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Internationale Revue - 2001

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Internationale Revue 27

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Bilan Nr. 10 vom August/September 1934: Krisen und Zyklen in der Wirtschaft des niedergehenden Kapitalismus

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Einleitung

Dies ist der erste Teil einer Studie, die 1934 in der Zeitschrift Bilan, Organ der Linken Fraktion der Kommunistischen Partei Italiens, veröffentlicht worden ist. Diese Studie setzte sich damals das Ziel, ”den Sinn der periodisch wiederkehrenden Krisen besser zu verstehen, die immer wieder den ganzen Kapitalismus erschüttert haben, und zu versuchen, mit größtmöglicher Präzision das Zeitalter der definitiven Dekadenz zu charakterisieren und die von ihm ausgehenden tödlichen Zuckungen zu verstehen”.

Es handelte sich also darum, die klassische marxistische Analyse zu aktualisieren und zu vertiefen, um zu verstehen, weshalb der Kapitalismus zyklischen Produktionskrisen ausgesetzt war und weshalb er im 20. Jahrhundert mit der zunehmenden Sättigung des Weltmarktes in eine neue Phase, die seiner unwiderruflichen Dekadenz, getreten ist. Die zyklischen Krisen sind längst einem viel tieferen und schwerwiegenderen Phänomen gewichen - der historischen Krise des kapitalistischen Systems. Sie ist gekennzeichnet durch einen sich ständig verschärfenden Widerspruch zwischen den kapitalistischen Produktionsverhältnissen und der Entwicklung der Produktivkräfte. Die kapitalistische Produktionsweise hat sich nicht nur in eine Fessel des Fortschritts verwandelt, sondern bedroht nun gar das Überleben der Menschheit selbst. Die Studie von Mitchell[1] [1] beginnt mit den Grundlagen der marxistischen Analyse: dem Profit und der kapitalistischen Akkumulation. Sie zeigt die Kontinuität zwischen den Analysen von Marx und Rosa Luxemburg auf, die in der Akkumulation des Kapitals eine Erklärung für die Tendenz des Kapitalismus zu immer tödlicheren Erschütterungen geliefert und die historischen Grenzen des Systems aufgezeigt hat, das nun in ein Zeitalter der ”Krisen, Kriege und Revolutionen” eingetreten war.

Mitchells Arbeit der Aktualisierung und Vertiefung ist auch heute noch vollständig gültig. Natürlich konnte Bilan sich das heutige Ausmaß der Verschuldung, der Spekulation, der monetären Manipulationen, der Unternehmensfusionen und -konzentrationen nicht vorstellen. Dennoch liefert diese Analyse alle Grundlagen zum Verständnis ihrer Mechanismen. Dieses Dokument erlaubt es uns also, die Grundlagen der Analysen zu formulieren, die wir in einem Artikel in der letzten Nummer über ”Die New Economy, eine erneute Rechtfertigung des Kapitalismus” entwickelten. Dies wird noch deutlicher im zweiten Teil der Studie über ”Die Analyse der allgemeinen Krise des dekadenten Imperialismus”, den wir in der nächsten Nummer veröffentlichen werden.

IKS

 

Die marxistische Analyse der kapitalistischen Produktionsweise bezieht sich hauptsächlich auf folgende Punkte:

a) auf die Kritik an den feudalen und vorkapitalistischen Produktions- und Austauschformen;

b) auf die Notwendigkeit, diese rückständigen Formen durch die fortschrittlichere kapitalistische Form zu ersetzen;

c) auf die Demonstration des fortschrittlichen Charakters der kapitalistischen Produktionsweise, indem der positive Aspekt und die gesellschaftliche Notwendigkeit der Gesetze aufgezeigt werden, die ihre Entwicklung bestimmen;

d) auf die vom Standpunkt einer sozialistischen Kritik aus zu erfolgende Untersuchung der negativen Aspekte derselben Gesetze, ihrer widersprüchlichen und zerstörerischen Auswirkungen, die die kapitalistische Evolution in eine Sackgasse führen;

e) auf den Beweis dafür, dass die kapitalistischen Aneignungsformen schließlich ein Hemmnis der vollständigen Entwicklung der Produktion sind und dass infolgedessen diese Produktionsweise ein immer unhaltbarer werdendes Klassenverhältnis schafft, was sich durch eine immer größere Kluft zwischen den immer wenigeren, aber reicheren  KAPITALISTEN auf der einen und den immer zahlreicheren und unglücklicheren LOHNABHÄNGIGEN ohne Eigentum auf der anderen Seite ausdrückt;

f) und schließlich auf die Anerkennung, dass die immensen, vom Kapitalismus entwickelten Produktivkräfte sich nur in einer Gesellschaft harmonisch entfalten können, die wiederum nur von einer Klasse organisiert werden kann, die kein besonderes Eigeninteresse als Kaste besitzt: vom PROLETARIAT.

In dieser Studie werden wir keine vertiefte Analyse der organischen Evolution des Kapitalismus in seiner aufsteigenden Phase anfertigen. Wir werden uns darauf beschränken, dem dialektischen Prozess seiner inneren Kräfte zu folgen, um so besser den Sinn der Krisen zu verstehen, die den Kapitalismus periodisch erschüttert haben. Schließlich werden wir versuchen, mit größter Genauigkeit das Zeitalter der definitiven Dekadenz des Kapitalismus zu bestimmen, in dem er von den blutigen Zuckungen seines Todeskampfes geschüttelt wird.

Wir werden ebenfalls untersuchen, wie der Zerfall der vorkapitalistischen Wirtschaftsformen – Feudalismus, Handwerksproduktion, ländliche Gemeinwirtschaft - die Bedingungen für die Ausweitung des Marktes für die kapitalistischen Waren schafft.

Die kapitalistische Produktion orientiert sich am Profit, nicht an den Bedürfnissen

Fassen wir die wichtigsten Vorbedingungen der kapitalistischen Produktionsweise zusammen.

1. Die Existenz von Waren, mit anderen Worten: von Produkten, die, ehe sie als GEBRAUCHSWERT entsprechend ihrem gesellschaftlichen Nutzen betrachtet werden können, als Austauschverhältnis mit anderen Gebrauchswerten verschiedener Art, d.h. als TAUSCHWERT, auftreten. Das einzige gemeinsame Maß der Waren ist die Arbeit; der Tauschwert einer Ware wird von der zu ihrer Herstellung gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit bestimmt.

2. Waren werden nicht DIREKT untereinander ausgetauscht, sondern durch die Zwischenschaltung einer universellen Ware, die den Wert aller Waren ausdrückt: die Ware GELD.

3. Die Existenz einer Ware mit einem besonderen Charakter, die ARBEITSKRAFT, die das einzige Eigentum des Arbeiters ist und von den Kapitalisten, den alleinigen Eigentümern der Produktions- und Subsistenzmittel, auf dem Arbeitsmarkt wie jede andere Ware zu ihrem WERT oder, in anderen Worten, zu ihren Produktionskosten bzw. dem Preis zur „Erhaltung“ der Lebenskraft des Proletariers gekauft wird. Doch während der Konsum aller anderer Waren nicht zu einer Wertsteigerung führt, verschafft die Arbeitskraft dagegen dem Kapitalisten, der sie gekauft hat, daher auch ihr Eigentümer ist und nach seinem Willen über sie verfügen kann, einen Wert, der größer ist als ihre Kosten, vorausgesetzt, er lässt den Proletarier länger arbeiten, als notwendig ist,  um sein striktes Existenzminimum zu produzieren.

Dieser MEHRWERT entspricht der MEHRARBEIT, die der Proletarier kraft  der Tatsache, dass er seine Arbeitskraft „frei“ und auf vertraglicher Basis verkauft, gratis an den Kapitalisten abtritt. Dies schafft den PROFIT des Kapitalisten. Es handelt sich hier also nicht um etwas Abstraktes, sondern um LEBENDIGE ARBEIT.

Wir möchten uns an dieser Stelle für unser Beharren auf dem, was allgemein zum kleinen Einmaleins der marxistischen Wirtschaftstheorie gehört, entschuldigen. Wenn wir insistieren, so, weil wir nicht aus dem Blick verlieren dürfen, dass alle wirtschaftlichen und politischen Probleme, die sich dem Kapitalismus stellen (und in Krisenzeiten sind sie zahlreich und komplex), auf das zentrale Ziel hinauslaufen, ein MAXIMUM an MEHRWERT zu produzieren. Der Kapitalismus kümmert sich nicht im mindesten um die Bedürfnisse der Menschheit, um ihren Konsum und oder um ihr Existenzminimum. NUR EIN EINZIGER KONSUM regt seine Interessen und Leidenschaft an, stimuliert seine Energien und seinen Willen, bildet seinen Daseinsgrund: DER KONSUM VON ARBEITSKRAFT!

Der Kapitalismus gebraucht die Arbeitskraft, um den höchstmöglichen Gewinn zu erzielen, was der größtmöglichen Menge an Arbeitskraft entspricht. Aber dies ist nicht alles: Notwendig ist auch die maximale Steigerung der Gratisarbeit im Verhältnis zur bezahlten Arbeit, des Profites im Verhältnis zu den Löhnen und zum verausgabten Kapital – die MEHRWERTRATE. Der Kapitalist gelangt zu seinem Ziel einerseits durch die Vergrößerung der Arbeitsmenge, sei es durch eine Verlängerung des Arbeitstages oder durch eine Erhöhung der Arbeitsintensität, und andererseits durch eine möglichst geringe Bezahlung der Arbeitskraft (sogar unter ihrem Wert), was vor allem dank der Entwicklung der Arbeitsproduktivität möglich ist, die die Kosten für die vordringlichsten Bedürfnisse und das Existenzminimum senkt. Aus eigenen Stücken wird der Kapitalismus dem Arbeiter natürlich nicht erlauben, aufgrund des Preisverfalls mehr Waren zu kaufen. Die Löhne bewegen sich stets um den Durchschnitt des Wertes der Arbeitskraft herum, welcher jenen Dingen entspricht, die für ihre Reproduktion unbedingt erforderlich sind: Die Bewegungen im Lohnwert über oder unter diesem Wert entfalten sich parallel zu den Fluktuationen im Kräfteverhältnis zwischen Kapitalisten und Proletariern. 

Aus obigen Zeilen geht klar hervor, dass die Mehrwertmenge nicht eine Funktion des GESAMTEN verausgabten Kapitals ist, sondern nur des Teils, der für den Kauf der Arbeitskraft, des VARIABLEN KAPITALS, ausgegeben wird. Deshalb tendiert der Kapitalist dazu, aus einem MINIMUM von GESAMTKAPITAL ein MAXIMUM an MEHRWERT herauszuschlagen. Doch wie wir bei der Analyse des Akkumulationsprozesses feststellen, wirkt dieser Tendenz ein Gesetz entgegen, das zu einem Fall der Profitrate führt.

Wenn wir also das Gesamtkapital oder das in der kapitalistischen Produktion investierte Kapital betrachten - sagen wir: innerhalb eines Jahres -, so dürfen wir es nicht als Ausdruck einer konkreten, materiellen Form der Waren, sprich: Gebrauchswerte, betrachten, sondern als Verkörperung von Waren, als Tauschwerte. Ist dies der Fall, so setzt sich der Wert der Jahresproduktion folgendermaßen zusammen:

a) aus dem verausgabten konstanten Kapital, d.h. aus den verschlissenen Produktionsmitteln und den absorbierten Rohstoffen: diese beiden Elemente sind der Ausdruck vergangener Arbeit, die bereits in vorhergehenden Produktionsperioden verausgabt, materialisiert worden war;

b) aus dem variablen Kapital und dem Mehrwert, die die neue, lebendige, während des Jahres verausgabte Arbeit darstellt.

Dieser abstrakte Wert erscheint im Gesamtprodukt ebenso wie in jedem Einzelstück. Der Wert eines Tisches beispielsweise ist die Summe des Wertes der Maschinen, die ihn produzieren, plus des Wertes der Rohstoffe und der Arbeit, die dabei verbraucht wurden. Man darf das Produkt also nicht als ausschließlichen Ausdruck entweder des konstanten Kapitals, des variablen Kapitals oder des Mehrwerts verstehen.

Das variable Kapital und der Mehrwert sind der Ertrag aus der Produktionssphäre (da wir hier nicht die außerkapitalistische Produktion der Bauern, Handwerker usw. berücksichtigen, beziehen wir auch ihr Einkommen nicht mit ein).

Das Einkommen der Proletarier entspricht dem Lohnfonds. Das Einkommen der Bourgeoisie entspricht der Mehrwertmasse bzw. dem Profit (wir wollen hier nicht die Verteilung des Mehrwerts in Industrie, Handel und Banken sowie in Form der Grundrente innerhalb der Bourgeoisie analysieren). Auf diese Weise definiert, begrenzt das Einkommen aus der kapitalistischen Sphäre den individuellen Konsum sowohl des Proletariats als auch der Bourgeoisie. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass der Konsum der Bourgeoisie nur durch die Möglichkeiten der Mehrwertproduktion begrenzt wird, wohingegen der Konsum der Arbeiter eine ausgesprochene  Notwendigkeit derselben Mehrwertproduktion ist. Folglich ist die Verteilung der Einkünfte der Hauptwiderspruch, der alle anderen Widersprüche auslöst. Denjenigen, die behaupten, dass die Arbeiter produzieren, um zu konsumieren oder dass die Bedürfnisse, die ja unbegrenzt seien, immer größer seien als die Produktionskapazitäten, antworten wir mit den Worten von Marx: ”Die Arbeiter produzieren tatsächlich den Mehrwert: solange sie ihn produzieren, können sie auch konsumieren, sobald jedoch die Produktion unterbricht, können sie auch nicht mehr konsumieren. Es ist falsch zu sagen, dass sie konsumieren können, da sie das Äquivalent ihrer Produktion herstellen.” Er sagt ferner: ”Die Arbeiter müssen immer Mehrwertproduzenten sein und über ihre Bedürfnisse hinaus produzieren, um Konsument oder Käufer in den Grenzen der Bedürfnisse zu sein.”

Doch für den Kapitalisten reicht es nicht aus, sich Mehrwert anzueignen, er kann sich nicht damit zufrieden geben, dem Arbeiter einen Teil der Früchte seiner Arbeit zu rauben, er muss in der Lage sein, den Mehrwert auch zu realisieren, ihn durch den Verkauf des Produkts zu seinem Wert in Geld umzuwandeln.

Erst mit dem Verkauf kann ein neuer Produktionszyklus beginnen. Er erlaubt dem Kapitalisten, die im gerade beendeten Produktionsprozess verbrauchten Teile des Kapitals zu ersetzen. Er muss verbrauchte Produktionsmittel ersetzen, neue Rohstoffe kaufen, die Arbeitskraft bezahlen. Doch vom kapitalistischen Standpunkt aus gelten diese Elemente nicht in ihrer materiellen Form als entsprechende Menge von Gebrauchswerten, als dieselbe Produktionsmenge, die in den Produktionsprozess wieder einverleibt wird, sondern als Tauschwert, als Kapital, das in die Produktion auf ihrem alten Stand (dabei den neuen akkumulierten Wert ignorierend) reinvestiert wird, um mindestens denselben Profit wie zuvor zu erzielen. Das erstrangige Ziel des Kapitalisten ist ein neuer Produktionszyklus, der ihm neuen Mehrwert einbringt.

Falls die Produktion nicht vollständig realisiert werden kann oder sie unter ihrem Wert realisiert wird, hat die Ausbeutung des Arbeiters dem Kapitalisten nichts oder nur wenig eingebracht, da sich die Gratisarbeit ja nicht in Geld und anschließend in Kapital zur erneuten Mehrwertproduktion hat umwandeln lassen. Dass dabei nichtsdestotrotz konsumierbare Produkte produziert worden sind, ist dem Kapitalisten völlig gleichgültig, selbst wenn es der Arbeiterklasse am Notwendigsten mangelt. Wenn wir hier die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass dieser Verkauf misslingt, so geschieht das vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sich der kapitalistische Produktionsprozess in zwei Phasen gliedert, nämlich in die der Produktion und des Verkaufs. Obwohl beide eine Einheit bilden und eng voneinander abhängig sind, verlaufen sie dennoch vollständig getrennt voneinander. Der Kapitalist beherrscht den Markt nicht, sondern ist ihm vielmehr völlig ausgeliefert. Nicht nur der Verkauf ist von der Produktion abgetrennt, sondern auch der anschließende Erwerb von Waren ist vom Verkauf derselben getrennt. Mit anderen Worten: Der Verkäufer einer Ware ist nicht notwendigerweise und gleichzeitig Käufer einer anderen Ware. In der kapitalistischen Ökonomie bedeutet Warenhandel nicht direkten Tauschhandel: Alle Waren müssen sich vor ihrer endgültigen Bestimmung in Geld umwandeln. Diese Metamorphose ist der wichtigste Moment in ihrer Zirkulation.

Die erste Möglichkeit einer Krise resultiert also aus der Differenzierung zwischen Produktion und Verkauf einerseits und zwischen Kauf und Verkauf andererseits, was es notwendig macht, dass die Ware sich zunächst in Geld und dann vom Geld zur Ware umwandeln muss, und dies auf der Grundlage einer Produktion, die als Kapital-Geld beginnt und als Geld-Kapital endet.

Hier taucht für den Kapitalismus das Problem der Realisierung auf. Welche  Lösungen bieten sich an? Zunächst kann der das konstante Kapital verkörpernde Teil des Produktwertes unter normalen Umständen in der kapitalistischen Sphäre selbst, durch den inneren Austausch zur Erneuerung der Produktion, verkauft werden. Der das variable Kapital darstellende Teil wird von den Arbeitern gekauft, dank der Löhne, die ihnen vom Kapitalisten bezahlt werden, und strikt innerhalb der Grenzen, die wir hervorgehoben haben, da der Preis der Arbeitskraft um seinen Wert herum pendelt: Dies ist der einzige Teil des Gesamtprodukts, dessen Realisierung und dessen Markt durch die Finanzierung des Kapitalismus selbst gesichert ist. Es bleibt also der Mehrwert. Man könnte natürlich in Betracht ziehen, dass die Bourgeoisie ihn allein für ihren Konsum ausgibt, obwohl dazu das Produkt erst in Geld umgewandelt werden müsste (wir vernachlässigen hier die Möglichkeit, dass individuelle Ausgaben auch mit gespartem Geld bestritten werden können), denn die Kapitalisten können nicht einfach ihr eigenes Produkt konsumieren. Doch wenn die Bourgeoisie sich derart verhalten würde, wenn sie nicht mehr täte, als die Früchte des Mehrwerts zu genießen, die sie sich vom Proletariat nimmt, wenn sie sich auf eine einfache Reproduktion beschränken würde, statt eine erweiterte Reproduktion anzustreben, um sich so eine friedliche und sorgenfreie Existenz zu sichern, dann würde sie sich nicht von den früheren herrschenden Klassen unterscheiden, abgesehen von ihren Herrschaftsformen. Die Struktur der Sklavenhaltergesellschaft unterdrückte jegliche technische Entwicklung und hielt die Produktion auf einem Niveau, auf dem der Sklavenhalter gut leben konnte, dessen Bedürfnissen die Sklaven vollauf gerecht wurden. Auch der Feudalherr erhielt im Austausch für den Schutz, den er seinen Leibeigenen gewährte, von Letzteren das Produkt ihrer Mehrarbeit und entledigte sich somit der Sorge um die Produktion, den Markt, der sich auf einen engen, nicht anpassungsfähigen lokalen Austausch beschränkte.

Angetrieben von der Entwicklung einer merkantilen Gesellschaft, war es die historische Aufgabe des Kapitalismus, diese dumpfen und stagnierenden Gesellschaften wegzufegen. Die Enteignung der Produzenten schuf den Arbeitsmarkt und öffnete den Quell des Mehrwerts des merkantilen Kapitals, um es in industrielles Kapital umzuwandeln. Ein  Produktionsfieber erfasste die gesamte Gesellschaft. Angespornt von der Konkurrenz, zog Kapital Kapital an. Die Produktivkräfte und die Produktion wuchsen exponentiell, und die kapitalistische Akkumulation erreichte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit dem Aufblühen des ”Freihandels” ihren Höhepunkt.

Die Geschichte zeigt also, dass die Bourgeoisie in ihrer Gesamtheit keinesfalls den gesamten Mehrwert konsumieren kann. Im Gegenteil: Ihre Profitgier veranlasst sie, den größeren Teil des Mehrwerts beiseite zu legen und – da Profit Profit anzieht, so wie der Magnet das Eisen – in KAPITAL umzuwandeln. Die Produktion wird unaufhörlich erweitert, wobei die Konkurrenz sie stimuliert und technologische Verbesserungen voraussetzt.

Die Erfordernisse der Akkumulation verwandeln die Realisierung des Mehrwerts zu einem Stolperstein für die Realisierung des Gesamtprodukts. Während die Realisierung des für den Konsum bestimmten Teils kein Problem darstellt (zumindest theoretisch), so verbleibt nichtsdestotrotz der Teil des Mehrwerts, der für die Akkumulation reserviert ist. Dieser kann unmöglich von den Proletariern absorbiert werden, da ihre Kaufkraft auf ihren Lohn beschränkt ist. Soll man nun davon ausgehen, dass er vom Austausch unter den Kapitalisten und innerhalb des kapitalistischen Bereichs absorbiert wird und dass dieser Austausch für eine Produktionsausdehnung ausreicht?

Marx unterstreicht die offensichtliche Absurdität einer solchen Lösung: ”Die kapitalistische Produktion will nicht andere Güter besitzen, sondern sich Wert, Geld, abstrakten Reichtum aneignen.” Die Ausdehnung der Produktion ist eine Funktion der Akkumulation dieses abstrakten Reichtums. Der Kapitalist produziert nicht aus Gefallen am Produzieren, am Akkumulieren von Produktionsmitteln oder Konsumgütern oder etwa aus Gefallen daran, sich mit immer mehr Arbeitern „vollzustopfen“, sondern weil die Produktion Gratisarbeit erzeugt, also Mehrwert, der akkumuliert und um so mehr wächst, je mehr er in Kapital umgewandelt wird. Marx fügt hinzu: ”Wenn man sagt, dass die Kapitalisten ihre Waren ja nur unter sich auszutauschen und zu konsumieren hätten, so vergisst man den ganzen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise, bei der es sich um die Umwandlung des Kapitals in Wert und nicht um seinen Verzehr handelt.”

Wir befinden uns also beim Kern des Problems, das sich dem Gesamtkapital unausweichlich und ständig stellt: dem Verkauf außerhalb des kapitalistischen Marktes, dessen Aufnahmefähigkeit durch die Gesetze des Kapitalismus streng begrenzt ist, da die Mehrproduktion zumindest den Teil des Mehrwerts darstellt, der nicht von der Bourgeoisie konsumiert wird, sondern dafür vorgesehen ist, in Kapital umgewandelt zu werden. Da gibt es kein Entrinnen: Das Warenkapital kann nur Mehrwert erzeugendes Kapital werden, wenn es zuvor in außerkapitalistischen Gebieten in Geld umgewandelt worden ist. ”Der Kapitalismus benötigt nichtkapitalistische, nicht lohnabhängige und sich im Besitz autonomer Kaufkraft befindlicher Käufer, um einen Teil seiner Waren loszuwerden.” (Rosa Luxemburg)

Bevor wir betrachten, wo und wie das Kapital diese ”autonome” Kaufkraft findet, müssen wir zunächst den Akkumulationsprozess weiterverfolgen.

Die kapitalistische Akkumulation: Faktor des Fortschritts und des Rückschritts

Wir haben bereits betont, dass das Wachstum des arbeitenden Kapitals unter dem Zwang der technischen Verbesserungen gleichzeitig die Produktivkräfte entwickelt. Doch neben diesem positiven und fortschrittlichen Aspekt der kapitalistischen Produktionsweise taucht ein rückschrittlicher, widersprüchlicher Faktor auf, der aus den Veränderungen der inneren Zusammensetzung des Kapitals entsteht.

Das akkumulierte Kapital ist in zwei ungleiche Teile aufgeteilt: Der größte Teil dient der Erweiterung des konstanten Kapitals, der kleinere wird für den Kauf zusätzlicher Arbeitskraft aufgewendet. Der Rhythmus in der Entwicklung des konstanten Kapitals beschleunigt sich also auf Kosten desjenigen des variablen Kapitals, und das konstante Kapital wächst im Verhältnis zum Gesamtkapital. Anders ausgedrückt erhöht sich die organische Zusammensetzung des Kapitals. Gewiss erhöht die Nachfrage nach mehr Arbeitern den absoluten Anteil des Proletariats am Sozialprodukt, doch sein relativer Anteil verringert sich, da das variable Kapital im Verhältnis zum konstanten und zum Gesamtkapital abnimmt. Aber auch das absolute Wachstum des variablen Kapitals, also des Lohnfonds, kann sich nicht unbegrenzt fortsetzen: An einem bestimmten Punkt erreicht es seine Sättigung. Tatsächlich treibt die ständige Erhöhung der organischen Zusammensetzung (in anderen Worten: die technische Entwicklung des Kapitals) die Entwicklung der Produktivkräfte und  Arbeitsproduktivität derart voran, dass das fortgesetzte Wachstum des Kapitals, weit davon entfernt, neue Arbeitskräfte zu absorbieren, im Gegenteil darin endet, einen Teil jener Arbeitskraft, die bereits in die Produktion integriert war, auf den Markt zu werfen und so ein „Phänomen“ zu produzieren, das eine Eigentümlichkeit des dekadenten Kapitalismus ist: die permanente Arbeitslosigkeit, Ausdruck eines relativen und konstanten „Überschusses“ von Arbeitern.

Andererseits gewinnen die gigantischen Proportionen, die die Produktion nun erreicht hat, ihre volle Bedeutung erst durch den Umstand, dass die Masse der Produkte oder Gebrauchswerte schneller wächst als die ihr entsprechenden Tauschwerte, sprich: als der Wert des konsumierten konstanten Kapitals,  des variablen Kapitals und des Mehrwerts. Zum Beispiel: Eine Maschine zum Preis von 1000 Franken, mit der zwei Arbeiter in der Lage sind, 1000 Einheiten eines bestimmten Produkts herzustellen, wird durch eine ausgereiftere Maschine zum Preis von 2000 Franken ersetzt, mit der aber ein Arbeiter das Drei- bis Vierfache produzieren kann. Man kann nun einwenden, dass der Arbeiter mit seinem Lohn mehr Produkte kaufen kann, da ja mit weniger Arbeit ein Mehr an Waren hergestellt werden kann. Man vergisst dabei aber völlig, dass diese Produkte vor allem Waren sind und dass auch die Arbeitskraft eine Ware ist. Folglich kann diese Ware Arbeitskraft, wie wir dies bereits zu Beginn sagten, nur zu ihrem Tauschwert, der ihren Reproduktionskosten entspricht, verkauft werden. Diese Reproduktionskosten stellen umgekehrt das strikte Existenzminimum für die Arbeiter dar. Wenn nun wegen des technischen Fortschritts die Lebenshaltungskosten reduziert werden, dann wird auch der Lohn entsprechend reduziert. Und selbst wenn sich diese Kürzung wegen eines für das Proletariat günstigen Kräfteverhältnisses nicht proportional zur Verminderung der Produktionskosten verhält, so muss sie sich auf jeden Fall innerhalb der Grenzen bewegen, die mit den Erfordernissen der kapitalistischen Produktionsweise vereinbar sind.

Der Akkumulationsprozess vertieft also einen ersten Widerspruch: das Wachstum der Produktivkräfte auf der einen Seite, die Reduzierung der in der Produktion tätigen Arbeitskräfte und die Entwicklung eines relativen und konstanten Überschusses an Arbeitern auf der anderen Seite. Dieser Widerspruch ruft einen weiteren hervor. Wir haben bereits angesprochen, welche Faktoren die Mehrwertrate bestimmen. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass sich bei einer unveränderlichen Mehrwertrate die Masse des Mehrwerts und somit auch die Masse des Profits immer proportional zur Masse des in der Produktion verausgabten variablen Kapitals verhält. Wenn nun das variable Kapital im Verhältnis zum Gesamtkapital abnimmt, dann vermindert sich auch die Profitmasse im Verhältnis zum Gesamtkapital und sinkt infolgedessen die Profitrate. Der Fall der Profitrate verschärft sich in dem Maß, in dem die Akkumulation voranschreitet und das konstante Kapital im Verhältnis zum variablen Kapital wächst, während die Profitmasse weiter wächst (in Folge einer Steigerung der Mehrwertrate). Es findet nun also keineswegs eine Verminderung der Ausbeutungsintensität statt, sondern es wird nur weniger Arbeit im Verhältnis zum Gesamtkapital aufgewendet, die aber auch weniger Gratisarbeit liefert. Mehr noch, der Akkumulationsrhythmus wird beschleunigt, weil er den Kapitalisten ständig quält, ihn nie zur Ruhe kommen lässt und zwingt, aus einer gegebenen Anzahl von Arbeitern den maximalen Mehrwert herauszupressen, um so immer mehr Mehrwert zu akkumulieren.

