Die 28. jährliche Klimakonferenz der Vereinten Nationen, die Ende November 2023 in Dubai stattfand, endete nach zweiwöchigen Sitzungen mit einem neuen Abkommen, das die Länder angeblich dazu drängt, (sehr) allmählich aus den fossilen Brennstoffen auszusteigen und "laufende Maßnahmen" zu beschleunigen, um "Kohlenstoffneutralität" zu erreichen. Und das alles auf "faire, geordnete und gerechte" Weise – bis 2050. Nach mir die Sintflut! – das zynische Schlagwort des Kapitalismus.
Der Präsident der COP 28, Sultan Al Jaber, Minister für Industrie und Hochtechnologie der Vereinigten Arabischen Emirate und CEO der Ölgesellschaft ADNOC, lobte das Abkommen, das von Delegationen aus fast 200 Ländern angenommen wurde. "Zum ersten Mal nimmt unser Abkommen Bezug auf fossile Brennstoffe", sagte er. Seiner Meinung nach handelt es sich um ein "historisches Maßnahmenpaket", das einen "soliden Plan" bietet, um das Ziel der Begrenzung der globalen Temperaturen auf 1,5°C über dem vorindustriellen Niveau zu erreichen.
Was für eine düstere Farce! Während die Staats- und Regierungschefs der Welt das Abkommen als wichtigen Schritt in Richtung eines Ausstiegs aus der Nutzung fossiler Brennstoffe gefeiert haben, sehen Experten es gelinde gesagt kritisch: Die Resolution enthält sehr hilfreiche Schlupflöcher, die der Ölindustrie viele Auswege bieten, indem sie auf unerprobte und unsichere Technologien setzt. Es wäre naiv, von den Organisatoren des Gipfels etwas anderes zu erwarten. Die Führer dieser Region des Nahen Ostens, die als Eldorado für alle Mafias und die massive Wäsche von Geldern aus Drogen-, Waffenhandel und allem anderen, was man sich vorstellen kann, bekannt ist[1], sind, wie ihre Kollegen in der ganzen Welt, mit subtilen Absprachen und der Ausreizung "rechtlicher Beschränkungen" vertraut. Während sie sich als Befürworter der Energiewende präsentieren und sich um das Klima sorgen, leben sie von fossilen Brennstoffen und hören offensichtlich nie auf, diese zu fördern.
Die Bewertung der Fortschritte der einzelnen Staaten bei der Verringerung der Emissionen, die seit der angeblich verbindlichen COP 21 in Paris 2015 zur Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs bis 2030 auferlegt wurden, stößt auf die deprimierende Realität des kapitalistischen Systems. Heute machen fossile Brennstoffe (Kohle, Erdgas und Erdöl) immer noch 82 % der gesamten Energieversorgung aus! Anstatt zu sinken, steigen die weltweiten Emissionen: um 6 % im Jahr 2021 und um 0,9 % im Jahr 2022[2].
Dies zeigt einmal mehr, dass diese internationalen Gipfeltreffen nicht in der Lage sind, auch nur den geringsten Einfluss auf die globale Erwärmung und ihre katastrophalen Folgen für die Menschheit zu nehmen, und dass sie im Grunde nichts anderes sind als Gesprächsrunden, um den Menschen zu versichern, dass "etwas getan wird" und dass es keine andere Möglichkeit gebe, als sich daran zu gewöhnen. Das Jahr 2023 veranschaulicht dies auf dramatische Weise: heftige Stürme und weit verbreitete Überschwemmungen von China bis Europa und Nordafrika, verheerende Waldbrände in Nordamerika, Südeuropa und Hawaii sowie Dürre in großen Teilen Nordamerikas, Europas und Afrikas.
"Die globale Erwärmung ist nicht nur real, sie beschleunigt sich auch in einem schwindelerregenden und katastrophalen Tempo. Der Juli 2023 war der heißeste Monat seit Beginn der Aufzeichnungen für den Planeten. Im August wurde der heißeste Tag aller Zeiten für diesen Zeitraum verzeichnet. Prognostiker sagen voraus, dass das Jahr 2024 diese traurigen Rekorde noch übertreffen könnte."[3] Die Befürchtung wächst, dass sich der Planet einer Reihe von "Kipppunkten" nähert, an denen die Umweltschäden außer Kontrolle geraten und ein neues Ausmaß an Zerstörung erreichen werden.
Die globale Erwärmung in Verbindung mit direkteren Formen der Umweltzerstörung wie der Abholzung von Wäldern und der Verschmutzung von Land und Meeren durch Chemikalien, Plastik und andere Abfälle bedroht bereits unzählige Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben.
Dieselbe Bourgeoisie, die auf diesen Konferenzen behauptet, nach "globalen Lösungen für globale Probleme" zu suchen, ist selbst in einen rücksichtslosen wirtschaftlichen Wettbewerb verwickelt, der das erste große Hindernis für jede echte internationale Zusammenarbeit gegen den Klimawandel darstellt. Und in der Zerfallsphase des Kapitalismus nimmt der nationale Wettbewerb immer mehr die Form von chaotischen, zerstörerischen und die Umwelt übermäßig verschmutzenden Rivalitäten und militärischen Konfrontationen an. Die ökologische Krise nähert sich also nicht nur einer Reihe von "Kipppunkten", die ihre Folgen verschlimmern und beschleunigen werden, sondern ist Teil einer Reihe von zusammenwirkenden Phänomenen, die die Menschheit immer schneller in Richtung Abgrund führen.
Die Rettung des Planeten und der Menschheit wird nicht von einer Bourgeoisie kommen, die von Natur aus in einer Logik gefangen ist, die jede Infragestellung der kapitalistischen Akkumulation, ihres Profitstrebens und ihrer apokalyptischen Dynamik ausschließt. Denn es ist der Kapitalismus, der für diese Störungen verantwortlich ist; es sind seine Gesetze, die jeden Kapitalisten dazu zwingen, immer mehr zu immer niedrigeren Kosten zu produzieren. Im Kapitalismus muss alles verkauft werden. Und das ist alles, was es gibt! Ein anarchischer, kurzfristiger Ansatz. In der Tat, er ist selbstmörderisch!
Louis, 29. Dezember 2023
[1] Wie durch die Panama Papers im Jahr 2018, die Pandora Papers im Jahr 2021 und zuletzt durch Dubai Uncovered aufgedeckt.
[2] Siehe den Bericht: CO2 Emission in 2022 [1]
[3] Siehe unseren Artikel Die Bourgeoisie ist nicht in der Lage, die Flut des Klimawandels aufzuhalten [2], Weltrevolution Nr. 186 (Herbst 2023).
Die kompromisslose Verteidigung des Internationalismus und seiner uralten Parole: "Die Arbeiter haben kein Vaterland", ist mehr denn je der Schlüssel zum Kampf des Proletariats, eine Klassenschranke zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie.
Viele Gruppen des linken Flügels des politischen Apparats der Bourgeoisie: Trotzkisten, Anarchisten, Maoisten usw., haben sich jahrzehntelang damit gebrüstet, die Interessen der Arbeiterklasse in ihrem Kampf gegen den Kapitalismus zu verteidigen. Während die Zahl der Toten im Krieg zwischen Israel und der Hamas weiter steigt, hat sich ihr Pseudo-Internationalismus einmal mehr als Bluff und Augenwischerei erwiesen! Während die israelische Armee die grenzenlose Grausamkeit der Hamas mit einer Flut von Feuer beantwortet, zielen alle ihre politischen Positionen auf das gleiche Ergebnis ab: die Arbeiter dazu zu bringen, Partei zu ergreifen und ein imperialistisches Lager gegen ein anderes zu unterstützen. Einfach ausgedrückt, sie sind nichts anderes als die Handlanger des Nationalismus.
Einige Linke auf der ganzen Welt haben nicht gezögert, die verabscheuungswürdigen Taten der Hamas nach ihrem grausamen Angriff am 7. Oktober zu verherrlichen. Die französischen Neo-Maoisten der Ligue de la Jeunesse Révolutionnaire (LJR) titelten: "Der Feuerregen von Al Aqsa ist ein glorreiches Leuchtfeuer in der Nacht des Imperialismus". Der Gipfel der kriegshetzerischen Schamlosigkeit! Das Gleiche gilt für die spanische trotzkistische Gruppe El Militante-Izquierda Revolucionaria, die nicht zögerte, triumphierend das "Recht des palästinensischen Volkes, sich zur Selbstverteidigung zu bewaffnen" zu verkünden, um ihre Unterstützung für die Gräueltaten der Hamas zu zelebrieren, die eine Bande von Gangstern und Mördern ist! Das Gleiche gilt für Großbritannien, wo die trotzkistische Socialist Workers Party schamlos ihren Kriegsruf ausstieß: "Das palästinensische Volk hat jedes Recht, auf die Gewalt des israelischen Staates so zu reagieren, wie es das für richtig hält".
Doch hinter dieser Clique schamloser Kriegstreiber haben andere linke Gruppen in perfekter Aufteilung der ideologischen Drecksarbeit noch weitaus hinterhältigere Formen des Nationalismus gefördert.
In einigen anderen trotzkistischen Gruppen ist die Sprache ein wenig subtiler, aber die Logik ist die gleiche. Hinter den "entschieden internationalistischen" Slogans des Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA) steht die unerschütterliche Verteidigung eines imperialistischen Lagers gegen ein anderes. Sie beharren auf ihrem verdorbenen Nationalismus: "Seit Jahrzehnten verteidigt der NPA (wie zuvor die LCR) den Standpunkt, dass die Palästinenser wie andere Völker der Welt nationale und demokratische Rechte haben, die von der UNO anerkannt werden". Diese "Rechte" sind die der Nation und ihres Staates (ob demokratisch oder nicht), Ausdruck der Diktatur der herrschenden Klasse schlechthin, die diese Ideologie seit mehr als fünfzig Jahren dem palästinensischen Proletariat und der Bevölkerung im Allgemeinen aufgezwungen hat, um sie als Kanonenfutter für ihre imperialistischen Ambitionen zu rekrutieren.
Der palästinensische Nationalismus, ob er sich nun als "marxistisch", "säkular" oder "islamistisch" präsentiert, hat sich immer in den Dienst der imperialistischen Kräfte gestellt, die in der Region wirken. Die Hamas ist in Wirklichkeit eine Clique an der Spitze eines Staates, eine Fraktion der palästinensischen Bourgeoisie, die die Bevölkerung von Gaza, das palästinensische Proletariat, ausbeutet und ihm ihre Diktatur aufzwingt. Sie behandelt ihre Arbeiter genauso wie jedes andere kapitalistische Regime. Die größte Ironie dieses Albtraums besteht darin, dass die Hamas ihre Existenz weitgehend Israel verdankt, das ihre Entwicklung als Gegengewicht zur PLO ursprünglich gefördert hat.
Révolution Permanente (RP), eine Organisation, die sich von der NPA abgespalten hat und nun Verbindungen zu anderen trotzkistischen Gruppen in Europa, wie Klasse gegen Klasse in Deutschland, aufbaut, ist mit einer weiteren Schicht von umwerfend ungeheuerlichen Fehlinformationen zurück: "Das Abenteurertum der Hamas, ihre Gräueltaten und Massaker an der Zivilbevölkerung sind der Höhepunkt der Sackgasse, die sie für die palästinensische Sache darstellt, weil sie kein wirkliches soziales und demokratisches Programm hat [...]. Und dennoch hat die Hamas im Gegensatz zu Daesh und Al Qaeda eine Basis in der Bevölkerung, auch wenn das Fehlen von Wahlen und eines demokratischen Rahmens [...] es unmöglich macht, den Grad der Unterstützung für die Hamas im Gazastreifen und anderswo in den Gebieten genau zu messen".
Welch schamlose Heuchelei, um die Menschen dazu zu bringen, das Unannehmbare zu akzeptieren und die barbarischen Massaker der Hamas zu rechtfertigen! Unterstützung durch das Volk? Wären die Gräueltaten der Hamas legitimer, wenn sie durch Wahlen sanktioniert worden wären? War es die "Unterstützung des Volkes", die im September 2006, wenige Monate nach der Machtübernahme, zu massiven Streiks und Demonstrationen führte, bei denen die Hamas-Regierung aufgefordert wurde, die seit mehreren Monaten ausstehenden Löhne zu zahlen?
Dies ist ein schönes Beispiel für die demokratische Mystifizierung! Unter dem Deckmantel eines "kritischen" Diskurses benutzen die Kriegstreiber der NPA das "demokratische Etikett", um die von den Soldaten eines imperialistischen Lagers begangenen Massaker besser zu rechtfertigen. Die Niedertracht der trotzkistischen Propaganda kennt keine Grenzen und wird oft zu etwas Unhaltbarem. Aber die Gräuel und Grausamkeiten dieses Konflikts sind so groß, dass sie einige dieser Gruppen manchmal in Verlegenheit und dazu bringen, sich ein wenig von dem zu distanzieren, was ihre "Genossen" sagen.
Solche Äußerungen radikaler Verdrehungen finden sich bei einer der hinterhältigsten trotzkistischen Gruppen, einer Expertin der Doppelzüngigkeit und Ausflüchte, der unnachahmlichen französischen trotzkistischen Organisation Lutte Ouvrière (LO), die kürzlich einen sehr kritischen Artikel über die NPA und Révolution Permanente veröffentlichte. LO kritisiert sie für einen allzu unverschämten nationalistischen Diskurs, der "den bürgerlichen Klassencharakter der Hamas und ihre nationalistische und reaktionäre Politik [...] nicht wahrnimmt. Die Hamas als 'Hauptorganisation des palästinensischen Widerstands' zu bezeichnen, ist ein Missbrauch der Sprache, um nicht zu sagen ein Betrug".
Was ist hier los?! LO ist also bereit, die Barbarei aller bürgerlichen Fraktionen anzuprangern und seine Logik der Verteidigung der "nationalen Befreiungskämpfe" aufzugeben? – Mitnichten! "Wenn Teile der palästinensischen Massen der Hamas vertraut, so gilt dies gewiss nicht umgekehrt [...] Die Hamas handelt und trifft Entscheidungen, die sich der Kontrolle der palästinensischen Bevölkerung und der Ärmsten entziehen. Ihre Methoden sind nicht darauf ausgerichtet, den Aufständischen zu ermöglichen, sich ihrer Macht bewusst zu werden, sich zu organisieren und eine politische Bildung zu erhalten. Der Angriff am 7. Oktober wurde von ihrer Führung ohne jegliche Kontrolle oder Diskussion gestartet". Es ist klar, dass die undemokratische Grausamkeit der Hamas LO "enttäuscht" hat, nichts weniger!
Ach, hätten doch nur "demokratische Diskussionen" vor dem 7. Oktober stattgefunden, um den Hamas-Angriff zu planen, dann hätten die Gräueltaten vielleicht ein vorzeigbareres Profil gehabt, so die LO. Im Reich des Schmutzigen, des "Subtilen", entthront Lutte Ouvrière die abscheulichsten trotzkistischen Gruppen, um ihren eigenen nationalistischen und kriegstreiberischen Müll zu verkaufen.
Hören wir noch einmal, wie es Révolution Permanente sagt: "In Zukunft dürfen wir die Mobilisierung gegen den Krieg, den Kampf für die nationale Befreiung Palästinas und die Perspektive der proletarischen Revolution nicht als getrennte Wege betrachten. Im Gegenteil, sie können und müssen sich gegenseitig unterstützen". Das hat zumindest das Verdienst, klar zu sein!
Das palästinensische Proletariat muss nicht nur weiterhin als Kanonenfutter für die nationalistische Sache seiner Bourgeoisie dienen, sondern ganz allgemein muss der proletarische Kampf die nationalen Befreiungskämpfe "unterstützen" und nähren. Der schäbige Internationalismus der Trotzkisten wurde schon vor langer Zeit aus dem Fenster geworfen, aber jetzt übernehmen sie ganz offen ihre Rolle als Rekrutierungssoldaten für die nationale Sache.
Ungeachtet der verworrenen Verrenkungen der trotzkistischen Organisationen bleiben sie unerschütterliche Rekrutierer für die Bourgeoisie in ihren nationalen Auseinandersetzungen.
Während des Zweiten Weltkriegs ging der Trotzkismus endgültig in das Lager der Bourgeoisie über, indem er zur Rekrutierung des Proletariats für den Krieg gegen den Faschismus beitrug. Seitdem haben diese bürgerlichen Gruppen die Arbeiter in der ganzen Welt methodisch dazu aufgehetzt, sich für das eine oder andere imperialistische Lager zu entscheiden. Während des Kalten Krieges bekräftigten sie ihre bedingungslose Unterstützung für die UdSSR und ihre so genannten "nationalen Befreiungskämpfe" (Kambodscha, Vietnam, Kuba usw.) gegen die Vereinigten Staaten. Während des Irak-Krieges stellten sie fest, dass die "richtige Seite" – "die Seite des irakischen Volkes gegen die anglo-amerikanischen Aggressoren" sei!
In jüngster Zeit haben mehrere trotzkistische Gruppen wiederholt "Putins Russland" im Krieg in der Ukraine angeprangert und das "ukrainische Volk" dazu aufgerufen, sich damit abzufinden, in den Schützengräben massakriert zu werden. Andere trotzkistische Gruppen wie LO, die ihrem Dogma eines nicht imperialistischen Russlands treu bleiben, zögern nicht, Putin subtil zu unterstützen, indem sie behaupten, der einzige Imperialismus, der es wert sei, angeprangert zu werden, sei der der NATO und Bidens.
Da der Trotzkismus eine bürgerliche Ideologie ist, treibt er die Arbeiterklasse zwangsläufig in die Arme der so genannten nationalen Befreiungskämpfe – in Wirklichkeit die Verteidigung eines imperialistischen Lagers gegen ein anderes, des Lagers der "Opfer" gegen die "Aggressoren", des Lagers der Demokratie gegen den Faschismus, des Lagers der "armen Länder" gegen die "reichen Länder", früher des Lagers des "sowjetischen sozialistischen Vaterlandes" gegen den westlichen Imperialismus usw.
Es gibt keine Lösung für das endlose Blutvergießen im Nahen Osten und in der ganzen Welt außerhalb des internationalen Klassenkampfes und der proletarischen Weltrevolution. Alle Formen des Nationalismus, alle seine Verfechter, auch die radikalsten, sind die Todfeinde der Arbeiterklasse und ihrer revolutionären Perspektive.
Stopio, 5. Dezember 2023
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Diskussionsveranstaltung der IKS - 26.01.2024 [3] | 79.11 KB |
Nach dem zweijährigen Konflikt in der Ukraine vor dem Hintergrund der chinesisch-amerikanischen Rivalität und angesichts der Gefahr einer Ausweitung des Krieges im Nahen Osten wächst die Angst vor einem neuen globalen Konflikt. Sind die Bedingungen für einen solchen Konflikt gegeben? Kommt es zur Bildung neuer imperialistischer Blöcke? Ist das Proletariat bereit, sich massenhaft in einen globalen Konflikt einspannen zu lassen?
Um diese Fragen zu diskutieren, veranstaltet die IKS überall dort, wo sie vertreten ist, öffentliche Treffen. Diese Treffen sind Orte der Debatte, die allen offenstehen, die mit ihr diskutieren möchten. Wir laden alle unsere Leser, Kontakte und Sympathisanten herzlich dazu ein, an diese Treffen zu kommen um zu debattieren, weiter über die Herausforderungen der Situation nachzudenken und Standpunkte zu vergleichen.
Online Diskussionsveranstaltung am Freitag, 26. Januar 2024, 19 Uhr.
Wenn Ihr teilnehmen wollt, schreibt bitte an: [email protected] [4]
Mitte Januar 2024 brach die herrschende Klasse in Deutschland eine gewiefte Kampagne zum Schutz der Demokratie vom Zaun. Diese Kampagne zeigt die ganze Verschlagenheit der deutschen Bourgeoisie und wie sie die ekelhaften Zerfallserscheinungen ihres Systems vor allem gegen die Arbeiterklasse und bis zu einem gewissen Grad erfolgreich auszuschlachten versucht.
Im November 2023 hatten sich verschiedene Kräfte der AfD, Rechtsradikale, Mitglieder der damals der CDU zugehörigen Werteunion und andere Leute in Potsdam „geheim“ versammelt, um über radikale Maßnahmen gegen Ausländer oder Menschen mit Migrationshintergrund zu beraten. In ihren von Hass und Nationalismus getriebenen, völlig irrationalen Plänen, die im Allgemeinen in ihrer Erscheinungsform im Widerspruch zu den Interessen des deutschen Kapitals stehen, streben sie scheinbar millionenfache Massendeportationen an. Das Treffen wurde von dem Rechercheteam Correctiv (und vermutlich auch vom Verfassungsschutz) beobachtet. Mitte Januar wurde die Veranstaltung publik gemacht – und kurze Zeit danach wurde die größte staatliche Mobilisierung gegen die Rechten und insbesondere gegen die AfD zur Verteidigung der Demokratie (und noch anderer Mottos) seit Jahren angeleiert…
Das geschah zu einem Zeitpunkt, nachdem schon eine intensive Stimmungsmache aus allen bürgerlichen Parteien gegen „zu viele Flüchtlinge“ und für „massive Abschiebungen“ betrieben und schließlich auf europäischer Ebene „endlich“ mehr gemeinsame Zwangsmaßnahmen („Asylreform“) beschlossen worden waren – d.h. Abschiebungen usw. nicht durch fanatisierte und hasserfüllte fremdenfeindliche Kräfte aus dem rechten Lager sondern demokratisch legitimiert, vom Staat selbst in die Hand genommen und mit entsprechenden polizeilichen Zwangsmaßnahmen. CDU-Politiker, in die Fußstapfen der englischen Regierung (mit den Konservativen an der Spitze) tretend, wollen auch Illegale nach Ruanda deportieren.
