieb genommen.

Die bittere Realität, dass 600 Millionen Menschen in Afrika keinen Zugang zu Elektrizität haben, verdeutlicht die Unfähigkeit, den Wandel zu denen zu bringen, die ihn brauchen, und die anhaltende Attraktivität von schnellen Lösungen auf der Grundlage fossiler Brennstoffe, trotz der damit verbundenen Risiken.

Der Klimawandel wird auch zunehmend zu einem Schlüsselfaktor für Migration werden, und es gibt Hinweise darauf, dass er bereits zur Entstehung von Terrorgruppen und Konflikten in Asien, dem Nahen Osten und Afrika beigetragen hat." (Die Kluft in der Klimapolitik, S. 21).

In dieser Feststellung über den Zustand der heutigen Welt finden sich alle Elemente wieder, die in unserem Text vom Oktober 2022 zitiert wurden, und zwar oft in ausführlicherer Form. Insbesondere die vier Hauptmerkmale der gegenwärtigen Situation:

- die zunehmende Schwere der Auswirkungen des Zerfalls;

- das Hereinbrechen der Auswirkungen des Zerfalls auf die Wirtschaft;

- die zunehmende Wechselwirkung seiner Effekte, wodurch sich die Widersprüche des Kapitalismus in einem bisher nicht gekannten Ausmaß verschärfen;

- die zunehmende Präsenz seiner Auswirkungen in den Kernländern;

sind im WEF-Dokument durchaus präsent, wenn auch mit etwas anderen Worten und Artikulationen, und die politischen Auswirkungen des Zerfalls auf die am weitesten entwickelten Länder werden mit etwas "zaghaften" Worten angesprochen: Man will die Regierungen und politischen Kräfte dieser Länder nicht verärgern, indem man ihre zunehmend irrationale und chaotische Politik anspricht.

Insbesondere betont der WEF-Bericht die zunehmende Interaktion der Zerfallseffekte, die wir als "Strudel-Effekt" bezeichnen. Dazu führt er den Begriff "Polykrise" ein, der bereits in den 1990er Jahren von Edgar Morin verwendet wurde, einem französischen "Philosophen", der mit Castoriadis, dem Mentor der Gruppe Socialisme ou Barbarie, befreundet war. Die Definitionen dieses Begriffs, die der WEF-Bericht übernimmt, lauten wie folgt:

"Ein Problem wird zur Krise, wenn es unsere Fähigkeit zur Bewältigung in Frage stellt und damit unsere Identität bedroht. In der Polykrise sind die Schocks disparat, aber sie interagieren so, dass das Ganze noch erdrückender ist als die Summe seiner Teile.

Eine andere Erklärung für Polykrisen wäre folgende: Wenn multiple Krisen in multiplen globalen Systemen kausal ineinandergreifen, so dass sich die Aussichten der Menschheit erheblich verschlechtern."

Diese "erhebliche Verschlechterung der Aussichten der Menschheit" findet sich im WEF-Bericht im Kapitel mit dem Titel "Global Risks 2033: Tomorrow's Catastrophes" ("Globale Risiken 2033: Die Katastrophen von morgen"), ein Titel, der bereits die Tonalität dieser Aussichten verdeutlicht. Auch einige der Untertitel sind bedeutsam: "Natürliche Ökosysteme: Der Punkt ohne Umkehr ist überschritten", "Menschliche Gesundheit: Perma-Pandemien und chronische Kapazitätsherausforderungen", "Menschliche Sicherheit: Neue Waffen, neue Konflikte".

Konkreter sind hier einige Beispiele, wie der WEF-Bericht diese Themen untergliedert:

"Die biologische Vielfalt innerhalb und zwischen den Ökosystemen geht bereits jetzt schneller zurück als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in der Geschichte der Menschheit.

Menschliche Eingriffe haben sich negativ auf ein komplexes und fein ausbalanciertes globales natürliches Ökosystem ausgewirkt und eine Kette von Reaktionen ausgelöst. In den nächsten zehn Jahren wird das Zusammenspiel von Verlust der biologischen Vielfalt, Umweltverschmutzung, Verbrauch natürlicher Ressourcen, Klimawandel und sozioökonomischen Faktoren eine gefährliche Mischung bilden. Da schätzungsweise mehr als die Hälfte der weltweiten Wirtschaftsleistung mäßig oder stark von der Natur abhängt, wird der Zusammenbruch der Ökosysteme erhebliche wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen haben. Dazu gehören das vermehrte Auftreten von zoonotischen Krankheiten, geringere Ernteerträge und ein geringerer Nährwert, zunehmender Wasserstress, der potenziell gewalttätige Konflikte verschärft, der Verlust von Lebensgrundlagen, die von Nahrungsmittelsystemen und natürlichen Dienstleistungen wie der Bestäubung abhängen, sowie immer dramatischere Überschwemmungen, ein Anstieg des Meeresspiegels und Erosionen aufgrund der Schädigung natürlicher Hochwasserschutzsysteme wie Wasserwiesen und Küstenmangroven.

Naturzerstörung und Klimawandel sind intrinsisch miteinander verbunden – ein Misserfolg in der einen Sphäre wird sich kaskadenartig in der anderen auswirken, und um eine Netto-Null zu erreichen, werden Minderungsmaßnahmen für beide Hebel erforderlich sein. Wenn es uns nicht gelingt, die Erwärmung auf +1,5°C oder sogar 2°C zu begrenzen, werden die anhaltenden Auswirkungen von Naturkatastrophen sowie Temperatur- und Niederschlagsveränderungen zur Hauptursache für den Verlust der biologischen Vielfalt in Bezug auf ihre Zusammensetzung und Funktion werden.

Die anhaltende Schädigung von Kohlenstoffsenken, z. B. durch Entwaldung und auftauende Permafrostböden, und der Rückgang der Produktivität der Kohlenstoffspeicherung (Böden und Ozean) könnten diese Ökosysteme in "natürliche" Quellen von Kohlenstoff- und Methanemissionen verwandeln. Der bevorstehende Kollaps der Eiskappen Grönlands und der Westantarktis könnte zum Anstieg des Meeresspiegels und zu Überschwemmungen an den Küsten beitragen, während das "Absterben" der Korallenriffe in niedrigen Breiten, die die Kinderstube des Meereslebens sind, mit Sicherheit Auswirkungen auf die Nahrungsmittelversorgung und die marinen Ökosysteme im weiteren Sinne haben wird.

Der Druck auf die Biodiversität wird wahrscheinlich durch die anhaltende Entwaldung für landwirtschaftliche Zwecke und die damit verbundene Nachfrage nach zusätzlichem Ackerland noch verstärkt, vor allem in subtropischen und tropischen Gebieten mit dichter Biodiversität, wie Subsahara-Afrika und Südostasien.

Man muss jedoch einen existenzielleren Rückkopplungsmechanismus berücksichtigen: Die Biodiversität trägt zur Gesundheit und Widerstandsfähigkeit von Böden, Pflanzen und Tieren bei, und ihr Rückgang gefährdet die Erträge der Nahrungsmittelproduktion und ihren Nährwert. Dies könnte dann die Entwaldung anheizen, die Lebensmittelpreise erhöhen, die lokalen Lebensgrundlagen gefährden und zu ernährungsbedingten Krankheiten und Todesfällen beitragen. Es kann auch zu unfreiwilliger Migration in großem Maßstab führen.

Es ist klar, dass der Umfang und das Tempo, die für den Übergang zu einer grünen Wirtschaft erforderlich sind, neue Technologien erfordern. Einige dieser Technologien dürften jedoch neue Auswirkungen auf natürliche Ökosysteme haben, und die Möglichkeiten, die Ergebnisse ‘in der Praxis zu testen’, sind begrenzt" (Natürliche Ökosysteme: Der Punkt ohne Umkehr ist überschritten, S. 31).

"Die globale öffentliche Gesundheit steht unter wachsendem Druck, und die Gesundheitssysteme auf der ganzen Welt laufen Gefahr, nicht mehr angemessen zu funktionieren.

Angesichts der aktuellen Krisen kann die psychische Gesundheit auch durch zunehmende Stressfaktoren wie Gewalt, Armut und Einsamkeit verschärft werden.

Die Gesundheitssysteme sehen sich mit erschöpften Arbeitenden und anhaltenden Engpässen konfrontiert, und das zu einer Zeit, in der die Haushaltskonsolidierung die Aufmerksamkeit und die Ressourcen auf andere Stellen abzulenken droht. Im nächsten Jahrzehnt könnten häufigere und ausgedehntere Epidemien von Infektionskrankheiten im Zusammenhang mit chronischen Krankheiten erschöpfte Gesundheitssysteme weltweit an den Rand des Zusammenbruchs bringen. (...)

Der Klimawandel dürfte auch die Unterernährung verschärfen, da die Ernährungsunsicherheit zunimmt. Der Anstieg des Kohlendioxidgehalts in der Atmosphäre kann zu Nährstoffmangel bei Pflanzen führen und sogar die Aufnahme von Schwermineralien beschleunigen, die mit Krebs, Diabetes, Herzerkrankungen und Wachstumsstörungen in Verbindung gebracht wurden." (Menschliche Gesundheit: Perma-Pandemien und chronische Kapazitätsherausforderungen, S. 35)

"Eine Umkehr des Trends zur Entmilitarisierung wird das Risiko von Konflikten erhöhen, und zwar in einem potenziell zerstörerischeren Ausmaß. Das wachsende Misstrauen und der Argwohn zwischen globalen und regionalen Mächten haben bereits zu einer Neufestlegung der Prioritäten bei den Militärausgaben und zu einer Stagnation der Nichtverbreitungsmechanismen geführt. Die Verbreitung wirtschaftlicher, technologischer und damit auch militärischer Macht auf eine Vielzahl von Ländern und Akteuren ist die Ursache für die jüngste Iteration eines globalen Wettrüstens.

Die Verbreitung von zerstörerischeren Militärwaffen und neuer Technologien kann neue Formen der asymmetrischen Kriegsführung ermöglichen, die es kleinen Mächten und Einzelpersonen erlauben, auf nationaler und globaler Ebene größere Wirkung zu erzielen" (Menschliche Sicherheit: Neue Waffen, neue Konflikte, S. 38).

"Die Gesamtheit der aufkommenden Bedenken hinsichtlich des Angebots und der Nachfrage nach natürlichen Ressourcen wird bereits zu einem zunehmend besorgniserregenden Thema. Die Befragten der GRPS-Umfrage [Global Risks Perception Survey] haben starke Beziehungen und wechselseitige Verbindungen zwischen den ‘Krisen um natürliche Ressourcen’ und den anderen in den vorangegangenen Kapiteln identifizierten Risiken festgestellt.

Der Bericht beschreibt vier Zukunftsszenarien, die sich auf die Verknappung von Nahrungsmitteln, Wasser, Metallen und Mineralien konzentrieren und die alle eine humanitäre und ökologische Krise auslösen könnten – von Wasserkriegen und Hungersnöten bis hin zur anhaltenden Übernutzung ökologischer Ressourcen und der Verlangsamung von Klimaschutz und -anpassung." (Rivalitäten um Ressourcen: Vier Zukunftsszenarien, S. 57)

Die Schlussfolgerung des Berichts gibt uns ein zusammenfassendes Bild davon, wie die Welt im Jahr 2030 aussehen wird:

"Globale Armut, klimasensitive Existenzkrisen, Unterernährung und ernährungsbedingte Krankheiten, staatliche Instabilität und unfreiwillige Migration haben alle zugenommen, wodurch Instabilität und humanitäre Krisen verlängert und ausgeweitet werden. (...)

Die Unsicherheit in Bezug auf Ernährung, Energie und Wasser wird zu einem Faktor, der zu sozialer Polarisierung, zivilen Unruhen und politischer Instabilität führt.

Übernutzung und Verschmutzung – die Tragödie der globalen Gemeingüter – haben sich ausgebreitet. Hungersnöte sind in einem Ausmaß zurückgekehrt, wie es sie im letzten Jahrhundert nicht gegeben hat. Das Ausmaß der humanitären und ökologischen Krisen verdeutlicht die Lähmung und Ineffizienz der wichtigsten multilateralen Mechanismen angesichts der Krisen, mit denen die Weltordnung konfrontiert ist, die sich in eine Spirale von Polykrisen verwandeln, die sich fortsetzen und verschärfen".

Der Bericht versucht an einigen Stellen, seine Leser nicht zu sehr verzweifeln zu lassen, indem er z. B. sagt:

"Einige der im diesjährigen Bericht beschriebenen Risiken stehen kurz vor einem Wendepunkt. Es ist an der Zeit, kollektiv, entschlossen und mit einer langfristigen Perspektive zu handeln, um den Weg zu einer positiveren, integrativeren und stabileren Welt zu ebnen." Insgesamt zeigt er jedoch, dass die Mittel "für kollektives, entschlossenes Handeln" im gegenwärtigen System nicht vorhanden sind.

In dem Text von 1990 haben wir die Entwicklung unserer Analyse auf die Feststellung gestützt, dass auf globaler Ebene eine ganze Reihe von tödlichen oder chaotischen Erscheinungsformen des sozialen Lebens aufgetreten sind oder sich verschlimmert haben. Wir können sie hier noch einmal aufrufen, um festzustellen, wie sehr die gegenwärtige Situation, wie sie oben dargestellt wurde, diese Erscheinungen verschärft und verstärkt hat:

- "die Zunahme von Hungersnöten in den Ländern der 'Dritten Welt'";

- "die Umwandlung der 'Dritten Welt' in ein gewaltiges Slum" und "die Ausbreitung desselben Phänomens im Herzen der großen Städte der 'fortgeschrittenen' Länder";

- "die 'zufälligen' Katastrophen" und "die immer zerstörerischeren Folgen von ‘Naturkatastrophen’ auf menschlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene";

- "die Umweltverschmutzung (tote Flüsse, Meere als Kloaken, verseuchte Luft in den Städten", radioaktive Verseuchung, "Treibhauseffekt";

- die Ausbreitung von "Epidemien";

- "die unglaubliche Korruption, die im politischen Apparat [der herrschenden Klasse] wächst und gedeiht".

Das Phänomen der Korruption wird im WEF-Bericht nicht behandelt (man soll die Korrupten nicht verärgern!). Trotz aller "tugendhaften" Programme gedeiht diese Geißel nur, natürlich besonders in den Ländern der Dritten Welt: Der Sieg der Taliban in Afghanistan und das Vordringen dschihadistischer Gruppen in der Sahelzone verdanken beispielsweise viel der ungezügelten Korruption der Regime, die an ihrer Spitze standen oder stehen. In den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, allen voran Russland und die Ukraine, regieren Mafiastrukturen. Doch dieses Phänomen macht auch vor den am weitesten entwickelten Ländern nicht halt, mit all den Machenschaften (die nur die Spitze des Eisbergs sind), die durch die "Panama Papers" und andere Instanzen aufgedeckt wurden. Ebenso fließen die "Petrodollars" in Strömen in Richtung der fortgeschrittenen Länder, insbesondere der europäischen, um mit der Gefälligkeit von "Entscheidungsträgern dieser Länder" absurde und schädliche Entscheidungen zu erkaufen, wie die Vergabe der Fußballweltmeisterschaft an Katar oder (unglaublich, aber wahr) die Vergabe der Asiatischen Winterspiele an Saudi-Arabien! Ein Höhepunkt wurde jedoch erreicht, als die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, einer Institution, die unter anderem die Korruption bekämpfen sollte, mit Koffern voller Banknoten aus Katar erwischt wurde.

Schließlich ist klar, dass die schreckliche Zahl der Todesopfer bei den Erdbeben in der Türkei und in Syrien Anfang Februar hauptsächlich auf die Korruption zurückzuführen ist, die es den Bauunternehmern ermöglichte, sich über die offiziellen Erdbebenschutzvorschriften hinwegzusetzen, um ihre Profite zu steigern.

Die "allgemeine Tendenz der Bourgeoisie, die Kontrolle über die Leitung ihrer Politik zu verlieren":

Wie wir gesehen haben, wird diese Frage im WEF-Bericht sehr vorsichtig behandelt, insbesondere wenn er von einer "existenziellen Herausforderung für die politischen Systeme der Welt" und der "Wahl von weniger zentristischen Führern" spricht.

Schließlich werden 1990 identifizierte Erscheinungsformen des Zerfalls weder im WEF-Bericht (aus oft "diplomatischen" Gründen) noch in unserem Text vom Oktober 2022 direkt erwähnt, weil sie im Vergleich zum Kerngedanken dieses Textes zweitrangig waren: dem beträchtlichen Schritt, den der Zerfall mit dem Eintritt in die 2020er Jahre gemacht hat.

Der "ununterbrochene Anstieg der Kriminalität, der Unsicherheit, der Gewalt in den Städten, von denen in wachsendem Maße die Kinder betroffen sind":

Hierfür gibt es zwei Beispiele (unter vielen anderen): die anhaltenden massenhaften Tötungen in den USA und die jüngsten Morde an mehreren Teenagern durch andere Teenager in Frankreich.

Die "Ausbreitung des Nihilismus, [des] 'no future', des Hasses und der Fremdenfeindlichkeit":

Die Zunahme von rassistischem Hass (oft im Namen der Religion), der den Nährboden bildet, auf dem rechtsextreme Populisten gedeihen (Nigel Farrage in Großbritannien, Trump und seine "Fans" in den USA, Le Pen in Frankreich, Meloni in Italien usw.).

Die "Flutwelle der Drogen, die besonders die Jugend erfassen":

Kein Rückgang dieser Geißel, veranschaulicht durch die Macht der Drogenbanden wie in Mexiko.

Die "Fülle an Sekten, das Wiederaufleben religiöser Geisteshaltungen auch in fortgeschrittenen Ländern":

Es gibt heute zahlreiche Beispiele für die Verschärfung dieses Phänomens durch den Aufstieg:

- des Salafismus, der obskursten Version des Islams;

- des rechtsextremen christlichen Fanatismus, der durch die wachsende Bedeutung der Evangelikalen wie in den USA oder Brasilien veranschaulicht wird;

- eines kriegerischen und fremdenfeindlichen Hinduismus in Indien (dem bevölkerungsreichsten Land der Welt);

- eines rechtsextremen "Kampfjudentums" in Israel.

Natürlich vermeidet es der WEF-Bericht sorgfältig, diese Phänomene zu erwähnen: Man muss höflich sein gegenüber den Teilnehmern des Davoser Forums, die Regierungen vertreten, für die Religion und religiöser Fanatismus ein wichtiges politisches Instrument ihrer Macht darstellen.

Die "Ablehnung eines vernunftgesteuerten, zusammenhängenden, konstruktiven Denkens, auch in Teilen einiger 'wissenschaftlicher' Milieus":

Jüngste Entwicklung von Verschwörungstheorien, insbesondere zum Zeitpunkt der Covid-Pandemie, die oft mit rechtsextremer Ideologie in Verbindung stehen. Mit einem Gegenstück auf der anderen Seite des politischen Spektrums: dem wachsenden Erfolg des "Wokismus", einer aus den amerikanischen Universitäten stammenden Strömung, deren "Radikalität" darin besteht, sich in kleinen "militanten" Kapellen um völlig bürgerliche Themen zu gruppieren, die vorgeben, "das System zu bekämpfen".

Das "'Jeder für sich', die Atomisierung des Einzelnen":

Ein dramatisches Beispiel ist die Isolation älterer Menschen während der Pandemie vor dem Einsatz von Impfstoffen, insbesondere in Altenheimen. Und auch die Not der Familien der Verstorbenen.

Alle Passagen in Anführungszeichen sind den Thesen von 1990 entnommen. Sie geben die Merkmale wieder, die zu diesem Zeitpunkt bereits in der Welt vorhanden waren und die wir als Grundlage für unsere Analyse heranzogen. Diese gleichzeitige Häufung all dieser katastrophalen Erscheinungen, ihre Quantität, deuteten darauf hin, dass eine qualitativ neue Periode in der Geschichte des kapitalistischen Verfalls begann. In den Thesen war die Wechselwirkung zwischen einer Reihe dieser Manifestationen bereits vorhanden. Damals hatten wir jedoch vor allem den gemeinsamen Ursprung dieser Erscheinungsformen hervorgehoben, die sich in gewisser Weise parallel zu entwickeln schienen, ohne miteinander in Wechselwirkung zu treten. Insbesondere hatten wir festgestellt, dass die Wirtschaftskrise des Kapitalismus zwar grundsätzlich die Ursache für das Phänomen des Zerfalls der Gesellschaft war, dass sie aber von den verschiedenen Erscheinungsformen dieses Zerfalls nicht wirklich betroffen war.

Am 22. Kongress wiesen wir nicht nur auf zwei neue, miteinander verbundene Erscheinungsformen des Zerfalls hin – die Masseneinwanderung und den Aufstieg des Populismus –, sondern auch darauf, dass die Wirtschaft allmählich vom Zerfall betroffen ist (insbesondere durch den Aufstieg des Populismus), während sie zuvor noch relativ unberührt geblieben war. Heute erlebt diese Wechselwirkung zwischen grundlegenden Aspekten der Weltlage und von entscheidender historischer Bedeutung einen dramatischen und dramatischen Aufschwung. Unser Text vom Oktober 2022 und der WEF-Bericht machen deutlich, wie sehr sich diese verschiedenen Erscheinungsformen nun gegenseitig bedingen.

So kommt es mit dem Eintritt in die 2020er Jahre und insbesondere 2022 zu einer Beschleunigung der Geschichte, zu einer weiteren dramatischen Verschärfung des Zerfalls, der die menschliche Gesellschaft, ja sogar die menschliche Spezies – und das wird von einer wachsenden Zahl von Menschen wahrgenommen – in die Vernichtung treibt.

Diese Verschärfung der verschiedenen Konvulsionen auf dem Planeten, ihre zunehmende Wechselwirkung, ist eine Bestätigung nicht nur unserer Analyse, sondern auch der marxistischen Methode, auf der sie beruht – einer Methode, die andere Gruppen im Proletarischen Politischen Milieu bei der Ablehnung unserer Analyse des Zerfalls gerne "vergessen".

Teil II: Die marxistische Methode als unverzichtbares Werkzeug zum Verständnis der heutigen Welt

Dieser Teil des Berichts, den wir nachstehend veröffentlichen, wurde um eine Reihe von Entwicklungen erweitert, die Teil der Methode des Marxismus zur Erfassung der Realität sind. Sie waren in der dem Kongress vorgelegten Fassung nicht explizit enthalten, untermauern diese aber. Der Zweck einer solchen Ergänzung besteht darin, die öffentliche Debatte zur Verteidigung der marxistischen Auffassung des Materialismus gegen die vulgäre Auffassung des Materialismus, die von den meisten Teilen des Proletarischen Politischen Milieus (PPM), insbesondere den „Damenisten“ und „Bordigisten“, vertreten wird, anzuregen.

Die Geschichte ist die Geschichte des Klassenkampfes

Insgesamt haben die Gruppen des PPM sehr wenig von dem verstanden, was wir mit unserer Analyse über den Zerfall meinen. Wer sich die Mühe gemacht hat, bei der Widerlegung dieser Analyse am weitesten zu gehen, ist die „bordigistische“ Gruppe Partito Comunista Internazionale - Il Comunista, die in Frankreich Le Prolétaire herausgibt. Sie widmete unserer Analyse des Aufstiegs des Populismus in verschiedenen Ländern und seiner Verbindung mit der Analyse über den Zerfall (die er als "berühmt und wolkig" („fameuse et fumeuse“) bezeichnet) zwei Artikel, aus denen hier einige Auszüge zitiert werden:

"Révolution Internationale erklärt uns die Wurzeln dieses sogenannten ‚Zerfalls‘: ‚“die gegenwärtige Unfähigkeit der beiden grundlegenden und antagonistischen Klassen, der Bourgeoisie und des Proletariats, ihre eigene Perspektive (Weltkrieg oder Revolution) in den Vordergrund zu stellen, hat zu einer Situation der ‚momentanen Blockade‘ und des Verrottens der Gesellschaft stehenden Fußes geführt“. Die Proletarier, die tagtäglich mit ansehen müssen, wie sich ihre Ausbeutungs- und Lebensbedingungen verschlechtern, werden sich freuen zu erfahren, dass ihre Klasse in der Lage ist, die Bourgeoisie zu blockieren und sie daran zu hindern, ihre ‚Perspektiven‘ voranzutreiben ...“ (Le Prolétaire 523).

"Wir bestreiten also, dass die Bourgeoisie „die Kontrolle über ihr System“ politisch verloren habe und dass die von den Regierungen Großbritanniens oder der Vereinigten Staaten verfolgte Politik auf eine mysteriöse Krankheit namens ‚Populismus‘ zurückzuführen sei, die durch „das Abgleiten der Gesellschaft in die Barbarei“ verursacht werde, (…) Um es ganz allgemein zu sagen: Diese Wendungen (zu denen man auch die Fortschritte der extremen Rechten in Schweden oder Deutschland mit Unterstützung eines Teils des bürgerlichen politischen Personals zählen könnte) haben die Funktion, ein Bedürfnis der bürgerlichen Herrschaft zu befriedigen, sei es innen- oder außenpolitisch, in einer Situation, in der sich die wirtschaftlichen und politischen Risiken auf internationaler Ebene anhäufen – und nicht etwas, das ‚“das politische Spiel stört mit der Folge eines zunehmenden Kontrollverlusts des bürgerlichen politischen Apparats auf der Ebene der Wahlen" (Le Prolétaire 530).

Was die Vorstellung betrifft, dass der Populismus einer echten "realistischen" Politik der Bourgeoisie entspreche, die von dieser kontrolliert werde, sollten die Ereignisse der letzten Jahre in Großbritannien Le Prolétaire zu denken geben.

Wie man sieht, macht sich diese Gruppe die Mühe, zum Kern unserer Analyse vorzudringen: zur Pattsituation zwischen den Klassen, die infolge der historischen Wiedererstarkung des Weltproletariats 1968 entstanden war (die Le Prolétaire wie das gesamte PPM verkannte). Tatsächlich steckt hinter dieser Verkennung das Unverständnis und die Ablehnung des Begriffs des Historischen Kurses, der auf eine Meinungsverschiedenheit verweist, die wir mit den Gruppen haben, die aus dem Partito von 1945 hervorgingen.

Die Existenz der Zerfallsperiode zu bestreiten, wie es die „Bordigisten tun, bedeutet die Leugnung der grundlegenden historischen Rolle, die der Klassenkampf bei der Entwicklung der Weltsituation gespielt hat. Mit anderen Worten: eine erhebliche Abkehr von der marxistischen Methode. Den entscheidenden Faktor des Klassenkampfes nur in den außergewöhnlichen Momenten anzuerkennen, in denen das Proletariat offen auf der Weltbühne auftritt, d.h. wenn die Fähigkeiten der Arbeiterklasse für jede und jeden offensichtlich sind, ist ein Hinweis auf den Niedergang der Epigonen der Italienischen Kommunistischen Linken.

Dass die Bourgeoisie zu allen Zeiten, ob in Zeiten der Niederlage oder des Rückzugs oder in Zeiten der Revolution, immer gelernt hat, auf die Dispositionen der Arbeiterklasse Rücksicht zu nehmen, war dem Marxismus schon nach 1848 bekannt, nach der blutigen Niederschlagung des Aufstands des französischen Proletariats im Juni jenes Jahres. Marx' Achtzehnter Brumaire des Louis Bonaparte, den Engels stets als Paradebeispiel für die Anwendung der Methode des historischen Materialismus auf Weltereignisse darstellte, zeigt, dass die Bourgeoisie nach den Ereignissen von 1848 gezwungen war, die Arbeiterklasse, auch wenn sie besiegt war, dennoch als ihren historischen Gegner anzuerkennen. Diese Anerkennung war ein wichtiger Faktor bei der Ausrichtung der herrschenden Klasse hinter dem Staatsstreich von Louis Bonaparte 1852 und der Unterdrückung der republikanischen Fraktion der Bourgeoisie.[1]

Als weitere Nachfolgerin des Partito von 1945 hat die Internationalistische Kommunistische Tendenz (IKT, ehemals Internationales Büro für die Revolutionäre Partei) ebenfalls das ABC des historischen Materialismus aufgegeben, wonach "die Geschichte die Geschichte des Klassenkampfes ist", und sie stellt stolz ihre Ignoranz gegenüber der gegenwärtigen Periode des Zerfalls des Weltkapitalismus und seiner zugrunde liegenden Ursachen, die im Zustand der Klassenantagonismen liegen, zur Schau.

Die IKT versucht auch, unsere Analyse als nicht marxistisch und idealistisch darzustellen:

"Nach dem Zusammenbruch der UdSSR erklärte die IKS dann auf einmal, der Zusammenbruch der UdSSR habe eine neue Situation hervorgebracht, in der der Kapitalismus eine neue Stufe, die sie “Zerfall“ nennt, erreicht hat. In ihrem Unverständnis für die Funktionsweise des Kapitalismus ist für die IKS so ziemlich jedes Ungemach – vom religiösen Fundamentalismus bis hin zu den zahlreichen Kriegen, die nach dem Zusammenbruch des Ostblocks ausgebrochen sind, lediglich Ausdruck von Chaos und Zerfall. Wir denken, dies liegt nahe dran, vollständig den Boden des Marxismus zu verlassen, da diese Kriege ebenso wie die früheren Kriege der dekadenten Phase des Kapitalismus Resultat eben dieser imperialistischen Ordnung sind. (...) Eine Überproduktion von Kapital und Waren, die zyklisch durch den tendenziellen Fall der Profitrate hervorgerufen wird, führt zur Wirtschaftskrise und zu Widersprüchen, die wiederum den imperialistischen Krieg erzeugen. Sobald dann (durch den Krieg) ausreichend Kapital abgewertet und genügend Produktionsmittel zerstört wurden, kann ein neuer Produktionszyklus beginnen. Wir befinden uns in der Endphase eine solche Krise seit 1973 und ein neuer Akkumulationszyklus hat noch nicht begonnen" (Marxismus oder Idealismus - Unsere Differenzen mit der IKS).

Es ist fraglich, ob sich die Genossen der IKT (die glauben, dass wir nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 plötzlich unsere Analyse über den Zerfall aus dem Hut gezaubert hätten) die Mühe gemacht haben, unseren Grundlagentext von 1990 zu lesen. In seiner Einleitung sprachen wir Klartext: "Schon vor den Ereignissen in Osteuropa hat die IKS auf dieses historische Phänomen aufmerksam gemacht (siehe INTERNATIONALE REVUE, Nr. 11)." Es ist auch eine bedauerliche Oberflächlichkeit, uns die Idee zu unterstellen, dass "fast alles Schlechte (...) nur ein Ausdruck von Chaos und Zerfall" sei. Und sie hauen uns einen Grundgedanken um die Ohren, an den wir ihrer Meinung nach nicht gedacht haben: "Diese Kriege sind ebenso wie die früheren Kriege in der dekadenten Phase des Kapitalismus das Ergebnis dieser imperialistischen Ordnung selbst". Was für eine Erkenntnis! Wir haben nie etwas anderes gesagt, aber die Frage, die gestellt wird und die sie sich nicht stellen, ist, in welchen allgemeinen historischen Kontext sich die imperialistische Ordnung heute einfügt. Für die Militanten der IKT reicht es aus, dass genügend konstantes Kapital vernichtet wird, damit ein neuer Akkumulationszyklus beginnen kann. Aus dieser Sicht sind die Zerstörungen, die heute in der Ukraine stattfinden, eine Wohltat für die Gesundheit der Weltwirtschaft. Wir werden diese Botschaft an die Wirtschaftsführer der Bourgeoisie weitergeben müssen, die auf dem jüngsten Forum in Davos, wie wir gesehen haben, über die Perspektive der kapitalistischen Welt und insbesondere über die negativen Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die Weltwirtschaft alarmiert sind. Tatsächlich täten diejenigen, die uns einen Bruch mit dem marxistischen Ansatz bescheinigen, gut daran, die grundlegenden Texte von Marx und Engels erneut zu lesen (oder überhaupt zu lesen) und zu versuchen, die von ihnen angewandte Methode zu verstehen. Wenn die Tatsachen selbst, die Entwicklung der Weltlage, Tag für Tag die Gültigkeit unserer Analyse bestätigen, dann zum großen Teil deshalb, weil sie sich fest auf die dialektische Methode des Marxismus stützt (auch wenn es in den Thesen von 1990 keinen ausdrücklichen Verweis auf diese Methode und keine Zitate von Marx oder Engels gibt).

In ihrer Ablehnung der Analyse des Zerfalls des Weltkapitalismus zeichnet sich die IKT dadurch aus und bringt sich in Verlegenheit, dass sie ihre polemische, wenn auch stumpfe Axt auch gegen einen anderen Pfeiler der Marxschen Methode des historischen Materialismus richtet, der in Marx' Vorwort Zur Kritik der Politischen Ökonomie von 1859 zusammengefasst ist (und im ersten Punkt der Plattform der IKT wieder aufgegriffen wird). Die Produktionsverhältnisse in jeder Gesellschaftsformation der menschlichen Geschichte – Verhältnisse, die die Interessen und Handlungen der aus ihnen hervorgehenden entgegengesetzten Klassen bestimmen – verwandeln sich immer aus Faktoren der Entwicklung der Produktivkräfte in einer aufsteigenden Phase in negative Hemmnisse derselben Kräfte in einer anderen Phase, wodurch die Notwendigkeit einer sozialen Revolution entsteht. Aber die Periode des Zerfalls, der Höhepunkt eines Jahrhunderts der Dekadenz des Kapitalismus als Produktionsweise, existiert für die IKT schlichtweg nicht.

Obwohl die IKT den Ausdruck "Dekadenzphase des Kapitalismus" verwendet, hat sie nicht verstanden, was diese Phase für die Entwicklung der Wirtschaftskrise des Kapitalismus oder der daraus resultierenden imperialistischen Kriege bedeutet.

In der Zeit des Aufstiegs des Kapitalismus waren die Produktionszyklen – gemeinhin als Booms und Zusammenbrüche bezeichnet – der Herzschlag eines sich allmählich ausdehnenden Systems. Die begrenzten Kriege dieser Zeit konnten entweder diese Progression durch nationale Konsolidierung beschleunigen – wie es der französisch-preußische Krieg von 1871 für Deutschland tat – oder durch koloniale Eroberung neue Märkte gewinnen. Die Verwüstungen der beiden Weltkriege, die imperialistischen Zerstörungen der dekadenten Periode und ihre Folgen drücken im Kontrast dazu den Ruin des kapitalistischen Systems und seine Ausweglosigkeit als Produktionsweise aus.

Für die IKT jedoch ist die gesunde Dynamik der kapitalistischen Akkumulation des 19. Jahrhunderts ewig: Für diese Organisation haben die Produktionszyklen nur an Größe zugenommen. Und das führt sie zu der Absurdität, dass ein neuer kapitalistischer Produktionszyklus in der Asche eines dritten Weltkriegs gedüngt werden könne.[2] Selbst die Bourgeoisie ist nicht so dumm optimistisch, was die Aussichten ihres Systems angeht, und hat ein besseres Verständnis für das Zeitalter der Katastrophen, mit dem sie konfrontiert ist.

Die IKT mag "ökonomisch materialistisch" sein, aber nicht im marxistischen Sinne der Analyse der Entwicklung der Produktionsverhältnisse unter grundlegend veränderten historischen Bedingungen.

In drei grundlegenden Werken der Arbeiterbewegung, Marx' Das Kapital, Rosa Luxemburgs Die Akkumulation des Kapitals und Lenins Staat und Revolution, findet man eine historische Herangehensweise an die untersuchten Fragen. Marx widmet viele Seiten der Erklärung, wie sich die kapitalistische Produktionsweise, die die Gesellschaft seiner Zeit bereits voll beherrscht, im Laufe der Geschichte entwickelt hat. Rosa Luxemburg untersucht, wie die Frage der Akkumulation von verschiedenen älteren Autoren gestellt wurde, und Lenin tut das Gleiche in Bezug auf die Frage des Staates. Bei diesem historischen Ansatz geht es darum, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Realitäten, die man untersucht, keine statischen, unantastbaren Dinge sind, die zu allen Zeiten existiert haben, sondern Prozessen entsprechen, die sich ständig verändern und Elemente der Kontinuität, aber auch und vor allem der Transformation und sogar des Bruchs aufweisen. Die Thesen von 1990 versuchen, sich von diesem Ansatz inspirieren zu lassen, indem sie die aktuelle historische Situation in die allgemeine Geschichte der Gesellschaft, die Geschichte des Kapitalismus und insbesondere die Geschichte des Niedergangs dieses Systems einordnen. Konkret stellen sie die Ähnlichkeiten zwischen der Dekadenz vorkapitalistischer Gesellschaften und derjenigen der kapitalistischen Gesellschaft fest, aber auch und vor allem die Unterschiede zwischen ihnen – eine Frage, die für das Eintreten der Zerfallsphase innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist: "(...) im Gegensatz zu den früheren Gesellschaften, als die neuen Produktionsverhältnisse, die den alten, überholten Produktionsverhältnissen folgen sollten, innerhalb der alten Gesellschaft heranreiften – was die Auswirkungen und das Ausmaß ihrer Dekadenz in gewisser Weise einschränkte –, [kann] die kommunistische Gesellschaft, die allein dem Kapitalismus folgen kann, sich nicht innerhalb desselben entwickeln (...); es gibt keine Möglichkeit irgendeiner Regeneration der Gesellschaft, wenn es zuvor nicht einen gewaltsamen Sturz der bürgerlichen Klasse und die Auslöschung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse gegeben hat" (These 1).

Im Gegensatz dazu kann der ahistorische Materialismus der IKT alle Ereignisse, alle Kriege, in allen Epochen erklären, indem er beschwörend dieselbe Formel anwendet: "Akkumulationszyklen". Dieser orakelhafte Materialismus erklärt, weil er alles erklärt, nichts, und deshalb kann er die Gefahr des Idealismus nicht austreiben. Im Gegenteil, die vom Vulgärmaterialismus geschaffenen Lücken müssen mit idealistischem Zement gefüllt werden. Wenn die tatsächlichen Bedingungen des revolutionären Kampfes des Proletariats nicht verstanden oder erklärt werden können, ist ein idealistischer Deus ex machina notwendig, um das Problem zu lösen: "die revolutionäre Partei". Dabei handelt es sich jedoch nicht um die kommunistische Partei, die unter bestimmten historischen Bedingungen entsteht und aufgebaut wird, sondern um eine fast mythische Partei, die zu jeder Zeit mit opportunistischer heißer Luft aufgeblasen werden kann.

Die dialektische Komponente des historischen Materialismus

Die Epigonen der Italienischen Linken[3] mussten also, als sie die Existenz einer Periode des Zerfalls des Weltkapitalismus beschrieben, versuchen, zwei wichtige Pfeiler der marxistischen Methode des historischen Materialismus zu beseitigen. Erstens die Tatsache, dass die Geschichte des Kapitalismus, wie jede frühere Geschichte, die Geschichte des Klassenkampfes ist, und zweitens die Tatsache, dass sich die entscheidende Rolle der ökonomischen Gesetze mit der historischen Entwicklung einer Produktionsweise verändert.

Es gibt eine dritte vergessene Forderung, die in den beiden anderen Aspekten der marxistischen Methode implizit enthalten ist: die Anerkennung der dialektischen Entwicklung aller Phänomene, einschließlich der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften, gemäß der Einheit der Gegensätze, die Lenin in seiner Arbeit zu diesem Thema während des Ersten Weltkriegs als das Wesen der Dialektik beschreibt. Während die Epigonen die Entwicklung nur in Begriffen der Wiederholung und der Zu- oder Abnahme sehen, versteht der Marxismus, dass die historische Notwendigkeit – der materialistische Determinismus – sich widersprüchlich und wechselwirkend ausdrückt, so dass Ursache und Wirkung ihren Platz wechseln können und die Notwendigkeit sich durch einen verschlungenen Pfad offenbart.

Für den Marxismus entsteht der Überbau der Gesellschaftsformationen, d. h. ihre politische, rechtliche und ideologische Organisation, auf der Grundlage der wirtschaftlichen Infrastruktur und wird von dieser bestimmt. Das haben auch die Epigonen so verstanden. Dass dieser Überbau jedoch sowohl als Ursache – wenn nicht sogar als Prinzip – als auch als Wirkung fungieren kann, entgeht ihnen. Engels musste gegen Ende seines Lebens in einer Reihe von Briefen, die er in den 1890er Jahren gegen den Vulgärmaterialismus der damaligen Epigonen richtete, genau diesen Punkt betonen. Seine Korrespondenz ist eine absolut wichtige Lektüre für diejenigen, die heute leugnen, dass der Zerfall des kapitalistischen Überbaus eine katastrophale Wirkung auf die wirtschaftlichen Grundlagen des Systems haben könnte.

"Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren auch aufeinander und auf die ökonomische Basis. Es ist nicht, dass die ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit." (Engels an Borgius, 25. Januar 1894, Hervorhebungen im Original)

In der Endphase des kapitalistischen Niedergangs, seiner Zerfallsperiode, wird die Rückwirkung des zerfallenden Überbaus auf die wirtschaftliche Infrastruktur immer stärker, wie die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-Pandemie, des Klimawandels und des imperialistischen Krieges in Europa – außer für die blinden Jünger von Bordiga und Damen – eindrücklich bewiesen haben.[4]

Marx hatte nicht die Möglichkeit, seine Methode, die er insbesondere in Das Kapital anwendete, zu erläutern, wie er es als Vorhaben formuliert hatte. Er erwähnte diese Methode nur sehr kurz im Nachwort der zweiten deutschen Ausgabe seines Buches. Es ist unsere Aufgabe, insbesondere angesichts der oft dummen Anschuldigungen des PPM (und noch mehr der Trittbrettfahrer), unsere Analyse sei "nicht marxistisch", sie sei "idealistisch", die Treue des Ansatzes der Thesen von 1990 gegenüber der dialektischen Methode des Marxismus hervorzuheben, aus denen in diesem Zusammenhang einige weitere Elemente in Erinnerung zu rufen sind:

Die Umwandlung von Quantität in Qualität

Dieser Gedanke taucht im Text von 1990 immer wieder auf. Es mag auch in der früheren Dekadenz des Kapitalismus Zerfallserscheinungen gegeben haben, aber heute beweist die Häufung dieser Erscheinungen eine Transformations-Bruchstelle im Leben der Gesellschaft und signalisiert den Eintritt in eine neue Epoche der kapitalistischen Dekadenz, in der der Zerfall zum bestimmenden Element wird. Diese Komponente der marxistischen Dialektik beschränkt sich nicht auf soziale Tatsachen. Wie Engels insbesondere im Anti-Dühring und Die Dialektik der Natur betont, ist dies ein Phänomen, das in allen Bereichen zu finden ist und das übrigens auch von anderen Denkern erfasst wurde. So zitiert Engels im Anti-Dühring einen Satz von Napoleon Bonaparte, der heißt: "Zwei Mameluken waren drei Franzosen unbedingt überlegen; (...) 1000 Franzosen warfen jedesmal 1500 Mameluken", was auf die Disziplin zurückzuführen ist, die wirksam wird, wenn sie eine große Anzahl von Kämpfern betrifft. Engels betont auch sehr stark, dass dieses Gesetz im Bereich der Wissenschaften voll und ganz gilt. Was die gegenwärtige historische Situation und die Zunahme einer ganzen Reihe von katastrophalen Tatsachen betrifft, so bedeutet es, der marxistischen Dialektik den Rücken zu kehren (was seitens der bürgerlichen Ideologie und der Mehrheit der akademischen "Spezialisten" normal ist), wenn man sich nicht auf dieses Gesetz der Umwandlung von Quantität in Qualität stützt, was jedoch für das gesamte PPM gilt, das versucht, eine spezifische und isolierte Ursache auf jede der katastrophalen Manifestationen der gegenwärtigen Geschichte anzuwenden.

Das Ganze ist mehr als die bloße Summe seiner Teile

Die verschiedenen Komponenten des gesellschaftlichen Lebens haben zwar jeweils ihre Eigenart und können unter bestimmten Umständen sogar eine relative Autonomie erlangen, aber sie bestimmen sich gegenseitig innerhalb einer Totalität, die "in letzter Instanz" (aber nur in letzter Instanz, wie Engels in seinem berühmten Brief an J. Bloch vom 21. September 1890 sagt) von der Produktionsweise und den Produktionsverhältnissen und ihrer Entwicklung regiert wird. Dies ist eine der Haupterscheinungen der gegenwärtigen Lage. Die verschiedenen Erscheinungsformen des Zerfalls, die anfangs vielleicht unabhängig voneinander erschienen, deren Häufung aber bereits darauf hindeutete, dass wir in eine neue Epoche des kapitalistischen Verfalls eingetreten waren, wirken nun in einer Art "Kettenreaktion" oder eines "Strudels" zunehmend aufeinander zurück, der der Geschichte die Beschleunigung aufprägt, von der wir Zeugen sind (einschließlich der "Experten" in Davos).

Die entscheidende Rolle der Zukunft

Schließlich steht die Entlehnung des historischen Ansatzes aus der marxistischen Dialektik, dieses wesentlichen Aspekts der Bewegung, der Transformation, im Mittelpunkt des Kerngedankens unserer Analyse über den Zerfall: "Tatsächlich kann sich keine Produktionsweise entwickeln, sich lebensfähig halten und den gesellschaftlichen Zusammenhalt sicherstellen, wenn sie nicht in der Lage ist, der von ihr dominierten Gesellschaft in ihrer Gesamtheit eine Perspektive anzubieten. Und dies trifft besonders auf den Kapitalismus als dynamischste Produktionsweise der Geschichte zu" (These 5). Und gerade heute kann einstweilen keine der beiden grundlegenden Klassen, weder die Bourgeoisie noch das Proletariat, der Gesellschaft eine solche Perspektive bieten.