Das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate erzeugt die zyklischen Krisen und ist ein mächtiger Beschleunigungsfaktor im Zerfall des dekadenten Kapitalismus. Ferner liefert es uns eine Erklärung für den Kapitalexport, der ein spezifischer Zug des imperialistischen und monopolistischen Kapitalismus ist. „Der Kapitalexport“, sagt Marx, „ ist nicht auf die absolute Unmöglichkeit der inneren Anlage zurückzuführen, sondern auf die Möglichkeit der ausländischen Anlage zu einer höheren Profitrate.” Lenin bestätigt diesen Gedanken: ”Die Notwendigkeit des Kapitalexports ergibt sich aus der Überreife des Kapitalismus in einigen Ländern, in denen die vorteilhaften Anlagen (was wir hervorheben:) - rückständige Landwirtschaft, elende Massen - nur noch mangelhaft vorhanden sind.”

Ein weiterer Faktor, der die Akkumulation zu beschleunigen hilft, ist der Kredit, der heute auf die bürgerlichen Ökonomen und Sozialdemokraten auf ihrer Suche nach Heilmitteln und Lösungen eine magische Wirkung ausübt. Im Lande Roosevelts und in allen Planwirtschaften, für DeMan, die Bürokraten des CGT und andere Retter des Kapitalismus übte er einen großen Zauber aus. Denn es schien, als habe der Kredit die Eigenschaft, Kaufkraft zu schaffen.

Doch wenn wir all den pseudowissenschaftlichen und verlogenen Kram einmal beiseite lassen, können wir den Kredit einfach folgendermaßen definieren: Mittels seines Finanzapparates wird dem Kapital zur Verfügung gestellt:

a) zurzeit im Produktionsprozess nicht benötigte und zur Erneuerung des konstanten Kapitals bestimmte Summen;

b) jener Teil des Mehrwerts, den die Bourgeoisie nicht unverzüglich konsumiert oder den sie nicht akkumulieren kann;

c) Summen, die nichtkapitalistischen Schichten (Bauern, Handwerker) oder privilegierten Schichten der Arbeiterklasse zur Verfügung stehen, 

Mit einem Wort:  Es handelt sich hierbei um ERSPARNISSE oder potenzielle Kaufkraft.

Daher kann eine Kreditoperation bestenfalls zu nicht viel mehr führen, als zu einer Umwandlung von latenter Kaufkraft in neue Kaufkraft. Darüber hinaus ist dies ein Problem, das nur diejenigen interessiert, die müßige Zuschauer amüsieren wollen. Uns interessiert jedoch die Tatsache, dass Ersparnisse zur Kapitalisierung mobilisiert werden können und somit die akkumulierte Kapitalmasse anwachsen lassen. Ohne Kredit wären die Ersparnisse nur gehortetes Geld und kein Kapital. ”Der Kredit lässt die Ausdehnungsmöglichkeit der Produktion auf unermessliche Weise anwachsen und bildet die treibende interne Kraft zur ständigen Überwindung der Grenzen des Marktes.” (R. Luxemburg)

Ein dritter Beschleunigungsfaktor muss erwähnt werden. Es ist der Bourgeoisie nicht möglich, ihren eigenen Konsum dem Schwindel erregenden Wachstum der Mehrwertmenge anzupassen. Ihr Magen, so unersättlich er auch sein mag, kann das Mehr an produziertem Mehrwert nicht absorbieren. Selbst wenn ihre Völlerei sie zu einem erhöhten Konsum treiben würde, wäre sie nicht dazu in der Lage, denn sie ist dem unverrückbaren Gesetz der Konkurrenz unterworfen: die Produktion zu steigern, um die Preise zu senken. Da der Teil des Mehrwerts, der konsumiert wird, sich im Verhältnis zum Gesamtmehrwert verringert, steigt die Akkumulationsrate. Somit haben wir einen weiteren Grund für die Schrumpfung des kapitalistischen Marktes.

Wir wollen hier noch einen vierten Beschleunigungsfaktor erwähnen, der parallel zur Entwicklung des Banken- und Kreditkapitals auftritt und ein Produkt des selektiven Konkurrenzprozesses ist: die Konzentration von Kapital und Produktionsmitteln in gigantischen Unternehmungen, die, indem sie den Mehrwert für die Akkumulation en gros steigern, ungleich schneller die Kapitalmasse vergrößern. Da sich diese Unternehmen organisch zu parasitären Monopolen entwickeln, werden sie auch zu einem bösartigen Desintegrationsherd in der Periode des Imperialismus.

Fassen wir also die Grundwidersprüche zusammen, die die kapitalistische Produktionsweise untergraben:

a) Auf der einen Seite hat die Produktion ein Niveau erreicht, das in den Massenkonsum gemündet ist; auf der anderen Seite bringen die Erfordernisse dieser Produktion die Fundamente des Konsums innerhalb des kapitalistischen Marktes zum Schwinden. Der relative und absolute Anteil des Proletariats am Gesamtprodukt nimmt ab, der individuelle Konsum der Kapitalisten wird relativ eingeschränkt.

b) Es ist notwendig, jenen Teil des Gesamtprodukts außerhalb des kapitalistischen Marktes zu realisieren, der innerhalb nicht konsumiert werden kann. Dieser Teil entspricht dem akkumulierten Mehrwert, der unter dem Druck diverser, beschleunigender Faktoren immer schneller und permanent wächst.

Es ist daher notwendig, auf der einen Seite das Produkt zu realisieren, ehe die Produktion wieder beginnen kann, und auf der anderen Seite die Absatzmärkte zu vergrößern, damit das Produkt realisiert werden kann.

Wie Marx unterstrich: ”Die kapitalistische Produktion muss auf ständig größerer Stufenleiter produzieren, die aber gerade gar nichts mit der gegenwärtigen Nachfrage zu tun hat, sondern von der ständigen Ausdehnung des Weltmarktes abhängt. Die Nachfrage der Arbeiter genügt keineswegs, da der Profit ja gerade aus dem Umstand entsteht, dass die Nachfrage der Arbeiter kleiner ist als der Wert der von ihnen hergestellten Produkte und er ist um so größer, je kleiner diese Nachfrage ist. Die wechselseitige Nachfrage der Kapitalisten ist ebenso ungenügend.”

Wie also gelingt diese kontinuierliche Ausdehnung des Weltmarktes, die Erschließung und ständige Schaffung und Vergrößerung von außerkapitalistischen Märkten, deren lebenswichtige Bedeutung für den Kapitalismus Rosa Luxemburg hervorhob? Aufgrund seiner historischen Stellung in der Evolution der Gesellschaft muss der Kapitalismus, um weiter zu überleben, den Kampf weiterführen, den er zunächst begonnen hatte, um das Fundament für die Entwicklung seiner Produktion zu schaffen. Mit anderen Worten: Um den Mehrwert, den er aus jeder Pore ausschwitzt, in Geld umzuwandeln und zu akkumulieren, muss der Kapitalismus die alten Wirtschaftsweisen, die bis dahin alle historischen Erschütterungen überlebt hatten, auflösen. Um die Produkte, die er in der kapitalistischen Sphäre nicht verkaufen kann, loszuwerden, muss er Käufer finden, die ihrerseits nur in einer Warenwirtschaft existieren können. Ferner benötigt der Kapitalismus, um das Produktionsniveau zu halten, große Vorräte an Rohstoffen, die er sich nur in den Ländern aneignen kann, wo die Eigentumsformen keine Barriere gegen seine Ziele darstellen und die notwendige Arbeitskraft zur Ausbeutung dieser begehrten Reichtümer verfügbar ist. Wo immer noch solche Sklavenhalter- oder Feudalgesellschaften oder bäuerliche Subsistenzwirtschaft vorkamen, in denen der Produzent an die Produktionsmittel gebunden war und für die Befriedigung seiner unmittelbaren Bedürfnisse arbeitete, musste der Kapitalismus daher die Bedingungen schaffen und den Weg öffnen, um seine Ziele zu erreichen. Mit Gewalt, Enteignung, der Steuerschraube und der Unterstützung der herrschenden Schichten dieser Gegenden zerstörte er zuallererst das Gemeineigentum, wandelte die Produktion zur Bedürfnisbefriedigung in eine Produktion für den Markt um, etablierte neue Produktionen, die seinen eigenen Bedürfnissen entsprachen, schnitt die bäuerliche Wirtschaft von jenen Handwerkern ab, die sie ergänzt hatten. So schuf er einen Markt, auf dem der Bauer gezwungen war, seine landwirtschaftlichen Produkte – die alles waren, was er noch produzieren konnte – im Austausch für den in den kapitalistischen Fabriken hergestellten Ramsch zu verkaufen. In Europa hatte bereits die landwirtschaftliche Umwälzung des 15. und 16. Jahrhunderts die Enteignung und Vertreibung eines Teils der ländlichen Bevölkerung bewirkt und den Markt für die entstehende kapitalistische Produktionsweise  geschaffen. Marx bemerkte diesbezüglich, dass erst die Vernichtung der häuslichen Baumwollindustrie dem heimischen Markt eines Landes zur notwendigen Ausdehnung und zum Zusammenwachsen verhelfen konnte.

In seiner Unersättlichkeit macht der Kapitalismus hier jedoch nicht Halt. Die Realisierung des Mehrwerts genügt nicht. Nun muss der Kapitalismus die unabhängigen Produzenten ausrotten, die aus den primitiven Gesellschaften hervorgegangen waren und noch immer im Besitz eigener Produktionsmittel waren. Er muss ihre Produktion ersetzen, und zwar durch kapitalistische Produktion, um Anlagefelder für die Massen akkumulierten Kapitals zu finden, welche ihn zu ersticken drohen. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem in den Vereinigten Staaten eingeleitete Industrialisierung der Landwirtschaft ist ein schlagendes Beispiel für den Auflösungsprozess der bäuerlichen Wirtschaften, der die Kluft zwischen dem kapitalistischen Farmer einerseits und dem Landarbeiter andererseits weiter öffnete.

In den Kolonien füllte trotz der Tatsache, dass der Prozess der kapitalistischen Industrialisierung sehr begrenzt blieb, die Enteignung und Proletarisierung der eingeborenen Massen das Reservoir, aus dem der Kapitalismus die Arbeitskräfte schöpft, die ihm die billigen Rohstoffe liefern.

Infolgedessen bedeutet die Realisierung des Mehrwerts für den Kapitalismus die fortschreitende und ständige Annexion vorkapitalistischer Wirtschaftsformen, deren Existenz lebenswichtig für ihn ist, die er aber dennoch vernichten muss, wenn er seinen Daseinsgrund fortsetzen will: die Akkumulation. Daraus entsteht ein weiterer, mit dem oben Genannten verbundener Grundwiderspruch: Die Entwicklung der Akkumulation und der kapitalistischen Produktion nährt sich von der ”menschlichen” Substanz der außerkapitalistischen Gebiete, löscht diese aber auch zunehmend aus. Was einst als eine ”autonome” Kaufkraft erschien, die in der Lage war, Mehrwert zu absorbieren - wie der Konsum der Bauern -, wird zu einer spezifisch kapitalistischen Kaufkraft (mit anderen Worten: zu einer Kaufkraft, die in die engen Grenzen gezwängt ist, die durch das variable Kapital und den konsumierbaren Mehrwert bestimmt werden), sobald die Bauernschaft in Proletarier und Kapitalisten getrennt ist. Der Kapitalismus sägt also in gewisser Weise den Ast ab, auf dem er sitzt.

Man könnte sich natürlich eine Epoche vorstellen, in der der weltweit verbreitete Kapitalismus ein Gleichgewicht zwischen den Produktivkräften und der gesellschaftlichen Harmonie hergestellt hat. Doch es scheint uns, dass, wenn Marx in seinen Schemata über die erweiterte Produktion diese Hypothese einer vollständig kapitalistischen Gesellschaft aufgestellt hat, in der es nur den Gegensatz zwischen Kapitalisten und Proletariern gibt, dies genau deshalb geschah, um die Absurdität einer kapitalistischen Gesellschaft zu demonstrieren, die eines Tages ein Gleichgewicht und einen Einklang mit den Bedürfnissen der Menschheit erlangt. Denn dies würde bedeuten, dass der zu akkumulierende Mehrwert dank der Ausweitung der Produktion einerseits durch den Kauf neuer Produktionsmittel, andererseits durch die zusätzliche Nachfrage der Arbeiter (wo sie sonst finden?) direkt realisiert werden kann und dass die Kapitalisten sich von Wölfen in friedliche Schafe verwandeln würden.

Wäre Marx in der Lage gewesen, seine Schemata weiterzuentwickeln, wäre er zum gegenteiligen Schluss gelangt: dass ein kapitalistischer Markt, der sich nicht mehr durch die Einverleibung nicht-kapitalistischer Gebiete ausdehnen kann, dass eine allumfassende kapitalistische Produktion – die historisch unmöglich ist – das Ende des Akkumulationsprozesses und das Ende des Kapitalismus selbst bedeuten würde. Folglich dient die Darstellung dieser Schemata als Abbild einer kapitalistischen Produktion, die in der Lage ist, ohne Ungleichgewicht, ohne Überproduktion, ohne Krisen zu überdauern, nur dazu, die marxistische Theorie bewusst zu verfälschen, wie manche „Marxisten“ es tun.

Dem Kapital gelingt es nicht, seine gewaltigen Produktionssteigerungen an die Kapazitäten der Märkte, derer er sich bemächtigt hat, anzupassen. Einerseits dehnen sich die Märkte nicht fortlaufend aus, während andererseits die mannigfaltigen Beschleunigungsfaktoren, die wir erwähnt haben, der Akkumulation einen Schwung verleihen, der die Produktion schneller wachsen lässt, als sich die außerkapitalistische Absatzmärkte ausweiten. Der Akkumulationsprozess erzeugt nicht nur eine enorme Menge an Tauschwerten, sondern die wachsende Kapazität der Produktionsmittel lässt, wie wir bereits gesagt haben, die Masse an Produkten oder Gebrauchswerten in noch beträchtlicherem Ausmaß wachsen. Die Folge ist, dass der Produktionsprozess zwar in der Lage ist, den Massenkonsum zu befriedigen, aber der Verkauf seiner Produkte einer ständigen Anpassung an der Aufnahmefähigkeit, die nur außerhalb der kapitalistischen Sphäre existiert, untergeordnet ist.

Wenn diese Anpassung nicht stattfindet, entsteht eine relative Überproduktion von Waren, und zwar nicht in Bezug auf die Konsumkapazitäten, sondern in Bezug auf die Kaufkraft sowohl innerhalb als auch außerhalb der kapitalistischen Sphäre.

Träte die Überproduktion erst dann ein, wenn alle Mitglieder einer Nation ihre dringendsten Bedürfnisse befriedigt hätten, so wäre es in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft nie zu einer generellen oder partiellen Überproduktion gekommen. Wenn der Markt an Schuhen, Stoffen, Wein und Kolonialwaren gesättigt ist, heißt dies, dass ein Teil der Nation, sagen wir zwei Drittel, auch tatsächlich ihren Bedarf an diesen Schuhen usw. mehr als befriedigt hat? Die Überproduktion ist keine Frage von absoluten Bedürfnissen; sie richtet sich nur nach jenen Bedürfnissen, die ”bezahlbar” (Marx) sind.

Diese Art von Überproduktion ist in keiner älteren Gesellschaftsform vorzufinden. Der niedrige Stand der Produktionsmittel erforderte die Ausbeutung von Sklaven, um gewaltsam jeden Hang einzuschränken, die Bedürfnisse der Massen zu erweitern. Falls zufällig eine Überproduktion auftrat, so wurde sie entweder durch Lagerung oder durch die Ausweitung des Luxuskonsums absorbiert. Mit anderen Worten: Es handelte sich also um keine eigentliche Überproduktion, sondern um einen Überkonsum der Reichen. Desgleichen ist unter dem Feudalregime die geringe Produktion schnell verbraucht worden: Der Leibeigene musste den größten Teil seines Produkts zur Befriedigung der Bedürfnisse des Feudalherrn abgeben und bemühte sich mit dem Rest, nicht zu verhungern. Hungersnöte und Kriege ließen keine Gefahr der Überproduktion befürchten.

Unter kapitalistischem Regime überfluten die Produktivkräfte ein Fundament, das zu klein geworden ist, um sie zu umfassen: Die kapitalistischen Produkte sind im Überfluss vorhanden, doch sie hegen puren Widerwillen  gegen die einfachen Bedürfnisse der Menschen, sie geben sich nur dem Austausch gegen Geld hin, und wenn kein Geld vorhanden ist, ziehen sie es vor, sich in Fabriken, Geschäften oder Lagerhallen anzuhäufen oder gar zu verrotten.

Die chronischen Krisen des aufsteigenden Kapitalismus

Die einzigen Grenzen der kapitalistischen Produktion sind diejenigen, die  ihr durch die Möglichkeit der Kapitalverwertung aufgezwungen werden: Solange Mehrwert produziert und kapitalisiert werden kann, schreitet die Produktion voran. Ihre Unausgewogenheit zu den allgemeinen Konsumkapazitäten erscheint erst, wenn die Warenflut an die Grenzen des Marktes stößt und die Kanäle der Zirkulation blockiert, mit anderen Worten: wenn die Krise ausbricht.

Es ist offensichtlich, dass die Krise nicht jener Definition entspricht, die sie auf eine Gleichgewichtsstörung zwischen den verschiedenen Produktionssektoren reduziert, wie dies gewisse bürgerliche und selbst marxistische Ökonomen tun. Marx hebt hervor, dass ”in Perioden genereller Überproduktion die Überproduktion in gewissen Sphären nur das Ergebnis, die Konsequenz der Überproduktion in den Hauptzweigen ist. Es handelt sich nur um eine relative Überproduktion, weil es Überproduktion in anderen Sphären gibt.” Gewiss kann eine zu starke Diskrepanz z.B. zwischen dem Produktionsmittel herstellenden Sektor und dem Konsumartikel herstellenden Sektor eine partielle Krise auslösen, kann sogar der  ursprüngliche Grund einer allgemeinen Krise sein. Die Krise ist das Produkt einer allgemeinen und relativen Überproduktion, einer Überproduktion von Waren aller Art (seien es nun Produktionsmittel oder Konsumgüter) im Verhältnis zur Nachfrage auf dem Markt.

Kurz, die Krise ist Ausdruck der Unfähigkeit des Kapitalismus, aus der Ausbeutung der Arbeiter Profit zu schlagen. Wir haben bereits aufgezeigt, dass es nicht ausreicht, unbezahlte Arbeit herauszupressen und diese in Form eines neuen Wertes, des Mehrwerts, in das Produkt zu integrieren. Sie muss durch den Verkauf des Gesamtprodukts zu seinem Wert oder besser zu seinem Produktionspreis, der sich aus dem Kostpreis (dem Wert des verwendeten Kapitals, sowohl des konstanten als auch des variablen) und dem gesellschaftlichen Durchschnittsprofit zusammensetzt, in der Geldform materialisiert werden. Andererseits ist der Marktpreis, wenngleich theoretisch, der monetäre Ausdruck des Produktionspreises, unterscheidet sich in der Realität jedoch von Letzterem insofern, als er den Kurven folgt, die vom kaufmännischen Gesetz von Angebot und Nachfrage bewirkt werden, während er nichtsdestotrotz unter dem Einfluss des Wertes steht. Man muss daher betonen, dass Krisen durch abnormale Preisbewegungen gekennzeichnet sind und in beträchtlichen Entwertungen bis hin zur totalen Vernichtung von Werten münden, was einem Verlust von Kapital entspricht. Die Krise offenbart jäh, dass eine zu große Masse an Produktionsmitteln, Arbeitsmitteln und Konsumgütern hergestellt worden ist, so dass es unmöglich geworden ist, diese zu einer bestimmten Profitrate als Ausbeutungsinstrumente der Arbeiter anzuwenden. Das Sinken der Profitrate unter ein für die Bourgeoisie akzeptables Niveau bis zur Gefahr, dass jeglicher Profit verschwindet, bewirkt eine Störung des Produktionsprozesses und kann ihn sogar lähmen. Die Maschinen geraten nicht etwa ins Stocken, weil sie mehr produzieren, als konsumiert werden kann, sondern weil das existierende Kapital nicht mehr den Mehrwert erhält, der es am Leben erhält. Die Krise löst den Nebel über der kapitalistischen Produktionsweise auf: Auf einen Schlag offenbart sich der grundlegende Widerspruch zwischen Gebrauchswert und Tauschwert, zwischen den Bedürfnissen der Menschen und den Bedürfnissen des Kapitals. ”Es werden”, wie Marx sagte, ”zu viele Waren produziert, als dass sie mit ihrem Wert und Mehrwert unter den Verteilungs- und Konsumptionsbedingungen der kapitalistischen Produktion realisiert und wieder in neues Kapital verwandelt werden könnten. Es werden nicht zu viele Reichtümer produziert. Aber periodisch wird zuviel Reichtum in seinen widersprüchlichen kapitalistischen Formen produziert.”

Die mit beinahe mathematischer Regelmäßigkeit wiederkehrenden Krisen bilden einen der spezifischen Züge der kapitalistischen Produktionsweise. Weder diese Regelmäßigkeit noch die Eigentümlichkeiten der kapitalistischen Krisen finden sich in irgendeiner der vorangehenden Gesellschaftsformen. Krisen, die aus einem Übermaß an Reichtum entstehen, waren unbekannt in den antiken patriarchalischen oder feudalen Wirtschaftsweisen, die hauptsächlich auf der Bedürfnisbefriedigung der herrschenden Klasse basierten und weder vom technischen Fortschritt  noch von einem Markt, der einen breiten Austausch ermöglichte, abhängig waren. Wie wir bereits aufgezeigt haben, war Überproduktion in ihnen unmöglich, und Wirtschaftskatastrophen waren entweder das Resultat natürlicher Ursachen (Dürre, Überschwemmungen, Epidemien) oder die Folge gesellschaftlicher Faktoren (wie Kriege).

Wirtschaftskrisen treten erst mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts auf, als der Kapitalismus, gefestigt durch harte und erfolgreiche Kämpfe gegen die feudale Gesellschaft, in die Blütephase seiner Expansion tritt und auf einer soliden industriellen Grundlage mit der Eroberung der Welt beginnt. Seither entwickelte sich die kapitalistische Produktion ungleich. Auf eine Phase der fieberhaften Produktion zur Befriedigung der wachsenden Forderungen des Weltmarktes folgte eine Verstopfung des Marktes. Das Abebben der Zirkulation erschütterte den ganzen Produktionsmechanismus. Das Wirtschaftsleben bildet so eine lange Kette, deren einzelne Glieder einen Zyklus darstellen, der sich in eine Abfolge von Perioden durchschnittlicher Aktivität, von Prosperität, Überproduktion, Krise und Depression unterteilt. Die Bruchstelle dieses Zyklus‘ ist die Krise, die ”momentane und gewaltsame Lösung der Widersprüche, gewaltsamer Ausbruch, der für einen Augenblick das gestörte Gleichgewicht wiederherstellt” (Marx). Krise und Prosperität sind also unzertrennlich miteinander verbunden und bedingen sich wechselseitig.

Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts lag das Gravitationszentrum der zyklischen Krisen in Großbritannien, der Wiege der industriellen Revolution. Die erste Überproduktionskrise ereignete sich 1825 (ein Jahr zuvor hatte die Gewerkschaftsbewegung begonnen, sich auf der Grundlage des Koalitionsgesetzes, das die Arbeiter der Bourgeoisie abgerungen hatten, auszubreiten). Die Ursprünge diese Krise waren für damalige Begriffe seltsam: Die stattlichen Anleihen, die in den vorangegangenen Jahren in London von den jungen südamerikanischen Republiken aufgenommen worden waren, waren allesamt ausgegeben, was zu einer plötzlichen Schrumpfung des Marktes führte. Die Krise betraf vor allem die Baumwollindustrie und führte zu dem Verlust ihres Monopols und zu Aufständen der Baumwollarbeiter. Die Krise wurde  durch die Ausdehnung der Absatzgebiete überwunden, die im Wesentlichen auf England begrenzt gewesen waren: Erstens fand das Kapital in England selbst noch weite Regionen auf dem Land vor, wo es sich realisieren und kapitalisieren konnte, und zweitens eröffneten die Anfänge des Exports nach Indien einen Markt für die Baumwollindustrie. Die Errichtung des Eisenbahnnetzes und die Entwicklung einer Werkzeugbauindustrie öffneten der Maschinenbauindustrie einen Markt und sorgten dafür, dass Letztere in den Himmel schoss. 1836 brach die Baumwollindustrie nach einer langen Depression, die einer Periode der Prosperität gefolgt war, zusammen; dies führte zu einer Generalisierung der Krise, und die verhungernden Weber wurden einmal mehr als Sühneopfer dargeboten. Die Krise wurde 1839 mit der Ausdehnung des Eisenbahnnetzes überwunden, aber inzwischen  war die Chartistenbewegung geboren worden, Ausdruck der ersten politischen Bestrebungen des englischen Proletariats. 1840 führte eine erneute Depression in der englischen Textilindustrie zu Arbeiterrevolten; die Krise selbst hielt bis 1843 an. 1840 setzte eine erneute Expansion ein, die 1845 zu einer Periode großer Prosperität führte. 1847 brach eine allgemeine Krise aus, die sich auf den Kontinent ausdehnte. Auf sie folgte der Pariser Aufstand von 1848 sowie die deutsche Revolution, die bis 1849 andauerte, als sich die amerikanischen und australischen Märkte den Europäern und vor allem der britischen Industrie öffneten. Gleichzeitig erlebte der Eisenbahnbau in Kontinentaleuropa einen enormen Aufschwung.

Bereits zu dieser Zeit hatte Marx im Kommunistischen Manifest die allgemeinen Merkmale der Krisen festgehalten und die Antagonismen zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und ihrer bürgerlichen Aneignung betont. Mit brillantem Scharfsinn hatte er die Perspektiven der kapitalistischen Produktionsweise skizziert. ”Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; andererseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.”

Mit dem Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts errang der Industriekapitalismus die Vorherrschaft auf dem Kontinent. 1860 begann der industrielle Aufschwung in Deutschland und Österreich. Als Folge breiten sich auch die Krisen immer mehr aus. Die Krise von 1857 ist dank der Ausdehnung des Kapitals vor allem nach Zentraleuropa nur von kurzer Dauer. Die britische Baumwollindustrie erreicht 1860, mit der Sättigung der Märkte in Indien und Australien, ihren Gipfel. Der Sezessionskrieg in den Vereinigten Staaten unterbricht die Zufuhr von Baumwolle, was in ihren totalen Zusammenbruch mündet und eine allgemeine Krise nach sich zieht. Doch das englische und das französische Kapital verloren keine Zeit und sicherten sich zwischen 1860 und 1870 starke Positionen in Ägypten und in China.

Der Zeitraum von 1850 bis 1873 verlief für die Entwicklung des Kapitals äußerst günstig. Er war gekennzeichnet durch lange Prosperitätsphasen (ca. sechs Jahre) und kurze Depressionen von ungefähr zwei Jahren.  Während der folgenden Periode, von der Krise 1873 bis 1896, wurde der Prozess in sein Gegenteil verkehrt: chronische Depressionen, unterbrochen von kurzen Aufschwungphasen. Deutschland (nach dem Frieden von Frankfurt 1871) und die Vereinigten Staaten entpuppten sich als gefährliche Konkurrenten für England und Frankreich. Die erstaunliche Entwicklung der kapitalistischen Produktion übertraf den Rhythmus der Marktdurchdringung: Es folgten die Krisen von 1882 und 1890. Die großen Kolonialkriege um die Aufteilung der Welt waren bereits im Gange, und unter dem Druck einer gewaltigen Mehrwertakkumulation katapultierte sich der Kapitalismus selbst in die Phase des Imperialismus, der in die allgemeine Krise und den Bankrott führen sollte. Unterdessen gab es die Krisen von 1900 (der Burenkrieg und der Boxeraufstand) und 1907. Die Krise von 1913/14 sollte schließlich im Ersten Weltkrieg explodieren.