Es wäre naiv zu glauben, dass dieses Treffen nur ein gefundenes Fressen für die herrschende Klasse war. Zu offensichtlich spielen solche Treffen und Deportationsfantasien der Rechten und der AfDler dem Staat in die Hände, denn nun erfolgte eine der größten Kampagnen – angetrieben von oberster Stelle – angeblich zum Schutz der Betroffenen und vor allem für die Verteidigung der Demokratie.
So soll von der seit Jahren praktizierten Politik der Festung Europa abgelenkt werden, bei der jedes Jahr unzählige Menschen bei ihren verzweifelten Versuchen, nach Europa zu gelangen, ihr Leben verlieren oder – einmal dennoch angekommen – in Flüchtlingslagern enden oder sonst wo hocken müssen. Aber es geht um mehr als die Heuchelei der Herrschenden, die mit der Entblößung der rechten Deportationspläne ihre eigenen tagtäglichen und viel breiter geplanten Gewaltmaßnahmen übertünchen wollen. In Wahrheit wird seitens der Herrschenden ein politischer Schachzug vollzogen. Von der obersten Staatsspitze über Gewerkschaften bis zu all den „zivilgesellschaftlichen“ Initiativen dazu aufgerufen, versammeln sich mittlerweile hauptsächlich an Wochenenden oft Hunderttausende in nahezu allen Städten zum Protest gegen rechts und für die Demokratie.
Besser hätten der Staat und seine für ihn wirkenden Kräfte die Bevölkerung nicht hinter sich scharen können. Die Falle der Verteidigung der Demokratie schnappte zu![1]
Während die herrschende Klasse überall auf der Welt tatsächlich ein riesiges Problem damit hat, dass alle ihre im Parlament vertretenen Parteien an Glaubwürdigkeit verlieren und immer mehr Menschen den Wahlen fernbleiben, während immer mehr Menschen Zweifel an den Versprechungen und Verheißungen der Herrschenden hegen und zutiefst über die Zukunft des Planeten und die vom Kapitalismus ausgelöste Zerstörungsspirale mit all den Kriegen und der Verschärfung der Wirtschaftskrise besorgt sind, gleichzeitig aber nicht erkennen, welche Lösung gefunden werden muss, sind viele durch diese Perspektivlosigkeit in der Zwischenzeit in die Arme der Protestparteien getrieben worden. Zudem schrumpfen die Mitgliederzahlen der etablierten Parteien und es gibt immer mehr kleinere „Splittergruppen“ sowohl im rechten als auch im linken Lager.
Wie in vielen anderen Ländern verursacht dieser enorme Zulauf bei den populistischen und rechten Parteien unter den traditionellen bürgerlichen Parteien großes Kopfzerbrechen, da dadurch die Stabilität der Regierungen und die Kohäsion der Gesellschaft noch mehr untergraben werden. Aber die herrschende Klasse wäre keine herrschende Klasse, wenn sie diese tief im Inneren der kapitalistischen Gesellschaft wirkende Fäulnis ihrer Grundfeste nicht zu ihren Gunsten für sich auszuschlachten versuchen würde.
Deshalb die List, die real existierenden Pläne – gar Pogromgelüste – der Populisten und Rechten durch eine Kampagne zur Verteidigung der Demokratie auszuschlachten und die Bevölkerung hinter den Staat zu zerren. Dabei hat der Staat gerade jetzt einen Zusammenschluss der Bevölkerung hinter dem Staat zur Durchsetzung der Kriegstauglichkeit gefordert. Deshalb ist dieser Aufruf zur Verteidigung der Demokratie auch ein Lockmittel, um die Bevölkerung an den Staat zu binden.
Gleichzeitig gab es in den letzten Wochen aus Protest gegen die Welle von Sparpaketen, welche die Regierung in einem beträchtlichen Maße als Folge des Ukrainekrieges verabschiedet hat, größere Proteste von Bauern, Taxifahrern, Spediteuren, Handwerkern gegen die Kürzung von verschiedenen Subventionen. Diese Proteste, die von Bauern und anderen kleineren Selbständigen getragen werden, sind eine Folge der globalen Verschärfung der Wirtschaftskrise und der Konsequenzen des Kriegs. Aber wegen ihrer den Verkehr behindernden Wirkungen ziehen diese Protestaktionen eine große Aufmerksamkeit auf sich, bzw. werden groß ins Rampenlicht gestellt, ohne in irgendeiner Form die herrschende Klasse in Bedrängnis zu bringen. Es wird die Botschaft kolportiert, isolierte und radikale „Blockaden“ seien ein Hauptmittel des Widerstandes. Aber mit ihren Straßenblockaden bieten sie als solche keine Perspektive des Zusammenschlusses gegen den Staat und seine Kriegspolitik an.
Während hinter diesen Protesten tatsächlich die Wut der Betroffenen über die Verschlechterung ihrer Lage infolge der Krisenauswirkungen steckt, dienen diese aber gleichzeitig als Nebelkerzen der ideologischen Verwirrung. So sind sie nicht Ausdruck der Widersprüche zwischen den zwei Hauptklassen des Kapitalismus, der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse, sondern drücken die Angst und Wut der Zwischenschichten, Selbstständigen, Beschäftigten und Leitern der Klein- und Landwirtschaftsbetriebe aus, die keine Perspektive außerhalb der und gegen die kapitalistische Ausbeutung formulieren können. Es ist kein Zufall, dass der erste Frontalangriff, nämlich die als „Sparzwänge“ titulierten sozialen Angriffe, auf diese Zwischenklassen zielte. Diese wütenden und perspektivlosen Proteste sollen die Kämpfe der Arbeiterklasse auf ihrem Terrain einhegen oder gar in die Falle der klassenübergreifenden Kämpfe führen.
Ein weiteres wichtiges Bestreben des Staates beim Anleiern der Kampagne zur Verteidigung der Demokratie und zum breitestmöglichen Bündnis um den Staat ist auch, dass die sich verschärfende Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse durch das Betäubungsmittel Demokratie geschwächt werden soll.
Letzten Herbst mussten die Gewerkschaften, vor allem die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, ver.di, wo ja der Staat der Arbeitgeber ist, mehrere Warnstreiks durchführen, um den Druck der Beschäftigten zu kanalisieren. Denn infolge der durch den Krieg weiter verschärften Inflation und die jahrelange Verschlechterung der Arbeitsbedingungen (Arbeitsverdichtung, Personalabbau usw.) war ver.di zu größeren Lohnforderungen vor allem im unteren Tarifbereich gezwungen. Diese Tarifverhandlungen wurden letztendlich alle im Herbst 2023 über die Bühne gebracht – bevor dann im Winter die Lokführergewerkschaft GdL mit ihren Forderungen aufwartete. Natürlich hatte die GdL abgewartet, bis die mit ihr konkurrierende Gewerkschaft EVG und die anderen Beschäftigten im Transportwesen bei ver.di ihre Tarifabschlüsse in der Tasche hatten.
Nachdem der Lokführerstreik vom 24. bis zum 29. Januar angekündigt und am 28. Januar beendet worden war, wurden am Dienstag, 30. Januar die Beschäftigten des Gesundheitswesens, am Donnerstag, 1. Februar die Beschäftigten an den Flughäfen, am Freitag, 2. Februar die des ÖPNV in vielen Städten zu Warnstreiks bzw. Protesten aufgerufen – streng voneinander getrennt, damit nur niemand auf die Idee komme, dass zwischen den Beschäftigten gemeinsame Interessen bestehen, und kein Gefühl der Solidarisierung, gar der Notwendigkeit und der Möglichkeit des Zusammenkommens entstehen könne.
Gleichzeitig hielt man die Beschäftigten, die natürlich von den Gewerkschaften inszeniert und kontrolliert worden wären, aber zumindest die Forderungen der Arbeiter gegen ihren gemeinsamen Arbeitgeber (oft der Staat) zum Gegenstand gehabt hätten, von der Möglichkeit großer Proteste fern. D.h. innerhalb einer Woche gab es in fast allen Bundesländern Widerstand und Proteste der Arbeiter gegen die Verschlechterung ihrer Lage – aber gespalten und getrennt voneinander! Noch haben die Gewerkschaften mit ihrem Fahrplan der säuberlich voneinander getrennten Warnstreiks die Spaltung aufrechterhalten können.
Auf diesem Hintergrund wurde seit Januar unaufhörlich die Werbetrommel für das Zusammenkommen der Bürger, der Mutigen, die bereit sind, die Demokratie usw. zu verteidigen, gerührt. Auch wenn im Augenblick keine „Explosionsgefahr“ des Klassenkampfes vorhanden ist, dienen die staatlich organisierten Proteste zur Verteidigung der Demokratie vor allem dazu, den Klassengraben zwischen den Interessen der Arbeiterklasse und dem Staat, der die Interessen des Kapitals schützt, zu verdecken.
Während die herrschende Klasse die Fäulnis ihrer eigenen Gesellschaft gegen die Arbeiterklasse zu instrumentalisieren und mit ausgefuchsten Kampagnen eine nationale Einheit hinter dem Staat zur Verteidigung der Demokratie und damit letztendlich für die Erlangung der Kriegstüchtigkeit herzustellen sucht, darf die Arbeiterklasse sich nicht für diese Kampagnen einspannen lassen. Ein wirklicher Klassenwiderstand kann nur entfaltet werden, indem die Fesseln der Gewerkschaften abgestreift und die Interessengegensätze zwischen Kapital und Arbeit, die Sackgassen dieses Systems verstanden werden.
Wg, 05.02.2024
Die Demokratie ist immer noch ein wirkungsvolles Mittel der Täuschung, wie Lenin und Bordiga schon vor mehr als 100 Jahren schrieben:
„Da die Gesellschaft in Klassen geteilt ist, die sich infolge von ökonomischen Privilegien krass voneinander unterscheiden, können Mehrheitsentscheidungen keine Bedeutung haben. Der demokratische und parlamentarische Staat liberaler Verfassung erhebt den Anspruch, eine Organisation aller Bürger im Interesse aller Bürger zu sein. Das ist ein Betrug. Solange Interessengegensätze und Klassenkämpfe bestehen, ist keine Organisationseinheit möglich. Obwohl ein Schein von Volkssouveränität zur Schau getragen wird, bleibt der Staat das Organ der ökonomisch herrschenden Klasse und das Instrument zum Schutz ihrer Interessen. Obwohl in der bürgerlichen Gesellschaft die politische Vertretung (die parlamentarischen Organe) demokratisch gewählt werden, betrachten wir diese Gesellschaft als einen Komplex aus verschiedenen anderen Organisationen und Vereinigungen. Viele davon werden von den privilegierten Schichten gebildet und verfolgen die Aufrechterhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung. Sie schließen sich daher um die mächtige und zentralisierte Organisation des Staatsapparates zusammen. Andere verhalten sich neutral oder ändern von Fall zu Fall ihre Haltung gegenüber dem Staat. Andere schließlich entstehen innerhalb der besitzlosen und ökonomisch ausgebeuteten Klassen; sie richten sich gegen den bestehenden Klassenstaat. Der Staat hat also keineswegs den Charakter einer Vereinigung aller Bürger oder der ganzen Nation. Und daran können die politische und rechtliche Gleichheit aller Bürger, die formale Anwendung des demokratischen Prinzips bzw. des Mehrheitsrechts überhaupt nichts ändern, weil eine ökonomisch bedingte Klassenteilung besteht. Die politische Demokratie gibt offiziell vor, einen Staat aller Bürger errichtet zu haben. In Wirklichkeit ist sie jedoch die Staatsform, die sich für die Herrschaft der kapitalistischen Klasse und die Aufrechterhaltung ihrer Privilegien besonders gut eignet. Sie ist die spezifische Form der bürgerlichen Diktatur im echtesten Sinne des Wortes.“
Amadeo Bordiga, Das demokratische Prinzip [5], 1922
„Auf Schritt und Tritt stoßen die unterdrückten Massen auch in dem demokratischsten bürgerlichen Staat auf den schreienden Widerspruch zwischen der formalen Gleichheit, die die „Demokratie" der Kapitalisten proklamiert und den Tausenden tatsächlicher Begrenzungen und Komplikationen6, die die Proletarier zu Lohnsklaven machen.“
Wladimir I. Lenin, Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky [6], 1917
[1]Wie üblich begrüßen und tragen linkskapitalistische Gruppen aller Couleur zur Mobilisierung „gegen rechts“ bei. Wir gehen aus Platzgründen hier nicht näher darauf ein.
Zwei Jahre sind seit dem Beginn des Ukraine-Krieges vergangen. Mittlerweile ist Deutschland voll involviert in den größten und gefährlichsten Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, dessen Ende noch immer nicht in Sicht ist. Und seit Beginn des Ukrainekriegs ist mit dem Israel-Hamas-Krieg in Gaza die Gefahr eines neuen Flächenbrandes im Nahen Osten entstanden, bei dem Deutschland auch immer mehr auf verschiedene Art mit von der Partie ist.
Zusätzlich zu diesen beiden genannten Kriegsschauplätzen spitzt sich der Konflikt zwischen China und den USA weiter zu – neben den noch gewissermaßen niedrigschwelligen aber nicht weniger barbarischen „kleineren“ Konflikten in Afrika oder wie jüngst die Spannungen zwischen Venezuela und Guayana.
Gegenüber dieser weltweit tobenden Zerstörungsspirale – den Kriegen, dem sich verschärfenden Handelskrieg, den immer verheerender werdenden Auswirkungen der Umweltzerstörung und anderen Gefahren – muss sich der deutsche Imperialismus entsprechend neu positionieren!
Auch wenn Deutschland nicht direkt mit Truppen vor Ort am Ukrainekrieg beteiligt ist, ist die Militarisierung seit dem Ausbruch des Ukrainekriegs rasant vorangeschritten. Nun heißt die Devise „Kriegstüchtigkeit“ erlangen. Die Botschaft der Ampel-Koalition lautet klar: Mobilisierung aller Kräfte der Bevölkerung für die Kriegstüchtigkeit, und das innerhalb von 5–8 Jahren!. Die Wirtschaft, die Infrastruktur, das Bildungswesen usw. müssen auf diese Bedürfnisse eingestellt werden. Natürlich heißt dies auch die Bereitstellung der notwendigen finanziellen Ressourcen – schlagartige Verdoppelung des Rüstungshaushaltes. Auch wenn man es nicht offen hinausposaunt: die jüngst beschlossenen Sparpakete werden alle mitbestimmt durch die Bedürfnisse der Finanzierung des Militärs. Deutschland kann sich brüsten, mittlerweile nach den USA in Europa Hauptzahlmeister des Krieges zu sein.[1]
Und die Bundeswehr hat große Bestände ihres eigenen Waffenarsenals an die Ukraine geliefert. Die Rüstungsproduktion, jahrelang nach dem Ende des „Kalten Krieges“ reduziert, wird wieder hochgefahren. Die eigenen Reihen werden auch wieder mit zurückgekauften Leopard Panzern vom braven Schweizer Nachbarn gefüllt, mit dem scheinheiligen Abkommen, diese nicht direkt an die Ukraine weiterzusenden… ein „sauberes Geschäft“. Nahezu alle früheren Tabus bei Waffenlieferungen in Kriegsgebiete sind überwunden. Tag für Tag rollen ausländische Waffen aus dem Westen an die Front der Ukraine.[2] Tausende ukrainische Soldaten werden im Rahmen der EU-Unterstützungsmission EUMAM (European Union Military Assistance Mission Ukraine) an allen möglichen Waffen ausgebildet.
Nun sind auch wieder deutsche Truppen im Baltikum präsent. Obwohl Russland die Nato-Ostexpansion stoppen bzw. abschwächen wollte, agieren Nato-Verbände stärker denn je in Osteuropa, und das neue Stationierungsabkommen von deutschen Truppen in Litauen bedeutet nach Aussage des Verteidigungsministerium eine Zäsur, denn näher standen deutsche Truppen an der russischen Grenze seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr.
Mittlerweile haben sich über 1.2 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine, die verzweifelt fliehen mussten, in Deutschland registrieren lassen. Und deren Zahl könnte noch viel stärker anschwellen… Damit ist die Wohnungsnot für alle, natürlich auch für die Flüchtlinge aus anderen Kriegsgebieten, noch mehr angestiegen. Auf die ökonomischen Folgekosten des Krieges wie explosiver Anstieg der Inflation – allen voran der Energie- und Lebensmittelpreise – gehen wir in einem separaten Artikel näher ein.
Aber Deutschland spielt nicht nur beim Ukrainekrieg eine führende Rolle. Bei den anderen Kriegsschauplätzen bzw. Spannungsherden mischt es ebenso mit. Nicht nur werden immer mehr Waffen in den Nahen Osten geliefert (von Israel bis nach Saudi-Arabien), überall sind deutsche Waffen begehrt. Und die Marine hat eine Fregatte zur Beteiligung an den Verbänden im Roten Meer geschickt, nachdem der Schiffsverkehr dort durch die Huthi-Rebellen immer mehr bedroht wird. Gleichzeitig verstärkt sich auf dem Hintergrund dieses neuen Wettrüstens die Forderung nach Atomwaffen. Kurzum – das Schreckgespenst des Militarismus hat wieder Mitten im Herzen Europas Einzug gehalten.
Der Generalinspekteur der Bundeswehr Breuer fordert einen Mentalitätswandel: „Die sicherheitspolitischen Entwicklungen der nächsten Jahre könnten noch nicht abgesehen werden. Deshalb seien nun vor allem Agilität und Flexibilität gefordert“, so Breuer. „Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass wir uns eigentlich gar nicht richtig vorbereiten können. Sicherheitspolitisch wissen wir nicht, was um die nächste Ecke herumkommt. Aber: Auf genau das müssen wir vorbereitet sein.“ (…) „Die Streitkräfte würden strukturell so aufgestellt, dass sie ihre Aufgaben sowohl in der Landes- und Bündnisverteidigung als auch im internationalen Krisenmanagement erfüllen könnten. Wir sagen immer dazu: one single set of forces. Das heißt, wir müssen Streitkräfte haben, die aus Einem heraus alle Anforderungen dann auch erfüllen können.“[3]
Aus Platzgründen gehen wir hier nicht auf die strategischen Kriegsziele anderer Länder ein. Wir haben dies in vielen Artikeln getan. Stattdessen wollen wir uns hier in diesem Bilanz-Artikel auf einige wesentliche Konsequenzen konzentrieren und einige im Raum stehende Fragen aufwerfen.
Wie wir in anderen Artikeln aufgezeigt haben, versuchen die USA mit dem Ukrainekrieg Russland auszubluten und so ein Land, das China nahesteht, wesentlich zu schwächen, um letztendlich China zu treffen. In Anbetracht dieses Drucks der USA, die immer noch die Führungsrolle in der Nato ausüben, wurde Deutschland gezwungen, eine diametral gegen seine Interessen gerichtete Position zu beziehen und einen Bruch mit seiner traditionellen „Ostpolitik“ zu vollziehen und die vorherige privilegierte Beziehung zu Russland aufzugeben. Jahrelang hatte man Russland bei dessen imperialistischen Wiedererstarkungsversuchen im Nahen Osten oder auf der Krim wenig Widerstand entgegengesetzt. Das besondere Verhältnis Deutschland-Russland fungierte auch gewissermaßen seit den 1990er Jahren als Gegengewicht angesichts des Drucks der USA gegenüber Deutschland.
Nun mussten die relativ günstigen Energiepreise für russisches Öl und Gas dem Krieg geopfert werden, die Versorgung mit Northstream II wurde gekappt. Seitdem wurde Deutschland in eine Energieabhängigkeit und Erpressbarkeit von den USA bei Energielieferungen getrieben, womit die starke Abhängigkeit von Russland durch die von den USA (und anderen Staaten) „getauscht“ wurde. Aber es reicht nicht, beim deutsch-russischen Verhältnis stehen zu bleiben, wir müssen den Blick weltweit schweifen lassen.
Bei der globalen Strategie der USA gegen China wollen die USA Deutschland zum Rückzug aus China zwingen. Das umfangreiche Sanktionspaket der USA gegen China hat auch schon deutsche Firmen viel stärker dem Druck der USA ausgesetzt. Zwar hatte Deutschland aus eigener Einsicht einen Abbau der Abhängigkeit von China angestrebt, aber damit zu einer Schachfigur der USA gegen China zu werden, ist für das deutsche Kapital nicht hinnehmbar.
Nachdem Trump das deutsche Kapital besonders ins Visier genommen und ein Ende der Nato in Erwägung gezogen hatte, erwiesen sich die Demokraten unter Biden als noch viel konfrontativer und rücksichtsloser – auch wenn der Diskurs Bidens als weniger aggressiv rüberkommen sollte. Wenn Trump ein zweites Mandat bekommen sollte, muss das deutsche Kapital noch mehr fürchten – und es wird zu noch mehr offenen Konfrontationen mit den USA kommen. Außerdem ist Trumps Haltung zur Nato und zum Einsatz des atomaren „Schutzschildes“ (Deutschlands Bedrohungsschildes) ungewiss. Während Trump nicht auf die Nato wird verzichten können, wird er mehr Druck auf Deutschland ausüben.
Aber selbst wenn die Demokraten weiter den Präsidenten stellen, werden diese auch weiter auf Konfrontationskurs mit Deutschland gehen. Und falls die Republikaner im Ukrainekrieg weiter den Hahn für die Unterstützungen der Ukraine zudrehen wollen, müssten europäische Länder, vor allem Deutschland als größte Finanzquelle noch mehr Geld in den Krieg pumpen. Dies wirft große Fragen auf, ob sich dies durchsetzen lassen wird. Gegenwärtig liegen die größten Unwägbarkeiten in den USA selbst.