Für diejenigen, die uns als "Idealisten" bezeichnen, ist es ein Skandal zu behaupten, dass ein ideologischer Faktor, das Fehlen eines Projekts in der Gesellschaft, das Leben der Gesellschaft maßgeblich beeinflussen kann. In Wirklichkeit beweisen sie damit, dass der Materialismus, auf den sie sich berufen, nichts anderes als ein Vulgärmaterialismus ist, der bereits seinerzeit von Marx kritisiert wurde, insbesondere in den Thesen über Feuerbach. In ihrer Sicht entwickeln sich die Produktivkräfte autonom. Und die Entwicklung der Produktivkräfte allein diktiert die Veränderungen in den Produktionsverhältnissen und den Beziehungen zwischen den Klassen.

Ihnen zufolge bleiben Institutionen und Ideologien, also der Überbau, so lange bestehen, wie sie die bestehenden Produktionsverhältnisse legitimieren, bewahren. Und daher werden Elemente wie Ideen, menschliche Moral oder auch politische Eingriffe in den historischen Prozess ausgeschlossen.

Der historische Materialismus enthält neben den wirtschaftlichen Faktoren auch andere Faktoren wie den Reichtum der Natur und Kontextfaktoren. Die Produktivkräfte enthalten viel mehr als nur Maschinen oder Technologie. Sie enthalten Wissen, Know-how und Erfahrung. Eigentlich alles, was den Arbeitsprozess ermöglicht oder ihn behindert. Die Form der Zusammenarbeit, des Zusammenschlusses sind selbst Produktivkräfte und ebenfalls ein wichtiger Bestandteil der wirtschaftlichen Transformation und Entwicklung.

Diejenigen, die man als "Anti-Dialektiker"[5] bezeichnen könnte, leugnen die Unterscheidung zwischen den objektiven und den subjektiven Bedingungen des revolutionären Kampfes. Sie leiten die Fähigkeit der Klasse von der bloßen Verteidigung ihrer unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen ab. Sie gehen davon aus, dass die Klasseninteressen des Proletariats auch seine Fähigkeit schaffen werden, diese Interessen zu verwirklichen und zu verteidigen. Sie leugnen die Kräfte, die am Werk sind, um die Arbeiterklasse systematisch zu desorganisieren, ihre Fähigkeiten zu vernichten, sie zu spalten und den Klassencharakter ihres Kampfes zu vernebeln.

Wie Lenin bemerkte, müssen wir konkrete Analysen der konkreten Situation erarbeiten. Und in der am weitesten entwickelten kapitalistischen Gesellschaft wird der Ideologie eine sehr wichtige Rolle zugewiesen, einem Apparat, der die bürgerlichen Interessen verteidigen, rechtfertigen und dem kapitalistischen System Stabilität verleihen soll. Deshalb betonte Marx, dass für die kommunistische Revolution sowohl ihre objektiven als auch ihre subjektiven Bedingungen erfüllt sein müssen. Die erste Bedingung ist die Fähigkeit der Wirtschaft, in ausreichendem Überfluss für die Weltbevölkerung zu produzieren. Die zweite Bedingung ist ein ausreichendes Niveau der Entwicklung des Klassenbewusstseins. Das bringt uns zurück zu unserer Analyse über die Frage des "schwächsten Glieds" und der notwendigen historischen Erfahrung, die sich im Bewusstsein ausdrückt.

Die „Deterministen" isolieren die Entwicklung der Produktivkräfte von ihrem sozialen Kontext. Sie neigen dazu, JEDE Bedeutung des ideologischen Überbaus zu leugnen, auch wenn sie es abstreiten. Arbeitskämpfe neigen dazu, als eine reine Frage von Reflexen zu erscheinen. Dies ist eine grundlegend fatalistische Sichtweise, die in Bordigas Idee, dass "die Revolution so sicher ist, als ob sie bereits stattgefunden hätte", gut zum Ausdruck kommt. Eine solche Sichtweise führt zu einer passiven Unterwerfung, einer Unterwerfung, die auf die automatischen Auswirkungen der wirtschaftlichen Entwicklung wartet. Letztlich lässt sie keinen Raum für den Klassenkampf als Grundvoraussetzung für jede Veränderung und steht damit im Widerspruch zum ersten Satz des Kommunistischen Manifests: "Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen."

Die dritte These über Feuerbach gibt uns einen guten Einblick in den historischen Materialismus und lehnt jeden strengen Determinismus ab:

"Die materialistische Lehre, dass die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte veränderter Umstände und geänderter Erziehung sind, vergißt, daß die Umstände eben von den Menschen verändert werden und dass der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie kommt daher mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft in zwei Teile zu sondern, von denen der eine Teil über der Gesellschaft erhaben ist (Z. B. bei Robert Owen). Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden."

Die Bedeutung der Zukunft für das Leben menschlicher Gesellschaften

Unsere Kritiker werden darin wahrscheinlich eine idealistische Vision sehen, aber wir halten daran fest, dass die marxistische Dialektik der Zukunft einen grundlegenden Platz in der Entwicklung und Bewegung der Gesellschaft zuweist. Von den drei Momenten eines historischen Prozesses – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – ist letztere der grundlegende Faktor in seiner Dynamik.

Die Rolle der Zukunft ist in der Geschichte der Menschheit von grundlegender Bedeutung. Die ersten Menschen, die sich von Afrika aus aufmachten, die Welt zu erobern, und die Aborigines, die sich von Australien aus aufmachten, den Pazifik zu erobern, suchten für die Zukunft nach neuen Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Sorge um die Zukunft treibt sowohl den Wunsch nach Fortpflanzung als auch die meisten Religionen an. Und da unsere Kritiker "richtig wirtschaftliche" Beispiele brauchen, können wir zwei Beispiele aus der Funktionsweise des Kapitalismus anführen. Wenn ein Kapitalist investiert, dann nicht mit Blick auf die Vergangenheit, sondern um einen zukünftigen Gewinn zu erzielen. Ebenso ist der Kredit, der eine so grundlegende Rolle in den Mechanismen des Kapitalismus spielt, nichts anderes als ein Wechsel auf die Zukunft.

Die Rolle der Zukunft ist in den Texten von Marx und allgemein des Marxismus allgegenwärtig. Diese Rolle wird in der bekannten Passage aus dem Kapital gut deutlich:

"Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht dass er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muss."

Offensichtlich ist diese wesentliche Rolle der Zukunft in der Gesellschaft noch grundlegender für die Arbeiterbewegung, deren Kämpfe in der Gegenwart nur aus der Perspektive der kommunistischen Revolution in der Zukunft einen wirklichen Sinn erhalten.

"Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts [die proletarische Revolution] kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft." (Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte)

"Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d.h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.“ (Marx, Lohn, Preis und Profit)

"’Das Endziel, was es immer sei, ist mir Nichts, die Bewegung alles.’ [sagt Bernstein. Es ist]  (...) aber das sozialistische Endziel das einzige entscheidende Moment (...), das die sozialdemokratische Bewegung von der bürgerlichen Demokratie und dem bürgerlichen Radikalismus unterscheidet, das die ganze Arbeiterbewegung aus einer müßigen Flickarbeit zur Rettung der kapitalistischen Ordnung in einen Klassenkampf gegen diese Ordnung, um die Aufhebung dieser Ordnung verwandelt, (...)". (Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?)

"Was tun?", "Womit beginnen?" (Lenin).

Und gerade weil der heutigen Gesellschaft dieses grundlegende Element, die Zukunft, die Perspektive fehlt (was immer mehr Menschen, insbesondere die Jugend, zu spüren bekommen), eine Perspektive, die nur das Proletariat bieten kann, versinkt sie in Verzweiflung und verrottet stehenden Fußes.

Teil III: Die Perspektive für das Proletariat

Der Bericht des WEF 2023 warnt sehr überzeugend vor dem extremen Ernst der gegenwärtigen Lage der Welt, die in den 2030er Jahren noch viel schlimmer sein wird, "wenn es keine politischen Veränderungen oder bedeutenden Investitionen gibt". Gleichzeitig "zeigt er die Lähmung und Ineffizienz der wichtigsten multilateralen Mechanismen angesichts der Krisen auf, mit denen die Weltordnung konfrontiert ist", und weist auf die "Diskrepanz zwischen dem, was wissenschaftlich notwendig, und dem, was politisch opportun ist", hin. Mit anderen Worten: Die Lage ist hoffnungslos und die gegenwärtige Gesellschaft ist definitiv nicht in der Lage, den Kurs ihrer Zerstörung umzukehren, was den Titel unseres Textes vom Oktober 2022 bestätigt: "Die Beschleunigung des kapitalistischen Zerfalls wirft offen die Frage der Vernichtung der Menschheit auf".

Gleichzeitig wird in diesem Bericht mehrfach die Aussicht auf "weitverbreitete soziale Unruhen" erwähnt, die "nicht auf die Schwellenländer beschränkt sein werden" (was bedeutet, dass sie auch die weiter entwickelten Länder betreffen werden) und "eine existenzielle Herausforderung für die politischen Systeme der ganzen Welt darstellen". Nichts weniger als das! Für das WEF und die Bourgeoisie im Allgemeinen werden diese sozialen Unruhen in die negative Kategorie der "Risiken" und Bedrohungen für die "Weltordnung" eingeordnet. Doch die WEF-Prognosen gießen zaghaft und unbeabsichtigt Wasser auf die Mühlen unserer eigenen Analyse, indem sie darauf hinweisen, dass das Proletariat weiterhin eine Bedrohung für die bürgerliche Ordnung darstellt. Wie die gesamte Bourgeoisie unterscheidet auch das WEF nicht zwischen den verschiedenen sozialen Unruhen: All dies führe zu "Unordnung" und "Chaos". Und es stimmt, dass einige Bewegungen in diese Kategorie fallen, wie es zum Beispiel beim "Arabischen Frühling" der Fall war. Aber in Wirklichkeit fürchtet die Bourgeoisie am meisten, ohne dass sie es offen ausspricht oder sich dessen voll bewusst ist, dass es unter diesen "sozialen Unruhen" einige gibt, die den Sturz ihrer Macht über die Gesellschaft und das kapitalistische System ankündigen: die Kämpfe des Proletariats.

So illustriert das WEF auch unter diesem Aspekt unsere Thesen von 1990 und unseren Text vom Oktober 2022. Dieser greift die Idee auf, dass das Proletariat trotz aller Schwierigkeiten, auf die es gestoßen ist, das Spiel nicht verloren hat, dass "die historischen Möglichkeiten völlig offen bleiben (These 17)“. Und er erinnert daran: "Trotz des Schlags, der der Bewußtwerdung des Proletariats durch den Zusammenbruch des Ostblocks verabreicht wurde, hat das Proletariat auf seinem Klassenterrain keine große Niederlage erlitten. In diesem Sinne bleibt sein Kampfgeist praktisch intakt. Aber darüber hinaus, und das ist das Element, das in letzter Instanz die Entwicklung der Weltlage bestimmt, bildet derselbe Faktor, der sich am Anfang der Entwicklung des Zerfalls befindet, den wesentlichen Ansporn für den Kampf und die Bewußtwerdung der Klasse, die eigentliche Bedingung für ihre Fähigkeit, dem ideologischen Gift der gesellschaftlichen Fäulnis zu widerstehen. Denn auch wenn das Proletariat kein Terrain findet, um die Teilkämpfe gegen die Auswirkungen des Zerfalls zu vereinen, bildet sein Kampf gegen die direkten Auswirkungen der Krise die Grundlage für die Weiterentwicklung seiner Klassenstärke und Einheit" (ebd.).

Zudem ist "die Wirtschaftskrise im Gegensatz zum gesellschaftlichen Zerfall, der hauptsächlich den Überbau betrifft, ein Phänomen (...), das direkt die Infrastruktur der Gesellschaft selbst ergreift, auf denen dieser Überbau ruht; daher stellt die Krise die ultimativen Ursachen der gesamten Barbarei bloß, unter der  die Gesellschaft leidet, und ermöglicht somit der Arbeiterklasse, sich der Notwendigkeit einer radikalen Umwälzung dieses Systems bewußt zu werden, ohne zu versuchen, einige Teilaspekte zu verbessern" (ebd.).

Und tatsächlich können wir heute feststellen, dass die Arbeiterklasse trotz der Last des Zerfalls (insbesondere des Zusammenbruchs des Stalinismus) und der langen Erstarrung, die sie befallen hat, immer noch auf der Bühne der Geschichte präsent ist und die Fähigkeit hat, ihren Kampf wieder aufzunehmen, wie insbesondere die Kämpfe in Großbritannien und Frankreich zeigen (die beiden Proletariate, die 1864 die Gründung der IAA initiierten: ein Wink der Geschichte!).

In diesem Sinne wirken zwar die verschiedenen Erscheinungsformen des Zerfalls negativ auf den Kampf des Proletariats und sein Bewusstsein (Gewicht des Populismus, des Interklassismus, der demokratischen Illusionen), aber wir haben heute eine neue Bestätigung dafür, dass nur die direkt wirtschaftlichen Angriffe es dem Proletariat ermöglichen, sich auf seinem Klassenterrain zu mobilisieren, und dass diese Angriffe, die sich derzeit entladen und sich noch verschärfen werden, die Bedingungen für eine bedeutende Entwicklung der Arbeiterkämpfe auf internationaler Ebene schaffen. So müssen wir unterstreichen, was in dem Text vom Oktober 2022 geschrieben steht:

-  "Die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts werden in diesem Zusammenhang also eine enorme Bedeutung für die historische Entwicklung haben. Sie werden mit noch größerer Deutlichkeit als in der Vergangenheit die im kapitalistischen Zerfall enthaltene Perspektive der Vernichtung der Menschheit aufzeigen. Am anderen Pol wird das Proletariat beginnen, erste Schritte zu unternehmen, wie sie in der Kampfbereitschaft der Streiks in Großbritannien zum Ausdruck kommen, um seine Lebensbedingungen gegen die zunehmenden Angriffe der jeweiligen Bourgeoisie und die Schläge der Weltwirtschaftskrise mit all ihren Auswirkungen zu verteidigen. Diese ersten Schritte werden oft zögerlich und voller Schwächen sein, aber sie sind unerlässlich, damit die Arbeiterklasse in der Lage ist, ihre historische Fähigkeit zur Durchsetzung ihrer kommunistischen Perspektive zu bekräftigen. So werden sich die beiden Pole der Perspektive im Großen und Ganzen in der Alternative: Zerstörung der Menschheit oder kommunistische Revolution gegenüberstehen, auch wenn die letztere Alternative noch in weiter Ferne liegt und mit enormen Hindernissen konfrontiert ist."

In der Tat ist der Weg, den das Proletariat gehen muss, extrem lang und schwierig. Einerseits muss es sich vor allen Fallen hüten, die die Bourgeoisie ihm in den Weg stellt, und das in einer ideologischen Atmosphäre, die durch den Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft vergiftet ist, der den Kampf und das Bewusstsein des Proletariats ständig behindert:

- „Das kollektive Handeln und die Solidarität stoßen mit der Atomisierung, dem ‘Jeder für sich’, dem ‘Frechheit zahlt sich aus’ zusammen.

- Das Bedürfnis nach Organisierung steht dem gesellschaftlichen Zerfall entgegen, der Zerstörung von Beziehungen, die erst ein gesellschaftliches Leben ermöglichen.

- Die Zuversicht in die Zukunft und in die eigenen Kräfte wird ständig untergraben durch die allgemeine Hoffnungslosigkeit, die in der Gesellschaft durch den Nihilismus, durch die Ideologie des "No future" immer mehr überhandnimmt.

- Das Bewußtsein, die Klarheit, die Kohärenz und Einheit im Denken, der Sinn für Theorie müssen sich mühsam ein Weg bahnen inmitten der Flucht in Trugbilder, der Drogen, Sekten, des Mystizismus, der Verweigerung des Nachdenkens und der Zerstörung des Denkens, die unsere Epoche charakterisieren." (These 13)

Die Thesen von 1990 betonen diese Schwierigkeiten. Sie betonen insbesondere, dass es "fundamental [ist] zu verstehen, daß je länger die Arbeiterklasse zögert, den Kapitalismus zu stürzen, desto größer die Gefahren und schädlichen Auswirkungen des Zerfalls werden" (These 15).

"In der Tat muß man verdeutlichen, daß heute die Zeit im Gegensatz zu den siebziger Jahren nicht mehr zugunsten der Arbeiterklasse arbeitet. Solange die Gefahr der Zerstörung der Gesellschaft nur durch den imperialistischen Krieg ausging, reichte die bloße Tatsache, daß die Kämpfe des Proletariats in der Lage waren, sich als entscheidende Barriere gegen eine solche "Lösung" zu behaupten, aus, um den Weg zu dieser Zerstörung zu versperren. Doch im Gegensatz zum imperialistischen Krieg, der für seine Entfesselung das Bekenntnis der Arbeiterklasse zu den Idealen der Bourgeoisie erfordert, benötigt der Zerfall keineswegs die Mobilisierung der Arbeiterklasse, um die Menschheit zu zerstören. So wie sie nicht dem wirtschaftlichen Zusammenbruch trotzen können, so sind die Kämpfe des Proletariats in diesem System auch nicht in der Lage, den Zerfall zu bremsen. Daher ist, selbst wenn die Gefahr, die der Zerfall für das Leben der Gesellschaft darstellt, viel langfristiger erscheint als jene, die von einem Weltkrieg ausgeht (falls die Bedingungen dafür existieren, was heute nicht der Fall ist), diese Gefahr umso heimtückischer. Um der Bedrohung ein Ende zu machen, die der Zerfall darstellt, reicht der Widerstand der Arbeiter gegen die Folgen der Krise nicht mehr aus: allein die kommunistische Revolution kann solch einer Gefahr beikommen." (These 16)

Die brutale Beschleunigung des Zerfalls, die wir heute erleben und die selbst in den Augen der klarsten Teile der Bourgeoisie die Aussicht auf die Vernichtung der Menschheit immer bedrohlicher werden lässt, stellt durchaus eine Bestätigung dieser Analyse dar. Und da nur die kommunistische Revolution der zerstörerischen Dynamik des Zerfalls und ihren zunehmend schädlichen Auswirkungen ein Ende setzen kann, mag dies eine Vorstellung davon vermitteln, wie schwierig der Weg zum Sturz des Kapitalismus ist. Ein Weg, auf dem die Aufgaben, die das Proletariat zu bewältigen hat, gewaltig sind. Insbesondere muss es sich seine Klassenidentität, die durch die Konterrevolution und die verschiedenen Erscheinungsformen des Zerfalls, insbesondere den Zusammenbruch der sogenannten "sozialistischen" Regime, stark beeinträchtigt wurde, wieder vollständig aneignen. Es wird sich auch, und das ist ebenfalls grundlegend, ihre früheren Erfahrungen wieder aneignen müssen, was eine gewaltige Aufgabe ist, da diese Erfahrungen die ProletarierInnen so sehr vergessen haben. Hier liegt eine grundlegende Verantwortung der kommunistischen Avantgarde: einen entscheidenden Beitrag zu dieser Wiederaneignung der Lehren aus mehr als anderthalb Jahrhunderten proletarischen Kampfes durch die gesamte Klasse zu leisten.

Die Schwierigkeiten, mit denen das Proletariat konfrontiert sein wird, werden nicht mit dem Sturz des kapitalistischen Staates in allen Ländern verschwinden. In der Tradition von Marx haben wir oft die immense Aufgabe betont, die die Arbeiterklasse in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus erwartet – eine Aufgabe, die mit allen Revolutionen der Vergangenheit nicht zu vergleichen ist, da es darum geht, von der "Herrschaft der Notwendigkeit zur Herrschaft der Freiheit" überzugehen. Und es ist klar, dass die Aufgabe umso gewaltiger wird, je länger die Revolution auf sich warten lässt: Tag für Tag zerstört der Kapitalismus den Planeten mehr und mehr und damit auch die materiellen Voraussetzungen für den Kommunismus. Außerdem wird die Machtergreifung des Proletariats auf einen schrecklichen Bürgerkrieg folgen, der die Verwüstungen aller Art, die die kapitalistische Produktionsweise schon vor der revolutionären Periode angerichtet hat, noch verstärkt. In diesem Sinne wird die Aufgabe des Wiederaufbaus der Gesellschaft, die das Proletariat zu bewältigen hat, unvergleichlich gigantischer sein als die, die es hätte bewältigen müssen, wenn es während der revolutionären Welle der ersten Nachkriegszeit die Macht ergriffen hätte. Auch die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs waren zwar enorm, aber sie betrafen nur die von den Schlachten betroffenen Länder, was einen Wiederaufbau der Weltwirtschaft ermöglichte, zumal die größte Industriemacht, die USA, von diesen Zerstörungen verschont geblieben war. Heute ist jedoch der gesamte Planet von den zunehmenden Zerstörungen aller Art betroffen, die durch den sterbenden Kapitalismus verursacht werden. Daher muss klar sein, dass die weltweite Machtergreifung der Arbeiterklasse an sich noch keine Garantie dafür ist, dass sie ihre historische Aufgabe, die Errichtung des Kommunismus, erfüllen kann. Der Kapitalismus hat durch die enorme Entwicklung der Produktivkräfte die materiellen Voraussetzungen für den Kommunismus geschaffen, aber die Dekadenz dieses Systems und sein Zerfall könnten diese Voraussetzungen untergraben und dem Proletariat einen völlig unwiederbringlich verwüsteten Planeten hinterlassen.

Es ist daher die Verantwortung der Revolutionäre, auf die Schwierigkeiten hinzuweisen, denen das Proletariat auf dem Weg zum Kommunismus begegnen wird. Ihre Aufgabe ist es nicht, Trost zu spenden, um die Arbeiterklasse nicht verzweifeln zu lassen. Nur die Wahrheit ist revolutionär, wie Marx sagte, so schrecklich sie auch sein mag.

Wenn es dem Proletariat gelingt, die Macht zu ergreifen, wird es jedoch eine Reihe von Trümpfen in der Hand haben, um die Aufgabe des Wiederaufbaus der Gesellschaft zu bewältigen.

Zum einen kann es die gewaltigen Fortschritte nutzen, die Wissenschaft und Technik im 20. und in den beiden ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts gemacht haben. Der WEF-Bericht erwähnt diese Fortschritte mit dem Hinweis, dass es sich um "Technologien mit doppeltem Verwendungszweck (zivil und militärisch)" handelt. Das ist ein großer Fortschritt, denn es ist klar, dass das Militär heute den Löwenanteil (neben vielen anderen unproduktiven Ausgaben) an den Vorteilen des technologischen Fortschritts hat.

Insgesamt muss die proletarische Machtergreifung zu einer beispiellosen Befreiung der von den Gesetzen des Kapitalismus gefangenen Produktivkräfte führen. Nicht nur die enorme Last der militärischen und unproduktiven Ausgaben wird beseitigt werden, sondern auch die monströse Verschwendung, die durch die Konkurrenz zwischen den verschiedenen wirtschaftlichen und nationalen Sektoren der bürgerlichen Gesellschaft und die phänomenale Unterauslastung der Produktivkräfte (geplante Obsoleszenz, Massenarbeitslosigkeit, fehlende oder mangelhafte Bildungssysteme usw.) entsteht.

Der größte Trumpf des Proletariats in dieser Übergangs- und Wiederaufbauphase wird jedoch nicht technologischer oder rein wirtschaftlicher Natur sein. Er wird grundsätzlich politischer Art sein. Wenn es dem Proletariat gelingt, die Macht zu übernehmen, bedeutet das, dass es in der Zeit der Konfrontation mit dem kapitalistischen Staat, im Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie, ein sehr hohes Maß an Bewusstsein, Organisation und Solidarität erreicht hat. Und das sind Errungenschaften, die wertvoll sein werden, wenn es sich den immensen Herausforderungen stellt, die auf es zukommen. Vor allem aber wird sich das Proletariat auf die Zukunft stützen können, dieses grundlegende Element im Leben der Gesellschaft, jene Zukunft, deren Fehlen in der heutigen Gesellschaft der Kern ihrer Verrottung auf den Füßen ist.

In ihrem im Oktober veröffentlichten Bericht über die menschliche Entwicklung 2021-22 (2021/2022 Human Development Report) mit dem Titel "Unsichere Zeiten, instabile Leben" sagt uns die UN: "Neue Sphären von Unsicherheiten interagieren, um neue Arten von Unsicherheiten – einen neuen Komplex von Unsicherheiten – zu schaffen, die es in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hat. Zusätzlich zu den alltäglichen Unsicherheiten, mit denen die Menschen seit Urzeiten konfrontiert sind, navigieren wir nun in unbekannten Gewässern, gefangen in drei volatilen, sich kreuzenden Strömungen:

- Der gefährliche globale Wandel des Anthropozäns.

- Die Fortsetzung weitreichender gesellschaftlicher Veränderungen nach dem Vorbild der industriellen Revolution.

- Die Unwägbarkeiten und das Schwanken der polarisierten Gesellschaften. (...)

Die globalen Krisen haben sich gehäuft: die globale Finanzkrise, die andauernde globale Klimakrise und die Covid-19-Pandemie, eine drohende globale Nahrungsmittelkrise. Wir haben das hartnäckige Gefühl, dass uns die Kontrolle über unser Leben entgleitet, dass die Normen und Institutionen, auf die wir uns früher zur Sicherung von Stabilität und Wohlstand verlassen haben, dem heutigen Unsicherheitskomplex nicht gewachsen sind".

Wie man sieht, geht dieser UN-Bericht in die gleiche Richtung wie der WEF-Bericht. Er geht in gewisser Weise sogar noch weiter, da er davon ausgeht, dass die Erde aufgrund des menschlichen Handelns in eine neue geologische Periode eingetreten ist, die im 17. Jahrhundert beginnt und die er Anthropozän nennt und die wir Kapitalismus nennen. Vor allem aber betont er die tiefe Verzweiflung, das "No future", das die Gesellschaft zunehmend durchdringt (und das er als "Unsicherheitskomplex" bezeichnet).

Gerade die Tatsache, dass die proletarische Revolution der menschlichen Gesellschaft eine verlorene Zukunft zurückgibt, wird ein mächtiger Faktor für die Fähigkeit der Arbeiterklasse sein, das "gelobte Land" des Kommunismus endlich zu erreichen, nachdem sie nicht nur 40 Jahre, sondern weit über ein Jahrhundert "durch die Wüste" gegangen ist.

 

[1] «Es lehrte sie der Instinkt, dass die Republik zwar ihre politische Herrschaft vollendet, aber zugleich deren gesellschaftliche Grundlage unterwühlt, indem sie nun ohne Vermittlung, ohne den Versteck der Krone, ohne das nationale Interesse durch ihre untergeordneten Kämpfe untereinander und mit dem Königtum ableiten zu können, den unterjochten Klassen gegenüberstehn und mit ihnen ringen müssen. Es war Gefühl der Schwäche, das sie vor den reinen Bedingungen ihrer eignen Klassenherrschaft zurückbeben und sich nach den unvollständigern, unentwickelteren und eben darum gefahrloseren Formen derselben zurücksehnen ließ.» Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, III. Teil (MEW 8 S. 140)

[2] Diese grundlegende qualitative (und nicht nur quantitative) Veränderung im Leben des Kapitalismus wird im Manifest der Kommunistischen Internationale (März 1919) klar herausgestellt: "Hat die völlige Unterordnung der Staatsmacht unter die Gewalt des Finanzkapitals die Menschheit zur imperialistischen Schlachtbank geführt, so hat das Finanzkapital durch diese Massenabschlachtung nicht nur den Staat, sondern auch sich selbst vollends militarisiert und ist nicht mehr fähig, seine wesentlichen ökonomischen Funktionen anders als mittels Blut und Eisen zu erfüllen. (...) Die Verstaatlichung des wirtschaftlichen Lebens, gegen welche der kapitalistische Liberalismus sich so sträubte, ist zur Tatsache geworden. Nicht nur zum freien Wettbewerb, sondern auch zur Herrschaft der Trusts, Syndikate und anderer wirtschaftlicher Ungetüme gibt es keine Rückkehr." Aber offensichtlich kennen die IKT-Genossen dieses Dokument nicht; es sei denn, sie sind mit dieser grundlegenden Position der KI nicht einverstanden, was sie klar sagen sollten.

[3] Wir geben uns selbst die Erlaubnis zu dieser Bezeichnung, denn die Nachfahren des Partito von 1945 haben der revolutionären theoretischen Arbeit von Bilan, der Italienischen Linken im Exil in den 1930er Jahren, den Rücken gekehrt.

[4] Ein anderer Brief von Engels über die marxistische Methode scheint für diese Jünger genau richtig zu sein: "Was den Herren allen fehlt, ist Dialektik. Sie sehn stets nur hier Ursache, dort Wirkung. Dass dies eine hohle Abstraktion ist, dass in der wirklichen Welt solche metaphysische polare Gegensätze nur in Krisen existieren, dass der ganze große Verlauf aber in der Form der Wechselwirkung – wenn auch sehr ungleicher Kräfte, wovon die ökonomische Bewegung weitaus die stärkste, ursprünglichste, entscheidendste Kraft – vor sich geht, dass hier nichts absolut und alles relativ ist, das sehn sie nun einmal nicht, für sie hat Hegel nicht existiert." (Engels an Conrad Schmidt, 27. Oktober 1890)

[5] Man muss die marxistische, objektive Dialektik von der leeren, subjektiven Dialektik der verschiedenen Strömungen des Anarchismus und des Modernismus unterscheiden, die verwirrt auf dem Niveau stehen bleiben, überall Widersprüche zu finden. Sie mögen einige der Phänomene des Zerfalls anerkennen, aber sie weigern sich bezeichnenderweise, die letzte Ursache und die Logik der Zerfallsperiode im wirtschaftlichen Bankrott des kapitalistischen Systems zu sehen. Für sie ist die objektive historische Dialektik ein Anathema, denn sie würde sie ihres Hauptanliegens berauben, nämlich der dogmatischen Bewahrung ihrer individuellen Meinungsfreiheit. Wenn der Wirtschaftsfaktor als einer von mehreren gleich wichtigen Faktoren behandelt wird, bleibt ihre Dialektik subjektiv, ahistorisch und – wie bei den Epigonen der Italienischen Linken – unfähig, den Verlauf der Ereignisse zu erfassen.

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25. IKS-Kongress

Bericht zum Klassenkampf für den 25. IKS-Kongress

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Die 2020er Jahre, die mit einer schrecklichen Pandemie begannen, waren eine konkrete Erinnerung an die einzige Alternative, die es gibt: proletarische Revolution oder die Zerstörung der Menschheit. Mit Covid 19, dem Konflikt in der Ukraine und dem Wachstum der Kriegswirtschaft überall, der Wirtschaftskrise und ihrer verheerenden Inflation, mit der globalen Erwärmung und der Zerstörung der Natur, die immer mehr das Leben selbst bedrohen, mit dem Aufkommen eines „Jeder für sich selbst“, der Irrationalität und des Obskurantismus, dem Zerfall des gesamten sozialen Gefüges, erleben wir die 2020er Jahre nicht nur als eine Anhäufung von tödlichen Geißeln; alle diese Geißeln konvergieren, kombinieren und nähren sich gegenseitig. Die 2020er Jahre werden eine Verkettung aller schlimmsten Übel des dekadenten und verrottenden Kapitalismus sein. Der Kapitalismus ist in eine Phase schwerer und extremer Erschütterungen eingetreten, deren bedrohlichste und blutigste die Gefahr einer Zunahme militärischer Konflikte ist.

Die Dekadenz des Kapitalismus hat eine Geschichte, und seit 1914 hat sie mehrere Phasen durchlaufen. Diejenige, die 1989 begann, ist „eine spezifische Phase - die letzte Phase - seiner Geschichte, in der der Zerfall ein Faktor, wenn nicht sogar der entscheidende Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung wird“.[1] Das Hauptmerkmal dieser Phase des Zerfalls, ihre tiefsten Wurzeln, die die gesamte Gesellschaft untergraben und den Verfall hervorrufen, ist das Fehlen einer Perspektive. Die 2020er Jahre beweisen einmal mehr, dass die Bourgeoisie der Menschheit nur mehr Elend, Krieg und Chaos, eine wachsende und zunehmend irrationale Unordnung bieten kann. Aber was ist mit der Arbeiterklasse? Was ist mit ihrer revolutionären Perspektive, dem Kommunismus? Es liegt auf der Hand, dass das Proletariat seit Jahrzehnten in immense Schwierigkeiten geraten ist; seine Kämpfe waren selten und nicht sehr massiv, seine Fähigkeit, sich zu organisieren, ist immer noch äußerst begrenzt und vor allem weiß es nicht mehr, dass es als Klasse, als soziale Kraft existiert, die in der Lage ist, ein revolutionäres Projekt anzuführen. Und die Zeit ist nicht auf der Seite der Arbeiterklasse.

Auch wenn die Gefahr einer langsamen und schließlich unumkehrbaren Aushöhlung der Grundlagen des Kommunismus besteht, ist dieses Ende in der totalen Barbarei nicht fatal, im Gegenteil, die historische Perspektive bleibt völlig offen. Denn „trotz des Schlags, den der Zusammenbruch des imperialistischen Ostblocks dem Bewusstsein des Proletariats versetzt hat, hat es auf dem Terrain seines Kampfes in diesem Sinne keine größere Niederlage erlitten, seine Kampffähigkeit bleibt praktisch intakt. Aber darüber hinaus, und das ist das Element, das letztlich die Entwicklung der Weltlage bestimmt, stellt derselbe Faktor, der der Entwicklung des Zerfalls, der unaufhaltsamen Verschärfung der Krise des Kapitalismus zugrunde liegt, den wesentlichen Anreiz für den Kampf und das Bewusstsein der Klasse dar, die eigentliche Bedingung für ihre Fähigkeit, dem ideologischen Gift der Fäulnis der Gesellschaft zu widerstehen. Ihr Kampf gegen die direkten Auswirkungen der Krise selbst bildet die Grundlage für die Entwicklung ihrer Stärke und ihrer Klasseneinheit“.[2]

Und heute, angesichts der schrecklichen Verschärfung der Weltwirtschaftskrise und der Rückkehr der Inflation, beginnt die Arbeiterklasse zu reagieren und den Weg ihres Kampfes zu finden. All ihre historischen Schwierigkeiten bleiben bestehen, sie ist noch weiter davon entfernt, ihre eigenen Kämpfe zu organisieren und sich ihres revolutionären Projekts bewusst zu werden,  aber die wachsende Kampfbereitschaft angesichts der brutalen Schläge der Bourgeoisie auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen ist der fruchtbare Boden, auf dem das Proletariat seine Klassenidentität wiederentdecken kann;  sich wieder dessen bewusst wird, was es ist, was seine Stärke ist, wenn es kämpft, wenn es Solidarität zeigt und seine Einheit entwickelt. Es ist ein Prozess, ein Kampf, der nach Jahren der Passivität wieder aufgenommen wird, ein Potenzial, das die aktuellen Streiks andeuten. Das deutlichste Zeichen für diese mögliche Dynamik ist die Rückkehr der Arbeiterstreiks in Großbritannien. Dies ist ein Ereignis von historischer Bedeutung.

Die Rückkehr der Kampfbereitschaft der Arbeiter und Arbeiterinnen als Reaktion auf die Wirtschaftskrise kann zu einem Brennpunkt für die Entwicklung des Bewusstseins werden. Bis jetzt hat jede Beschleunigung des Zerfalls zu einer Unterbrechung der ersten Ausdrucksformen der Kampfkraft geführt: die Bewegung in Frankreich 2019 litt unter dem Ausbruch der Pandemie; die Kämpfe des Winters 2021 kamen angesichts des Krieges in der Ukraine zum Stillstand, usw. Dies bedeutet eine zusätzliche und nicht unbedeutende Schwierigkeit für die Entwicklung der Kämpfe und das Vertrauen des Proletariats in sich selbst. Es gibt jedoch keinen anderen Weg als den Kampf: Der Kampf ist an sich der erste Erfolg. Das Weltproletariat kann in einem sehr mühsamen Prozess mit vielen bitteren Niederlagen allmählich seine Klassenidentität zurückgewinnen und langfristig eine internationale Offensive gegen dieses marode System starten. Mit anderen Worten: Die kommenden Jahre werden für die Zukunft der Menschheit entscheidend sein.

In den 1980er Jahren steuerte die Welt eindeutig entweder auf einen Krieg oder auf große Klassenkonflikte zu. Das Ergebnis dieses Jahrzehnts war ebenso unerwartet wie beispiellos: einerseits die Unmöglichkeit für die Bourgeoisie, in einen Weltkrieg zu ziehen, verhindert durch die Weigerung der Arbeiterklasse, Opfer zu akzeptieren; und andererseits war dieselbe Arbeiterklasse unfähig, ihre Kämpfe zu politisieren und eine revolutionäre Perspektive anzubieten. Dies führte zu einer Art Blockade, die die gesamte Gesellschaft in eine Situation ohne Zukunft stürzte und somit einen allgemeinen Zerfall zur Folge hatte. Die „Jahre der Wahrheit“ der 1980er Jahre[3] führten so zu einer Phase des Zerfalls. Heute ist die Situation noch intensiver und dramatischer:

  • Einerseits werden die 2020er Jahre mit noch größerer Schärfe die Möglichkeit der Zerstörung der Menschheit zeigen, die im kapitalistischen Zerfall enthalten ist.
  • Andererseits wird das Proletariat beginnen, die ersten, oft zögerlichen und schwachen Schritte auf dem Weg seiner Kämpfe zu machen, die es dazu bringen können, die Perspektive des Kommunismus aufzuzeigen. Das Proletariat wird eine sehr harte und schwierige Lehrzeit durchlaufen.

Die beiden Pole der Perspektive werden auftauchen und aufeinanderprallen. In diesem Jahrzehnt wird es gleichzeitig zu einer immer dramatischeren Verschärfung der Auswirkungen des Zerfalls und zu Reaktionen der Arbeiterklasse kommen, die eine andere Zukunft anbieten. Die einzige Alternative, die Zerstörung der Menschheit oder die proletarische Revolution, wird wieder auftauchen und immer deutlicher spürbar werden. Es handelt sich also um einen Kampf, den Klassenkampf. Und für einen günstigen Ausgang wird die Rolle der revolutionären Organisationen entscheidend sein. Ob es um die Entwicklung des Klassenbewusstseins und die Organisierung des Kampfes geht oder darum, dass die Minderheiten klar verstehen, was auf dem Spiel steht und welche Perspektive sie haben – unsere Rolle wird entscheidend sein. Wir selbst müssen uns daher der laufenden Dynamik, ihres Potenzials, der Stärken und Schwächen unserer Klasse sowie der ideologischen Angriffe und Fallen, die uns die historische Situation des Zerfalls und die Bourgeoisie, die intelligenteste und machiavellistischste herrschende Klasse der Geschichte, in den Weg legen, am klarsten und deutlichsten bewusst sein.

1. Angesichts des Krieges hat die Arbeiterklasse keine entscheidende Niederlage erlitten...

Der Krieg ist immer ein entscheidendes Moment für das Weltproletariat. Mit dem Krieg erleidet die Weltarbeiterklasse das Massaker an einem Teil von ihr selbst, aber sie erhält auch eine Ohrfeige durch die herrschenden Klasse. In jeder Hinsicht ist der Krieg das genaue Gegenteil von dem, was die Arbeiterklasse ist, von ihrem internationalen Charakter, denn: „Die Arbeiter haben kein Vaterland. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“

Der Ausbruch des Konflikts in der Ukraine stellt somit das Weltproletariat auf die Probe. Die Reaktion auf diese Barbarei ist ein erster Anhaltspunkt, um zu verstehen, wo unsere Klasse steht, wo das Kräfteverhältnis gegenüber der Bourgeoisie ist. Und hier gibt es keine Homogenität. Im Gegenteil, es gibt große Unterschiede zwischen den Ländern, zwischen der Peripherie und den zentralen Regionen des Kapitalismus.

In der Ukraine wird die Arbeiterklasse physisch und ideologisch unterdrückt. Die Arbeiter engagieren sich in großem Umfang für die Verteidigung des Vaterlandes, gegen den „russischen Eindringling“, gegen „den brutalen Schläger Putin“, für die Verteidigung der ukrainischen Kultur und der Freiheiten, für die Demokratie und schließen sich der Mobilisierung in den Fabriken wie in den Schützengräben an. Diese Situation ist offensichtlich das Ergebnis der Schwäche der internationalen Arbeiterbewegung, aber auch der Geschichte des Proletariats in der Ukraine. Auch wenn es sich um ein konzentriertes und gebildetes Proletariat mit einer langen Erfahrung handelt, hat dieses Proletariat auch und vor allem die Folgen der Konterrevolution und des Stalinismus mit voller Wucht zu spüren bekommen. Die in den 1930er Jahren von den sowjetischen Behörden organisierte Hungersnot, der „Holomodor“, bei dem fünf Millionen Menschen ihr Leben verloren, bildet die Grundlage für den Hass gegen den russischen Nachbarn und ein starkes patriotisches Gefühl. In jüngerer Zeit, Anfang der 2010er Jahre, entschied sich ein ganzer Teil der ukrainischen Bourgeoisie, sich von der russischen Vormundschaft zu emanzipieren und sich mit dem Westen zu verbünden. In Wirklichkeit spiegelte diese Entwicklung den zunehmenden Druck der USA auf die gesamte Region wider. Die „Orangene Revolution“[4] von 2004 und dann der „Maidan“ (oder „Revolution der Würde“) von 2014 zeigten, wie sehr sich ein sehr großer Teil der Bevölkerung für die Verteidigung der „Demokratie“ und der ukrainischen Unabhängigkeit gegen den russischen Einfluss einsetzte. Seitdem hat die nationalistische Propaganda nur noch zugenommen, bis sie im Februar 2022 ihren Höhepunkt erreichte.

Die Unfähigkeit der Arbeiterklasse in diesem Land, sich dem Krieg und seiner Mobilisierung zu widersetzen, eine Unfähigkeit, die die Möglichkeit dieses imperialistischen Gemetzels eröffnete, zeigt das Ausmaß, in dem die kapitalistische Barbarei und der Zerfall in immer weiteren Teilen des Globus an Boden gewinnen. Nach Afrika, dem Nahen Osten und Zentralasien ist nun ein Teil Mitteleuropas von der Gefahr bedroht, in ein imperialistisches Chaos zu stürzen. Die Ukraine hat gezeigt, dass es in einigen Satellitenländern der ehemaligen UdSSR, in Weißrussland, in Moldawien, im ehemaligen Jugoslawien ein Proletariat gibt, das durch die jahrzehntelange rücksichtslose Ausbeutung durch den Stalinismus im Namen des „Kommunismus“ sehr geschwächt ist, Jahrzehnte, in denen es die Last der demokratischen Illusionen trug und vom Nationalismus zerfressen wurde. Im Kosovo, in Serbien und Montenegro nehmen die Spannungen zu.

Andererseits ist das Proletariat in Russland nicht bereit, sein Leben in großem Umfang zu opfern. Gewiss, die Arbeiterklasse Russlands ist heute nicht in der Lage, sich dem Kriegsabenteuer ihrer eigenen Bourgeoisie zu widersetzen, gewiss, sie nimmt diese Barbarei und ihre 100.000 Toten ohne Reaktion hin, gewiss, die Reaktion der Wehrpflichtigen, nicht an die Front zu gehen, nimmt die Form der Desertion oder der Selbstverstümmelung an, so viele verzweifelte individuelle Handlungen, die das Fehlen einer Klassenreaktion widerspiegeln. Aber es bleibt die Tatsache, dass die russische Bourgeoisie keine allgemeine Mobilisierung ausrufen kann. Denn die russischen Arbeiter und Arbeiterinnen zeigen keine ausreichende Unterstützung für die Idee, sich massenhaft im Namen des Vaterlandes abschlachten zu lassen.

In Asien ist es höchstwahrscheinlich genauso: Es wäre also ein Fehler, aus der Schwäche des Proletariats in der Ukraine vorschnell abzuleiten, dass auch der Weg frei ist, um einen militärischen Konflikt zwischen China und Taiwan oder zwischen den beiden Koreas zu entfesseln. In China, Südkorea und Taiwan verfügt die Arbeiterklasse über eine höhere Konzentration, Bildung und ein stärkeres Bewusstsein als in der Ukraine und in Russland. Die Weigerung, sich zu Kanonenfutter machen zu lassen, ist in diesen Ländern auch heute noch die plausibelste Situation. Abgesehen vom Kräftegleichgewicht zwischen den imperialistischen Mächten, die in dieser Region der Welt involviert sind, allen voran China und die USA, stellt also das Vorhandensein einer sehr hohen Konzentration von gebildeten Arbeitern die erste Bremse für die Kriegsdynamik dar.

Was die zentralen Länder betrifft, so sind die großen demokratischen Mächte im Gegensatz zu 1990 oder 2003 nicht direkt in den Ukraine-Konflikt involviert, sie schicken keine Truppen aus Berufssoldaten. Es kann ihnen derzeit nur darum gehen, die Ukraine politisch und militärisch gegen die russische Invasion zu unterstützen und die „demokratische Freiheit des ukrainischen Volkes gegen den Diktator Putin zu verteidigen“, indem sie Waffen schicken, die alle als „Verteidigungswaffen“ bezeichnet werden.

Im Jahr 2003 und noch mehr 1991 hatten sich die Auswirkungen des Krieges in einer relativen Lähmung der Kampfbereitschaft, aber auch in einer besorgten und tiefen Reflexion über die historischen Herausforderungen niedergeschlagen. Diese Situation innerhalb der Klasse erforderte damals von den linken Kräften der Bourgeoisie die Organisation von Friedensdemonstrationen, die überall gegen den „US-Imperialismus und seine Verbündeten“ blühten. Diese großen Mobilisierungen gegen die Interventionen der westlichen Länder waren nicht das Werk der Arbeiterklasse, denn indem sie sagten: „Wir sind gegen die Politik unserer Regierung, die sich am Krieg beteiligt“, wirkten sie auf die Arbeiterklasse ein, führten sie in eine Sackgasse und erstickten jegliche Bewusstseinsentwicklung. Das ist heute nicht mehr der Fall: Es gibt keine derartigen pazifistischen Mobilisierungen. Diejenigen, die die Politik der westlichen Länder und ihre Unterstützung für die Ukraine kritisieren, sind vor allem die mit Putin verbundenen rechtsextremen Kräfte. In den Vereinigten Staaten sind es die Trumpisten oder Republikaner, die „schwanken“.