Ehe wir uns der Analyse der allgemeinen Krise des dekadenten Imperialismus zuwenden, die Inhalt des zweiten Teils unserer Studie ist, müssen wir die Kurven aller Krisen des aufstrebenden Kapitalismus untersuchen.

Es gibt zwei Extreme  im Wirtschaftszyklus:

a) die letzte Phase der Prosperität, die zum Scheitelpunkt der Akkumulation führt, ausgedrückt in der höchsten organischen Zusammensetzung des Kapitals; die Macht der Produktivkräfte erreicht einen Punkt, an dem sie die Marktkapazitäten sprengt; wie wir bereits betonten, bedeutet dies auch, dass die niedrige Profitrate, die der hohen organischen Zusammensetzung entspricht, mit den Erfordernissen der Kapitalverwertung zusammenprallt;

b) den Tiefpunkt der Krise, der einer vollständigen Lähmung der Kapitalakkumulation gleichkommt und der Depression vorangeht.

Zwischen diesen beiden Polen verläuft einerseits die Krise selbst, d.h. eine Periode der Umwälzungen und der Zerstörung von Tauschwerten, und andererseits die Depression, auf die der Wiederaufschwung und die Prosperität folgen, in der neue Werte geschaffen werden.

Das instabile Produktionsgleichgewicht wird, unterminiert durch die fortschreitende Vertiefung der Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise,  beim Ausbruch der Krise abrupt umgestoßen und kann sich nur stabilisieren, wenn sich die Kapitalwerte wieder gesund geschrumpft haben. Dieser Reinigungsprozess wird durch die Preissenkungen bei den Endprodukten eingeleitet, während die Rohstoffpreise noch einige Zeit ansteigen. Die Reduzierung der Warenpreise bewirkt natürlich eine Entwertung des Kapitals, das in diesen Waren materialisiert ist, und ihr Fall endet erst mit der Zerstörung eines kleineren oder größeren Teils des Kapitals, je nach Schwere und Intensität der Krise. Es gibt zwei Aspekte im Zerstörungsprozess: auf der einen Seite einen Verlust an Gebrauchswerten in Folge eines völligen oder teilweise Stopps des Produktionsapparates, was zur Entwertung ungenutzter Maschinerien und Rohstoffe führt, und auf der anderen Seite einen Verlust an Tauschwerten, was bedeutsamer ist, da es den Prozess der Produktionserneuerung angreift, indem es ihn aufhält und desorganisiert. Der erste Schock trifft das konstante Kapital. Die Verminderung des variablen Kapitals erfolgt nicht gleichzeitig, denn die Senkung der Löhne hinkt im Allgemeinen dem Preisverfall hinterher. Das Schrumpfen der Werte verhindert ihre Reproduktion im alten Ausmaß. Mehr noch, die Lähmung der Produktivkräfte hindert das Kapital, das sie darstellen, daran, als solches zu existieren: Als Kapital ist es tot und nicht vorhanden, auch wenn es in seiner materiellen Form weiter existiert. Der Prozess der Kapitalakkumulation ist ebenfalls unterbrochen, denn der akkumulierbare Mehrwert hat sich mit dem Preisverfall verflüchtigt, obwohl die Akkumulation von Gebrauchswerten dank bereits geplanter Produktionsausweitungen sehr wohl fortdauern kann.

Die schrumpfenden Werte ziehen schrumpfende Unternehmen nach sich: Die Schwächsten gehen unter oder werden von den Stärksten, die weniger von der Preissenkung betroffen sind, geschluckt. Dieser Konzentrationsprozess findet nicht ohne Auseinandersetzungen statt: Solange die Prosperität anhält, es also eine Beute zu teilen gibt, wird diese zwischen den verschiedenen Fraktionen der kapitalistischen Klasse gemäß dem investierten Kapital aufgeteilt. Doch sobald die Krise ausbricht und der Verlust für die Klasse in ihrer Gesamtheit unvermeidlich wird, versucht jeder Einzelkapitalist oder jede Kapitalistengruppe alles Erdenkliche, um den Verlust zu begrenzen oder gar auf den Nächsten abzuwälzen. Das Klasseninteresse löst sich unter dem Druck der Partikularinteressen auf, während es in normalen Zeiten durchaus respektiert wird. Wir werden umgekehrt aber sehen, dass in der allgemeinen Krise das Klasseninteresse vorherrscht.

Doch der Preisverfall, der es ermöglicht hatte, alte Warenlager zu liquidieren, kommt zu einem Ende. Das Gleichgewicht stellt sich langsam wieder ein. Die Kapitalwerte kehren auf einem niedrigeren Niveau zurück, die organische Zusammensetzung des Kapitals fällt ebenfalls. Gleichzeitig sinken Kostpreise, was hauptsächlich durch einen massiven Lohndruck bedingt ist. Der Mehrwert -  der Sauerstoff des Kapitals - erscheint wieder und belebt langsam wieder den ganzen kapitalistischen Körper. Die liberalen Ökonomen feiern die Verdienste ihrer Gegengifte und die ”spontanen Reaktionen” des Systems. Die Profitrate steigt wieder an und wird ”interessant”. Kurz: Die Rentabilität der Unternehmen ist wieder hergestellt. Die Akkumulation kommt wieder in Gang. Sie schürt den Appetit der Kapitalisten und bereitet den Ausbruch einer neuen Überproduktion vor. Die Masse des akkumulierten Mehrwerts nimmt zu und verlangt nach neuen Absatzgebieten, bis jener Moment erreicht ist, in dem der Markt einmal mehr als eine Bremse der Produktionsentwicklung fungiert. Die Krise ist reif. Der Zyklus beginnt von neuem.

”Die Krisen erscheinen als ein Mittel, um das Feuer der kapitalistischen Entwicklung ständig von neuem zu entfachen und zu entfesseln.” (R. Luxemburg)

(Fortsetzung folgt)

Mitchell



[1] [1] Mitchell war Mitglied der Minderheit der Ligue des communistes internationalistes in Belgien und nahm mit der Konstituierung der Belgischen Fraktion 1937 an der Gründung der Kommunistischen Linken um die Zeitschrift Bilan teil.

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Kommunistische Linke [2]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Italienische Linke [3]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [4]

Deutsche Revolution, Teil XI

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Die Linkskommunisten und der Konflikt zwischen russischem Staat und Weltrevolution

In unserem Artikel “Der Rückfluss der revolutionären Welle und die Entartung der Kommunistischen Internationale” haben wir gezeigt, wie die Verhinderung der internationalen Ausweitung der Revolution durch die Bourgeoisie und der Rückfluss des Klassenkampfes eine opportunistische Reaktion der Komintern hervorgerufen haben. Diese opportunistische Tendenz innerhalb der Komintern stieß auf den Widerstand jener Kräfte, die sich später Linkskommunisten nannten. Nachdem auf dem II. Kongress der Komintern 1920 die Parole “Zu den Massen!” gegen den Widerstand der Gruppen des späteren Linkskommunismus in den Vordergrund gerückt worden war, sollte der III. Kongress, der im Sommer 1921 veranstaltet wurde, zum entscheidenden Moment im Kampf eben jener Linkskommunisten gegen den Beginn der Unterordnung der Weltrevolution unter die Interessen des russischen Staates werden.

Der Beitrag der KAPD

Auf dem III. Weltkongress griff die KAPD zum ersten Mal direkt in die Debatten ein und entwickelte erste Ansätze einer umfassenden Kritik an dem Vorgehen der Komintern. In ihren Beiträgen ‚Zur wirtschaftlichen Krise und  die neuen Aufgaben der Komintern‘, über Fragen der Taktik, über die Rolle der Gewerkschaften und insbesondere über die Entwicklung in Russland betonte die KAPD gegen die Mehrheitsposition innerhalb der Komintern unaufhörlich die führende Rolle der Revolutionäre und die Unmöglichkeit der Bildung einer kommunistischen Massenpartei. Während die italienischen Delegierten, die noch 1920 so tapfer ihre abweichende Auffassung in der Parlamentarismusfrage gegenüber der Mehrheit in der Komintern vertreten hatten, sich kaum zur Entwicklung in Russland und zum Verhältnis zwischen der Sowjetregierung und der Komintern äußerten, war es vor allem das Verdienst der KAPD, diese Fragen auf dem Kongress aufgeworfen zu haben.

Bevor wir uns näher mit den Auffassungen und der Haltung der KAPD befassen, möchten wir noch einschränkend bemerken, dass die KAPD weit davon entfernt war, eine homogene und geschlossene Haltung gegenüber der neuen Periode und den sich überstürzenden Ereignissen einzunehmen. Zwar besaß sie den Mut, einen Anfang zu machen bei der Aufarbeitung der Lehren aus der neuen Periode (Parlamentarismus- und Gewerkschaftsfrage); zwar verstand sie die Unmöglichkeit der Aufrechterhaltung einer Massenpartei, doch offenbarte die KAPD trotz ihrer programmatischen Kühnheit einen Mangel an Vorsicht, Sorgfalt und politischer Stringenz bei der Einschätzung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und in der Frage der politischen Organisation. Ohne alle Mittel bei der Verteidigung der bestehenden Organisation ausgeschöpft zu haben, neigte sie dazu, voreilige Schlüsse zu ziehen.

Es war nicht überraschend, dass die KAPD eine Reihe von Verirrungen mit dem Rest der revolutionären Bewegung damals teilte. Ähnlich wie die Bolschewiki meinte auch sie, dass die Partei die Macht ergreifen müsse und dass der nach der Machtergreifung installierte Staat ein “Arbeiterstaat” sein müsse.

Auf dem III.Kongress thematisierte die KAPD-Delegation das Verhältnis zwischen Staat und Partei folgendermaßen: “Wir verkennen keinen Augenblick, in welche Schwierigkeiten die russische Sowjetmacht durch die Verzögerung der Weltrevolution geraten ist. Aber wir sehen zugleich die Gefahr, dass aus diesen Schwierigkeiten ein Widerspruch zwischen den Interessen des revolutionären Weltproletariats und den Augenblicksinteressen  Sowjetrusslands – scheinbar oder tatsächlich – sich ergibt (...) Aber die politische und organisatorische Loslösung der III. Internationalen aus dem System der russischen Staatspolitik ist das Ziel, auf das hingearbeitet werden muss, wenn wir den Bedingungen der westeuropäischen Revolution gerecht werden wollen.” (Hempel/J.Appel, “Protokolle des III. Weltkongresses der Komintern”, S.224)

Während des III. Kongresses neigte die KAPD dazu, die Folgen der von der Bourgeoisie vereitelten Ausdehnung der Revolution zu unterschätzen. Statt alle Lehren aus dieser verhinderten Ausweitung zu ziehen, statt sich der Argumentation Rosa Luxemburgs anzuschließen, die schon 1917 begriffen hatte, dass “in Russland (...) das Problem nur gestellt werden (konnte). Es konnte nicht in Russland gelöst werden, es kann nur international gelöst werden”, statt dem Aufruf des Spartakusbundes vom November 1918 zu folgen, in dem letzterer warnte: “Gelingt es Euren herrschenden Klassen, die proletarische Revolution in Deutschland wie in Russland abzuwürgen, dann werden sie sich mit doppelter Wucht gegen Euch wenden (...) Deutschland ist schwanger mit der sozialen Revolution, aber den Sozialismus kann nur das Weltproletariat verwirklichen”, neigte die KAPD dazu, die Ursache der allgemeinen Schwierigkeiten in Russland selbst zu suchen.

“Die in ihrem Glanz entstandene Idee einer kommunistischen Internationale ist und bleibt lebendig, aber sie ist nicht mehr verknüpft mit der Existenz Sowjetrusslands. Der Stern Sowjetrusslands ist heute für die Augen der revolutionären Arbeiter blasser geworden, in dem Maße, in dem sich Sowjetrussland immer deutlicher zu einem antiproletarischen, kleinkapitalistischen Bauernstaat entwickelt. Es macht wenig Freude, etwas derartiges auszusprechen, aber wir wissen, dass die klare Erkenntnis auch der härtesten Tatsache, dass das rücksichtslose Aussprechen solcher Erkenntnisse allein die Atmosphäre geben kann, die die Revolution zu ihrem Leben braucht. (...) Man muss verstehen, dass die russischen Kommunisten auch den ganzen Umständen ihres Landes entsprechend [5] , nach der Zusammensetzung der Bevölkerung und der außenpolitischen Lage, nichts anderes tun konnten, als eine Diktatur der Partei aufzurichten, die der einzige festgefügte, disziplinierte, funktionsfähige Organismus im ganzen Lande war, man muss verstehen, dass die Ergreifung der Macht durch die Bolschewiki trotz aller Schwierigkeiten unbedingt richtig war, und dass die Arbeiter von Mittel- und Westeuropa die weitaus meiste Schuld daran tragen, wenn Sowjetrussland heute, da es sich nicht auf die revolutionären Kräfte anderer Länder stützen kann, gezwungen ist, sich auf kapitalistische Mächte zu stützen.

Es ist eine Tatsache, dass Sowjetrussland sich heute auf die kapitalistischen Kräfte Europas und Amerikas stützen muss (...) Da Sowjetrussland heute gezwungen ist, sich in seiner inneren und äußeren Wirtschaftspolitik auf kapitalistische Kräfte zu stützen – wie lange wird angesichts dieser Tatsache Sowjetrussland bleiben? Wie lange und mit welchen Mitteln wird die RKP es noch durchsetzen können, dieselbe RKP zu bleiben, die sie war? Wird sie das durchsetzen können, indem sie Regierungspartei bleibt? Und wenn sie, um eine kommunistische Partei bleiben zu können, nicht mehr Regierungspartei bleiben könnte, wie soll man sich dann die weitere Entwicklung vorstellen?” (“Die Sowjetregierung und die III. Internationale”, in der Kommunistischen Arbeiterzeitung, Herbst 1921)

Die KAPD hat zwar die Gefahren erahnt, vor denen die Arbeiterklasse stand, aber eine falsche Erklärung geliefert. Statt zu betonen, dass der Lebensnerv der Revolution – die Macht und Initiative der Sowjets – in Russland abgetötet wurde, weil die Revolution weltweit scheiterte, statt zu zeigen, dass der Staat sich auf Kosten der Arbeiterklasse verstärkte, die Arbeiterräte entwaffnete und ihre Initiative erstickte, wählte die KAPD eine deterministische und – in der Praxis – fatalistische Argumentationsweise. Der Hinweis, dass “dass die russischen Kommunisten auch den ganzen Umständen ihres Landes entsprechend, nach der Zusammensetzung der Bevölkerung und der außenpolitischen Lage, nichts anderes tun konnten, als eine Diktatur der Partei aufzurichten”, zeigt, dass sie im Grunde nicht begriffen hatte, wie im Oktober 1917 die russische Arbeiterklasse und ihre Sowjets die Macht überhaupt ergreifen konnten. Die Idee von der Entstehung eines “kleinkapitalistischen Bauernstaates” stellt ebenfalls die Wirklichkeit auf den Kopf. Diese im zitierten Text erst im Keim vorhandenen Ideen sollten später von den Rätekommunisten zu einer ganzen Theorie ausformuliert werden.

Die IKS hat ausführlich die falschen und unmarxistischen Auffassungen der Rätekommunisten über die Entwicklung in Russland bloßgelegt (s. unsere Artikel in der Internationalen Revue Nr. 12 und 13 sowie unser auf Englisch erschienenes Buch The Dutch Left).

Insbesondere haben wir angegriffen:

die Theorie der doppelten Revolution, derzufolge es in den Industrieregionen Russlands eine proletarische, auf dem Lande aber eine bäuerlich-demokratische Revolution gegeben habe; eine Theorie, die in Teilen  der KAPD mit dem Beginn des Rückflusses der revolutionären Welle und dem erstarkenden Staatskapitalismus 1921 aufkam;

den Fatalismus, der sich hinter der Auffassung verbarg, dass die russische Revolution notwendigerweise dem Übergewicht des Bauerntums erliegen musste und die Bolschewiki von vornherein zu ihrer Entartung verdammt gewesen seien;

die Trennung in unterschiedliche Teile der Welt (Meridian-Theorie), wonach es in Russland andere Mittel und Wege der Revolution gebe als in Westeuropa;

die falsche Kritik an den Handelsbeziehungen Russlands zum kapitalistischen Westen, weil sie den falschen Eindruck erweckt, dass man in Russland tatsächlich das Geld hätte abschaffen können und der “Aufbau des Sozialismus in einem Land” doch möglich sei.

Doch je länger man sich mit den Positionen der KAPD befasst, um so deutlicher wird die Konsequenz, mit der diese Organisation (wie auch die anderen linkskommunistischen Gruppen) ihr Hauptziel, die Klärung der politischen Fragen voranzutreiben, verfolgte.

Der wachsende Konflikt zwischen dem russischen Staat und den Interessen der Weltrevolution

Während die Komintern sich vorbehaltlos hinter die “Außenpolitik” des russischen Staates stellte, übte die KAPD-Delegation auf dem III. Weltkongress schonungslose Kritik und legte den Finger in die Wunde.

“Wir alle erinnern uns an die ungeheure propagandistische Wirkung der diplomatischen Noten Sowjetrusslands aus jener Zeit, wo die Arbeiter- und Bauernregierung in ihren Drohungen noch keine Rücksicht zu nehmen brauchte auf das Bedürfnis, Handelsverträge abzuschließen oder gar auf die Klauseln schon abgeschlossener Verträge. Die revolutionäre Bewegung Asiens, die für uns alle eine große Hoffnung und für die Weltrevolution eine objektive Notwendigkeit ist, kann von Sowjetrussland weder offiziell noch inoffiziell unterstützt werden. Die englischen Agenten in Afghanistan, Persien und der Türkei arbeiten gut, und jeder revolutionäre Schritt Russlands stellt die Ausführung der Handelsverträge in Frage. Wer muss bei dieser Sachlage die auswärtige Politik Sowjetrusslands entscheidend dirigieren? Die russischen Handelsvertreter in England, Deutschland, Amerika, Schweden usw.? Ob sie Kommunisten sind oder nicht, sie müssen in jedem Fall eine Verständigungspolitik treiben.

Innenpolitisch zeigen sich ähnliche, vielleicht noch gefährlichere Rückwirkungen. Die politische Macht liegt heute faktisch in den Händen der Kommunistischen Partei (nicht etwa der Sowjets). (...) während die spärlichen revolutionären Massen in der Partei sich in ihrer Initiative gehemmt fühlen und die manövrierende Taktik mit wachsendem Misstrauen beobachten, gewinnen mehr und mehr, insbesondere im großen Funktionärsapparat, diejenigen an Einfluss, die zur Kommunistischen Partei gehören, nicht, weil sie eine kommunistische ist, sondern weil sie eine Regierungspartei ist (...) Es liegt auf der Hand, dass die legalisierten Möglichkeiten des Freihandels und der kapitalistischen Wirtschaft überhaupt unter Staatsaufsicht, d.h. unter Aufsicht einer solchen, in die Defensive gedrängten und innerlich sich zersetzenden Partei in wachsendem Maße der durchaus noch nicht abgestorbenen Korruption neue Lebenskraft geben müssen (...)”

Während die meisten Delegierten des Kongresses immer bedingungsloser die bolschewistische Partei unterstützten, die im Begriff war, in den Staatsapparat integriert zu werden, besaß die KAPD-Delegation den Mut, auf den wachsenden Widerspruch zwischen den Interessen der Arbeiterklasse einerseits und den Partei- und Staatsinteressen andererseits hinzuweisen.

“Da (die RKP) die Initiative der revolutionären Arbeiter ausgeschaltet hat und immer weiter ausschaltet, da sie dem Kapital weiteren Spielraum als bisher geben muss, verwandelt sie trotz aller Vorsichtsmaßnahmen ihren eigenen Charakter, solange sie Regierungspartei bleibt, und kann dabei doch nicht verhindern, dass die ökonomische Basis, auf der sie – als Regierungspartei! – steht, erschüttert und damit die Grundlage ihrer politischen Macht geschmälert wird.

Was nun aus Russland und was aus der revolutionären Entwicklung in der ganzen Welt werden müsste, wenn die russische Partei eines Tages nicht mehr Regierungspartei wäre, lässt sich kaum übersehen. Und dennoch treiben die Dinge einem Zustande zu, in dem eines Tages – wenn nicht revolutionäre Erhebungen in Europa ein Gegengewicht schaffen – notwendig werden wird, diese Frage im Ernst zu stellen, wo also im Ernst nachgeprüft werden muss, ob im Interesse der proletarischen Revolution das Aufgeben der russischen Staatsgewalt nicht vielleicht richtiger erscheint, als das Festhalten an ihr (...)

Dieselbe Russische Kommunistische Partei, die in ihrem Innern und in ihrer Rolle als Regierungspartei jetzt in einer solchen kritischen Situation steht, ist auch die absolut führende Partei der III. Internationale (...) An diesem Punkte ergibt sich nun der tragische Knoten, in dessen Verschlingung die III. Internationale sich gefangen hat, und zwar so, dass ihr die revolutionäre Lebensluft abgeschnitten ist. Die russischen Genossen, unter bestimmender Führung von Lenin, unterlassen es nicht nur, in der Politik der III. Internationale ein Gegengewicht gegen die rückläufige Kurve ihrer Staatspolitik zu schaffen, sondern sie tun alles, um die Politik dieser Internationale mit dieser rückläufigen Kurve in Einklang zu bringen. (...) Die III. Internationale ist heute ein Werkzeug der reformistischen Verständigungspolitik  der Sowjetregierung.

Gewiss sind Lenin, Bucharin usw. in ihrem innersten Wesenskern echte Revolutionäre, aber sie sind eben jetzt wie das ganze Zentralkomitee der Partei Träger der Staatsgewalt, und damit unvermeidlich dem Gesetz einer notwendig zum Konservativen hingleitenden Entwicklung unterworfen.” (KAZ, “Moskauer Politik”, Herbst 1921)

Auf dem anschließenden Außerordentlichen Kongress der KAPD im September 1921 äußerte sich Goldstein folgendermaßen dazu: “Wird es in der KP in Russland möglich sein, auf die Dauer diese beiden Gegensätze in irgendeiner Form auszugleichen? Die KPR zeigt auch heute schon einen Doppelcharakter, Sie zeigt ihn einmal dadurch, dass sie, weil sie noch die Regierungspartei in Russland ist, die die Interessen Russlands als Staat verkörpern muss, dass sie  aber gleichzeitig auch die Interessen des internationalen Klassenkampfes vertreten soll und will.” (September-Kongress, 1921, Protokoll, S. 59)

Die deutschen Linkskommunisten wiesen zu Recht auf die Rolle des russischen Staates bei der opportunistischen Entartung der Kommunistischen Internationale hin, und sie hoben richtigerweise auch hervor, dass man die Interessen der Weltrevolution gegen die Interessen des russischen Staates verteidigen muss.

Dennoch lag, wie wir bereits gesagt hatten, der Hauptgrund der opportunistischen Wendung der Komintern tatsächlich nicht in der Rolle des russischen Staates, sondern in dem Scheitern der revolutionären Ausdehnung auf Westeuropa und dem darauffolgenden Rückzug des internationalen Klassenkampfes. Obgleich die KAPD hauptsächlich die russische KP für diesen Opportunismus verantwortlich machte, war die Politik der prinzipienlosen “Bündnisse”, die von den sozialdemokratischen Illusionen ausging, damals in sämtlichen Arbeiterparteien verbreitet. Lange vor den russischen Kommunisten hatte die Führung der KPD bereits diese opportunistische Wende vollzogen, als sie nach der Niederlage des Berliner Januaraufstandes 1919 den linken Flügel, die künftige KAPD, aus der Partei ausgeschlossen hatte.

Tatsächlich waren die KAPD-eigenen Schwächen zunächst und vor allem das Ergebnis der Desorientierung, die aus der Niederlage und dem Rückfluss der revolutionären Welle besonders in Deutschland entstanden war. Der Autorität ihrer revolutionären Führer beraubt, die 1919 im Auftrag der Sozialdemokratie ermordet worden waren, waren die deutschen Linkskommunisten, die sich noch entschlossen an die Spitze der anschwellenden revolutionären Welle gestellt hatten, im Gegensatz zur italienischen Linken unfähig, mit der Niederlage der Revolution fertigzuwerden. Es kamen noch weitere Faktoren hinzu, die diese Schwächen der KAPD noch vertieften.

Die Schwächen der KAPD in der Organisationsfrage

Die Gründe für die Schwächen der KAPD im Verständnis der Organisationsfrage liegen tiefer.

Erinnern wir uns: Aufgrund eines falschen Organisationsverständnisses innerhalb der KPD gelang es der von Levi angeführten Zentrale, die Mehrheit wegen ihrer Auffassungen über den Parlamentarismus und die Gewerkschaften aus der Partei auszuschließen[B3] [5] . Letztere gründete im Anschluss an die gewaltigen Kämpfe nach dem Kapp-Putsch im April 1920 die KAPD. Diese frühe Spaltung der Kommunisten in Deutschland bewirkte eine fatale Schwächung der Arbeiterklasse. Das Drama bestand darin, dass diese linkskommunistische Strömung, nachdem sie selbst aus der KPD ausgeschlossen wurde, ebenfalls diese fehlerhafte Auffassung vertrat.

Diese Schwäche wurde wenige Monate später erneut deutlich, als sich die KAPD-Delegation (mit O. Rühle und P. Merges) kampflos aus dem II. Weltkongress zurückzog. Ein Jahr später, 1921, lehnte die KAPD das Ultimatum des III. Weltkongresses, entweder dem Zusammenschluss zur VKPD zuzustimmen oder aus der Komintern ausgeschlossen zu werden, ab. Ihr daraus resultierender Ausschluss aus der Komintern rief eine gewisse Feindseligkeit in den Reihen der KAPD gegenüber der Komintern hervor.

Dadurch wurde eine durchaus mögliche Zusammenarbeit zwischen den in der Komintern jüngst entstandenen linkskommunistischen Strömungen unmöglich gemacht. Die deutsche und holländische Linke unternahm nichts, um dem enormen Druck der KPR entgegenzutreten und gemeinsam mit der italienischen Linken um Bordiga einen gemeinsame Front gegen die opportunistische Politik der Komintern zu bilden. Ferner neigte die KAPD zu vorschnellen und überstürzten Urteilen über die Komintern, wie die folgenden Stellungnahmen der KAPD zum III. Kongress belegen.

Flucht oder Kampf: die Reaktion gegenüber der Entartung der Komintern

“Sowjetrussland als Staat scheidet in Zukunft als Faktor der Weltrevolution aus; es wird zu einem Stützpunkt der internationalen Konterrevolution (...) Das russische Proletariat hat damit bereits seinen Staat aus den Händen verloren.

Das bedeutet nichts Anderes, als dass die Sowjetregierung nunmehr zum Sachwalter der Interessen der internationalen Bourgeoisie werden muss (...)

Die Sowjetregierung muss zu einer Regierung über und gegen die Arbeiterklasse werden, nachdem sie offen auf die Seite des Bürgertums getreten ist. Die Sowjetregierung ist die Kommunistische Partei Russlands. Also ist die Kommunistische Partei Russlands ein Gegner der Arbeiterklasse geworden, weil sie als Sowjetregierung die Interessen des Bürgertums auf Kosten des Proletariats vertritt. Dieser Zustand wird nicht lange dauern, die Kommunistische Partei Russlands wird sich spalten müssen (...)

Die Sowjetregierung wird binnen ganz kurzer Zeit ihr wahres Gesicht eines national-bürgerlichen Staates nicht mehr verbergen können. Sowjetrussland ist kein proletarisch-revolutionärer Staat mehr, oder richtiger gesagt, Sowjetrussland kann noch nicht ein proletarisch-revolutionärer Staat sein.

Denn allein ein Sieg des deutschen Proletariats in Gestalt der Eroberung der politischen Macht hätte Sowjetrussland vor seinem jetzigen Schicksal behüten, hätte das russische Proletariat vor dem Elend und der Unterdrückung durch ihre eigene Sowjetregierung retten können. Nur die deutsche bzw. westeuropäische Revolution hätte den Klassenkampf zwischen den russischen Arbeitern und den russischen Bauern zugunsten der russischen Arbeiter entscheiden können (...)

Der III. Weltkongress hat die Interessen der proletarischen Weltrevolution untergeordnet den Interessen der bürgerlichen Revolution eines einzigen Landes. Er, das oberste Organ der proletarischen Internationale, hat diese proletarische Internationale in den Dienst eines bürgerlichen Staates gestellt. Er hat damit der 3. Internationale jede Selbständigkeit genommen und sie in die direkte Abhängigkeit des Bürgertums gebracht.