Wie wir in einem früheren Artikel entwickelt haben, ist nach jahrzehntelanger grenzenloser Unterstützung für Israel das Dilemma der deutschen Bündnispolitik offenbar geworden: während die USA selbst Israel zurückhalten wollen, erteilte Deutschland nach dem 7. Oktober Israel anfangs mehr oder weniger einen Blankoscheck. Das beinhaltet das Risiko, dass sich Deutschland isoliert, und gegenüber dem Nahen Osten in Gegnerschaften gezwungen wird, nachdem es zuvor jahrelang versucht hatte, engere Beziehungen aufzubauen. Das bindet es gleichzeitig punktuell/strategisch noch enger an die USA, obgleich Abgrenzung von diesen geboten ist, und die Schwächung der USA auch Deutschland treffen wird. Ähnlich wie die Position der USA durch den Krieg im Nahen Osten geschwächt wird, wird auch die Position der deutschen Außenpolitik gegenüber Israel Deutschland im Nahen Osten schwächen.
Nach 1989 hatte der deutsche Imperialismus durch die Auflösung des Warschauer Paktes das in Osteuropa entstandene Vakuum für seine Expansion ausnutzen können. Zum anderen konnte die Bundeswehr ihre territorialen Streitkräfte reduzieren und Panzer zum Teil verschrotten, während man gleichzeitig anfing, sich an „out-of-area“ Einsätzen (Balkan-Krieg und KFOR, Afghanistan, Mittelmeer, Golf von Aden, Mali usw.) zu beteiligen und somit mehr Gewicht auf Luftwaffe und Marine verlagerte. Bei den Militärausgaben hielt man global den Fuß auf der Bremse und auch bei Rüstungsexporten in Kriegsgebiete proklamierte man ein heuchlerisches Tabu derselben – all das wurde wie oben erwähnt mit dem Ukrainekrieg über Nacht über Bord geworden.
Mit der jetzt erforderlichen Kriegstüchtigkeit müssen die bislang beschränkten Produktionskapazitäten massiv ausgebaut werden, was wiederum eine rigorose Zentralisierung durch den Staat verlangt, was bei der bisherigen Ineffizienz der Bürokratie auf Hindernisse stößt. Ähnlich der staatlichen Steuerung durch die Nazis als Vorbereitung für den Zweiten Weltkrieg muss nun die gesamte Wirtschaft den Diktaten der Kriegswirtschaft unter staatliche Regie unterworfen werden.
Gleichzeitig hat die Bundeswehr ein Problem, dass man nicht genügend neue Kräfte rekrutieren kann, und dass ein großer Teil der Soldaten schon durch die noch beschränkten Auslandseinsätze als traumatisiert eingestuft wurde. Jetzt schon wird laut die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht gefordert, welche Anfang der 2000er Jahre abgeschafft worden war.
Während im Laufe der 2010er schon weitreichende Planungen für den Aufbau eines militärischen Arms – parallel zur Nato, die ja unter US-Dominanz steht – vorangetrieben worden waren, sind diese zumindest mit dem Ukrainekrieg scheinbar in der Versenkung verschwunden. Eine mögliche Rückkehr Trumps wird hier das Blatt vermutlich wieder wenden lassen.
Während nach 1989 ebenfalls jahrelang das Bündnis mit Frankreich vorangetrieben wurde, hat dieses seit geraumer Zeit auch tiefe Risse bekommen. Mehrere Konfliktfelder – Notwendigkeit und Möglichkeit der Entwicklung europäischer und vor allem deutsch-französischer Waffensysteme oder starke Abhängigkeit von den USA, gemeinsame Kampfverbände, Energiekonkurrenzkampf, Finanzpolitik – werden weiter für Zündstoff sorgen. Auch wird die Verdoppelung des Rüstungshaushaltes das militärische Gewicht von Deutschland und die Forderung nach Anspruch auf eine Führungsrolle verstärken. Vieles wird davon auf Kosten von Frankreich gehen (Tendenz des Jeder für sich).
Während so die Konflikte in Europa und vor allem mit Frankreich an Schärfe zunehmen, wird sich eine stärkere militärische Position Deutschlands gegenüber USA oder anderswo auf der Welt nur zusammen vor allem mit Frankreich aufbauen lassen. Da die Aufrüstung überall die Frage der nuklearen Wiederbewaffnung/Aufrüstung stellen wird, wird jetzt schon die Frage der Gefahr der Unzuverlässigkeit des amerikanischen „Schutzschildes“ unter Trump erörtert und die Unzulänglichkeiten der französischen Nuklearstreitkräfte im Falle eines Krieges in Europa betont.[4]
Auch in Osteuropa zeigen sich die Auswirkungen der Zeitenwende. Nach 1989 gab es in Osteuropa eine „Öffnung nach Westen“, ein Land nach dem anderen wollte in die EU und auch die Nato drang vor (zum Teil gegen den Willen Deutschlands, um nicht Russland zu provozieren, aber wohl auch um den USA nicht noch mehr Einfluss zu überlassen). Aus Kalkül aber auch weil man noch nicht die Mittel hatte, setzte Deutschland nicht prioritär auf eine militärische Karte in Europa, was es aber nicht daran hinderte, auf dem Balkan Kroatien anzustacheln. Seine Joker waren Integration, bzw. Anbindung an die EU/Deutschland. Zirka 2 Jahrzehnte dominierte eine Politik der relativ starken Anbindung und zumindest teilweise Zusammenarbeit, (selbst während des 10 Jahre andauernden Balkankriegs), aber seit einigen Jahren sind Kräfte der Fragmentierung am Werk und das Zerbröseln der EU ist im Gang – am stärksten Ungarn, Polen, Slowakei.
Die zuvor eine Zeit lang eingehegten nationalen Interessen in Osteuropa nehmen nun die Überhand – was sich unter anderem durch Auseinandersetzungen in Polen über eine pro-amerikanische oder eher eine EU Orientierung, in Ungarn über eine Russland-freundliche Orientierung und Blockadehaltung gegenüber der EU äußert. Die jahrelang als „Lockmittel“ eingesetzte Einstimmigkeit innerhalb der EU, die jedem Mitgliedsstaat – unabhängig von Größe/Gewicht) die gleiche Stimmenzahl bei bestimmten Entscheidungen einräumt, erweist sich längst bei vielen Fragen als idealer Hebel des „Jeder für sich“ und als Sprengstoff für die Einheitlichkeit. Man kann generell von wachsender Zerbröselung der EU sprechen.[5]
Der Aufstieg der rechten bzw. populistischen Kräfte in Europa bewirkt einen Einflussverlust der EU-Institutionen und des Gewichtes Deutschlands. All die populistischen und rechten Parteien verwerfen die relative Dominanz Deutschlands in der EU.
Seit dem Vordringen Chinas über die diversen Stoßrichtungen der Seidenstraße war der europäische und insbesondere der deutsche Einfluss in Süd-Osteuropa untergraben worden. Durch dem Ukrainekrieg ist der Vorstoß Chinas in Osteuropa zwar gebremst aber pro-russische Kräfte in Europa haben Auftrieb erhalten. All das beschleunigt das Zerbröckeln der Beziehungen verschiedener Ost-EU-Staaten gegenüber der EU und hat sogar zu neuen, bislang in dem Ausmaß nicht vorhandenen Konflikten geführt, z.B. zwischen Polen und der Ukraine. Weil infolge des Ukrainekrieges der Militarismus durch den Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens auch viel tiefer in Skandinavien und vor allem im Baltikum wuchert, hat Deutschland seine militärische Präsenz in der Ostsee (insbesondere in Litauen) verstärkt.
Deutschland wird weiter um das besondere Verhältnis zur Türkei kämpfen, das als klassischer Herausforderer in Konflikte/Kriege mit all seinen unmittelbaren oder mittelbaren Nachbarn geraten ist. Deutschland ist allerdings für die Flüchtlingsabwehr sehr stark auf die Türkei angewiesen, was bedeutet, dass die Türkei u.a. in deren Konflikt mit Griechenland, das stärker von Frankreich gegen die Türkei unterstützt wird, die Interessenskollision Deutschland-Frankreich im östlichen Mittelmeer ausschlachtet und Deutschland zu mehr Zugeständnissen an die Türkei (auf Kosten von Frankreich) zwingt.
Durch den Ukrainekrieg wollten die USA möglichst viele Staaten (insbesondere die BRICS-Staaten) hinter sich gegen Russland scharen. Dies ist den USA nicht gelungen. Deutschland wird gegenüber Indien, Brasilien verstärkt Anstrengungen zur Intensivierung der Beziehungen unternehmen, um deren Bestätigung eigener Interessen zu unterstützen und gegenüber den USA mehr Gewicht zu bekommen.
Bislang war es eine Stärke der deutschen Bourgeoisie, dass sie sich auf der Ebene der außenpolitischen Orientierungen als entscheidungsfähig und relativ geschlossen zeigte. Mit der Sozialdemokratie an der Spitze der Ampel-Koalition verfügt die deutsche Bourgeoisie über eine in Sachen Kriegsmobilisierung seit dem 1.Weltkrieg sehr erfahrene Partei, die dabei Bahnbrechendes für das deutsche Kapital geleistet hat.
Die SPD kann zurzeit am besten den Bedürfnissen des deutschen Kapitals dienen. Besonders geschickt wird die Sozialdemokratie dabei gegenwärtig von den Grünen unterstützt. Diese können von der deutschen Bourgeoisie als ein Segen betrachtet werden, denn deren ideologische Mobilisierung zur Zeit des Balkankrieges trug bei den Bombardierungen Belgrads dazu bei, Deutschland auf militärischer Ebene wieder direkt mitwirken zu lassen. Und sowohl beim Ukrainekrieg als auch bei der Unterstützung Israels treten die Grünen mit am aggressivsten auf, dagegen können sie bei der Politik gegenüber China zu einer Belastung werden. Denn ihr vermeintlicher Anspruch des Schutzes der Menschenrechte spielt den USA gegenüber China in die Hände, da dies die Druckmittel der USA erhöht und die deutsche Eigenständigkeit schmälern kann. Dennoch ist ihr Verdienst in den letzten 25 Jahren bei der Rechtfertigung des Militarismus gewaltig.
Das Aufrüsten und Tabubrechen gerade des deutschen Imperialismus und die weltweit stattfindende Zerstörung stellt die Arbeiterklasse vor eine extreme Herausforderung. Sie ist es, die als alleinige Kraft gegen die brutalen Angriffe auf ihre Lebensbedingungen und den zerstörerischen Militarismus reagieren kann – und schlussendlich muss. Die Mobilisierungen und Streiks seit Herbst 2022 in Großbritannien in verschiedensten Ländern sind eine Reaktion auf die Barbarei des Kapitalismus, die kämpferisch sein und noch viel weiter gehen muss.
TW 10. Februar 2024
[1] Seit Februar 2022 hat die Bundesregierung der Ukraine bereits Hilfen im Gesamtwert von 27,8 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt, als „humanitäre Unterstützung“, direkte Zahlungen oder in Form von Waffen. Dabei sind Unterstützungsleistungen, die Deutschland der Ukraine über EU-Programme gibt, noch nicht mit eingerechnet, d.h sie sind in Wahrheit noch umfangreicher. Damit ist Deutschland für die Ukraine weltweit der größte Geber nach den USA. Die USA sind nach wie vor die größten Zahler bei Militärhilfen im Umfang von 44 Milliarden Euro. Deutschland folgt an zweiter Stelle mit 17 Milliarden Euro. Für Geflüchtete aus der Ukraine müssen nochmal mindestens pro Monat ca. eine Milliarde Euro aufgebracht werden.
[2] Von den 40.000 ukrainischen Soldaten, die in der EU ausgebildet wurden, wurden 10.000 in Deutschland geschult; weitere 10.000 sollen 2024 folgen. Die Bundeswehr bildet unter anderem am Flugabwehrsystem „Patriot“, der Panzerhaubitze 2000, dem Schützenpanzer „Marder“ und den Kampfpanzern „Leopard 1" und „Leopard 2“ aus. Zudem gibt es Trainings in militärischer Führung und im Sanitätsbereich. (lt. Bundeswehrangaben)
[3] https://www.bundeswehr.de/de/aktuelles/meldungen/generalinspekteur-zur-kriegstuechtigkeit-bundeswehr-5718502 [7]
[4] Präsident Emmanuel Macron drängt darauf, das geplante europäische Flugabwehrsystem (European Sky Shield Initiative, ESSI) um eine nukleare Abschreckungskomponente zu erweitern. Da diese nach Lage der Dinge von Frankreich gestellt würde und Paris einen herausragenden Einfluss erlangen würde, lehnt die Bundesregierung die Pläne ab.
[5] Auch wenn jetzt in Polen eine vermutlich EU-freundlichere Regierung unter Tusk angetreten ist und dieser auch Frankreich-Deutschland gegenüber besser gesonnen ist, ist die tiefergehende Dynamik damit nicht gebrochen.
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Wir veröffentlichen hier unsere Antwort auf einen Aufruf der Antimilitaristischen Initiative[1], einem hauptsächlich in Osteuropa angesiedelten Netzwerk, das Teil einer breiteren Infragestellung der kapitalistischen Kriegstendenz im Gefolge der Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten ist. Eine ganze Reihe von Gruppen, von denen sich die meisten mit der anarchistischen Tradition identifizieren, haben Erklärungen abgegeben und zu Konferenzen aufgerufen, um zu diskutieren, „was zu tun ist“ angesichts der zunehmend katastrophalen Perspektiven, die diese Kriege eröffnen.
Wir begrüßen die Tatsache, dass der AMI-Blog eine Reihe von Artikeln der IKS über Krieg und Internationalismus veröffentlicht hat, darunter ein Interview mit Marc Chirik über Revolutionäre, die mit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert sind, und einen Artikel, der die tiefgreifenden Divergenzen aufzeigt, die der Krieg in der Ukraine innerhalb der anarchistischen „Familie“ offenbart hat, zwischen denen, die eine klare internationalistische Haltung einnehmen wollen, und denen, die offen für die Verteidigung des ukrainischen Staates eintreten.[2] In unserer Antwort ermutigen wir die AMI, die in ihren Reihen geführten Diskussionen weiter zu vertiefen, und plädieren gleichzeitig für die Notwendigkeit, eine globale Analyse zu entwickeln, die diese Kriege in einen historischen und globalen Kontext stellt. Nur so können wir die Perspektiven, die das kapitalistische System bietet, und vor allem die realen Möglichkeiten des Klassenkampfes und der Intervention von Revolutionären angesichts des imperialistischen Krieges verstehen. Ohne eine solche Analyse ist es leicht, in einen sterilen Aktivismus zu verfallen, der nur in Demoralisierung enden kann, da er zwangsläufig keine unmittelbaren Ergebnisse bringt.
Liebe Genossinnen und Genossen, entschuldigt bitte die lange Verzögerung bei der Beantwortung eurer Anfrage. Ihr habt in eurer letzten Korrespondenz erwähnt, dass ihr folgende Themen diskutiert:
1) Analyse des eskalierenden Konflikts im Nahen Osten
2) Wie man praktische Aktionen gegen die kapitalistischen Kriege organisieren kann
3) Wie man die innerimperialistischen Konflikte in einen revolutionären Klassenkampf verwandeln kann.
Wir möchten Euch einige Kernpunkte als Beitrag zu Euren Debatten übermitteln.
Wir haben mehrere Artikel zur Analyse der Situation veröffentlicht – falls ihr diese noch nicht gesehen habt, findet Ihr die URL-Links am Ende unserer Antwort.
Aus diesen Artikeln können wir ein paar Punkte hervorheben.
Der jüngste Krieg im Nahen Osten, der zeitgleich mit dem Krieg in der Ukraine (der bald sein drittes Jahr erreicht) und den zunehmenden Spannungen im Kaukasus, auf dem Balkan und anderswo stattfindet, kann nicht von der globalen Konfrontation zwischen den USA und China abgekoppelt werden.
Doch während die USA im Nahen Osten mehrere Fiaskos erlebt haben (Irak-Syrien-Afghanistan) und beschlossen haben, ihre Kräfte darauf zu konzentrieren, China daran zu hindern, die führende Weltmacht zu werden (was die Niederlage der USA bedeuten würde), ist die jüngste Eskalation im Nahen Osten für die USA gewissermaßen ein „unerwünschter“ Krieg.
Die Position der USA im Nahen Osten wurde insbesondere durch das Vorgehen Israels geschwächt (Verhängung des größten Exodus der Gaza-Bevölkerung aller Zeiten und brutale Vergeltung durch eine Politik der verbrannten Erde).
Außerdem haben die USA Russland in den Krieg in der Ukraine gelockt. Russland hat versucht, seine verlorenen Positionen aus der Zeit der Existenz der beiden Blöcke zurückzuerobern. Das kann es nur militärisch tun – wie es bereits durch seine heftige Unterstützung des syrischen Regimes gezeigt hat. Dieser ukrainisch-russische Krieg wird nun zunehmend schwieriger – weil er zu einem stagnierenden Krieg geworden ist und die Unterstützung der Ukraine in den USA zunehmend unpopulär geworden ist.
Der Aufstieg Chinas hat sich nicht nur durch sein enormes Wirtschaftswachstum vollzogen. Dies ging stets mit einer langfristigen Strategie der Modernisierung und des Ausbaus seiner Armee einher; und seine Seidenstraßen-Projekte offenbaren das Ausmaß seiner Ambitionen, ebenso wie seine Drohung, Taiwan in China integrieren zu wollen, und die Politik, eine größere Präsenz im Südchinesischen Meer zu etablieren – all dies wird von den westlichen Ländern bekämpft. Ein Projekt nach dem anderen, die der Seidenstraße entgegenwirken sollen, wurden von der EU, den USA und Indien eingefädelt.
Wir sehen eine weltweite Verschärfung der Spannungen, die immer mehr Länder erfasst, und der jüngste Krieg im Nahen Osten zeigt auch, dass die USA zunehmend die Kontrolle über ihren Gendarmen (Israel) in der Region verlieren. Mit der Entfesselung des Ersten Weltkriegs, des Zweiten Weltkriegs, des Kalten Krieges und der vielen Stellvertreterkriege danach ist der Militarismus zum Überlebensmodus des kapitalistischen Systems und zu einem echten Krebsgeschwür geworden, das sich in sein Herz frisst.
Allein diese Dynamik zeigt bereits, dass wir dieses Krebsgeschwür des Militarismus nicht ausrotten können, wenn der Kapitalismus nicht überwunden wird.
Gleichzeitig haben die führenden Politiker und „Experten“ auf der UN-Klimakonferenz in Dubai (COP 28) gezeigt, dass die herrschende Klasse nicht in der Lage und größtenteils nicht willens ist, die notwendigen Maßnahmen zum Schutz des Planeten zu ergreifen. Das Schicksal unseres Planeten in den Händen der kapitalistischen Klasse zu belassen, bedeutet, dass die Menschheit ihr Todesurteil unterschreibt – ein weiterer dringender Grund, das kapitalistische System zu überwinden.
Wir werden nicht auf die Auswirkungen der Wirtschaftskrise, der Hungersnöte und der massiven Flüchtlingsströme eingehen, die auf allen Kontinenten existieren, die allesamt Ausdruck derselben Sackgasse sind, in die der Kapitalismus die Menschheit getrieben hat.
Kurz gesagt: Wir können nicht verstehen, was geschieht, wenn wir nur einen Aspekt betrachten, sondern wir müssen die Gesamtheit und den Zusammenhang zwischen den verschiedenen zerstörerischen Komponenten verstehen.
Wie seht Ihr diesen Zusammenhang und die weltweite Entwicklung? Können wir die Ereignisse in einem Land verstehen, indem wir sie von den anderen isolieren, oder müssen wir sie in einem globalen Rahmen einordnen?
Wir haben auch festgestellt, dass es mehreren Gruppen gelungen ist, eine klare Position zum Krieg zwischen der Ukraine und Russland einzunehmen und die Unterstützung beider Seiten abzulehnen, während jedoch eine kristallklare internationalistische Position gegen den Krieg im Nahen Osten von einigen Gruppen vermieden wurde oder sehr viel schwieriger zu vertreten ist. Ein Grund dafür ist, dass viele Gruppen immer noch an der Idee festhalten, dass hinter der Bildung eines palästinensischen Staates etwas Fortschrittliches stecken könnte. Wir verteidigen die Position der Kommunistischen Linken, die in Kontinuität mit der Verteidigung des Internationalismus zur Zeit des Ersten Weltkriegs auch den Internationalismus zur Zeit des Zweiten Weltkriegs und gegen so genannte „nationale Befreiungskämpfe“ verteidigt hat. Die Unterstützung der Bildung eines neuen Staates in der von der Dritten Internationale als „Epoche der Kriege und Revolutionen“ bezeichneten Zeit ist eine völlig reaktionäre Idee, die nur weitere Kriege fördert. Wir müssen für die Abschaffung aller Staaten eintreten. Das Überleben des Planeten – der Menschheit – kann nicht durch mehr Staaten gesichert werden, sondern gerade die Abschaffung aller Staaten und die Überwindung aller Formen des Nationalismus.
Das war auch die Tradition der Gauche Communiste de France und von Marc Chirik, von dem ihr kürzlich ein Interview veröffentlicht habt.
Wir wünschten, wir könnten etwas mit unmittelbarer Wirkung gegen den Krieg tun. Unsere Empörung und Entrüstung über die Barbarei in der Ukraine oder im Nahen Osten führen verständlicherweise dazu, dass wir die Kriegsmaschinerie sofort stoppen möchten!
Aber wir müssen verstehen, dass Empörung nicht ausreicht und dass es nicht realistisch ist, von der Arbeiterklasse zu erwarten, dass sie sofort und entschlossen und kurzfristig effizient gegen den Krieg vorgeht. Um diesen und alle anderen Kriege beenden zu können, müssen wir nichts Geringeres tun, als den Kapitalismus zu überwinden!
Um das wahre Ausmaß der Herausforderung und die notwendige Lösung zu verstehen, müssen wir die Geschichte betrachten.