Das Fehlen einer pazifistischen Mobilisierung heute bedeutet nicht, dass das Proletariat dem Krieg gleichgültig gegenübersteht oder ihm gar anhängt. Ja, die Kampagne zur Verteidigung der Demokratie und der Freiheit in der Ukraine gegen den russischen Aggressor hat in dieser Hinsicht ihre volle Wirksamkeit bewiesen: die Arbeiterklasse steckt in der Falle der Macht der pro-demokratischen Propaganda. Aber anders als 1991 ist die Kehrseite der Medaille, dass sie keinen Einfluss auf die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse hat. Es handelt sich keineswegs um ein einfaches passives Nichtbefolgen. Die Arbeiterklasse in den zentralen Ländern ist nicht bereit den Tod (auch von Berufssoldaten) hinzunehmen, sondern sie lehnt auch die Opfer ab, die der Krieg mit sich bringt, die Verschlechterung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen. So ist Großbritannien, das europäische Land, das sowohl materiell als auch politisch am stärksten in den Krieg involviert ist, das am entschlossensten ist, die Ukraine zu unterstützen, gleichzeitig das Land, in dem die Kampffähigkeit der Arbeiterklasse derzeit am stärksten zum Ausdruck kommt. Die Streiks in Großbritannien sind, zusammen mit den Mobilisierungen in Frankreich, der am weitesten fortgeschrittene Teil der internationalen Klassenreaktion, der Ablehnung der Opfer (der Überausbeutung, der Verringerung der Zahl der Arbeiter, der Erhöhung des Arbeitstempos, des Preisanstiegs usw.) durch die Arbeiterklasse, die die Bourgeoisie dem Proletariat auferlegt und die der Militarismus ihr mehr und mehr aufzwingt.

Eine der derzeitigen Grenzen der Bemühungen unserer Klasse ist ihre Unfähigkeit, einen Zusammenhang zwischen der Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen und dem Krieg herzustellen. Die entstehenden und sich entwickelnden Arbeiterkämpfe sind eine Antwort der Arbeiterklasse auf die ihnen auferlegten Bedingungen; sie bilden die einzig mögliche Antwort auf die Politik der Bourgeoisie, aber gleichzeitig zeigen sie sich im Moment nicht in der Lage, die Frage des Krieges aufzugreifen und zu integrieren. Dennoch müssen wir auf mögliche Entwicklungen achten. Zum Beispiel: In Frankreich kam es am 19. Januar zu massiven Demonstrationen nach der Ankündigung einer Rentenreform im Namen eines ausgeglichenen Haushalts und der sozialen Gerechtigkeit; am nächsten Tag, dem 20. Januar, verkündete Präsident Macron feierlich einen Rekord-Militärhaushalt von 400 Milliarden Euro. Der Zusammenhang zwischen den geforderten Opfern und den Kriegsausgaben wird sich zwangsläufig im Laufe der Zeit in den Köpfen der Arbeiterklasse festsetzen.

Die Verschärfung der Kriegswirtschaft impliziert unmittelbar eine Verschärfung der Wirtschaftskrise; die Arbeiterklasse stellt diesen Zusammenhang noch nicht wirklich her, sie mobilisiert nicht global gegen die Kriegswirtschaft, aber sie wehrt sich gegen deren Auswirkungen, gegen die Wirtschaftskrise, vor allem gegen die zu niedrigen Löhne angesichts der Inflation.

Das ist keine Überraschung. Die Geschichte zeigt, dass die Arbeiterklasse nicht direkt gegen den Krieg an der Front mobilisiert, sondern gegen seine Auswirkungen auf das tägliche Leben im Hintergrund. Bereits 1982 haben wir in einem Artikel in der International Review Nr. 30 die Frage „Ist der Krieg eine günstige Bedingung für die kommunistische Revolution?“ verneint und bekräftigt, dass vor allem die Wirtschaftskrise den fruchtbarsten Boden für die Entwicklung der Kämpfe und des Bewusstseins darstellt, indem wir zu Recht hinzufügten, dass „die Verschärfung der Wirtschaftskrise diese Schranken im Bewusstsein einer wachsenden Zahl von Proletariern durch die Tatsachen, die zeigen, dass es sich um denselben Klassenkampf handelt, niederreißt“.

2. ...im Gegenteil, sie findet ihren Weg zurück in den Kampf gegen die Krise

Die Reaktion der Arbeiterklasse auf den Krieg, auch wenn sie weltweit sehr heterogen ist, zeigt, dass das Proletariat dort, wo der Schlüssel für die Zukunft liegt, wo es eine angesammelte historische Erfahrung gibt, in den zentralen Ländern, keine große Niederlage erlitten hat, dass es nicht bereit ist, sich einspannen zu lassen und sein Leben zu opfern. Darüber hinaus deutet die Reaktion auf die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf eine Dynamik hin, die zur Wiederaufnahme des Kampfes der Arbeiter in diesen Ländern führt.

Mit der Rückkehr zum Streik haben die britischen Arbeiter ein klares Signal an die Arbeiter in der ganzen Welt gesendet: „Wir müssen kämpfen“. Ein Teil der linken Presse titelte sogar manchmal: „In Großbritannien: die große Rückkehr des Klassenkampfes“. Der Eintritt des britischen Proletariats in den Kampf stellt somit ein Ereignis von historischer Bedeutung dar.

Diese Streikwelle wurde vom Teil des europäischen Proletariats angeführt, der am meisten unter dem allgemeinen Rückzug des Klassenkampfes seit Ende der 1980er Jahre gelitten hat. Hatten die britischen Arbeiter in den 1970er Jahren, wenn auch mit einer gewissen Verzögerung im Vergleich zu anderen Ländern wie Frankreich, Italien oder Polen, sehr wichtige Kämpfe entwickelt, die in der Streikwelle von 1979 („Winter der Unzufriedenheit“) gipfelten, so sah sich die britische Arbeiterklasse in den 1980er Jahren einer wirksamen Gegenoffensive der Bourgeoisie ausgesetzt, die in der Niederlage des Bergarbeiterstreiks von 1985 gegenüber der Regierung von Margaret Thatcher gipfelte. Diese Niederlage und der Rückzug des britischen Proletariats kündigten in gewisser Weise den historischen Rückzug des Weltproletariats an, indem sie das Ergebnis der Unfähigkeit, die Kämpfe zu politisieren, und das Gewicht des Korporatismus vorzeitig offenlegten. In den 1990er und 2000er Jahren war Großbritannien besonders von der Deindustrialisierung und der Verlagerung von Industrien nach China, Indien oder Osteuropa betroffen. In den letzten Jahren litt die britische Arbeiterklasse unter dem Ansturm der populistischen Bewegungen und vor allem unter der ohrenbetäubenden Brexit-Kampagne, die die Spaltung in „Verbleiber“ und „Verlasser“ vorantrieb, sowie unter der Covid-Krise, die die Arbeiterklasse schwer belastete. Schließlich wurde sie in jüngster Zeit mit der Forderung nach den notwendigen Opfern für die Kriegsanstrengungen konfrontiert, die im Vergleich zum „heldenhaften ukrainischen Volk“, das unter den Bomben Widerstand leistet, „sehr gering“ seien. Doch trotz all dieser Schwierigkeiten und Hindernisse erscheint heute eine Generation von Proletariern auf der sozialen Bühne, die nicht mehr wie die Älteren unter der Last der Niederlagen der „Thatcher-Generation“ leidet, eine neue Generation, die ihr Haupt erhebt, indem sie zeigt, dass die Arbeiterklasse in der Lage ist, auf die Angriffe mit Klassenkampf zu antworten. Alles in allem sehen wir ein Phänomen, das mit dem der französischen Arbeiterklasse von 1968 durchaus vergleichbar (aber nicht identisch) ist: die Ankunft einer jungen Generation, die weniger unter der Last der Konterrevolution leidet als die Älteren. So wie die Niederlage von 1985 in Großbritannien den allgemeinen Rückzug der späten 1980er Jahre einläutete, deutet die Rückkehr der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse und der Streiks auf der britischen Insel auf eine tiefgreifende Dynamik in den Reihen des Weltproletariats hin. Der „Sommer des Zorns“ von 2022 (der sich im Herbst, Winter und bald auch im Frühling 2023 fortsetzt) kann aus mehreren Gründen nur eine Ermutigung für die weltweite Arbeiterklasse sein: Es handelt sich um die Arbeiterklasse der fünften Weltwirtschaftsmacht und um ein englischsprachiges Proletariat, dessen Kämpfe nun in Ländern wie den USA, Kanada oder sogar in anderen Regionen der Welt, wie Indien oder Südafrika, eine wichtige Wirkung haben können. Da Englisch außerdem die Sprache der Weltkommunikation ist, übersteigt der Einfluss dieser Bewegungen notwendigerweise die möglichen Auswirkungen von Kämpfen in Frankreich oder Deutschland. In diesem Sinne weist das britische Proletariat nicht nur den europäischen Arbeitern und Arbeiterinnen den Weg, die an der Spitze des Aufstiegs des Klassenkampfes stehen müssen, sondern auch dem Weltproletariat, und insbesondere dem amerikanischen Proletariat. Im Hinblick auf künftige Kämpfe kann die britische Arbeiterklasse somit als Bindeglied zwischen dem westeuropäischen und dem amerikanischen Proletariat dienen. In den USA gibt es, wie die Streiks in vielen Fabriken in den letzten Jahren zeigen, eine wachsende Kampfbereitschaft der Klasse, und die Occupy-Bewegung hat damals bereits das Nachdenken offenbart, das in ihren Reihen am Werk war; wir dürfen nicht vergessen, dass das Proletariat auf dieser Seite des Atlantiks eine große Geschichte und Erfahrung hat. Aber seine Schwächen sind auch sehr groß: das Gewicht der Irrationalität, des Populismus und der Rückständigkeit; das Gewicht der Isolation innerhalb des eigenen Kontinents; das Gewicht der kleinbürgerlichen und bürgerlichen Ideologie über Freiheiten, Rasse usw. Die Verbindung zu Europa, die Verbindung, die Großbritannien herstellt, ist daher umso wichtiger.

Um zu verstehen, inwiefern die Rückkehr der Streikbewegung ein Zeichen für die Möglichkeit einer zukünftigen Entwicklung des proletarischen Kampfes und Bewusstseins ist, müssen wir auf das zurückkommen, was wir in unserer Resolution zur internationalen Lage, die auf unserem internationalen Kongress im Jahr 2021 angenommen wurde, gesagt haben: „Im Jahr 2003 sagte die IKS auf der Grundlage neuer Kämpfe in Frankreich, Österreich und anderswo eine Erneuerung der Kämpfe durch eine neue Generation von Proletariern voraus, die weniger durch antikommunistische Kampagnen beeinflusst worden waren und mit einer zunehmend unsicheren Zukunft konfrontiert sein würden. Diese Vorhersagen wurden durch die Ereignisse von 2006-07, insbesondere den Kampf gegen den CPE in Frankreich, und 2010-11, insbesondere die Indignados-Bewegung in Spanien, weitgehend bestätigt. Diese Bewegungen haben wichtige Fortschritte bei der Solidarität zwischen den Generationen, der Selbstorganisation durch Versammlungen, der Diskussionskultur und der echten Sorge um die Zukunft der Arbeiterklasse und der Menschheit insgesamt gezeigt. In diesem Sinne zeigten sie das Potenzial für eine Vereinigung der wirtschaftlichen und politischen Dimensionen des Klassenkampfes. Wir haben jedoch lange gebraucht, um die immensen Schwierigkeiten zu verstehen, mit denen diese neue Generation konfrontiert war, die unter den Bedingungen des Zerfalls 'aufgewachsen' war, Schwierigkeiten, die das Proletariat daran hindern würden, den Rückzug nach 1989 in dieser Periode umzukehren.“[5] Das Schlüsselelement dieser Schwierigkeiten ist die anhaltende Erosion der Klassenidentität. Dies ist der Hauptgrund dafür, dass die CPE-Bewegung von 2006 keine sichtbaren Spuren hinterlassen hat: In ihrer Folge gab es keine Diskussionszirkel, kein Auftreten von Kleingruppen, nicht einmal Bücher, Sammlungen von Zeugnissen usw., so dass sie heute in den Reihen der Jugend völlig unbekannt ist. Die prekären Studenten jener Zeit hatten sich die Kampfmethoden des Proletariats (Vollversammlungen) und die Art seines Kampfes (Solidarität) zu eigen gemacht, ohne es zu wissen, was es unmöglich machte, sich des Wesens, der Stärke und der historischen Ziele ihrer eigenen Bewegung bewusst zu werden. Dies ist dieselbe Schwäche, die die Entwicklung der Indignados-Bewegung in den Jahren 2010-2011 behindert und verhindert hat, dass die Früchte und Lehren daraus gezogen werden konnten. In der Tat „sah sich die Mehrheit der Indignados trotz bedeutender Fortschritte im Bewusstsein und in der Organisation eher als „Bürger“ denn als Mitglieder einer Klasse, was sie anfällig für die demokratischen Illusionen machte, die von Gruppen wie Democratia real Ya! (die spätere Podemos), und später für das Gift des katalanischen und spanischen Nationalismus.[6] Aufgrund der fehlenden Verankerung ist die Bewegung ins Trudeln geraten. Da es sich um die Anerkennung eines gemeinsamen Klasseninteresses handelt, das dem der Bourgeoisie entgegengesetzt ist, da es sich um die „Konstituierung des Proletariats als Klasse“ handelt, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, ist die Klassenidentität untrennbar mit der Entwicklung eines Klassenbewusstseins verbunden.

Ohne Klassenidentität ist es zum Beispiel unmöglich, eine bewusste Verbindung zur Geschichte der Klasse, ihren Kämpfen und Lehren herzustellen.

Mit anderen Worten, die beiden größten Momente der proletarischen Bewegung seit den 1980er Jahren, die Bewegung gegen den CPE und die Indignados, wurden vor allem wegen des Fehlens einer allgemeineren Bewusstseinsentwicklung, wegen des Verlusts der Klassenidentität, entweder sterilisiert oder von der Bourgeoisie zurückgewonnen. Die Rückkehr des Streiks in Großbritannien birgt die Möglichkeit, diese erhebliche Schwäche zu überwinden. Historisch gesehen ist das Proletariat in Großbritannien durch bedeutende Schwächen gekennzeichnet (gewerkschaftliche Kontrolle und Korporatismus, Reformismus)[7] , aber das Wort „Arbeiter“ ist dort weniger ausgelöscht worden als anderswo; in Großbritannien ruft das Wort kein Schamgefühl hervor; und dieser Streik kann damit beginnen, aus ihm einen internationalen Begriff zu machen. Die Arbeiter und Arbeiterinnen in Großbritannien sind nicht auf allen Ebenen führend, weil ihre Kampfmethoden zu sehr von ihren Schwächen geprägt sind, das wird die Rolle des Proletariats anderswo sein. Aber sie senden heute die wichtigste Botschaft: Wir kämpfen nicht als Bürger oder Studenten, sondern als Arbeiter und Arbeiterinnen. Und dieser Schritt nach vorne ist möglich dank dieser beginnenden Reaktion der Arbeiterklasse auf die Wirtschaftskrise.

Die Realität dieser Dynamik lässt sich an der besorgten Reaktion der Bourgeoisie, insbesondere in Westeuropa, auf die Gefahren einer Ausweitung der „sich verschlechternden sozialen Lage“ ablesen. Dies ist insbesondere in Frankreich, Belgien oder Deutschland der Fall, wo die Bourgeoisie im Gegensatz zur britischen Bourgeoisie Maßnahmen ergriffen hat, um den Anstieg der Öl-, Gas- und Strompreise zu begrenzen oder die Auswirkungen von Inflation und Preissteigerungen durch Subventionen oder Steuersenkungen zu kompensieren, und lautstark behauptet, sie wolle die „Kaufkraft“ der Arbeitnehmer schützen. In Deutschland folgten auf „Warnstreiks“ im Oktober und November 2022 sofort die Ankündigung von „Inflationszuschüssen“ (3000 Euro in der Metallindustrie, 7000 Euro in der Autoindustrie) und Versprechen von Lohnerhöhungen.

Doch angesichts der realen Verschärfung der Weltwirtschaftskrise sind die nationalen Bourgeoisien weiterhin gezwungen, das Proletariat im Namen der Wettbewerbsfähigkeit und des Haushaltsausgleichs anzugreifen; ihre „Schutzmaßnahmen“ und andere „Absicherungen“ werden nach und nach abgebaut. In Italien wird mit dem „Finanzgesetz 2023“ ein großer Teil der „Sonderunterstützung“ gekürzt, was einen neuen Frontalangriff auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen darstellt. In Frankreich musste die Regierung Macron nach monatelanger Vorbereitung Anfang Januar 2023 ihre große Rentenreform ankündigen. Das Ergebnis: Massive Demonstrationen, die noch größer waren, als die Gewerkschaften erwartet hatten. Abgesehen von den Millionen auf der Straße waren es die Atmosphäre und die Art der Diskussionen auf den Demonstrationen in Frankreich, die sehr deutlich zeigen, was in unserer Klasse vor sich geht:

  • Die Rentenreform wurde von vielen als „der letzte Strohhalm“ gesehen, es ist die gesamte Situation, die unerträglich geworden ist;
  • „Ab einem bestimmten Zeitpunkt reicht es“. Dieser Gedanke, der bei den Demonstrationen zum Ausdruck kam, machte Schlagzeilen in den Zeitungen. Dies ist ein klares Echo des britischen Slogans „Genug ist genug“. Den Demonstranten, mit denen wir bei der Verteilung unseres internationalen Flugblatts sprachen, schien der Zusammenhang mit der Situation in Großbritannien klar zu sein: „Ihr habt Recht, es ist überall dasselbe, in allen Ländern“;
  • Dies ist eine Bestätigung dessen, was wir bereits bei den Demonstrationen im Jahr 2019 und bei den Streiks im Herbst 2022 festgestellt hatten: das Gefühl, „alle im selben Boot zu sitzen“. Die verstreuten Streiks, die seit Monaten in Frankreich stattfinden, wurden als Sackgasse angesehen, die Idee, dass „wir alle gemeinsam kämpfen müssen“, kommt immer mehr zum Vorschein;
  • Es gibt sogar eine gewisse Veränderung in der Atmosphäre der letzten Demonstrationen im Vergleich zu den früheren, bei denen eher Resignation herrschte. Der Gedanke, dass „wir gemeinsam gewinnen können“, ist viel präsenter.

Offensichtlich ist diese positive Dynamik noch nicht auf der Ebene der Selbstorganisation angekommen. Die Konfrontation mit den Gewerkschaften ist im Moment noch nicht da. Unsere Klasse hat diesen Punkt noch nicht erreicht, die Frage wird im Moment nicht gestellt. Und wenn die Arbeiterklasse beginnt, sich dieser Frage zu stellen, wird es ein sehr langer Prozess sein, der die Rückeroberung der Vollversammlungen und der Ausschüsse beinhaltet, mit all den Fallen, die die verschiedenen Formen der Gewerkschaftsbewegung aufgestellt haben (die Gewerkschaftszentralen, die Basis, die Koordinationen, usw.). Aber die Tatsache, dass die Gewerkschaften, um mit den Anliegen der Klasse Schritt zu halten und an der Spitze der Bewegung zu bleiben, gezwungen sind, große, scheinbar einheitliche Demonstrationen zu organisieren, während sie dies monatelang vermieden haben, zeigt, dass es eine Tendenz gibt, dass die Arbeiterklasse ihre Solidarität im Kampf zum Ausdruck bringen.

Es ist auch interessant zu verfolgen, wie sich die Situation in Großbritannien auf dieser Ebene entwickelt hat. Nach 9 Monaten wiederholter Streiks scheinen die Wut und die Kampfbereitschaft nicht abgenommen zu haben. Anfang Januar schlossen sich Sanitäter und Lehrer der Streikrunde an. Und auch hier keimt der Gedanke auf, gemeinsam zu kämpfen. So musste sich der gewerkschaftliche Ton anpassen und Worte wie „Einheit“ und „Solidarität“ sowie Versprechen für gemeinsame Kundgebungen stärker betonen. Zum ersten Mal sind die streikenden Bereiche am selben Tag auf die Straße gegangen, z. B. die Krankenschwestern und Krankenpfleger.

Eine solche Gleichzeitigkeit der Kämpfe in mehreren Ländern hat es seit den 1980er Jahren nicht mehr gegeben! Der Einfluss der Militanz der britischen Arbeiterklasse auf das Proletariat in Frankreich muss noch genauer verfolgt werden, ebenso wie der Einfluss der Tradition der Straßendemonstrationen in Frankreich auf die Situation in Großbritannien. Vor fast 160 Jahren, am 28. September 1864, wurde die Internationale Arbeiterassoziation gegründet, hauptsächlich auf Initiative der britischen und französischen Arbeiter. Dies ist mehr als nur ein Blick zurück in die Geschichte. Es zeigt die Tiefe des Geschehens: Die erfahrensten Teile des Weltproletariats sind in Bewegung und verschaffen sich erneut Gehör. Die Klasse in Deutschland, die noch tief von den Niederlagen der 1920er Jahre, ihrer physischen und ideologischen Zerschlagung gezeichnet ist, ist noch weitgehend abwesend, aber die Intensität der Wirtschaftskrise, die sie zu treffen beginnt, wird auch sie zu einer Reaktion zwingen.

Die Verschärfung der Krise und die Folgen des Krieges werden anschwellen und überall Wut und Kampfbereitschaft hervorrufen. Und es ist wesentlich, dass die Verschärfung der Weltwirtschaftskrise jetzt die Form der Inflation annimmt, denn:

  • sie zwingt das Proletariat zum Kampf, sie lässt ihm keine andere Wahl;
  • sie betrifft alle Länder;
  • es handelt sich nicht um einen Angriff, den die Bourgeoisie vorbereiten und dann schließlich als Reform zurückziehen kann;
  • sie betrifft die gesamte Arbeiterklasse, in allen Bereichen;
  • sie ist nicht das Ergebnis dieser oder jener Regierung, dieses oder jenes Chefs, sondern des Kapitalismus, so dass sie einen globaleren, allgemeineren Kampf und eine allgemeinere Reflexion voraussetzt.

Inflationsperioden in der Geschichte haben daher das Proletariat regelmäßig auf die Straße getrieben. Das gesamte Ende des 19. Jahrhunderts war auf internationaler Ebene durch steigende Preise gekennzeichnet, und gleichzeitig entwickelte sich ein Prozess von Massenstreiks, von Belgien ab 1892 bis Russland 1905. Die 1980er Jahre in Polen hatten ihre Wurzeln in den steigenden Fleischpreisen. Das Gegenbeispiel ist Deutschland in den 1930er Jahren: Wenn die galoppierende Inflation auch damals zu einer immensen Wut führte, so trug sie doch zur Angst, zum Rückzug und zur Desorientierung der Klasse bei. Aber dieser Zeitpunkt liegt in einer ganz anderen historischen Periode, nämlich der der Konterrevolution, und gerade in Deutschland war das Proletariat ideologisch und physisch bereits am stärksten zerschlagen worden.

Heute ist (West-)Deutschland von der Weltwirtschaftskrise betroffen wie seit den 1930er Jahren nicht mehr, aber diese Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, dieses Wiederauftauchen der Inflation findet im Rahmen einer internationalen Wiederbelebung der Kampffähigkeit der Arbeiterklasse statt. Die Entwicklung der sozialen Lage in diesem Land nach jahrzehntelangem relativem Dornröschenschlaf muss daher genau beobachtet werden.

So bleibt trotz der Tendenz des Zerfalls, auf die Wirtschaftskrise einzuwirken, noch der beste Verbündete des Proletariats. Dies ist eine neue Bestätigung unserer Thesen zum Zerfall: „Die unaufhaltsame Verschärfung der Krise des Kapitalismus ist der wesentliche Ansporn des Kampfes und des Bewusstseins der Klasse, die eigentliche Bedingung für ihre Fähigkeit, dem ideologischen Gift der Fäulnis der Gesellschaft zu widerstehen. So wie das Proletariat in partiellen Kämpfen gegen die Auswirkungen des Zerfalls keine Grundlage für die Klasseneinheit finden kann, so bildet sein Kampf gegen die direkten Auswirkungen der Krise selbst die Grundlage für die Entwicklung seiner Stärke und seiner Klasseneinheit.“ Wir hatten also Recht, als wir in unserer letzten Resolution zur internationalen Lage sagten: „Wir müssen jede Tendenz zurückweisen, die Bedeutung der 'defensiven' ökonomischen Kämpfe der Klasse herunterzuspielen, was ein typischer Ausdruck der modernistischen Auffassung ist, die die Klasse nur als eine ausgebeutete Kategorie und nicht auch als eine historische, revolutionäre Kraft sieht.“ Diese entscheidende Position haben wir bereits in unserem Artikel „Der Kampf des Proletariats im aufsteigenden und dekadenten Kapitalismus“ in der Internationalen Revue Nr. 7 verteidigt, der zu unserem Erbe gehört: „Der proletarische Kampf tendiert dazu, über den rein ökonomischen Rahmen hinauszugehen und sozial zu werden, indem er den Staat direkt konfrontiert, sich politisiert und die massive Beteiligung der Klasse fordert“.[8] Es ist dieselbe Idee, die in Lenins Formel enthalten ist: „Hinter jedem Streik lauert die Hydra der Revolution“ (siehe Anhang).

Die Bewegung von 2006 gegen den CPE [11] (Contrat Premier Emploi [Ersteinstellungsvertrag]) in Frankreich war eine Reaktion auf einen wirtschaftlichen Angriff, der sofort tiefgreifende allgemeine politische Fragen aufgeworfen hat, insbesondere die der Organisation in Versammlungen, aber auch die der Solidarität zwischen den Generationen. Aber, wie wir oben gesehen haben, hat der Verlust der Klassenidentität all diese grundlegenden Fragen überdeckt. In den kommenden Streiks, auf internationaler Ebene, angesichts der sich verschärfenden Wirtschaftskrise, besteht die Möglichkeit, dass die Arbeiter, trotz all ihrer Schwächen und Illusionen, beginnen, sich selbst zu sehen, sich selbst zu erkennen, die Stärke zu verstehen, die im kollektiven Handeln liegt, und somit als Klasse, und dann werden all die Fragen, die seit Anfang der 2000er Jahre auf Eis liegen, über die Perspektive („Eine andere Welt ist möglich“), über die Methoden des Kampfes (Versammlungen und die Überwindung der korporatistischen Spaltungen), über das Gefühl, „alle im selben Boot“ zu sitzen, über die Notwendigkeit der Solidarität, zur Grundlage der Einheit. Auf diese Weise werden die aktuellen Probleme deutlicher, sie können endlich bewusst gesehen und diskutiert werden. Auf diese Weise werden die wirtschaftliche und die politische Dimension miteinander verwoben.

Die Intensivierung der Kriegswirtschaft und die Verschärfung der Wirtschaftskrise in einem globalen Kontext führen zu einem Anstieg von Wut und Kampfbereitschaft auch auf globaler Ebene. Und wie im Falle des Krieges führt die Heterogenität des Proletariats in den verschiedenen Ländern zu einer Heterogenität der Antworten und des Potenzials der einzelnen Bewegungen. Es gibt eine ganze Reihe von Kämpfen, die von der jeweiligen Situation, der Geschichte des Proletariats und seiner Erfahrung abhängen.

Viele Länder nähern sich der europäischen Situation an, mit einer hohen Konzentration von Arbeitern und „demokratischen“ Regierungen an der Macht. Dies ist der Fall in Mittel- und Südamerika. Der Streik der ärztlichen Angestellten und Pflegekräfte Ende November oder der „Generalstreik“ Ende Dezember in Argentinien bestätigen diese relative Ähnlichkeit, diese teilweise gemeinsame Dynamik. Aber in diesen Ländern hat das Proletariat nicht die gleichen Erfahrungen gesammelt wie in Europa und Nordamerika. Das Gewicht der Zwischenschichten und damit die Gefahr der interklassischen Falle sind dort viel größer; die Piqueteros-Bewegung der 1990er Jahre ist in Argentinien immer noch das dominierende Kampfmodell. Vor allem aber ist das gesamte soziale Gefüge vom Zerfall bedroht: Gewalt und Drogenhandel beherrschen die Gesellschaft im Norden Mexikos, in Kolumbien, in Venezuela und beginnen in Peru, Chile zu wuchern. Diese Schwächen erklären zum Beispiel, warum Venezuela in diesem letzten Jahrzehnt in eine verheerende Wirtschaftskrise geraten ist, ohne dass das Proletariat darauf reagieren konnte, obwohl es sich um ein hochgebildetes Industrieproletariat mit einer starken Kampftradition handelt.

Diese Realität bestätigt einmal mehr die Hauptverantwortung des Proletariats in Europa. Auf seinen Schultern lastet die Pflicht, den Weg zu weisen, indem es Kämpfe entwickelt, die die Methoden des Proletariats in den Mittelpunkt stellen: Arbeiterversammlungen, vereinheitlichende Forderungen, Solidarität zwischen Sektoren und Generationen… und die Verteidigung der Arbeiterautonomie, eine Lehre, die auf die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 zurückgeht!

Wir müssen vor allem die Entwicklung des Klassenkampfes in China verfolgen. In China gibt es 770 Millionen Arbeiter und es scheint, dass die Zahl der Streiks angesichts einer Wirtschaftskrise, die sich in Form von riesigen Entlassungswellen äußert, deutlich zunimmt. Einige Analysten vermuten, dass die neue Generation von Beschäftigten nicht bereit ist, die gleichen ausbeuterischen Bedingungen wie ihre Eltern zu akzeptieren, weil angesichts der sich entwickelnden Wirtschaftskrise das Versprechen einer besseren Zukunft im Austausch für die derzeitigen Opfer nicht mehr gilt. Die eiserne Faust des chinesischen Staates, dessen Autorität vor allem auf Unterdrückung beruht, kann dazu beitragen, die Wut zu schüren und die Menschen zu massiven Kämpfen zu bewegen. Die schreckliche Geschichte des Proletariats in China lässt jedoch vermuten, dass das Gift der demokratischen Illusionen sehr stark sein wird; es ist unvermeidlich, dass die Wut und die Forderungen auf bürgerliches Terrain umgeleitet werden: gegen das „kommunistische“ Joch, für Rechte und Freiheiten usw. So war es zumindest, als sich Ende 2022 die Wut gegen die unerträglichen Einschränkungen der chinesischen Anti-Covid-Politik entlud.

In einem ganzen Teil der Welt ist das Proletariat durch eine sehr große historische Schwäche gekennzeichnet und seine Kämpfe können nur auf Ohnmacht reduziert werden und/oder in bürgerlichen Sackgassen untergehen (Forderung nach mehr Demokratie, Freiheit, Gleichheit usw.) oder in klassenübergreifenden Bewegungen verwässert werden. Dies ist die wichtigste Lektion des Arabischen Frühlings von 2010; auch wenn die Arbeitermobilisierung real war, wurde sie im „Volk“ verwässert und vor allem waren die Forderungen auf das bürgerliche Terrain eines Herrscherwechsels („Mubarak raus“ usw.) und die Forderung nach mehr Demokratie gerichtet. Die große Protestbewegung im Iran ist ein perfektes neues Beispiel dafür. Die massive Wut der Bevölkerung wendet sich den Forderungen nach Frauenrechten zu (der zentrale und inzwischen weltberühmte Slogan lautet „Frau, Leben, Freiheit“), so dass viele proletarische Kämpfe im Land zwar noch stattfinden, aber von der Volksbewegung nur übertönt werden können. In den letzten Jahren hat die sehr radikale Sprache dieser sozialen Bewegungen dazu geführt, dass man glaubt, es gäbe eine bestimmte Form der Selbstorganisation der Arbeiter: Kritik an den Gewerkschaften, Aufrufe zu Arbeiterräten usw. In Wirklichkeit ist diese gespielte marxistische Terminologie eine von der radikalen Linken verbreitete Fassade, die nicht der Realität der Aktionen der Arbeiterklasse im Iran entspricht.[9] Viele der militanten Linken aus dem Iran haben sich in den 1970er/80er Jahren in Europa ausbilden lassen und dieses Vokabular mitgenommen, das sie zur Verteidigung ihrer eigenen Interessen, d. h. der Interessen des linken Flügels des Kapitals im Iran, verwenden.

Außerdem bedienen sich demokratische Staaten dieser Bewegungen, in China wie im Iran:

  • Auf imperialistischer Ebene hat die Ukraine natürlich gezeigt, wie die USA die Karte „Verteidigung der Demokratie“ ausspielen können, um ihren Einfluss auf ein Land zu vergrößern oder es zu destabilisieren. Es ist kein Zufall, dass gerade in der kurdischen Region des Iran der soziale Protest am stärksten ist, wo auch der amerikanische Einfluss am größten ist.
  • Auch auf ideologischer Ebene, gegen das eigene Proletariat, indem sie die Idee einhämmern, dass die Demokratie verteidigt werden kann, dass sie durch harte Kämpfe errungen wurde, „drüben kämpfen sie dafür“ und dass wir als „das Volk“ mobilisieren können.

Hier zeigt sich, dass die politische Schwäche des Proletariats in einem Land von der Bourgeoisie gegen das gesamte Weltproletariat instrumentalisiert wird; und umgekehrt können die vom Proletariat der zentralen Länder gesammelten Erfahrungen allen den Weg weisen.

Solche Verwirrungen über die sozialen Bewegungen, die die Länder der Peripherie erschüttern, zwingen uns, unsere eigene Kritik an der Theorie des „schwächsten Gliedes“, die Teil unseres Erbes ist, in Erinnerung zu rufen. In der Resolution zur internationalen Lage vom Januar 1983 schrieben wir: „Die andere wichtige Lehre aus diesen Kämpfen und ihrer Niederlage ist, dass diese weltweite Verallgemeinerung der Kämpfe nur von den Ländern ausgehen kann, die das wirtschaftliche Herz des Kapitalismus bilden. Das heißt, die fortgeschrittenen Länder des Westens und unter diesen diejenigen, in denen die Arbeiterklasse die älteste und umfassendste Erfahrung hat: Westeuropa“.[10] Und, um noch genauer zu sein, heißt es in unserer Resolution vom Juli 1983: „Weder die Länder der Dritten Welt, noch der Ostblock, noch Nordamerika, noch Japan können der Ausgangspunkt für den Prozess sein, der zur Revolution führt:

  • die Länder der Dritten Welt wegen der zahlenmäßigen Schwäche des Proletariats und des Gewichts der nationalistischen Illusionen;
  • Japan und vor allem die USA, weil sie die Konterrevolution und den Weltkrieg nicht so direkt erlebt haben und weil es dort keine tiefe revolutionäre Tradition gibt;
  • die Ostblockländer wegen ihrer relativen wirtschaftlichen Rückständigkeit und der spezifischen Form, die die Weltkrise dort annimmt (Knappheit), was die Entwicklung eines direkten und globalen Bewusstseins für die Ursache der Krise (d.h. Überproduktion) behindert, und wegen der stalinistischen Konterrevolution, die in den Köpfen der Arbeiter die Idee des Sozialismus in ihr Gegenteil verwandelt hat und demokratischen, gewerkschaftlichen und nationalistischen Illusionen neuen Auftrieb gegeben hat.“[11]

Außerhalb der zentralen Länder kann es zwar zu massiven Kämpfen kommen, die die Wut, den Mut und die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse in diesen Teilen der Welt zeigen, doch können diese Bewegungen allein keine Perspektive entwickeln. Diese Unmöglichkeit unterstreicht die historische Verantwortung des Proletariats in Europa, das die Pflicht hat, sich auf seine Erfahrungen zu stützen, um die raffiniertesten Fallen der Bourgeoisie, beginnend mit der Demokratie und den „freien Gewerkschaften“, aufzusprengen und so den Weg nach vorn zu weisen.

3. Das Vorgehen der Bourgeoisie gegen die Reifung des Arbeiterbewusstseins und das Gewicht des Zerfalls

Was wir in den aktuellen Streiks und Demonstrationen sehen, die Entwicklung der Solidarität, des Gefühls, dass wir gemeinsam kämpfen müssen, dass wir alle im selben Boot sitzen, deutet auf eine gewisse unterirdische Reifung des Bewusstseins hin. Wie Marc Chirik[12] in seinem Text „Über die unterirdische Reifung“ in einem internen Bulletin von 1983 schrieb, „geht die  Reflexion in den Köpfen der Arbeiter weiter und manifestiert sich im Wiederaufleben der Kämpfe. Es gibt ein kollektives Klassengedächtnis, und dieses Gedächtnis trägt auch zur Entwicklung des Bewusstseins und seiner Ausbreitung in der Klasse bei“. Aber wir müssen präziser werden. Die unterirdische Reifung drückt sich auf unterschiedliche Weise aus, je nachdem, ob es sich um die Klasse als Ganzes, um die kämpferischeren Sektoren oder um Minderheiten handelt, die Klarheit suchen. Wie wir in unserer Internationalen Revue Nr. 43 schrieben:

  • „Auf der untersten Bewusstseinsebene sowie in den breitesten Schichten der Klasse nimmt dies (die unterirdische Reifung) die Form eines wachsenden Widerspruchs zwischen dem historischen Sein, den wirklichen Bedürfnissen der Klasse und dem oberflächlichen Festhalten der Arbeiter an bürgerlichen Ideen an. Dieser Widerspruch kann lange Zeit weitgehend unerkannt, verschüttet oder unterdrückt bleiben, oder er kann beginnen, in Form von Desillusionierung und Abkehr von den Hauptthemen der bürgerlichen Ideologie zum Vorschein kommen;
  • In einem begrenzteren Teil der Klasse, unter den Arbeitern die grundsätzlich auf proletarischem Terrain bleiben, nimmt sie die Form einer Reflexion über vergangene Kämpfe, mehr oder weniger formale Diskussionen über die kommenden Kämpfe, das Entstehen von kämpferischen Kernen in den Fabriken und unter den Arbeitslosen an. In jüngster Zeit wurde dieser Aspekt des Phänomens der unterirdischen Reifung am dramatischsten durch die Massenstreiks in Polen 1980 demonstriert, bei denen die von den Arbeitern angewandten Kampfmethoden zeigten, dass viele der Lehren aus den Kämpfen von 1956, 1970 und 1976 tatsächlich aufgenommen wurden (für eine ausführlichere Analyse der Ereignisse in Polen, die die Existenz eines kollektiven Klassengedächtnisses belegen, siehe den Artikel „Polen und die Rolle der Revolutionäre“ in International Review Nr. 24);
  • In einem Teil der Klasse, der noch kleiner ist, aber mit dem Fortschreiten des Kampfes wachsen wird, nimmt sie die Form einer ausdrücklichen Verteidigung des kommunistischen Programms und damit einer Umgruppierung in die organisierte marxistische Avantgarde an. Das Entstehen kommunistischer Organisationen ist keineswegs eine Widerlegung des Begriffs der unterirdischen Reifung, sondern sowohl ein Produkt als auch ein aktiver Faktor dieser Reifung“[13].

Wo findet also diese unterirdische Reifung in den verschiedenen Ebenen unserer Klasse statt?

Die Untersuchung der Politik der Bourgeoisie ist immer unabdingbar, sowohl um die Lage unserer eigenen Klasse besser einschätzen zu können als auch um die Fallen zu erkennen, die gegen sie vorbereitet werden. So beweist die Energie, die die Bourgeoisie in den zentralen Ländern vor allem durch ihre Gewerkschaften aufwendet, um die Kämpfe zu spalten, die Streiks voneinander zu isolieren, massive Einheitsdemonstrationen zu vermeiden, dass sie nicht will, dass sich die Arbeiter zusammenschließen, um für Lohnerhöhungen zu demonstrieren, weil sie weiß, dass dies der fruchtbarste Boden für die Rückeroberung der Klassenidentität ist.

Bisher hat diese Strategie funktioniert, aber die Bourgeoisie weiß, dass der Gedanke, „alle zusammen“ kämpfen zu müssen, in den Köpfen der Arbeiter und Arbeiterinnen weiter keimen wird, da sich die Krise überall verschärft. Außerdem gibt es bereits einen kleinen Teil der Klasse, der sich diese Frage stellt. Um sich auf die Zukunft vorzubereiten, aber auch um das Denken der gegenwärtigen Minderheiten einzufangen und zu sterilisieren, geben sich einige Gewerkschaften daher zunehmend eine radikale Fassade, indem sie einen klassenkämpferischen, kämpferischen Gewerkschaftsstil propagieren.

Bei den Demonstrationen fällt auch auf, wie sehr die linksextremen Organisationen einen immer größeren Teil der Jugend anziehen. Ein Teil der trotzkistischen Gruppen behauptet, sich mehr und mehr mit dem Kampf der revolutionären Arbeiterklasse für den Kommunismus zu befassen, während sie sich in den 1990er Jahren im Gegenteil der Verteidigung der Demokratie, den linken Aktionsfronten usw. zuwandten. Dieses neue Mäntelchen ist das Ergebnis der Anpassung der Bourgeoisie an das, was sie in der Klasse spürt: nicht nur die Rückkehr der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse, sondern auch eine gewisse Reifung des Bewusstseins.

Dieser wachsende Radikalismus eines Teils der linksbürgerlichen und gewerkschaftlichen Kräfte zeigt sich übrigens auch in der Frage des Krieges. Viele „kämpfende“ Gewerkschaften und Parteien, die sich als anarchistisch, trotzkistisch oder maoistisch bezeichnen, haben „internationalistische“ Erklärungen verfasst, d.h. sie prangern scheinbar die beiden Lager in der Ukraine, in Russland und in den USA, an und rufen scheinbar zu einem vereinten Kampf der Arbeiterklasse auf. Auch hier hat diese Aktivität der Linken des Kapitals eine doppelte Bedeutung: die kleinen Minderheiten auf der Suche nach den sich entwickelnden Klassenpositionen einzufangen und längerfristig auf die tiefen Sorgen der Klasse zu reagieren.

Bei alledem dürfen wir weder die Auswirkungen der imperialistischen Propaganda noch die des Krieges selbst auf das Bewusstsein der Arbeiterklasse unterschätzen. Wenn die „Verteidigung der Demokratie“ heute nicht ausreicht, um die Arbeiter direkt zu mobilisieren, so bleibt doch die Tatsache bestehen, dass sie die Köpfe der Menschen verwirrt, dass sie Illusionen und die Lüge vom Schutzstaat aufrechterhält. Der ständige Diskurs über das „Volk“ trägt dazu bei, die Klassenidentität noch mehr anzugreifen und vergessen zu machen, dass die Gesellschaft in unversöhnliche, antagonistische Klassen gespalten ist, da das „Volk“ eine durch die Nation zusammengefasste Interessengemeinschaft sein soll. Nicht zuletzt verstärkt der Krieg selbst alle Ängste, die Irrationalität, den Wunsch, sich zurückzuziehen: das Unbegreifliche dieses Krieges, die wachsende Unordnung und das Chaos, die Unfähigkeit, die Entwicklung des Konflikts vorherzusehen, die Gefahr einer Ausweitung, die Angst vor einem dritten Weltkrieg oder dem Einsatz von Atomwaffen.

Ganz allgemein hat in den letzten zwei Jahren die Irrationalität in der Bevölkerung zugenommen, während sich gleichzeitig der Zerfall vertieft hat: Pandemie, Krieg und die Zerstörung der Natur haben das Gefühl der Zukunftslosigkeit erheblich verstärkt. In der Tat hat sich alles, was wir 2019 in unserem „Bericht zum Klassenkampf für den 23. Internationalen Kongress der IKS“ geschrieben haben, bestätigt und verstärkt:

„Die kapitalistische Welt im Zerfall erzeugt notwendigerweise apokalyptische Stimmungen. Sie kann der Menschheit keine Zukunft bieten, und ihr Zerstörungspotential von unvorstellbarem Ausmaß ist breiten Schichten der Weltbevölkerung immer deutlicher geworden...

Nihilismus und Verzweiflung entstehen aus einem Gefühl der Ohnmacht, aus dem Verlust der Überzeugung, dass es irgendeine mögliche Alternative zu dem Alptraumszenario gibt, das der Kapitalismus vorbereitet. Sie lähmen das Nachdenken und den Willen zum Handeln. Und wenn die einzige gesellschaftliche Kraft, die diese Alternative darstellen könnte, sich ihrer eigenen Existenz praktisch nicht bewusst ist, bedeutet dies dann, dass das Spiel vorbei ist, dass der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt, bereits erreicht ist?

Sicherlich erkennen wir, dass der Kapitalismus, je länger er im Zerfall versinkt, umso mehr die Grundlage für eine menschlichere Gesellschaft untergräbt. Am deutlichsten zeigt sich dies an der Umweltzerstörung, die den Punkt erreicht, an dem sie die Tendenz zum völligen Zusammenbruch der Gesellschaft beschleunigen kann, ein Zustand, der die für die Revolution notwendige Selbstorganisation und das Vertrauen in die Zukunft nicht begünstigt“[14].

Die Bourgeoisie nutzt diesen Brandherd schamlos gegen die Arbeiterklasse aus, indem sie kleinbürgerlichen Ideologien des Zerfalls fördert. In den USA ist ein ganzer Teil des Proletariats von den schlimmsten Auswirkungen des Zerfalls betroffen, wie z. B. der Zunahme von Fremdenfeindlichkeit und Rassenhass. In Europa zeigt die Arbeiterklasse größeren Widerstand gegen diese extrem ekelerregenden Erscheinungen, während sich auch in diesem historischen Kernland Verschwörungstheorien und die Ablehnung des rationalen Denkens (z. B. die Anti-Impf-Strömung) auszubreiten beginnen. Und vor allem wird das Proletariat in allen zentralen Ländern zunehmend durch Ökologismus und Wokismus kontaminiert.