Die 3. Internationale ist für die proletarische Weltrevolution verloren. Sie befindet sich ebenso wie die 2. Internationale in den Händen des Bürgertums.

Daher wird die 3. Internationale in Zukunft sich im Rahmen ihrer Stärke und Kraft immer dort bewähren, wo es sich um den Schutz des bürgerlichen Staates Russland handelt; sie wird aber immer und überall dort versagen, wo es sich um die Förderung der proletarischen Weltrevolution handelt. Ihre Handlungen werden eine lange Reihe fortgesetzten Verrates der proletarischen Weltrevolution sein (...)

Die 3. Internationale ist für die proletarische Weltrevolution verloren.

Die 3. Internationale hat sich aus dem Vorkämpfer der proletarischen Weltrevolution zu ihrem bitterste[B4] [5] n Feind verwandelt.

(...) An der unheilvollen Verknüpfung der Leitung eines Staates, dessen anfangs proletarischer Charakter sich im Laufe der letzten Jahre einen ausgesprochen bürgerlichen Charakter hat verwandeln müssen, und der Führung der proletarischen Internationale in ein- und derselben Hand ist die Lösung der ursprünglichen Aufgabe der 3. Internationale gescheitert. Vor die Alternative zwischen bürgerlicher Staatspolitik und proletarischer Weltrevolution gestellt, haben sich die russischen Kommunisten für die Interessen der ersteren entschieden und die ganze 3. Internationale in deren Dienst gestellt.” (Die Sowjetregierung und die 3. Internationale im Schlepptau der internationalen Bourgeoisie, August 1921)

Während die KAPD zu Recht den wachsenden Opportunismus innerhalb der Komintern anprangerte, während sie völlig zutreffend die wachsende Gefahr erkannte, dass die Komintern von den Interessen des russischen Staates stranguliert und zu dessen Instrument wurde, beging sie andererseits jedoch den schwerwiegenden Fehler, die tatsächlich existierenden Gefahren als einen bereits abgeschlossenen Prozess zu betrachten.

Auch wenn 1921 das Kräfteverhältnis schon bedrohlich gekippt und die internationale Welle von Kämpfen rückläufig war, so legte die KAPD doch eine gefährliche Voreiligkeit an den Tag und unterschätzte die Notwendigkeit eines zähen, ausdauernden Kampfes um die Organisation. Daher war zum damaligen Zeitpunkt die Kernaussage der KAPD, dass die Komintern “heute ein Werkzeug der reformistischen Verständigungspolitik” sei, die “offen auf die Seite des Bürgertums getreten” und in die “Abhängigkeit des Bürgertums” geraten sei, eine falsche Einschätzung. So verbreitete sich innerhalb der KAPD das Gefühl, die Schlacht um die Komintern sei verloren. Man hatte zwar eine Ahnung von dem, was später tatsächlich eintreten sollte, aber die Fehleinschätzung der damaligen Gesamtlage führte dazu, den Kampf gegen den Opportunismus innerhalb der Komintern vorschnell aufzugeben.

Das Ultimatum des III. Weltkongresses mag die Wut und Empörung in der KAPD erklären, doch kann es nicht Tatsache rechtfertigen, dass sich die Genossen voreilig aus dem Ring zurückzogen und bei ihrer Aufgabe der Verteidigung der Internationale versagten.

Wieder einmal wurde auf tragische Weise deutlich, wie verheerend falsche und unzureichende Organisationsauffassungen wirken und welche Auswirkungen sie auf richtige politische Positionen haben können.

Diese große Schwäche der KAPD wird noch durch ein anderes Beispiel veranschaulicht, nämlich durch die Haltung der KAPD-Delegation auf dem III. Kongress der Komintern.

Während die KAPD-Delegation sich vom II. Kongress kampflos zurückzog, erhob die Delegation zum III. Kongress ihre Stimme als Minderheit und rief kurz danach zu einem außerordentlichen Kongress der Partei auf.

Diese Delegation warf dem III. Weltkongress vor, durch die verfälschende Wiedergabe ihrer Positionen und durch Redezeitbeschränkungen, durch Umstellungen der Tagesordnung, durch selektive Ausgrenzungen bei Diskussionen die Debatte zu beschränken. So behauptete die KAPD-Delegation, sie sei  von der Sitzung des während des Kongresses tagenden EKKIs ausgeschlossen worden, obwohl man über die Frage der KAPD debattierte (Kongressbericht S. 18). Doch  als die Diskussion  über den Status der KAPD geführt werden sollte, verzichtete die KAPD-Delegation darauf, das Wort zu ergreifen, weil man ‘nicht unfreiwillige Helfer einer Komödie werden wollte’. Unter Protest zog die Delegation aus dem Saal.

Statt es als ihre Aufgabe anzusehen, einen langen, zähen Kampf gegen die drohende Entartung dieser Organisation zu führen, zog die KAPD übereilte Schlussfolgerungen und verurteilte die Komintern in Bausch und Bogen. Sie erklärte die Komintern wie auch die KPR als “für die Arbeiterklasse verloren”.

Darüber hinaus wurde, obgleich es sporadische Kontakte gab, von den Delegierten der italienischen Linken und der KAPD keine gemeinsame Politik verfolgt, obwohl auch die Italienische Linke den Kampf gegen den zunehmenden Opportunismus, der in der Haltung der Komintern zur Parlamentarismusfrage deutlich wurde, aufgenommen hatte.

Der Ausschluss der KAPD aus der Komintern sollte letztendlich auch die Position der Italienischen Linken auf dem IV. Kongress schwächen, als die italienische KP unter Führung von Bordiga von der Komintern zum Zusammenschluss mit der PSI gezwungen werden sollte. So fanden sich sowohl die “deutsche” als auch die “italienische” Linke isoliert voneinander im Kampf gegen den Opportunismus wieder, unfähig, gemeinsam gegen diese Entartung zu kämpfen. Doch der Flügel um Bordiga hatte wenigstens seine Verantwortung für die langwierige, zähe Verteidigung und Wiederherrichtung der politischen Organisation erkannt. Kurz, bevor Bordiga 1923 ein Manifest des Bruchs mit der Komintern verfassen wollte, nahm er schließlich doch Abstand davon, weil er von der Notwendigkeit überzeugt war, seinen Kampf innerhalb der Komintern und innerhalb der italienischen Partei fortsetzen zu müssen.

Auf dem für September 1921 einberufenen Sonderkongress der KAPD wurde kaum auf die Entwicklung des weltweiten Kräfteverhältnisses eingegangen und somit versäumt, Schlussfolgerungen hinsichtlich der nächsten Aufgaben der Partei zu ziehen.

Für die große Mehrheit in der Partei stand die Revolution weiterhin unmittelbar auf der Tagesordnung. Der reine Wille schien wichtiger als die Analyse des Kräfteverhältnisses. Ferner stürzte sich ein Teil der Organisation im Frühjahr 1922 in das Abenteuer der Gründung der “Kommunistischen Arbeiterinternationale” (KAI).

Die Unfähigkeit, das Zurückweichen des Klassenkampfes zu erkennen, sollte sich schließlich negativ auf die Fähigkeit der KAPD auswirken, unter den Bedingungen des zurückgehenden Klassenkampfes und der anbrechenden Konterrevolution zu überleben.

Die falschen Antworten der russischen Kommunisten

Trotz all ihrer Fehler und Konfusionen ist es das Verdienst der KAPD, das wachsende Konfliktpotenzial zwischen dem russischen Staat und der Arbeiterklasse sowie zwischen dem russischen Staat und der Komintern zur Sprache gebracht zu haben, ohne jedoch gleichzeitig die richtigen Antworten darauf zu liefern. Was die russischen Kommunisten angeht, so hatten sie die größten Schwierigkeiten, überhaupt das Wesen dieses Konfliktes zu durchschauen.

Aufgrund der wachsenden Integration der Partei in den Staatsapparat konnte sie nur eine sehr eingeschränkte Sicht der Dinge entwickeln. Die Haltung Lenins, der 1917 die Lehren des Marxismus hinsichtlich Staat und Revolution in seiner bekannten Schrift am klarsten herausgearbeitet hat, aber gleichzeitig seit 1917 an der Spitze des Staatsapparates gestanden hatte, bringt die wachsenden Widersprüche und Schwierigkeiten in dieser Frage deutlich zum Ausdruck.

Heute unternimmt die bürgerliche Propaganda alles, um Lenin als Vater des totalitären russischen Staatskapitalismus darzustellen. Tatsächlich aber erkannte Lenin mit seiner brillanten revolutionären Intuition unter allen russischen Kommunisten seiner Zeit noch am klarsten, dass der Übergangsstaat, der nach der Oktoberrevolution entstanden war, nicht wirklich die Interessen und die Politik des Proletariats vertrat. Lenin zog im übrigen daraus den Schluss, dass die Arbeiterklasse darum kämpfen muss, dem Staat ihre Politik aufzuzwingen, und das Recht haben müsse, sich gegen ihn zu verteidigen.

Auf dem XI. Parteitag im März 1922 stellte er besorgt fest: “Wir haben nun ein Jahr hinter uns, der Staat ist in unseren Händen – aber hat er nach unserem Willen funktioniert? Nein (...) Das Steuer entgleitet den Händen: Scheint, als [B5] [5] sitzt ein Mensch da, der den Wagen lenkt, aber der Wagen fährt nicht dorthin, wohin er ihn lenkt, sondern dorthin, wohin ihn ein anderer lenkt.” (März/April 1922, XI. Parteitag, Ges. Werke, Bd. 33, S. 266)

Er äußerte diese Sorge besonders angesichts der Haltung Trotzkis in der Gewerkschaftsdebatte 1921. Während vordergründig die Rolle der Gewerkschaften in der Diktatur des Proletariats behandelt wurde, bestand der Kern der Frage darin, ob die Arbeiterklasse das Recht hat, ihre Interessen auch gegen den Übergangsstaat zu verteidigen. Trotzki zufolge, demzufolge der Übergangsstaat per Definition ein Arbeiterstaat ist, war die Auffassung, das Proletariat müsse sich gegen ihn verteidigen können, eine Absurdität. Trotzki gebührt zumindest das Verdienst, seine Logik bis zur letzten Konsequenz durchgeführt zu haben, als er offen die Militarisierung der Arbeit vertrat. Im Gegensatz zu ihm bestand Lenin, auch wenn er noch nicht in der Lage war zu erkennen, dass dieser Staat kein Arbeiterstaat war (diese Position wurde erst in den 30er Jahren von der Zeitschrift Bilan entwickelt und vertreten), auf der Notwendigkeit, dass die Arbeiter sich selbst gegen den Staat wehren können.

Diese völlig berechtigte Sorge Lenins ermöglichte es den russischen Kommunisten jedoch nicht, zu einer wirklichen Klärung dieser Frage zu gelangen. Lenin selber wie andere Kommunisten der damaligen Zeit meinten weiterhin, dass in Russland das ungeheure Gewicht des Kleinbürgertums die Haupttriebkraft der Konterrevolution sei und nicht der bürokratisierte Staat.

“Der Feind ist im gegebenen Augenblick und für den gegebenen Zeitabschnitt nicht derselbe, der er gestern war. Der Feind – das sind nicht die Heerhaufen der Weißgardisten (...) Der Feind, das ist der graue Alltag der Wirtschaft in einem kleinbäuerlichen Land mit zerstörter Großindustrie. Der Feind – das ist das kleinbürgerliche Element. (...) das Proletariat ist geschwächt, zersplittert, entkräftet. Die ‚Kräfte der Arbeiterklasse‘ sind nicht grenzenlos (...)Der Zustrom frischer Kräfte aus der Arbeiterklasse ist jetzt schwach, manchmal sehr schwach (...) (Wir müssen) mit der Unvermeidlichkeit eines verlangsamten Zuwachses neuer Kräfte der Arbeiterklasse rechnen.” (20.8.1921, Ges. Werke, Bd. 33, S. 3, 6)

Der Rückzug des Klassenkampfes und die Entfaltung des Staatskapitalismus

Nach den Niederlagen der internationalen Arbeiterklasse 1920 verschlechterten sich die Bedingungen für die russische Arbeiterklasse zusehends. Einer immer größeren Isolation ausgesetzt, stand sie nun auch einem Staat gegenüber, an dessen Spitze die bolschewistische Partei, wie Kronstadt zeigte, mit harter Hand gegen streikende Arbeiter vorging. Die Niederschlagung der Arbeiter in Kronstadt hatte vor allem jenen Kräften in der Partei Auftrieb gegeben, die an einer Stärkung des Staats - falls notwendig, auch auf Kosten der Arbeiterklasse – und an einer Bindung der Komintern an den russischen Staat interessiert waren.

Der russische “Übergangsstaat” war mehr und mehr zu einem ganz “normalen” Staat wie die anderen geworden.

Schon im Frühjahr 1921 hatte die deutsche Bourgeoisie ihre Fühler nach Moskau ausgestreckt, um in Geheimverhandlungen die Möglichkeit einer Zusammenarbeit beider Staaten bei der Wiederaufrüstung zu sondieren. Es war beispielsweise geplant, Flugzeuge für Russland von den Albatross-Werken, U-Boote von Blöhm & Voss und Gewehre sowie Munition von Krupp herstellen zu lassen. [B6] [5] 

Als Ende 1921 Russland das Projekt einer allgemeinen Konferenz zur Regelung der Beziehungen zwischen Russland und der kapitalistischen Welt vorschlug, waren bereits seit langem Geheimverhandlungen zwischen Deutschland und Russland im Gange. Auf der Konferenz von Genua pries Tschitscherin, der Leiter der russischen Delegation, die Möglichkeiten an, die das Potenzial der noch nicht ausgeschöpften Rohstoffquellen Russlands biete, wenn sie in Zusammenarbeit mit westlichen Kapitalisten realisiert würden. Als diese Konferenz abgebrochen wurde, hatten Deutschland und Russland im nahegelegenen Rapallo bereits ein Geheimabkommen abgeschlossen. Wie E.H. Carr schrieb: “Es war die erste große diplomatische Angelegenheit, wo Sowjetrussland und die Weimarer Republik auf gleichem Fuß stehend miteinander verhandelt hatten.” (Die bolschewistische Revolution, Band 3) Aber Rapallo war mehr als das.

Das im Winter 1917/18 unter dem Druck der deutschen Offensive zustande gekommene Abkommen von Brest-Litowsk wurde von russischer Seite nur aus dem Grunde unterschrieben, um die isolierte Bastion des russischen Proletariats durch einen Waffenstillstand vor dem deutschen Imperialismus zu schützen. Nicht nur, dass dieses Abkommen Russland also aufgezwungen worden war, es bedurfte auch einer heftigen und offenen Debatte in der bolschewistischen Partei, bevor es abgeschlossen wurde.

Das Geheimabkommen von Rapallo dagegen stellte dieses Prinzip auf den Kopf. Nicht genug damit, dass die russischen staatlichen Vertreter in diesem Abkommen geheimen Waffenlieferungen zustimmten – diese Tatsache wurde darüber hinaus auf dem IV. Weltkongress der Komintern mit keinem einzigen Wort erwähnt!

Die Aufforderung der Komintern an die KPs der Türkei und Persiens, “die Bewegung zugunsten der nationalen Freiheit in der Türkei (und Persien) zu unterstützen”, führte in Wirklichkeit nur dazu, dass die dortige Arbeiterklasse um so leichter von der türkischen bzw. persischen Bourgeoisie niedergeschlagen werden konnte. Das Interesse des russischen Staates an festen Beziehungen zu diesen Staaten hatte obsiegt.

Schritt für Schritt wurde die Komintern den Bedürfnissen der russischen Außenpolitik unterworfen. Während zum Zeitpunkt der Gründung der Komintern 1919 die Betonung noch auf der Zerstörung der kapitalistischen Staaten gelegen hatte, bestand ab 1921 das Bestreben des russischen Staates (und seiner Vertreter in der Komintern)  in einer Stabilisierung der zwischenstaatlichen Verhältnisse. Die ausbleibende Weltrevolution hatte dem russischen Staat genug Auftrieb verliehen, um für sich seinen Platz zu beanspruchen.

Auf der Anfang 1922 in Berlin tagenden gemeinsamen Konferenz der “Arbeiterparteien”, zu der die Komintern die Parteien der II. Internationale und der 2½. Internationale[i] [5] 1 [5][B7] [5] eingeladen hatte, bemühte sich die Komintern-Delegation vor allem um die diplomatische Anerkennung Sowjetrusslands, um den Aufbau von Handelsbeziehungen zum Westen und um Hilfe für den wirtschaftlichen Aufbau Sowjetrusslands. Hatte man 1919 noch die Henkersrolle der II. Internationale bloßgestellt, hatte der II. Weltkongress der Komintern noch 21 Bedingungen aufgestellt, die die Abgrenzung zur und die Bekämpfung der II. Internationale bezweckten, so saß nun, 1922, die Komintern im Namen des russischen Staates mit den Parteien eben jener II. Internationale an einem Tisch! Es war offensichtlich geworden, dass der russische Staat nicht an der Ausdehnung der Weltrevolution, sondern an seiner eigenen Stärkung interessiert war. Je stärker die Komintern in sein Schlepptau geriet, desto deutlicher wurde ihre Abkehr vom Internationalismus.

Das Auswuchern des russischen Staatsapparates

Die politische Orientierung des russischen Staates auf Anerkennung durch die anderen Staaten ging einher mit der Stärkung des russischen Staatsapparates im Innern.

Die immer stärkere Integration der Partei in den Staat, die wachsende Bündelung der Macht in den Händen eines immer kleineren und begrenzteren Kreises von “Regierenden” und die zunehmende Diktatur des Staates über die Arbeiterklasse waren das Resultat eines zielstrebigen Vorgehens jener Kräfte, die an der Verstärkung des Staatsapparates auf Kosten der Arbeiterklasse interessiert waren.

Auf dem XI. Parteitag im April 1922 wurde Stalin zum Generalsekretär der Partei ernannt. Damit bekleidete Stalin drei Ämter gleichzeitig: Er stand außerdem an der Spitze des Volkskommissariats der Arbeiter- und Bauerninspektion, und er war Mitglied des Politbüros. Mit seiner Ernennung zum Generalsekretär riss Stalin bald das Tagesgeschäft der Partei an sich und schaffte es, das Politbüro vom Generalsekretär abhängig zu machen.

Zuvor schon, auf dem X. Parteitag im März 1921, war Stalin zum Leiter der Säuberungsaktionen geworden[ii] [5]. Im März 1922 hatte sich eine Gruppe von Mitgliedern der Arbeiteropposition an das EKKI gewandt, um die “Unterdrückung der Selbständigkeit, der Arbeiterinitiative, den Kampf mit allen Mitteln gegen Andersdenkende zu verurteilen (...) Die vereinten Kräfte der Partei- und Gewerkschaftsbürokratie ignorieren unter Ausnützung ihrer Macht und Stellung (...) das Prinzip der Arbeiterdemokratie” (Rosmer, S. 110) Unter dem Druck der KPR-Führung lehnte das EKKI die Beschwerde der Gruppe Arbeiteropposition ab.

Anstatt den örtlichen Parteizellen die Initiative zur Ernennung von Delegierten zu überlassen, wurden mit zunehmender Integration der Partei in den Staat die Personalfragen in die Hände der Parteileitung und damit des Staates gelegt. Nicht mehr Wahlen und Abstimmungen auf lokaler Parteiebene gaben den Ausschlag, sondern die Ernennung durch den verstaatlichten Parteiapparat, an dessen Spitze der Generalsekretär und das von Stalin geleitete Organisationsbüro stand. Schon 1923 waren sämtliche Delegierte des XII. Parteitages von der Parteileitung berufen worden.

Wenn wir an dieser Stelle die Rolle der Partei und ihrer führenden Persönlichkeiten hervorheben, dann nicht, weil wir das Problem des Staates auf eine Person – Stalin –  fixieren wollten und es somit unterschätzen würden. Nein, es war dieser Staat, der, nachdem er im Oktober 1917 entstanden, die bolschewistische Partei in sich aufgesogen und seine Tentakeln nach der Komintern ausgestreckt hat, zum Zentrum der Konterrevolution geworden war. Die Konterrevolution war jedoch kein quasi passives, anonymes Treiben unbekannter, gesichtsloser oder unsichtbarer Kräfte, sondern nahm in Gestalt des Staats- und Parteiapparates ganz konkrete Formen  an. Stalin war einer der bedeutendsten Repräsentanten dieser Kräfte, die auf den diversen Parteiebenen die Drähte zogen und all das angriffen, was an revolutionärem Potenzial in der Partei noch übrig geblieben war.

Dieser Entartungsprozess verursachte in der bolschewistischen Partei selbst Widerstände und Erschütterungen, über die wir in der Internationalen Revue Nr. 12 und 13 ausführlicher berichtet haben.

Trotz all der o.g. Konfusionen schickte sich Lenin an, sich zum entschlossensten Gegner dieses Staatsapparates zu entwickeln. Nachdem er zum ersten Mal einen Schlaganfall im Mai 1922 erlitten hatte, verfasste Lenin kurz nach seinem zweiten Schlaganfall am 9. März 1923  einen später als sein Testament bekannt gewordenen Text, in dem er die Ablösung Stalins als Generalsekretär verlangte. So brach Lenin, ans Bett gefesselt, schon mit dem Tode ringend, im März 1923 mit Stalin, mit dem er jahrelang Seite an Seite gestanden hatte, und erklärte ihm den Krieg. Doch wurde diese Kriegserklärung in der Parteipresse, die schon damals stark vom Generalsekretär, also Stalin, kontrolliert wurde, nie bekanntgegeben.

Es war auch kein Zufall, dass Kamenew, Sinowjew und Stalin, die die neue Führung – die Troika – bildeten, die typisch bürgerliche Überzeugung von der Notwendigkeit eines “Thronfolgers” Lenins teilten. Vor dem Hintergrund eines innerparteilichen Machtkampfes veröffentlichte im Sommer 1923 eine Gruppe von Gegnern der “Troika” die Plattform der 46, die heftige Kritik an der Erdrosselung des proletarischen Lebens in der Partei übte, und welche sich am 1. Mai 1922 zum ersten Mal seit dem Oktober 1917 geweigert hatte, einen Aufruf zur Weltrevolution mit zu verfassen.[B8] [5] 

Im Sommer 1923 brach eine Reihe von Streiks in Russland aus, insbesondere in Moskau.

Während der russische Staat sich nach Innen immer mehr verstärkte und nach Außen alles unternahm, um von den großen kapitalistischen Staaten anerkannt zu werden, sollte sich der Entartungsprozess innerhalb der Komintern nach der opportunistischen Kehrtwende auf dem III. Weltkongress unter dem Druck des russischen Staates beschleunigen.

Der IV. Kongress der Komintern: die Unterwerfung unter den russischen Staat

Mit der Einführung der Einheitsfronttaktik auf dem IV.Weltkongress im November 1922 warf die Komintern ihre eigenen Prinzipien über Bord, die sie auf ihrem I. und II. Kongress verfasst hatte, als sie noch auf schärfste Abgrenzung gegen die Sozialdemokratie und auf ihre kompromisslose Bekämpfung bestanden hatte.

Zur Rechtfertigung führte sie jetzt an, die Analyse des Kräfteverhältnisses zwischen Bourgeoisie und Proletariat zeige, dass “die breitesten Massen des Proletariats den Glauben daran verloren (haben), dass sie in absehbarer Zeit die Macht erobern können. Die Arbeiterbewegung wird in die Verteidigung gedrängt (...) die Eroberung der Macht steht als aktuelle Aufgabe nicht auf der Tagesordnung” (Radek). Daher müsse man sich mit den Arbeitern, die noch unter dem Einfluss der Sozialdemokratie stehen, zusammenschließen: “Die Losung des III. Kongresses ‚Zu den Massen!‘ hat jetzt mehr denn je Gültigkeit (...) Die Taktik der Einheitsfront ist das Angebot des gemeinsamen Kampfes der Kommunisten mit allen Arbeitern, die anderen Parteien oder Gruppen angehören (...), die Kommunisten müssen sich unter Umständen bereit erklären, zusammen mit nichtkommunistischen Arbeiterparteien und Arbeiterorganisationen eine Arbeiterregierung zu bilden.” (Thesen zur Taktik der Komintern, IV. Kongress)

Die KPD rief als erste zu dieser Taktik auf, wie wir im nächsten Artikel dieser Reihe zeigen werden.

Innerhalb der Komintern stieß diese neue opportunistische Steigerung, die die Arbeiter geradezu in die Hände der Sozialdemokratie trieb, auf den erbitterten Widerstand der Italienischen Linken. Schon im März, kurz nach der Verabschiedung der Thesen zur Einheitsfront, schrieb Bordiga in Il Comunista:

“Was die Arbeiterregierung angeht, fragen wir: warum sich mit den Sozialdemokraten verbünden? Um nur das zu machen, was diese verstehen, machen können und wollen; oder um von ihnen zu verlangen, was sie nicht verstehen, nicht machen können und wollen? Erwartet man von uns, dass wir den Sozialdemokraten sagen, wir seien zur Zusammenarbeit mit ihnen bereit, selbst im Parlament und selbst in dieser Regierung, die als ‚Arbeiterregierung‘ getauft wurde? In diesem Fall, d.h. wenn man von uns verlangt, im Namen der Kommunistischen Partei ein Projekt einer Arbeiterregierung zu entwerfen, an dem sich Kommunisten und Sozialisten beteiligen, und um diese Regierung den Massen als ‚anti-bürgerliche Regierung‘ zu verkaufen, in diesem Fall übernehmen wir die volle Verantwortung für unsere Antwort, dass solch eine Haltung im Gegensatz zu allen Grundsatzprinzipien des Kommunismus steht. Diese politische Formel zu akzeptieren, hieße in der Tat, einfach unsere Fahne einzuziehen, auf der geschrieben steht: Es gibt keine Arbeiterregierung, die sich nicht auf den revolutionären Sieg des Proletariats stützt.” (Il Comunista, 26.3.1922)

Auf dem IV. Kongress sagte die KP Italiens, dass sie “nicht akzeptieren wird, sich an gemeinsamen Organismen in verschiedenen politischen Organisationen zu beteiligen (...) Sie wird ebenso vermeiden, sich an gemeinsamen Erklärungen mit politischen Parteien zu betätigen, wenn diese Erklärungen im Widerspruch stehen zu ihrem Programm und der Arbeiterklasse als das Ergebnis von Verhandlungen dargestellt werden, mit der eine gemeinsame Handlungslinie angestrebt werden soll (...) Von Arbeiterregierung zu sprechen (...) heißt in der Praxis, das politische Programm des Kommunismus zu verleugnen, d.h. die Notwendigkeit, die Massen auf den Kampf für die Diktatur des Proletariats vorzubereiten.” (Bericht der Italienischen Kommunistischen Partei an den IV. Kongress der Kommunistischen Internationale, November 1922)

Doch nachdem die KAPD durch das Ultimatum auf dem III. Kongress 1921 aus der Komintern ausgeschlossen und damit die kritischste Stimme gegen die Degeneration der Komintern mundtot gemacht worden war, hing es allein an der Italienischen Linken, den Standpunkt des Linkskommunismus in der Komintern zu vertreten.

Gleichzeitig muss jenes Ereignis vom Oktober 1922 mit berücksichtigt werden, in dessen Verlauf Mussolini in Italien die Macht ergriff, was eine Verschlechterung der Bedingungen für die Kommunisten in Italien zur Folge hatte. Vor dieses Problem gestellt, hatte die Italienische Linke Schwierigkeiten, ihre Kräfte gegen die Degeneration der Komintern und der Bolschewiki zu mobilisieren.

Zu dieser Zeit schuf der IV. Weltkongress weitere Grundlagen dafür, dass die Komintern sich den Interessen des russischen Staates unterwarf.

Den russischen Staat und die Interessen der Komintern in einen Topf schmeißend, interpretierte der Vorsitzende der Komintern, Sinowjew, die Stabilisierung des Kapitalismus und das Ausbleiben von Angriffen gegen Russland folgendermaßen: “Wir können jetzt ohne Übertreibung behaupten, dass die Zeit der größten Schwierigkeiten für die Kommunistische Internationale überwunden ist und sie sich mittlerweile so gestärkt hat, dass sie keine Angriffe mehr von der weltweiten Reaktion zu befürchten hat.” (Carr, S. 439)

Da die Perspektive der Machtergreifung nicht mehr unmittelbar auf der Tagesordnung stand, schlug der IV. Kongress vor, die internationale Arbeiterklasse solle sich neben der Einheitsfronttaktik auch die Unterstützung und Verteidigung Russlands zu eigen machen. Aus einer Resolution zur Frage der Russischen Revolution wird ersichtlich, wie stark die Sichtweise der Komintern von der Lage des russischen Staates geprägt war und wie stark sie den Standpunkt der internationalen Arbeiterklasse gegenüber der Aufbauarbeit in Russland hinten anstellte:

“Der IV. Weltkongress der Kommunistischen Internationale spricht dem schaffenden Volk Sowjet-Russlands tiefsten Dank und höchste Bewunderung dafür aus, dass es (...) die Errungenschaften der Revolution bis heute siegreich gegen alle Feinde im Innern und von Außen verteidigte.