Es ist wahr, dass die Aufstände und Revolutionen der Arbeiterklasse im Jahr 1905 oder im Ersten Weltkrieg aus einer Reaktion gegen den Krieg entstanden sind. Aber die Bedingungen des damaligen Krieges und die der Gegenwart sind sehr unterschiedlich. In den Jahren 1914–18 wurden Millionen von Soldaten in den Kerngebieten des Kapitals mobilisiert; dies ist heute nicht mehr der Fall. Die Waffen, die 1914–18 eingesetzt wurden, waren Kanonen, zunehmend Panzer und auch einige Luftangriffe und chemische Waffen (Gas). Aber in den Schützengräben war es immer noch ein Kampf „Gewehr gegen Gewehr“. Der Krieg stagnierte, man verschanzte sich, und es gab immer noch die Möglichkeit des direkten Kontakts (Zurufe zwischen den Schützengräben). So konnte es nach einiger Zeit zu einer Verbrüderung in den Schützengräben kommen.
All dies ist heute nicht mehr der Fall. Die Waffen (Kugeln, Raketen, Drohnen, Bomben, Flugzeuge usw.) können große Entfernungen zurücklegen, so dass die Soldaten den Feind nicht einmal sehen.
Im Ersten Weltkrieg kam es schließlich zu einer massiven Mobilisierung der Soldaten – nicht nur zu Desertionen. Ab 1915 gab es Schritt für Schritt immer mehr Proteste auf der Straße und in den Betrieben, denn der Krieg bedeutete Arbeitsverdichtung, Militarisierung, erzwungenen „sozialen Frieden“ in den Betrieben und vor allem Hunger. Karl Liebknecht sprach vor 60.000 Arbeiterinnen und Arbeitern auf dem Potsdamer Platz, und es kam zu immer mehr Straßendemonstrationen und wilden Streiks – wobei auch die massenhafte Einberufung von Frauen in die Fabriken eine wichtige Rolle spielte. Die gesamte militärische Front und die Heimatfront brachen auseinander. In Russland begannen die Arbeiter gegen die Offiziere zu kämpfen und sich zu verbrüdern, und auch die vielen zwangsrekrutierten Bauern reagierten gegen den Krieg. Der menschliche/soziale Faktor spielte in der Kriegsmaschinerie eine Schlüsselrolle. Dennoch vergingen von August 1914 bis Februar 1917, dann bis Oktober 1917, drei Jahre des Gemetzels, und selbst die Revolution in Russland konnte den Krieg an den anderen Fronten noch nicht beenden. Erst im November 1918, mit dem Ausbruch der Revolution in Deutschland, kam es zu einer entscheidenden Wende, die den Weltkrieg beendete. Die Kieler Soldaten und Marinesoldaten hatten den Auftrag, die „letzte Schlacht“ gegen Großbritannien zu schlagen, doch die Matrosen erkannten, dass dies ihren Tod bedeuten würde. Sie mussten also direkt um ihr Leben, um ihr Überleben kämpfen. Die Kombination aus einer beginnenden Verbrüderung an der militärischen Front und dem Ausbruch von Kämpfen an der Heimatfront zwang die Bourgeoisie in Deutschland zu reagieren.
Diese Bedingungen sind heute nicht mehr gegeben. In der Ukraine und in Russland werden immer mehr Soldaten rekrutiert, und eine nennenswerte Reaktion der Klasse gegen den Krieg hat es bisher nicht gegeben – auch wenn es eine massive Abwanderung von Männern aus der Ukraine und noch viel mehr aus Russland gegeben hat, die der Zwangsrekrutierung entgehen wollten. Ein massiver offener Widerstand gegen den Krieg in Russland ist nicht in Sicht. Im Moment scheint es noch keine größere Lebensmittelknappheit oder einen Zusammenbruch der Wirtschaft zu geben. Es ist eine Besonderheit der russischen Situation, dass die russische Wirtschaft so stark von Öl- und Gasexporten abhängig war, dass die Sanktionen des Westens/der USA Russland gezwungen haben, mehr an andere Länder zu verkaufen – was Russland geholfen hat, Zeit zu gewinnen, und dem Putin-Regime geholfen hat, einen massiven wirtschaftlichen Angriff auf die Arbeiterklasse zu vermeiden. Aber dieser Zeitgewinn wird wahrscheinlich nicht ewig anhalten, und die Reaktion der Arbeiterklasse in Russland, die ein Schlüsselfaktor für die Ablehnung des Krieges wäre, bleibt ein unbekannter, unvorhersehbarer Faktor. Die Arbeiterklasse in der Ukraine ist noch mehr mit einem allgegenwärtigen Nationalismus konfrontiert. Jeglicher Widerstand gegen den Krieg wird wahrscheinlich vom Selenskyj-Regime niedergeschlagen werden.
Deshalb müssen wir uns die Arbeiterklasse im Westen ansehen. Weil die Arbeiterklasse im Westen nicht direkt für den Krieg mobilisiert werden kann – die meisten Arbeiter würden es ablehnen, ihr Leben für den Krieg zu opfern – und weil die NATO-Länder es sorgfältig vermieden haben, mit Stiefeln das Schlachtfeld zu betreten, weil sie wissen, dass die Arbeiterklasse und vielleicht andere Teile der Bevölkerung im Westen dies nicht unterstützen würden. So hat der Westen vor allem das gesamte Waffenarsenal geliefert, das zur Verlängerung des Krieges notwendig ist.
Paradoxerweise sind die Reaktionen in den USA in der republikanischen Partei sehr aufschlussreich. Die Ablehnung, den Krieg in der Ukraine weiter zu finanzieren, wächst, weil dies auf Kosten der US-Wirtschaft gehen würde. Sie sind sich auch bewusst, dass die Arbeiterklasse nicht bereit ist, ihr Leben zu opfern und für den Krieg in der Ukraine zu hungern.
Ein weiterer Faktor muss in Betracht gezogen werden. Im Oktober 1917 gelang es der Arbeiterklasse in Russland, eine relativ schwache und zu diesem Zeitpunkt noch isolierte Bourgeoisie zu stürzen. Die „Weiße Gegenoffensive“ mit dem Bürgerkrieg begann erst ein Jahr später.
Aber die deutsche Bourgeoisie war eine viel erfahrenere und mächtigere Bourgeoisie, und sie war in der Lage, den Krieg im November 1918 „über Nacht“ zu beenden, als die Matrosen von Kiel begannen, sich zu bewegen und Soldaten und Arbeiterräte zu gründen, die den Weg der russischen Revolution einschlugen.
Das deutsche Proletariat sah sich also einer viel erfahreneren, intelligenteren Bourgeoisie gegenüber, die sofort von den anderen Bourgeoisien unterstützt wurde, sobald das Proletariat in Deutschland sein Haupt zu erheben begann.
Heute steht die Arbeiterklasse einer zunehmend zerstritteneren Kapitalistenklasse gegenüber, die aber trotz ihrer Zerstrittenheit mehr denn je entschlossen ist, ihre Kräfte zu bündeln, wenn ihr Todfeind, die Arbeiterklasse, ihr Haupt erhebt. Und sie können auch auf die Gewerkschaften, die linken Parteien usw. zählen, um die Kämpfe der Arbeiter zu sabotieren. Eine unmittelbare Dynamik in Richtung einer Radikalisierung der Kämpfe gegen den Krieg ist also noch nicht zu erwarten.
Wo liegt der Schlüssel?
Der Schlüssel liegt immer noch in den Händen der Arbeiterklasse.
Wir sind der Meinung, dass die Arbeiter und Arbeiterinnen in Großbritannien, Frankreich und seit kurzem auch in den USA begonnen haben, den Beweis dafür zu erbringen. Angetrieben von der Inflation oder anderen starken Angriffen hat die Arbeiterklasse in vielen Ländern begonnen, sich zu bewegen und eine jahrzehntelange Periode der Passivität und Desorientierung angesichts der sich entfaltenden Ereignisse zu durchbrechen. Deshalb sprechen wir von einem „Bruch“ im Klassenkampf.[3]
Wir denken, dass diese Fähigkeit der Arbeiterklasse, ihre wirtschaftlichen Interessen zu verteidigen, die Voraussetzung für die Entwicklung ihrer Stärke, ihres Selbstbewusstseins ist, durch die das Proletariat sich selbst erkennen und klar verstehen kann, dass es zwei große Klassen gibt, die einander gegenüberstehen.
In diesem Sinne sind die wirtschaftlichen Verteidigungskämpfe absolut notwendig. In diesen wirtschaftlichen Kämpfen muss die Arbeiterklasse lernen, die Kämpfe selbst in die Hand zu nehmen (was sie schon lange nicht mehr getan hat), sie muss wieder lernen, ihre wirklichen Feinde (dies sind nicht die Migranten, die Flüchtlinge – wie alle Populisten und die Rechten behaupten – sondern diejenigen, die sie ausbeuten!) und ihre Klassenbrüder und -schwestern zu identifizieren, die eine Klassensolidarität entwickeln können, indem sie sich zusammenschließen und die Kämpfe selbst aufnehmen.
Und durch die wirtschaftlichen Abwehrkämpfe müssen die Arbeiterinnen und Arbeiter wieder lernen zu erkennen, dass die Probleme viel tiefer im System verwurzelt sind und nicht die Schuld irgendeines faulen und gierigen Bankers sind (wie uns die Occupy-Bewegung von 2011 glauben machen wollte) und dass auch alle anderen Bedrohungen für das Überleben der Menschheit im Grunde im System verwurzelt sind. So braucht dieser Prozess der Politisierung das Feuer des Klassenkampfes, aber die Diskussionen, die in verschiedenen Teilen der Klasse geführt werden, können durch diese offenen Kämpfe vorangetrieben und katalysiert werden.
Rosa Luxemburg betonte im November/Dezember 1918 die Unverzichtbarkeit eines viel stärkeren Drucks von Seiten der Fabriken und der ökonomischen Kämpfe, nachdem der „Soldatenrevolution“ durch die Entscheidung der Bourgeoisie, den Krieg zu beenden, der Wind aus den Segeln genommen worden war.
Dies ist die Dynamik des Klassenkampfes seit 1905, als klar wurde, dass politische und wirtschaftliche Kämpfe in einem großen Strom zusammenfließen müssen: dem Massenstreik.
Und indem die Arbeiterklasse durch den Kampf für ihre wirtschaftlichen Interessen zu einer Klasse zusammenwächst, kann sie auch den zerstörerischen Einfluss aller Arten von trennenden Faktoren wie „identitären“ Themen (um Rasse, Sexualität usw.) blockieren. Indem die Arbeiterklasse durch ihre wirtschaftlichen Kämpfe gezwungen ist, die Solidarität aller anderen Arbeiterinnen und Arbeiter zu suchen, um sich dem Staat zu widersetzen, und durch die Ausweitung und Vereinheitlichung der Kämpfe stärker als die Kapitalistenklasse zu sein, kann die Arbeiterklasse die Rolle eines Magneten in der Gesellschaft spielen, der all jenen eine Perspektive bietet, die vom Kapital unterdrückt werden – nicht indem sie sich in einer anonymen Masse von Individuen auflöst, sondern indem sie als vereinte Kraft gegen die herrschende Klasse auftritt.
Wenn wir darauf bestehen, dass die Klasse ihre ökonomischen Kämpfe entwickeln muss, bedeutet das mitnichten, dass wir vor unserer Verantwortung gegenüber dem Krieg davonlaufen. Aber es ist der einzige Weg, um eine effiziente Antwort zu entwickeln. Zu glauben, dass eine sofortige Lösung durch irgendeine Art von Minderheiten-“Aktion“ gefunden werden kann, ist eine Sackgasse und wird letztendlich diejenigen, die sich daran beteiligen, demoralisieren.
Es ist unerlässlich zu verstehen, wie Anton Pannekoek in seinem berühmten Buch „Weltrevolution und kommunistische Taktik“ von 1920 betonte, dass die proletarische Revolution die erste Revolution in der Geschichte ist, die vollständig von der kollektiven, bewussten und massiven Aktion der Arbeiterklasse abhängt. Sie kann auf keine andere Kraft zählen als auf ihre eigene Stärke – ihr Bewusstsein und ihre Solidarität, ihre Fähigkeit zur Einigung.
Sich Illusionen über einen einfachen und schnellen Ausweg zu machen, ist irreführend und demoralisierend. Deshalb haben wir den Plan der Internationalist Communist Tendency ICT, Komitees gegen den Krieg (NO War But The Class War, NWBTCW) zu bilden, abgelehnt. Unserer Ansicht nach vernebeln diese Komitees die wesentliche politische Rolle, die revolutionäre Organisationen angesichts imperialistischer Kriege spielen müssen. Wir haben mehrere Artikel darüber geschrieben.[4]
Kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges haben wir auch in einem Artikel über Militarismus und Zerfall zu dieser Frage Stellung genommen, aus dem wir hier zitieren:
„8) In der Vergangenheit haben wir die Losung des "revolutionären Defätismus" kritisiert. Diese Losung, die während des Ersten Weltkriegs insbesondere von Lenin hervorgehoben wurde, beruhte auf einem grundlegend internationalistischen Anliegen: der Entlarvung der von den Sozialchauvinisten verbreiteten Lügen, dass ihr Land zuvor den Sieg erringen müsse, damit die Proletarier dieses Landes in den Kampf für den Sozialismus eintreten könnten. Angesichts dieser Lügen wiesen die Internationalist:innen darauf hin, dass nicht der Sieg eines Landes den Kampf der Proletarier dieses Landes gegen ihre Bourgeoisie förderte, sondern im Gegenteil seine Niederlage (wie die Beispiele der Pariser Kommune nach der Niederlage gegen Preußen und der Revolution von 1905 nach dem Debakel Russlands gegen Japan gezeigt hatten). Später wurde diese Parole des "revolutionären Defätismus" so interpretiert, dass das Proletariat in jedem Land die Niederlage der eigenen Bourgeoisie herbeisehnt, um den Kampf für deren Sturz zu fördern, was natürlich einem echten Internationalismus den Boden entzieht. In Wirklichkeit hat Lenin selbst (der 1905 die Niederlage Russlands gegen Japan begrüßt hatte) vor allem die Losung "Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg" hervorgehoben, die eine Konkretisierung des Änderungsantrags darstellte, den er zusammen mit Rosa Luxemburg und Martow auf dem Stuttgarter Kongress der Sozialistischen Internationale 1907 eingebracht und durchgesetzt hatte: "Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.“ (Internationaler Sozialistenkongress zu Stuttgart, 1907)
Die Revolution in Russland 1917 war eine glänzende Umsetzung der Losung "Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg": Die Proletarier richteten die Waffen, die ihnen die Ausbeuter anvertraut hatten, um ihre Klassenbrüder in anderen Ländern abzuschlachten, gegen ihre Ausbeuter. Obwohl es, wie oben erwähnt, nicht ausgeschlossen ist, dass Soldaten ihre Waffen gegen ihre Offiziere richten könnten (im Vietnamkrieg kam es vor, dass amerikanische Soldaten "versehentlich" Vorgesetzte töteten), wären solche Vorfälle nur von sehr begrenztem Ausmaß und könnten in keiner Weise die Grundlage für eine revolutionäre Offensive bilden. Aus diesem Grund sollten wir in unserer Propaganda weder die Losung des "revolutionären Defätismus", noch die Losung der "Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg" in den Vordergrund stellen.
Aus diesem Grund muss in unserer Propaganda nicht nur die Losung vom "revolutionären Defätismus", sondern auch die Losung von der "Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg" in Frage gestellt werden.
Allgemeiner gesagt, ist es die Verantwortung der Gruppen der Kommunistischen Linken, eine Bilanz der Positionierung der Revolutionäre gegenüber dem Krieg in der Vergangenheit zu ziehen, indem sie herausstellen, was weiterhin gültig ist (die Verteidigung der internationalistischen Prinzipien) und was nicht mehr gilt (die "taktischen" Losungen). In diesem Sinne kann zwar die Losung von der "Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg" von nun an keine realistische Perspektive mehr darstellen, aber es ist andererseits angebracht, die Gültigkeit des 1907 auf dem Stuttgarter Kongress angenommenen Zusatzes zu betonen und insbesondere die Idee, dass Revolutionäre "die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen" haben. Diese Losung ist angesichts der gegenwärtigen Schwäche des Proletariats natürlich nicht sofort umsetzbar, aber sie bleibt ein Wegweiser für das Eingreifen der Kommunisten in die Klasse.“ [5]
Was dies für die Rolle der Revolutionäre bedeutet, die eine kleine Minderheit sind, haben wir in unserer „Gemeinsamen Erklärung gegen den Krieg“ und in unserem Aufruf an die Gruppen der Kommunistischen Linken, den ihr vielleicht gesehen habt, zu entwickeln versucht.[6]
Wir würden uns freuen, wenn ihr uns über die Diskussionen in euren Reihen informieren würdet, und wir sind natürlich auch gerne bereit, direkt mit euch zu diskutieren. Wenn ihr Material habt, das ihr uns zur Lektüre empfiehlt, schickt es uns bitte zu.
Wir hoffen, dass wir bald einen direkten Austausch in die Wege leiten können.
Wir sind gespannt auf eure Entgegnung – und entschuldigt uns nochmals die späte Antwort.
Kommunistische Grüße
Internationale Kommunistische Strömung IKS
10.12.2023
Der Kapitalismus führt zur Zerstörung der Menschheit, nur die Weltrevolution des Proletariats kann dem ein Ende setzen [9] (Beilage zur Weltrevolution: Drittes Manifest der IKS)
Massaker und Kriege in Israel, Gaza, der Ukraine, Aserbaidschan...
Der Kapitalismus sät den Tod! Wie kann er daran gehindert werden? [10] (Flugblatt, November 2023)
Die Realität hinter den bürgerlichen Slogans [11], IKSonline 2023
Der Krieg im Nahen Osten: ein weiterer Schritt in die Barbarei und das globale Chaos [12], Weltrevolution Nr. 186
Aktualisierung des Orientierungstextes von 1990: Militarismus und Zerfall (Mai 2022) [13], Internationale Revue Nr. 58
Bericht des 25. Kongresses über die imperialistischen Spannungen [14], Internationale Revue Nr. 59
[2] The revolutionary movement and the Second World War: interview with Marc Chirik, 1985 [16]; Between internationalism and the “defence of the nation” [17]. Der Artikel von AMI selber Anarchistischer Antimilitarismus und Mythen über den Krieg in der Ukraine [18] ist eine sehr klare Antwort auf die Argumente der “Anarcho-Verteidiger”.
[3] Unser Artikel dazu in Englisch: The struggle is ahead of us! [19], World Revolution 398
[4] Die ICT und die Initiative NWBTCW: ein opportunistischer Bluff der die Kommunistische Linke schwächt [20], Weltrevolution Nr. 186
[5] Aktualisierung des Orientierungstextes von 1990: Militarismus und Zerfall (Mai 2022) [13], Internationale Revue Nr. 58
[6] Ukraine Dossier: Capitalism is War - War on Capitalism! [21]
Gemeinsame Erklärung von Gruppen der internationalen Kommunistischen Linken zum Krieg in der Ukraine [22], Internationale Revue Nr. 58
Schluss mit den Massakern, keine Unterstützung für irgendein imperialistisches Lager! Nein zu pazifistischen Illusionen! Proletarischer Internationalismus! [23], IKS Online, Oktober 2023
Wir veröffentlichen hier eine Korrespondenz mit T., einem Kontakt in Deutschland, der sich auf die Mobilisierungen zur Unterstützung von "Freiheit für Palästina" konzentriert.
Genossen,
hier ist ein Diskussionsbeitrag von mir:
Eine Kritik von mir ist, dass die IKS andere politische Positionen, die nicht dem Verständnis der IKS von Internationalismus entsprechen, als anti-internationalistisch darstellt. Lenin hatte eine andere Position zum anti-kolonialen/anti-imperialistischen Kampf als Rosa Luxemburg – ist er aber etwa kein Internationalist gewesen? Eine kurze Recherche zum Thema ergibt, dass Lenin ganz klar den anti-kolonialen Kampf politisch unterstützt. Zentral ist hierbei das „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“. Er schreibt: „Die Sozialisten haben nicht nur die bedingungslose und sofortige Befreiung der Kolonien zu fordern – diese Forderung bedeutet aber politisch nichts anderes als die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen – sondern sie müssen auch revolutionäre Elemente in den bürgerlich-demokratischen nationalen Befreiungsbewegungen in diesen Ländern entschieden unterstützen und ihrer Auflehnung, ihren Aufständen, respektive ihrem revolutionären Kriege gegen die sie unterjochenden imperialistischen Staaten beistehen.“[1]
Er wirft darüber hinaus denjenigen Sozialisten, die nicht für das Selbstbestimmungsrecht eintreten vor, dass sie Lakaien der imperialistischen Bourgeoisie sind. Er schreibt in Bezug auf diese Sozialisten: „[…] daß solche Sozialisten als Chauvinisten, als Lakaien der von Blut und Schmutz triefenden imperialistischen Monarchien und imperialistischen Bourgeoisie handeln“.[2]
Und Lenin bringt auch noch etwas Wichtiges auf den Punkt: „Als Gegengewicht zu dieser spießbürgerlichen opportunistischen Utopie muß das Programm der Sozialdemokratie als das Grundlegende, Wesentliche und Unvermeidliche beim Imperialismus die Einteilung der Nationen in unterdrückte und unterdrückende hervorheben.“[3]
Auch wenn der Imperialismus ein Welt-System ist und ich auch der Überzeugung bin, dass es keine „fortschrittlichen“ nationalen Kämpfe geben kann, so stellt sich trotzdem folgende Frage: Ist der Nationalismus des israelischen Staates das GLEICHE wie der Nationalismus der Palästinenser? Gibt es hier aus Sicht der IKS keinen Unterschied zwischen der unterdrückenden Seite und der unterdrückten Seite? Um es also mal ganz deutlich auf den Punkt zu bringen: Zwar sehe ich, dass die nationalistisch-religiöse Politik von Teilen der palästinensischen Bevölkerung keine emanzipatorische, sozialistische Perspektive bietet (sondern eher unterdrückt). Insofern ist die Kritik daran auch unerlässlich. ABER: Wo führt eine Politik hin, die nicht zwischen Unterdrücker und Unterdrücktem unterscheidet? Diese Ebene der Unterdrückung fehlt in der Analyse der IKS. Denn faktisch besteht eine Unterdrückung auf der Ebene der Nationalität – wie Lenin sagt, ist dies ein Wesentliches Element am Imperialismus! Dieser Aspekt wird von der IKS nicht angesprochen, nicht ausgeführt, sondern eher ausgeblendet.