Hier lässt sich ein allgemeiner Prozess erkennen: Jeder Aspekt dieses dekadenten und zersetzten Kapitalismus wird isoliert und von der Frage des Systems und seiner Wurzeln getrennt, um daraus einen fragmentierten Kampf zu machen, an dem entweder eine Kategorie der Bevölkerung (Schwarze, Frauen usw.) oder alle als „Volk“ beteiligt sein müssen. All diese Bewegungen stellen eine Gefahr für die Arbeiterklasse dar, die so Gefahr laufen, in interklassische oder geradezu bürgerliche Kämpfe hineingezogen zu werden, in denen sie in der Masse der „Bürger“ untergehen. Die Arbeiter und Arbeiterinnen der klassischen und erfahrenen Sektoren der Klasse scheinen von diesen Ideologien und diesen Formen des „Kampfes“ weniger beeinflusst zu sein. Aber die jüngere Generation, die sowohl von der Tradition des Klassenkampfes abgeschnitten ist als auch besonders empört über eklatante Ungerechtigkeiten und besorgt über die düstere Zukunft ist, geht in diesen „nicht gemischten“ Bewegungen (Versammlungen nur für Schwarze oder nur für Frauen usw.), den Ideologien rund um „Gender“ (die Theorie der Abwesenheit eines biologischen Unterschieds zwischen den Geschlechtern) usw. weitgehend unter. Anstelle des Kampfes gegen die Ausbeutung, die die Wurzel des kapitalistischen Systems ist, der eine immer breitere Emanzipationsbewegung ermöglicht (die Frage der Frauen, der Minderheiten usw.), wie es 1917 der Fall war, lassen die Ideologien der Ökologen, der Wokisten, der Indigenisten, der „Zadisten“[15] den Klassenkampf beiseite, leugnen ihn oder betrachten ihn sogar als Ursache für den aktuellen Zustand der Gesellschaft. Nach der Strömung, die sich in Frankreich als „racialistes“ bezeichnet, ist der Klassenkampf eine Sache der Weißen, die die Unterdrückung der Schwarzen aufrechterhält; nach dem Wokismus ist der Klassenkampf eine Sache der Vergangenheit, die von Macho-Paternalismus und Herrschaft geprägt ist; oder nach der Theorie der Intersektionalität ist der Kampf der Arbeiter nur ein Kampf, der anderen gleichgestellt ist: Feminismus, Antirassismus, „Klassismus“ usw. sind allesamt besondere Kämpfe gegen die Unterdrückung, die manchmal nebeneinander stehen und „konvergieren“. Das Ergebnis ist katastrophal: Ablehnung der Arbeiterklasse und ihrer Kampfmethoden, Spaltung nach Kategorien, die nichts anderes ist als eine Form von „jeder für sich“, oberflächliche Kritik am Kapitalismus, die in der Forderung nach Reformen, größerem „Bewusstsein“ der Herrschenden, neuen Gesetzen usw. endet. Die Bourgeoisie zögert daher nicht, all diesen Bewegungen, wann immer es möglich ist, ein maximales Echo zu verleihen. Alle demokratischen Staaten haben den Slogan „Frau, Leben, Freiheit“ aufgegriffen, der im Iran zum Symbol des sozialen Protests geworden ist.

Und da diese Bewegungen offensichtlich machtlos sind, wird ein Teil dieser jungen Menschen, die radikalsten und rebellischsten, zu „stärkeren“, „direkten“ Aktionen, Sabotage usw. aufgerufen. In den letzten Monaten haben wir die Entwicklung der „radikalen Ökologie“ beobachtet. Die „linkeste“ dieser Ideologien ist die „Intersektionalität“: Sie behauptet, es ginge um Revolution und Klassenkampf, aber sie stellt den Kampf gegen Ausbeutung und den Kampf gegen Rassismus, Machismus usw. auf dieselbe Ebene, um den Kampf der Arbeiterklasse besser zu verwässern und ihn hinterhältig auf den Interklassismus zu lenken.

Mit anderen Worten, all diese Ideologien des Zerfalls decken das gesamte Spektrum des Denkens ab, das in unserer Klasse, insbesondere in der Jugend, aufkeimt, und sind somit sehr wirksam, um die Bemühungen eines Proletariats zu sterilisieren, das nach Wegen sucht, wie es kämpfen kann, wie es sich dieser Welt entgegenstellen kann, die in Barbarei und Zerstörung versinkt. Ein ganzer Teil der Parteien und Organisationen der Linken und der extremen Linken fördert offensichtlich diese Ideologien.

Es ist auffallend, wie ein ganzer Teil des Trotzkismus mehr und mehr die Betonung auf „das Volk“ legt; und die Ableger des Modernismus (Kommunisierer und andere)[16] haben hier die Aufgabe, sich speziell darum zu kümmern, die Jugend, die ganz klar die Zerstörung des Kapitalismus anstrebt, für sich zu gewinnen, die Drecksarbeit zu erledigen, sie vom Klassenkampf zu distanzieren und jede Rückeroberung der Klassenidentität zu verhindern.

4. Unsere Rolle

In den kommenden Jahren wird es sowohl eine Entwicklung des Kampfes des Proletariats angesichts der Verschärfung der Wirtschaftskrise geben (Streiks, Aktionstage, Demonstrationen, soziale Bewegungen) als auch ein Versinken der gesamten Gesellschaft in den Zerfall mit all den Gefahren, die dies für unsere Klasse bedeutet (Teilkämpfe, Bewegungen zwischen den Klassen und sogar bürgerliche Forderungen). Gleichzeitig besteht die Möglichkeit einer fortschreitenden Rückeroberung der Klassenidentität und des wachsenden Einflusses der Zerfalls-Ideologien.

Der IKS kommt also in diesen kommenden Kämpfen eine Schlüsselrolle zu

Gegenüber der Klasse als Ganzes werden wir über unsere Presse, bei Demonstrationen, in möglichen politischen Versammlungen und Vollversammlungen intervenieren müssen, um:

  1. das wachsende Gefühl, „alle in einem Boot zu sitzen“ und die zunehmende Kampfbereitschaft zu nutzen, um alle Kampfmethoden zu verteidigen, die sich in der Geschichte als Träger von Solidarität und Einheit, von Klassenidentität erwiesen haben.
  2. Die Sabotage und die spaltende Arbeit der Gewerkschaften anzuprangern.
  3. Den Charakter jeder Bewegung von Fall zu Fall zu qualifizieren (Arbeiterklasse, interklassisch, ein Thema, bürgerlich...). Was diesen letzten Punkt betrifft, so erfordern unsere Schwierigkeiten der letzten Jahre Wachsamkeit. Der Krieg in der Ukraine hat und wird keine massive Reaktion in der Klasse auslösen, es wird keine Bewegung gegen den Krieg geben. Wenn wir das Prinzip des Internationalismus hochhalten wollen, wäre es illusorisch oder opportunistisch zu glauben, dass auf diesem Terrain Arbeiterkomitees gebildet werden könnten; der völlig künstliche und hohle Charakter der Komitees „Kein Krieg außer dem Klassenkrieg“ (No War But The Class War), die allein durch den Willen der Internationalistischen Kommunistischen Tendenz IKT am Leben erhalten werden, ist ein anschaulicher Beweis dafür. Auf dem Terrain des Kampfes gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen, insbesondere angesichts der steigenden Preise, wird der Boden für die künftige Entwicklung des Kampfes und des Bewusstseins tatsächlich am fruchtbarsten sein.

Gegenüber einem ganzen Teil der Klasse, der den Zustand der Gesellschaft und die Perspektive in Frage stellt, müssen wir das weiterentwickeln, was wir mit unserem Text über die 2020er Jahre begonnen haben, nämlich die Kohärenz unserer Analyse so gut wie möglich zum Ausdruck zu bringen, da sie die einzige ist, die in der Lage ist, die verschiedenen Aspekte der historischen Situation miteinander zu verbinden und die Realität der Dynamik des historischen Moments herauszustellen.

Konkret müssen wir gegenüber all jenen jungen Menschen, die kämpfen wollen, aber in den Ideologien des Zerfalls gefangen sind, unsere Kritik am Wokismus, Ökologismus usw. entwickeln und an die Erfahrungen der Arbeiterbewegung in all diesen Fragen erinnern (die Frage der Frauen, der Natur usw.). Genauso wie es absolut notwendig ist, alle Fragen zu beantworten, die der Trotzkismus in seinen Sack stecken will (die Verteilung des Reichtums, der Staatskapitalismus, der Kommunismus, usw.). Hier gewinnt die Frage der Perspektive und des Kommunismus, der Schwachpunkt unserer Intervention, ihre volle Bedeutung.

Im Hinblick auf die suchenden Minderheiten schließlich erscheinen die konkrete Anprangerung der verschiedenen linksextremen Kräfte, die sich entwickeln um dieses Potenzial zu zerstören, sowie der Kampf gegen alle Ableger des Modernismus absolut vorrangig; es ist unsere Verantwortung für die Zukunft und den Aufbau der Organisation. Und hier bekommt unser Aufruf an die Organisationen der Kommunistischen Linken, sich angesichts des Krieges in der Ukraine auf eine internationalistischen Erklärung zu verständigen, seine volle Bedeutung, nämlich die Methode unserer Vorgänger, die der Konferenz von Zimmerwald 1915, aufzugreifen, damit die heutigen Minderheiten sich in der Geschichte der Arbeiterbewegung verankern und den Gegenwinden, die von der Bourgeoisie und ihren Ideologien der extremen Linken geblasen werden, widerstehen können.

IKS, Frühling 2023

 

Anhang zum Bericht über den Klassenkampf

Zum Zusammenhang zwischen Ökonomie und Politik in der Kampf- und Bewusstseinsentwicklung:

Auszug aus Rosa Luxemburgs Pamphlet: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften

 

„Wenn wir aber anstatt der untergeordneten Spielart des demonstrativen Streiks den Kampfstreik ins Auge fassen, wie er im heutigen Rußland den eigentlichen Träger der proletarischen Aktion darstellt, so fällt weiter ins Auge, daß darin das ökonomische und das politische Moment unmöglich voneinander zu trennen sind. Auch hier weicht die Wirklichkeit von dem theoretischen Schema weit ab, und die pedantische Vorstellung, in der der reine politische Massenstreik logisch von dem gewerkschaftlichen Generalstreik als die reifste und höchste Stufe abgeleitet, aber zugleich klar auseinandergehalten wird, ist von der Erfahrung der russischen Revolution gründlich widerlegt. Dies äußert sich nicht bloß geschichtlich darin, daß die Massenstreiks, von jenem ersten großen Lohnkampf der Petersburger Textilarbeiter im Jahre 1896/1897 bis zu dem letzten großen Massenstreik im Dezember 1905, ganz unmerklich aus ökonomischen in politische übergehen, so daß es fast unmöglich ist, die Grenze zwischen beiden zu ziehen. Auch jeder einzelne von den großen Massenstreiks wiederholt sozusagen im kleinen die allgemeine Geschichte der russischen Massenstreiks und beginnt mit einem rein ökonomischen oder jedenfalls partiellen gewerkschaftlichen Konflikt, um die Stufenleiter bis zur politischen Kundgebung zu durchlaufen. Das große Massenstreikgewitter im Süden Rußlands 1902 und 1903 entstand, wie wir gesehen, in Baku aus einem Konflikt infolge der Maßregelung Arbeitsloser, in Rostow aus Lohndifferenzen in den Eisenbahnwerkstätten, in Tiflis aus einem Kampf der Handelsangestellten um die Verkürzung der Arbeitszeit, in Odessa aus einem Lohnkampf in einer einzelnen kleinen Fabrik. Der Januarmassenstreik 1905 entwickelt sich aus dem internen Konflikt in den Putilow-Werken, der Oktoberstreik aus dem Kampf der Eisenbahner um die Pensionskasse, der Dezemberstreik endlich aus dem Kampf der Post- und Telegraphenangestellten um das Koalitionsrecht. Der Fortschritt der Bewegung im ganzen äußert sich nicht darin, daß das ökonomische Anfangsstadium ausfällt, sondern vielmehr in der Rapidität, womit die Stufenleiter zur politischen Kundgebung durchlaufen wird, und in der Extremität des Punktes, bis zu dem sich der Massenstreik voranbewegt.

Allein die Bewegung im ganzen geht nicht bloß nach der Richtung vom ökonomischen zum politischen Kampf, sondern auch umgekehrt. Jede von den großen politischen Massenaktionen schlägt, nachdem sie ihren politischen Höhepunkt erreicht hat, in einen ganzen Wust ökonomischer Streiks um. Und dies bezieht sich wieder nicht bloß auf jeden einzelnen von den großen Massenstreiks, sondern auch auf die Revolution im ganzen. Mit der Verbreitung, Klärung und Potenzierung des politischen Kampfes tritt nicht bloß der ökonomische Kampf nicht zurück, sondern er verbreitet sich, organisiert sich und potenziert sich seinerseits in gleichem Schritt. Es besteht zwischen beiden eine völlige Wechselwirkung.

Jeder neue Anlauf und neue Sieg des politischen Kampfes verwandelt sich in einen mächtigen Anstoß für den wirtschaftlichen Kampf, indem er zugleich seine äußeren Möglichkeiten erweitert und den inneren Antrieb der Arbeiter, ihre Lage zu bessern, ihre Kampflust erhöht. Nach jeder schäumenden Welle der politischen Aktion bleibt ein befruchtender Niederschlag zurück, aus dem sofort tausendfältige Halme des ökonomischen Kampfes emporschießen. Und umgekehrt. Der unaufhörliche ökonomische Kriegszustand der Arbeiter mit dem Kapital hält die Kampfenergie in allen politischen Pausen wach, er bildet sozusagen das ständige frische Reservoir der proletarischen Klassenkraft, aus dem der politische Kampf immer von neuem seine Macht hervorholt, und zugleich führt das unermüdliche ökonomische Bohren des Proletariats alle Augenblicke bald hier, bald dort zu einzelnen scharfen Konflikten, aus denen unversehens politische Konflikte auf großem Maßstab explodieren.

Mit einem Wort: Der ökonomische Kampf ist das Fortleitende von einem politischen Knotenpunkt zum andern, der politische Kampf ist die periodische Befruchtung des Bodens für den ökonomischen Kampf. Ursache und Wirkung wechseln hier alle Augenblicke ihre Stellen, und so bilden das ökonomische und das politische Moment in der Massenstreikperiode, weit entfernt, sich reinlich zu scheiden oder gar auszuschließen, wie es das pedantische Schema will, vielmehr nur zwei ineinandergeschlungene Seiten des proletarischen Klassenkampfes in Rußland. Und ihre Einheit ist eben der Massenstreik. Wenn die spintisierende Theorie, um zu dem „reinen politischen Massenstreik“ zu gelangen, eine künstliche logische Sektion an dem Massenstreik vornimmt, so wird bei diesem Sezieren, wie bei jedem anderen, die Erscheinung nicht in ihrem lebendigen Wesen erkannt, sondern bloß abgetötet.“

Quelle: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1906/mapage/kap4.htm [12]


[1] Der Zerfall: die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus [13]

[2] Ebd.

[3] Die 80er Jahre: Jahre der Wahrheit [14]

[4] Die "orangefarbene Revolution" gehört zur Bewegung der "Farbrevolutionen" oder "Blumenrevolutionen", einer Reihe von "populären", "friedlichen" und pro-westlichen Aufständen, von denen einige zwischen 2003 und 2006 in Eurasien [15] und im Nahen Osten zu Regierungswechseln führten: die "Rosenrevolution" in Georgien 2003, die "Tulpenrevolution" in Kirgisistan, die "Jeansrevolution" in Weißrussland und die "Zedernrevolution" im Libanon 2005.

[5] 24. Kongress: Resolution zur internationalen Lage [9]; Punkt 25

[6] Ebd. Punkt 26

[7] „Man muß gestehen, daß das deutsche Proletariat der Theoretiker des europäischen

Proletariats, wie das englische Proletariat sein Nationalökonom und das französische

Proletariat sein Politiker ist.“ Pariser Vorwärts, „Kritische Randglossen“ (1844)

[8] „Der Kampf des Proletariats im aufsteigenden und im dekadenten Kapitalismus [16]“ Internationale Revue Nr. 7

[9] Einige Genossen glauben im Gegenteil, dass diese radikale Sprache der Linken und der Basiskomitees dem Bedürfnis entspricht, die embryonalen Formen der Selbstorganisation und Solidarität, die wir seit 2018 in der Arbeiterklasse im Iran sehen, die Linken wieder zurückerobern wollen. Daher muss darüber diskutiert werden.

[10] „Resolution on the International Situation (1983) [17]“, International Revue [18] Nr. 35

[11] „Debate: On the critique of the theory of the "weakest link" [19], International Revue [20], Nr. 37

[12] Um mehr über unseren Genossen Marc Chirik zu erfahren, lesen Sie die Artikel: Marc, Part 1: „From the Revolution of October 1917 to World War II [21]“, International Rewiev Nr. 65 und „Marc, Part 2: From World War II to the present day [22]“, International Review Nr. 66

[13] „Reply to the CWO: On the subterranean maturation of consciousness [23]“, International Review Nr. 43

[14] „Bericht des 23. Internationalen Kongresses der IKS über den Klassenkampf: Bildung, Verlust und Rückeroberung der proletarischen Klassenidentität [24]“, Internationale Revue Nr. 56

[15] Anmerkung des Übersetzers: ZAD steht in Frankreich für "zone à défendre", ein von Demonstranten besetztes Gebiet.

[16] Siehe unsere laufende Serie über die Kommunisierer [25] (engl.)

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25. IKS-Kongress

Bericht des 25. Kongresses über die imperialistischen Spannungen

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Die IKS hat kürzlich ihren 25. Internationalen Kongress abgehalten, auf dem sie eine Reihe von Berichten über die Weltlage angenommen hat. Dies ist der Bericht über die imperialistischen Spannungen.

Eine genaue Analyse der historischen Situation und der sich daraus ergebenden Perspektiven ist eine der Hauptaufgaben der revolutionären Organisationen, die einen soliden Rahmen für ihre Intervention in der Klasse schaffen und ihr präzise Orientierungen vorschlagen müssen, um die Dynamik des Kapitalismus oder die Aktionen und Manöver der Bourgeoisie zu verstehen. Leider vernachlässigen die Gruppen des Proletarischen Politischen Milieus insgesamt diese Aufgabe weitgehend, entweder weil sie in den Schemata der Vergangenheit verhaftet bleiben, die sie mechanisch anwenden, ohne sie einer Kritik zu unterziehen, selbst wenn sie der historischen Realität nicht mehr entsprechen (die bordigistischen Gruppen), oder weil ihr Opportunismus sie dazu verleitet, einem unmittelbaren und empirischen Ansatz den Vorzug zu geben, der auf einen illusorischen unmittelbaren Erfolg abzielt, anstatt sich die Mühe zu machen, die Solidität und Relevanz ihrer Analysen zu überprüfen (die Internationalistische Kommunistische Tendenz)[1].

Die IKS ihrerseits hat, getreu der Tradition der Arbeiterbewegung und der marxistischen Methode, ihre Analyserahmen stets einer kritischen Überprüfung unterzogen, um festzustellen, ob sie weiterhin gültig sind – oder ob sie umgekehrt geändert oder sogar revidiert werden müssen. Diesem Ansatz folgend, geht der vorliegende Bericht von der Resolution zur internationalen Lage des 24. IKS-Kongresses (2021)[2] aus. Darin wird die erhebliche Beschleunigung des Zerfalls hervorgehoben, die sich damals in den Verheerungen der Pandemie und ihren Auswirkungen auf die wirtschaftliche Basis des Systems zeigte, und damit die Alternative "Sozialismus oder Barbarei" konkretisiert, die die 3. Internationale hervorhob. Aber: "Im Gegensatz zu einer Situation, in der die Bourgeoisie in der Lage ist, die Gesellschaft für den Krieg zu mobilisieren wie in den 1930er Jahren, ist die Endphase des Weges, des Rhythmus und der Formen der Dynamik des verfaulenden Kapitalismus in Richtung Zerstörung der Menschheit schwieriger vorherzusagen, weil er das Ergebnis einer Konvergenz verschiedener Faktoren ist, von denen einige teilweise verborgen sein können." (Resolution, Punkt 10). Diese Beschleunigung des Zerfalls in Bezug auf die imperialistischen Konfrontationen wird durch verschiedene Beobachtungen unterstrichen:

- Eine Intensivierung der Entwicklung des Militarismus, der bereits zur Lebensweise des Kapitalismus in seiner dekadenten Phase geworden war. So stürzen die "Massaker der verschiedenen kriegerischen Konflikte" den Kapitalismus "in ein zunehmend irrationales imperialistisches ‚Jeder gegen jeden‘" (Pkt. 11), während wir gleichzeitig eine Verschärfung der Konflikte zwischen den Weltmächten erleben. „Innerhalb dieses chaotischen Bildes steht zweifellos die wachsende Konfrontation zwischen den USA und China tendenziell im Mittelpunkt." (Punkt 12) Während die Rivalität zwischen den USA und China zu eskalieren droht, hat die neue Biden-Administration angekündigt, dass sie sich von Russland nicht länger "wegducken" wird (Punkt 11).

- Die aggressive Politik der Vereinigten Staaten, die angesichts des Niedergangs ihrer Hegemonie nicht „auf ihre Fähigkeit verzichten werden, allein zur Verteidigung ihrer Interessen zu handeln". Doch "Das Streben eines Jeder-für-sich wird es für die Vereinigten Staaten immer schwieriger, wenn nicht gar unmöglich machen, ihre Führungsrolle durchzusetzen – ein Beispiel für die Beschleunigung des Jeder-gegen-jeden in der Zerfallsperiode." (Punkt 11)

- „Das außergewöhnliche Wachstum Chinas ist selbst ein Produkt des Zerfalls. (...) Die totalitäre Kontrolle über den gesamten Gesellschaftskörper, die repressive Verhärtung der stalinistischen Fraktion von Xi Jinping, ist kein Ausdruck von Stärke, sondern eine Manifestation der Schwäche des Staates“ (Pkt. 9).

- Die zunehmenden Spannungen bedeuten "jedoch nicht, dass wir auf die Bildung stabiler Blöcke und einen allgemeinen Weltkrieg zusteuern" (Punkt 12). Dies bedeutet jedoch nicht, "dass wir in einer Ära größerer Sicherheit lebten als in der Periode des Kalten Krieges (...). Im Gegenteil: Wenn die Phase des Zerfalls durch einen zunehmenden Kontrollverlust der Bourgeoisie gekennzeichnet ist, so gilt dies auch für die enormen Mittel der Zerstörung – nukleare, konventionelle, biologische und chemische –, die von der herrschenden Klasse angehäuft worden (...)" sind (Punkt 13).

Der Ausbruch des Krieges in der Ukraine und die daraus resultierende Verschärfung der imperialistischen Spannungen stehen voll im Einklang mit dem vom 24. Internationalen Kongress angenommen Bezugsrahmen. Sie stellen jedoch zweifellos eine qualitative Entwicklung des gesellschaftlichen Abgleitens in die Barbarei dar, indem sie die treibende Rolle des Militarismus in der Wechselbeziehung der verschiedenen Krisen (gesundheitliche, wirtschaftliche, politische, ökologische usw.), von denen der Kapitalismus derzeit betroffen ist, hervorheben.

Teil 1: Bilanz von 15 Monaten Krieg in der Ukraine

Nach zwei Jahren der Pandemie war der Ausbruch des Krieges in der Ukraine im Februar 2022 ein qualitativer Schritt in der Versenkung der Gesellschaft in die Barbarei. Seit 1989 hatten die USA zwar mehrfach die Konfrontation gesucht (mit dem Irak, dem Iran, Nordkorea oder Afghanistan), aber diese Konfrontationen hatten nie eine andere imperialistische Großmacht involviert oder Auswirkungen auf den gesamten Planeten gehabt. Dieser Krieg ist etwas anderes:

"Er ist die erste militärische Konfrontation dieser Größenordnung zwischen Staaten, die seit 1945 vor den Toren Europas stattfindet, (...) so dass das Zentrum Europas heute zum zentralen Schauplatz der imperialistischen Konfrontationen wird (...);

- dieser Krieg bezieht direkt die beiden größten Länder Europas ein, von denen das eine über Atomwaffen oder andere Massenvernichtungswaffen verfügt und das andere von der NATO finanziell und militärisch unterstützt wird. Dieser Gegensatz zwischen Russland und der NATO weckt Erinnerungen an die Blockkonfrontation der 1950er bis 1980er Jahre und den damit verbundenen nuklearen Terror (...);

- das Ausmaß der Kämpfe, Zehntausende von Toten, die systematische Zerstörung ganzer Städte, die Hinrichtung von Zivilisten, die verantwortungslose Beschießung von Atomkraftwerken, die enormen wirtschaftlichen Folgen für den gesamten Planeten unterstreichen sowohl die Barbarei als auch die wachsende Irrationalität von Konflikten, die in einer Katastrophe für die Menschheit münden können."[3] Ein Jahr nach Ausbruch des Krieges und im Anschluss an unseren internen Bericht vom Mai 2022 ist es wichtig, die wichtigsten Lehren aus dem Konflikt in Bezug auf die imperialistischen Beziehungen und den von der IKS vorgeschlagenen Bezugsrahmen zu ziehen.

1. Die Auswirkungen auf die imperialistischen Beziehungen

Der materielle und menschliche Tribut eines einjährigen Krieges ist schrecklich: die menschlichen Verluste und die materielle Zerstörung sind gigantisch, die Zahl der Vertriebenen geht in die Millionen. Beide Seiten haben Dutzende von Milliarden Euro versenkt (45 Mrd. Euro für die USA, 52 Mrd. für die EU, 77 Mrd. für Russland, d.h. 25% seines BIP). Russland wendet inzwischen etwa 50 % seines Staatshaushalts für den Krieg auf, während der hypothetische Wiederaufbau der Ukraine mehr als 700 Milliarden Dollar erfordern würde. Dieser Krieg hat auch erhebliche Auswirkungen auf die Verschärfung der imperialistischen Spannungen.

1.1. Die imperialistische Offensive der USA

Angesichts des Niedergangs ihrer Hegemonie verfolgen die Vereinigten Staaten seit den 1990er Jahren eine aggressive Politik zur Verteidigung ihrer Interessen, insbesondere gegenüber Russland, dem ehemaligen Führer des rivalisierenden Blocks. Trotz der nach dem Zusammenbruch der UdSSR eingegangenen Verpflichtung, die NATO nicht zu erweitern, haben die Amerikaner alle Länder des ehemaligen Warschauer Paktes in dieses Bündnis integriert, darunter auch Länder wie die baltischen Staaten, die selbst Teil der ehemaligen UdSSR waren, und zogen 2008 in Erwägung, dies auch mit Georgien und der Ukraine zu tun. Die "Orangene Revolution" in der Ukraine im Jahr 2014 hatte das prorussische Regime durch eine prowestliche Regierung ersetzt, und weit verbreitete Proteste in Belarus bedrohten das prorussische Lukaschenko-Regime. Angesichts dieser Strategie der Einkreisung versuchte das Putin-Regime, mit dem Einsatz seiner militärischen Macht zu reagieren, dem Überbleibsel seiner Vergangenheit als Chef des Blocks (Georgien im Jahr 2008, Krim und Donbass im Jahr 2014 usw.). Angesichts der Umwälzungen des russischen Imperialismus begannen die USA, die Ukraine zu bewaffnen und ihre Armee im Umgang mit hochentwickelten Waffen zu schulen. Als Russland seine Armee in Weißrussland und der Ostukraine stationierte, spannten sie die Falle auf, indem sie behaupteten, Putin würde in die Ukraine einmarschieren, während sie versicherten, dass sie selbst nicht in die Situation eingreifen würden.

Kurz gesagt, wenn der Krieg tatsächlich von Russland ausgelöst wurde, dann ist er die Folge der Strategie der Einkreisung und des Erstickens des letzteren durch die Vereinigten Staaten. Auf diese Weise ist es den Vereinigten Staaten gelungen, ihre aggressive Politik zu intensivieren, die ein weitaus ehrgeizigeres Ziel verfolgt, als nur Russlands Ambitionen zu stoppen:

- Die verhängnisvolle Falle, die sie Russland gestellt haben, führt in der unmittelbaren Folge zu einer erheblichen Schwächung der verbleibenden militärischen Macht Russlands und zu einer radikalen Schwächung seiner imperialistischen Ambitionen. Der Krieg demonstrierte auch die absolute Überlegenheit der US-Militärtechnologie, die die Grundlage für das "Wunder" der "kleinen Ukraine" ist, die den "russischen Bären" zurückgedrängt hat.

- Dann zogen sie die Schrauben innerhalb der NATO an, indem sie die europäischen Länder zwangen, sich dem Bündnis anzuschließen, insbesondere Frankreich und Deutschland, die dazu neigten, ihre eigene Politik gegenüber Russland zu entwickeln und die NATO zu ignorieren, die der französische Präsident Macron noch vor einigen Monaten als "hirntot" bezeichnet hatte.

- Abgesehen von der Prügel, die Russland verabreicht wurde, war das Hauptziel der Amerikaner zweifellos eine unmissverständliche Warnung an ihren Hauptherausforderer China ("das erwartet euch, wenn ihr den Versuch einer Invasion in Taiwan riskiert"). In den letzten zehn Jahren konzentrierte sich die Verteidigung der US-Führung auf den Aufstieg dieses ernsthaften Herausforderers. Unter der Trump-Administration nahm dieser Wunsch, China zu konfrontieren, vor allem die Form eines offenen Handelskriegs an, aber die Biden-Administration hat den Druck auch militärisch erhöht (die Spannungen um Taiwan). Der Krieg hat Chinas einzigen wichtigen Verbündeten geschwächt, der ihm vor allem militärischen Input liefern könnte, und belastet das Projekt der Neuen Seidenstraße, dessen eine Achse durch die Ukraine führte.

1.2. Die vernichtende Niederlage des russischen Imperialismus

Das ursprüngliche Ziel Russlands bestand darin, durch eine kühne kombinierte Operation seiner Elitetruppen schnell Kiew zu erreichen, um die Selenskyj-Partei zu beseitigen und eine prorussische Regierung zu installieren, und zweitens durch die Einnahme von Odessa den Zugang zum Schwarzen Meer abzuschneiden. Da sie die Widerstandskraft der von den USA finanziell und militärisch unterstützten ukrainischen Armee unterschätzte, aber auch ihre eigenen militärischen Fähigkeiten überschätzte, erlitt sie eine bittere Niederlage. Das zweite, bescheidenere Ziel war die Besetzung des Nordostens des Landes, aber auch hier erlitt die russische Armee schwere Verluste und musste sich vor Charkiw zurückziehen und Cherson aufgeben. Die Programme zur Mobilisierung neuer Rekruten führten dazu, dass Hunderttausende junger Russen ins Ausland flohen und die russische Armee gezwungen war, sich auf die Söldner der Wagner-Gruppe zu stützen, die oft gewöhnliche Gefangene waren, um die Frontlinie zu halten. Sie versucht nun mit allen Mitteln, das Gebiet zwischen dem Donbass und der Krim zu halten. Zu diesem Zweck werden alle Städte, Kraftwerke und Brücken massiv bombardiert, damit die Ukraine für ihren Sieg teuer bezahlen muss und Selenskyj gezwungen wird, die russischen Bedingungen zu akzeptieren. Angesichts seiner prekären militärischen Lage ist zudem nicht auszuschließen, dass Russland am Ende taktische Atomwaffen einsetzen wird.

Wie auch immer es ausgeht, schon jetzt ist klar, dass Russland aus diesem militärischen Abenteuer stark geschwächt worden ist. Aus militärischer Sicht ist es ausgeblutet, da es Hunderttausende Soldaten verloren hat, insbesondere seine erfahrensten Eliteeinheiten, eine große Anzahl der modernsten und leistungsfähigsten Panzer, Flugzeuge und Hubschrauber; aus wirtschaftlicher Sicht ist es stark geschwächt durch die enormen Kosten des Krieges (25 % seines BIP in diesem Jahr) sowie durch den Zusammenbruch der Wirtschaft, der durch die Kriegsanstrengungen und die Sanktionen der westlichen Länder verursacht wurde; schließlich hat sein Image als imperialistische Macht stark unter den Ereignissen gelitten, die ihm die militärischen und wirtschaftlichen Grenzen seiner Macht aufgezeigt haben.

1.3 Der europäische und chinesische Imperialismus unter Druck

Die europäischen Bourgeoisien, insbesondere Frankreich und Deutschland, hatten Putin dazu gedrängt, diesen Krieg nicht zu beginnen oder bloß einen zeitlich und vom Umfang her begrenzten Angriff zu starten. Die Indiskretionen von Boris Johnson enthüllten, dass Deutschland sogar erwog, einen russischen "Blitzkrieg" von wenigen Tagen zur Beseitigung des Regimes zu unterstützen. Angesichts des Scheiterns der russischen Streitkräfte und des unerwarteten Widerstands der ukrainischen Armee mussten sich Macron und Scholz jedoch kleinlaut der US-geführten NATO-Position anschließen. Sie halten sich jedoch weiterhin aus dem militärischen Engagement in der Ukraine heraus und zögern, alle wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland zu kappen. Andererseits haben sie ihren Militäretat für die massive Aufrüstung ihrer Streitkräfte drastisch erhöht (eine Verdoppelung selbst für Deutschland, d. h. 107 Milliarden Euro). Der jüngste Besuch von Bundeskanzler Scholz in Peking bestätigte die Entschlossenheit Deutschlands, sich den USA nicht zu beugen und wichtige Wirtschaftsbeziehungen zu China zu unterhalten.

Angesichts der Schwierigkeiten seines russischen "Verbündeten" und der indirekten, aber nachdrücklichen Drohungen der Vereinigten Staaten hat China im Ukraine-Konflikt eine sehr vorsichtige Haltung eingenommen: Es hat zur Einstellung der Feindseligkeiten aufgerufen und sich zwar nicht formell an die Sanktionen gegen Russland gehalten, aber auch keine Waffen oder militärische Ausrüstung an Russland geliefert. Xi hat Putin gegenüber sogar offen seine Besorgnis zum Ausdruck gebracht und Russland aufgefordert, Verhandlungen zu suchen. Für die chinesische Bourgeoisie ist die Lektion bitter: Der Krieg in der Ukraine hat gezeigt, dass alle globalen imperialistischen Ambitionen illusorisch sind, wenn es keine militärische und wirtschaftliche Macht gibt, die mit der Supermacht USA konkurrieren kann. Heute verfügt China weder über die Streitkräfte noch über die Wirtschaftsstruktur, um solche globalen imperialistischen Ambitionen zu unterstützen. Seine gesamte wirtschaftliche und kommerzielle Expansion ist den Kriegswirren und dem Druck der amerikanischen Macht ausgeliefert. Natürlich gibt China seine imperialistischen Ambitionen, insbesondere die Rückeroberung Taiwans, nicht auf, wie Xi Jinping auf dem KPCh-Kongress betonte, aber es kann nur langfristig Fortschritte machen und muss vermeiden, amerikanischen Provokationen nachzugeben.

Auf einer allgemeineren Ebene stellt der Konflikt in der Ukraine nicht nur eine äußerst wichtige qualitative Vertiefung des Militarismus dar, sondern er ist auch die treibende Kraft hinter der Verschärfung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten (Inflation und Rezession), der Gesundheitsprobleme (die Covid-Welle), des Zustroms von Flüchtlingen und der Unfähigkeit des Systems, die ökologische Krise zu bewältigen (die Reaktivierung von Atom- und sogar Kohlekraftwerken), die den gegenwärtigen Absturz in den Zerfall kennzeichnen, und zwar auf globaler Ebene.

2. Prüfung unseres theoretischen Rahmens

Die anfängliche Leugnung einer massiven Invasion der Ukraine durch die IKS trotz ausdrücklicher Warnungen der USA war nicht Ausdruck einer Unzulänglichkeit unseres analytischen Rahmens, sondern Ausdruck einer mangelnden Beherrschung desselben und insbesondere eines "Vergessens" der in dem Text "Militarismus und Zerfall" (1990)[4] dargelegten Orientierungen. Die IKS hat daher ein ergänzendes Dokument zur Aktualisierung des Textes vom Oktober 1990 ("Militarismus und Zerfall, Mai 2022"[5]) angenommen. Darin wird insbesondere auf die folgenden Lehren hingewiesen, die durch das Kriegsjahr in der Ukraine voll zum Tragen kommen:

2.1. Die Notwendigkeit eines dialektisch-materialistischen Ansatzes für die aktuellen Ereignisse

Die Frage der Methode ist für das Verständnis der aktuellen Ereignisse von entscheidender Bedeutung: Soll der dialektische Materialismus als einfacher ökonomischer Determinismus aufgefasst werden oder eher, wie Engels 1890 in einem Brief an Bloch anmahnt, als eine dialektische Methode, die die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Aspekten der Realität berücksichtigt, insbesondere die Beziehung zwischen der ökonomischen Basis und dem Überbau, auch wenn "das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens" ist[6]. Dieser Ansatz widerspricht allen vulgärmaterialistischen Analysen, die im Proletarischen Politischen Milieu in der Mehrheit sind und die jeden Krieg nur auf der Grundlage der unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen erklären, ohne die Situationen in den verschiedenen Phasen des Kapitalismus zu differenzieren. Demgegenüber war die Kommunistische Linke Frankreichs (GCF) klar in ihrem Verständnis, wenn sie sagte: „Die Dekadenz der kapitalistischen Gesellschaft kommt darin zum Ausdruck, dass sich die wirtschaftliche Tätigkeit von den Kriegen zur wirtschaftlichen Entwicklung (aufsteigende Periode) im Wesentlichen auf den Krieg beschränkt (dekadente Periode). Das bedeutet nicht, dass der Krieg zum Ziel der kapitalistischen Produktion geworden ist – das Ziel bleibt für den Kapitalismus immer die Produktion von Mehrwert –, aber es bedeutet, dass der Krieg, der einen permanenten Charakter angenommen hat, zur Lebensweise des dekadenten Kapitalismus geworden ist"[7].

2.2. Die Irrationalität des Militarismus wird im Zerfall akzentuiert

In der Phase des Zerfalls wird vor allem einer der verhängnisvollsten Aspekte des Krieges in der Dekadenz hervorgehoben: seine Irrationalität. Mit dem Beginn dieser Phase werden die Auswirkungen des Militarismus immer unvorhersehbarer und katastrophaler. Unsere Vulgärmaterialisten verstehen diesen Aspekt nicht und wenden ein, dass Kriege immer eine wirtschaftliche Motivation und damit eine Rationalität haben. Sie übersehen, dass die heutigen Kriege im Grunde nicht wirtschaftlich, sondern geostrategisch motiviert sind, und selbst dann erreichen sie nicht mehr ihre ursprünglichen Ziele, sondern führen zum gegenteiligen Ergebnis:

- Die Vereinigten Staaten haben die beiden Golfkriege sowie den Krieg in Afghanistan geführt, um ihre Führungsrolle auf dem Planeten zu behaupten, aber sowohl der Irak als auch Afghanistan haben zu einer Explosion von Chaos und Instabilität geführt, die eine Welle von Flüchtlingen an die Türen der Industrieländer klopfen lässt;

- was auch immer die Ziele der vielen imperialistischen Aasgeier – Russen, Türken, Iraner, Israelis, Amerikaner oder Europäer – waren, die in die schrecklichen Bürgerkriege in Syrien oder Libyen eingriffen, sie hinterließen ein Land in Trümmern, zersplittert und in Clans gespalten, mit Millionen von Flüchtlingen, die in die Nachbarländer strömten oder in die Industrieländer flohen.

Der Krieg in der Ukraine ist eine beispielhafte Bestätigung dafür: Unabhängig von den geostrategischen Zielen des russischen oder amerikanischen Imperialismus wird das Ergebnis ein Land in Trümmern (Ukraine), ein wirtschaftlich und militärisch ruiniertes Land (Russland), eine noch angespanntere und chaotischere imperialistische Situation von Europa bis Zentralasien und Millionen von Flüchtlingen in Europa sein.

2.3. Das zunehmende Chaos und die imperialistischen Spannungen behindern weitgehend den Weg zur Blockbildung

Die Zunahme des Militarismus und der Irrationalität des Krieges bedeutet eine erschreckende Ausweitung der militärischen Barbarei. Sie führt jedoch nicht zu einer Umgruppierung der Imperialismen zu Blöcken und damit zu einem allgemeinen Krieg auf dem gesamten Planeten. Verschiedene Elemente unterstützen diese Analyse:

- Der Krieg in der Ukraine hat keine starke und stabile Ausrichtung der Imperialismen hinter den Führern der potenziellen Blöcke gezeigt: Wichtige imperialistische Mächte wie Indien, Brasilien und sogar Saudi-Arabien halten sich eindeutig von den Protagonisten fern; die Verbindung zwischen China und Russland hat sich nicht verfestigt, im Gegenteil, und während die USA den Krieg genutzt haben, um ihre Ansichten innerhalb der NATO durchzusetzen, ziehen Mitgliedsländer wie die Türkei oder Ungarn offen auf eigene Faust los, und Deutschland und Frankreich versuchen mit allen Mitteln, ihre eigene Politik zu entwickeln.

- Ein Blockführer muss in der Lage sein, Vertrauen unter den Ländern des Blocks zu schaffen und die Sicherheit seiner Verbündeten zu garantieren, während China seinen russischen Verbündeten nur sehr zurückhaltend unterstützt hat. Was die Vereinigten Staaten betrifft, so war Trumps "America First"-Politik eine kalte Dusche für die "Verbündeten", die dachten, sie könnten sich auf die USA verlassen, und Biden verfolgt im Grunde dieselbe Politik: Er hat ohne Rücksprache mit seinen Verbündeten beschlossen, seine Truppen aus Kabul abzuziehen, und er lässt sie einen hohen Preis für den Energieboykott der russischen Wirtschaft zahlen, während die Vereinigten Staaten in diesem Bereich autark sind.

- Das Fehlen eines besiegten Proletariats, eine unabdingbare Voraussetzung für die Beteiligung eines Landes an einem Weltkrieg. Die jüngsten Kämpfe in verschiedenen westlichen Ländern zeigen, dass das Proletariat nicht bereit ist, die durch die Wirtschaftskrise auferlegten Entbehrungen zu akzeptieren, geschweige denn die mit einem allgemeinen Krieg verbundenen Opfer. Selbst in Russland, wo das Proletariat schwach und einem starken nationalistischen Druck ausgesetzt ist, unterstützt die Mehrheit der Bevölkerung den Krieg nicht. Schließlich fehlt auch eine starke ideologische Waffe, die in der Lage wäre, das Proletariat für sich zu gewinnen, wie der Faschismus und der Antifaschismus in den 1930er Jahren.

Die Bildung von Blöcken ist nicht zu verwechseln mit Ad-hoc-Bündnissen, die für bestimmte Ziele geschlossen werden. So verfolgt die Türkei, Mitglied der NATO, in der Ukraine eine Politik der Neutralität gegenüber Russland und hofft, dies nutzen zu können, um sich mit Russland in Syrien gegen die von den USA unterstützten kurdischen Milizen zu verbünden. Gleichzeitig konfrontiert es Russland in Libyen oder in Zentralasien, wo es Aserbaidschan gegen Armenien, ein Mitglied der von Russland geführten Allianz, militärisch unterstützt.

2.4. Die Polarisierung der Spannungen ist ein Produkt der US-Offensive

Wenn seit der Mitte des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts eine Polarisierung der imperialistischen Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und China immer deutlicher zutage tritt, so ist dies keineswegs als Beginn einer Dynamik in Richtung Blockbildung zu werten. Im Gegensatz zu letzterer ist sie nicht das Ergebnis des Drucks des Herausforderers (Deutschland, UdSSR in der Vergangenheit), sondern einer systematischen Politik, die von der dominierenden imperialistischen Macht, den Vereinigten Staaten, verfolgt wird, um den unumkehrbaren Niedergang ihrer Führung aufzuhalten. Zunächst konzentrierte sie sich darauf, die Bestrebungen der ehemaligen Verbündeten des US-Blocks, insbesondere Deutschlands, zu neutralisieren. Dann zielte sie darauf ab, die "Achse des Bösen" (Irak, Iran, Nordkorea) zu polarisieren, um andere Imperialismen hinter dem Weltpolizisten zu versammeln. In jüngster Zeit besteht ihr Ziel gerade darin, das Auftauchen von Herausforderern zu verhindern.

Dreißig Jahre einer solchen Politik der USA haben keine Disziplin und Ordnung in die imperialistischen Beziehungen gebracht, sondern stattdessen das Jeder-für-sich, Chaos und Barbarei verschärft. Die Vereinigten Staaten sind heute ein wichtiges Instrument für die erschreckende Ausweitung der militärischen Konfrontationen.

2.5. Der Krieg erleichtert die Entwicklung des proletarischen Kampfes nicht

Gewiss, auf einer allgemeinen Ebene zeigt der Krieg in der Ukraine den Bankrott dieses Systems (vor allem, weil er offensichtlich eine bewusste Aktion der herrschenden Klasse ist) und kann in diesem Sinne eine Quelle des Bewusstseins dieses Bankrotts darstellen, auch wenn dies heute auf Minderheiten der Klasse beschränkt ist. Grundsätzlich bestätigt er jedoch die Analyse des IKS, dass der Krieg und die Gefühle der Ohnmacht und des Entsetzens, die er hervorruft, die Entwicklung des Kampfes der Arbeiterklasse nicht begünstigen. Andererseits führt er zu einer erheblichen Verschärfung der Wirtschaftskrise und der Angriffe auf die Arbeitenden, was diese dazu bringt, sich jenen zu widersetzen, um ihre Lebensbedingungen zu verteidigen[8].