Der IV. Weltkongress stellt mit größter Genugtuung fest, dass der erste Arbeiterstaat der Welt (...) seine Lebens- und Entwicklungskraft vollauf bewiesen hat. Der Sowjetstaat ist aus den Schrecken des Bürgerkriegs gefestigt hervorgegangen.

Der IV. Weltkongress stellt mit Befriedigung fest, dass Sowjet-Russlands Politik die wichtigste Vorbedingung für den Aufbau und die Entwicklung zur kommunistischen Gesellschaft gesichert und befestigt hat: nämlich die Sowjetmacht, die Sowjetordnung, d.h. die Diktatur des Proletariats. Denn diese Diktatur allein (...) verbürgt die vollständige Überwindung des Kapitalismus und freie Bahn für die Verwirklichung des Kommunismus.

Hände weg von Sowjet-Russland! Rechtliche Anerkennung Sowjet-Russlands! Jede Stärkung Sowjet-Russlands bedeutet eine Schwächung der Weltbourgeoisie.”

In welchem Maße ein halbes Jahr nach Rapallo der russische Staat die Komintern an der Leine führte, wurde auch aus der Tatsache ersichtlich, dass vor dem Hintergrund wachsender imperialistischer Spannungen die Möglichkeit in der Komintern diskutiert wurde, Russland einen militärischen Block mit einem der kapitalistischen Staaten schmieden zu lassen. Die Komintern behauptete, dass mit einem solchen Bündnis das bürgerliche Regime aus dem Sattel gehoben werde. Doch die Komintern sollte damit immer mehr in den Dienst des russischen Staates treten. “Ich behaupte, wir sind schon stark genug, um ein Bündnis mit einer ausländischen Bourgeoisie einzugehen, um – mit Hilfe dieses bürgerlichen Staates – eine andere Bourgeoisie zu stürzen (...) Nehmen wir an, ein militärisches Bündnis ist mit einem bürgerlichen Staat geschlossen worden, besteht die Pflicht der Genossen in allen Ländern darin, zum Sieg der beiden Bündnisse beizutragen.” (Zitat von Bucharin bei Carr, a.a.O., S. 442)

Einige Monate später propagierten Komintern und KPD die Perspektive eines Bündnisses zwischen der “unterdrückten deutschen Nation” und Russland. Hinsichtlich den gegensätzlichen Interessen Deutschlands auf der einen und der alliierten Siegerländer auf der anderen Seite nach dem I. Weltkrieg bezogen sowohl die Komintern als auch der russische Staat Stellung zugunsten Deutschlands, das sie als Opfer der französischen imperialistischen Interessen ansahen.

Bereits auf dem “Ersten Kongress der Werktätigen des Ferner Ostens” im Januar 1922 setzte die Komintern die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit “nichtkommunistischen Revolutionären” als eine zentrale Doktrin durch. Der IV. Weltkongress beschloss, “mit allen Kräften die nationalrevolutionäre Bewegung zu unterstützen, die sich gegen den Imperialismus richtet” (Thesen über die Taktik), und kritisierte gleichzeitig scharf “die Weigerung der Kommunisten der Kolonien, am Kampf gegen die imperialistische Vergewaltigung teilzunehmen, unter Vorgabe angeblicher ‚Verteidigung‘ selbständiger Klasseninteressen, [dies] ist Opportunismus schlimmster Sorte, der die proletarische Revolution im Osten nur diskreditieren kann.” (Leitsätze zur Orientfrage).

Damit trug die Komintern zu einer enormen Schwächung und Desorientierung der Arbeiter bei.

Nachdem die revolutionäre Welle von Kämpfen 1919 ihren Höhepunkt überschritten hatte und sich nach dem Scheitern der revolutionären Ausdehnung im Rückfluss befand, nachdem sich der russische Staat gefestigt und die Komintern seinen Interessen unterworfen hatte, fühlte sich die Weltbourgeoisie stark genug, um jenen Teil der internationalen Arbeiterklasse entscheidend niederzuringen, der noch am kämpferischsten geblieben war: die Arbeiterklasse in Deutschland.

Diesen Ereignissen von 1923 werden wir uns im nächsten Artikel widmen.

Dv.


[i] [5] Die 2½. Internationale wurde von den Kommunisten so bezeichnet, weil es sich hier um einen gescheiterten Umgruppierungsversuch zentristischer Elemente handelte,  die sich wegen des Krieges von der Sozialdemokratie getrennt hatten, sich aber weigerten, der Komintern beizutreten.

[5]

[ii] [5] Nachdem die Mitgliederzahl der Bolschewistischen Partei 1920 auf 600.000 Mitglieder angewachsen war, wurden 1920-21 im Zuge der “Säuberungsaktionen” ca. 150.000 Mitglieder aus der Partei entfernt.  Es lag auf der Hand, dass nicht  nur Karrieristen, sondern auch viele Arbeiter ausgestoßen wurden. Die Säuberungskommission unter Stalin war eines der mächtigsten Organe in Russland

Theorie und Praxis: 

  • Deutsche Revolution [6]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Italienische Linke [3]

Die Ermordung Trotzkis im Jahre 1940

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Trotzki wurde ermordet weil er ein Symbol für die Arbeiterklasse war

Am 20. August 1940, vor 60 Jahren, starb Trotzki. Er wurde zu Beginn des Zweiten Weltkrieges von den Meuchelmördern Stalins umgebracht. Mit diesem Artikel wollen wir nicht nur eine der wichtigsten Figuren des proletarischen Kampfes ehren, sondern auch auf seine Fehler und politischen Einschätzungen  zu Beginn des Krieges eingehen. Trotzki starb nach einem leidenschaftlichen, kämpferischen Leben, das der proletarischen Klasse gewidmet war. Es gibt in der Geschichte zahlreiche Beispiele von Revolutionären, welche sich zurückzogen oder gar die Arbeiterklasse verraten haben. Trotzki war einer der wenigen, die ihr Leben lang der Arbeiterklasse treu blieben, und er kämpfte wie Rosa Luxemburg oder Karl Liebknecht bis zum Tod für die Revolution.

In seinen letzten Lebensjahren verteidigte Trotzki viele opportunistische Positionen, wie beispielsweise die Politik des Entrismus innerhalb der Sozialdemokratie, die Einheitsfront usw. Die Linkskommunisten kritisierten diese Positionen in den 30er Jahren mit guten Gründen. Trotzdem hat Trotzki nie die Seite gewechselt. Er ist nie in das Lager der Bourgeoisie übergelaufen, so wie es die Trotzkisten nach seinem Tod gemacht haben. Er verteidigte bis zum Schluss die traditionelle revolutionäre Haltung: die Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen revolutionären Bürgerkrieg. 

Die Bourgeoisie der ganzen Welt vereint gegen Trotzki

Je näher der imperialistische Weltkrieg rückte, um so entscheidender wurde es für die internationale Bourgeoisie Trotzki zu beseitigen.

Um seine politische Macht zu stärken und die politische Entwicklung zu fördern, die ihn zum wichtigsten Diener der Konterrevolution gemacht hatte, tötete Stalin zahlreiche Revolutionäre oder schickte sie in die Verbannung. Dies betraf vor allem bolschewistische Führer der Russischen Revolution und nahestehende Genossen Lenins. Doch dies genügte nicht. Wegen der zunehmenden kriegerischen Spannungen Ende der 30er Jahre brauchte Stalin totale Handlungsfreiheit im Innern, um seine imperialistische Politik voran zu treiben. 1936, also zu Beginn des Krieges in Spanien, fanden die ersten grosse Prozesse und Exekutionen von Sinowjew, Kamenjew und Smirnow (siehe 16 Hinrichtungen in Moskau von Victor Serge, Edition Spartacus), später von Pjatakow und Radek und zuletzt die Prozesse gegen die Gruppe Rikow-Bucharin-Krestinski statt. Aber der gefährlichste Bolschewik, obwohl im Ausland lebend, blieb Trotzki. Als Stalin dessen Sohn Leo Sedow 1938 in Paris ermorden ließ, hatte er Trotzki schwer getroffen. Jetzt blieb Stalin nur noch Trotzki selbst, den es zu töten galt.

General Walter G. Krivitsky, der militärische Befehlshaber der sowjetischen Abwehrspionage in Westeuropa fragte sich in seinem Buch, „ob es notwendig war, dass die bolschewistische Revolution alle Bolschewiki töten liess?“ Auch wenn er selbst seine Frage nicht beantwortet, gibt es in seinem Buch Ich war ein Agent Stalins eine klare Antwort (Editions Champ libre, Paris, 1979, S. 35 und 36).

Die Prozesse von Moskau und die Liquidierung der letzten Bolschewiki waren der Preis, um den Krieg vorbereiten zu können: ”Das geheime Ziel von Stalin blieb immer das gleiche, nämlich sich mit Deutschland zu verstehen. Im März 1938 eröffnete Stalin den großen 10 Tage dauernden Prozess gegen die Gruppe Rikow-Bucharin-Krestinski, die Väter der russischen Revolution und engste Verbündete Lenins. Diese bolschewistischen Führer, von Hitler gehasst, wurden am 3. März auf Befehl Stalins exekutiert. Am 12. März annektierte Hitler Österreich. (...)  Am 12. Januar 1939 traf sich der sowjetische Botschafter mit den gesamten diplomatischen Kreisen in Berlin zu einem freundschaftlichen und demokratischen Gespräch.“ Und somit wurde der deutsch-sowjetische Pakt zwischen Hitler und Stalin vom 23. August 1939 geschlossen.

Obwohl die Ermordung der letzten Bolschewiki zur Durchsetzung der Politik Stalins geschah, war dies auch eine Antwort der gesamten Weltbourgeoisie. Das Schicksal von Leo Trotzki war deshalb ebenfalls schon lange besiegelt. Für die herrschende Klasse der ganzen Welt musste Trotzki als Zeichen der Revolution verschwinden!

Robert Coulondre,1 [7] ehemaliger Botschafter Frankreichs, gab in der Beschreibung über sein letztes Treffen mit Hitler vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, ein eindrucksvolles Zeugnis. Hitler prahlte mit dem Pakt, den er gerade mit Stalin abgeschlossen hatte und begann ein grossartiges Bild seiner triumphalen militärischen Zukunft zu zeichnen. Der französische Botschafter appellierte an seine „Vernunft“ und sprach vom sozialen Chaos und den Revolutionen, die auf einen langen und schrecklichen Krieg folgen und sämtliche kriegführenden Regierungen mit sich in den Abgrund reissen könnten: ”Sie sehen sich als Sieger“... sagte der Botschafter, „aber haben Sie eine andere Möglichkeit erwogen – dass der Sieger Trotzki sein kann?”2 [7] Bei diesen Worten sprang Hitler auf, als ob er einen Hieb in den Magen erhalten hätte und brüllte, dass diese Möglichkeit, die Gefahr eines siegreichen Trotzki, ein Grund mehr wäre, warum Frankreich und England nicht gegen das Dritte Reich Krieg führen sollten. Isaac Deutscher hatte seine Gründe den Kommentar Trotzkis3 [7] hervorzustreichen, als dieser von dem Dialog erfahren hatte: Die Vertreter der internationalen Bourgeoisie “sind über das Gespenst der Revolution erschrocken und haben ihm jetzt den Namen eines Menschen gegeben”.4 [7]

Trotzki musste verschwinden5 [7] und er wusste genau, dass seine Tage gezählt waren. Seine Eliminierung hatte eine viel grössere Bedeutung als die der anderen Bolschewiki und Mitglieder der russischen Linkskommunisten. Die Ermordung der alten Bolschewiki hatten Stalin in seiner Macht gestärkt. Die Ermordung Trotzkis verdeutlichte, dass die internationale Bourgeoisie, die russische eingeschlossen, den Kurs in Richtung Weltkrieg ohne Störungen einschlagen wollte. Nach der Entfernung der letzten grossen Figur der Oktoberrevolution, des standhaften Internationalisten war dieser Weg frei. Stalin setzte alle Mittel des GPU-Apparates zur Ermordung Trotzkis ein. Mehrere Attentate wurden hintereinander gegen ihn verübt und man konnte nur auf das nächste warten. Nichts konnte die stalinistische Maschine stoppen. Kurze Zeit vor seiner Ermordung wurde Trotzki am 24. Mai 1939 nachts von einem Kommando angegriffen. Die Agenten Stalins feuerten aus dem gegenüberliegenden Haus etwa 200-300 Kugeln ab und warfen einige Bomben auf die Fenster von Trotzkis Haus. Glücklicherweise waren dessen Fenster sehr hoch angelegt und Trotzki, seine Frau Natalia und sein Enkel Sieva konnten sich unter den Betten verstecken und sich wie durch ein Wunder retten. Doch der darauf folgende Anschlag wurde von Ramon Mercader und seiner Gruppe mit ”Erfolg” durchgeführt.

>Die Position Trotzkis vor dem Krieg

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Ohne Zweifel genügte der Bourgeoisie die Ermordung Trotzkis nicht. Lenin schrieb zu Recht in seinem Buch Staat und Revolution: ”Die grossen Revolutionäre werden zu Lebzeiten von den unterdrückenden Klassen ständig verfolgt, die ihrer Lehre mit wildestem Ingrimm und wütendstem Hass begegneten, mit zügellosen Lügen und Verleumdungen gegen sie zu Felde zogen. Nach ihrem Tode versucht man, sie in harmlose Götzen zu verwandeln, sie sozusagen heiligzusprechen, man gesteht ihrem Namen einen gewissen Ruhm zu zur „Tröstung“ und Betörung der unterdrückten Klassen, wobei man ihre revolutionäre Lehre des Inhalts beraubt, ihr die revolutionäre Spitze abbricht, sie vulgarisiert. (...) Man vergisst, verdrängt und entstellt die revolutionäre Seite der Lehre, ihren revolutionären Geist. Man schiebt in den Vordergrund, man rühmt das, was für die Bourgeoisie annehmbar ist oder annehmbar erscheint.“ (Lenin, Staat und Revolution, Ges. Werke Bd. 25, S. 397)

In Bezug auf Trotzki sind jene gemeint, die sich als Trotzkisten bezeichnen, das Erbe Trotzkis für sich beanspruchen und sich in Kontinuität mit Trotzki sehen. Es sind die, welche nach dem Tod Trotzkis eine schmutzige Arbeit übernommen haben. Sie beziehen sich auf die „opportunistischen“ Positionen Trotzkis, mit denen sie alle nationalen Kriege seit dem Zweiten Weltkrieg gerechtfertigt haben und sich zu Verteidigern eines imperialistischen Lagers gemacht haben, dem der Sowjetunion.

Als die IV. Internationale 1938 gegründet wurde, basierten Trotzkis Ideen auf der Annahme, dass der Kapitalismus in der Phase des Todeskampfes sei. Ebenso verteidigte die italienische Fraktion der Kommunistischen Linken (Bilan) diese Idee. Wir sind mit dieser Einschätzung der Epoche einverstanden; auch wenn wir Trotzki in seiner Analyse über „die Produktivkräfte, die aufgehört haben zu wachsen“ nicht folgen.6 [7] Es ist absolut richtig ihn darin zu bestätigen, dass der Kapitalismus in der Phase des „Todeskampfes“ aufgehört hat eine fortschrittliche Gesellschaftsform zu sein und der Übergang zum Sozialismus auf der historischen Tagesordnung steht. Jedoch hat sich Trotzki getäuscht, davon auszugehen, dass in den 30er Jahren die Bedingungen für eine Revolution vorhanden waren. Er kündigte sie an, indem er sich auf die Bildung der Volksfront in Frankreich und später in Spanien berief, also auf das Gegenteil dessen, was die italienische Fraktion der Kommunistischen Linken verteidigte.7 [7] Dieser Fehler im Verständnis des historischen Kurses, der Trotzki glauben ließ, die Revolution stehe auf der Tagesordnung, während umgekehrt der Zweite Weltkrieg vorbereitet wurde, ist ein Schlüssel zum Verständnis seiner in dieser Zeit entwickelten opportunistischen Positionen.

Konkret drückte sich dies bei Trotzki im Konzept des  ”Übergangsprogramms” aus, das im Hinblick auf die Gründung der IV. Internationale 1938 ausgearbeitet wurde. Es bestand in Wirklichkeit aus einer Menge von Forderungen, die nicht realisierbar waren. Sie sollten das Bewusstsein der Arbeiterklasse heben und den Klassenkampf anspornen. Dies war die Grundlage seiner politischen Strategie. Aus seiner Sicht war das Übergangsprogramm nicht eine Gesamtheit reformistischer Maßnahmen, da diese nicht verwirklicht werden konnten und es schließlich auch nicht sein Ziel war diese anzuwenden. Tatsächlich sollten sie aufzeigen, dass der Kapitalismus unfähig sei, langfristige Reformen zu bewilligen, und folglich den Bankrott des Systems entblössen, um den Kampf zu dessen Zerstörung voranzutreiben.

Auf dieser Basis entwickelte Trotzki auch seine berühmtes ”proletarisches militärisches Programm”.8 [7] Es bestand hauptsächlich darin, das Übergangsprogramm in einer Periode von Krieg und weltweitem Militarismus anzuwenden. Diese Politik hoffte, all die Millionen unter Waffen stehenden Arbeiter für die revolutionären Ideen zu gewinnen. Sie konzentrierte sich auf die Forderung nach einer obligatorischen militärischen Ausbildung der Arbeiterklasse in speziellen vom Staat getragenen Schulen, unter der Obhut von offiziell gewählten Offizieren, jedoch unter der Kontrolle der Arbeiterinstitutionen, womit insbesondere die Gewerkschaften gemeint waren. Es liegt auf der Hand, dass kein kapitalistischer Staat solche Forderungen der Arbeiterklasse bewilligen konnte, wenn dies die Existenz des Staates in Frage gestellt hätte. Die Perspektive Trotzkis war, dass das bewaffnete Proletariat den Kapitalismus zerstören muss, weil der Krieg in seinen Augen günstige Bedingungen für einen proletarischen Aufstand schafft, so wie es im Ersten Weltkrieg der Fall war.

”Der aktuelle Krieg ist, wie wir es schon oft gesagt haben, nur die Fortsetzung des letzten Krieges. Aber Fortsetzung ist nicht gleichzusetzen mit Wiederholung. (...) Unsere Politik, die proletarische revolutionäre Politik ist, was den zweiten imperialistischen Krieg betrifft eine Fortsetzung der, während des ersten imperialistischen Krieges unter der Führung von Lenin ausgearbeiteten Politik.” (Trotzki, Faschismus, Demokratismus und Krieg)

Für Trotzki waren die Bedingungen zudem günstiger als 1917, da der Kapitalismus kurz vor dem neuen Krieg den Beweis dafür geliefert habe, dass er sich in einer historischen Sackgasse befinde, während gleichzeitig auf der subjektiven Seite, die Arbeiterklasse weltweit viel an Erfahrung gewonnen habe.

”Es ist die Perspektive (die Revolution), die die Grundlage sein muss für unsere Agitation. Es reicht nicht, nur eine Position über den Militarismus des Kapitalismus zu haben und sich zu weigern, den bürgerlichen Staat zu verteidigen, sondern es geht um die Vorbereitungen zur Eroberung der Macht und Verteidigung des sozialistischen Vaterlandes (...).” (ebenda)

Durch seinen Glauben, der historische Kurs führe hin zur proletarischen Revolution, hatte Trotzki offensichtlich jegliche Orientierung verloren. Er hatte keine korrekte Einschätzung über die Situation der Arbeiterklasse und auch nicht über das Kräfteverhältnis, welches zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie bestand. Einzig die Italienische Kommunistische Linke war fähig aufzuzeigen, dass sich in den 30er Jahren die Menschheit in einer tiefen konterrevolutionären Phase befand, das Proletariat geschlagen war und infolgedessen einzig die „Lösung“ der Bourgeoisie, der imperialistische Krieg, möglich war.

Trotz seines „militaristischen“ Kauderwelsch, das ihn ins Lager des Opportunismus abgleiten ließ, hielt Trotzki standhaft an einer internationalistischen Haltung fest. Mit dem Wunsch, „konkret“ zu sein (bezüglich des Klassenkampfes mit seinem Übergangsprogramm und in der Armee mit seiner militärischen Politik), um die Arbeitermassen für die Revolution zu gewinnen, begann er sich vom klassischen Marxismus zu entfernen und verteidigte eine den Interessen des Proletariats entgegengesetzte Politik. Dies Politik, die beanspruchte taktisch zu sein, war in Wirklichkeit sehr gefährlich. Sie fesselte das Proletariat an den bürgerlichen Staat und ließ es im Glauben, dass es gute bürgerliche Lösungen gäbe. Im Krieg wurde diese „subtile“ Taktik durch die Trotzkisten in die Praxis umgesetzt, um zu rechtfertigen, was nicht zu rechtfertigen ist, so insbesondere ihren Anschluss an die Bourgeoisie mittels der Verteidigung der Nation und der Beteiligung an der ”Résistance”.

Doch weshalb ließ Trotzki seiner „militärischen Politik“ ein dermaßen großes Gewicht zukommen? In seinen Augen zeichnete sich für die Menschheit die Perspektive einer total militarisierten Gesellschaft ab, die jeden Tag mehr gekennzeichnet sei vom bewaffneten Kampf zwischen den Klassen. Das Schicksal der Menschheit würde demnach vor allem auf militärischem Terrain entschieden. Für ihn bestand die dringendste Verantwortung des Proletariats darin, sich auf den Kampf um die Macht gegen die kapitalistische Klasse vorzubereiten. Das war vor allem seine Idee zu Beginn des Krieges:

”In den besiegten Ländern wird sich die Lage der Massen sofort verschlechtern. Zur sozialen Unterdrückung kommt die nationale Unterdrückung hinzu, deren Hauptgewicht die Arbeiterklasse erleiden muss. Von allen Formen der Diktatur ist die totalitäre Diktatur eines fremden Eroberers die unerträglichste.“ (Wir wechseln unser Lager nicht, 30. Juni 1940)

„Es ist nicht möglich hinter jeden Arbeiter oder Bauern, seien dies polnische, norwegische, dänische, holländische oder französische, einen bewaffneten Soldaten zu stellen.“ 9 [7]

„Wir können mit grosser Sicherheit davon ausgehen, dass alle besiegten Länder sich in Kürze in ein Pulverfass verwandeln. Die Gefahr ist, dass sich die Explosionen sehr schnell entladen, ohne genügend vorbereitet zu sein, und in isolierten Niederlagen enden. Es unmöglich von der europäischen Revolution und der Weltrevolution zu reden, ohne die einzelnen Niederlagen in Betracht zu ziehen.“ (ebenda)

All das mindert überhaupt nicht die Tatsache, dass Trotzki bis zum Schluss ein Revolutionär des Proletariats geblieben ist. Der Beweis dazu steht im Manifest, genannt Alarm, der IV. Internationale, das er verfasste, um eine Position ohne Zweideutigkeiten und einzig aus dem Blickwinkel des revolutionären Proletariats zu beziehen, dies im Angesicht des generalisierten imperialistischen Krieges:

”Gleichzeitig sollten wir nicht für einen Moment vergessen, dass dieser Krieg nicht unser Krieg ist (...) Die IV. Internationale setzt mit ihrer Politik nicht auf das militärische Glück der kapitalistischen Staaten, sondern auf die Transformation des imperialistischen Krieges in einen Krieg der Arbeiter gegen die Kapitalisten, für die Beseitigung der herrschenden Klassen aller Länder, für die sozialistische Weltrevolution (...) Wir erklären den Arbeitern, dass ihre Interessen und die des blutdürstigen Kapitalismus unvereinbar sind. Wir mobilisieren die Arbeiter gegen den Imperialismus. Wir propagieren die Einheit der Arbeiter in allen kriegsführenden und neutralen Länder." (Manifest der IV. Internationale, 29. Mai 1940)

Und genau dies haben die Trotzkisten "vergessen" und verraten!

Im Gegensatz dazu enthielten das "Übergangsprogramm" und die „militärische proletarische Politik“ eine politische Orientierung von Trotzki, die aus der Sicht der Arbeiterklasse in einem Fiasko endete. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges brach nicht nur keine proletarische Revolution aus, sondern die „militärische proletarische Politik“ diente der IV. Internationale als Rechtfertigung für ihre Teilnahme an der generalisierten imperialistischen Schlächterei und dazu, ihre Militanten in gute Soldaten der "Demokratie" und des Stalinismus zu verwandeln. Das war der Moment, als der Trotzkismus unwiederbringlich ins feindliche Lager überging.

Die Frage der Natur der UdSSR: Die Achillesferse Trotzkis

Die grösste Schwäche Trotzkis bestand darin, dass er nicht verstanden hatte, dass der historische Kurs in Richtung Konterrevolution und deshalb zum Weltkrieg führte, so wie es die Italienische Kommunistische Linke klar erkannt hatte. Immer die Vision eines Kurses in Richtung einer Revolution vor den Augen, rief er 1936 aus: "Die französische Revolution hat begonnen" (La lutte ouvrière, 9. Juni 1936); und was Spanien betrifft: "Die Arbeiter der ganzen Welt erwarten brennend den neuen Sieg des spanischen Proletariats." (La lutte ouvrière, 9. August 1936). Er beging hier einen enormen politischen Fehler, indem er die Arbeiterklasse glauben machte, dass das, was eben geschah, insbesondere in Frankreich und Spanien, in Richtung einer proletarischen Revolution gehe, obwohl in Wirklichkeit die weltweite Situation sich in die Gegenrichtung bewegte: "Seit seiner Ausweisung aus der UdSSR 1929 bis zu seiner Ermordung, hörte Trotzki nicht auf, die Welt verkehrt zu interpretieren.  Während die momentane Aufgabe darin bestand, die von der Niederlage übriggebliebenen revolutionären Kräfte zu sammeln, um allem voran eine komplete politische Bilanz der revolutionären Welle in Angriff zu nehmen, fand ein verblendeter Trotzki immer wieder Wege, das Proletariat stets in Bewegung zu sehen, auch wenn es in der Realität geschlagen war. Deshalb war die IV. Internationale, die vor mehr als 50 Jahren gegründet wurde, nichts als eine leere Hülle, in der sich niemals eine wirkliche Bewegung der Arbeiterklasse hätte realisieren können. Und dies aus dem schlichten und tragischen Grund, dass sie sich im vollen Rückfluss der Konterrevolution befand. Alle Taten Trotzkis, basierend auf diesem Irrtum, trugen dazu bei, die damals schon auf der Welt schwachen revolutionären Kräfte der 30er Jahre noch mehr zu zerstreuen, und schlimmer noch, den grössten Teil davon in den kapitalistischen Morast der "kritischen" Unterstützung der Regierungen des Typs "Volksfront" und in die Teilnahme am imperialistischen Krieg zu zerren." (siehe unsere Broschüre Der Trotzkismus gegen die Arbeiterklasse)

Einer der schlimmsten Irrtümer Trotzkis bestand insbesondere in seiner Position über die Natur der UdSSR. Er kritisierte und griff den Stalinismus an, hielt die UdSSR jedoch weiterhin für ein "Vaterland des Sozialismus" oder mindestens noch einen "degenerierten Arbeiterstaat". Jedoch alle diese politischen Fehler, so viele dramatische Konsequenzen sie auch immer hatten, konnten ihn nicht zum Feind der Arbeiterklasse machen, während aber gerade seine "Erben" nach seinem Tod dazu wurden. Trotzki war sogar fähig, angesichts der Ereignisse zu Beginn des Krieges zu gestehen, dass er seine politischen Analysen überprüfen und modifizieren müsse, insbesondere in Bezug auf die UdSSR.