Wenn es aus Sicht der IKS keinen Unterschied geben sollte, würde dies zumindest erklären, warum das mörderische Vorgehen des israelischen Staates nicht im Fokus der Agitation steht. Es würde auch erklären, warum die Kritik am deutschen Staat und am imperialistischen Westen, mit Israel als Verbündetem, so zaghaft ist.
Ich komme zu keiner abschließenden Lösung des Problemfelds. Ich schließe mich auch nicht Lenins Position vollumfänglich an, finde aber, dass er wichtige Aspekte anspricht.
Die Positionierung der IKS wirkt schablonenhaft, da exakt die gleichen Argumente ins Feld geführt werden sowohl beim Ukraine-Krieg als auch beim Palästina-Krieg. Beide Fälle haben Gemeinsamkeiten – welche die IKS hervorhebt (These der Dekadenz, Beispiel für Zerfallsstadium) –, aber unterscheiden sich auch in wichtigen Punkten. Beispielsweise: Die Ukraine ist ein Staat, welcher von der NATO hoch-gerüstet wird. Palästina ist kein Staat. Sondern ein besetztes Gebiet, welches von der Besatzungsmacht eine „Autonomie-Behörde“ zugesprochen bekam. Es gibt viele weitere Unterschiede, dies war nur ein Beispiel.
Des Weiteren: Es stellt sich die Frage, wie es überhaupt zu dem Angriff der militanten Gruppen und dem blutigen Massaker am 7. Oktober kam. In Israel fragen sich einige (oder viele?) Leute: Wo war der Mossad und wo war die Armee? Haben sie nicht gnadenlos versagt? Wie konnte das geschehen? Die IKS übernimmt hier ganz einfach die offiziellen „Fakten“ und die offizielle Erklärung der Geschehnisse – die uns ja von interessierter Seite aufgetischt werden.
Hier kann ich sogar auf einen älteren Artikel der IKS verweisen, in welchem steht: „Allzu oft, wenn die IKS den Machiavellismus der Bourgeoisie enthüllt, beschuldigen unsere Kritiker uns, in eine verschwörerische Sichtweise der Geschichte abzugleiten. Jedoch ist ihr Unverständnis in diesem Zusammenhang nicht einfach ein Missverständnis unserer Analyse, sondern schlimmer noch: Sie fallen dem ideologischen Gewäsch der bürgerlichen Apologeten in den Medien und Akademien zum Opfer, deren Job es ist, diejenigen, die versuchen, die Strickmuster und Prozesse innerhalb des politischen, ökonomischen und sozialen Lebens der Bourgeoisie zu ermitteln, als irrationale Verschwörungstheoretiker zu verunglimpfen. Doch ist es nicht einmal kontrovers zu behaupten, dass „Lügen, Terror, Zwang, Doppelspiel, Korruption, Komplotte und politische Attentate“ zum Rüstzeug der ausbeuterischen, herrschenden Klassen in der gesamten Geschichte gehören, ob im Altertum, im Feudalismus oder im modernen Kapitalismus.“[4]
Den möglichen Machiavellismus seht ihr aktuell auf jeden Fall nicht bezüglich des 7. Oktobers! So sind schon Dokumente aufgetaucht, die große Fragen aufwerfen, siehe: „Dokumente enthüllen israelische Verschwörung zur Förderung des Angriffs vom 7.Oktober“.[5]
In einer englischen Publikation der IKS steht ein wichtiger Gedanke, der die Wichtigkeit des Themenkomplexes darstellt: „Aber es gibt noch etwas Schlimmeres: Diese Büchse der Pandora wird sich nie wieder schließen. Wie im Irak, in Afghanistan, in Syrien und in Libyen wird es kein Zurück, keine „Rückkehr zum Frieden“ geben.“[6]
Dies trifft meiner Meinung nach völlig zu. Die Problematik, welche ich darstellen wollte, liegt darin begründet, inwiefern der Abscheu gegenüber der hässlichen Fratze des westlichen Imperialismus in kollektivem Widerstand mündet. Einem Widerstand, der sich gegen die imperialistische Kriegslogik erheben kann. Wer hierbei die konkrete Ausformung des westlichen Imperialismus – wie wir es aktuell in der wahllosen Ermordung von über 10 000 Menschen im Gaza-Streifen sehen – nicht als Anknüpfungspunkt nimmt, lässt ein taktisches Vorgehen vermissen.
Beispielsweise gab es schon proletarische Aktionen, wie die Weigerung von Hafen-Arbeitern, Waffen und Munition zu verladen, die im Gaza-Krieg eingesetzt werden sollten. Davon erfährt man in der Presse der IKS leider auch nichts. – Dabei könnte genau dies ein konkreter, kleiner Schritt des proletarischen Internationalismus sein.
Folgende Einschätzung ist in ihrer verallgemeinerten Aussage nicht richtig und erinnert an die Verlautbarungen aus deutsch-imperialistischen Regierungskreisen: „Trotzdem nehmen sie [die Demonstranten] in Wahrheit an in ihrem Charakter kriegsbefürwortenden Demonstrationen teil, bei denen die Leitparole „Palästina wird frei sein, vom Fluss bis zum Meer“ nur durch die militärische Zerstörung Israels und die massenhafte Ermordung und Vertreibung der israelischen Juden erreicht werden kann – eine umgekehrte Nakba.“ (IKSonline-Beitrag)[7]
„In Wahrheit [nehmen sie] an in ihrem Charakter kriegsbefürwortenden Demonstrationen teil“? Sicherlich gibt es viele Teilnehmer, welchen die Problematik der nationalistisch-religiösen Zuspitzung nicht bewusst ist, und es gibt auch offen reaktionäre Kräfte. Den Demonstrationen aber einen grundlegend kriegsbefürwortenden Charakter zuzusprechen ist falsch. Und wie oben schon erwähnt, sehr gut kompatibel mit den offiziellen Verlautbarungen des deutschen und europäischen Imperialismus. Denn was der jetzt nicht gebrauchen kann, ist Widerspruch zum Schlachten in Gaza. Deshalb werden die Kritiker massiv angegangen und Demonstrationen verboten. Und die IKS ist dabei der Meinung, dass es sich um „kriegsbefürwortende Demonstrationen“ handelt?
Die multi-ethische Arbeiterklasse in Europa und den USA erhebt ihre Stimme gegen den Krieg – millionenfach! – und die IKS ist der Meinung, sie nehmen an „kriegsbefürwortenden Demonstrationen“ teil?
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Wir begrüßen den Beitrag des Genossen. Er hat sich wirklich bemüht, seine Position angesichts des Krieges im Nahen Osten zu erläutern, die sich hauptsächlich auf die von Lenin während des Ersten Weltkriegs entwickelten Positionen stützt. Mit seiner Kritik trägt er zur Klärung des Charakters des Gaza-Krieges bei, der einigen politischen Gruppen bereits ernste Probleme bei der Verteidigung der Perspektive der Weltarbeiterklasse bereitet hat. Für uns ist dies ein Grund mehr, auf diesen Beitrag sorgfältig zu reagieren.
Aber wir wollen mit einer methodologischen Frage beginnen. Da der Genosse keine Aussagen über den analytischen Rahmen, den wir verwenden, um unsere Position angesichts dieses Krieges zu entwickeln, macht, wissen wir nicht, ob seine Kritik nur bestimmte Punkte in der Analyse oder den gesamten politischen Ansatz der IKS betrifft. Es ist zum Beispiel nicht klar, ob der Genosse zu 100% mit dem vom der IKS vertretenen Internationalismus einverstanden ist oder nur unter bestimmten Bedingungen.
Auf jeden Fall scheint der Genosse mit uns darin übereinzustimmen, dass "diese Büchse der Pandora nie wieder geschlossen werden wird. Wie im Irak, in Afghanistan, Syrien und Libyen wird es kein Zurück mehr geben, keine 'Rückkehr zum Frieden'." Das ist ein wichtiger Punkt, denn daraus schließen wir, dass der Genosse mit uns übereinstimmt, was das Konzept der Irrationalität dieses Krieges angeht, in dem es keine Gewinner geben wird, sondern nur Zerstörung und weiteres Chaos. Aber diese Position ist nicht ohne Folgen, denn eine solche Position macht es sinnlos, eines der beiden Lager in diesem Krieg zu unterstützen. Vor allem, wenn der Genosse auch noch behauptet, dass in der Epoche des Imperialismus "fortschrittliche" nationale Kämpfe nicht mehr möglich sind.[8]
Deshalb sind wir umso erstaunter, dass der Genosse die Theorie der unterdrückenden und unterdrückten Nationen anführt, indem er den Worten Lenins folgt, dass "das Grundlegende, Wesentliche und Unvermeidliche beim Imperialismus die Einteilung der Nationen in unterdrückte und unterdrückende" ist[9]. Und zur Untermauerung dieser Position fügt er hinzu, dass "Palästina kein Staat" sei.
Es ist nicht ganz klar, was der Genosse damit sagen will, aber er scheint zu sagen, dass die palästinensische Nation der israelischen Nation nicht gleichgestellt ist, dass die Palästinenser in Wirklichkeit eine unterdrückte nationale Minderheit innerhalb des israelischen Staates sind, eine Vorstellung, die wir akzeptieren können. Dies ist eine ähnliche Situation wie die der unterdrückten Nationen im zaristischen Russland vor 1917. Und es war Lenin, der deshalb das "Selbstbestimmungsrecht der Völker" verteidigte. Doch diese taktische Position, die darauf abzielte, die Bedingungen für die Weltrevolution zu begünstigen, erwies sich als verhängnisvoll, als sie nach der Oktoberrevolution in die Praxis umgesetzt wurde. Rosa Luxemburg kritisierte 1918 zu Recht diese "Taktik", u.a. in ihrer Broschüre Zur Russsichen Revolution.
Darin zeigte Rosa Luxemburg anhand der empirischen Fakten, dass die Nationen, als sie nach dem Oktober 1917 die "Selbstbestimmung" erhielten, sofort zu reaktionären Formationen wurden und sich nicht nur gegeneinander, sondern auch gegen die Revolution wandten.[10]
Dies geschah aufgrund der Tatsache, dass der Kapitalismus in seine Dekadenzphase eingetreten war, eine völlig gespaltene Welt, die sich in einer historischen Krise und einem unumkehrbaren Niedergang befand. Der zunehmende Wettbewerb zwischen den Großmächten um einen Anteil am Weltmarkt führte zu militärischen Spannungen, die im Ersten Weltkrieg gipfelten. Nach dem Ersten Weltkrieg und angesichts des Scheiterns der wirtschaftlichen "Heilmittel" für die Krise des Kapitalismus blieb der Bourgeoisie als einziger Ausweg aus der Sackgasse nur noch die Flucht in Militarismus und Krieg. Aber auch die kleineren Nationen konnten sich dieser Logik nicht entziehen. Wenn sie überleben wollten, mussten sie die Flucht in den Militarismus akzeptieren und sich den globalen Forderungen der imperialistischen Großmächte beugen.
Jede nationale Bourgeoisie muss sich der Logik des permanenten Krieges des Kapitals, ihrer Lebensweise und der daraus folgenden Kette von imperialistischen Konflikten unterwerfen. Nationale Befreiung ist gleichbedeutend mit imperialistischem Krieg geworden und die Ideologie der "nationalen Befreiung" in der Dekadenz des Kapitalismus ist reaktionär.
Die Unterscheidung Lenins zwischen unterdrückenden und unterdrückten Nationen ist nicht falsch, aber sie berührt nicht die Wurzeln der kapitalistischen Produktionsweise. Unterdrückung und Unterdrückte sind überstrukturelle Merkmale, die keinen direkten Bezug zur Basis haben, und die Abschaffung einer bestimmten Form der Unterdrückung hat keine grundlegenden Auswirkungen auf die materiellen Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft. Der Kampf der Unterdrückten oder gar die Abschaffung der Unterdrückung von Palästinensern, Schwarzen oder Frauen – wenn dies im Kapitalismus überhaupt möglich wäre – hebt eben dieses System nicht auf. Im Gegenteil, wie im Fall der Palästinenser können wir sogar erwarten, dass ihre "Befreiung" vom unterdrückenden israelischen Regime, wenn sie überhaupt jemals gelingen sollte, mit Sicherheit zu einem Unterdrückungsregime wie in den anderen islamischen Staaten der Region führen würde und somit nicht zur Unterminierung des Kapitalismus – geschweige denn zu seiner Abschaffung.
Lenins Position, dass "das Grundlegende, Wesentliche und Unvermeidliche beim Imperialismus die Einteilung der Nationen in unterdrückte und unterdrückende" ist[11], lässt das Fenster weit offen für die Ansicht, dass alle Klassen in den unterdrückten, nicht-imperialistischen Nationen ein gemeinsames Interesse am Kampf gegen die unterdrückende Nation haben. Mit anderen Worten: Die Unterscheidung zwischen "Aggressoren und Angegriffenen", zwischen "Unterdrückern und unterdrückten Nationen" ist nicht nur ungültig, sondern bildet den ideologischen Rahmen, um die ausgebeutete Klasse in Kriege zur Verteidigung von Interessen zu ziehen, die nicht ihre eigenen sind. Daher wird sie von der extremen Linken des Kapitals häufig verwendet, um die Arbeiter aufzufordern, den Kampf der unterdrückten nationalen Bevölkerungen im Rahmen des imperialistischen Krieges zu unterstützen. Die wirklichen Klasseninteressen werden ausgeblendet und durch die "Interessen des Volkes" und die allgemeinen Interessen der unterdrückten Nation ersetzt.[12]
In seiner Theorie ging Lenin nicht nur von überstrukturellen Merkmalen aus, er teilte die Länder der Welt auch in drei Haupttypen ein und entwickelte für jeden dieser drei Typen eine andere Politik.[13] Aber die Arbeiterklasse ist eine internationale Klasse, und jede Politik, die darauf abzielt, die beste Taktik für jeden Teil der Welt zu definieren, steht im Widerspruch zu dem Prinzip, dass die proletarische Revolution auf weltweiter Ebene stattfinden muss und nicht nach den spezifischen Bedingungen in diesem oder jenem Teil der Welt. In diesem Sinne hat Rosa Luxemburg Recht, dass "jede sozialistische Politik, die dieses bestimmende historische [imperialistische] Milieu außer Acht lässt und sich nur von den isolierten Gesichtspunkten eines Landes inmitten des Weltstrudels leiten lassen will, von vornherein auf Sand gebaut ist".[14]
Im Gegensatz zum Genossen sind wir davon überzeugt, dass der Gazastreifen nicht nur ein nationales Gebilde ist, sondern dass das Regime in Gaza auch mehrere Funktionen eines bürgerlichen Staates hat: Es treibt Steuern ein und verfügt über eine Armee, einen Justizapparat, Haftanstalten, Geheimdienst- und Polizeipersonal usw. Es ist die De-facto-Verwaltung der Hamas, die diese staatlichen Funktionen ausübt und seit 2005 unter der Leitung einer stark zentralisierten Kommandozentrale in der Lage ist, Tausende von Raketen auf israelisches Gebiet abzufeuern. Es gibt nur eine mögliche Schlussfolgerung: Der Krieg in Gaza ist ein Krieg zwischen zwei imperialistischen Staaten.
Deshalb stimmen wir nicht mit dem Genossen überein, wenn er die Schlussfolgerung zieht, dass Revolutionäre als Ausgangspunkt für ihre taktische Position die "Abscheu gegenüber der hässlichen Fratze des westlichen Imperialismus (...), wie wir es aktuell in der wahllosen Ermordung von über 10.000 Menschen im Gazastreifen sehen", nehmen sollten. In Übereinstimmung mit den Positionen, die von der Tradition der Kommunistischen Linken verteidigt werden, entscheidet sich die IKS nicht für eines der imperialistischen Lager, weder aus taktischen Gründen noch wegen der Massaker und Gräueltaten, die von einem der imperialistischen Lager verursacht werden. Aber der Genosse scheint eine andere Sichtweise zu haben, die als konkreter Ausdruck seines theoretischen Ansatzes in der Kritik an der Position der IKS gegenüber den pro-palästinensischen Demonstrationen deutlich zum Ausdruck kommt.
In seiner Kritik kommt der Genosse zu dem Schluss, dass diese Demonstrationen im Gegensatz zu der in unserem Artikel Die Realität hinter den bürgerlichen Slogans vertretenen Position keine Pro-Kriegs-Demonstrationen waren. Nach Ansicht des Genossen handelte es sich um Pro-Palästina-Demonstrationen, die von den Arbeitern unterstützt wurden, und deshalb wurde die Kritik der Demonstranten an der Politik der westlichen Bourgeoisie von den Mainstream-Medien angegriffen.
Indem sie nicht die richtige taktische Haltung einnimmt, reiht sich die IKS angeblich in den Chor der anti-palästinensischen Kampagne ein. Aber unser Artikel hat Recht, wenn er sagt, dass der Slogan "Palästina wird frei sein, vom Fluss bis zum Meer" nur die ethnische Säuberung der jüdischen Bevölkerung in der Region zwischen Jordan und Mittelmeer bedeuten kann, "eine Nakba in umgekehrter Form". Und das hat nichts mit einer anti-palästinensischen oder pro-israelischen Position zu tun, sondern mit einer Position, die die Situation im Nahen Osten aus der Perspektive des Proletariats betrachtet und analysiert, der einzigen Klasse, die in der Lage ist, die kapitalistischen Verhältnisse zu überwinden und somit nicht von den antagonistischen Interessen der imperialistischen Staaten bestimmt wird.
Abschließend ist zu sagen, dass Krieg nicht das Ergebnis einer bestimmten Politik ist, die "mehr oder weniger nationalistisch", "mehr oder weniger aggressiv" usw. ist, sondern das Produkt des kapitalistischen Systems als Ganzes, das sich aus seiner Natur und den historischen Tendenzen der Dekadenz ergibt, denen kein Teil der herrschenden Klasse entkommen kann. In diesem Sinne gibt es in der Tat keinen Unterschied zwischen dem Nationalismus Israels und dem Nationalismus Palästinas: Beide Ideologien sind ein Deckmantel für die Kriegstreiberei und für die Unterdrückung der Arbeiterklasse durch den bürgerlichen Staat.
Dennis, Februar 2024
[1] W.I. Lenin, Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1916/01/nationen.html [24]
[2] ebenda
[3] ebenda
[4] Pearl Harbor 1941, Twin Towers 2001, Internationale Revue Nr. 29, https://de.internationalism.org/content/719/pearl-harbor-1941-twin-towers-2001 [25]
[6] Weder Israel noch Palästina! Die Arbeiterklasse hat kein Vaterland!, IKSonline 2023, https://de.internationalism.org/content/3139/weder-israel-noch-palaestina-die-arbeiterklasse-hat-kein-vaterland [27]
[7] https://de.internationalism.org/content/3163/die-realitaet-hinter-den-buergerlichen-slogans [11]
[8] Um Missverständnissen vorzubeugen: Für die IKS führten die "fortschrittlichen" nationalen Kämpfe im 19. Jahrhundert zur Bildung einer größeren Einheit der Bourgeoisie in bestimmten Gebieten, zur Zentralisierung der nationalen Wirtschaft und zur Integration von mehr Arbeitskraft.
[9] W.I. Lenin, Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, These 3: Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen und seine Beziehung zur Föderation
[10] Rosa Luxemburg: Zur Russischen Revolution, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1918/russrev/index.htm [28]
[11] W.I. Lenin, Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen
[12] Beispiele für die Position der extremen Linken des Kapitals: "Wir stehen fest an der Seite der unterdrückten palästinensischen Massen" (International Marxist Tendency); bekunden "einhellige Solidarität mit dem unterdrückten palästinensischen Volk" (Socialist Equality Party WSWS); zeigen wir unsere "Solidarität mit dem kolonisierten und unterdrückten palästinensischen Volk" (CPGB).
[13] W.I. Lenin, Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, These 3 Drei Typen von Ländern in Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht der Nationen
[14] Rosa Luxemburg : Die Krise der Sozialdemokratie (Junius-Broschüre), Kapitel 7, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1916/junius/teil7.htm [29]
Nach den 800 Zivilisten und 300 israelischen Soldaten, die bei einem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober letzten Jahres getötet wurden, hat ein neuer Ausbruch der Barbarei 150 Tote und 300 Verletzte gefordert, die von einem Kommando des Islamischen Staates (IS) bei der Erstürmung eines Rockkonzerts am 25. März in der Peripherie von Moskau mit Kugeln niedergemäht und einigen mit Messern die Kehle durchgeschnitten wurden. Zwischen diesen beiden tragischen Ereignissen rissen die Schrecken der israelischen Offensive in Gaza und die Eskalation des blutigen Krieges zwischen Russland und der Ukraine immer wieder unschuldige Menschen mit ins Grab und machten ganze Städte dem Erdboden gleich: Ersteres war für mehr als 32.000 Tote verantwortlich, darunter mehr als 13.000 Kinder. Und die tödliche Kombination aus anhaltenden Bombenangriffen, zunehmender Hungersnot und der Ausbreitung von Epidemien unter einer buchstäblich am Ende ihrer Kräfte befindlichen Bevölkerung kann die Bilanz nur noch stark erhöhen. Die zweite, die Intensivierung des Krieges in der Ukraine, hat die zweijährige Bilanz des Ukraine-Konflikts auf die erschreckende Zahl von mindestens 500.000 Toten erhöht, ganz zu schweigen von den zivilen Opfern, den Ruinen und der Verwüstung, die nun die Umgebung eines Teils der Ukraine bilden und auch die russische Stadt Belgorod bedrohen, die regelmäßig von der ukrainischen Artillerie bombardiert wird, aber auch Moskau selbst und weite Teile Russlands.
Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Auflösung des Westblocks im Jahr 1990 sind die dem dekadenten Kapitalismus innewohnenden Kriege nicht mehr symptomatisch für die Spannungen zwischen zwei rivalisierenden imperialistischen Blöcken und der von ihnen ausgeübten Disziplin. Sie gehorchen immer mehr der Logik des „Jeder für sich“ und des allgemeinen Chaos. Die aktuelle Weltlage veranschaulicht diese Tendenz insofern, als sich ein Land, nämlich Russland, mit zwei Gegnern im Krieg befindet, nämlich der Ukraine und dem Islamischen Staat, die kein Bündnis miteinander eingegangen sind.
Denn hinter der Ungeheuerlichkeit des Moskauer Attentats schimmert der ganze Ernst der Weltlage durch. Als die USA Russland dazu veranlassten, in die Ukraine einzumarschieren, damit sie sich in diesem Konflikt selbst schwächt, wollten sie nicht deren Zusammenbruch mit all den immensen Risiken, die ein Zerfall dieses Landes mit sich bringt, herbeiführen. Dennoch ist dies heute ein ernsthaftes Risiko.
Auch der IS, der Schlächter des Anschlags in einem Vorort von Moskau, steht sinnbildlich für die Tendenz zu einem allgemeinen Chaos. Immer häufiger beteiligen sich finstere Milizen an imperialistischen Konflikten, indem sie versuchen, ihre Gesetze durch Terror durchzusetzen und sich manchmal selbst zu töten, immer unter dem Banner des religiösen Fundamentalismus nach dem Vorbild von Al-Qaida, Hisbollah, ...
Der Islamische Staat in Khorasan (IS-K), der die Verantwortung für den Anschlag in Moskau übernahm, ist ein afghanischer Zweig der Terrorgruppe. Sie veröffentlichte eine Bekennerbotschaft mit einem Video, das die vier Angreifer in Aktion zeigt. Es besteht kein Zweifel an der Bedeutung dieses barbarischen Akts, der auch ein kriegerischer Akt ist und in Russland nicht ohne Vorgeschichte ist. Bereits am 31. Dezember 2018 explodierte ein Gebäude in einer Stadt im Ural und tötete 39 Menschen. Wenige Stunden später war die Stadt Schauplatz einer bewaffneten Auseinandersetzung. Der IS-K hatte kürzlich seine „militärischen“ Fähigkeiten demonstriert, da er hinter dem Anschlag im Iran am 3. Januar stand, bei dem fast neunzig Menschen getötet wurden. Seine Mitglieder, die in Afghanistan besonders brutale Angriffe auf Mädchenschulen und Krankenhäuser durchführen, befinden sich heute sogar in einem offenen Kampf mit den Taliban.
Die Rivalität zwischen dem IS-K und Moskau ist eine Folge der Schwächung Russlands an seinen Grenzen, die das Eindringen der Terrorgruppe in die ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken (Kirgisien, Usbekistan, Kasachstan und Tadschikistan, aus denen die Attentäter stammen) und einige autonome Republiken in der Russischen Föderation selbst ermöglicht hat. Die Annäherung zwischen Moskau und den Taliban erklärt sich somit aus dem Bedürfnis Russlands, seinen Einfluss in der Region zu verteidigen. Für Russland bedeutet dies jedoch die Eröffnung einer zweiten militärischen Front in einer Situation, in der es sich in einem endlosen Krieg in der Ukraine erschöpft.
Die Art und Weise, wie Putin mit dem Terroranschlag in Moskau umgegangen ist, kann nur zu einer Schwächung seiner Glaubwürdigkeit führen. Seine erste Reaktion, die Ukraine direkt oder indirekt für den Anschlag verantwortlich zu machen, war grotesk, obwohl alles auf den IS hindeutete, da die USA zuvor verschiedene Länder, darunter auch Russland, gewarnt hatten, die möglicherweise Ziel von Terroranschlägen waren. Als Putin seinen Fehler bemerkte, setzte er der Groteske noch eins drauf, indem er erklärte, es bestünden weiterhin Zweifel daran, wer den Anschlag in Auftrag gegeben habe. Als dann der IS den Anschlag für sich beanspruchte, war es um ihn geschehen. Er konnte nichts anderes tun, als sich bedeckt zu halten, zumal es einen Präzedenzfall gab, der die Wahrscheinlichkeit der von den US-Geheimdiensten übermittelten Warnung untermauerte.
Tatsächlich konnte dieser Terroranschlag umso weniger eine Überraschung für den Kreml darstellen, als „Wladimir Putin bereits am 15. Oktober 2021 ‘über die Ambitionen und die Stärke der dschihadistischen Gruppe Islamischer Staat in Afghanistan’ alarmiert war und die ‘Kampferfahrung’ hervorhob, die ihre Mitglieder im Irak und in Syrien gesammelt hatten“. Putin, der die Fähigkeit der afghanischen Taliban, diese bewaffneten Gruppen zu besiegen, in Frage stellte, meinte damals, dass „die Anführer des IS Pläne schmieden, um ihren Einfluss in den Ländern Zentralasiens und den russischen Regionen auszuweiten, indem sie ethnisch-konfessionelle Konflikte und religiösen Hass schüren“.[1] Mehr noch: Der IS-K hatte bereits im September 2022 einen Anschlag auf die russische Botschaft in Kabul organisiert. Putin hat also gerade einen riesigen Fehltritt begangen, der sicherlich nicht unbemerkt bleiben wird, während er eine Frühjahrskampagne zur Einberufung von 150.000 Menschen zum obligatorischen Militärdienst startet – im Grunde: eine Kampagne zur Requirierung von Kanonenfutter für den Krieg. Dieser Fehltritt untergräbt nur seine Autorität und seine Legitimität gegenüber seinen Rivalen.
Während der Krieg die Autorität des Kremls immer weiter schwächt, wächst die Gefahr, dass die Russische Föderation schlicht und einfach auseinanderbricht. Die Folgen eines solchen Auseinanderbrechens wären in erster Linie die Verteilung des Atomwaffenarsenals auf verschiedene Kriegsherren mit unkontrollierbaren Handlungen. Es würde auch eine gewaltige Flucht ins Chaos bedeuten, und das inmitten einer Region, die für die Weltwirtschaft von besonderer strategischer Bedeutung ist (Rohstoffe, Transport, etc.). Dieser neue Kriegsherd ist also weit davon entfernt, irgendeiner Kriegspartei zu nützen, und hat erhebliche dramatische Folgen für einen Teil der Welt.
Fern, 3. April 2024
[1] "Attentat près de Moscou : l'Asie centrale, nouvelle tête de pont de l'organisation État islamique", Le Monde (25 March 2024).
Die organisierte Gewalt im Nahen Osten hat weltweit tiefe Empörung ausgelöst. Erstens wegen des Terroranschlags der Hamas am 7. Oktober, bei dem 1200 israelische Bürgerinnen und Bürger getötet und 2700 verletzt wurden, und zweitens wegen des anhaltenden Massenmords der israelischen Verteidigungskräfte (IDF) an der Bevölkerung des Gazastreifens. Revolutionäre Organisationen haben die Pflicht, diese imperialistische Barbarei anzuprangern, wie sie es im Laufe der Geschichte der Arbeiterbewegung getan haben, und zwar seit dem Manifest "An die Arbeiter aller Nationen" der Pariser Mitglieder der Internationale: "Krieg wegen einer Frage der Vorherrschaft oder einer Dynastie kann in den Augen der Arbeiter nichts anderes sein als ein verbrecherischer Wahnsinn".[1]
Angesichts dieser Verantwortung sind also Gruppen wie die Internationale Kommunistische Tendenz (IKT), Internationalist Voice oder Internationalist Communist Perspective (Korea) dieser grundlegenden Pflicht nachgekommen, indem sie in ihren Artikeln eine klare internationalistische Position zum Krieg im Nahen Osten vertreten haben.
- "Die Arbeiterklasse muss sich weigern, in die Kriege der herrschenden Klasse hineingezogen zu werden, und gegen die Ausbeuter in beiden Ländern kämpfen. Es gibt nur einen Weg für die israelische und die palästinensische Arbeiterklasse [...]: den Kampf über Nationen und Grenzen hinweg für die gemeinsamen Interessen der Arbeiterklasse. Nur ein internationaler Klassenkampf zum Sturz des kapitalistischen Systems kann dem Blutvergießen und den Kriegen ein Ende setzen".[2]
- "Nur der Klassenkampf der Arbeiter kann eine Alternative zur Brutalität des Kapitalismus bieten, denn das Proletariat hat kein Vaterland zu verteidigen, sein Kampf muss nationale Grenzen überschreiten und sich international entwickeln".[3]
- "Alle Bourgeoisien sind gleichermaßen Todfeinde der ArbeiterInnenklasse, die nicht einen Tropfen Blut für diejenigen vergießen sollte, die sie ausbeuten, um ihre nationalistischen und imperialistischen Ziele zu verfolgen. [...] Vor diesem Hintergrund ist die grundlegende Orientierung auf die Klasseneinheit aller Sektoren der ArbeiterInnenklasse – gegen die Bourgeoisie und die imperialistische Zielsetzung ihrer Staaten umso wichtiger".[4]
Im Fall der verschiedenen bordigistischen Gruppen ist die Situation differenzierter. Als Teil des revolutionären Milieus ist ihre Position insofern grundsätzlich internationalistisch, als sie das imperialistische Massaker anprangern und jegliche Unterstützung für die eine oder andere der gegnerischen Seiten ablehnen. Doch trotz der großen Reden über ihr internationalistisches Engagement ist ihre konkrete Verteidigung des Internationalismus nicht unmissverständlich. Indem die einen den Kampf gegen die "nationale Unterdrückung" der palästinensischen Proletarier und Massen unterstützen, die anderen die Vorstellung haben, dass diese Massaker eine Entwicklung der Arbeiterkämpfe in der Region und weltweit hervorbringen werden, offenbaren diese Gruppen gefährliche Unklarheiten darüber, wie der proletarische Internationalismus in der gegenwärtigen Periode des kapitalistischen Zerfalls gefördert und verteidigt werden soll.
Die Internationale Kommunistische Partei (IKP – Le Prolétaire) ruft hinter ihrer Solidaritätserklärung gegenüber den palästinensischen Proletariern in Wirklichkeit zum Kampf gegen die nationale Unterdrückung der Palästinenser auf: "Palästina: ein Proletariat und ein Volk, die dazu verurteilt sind, abgeschlachtet zu werden. Israel: ein Staat, der aus der Unterdrückung des palästinensischen Volkes entstanden ist, und ein jüdisches Proletariat, das in den unmittelbaren Vorteilen gefangen ist und zum Komplizen dieser Unterdrückung wird".[5] Während also internationalistische Revolutionäre die Spirale imperialistischer Konfrontationen zwischen den Bourgeoisien anprangern sollten, in die die verschiedenen Fraktionen des Proletariats im Nahen Osten hineingezogen werden, sollten sie bei den Arbeitern für die Ablehnung jeder Bewegung der "nationalen Befreiung" werben, denn "Proletarier haben kein Vaterland", ruft Le Proletaire zunächst zu einem Kampf auf, um die Unterdrückung der Palästinenser in Gaza und im Westjordanland durch Israel zu beenden, was in der Folge jede Solidarität mit der israelischen Arbeiterklasse ausschließt, die „in den unmittelbaren Vorteilen gefangen und zum Komplizen dieser Unterdrückung" werde.
Eine andere Gruppe, die IKP - Il Partito Comunista, scheint überzeugende internationalistische Positionen zu vertreten, wenn sie schreibt: "Wir müssen die palästinensischen und israelischen Proletarier aufrufen, sich nicht von ihrer Bourgeoisie täuschen zu lassen [...], sich nicht als Kanonenfutter in Kriegen zu opfern, die ihren Interessen zuwiderlaufen". Aber im nächsten Satz fügt sie hinzu: "Wir müssen die jüdisch-israelischen Proletarier dazu aufrufen, die Kriegsanstrengungen ihrer imperialistischen und völkermordenden Bourgeoisie zu sabotieren und gegen ihre Bourgeoisie und die nationale Unterdrückung ihrer palästinensischen Klassenbrüder zu kämpfen".[6] Sie ruft hier also nicht zur internationalen Solidarität aller Proletarier gegen den imperialistischen Krieg auf, sondern fordert die israelischen Proletarier dazu auf, den Kampf der palästinensischen Arbeiter gegen diese nationale Unterdrückung zu unterstützen.
Schließlich stellt die IKP - Il Programma Comunista die Erschöpfung der antikolonialen "nationalen revolutionären" Bewegungen fest und stellt daher in Aussicht, dass "in dieser schrecklichen Situation das Proletariat des Nahen Ostens die Kraft finden kann, den Schlingen des Opportunismus, die es gefangen halten, zu entrinnen. Wir wünschen uns, dass es, wie in den großen Schlachten der Vergangenheit, die besten Kämpfer für seine Sache aufstellen kann, damit es die leider unvermeidliche Niederlage von heute zum Ausgangspunkt einer siegreichen Zukunft machen könne".[7] Mit anderen Worten: Sie propagiert die trügerische Aussicht, dass das Proletariat im Nahen Osten allein, mobilisiert hinter religiösen und nationalistischen Mystifikationen und zermalmt von imperialistischen Massakern, die Lehren aus diesen Niederlagen ziehen und die Grundlage für das Wiederaufleben von Kämpfen bilden könne, die an die "großen Schlachten der Vergangenheit" anknüpften (man fragt sich: welche? – vielleicht die sogenannten "national-revolutionären Bewegungen" der 1960er und 1970er Jahre, in denen die Arbeiterklasse des Nahen Ostens hinter verschiedenen nationalen bürgerlichen Fraktionen mobilisiert wurde?).
Auch wenn diese Organisationen nicht offen eine imperialistische Seite unterstützen (weder die palästinensische Bourgeoisie im Westjordanland noch die im Gazastreifen), lassen sie die Tür offen für eine Unterstützung des Kampfes der palästinensischen „Massen" und des „Volkes" gegen ihre nationale Unterdrückung, was die Kluft zwischen der Arbeiterklasse in Israel und der in den arabischen Ländern nur noch vertiefen kann. Dieses Abgleiten der sogenannten „national-revolutionären" Perspektive stellt eine Bedrohung für die internationalistische Positionierung dieser Organisationen dar.
Der proletarische Internationalismus ist eine Klassengrenze, die im Angesicht des imperialistischen Krieges die Arbeiterklasse von der Bourgeoisie trennt. Diesen Grundsatz müssen wir jederzeit mit Zähnen und Klauen verteidigen: in unseren Interventionen in den Arbeiterkämpfen, in unseren öffentlichen Veranstaltungen, in unseren Berichten und in unserer Presse. In diesem Sinne machen wir uns Lenins Worte zu eigen: "Es gibt nur einen wirklichen Internationalismus: die hingebungsvolle Arbeit an der Entwicklung der revolutionären Bewegung und des revolutionären Kampfes im eigenen Lande, die Unterstützung (durch Propaganda, durch moralische und materielle Hilfe) eben eines solchen Kampfes, eben einer solchen Linie und nur einer solchen allein in ausnahmslos allen Ländern. Alles andere ist Betrug und Manilowerei."[8] Die Bolschewiki standen mit ihrer Kritik an opportunistischen Positionen in der Kriegsfrage oft allein da, aber das war ein unverzichtbarer Teil ihrer Arbeit am Aufbau der Weltpartei. Dieser theoretische Kampf war und ist wesentlich, um alle Konsequenzen einer internationalistischen Position zu vertiefen und Revolutionäre von den Feinden der Arbeiterklasse, insbesondere den Sozialchauvinisten, zu unterscheiden.
In der Periode des kapitalistischen Niedergangs, einer Periode, in der sich die durch die kapitalistische Produktionsweise geschaffenen Produktionsverhältnisse in ein immer größeres Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte verwandelt haben, hat die Bourgeoisie keine fortschrittliche Rolle mehr bei der Entwicklung der Gesellschaft zu spielen. Die Schaffung einer neuen Nation, die rechtliche Verfassung eines neuen Landes, ermöglicht heute keinen wirklichen Fortschritt in der Entwicklung, zu dem die ältesten und mächtigsten Länder selbst nicht in der Lage sind. In einer Welt, die von imperialistischen Auseinandersetzungen beherrscht wird, stellt jeder Kampf um "nationale Befreiung", weit davon entfernt, eine fortschrittliche Dynamik zu sein, in Wirklichkeit nur eine Episode imperialistischer Auseinandersetzungen dar, an denen die freiwilligen oder gezwungenermaßen eingezogenen Proletarier und Bauern nur als Kanonenfutter teilnehmen.
Die Bewegungen zur "nationalen Befreiung", die insbesondere die 1960er und 1970er Jahre prägten, zeigten deutlich, dass die Ersetzung der Kolonialherren durch eine nationale Bourgeoisie keineswegs einen Fortschritt für das Proletariat darstellte, sondern es stattdessen in zahllose imperialistische Interessenkonflikte hineinzog, in denen Arbeiter und Bauern massakriert wurden. Aber der veraltete theoretische Rahmen der bordigistischen Gruppen hindert sie daran, die tatsächlichen Herausforderungen zu verstehen, mit denen das internationale Proletariat und seine Elemente in Israel/Palästina im imperialistischen Inferno von Gaza konfrontiert sind.
Le Prolétaire analysiert die Palästinafrage weiterhin im Rahmen des „‘national-revolutionären‘ Unabhängigkeitsgeistes und -schubs, der die Kämpfe gegen nationale Unterdrückung in Algerien, im Kongo und später in Angola und Mosambik kennzeichnete und der lange Zeit auch für die spontane Revolte des palästinensischen Proletariats kennzeichnend war".[9] Das Drama und die Herausforderung der palästinensischen "Befreiungsbewegung" besteht für Le Prolétaire darin, dass "das gigantische Klassenpotenzial, das vom palästinensischen Proletariat und den proletarisierten Massen repräsentiert wird, sich zwar in ihrem bewaffneten und unbezwingbaren Kampf in Palästina, Libanon, Syrien und Jordanien manifestiert, aber kein eigenständiges politisches Klassenprogramm zum Ausdruck bringt, das die nationale Bewegung leiten könnte". So ruft diese Gruppe immer noch zu einer palästinensischen "Befreiungsbewegung" auf, während Revolutionäre stattdessen die Position vertreten müssen, dass heute alle Staaten, alle Bourgeoisien imperialistisch sind und dass Proletarier unter keinen Umständen Bewegungen gegen nationale Unterdrückung unterstützen dürfen.
Il Partito Comunista teilt grundsätzlich denselben Rahmen, denn er formuliert die Kritik, dass dieser Krieg kein echter "nationaler Befreiungskampf" der Palästinenser sei, weil ein solcher Kampf "die Bevölkerung von Gaza nicht mit solchem Zynismus der entsetzlichen Rache Israels ausgesetzt hätte".[10] Während Revolutionäre dazu aufrufen müssen, jegliche Unterstützung für nationalistische Ziele zurückzuweisen, besteht diese Gruppe darauf, die Unterstützung der israelischen Arbeiterklasse für den Kampf gegen die nationale Unterdrückung zu gewinnen, und bedauert zynisch, dass das von der Hamas verübte Massaker dies unmöglich gemacht habe: "Darüber hinaus hätte der Kampf gegen die abscheuliche nationale Unterdrückung, die den Palästinensern auferlegt wurde, sogar die Unterstützung der Israelis, hauptsächlich der Arbeiterklasse, gewinnen können, wenn er nicht auf die Ebene des Massakers an Zivilisten gestellt worden wäre, gemäß dem vorsätzlichen Programm, Juden zu töten, wo immer sie sich befinden, das von der obskuren Hamas umgesetzt wurde".
Il Programma Comunista stellte seinerseits die Erschöpfung der antikolonialen Bewegungen seit Mitte der 1970er Jahre fest und betonte, dass "die 'nationalen Fragen' Mitte der 1970er Jahre ungelöst waren, d. h. zu dem Zeitpunkt, als sich das Potenzial der antikolonialen Bewegungen in ein konterrevolutionäres Geschwür verwandelt hatte".[11] Aufgrund der Unmöglichkeit zeitgenössischer nationaler revolutionärer Bewegungen behauptet diese Gruppe jedoch, dass dieser Kontext totaler imperialistischer Zerstörung und barbarischen Chaos' einen fruchtbaren Boden für die Entwicklung einer breiten proletarischen Bewegung darstellt: „Was die Regierungen am meisten alarmieren wird, wenn das Blutbad weitergeht, sind die massiven Solidaritätsbekundungen aus den arabischen Hauptstädten [...] und aus den vielen kapitalistischen Metropolen (wo seit Jahren das eingewanderte arabische, insbesondere das palästinensische Proletariat wohnt)".[12]
Natürlich wird die lokale Bourgeoisie im Bündnis mit den verschiedenen religiösen und nationalistischen Führern die religiösen und nationalistischen Spaltungen ausnutzen, „um eine Ansteckung der Klasse zu verhindern. Die bürgerlichen Regierungen werden alles tun, um die instinktive Verbindung zu den entfernten Proletariern, die von so mächtigen Kräften niedergemetzelt wurden, zu unterbrechen: Diese Verbindung hat auch eine materielle Rolle im Kampf zu spielen, während der Sturm aus "geschmolzenem Blei" auf die Häuser und Körper niedergeht". Kurz gesagt, wie der Titel ihres Artikels bereits andeutet, ist seine Perspektive, dass die proletarische Reaktion von den Blutbädern der imperialistischen Konfrontationen und von den Teilen des Weltproletariats selbst ausgehen werde, die im „konterrevolutionären Geschwür" der nationalen Befreiung gefangen seien und von den verschiedenen Imperialismen im Nahen Osten massakriert würden. Aber anders als im Ersten Weltkrieg werde in der gegenwärtigen Periode des kapitalistischen Zerfalls die Ausweitung des Kampfes des Weltproletariats gegen die durch die Wirtschaftskrise und die Ausbreitung des Militarismus verursachten Angriffe den Proletariern im Nahen Osten eine Perspektive bieten.