Teil II: Der Konflikt in der Ukraine als Multiplikator und verschärfender Faktor der imperialistischen Widersprüche

In der gegenwärtigen Periode kann der Krieg in der Ukraine nicht als ein isoliertes Phänomen betrachtet werden. Der Eintritt in die zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts ist in erster Linie durch eine Anhäufung und Wechselwirkung verschiedener Arten von Krisen gekennzeichnet – Gesundheitskrise, Wirtschaftskrise, Klima- und Ernährungskrise, Spannungen zwischen den imperialistischen Mächten –, aber vor allem sind sie alle von den Auswirkungen dieses Konflikts betroffen, der einen echten Multiplikator und Verstärker von Barbarei und zerstörerischem Chaos darstellt. Dieser Krieg ist der zentrale Faktor, der die Intensivierung der anderen Aspekte bestimmt:

"In diesem Zusammenhang muss die führende Rolle des Krieges als eine von den kapitalistischen Staaten gewollte und geplante Aktion hervorgehoben werden, die zum mächtigsten und schwerwiegendsten Faktor für Chaos und Zerstörung wurde. Tatsächlich bewirkt und beinhaltet der Krieg in der Ukraine einen Multiplikatoreffekt der Faktoren von Barbarei und Zerstörung:

- ein immer bestehendes Risiko der Bombardierung von Atomkraftwerken, wie es besonders um den Standort Saporischschja zu sehen ist;

- die Gefahr des Einsatzes von chemischen und nuklearen Waffen;

- die gewaltsame Eskalation des Militarismus mit seinen Auswirkungen auf die Umwelt und das Klima;

- die direkten Auswirkungen des Krieges auf die Energie- und Nahrungsmittelkrise"[9]. Kurz gesagt, wie auch immer das Szenario in den kommenden Monaten aussehen wird, die globalen Auswirkungen des Konflikts in der Ukraine werden sich manifestieren durch:

(a) die Ausweitung der imperialistischen Spannungsgebiete in der Welt sowie die Destabilisierung der politischen Strukturen in vielen Staaten,

(b) die Verschärfung der Konfrontationen zwischen den Hauptprotagonisten des Konflikts sowie innerhalb der verschiedenen Bourgeoisien dieser Länder (einschließlich der ukrainischen).

1. Die globalen Auswirkungen der wachsenden Spannungen und des Chaos

Die Folgen des Konflikts in der Ukraine führen nicht zu einer "Rationalisierung" der Spannungen durch eine "bipolare" Ausrichtung der Imperialismen hinter zwei dominanten "Paten", sondern im Gegenteil zur Explosion einer Vielzahl von imperialistischen Ambitionen, die sich nicht auf die der großen Imperialismen (die im nächsten Abschnitt untersucht werden) oder auf Osteuropa und Zentralasien beschränken, wodurch der chaotische und irrationale Charakter der Konfrontationen noch verstärkt wird.

1.1. Zunehmende imperialistische Konfrontationspunkte in der Welt

- In Europa wird das Auftauchen einer von den USA stark bewaffneten Ukraine im Osten den Kampf zwischen dem amerikanischen und dem deutschen Imperialismus um die Kontrolle des Landes anheizen[10]. Ihre zentrale Position wird auch zu Spannungen mit anderen osteuropäischen Ländern wie Rumänien, Ungarn (das die Ukraine nur sehr zögerlich unterstützt) und vor allem Polen führen, welche Länder in verschiedenen Teilen der Ukraine Minderheiten haben. Im Westen hat der Druck auf Deutschland zu Meinungsverschiedenheiten mit Frankreich geführt, während die Konflikte in Bosnien oder zwischen Serben und Kosovaren (durch russische Söldner der Wagner-Gruppe) neu entfacht werden. Schließlich reagierte die EU mit Verärgerung auf das Inflationsbekämpfungsgesetz (Inflation Reduction Act), das als regelrechte Kriegserklärung an die europäischen Exporte in die USA angesehen wurde.

- In Zentralasien geht der Rückzug des russischen Imperialismus Hand in Hand mit einer raschen Ausweitung der Präsenz anderer imperialistischer Mächte wie China, der Türkei, des Iran und natürlich der USA in den Republiken der ehemaligen Sowjetunion. Im Fernen Osten besteht die Gefahr von Konflikten zwischen China und Indien (mit regelmäßigen Grenzkonflikten) oder Japan (das massiv aufrüstet), ganz zu schweigen von den Spannungen zwischen Indien und Pakistan und den wiederkehrenden Spannungen zwischen den beiden koreanischen Staaten, in die die USA voll involviert sind. Die besondere imperialistische Position Indiens verdient es, erwähnt zu werden: Während seine Beziehungen zu China auf politischer, militärischer und wirtschaftlicher Ebene konfliktreich sind, sind sie in Bezug auf die Vereinigten Staaten (Mitglied der QUAD, aber nicht des AUKUS) oder Russland (wichtige militärische Verträge) zweideutiger, was ein eindrucksvolles Beispiel des Jeder-für-sich und der Fragilität der Annäherung zwischen imperialistischen Mächten ist.

- Im Nahen Osten werden die Schwächung Russlands, die innere Destabilisierung wichtiger Geier wie dem Iran (Volksaufstände, Kämpfe zwischen Fraktionen und imperialistischer Druck) oder der Türkei (katastrophale Wirtschaftslage) große Auswirkungen auf die imperialistischen Beziehungen haben, auch wenn diese drei Länder dazu neigen, sich mit dem Ziel anzunähern, in Syrien und im Irak militärische Aktionen gegen verschiedene kurdische Fraktionen durchzuführen, die von den USA unterstützt werden. Schließlich sind auch die Haltung des in den Bürgerkrieg im Jemen verwickelten Saudi-Arabiens, das sich der US-Politik widersetzt und sich Russland und China annähert, sowie die Bildung einer rechtsextremen Regierung in Israel Ausdruck der Verschärfung des militärischen Chaos und des Jeder-für-sich.

- Während in Afrika die Energie- und Nahrungsmittelkrise und Kriegsspannungen in verschiedenen Regionen wüten (Bürgerkrieg zwischen der äthiopischen Zentralregierung und der aufständischen Provinz Tigray, in den auch Eritrea oder der Sudan verwickelt sind, Bürgerkrieg in Libyen, starke Spannungen zwischen Nord- und Südsudan sowie zwischen Algerien und Marokko), fördert die Aggressivität der imperialistischen Mächte die Destabilisierung und das Chaos. Zwischen 2016 und 2020 hat China das Äquivalent aller westlichen Investitionen im gleichen Zeitraum (70 Milliarden Dollar) investiert und 17 afrikanischen Ländern die Rückzahlung von 23 zinslosen Krediten im Jahr 2021 erlassen. Indien hat 2018 Frankreich als drittwichtigsten Handelspartner des Kontinents (nach China und den USA) abgelöst. Der Handel der Türkei mit dem afrikanischen Kontinent ist innerhalb von zwanzig Jahren von 5 Milliarden Dollar auf 25 Milliarden Dollar angestiegen. Russland seinerseits setzt seine destabilisierenden Aktivitäten in Mali und der Zentralafrikanischen Republik mit den Söldnern der Wagner-Gruppe fort und bleibt gleichzeitig ein wichtiger Handelspartner für afrikanische Länder wie Ägypten, Äthiopien und Südafrika im Bereich Waffen und Landwirtschaft (Getreide und Düngemittel). Frankreich und Großbritannien, die an Boden verlieren, wollen einen Marktanteil zurückgewinnen und versprechen Investitionen. Um dem Einfluss des russischen und chinesischen Imperialismus in Afrika entgegenzuwirken, organisierte der US-Imperialismus am 13. Dezember 2022 in Washington ein wichtiges amerikanisch-afrikanisches Gipfeltreffen, auf dem 55 Milliarden Dollar für Afrika über drei Jahre versprochen wurden.

1.2 Zunehmende Destabilisierung des politischen Apparats der Bourgeoisie in vielen Staaten

Das zunehmende Gewicht des Zerfalls tendiert auch dazu, den Kontrollverlust des politischen Apparats der Bourgeoisie zu akzentuieren, den Kampf zwischen den Fraktionen und den Druck der populistischen Tendenzen zu verstärken.[11] Diese zunehmende politische Instabilität wird sich immer stärker auf die Unberechenbarkeit der imperialistischen Positionierung auswirken, wie die Präsidentschaft von Trump gezeigt hat.

Die europäischen Länder, die unter starkem Druck der USA stehen und zudem Spannungen unter sich haben, sind mit populistischen Tendenzen und Kämpfen zwischen Fraktionen der Bourgeoisie konfrontiert, die den politischen Apparat der Bourgeoisie stark destabilisieren und zu Änderungen der imperialistischen Ausrichtungen führen können. Dies ist bereits nicht nur in Großbritannien der Fall, sondern auch in Italien, wo es mehrere Regierungen mit populistischen Komponenten gab. Diese zunehmende Destabilisierung verstärkt sich auch in Frankreich ("Les Républicains" von Ciotti sind bereit, mit den Populisten zu regieren) und sogar in Deutschland[12]. Imperialistische Unruhen können auch die Spannungen innerhalb der Bourgeoisien verschärfen, wie dies in Russland und China der Fall ist (siehe nächster Abschnitt), und schließlich zu imperialistischen Neuorientierungen führen. So können im Iran die Auseinandersetzungen zwischen Fraktionen innerhalb der iranischen Bourgeoisie, die bestimmte ausländische Einmischungen anfachen und die Revolten und Verzweiflungsbekundungen der Bevölkerung ausnutzen, die imperialistischen Orientierungen verändern[13].

Schließlich haben in vielen Staaten Afrikas (Sudan, Äthiopien), Asiens (Pakistan, Afghanistan) oder Lateinamerikas (Peru, Ecuador, Bolivien, Chile) die Häufung von Volksaufständen oder interethnischen Massakern die Destabilisierung der staatlichen Struktur gekennzeichnet, und diese verschiedenen Situationen haben die Instabilität der imperialistischen Beziehungen und die Unvorhersehbarkeit der Konflikte noch verstärkt.

2. Destabilisierung und Turbulenzen bei den Hauptakteuren des Ukraine-Konflikts

Ein Jahr Krieg hat erhebliche Turbulenzen in den Orientierungen der großen beteiligten Imperialismen, aber auch in den Spannungen innerhalb der verschiedenen Bourgeoisien dieser Länder verursacht.

2.1. Die US-Offensive ist mehr denn je ein zentraler Faktor für die Zunahme der Spannungen und des Chaos

2.1.1. Der anfängliche Erfolg der gegenwärtigen US-Offensive beruht auf einem Merkmal, das bereits in Militarismus und Zerfall (1990) hervorgehoben wurde: die wirtschaftliche und vor allem militärische Überlegenheit der USA, die die Kräfte potenziell konkurrierender Mächte übersteigt. Diesen Vorteil nutzen die USA mit ihrer Politik der Polarisierung voll aus. Diese Politik hat nie zu mehr Ordnung und Disziplin in den imperialistischen Beziehungen geführt, sondern im Gegenteil die militärischen Konfrontationen vervielfacht, die "Jeder für sich"-Haltung verschärft, Barbarei und Chaos in vielen Regionen (Naher Osten, Afghanistan, ...) gesät, den Terrorismus verstärkt, riesige Flüchtlingswellen ausgelöst und die Ambitionen der kleinen und großen Haie verschärft.

Die Frage, mit der die USA heute in der Ukraine konfrontiert sind, ist, ob sie Russland, das nach diesem Krieg ohnehin keinen Anspruch mehr auf eine imperialistische Führungsrolle in der Welt erheben kann, einen Ausweg anbieten oder ob sie auf eine totale Demütigung abzielen, die eine verzweifelte und unkontrollierte Reaktion der russischen Bourgeoisie hervorrufen und das Risiko eines Zerfalls Russlands, schlimmer als 1990, und damit eine Destabilisierung dieses Teils des Planeten mit sich bringen könnte. Die dominierenden Fraktionen der US-Bourgeoisie (insbesondere die Demokraten) sind sich dieser Gefahren zweifellos bewusst, auch wenn sie darauf bedacht sind, ihre bereits weitgehend erreichten Ziele zu verwirklichen, nämlich die endgültige Schwächung Russlands und vor allem die Verstärkung des Drucks auf China, um es einzudämmen und seine Expansion zu verhindern. Infolgedessen messen die USA die militärischen Fähigkeiten der ukrainischen Armee sorgfältig aus, üben Druck auf Selenskyj aus, damit er die Kontrolle über seine Verwaltung und seine Armee verstärkt, und weisen darauf hin, dass "dieser Krieg auf die eine oder andere Weise am Verhandlungstisch enden muss" (General Milley, Vorsitzender der US-Generalstabschefs). Dieser Ausrichtung kann jedoch entgegengewirkt werden durch:

- eine mögliche Strategie der russischen Führung, aus der Müdigkeit des Westens Kapital zu schlagen, indem sie den Krieg in die Länge zieht, sowie durch den Druck der Hardliner-Fraktion, die einen totalen Krieg fordert (siehe unten);

- Spannungen innerhalb des ukrainischen Staats- und Militärapparats, wobei einige Fraktionen weitere Offensiven bis zum vollständigen Sieg über Russland fordern, einschließlich der Rückeroberung des Donbass und der Krim;

- ein irrationaler Ausrutscher, der mit dem Chaos und der Barbarei des Umfelds zusammenhängt, wie der Einschlag einer Rakete in Polen, Weißrussland oder einem Atomkraftwerk.

Wie auch immer der Konflikt ausgeht, die derzeitige Konfrontationspolitik der Biden-Administration, die weit davon entfernt ist, die Spannungen abklingen zu lassen oder die imperialistischen Geier zu disziplinieren, wird ein wichtiger Faktor für die Zukunft der Region sein. Diese Politik:

- wird die wirtschaftlichen und militärischen Spannungen mit dem chinesischen Imperialismus weiter verschärfen;

- wird die Widersprüche zwischen den Imperialismen verschärfen, zum Beispiel in Mitteleuropa, wo die Schwächung Russlands und die massive Aufrüstung der Ukraine die Gegensätze zwischen den mitteleuropäischen Ländern wie Polen, Ungarn, Rumänien und natürlich Deutschland verschärfen wird. In Zentralasien drängeln sich neben den USA bereits der chinesische, der türkische und der iranische Imperialismus, um den Platz Russlands einzunehmen;

- wird die Widersprüche innerhalb der verschiedenen Bourgeoisien verschärfen, natürlich in den USA, Russland und der Ukraine, aber auch in Deutschland oder China, wie wir in den folgenden Punkten entwickeln werden.

Entgegen der Rhetorik ihrer Führer steht die offensive und brutale Politik der Vereinigten Staaten somit an der Spitze der militärischen Barbarei und der mit dem kapitalistischen Zerfall verbundenen Zerstörung.

2.1.2. Die Strategie der USA zur Bekämpfung ihres Niedergangs hat auch die Spaltung der amerikanischen Bourgeoisie offenbart. Während in Bezug auf die Politik gegenüber China ein klarer Konsens besteht, betreffen diese Spaltungen nun die Frage, wie Russland im Rahmen der Konzentration auf den "Hauptfeind" China "neutralisiert" werden kann. Die Trump-Fraktion tendierte dazu, ein Bündnis mit Russland gegen China ins Auge zu fassen, aber diese Ausrichtung stieß auf den Widerstand großer Teile der US-Bourgeoisie und auf den Widerstand der meisten staatlichen Strukturen. Die Strategie der dominierenden Fraktionen der US-Bourgeoisie, die heute von der Biden-Administration vertreten werden, zielt stattdessen darauf ab, Russland so entscheidende Schläge zu versetzen, dass es keine potenzielle Bedrohung mehr für die USA darstellen kann: "Wir wollen Russland so schwächen, dass es nicht mehr in der Lage ist, Dinge wie eine Invasion in der Ukraine zu unternehmen"[14], und gleichzeitig eine klare Warnung an China aussprechen ("das kommt davon, wenn ihr beschließt, in Taiwan einzumarschieren").

Die Zwischenwahlen haben bestätigt, dass die Gräben zwischen Demokraten und Republikanern sowie die Spaltungen innerhalb der beiden Lager immer noch tief sind und sich verschärfen[15], während das Gewicht des Populismus und der rückständigsten Ideologien, die sich durch die Ablehnung rationalen und kohärenten Denkens auszeichnen, durch die Kampagnen zur Absetzung Trumps[16] keineswegs gestoppt werden konnte, sondern die amerikanische Gesellschaft immer stärker und dauerhafter belastet hat. Diese Spannungen innerhalb der amerikanischen Bourgeoisie (die nicht einfach auf die Irrationalität der Person Trump reduziert werden können), die durch die Neigung des Repräsentantenhauses zu den Republikanern und die neue Präsidentschaftskandidatur von Trump, der immer noch von mehr als 30 % der Amerikaner (d.h. fast 2/3 der republikanischen Wähler) favorisiert wird, für die Wahlen 2024 noch verstärkt werden, bringen eine Dosis Unsicherheit in die amerikanische Politik der massiven Unterstützung für die Ukraine und ermutigen andere Länder nicht, die Versprechen der Vereinigten Staaten für bare Münze zu nehmen.

Diese Unvorhersehbarkeit der US-Politik ist selbst (neben ihrer Polarisierungspolitik) ein Faktor, der das Chaos in der Zukunft verschärft.

2.2. Die Schwächung Russlands weckt den Appetit anderer Imperialismen und verschärft die internen Spannungen

2.2.1. Die gescheiterte Intervention in der Ukraine, die bereits katastrophal ist, wird in den kommenden Monaten noch schwerwiegendere Folgen haben. Die russische Armee hat ihre Ineffizienz unter Beweis gestellt und viele ihrer Elitesoldaten sowie einen Großteil ihrer modernsten Ausrüstung verloren. Die russische Wirtschaft wird hart getroffen, vor allem in den High-Tech-Sektoren, da aufgrund des Boykotts Rohstoffe fehlen und zahlreiche Mitglieder der technologischen Elite abwandern (1 Million Menschen sollen ins Ausland geflohen sein). Trotz enormer finanzieller Anstrengungen (50 % des Staatshaushalts werden inzwischen für die Kriegsanstrengungen aufgewendet) kann der für die langfristigen Kriegsanstrengungen entscheidende Sektor der Rüstungsindustrie nicht mithalten, und es ist bezeichnend, dass Russland auf die Hilfe Nordkoreas (Munition) und des Irans (Drohnen) zurückgreifen muss, um die Defizite der eigenen Kriegswirtschaft auszugleichen.

Aber vor allem auf der Ebene der imperialistischen Beziehungen wird Moskau immer deutlicher unter seiner Niederlage leiden. Russland ist isoliert, und selbst "befreundete" Länder wie China und Kasachstan distanzieren sich offen davon. Darüber hinaus weigern sich die verschiedenen Länder Zentralasiens, die früher der UdSSR angehörten, ihre in Russland lebenden Bürger zu mobilisieren und stehen Russland zunehmend kritisch gegenüber: Kasachstan hat 200.000 Russen aufgenommen, die vor dem Mobilisierungsbefehl geflohen sind, hat die russische Invasion ausdrücklich missbilligt und der Ukraine materielle Hilfe geleistet; Kirgisistan und Tadschikistan haben Russland offen kritisiert, weil es nicht in der Lage war, in ihren internen Konflikt einzugreifen; Armenien ist wütend darüber, dass Russland den Beistandspakt, der es im Krieg mit Aserbaidschan gebunden hat, nicht eingehalten hat; selbst Lukaschenko, der Tyrann von Weißrussland, versucht verzweifelt, sich nicht zu sehr mit Putin einzulassen. Der Zusammenbruch des russischen Einflusses in Osteuropa und Zentralasien wird die Spannungen zwischen den verschiedenen Bourgeoisien in diesen Regionen verschärfen und den Appetit der großen Aasgeier wecken, was die Destabilisierung dieser Regionen noch verstärken wird. Und zu allem Überfluss wird Russland eine von den Vereinigten Staaten mächtig bewaffnete Ukraine 500 km von Moskau entfernt akzeptieren müssen.

2.2.2. Intern werden die Spannungen zwischen den verschiedenen Fraktionen innerhalb der russischen Bourgeoisie immer stärker und sichtbarer. Es zeigen sich mehrere Tendenzen:

Die Spaltungen innerhalb der russischen Bourgeoisie und insbesondere innerhalb der Putin-Fraktion werden immer deutlicher; wir können drei Hauptrichtungen erkennen:

- Die pro-demokratische Fraktion, die derzeit stark unterdrückt wird.

- Die Fraktion hinter Putin, die ihrerseits in 3 Fraktionen unterteilt ist:

/die "Hardliner"-Fraktion hinter dem tschetschenischen Führer Kadyrow und der Wagner-Gruppe;

/eine kleinere Fraktion, die sich dafür einsetzt, dass Putin den Krieg in der Ukraine beendet;

/eine Fraktion hinter Putin, der versucht, diese beiden Fraktionen gegeneinander auszuspielen, um seinen Einfluss auf den russischen Staat zu erhalten.

Offensichtlich ziehen sich diese Spaltungen sowohl durch die Armee und die Sicherheitsapparate als auch durch Putins Gefolge.

Von Putins politischem Überleben bis hin zum Überleben der Russischen Föderation und deren imperialistischem Status steht nach der Niederlage in der Ukraine viel auf dem Spiel: Wenn Russland in Problemen versinkt, wird es wahrscheinlich zu Abrechnungen und sogar zu blutigen Zusammenstößen zwischen rivalisierenden Fraktionen kommen. Kriegsherren wie Kadyrow oder Prigoschin (Gründer der Wagner-Gruppe) tauchen auf und stellen sich zunehmend gegen den Generalstab, ja kritisieren sogar Putin. Außerdem stammt ein Großteil der getöteten Soldaten aus einigen der ärmeren autonomen Republiken, was zu zahlreichen Demonstrationen und Sabotageakten in diesen Regionen und möglicherweise zu einer Zersplitterung der Russischen Föderation führt. Diese Widersprüche deuten auf eine Phase großer Instabilität im größten und am stärksten bewaffneten Staat der Welt hin, mit dem Risiko eines Kontrollverlusts und unvorhersehbaren Folgen für die Welt.

2.3. Der chinesische Herausforderer im Umbruch

Konnte man sich vor zwei Jahren auf der Grundlage eines empirischen Ansatzes noch vorstellen, dass China der große Gewinner der Covid-Krise war, so bestätigen die jüngsten Daten heute auf allen Ebenen, dass es im Gegenteil mit allen Arten von Destabilisierung und der Aussicht auf ernsthafte Turbulenzen konfrontiert ist.

Angesichts der Falle, die dem russischen "Verbündeten" in der Ukraine gestellt wurde, und der vernichtenden Niederlage, die dieser erlitten hat, versucht China, die Situation mit den Vereinigten Staaten zu beruhigen, deren Polarisierungspolitik sich – über Russland – grundsätzlich gegen China richtet, wie die anhaltenden Spannungen um Taiwan zeigen. Die Strategie Chinas unterscheidet sich jedoch grundlegend von der Russlands. Während Russlands einziger Trumpf seine militärische Macht als ehemaliger Blockführer ist, weiß die chinesische Bourgeoisie, dass die Entwicklung ihrer Stärke mit einem wirtschaftlichen Aufbau verbunden ist, der noch Zeit braucht, um sich zu entfalten.

Wird man ihr diese Zeit geben? Unter dem Druck der Entwicklung des militärischen Chaos und der imperialistischen Polarisierung ist China gleichzeitig mit einer gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Destabilisierung konfrontiert, was die chinesische Bourgeoisie in eine besonders unangenehme Lage bringt.

2.3.1. China ist in mehrfacher Hinsicht stark destabilisiert:

- Die Unfähigkeit Chinas, die Gesundheitskrise, die es seit Ende 2019 erlebt, in den Griff zu bekommen, hat seine Wirtschaft weitgehend lahmgelegt und seine Bevölkerung benachteiligt. Die Folgen waren gigantisch, einschließlich endloser Lockdowns, wie im November 2022, als bis zu 412 Millionen Chinesinnen und Chinesen unter schrecklichen Bedingungen in verschiedenen Teilen Chinas eingesperrt waren, oft für mehrere Monate.

- Die chinesische Wirtschaft hat durch die wiederholten Abriegelungen, die Immobilienblase und die Blockierung verschiedener Routen der "Seidenstraße" durch bewaffnete Konflikte (Ukraine) oder durch das Chaos in der Umgebung (Äthiopien) einen schweren Rückschlag erlitten.

Es wird erwartet, dass das BIP-Wachstum im Jahr 2022 nicht mehr als 3 % betragen wird, das ist das niedrigste Wachstum seit 1976 (abgesehen vom "Covid-Jahr" 2020). Von der sich verschlechternden Situation sind vor allem junge Menschen betroffen, die Arbeitslosenquote unter den arbeitssuchenden Universitätsstudentinnen und -studenten wird auf 20 % geschätzt.

- Der dramatische demografische Niedergang, der zum ersten Rückgang der Gesamtbevölkerung Chinas seit 60 Jahren geführt hat und die Bevölkerung bis zum Jahr 2100 auf etwa 600 Millionen Menschen schrumpfen lassen könnte, führt zu einer allmählichen Umkehrung der Alterspyramide und zu einem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der chinesischen Industrie aufgrund der gestiegenen Arbeitskosten einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung sowie zu einem Druck auf das Rentensystem, das heute kaum existiert, und auf die Sozial- und Gesundheitsinfrastruktur für eine alternde Bevölkerung.

- Was die chinesische Bourgeoisie noch mehr beunruhigt, ist die Tatsache, dass die wirtschaftlichen Probleme in Verbindung mit der Gesundheitskrise zu großen sozialen Protestbewegungen geführt haben, obwohl die Politik des chinesischen Staates seit 1989 darauf ausgerichtet ist, soziale Unruhen größeren Ausmaßes um jeden Preis zu vermeiden. Die Bewegungen von Käufern, die durch die Schwierigkeiten und Konkurse der Immobilienriesen getäuscht wurden, aber vor allem die Unruhen, die Streiks, wie der der 200.000 Arbeiterinnen und Arbeiter in der gewaltigen Fabrik des taiwanesischen Riesen Foxconn, der die iPhones von Apple zusammenbaut, und die weit verbreiteten Demonstrationen in vielen chinesischen Städten, wie Shanghai, mit den Rufen "Xi Jinping tritt zurück! Rücktritt der KPCh" haben Xi und seinen Anhängern den kalten Schweiß auf die Stirn getrieben.

2.3.2. Die Erschütterungen eines überholten neostalinistischen Modells[17]

Angesichts wirtschaftlicher und dann gesundheitspolitscher Schwierigkeiten bestand die Politik von Xi Jinping seit Beginn seiner zweiten Amtszeit (2017) darin, zu den klassischen Rezepten des Stalinismus zurückzukehren:

- An der Wirtschaftsfront hatte die chinesische Bourgeoisie seit Deng Xiao Ping einen fragilen und komplexen Mechanismus geschaffen, um ein allmächtiges Einparteiensystem aufrechtzuerhalten, das mit einer direkt vom Staat geförderten Privatbourgeoisie zusammenlebt. "Ende 2021 war die Ära der Reformen und der Offenheit von Deng Xiaoping eindeutig vorbei und wurde durch eine neue staatsorientierte Wirtschaftsorthodoxie ersetzt"[18]. In der Tat hat die dominante Fraktion hinter Xi Jinping die chinesische Wirtschaft in Richtung einer absolut stalinistischen Staatskontrolle umorientiert.

- Auf sozialer Ebene hat es die "Null Covid"-Politik Xi nicht nur ermöglicht, die rücksichtslose staatliche Kontrolle über die Bevölkerung zu verschärfen, sondern diese Kontrolle auch den regionalen und lokalen Behörden aufzuerlegen, die sich zu Beginn der Pandemie als unzuverlässig und ineffektiv erwiesen hatten. Noch im vergangenen Herbst schickte er Polizeieinheiten der Zentralregierung nach Schanghai, um lokale Behörden, die die staatlichen Kontrollmaßnahmen liberalisierten, zur Ordnung zu rufen.

Doch wie der vorangegangene Punkt zeigt, hat diese Politik der chinesischen Behörden sie in eine Sackgasse geführt. Angesichts der explosiven sozialen Proteste sah sich das Regime nämlich gezwungen, in großer Eile auf allen Ebenen einen Rückzieher zu machen und innerhalb weniger Tage die Politik aufzugeben, die es jahrelang gegen alle Widerstände verfolgt hatte:

- Es hat die "Null Covid"-Politik abrupt aufgegeben, ohne die geringste Alternative vorzuschlagen, ohne eine Immunität erreicht zu haben, ohne wirksame Impfstoffe oder ausreichende Vorräte an Medikamenten, ohne eine Politik der Impfung der Schwächsten, ohne ein Krankenhaussystem, das in der Lage ist, den Schock aufzufangen, und die unvermeidliche Katastrophe ist tatsächlich eingetreten: Die Patienten stehen Schlange, um in die überfüllten Krankenhäuser zu gelangen, und die Leichen stapeln sich vor den überfüllten Krematorien; Prognosen sagen voraus, dass bis zum Sommer voraussichtlich 1,7 Millionen Menschen sterben werden, und mehrere zehn Millionen werden von der aktuellen Viruswelle schwer betroffen sein. Darüber hinaus werden Zehntausende von Arbeiterinnen und Arbeitern entlassen, die für die Organisation der Lockdowns eingestellt wurden oder in Fabriken arbeiten, die Tests oder andere Anti-Covid-Materialien herstellen, was zu großen sozialen Verwerfungen führt.

- Das Regime überdenkt seine Politik der absoluten staatlichen Kontrolle der Wirtschaft, indem es die Kontrollen für den Zugang zu Krediten im Immobiliensektor und die antimonopolistischen Maßnahmen im Technologiesektor abbaut. Es verspricht sogar, dass ausländische Banken und Investmentgesellschaften vollständige Eigentümer von Unternehmen in China werden könnten. Doch die Skepsis unter den ausländischen Unternehmen ist nach wie vor groß, und der Abzug ausländischen Kapitals aus China ist nach wie vor massiv, während der wirtschaftliche Druck aus den USA zunimmt, insbesondere mit dem Inflation Reduction Act (Inflationsbekämpfungsgesetz) und dem CHIPS and Science Act (CHIPS- und Wissenschaftsgesetz), die sich direkt gegen die Exporte chinesischer Technologieunternehmen (z. B. Huawei) in die USA richten.

Diese Zickzack-Politik offenbart die Sackgasse eines stalinistischen Regimes, in der "die extreme Unbeweglichkeit der gesellschaftlichen Strukturen (...) praktisch keinen Raum für das Auftauchen von Oppositionskräften innerhalb der Bourgeoisie läßt, welche in der Lage sind, die Rolle eines Puffers zu spielen".[19] Der chinesische Staatskapitalismus konnte zwar die Chancen nutzen, die sich durch seinen Blockwechsel, die Implosion des Sowjetblocks und die von den USA und den großen westlichen Blockmächten vorangetriebene Globalisierung der Wirtschaft boten, aber die angeborenen Schwächen seiner stalinistischen Staatsstruktur sind jetzt angesichts der wirtschaftlichen, gesundheitlichen und sozialen Probleme ein großes Handicap. Die verzweifelten Zuckungen des Regimes offenbaren das Scheitern der Politik von Xi Jinping, der nach Hinterzimmerabsprachen zwischen Fraktionen innerhalb der KPCh für eine dritte Amtszeit wiedergewählt wurde, und lassen Fraktionskonflikte innerhalb eines Staatsapparats erahnen, dessen Unfähigkeit, politische Starrheit zu überwinden, das schwere Erbe des maoistischen Stalinismus offenbart.[20]

2.3.3. Eine imperialistische Politik unter Druck

Angesichts der wirtschaftlich-militärischen Offensive der Vereinigten Staaten von Taiwan bis zur Ukraine scheint die chinesische Bourgeoisie die Lehren auf imperialistischer Ebene gezogen zu haben und richtet ihre Politik im Moment auf eine Strategie aus, die darauf abzielt, die Spirale der Provokationen, ob militärisch oder nicht, zu vermeiden:

- Die von Xi 2017 eingeleitete aggressive nationalistische "Wolfskrieger"-Diplomatie wurde aufgegeben und der Sprecher des Außenministeriums, der sie verkörperte, Zhao Lijian, wurde degradiert;

- China versucht, der Strategie der Isolierung durch die Suche nach neuen Partnerschaften in alle Richtungen zu begegnen: Xi hat in drei Monaten 25 ausländische Staatsoberhäupter getroffen, um seine Wirtschaft anzukurbeln und diplomatische Beziehungen zu knüpfen (z. B. mit Deutschland, Saudi-Arabien und Europa);

- es engagiert sich zunehmend auf der internationalen Bühne, wie seine versöhnliche Haltung beim letzten G20-Gipfel in Indonesien und seine starke Beteiligung an der Konferenz von Montreal über ökologische Vielfalt zeigen

Die wirtschaftliche und militärische Aggressivität der Vereinigten Staaten nimmt jedoch durch die massive Aufrüstung Taiwans zu, aber auch durch die Erhöhung des Drucks auf Chinas "Partner" wie Iran und Pakistan. Mit dem Aufstieg des japanischen Militarismus sowie den zunehmend selbstbewussten Ambitionen Indiens kann dieser verstärkte imperialistische Druck im Mittleren Osten und im pazifischen Raum zu unvorhergesehenen Entwicklungen führen. Andererseits übt der "Strudel" von Umwälzungen und Destabilisierungen, der die chinesische Bourgeoisie trifft, auch einen starken Druck auf ihre imperialistische Politik aus und verleiht ihr ein hohes Maß an Unvorhersehbarkeit. Und es sollte klar sein, dass die Destabilisierung des chinesischen Kapitalismus unvorhersehbare Folgen für den Weltkapitalismus haben wird.

2.4. Der deutsche Imperialismus steht vor einer zunehmenden Destabilisierung

Auch Deutschland sieht sich mit einer Reihe eindeutiger Signale konfrontiert: Sein Status als militärischer Zwerg hat es gezwungen, als Mitglied der NATO zurückzustecken; die von den USA den Europäern auferlegte Blockade bei russischem Öl und Gas stürzt es in große wirtschaftliche Schwierigkeiten, zumal das Inflationsbekämpfungsgesetz und das CHIPS- und Wissenschaftsgesetz auch ein direkter Angriff auf europäische und damit insbesondere deutsche Importe sind.

2.4.1. Zum Zeitpunkt der Implosion des Sowjetblocks wies die IKS darauf hin, dass es „auf absehbare Zeit kein Land [gibt], das in der Lage wäre, den USA ein Rüstungspotential entgegenzusetzen, das ihm erlauben würde, die Stellung des Führers eines mit den USA rivalisierendes Blocks anzustreben"[21]; und dass die einzige imperialistische Macht, die längerfristig potenziell in der Lage ist, zum zentralen Kern eines mit den Vereinigten Staaten konkurrierenden Blocks zu werden, nach unserer Analyse Deutschland sei: "Was Deutschland angeht, dem einzigen Land, das möglicherweise wieder in die Rolle schlüpfen kann, die es schon in der Vergangenheit innehatte, so gestattet es seine gegenwärtige Militärmacht (es verfügt nicht einmal über Atomwaffen!) ihm nicht, auf absehbare Zeit den USA auf diesem Terrain entgegenzutreten. Und in dem gleichen Maße, wie der Kapitalismus in seiner Dekadenz versinken wird, ist es für einen Blockführer immer unerläßlicher, über erdrückende militärische Überlegenheit zu verfügen, um seinen Rang zu verteidigen."[22]

Deutschland befand sich damals jedoch in einer besonders komplexen Situation: Es stand vor der enormen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Herausforderung, die ehemalige DDR in sein industrielles Gefüge zu integrieren, während ausländische Truppen (amerikanische, aber auch aus anderen NATO-Ländern) auf seinem Territorium stationiert waren. Diese gigantische finanzielle Anstrengung zur "Wiedervereinigung" des geteilten Landes machte es unmöglich, die erheblichen Investitionen zu tätigen, die es gebraucht hätte, um die Streitkräfte auf das erforderliche Niveau zu bringen, wobei die Teilung des Landes und die Demontage der Streitkräfte natürlich die Folge der Niederlage von 1945 waren.[23] In diesem Zusammenhang hat die deutsche Bourgeoisie in den letzten zwanzig Jahren eine entschlossene wirtschaftliche und imperialistische Expansionspolitik in Richtung Osten entwickelt, indem sie viele östliche Länder zu Zulieferern ihrer Industrie machte und gleichzeitig ihre stabile und billige Energieversorgung durch Gas- und Ölabkommen mit Russland sicherstellte, was es ihr auch ermöglichte, die Globalisierung der Wirtschaft voll auszunutzen. Gleichzeitig sicherte sie sich durch die Integration der osteuropäischen Staaten in die EU auch eine politische Vormachtstellung innerhalb der EU.

2.4.2. Die illusorische Hoffnung, ihre imperialistische Macht ohne den Einsatz des Militarismus und den Aufbau einer konsequenten Militärmacht entwickeln zu können, hat sich durch den Krieg in der Ukraine zerschlagen. Die deutsche Bourgeoisie hat jedoch alles getan, um die Partnerschaft mit Russland trotz des Konflikts aufrechtzuerhalten:

- Sie hat Scheinfirmen gegründet, um das gemeinsame Projekt mit Russland für Pipelines unter der Ostsee (North Stream 1 und 2) fortzusetzen, trotz der Androhung von Wirtschaftssanktionen durch die USA;

- sie hat (wie Frankreich) eine intensive Diplomatie gegenüber Putin entwickelt, um zu versuchen, den Konflikt zu vermeiden oder zu begrenzen;

- sie hat erwogen, die russische Operation gegen die Ukraine mit der Vorstellung eines schnellen Sieges zu unterstützen, der dann nur begrenzte Auswirkungen auf die Wirtschaftsbeziehungen haben würde (nach den Äußerungen von Boris Johnson gegenüber CNN).

Der intensive Krieg, der durch massive US-Waffenlieferungen finanziert und aufrechterhalten wird, setzt Berlin besonders unerträglich unter Druck, aber dies ist eine Erweiterung der bereits deutlichen Feindseligkeit der Trump-Administration gegenüber der autonomen Politik des deutschen Imperialismus, die seine Position als militärischer Zwerg hervorhebt und seine Energieversorgungsquellen unter die Kontrolle anderer stellt.

2.4.3. Angesichts dessen hat die deutsche Bourgeoisie, die in die Falle getappt ist, alle Maßnahmen ergriffen, um (a) ihre militärische Position zu stärken, (b) neue Wirtschaftspartnerschaften zu suchen und (c) ihre imperialistische Präsenz in Osteuropa aufrechtzuerhalten:

(a) Angesichts der bitteren Erkenntnis, dass es illusorisch war, imperialistische Ambitionen durchzusetzen, ohne sie mit einer konsequenten militärischen Macht zu begleiten, hat sie den Militäretat verdoppelt (es wird 8 Jahre dauern, um die deutsche Armee auf den neuesten Stand zu bringen) und drakonische wirtschaftliche und energiepolitische Maßnahmen ergriffen, um die Verteidigung ihrer industriellen Struktur zu gewährleisten;

(b) sie hat sich auf die Suche nach neuen strategischen Allianzen begeben, insbesondere mit China, wie der überraschende Alleingang von Bundeskanzler Scholz am 4. November 2022 bei Xi zeigt, der unter anderem den Kauf von 25 % der Anteile am Hamburger Hafen durch Peking beinhaltete: "Dieser Besuch des deutschen Bundeskanzlers in Peking ist umso merkwürdiger, als die 27 Mitgliedstaaten auf ihrem letzten Gipfel im Oktober letzten Jahres drei Stunden lang darüber diskutiert hatten, wie sie mit Peking umgehen sollten. Der europäische Ton war damals sehr viel härter geworden, und die baltischen Länder (...) hatten die EU aufgefordert, im Umgang mit China äußerste Vorsicht walten zu lassen"[24].

(c) Sie kündigte ihre Bereitschaft an, einen umfangreichen Marshallplan für den Wiederaufbau der Ukraine zu finanzieren.

2.4.4. Diese Reaktionen der deutschen Bourgeoisie auf die US-Offensive verschärfen die Spannungen und die "Jeder für sich"-Haltung nicht nur gegenüber den USA, sondern auch innerhalb Europas selbst. So haben die deutschen Entscheidungen, Kampfflugzeuge bei den USA zu bestellen und einen auf deutscher und israelischer Technologie basierenden Raketenabwehrschild aufzubauen, indem die mit Frankreich geplanten hochentwickelten Waffenprogramme (Flugzeuge und Panzer) eingefroren wurden, zu großen Rissen zwischen Frankreich und Deutschland, dem Rückgrat der EU, geführt.

Der französische Imperialismus hat beschlossen, eine Deutsch-Französische Ministerrats-Sitzung zu verschieben, und hat seine Weigerung zum Ausdruck gebracht, eine Gaspipeline zu bauen, die Spanien und Deutschland verbinden würde, um Gas aus Afrika zu holen. Der letzte gemeinsame Deutsch-Französische Rat im Januar 2023 hat die Situation nicht verändert, trotz der rhetorischen gemeinsamen Erklärungen: "Emmanuel Macron und Olaf Scholz haben am Sonntag in Paris eine symbolische Show zum 60. Jahrestag des Élysée-Vertrags veranstaltet, aber keine starken Vorschläge zur Unterstützung der Ukraine, zur europäischen Verteidigung oder zur Energiekrise gemacht"[25]. Es liegt jedoch nicht im Interesse Deutschlands, sich zu weit von Frankreich zu entfernen, das die erste Militärmacht in Europa darstellt und eine zentrale Säule für die Aufrechterhaltung einer um Deutschland herum gruppierten EU ist.

Der Ansatz der deutschen Regierung, dass jeder für sich selbst handelt, wenn es um wirtschaftliche Maßnahmen, die Beziehungen zu China oder die Zukunft der Ukraine geht, führt zu zunehmenden Spannungen mit anderen Ländern in der EU, insbesondere mit einigen osteuropäischen Ländern, wie den baltischen Staaten oder Polen, die die Politik der USA stark unterstützen.

Diese Politik von Scholz führt auch zu Spaltungen innerhalb der deutschen Bourgeoisie (einige der Grünen in der Regierung waren beispielsweise gegen Scholz' Reise nach China), und im Gegensatz zur SPD befürworten die anderen Regierungsparteien (FDP und Grüne) eher die US-Politik gegenüber Russland. Diese Differenzen zwischen den Fraktionen der deutschen Bourgeoisie dürften sich mit der Verschärfung der Wirtschaftskrise und dem Druck auf die deutsche Wirtschaft und die imperialistische Position des Landes weiter vertiefen und eine zunehmende politische Instabilität ankündigen, mit der Gefahr eines stärkeren Einflusses populistischer Bewegungen[26] angesichts der sich verschlechternden sozialen Lage.

Schlussfolgerung

Die Explosion des Militarismus ist das Beispiel schlechthin für die qualitative Verschärfung der Periode des Zerfalls und kündigt gleichzeitig eine unvermeidliche Verschärfung des Chaos und des "Jeder für sich" an.

- Die Explosion der Militärbudgets: Neben den Vereinigten Staaten, die ihr Militärbudget, das bereits 8,3 % des Staatshaushalts ausmacht, weiter aufstocken, war bereits vor dem Krieg in der Ukraine ein deutlicher Anstieg der Militärausgaben zu verzeichnen, vor allem in Asien, in China (5 % des Budgets), Indien (das nach den "großen Zwei" das drittgrößte Land in Bezug auf die Militärausgaben ist), Pakistan und Südkorea. Seitdem ist als direkte Folge der Invasion in der Ukraine eine phänomenale Beschleunigung zu verzeichnen, vor allem bei den Großmächten wie Japan, das innerhalb von 5 Jahren 320 Milliarden Dollar für seine Streitkräfte bereitgestellt hat, die höchsten Rüstungsausgaben seit 1945, und vor allem in Westeuropa mit Deutschland, das seinen Verteidigungshaushalt ebenfalls um 107 Milliarden Euro erhöht hat, aber auch Frankreich und Großbritannien. Auch kleinere Imperialismen wie die Türkei (die bereits die zweitgrößte Armee in der NATO hat) oder Saudi-Arabien und in Europa ein Land wie Polen, das die stärkste Armee in Europa haben will, rüsten bis an die Zähne auf.

- Die Ausweitung des Militarismus auf den Weltraum und die Wiederbelebung der atomaren Macht: Das Wettrüsten erstreckt sich zunehmend auf die Eroberung der Erdumlaufbahn und des Weltraums. Auch hier ziehen die Vereinigten Staaten, aber auch China, alle Register, und die letzten Anzeichen von Kooperation schwinden. Schließlich "vergrößern oder modernisieren alle Atomwaffenstaaten ihre Arsenale, und die meisten verstärken die nukleare Rhetorik und die Rolle der Atomwaffen in ihrer Militärstrategie. Dies ist ein sehr beunruhigender Trend"[27].

- Die Verstärkung der Umsetzung der Kriegsökonomie: Der Krieg in der Ukraine wirft eindeutig die Frage nach der Neuausrichtung in den "Denkfabriken" der Bourgeoisie, der Finanzinvestitionen und vor allem der Mittel zur Sicherung des Zusammenhalts der Bevölkerungen auf:

"Deshalb ist die Fähigkeit, die Ukraine mit genügend Waffen auszustatten, um den Krieg zu gewinnen, eine wachsende Sorge, es geht um eine Art Übergang zu einer Kriegsökonomie in Friedenszeiten, (...) Und die westlichen Führer werden mit ihren Bevölkerungen eine offene Diskussion über die zukünftigen Kosten der Verteidigung und Sicherheit führen müssen, es ist eine Anstrengung der ganzen Nation, aller Nationen, denn es geht nicht nur darum, dass der Verteidigungsminister mehr Ausrüstung [bei der Industrie] bestellt. Es geht darum, eine Diskussion darüber zu führen, wie wir die Produktion steigern können. Die Schwachstellen in der Rüstungslieferkette sind nicht nur auf die niedrigen öffentlichen Ausgaben zurückzuführen, sondern auch auf die gesellschaftliche Einstellung und die Zurückhaltung der Finanzinstitute bei Investitionen in Rüstungsunternehmen".[28]

Wir haben darauf hingewiesen, dass "die Aggregation und Interaktion zerstörerischer Phänomene zu einem "Strudel" [führt], der jede seiner Teilwirkungen bündelt, katalysiert und vervielfacht, indem er noch verheerendere Verwüstungen verursacht".[29] Wenn die Wirtschaftskrise in letzter Instanz die Hauptursache für die Tendenz zum Krieg ist, wird diese Tendenz nun in eine Verschärfung der Wirtschaftskrise umgewandelt. In der Tat sind Krieg und Militarismus weit davon entfernt, die Wirtschaft anzukurbeln, sondern sie verschärfen die Krise. Diese Ausgabenexplosion als Folge des Ukraine-Konflikts wird die Verschuldung der Staaten verschlimmern, die eine weitere Belastung für die Wirtschaft darstellt. Sie wird zu einer Beschleunigung des Inflationsanstiegs führen, der eine weitere Bedrohung für das Wirtschaftswachstum darstellt; die Bekämpfung der Inflation wiederum erfordert eine Kreditverknappung, die nur zu einer offenen Rezession führen kann, was ebenfalls eine Verschärfung der Wirtschaftskrise bedeutet. Schließlich hat der Krieg in der Ukraine zu einem enormen Anstieg der Energiekosten geführt, der die gesamte Industrieproduktion belastet, sowie zu einer Verknappung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse und zu einer Verlangsamung des Welthandels.