Er bestätigte zum Beispiel, in einer seiner letzten Schriften vom 25. September 1939, mit dem Titel Die UdSSR im Krieg: "Wir ändern unseren Kurs nicht (...) Nehmen wir aber an, Hitler wendet seine Waffen nach Osten und greift die von der Roten Armee besetzten Gebiete an. (...) Während die Bolschewiki-Leninisten mit der Waffe in der Hand Hitler bekämpfen, werden sie gleichzeitig revolutionäre Propaganda gegen Stalin führen, um seinen Sturz im nächsten – und vielleicht sehr nahen – Stadium vorzubereiten.“ (Die UdSSR im Krieg, in Verteidigung des Marxismus, Verlag Neuer Kurs Berlin, S. 28-29)

Er hielt zwar an seiner Analyse über die Natur der UdSSR fest. Seine Schlussfolgerungen hingen aber davon ab, welches Urteil die Prüfung des Zweiten Weltkriegs über die Sowjetunion fällen würde. Im gleichen Artikel schrieb Trotzki, dass er, wenn der Stalinismus als Sieger und gestärkt aus dem Krieg hervorgehen sollte (eine Perspektive, die er sich nicht vorstellen konnte), nochmals sein Urteil über die UdSSR überprüfen müsse, eingeschlossen jenes über die allgemeine politische Situation: „Wenn man jedoch annimmt, dass der gegenwärtige Krieg keine Revolution hervorrufen wird, sondern den Niedergang des Proletariates, bleibt eine andere Möglichkeit: der weitere Verfall des Monopolkapitalismus, seine weitere Verschmelzung mit dem Staat und das Ersetzen der Demokratie überall da, wo sie noch verblieben war, durch ein totalitäres Regime. Die Unfähigkeit des Proletariats, die Führung der Gesellschaft in seine Hände zu nehmen, könnte tatsächlich unter diesen Bedingungen dazu führen, dass sich eine neue Ausbeuterklasse aus der bonapartistischen faschistischen Bürokratie entwickelt. Dies wäre, allen Anzeichen zufolge, ein Regime des Verfalls, das den Untergang der Zivilisation bedeuten würde.

Ein entsprechendes Ergebnis könnte sich ergeben, wenn sich das Proletariat der hochentwickelten kapitalistischen Länder, nach der Eroberung der Macht, als unfähig erweisen sollte, sie zu halten, und sie, wie in der UdSSR, an eine privilegierte Bürokratie abtreten sollte. Dann wären wir gezwungen zuzugeben, dass der Grund für den bürokratischen Rückfall nicht in der Rückständigkeit des Landes und nicht in der imperialistischen Umklammerung liegt, sondern in der angeborenen Unfähigkeit des Proletariates, eine herrschende Klasse zu werden. Dann müsste man im Rückblick feststellen, dass die grundlegenden Züge der jetzigen UdSSR der Vorläufer eines neuen Ausbeutungsregimes im internationalen Maßstab waren.

Wir sind weit vom terminologischen Streit über die Bezeichnung des Sowjetstaates abgekommen. Aber unsere Kritiker sollen nicht protestieren. Nur indem man die notwendige historische Perspektive betrachtet, kann man sich ein richtiges Urteil über die Frage wie die Ersetzung einer sozialen Regierungsform durch eine andere bilden. Die historische Alternative, zu Ende geführt, ist folgende: Entweder ist das Stalin-Regime ein widerlicher Rückfall im Prozess der Umwandlung der bürgerlichen Gesellschaft in eine sozialistische, oder das Stalin-Regime ist die erste Stufe einer neuen Ausbeutungsgesellschaft. Wenn sich die zweite Prognose als richtig erweist, dann wird die Bürokratie selbstverständlich eine neue Ausbeuterklasse werden. (durch uns unterstrichen) Wie beschwerlich der zweite Ausblick auch immer sein mag, wenn das Weltproletariat sich tatsächlich als unfähig erweisen sollte, den Auftrag zu erfüllen, der ihm vom Verlauf der Entwicklung gestellt wurde, müsste man notgedrungen anerkennen, dass das sozialistische Programm, das auf die inneren Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft gegründet ist, in einer Utopie endet. Es ist selbstverständlich, dass ein neues „Minimal“programm erforderlich wäre – zur Verteidigung der Interessen der Sklaven der totalitären bürokratischen Gesellschaft.“ (ebenda, S. 12-13)

Abstrahiert man von der Zukunftsvision, die Trotzki in diesem Moment entwickelte, eine Vision, die eine grosse Entmutigung offenbart, wenn nicht gar eine tiefe Demoralisierung, und die offenbar sein ganzes Vertrauen in die Arbeiterklasse und ihre Fähigkeit, die historische revolutionäre Perspektive zu übernehmen, erschütterte, ist es klar, dass Trotzki hier Zweifel an seiner eigenen Position zu der "sozialistischen" Natur der UdSSR und dem "Arbeiter-Charakter“ der Bürokratie überkommen.

Trotzki wurde lange vor dem Ende des Krieges ermordet; Russland stand wieder auf der Seite der Gewinner, zusammen mit den "demokratischen" Ländern. Wie Trotzki vorgesehen hatte, verlangten diese historischen Bedingungen denjenigen etwas ab, die meinten, Trotzkis treue Nachkommen zu sein. Und zwar eine Neubeurteilung seiner Positionen oder wie er es ausdrückte: "(...) im Rückblick feststellen, dass die grundlegenden Züge der jetzigen UdSSR der Vorläufer eines neuen Ausbeutungsregimes im internationalen Maßstab waren". Die IV. Internationale hatte diese Einsicht nicht nur ignoriert, sondern sich darüber hinaus mit Sack und Pack den Reihen der Bourgeoisie angeschlossen. Nur wenige Elemente, die aus dem Trotzkismus kamen, konnten auf revolutionärem Terrain bleiben, so wie jene, die in China eine Gruppe ins Leben riefen und 1941 Der Internationalist publizierten (siehe unsere Internationale Revue Nr. 94); die Mitglieder der spanischen Sektion der IV. Internationale um G. Munis1 [7]0; die Revolutionären Kommunisten Deutschlands (RKD); die Gruppe Socialisme ou Barbarie in Frankreich; Agis Stinas in Griechenland oder Natalia Trotzki.

Treu dem Geiste ihres Gefährten im Leben und im Kampf für die Revolution kam Natalia Trotzki in einem Brief vom 9. Mai 1951, gerichtet ans Exekutivkomitee der IV. Internationale, darauf zurück und beharrte insbesondere auf dem konterrevolutionären Charakter der UdSSR: "Besessen von alten und überholten Formeln, haltet Ihr den stalinistischen Staat noch immer für einen Arbeiterstaat. Ich kann und will Euch in diesem Punkt nicht folgen. (...) Es dürfte für jeden einzelnen klar sein, dass die Revolution vom Stalinismus völlig zerstört wurde. Und trotzdem, sagt Ihr weiterhin, dass unter diesem monströsen Regime Russland noch immer ein Arbeiterstaat sei."

Sie zog sämtliche Konsequenzen aus dieser mehr als deutlichen Position und folgerte richtigerweise: "Das weitaus Untragbarste an allem ist die Position über den Krieg, die Ihr eingenommen habt. Der dritte Weltkrieg, der die Menschheit bedroht, stellt die revolutionäre Bewegung vor die schwierigsten Probleme, die komplexesten Situationen, die schwerwiegendsten Entscheidungen. (...) Aber angesichts der Ereignisse der letzten Jahre propagiert Ihr noch immer die Verteidigung des stalinistischen Staates und ein Engagement der ganzen Arbeiterbewegung dafür. Ihr unterstützt jetzt sogar die Armee des Stalinismus im Krieg, der das koreanische Volk peinigt".

Und sie kam zu einem mutigen Schluss: "Ich kann und will Euch in diesem Punkt nicht folgen. Es gibt kein anderes Mittel mehr, als Euch bekannt zu geben, dass mir keine andere Lösung bleibt, als offen zu sagen, dass unsere Meinungsverschiedenheiten mir nicht mehr erlauben, noch länger in Euren Reihen zu verbleiben." (Die Kinder des Propheten, Cahiers Spartacus, Paris 1972)

Die Trotzkisten heute

Wie Natalia Trotzki bestätigt, folgten die Trotzkisten weder Trotzki, noch revidierten sie ihre politischen Positionen nach dem Sieg der UdSSR im Zweiten Weltkrieg. Die einzigen Diskussionen oder Fragezeichen zur Klärung und Vertiefung – wenn es sie überhaupt gibt - beziehen sich auf das Thema der "proletarischen militärischen Politik" (siehe Chaiers Léon Trotzky, Nr. 23, 39 und 43 oder Revolutionary History, Nr. 3, 1988). Diese Diskussionen jedoch halten das große Schweigen über die grundsätzlichen Fragen wie die Natur der UdSSR, den proletarischen Internationalismus und den revolutionären Defätismus gegenüber dem Krieg aufrecht. Geschmückt mit einem pseudo-wissenschaftlichen Gerede stellt Pierre Broué fest: "Es ist tatsächlich indiskutabel, dass das Ausbleiben einer Diskussion und Bilanz über diese Frage (die PMP) ein Alptraum in der Geschichte der IV. Internationale war. Eine gründliche Analyse würde die Ursache dieser Krise aufzeigen, die sich in den 50er Jahren in der Internationale abzuzeichnen begann" (Cahiers Léon Trotzky, Nr. 39).

Welch schöne Worte!

Die trotzkistischen Organisationen begingen Verrat und wechselten das Lager, so stehen die Dinge. Auch wenn die trotzkistischen Geschichtsschreiber wie Pierre Broué oder Sam Levy die Dinge bis zur Abwürgung drehen und wenden mögen, indem sie von einer blossen Krise ihrer Bewegung reden: "Die fundamentale Krise des Trotzkismus entstand aus der Verwirrung und der Unfähigkeit, den Krieg und die Welt der darauffolgenden Nachkriegszeit zu verstehen" (Sam Levy, ein Veteran der britischen trotzkistischen Bewegung in Cahiers Léon Trotzky, Nr. 23).

Es ist wahr, dass der Trotzkismus weder den Krieg noch die Welt der darauffolgenden Nachkriegszeit verstand. Aber genau deshalb haben sie die Arbeiterklasse und den proletarischen Internationalismus verraten, indem sie ein imperialistisches Lager gegen ein anderes im Zweiten Weltkrieg unterstützt haben. Seit damals gaben sie es nie auf, die kleinen Imperialisten gegen die Grossen zu unterstützen, in den zahllosen Kämpfen der sogenannten nationalen Befreiung und anderen Kämpfen der "unterdrückten Völker". Pierre Broué, Sam Levy und Konsorten sind sich dessen vielleicht nicht bewusst, aber der Trotzkismus ist tot für die Arbeiterklasse; und es gibt für ihn kein Wiederaufleben mehr als mögliches Instrument der Emanzipation der Arbeiterklasse. Es bringt den Trotzkisten nichts zu versuchen, die wirklichen Internationalisten und insbesondere die Arbeit der Italienischen Kommunistischen Linken während des Krieges für sich zu beanspruchen, so wie es Cahiers Léon Trotzky in ihrer Nummer 39 (Seiten 36 und folgende) versucht. Ein bisschen Anstand ihr Herrschaften! Vermischt die Internationalisten der Italienischen Kommunistischen Linken nicht mit der patriotischen und gegenüber der Arbeiterklasse verräterischen IV. Internationale. Wir, die Kommunistische Linke, haben mit der IV. Internationale und allen ihren heutigen Wiedergeburten überhaupt nichts gemeinsam. Im Gegenteil, wir sagen: Lasst eure Hände von Trotzki! Er gehört weiterhin der Arbeiterklasse.

Rol



1 [7] Robert Coulondre (1885–1959), Botschafter in Moskau, später in Berlin.

2 [7] Zitiert nach Isaac Deutscher, Trotzki, der verstossene Prophet 1929-1940, Kohlhammer-Urban Verlag, 1972, S. 474-475

3 [7] Manifest der IV. Internationale über den imperialistischen Krieg und die proletarische Weltrevolution, von Trotzki selbst verfasst am 23. Mai 1939

4 [7] Pierre Broué zitiert in Cahiers Léon Trotzky die Arbeit des amerikanischen Historikers Gabriel Kolko Politik des Krieges, welche Beispiele aufführt, die in dieselbe Richtung gehen.  

5 [7] Ähnlich wie Jean Jaurès kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges von 1914-18. Mit dem Unterschied jedoch dass dieser ein Pazifist war, während Trotzki immer ein Revolutionär und Internationalist blieb. 

6 [7] Auch wenn das System in seine niedergehende Phase eingetreten ist, heisst das für uns nicht, dass es sich nicht mehr entwickeln kann. Für uns, wie auch für Trotzki, zeichnet sich die Dekadenz durch den Verlust der Dynamik eines System aus und dadurch, dass die Produktionsverhältnisse zu einer Fessel für die Entwicklung der Gesellschaft geworden sind. Zusammengefasst hat ein System somit seine fortschrittliche Rolle in der Geschichte verloren und ist reif, um einer anderen Gesellschaft Platz zu machen.   

7 [7] Siehe dazu unser Buch Die Italienische Kommunistische Linke (zweiter Teil auf deutsch als Broschüre erhältlich)  und die Broschüre Der Trotzkismus gegen die Arbeiterklasse (nur auf französisch erhältlich)

8 [7] Diese Position Trotzkis war nicht neu, er hatte damit schon während des Krieges in Spanien begonnen. „...wir müssen uns klar vom Verrat und den Verrätern abgrenzen und die besten Kämpfer an der Front behalten“. Er ging davon aus, dass der beste Arbeiter in der Fabrik auch der beste Soldat an der Front sein müsse. Diese Losung wurde auch im Krieg Chinas gegen Japan aufgestellt, als China als „angegriffenes“ und „kolonisiertes“ Land bezeichnet wurde.  

9 [7] ebenda; diese Länder sind erwähnt, weil sie zum Zeitpunkt, als Trotzki den Artikel schrieb, besiegt wurden. 

10 [7] Vgl. in unserer Broschüre Der Trotzkismus gegen die Arbeiterklasse den Artikel „Trotzki gehört der Arbeiterklasse, die Trotzkisten haben ihn entführt“, sowie in der Internationalen Revue Nr. 58 (engl./frz./span. Ausgabe) den Artikel „In Erinnerung an Munis“ zu seinem Tod im Jahre 1989.

Theoretische Fragen: 

  • Arbeiterklasse [8]

Internationale Situation

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„Frieden und Wohlstand“ oder Krieg und Elend?

Acht Jahre nach seinem Vater tritt George W. Bush sein Amt als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika an. George Bush senior hatte nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Auseinanderbrechen der UdSSR „eine Ära des Friedens und des Wohlstands“ versprochen. Sein Sohn tritt sein Amt in einer Zeit der Kriege und des allgemeinen Elends an, deren Ausmaß und Intensität während der 90er Jahre noch zugenommen haben. Die Weltlage ist wirklich katastrophal. Und diese Situation ist nicht vorübergehend, denn man darf nicht erwarten, dass die Prophezeiungen von Bush senior eintreten. Alles weist darauf hin, dass der Kapitalismus die Welt in eine tödliche Spirale von mörderischen Konflikten zerren wird, die weltweit, auf allen Kontinenten  aufbrechen. Die imperialistischen Gegensätze, insbesondere zwischen den Großmächten, werden sich weiter verschärfen. Eine neue, brutale Runde der Wirtschaftskrise und des Elends steht bevor, begleitet von einer Reihe von Katastrophen aller Art. Diese drei Elemente, die Kriege, die wirtschaftliche Sackgasse und die Zerstörung des Planeten, führen dazu, dass das Leben der heutigen Generationen immer unerträglicher wird und das Leben der zukünftigen Generationen in Gefahr ist. Es wird immer offensichtlicher, dass der Kapitalismus die Gattung Mensch auszulöschen im Begriff ist.

Während die Friedensillusionen mit dem Golfkrieg und den Bombardierungen Iraks 1991 und schließlich mit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien schnell verflogen waren, erhielten die Illusionen über einen zu erwartenden Wohlstand mehrmals neuen Auftrieb; so, als es in den USA in den 90er Jahren durchweg positive Wachstumsraten gab, so durch die Börsenhaussen und durch die fabelhafte „Neue Ökonomie“ im Internet. Jedoch haben die Wachstumsraten in den USA und die Börsenhausse die dramatische Zunahme von Hunger und Verarmung auf der Welt nicht verhindern können. Im Gegenteil, der Traum von der „Neuen Ökonomie“ ist längst geplatzt, und die Illusionen über den Wohlstand für alle haben sich in Luft aufgelöst.

Eine Wirtschaft im virtuellen Bankrott

Wir haben in der Internationalen Revue die Lügen über die angebliche “Erholung” der Weltwirtschaft, die sich auf steigende Wachstumsraten stützte, bereits entlarvt. So hat die Weltbourgeoisie „Regeln“ aufgestellt, denen zufolge man von Rezession erst nach zwei Halbjahren rückläufigen Wachstums sprechen kann. An dieser Stelle sei hier nur nebenbei festgestellt, dass sich Japan seit Jahren auch „offiziell“, d.h. nach den Kriterien der bürgerlichen Propaganda, in einer Rezession befindet. Aber abgesehen von den Zahlentricks und den Täuschungsmanövern in der Art der Berechnung bedeutet ein „positives“ Wachstum keineswegs, dass die Wirtschaft sich einer guten Gesundheit erfreut. Die Zunahme der Verarmung gerade in den USA (1) unter Präsident Clinton trotz „außergewöhnlicher“ Wachstumsraten belegt dies.

Schlimmer als 1929

Die Medien, die bürgerlichen Politiker und die Ökonomen führen stets die Weltwirtschaftskrise von 1929 als Nonplusultra einer katastrophalen Wirtschaftskrise an und behaupten, dass heute die Wirtschaft dagegen floriere. Die Erfahrung von 1929 widerlegt diese Behauptung: „Im Leben der meisten Menschen waren die zentralen Erfahrungen mit der Wirtschaft sicherlich von großen Krisen geprägt, wie der von 1929-33, aber das Wirtschaftswachstum kam während all dieser Jahrzehnte nicht zum Erliegen. Es verlangsamte sich nur. Im größten und reichsten Land, den USA, überstieg das durchschnittliche Wachstum des BSP pro Kopf nicht einen bescheidenen Satz von 0,8%. Gleichzeitig stieg die weltweite Industrieproduktion um mehr als 80%, d.h. ungefähr die Hälfte des Wachstums des letzten [19.] Vierteljahrhunderts“. (W. W. Rostow, 1978, S. 662) [...] „Wenn ein Marsmensch die Wachstumskurven aus der Ferne beobachtet hätte, wären ihm die Auf- und Abschwünge auf der Erde nicht aufgefallen, unter deren Folgen die Menschen zu leiden hatten, und er hätte daraus zweifellos die Schlussfolgerung gezogen, dass es eine fortgesetzte Expansion der Weltwirtschaft gegeben hat.“ (E.J. Hobsbawn, Das Zeitalter der Extreme)

Unsere Ökonomen und Regierungen sind keine Marsmenschen, sondern Repräsentanten und Verteidiger der kapitalistischen Ordnung. Kraft ihrer Funktion mühen sie sich ab, die Wirklichkeit der Wirtschaftskrise zu vertuschen. Nur selten und zumeist in vertraulichen Insiderschriften räumt man die Tatsachen ein, die unsere Aussage bekräftigen: „Jedoch reichen die Wachstumsraten weiterhin nicht aus, um die Verarmung zurückzudrängen und der Bevölkerung Wohlstand zu bringen“, schätzt The Economist die Lage in Lateinamerika ein (Courrier International, „Le Monde en 2001“). Dies trifft auch auf die restliche Weltbevölkerung zu. Und welch dramatische Zuspitzung der Verarmung wird man erst erwarten können, wenn die Prognosen Fred Hickeys, die vom Wall Street Journal zitiert werden, zutreffen: „Es ist sicher, dass wir in eine Rezession schlittern.“ (Le Monde, 17.3.2001)!

Nach dem Absturz der Börsen seit Jahresbeginn kann man kaum noch behaupten können, dass in der Welt der Börsen und der mit dem Internet verbundenen „Neuen Ökonomie“ alles in Ordnung ist. „Seit dem historischen Höchststand von 5132 Punkten am 10. März 2000 sind die Technologiewerte um nahezu 65% gefallen. Ein trauriger Jahrestag, da sich in der gleichen Zeit nahezu 4.500 Mrd. Dollar an der amerikanischen Börse in Luft aufgelöst haben.“ (Le Monde, ebenda)

Neben den mit der Internet-Wirtschaft verbundenen Technologiebörsen sind auch alle anderen Börsen vom Kursverfall der Aktien erfasst worden. Dennoch scheint im Gegensatz zu den Börsenkrisen der 80er und 90er Jahre in Amerika, Asien und Russland der aktuelle Kursverfall noch unter Kontrolle zu sein, obwohl es sich hier faktisch um einen großen Krach handelt. Eine große Unbekannte steht weiterhin im Raum: die Lage in Japan, dessen Finanz- und Bankensystem vor allem durch faule Kredite am Rande der Zahlungsunfähigkeit steht: „Der Absturz des japanischen Bankensystems bedroht die ganze Welt.“ (Le Monde, 27.03.2001) Falls Japan seine Anlagen in den USA zurückziehen sollte, wäre die gesamte Kreditpolitik der USA durch den daraus entstehenden Dominoeffekt bedroht. „Wenn die ausländischen Investoren das  notwendige Kapital nicht zur Verfügung stellen wollen, könnte es zu schwerwiegenden Auswirkungen auf das Wachstum, die Aktien und den Dollarkurs kommen.“ (The Economist, Courrier International, „Die Welt im Jahr 2001“) Zudem ist die Sparquote in den US-Haushalten nahezu gleich Null, und die Verschuldung der Haushalte und Firmen zu Spekulationszwecken hat alle bisherigen Rekorde gebrochen. Wir haben bereits mehrfach aufgezeigt, dass die Weltwirtschaft auf einem Schuldenberg fußt, der nie getilgt werden wird. Zwar ist es kurzfristig gelungen, die Rückzahlung der Schulden eine Zeitlang aufzuschieben und durch Umschuldungen besonders in den „Schwellenländern“ Zeit herauszuschlagen, doch auf Dauer wird dies die Wirtschaftskrise noch verstärken. Die US-Wirtschaft, die größte in der Welt, ist gleichzeitig auch am stärksten verschuldet; ihr Wachstum basierte einzig und allein auf Pump, d.h. auf einem „gewaltigen Handelsdefizit und einer massiven Auslandsverschuldung (...) Zusammenfassend kann gesagt werden, braucht die US-Wirtschaft im Jahre 2001 eine intelligente Führung und vor allem eine gute Portion Glück.“ (ebenda) Zweifel sind angebracht: Wer würde gern in ein Flugzeug steigen, wenn vor dem Start ankündigt wird, dass man einen intelligenten Piloten braucht und vor allem „eine gute Portion Glück“?

Nach den vielen Finanzkrisen, die Russland, Asien und Lateinamerika mehrfach erschüttert hatten und in deren Gefolge jedes Mal die Zahlungsunfähigkeit bei der Schuldentilgung festgestellt worden war, musste nun die Türkei quasi ihre Zahlungsunfähigkeit eingestehen und zum Bittgang beim IWF antreten. Da die Türkei nicht in der Lage war, fristgemäß zum 23. März drei Milliarden Dollar zurückzuzahlen, wurde ihr vom IWF ein Kredit von sechs Milliarden Dollar gewährt, der an die Bedingung geknüpft war, drastische Sparmaßnahmen gegen die Bevölkerung zu ergreifen. Und auch der freie Fall der argentinischen Wirtschaft beschleunigt sich. Im vergangenen Winter musste „eine außergewöhnlichen Finanzhilfe von 39,7 Mrd. Dollar gewährt werden, um damit vor allem eine Zahlungsunfähigkeit gegenüber der großen Auslandsverschuldung (122 Mrd. Dollar, d.h. 42% ihres BSP) zu vermeiden.” (Le Monde, 20. 3.2001) Isoliert betrachtet, mögen diese lokalen Krisen nur die Fragilität dieser Länder zum Ausdruck bringen. Doch in Wirklichkeit spiegeln sie die Zerbrechlichkeit der Weltwirtschaft wider, denn jede dieser seit der Lateinamerika-Krise 1982 zunehmenden Turbulenzen, in denen die „Schwellenländer“ ihre Schulden nicht mehr zurückzahlen können, bedroht unmittelbar das gesamte internationale Finanzsystem. Daher die überstürzten Interventionen der Regierungen der Großmächte und des IWF durch neue, noch umfangreichere „Hilfspakete“.

Unter diesen Bedingungen geht es für die Bourgeoisie seit Jahren nur noch darum, den unvermeidbaren Absturz der US-Wirtschaft zu kontrollieren. „Der Nachfrageüberhang im Verhältnis zum Angebot symbolisiert in den USA die Kehrseite der Medaille dieses Wunders (des amerikanischen Wachstums). Dies ist auch eine Gefahr, denn es ist verbunden mit einem gewaltigen Handelsdefizit und einer enormen Auslandsverschuldung. Wenn das Handelsdefizit und die Verschuldung weiter zunehmen, wäre ein Zusammenbruch unvermeidbar. Aber das wird nicht der Fall sein. Wenn das US-Wachstum 2001 wieder bescheidenere Ausmaße annimmt, d.h. nicht mehr außergewöhnliche, sondern nur noch beeindruckende, wird das Außenhandels- und Zahlungsbilanzdefizit zurückgehen.“ (The Economist, Courrier International, „Die Welt im Jahre 2001“) Der oben zitierte Journalist setzte auf das Glück. Der hier zitierte setzt in seinem Artikel „Das goldene Zeitalter der Weltwirtschaft“ auf Wunder. An vorderster Stelle steht für die verschiedenen Teile der Weltbourgeoisie, ungeachtet ihrer entgegengesetzten imperialistischen, politischen und Handelsinteressen, die Sorge um eine „weiche Landung“ der US-Wirtschaft. D.h. eine Landung ohne allzu große Erschütterungen, die der ganzen Welt und insbesondere der internationalen Arbeiterklasse die dramatische Wirklichkeit, den irreversiblen Bankrott der kapitalistischen Produktionsweise, offenbaren würde. Die Bevölkerung auf der ganzen Welt, einschließlich der Industriestaaten Europas und Nordamerikas, kann von diesem System nur eine Zunahme der Verarmung und des Elends erwarten, die ohnehin schon ungeheure Ausmaße erreicht haben.

Die „Agrarkrise“  - Krise des Kapitalismus

Infolge der landwirtschaftlichen Überproduktionskrise werden in den Industrieländern Tausende von kleineren und mittleren Bauernhöfen in Konkurs gehen; der Konzentrationsprozess in diesem Wirtschaftszweig wird sich weiter zuspitzen. BSE und Maul- und Klauenseuche sind keine Naturkatastrophen, sondern gesellschaftliche Katastrophen, d.h. verbunden mit der kapitalistischen Produktionsweise und durch sie verursacht. Sie sind das Ergebnis einer Verschärfung der wirtschaftlichen Konkurrenz und eines Strebens nach Produktivitätserhöhung. Kurzum, sie sind ein Ausdruck der weltweiten landwirtschaftlichen Überproduktionskrise. Und auch die „Lösungen“ der bürgerlichen Krisenmanager zeigen, wie im Fall der Maul- und Klauenseuche, die ganze Perversität dieses System. Während ein Großteil der Weltbevölkerung hungert, werden die Tiere massenhaft geschlachtet und verscharrt, und das, obwohl eine Impfung völlig ausreichend wäre. „Die Agrarkrise unterstreicht erneut, in welchem Maße der Hunger im Süden verbunden ist mit der Überproduktion im Norden.“ (Sylvie Brunel, „Gegen den Hunger kämpfen“, Le Monde, 10.03.2001) Diese Krise wird auch die Bauern in der Peripherie des Kapitalismus, d.h. einen großen Teil der Weltbevölkerung, erfassen. „Für die Dritte Welt zeichnet sich eine andere verheerende Folge des Zusammenbruchs des Fleischmarktes  ab: die Weizenüberproduktion.“ (ebenda) Deutlicher ließe sich der Wahnsinn des kapitalistischen Systems und der absurden Folgen, die sich aus seinem Weiterbestehen ergeben, nicht zeigen. „Denn das Problem der weltweiten Ernährung liegt nicht bei der Nahrungsmittelproduktion, die weltweit völlig ausreicht, sondern in der Verteilung: diejenigen, die an Unterernährung leiden, sind zu arm, um die Lebensmittel zu kaufen, um sich zu ernähren.“ (ebenda) (2) Der Kapitalismus kann sich einfach nicht den „Luxus“ erlauben, diese Tiere, statt sie zu schlachten, den Hungernden der Welt kostenlos zu überlassen - die Preise würden ins Bodenlose abstürzen.