In keinem Fall seit dem Ersten Weltkrieg hat ein "national-revolutionärer" Kampf eine Perspektive für den revolutionären Kampf des Proletariats dargestellt, die den Ausgangspunkt für eine echte proletarische Reaktion hätte bilden können. Der veraltete Rahmen dieser bordigistischen Gruppen hindert sie daran, die aktuellen Herausforderungen im Nahen Osten zu verstehen, und verleitet sie dazu, zweideutige Positionen zu entwickeln, die opportunistischen Auswüchsen Tür und Tor öffnen.
Der Krieg in Gaza ist nicht, wie Il Programma Comunista behauptet, "die x-te Welle von Massakern", auf die angeblich eine neue Periode der Stabilität und des Friedens folgen wird. Im Gegenteil, dieser Krieg stellt einen weiteren bedeutenden Schritt in der Beschleunigung des Chaos in der Region und sogar darüber hinaus dar. "Das Ausmaß des Mordens zeigt, dass die Barbarei ein neues Niveau erreicht hat: [...] Beide Seiten schwelgen in der entsetzlichsten und irrationalsten Mordwut!".[13] Wir haben es hier mit dem ultimativen Ausdruck der Barbarei zu tun, einem blutigen Kampf, bis nur noch Ruinen in einer völlig unbewohnbar gewordenen Region übrig sind. Der Krieg in der Ukraine war bereits ein weiterer Schritt in der Verschärfung der imperialistischen Auseinandersetzungen. Der Krieg in Gaza geht noch einen Schritt weiter.
Selbst wenn dies nicht zum Ausbruch eines Weltkriegs führt, können die Kumulation und die kombinierten Auswirkungen all dieser Kriege ähnliche oder sogar noch schlimmere Folgen für das Leben auf dem Planeten haben.
Aber die bordigistischen Gruppen bringen eine starke Tendenz zum Ausdruck, die Herausforderungen der aktuellen Situation zu unterschätzen, was zu falschen Schlussfolgerungen und Orientierungen führt. Ihre Unfähigkeit, die tatsächlichen Gefahren der aktuellen Situation zu verstehen, wird deutlich durch die Tatsache, dass diese Organisationen die historische Schwere und die Auswirkungen des Gaza-Krieges verharmlosen.[14] Einerseits argumentiert Le Prolétaire, dass die gegenwärtigen Bedingungen es dem palästinensischen Proletariat immer noch erlaubten, für seine eigenen Interessen gegen die israelische und palästinensische Bourgeoisie zu kämpfen. Andererseits neigt Il Partito Comunista zur Position, dass der Weltkrieg "eine unausweichliche wirtschaftliche Notwendigkeit" sei, weil der Kapitalismus "nur durch Zerstörung überleben kann. Deshalb braucht er den globalen Krieg".[15]
Was wir in den letzten drei Jahren gesehen haben, ist kein Anstieg in Richtung eines globalen Krieges, sondern eine Situation, die sich auf globaler Ebene durch eine Anhäufung von Krisen beschleunigt hat: Pandemie, Umweltkrise, Nahrungsmittelkrise, Flüchtlingskrise und Wirtschaftskrise.
Auch wenn einige dieser Gruppen diese Anhäufung von Krisen erkannt haben, versteht keine von ihnen, dass diese Krisen nicht voneinander isoliert sind, sondern Teil desselben Zerfallsprozesses der kapitalistischen Welt sind, wobei jede Krise die Auswirkungen der anderen verstärkt. In diesem Zersetzungsprozess ist der Krieg zum zentralen Faktor, zum eigentlichen Katalysator geworden, der alle anderen Krisen verschärft. Er verschärft die Weltwirtschaftskrise und stürzt große Teile der Weltbevölkerung in die Barbarei; er führt in den mächtigsten kapitalistischen Ländern zu Arbeitslosigkeit und sozialem Elend und verstärkt die zerstörerischen Auswirkungen der ökologischen Gefahr. Es ist daher falsch, den gegenwärtigen Krieg in Gaza als ein x-tes Massaker im Nahen Osten zu betrachten, auf das eine wie auch immer geartete Periode der Ruhe oder des Wiederaufbaus folgen könnte.[16]
Angesichts dieses Krieges zeigen die verschiedenen bordigistischen Gruppen ihre völlige Unfähigkeit, die Herausforderungen der aktuellen imperialistischen Konfrontationen zu verstehen.
Das Fehlen eines angemessenen Rahmens, nämlich des Rahmens der Dekadenz und des Zerfalls des Kapitalismus, führt dazu, dass alle bordigistischen Organisationen an einem veralteten Konzept festhalten, das nicht in der Lage ist, die gesamte Dynamik der aktuellen Situation zu erklären, und das die Tür für schwerwiegende opportunistische Entgleisungen öffnet.
D&R, 22. Februar 2024
[1] Le Réveil vom 12. Juli 1870 (zitiert von Marx in Der Bürgerkrieg in Frankreich)
[2] Against the carnage in the Middle East, beyond nationalism to class war against the ruling class! [33], Internationalist Communist Perspective (Korea, 2023)
[3] The Propaganda War, The War of Propaganda [34] (Der Propagandakrieg, der Krieg der Propaganda), Internationalist Voice (2023)
[4] Das jüngste Massaker im Nahen Osten ist ein weiterer Schritt hin zu einem verallgemeinerten Krieg [35], Internationalistische Kommunistische Tendenz (2023)
[5] Ce ne sont pas les actions terroristes du Hamas mais la lutte de classe indépendante et la solidarité prolétarienne de tous les pays qui pourront mettre fin à l’oppression des Palestiniens ! [36] ("Nicht die Terroraktionen der Hamas, sondern der unabhängige Klassenkampf und die proletarische Solidarität aller Länder können der Unterdrückung der Palästinenser ein Ende setzen"), Le Prolétaire Nr. 551 (Dezember 2023 - Januar 2024)
[6] War in Gaza [37], veröffentlicht auf der Website von PCI - Il Partito Comunista (Oktober 2023)
[7] Israël et Palestine : Terrorisme d’État et défaitisme prolétarien [38], Cahiers internationalistes (29. Dezember 2023)
[8] Lenin, Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution (1917)
https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1917/04/aufgaben.html [39]
[9] "Die Terroraktionen der Hamas heute wie gestern die der Fatah oder anderer Guerilla-Organisationen können die israelische Unterdrückung der Palästinenser in Gaza und im Westjordanland nicht beenden.
Die Zukunft des palästinensischen Proletariats wie auch der Proletarier im gesamten Nahen Osten, in Europa und der Welt liegt im unabhängigen Klassenkampf und in der proletarischen Klassensolidarität aller Länder!", veröffentlicht auf der Website der IKP – Le Prolétaire [36] unter der Rubrik "Stellungnahmen" („Prises de positions“, 4. Januar 2024).
[10] The Gazan Proletariat Crushed in a war between world imperialisms [40], The Communist Party Nr. 56 (Februar/März 2024)
[11] Israel and Palestine: State terrorism and proletarian defeatism [41], The Internationalist (29. Dezember 2023)
[12] A.a.O.
[13] Weder Israel noch Palästina! Die Arbeiter haben kein Vaterland [27], IKS online Oktober 2023
[14] Il Programma Comunista veröffentlichte 2009 erneut einen Artikel über den Gaza-Krieg, eine Entscheidung, die diese Gruppe damit begründete, dass "sich nichts geändert hat, außer der exponentiellen Zunahme der Feuerkraft, die im Gaza-Streifen [vom Staat Israel] entfesselt wird".
[15] A May Day against War To Workers of all Countries [42], Flugblatt von Il Partito Comunista
[16] Diese Unterschätzung kommt zum Beispiel auch darin zum Ausdruck, dass diese Gruppen zu Beginn dieses Krieges kaum öffentliche Aktivitäten entfalteten: Le Prolétaire veröffentlichte nur zwei Artikel, Il Partito Comunista publizierte zwei Artikel und organisierte eine öffentliche Veranstaltung, Il Programma Comunista bot zwei Artikel und eine öffentliche Veranstaltung an.
1. Die Situation in Deutschland kann nur vor dem Hintergrund der Existenz der beiden internationalen Dynamiken verstanden werden, die den Weltkapitalismus durchziehen: die phänomenale Verschärfung des Zerfalls des kapitalistischen Systems und der Prozess der Wiederaufnahme des weltweiten Klassenkampfes nach mehreren Jahrzehnten der Flaute.
Die zahlreichen zerstörerischen Kräfte des „Strudel-Effekts“, bei dem alle verschiedenen Ausdrucksformen einer zerfallenden Gesellschaft miteinander interagieren und den Abstieg in die Barbarei beschleunigen und insbesondere die zentrale Rolle, die der imperialistische Krieg als Ergebnis der bewussten Entscheidungen der herrschenden Klasse in dieser Verkettung von Effekten spielt, haben zu tiefgreifenden Umwälzungen für das deutsche Kapital geführt.
„Es ist besonders Deutschland, das alle Widersprüche dieser neuartigen Situation explosionsartig konzentriert. Das Ende der russischen Gaslieferungen bringt das deutsche Kapital in eine beispiellose Situation strategischer und wirtschaftlicher Fragilität: Die Wettbewerbsfähigkeit seiner gesamten Industrie steht auf dem Spiel. Das deutsche Kapital (und Europa) läuft Gefahr, von der Abhängigkeit von russischem Gas in die Abhängigkeit von amerikanischem LNG wechseln zu müssen, welches die USA dem europäischen Kontinent aufzwingen und damit die Rolle übernehmen wollen, die Russland bislang innehatte. Das Ende des Multilateralismus, von dem das deutsche Kapital mehr als jede andere Nation profitiert hat (indem es sich auch einen Teil der Last der Militärausgaben für die „Friedensdividende“ seit 1989 erspart hat), wirkt sich direkter auf seine exportbasierte Wirtschaftskraft aus. Schließlich stellt der Druck der USA, ihre „Verbündeten“ zu zwingen, sich am wirtschaftlichen/strategischen Krieg gegen China zu beteiligen und auf Märkte in China zu verzichten, Deutschland vor ein enormes Dilemma, da die Bedeutung des chinesischen Marktes für Deutschland lebenswichtig ist. Aufgrund seiner führenden Stellung in der EU hat das Schwanken der deutschen Macht Auswirkungen auf ganz Europa, das in unterschiedlichem Maße von denselben Widersprüchen und Dilemmata geprägt ist.“ (Bericht des 25. Kongresses der IKS 2023)
Vor dem weltweiten Hintergrund der Überproduktion und der Verschärfung der Wirtschaftskrise durch die Covid 19-Pandemie und die Aussperrungen, die steigenden Kosten der Umweltkatastrophen und den Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten befindet sich das deutsche Kapital, das durch die Erschütterung der Grundfesten seiner Macht wesentlich geschwächt ist, seit mehreren Quartalen in einer Rezession und wird wieder zum kranken Mann Europas.
Das große historische Ereignis der Wiederbelebung der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse in einer Reihe von Ländern hat sich in Deutschland nicht mit der gleichen Kraft wie in den USA, Großbritannien oder Frankreich manifestiert. Dennoch sind einerseits die Ausdrucksformen der Kampfbereitschaft und die Streiks für Lohnerhöhungen, die in einigen Bereichen (öffentlicher Dienst, Transportwesen) stattgefunden haben, sowie andererseits die Anpassung der Gewerkschaften, die eine „kämpferische und fordernde“ Haltung einnehmen, Indizien für die veränderte Situation, die im Klassenkampf auch in Deutschland am Werk ist. „Heute verändert die Kombination aus einer Rückkehr der Kampfbereitschaft der Arbeiter und der Verschärfung der Weltwirtschaftskrise (im Vergleich zu 1968 oder 2008), die keinen Teil des Proletariats verschonen wird und sie alle gleichzeitig trifft, objektiv die Grundlagen des Klassenkampfs. Die Vertiefung der Krise und die Verschärfung der Kriegswirtschaft können sich weltweit nur fortsetzen, und überall kann dies nur wachsende Kampfbereitschaft erzeugen.“ (Resolution des 25. Kongresses der IKS, 2023)
2. Die erste Zäsur war der Krieg in der Ukraine, gefolgt von einer weiteren Phase mit dem Krieg im Nahen Osten, jeweils verbunden mit einer gleichzeitigen Eskalation der Konfrontation zwischen den USA und China und wachsenden Destabilisierungstendenzen in Europa.
Der Druck aus den Konflikten mit Russland, China und den USA hat sich damit in einigen Bereichen geradezu explosionsartig verschärft. Für den deutschen Imperialismus bedeutete der Krieg in der Ukraine:
3. Diese Schwächung des deutschen Imperialismus durch die USA wurde im Gegenzug von Deutschland ausgenutzt, indem die Militärausgaben verdoppelt und die Hindernisse für Waffenlieferungen an die Ukraine aufgehoben wurden. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wurde die Notwendigkeit, Deutschland kriegstüchtig zu machen, ausdrücklich ideologisch begründet. Vor dem Hintergrund eines neuen Wettrüstens werden Forderungen wie die nukleare Aufrüstung und die Schaffung eines militärischen Arms der EU deutlicher formuliert.
Die Einführung von Kriegsführungsfähigkeiten und die damit verbundene Umwandlung der Wirtschaft in eine viel stärker ausgeprägte Kriegswirtschaft wird jedoch auf Schwierigkeiten stoßen, da allein die Rekrutierung zusätzlicher Soldaten große Probleme aufwirft. Gleichzeitig fordert der deutsche Imperialismus eine größere Führungsrolle in Europa. Dies wird wiederum neue Reibungspunkte mit Frankreich hervorrufen, da trotz aller Zwänge zur deutsch-französischen Zusammenarbeit in vielen Bereichen ein solcher Führungsanspruch, insbesondere auf dem Hintergrund der Dynamik des Jeder-für-sich, nur auf Kosten von Frankreich durgesetzt werden könnte.
4. Im Rahmen der globalen Präventionsstrategie der USA, um zu verhindern, dass China die USA von ihrer Führungsposition verdrängt, haben die USA neben der strategischen Einbettung des Ukraine-Russland-Krieges in diese Strategie eine Reihe direkter Sanktionen gegen China beschlossen, die sie auch allen anderen Staaten aufzwingen wollen. Deutschland (und z.B. Frankreich) sind davon besonders betroffen. Ziel ist es, die Abhängigkeit des deutschen Kapitals von China zu verringern und Deutschland direkt in die Militärstrategie gegen China einzubinden. Die deutsche Bourgeoisie wehrt sich gegen diesen Ansatz, was wiederum zu Konflikten mit den USA führt.
5. Die bis vor kurzem grenzenlos loyale Unterstützung des deutschen Imperialismus für Israel, die lange Zeit Teil des gemeinsamen Vorgehens mit den USA war, erweist sich angesichts des jüngsten Krieges im Nahen Osten als große Belastung, da dies Deutschland nicht nur viel zu eng an die USA bindet, sondern auch in die Isolation gegenüber den arabischen Staaten treibt. Wie Deutschland aus diesem Dilemma herauskommen kann, bleibt auch deshalb unklar, weil ideologisch der Schatten des Faschismus noch immer über der deutschen Bourgeoisie hängt und die Angst, des Antisemitismus bezichtigt zu werden, den Handlungsspielraum einschränkt.
6. Unter Trump hatte die Dynamik des Jeder-für-sich, und damit z.B. die Infragestellung der Nato und ein möglicher Rückzug der USA aus ihr, an Dynamik gewonnen. Auch verfolgte Trump einen sehr offensiven Kurs, insbesondere gegenüber dem deutschen Kapital. Zwar hatte sich der Ton unter Biden geändert, aber in den praktischen „Daumenschrauben“, die der amerikanische Imperialismus den Nato-Mitgliedsstaaten und insbesondere Deutschland angelegt hatte, wurde auf Deutschland viel mehr Druck ausgeübt als unter Trump. Dennoch wird eine mögliche zweite Amtszeit Trumps als eine Katastrophe für das deutsche Kapital angesehen, da ein Kurswechsel in der Russlandpolitik unter Trump als wahrscheinlich gilt. Dies könnte zwar theoretisch neue Handlungsspielräume für das deutsche Kapital eröffnen, wäre aber aus Sicht der USA unter Trump vor allem mit einem stärkeren Druck auf China verbunden und damit der Notwendigkeit, dass sich andere Länder diesem Druck der USA beugen. Deshalb wird die Bewegung zur Distanzierung Deutschlands von den USA weitergehen, unabhängig davon, ob Biden oder Trump der nächste Präsident ist. Im Einklang mit dieser Dynamik wird Deutschland seine Bemühungen verstärken, stärkere Beziehungen zu Ländern aufzubauen, die sich von den USA distanzieren (Indien, Brasilien usw.). Insgesamt hängt die weitere Entwicklung der USA wie ein Damoklesschwert über dem deutschen Imperialismus.
7. Während die Wirtschaftskraft des deutschen Kapitals hauptsächlich auf ihrer Industrie und ihren Exporten beruht, wirken sich die Verlangsamung der Weltwirtschaft ebenso wie die Auswirkungen des Zerfalls auf die Weltwirtschaft, aber insbesondere die Schockwelle des imperialistischen Krieges in der Ukraine, direkt auf den Zustand der nationalen Wirtschaft aus. Die Covid 19-Pandemie, die Kosten der Umweltzerstörung und die mittlerweile beträchtlichen Kriegskosten im Rahmen der internationalen Verschärfung des Wettbewerbs, vor allem zwischen China und den USA, die das Bestreben der USA einschließt, ihre europäischen Rivalen (imperialistisch wie wirtschaftlich) zu schwächen, haben zu einer massiven Destabilisierung und Umwälzung geführt, die das deutsche Kapital schwächt.
Die Verschlechterung der Lage des deutschen Kapitals zeigt sich durch:
Angesichts der Verschärfung der gesamten historischen Situation des Zerfalls und des Krieges in der Ukraine, sowie auch angesichts des Krieges im Nahen Osten schwinden die Grundlagen und die Bedingungen, die die Macht des deutschen Kapitals begründet haben. Gleichzeitig wachsen die neuen entscheidenden Herausforderungen, denen es gegenübersteht:
8. Die US-Regierung unter Biden hat ihre Offensive gegen China an mehreren Fronten verschärft:
Das deutsche Kapital kann nicht davon ausgehen, dass der Druck aus den USA nach den nächsten Präsidentschaftswahlen nachlassen wird. Im Gegenteil: Ob unter Trump oder Biden – die deutsche Bourgeoisie muss sich auf noch mehr Konflikte mit den USA einstellen. Das alles wird auch mit zusätzlichen Staatsausgaben verbunden sein, etwa um im Investitionskrieg überhaupt mithalten und Subventionen für Investitionen in Deutschland anbieten zu können.
Eine Eskalation zwischen China und den USA um Taiwan würde der Weltwirtschaft insgesamt und der deutschen Wirtschaft im Besonderen einen entscheidenden Schlag versetzen. Fazit: Die USA werden Deutschland unter enormen wirtschaftlichen Druck setzen.
Gleichzeitig gerät Deutschland zunehmend unter Druck durch China:
Deshalb: Verschärfte Auseinandersetzungen auf verschiedenen Schauplätzen um/mit China sind zu erwarten.
9. Die deutsche Bourgeoisie konnte das Projekt der Wiedervereinigung und des Aufbaus im Osten nur dank einer astronomischen Verschuldung realisieren. Einerseits verbesserte dies die Position Deutschlands auf der imperialistischen Leiter, andererseits wurde ein gigantischer Schuldenberg aufgetürmt. Dieser wurde durch die riesigen Rettungspakete während der Corona 19-Pandemie und jetzt durch den Krieg in der Ukraine weiter erhöht.
Im internationalen Wettbewerb ist die staatskapitalistische Unterstützung auf verschiedenen Ebenen unerlässlich. Keine neuen Hightech-Unternehmen, keine ökologische Umstellung, keine Windräder, keine Wärmepumpen, keine neuen Hightech-Investitionen usw. ohne Steuergelder. Gleichzeitig wurde jahrzehntelang eine tiefgreifende Vernachlässigung von Infrastruktur, Gesundheitswesen und Bildung in Kauf genommen. Der Kampf um die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit wurde also durch den Abbau in anderen Bereichen „erkauft“.
Angesichts der Wahlmöglichkeiten und Dilemmata, mit denen sie sich konfrontiert sieht, sind die Entscheidungen zwischen den dominierenden Fraktionen der deutschen Bourgeoisie in Bezug auf die Optionen, die für die Verteidigung der Interessen des nationalen Kapitals am besten geeignet sind (wie z.B. die Haltung gegenüber Russland, den USA, China, der Staatsverschuldung, der Entwicklung der Kriegswirtschaft... ) im Augenblick unklar. Auch lässt sich zurzeit die Tiefe und der Umfang der Divergenzen innerhalb der Bourgeoisie zu diesen Fragen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen noch nicht ermessen. Doch in der Zwischenzeit nutzt die deutsche Bourgeoisie die Debatte über den Sinn der Schuldenbremse, um ihren Angriff auf die Arbeiterklasse zu verstärken. Das Zusammenspiel der oben genannten Faktoren setzt die herrschende Klasse unter Druck, vor allem aber verschlingt die ganze Kriegsdynamik riesige Geldsummen, die in erster Linie der Arbeiterklasse auferlegt werden sollen.