Kurz, „die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts werden zu einer der krisenhaftesten Zeiten in der Geschichte“[30], denn die von der Kommunistischen Internationale 1919 aufgestellte Alternative "Sozialismus oder Barbarei" konkretisiert sich zunehmend als "Sozialismus oder Zerstörung der Menschheit".


[1] Die IKT verwendet zuweilen den Begriff der Dekadenz, ohne jedoch seine Implikationen zu erläutern, und sie versäumt es auch, den Begriff des revolutionären Defätismus unter Berücksichtigung der Merkmale des gegenwärtigen Kontextes neu zu überdenken. Siehe unsere Kritik der No War But The Class War-Komitees:

Zur Geschichte der Gruppen "Kein Krieg außer dem Klassenkrieg [26], World Revolution 393

No War But The Class War, Paris: ein Komitee, das seine Teilnehmer in eine Sackgasse führt [27], World Revolution 395

[2] Internationale Revue 57 [9]

[3] Bericht über die imperialistischen Spannungen (Mai 2022): Bedeutung und Auswirkungen des Krieges in der Ukraine [28], Internationale Revue 58

[4] Internationale Revue 13 [6]

[5] Internationale Revue 58 [29]

[6] zitiert in Militarismus und Zerfall (2022) [29]

[7] Bericht an die Konferenz der Gauche Communiste de France von Juli 1945

[8] Vgl. dazu den Bericht über den Klassenkampf vom 25. Kongress des IKS, der in Kürze veröffentlicht wird.

[9] Die Beschleunigung des kapitalistischen Zerfalls wirft offen die Frage der Vernichtung der Menschheit auf [4], Internationale Revue (online, 2022)

[10] Siehe dazu die Pläne für den Wiederaufbau der Ukraine.

[11] Siehe dazu die jüngsten Wahlen in Brasilien.

[12] Vgl. das "Reichsburger"-Komplott, in das bedeutende Teile der Sicherheitsdienste verwickelt waren.

[13] Vgl. die Annäherung an Russland.

[14] US-Verteidigungsminister Lloyd Austin bei seinem Besuch in Kiew am 25.04.2022. Die Biden-Fraktion will also Russland für seine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Amerikas "büßen" lassen, zum Beispiel für seine Versuche, die letzten Präsidentschaftswahlen zu manipulieren.

[15] Vgl. die Wahl des republikanischen Sprechers des Repräsentantenhauses.

[16] Z. B. die verschiedenen drohenden Klagen.

[17] "Das offensichtlichste, bekannteste Merkmal der osteuropäischen Länder, auf dem übrigens der Mythos ihres ‚sozialistischen Charakters’ beruht, ist der extrem hohe Grad der Verstaatlichung ihrer Wirtschaft (...) Der Staatskapitalismus ist kein auf diese Länder beschränktes Phänomen. (...) Zwar ist die Tendenz zum Staatskapitalismus also eine weltweite geschichtliche Gegebenheit, jedoch zieht sie nicht alle Länder gleichermaßen in Mitleidenschaft (...) In den fortgeschrittenen Ländern, wo es eine alte Industrie- und Finanzbourgeoisie gibt, äußert sich diese Tendenz im Allgemeinen in einer fortschreitenden Verflechtung zwischen "privaten" und verstaatlichten Sektoren. (...) Die Tendenz zum Staatskapitalismus nimmt die extremste Form dort an, wo der Kapitalismus die größten Widersprüche erlebt, wo die klassische Bourgeoisie am schwächsten ist. In diesem Sinne ist die direkte Übernahme der Hauptproduktionsmittel durch den Staat, die den Ostblock (und zum Großteil auch die  'Dritte Welt') charakterisiert, in erster Linie eine Manifestation der Rückständigkeit und Zerbrechlichkeit ihrer Wirtschaft" (Thesen zur ökonomischen und politischen Krise in der UdSSR und den osteuropäischen Ländern [30], Internationale Revue 12).

[18] Foreign Affairs, zitiert in Courrier International Nr. 1674

[19] Thesen zur ökonomischen und politischen Krise in der UdSSR und den osteuropäischen Ländern [30], Internationale Revue 12

[20] "(...) für ein entwickeltes Nationalkapital, das von verschiedenen Teilen der Bourgeoisie "privat" vereinnahmt wird, ist die parlamentarische Demokratie der angemessenste politische Apparat“ (während) „der fast vollständigen Verstaatlichung der Produktionsmittel (...) die totalitäre Macht einer Einheitspartei" entspricht (ebd.)

[21] Orientierungstext: Militarismus und Zerfall [6], Internationale Revue 13

[22] ebd.

[23] Die deutliche Senkung der unproduktiven Ausgaben in den 1950er und 60er Jahren war jedoch die Grundlage für den beeindruckenden Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft.

[24] "Olaf Scholz solo in Peking", P.-A. Donnet, Asialyst 05.11.2022

[25] "Zwischen Frankreich und Deutschland, eine trügerische Annäherung", Le Monde 23.01.2023

[26] Vgl. das "Reichsburger"-Komplott.

[27] Wilfred Wan, Direktor des SIPRI-Programms für Massenvernichtungswaffen, SIPRI-Bericht, 05.12.2022

[28] Admiral R. Bauer, Leiter des NATO-Militärausschusses, in https://www.defenseone.com [31]

[29] Die Beschleunigung des kapitalistischen Zerfalls wirft offen die Frage der Zerstörung der Menschheit auf [4], Internationale Revue (online, 2022)

[30] ebd.

Rubric: 

25. IKS-Kongress

Bericht zur Wirtschaftskrise für den 25. IKS-Kongress

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Die vom 24. IKS-Kongress verabschiedete Resolution bot einen Rahmen, um die Organisation durch die sich entwickelnde Wirtschaftskrise zu führen.  Darin heißt es: "Das Ausmaß und die Bedeutung der Auswirkungen der Pandemie als Produkt der Agonie eines Systems, das sich in völliger Zersetzung befindet und völlig obsolet ist, veranschaulicht die beispiellose Tatsache, dass das Phänomen der kapitalistischen Zersetzung nun auch massiv und in globalem Maßstab die gesamte kapitalistische Wirtschaft betrifft. Dieses Eindringen der Auswirkungen des Zerfalls in die Wirtschaftssphäre wirkt sich direkt auf die Entwicklung der neuen Phase der offenen Krise aus und läutet eine in der Geschichte des Kapitalismus noch nie dagewesene Situation ein. Die Auswirkungen des Zerfalls, welche die Mechanismen des Staatskapitalismus, die bisher zur "Begleitung" und Begrenzung der Auswirkungen der Krise eingerichtet wurden, tiefgreifend verändern, bringen einen Faktor der Instabilität und Zerbrechlichkeit, der wachsenden Unsicherheit in die Situation ein." (Punkt 14)

Sie erkannte auch die vorherrschende Rolle des "Jeder für sich" in den Beziehungen zwischen den Nationen und, dass das "Vorpreschen der "verantwortungsvollsten" bürgerlichen Fraktionen in Richtung eines zunehmend irrationalen und chaotischen Managements des Systems und vor allem das beispiellose Voranschreiten dieser Tendenz hin zu „jedem für sich“ (...) einen zunehmenden Kontrollverlust der herrschenden Klasse über ihr eigenes System" offenbart (Punkt 15). Diese Tendenz ruft "ein wachsendes Chaos innerhalb der Weltwirtschaft [hervor] (mit der Tendenz zur Zersplitterung der Produktionsketten und der Aufteilung des Weltmarktes in regionale Zonen, zur Stärkung des Protektionismus und der Vervielfachung einseitiger Maßnahmen), [so] ist dieser völlig irrationale Zug jeder Nation, sich auf Kosten aller anderen zu retten, kontraproduktiv für jedes nationale Kapital und eine Katastrophe auf Weltebene und ein entscheidender Faktor für die Verschlechterung der gesamten Weltwirtschaft" (Punkt 15).

Sie unterstreicht, dass "die Folgen der rasenden Umweltzerstörung durch den sich zersetzenden Kapitalismus, die Phänomene der Klimaveränderung und der Zerstörung der Artenvielfalt (...) mehr und mehr alle Volkswirtschaften [betreffen], an ihrer Spitze die entwickelten Länder, (...) das Funktionieren des industriellen Produktionsapparates [stören] und (...) auch die Produktivität der Landwirtschaft [schwächen]. Die globale Klimakrise und die daraus resultierende zunehmende Desorganisation des Weltmarktes für Agrarprodukte bedrohen die Ernährungssicherheit vieler Staaten."  (Punkt 17)

Auch wenn die Resolution nicht den Ausbruch eines Krieges zwischen Nationen vorsah, so hieß es doch: "(...) wir können die Gefahr einseitiger militärischer Ausbrüche oder sogar grotesker Unfälle nicht ausschließen, die eine weitere Beschleunigung des Abgleitens in die Barbarei bedeuten würden“ (Punkt 13).

Und es ist klar: "Die Krise, die sich bereits seit Jahrzehnten abzeichnet, wird die schwerste der gesamten Dekadenzperiode werden, und ihre historische Bedeutung wird sogar die erste Krise dieser Epoche, die Krise, die 1929 begann, übertreffen. Nach mehr als 100 Jahren Zuspitzung kapitalistischer Dekadenz,  mit einer Wirtschaft, die durch den Militärsektor verwüstet, durch die Auswirkungen der Umweltzerstörung geschwächt, in ihren Reproduktionsmechanismen durch Verschuldung und staatliche Manipulationen tiefgreifend verändert, der Pandemie zum Opfer gefallen ist und zunehmend unter allen anderen Auswirkungen der Zersetzung leidet, ist es eine Illusion zu glauben, dass es unter diesen Bedingungen eine dauerhafte Erholung der Wirtschaft geben wird."[1]

Also:

- Die Beschleunigung des Zerfalls und die Auswirkungen ihrer kumulativen Effekte auf die bereits stark degradierte kapitalistische Wirtschaft;

- der Ausbruch des Krieges und die weltweite Zunahme des Militarismus, die die Situation drastisch verschlechtern;

- die Zunahme des "Jeder für sich" zwischen den Nationen auf allen Ebenen vor dem Hintergrund eines immer schärferen Wettbewerbs zwischen China und den USA um die globale Vorherrschaft;

- der Verzicht auf ein Mindestmaß an Regeln und Zusammenarbeit zwischen den Nationen, um die Widersprüche und Erschütterungen des Systems zu bewältigen;

- das Fehlen einer Lokomotive, die die kapitalistische Wirtschaft wiederbeleben könnte;

- die Perspektive der totalen Verarmung steht nun für das Proletariat der zentralen Länder auf der Tagesordnung;

all diese Indikatoren weisen auf die historische Schwere der gegenwärtigen Krise hin und veranschaulichen den Prozess des "inneren Zerfalls" des Weltkapitalismus, wie er von der Kommunistischen Internationale 1919 proklamiert wurde.

I. Die Verkettung der Faktoren des Zerfalls

A. Die Folgen des Krieges

Ein französischer Großindustrieller fasste es so zusammen: „Was in den letzten zwei Jahren außergewöhnlich war, ist, dass Krisen beginnen, aber nicht aufhören. Es gibt einen echten Akkumulationseffekt. Die Covid-Krise begann im Jahr 2020, aber sie ist immer noch da! Seitdem sind wir mit extremem Druck und Unterbrechungen in den Versorgungsketten konfrontiert, mit einem tiefgreifend veränderten Verhältnis zur Arbeit, mit einem Krieg an den Grenzen Europas, mit der Energiekrise und der Rückkehr der Inflation und schließlich mit der Verwirklichung des Klimawandels (...) Die Schocks summieren sich. Sie sind plötzlich und heftig.“ (Les Echos 21.-22.10.2022) In einer historischen Situation, in der sich die verschiedenen Zerfallseffekte in einem verheerenden Wirbelsturm vereinen, ineinandergreifen und interagieren, mit der globalen Erwärmung und der ökologischen Krise, dem „Jeder für sich“ in den Beziehungen zwischen den Staaten und allgemein den grundlegenden Widersprüchen des Kapitalismus, werden der Krieg und seine Auswirkungen zum zentralen Verschärfungsfaktor der Wirtschaftskrise:

- Die Zerstörung der Ukraine: Der Umfang der Wirtschaft ist auf 40 % des ursprünglichen Umfangs geschrumpft. Nach Angaben des ukrainischen Premierministers "wurde der Schaden im Herbst auf 350 Milliarden Dollar geschätzt. Diese Schätzungen dürften sich jedoch bis Ende des Jahres auf 700 Milliarden Dollar verdoppeln, was auf die massiven Angriffe Moskaus auf unsere Infrastruktur zurückzuführen ist. (...) Die derzeitigen Stromausfälle werden voraussichtlich einen Verlust von 3 bis 9 % des BIP bedeuten“.[2] Die militärischen Anstrengungen verschlingen 30 % der Ressourcen; die fehlenden Haushaltseinnahmen haben die Regierung gezwungen, sich zu verschulden und Geld zu drucken.

- Inflation: Diese Entwicklung treibt die Inflation weltweit in die Höhe: 7,2 % in den Industrieländern, 9,8 % in den Schwellenländern, 13,8 % im Nahen Osten und in Zentralasien und 14,4 % in Afrika südlich der Sahara. In der EU liegt der Durchschnitt bei 10 %, wobei dieser Wert in einigen EU-Ländern höher ist: In Lettland und Litauen liegt er bei 22 %, in den Niederlanden bei 17 %. Die USA erreichten Mitte 2022 einen Höchststand von 9 % und fielen bis Ende 2022 auf 7,1 %.

- Die Verschärfung der weltweiten Nahrungsmittelkrise und Hungersnöte: Der Krieg, der zwei wichtige Getreide- und Düngemittelproduzenten gegeneinander ausspielt, hat zu einem "beispiellosen Anstieg des Hungers geführt, der schlimmer ist als jeder andere seit dem Zweiten Weltkrieg"[3]: "Der Schock wird durch andere große Probleme verschärft, die bereits zu höheren Preisen und Warenknappheit geführt haben, darunter die Covid-19-Pandemie, logistische Engpässe, hohe Energiekosten und die jüngsten Dürren, Überschwemmungen und Brände."[4] Die weltweite Getreideproduktion ist zurückgegangen: China steht nach schweren Überschwemmungen im Jahr 2021 vor der schlechtesten Weizenernte seit Jahrzehnten, und in Indien sind die Ernteerträge in diesem Jahr aufgrund beispielloser Hitzewellen „deutlich geringer ausgefallen". Die steigenden Preise und die "Bedrohung der Lebensmittelsicherheit" haben eine "Welle des Lebensmittelprotektionismus" ausgelöst: Indien verbietet die Ausfuhr von Getreide oder führt Quoten ein (in Argentinien, Kasachstan, Serbien...), um die heimische Versorgung zu gewährleisten. Während der amerikanische Winterweizen "in einem schlechten Zustand" ist, gehen Frankreichs Reserven "zur Neige" und "die Welt steht vor einer Weizenknappheit".[5]

- Die kapitalistische Anarchie erreicht neue Dimensionen. Die Organisation der Produktions- und Versorgungsketten, die jedes nationale Kapital bisher ohne Konsequenzen einer Vielzahl von Abhängigkeiten aussetzte, und der Welthandel, der bisher ohne Einschränkungen ablaufen konnte, sind durch die Pandemie und den Krieg untergraben worden, was die Situation verändert hat. Die Abriegelung Chinas, die Sanktionen gegen Russland und die Auswirkungen des Handelskriegs zwischen den USA und China haben zu vielfältigen Blockaden und Unterbrechungen sowohl in der Produktion als auch im Handel geführt und Chaos und Anarchie verursacht; in vielen Bereichen kommt es zu Engpässen: z.B. bei Computerchips, medizinischen Produkten, Rohstoffen.

- Die Entwicklung des Militarismus und der Rüstungsproduktion. Eine der wichtigsten Folgen des Krieges ist die Steigerung der Rüstungsausgaben in allen Staaten in schwindelerregende Höhen. Die Belastung der Volkswirtschaft durch die Militärausgaben (ein totes Gewicht für das Kapital), die beschleunigte Zunahme der Rüstungsproduktion, die mögliche Umwandlung strategischer Sektoren in Militärindustrien, die daraus resultierende Verschuldung und der Rückgang der Investitionen in anderen Wirtschaftssektoren werden die Volkswirtschaften und den Welthandel erheblich verändern.

B. Welche Auswirkungen haben die Sanktionen auf die russische Wirtschaft?

Mit dem Ziel, die achtgrößte Volkswirtschaft der Welt "ausbluten zu lassen", haben die westlichen Sanktionen gegen Russland ein echtes "schwarzes Loch" in der Weltwirtschaft mit noch unbekannten Folgen aufgerissen. Auch wenn die russische Wirtschaft noch nicht zusammengebrochen oder (wie von Biden versprochen) zweigeteilt ist, wird die russische Wirtschaft erstickt und in den Ruin getrieben, gefangen in der Falle des anhaltenden Krieges und erdrosselt durch die von den USA verhängten Vergeltungsmaßnahmen. Mit einem Rückgang des BIP um 11 % und einer Inflation von 22 % haben die Wirtschaftssanktionen die russischen Kriegsanstrengungen geschwächt[6] und in der Industrie lähmende Engpässe verursacht. Das Embargo auf Halbleiter schränkt die Produktion von Präzisionsraketen und Panzern ein.[7]

Durch den Rückzug ausländischer Hersteller ist der Automobilsektor fast vollständig zusammengebrochen (97 %). Die Sektoren Luftfahrt (von strategischer Bedeutung) und Luftverkehr (von entscheidender Bedeutung für ein so großes Land), die vollständig von westlichen Technologien abhängig sind, wurden schwer getroffen.

Da Hunderttausende von Russen ins Ausland fliehen, erleidet die russische Wirtschaft einen massiven Verlust an Arbeitskräften, insbesondere im IT-Sektor, aus dem 100.000 Spezialisten abgewandert sind.

Die von China und denjenigen, die sich den westlichen Sanktionen widersetzen (Indien, die Türkei, die Abnehmer russischer Energie), angebotene Hilfe mag eine vorübergehende Atempause verschaffen, aber sie kann den Wegfall der westlichen Märkte nicht kompensieren, ganz im Gegenteil. Die Durchsetzung des europäischen Embargos gegen russisches Öl ab Anfang Dezember (in einem Umfang, der diesen Käufen entspricht) wird diesen "frischen Wind" zerstören.

Während die chinesischen Importe aus Russland gestiegen sind, sind die Exporte nach Russland im Einklang mit denen aus dem Westen gesunken (aufgrund der vorsichtigen Umsetzung der meisten westlichen Sanktionen durch China[8]). Die Widerstandsfähigkeit des Rubels und sogar sein Anstieg gegenüber dem Dollar spiegeln dieses massive Ungleichgewicht zwischen dem hohen Volumen an Öl- und Gasexporten und dem parallelen Einbruch der Importe infolge der Sanktionen wieder und sind keineswegs ein Zeichen von Stärke. Die Finanzsanktionen und das Einfrieren von 40-50% der russischen Reserven sowie das Verbot der Nutzung des SWIFT-Systems haben die praktische Fähigkeit des Landes, Auslandszahlungen zu leisten, sowie die Glaubwürdigkeit der Kreditwürdigkeit des russischen Staates zunehmend beeinträchtigt.

Trotz der scheinbaren Widerstandsfähigkeit Russlands sind die Sanktionen eine gewaltige Kriegswaffe und werden mittelfristig erhebliche Auswirkungen auf die russische Wirtschaft haben, und wegen ihrer "verzögerten" Wirkung wird die Verlängerung des Krieges das Mittel sein, mit dem die USA ihr Ziel der "Zerstörung" der russischen Wirtschaft erreichen.

C. Der destabilisierende Schock des Gaskrieges

Der seismische Schock des Krieges stellt eine wichtige "epochale Veränderung" dar, die nicht nur die einzelnen Nationen, insbesondere die europäischen, sondern auch die internationale Situation betrifft.

"(Von März bis August) erhielt die Ukraine 84 Milliarden Euro von 40 Partnerstaaten und EU-Institutionen – die wichtigsten Verbündeten sind die USA, EU-Institutionen, Großbritannien, Deutschland, Kanada, Polen, Frankreich, Norwegen, Japan und Italien." "Zwischen September und Dezember 2022 könnte die Ukraine bis zu 30 Milliarden Dollar erhalten." Die EU spielt eine zentrale Rolle "bei der Aufrechterhaltung der makrofinanziellen Stabilität der Ukraine" (durch die Bereitstellung von 10 Milliarden Euro zwischen März und September 2022)[9]. Die wirtschaftliche Schockwelle des Krieges in der Welt wirkt sich nicht in gleicher Weise sofort und mittelfristig auf die wichtigsten Gebiete des Planeten aus. Das europäische Kapital leidet unter den brutalsten Auswirkungen. Es handelt sich um eine beispiellose Destabilisierung ihres "Wirtschaftsmodells" für diese Länder.

Aufgrund der von den USA gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen sind europäische Unternehmen, die stärker in Russland engagiert sind als amerikanische, direkter vom Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen zu Russland betroffen.

Das russische Gasembargo hat enorme Auswirkungen auf Europa: "Die wirklichen Bomben fallen in der Ukraine, aber es ist, als ob auch die industrielle Infrastruktur der EU zerstört worden wäre. Der Kontinent wird eine heftige Industriekrise erleben. Das wird ein furchtbarer Schock für die öffentlichen Finanzen und für die mittleren und armen Klassen in den europäischen Ländern sein."[10] Wie J. Borrell sagte: "Die Vereinigten Staaten haben sich um unsere Sicherheit gekümmert. China und Russland bildeten die Grundlage für unseren Wohlstand. Diese Welt gibt es nicht mehr (...) Unser Wohlstand beruhte auf der Energie aus Russland, seinem Gas, das angeblich billig, stabil und risikofrei war. All das war falsch (...) Dies wird zu einer tiefgreifenden Umstrukturierung unserer Wirtschaft führen."

Jedes Kapital sieht sich mit fast unlösbaren Widersprüchen und Dilemmata konfrontiert und muss drastische und dringende wirtschaftliche und strategische Entscheidungen treffen, um seine nationale Souveränität zu schützen und seinen Weltrang zu sichern.

1. Obwohl sich das Wachstum bereits vorher verlangsamt hatte, führte der starke Anstieg der Energiepreise (der Gaspreis hat sich im Vergleich zu 2010 verzwanzigfacht) bereits zu einem Abschwung in ganzen Industriesektoren, die stark von Energieimporten abhängig und in denen große Teile des Geschäfts nicht mehr rentabel oder wettbewerbsfähig waren. Einige von ihnen mussten die Produktion drosseln (Chemie, Glas, Hochöfen in der Stahlindustrie, Aluminium usw.), um die exorbitanten Kosten auszugleichen, während viele Insolvenzen aufgrund des dramatischen Rückgangs der Rentabilität drohen.

2. Angesichts des Ernstes der Lage griff der Staat massiv ein, indem er die wichtigsten Energieunternehmen, Uniper in Deutschland und EDF in Frankreich, verstaatlichte und "finanzielle oder Zollschranken" errichtete, um die Unternehmen zu schützen und die Auswirkungen auf Unternehmen und Einzelpersonen abzufedern.

3. In den europäischen Ländern besteht die reale Gefahr einer Deindustrialisierung und eines wirtschaftlichen Abstiegs aufgrund der anhaltenden Differenz der Energiepreise zwischen Europa und den USA und Asien. In dieser Atmosphäre des "Sich-selbst-Rettens" neigen diejenigen, die dazu in der Lage sind, dazu, europäische Aktivitäten, deren Überleben bedroht ist, in amerikanische oder asiatische Gebiete zu verlagern, wo die Energiepreise niedriger sind.

4. Mit dem Versiegen der russischen Gaslieferungen ist zu befürchten, dass die Produktion in den am stärksten gefährdeten Sektoren wie der Chemie-, Metallurgie-, Holz-, Papier-, Kunststoff- und Kautschukindustrie eingeschränkt oder sogar unterbrochen werden muss, zum Beispiel in Frankreich während des Winters. Hinzu kommt der Stromschock: Aufgrund unzureichender Investitionen und des maroden Zustands der Kernkraftwerke könnten Stromausfälle bereits im Januar nächsten Jahres zu einer Verringerung oder gar Stilllegung der Produktion und zu einem Chaos in Sektoren wie Verkehr, Lebensmittelverarbeitung und Telekommunikation in der fünftgrößten Wirtschaftsmacht der Welt führen![11]

Die Aushöhlung des deutschen Kapitals: Gerade in Deutschland scheinen sich alle Widersprüche dieser beispiellosen Situation zu konzentrieren und zu explodieren. Das Ende der russischen Gaslieferungen bringt das deutsche Kapital in eine Situation beispielloser strategischer und wirtschaftlicher Fragilität: Die Wettbewerbsfähigkeit seines gesamten Produktionssektors steht auf dem Spiel[12] und das deutsche (und europäische) Kapital läuft Gefahr, von der Abhängigkeit von russischem Gas zu einer Abhängigkeit von amerikanischem Flüssiggas überzugehen, das die Vereinigten Staaten dem europäischen Kontinent aufzwingen wollen, indem sie die Rolle übernehmen, die bisher Russland gespielt hat. Das Ende des Multilateralismus, von dem das deutsche Kapital mehr als jede andere Nation profitiert hat (und sich mit der "Friedensdividende" von 1989 auch von der Last der Militärausgaben befreit hat), wirkt sich direkter auf seine Wirtschaftskraft aus, die auf dem Export beruht. Schließlich bringt der von den USA ausgeübte Druck, ihre "Verbündeten" in den wirtschaftlich-strategischen Krieg mit China zu ziehen und auf Märkte in China zu verzichten, Deutschland in ein großes Dilemma, da es in hohem Maße vom chinesischen Markt abhängig ist. Aufgrund seiner führenden Position in der EU hat das Schwanken der deutschen Macht Auswirkungen auf ganz Europa, das in unterschiedlichem Maße von den gleichen Widersprüchen und Dilemmata geprägt ist.

China und die Seidenstraßen sind direkt betroffen. Eines der Ziele des Krieges ist neben der Schwächung Russlands, China ins Visier zu nehmen. Der Krieg konterkariert das Hauptziel der Seidenstraßen, die Ukraine zu einem Tor zum europäischen Markt zu machen; das Chaos schneidet China von einem seiner wichtigsten Märkte ab. Das bedeutet, dass es eine alternative Route über den Nahen Osten suchen muss.

D. Die Klimakrise

Obwohl sich die Großmächte einig sind, dass "der Klimawandel eine destabilisierende, ja sogar wirtschaftlich zerstörerische Kraft ist", war die COP in Sharm El Sheikh über die Frage "Wer soll das bezahlen?" zerrissen. Abgesehen von der angeborenen Unfähigkeit des Kapitalismus, die Zerstörung der Natur aufzuhalten, ist die Rückkehr und Vorbereitung aller Staaten auf einen Krieg "hoher Intensität" der Todesstoß für das Engagement der Großmächte zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen. In der Tat: "Kein Krieg ohne Öl. Ohne Öl ist es unmöglich, Krieg zu führen (...) Der Verzicht auf die Möglichkeit, reichlich und billig an Öl zu kommen, bedeutet schlicht Abrüstung. Transporttechnologien [die ohne Öl, Wasserstoff und Elektrizität auskommen] sind für Armeen völlig untauglich. Batteriebetriebene elektrische Panzer werfen so viele technische und logistische Probleme auf, dass sie als unmöglich angesehen werden müssen, ebenso wie alles andere, was an Land fährt (gepanzerte Fahrzeuge, Artillerie, Maschinen, leichte Geländewagen, Lastwagen). Der Verbrennungsmotor und sein Kraftstoff sind so effizient und flexibel, dass es selbstmörderisch wäre, sie zu ersetzen."[13]

Der Kapitalismus ist dazu verurteilt, immer mehr unter den Auswirkungen zu leiden (riesige Brände, Überschwemmungen, Hitzewellen, Dürren, gewaltige Wetterphänomene...), die die kapitalistische Wirtschaft immer stärker beeinträchtigen und bestrafen: Der Klimafaktor (der bereits ein Aspekt der Implosion der arabischen Länder im Jahrzehnt 2010 war) trägt selbst zum Zusammenbruch besonders anfälliger Länder in der Peripherie des Kapitalismus bei. Laut UN-Generalsekretär Antonio Guterres hat in Pakistan das "Klima-Gemetzel ein noch nie dagewesenes Ausmaß" erreicht; es hat Schäden verursacht, die auf das 2½-fache des BIP geschätzt werden – eine Katastrophe, die wirtschaftlich nicht zu bewältigen ist.[14] Vor allem wirkt sich das Ausmaß des Klimaschocks jetzt direkt auf die Kernländer des Kapitalismus und ihre gesamte Wirtschaftstätigkeit auf allen Ebenen aus:

- Die Kosten der klimabedingten Schäden in den zentralen Ländern steigen weiter an: Allein in den Vereinigten Staaten "beliefen sich die Gesamtkosten von Naturkatastrophen in den 1980er Jahren auf 3 Milliarden Dollar pro Jahr. Dieser Betrag stieg von 2000 bis 2010 auf mehr als 20 Milliarden Dollar pro Jahr (...) Und von 2011 und 2012 (...) begannen sich diese Kosten zu verdoppeln" und erreichten "300 Milliarden Dollar an materiellen Schäden im Jahr 2018, was ¾ der jährlichen Kosten für den Schuldendienst der USA entspricht".

- Der Handel mit produktiven Infrastrukturen (und deren Verteilung) ist direkt betroffen und untergräbt und gefährdet die Stabilität der nationalen Volkswirtschaften aufgrund des Klimawandels: Unter anderem stört die Kombination aus Dürre und übermäßiger Wassernutzung in Amerika, Europa und China sowohl die nukleare als auch die hydroelektrische Stromerzeugung, unterbricht und reduziert den Warenfluss auf den Flüssen und "stellt ein großes Risiko für die landwirtschaftlichen Kapazitäten der USA dar (...) Ein permanenter Zustand der Wasserkatastrophe, der mit Konflikten und interner Migration behaftet ist, greift im amerikanischen Westen um sich". China ist bedroht „von einer neuen Ernährungsunsicherheit, die durch die klimatische, wasserwirtschaftliche und biologische Anfälligkeit der Landwirtschaft verursacht wird".

Die "immer schnelleren und intensiveren" Auswirkungen des steigenden Meeresspiegels stellen die Staaten vor große Herausforderungen. Die Versalzung der Böden führt zur Sterilisierung von Ackerland (wie in Bangladesch). Sie bedrohen sowohl die Megastädte an den Küsten (wie in den Vereinigten Staaten an der Ost- und Westküste und in vielen Städten Chinas) als auch die Küstenindustrie (die Ölindustrie am Golf von Mexiko; die Region Shenzhen in China, das Zentrum der chinesischen Elektronikindustrie, wo "die chinesischen Stadtverwaltungen bereits damit begonnen haben, Hunderttausende von Menschen zu evakuieren".

In den letzten zwei Jahren haben die verschiedenen Zerfallserscheinungen, die sich bereits auf die kapitalistische Wirtschaft auszuwirken begannen, eine neue Qualität angenommen, mit einer noch nie dagewesenen Wechselwirkung von bisher unbekanntem Ausmaß, die sich in einer Art infernalischem "Strudel" noch verstärkt hat, in dem jede Katastrophe die Virulenz der anderen nährt: Die Pandemie hat die Weltwirtschaft gestört; dies wiederum hat den barbarischen Krieg und die Umweltkrise verschärft. Der Krieg und die Umweltkrise werden weiterhin enorme Auswirkungen haben, die das Herz der Großmächte treffen und die Wirtschaftskrise, die den Hintergrund für diese katastrophale Entwicklung bildet, erheblich verschärfen.

II. Eine durch ihre Widersprüche geschwächte und unterminierte Produktionsweise

Ein kapitalistisches System, das als Ganzes bereits durch die aus seinen Widersprüchen und seinem Zerfall resultierenden Erschütterungen geschwächt war, wurde durch den Krieg weiter beeinträchtigt.

A. Abgeschwächte Industrieproduktion

Die Schockwelle des Krieges hat eine sehr anfällige Wirtschaft getroffen, die seit der Pandemie in einigen Sektoren stark geschwächt ist: "2022 wird die weltweite Automobilproduktion immer noch niedriger sein als 2019. In China wird sie sicherlich um 7 % steigen, aber in Europa wird sie um 25 % und in den Vereinigten Staaten um 11 % niedriger bleiben. Die Industrie hat an Volumen verloren und sieht ihre Kosten steigen..."[15]

B. Inflation

"Die grundlegenden Ursachen der Inflation sind in den spezifischen Bedingungen der Funktionsweise der kapitalistischen Produktionsweise in ihrer dekadenten Phase zu suchen. In der Tat erlaubt uns die empirische Beobachtung zu erkennen, dass die Inflation grundsätzlich ein Phänomen dieser Epoche des Kapitalismus ist, und dass sie sich am stärksten in Kriegszeiten manifestiert (1914-18, 1939-45, im Koreakrieg, 1957-58 in Frankreich während des Algerienkriegs...), d.h. in Zeiten, in denen die unproduktiven Ausgaben am höchsten sind. Es ist daher logisch, das Phänomen der Inflation mit diesem spezifischen Merkmal der Dekadenz, dem hohen Anteil der Rüstungsausgaben und allgemeiner der unproduktiven Ausgaben in der Wirtschaft, zu erklären.“[16]

Als Folge der Zunahme des Gewichts der unproduktiven Ausgaben, der Anhäufung einer Schuldenlast durch die Staaten in ihren verschiedenen Rettungsplänen zur Bewältigung der Pandemie und in der Entwicklung der Kriegswirtschaft und der allgemeinen Aufrüstung der kapitalistischen Nationen wird die Inflation nur noch weiter ansteigen[17], weil jedes nationale Kapital den Bedarf hat, die unproduktiven Ausgaben zu erhöhen, mit:

- den absurden Rüstungsausgaben, die die Wirtschaft mehr denn je in den Dienst des Krieges stellen, und der ungezügelten Produktion von Zerstörungsmitteln ohne jede wirtschaftliche Vernunft;

- den Auswirkungen des Rückgriffs auf das Drucken von Geld zur Finanzierung der Schulden, um die Widersprüche des Systems zu beseitigen;

- den exorbitanten Kosten der Verwüstungen, die der Zerfall für die Gesellschaft und die Produktionsinfrastrukturen verursacht: Pandemien, Unwetter usw.

- der Überalterung der Bevölkerung in allen Ländern (auch in China), die den Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter an der Gesamtbevölkerung stark verringert.

Mit einer Inflation auf hohem und dauerhaftem Niveau, die der Kapitalismus nicht mehr wie früher kontrollieren kann (die Bourgeoisie lehnt eine Rückkehr zu 2 % als unrealistisch ab), markiert sie auch eine wichtige Etappe der Verschärfung der Krise. Sie wird sich immer negativer auf die Wirtschaft auswirken, indem sie den Welthandel und die Produktion destabilisiert, die sie der notwendigen Transparenz beraubt, während sie ein wesentlicher Vektor der Währungs- und Finanzinstabilität bilden wird.

C. Finanzielle und währungspolitische Spannungen

Die Anfälligkeit des kapitalistischen Systems wird durch "wachsende Risiken für die Finanzstabilität in wichtigen Bereichen der Finanzmärkte und der Staatsverschuldung" deutlich (K. Georgiewa, IWF) und durch neue "Risse", die sich auftun.

- Die Fragilität und die Spannungen rund um die Währungen der wichtigsten Mächte werden zu einem immer wichtigeren Merkmal der Situation: der Fall des Pfunds gegenüber dem Dollar auf den niedrigsten Stand in der Geschichte, er verlor 17 % seines Wertes; die Abwertung des Yen (-21 %) auf den niedrigsten Stand seit 1990; der Fall des Yuan auf den niedrigsten Stand gegenüber dem Dollar seit 14 Jahren; der beispiellose Fall des Euro auf die gleiche Parität mit dem Dollar... Die Zentralbanken müssen bereits eingreifen, um ihre Währungen zu stützen; eine zunehmende monetäre Instabilität zeichnet sich ab.

- Das Platzen der Finanzblase bei den Kryptowährungen (mit einem Rückgang der Börsenwerte des Bitcoin-Marktes auf ein Drittel innerhalb eines Jahres) und prominente Insolvenzen in diesem Sektor wie die von FTX (dem weltweit zweitgrößten Akteur im Bereich der Kryptowährungen) haben dazu geführt, dass die Bourgeoisie eine Ansteckung anderer Akteure im traditionellen Finanzwesen befürchtet. Die finanzielle Instabilität in diesem Sektor ist ein Vorbote für die Gefahr weiterer Zusammenbrüche, wie dem im Immobiliensektor (50 % des weltweiten Transaktionswerts), der in China seinen Anfang nahm und auch anderswo aufzutreten droht.

- Ähnlich: "Die Tech-Wirtschaft ist ins Stocken geraten, (...) In den letzten zehn Jahren haben wir das Entstehen einer Finanzblase erlebt, die durch den von den Zentralbanken geschaffenen Liquiditätsüberfluss genährt wurde. (...) Diese Blase ist seit dem Beginn des russisch-ukrainischen Krieges und dem Aufkommen der Inflation geplatzt. Die Bewertung von Technologieunternehmen an der Börse ist zusammengebrochen. Amazon ist das erste Unternehmen in der Geschichte, das 1.000 Milliarden Dollar an Börsenwert verloren hat. Ein Verlust von 200 Milliarden Dollar in sechs Monaten für Meta. (...) Diese brutale Rückkehr zur Realität hat insbesondere in den Vereinigten Staaten umfangreiche Entlassungspläne ausgelöst. Wahrscheinlich wurden im Jahr 2022 in der Tech-Industrie 130.000 Arbeitsplätze vernichtet.“[18]

D. Die Fortführung der Politik der zunehmenden Verschuldung

Obwohl die Masse der Verschuldung (260 % des Welt-BIP) bereits das gesamte System schwächt[19], die Entwicklung des Charakters der Verschuldung, die immer weniger auf dem bereits geschaffenen Mehrwert beruht und sich aus der Druckerpresse und den Schulden der Staaten speist, geht die Fortsetzung der Verschuldungspolitik weiter; trotz der schädlichen Auswirkungen auf die zunehmend unsichere Stabilität des kapitalistischen Systems bleibt sie eine unvermeidliche Notwendigkeit für alle nationalen Kapitale. Alle Staaten sind mehr und mehr auf sie angewiesen, um die Widersprüche des kapitalistischen Systems zu bewältigen. Dies ist der Grund für die Aussetzung des EU-Stabilitätspakts, der erst Anfang 2023 wieder in Kraft gesetzt wurde, nachdem er durch die Lockerung seiner Durchsetzungsregeln stark modifiziert worden war, und zwar höchstwahrscheinlich, um der EZB die Rolle des Kreditgebers der letzten Instanz zu ermöglichen.

E. Politisches Chaos innerhalb der herrschenden Klasse, ein Faktor, der zur Verschärfung der Krise beiträgt

Die Verantwortungslosigkeit und die Fahrlässigkeit der herrschenden Klasse, die sich sowohl in der Gesundheitskrise als auch in der Energiekrise und angesichts der Klimakatastrophe gezeigt haben, sind wichtige Faktoren für die Verschärfung der Krise.

Zu diesen Faktoren kommen das politische Chaos und die Auswirkungen des Populismus innerhalb der herrschenden Klasse hinzu. Sie haben katastrophale Auswirkungen auf die britische Wirtschaft, auf die älteste Bourgeoisie der Welt. Der Brexit veranschaulicht die wirtschaftliche Irrationalität des "Jeder für sich": "Statt des Wohlstands, der Souveränität und des internationalen Einflusses, die [die Konservativen] durch die Trennung von ihren Nachbarn zu erreichen behaupteten, haben sie nur einen Rückgang der Exporte, die Abwertung des Pfunds, die schlechtesten Wachstumsprognosen der Industrieländer außer Russland und eine diplomatische Isolation erreicht.[20]" (Le Monde 18/19.12.2022) Nach Johnsons Abgang erklärt sich die kurze Amtszeit der Inkompetenz und Vetternwirtschaft der Regierung von Liz Truss durch ihre unverantwortlichen Entscheidungen, die vom Rest der herrschenden Klasse verurteilt wurden: Die Ankündigung von 45 Milliarden Pfund ungedeckter Steuersenkungen zugunsten der Reichsten der Gesellschaft löste einen Absturz des Pfunds und die Angst vor seinem Zusammenbruch und einer Schuldenkrise aus!

In Italien haben die Zusagen von Ministerpräsidentin Meloni, die europäischen Regeln zu respektieren (das erste Mal, dass eine rechtsextreme Regierung in einem der Gründungsländer der EU an die Macht gekommen ist), die Ängste über die Zukunft des italienischen Konjunkturprogramms, das vom Europäischen Währungsfonds finanziert wird, der durch eine vereinbarte Verschuldung der Mitgliedsländer geschaffen wurde, vorübergehend beruhigt, aber es verheißt nichts Gutes für die künftige Stabilität.[21]

Schließlich können die Spaltungen innerhalb der herrschenden Klasse durch die Entscheidungen und Prioritäten, die bei der Verteidigung der Interessen der einzelnen nationalen Kapitale in diesem mehr als unsicheren und widersprüchlichen Kontext zu treffen sind, nur noch verschärft werden.

F. Die Verschärfung des Prinzips "Jeder für sich" als Grundlage der Beziehungen zwischen den Nationen

Im Bericht 2020 stellte die IKS die Frage, ob die Entwicklung des "Jeder für sich", die ihren Ursprung in der Sackgasse der Überproduktion und der zunehmenden Schwierigkeit des Kapitals hat, die erweiterte Kapitalakkumulation zu realisieren, während es den Auswirkungen der Zerfall ausgesetzt ist, unumkehrbar ist. Seit der Krise von 2008 (die als Krise der Globalisierung betrachtet werden kann) und bis heute hat sich das Prinzip "Jeder für sich" in den Beziehungen zwischen den Mächten schrittweise qualitativ verändert und ist nun vollkommen siegreich. Nach Ansicht des IWF wird der Krieg "die globale wirtschaftliche und geopolitische Ordnung grundlegend verändern“. Der Konflikt in der Ukraine bringt die "Zwischenzeit" nach 2008 zu Ende und markiert das Ende der Globalisierung:

- Das „Jeder für sich" zeigte sich nach 2008 zunächst in der Tendenz Chinas und vor allem der USA, den Rahmen der Globalisierung in Frage zu stellen; der einen durch die Sabotage von Strukturen wie der WTO, des anderen durch die Entwicklung seines eigenen alternativen Projekts der Seidenstraßen.

- Dies wurde während der Covid-Epidemie auf brillante Weise veranschaulicht, insbesondere durch die Unfähigkeit, eine Politik der Produktion, der Verteilung und der Impfung auf globaler Ebene zu koordinieren; das ganovenhafte Verhalten bestimmter Länder, die für andere Länder bestimmte medizinische Ausrüstung stahlen; die Tendenz, sich in den nationalen Rahmen zurückzuziehen; und das Bestreben jeder Bourgeoisie, ihre eigene Wirtschaft auf Kosten der anderen zu retten, da diese irrationalen Tendenzen für alle Länder und für die Weltwirtschaft insgesamt nur verhängnisvoll sein konnten.