Solange der Kapitalismus nicht überwunden ist und seine ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, insbesondere das Wertgesetz, fortbestehen, ist es eine philanthropische Utopie zu fordern, gesunde Tiere zu verschenken, die aufgrund der Überproduktion abgeschlachtet werden sollen. Dies trifft auf die gesamte Überschussproduktion in der Landwirtschaft wie in allen anderen kapitalistischen Wirtschaftsbereichen zu. Daher liegen unzählige Felder in den Industriestaaten brach und stapeln sich Tonnen unverkäuflicher Butter und Milch. Nur eine Gesellschaft, in der das Wertgesetz, die Lohnarbeit und die Existenz gesellschaftlicher Klassen aus der Welt geschafft sind, kann dieses Dilemma lösen, weil sie dazu in der Lage sein wird, den Bedürfnissen der Menschen und nicht denen des Profits gerecht zu werden.

Doch nicht nur die in der Landwirtschaft tätige Bevölkerung – ob sie über einen kleinen Landbesitz verfügt, Land pachtet oder ihre Arbeitskraft als Tagelöhner oder Landarbeiter verkauft -  ist von der Zuspitzung der Wirtschaftskrise betroffen.

Die Angriffe gegen die Arbeiterklasse

Eine Welle von Entlassungen findet derzeit in allen Wirtschaftsbranchen statt. In den USA haben Firmen aus der „Neuen Ökonomie“ wie Intel, Dell, Delphi, Nortel, Cisco, Lucent, Xerox und Compaq, aber auch Firmen aus der traditionellen Wirtschaft wie General Motors und Coca-Cola Zehntausende von Entlassungen angekündigt.  Desgleichen in Europa, wo die Zahl von Werksschließungen horrend zugenommen hat, wie beispielsweise bei Marks & Spencer, Danone und in der Rüstungsindustrie bei EADS sowie bei den französischen Giat Industries (die den Leclerq-Panzer herstellen), während gleichzeitig der Personalabbau in den großen Firmen und im Öffentlichen Dienst vorangetrieben wird.

In den Industriestaaten, wo die nationalen Bourgeoisien sich des Potenzials und der Gefahren bewusst sind,  die aus dem Widerstand einer zahlenmäßig stark konzentrierten und historisch erfahrenen Arbeiterklasse entstehen können, geht die herrschende Klasse bei diesen Angriffen politisch äußerst vorsichtig vor. Dort jedoch, wo die Arbeiterklasse jünger, unerfahrener und zerstreuter ist, sind die Angriffe weitaus brutaler. So liegt es auf der Hand, dass die Angriffe gegen die Arbeiter in Argentinien und besondere in der Türkei – um nur zwei Beispiele zu erwähnen – noch zunehmen werden.

Diese massiven Angriffe in allen Ländern und in allen Wirtschaftsbereichen entlarven die Behauptung, dass die „Wirtschaft floriert“, als eine Lüge. Vor allem die stets wiederholte Behauptung, dass Entlassung nur Ausnahmen, Einzelfälle seien, ginge es doch dem Rest der Wirtschaft gut, läuft zunehmend ins Leere. Die ganze Arbeiterklasse ist betroffen; in allen Branchen rollt die Entlassungswelle, werden die Löhne gekürzt, nimmt die Unsicherheit zu, werden die Arbeitszeiten und -rhythmen erhöht, kurz: verschlechtern sich die Arbeits- und Lebensbedingungen.

Der alte Bush und mit ihm die Funktionsträger der verschiedenen Staaten und Regierungen, Politiker, Ideologen, Journalisten, Intellektuellen – sie alle sprachen vom Wohlstand. Dabei herausgekommen ist einzig und allein noch allgemeinere Armut, und das Ende der Fahnenstange ist noch lange nicht erreicht.

Die Menschheit ist mit einer historischen Blockade konfrontiert. Einerseits hat der Kapitalismus nichts anderes mehr anzubieten als eine allgemeine Krise, lokale Kriege, Massenverelendung und eine wachsende Barbarei, ist jedoch nicht in der Lage, seine einzig reelle „Lösung“, einen dritten Weltkrieg, durchzusetzen. Andererseits gelingt es der einzigen gesellschaftlichen Kraft, die eine Perspektive für die Überwindung des Kapitalismus und Errichtung einer neuen Gesellschaft anbieten könnte, die internationale Arbeiterklasse, noch nicht, offen als Klasse in Erscheinung zu treten und ihre Kraft zu demonstrieren. In dieser Situation tritt die kapitalistische Gesellschaft in ein Stadium der Fäulnis. Zu den schlimmsten Gefahren für Zukunft und Überleben der Menschheit gehören neben den Kriegen, der Gewalt in den Städten auch die Zunahme der Umweltzerstörung und sonstiger Katastrophen.

Fäulnis und Wahnsinn der kapitalistischen Gesellschaft

In Folge des Rückgangs der Ozonschicht, der Verschmutzung der Meere, des Bodens, der Flüsse, der Städte und des Landes, der Manipulationen an Lebensmitteln, der Epidemien unter Menschen und Tieren (die Liste ließe sich beliebig fortsetzen) wird der Planet Erde immer unbewohnbarer; sein Gleichgewicht gerät zunehmend aus den Fugen.

Bislang erschienen die Katastrophen und die Umweltzerstörung nur als „natürliche“ Folgen der Zuspitzung der Wirtschaftskrise, der kapitalistischen Konkurrenz und der fieberhaften Jagd nach maximaler Produktivität. Heute jedoch sind die Fragen des Umweltschutzes zu einer imperialistischen Streitfrage, zu einem Schlachtfeld zwischen den Großmächten geworden. Die Aufkündigung des Kyoto-Abkommens über die Emissionen von Treibhausgasen durch die USA bot den anderen Großmächten, insbesondere den europäischen,  Gelegenheit, den USA ein unverantwortliches Verhalten vorzuwerfen. „Die Europäische Union sieht keine andere Lösung für das Klimaproblem außerhalb des Protokolls von Kyoto, und sie ist weiterhin entschlossen, dieses anzuwenden, ob mit oder ohne die USA.“ (Romano Prodi, Präsident der Europäischen Kommission, Le Monde, 6. April 2001) So wie die „humanitären Angelegenheiten“ und die „Verteidigung der Menschenrechte“ sind auch Umweltverschmutzung und andere Katastrophen zum Streitpunkt und Teil des Wettbewerbs zwischen den Staaten geworden. So wie bei der Intervention in Somalia konnte auch die „humanitäre“ Intervention in Bosnien nur schwerlich die Interessenskollisionen zwischen den Großmächten verbergen. „Humanitäre Hilfe“ erfüllt den gleichen Zweck: Bei jedem Erdbeben entflammt ein Wettbewerb zwischen den amerikanischen und europäischen Suchmannschaften auf der Suche nach Überlebenden unter den Trümmern.

Der Kapitalismus stürzt die Menschheit und den ganzen Planeten in eine tödliche Spirale von wirtschaftlichen Katastrophen, sich verschärfenden imperialistischen Interessensgegensätzen und all den daraus entstehenden Folgen für das gesamte gesellschaftliche Leben, welche ihrerseits die imperialistischen Rivalitäten und Konflikte zuspitzen und die Wirtschaftskrisen weiter beschleunigen.

Eine Zunahme der Kriege

„Dass die Menschheit gelernt hat, in einer Welt zu leben, wo Massaker, Folter, Massenflucht zu einem alltäglichen Schicksal geworden sind, das wir kaum noch wahrnehmen, ist nicht der geringste tragische Aspekt dieser Katastrophe.“ (E.J. Hobsbawn, Das Zeitalter der Extreme)

Ein Blick auf die gegenwärtige Welt jagt einem Angst und Schrecken ein. Eine Reihe von endlosen blutigen, kriegerischen Konflikten prägt das Bild. Sie haben sich auf allen Kontinenten breitgemacht: in der ehemaligen UdSSR, insbesondere in ihren ehemaligen asiatischen Republiken und im Kaukasus; im Mittleren Osten vom Irak bis Pakistan und Afghanistan; in Südostasien, natürlich im Nahen Osten, in Afrika, zum Teil in Südamerika, insbesondere in Kolumbien; auf dem Balkan. Heute stellen jene Territorien auf dem Globus, die nicht direkt von offenen oder verdeckten Kriegen in der einen oder anderen Form betroffen sind, gleichsam Inseln des „Friedens“ in einem Meer von militärischen Zusammenstößen dar.

Ende der 70er Jahre und in den 80er Jahren war der Bürgerkrieg im Libanon der klarste Ausdruck des Eintritts der kapitalistischen Welt in die Phase ihres Zerfalls. Damals wurde der Begriff „Libanisierung“ zum Synonym für jene Länder, die in Folge endloser Kriege auseinanderbrachen. Heute sind ganze Kontinente diesem Prozess der „Libanisierung“ anheim gefallen. Eine ganze Reihe afrikanischer Staaten gehört dazu (3); müßig, sie alle aufzuzählen. Die meisten von ihnen sind Opfer Libanon-ähnlicher Verhältnisse geworden. Afghanistan mit seinen mehr als 20 Jahren Krieg und Massaker ist sicherlich einer der extremsten und dramatischsten Ausdrücke (4).

Wir dürfen uns nichts vormachen: Verantwortlich dafür sind historisch wie auch aktuell an erster Stelle der Imperialismus im Allgemeinen und die Großmächte im Besonderen. Die imperialistischen Rivalitäten unter diesen Staaten haben diese Konflikte erst ausgelöst und sie immer wieder angefacht: Dies trifft auf Afghanistan zu, das 1980, zur Zeit des Kalten Krieges, von russischen Truppen besetzt worden war, und dessen islamische Guerilla erst von den USA aus der Taufe gehoben und unterstützt wurde. Das trifft ebenso auf den Balkan zu, wo auf der einen Seite Deutschland 1991 die Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens unterstützte und auf der anderen Seite Großbritannien, Frankreich, Russland, Italien, Spanien und die USA zu (womit wir nur die Hauptmächte genannt haben) intervenierten, um sich dem deutschen Bestreben entgegenzustellen. Das Gleiche gilt für Afrika. Eine Analyse der Wurzeln und des Ablaufs dieser Konflikte heute belegt die Handschrift der Großmächte und zeigt, wie diese Öl aufs Feuer dieser Konflikte gießen, selbst wenn Letztere aus ihrer Sicht keinen großen Stellenwert mehr haben, wie dies in Afrika oder Afghanistan der Fall ist.

Die direkten imperialistischen Rivalitäten zwischen den Großmächten, die in der Regel mit größerer Diskretion ausgetragen werden, haben seit der Auflösung der Blöcke 1989 und besonders in der letzten Zeit an Schärfe zugenommen. Die USA haben eine besonders aggressive Haltung gegenüber China eingenommen, wie der Vorfall um den chinesischen Abfangjäger und das US-amerikanische Spionageflugzeug am 1.April 2001 verdeutlicht, aber auch gegenüber Russland, mit der Ausweisung von 50 russischen Diplomaten Ende März 2001, und gegenüber Europa, mit der Ablehnung des Kyotoer Protokolls zu den Begrenzungen der Treibhauseffekte und dem Projekt des National Missile Defence (NMD), eine rüdere Haltung eingenommen.

George Bush senior und mit ihm die gesamte Welt sprachen vom Frieden. Aber in Wirklichkeit gab, gibt und wird es ständig Kriege geben.

Die Kriege in der Zeit des Niedergangs des Kapitalismus

Der Kapitalismus erscheint aus historischer Sicht gesehen als irrational. Er führt zur Auslöschung der Gattung Mensch, denn er respektiert keine ökonomische oder historische Rationalität mehr.

„Im kurzen 20. Jahrhundert hat man schon mehr Menschen getötet oder bewusst sterben lassen als je zuvor in der Geschichte (...). Dieses Jahrhundert hat sicherlich die mörderischsten Spuren  in der Geschichte hinterlassen – sowohl hinsichtlich des Ausmaßes, der Häufigkeit und der Länge der Kriege (und die nur während der 20er Jahre kurz unterbrochen wurden), aber auch hinsichtlich des unvergleichlichen Ausmaßes der menschlichen Katastrophen, die stattfanden, von den größten Hungersnöten der Geschichte bis zu den systematischen Völkermorden. Im Unterschied zum ‚langen 19. Jahrhundert‘, das als eine Zeit nahezu ununterbrochenen materiellen, intellektuellen und moralischen Fortschritts erschien und war, d.h. des Ausbaus der Zivilisationswerte, hat seit 1914 ein ungeheuerlicher Zerfall der Werte eingesetzt, die bislang in den entwickelten Staaten und im Bürgertum als normal angesehen wurden, und von denen man meinte, dass sie sich auf die rückständigeren Gebiete und auf die weniger gebildeten Teile der Bevölkerung ausdehnen würden.“ (E. J.Hobsbawn)

Gewiss ermöglicht uns die Geschichte des Kapitalismus, seine gegenwärtige Dynamik zu begreifen. Es gibt historische „Gründe“ für seine Irrationalität. Der Hauptgrund liegt in seinem Eintritt in die Epoche seines historischen Niedergangs, seiner Dekadenz, der mit Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte und zum 1. Weltkrieg 1914-1918 führte, welcher das Ergebnis und ein aktiver Faktor dieser Dekadenz war. Im Niedergangsstadium haben die Kriege aufgehört, Kolonial- oder nationale Kriege zu sein, d.h. sie verfolgen nicht mehr „vernünftige“ Ziele und Zwecke wie die Eroberung neuer Märkte oder die Schaffung und Etablierung neuer Nationen, die an der historischen Entwicklung teilhaben konnten. Sie sind stattdessen zu imperialistischen Kriegen geworden. Ursache derselben ist der Mangel an Märkten und die Notwendigkeit einer imperialistischen Neuaufteilung, also eines Ziels, das zum historischen Fortschritt nicht beitragen kann. Daher sind die Merkmale der imperialistischen Kriege immer barbarischer, mörderischer und zerstörerischer geworden. Seit dem Beginn der Dekadenz stehen die Kriege nicht mehr im Dienst der Wirtschaft, sondern die Wirtschaft wird den Interessen des Krieges unterworfen. Dies trifft sowohl auf Friedens- als auch auf Kriegszeiten zu. Der Zeitraum seit 1945 bestätigt dieses Phänomen.

„Im Laufe des 20. Jahrhunderts sind die Kriege immer mehr gegen die Wirtschaft, die Infrastruktur der Staaten und ihre Zivilbevölkerungen gerichtet gewesen. Seit dem 1. Weltkrieg übersteigt die Zahl der Kriegsopfer unter den Zivilisten die der Opfer unter den Soldaten in allen kriegsbeteiligten Staaten – mit Ausnahme der USA. Warum sollten unter diesen Bedingungen die führenden Mächte beider Lager den Ersten Weltkrieg als ein Nullsummenspiel betreiben, d.h. als einen Krieg, der entweder nur vollkommen verloren oder total gewonnen werden konnte? (...) In Wirklichkeit zählte als einziges Kriegsziel der totale Sieg, und der Feind hieß – wie man ihn im Zweiten Weltkrieg nannte, eine ‚bedingungslose Kapitulation‘. Das war ein absurdes und selbstzerstörerisches Ziel, das sowohl Sieger als auch Verlierer ruinierte. Die Letztgenannten wurden dadurch in die Revolution getrieben, und die Sieger in den Bankrott und die physische Erschöpfung.“ (E.J. Hobsbawn)

Diese für den imperialistischen Krieg des 20. Jahrhunderts typischen Eigenschaften sind während des 2. Weltkriegs und in allen darauffolgenden Kriegen drastisch bestätigt worden. Seit dem Zerfall der imperialistischen Blöcke um die USA und die UdSSR im Jahre 1989 ist die Gefahr eines Weltkrieges geschwunden. Doch die Auflösung der Blöcke und der Blockdisziplin hat einer Reihe von kriegerischen Konflikten Tür und Tor geöffnet, welche durch die Großmächte provoziert und genährt werden, wobei Letztere Schwierigkeiten haben, diese Konflikte unter Kontrolle zu halten, sobald sie einmal ausgelöst sind. Nach der Auflösung der imperialistischen Blöcke sind die Kriege als ein Hauptmerkmal des dekadenten Kapitalismus keinesfalls von der Bildfläche verschwunden. Ganz im Gegenteil, an Stelle der Blockdisziplin ist nun die Dynamik des „Jeder für sich“ getreten, wo jede imperialistische Macht, jeder Staat, ob groß oder klein, sein eigenes Spiel auf Kosten der anderen spielt. Der Kapitalismus ist in eine besondere Phase seines historischen Niedergangs getreten. Wir haben sie als die Epoche seines Zerfalls bezeichnet (5). Doch gleichgültig, wie man sie bezeichnet: „Man darf nicht daran zweifeln, dass Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre ein Abschnitt der Geschichte zu Ende gegangen ist und ein neues Kapitel der Geschichte begonnen hat (...) Der letzte Teil des Jahrhunderts öffnete eine neue Periode des Zerfalls, der Unsicherheiten und der Krise – und zu einem großen Teil auf der Welt wie in Afrika, der ehemaligen UdSSR, und im ehemaligen sozialistischen Teil Europas, von Katastrophen.“ (Hobsbawn).

Die Kriege in der Zerfallsphase des Kapitalismus

Die gegenwärtigen imperialistischen Spannungen können nur auf dem Hintergrund dieser historisch einzigartigen Situation verstanden werden.

„Im Zeitalter der Dekadenz des Kapitalismus sind alle Staaten imperialistisch und richten sich nach diesen Verhältnissen aus: Kriegswirtschaft, Rüstung usw. in allen Staaten. Deshalb wird die Zuspitzung der Erschütterungen der Weltwirtschaft nur die Konflikte zwischen den verschiedenen Staaten auch mehr und mehr auf militärischer Ebene verschärfen. Der Unterschied zu der jetzt zu Ende gegangenen Epoche besteht darin, dass diese Konflikte und Interessengegensätze, die zuvor von den beiden großen imperialistischen Blöcken im Griff gehalten und ausgenutzt wurden, jetzt in den Vordergrund rücken werden. Das Verschwinden des russischen imperialistischen Gendarmen und damit auch die Auflösung der Gendarmenrolle des amerikanischen Imperialismus gegenüber seinen ‚Hauptpartnern‘ von früher öffnet die Tür für das Aufbrechen einer ganzen Reihe von lokalen Rivalitäten. Diese Rivalitäten und Zusammenstöße können gegenwärtig nicht in einen Weltkrieg ausarten (selbst wenn das Proletariat nicht mehr dazu in der Lage wäre, sich dagegen zur Wehr zu setzen). Weil die vom Block aufgezwungene Disziplin nicht mehr gegeben ist, werden diese Konflikte dagegen viel häufiger und gewalttätiger werden, insbesondere in den Gebieten, wo die Arbeiterklasse am schwächsten ist.“ (Internationale Revue, Nr. 12, 10.2.1990).

Während der Balkan und der Nahe Osten seit jeher Kriegsschauplätze und ständige Konfliktherde waren und sind, hat es in den letzten Wochen eine Zunahme der interimperialistischen Spannungen zwischen den Großmächten gegeben. Die USA haben eine aggressive Haltung eingenommen. „Der Grund für das, was als eine willkürliche Brutalität in der Haltung der Bush-Administration nicht nur gegenüber Russland und China, sondern auch gegenüber Südkorea und den Europäern scheint, bleibt rätselhaft.“ (W.Pfaff, International Herald Tribune, 28.03.2001) Es wäre eine zu grobe Vereinfachung, diese neue Aggressivität nur der Person des neuen Präsidenten Bush zuzuschreiben. Sicher stellt ein Präsidentenwechsel und der Einzug einer neuen Regierungsmannschaft eine Gelegenheit für einen Politikwechsel dar. Doch die grundsätzlichen Orientierungen der US-Politik bleiben im Wesentlichen gleich. Die Politik des „starken Manns“ und des „Haltet-mich-zurück-oder-ich-richte-ein-Unheil-an“ ist nicht auf die intellektuelle Unbedarftheit der Bush-Familie zurückzuführen, wie uns die europäischen Medien und manchmal auch die amerikanischen glauben machen wollen. Es handelt sich um eine tiefer greifende Tendenz, die durch die geschichtliche Lage selbst aufgezwungen wird.

„Mit dem Verschwinden der russischen Bedrohung ist der ‚Gehorsam‘ der anderen fortgeschrittenen Länder keineswegs sichergestellt (gerade aus diesem Grunde ist der westliche Block auseinandergefallen). Um solch einen Gehorsam sicherzustellen, müssen sich die USA nunmehr systematisch auf eine militärische Offensive stützen.“ (Internationale Revue, Nr. 67, engl., franz., span., Bericht zur internationalen Situation, 9. Kongress der IKS, 1991) Seitdem ist dieses grundlegende Merkmal der US-imperialistischen Politik nicht hinfällig geworden, denn „gegenüber dem unaufhaltsamen Aufstieg des ‚Jeder für sich‘ haben die USA keine andere Wahl, als ständig eine Politik der militärischen Offensive zu betreiben.“ (Internationale Revue, Nr. 98, engl., franz., span., Bericht über die imperialistischen Konflikte, 13. Kongress der IKS, 1999)

Wachsende imperialistische Gegensätze

Diese Notwendigkeit, Stärke zu zeigen, ist um so wichtiger, da die USA auf diplomatischer Ebene auf Widerstände stoßen. Die Ausdehnung des Balkankrieges auf Mazedonien ist ein Zeichen der wachsenden US-Schwierigkeiten, die Lage in diesem Teil der Welt im Griff zu behalten. Ohne wirklichen Stützpunkt in der Region sind die USA - im Gegensatz zu England, Frankreich und Russland, die traditionell auf serbischer Seite stehen,  und Deutschland, das sich auf die Kroaten und Albaner stützt -  gezwungen, ihre Politik den jeweiligen Verhältnissen anzupassen. Es ist deshalb kein Zufall, wenn „die NATO die teilweise Rückkehr der jugoslawischen Armee in der ‚Sicherheitszone‘ um den Kosovo zulässt (...). Das Bemühen, Belgrad bei der Verhinderung eines neuen Konfliktes einzubinden, ist offensichtlich.“ (Le Monde, 10.3.2001) Wie die Verbündeten Serbiens sind die USA an der Aufrechterhaltung der Stabilität Mazedoniens interessiert, das „seit jeher als ein schwaches Glied betrachtet wurde, welches unter allen Umständen aufrechterhalten werden muss, weil sonst eine Destabilisierung in ganz Südosteuropas eintreten würde.“ (ebenda) Die einzige Macht, die aus der Ausdehnung des Krieges auf Mazedonien Nutzen zieht und die an der Aufrechterhaltung dieses Zustands interessiert ist, ist Deutschland. Mit einem unabhängigen Kroatien mitsamt der kroatischen Provinz Bosnien-Herzegowinas und einem Großalbanien, das Mazedonien und Montenegro in Stücke zerreißen würde, wären die historischen, geo-strategischen  Ziele Deutschlands – ein direkter Zugang zum Mittelmeer – erfüllt. Natürlich würde solch eine Perspektive auch den imperialistischen Appetit Griechenlands und Bulgariens, die im Augenblick im Zaum gehalten werden, auf Mazedonien wieder vergrößern. Der mazedonische Präsident irrte sich nicht, als er die wirklich Verantwortlichen für die Offensive der albanischen Guerilla nannte. Vor der US-Kehrtwende sagte er. „Sie werden heute in Mazedonien niemanden davon überzeugen, dass die Regierungen der USA und Deutschlands die Terroristenführer nicht kennen und sie nicht an ihren Aktivitäten hindern könnten, wenn sie wollten.“ (Le Monde, 20.03.2001)

Wie in Afghanistan, Afrika und anderen Regionen der Welt, die von Kriegen erschüttert werden, wird der Frieden solange nicht auf dem Balkan einkehren, wie der Kapitalismus besteht.

Das Gleiche trifft auf den Nahen Osten zu. Wie wir schon in der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift schrieben: „Der Plan, den Clinton unter allen Umständen vor dem Ende seines Mandats durchsetzen wollte, wird, wie vorauszusehen war, nur ein Stück Papier sein.“ Die neue Bush-Administration scheint sich mit dieser Unfähigkeit der USA, eine „pax americana“ durchzusetzen, zu arrangieren. Sie scheint sich damit abzufinden, dass diese Region immer ein Kriegsherd bleiben wird, jedenfalls solange, wie der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern nicht beendet worden ist. Colin Powell, der neue US-Außenminister und ehemalige Stabschef der US-Armee während des Golfkriegs, gesteht ein, dass es keine ‚magische Formel‘ gibt, zumal Israel nicht mehr zögert, eine eigenständige Politik zu betreiben - auch dies ein Zeichen für die Dominanz des „Jeder für sich“. Die Bourgeoisie Palästinas wiederum, eines Landes, dessen unterdrückte und wirtschaftlich ausgemergelte Bevölkerung im Elend lebt, kann ihre Verzweiflung nur in einem selbstmörderischen, gegen Israel gerichteten Nationalismus kundtun. Sie wird dabei von europäischen Mächten unterstützt. Insbesondere Frankreich zögert nicht, alles zu unterstützen, was gegen die US-Politik in der Region gerichtet ist.

Die Reaktion der USA auf ihre eigene Hilflosigkeit waren die mörderischen Bombenangriffe auf Bagdad kurz nach Bushs Amtseinführung. Die Botschaft war an alle gerichtet, sowohl an die arabischen Staaten als auch an die anderen imperialistischen Großmächte: Die USA werden keinen Frieden mehr erzwingen, sondern dann, wenn es notwendig ist, wenn sie meinen, dass das Fass voll ist, militärische Schläge führen.

Nicht nur wird es zwischen Israelis und Palästinensern keinen Frieden geben, sondern der mehr oder minder verdeckte Krieg droht sich auf die ganze Region auszudehnen.

Die Gesetze des Kapitalismus führen unvermeidlich zur Zuspitzung der imperialistischen Rivalitäten, zur Zunahme der kriegerischen Konflikte auf allen Kontinenten, auf dem ganzen Erdball, wie auch zur Verschärfung der Wirtschaftskrise. Der dahinsiechende Kapitalismus kann keinen „Frieden und Wohlstand“ bringen. Er wird nur noch mehr Kriege und Armut bringen. 

Welche Alternative gibt es zur kapitalistischen Barbarei?

Nur mit Hilfe der marxistischen Theorie konnte man bereits 1989, noch vor dem Ende des Ostblocks und vor dem Auseinanderbrechen der UdSSR, die Bedeutung der Ereignisse und ihre Folgen für den Kapitalismus und die internationale Arbeiterklasse begreifen und vorhersehen (7). Hierbei handelt es nicht um die Überlegenheit irgendwelcher Geistesgrößen, auch nicht um einen blinden und mechanischen Glauben an irgendeine Bibel. Der Marxismus ist hellsichtig, weil er die Theorie des internationalen Proletariats, den lebendigen Ausdruck seines revolutionären Wesens darstellt. Der Marxismus existiert, weil das Proletariat die revolutionäre Klasse ist, und deshalb kann er die historische Zukunft in groben Zügen erkennen, insbesondere die Unfähigkeit des Kapitalismus, die dramatischen Probleme zu lösen, die sein Fortbestehen der Menschheit beschert.

Die offenkundige Verschlechterung der weltwirtschaftlichen Lage, trotz der Bemühungen der Bourgeoisie, ihre Folgen abzumildern, und die heute gegen die Arbeiterklasse insbesondere in Westeuropa gerichteten brutalen Angriffe werden dazu beitragen, den Mythos von Wohlstand und verheißungsvoller Zukunft in der Arbeiterklasse zu zerstören. Schon jetzt entfaltet sich eine gewisse Kampfbereitschaft der Arbeiter, die die Gewerkschaften zu kanalisieren, einzudämmen und in Sackgassen zu lenken versuchen. Auch wenn sich diese Kampfbereitschaft noch sehr langsam entwickelt und die Reaktionen der Arbeiter auf diese Lage noch sehr schüchtern sind, tragen diese Kämpfe in sich den Keim für die Überwindung dieser alltäglichen Barbarei und des Kapitalismus. Die Überwindung des Kapitalismus ist nur möglich durch die ökonomischen Abwehrkämpfe, zu denen die Arbeiterklasse genötigt wird, und durch die Ablehnung jeglicher Beteiligung an den imperialistischen Kriegen, d.h. durch die Verteidigung des proletarischen Internationalismus. Dies erfordert ebenso die größtmögliche Entfaltung und Ausdehnung der Arbeiterkämpfe. Es ist der einzige Weg zu einer revolutionären Perspektive für die Menschheit, eine Gesellschaft ohne Kriege, ohne Armut, ohne Barbarei aufzubauen. Es gibt keine andere Lösung und keine andere Alternative.     