10. Die eingetretene Entwicklung ist durch die Besonderheit gekennzeichnet, dass zum ersten Mal eine Verschärfung der Wirtschaftskrise mit einem gleichzeitigen Mangel an Arbeitskräften (qualifizierten und unqualifizierten) in vielen Bereichen einhergeht. Dies hat verschiedene Ursachen:
Wie sich dies auf den Klassenkampf auswirken wird, ist derzeit schwer abzuschätzen.
11. Die IKS analysierte schon 1989 in den Thesen zum Zerfall und der Aktualisierungen der Thesen zum Zerfall von 2023 umfangreich die einzelnen Aspekte des Zerfalls des Kapitalismus. Heute, mit dem zunehmenden Zerfall, insbesondere dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine, hat Europa (die EU) seinen größten Trumpf verloren: seine Stabilität.
Nach 1989 machte Deutschland die EU durch die Bildung eines Tandems mit Frankreich zu einer Säule seiner Macht. Der Beginn des Aufbaus eines militärischen Arms, die Einführung des Euro und die Entwicklung größerer Entscheidungskompetenzen auf europäischer Ebene sorgten dafür, dass der Staatskapitalismus in der EU stärker koordiniert und gelenkt wurde (und sich damit selbstverständlich als Bürokratie weiter aufblähte). Die derzeitige Entwicklung multipler Bruchlinien aufgrund des Vordrängens des Jeder-für-sich auf wirtschaftlicher und imperialistischer Ebene, die die EU mit Fragmentierung bedrohen, können die Stabilität und Macht des deutschen Kapitals nur beeinträchtigen, während die Tendenz, die Verteidigung der Interessen des nationalen Kapitals durch Deutschland in den Vordergrund zu stellen, Deutschland auch zu einer treibenden Kraft der Entwicklung des Jeder-für-sich innerhalb der EU macht.
Osteuropa: Hier sind zahlreiche zentrifugale Kräfte auf Kosten Deutschlands am Werk. Nach 1989 ermöglichte das durch das Verschwinden des Ostblocks entstandene Vakuum den osteuropäischen Staaten den Beitritt zur EU und ihre Integration in die NATO. Dies gestattete es Deutschland zunächst, seinen Einfluss zu vergrößern, und bot dem Kontinent gleichzeitig eine gewisse Stabilität. Doch nun bildet das Streben der meisten Staaten, die dem ehemaligen sowjetischen Machtbereich angehörten, nach NATO-Schutz, und die eher pro-amerikanische Ausrichtung einiger dieser Länder, welche sich wiederum dem Einfluss Deutschlands widersetzt, die wichtigste Bruchlinie. Andere Faktoren (die pro-russische Haltung einiger Regierungen, Chinas Bestreben, seinen Einfluss auf den alten Kontinent auszuweiten), die durch die Machtübernahme populistischer Regierungen, die ihre Autonomie gegenüber der EU einfordern, noch verstärkt werden, führen dazu, dass die destabilisierenden Kräfte unweigerlich zunehmen werden.
Auf wirtschaftlicher Ebene droht der „Globalisierung“ auch in Osteuropa eine Umkehrbewegung.
Westeuropa: Die jüngsten Entwicklungen – seit der Krise von 2008, der Covid 19-Pandemie, den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten – haben auch hier die Tendenz verstärkt, dass jeder auf sich selbst gestellt ist. So verschärfen sich die Interessenkonflikte innerhalb des damaligen deutsch-französischen Tandems in Bezug auf die Steuerung und die Ausübung der Führungsrolle in der EU, vor allem in folgenden Bereichen:
12. Lediglich aus Platzgründen gehen wir an dieser Stelle nur kurz auf die verheerenden Auswirkungen der Umweltzerstörung und die Vernachlässigung der sozialen Infrastruktur ein.
Die Auswirkungen der Umweltzerstörung haben in Deutschland auf verschiedenen Ebenen katastrophale Folgen gehabt (z.B. Dürre, Überschwemmungen, Waldbrände etc.). Unter grüner Regierungsbeteiligung wurden alle (ohnehin fragwürdigen) ökologischen Maßnahmen in der einen oder anderen Form den Erfordernissen der Kriegswirtschaft geopfert.
Da die Wiedervereinigung nach dem Zusammenbruch der DDR u.a. durch die gleichzeitige Vernachlässigung der Infrastruktur im Westen sowie des Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesens finanziert wurde, sind diese Strukturen besonders stark vom Zerfall betroffen. Der Zerfall ist jedoch viel umfassender und tiefgreifender als die Auswirkungen des Zusammenbruchs des Stalinismus und der Wiedervereinigung und deren langfristige Folgen.
Diese Entwicklung betrifft die herrschende Klasse und ihren Macht- und Parteiapparat. Er äußert sich in der Tendenz, dass die herrschende Klasse die Kontrolle über ihr politische Strategie verliert, was sich in Folgendem äußert:
13. In den letzten 30 Jahren waren alle Parteien mit sinkender Glaubwürdigkeit und zunehmender Desillusionierung konfrontiert. Eine Folge: sinkende Wahlbeteiligung (zumindest bis Anfang 2013), bis insbesondere die Protestpartei AfD aufkam und es schaffte, bisherige Nichtwähler an die Urnen zu locken, um aus Protest die AfD zu wählen.
Die Protestpartei AfD ist inzwischen zur zweitstärksten Partei geworden, der Niedergang der SPD ist unaufhaltsam und auch die CDU befindet sich – mit einigen temporären, eher geringen Zuwächsen – langfristig im Niedergang. Obwohl es innerhalb der Parteienlandschaft Gewichtsverschiebungen gibt, ist der Rückgang historisch und zieht sich durch alle Parteien mit Ausnahme von 2 Parteien (AfD und Grüne).
Am deutlichsten ist die historische Schwächung der beiden Flaggschiffe der Marktwirtschaft zu erkennen – die CDU mit ihrer offenen Propaganda über die Tugenden des Kapitalismus und die SPD mit ihren Reformversprechen – beide sind stark abgenutzt und haben in den letzten Jahren keine wirkliche Erneuerung erreicht.
14. Während es international in fast allen europäischen Ländern einen Aufschwung populistischer und rechtsextremer Kräfte gibt, ist diese Entwicklung auch in Deutschland zu beobachten.
Hauptprofiteur ist die AfD. Insofern spiegelt die Popularität dieser populistischen und rechten Parteien die Perspektivlosigkeit und die Tatsache wider, dass viele, die sonst aus Frust etc. nicht wählen gegangen wären, wieder an die Wahlurnen gelockt wurden. Diese Popularität bedeutet nicht, dass die Protestwähler einen größeren Glauben an die Möglichkeit haben, das bürgerliche System zu verbessern und zu reformieren. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, in denen populistische oder rechtsextreme Gruppierungen direkt an der Spitze der Regierung beteiligt sind, ist dies in Deutschland noch nicht der Fall. Die Wahlaussagen der AfD stehen zu sehr im Widerspruch zu den Interessen des deutschen Kapitals – (sofern sie für bare Münze genommen werden können): EU-Feindlichkeit (wobei die Machtposition Deutschlands untrennbar mit seiner Dominanz in der EU verbunden ist), Offenheit gegenüber Russland, krude Fremdenfeindlichkeit und allzu brachiale Abwehr von Einwanderern, Blockade der Zuwanderung von ausländischen Fachkräften, unsinnige Verleumdung der ökologischen Katastrophe usw.. Diese „Unfähigkeit zu regieren“ und damit zur „ewigen Opposition auf Bundesebene“ verdammt zu sein, wird die AfD noch lange Zeit zu einem Sammelbecken für Protestwähler machen.
Im Zusammenhang mit dem Erstarken populistischer Kräfte haben rechtsradikale Parteien in den letzten Jahren an Zulauf gewonnen, so dass kleine rechtsradikale Parteien neben und/oder innerhalb der AfD zu einem Sammelbecken für rechtsradikale, oft gewaltbereite Anhänger geworden sind. Gleichzeitig haben rechtsradikale Kräfte eine größere Präsenz im Staatsapparat, insbesondere in den Sicherheitsdiensten, entwickelt. Diese Gruppen propagieren und planen auch immer häufiger offen oder verdeckt gewalttätige Aktivitäten.
Weder die AfD noch die rechtsradikalen Gruppen haben bisher Aussicht auf eine Regierungsbeteiligung. Diese Kräfte spiegeln aber vor allem die wachsende Gewaltbereitschaft bis hin zu Pogromen in Teilen der Bevölkerung wider, die insbesondere durch eine Hetzkampagne gegen Migrantinnen und Migranten angeheizt wird.
15. Die beiden großen Parteien sind nun auf Koalitionspartner angewiesen. Ohne Koalitionspartner kann keine der beiden großen Parteien eine Koalition führen; lange Zeit bildete eine „große“ Koalition die Regierung, was dem Ruf der Demokratie und dem Ansehen der beiden beteiligten Parteien schadete. Noch konfliktträchtiger sind jedoch „Dreierkoalitionen“. In der jetzigen Konstellation sind die drei Parteien der Koalition jedoch auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen und werden wohl bis zum Ende der Legislaturperiode zusammenbleiben müssen.
16. Um die aktuellen Perspektiven der Arbeiterklasse zu verstehen und eine zukünftige Entwicklung des Klassenkampfes zu prognostizieren, müssen wir uns die historischen Schwächen der Arbeiterklasse in Deutschland in Erinnerung rufen.
Neben der russischen Arbeiterklasse erlitt die Arbeiterklasse in Deutschland die schwerste Niederlage in den revolutionären Kämpfen während der revolutionären Welle 1917-1923. Das Gewicht der Konterrevolution, der desorientierende Einfluss des Rätekommunismus, die Unfähigkeit der schnell im Stalinismus versunkenen KPD und das Unvermögen der KAPD, die wirklichen Lehren aus der revolutionären Welle zu ziehen, und der politische Einfluss der Frankfurter Schule nach 1945 hatten tiefe Narben hinterlassen, als die Arbeiterklasse Ende der 1960er Jahre wieder auf die Bühne trat.
Bei ihrem Wiederauftauchen war die Arbeiterklasse in Deutschland stark durch den kleinbürgerlichen Druck der Studentenbewegung belastet – insbesondere Spontaneität und Organisationsfeindlichkeit in alter rätekommunistischer Tradition wirkten wie eine Fessel. Tausende von jungen Menschen wurden von der extremen Linken aufgesogen und politisch vernichtet oder instrumentalisiert.
In den zwei Jahrzehnten von 1969 bis 1989 folgte die Arbeiterklasse weitgehend den internationalen Entwicklungen, aber sie war nie in der Lage, sich durch massive oder besonders radikale Momente an die Spitze einer internationalen Bewegung zu setzen. Nach 1989 wurde die Arbeiterklasse mit der Euphorie der Wiedervereinigung konfrontiert, durch welchen sie sich jedoch nie wirklich einspannen ließ. Zwar war auch ihre (ohnehin schwache) Kampfbereitschaft im Westen im Rückfluss, und auch ihr Bewusstsein litt unter der Kampagne gegen den Kommunismus.
Darüber hinaus sorgten verschiedene Spaltungskräfte (durch die Millionen Arbeitssuchenden Niedriglohnarbeiter aus Osteuropa) und die Einführung extrem prekärer Arbeitsbedingungen für eine immer größere Zahl von Beschäftigten für weitere Spaltungen innerhalb der Belegschaft, während gleichzeitig in florierenden Branchen relativ hohe Löhne gezahlt wurden.... Inzwischen ist in Deutschland der vielleicht größte Fachkräftemangel in Europa entstanden. Insofern kann man von Spaltungsfaktoren sprechen, die jahrelang dominiert haben – die nun aber durch die Inflation und die Angriffe, die aus der Verschlechterung der Situation resultieren, nivelliert werden und die Basis für ein größeres Zusammengehörigkeitsgefühl bilden können.
17. Die Arbeiterklasse in Deutschland ist von den ideologischen Auswirkungen des Zerfalls in einer Weise geprägt, die sie von anderen Teilen des Proletariats in Europa unterscheidet: Während verschiedene Teile der Arbeiterklasse mit der Frage der Abspaltung bestimmter nach Autonomie strebender Regionen (Spanien, GB) oder des Regionalismus konfrontiert sind, war kein anderer Teil der Arbeiterklasse mit solchen politischen Konsequenzen konfrontiert, die mit den Auswirkungen der Wiedervereinigung vergleichbar sind. Rasch löste dies im Osten eine Nostalgie nach der alten (angeblich) „sicheren Existenz“, Reaktionen der Flucht vor der Realität des Kapitalismus und die Suche nach Sündenböcken sowie Ressentiments im Westen aus.
Die für den Zerfall typische politische und ideologische Verwirrung, die aus der Schwierigkeit oder Unfähigkeit resultiert, die Ursachen und Folgen der Ausbeutung als im Kapitalismus verwurzelt zu verstehen, hat zum Aufkommen von Sündenbockdenken, Fremdenfeindlichkeit, verstärktem Nationalismus, Verschwörungsideologien, reinem Protestverhalten gegenüber „denen da oben“ anstelle von Klassenkonfrontation, Polarisierung um Identitätsfragen, Festhalten an religiösem Fundamentalismus, wachsender Gewaltbereitschaft, Populismus und dem Wiederaufleben rechtsradikaler Bewegungen geführt. Durch das Aufkommen von Bewegungen wie Fridays-for-future und Protesten von Klimaaktivisten sollte die Perspektivlosigkeit dieser Bewegungen noch mehr Verwirrung und Demoralisierung stiften.
Die allgemeine historische Rückständigkeit des Bewusstseins der Arbeiterklasse in Deutschland, in Verbindung mit der politischen Rückständigkeit des Teils der Arbeiterklasse in Ostdeutschland, erklärt die besondere Verwundbarkeit des deutschen Proletariats für die Auswirkungen des Zerfalls und die Wirkung bürgerlicher Kampagnen, die diese ausnutzen, um sie gegen das Proletariat zu wenden. All diese Phänomene haben sich mit der Pandemie, der Verschärfung der Krise und dem ungebremsten Zustrom von Flüchtlingen, der Wohnungsnot, der Verarmung und der ständigen Hetze und dem Aufstacheln durch die Herrschenden aller Couleur usw. noch verschärft.
18. Die Haltung der herrschenden Klasse, die Anpassungen, die von ihren Organen zur Kontrolle des Klassenkampfes in Deutschland produziert werden, belegen, dass die veränderte Situation im internationalen Klassenkampf, die Rückkehr der Kampfbereitschaft der Arbeiter nach mehreren Jahren der Passivität, auch in Deutschland sehr wohl existiert. Die Bourgeoisie setzt alles daran, dem entgegenzuwirken:
19. Die Entwicklung der Kampfbereitschaft der Arbeiter zur Verteidigung ihrer Lebensbedingungen muss sich einen schwierigen Weg bahnen und stößt auf zahlreiche Hindernisse.
Die Angst vor der Zukunft, die demokratischen Illusionen und die Perspektivlosigkeit, die das Proletariat bietet, werden vom Staat in hohem Maße ausgenutzt. Sie geben dem Staat jede Menge Spielraum, um die Ergebnisse der Fäulnis seines Systems, den Aufstieg der extremen Rechten, gegen die Klasse zu wenden und eine riesige Kampagne zur Verteidigung der Demokratie und ihres Systems zu entfachen, die seine Verantwortung für den bestehenden Zustand der Dinge verschleiern und die Klasse auf das Terrain der Verteidigung der bürgerlichen Ordnung locken und sie somit lähmen soll.
Die Existenz von Bewegungen nicht-proletarischer kleinbürgerlicher Zwischenschichten, die Opfer der kapitalistischen Krise sind, wie die aktuellen Proteste von Landwirten (denen sich Kleinunternehmer, Händler und sogar Arbeiter anschließen), birgt für das Proletariat die Gefahr, in klassenübergreifende Kämpfe hineingezogen zu werden, in denen die Klasse in das undifferenzierte Ganze der Masse der 'Bürger' der kapitalistischen Gesellschaft aufgelöst wird.
Die Herausforderung für die Arbeiterklasse besteht darin, ihre eigene Stärke auf ihrem Klassenterrain zu entwickeln, ihre Klassenautonomie zu verteidigen, indem sie Forderungen formuliert, die ihren spezifischen Klasseninteressen entsprechen, und die spezifischen Waffen ihres Kampfes schmiedet, die Vollversammlungen und die Solidarität im Kampf über die Branchengrenzen hinweg.
20. Der Druck auf die Arbeiterklasse, auf die sich verschlechternde Situation zu reagieren, wird zwar zunehmen, doch gibt es mehrere unvorhersehbare Faktoren:
Mit der Verschärfung der Wirtschaftskrise beginnen sich die Angriffe in vielen Bereichen zuzuspitzen: Ein Tsunami von mehreren tausend Stellenstreichungen betrifft die Automobilhersteller (ZF, Michelin, Continental, Bosch), die Automobilindustrie (Ford, VW), die Chemieindustrie (BASF, Bayer), die Versicherungsbranche (Allianz), Siemens, den Handel (Zalando, Karstadt/Kaufhof), Postbank. Kein einziger Bereich wird ausgespart bleiben.
Auch wenn es noch keine offene Reaktion gegen die deutsche Kriegsbeteiligung gibt, ist die Arbeiterklasse nicht bereit, ihr Leben für die Interessen des deutschen Kapitals zu opfern und steht nicht hinter ihrer herrschenden Klasse bei deren Kriegsvorbereitungen. Angesichts der massiven Angriffe auf die Beschäftigung, der Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und der Inflation kann die Zukunft nur von der Entwicklung der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse geprägt sein.
IKS, Anfang März 2024
Links
[1] https://www.iea.org/reports/co2-emissions-in-2022
[2] https://de.internationalism.org/content/3152/die-bourgeoisie-ist-nicht-der-lage-die-flut-des-klimawandels-aufzuhalten
[3] https://de.internationalism.org/files/de/20240126diskussionsveranstaltung_der_iks_neu_0.pdf
[4] mailto:[email protected]
[5] https://www.sinistra.net/lib/upt/kompro/cipo/cipobfibud.html
[6] https://de.wikisource.org/wiki/Die_proletarische_Revolution_und_der_Renegat_Kautsky
[7] https://www.bundeswehr.de/de/aktuelles/meldungen/generalinspekteur-zur-kriegstuechtigkeit-bundeswehr-5718502
[8] mailto:[email protected]
[9] https://de.internationalism.org/content/3104/drittes-manifest-der-iks-2023
[10] https://de.internationalism.org/content/3155/internationales-flugblatt-krieg-november-2023
[11] https://de.internationalism.org/content/3163/die-realitaet-hinter-den-buergerlichen-slogans
[12] https://de.internationalism.org/content/3153/der-krieg-im-nahen-osten-ein-weiterer-schritt-die-barbarei-und-das-globale-chaos
[13] https://de.internationalism.org/content/3064/aktualisierung-des-orientierungstextes-von-1990-militarismus-und-zerfall-mai-2022
[14] https://de.internationalism.org/content/3123/bericht-des-25-kongresses-ueber-die-imperialistischen-spannungen
[15] https://antimilitarismus.noblogs.org/english/
[16] https://antimilitarismus.noblogs.org/post/2023/08/29/the-revolutionary-movement-and-the-second-world-war-interview-with-marc-chirik-1985/
[17] https://en.internationalism.org/content/17185/between-internationalism-and-defence-nation
[18] https://antimilitarismus.noblogs.org/post/2022/09/13/anarchistischer-antimilitarismus-und-mythen-uber-den-krieg-in-der-ukraine/
[19] https://en.internationalism.org/content/17390/struggle-ahead-us
[20] https://de.internationalism.org/content/3150/die-ict-und-die-initiative-nwbtcw-ein-opportunistischer-bluff-der-die-kommunistische
[21] https://en.internationalism.org/content/17183/ukraine-dossier-capitalism-war-war-capitalism
[22] https://de.internationalism.org/content/3043/gemeinsame-erklaerung-von-gruppen-der-internationalen-kommunistischen-linken-zum-krieg
[23] https://de.internationalism.org/content/3144/schluss-mit-den-massakern-keine-unterstuetzung-fuer-irgendein-imperialistisches-lager
[24] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1916/01/nationen.html
[25] https://de.internationalism.org/content/719/pearl-harbor-1941-twin-towers-2001
[26] https://www.wsws.org/de/articles/2023/12/03/nbma-d03.html
[27] https://de.internationalism.org/content/3139/weder-israel-noch-palaestina-die-arbeiterklasse-hat-kein-vaterland
[28] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1918/russrev/index.htm
[29] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1916/junius/teil7.htm
[30] https://de.internationalism.org/tag/geographisch/russland-kaukasus-zentralasien
[31] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/terroranschlag-moskau
[32] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/kriege-im-zerfall
[33] https://communistleft.jinbo.net/xe/index.php?mid=cl_bd_03&document_srl=344069
[34] https://en.internationalistvoice.org/the-propaganda-war-the-war-of-propaganda/
[35] https://www.leftcom.org/de/articles/2023-10-12/das-j%C3%BCngste-massaker-im-nahen-osten-ist-ein-weiterer-schritt-hin-zu-einem
[36] https://www.pcint.org/
[37] https://www.international-communist-party.org/English/TheCPart/TCP_055.htm#Gaza
[38] https://www.internationalcommunistparty.org/index.php/fr/3450-israel-et-palestine-terrorisme-detat-et-defaitisme-proletarien
[39] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1917/04/aufgaben.html
[40] https://www.international-communist-party.org/English/TheCPart/TCP_056.htm#Gaza
[41] https://www.internationalcommunistparty.org/index.php/en/english/3446-israel-and-palestine-state-terrorism-and-proletarian-defeatism
[42] https://www.international-communist-party.org/OtherLanguages/All_Lang/PDF/1_May_2022_En.pdf
[43] https://de.internationalism.org/tag/geographisch/deutschland