- Der derzeitige "Krieg um Gas" zwischen den Nationen erweist sich als ebenbürtig zum Maskenkrieg[22]: Die jüngste Sabotage der Nord-Stream-II-Pipeline, für die ein noch nicht identifizierter "staatlicher Agent" verantwortlich gemacht wird, veranschaulicht die Gangstermentalität, während "auf dem LNG-Markt (...) alles möglich ist".[23]

Die USA sind der große Gewinner des Krieges, auch auf wirtschaftlichem Gebiet. Unter den historischen Bedingungen des Zerfalls erlangen die USA durch den Krieg, den ultimativen Ausdruck des Krieges aller gegen alle, die militärische Macht – als einziges wirkliches Mittel, das den USA zur Verfügung steht, um ihre Weltherrschaft zu verteidigen – die momentane Stärkung ihrer nationalen Wirtschaft zum Nachteil des Rests der Welt um den Preis einer globalen Verwerfung und der entscheidenden Schwächung des gesamten kapitalistischen Systems[24]. Diese wirtschaftliche Stärkung der USA ist das unmittelbare Produkt des Jeder-gegen-jeden; sie steht nicht im Widerspruch zum Versinken des gesamten Systems in der Spirale seines Zerfalls (sie ist ein Ausdruck davon und stellt keineswegs eine Stabilisierung dar, sondern zeugt im Gegenteil von seinem tieferen Versinken), da sie als ihre Folge und Bedingung die extreme Entwicklung des Chaos und die Schwächung des kapitalistischen Systems als Ganzes hat. "Die unerschütterliche Unterstützung Washingtons für die Ukraine hat die USA zum globalen Gewinner der Sequenz gemacht, ohne dass ein einziger GI einen Fuß auf ukrainischen Boden setzen musste. Ein unbestreitbarer geostrategischer, militärischer und politischer Gewinn. (...) Vor dem Hintergrund von unverhohlenem Protektionismus und wirtschaftlichem Nationalismus kann sich Bidens Amerika nun ganz dem technologischen Krieg gegen seinen einzigen großen Rivalen, China, widmen. Europa, dem es während der Covid-Krise gelungen war, solidarisch zu handeln, ist geschwächt und gespalten, das deutsch-französische Tandem liegt in Trümmern."[25] In diesem Abstieg des Weltkapitalismus in den Abgrund verändert der Krieg die Situation für jedes Kapital und stellt alle globalen Wirtschaftsbeziehungen auf den Kopf:

- Der Öl- und Gaskrieg: In einem beispiellosen Umschwung ist Washington der große Gewinner – während die USA vor 10 Jahren noch kein LNG exportierten, sind sie heute der weltweit größte Exporteur. "Die Vereinigten Staaten sind im Energiebereich nahezu unabhängig, was es ihnen ermöglicht, sich in einer Welt, in der Kohlenwasserstoffe zu geopolitischen Waffen geworden sind, ruhig zu verhalten. Amerika muss kein Gas importieren, es ist der weltweit führende Produzent vor Russland. Auch beim Erdöl ist Washington der weltweit größte Produzent und hat in letzter Zeit seine Abhängigkeit von ausländischem Rohöl verringert"[26] (Le Point Géopolitique, Les guerres de l'énergie, S. 7). Der Krieg in der Ukraine ist das Ergebnis einer weitreichenden, langfristig angelegten Autarkiepolitik seit der Obama-Regierung, mit der die USA der zunehmenden Macht ihres chinesischen Herausforderers entgegentreten wollen, und ermöglicht es ihnen, den Krieg in vollem Umfang zu nutzen, um ihre Industrie anzukurbeln[27] und sich selbst als Hauptakteur zu etablieren. Die USA drängen ihre Rivalen in die Defensive und in eine unterlegene Position an dieser strategischen Energiefront:

Europa ist fast auf die Abhängigkeit von russischem Gas und amerikanischem LNG reduziert. Um dieser tödlichen Strangulierung zu entkommen, versuchen die Europäer verzweifelt, ihre Lieferanten zu diversifizieren.

China, das in hohem Maße von Kohlenwasserstoffimporten abhängig ist, ist im Nachteil und wurde von den USA geschwächt, die nun in der Lage sind, die Land- und Seewege der chinesischen Lieferungen zu kontrollieren und zu unterbrechen.

- Die Stärkung des Militärsektors: Mit einem Anteil von 40 % am Rüstungsmarkt ist "der unbestreitbare strategische Erfolg der amerikanischen Kriegsmaschinerie" ein Ansporn für die US-Militärindustrie: "Das Arsenal der Demokratie, wie Präsident F. D. Roosevelt es nannte, ist voll ausgelastet (...) Infolgedessen sieht sich der amerikanische Militärsektor einem beträchtlichen Produktionsdruck ausgesetzt.[28]"

- Der starke Dollar und die Erhöhung der Zinssätze: Das beispiellose Ausmaß des Biden-Plans zur Unterstützung der US-Wirtschaft mit 1,17 Billionen Dollar zur Ankurbelung der Nachfrage und des Konsums, gefolgt vom Beginn des Abbaus der quantitativen Lockerung und der schrittweisen Anhebung der Zinssätze durch die Fed (ab Anfang 2022) hat alle Konkurrenten überrascht. Diese Politik nutzt sowohl die zentrale Rolle des Dollars (in den Reserven der Zentralbanken der Welt, sein Übergewicht in der Weltwirtschaft und im Handel) als auch den starken Dollar, die Größe ihrer Wirtschaft und ihren Rang als führende Wirtschaftsmacht der Welt aus:

a. Anziehung und Kanalisierung von Kapital und Investitionen (auf der Suche nach einem sicheren Hafen) in die US-Wirtschaft,

b. den Rest der Welt dazu zu bringen, die eigene Wirtschaft finanziell zu unterstützen,

c. Abwälzung der negativsten Auswirkungen der Inflation auf andere schwächere Länder.[29] Die USA stabilisieren und stärken ihre eigene Wirtschaft auf direkte Kosten ihrer unmittelbarsten Konkurrenten.

Den USA ist das Risiko, eine Rezession anzuheizen, den internationalen Handel zu verlangsamen und Finanzkrisen in den schwächsten Staaten zu provozieren, völlig gleichgültig, solange ihre eigene Wirtschaft davon profitiert und sie in der Lage sind, ihre eigene Wirtschaft zu retten und ihren Platz als führende Weltmacht zu sichern.

- Verstärkter Protektionismus: Mit dem Inflationsbekämpfungsgesetz der US-Regierung in Höhe von 370 Milliarden Dollar für öffentliche Investitionen in die US-Industrie in Verbindung mit starken protektionistischen Maßnahmen, die in den USA hergestellte Produkte gegenüber importierten Produkten bevorzugen, hat die EU einen "zweiten Wettbewerbsschock" (nach dem Gasschock) erlebt.

Generell zielen alle wirtschaftlichen, monetären, finanziellen und industriellen Maßnahmen in den USA darauf ab, Investitionen anzuziehen und Unternehmen zur Ansiedlung in den USA zu bewegen. Das "Eldorado" der niedrigen Energiepreise und der Subventionen lenkt Kapital und große ausländische Unternehmen in die USA, zum Nachteil insbesondere Europas. Mehr als sechzig deutsche Unternehmen (Lufhansa, Siemens, etc.) planen Investitionen in den USA. VW hat angekündigt, dass es seine Produktion von Elektrofahrzeugen in den USA steigern will und plant, 7 Milliarden in seine US-Standorte zu investieren. BMW investiert 1,7 Milliarden in sein Werk in North Carolina und ist versucht, dort Batterien zu produzieren, anstatt in europäischen Projekten. Frankreich schätzt seine potenziellen Verluste auf "10 Milliarden Euro an Investitionen" und "10.000 potenzielle Arbeitsplätze".

Diesem "Kippen" der Vereinigten Staaten "auf die falsche Seite" des Protektionismus (so die EU)[30] wird mit der Androhung eines "Buy European Act" begegnet; und "Frankreich und Deutschland haben einen Vorschlag für eine Gegenoffensive formuliert ... und Brüssel aufgefordert, die Regeln für öffentliche Subventionen für Unternehmen sowie gezielte Subventionen und Steuergutschriften für strategische Sektoren zu lockern".[31]

- Landwirtschaft: "Der Krieg in der Ukraine hat das globale landwirtschaftliche Gleichgewicht gestört. Afrika und der Maghreb waren die ersten Opfer. Aber auch der alte Kontinent wurde in Mitleidenschaft gezogen. In den letzten zehn Jahren war Europa bei der Versorgung mit Mais von der Ukraine abhängig[32] (...) Auch wenn ein großer Teil der Lieferungen die Ukraine verlassen konnte, konnten die europäischen Abnehmer nicht genug bekommen und mussten bei anderen Lieferanten anklopfen. Die Vereinigten Staaten verfügen über sehr große Maisproduktionskapazitäten (...) Diese Stärke hat es ihnen nicht nur ermöglicht, ihren eigenen Inlandsmarkt zu bedienen, sondern auch Russland und die Ukraine zu verdrängen und in großem Umfang in andere Länder, insbesondere nach Europa, zu exportieren".[33]

- Die US-Offensive gegen China auf wirtschaftlicher Ebene: Aus einer Position der Stärke heraus erhöhen die USA den Druck auf China und greifen dessen wirtschaftliche Interessen weltweit durch verschiedene Initiativen an und versuchen, indem sie von der Schwächung und der Spaltung der Europäer profitieren, diese mit verschiedenen Mitteln zu zwingen, sich ihrer Offensive anzuschließen[34]: Eine „Premiere": Das Treffen der G7 im Juni 2022 prangerte "intransparente und marktverzerrende Interventionen Chinas" an und rief zu "kollektiven Ansätzen, auch außerhalb der G7, auf, um die Herausforderungen anzugehen, die sich aus nicht marktwirtschaftlichen Politiken und Praktiken ergeben, die die Weltwirtschaft verzerren", und zwar mit dem demokratischen Argument, "alle Formen von Zwangsarbeit aus den globalen Lieferketten zu eliminieren, einschließlich staatlich geförderter Zwangsarbeit, wie etwa in Xinjiang".

Um ihren entscheidenden technologischen Vorsprung gegenüber China zu sichern, organisieren die Vereinigten Staaten die Verlagerung[35] der Produktion der neuesten Generation von Halbleitern auf den heimischen Boden und kontrollieren den gesamten Sektor auf internationaler Ebene, von dem sie China ausschließen wollen, und drohen mit Sanktionen gegen jeden Konkurrenten, der Handelsbeziehungen mit China unterhält, die dieses "Monopol" verletzen könnten.

Das umfangreiche Investitionsprogramm der Globalen Partnerschaft für Infrastrukturen in Höhe von 600 Milliarden Dollar für diese Entwicklungsländer bis zum Jahr 2027 zielt vorrangig darauf ab, den riesigen Projekten entgegenzuwirken, die China im Rahmen der Seidenstraßen vor allem in Afrika südlich der Sahara, aber auch in Mittelamerika und Asien finanziert.

Die Gründung der Indo-Pazifischen Wirtschaftspartnerschaft[36] mit dem Ziel, "die neuen Regeln für die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts zu schreiben" (Biden) und "starke und widerstandsfähige Lieferketten" unter der Kontrolle Washingtons aufzubauen, wurde von China sofort als "Cliquenbildung, die es in Schach halten soll", angeprangert.

Steht die EU unter dem Zeichen des "Jeder für sich"? Mit der einseitigen Freigabe eines 200-Milliarden-Dollar-Stützungsplans für die deutsche Wirtschaft (der als "Stinkfinger gegen den Rest Europas" bezeichnet wird) und dem Streit zwischen Frankreich und Deutschland um die Führung steht die EU vor großen internen Konflikten. "Einige Länder, wie Deutschland, haben die Mittel, ihre Industrie massiv zu subventionieren. Andere, wie Italien, weit weniger. Griechenland, Spanien und auch Frankreich sind darüber beunruhigt und fordern europäische Solidaritätsmaßnahmen, um diese Unterschiede auszugleichen. Das amerikanische Inflationsbekämpfungsgesetz liegt bei 2 % des BIP, wir müssen eine vergleichbare Anstrengung unternehmen", sagte Präsident Macron. „Deutschland, die Niederlande und Schweden sind dagegen nach wie vor gegen ein neues europäisches Finanzpaket."[37] Die beiden europäischen Mächte sind gegenüber China nicht auf einer Wellenlänge: "Diplomatische Nettigkeiten reichen nicht mehr aus, um die Kluft zwischen Washington – das Peking als seinen Hauptkonkurrenten sieht – und der deutschen Regierung zu verbergen, deren Interesse in der Aufrechterhaltung guter Handelsbeziehungen mit China liegt. (...) Obwohl Frankreich nicht mit den Vereinigten Staaten verbündet ist, steht es Washington näher als Berlin. China ist nur der fünftgrößte Handelspartner Frankreichs (...) Als Macron Xi am Rande des G20-Gipfels traf, war seine Position näher an der von Biden als an der von Scholz.“[38] Scholz' Reise allein nach China wurde also von Macrons Reise in die USA beantwortet.

Sollten sich diese Spannungen infolge der vom amerikanischen Rivalen geschürten konkurrierenden nationalen Interessen so weit verschärfen, dass ein Auseinanderbrechen der EU droht, würde dies die Krise weiter verschärfen und das gesamte kapitalistische System destabilisieren.

Chinas Reaktion: Der Krieg in der Ukraine zeigt, wie die von den USA eingeleitete Entkopplung der amerikanischen und chinesischen Wirtschaft China verwundbar macht:

- Die Sanktionen gegen Russland sind eine Warnung an China über "die enormen Folgen möglicher westlicher Sanktionen gegen China für die chinesische Wirtschaft"[39]. Da das Land über riesige Devisenreserven in Dollar verfügt, "hat der Krieg in der Ukraine die Alarmglocken läuten lassen (...) Chinesische Experten stellen fest, dass seine Abhängigkeit vom Dollar ein noch größeres Problem darstellt als der Fall Russlands. China ist nicht bereit, sich möglichen westlichen Sanktionen zu stellen" und "will die Sicherheit seiner Auslandsanlagen drastisch erhöhen, um die Fehler Russlands nicht zu wiederholen, (...) die Struktur seiner Auslandsinvestitionen zu ändern und die Abhängigkeit vom US-Dollar so schnell wie möglich zu verringern"[40], um den Widerspruch zu vermeiden, "dass es derzeit keine andere Lösung für den Schutz des Wertes der aus seinem Handelsüberschuss stammenden Dollars gibt, als sie ständig an die Vereinigten Staaten zu verleihen".[41]

- Die Bemühungen des Staates, den Yuan zu einer internationalen Währung zu machen, die mit dem Dollar konkurriert, sind gescheitert, selbst in einem Kontext, in dem viele Länder versuchen könnten, sich vor westlichen Sanktionen zu schützen: Der Yuan stagniert bei 2,88 % der Devisenreserven (von denen 30 % von Russland gehalten werden) im Vergleich zu 59,5 % für den Dollar und 19,76 % für den Euro; und seit 2015 auf Platz 5 im globalen Zahlungsverkehr mit einem Anteil von 2,44 % im Vergleich zu 42 % für den Dollar. Die PBC (People's Bank of China) muss dafür kämpfen, die Abwertung des Yuan gegenüber dem Dollar zu stoppen.

- "Infolge der in den letzten Jahren von den Vereinigten Staaten ergriffenen Maßnahmen", die den Export von Spitzentechnologie (die in der Hightech-Produktion in den Bereichen Automobil, Luftfahrt, Weltraumforschung, wissenschaftliche Forschung, Computer, Verkehr, Medizin usw. verwendet wird) einschränken, "ist China derzeit nicht mehr im Rennen (...) Die chinesischen Halbleiterhersteller verfügen nicht über die Technologie, um aufzuholen. (...) So sehr, dass einige Experten bezweifeln, dass China kurz- und mittelfristig in der Lage sein werde, in diesem Bereich aufzuholen, der für einen großen Teil des künftigen Wirtschaftswachstums verantwortlich ist" (Asyalist).

- China befindet sich in einem Konkurrenzkampf auf Leben und Tod um die Kontrolle bestimmter strategischer Sektoren (z.B. seltene Erden und Metalle); oder es nutzt die Schwächung Russlands, um Verträge mit den zentralasiatischen Republiken zu schließen und sich Saudi-Arabien anzunähern, um seine Kohlenwasserstoffversorgung zu sichern.

- Chinas lebenswichtige wirtschaftliche Interessen stehen bei den Spannungen mit Taiwan auf dem Spiel, das wie Singapur eine wichtige Plattform für Chinas verarbeitende Industrie darstellt und für sein derzeitiges Wirtschaftsmodell unverzichtbar ist.

Das Ergebnis: Der Ausschluss Russlands vom internationalen Handel durch die Vereinigten Staaten, die Offensive gegen China und ihr Wunsch, die globalen Wirtschaftsbeziehungen zu ihrem Vorteil umzugestalten, markieren einen Wendepunkt in der Vision des Freihandels, die die amerikanische Politik fast dreißig Jahre lang geleitet hat. Dies wird zu einer weiteren Zersplitterung des Weltmarktes und zu einer Vervielfachung regionaler Abkommen führen, wie dem zwischen den USA, Kanada und Mexiko im Jahr 2020.[42]

Die Tatsachen, dass "die Unterzeichner mehr gemeinsame Interessen haben würden" und dass Staaten und Unternehmen „gleichgesinnte Partner bevorzugen und nicht mehr mit jedem Beliebigen Handel treiben würden“, verheißen nichts Gutes für die Stabilität, ebenso wenig wie die Bildung exklusiver Wirtschaftsbeziehungen unter der Schirmherrschaft der großen Sponsoren. Im Gegenteil, da sie dazu neigen, den vielfältigen Spannungslinien zwischen den Mächten zu folgen, wird dies nur zu einer weiteren Zersplitterung des Weltmarkts auf globaler Ebene und zur Verstärkung des Handelskriegs zwischen allen Beteiligten, des nationalen Rückzugs und des Strebens nach der Erhaltung der nationalen Souveränität auf allen Ebenen führen. Dies wird nur den überlebenswichtigen Wunsch verstärken, strategische Versorgungsketten zu kontrollieren, die für das nationale Überleben unerlässlich sind, und die Notwendigkeit, sich gegenüber anderen Mächten durch Erpressung usw. oder durch Umgehung derselben in eine starke Position zu bringen.[43]

Kurz und gut: Die Fähigkeit der wichtigsten kapitalistischen Nationen zusammenzuarbeiten, um die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf das gesamte kapitalistische System und auf sich selbst zu verzögern und abzumildern, ist nicht nur langsam verschwunden (ohne erkennbare Gegenleistung), sondern es wird auch immer deutlicher, dass es eine Politik gibt, die insbesondere von der ersten der Großmächte, den Vereinigten Staaten, betrieben wird, um ihre eigene Position in der Weltarena auf direkte Kosten der anderen Mächte desselben Typs (und des Rests der Welt) zu sichern, indem sie deren Interessen angreift und sie absichtlich schwächt.

Diese Situation ist ein klarer Bruch mit einem wesentlichen Teil der Regeln, die nach der Krise von 1929 aufgestellt wurden, und eröffnet eine neue Dimension, terra incognita, in der sich das Chaos in größerem Umfang entfalten wird, auch in und zwischen den zentralen Ländern, mit Auswirkungen, die noch schwer vorstellbar sind und die den Kern des kapitalistischen Systems treffen, das noch tiefer in die Krise versinkt.

III.Perspektiven

A. Die Verschärfung der Krise: die einzige Zukunft im Kapitalismus

Die unumkehrbare Krise des Kapitalismus ist der Hintergrund für eine Beschleunigung von Chaos und Barbarei. Die seit 50 Jahren andauernde Wirtschaftskrise, die sich seit 2018 beschleunigt hat, manifestiert sich offen in einer galoppierenden Inflation mit ihren Folgen in Form von Elend, Hunger und weit verbreiteter Verarmung.

"Die kapitalistische Krise berührt die Grundfesten dieser Gesellschaft. Inflation, Prekarität, Arbeitslosigkeit, höllische Arbeitsrhythmen und Arbeitsbedingungen, die die Gesundheit der ArbeiterInnen zerstören, unbezahlbarer Wohnraum zeugen von einer unaufhaltsamen Verschlechterung des Lebens der Arbeiterklasse, und obwohl die Bourgeoisie versucht, alle erdenklichen Spaltungen zu schaffen, indem sie bestimmten Kategorien von ArbeiterInnen "privilegiertere" Bedingungen zugesteht, sehen wir im Ganzen einerseits, was möglicherweise die schwerste Krise in der Geschichte des Kapitalismus sein wird, und andererseits die konkrete Realität der absoluten Verelendung der Arbeiterklasse in den zentralen Ländern, jene Ankündigung, die Marx für die historische Perspektive des Kapitalismus gemacht hat und über die sich die Ökonomen und andere Ideologen der Bourgeoisie so sehr mokiert haben."[44]

Im Gegensatz zu den 1930er Jahren gibt es heute mehr krisenverschärfende Faktoren. Die Pandemie und der Krieg in der Ukraine geben der Situation eine neue Qualität. Die Verkettung der Zerfallsfaktoren ist die Ursache für eine Spirale der Verschlechterung und der Verschlechterung der globalen Wirtschaftslage. "Es zeichnet sich ab, dass diese Krise länger und tiefer sein wird als die Krise von 1929. Zunächst einmal, weil die Auswirkungen des Zerfalls auf die Wirtschaft dazu neigen, die Produktionsabläufe durcheinander zu bringen, was zu ständigen Engpässen und Blockaden in einer Situation wachsender Arbeitslosigkeit führt, die paradoxerweise mit einem Mangel an Arbeitskräften einhergeht. Sie drückt sich vor allem in einer entfesselten Inflation aus, die durch die verschiedenen aufeinanderfolgenden Rettungspakete, die von den Staaten angesichts der Pandemie und des Krieges hastig geschnürt wurden, durch eine Flucht nach vorn in die Verschuldung nur noch weiter angeheizt wurde. Die Zinserhöhungen der Zentralbanken, mit denen sie versuchen, die Inflation zu bremsen, könnten eine sehr heftige Rezession auslösen, die sowohl die Staaten als auch die Unternehmen in den Würgegriff nimmt. Es ist ein wahrer Tsunami des Elends, eine brutale Verarmung des Proletariats in den Kernländern, die nunmehr im Gange ist."[45] Das Gespenst der "Stagflation" geht um in der Welt. Während es in den 1970er Jahren ein Konzept der bürgerlichen Ökonomen war, einen Zustand hoher Inflation mit wirtschaftlicher Stagnation zu charakterisieren, wird diese Gefahr heute offensichtlich, und die derzeitige unkontrollierte Inflation und wirtschaftliche Verlangsamung wird zu einer Kette von Bankrotten sogar ganzer Länder (Pakistan, Sri Lanka usw.) sowie zu finanziellen Turbulenzen und noch größeren Schwierigkeiten in den Schwellenländern führen.

"Das Wachstum in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften wird sich voraussichtlich von 5,1 % im Jahr 2021 auf 2,6 % im Jahr 2022 stark abschwächen (1,2 Prozentpunkte weniger als im Januar prognostiziert). Es wird erwartet, dass sich das Wachstum weiter auf 2,2 % im Jahr 2023 abschwächt, was größtenteils auf die Rücknahme der geld- und fiskalpolitischen Unterstützung während der Pandemie zurückzuführen ist."[46] Die Bourgeoisie hat keine andere Wahl, als die Zinsen weiter anzuheben, wie es die Fed im letzten November getan hat, alle Staaten sind in diese Dynamik involviert und dies wird zu Schrumpfungen auf den Märkten, Unternehmensschließungen mit massiven Entlassungen führen, wie wir es bei den Technologieunternehmen in den USA sehen können (GAFAM). Die Verlagerung von Unternehmen von China nach Amerika (Nearshoring) wird die Arbeitslosensituation in bestimmten Regionen der Welt noch verschärfen.

Im Gegensatz zu den 1930er Jahren sind die derzeitigen Schuldenstände beispiellos. China, die zweitgrößte Macht der Welt, ist mit dem 2,5-fachen seines BIP verschuldet! Gleichzeitig ist es zu einem Geldgeber geworden, vor allem um seine Seidenstraße zu unterstützen und seinen Einfluss in Afrika und Lateinamerika zu sichern. Die Vereinigten Staaten, deren Gesamtverschuldung inzwischen 31 Billionen (Millionen Millionen) übersteigt, haben 5 Milliarden Dollar gedruckt, während die EU mit 750 Millionen Euro 20 % mehr gedruckt hat als die USA. Die Aussichten für die kommenden Jahre werden für den Kapitalismus voller Erschütterungen und Schwierigkeiten sein.

B. China als Faktor der Destabilisierung und Verschärfung der Krise

i. - Die chinesische Wirtschaft hat eine starke Verlangsamung erlitten, die auf wiederholte Blockaden und dann auf den Tsunami von Infektionen zurückzuführen ist, der ein Chaos im Gesundheitssystem hervorgerufen hat, aber auch auf die Immobilienblase und die Blockade mehrerer Routen der "Seidenstraße" aufgrund bewaffneter Konflikte (Ukraine) oder des herrschenden Chaos (Äthiopien). In der ersten Hälfte dieses Jahres betrug das Wachstum 2,5 %, so dass das für dieses Jahr angestrebte Ziel von 5 % unerreichbar wird. Zum ersten Mal seit 30 Jahren wird das Wirtschaftswachstum in China geringer sein als in anderen asiatischen Ländern (Vietnam). Große Technologie- und Wirtschaftsunternehmen wie Alibaba, Tencent, JD.com und iQiyi haben 10-30 % ihrer Belegschaft entlassen. Junge Menschen sind von der sich verschlechternden Situation besonders betroffen: Die Arbeitslosenquote unter arbeitsuchenden UniversitätsstudentInnen wird auf 20 % geschätzt. Auch die Ausbaupläne für die "Neue Seidenstraße" sind aufgrund der sich verschärfenden Wirtschaftskrise in Gefahr: Fast 60 % der Schulden gegenüber China entfallen heute auf Länder, die sich in finanziellen Schwierigkeiten befinden, gegenüber 5 % im Jahr 2010. Darüber hinaus nimmt der wirtschaftliche Druck aus den USA zu, u. a. durch den Inflation Reduction Act und den CHIPS and Science Act, die sich direkt gegen Technologieexporte mehrerer chinesischer Technologieunternehmen (z. B. Huawei) in die USA richten.

Was die chinesische Bourgeoisie noch mehr beunruhigt, sind die wirtschaftlichen Probleme in Verbindung mit der Gesundheitskrise, die zu großen sozialen Protesten geführt haben.

ii. - Das Scheitern des neostalinistischen Modells der chinesischen Bourgeoisie. Angesichts der Schwierigkeiten in der Wirtschaft und im Gesundheitswesen besteht die Politik von Xi Jinping darin, zu den klassischen Rezepten des Stalinismus zurückzukehren:

- In wirtschaftlicher Hinsicht hatte die chinesische Bourgeoisie seit Deng Xiao Ping einen fragilen und komplexen Mechanismus geschaffen, um ein allmächtiges Einparteiensystem aufrechtzuerhalten, das mit einer direkt vom Staat geförderten Privatbourgeoisie zusammenarbeitet. "Ende 2021 ist die Ära der Reformen und der Öffnung unter Deng Xiaoping eindeutig vorbei und wird durch eine neue etatistische Wirtschaftsorthodoxie ersetzt.“[47] Die dominierende Fraktion hinter Xi Jinping richtet die chinesische Wirtschaft auf eine absolute staatliche Kontrolle im stalinistischen Stil aus.

- An der sozialen Front sorgte Xi mit der "Null Covid"-Politik nicht nur für eine rücksichtslose staatliche Kontrolle über die Bevölkerung, sondern zwang diese Kontrolle auch den regionalen und lokalen Behörden auf, die sich zu Beginn der Pandemie als unzuverlässig und ineffektiv erwiesen hatten. Im Herbst schickte er Einheiten der zentralen Staatspolizei nach Shanghai, um die lokalen Behörden zu zügeln, die die Abriegelungsmaßnahmen liberalisierten.

"[F]ür ein entwickeltes Nationalkapital, das von verschiedenen Teilen der Bourgeoisie ‚privat‘ vereinnahmt wird, ist die parlamentarische Demokratie der angemessenste politische Apparat; der fast vollständigen Verstaatlichung der Produktionsmittel entspricht die totalitäre Macht einer Einheitspartei".[48]

Das Scheitern der "Null Covid"-Politik hat dazu geführt, dass der Mann, der sie durchgesetzt hat, Xi Jinping, für eine dritte Amtszeit wiedergewählt wurde, und zwar um den Preis komplexer Kompromisse zwischen den Fraktionen der KPCh. Die chinesische Bourgeoisie beweist damit mehr denn je ihre angeborene Unfähigkeit, die politische Starrheit ihres Staatsapparats zu überwinden, ein schweres Erbe des stalinistischen Maoismus.

iii. - Eine Krise, die sich unaufhaltsam ausbreitet. Die zweitgrößte Macht der Welt ist in der gleichen Dynamik gefangen wie ihre Rivalen. Diese Katastrophe ist noch nicht zu Ende.

- Chinas Rolle in der Finanzkrise 2008 bestand darin, die Krise einzudämmen und die Investitionen nicht einzustellen, einschließlich der Konzentration auf den Binnenmarkt und die Infrastruktur (Hochgeschwindigkeitszüge), natürlich alles auf dem Rücken eines Schuldenbergs. Dennoch blieb es während der Finanzkrise 2008 ein "gesunder Wirtschaftszweig". Heute kann man das nicht mehr sagen, denn nach dem Konkurs von Evergrande folgte der von Shintao (dem zweitgrößten Bauunternehmen nach Evergrande). Allein Evergrande hat 350 Milliarden Dollar Schulden, die es nicht zurückzahlen kann. Hinter diesen Schulden stehen internationale Investoren, die ihr Geld einfordern, darunter auch BlackRock. So viele regionale Banken sind pleite gegangen, dass sie einen chinesischen "Corralito"[49] ausgelöst haben. 320 Immobilienprojekte sind zum Stillstand gekommen, und es gibt 100 Millionen leere Wohnungen. Die Verschuldung der privaten Haushalte hat sich auf 7 Billionen Dollar verdreifacht, und auch die Unternehmen sind verschuldet. Die Trockenheit hat die Stromerzeugung aus Wasserkraft so stark reduziert, dass es zu Rationierungen und teilweisen Schließungen von Fabriken kommt, wie z. B. TESLA, das ironischerweise Elektroautos herstellt! Was war die Antwort der chinesischen Bourgeoisie auf die Krise? Niedrigere Zinssätze, massive staatliche Einstellungen, staatliche Mittel für Infrastruktur und Immobilien (nichts Neues!) und wir kennen bereits die "Wirksamkeit" dieser Maßnahmen... Wir können nur eine Reihe von wirtschaftlichen Schocks in der nahen Zukunft in diesem Teil der Welt erwarten.

- Der Handelskrieg mit den Vereinigten Staaten und die Absicht, nicht von China abhängig zu sein, haben die Industrieländer, allen voran die Vereinigten Staaten, gezwungen, ihre Lieferketten zu diversifizieren und nach neuen Maquiladora-Ländern[50] zu suchen. So entwickeln sich Länder wie Mexiko, aber vor allem Vietnam, das China in Bezug auf das prozentuale Wirtschaftswachstum bereits überholt hat, zu den neuen "Maquiladoras" des Kapitalismus. In diesem Jahr sind die US-Aufträge an chinesische Hersteller um 40 % zurückgegangen (CNBC).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der chinesische Staatskapitalismus zwar in der Lage war, die Chancen zu nutzen, die sich durch den Blockwechsel, die Implosion des Sowjetblocks und die von den USA und den großen westlichen Staaten befürwortete Globalisierung der Wirtschaft boten, dass aber seine angeborene Schwäche in seiner stalinistisch geprägten Staatsstruktur nun angesichts der wirtschaftlichen, gesundheitlichen und sozialen Probleme ein großes Handicap darstellt. Die Situation deutet auf Instabilität und mögliche Umwälzungen hin, auch für die Position von Xi und seinen Anhängern innerhalb der KPCh. Eine Destabilisierung des chinesischen Kapitalismus hätte unvorhersehbare Folgen für den globalen Kapitalismus.

C. Die Fortführung des Militarismus und der Kriegswirtschaft

Im Jahr 2021 sind die Militärausgaben explosionsartig angestiegen. Die USA erhöhen ihre Ausgaben um 38 % (auf 880 Milliarden Dollar), China um 14 % (auf 243 Milliarden Dollar) und Russland um 3 % (auf 65 Milliarden Dollar). Die militärische Überlegenheit der USA spiegelt sich auch in ihrem Budget wider. Nach Angaben des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstituts (SIPRI) gab die Welt im selben Jahr 2 Billionen Dollar für das Militär aus.

In der gesamten indo-pazifischen Region sind die Militärausgaben gestiegen, aus Angst, dem chinesischen Imperialismus zum Opfer zu fallen: Japan hat sein Militärbudget ebenfalls verdoppelt und ein "Verteidigungstransfer"-Abkommen mit Vietnam unterzeichnet, Thailand investiert 125 Millionen Dollar in 50 Kriegsschiffe, um seine Meere zu schützen, Indonesien erhöht seine Militärausgaben im Chinesischen Meer um 200 %, und die Philippinen haben gerade zusätzliche 64 Millionen Dollar von den USA erhalten, um ihre Militärbasen zu verstärken, um die chinesische Gefahr einzudämmen. Aber diese Region ist nicht die einzige, die von dieser Dynamik betroffen ist; niemand wird verschont.

Die Welt steuert auf eine Explosion der Militärausgaben zu, wie es sie in der Geschichte noch nie gegeben hat. All diese unproduktiven Ausgaben werden auf dem Rücken der arbeitenden Menschen ausgetragen.

- Der Energiekrieg wird die Zukunft des Kapitalismus prägen: Trotz der verzweifelten Suche nach sauberer und erneuerbarer Energie wird dies im Kapitalismus unmöglich sein. Die Kontrolle über Energiequellen, insbesondere Gas und vor allem Öl, wird für jedes Kapital eine Frage der "nationalen Sicherheit" bleiben. Das Funktionieren der Wirtschaft hängt davon ab, und auf imperialistischer Ebene läuft das Militär mit Benzin oder Diesel. Die USA haben derzeit die Kontrolle über diese Ressourcen, und die Tatsache, dass sie jetzt Europas Hauptlieferant sind, wird zu einer Quelle künftiger Erpressung und eines Drucks auf die EU-Länder. Die Reise von Xi nach Saudi-Arabien und das jüngste Energieabkommen mit Russland bestätigen dies (30. Dezember 2022).

Die historische Beschleunigung des Einflusses von Kriegen auf die Wirtschaft ist erwähnenswert und wurde durch den Krieg in der Ukraine auf tragische Weise demonstriert. Wenn wir einen historischen Vergleich mit dem Vietnamkrieg anstellen, so war die militärische Belastung für die Wirtschaft damals schwer, aber heute ist der Einfluss des Militarismus auf die Wirtschaft noch größer.

D. Die unmögliche Energiewende

Der Kapitalismus ist das einzige System in der Geschichte, das in der Lage ist, die Natur in großem Umfang zu zerstören, ganze Ökosysteme zu vernichten und das Aussterben von Arten zu beschleunigen, die die gesamte natürliche Ordnung verändern. Dieses Phänomen ist kumulativ und beschleunigt sich, was zu einer raschen Zerstörung des Planeten führt. Die derzeitige "saubere Energiewende" ist lediglich ein Ausdruck des Kampfes zwischen Kapitalisten und ihrer Konkurrenz auf Leben und Tod. Es geht nur darum, wer zuerst auf den Markt kommt und seinen Konkurrenten die Kunden wegnimmt. Das ganze Gerede über ihre "Sorge" um die Umwelt ist Demagogie. Die sich verschlimmernde "ökologische Krise" beschleunigt sich und verursacht unannehmbare Verwüstungen. Die Vereinigten Staaten, deren ehemaliger Präsident Trump die Existenz des "Klimawandels" leugnete, sind mit den Auswirkungen dieser ökologischen Krise konfrontiert, und die führende Weltmacht ist weit davon entfernt, von "Naturkatastrophen" "verschont" zu bleiben, und hält sogar den zweifelhaften Weltrekord in der Zerstörung der Artenvielfalt. In der Tat kann der Kapitalismus nicht gleichzeitig ein wettbewerbsfähiges System und "ökologisch" sein, denn

- sein Ziel ist der Profit, nicht die Erhaltung der Natur, die vom Kapitalismus immer als eine Quelle freier Ressourcen betrachtet wird und an der ohne Folgen Raubbau betrieben werden kann;

- das "Jeder für sich" und die Anarchie der Produktion bedeuten, dass die Bourgeoisie keine Kontrolle über die "neuen Technologien" hat, sie ist der Zauberlehrling!

- Der technologische Fortschritt ist einseitig; er kümmert sich nie um die globalen Auswirkungen. Wenn die Gewinnung von Lithium für Autobatterien umweltschädlich ist und die Wiederverwertbarkeit auf 5 % sinkt, spielt das keine Rolle. Die Hauptsache ist, "grüne" Autos zu verkaufen.

- Die Trennung zwischen Mensch und Natur wird im Kapitalismus so extrem, dass der Mensch als "außerhalb" seiner natürlichen Umwelt stehend betrachtet wird.

Andererseits ändert die Rückkehr zur Kohle nichts an dem enormen Versagen des Kapitalismus bei der Beseitigung der Kohlenstoffemissionen, selbst wenn die Unternehmen eine zusätzliche Steuer zur Deckung der Umweltschäden zahlen, was nur ein Vorwand ist. Hatten die Europäer beschlossen, aus der Kernenergie auszusteigen, so versuchen sie nun, sie wieder einzuführen, um ihre Abhängigkeit von Russland und den USA auszugleichen. Dies ist ein weiteres Beispiel für das Versagen des Kapitalismus, der uns dazu drängt, alte Errungenschaften wiederzubeleben, auch wenn sie umweltschädlich sind. Jedes Land kümmert sich nur um sich selbst und die anderen leiden darunter!

Ein Übergang zu "grüner Energie" im Kapitalismus ist gleichbedeutend mit der Illusion eines Kapitalismus ohne Kriege.

E. Auf dem Weg zur absoluten Verarmung der Arbeiterklasse in den zentralen Ländern

Die unproduktiven Ausgaben des Kapitals werden nicht aufhören, der Militarismus und die Aufrechterhaltung des Staates werden ihren Tribut von der Arbeiterklasse fordern. Dieses Phänomen der Verarmung der Arbeiterklasse in den zentralen Ländern hat seine Geschichte, aber seit der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine hat es sich beschleunigt. Die Inflation verringert die Kaufkraft der ArbeiterInnen drastisch, und anders als in den 1970er Jahren greift die Bourgeoisie heute nicht auf eine Lohnindexierung zurück. So hat die Bourgeoisie im Vereinigten Königreich eine harte Haltung gegenüber Forderungen nach Lohnerhöhungen zum Ausgleich der Inflation eingenommen, der britische Premierminister hat gesagt, dass "keine Verhandlungen möglich sind".

- Der Slogan der britischen Streiks "Heizen oder essen" verdeutlicht den Ernst der Lage. Für viele Arbeiterfamilien ist es teurer, für Energie zu bezahlen als für die Hypothek: immer miserablere Löhne, steigende Lebenshaltungskosten, immer höhere Preise, Massenentlassungen, Kürzungen der sozialen Sicherheit, Angriffe auf die Renten usw. All dies deutet auf eine Zukunft des Elends hin, auf die das Proletariat reagieren muss, indem es seinen Klassenbrüdern und -schwestern in Großbritannien, Europa und sogar in den USA folgt. Eine Zukunft der Verarmung des Proletariats tut sich auf und beschleunigt sich.

- Der "Mangel an Arbeitskräften". Die Diskussion [auf dem IKS-Kongress] sollte eine Antwort auf dieses Phänomen geben: Ist der Mangel das Produkt einer "neuen" Beziehung zur Arbeit in einem Teil der Klasse? Ist er das Produkt der zunehmenden Anarchie, die sich des Kapitals bemächtigt und sowohl Arbeitslosigkeit (Überkapazität) als auch Personalmangel erzeugt? In diesem Bericht können nur einige Elemente genannt werden, wie zum Beispiel die folgenden:

- Die Logistik des Warenkapitalismus ist chaotisch, es gibt nicht genügend Fahrer und die Produkte verderben oder sind knapp. Im Gesundheitswesen gibt es zu viele freie Stellen, und im Bildungswesen verlassen die Lehrpersonen schnell ihren Arbeitsplatz. In China zum Beispiel findet jeder fünfte junge Mensch keinen "aussichtsreichen" Job und zieht es vor, ihn nicht anzunehmen. "Lass es verrotten" (bai lan) ist ein gängiger chinesischer Ausdruck für junge Menschen, die keine Arbeit annehmen wollen. Dahinter verbirgt sich offensichtlich ein individuelles und verzweifeltes Ergebnis, eine "private" Reaktion auf die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Die neuen Generationen wollen nicht mit dem Tempo der kapitalistischen Produktion leben. Dieses Phänomen ist gleichzeitig Ausdruck eines Mangels an Klassenidentität, sie organisieren sich nicht zum Kampf und nehmen nur eine individuelle Position angesichts eines eminent sozialen, wirtschaftlichen und politischen Problems ein. Die Kürzung der Arbeitslosenunterstützung, das Fehlen von Renten in vielen Ländern, die Zunahme von psychischen Erkrankungen und Suiziden, all dies schafft unerträgliche Lebens- und Arbeitsbedingungen.

Die Krise und die Aussicht auf eine weltweite Rezession schaffen die Voraussetzungen dafür, dass die Arbeitenden beginnen, ihre Kämpfe auf ihrem eigenen Terrain zu führen. "[D]ie Wirtschaftskrise [ist] im Gegensatz zum gesellschaftlichen Zerfall, der hauptsächlich den Überbau betrifft, ein Phänomen (...), das direkt die Infrastruktur der Gesellschaft selbst ergreift, auf denen dieser Überbau ruht; daher stellt die Krise die ultimativen Ursachen der gesamten Barbarei bloß, unter der  die Gesellschaft leidet, und ermöglicht somit der Arbeiterklasse, sich der Notwendigkeit einer radikalen Umwälzung dieses Systems bewußt zu werden, ohne zu versuchen, einige Teilaspekte zu verbessern" (Thesen zur Zerfall [13], Internationale Revue 12).

Januar 2023


[1] Resolution zur internationalen Lage [9], Internationale Revue 57

[2] Le Monde 17.12.2022

[3] Der Hunger ist während der Pandemie um etwa 18 % gestiegen und betrifft heute 720 bis 811 Millionen Menschen. Die Kürzung der Nahrungsmittelhilfe, ihre Neuausrichtung auf die Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingen oder die Umlenkung ihrer Mittel auf die erhöhten Militärausgaben haben dazu geführt, dass für Afghanistan, wo 23 Millionen Menschen von einer Hungersnot bedroht sind, und Somalia, wo ein Teil der Bevölkerung "unmittelbar vom Tod bedroht" ist, die erforderlichen Mittel nicht aufgebracht werden konnten.

[4] In Europa führt die erhebliche Verringerung der Düngemittelproduktion (die viel Erdgas verbraucht) aufgrund der hohen Energiepreise zu einem Rückgang des Düngemittelverbrauchs in der ganzen Welt, von Brasilien bis zu den Vereinigten Staaten, was den Umfang der nächsten Ernte gefährdet. Ein Beispiel: "Brasilien, der größte Sojaproduzent der Welt, bezieht fast die Hälfte seines Phosphatdüngers aus Russland und Weißrussland. Es hat nur noch Vorräte für drei Monate. Der brasilianische Verband der Sojaproduzenten (Aprosoja) hat seine Mitglieder aufgefordert, in diesem Jahr weniger oder gar keinen Dünger zu verwenden. Die brasilianische Sojabohnenernte, die durch die schwere Dürre ohnehin schon geschmälert wurde, wird dadurch wahrscheinlich noch geringer ausfallen. Brasilien verkauft seine Sojabohnen hauptsächlich an China, das einen Großteil davon als Tierfutter verwendet. Weniger und teurere Sojabohnen könnten die chinesischen Landwirte dazu zwingen, die Futterrationen für ihre Tiere zu reduzieren. Die Folge: kleinere Kühe, Schweine und Hühner - und teureres Fleisch."

[5] Alle Zitate in diesem Abschnitt stammen von Courrier International

[6] "Der Rückgang der öffentlichen Einnahmen aufgrund des westlichen Embargos für den Kauf von Gold, Kohle und Metallen führt dazu, dass bestimmte Regimenter nur periodisch Sold erhalten. Dies könnte dazu beitragen, dass sie sich weigern zu kämpfen oder gar kapitulieren." (Les Echos 17.09.2022)

[7] "Viele Fabriken des militärisch-industriellen Komplexes mussten ihre Produktion reduzieren oder sogar schließen, wie die Fabrik für Flugabwehrraketen in Uljanowsk, die Fabrik für Luft-Luft-Raketen in Wjmpel oder die Panzerfabrik in Uralwagonsawod, die wichtigste Produktionsstätte des Landes." (Les Echos 17.09.2022)

[8] "Obwohl Peking sich weigert, seinen wichtigsten strategischen Partner öffentlich zu desavouieren, haben sich die chinesischen Behörden weitgehend an die vom Westen gegen Russland verhängten Sanktionen gehalten. Chinesische Unternehmen sind westlichen Unternehmen in ihrem Exodus vom russischen Markt gefolgt: Die chinesischen Tech-Giganten – Lenovo, TikTok und Huawei – haben alle ihre Aktivitäten in Russland blockiert, während die chinesischen Erbauer der arktischen Module für das russische Gas-Megaprojekt Arctic-LNG2 beschlossen haben, ihre Zusammenarbeit mit Novatek zu beenden. Und schließlich hat UnionPay, einer der weltweit größten staatlich kontrollierten Zahlungsabwickler, entgegen den Beteuerungen der offiziellen Kreml-Propaganda seine Pläne zur Zusammenarbeit mit russischen Banken Ende April auf Eis gelegt und damit deren Hoffnungen auf eine Alternative zu den amerikanischen Zahlungsriesen Visa und Mastercard zunichte gemacht. Dieser komplexe Pas-de-deux sollte in den Augen Pekings die chinesischen Interessen schützen und die Auswirkungen des Krieges auf die chinesische Wirtschaft minimieren..." Aerion24.news [32], 11.09.2022

[9] "Rechnet man [zu den reinen Militärausgaben] die humanitäre Hilfe, die wirtschaftliche Nothilfe und die Flüchtlingshilfe hinzu, haben die EU und ihre Mitgliedstaaten nach Angaben des Kieler Instituts mehr Hilfe geleistet als die Vereinigten Staaten, nämlich 52 Milliarden Dollar gegenüber 48 Milliarden Dollar für Washington." (Les Echos, 3./4.02.2023)

[10] IFRI, Le Point Géopolitique, Les guerres de l'énergie, S. 6

[11] Das Beispiel Südafrika zeigt die allgemeine Natur des Problems: Zu den Auswirkungen der Dürre und der Wasserknappheit, die das Land in diesem Herbst erlebt, kommt eine Energiekrise ungekannten Ausmaßes hinzu, die auf die Veralterung und den Ausfall der alten Kohlekraftwerke zurückzuführen ist, die ständige Stromausfälle verursachen, die das Abpumpen des Wassers in den Drakensbergen und seine Lieferung an Johannesburg und Pretoria, die rationiert sind, verhindern, während 40 % in Lecks im Netz verschwinden. Um die gesamte Infrastruktur zu reparieren, wären jedoch 3,4 Milliarden Euro erforderlich, über die die Wasserbehörde nicht verfügt.

[12] In der chemischen Industrie (dem größten Gasverbraucher) ist die Produktion beispielsweise drastisch zurückgegangen; 70 % des Sektors verzeichneten Verluste; bei der BASF sind ganze Bereiche nicht mehr rentabel oder wettbewerbsfähig, was zu einem Rückgang der Ergebnisse um 30 % geführt hat. Ganz Europa (das 60 % der Ausfuhren dieses Sektors aufnimmt) ist davon betroffen!

[13] Conflits Nr. 42

[14] Die Überschwemmungen haben die Ernten in diesem Land, das weltweit an fünfter Stelle der Baumwollproduzenten steht, fast vollständig zerstört. Für die Textilindustrie, die 10 % des BIP ausmacht, ist dies ein kolossaler Verlust; die Landwirtschaft im Sindh wurde zerstört, der Viehbestand dezimiert, der Rest der Krankheit überlassen: "Die Ernährungssicherheit der 220 Millionen Einwohner ist in Gefahr" (Le Monde 14.09.2022). Hinzu kommen die Geißeln Malaria, Dengue-Fieber, Cholera und Typhus. Als viertgrößter Reisproduzent und -lieferant für China und die afrikanischen Länder südlich der Sahara "wird jeder Rückgang der Exporte die weltweite Ernährungsunsicherheit nur noch verstärken, die durch den Rückgang der Weizenexporte aus der Ukraine noch verstärkt wird" (Le Monde 14.09.2022).

[15] Les Echos, 23./24.12.2022

[16] Révolution Internationale Nr. 6, alte Serie

[17] "Die Inflation sollte nicht mit einem anderen Phänomen im Leben des Kapitalismus verwechselt werden, nämlich dem Anstieg der Preise für bestimmte Waren aufgrund eines unzureichenden Angebots. Dieses Phänomen hat in letzter Zeit aufgrund des Krieges in der Ukraine ein besonderes Ausmaß angenommen, was die Versorgung mit einer beträchtlichen Menge verschiedener landwirtschaftlicher Produkte beeinträchtigt hat, deren Mangel bereits ein Faktor der Verschlimmerung von Elend und Hunger in der Welt ist. Die Inflation ist ein ständiges Merkmal der dekadenten Periode des Kapitalismus, das die Wirtschaft stark beeinträchtigt. Wie der Angebotsmangel schlägt sie sich in steigenden Preisen nieder, aber sie ist die Folge des Gewichts der unproduktiven Ausgaben in der Gesellschaft, deren Kosten auf die Kosten der produzierten Güter umgelegt werden. Schließlich ist ein weiterer Inflationsfaktor die Folge der Abwertung der Währungen, die sich aus dem Rückgriff auf das Drucken von Geld ergibt, das den unkontrollierten Anstieg der weltweiten Verschuldung begleitet, die sich derzeit 260 % des weltweiten BIP nähert."

[18] Marianne Nr. 1341

[19] "Viele Zahlungsausfälle sind absehbar. Der IWF schätzt, dass zwei Drittel der einkommensschwachen Länder und ein Viertel der Schwellenländer mit ernsthaften Schuldenproblemen konfrontiert sind." (Le Monde 24.09.2022)

[20] Der Brexit hat zu einem Abwürgen der britischen Wirtschaft geführt: "Das Vereinigte Königreich ist das einzige fortgeschrittene Land, dessen Exporte im vergangenen Jahr gesunken sind und unter dem Niveau vor dem Brexit bleiben (...) die Unternehmensinvestitionen blieben 10 % unter dem Niveau von Mitte 2016." (Les Echos 24.09.2022) "Mit dem Brexit ist der europäische Finanzpass, der den Verkauf von Produkten in der gesamten EU ermöglichte, verloren gegangen. Etwa zehntausend Banker haben den Finanzplatz London verlassen und sind nach Dublin, Frankfurt, Paris, Luxemburg oder Amsterdam gezogen. (...) Ein weiteres Phänomen: Seit Ende 2019 ist die Zahl der Arbeitsplätze im britischen Finanzsektor um 76.000 gesunken (von derzeit insgesamt 1,06 Millionen) ... Der Brexit hat beim Niedergang der City im Zusammenhang mit den rund zehntausend verlagerten Arbeitsplätzen eine wichtige Rolle gespielt, aber hauptsächlich indirekt, weil die großen internationalen Finanzinstitute sich entschieden haben, anderswo zu investieren." (Le Monde 19.11.2022)

[21] "Diese Angleichung an die Europäische Kommission und ihre Austeritätsdoktrin wird für einen großen Teil der Wählerschaft von Frau Meloni nicht unproblematisch sein." (Le Monde Diplomatique, Dezember 2022)

[22] "Seit den frühen 1980er Jahren träumten die Vereinigten Staaten unter Reagan davon, Europa vom russischen Gas abzuschneiden. Sie übten enormen Druck aus. Sie übten enormen Druck aus, damit die Gaspipeline Nord Stream 1 nie das Licht der Welt erblickte, und taten dies Jahre später bei Nord Stream 2 erneut, indem sie sogar mit Sanktionen gegen Unternehmen drohten, die sich an dem Projekt beteiligen würden. Der Krieg in der Ukraine ist für sie ein Geschenk des Himmels."

[23] "Eine Geschichte sorgte im letzten Frühjahr [2022] für Schlagzeilen: Ein LNG-Tanker verließ Freeport, Texas, am 21. März mit dem Ziel Asien. Doch nach zehn Tagen Fahrt änderte er mitten im Pazifik abrupt seinen Kurs, um nach Europa umzukehren (...) Die hohen Prämien, die auf dem Alten Kontinent für diese kostbare LNG-Ladung geboten wurden, überzeugten BP, das Unternehmen, das das Schiff gechartert hatte, seine Pläne zu ändern." (Le Point Géopolitique, Les guerres de l'énergie, S. 36) "Anfang November kreisten etwa 30 Gastanker, beladen mit LNG im Wert von 2 Milliarden Dollar, vor der spanischen Küste und den nordeuropäischen Terminals. Wann werden sie entladen? ‚Die Makler, die die Tanker kontrollieren, warten darauf, dass die Preise steigen, wenn die Temperaturen im Winter sinken‘, schreibt die FT (4/11/2022)" (Le Monde Diplomatique, Dezember 2022)

[24] Die Auswirkungen der Krise auf die US-Wirtschaft, die relative Erosion des Gewichts der US-Wirtschaft in der Welt, die Auswirkungen des Zerfalls ihres politischen Apparats sowie die historische Tendenz, ihre Führungsrolle zu verlieren, sollten nicht dazu führen, dass die Realität der Vormacht der Vereinigten Staaten und ihre Fähigkeit, sie auf allen Ebenen zu verteidigen, unterschätzt wird: "Die Vereinigten Staaten verfügen über ein einzigartiges panoptisches System, das es ihnen erlaubt, die meisten Nervenzentren der Globalisierung zu kontrollieren. ‚Global' bleibt das Adjektiv, das ihre Macht und Strategie am besten beschreibt. Sie stützen sich auf ein Überwachungssystem und die gleichzeitige Kontrolle der "gemeinsamen Räume": Meer, Luft, Raum und Digitales. Die ersten drei entsprechen unterschiedlichen physischen Umgebungen, die von der vierten durchdrungen werden. Dank des Dollars und des Gesetzes, garantiert durch ihre überwältigende militärische Überlegenheit, behalten die Vereinigten Staaten eine gewaltige Macht der Strukturierung und damit der Destrukturierung". T. Gomart, Guerres invisibles („Unsichtbare Kriege"), 2021, S. 251

[25] L'Express Nr. 3725

[26] "Seit 2020 übersteigen die Exporte die Importe, und der Hauptlieferant ist ein Land, zu dem es in den kommenden Jahren gute Beziehungen unterhalten dürfte, da es sich um Kanada handelt (51 % des importierten Erdöls stammen von seinem nördlichen Nachbarn). Eine Energieversicherung, die es den USA ermöglicht, eine offensive Diplomatie in der Ukraine zu betreiben" (Le Point Géopolitique, Les guerres de l'énergie, S. 7).

[27] "In der ersten Hälfte des Jahres 2022 stiegen die LNG-Exporte (alle Länder) um 20 %, wobei fast zwei Drittel nach Europa gingen. Amerika hat ein erhebliches Potenzial. Erstens, weil es einen politischen Konsens gibt, weiter in Schiefergas zu investieren. Zweitens, weil sie über das umfangreichste Pipelinenetz aller Länder verfügen. Und schließlich, weil sie massiv in Verflüssigungsterminals investieren. (...) Rund um den Golf von Mexiko, südlich von Louisiana, von Texas bis Florida, wird eine LNG-Revolution geschrieben. In Amerika gibt es derzeit nur 8 Verflüssigungsterminals. Aber fünf sind noch im Bau, 12 weitere sind bereits genehmigt und warten auf die Genehmigung, und acht Genehmigungen sind in Arbeit." L'Express Nr. 3725

[28] "Die meisten europäischen Länder haben Bestellungen aufgegeben. Allen voran Deutschland, das angekündigt hat, bis zu 35 F35-Kampfflugzeuge von Lockheed Martin kaufen zu wollen. Die Royal Navy wird 300 Millionen Euro investieren, um die Fähigkeiten ihrer Tomahawk-Raketen zu verbessern. Die Niederlande haben eine Milliarde Euro für Patriot-Mittelstrecken-Raketenabwehrsysteme auf den Tisch gelegt. Estland hat in diesem Sommer sechs Himars-Systeme und eine ballistische Rakete bestellt, die ein fast 300 km entferntes Ziel erreichen kann. Bulgarien beschloss im September, seine Bestellung von F16-Kampfjets im Gesamtwert von 1,3 Milliarden Dollar weiter aufzustocken." L'Express Nr. 3725

[29] "Das Kapital verlässt die Schwellenländer und schwächt dabei ihre Währungen. (Die ghanaische Währung -41%, der taiwanesische Dollar -13%, der mongolische Tugrik -16%) (...) Elf Schwellenländer riskieren eine Zahlungsbilanzkrise aufgrund der internationalen Währungsstraffung (Chile, Pakistan, Ungarn, Kenia, Tunesien)." Le Monde 13.10.2022

[30] Eine weitere Belastung für den internationalen Handel ist die Erhöhung der Zölle durch viele Länder, darunter auch die Vereinigten Staaten. Seit 2010 ist der Wert des Welthandels, der Zöllen und anderen Schranken unterliegt, laut WTO von 126 Milliarden Dollar auf 1,5 Billionen Dollar gestiegen.

[31] Angesichts "'des Endes der liberalen Ära der Globalisierung' (Lemaire) haben auch die französischen Arbeitgeber ihre Doktrin geändert... und befürworten einen 'intelligenten Protektionismus'". Les Echos 23./24.12.2022

[32] Fast ein Viertel der auf dem Kontinent verbrauchten Maiskolben wird außerhalb der EU-Grenzen angebaut, insbesondere in der Ukraine, die im Laufe der Jahre zu unserem Hauptlieferanten geworden ist. Da die Kämpfe die Aussaat gestört haben, könnte die Produktion des Landes in diesem Jahr um 10 bis 15 Millionen Tonnen zurückgehen.

[33] L'Express Nr. 3725

[34] "Für Washington kann Europa China nicht gleichzeitig als Partner, Konkurrent und Rivale betrachten", Bloomberg, 21.11.2022.

[35] „Joe Biden unterzeichnete im vergangenen August den "Chips and Science Act", mit dem Milliarden von Dollar in die Industrie fließen sollen, darunter 57 Milliarden Dollar in Form von Darlehen, Zuschüssen und anderen steuerlichen Maßnahmen, um die US-Halbleiterhersteller zum Aufbau von Kapazitäten zu ermutigen.“ Asyalist

[36] Die Mitgliedsstaaten dieses Abkommens sind: Australien, Brunei, Indien, Indonesien, Japan, Südkorea, Malaysia, Neuseeland, die Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam. Zusammen mit den Vereinigten Staaten repräsentieren sie 40 % des weltweiten BIP.

[37] Le Monde 17.12.2022

[38] Bloomberg, 21.11.2022

[39] "Laut einer Studie des chinesischen Staatsrats vom vergangenen April, deren Text Japan zugespielt wurde, hätten diese Sanktionen "dramatische Auswirkungen auf China", das "zu einer von der Welt abgeschnittenen Planwirtschaft zurückkehren würde. Es bestünde dann die ernste Gefahr einer Nahrungsmittelkrise", da diese Sanktionen durch die Unterbrechung der Importe von wichtigen Nahrungsmitteln Schaden anrichten würden. Ein Importstopp für Sojabohnen würde insbesondere die chinesischen Lebensmittelketten, die in hohem Maße von Sojabohnen abhängig sind, in eine Krise stürzen, während eine Verringerung oder ein Stopp der Exporte schwerwiegende Folgen für die finanziellen Einnahmen hätte, heißt es in dem Dokument aus Peking. China importiert 30 % seines Sojabohnenbedarfs aus den Vereinigten Staaten. Die chinesische Sojabohnenproduktion deckt weniger als 20 % des Bedarfs des Landes. Sojabohnen sind wichtig für die Herstellung von Speiseölen und für die Fütterung von Schweinen, die 60 % des von den Chinesen konsumierten Fleisches ausmachen.“

[40] Conflits Nr. 41, Sept.-Okt. 2022

[41] T. Gomart, Guerres invisibles, 2021, S. 242

[42] Dies wird durch die jüngsten Äußerungen von Finanzministerin Janet Yellen belegt: "Im Jahr 2022 förderte die Biden-Administration einen Wirtschaftsplan zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit der USA gegenüber Versorgungsunterbrechungen, indem sie Engpässe in den Häfen beseitigte, stark in die physische Infrastruktur investierte und inländische Produktionskapazitäten in Schlüsselsektoren des 21. Jahrhunderts wie Halbleiter und erneuerbare Energien aufbaute. (...) Die Regierung Biden beabsichtigt, die Effizienz des Handels aufrechtzuerhalten und gleichzeitig die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit der Vereinigten Staaten und ihrer Partner zu fördern, indem sie einen ‚Friend-Sharing‘-Ansatz verfolgt. (...) Das Ziel des 'Friend-Sharing'-Ansatzes ist die Vertiefung unserer wirtschaftlichen Integration mit einer großen Anzahl von vertrauenswürdigen Handelspartnern, auf die wir uns verlassen können. (...) Im Rahmen des EU-US-Handels- und Technologierates arbeiten wir gemeinsam an der Schaffung sicherer Lieferketten in den Bereichen Solarenergie, Halbleiter und seltene Erden. Die Vereinigten Staaten schmieden ähnliche Partnerschaften im Rahmen des Indo-Pazifischen Wirtschaftsrahmens (IPEF) und in Lateinamerika im Rahmen der Amerikanischen Partnerschaft für wirtschaftlichen Wohlstand. Die am IPEF beteiligten Länder, auf die 40 % des weltweiten BIP entfallen, haben sich verpflichtet, ihre Anstrengungen zur Diversifizierung der Lieferketten zu koordinieren. (...) Das 'Friend-Sharing' wird schrittweise umgesetzt. Es werden bereits neue Lieferketten entwickelt. Die EU arbeitet mit Intel zusammen, um Investitionen in Höhe von rund 90 Milliarden Dollar in den Aufbau einer Halbleiterindustrie zu ermöglichen. Die USA arbeiten mit ihren zuverlässigen Partnern an der Entwicklung eines umfassenden Halbleiter-Ökosystems in den Vereinigten Staaten. Wir arbeiten auch mit Australien zusammen, um in unseren beiden Ländern Anlagen für den Abbau und die Verarbeitung seltener Erden zu errichten." (Le Monde 1./2.01.2023)

[43] "Der Handelskrieg ist einer der Schauplätze, auf denen sich die chinesisch-amerikanische strategische Rivalität abspielt, mit einer wichtigen Konsequenz für alle Beteiligten: die Umwandlung von Interdependenzen in Hebel der Macht (...). Indem sie das multilaterale System, das sie selbst aufgebaut hatten, aufgaben, destabilisierten [die Vereinigten Staaten] ihre traditionellen Verbündeten bewusst und bekundeten gleichzeitig ihren Wunsch, weiterhin ihre strukturierende Macht auszuüben. Selbst wenn sie die Formen des Multilateralismus beibehält, wird die Biden-Administration sie nutzen, um Chinas Machtaufstieg so weit wie möglich einzudämmen", T. Gomart, Guerres invisibles, 2021, S. 112

[44] Drittes Manifest der IKS. Der Kapitalismus führt zur Zerstörung der Menschheit, nur die Weltrevolution des Proletariats kann dem ein Ende setzen [33]

[45] Die Beschleunigung des kapitalistischen Zerfalls wirft offen die Frage der Vernichtung der Menschheit auf [4], Internationale Revue, online 2022

[46] Weltbank, Juni 2022

[47] Foreign Affairs, zit. nach Courrier International 1674

[48] Thesen zur ökonomischen und politischen Krise in der UdSSR und den osteuropäischen Ländern [30], Internationale Revue 12

[49] Inoffizielle Bezeichnung für die wirtschaftlichen Maßnahmen, die in Argentinien während der Wirtschaftskrise 2001 ergriffen wurden, um den Liquiditätswettlauf zu beenden und die Kapitalflucht zu bekämpfen: Begrenzung der Bargeldabhebungen und Verbot aller Überweisungen ins Ausland.

[50] Länder, in denen gewisse Fabriken von Zöllen befreit sind, um Waren zu niedrigeren Kosten zu produzieren.

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25. IKS-Kongress

Resolution zur internationalen Lage, Dezember 2023 (Ergänzung zur Resolution des 25. Internationalen Kongresses der IKS zur internationalen Lage)

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Einführung

Die Entwicklung der Weltlage seit dem 25. Kongress der IKS im Frühling 2023 bestätigt voll und ganz, was wir in der damals angenommenen Resolution zur internationalen Lage sagten. Nicht nur, dass der Zerfall zum entscheidenden Faktor in der gesellschaftlichen Entwicklung wird, wie wir bereits 1990 vorausgesehen haben,[1] sondern in diesem Jahrzehnt «führt die Aggregation und Interaktion zerstörerischer Phänomene zu einem 'Strudeleffekt', der jede seiner Teilwirkungen bündelt, katalysiert und vervielfacht, indem er noch verheerendere Verwüstungen verursacht».[2]

Konkret verschärft sich die Wirtschaftskrise, und die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse verschlechtern sich erheblich, was einen "Bruch" mit der Situation der Passivität und die Entwicklung von Kampfbereitschaft und möglicherweise eines Bewusstseins begünstigt, das eine Bewegung hin zur Annahme einer revolutionären Perspektive zum Ausdruck bringt, auch wenn sie noch langsam und zerbrechlich ist. Gleichzeitig zeigen die ökologischen Verschlechterungen und die Vervielfachung der imperialistischen Kriegsgebiete (Ukraine, Armenien/Aserbaidschan, Bosnien, Afrika, Naher Osten) die Perspektive der Zerstörung und des Ruins, die der Kapitalismus der Menschheit bietet.

Im Bereich der Umweltkatastrophe lassen die jüngsten Ereignisse keinen Raum für Zweifel oder Relativierung der Folgen ökologischer Schäden für die Bewohnbarkeit des Planeten und das Überleben vieler Arten (einschließlich der menschlichen Spezies). Jüngste Beispiele sind die massiven Überschwemmungen in Pakistan oder der Temperaturanstieg in diesem Sommer auf über 40 Grad in den Ländern Südeuropas, die Umweltverschmutzung, die in Indien zur Schließung der Schulen während der Weihnachtsferien im November geführt hat und bei jedem dritten Kind Atemprobleme verursacht, die aktuelle Lungenentzündungsepidemie bei Kindern in China, die Hungersnöte in Afrika usw.

Von allen Elementen des "Strudeleffekts" ist es jedoch der imperialistische Krieg, der den Gang der Ereignisse in der Weltlage unmittelbar beschleunigt. Seit dem 25. Kongress im Frühling 2023 erleben wir eine Art Patt im Krieg in der Ukraine, das Wiederaufflammen des Krieges in Berg-Karabach, die kriegerischen Spannungen auf dem Balkan und vor allem den Krieg zwischen Israel und der Hamas. Im Hintergrund steht die wachsende Konfrontation zwischen den USA und China. Diese Häufung von Konflikten ist nicht Ausdruck einer Dynamik zur Bildung imperialistischer Blöcke, sondern bestätigt die "Jeder für sich"-Tendenz der imperialistischen Konfrontationen in dieser Periode.

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1. Was die Analyse der imperialistischen Konfrontationen während des Kalten Krieges anbelangt, so haben sich die Koordinaten der marxistischen Analyse in der gegenwärtigen Situation verändert, vor allem, was die Möglichkeit der Bildung imperialistischer Blöcke und die Konfrontation der Klassen anbelangt. Trotzdem beharren die Bordigisten (Programma, Le Prolétaire, Il Partito) und Damenisten (ICT) darauf, in der gegenwärtigen Situation die Bildung von zwei gegensätzlichen imperialistischen Blöcken um China und die USA zu sehen und damit den Marsch in Richtung eines dritten Weltkriegs, der auf der Annahme der Niederlage des Proletariats beruht. In der Tat neigen selbst die "Experten" der Bourgeoisie dazu, die vorherrschende Tendenz der imperialistischen Konflikte in Richtung "Multipolarität" anzuerkennen.[3]

In der Resolution des 24. Kongresses 2021 zur internationalen Lage haben wir geschrieben:

"Der Weg zum Krieg wird immer noch durch die starke Tendenz des „Jeder-für-sich“ und Chaos auf imperialistischer Ebene behindert, während der Kapitalismus in den zentralen kapitalistischen Ländern noch nicht über die politischen und ideologischen Elemente verfügt – einschließlich insbesondere einer politischen Niederlage der Arbeiterklasse –, welche die Gesellschaft ‚vereinigen‘ und den Weg zum Weltkrieg ebnen könnten. Die Tatsache, dass wir immer noch in einer im Wesentlichen multipolaren Welt leben, wird insbesondere durch das Verhältnis zwischen Russland und China verdeutlicht. Während Russland sich in bestimmten Fragen sehr willig gezeigt hat, sich mit China zu verbünden, im Allgemeinen in Opposition zu den USA, ist es sich nicht weniger der Gefahr bewusst, sich seinem östlichen Nachbarn unterzuordnen, und ist einer der Hauptgegner von Chinas "Neuer Seidenstraße" in Richtung imperialistischer Hegemonie."[4]

2. Die Anerkennung des unkontrollierten Verhältnisses der imperialistischen Kräfte, das im Wesentlichen durch die Tendenz zum "Jeder für sich" gekennzeichnet ist, darf nicht dazu führen, dass die Gefahr der Explosion unkontrollierter militärischer Konflikte unterschätzt wird, wie es zu Beginn des Krieges in der Ukraine 2022 der Fall war. Der Konflikt zwischen den USA und China könnte durchaus zu einer direkten militärischen Konfrontation führen, so dass die Gefahr eines offenen Konflikts in diesem Bereich (die in der Resolution des 25. Kongresses zur internationalen Lage etwas unterschätzt wurde) weiter analysiert werden muss.

Die erklärte geopolitische Strategie der USA seit 1989 besteht darin, das Entstehen einer Macht zu verhindern, die es mit ihrer massiven militärischen Überlegenheit auf der Weltbühne aufnehmen könnte. Diese Doktrin bestätigte gleichzeitig, dass ihr primäres Ziel nicht die Wiederherstellung eines Blocks war, und deutete darauf hin, dass sie im Gegensatz zum Ersten und Zweiten Weltkrieg, wo sie in einer defensiven Haltung abwarteten, bevor sie als Sieger hervorgingen, jetzt auf der Weltbühne in die militärische Offensive gehen und die dominierende Kraft der imperialistischen Destabilisierung werden mussten.

Die Fiaskos im Irak und in Afghanistan haben gezeigt, dass die Politik des Weltpolizisten nur noch mehr Chaos erzeugt und gleichzeitig den Niedergang des US-Imperialismus verdeutlicht. In jüngster Zeit haben sie versucht, mit einer strikteren Verteidigung ihrer eigenen Interessen zu reagieren (Trumps "America first" und Bidens "America is back"), auch wenn dies ein noch größeres Chaos auslöst. Wie wir bereits festgestellt hatten, stellt Chinas enorme wirtschaftliche, technologische und militärische Entwicklung eine Bedrohung für die amerikanische Vorherrschaft dar.

Aus diesem Grund entwickeln die USA eine Politik, die darauf abzielt, das Fortschreiten der wirtschaftlichen, technologischen und militärischen Entwicklung in China zu behindern, und zwar durch die Verlagerung von Unternehmen, die Einschränkung der Zusammenarbeit in der universitären Spitzenforschung, die Blockierung von Technologieexporten, die "Quadrupel-Chip-Allianz" zwischen den USA und Taiwan, Japan und Südkorea, die darauf abzielt, China von den weltweiten Lieferketten für Mikrochips zu isolieren, usw. Auf der militärischen Seite versuchen die USA mit Initiativen wie QUAD, der "NATO Asiens", in der sich die USA mit Japan, Indien, Australien und Südkorea zusammenschließen, oder AUKUS, einem militärischen Kooperationsabkommen mit Australien und dem Vereinigten Königreich, eine geopolitische Einkreisung zu erreichen, um die Kontrolle über den Indopazifik und den asiatischen Kontinent zu gewährleisten. Die Einkreisung der USA wird immer enger, und die letzten Schritte waren die Einrichtung amerikanischer Militärstützpunkte auf den Philippinen und die Gewinnung Vietnams als Verbündeten in der Region. Letztlich verfolgen die USA mit dem Krieg in der Ukraine auch das Ziel, China strategisch und militärisch zu isolieren, Russland auszubluten, ihm jegliche weltmachtpolitische Bedeutung zu nehmen und zu verhindern, dass China seine Militärtechnologie, seine Energieressourcen und seine Erfahrung im imperialistischen "Great Game" der Welt nutzen kann. Der blutige Stillstand des Krieges in der Ukraine hat dieses US-Projekt des Ausblutens Russlands vorangetrieben.

In jüngster Zeit wurde die Politik der Einkreisung Chinas durch eine Reihe von Provokationen verstärkt, wie den Besuch von Pelosi in Taipeh, den Abschuss von Wetterballons, die angeblich der Spionage dienten, die Ankündigung von 345 Millionen Dollar Militärhilfe für Taiwan oder Bidens Erklärungen, dass die USA nicht zögern würden, Truppen auf die Insel zu schicken, um sie vor einer chinesischen Invasion zu verteidigen.

All diese amerikanischen Initiativen deuten auf eine Strategie der Isolierung und Provokation Chinas hin, das die USA in verfrühte Konfrontationen zu drängen versuchen, für die es noch nicht gerüstet ist und die zu militärischen Zusammenstößen führen könnten. Damit wird die Politik der Einkreisung der "UdSSR" wiederholt, die diese dazu zwang, sich in imperialistische Abenteuer zu verwickeln, die ihre realen wirtschaftlichen und militärischen Möglichkeiten überstiegen, und die schließlich zum Zusammenbruch des von ihr angeführten imperialistischen Blocks führte.

Es besteht kein Zweifel daran, dass China dazugelernt und die Lehren aus dem Zusammenbruch des Ostblocks zur Kenntnis genommen hat; aber wir sollten nicht ausschließen, dass es angesichts der Fortsetzung und Verschärfung des Drucks der USA am Ende keine andere Wahl hat, als zu reagieren; und deshalb sollten wir die Möglichkeit eines Konflikts, insbesondere im Chinesischen Meer um Taiwan, nicht unterschätzen. Es liegt auf der Hand, dass im Falle eines solchen Konflikts die Folgen für die ganze Welt katastrophal und schrecklich wären, auch wenn das Ausmaß eines solchen Konflikts durch mehrere Faktoren begrenzt wäre, insbesondere durch das Fehlen globaler imperialistischer Blöcke und die Unfähigkeit der US-Bourgeoisie, eine unbesiegte Arbeiterklasse in eine umfassende Mobilisierung für einen Krieg zu ziehen.

3. Der blutige Konflikt, der derzeit im Nahen Osten herrscht, ist gerade im Zusammenhang mit der chaotischen und unvorhersehbaren Ausweitung der Tendenz jeder imperialistischen Macht entstanden, für sich selbst zu handeln, und nicht aus einer Bewegung zur Festigung von Blöcken.

Der Rückzug einer starken US-Militärpräsenz im Nahen Osten übertrug Israel die Aufrechterhaltung der Pax Americana in der Region im Rahmen der Osloer Abkommen (1993), die den Grundsatz der "zwei Staaten" (also eines lokalen palästinensischen Staates) anerkannten. Es herrschte scheinbar Ruhe, die sogar die Unterzeichnung des Abraham-Abkommens im Jahr 2020 ermöglichte, das den Frieden zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten unter Ausschluss des Irans sanktionierte. In der Praxis hat Israel jedoch seine Politik der Schikanierung der arabischen Bevölkerung und der Unterstützung der Siedler im Westjordanland fortgesetzt und intensiviert und die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) sabotiert, indem es die Hamas unterstützte, die nun ihr Todfeind ist, und damit in der Praxis das amerikanische Mandat sabotierte. Die Situation hat mit der Netanjahu-Regierung in Verbindung mit der extremen Rechten eine Grenze erreicht. Der Finanzminister hat die Armee aufgefordert, sich für die Angriffe auf die Siedler mit dem Niederbrennen palästinensischer Häuser zu rächen, und die Präsenz der israelischen Soldaten konkurriert mit der der PA-Polizei. Die Hamas, die die letzten Wahlen im Gazastreifen gewonnen hat, wollte das Schicksal des Westjordanlandes nicht tatenlos abwarten und hat einen verzweifelten Angriff gestartet. Dieser Angriff fiel jedoch mit den Ambitionen einer anderen Regionalmacht – dem Iran – zusammen, der seine Präsenz in der Region geschwächt sah und der seinerseits unter der Schirmherrschaft Chinas im März ein Abkommen mit Saudi-Arabien über die "Seidenstraße" unterzeichnet hatte, das in direkter Konkurrenz zu dem von Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten steht.

Das Wall Street Journal machte öffentlich, was alle wussten: Der Hamas-Anschlag wurde offen vom Iran und der Hisbollah im Südlibanon vorbereitet und unterstützt.

Israels Antwort, die Zerstörung des Gazastreifens unter dem Vorwand, die Hamas auszulöschen, zeigt eine Politik der verbrannten Erde auf beiden Seiten. Die mörderische Wut der Hamas findet in Israels vernichtender Rache die andere Seite der Medaille. Und auf globaler Ebene ist das Feuer in der Region ein Aufruf zum Eingreifen anderer regionaler Mächte, insbesondere des Iran, der der Hauptnutznießer der Situation ist, in der das regionale Gleichgewicht gestört ist.

Dies ist jedoch nicht im Sinne der USA. Die Biden-Administration hatte keine andere Wahl, als die Reaktion der israelischen Armee widerwillig zu unterstützen, indem sie – wenn auch vergeblich – versuchte, die Spannungen abzubauen, und war gezwungen, ihre militärische Präsenz in der Region wiederherzustellen, indem sie "neben dem Flugzeugträger Ford den Kreuzer Normandy und die Zerstörer Thomas Hudner, Ramage, Carney und Roosevelt entsandte und die Präsenz von F-35-, F-15-, F-16- und A-10-Kampfflugzeugstaffeln in der Region verstärken wird".[5] Einige mussten bereits angesichts der Angriffe auf amerikanische Truppen im Irak eingreifen. Ziel ist es, den Iran um jeden Preis von einer direkten oder über die Hisbollah durchgeführten Intervention abzuhalten, aber auch Israel davon abzuhalten, seine Drohung, den Iran "von der Landkarte zu tilgen", wahr zu machen.

Russland seinerseits profitiert zweifellos davon, dass sich der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit und der Kriegspropaganda von der Ukraine nach Palästina verlagert. Dies beeinträchtigt die finanziellen und militärischen Ressourcen, die die USA an der russischen Front einsetzen könnten, und "verschafft eine Atempause" für die Intensität ihres Krieges dort. Darüber hinaus profitiert Putin von der Unterstützung der USA für die Grausamkeit der israelischen Unterdrückung, indem er die Heuchelei der amerikanischen Gesellschaft und des "Westens" anprangert, der seinerseits die Besetzung der Krim kritisiert, aber der Invasion in Gaza zustimmt. Russland kann jedoch seine eigenen Interessen in der Region durch diesen Krieg nicht wesentlich voranbringen.

China mag die Abschwächung der US-Politik des "Schwenks nach Osten" ebenfalls begrüßen, aber Krieg und die Destabilisierung der Region laufen seinen eigenen geopolitischen Interessen bei der Gestaltung der neuen Seidenstraße zuwider.

Der gegenwärtige Krieg im Nahen Osten ist daher nicht das Ergebnis der Dynamik der imperialistischen Blockbildung, sondern des "Jeder für sich". Ebenso wie die Konfrontation in der Ukraine bestätigt dieser Krieg die vorherrschende Tendenz der globalen imperialistischen Situation: eine wachsende Irrationalität, die durch die Tendenz jeder imperialistischen Macht, für sich selbst zu handeln, und die blutige Politik der dominierenden Macht, der USA, genährt wird, um ihrem unvermeidlichen Niedergang entgegenzuwirken, indem sie den Aufstieg jedes potenziellen Herausforderers verhindert.

4. Der Krieg im Nahen Osten wirkt sich auf die gesamte Arbeiterklasse in den zentralen Ländern noch stärker aus als derjenige in der Ukraine. Einerseits, weil in einigen Ländern wie Frankreich ein großer Prozentsatz der Einwanderer aus arabischen Ländern kommt[6]. Zum anderen aber auch, weil die "Verteidigung des palästinensischen Volkes" seit langem zum Gepäck der "linken Ideologie" der trotzkistischen und anarchistischen Gruppen gehört und auch, das muss gesagt werden, zur Unterstützung der "nationalen Befreiung" einiger bordigistischer Gruppen wie Programma. So haben wir Demonstrationen zur Verteidigung der Palästinenser und für den Frieden von 30.000 Leuten in Berlin, 40.000 in Brüssel und 35.000 in Madrid, mehr als 500.000 in London gesehen. Auf der anderen Seite geht der Zionismus in Deckung hinter der "Judenfrage", die nicht nur historisch aufgeladen ist, sondern auch einen Teil der Bevölkerung in Europa und den USA betrifft. Dies erklärt die Demonstrationen und Aktionen gegen den Antisemitismus in Frankreich, in letzter Zeit in London, Paris oder in Deutschland; und auch die Kampagnen an amerikanischen Universitäten wie Harvard, wo Studierende, die die Massaker anprangerten, des Antisemitismus bezichtigt wurden.

Trotzdem wird der Krieg im Nahen Osten wahrscheinlich nicht die Dynamik des "Bruchs" der Passivität der Arbeiterklasse beenden, die wir ausgehend vom "Sommer der Unzufriedenheit" in Großbritannien identifiziert haben, die zwar nicht von einer Reaktion auf den Krieg ausgeht, die in der gegenwärtigen Situation eine Bewusstseinsentwicklung und eine Politisierung der Klasse als Ganzes erfordern würde, was im Moment nicht der Fall ist, sondern eher die Verschärfung der Wirtschaftskrise.

Als Internacionalismo in den 1960er Jahren die Perspektive einer Wiederaufnahme des Klassenkampfes einbrachte, beruhte seine Analyse im Wesentlichen auf zwei Elementen: 1. dem Ende der Periode des "Wohlstands" nach dem Zweiten Weltkrieg und der Perspektive der Krise; 2. dem Vorhandensein einer neuen Generation im Proletariat, die keine Niederlage erlitten hatte. Die Dimension, die die Kämpfe im Mai 68 in Frankreich und im Heißen Herbst 69 in Italien usw. annahmen, war neben den oben genannten Faktoren auch das Ergebnis der mangelnden Vorbereitung der Bourgeoisie.

Die Bedingung, dass das Proletariat nicht besiegt ist, ist in der gegenwärtigen Situation ebenso entscheidend und am wichtigsten. Umgekehrt weist die gegenwärtige Situation des sich verschärfenden Zerfalls und des Strudeleffekts Elemente auf, die ein Hindernis für den Kampf und die Bewusstseinsbildung des Proletariats darstellen; sie beinhaltet aber auch eine qualitative Verschärfung der Wirtschaftskrise, die sich in einer erheblichen Verschlechterung der Lebensbedingungen des Proletariats ausdrückt. Die Entscheidung, in den Kampf zu ziehen, nicht zu resignieren, nicht zu vertrauen und auf "eine neue Entwicklung der Wirtschaft" zu warten, bedeutet eine Reflexion über die globale Situation, ein Misstrauen gegenüber den Erwartungen, die der Kapitalismus bieten kann, eine minimale Bilanz dessen, was uns versprochen wurde und nicht erfüllt wurde. In diesem Sinne impliziert "genug ist genug" eine unterirdische Reifung des Bewusstseins. Dieser Ansatz hat eine internationale Dimension für die Arbeiterklasse als Ganzes. Das Beispiel der Kämpfe in Frankreich und im Vereinigten Königreich und jetzt in den USA ist auch Teil einer Überlegung, durch die sich die ArbeiterInnen in anderen Ländern mit denen identifizieren, die an diesen Kämpfen teilnehmen. Dies ist auch Teil des Beginns einer Reflexion über die Klassenidentität.

Es ist wahr, dass die Frage des Krieges in diesem Prozess indirekt präsent ist. Diese Reifung hat während zwei Jahrzehnten der Verschärfung der imperialistischen Konflikte gleichzeitig mit der Verschärfung der Wirtschaftskrise stattgefunden; außerdem hat der "Bruch" trotz des Ausbruchs des ukrainischen Krieges stattgefunden. In der Tat führt die Entwicklung der Kämpfe notwendigerweise zu den Anfängen einer Reflexion, die die Krise und den Krieg miteinander verbindet, zum Beispiel wenn man sieht, dass die Inflation aufgrund der Rüstungsausgaben steigt und dass uns Opfer abverlangt werden, um die Verteidigungshaushalte zu erhöhen.

5. Die sich verschlechternde Weltlage birgt jedoch Gefahren für die Arbeiterklasse. Wer kann die Folgen eines Krieges zwischen den USA und China vorhersagen, dessen Ausmaß jeden Konflikt seit 1945 in den Schatten stellen könnte? Oder die Auswirkungen anderer Katastrophen, die die Zeit des Zerfalls mit sich bringen wird?

In dieser Periode des Zerfalls haben sich nicht nur die Bedingungen für die Verschärfung der imperialistischen Konflikte geändert, die vom "Kalten Krieg" zwischen zwei imperialistischen Blöcken zum "Jeder für sich" übergegangen sind; sie haben sich auch unter dem Gesichtspunkt der Klassenkonfrontation verändert.

In der Zeit des Kalten Krieges bedeutete der Widerstand des Proletariats – die Tatsache, dass es der Bourgeoisie nicht gelungen war, die Arbeiterklasse zu besiegen –, dass diese das Haupthindernis für den totalen imperialistischen Krieg war. Und die Klassenkonfrontation konnte im Sinne eines "historischen Kurses" analysiert werden, wie es die Italienische Linke im Exil (Bilan) in den 1930er Jahren angesichts des Krieges in Spanien 1936 und des Zweiten Weltkrieges getan hatte: entweder ein Kurs in Richtung Niederlage des Proletariats und Weltkrieg oder ein Kurs in Richtung entschiedener Konfrontationen und revolutionärer Perspektive.

In der gegenwärtigen Periode der chaotischen Verschärfung der imperialistischen Konflikte nach dem Motto "jeder für sich" verhindert die Tatsache, dass das Proletariat nicht besiegt ist, nicht die Ausbreitung kriegerischer Auseinandersetzungen, die zwar im Moment Länder betreffen, in denen das Proletariat schwächer ist, wie Russland/Ukraine oder den Nahen Osten, aber nicht die Möglichkeit ausschließen, dass einige der zentralen Länder sich auf kriegerische Abenteuer einlassen.

Während also in den Jahren 1960-90 die Zeit für das Proletariat günstig war, Lehren aus seinen Misserfolgen und seinem Zögern aufzunehmen und weiterzuentwickeln, um neue Angriffe in seinem Kampf gegen den Kapitalismus vorzubereiten, hat seither, wie wir in den "Thesen zum Zerfall" 1990 schrieben, die Periode des Zerfalls für die Arbeiterklasse in der Tat einen Wettlauf gegen die Zeit geschaffen. Deshalb müssen die revolutionären Organisationen in ihrer Intervention auch auf die Entwicklung des Bewusstseins für diese Tatsache in der Arbeiterklasse hinwirken. 

IKS, 2.12.2023

 

[1] Die Dekadenz des Kapitalismus ist kein homogener und regelmäßiger Prozess: Sie hat vielmehr eine Geschichte mit verschiedenen Phasen. Die Phase des Zerfalls wurde in unseren Thesen zum Thema: Der Zerfall, die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus [13] (Internationale Revue Nr. 13) als «Eintritt des Kapitalismus in eine besondere Phase, in die ultimative Phase seiner Geschichte» identifiziert, «eine Phase, in welcher der Zerfall ein, wenn nicht gar der entscheidende Entwicklungsfaktor der Gesellschaft sein wird» (These 2). Es ist offensichtlich, dass, wenn das Proletariat nicht in der Lage wäre, den Kapitalismus zu stürzen, wir Zeugen einer schrecklichen Agonie würden, die zur Zerstörung der Menschheit führte.

[2] Die Beschleunigung des kapitalistischen Zerfalls wirft offen die Frage der Vernichtung der Menschheit auf [4], Internationale Revue (online) 2022

[3] Aktualisierung der Thesen zum Zerfall (2023) [34], Internationale Revue Nr. 59 (2023)

[4] 24. Internationaler Kongress der IKS: Resolution zur internationalen Lage [9], Internationale Revue Nr. 57

[5] Dies entspricht etwa 5000 Soldaten (Los Angeles Times, 8. Oktober 2023)

[6] 10 % der französischen Bevölkerung sind Muslime, d. h. etwa 6 Millionen.

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Imperialistische Konflikte

Internationales Flugblatt Streiks März 2023

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[1] https://de.internationalism.org/files/de/internationale_revue_59.pdf [2] https://de.internationalism.org/content/3105/no-war-class-war-ein-komitee-das-seine-teilnehmer-eine-sackgasse-fuehrt [3] https://de.internationalism.org/content/3043/gemeinsame-erklaerung-von-gruppen-der-internationalen-kommunistischen-linken-zum-krieg [4] https://de.internationalism.org/content/3091/die-beschleunigung-des-kapitalistischen-zerfalls-wirft-offen-die-frage-der-vernichtung [5] https://www.undp.org/de/germany/news/undp-bericht-ueber-die-menschlichen-entwicklung-2022 [6] https://de.internationalism.org/content/758/orientierungstext-militarismus-und-zerfall [7] https://de.internationalism.org/int_resolution_40 [8] https://de.internationalism.org/content/2359/14-kongress-der-iks-bericht-ueber-den-klassenkampf-die-revolutionaere-bewegung-und-das [9] https://de.internationalism.org/content/3005/24-internationaler-kongress-der-iks-resolution-zur-internationalen-lage [10] https://de.internationalism.org/content/1372/polemik-mit-der-cwo-unterirdische-reifung-des-bewusstseins [11] https://de.internationalism.org/content/878/die-bewegung-gegen-den-cpe-eine-reiche-erfahrung-fuer-zukuenftige-kaempfe [12] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1906/mapage/kap4.htm [13] https://de.internationalism.org/content/748/der-zerfall-die-letzte-phase-der-dekadenz-des-kapitalismus [14] https://de.internationalism.org/content/1929/die-80er-jahre-jahre-der-wahrheit [15] https://de.wikipedia.org/wiki/Eurasien [16] https://de.internationalism.org/content/1925/der-kampf-des-proletariats-im-aufsteigenden-und-im-dekadenten-kapitalismus [17] https://en.internationalism.org/content/3130/resolution-international-situation-1983 [18] https://en.internationalism.org/content/3125/international-review-no-35-4th-quarter-1983 [19] https://en.internationalism.org/content/2962/debate-critique-theory-weakest-link [20] https://en.internationalism.org/ir/037_index.html [21] https://en.internationalism.org/ir/065/marc-01 [22] https://en.internationalism.org/ir/066/marc-02 [23] https://en.internationalism.org/content/3149/reply-cwo-subterranean-maturation-consciousness [24] https://de.internationalism.org/content/2881/bericht-des-23-internationalen-kongresses-der-iks-ueber-den-klassenkampf-bildung [25] https://en.internationalism.org/content/17339/critique-so-called-communisers [26] https://en.internationalism.org/content/17223/history-no-war-class-war-groups [27] https://en.internationalism.org/content/17297/committee-leads-its-participants-dead-end [28] https://de.internationalism.org/content/3059/bericht-ueber-die-imperialistischen-spannungen-mai-2022-bedeutung-und-auswirkungen-des [29] https://de.internationalism.org/content/3064/aktualisierung-des-orientierungstextes-von-1990-militarismus-und-zerfall-mai-2022 [30] https://de.internationalism.org/content/871/thesen-zur-oekonomischen-und-politischen-krise-der-udssr-und-den-osteuropaeischen [31] https://www.defenseone.com [32] https://www.areion24.news/2022/09/11/chine-2022-lannee-de-tous-les-perils/ [33] https://de.internationalism.org/content/3093/der-kapitalismus-fuehrt-zur-zerstoerung-der-menschheit-nur-die-weltrevolution-des [34] https://de.internationalism.org/content/3129/aktualisierung-der-thesen-zum-zerfall-2023 [35] https://de.internationalism.org/files/de/internationales_flugblatt_-_streiks_maerz_2023xa3_1.pdf