R.L.     7. 4. 2001

Theoretische Fragen: 

  • Imperialismus [9]

Konferenz von Den Haag

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Nur die proletarische Revolution kann die Menschheit retten

Alle internationalen Organisationen der herrschenden Klasse wie die Welthandelsorganisation (WTO), die Weltbank, die OECD oder der Internationale Währungsfonds (IWF) beteuern, dass sie alles Erdenkliche für eine „nachhaltige Entwicklung“ zugunsten der kommenden Generationen tun würden. Kaum ein Staat, der nicht seine große Sorge um die Umwelt verkündet. Kaum eine ökologisch ausgerichtete Nichtregierungsorganisation, die nicht die ganze Palette von Demonstrationen, Petitionen und Memoranden eingesetzt hat. In keiner bürgerlichen Zeitung fehlen pseudo-wissenschaftliche Artikel über die globale Erwärmung. All diese feinen Herrschaften mit ihren lauteren Beweggründen schickten ihre Vertreter vom 13. bis 25. November 2000 zur Konferenz von Den Haag, welche sich zum Ziel setzte, die Abmachungen des Protokolls von Kyoto[1] [10] umzusetzen. Nicht weniger als 2000 Delegierte aus 180 Ländern, umschwärmt von 4000 Beobachtern und Journalisten, hatten den Auftrag, ein Patentrezept auszubrüten, das der Klimaveränderung ein Ende setzen soll. Und das Resultat: nichts, nicht das Geringste! Vielmehr ist es ein erneuter Beweis, dass die herrschende Klasse all ihre Beteuerungen um das Überleben der Menschheit den Interessen des nationalen Kapitals unterordnet.

Vor zehn Jahren hat die IKS im Artikel „Ökologie: Der Kapitalismus vergiftet die Erde“ (Internationale Revue Nr. 13, deutsche Ausgabe) geschrieben, „dass das ökologische Desaster jetzt fühlbar das eigentliche Biosystem des Planeten bedroht“. Heute müssen wir feststellen, dass der Kapitalismus diese Drohung wahr gemacht hat. Während der 90er Jahre hat die Ausplünderung des Planeten an Tempo zugelegt: Waldrodungen, Bodenerosion, die Vergiftung der Luft, des Grundwassers und der Meere, die Ausplünderung der Bodenschätze und die Verbreitung chemischer und nuklearer Substanzen, die Ausrottung von Tier- und Pflanzenarten, die Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten und schlussendlich die Erhöhung der Durchschnittstemperatur auf dem ganzen Planeten (sieben der heißesten Jahre des Jahrhunderts fielen in die 90er Jahre). Die ökologischen Katastrophen werden immer komplexer, globaler und nehmen meist einen irreversiblen Charakter mit langfristigen Konsequenzen an, die kaum absehbar sind.

Nicht nur hat die Bourgeoisie ihre Unfähigkeit bewiesen, auch nur das Geringste zu tun, um diesen Irrsinn etwas zu bremsen, sie hat auch alles daran gesetzt, ihre Verantwortung dafür hinter einer Reihe von ideologischen Kulissen zu verbergen. Die Bourgeoisie muss das ökologische Elend, wenn sie es nicht mehr schlicht und einfach ignorieren kann, als etwas darstellen, das sich außerhalb der Sphäre der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse und des Klassenkampfes befindet. All die falschen Alternativen, von den staatlichen Maßnahmen bis  hin zu den Antiglobalisierungspredigten der Nichtregierungsorganisationen, verschleiern nur die einzig mögliche Perspektive der Menschheit, diesem Alptraum zu entkommen: die revolutionäre Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse durch die Arbeiterklasse.

Aus der Sicht der Revolutionäre ist klar, dass es sich dabei um die dem Kapitalismus innewohnende produktivistische Logik handelt, wie sie Marx schon im Kapital analysiert hatte: „Akkumulation um der Akkumulation, Produktion um der Produktion willen, in dieser Formel sprach die klassische Ökonomie den historischen Beruf der Bourgeoisperiode aus. Sie täuschte sich keinen Augenblick über die Geburtswehn des Reichtums, aber was nützt der Jammer über historische Notwendigkeit?“  (Marx, Das Kapital, Erster Band, Kapitel 22) Hier liegt die Logik und der grenzenlose Zynismus des Kapitalismus verborgen: Die Anhäufung von Kapital und nicht die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse ist das wirkliche Ziel der kapitalistischen Produktion. Das Schicksal des Planeten, der Menschheit und im Besonderen der Arbeiterklasse ist dabei von geringer Bedeutung. Mit der weltweiten Sättigung der Märkte, die 1914 endgültig erreicht war, trat der Kapitalismus in seine niedergehende Phase. Dies bedeutete, dass die Akkumulation von Kapital zunehmend zur Quelle von Konflikten und Erschütterungen wurde. Es geschah vor allem in dieser Periode des Kapitalismus, „dass die unbarmherzige Umweltzerstörung durch das Kapital eine andere Stufe und Qualität erreichen konnte (...) Dies ist die Epoche, die alle kapitalistischen Nationen dazu zwingt, miteinander um einen gesättigten Weltmarkt zu konkurrieren; eine Epoche der ständigen Kriegswirtschaft also, mit einem unverhältnismäßigen Wachstum der Schwerindustrie; eine Epoche, die charakterisiert ist durch eine irrationale, verschwenderische Vervielfältigung von Industriekomplexen in jeder nationalen Einheit, (...) Der Aufstieg der ‚Megastädte‘ ist sehr stark ein Phänomen der dem 2. Weltkrieg folgenden Zeit, sowie auch die Entwicklung von Landwirtschaftsformen, die ökologisch nicht weniger schädlich sind als die meisten Formen der Industrie.“ (Internationale Revue Nr. 13, deutsche Ausgabe) Diese Tendenz ist mit dem Einritt des Kapitalismus in seine letzte Phase, den Zerfall, der seit 20 Jahren dieses System auf der Stelle treten lässt, noch beschleunigt worden, da weder die Arbeiterklasse noch die Bourgeoisie ihre Antwort auf die Krise durchsetzen konnten: proletarische Revolution oder allgemeiner Krieg.

Der Kapitalismus hat Chaos und Zerstörung zur Tagesordnung gemacht. Die Auswirkungen auf die Umwelt sind katastrophal. Dies wollen wir hier veranschaulichen (anhand weniger Beispiele unter unendlich vielen) und auch die Art und Weise aufzeigen, wie die Bourgeoisie ein ideologisches Sperrfeuer gegen diejenigen richtet, die sich berechtigterweise die Frage stellen, wie dieses barbarische und sich in einer Sackgasse befindliche System gestoppt werden kann.

Der Kapitalismus zerrüttet das ökologische System...

Wegen ihres globalen Charakters und ihrer weltweiten Auswirkungen ist die Klimaveränderung von besonderer Bedeutung. Es ist kein Zufall, dass die herrschende Klasse sie zu einem Hauptthema ihrer Medienkampagne gemacht hat. Die Besserwisser mögen wohl behaupten, „bezüglich der Meteorologie und Klimawissenschaft hat der Mensch ein entschieden zu kurzes Gedächtnis“ (Le Monde, 10.9.2000), oder auf die gängigen Milleniumsängste verweisen. Doch eine solche Haltung, welche die Bourgeoisie selbst nicht in Frage stellt, klammert an sich den Status quo - eine vorherrschende Haltung, hinter der man sich gut verstecken kann. Die Arbeiterklasse kann sich diesen Luxus nicht erlauben. Es sind immer die Arbeiter und die ärmsten Schichten der Weltbevölkerung, die am stärksten von den schrecklichen Auswirkungen dieser globalen Störungen in der Biosphäre der Erde betroffen sind, die durch den kapitalistischen Zauberlehrling hervorgerufen werden.

Die IPPC (Intergovernemental Panel on Climate Change), welche für die Erstellung einer Synthese der wissenschaftlichen Arbeiten über die Klimaveränderung verantwortlich ist, fasste in ihrem „Bericht an die Entscheidungsträger“ vom 22. Oktober 2000 die grundlegendsten Tatsachen zusammen, welche eine neue Qualität in der Klimaveränderung aufzeigen: „Die Durchschnittstemperatur auf der Erdoberfläche ist seit 1860 um 0,6 Grad gestiegen (...). Neue Analysen gehen davon aus, dass das 20. Jahrhundert vermutlich die bedeutendste Erwärmung aller Jahrhunderte in den letzten tausend Jahren auf der nördlichen Hemisphäre erlebt hat (...) Die mit Schnee bedeckte Oberfläche hat seit 1960 um ca. 10% abgenommen und die Periode, in der Seen und Flüsse in der nördlichen Hemisphäre vereist sind, ist während des 20. Jahrhunderts um etwa zwei Wochen kürzer geworden. (...) die Dicke des arktischen Eises hat um 40% abgenommen (...) der Meeresspiegel ist während des 20. Jahrhunderts um 10 bis 20 cm angestiegen (...) das Tempo der Anhebung des Meeresspiegels während des 20. Jahrhunderts war ungefähr zehnmal höher als während der letzten 3000 Jahre. (...) Die Niederschläge haben im 20. Jahrhundert auf der Mehrheit der Kontinente in mittleren und hohen Breitengraden der nördlichen Hemisphäre pro Jahrzehnt um 0,5 bis 1% zugenommen. Der Regen ist in den meisten Regionen zwischen den Wendekreisen zurückgegangen.“

Dieser Qualitätssprung zeigt sich noch klarer bei der Betrachtung der sogenannten Treibhausgaskonzentrationen[2] [10], denn „seit Beginn der industriellen Ära hat die chemische Zusammensetzung des Planeten eine noch nie da gewesene Veränderung durchgemacht“ [3] [10], die der Bericht der IPCC nicht verschweigt: „Seit 1750 hat sich die atmosphärische Konzentration von Kohlendioxid verdreifacht. Die gegenwärtige Konzentration ist so hoch wie nie zuvor in den letzten 420‘000 Jahren, wenn nicht sogar in den letzten 20 Millionen Jahren. (...) Die Methankonzentration in der Atmosphäre ist seit 1750 um das 2,5-fache gestiegen und steigt weiter an.“ Tatsächlich wurden diese Veränderungen vor allem in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhundert und nicht schon seit 1750 bewirkt.

Die einfache Tatsache, dass man die Periode der Dekadenz des Kapitalismus hierbei in einem Atemzug mit Perioden von Hunderttausenden, ja, sogar Millionen von Jahren nennen muss, ist an sich schon die eindeutige Verurteilung der irrsinnigen Verantwortungslosigkeit der kapitalistischen Produktionsweise. Es ist eine unleugbare Tatsache, dass diese Veränderungen ein direktes Resultat der ungezügelten und anarchischen Funktionsweise einer Industrie und eines Transportwesens sind, die auf der Verbrennung fossiler Energie beruhen. Es ist fast überflüssig zu sagen, dass, obwohl der Kapitalismus in dieser Periode seine Produktionskapazitäten erheblich gesteigert hat, nicht die Arbeiterklasse und die Mehrheit der Weltbevölkerung ihre Früchte geerntet haben. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist die menschliche und soziale Bilanz der Dekadenz des Kapitalismus mit den Kriegen und der Armut als ihre Begleiterscheinungen noch finsterer als die “Klima“bilanz selbst und kann deshalb keineswegs als mildernder Umstand anerkannt werden.[4] [10]

Wenn der IPCC-Bericht unterstreicht, dass „die Beweise für den menschlichen Einfluss auf das globale Klima heute deutlicher sind als zur Zeit des zweiten Berichtes“ von 1995, so widerlegt dies die Behauptungen der Bourgeoisie, welche während der 90er Jahre stets versucht hat, die wissenschaftliche Diskussion zu manipulieren, indem sie falsche Fragen auf den Tisch gebracht hat. Als die Erderwärmung zum Thema wurde  (im Vergleich zu den wissenschaftlichen Studien ohnehin sehr spät), stellte die herrschende Klasse folgende Frage: Wo ist der formale Beweis dafür, dass diese Erwärmung mit der Industrie zusammenhängt und nicht mit einem natürlichen Zyklus? Es ist tatsächlich schwer, auf diese direkte Frage eine wissenschaftlich fundierte Antwort zu geben. Doch andererseits ist der o.g. qualitative Sprung in der Klimaentwicklung insofern besonders offenkundig, als er in einer Zeit stattfindet, in welcher der  Klimazyklus seit etwa 1000 Jahren und in den nächsten 5000 Jahren in Richtung relativer Vergletscherung weist (was gut erforscht ist und sehr genau belegt werden kann, da er durch astronomische Parameter wie die Veränderungen im Weltraum und die Neigung der Erdachse bestimmt wird). Doch nicht nur das, zwei andere Parameter sollten eigentlich auch in Richtung Abkühlung wirken: der Zyklus der Sonnenaktivität und die Zunahme von Partikeln in der Atmosphäre – eine Zunahme, verursacht durch die industrielle Verschmutzung (wie auch durch Vulkanausbrüche). Dies sagt wohl genug über die Scheinheiligkeit der herrschenden Klasse, die noch auf „Beweise“ wartet! Da es heute schwer ist, die kapitalistische Ursache der Erderwärmung zu verleugnen, lautet die große Frage, die sich die Medien stellen, folgendermaßen: Kann formal belegt werden, dass es einen Zusammenhang zwischen der globalen Erderwärmung und den extremen klimatischen Phänomenen der letzten Zeit gibt, wie die Wirbelstürme „Mitch“ und „Eline“, die Stürme in Frankreich, die Überschwemmungen in Venezuela, England usw.? Auch hier fällt es der Wissenschaft schwer, auf diese nicht sehr wissenschaftliche Frage zu antworten, deren einziges Ziel darin besteht, die Idee zu verbreiten, die globale Erderwärmung habe eventuell doch nicht derart schwerwiegende Konsequenzen. Offizielle Stellen wie das französische meteorologische Institut versteigen sich dabei zu köstlichen, jesuitischen Formulierungen wie: „Es ist nicht bewiesen, dass die kürzlich stattgefundenen extremen Ereignisse Zeichen einer klimatischen Veränderung sind, doch wenn dieser Klimawechsel voll wahrnehmbar wird, dann wird er zweifellos von einer Zunahme extremer Ereignisse begleitet!“

Und die bis ins Jahr 2100 zu erwartenden klimatischen Veränderungen sind, um nochmals die IPCC zu zitieren, enorm: „Der mittlere Temperaturanstieg auf der Erdoberfläche wird schätzungsweise zwischen 1,5 und 6 Grad betragen (...) einen solchen Anstieg hat es in den vergangenen zehntausend Jahren nie gegeben“; während der Anstieg der Meeresspiegel im Durchschnitt 0,47 Meter betragen wird, „was zwei bis vier Mal mehr ist als während des 20. Jahrhunderts“. Aber all diese Voraussagen berücksichtigen dabei das tatsächliche Tempo bei der Abholzung nicht (bleibt es bei dem derzeitigen Tempo, sind in 600 Jahren alle Wälder verschwunden). Die Konsequenzen dieser klimatischen Veränderungen werden schrecklich und zerstörerisch sein: Überschwemmungen und Stürme in den einen, Dürre in den anderen Regionen; Mangel an Trinkwasser, das Verschwinden von Tierarten und so weiter. Doch für Dominique Frommel, den Forschungsdirektor des INSERM, liegt „die größte Gefahr nicht dort. Sie liegt in der Abhängigkeit des Menschen von seiner Umwelt. Die Flüchtlingsströme, die menschliche Überkonzentration in den Städten, die Verringerung von Wasserreserven, die Umweltverschmutzung und die Armut haben immer (wobei jedoch der Kapitalismus mehr als jede ihm vorausgehende Gesellschaft Megastädte, Armut und Umweltverschmutzung verursacht hat!) die günstigsten Bedingungen geschaffen für die Verbreitung infektiöser Mikroorganismen. Die Reproduktions- und Infektionskapazität vieler Insekten und Nagetiere, Träger von Parasiten und Viren, ist verbunden mit der Temperatur und Feuchtigkeit des Milieus. Anders gesagt, ein Anstieg der Temperatur, wenn auch nur geringfügig, gibt der Ausbreitung von zahlreichen, Mensch und Tier krank machenden Erregern grünes Licht. Deshalb haben sich verschiedene Parasitenkrankheiten wie Malaria, Schistosomiasis und die Schlafkrankheit, sowie Vireninfektionen wie das Dengue-Fieber, verschiedene Formen von Gehirnhautentzündungen und das hämorrhagische Fieber in den letzten Jahren ausgebreitet. Entweder sind sie in Regionen wieder aufgetaucht, in denen sie zuvor verschwunden waren, oder sie betreffen nun Regionen, die bisher davon verschont geblieben sind. (...) Die Prognosen für das Jahr 2050 gehen von drei Milliarden Malariakranken aus. (...) Gleichzeitig werden sich durch das Wasser übertragene Krankheiten ausbreiten. Die Erwärmung des Süßwassers fördert die Entstehung von Bakterien. Die Erwärmung des Salzwassers – vor allem, wenn es mit menschlichen Abwässern durchsetzt ist – erlaubt dem Plankton, das den Boden für den Cholerabazillus bildet, sich in gesteigertem Masse zu vermehren. Seit 1960 in Lateinamerika praktisch verschwunden, forderte die Cholera dort zwischen 1991 und 1996 1‘368‘053 Todesopfer. Parallel dazu tauchen neue Infektionen auf oder sie beginnen ihre ökologischen Nischen zu verlassen, auf die sie bis anhin beschränkt waren. (...) Die Medizin steht der Explosion so vieler unerwarteter Krankheiten trotz ihrer Fortschritte hilflos gegenüber. Die Ansteckungsgefahr durch infektiöse Krankheiten (...) kann im 21. Jahrhundert ein neues Gesicht annehmen, vor allem durch die Ausbreitung durch von Tieren auf Menschen und umgekehrt übertragene Infektionen.“ (Manière de Voir, Nr. 50, S. 77)

…und unternimmt alles, um seine Schuld daran zu verschleiern

Angesichts dieser historischen Verantwortung besteht die Antwort der Bourgeoisie darin, einen gigantischen Medienzirkus um die Weltkonferenzen von Rio 1992, Den Haag, Kyoto und Berlin zu veranstalten, um uns weiszumachen, dass die herrschende Klasse sich endlich der Gefahren bewusst ist, die dem Planeten drohen. Dieses Täuschungsmanöver findet auf verschiedenen Ebenen statt.

Erstens beabsichtigt es, den Eindruck zu erwecken, dass die Erfüllung der Abmachungen von Kyoto einen ersten wichtigen Schritt darstellen. Doch diese Abmachungen sind nicht nur nicht erfüllt worden; selbst wenn sie es wären, hätten ihre selbst gesteckten Ziele nur lächerlich geringfügige Auswirkungen auf die globale Erwärmung. All die Nichtregierungsorganisationen und ökologischen Parteien, die an der Diskussion über die Verwirklichung des Kyoto-Protokolls teilnahmen, sind also Teil dieses Täuschungsmanövers. Nicht einmal ein Ausweichschritt ist erreicht worden, geschweige denn ein Schritt vorwärts.

Zweitens wird uns erzählt, dass die Unfähigkeit der Staaten, sich untereinander zu verständigen, an ihren verschiedenen Vorstellungen über den Weg zum gemeinsamen Ziel lägen, die den Treibhauseffekt bewirkenden Emissionen zu reduzieren. Tatsächlich jedoch weiß jeder Staat sehr wohl, was er tut, wenn er seine nationalen Interessen verteidigt und daher die Verhandlungen dazu benutzt, um Produktionsnormen durchzusetzen, die am besten zu seinem Produktionsniveau, seinen technologischen Kapazitäten, Energiequellen etc. passen. So respektieren zum Beispiel Frankreich und die USA die Abmachungen von Kyoto nicht (seit 1990 ist der Ausstoß von Kohlendioxid in den USA um 11% und in Frankreich um 6,5% gestiegen), doch wenn Präsident Chirac behauptet, dass „es vor allem an Amerika liegt, unseren Hoffnungen auf eine Reduktion der Treibhausgase Auftrieb zu geben“ (Le Monde, 20.11.2000), so heißt dies im Klartext, dem anderen im Handelskrieg einen Knüppel zwischen die Beine zu werfen. So verhält es sich auch, wenn die Europäische Union die Einrichtung eines „Überwachungssystems“ fordert, das Steuern für diejenigen einführt, die die Verschmutzungsquoten überschreiten. Ebenso gut könnte man die USA dazu auffordern, den Airbus zu finanzieren und die Produktion von Boeing einzuschränken! Für die Staaten der Dritten Welt ist es noch durchsichtiger: Die Bürde der Krise, der Schulden und des Elends führt zu einer systematischen Ausplünderung der natürlichen Bodenschätze und zu einem Laissez-faire-Verhalten gegenüber den großen westlichen Unternehmen, welche die lokale Korruption fördern. All dies ist die unvermeidliche Realität des Kapitalismus. Unter diesen Umständen läuft die Unterstützung irgendeiner Maßnahme auf Kosten anderer darauf hinaus, das Spiel eines oder mehrerer Staaten zu spielen.

Und schließlich noch ein Wort zu einer Mystifikation, die sich größter Beliebtheit unter Reformisten aller Couleur erfreut: die Idee, für einen sauberen Kapitalismus zu kämpfen, der die Umwelt respektiert, ein Kapitalismus ohne Konkurrenz - ein unvorstellbarer Kapitalismus. Dieser heilige Kreuzzug findet im Namen der Antiglobalisierung statt und ruft flehentlich die Staaten dazu auf, Gesetze gegen die bösen Multis zu erlassen, Steuern zu erheben oder anderweitig gegen sie vorzugehen. Aber genauso wie Arbeitsgesetze die kapitalistische Ausbeutung, Arbeitslosigkeit und Armut nicht aufhalten und, falls notwendig, außer Kraft gesetzt werden können, werden auch die Gesetzgebung, die Steuerschraube oder andere Maßnahmen, die das Prädikat „ökologisch“ für sich beanspruchen, nur das tun, was völlig in Einklang mit dem Kapitalismus steht und was tatsächlich die Modernisierung des Produktionsapparates fördert. Oder aber es handelt sich schlicht und einfach um eine versteckte Form von Protektionismus oder um eine Rechtfertigung arbeiterfeindlicher Maßnahmen (Begründungen zur Schließung von Betrieben, welche die Umwelt belasten, Lohnkürzungen zur Deckung der Kosten einer den Umweltnormen gerechten Produktion usw.) So gesehen, veranschaulichen die Ökosteuern („ich verschmutze, aber bezahle dafür ... ein wenig“) und der Handel mit Zertifikaten für Treibhausgas-Emissionen, der prinzipiell akzeptiert worden ist, lediglich die kapitalistische Wirklichkeit im Kampf gegen die Umweltverschmutzung und die globale Erwärmung!

Aus diesem Grund versuchen die wichtigsten Repräsentanten einer ökologischen Politik und der Nichtregierungsorganisationen, die von ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen vom Standpunkt der Rentabilität des Kapitals aus zu legitimieren, und es kommt nicht selten vor, dass sie von den Machtzentralen der Bourgeoisie als Berater herangezogen werden. Dies ist unleugbar bei den grünen Parteien, die sich an verschiedenen Regierungen beteiligen (Frankreich, Deutschland), aber auch bei Nichtregierungsorganisationen der Fall, wie dem „World Conservation Monitoring Center“, welches zum verlängerten Arm der Vereinten Nationen geworden ist und behauptet, dass „die Politik und die Maßnahmen bezüglich der Klimaveränderung im Verhältnis zur Effizienz und den Kosten stehen müssen, damit sie globale Profite zu geringst möglichen Kosten sichern können“. Ins selbe Horn bläst Le Monde Diplomatique, der Hausierer der Antiglobalisierungs-Ideologie in Frankreich (vor allem anti-amerikanisch ausgerichtet), wenn er sich daran stößt, dass „die gesellschaftlichen Gesamtkosten des Automobiltransports – Lärm, Luftverschmutzung, Verkehrschaos, Platzverbrauch und Sicherheitsrisiko – bis zu 5% des Bruttosozialproduktes ausmachen“ (Manière de Voir, Nr. 50, Seite 70). Dieser Wandel zum ökologischen Realismus kann auch die Form einer direkten Hilfe für den Staat annehmen, wie dies Greenpeace nach der Strandung des Chemietankers Ievoli-Sun an der Küste Frankreichs im November 2000 tat.

Es ist charakteristisch für all die ökologischen Bewegungen, Parteien oder Nichtregierungsorganisationen, den kapitalistischen Staat zum Garanten der Allgemeininteressen zu machen. Ihre Handlungsweise ist grundsätzlich Klassen übergreifend (da „wir ja alle betroffen sind“) und demokratisch (sie sind meisterhaft in lokaler Demokratie und beharren darauf, dass der Staat, den sie für fähig halten, sich durch solche Demonstrationen zu bewegen, durch den Druck der Bevölkerung, durch die Tat des Bürgers gezwungen werden könne, umweltfreundliche Maßnahmen zu ergreifen). Es erübrigt sich zu sagen, dass diese Art von Protest, die weder die Fundamente der kapitalistischen Produktionsweise noch die Macht der herrschenden Klasse in Frage stellt, von der Bourgeoisie vollkommen assimiliert werden kann. Und auch die Demoralisierung derer, die diesen Märchen keinen Glauben schenken, ist ein Sieg für die herrschende Klasse.

Wir haben aufgezeigt, dass es illusorisch ist zu glauben, es gäbe Mechanismen innerhalb des Kapitalismus, welche die ökologischen Katastrophen verhindern könnten[5] [10], da Letztere ein Produkt der grundlegenden Funktionsweise des Kapitalismus sind. Es sind vielmehr die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus, die ausgemerzt werden müssen, wenn wir eine Gesellschaft errichten wollen, in der die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse, die zum Antrieb der Produktion werden muss, nicht auf Kosten der Natur geht, da beide aufs engste miteinander verknüpft sind. Eine solche Gesellschaft, der Kommunismus, kann nur vom Proletariat errichtet werden, der einzigen gesellschaftlichen Kraft, die ein Bewusstsein und eine Praxis entwickeln kann, welche „die bestehende Welt revolutionieren, die vorgefundenen Dinge praktisch angreifen und verändern“ kann (Marx, Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 42).

Seit seinem Erscheinen als revolutionäre Theorie der Arbeiterklasse hat sich der Marxismus gegen die bürgerliche Ideologie gewandt, einschließlich ihrer fortgeschrittensten materialistischen Auffassungen, welche die Natur nur als ein Objekt außerhalb des Menschen betrachten und nicht als historische Natur. Die Beherrschung der Natur hat für das Proletariat nie die Ausplünderung der Natur bedeutet: „Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht – sondern dass wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und dass unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen andern Geschöpfen ihre Grenzen erkennen und richtig anwenden zu können.“ (Engels, Die Dialektik der Natur, MEW Bd. 20 S. 453)

Es gilt jedoch weiterhin, dass das Bewusstsein über den Ernst der ökologischen Lage für sich selbst nicht ein Mobilisierungsfaktor der Kämpfe ist, welche das Proletariat bis zur kommunistischen Revolution führen muss. Wie schon in der Internationalen Revue Nr. 13 erwähnt und in den letzten 10 Jahren bestätigt wurde, „erlaubt die Frage als solche dem Proletariat nicht, sich als gesonderte soziale Kraft zu bestätigen. In der Tat schafft sie einen idealen Vorwand für die Kampagnen der Bourgeoisie, bei denen die Klassenunterschiede verwischt werden (...) Die Arbeiterklasse wird nur dann fähig sein, sich mit der ökologischen Frage als Ganzes zu beschäftigen, wenn sie die politische Macht auf Weltebene erobert hat.“ Doch der Irrsinn des kapitalistischen Systems in seiner Zerfallsphase berührt die Arbeiter ganz direkt (Gesundheit, Ernährung, Wohnen usw.) und kann auf dieser Ebene künftige ökonomische Kämpfe radikalisieren.

Für alle Elemente außerhalb des Proletariats, die aufrichtig gegen das schreckliche Massaker an diesem Planeten rebellieren, besteht der einzige konstruktive Weg vorwärts für ihren Unwillen darin, Kritik an der ökologischen Ideologie zu üben, zu einem allgemeinen Verständnis der Geschichte des Klassenkampfes zu gelangen und sich dem Kampf des Proletariats in Gestalt seiner revolutionären Organisationen anzuschließen.

Die Zerstörung der Umwelt ist kein technisches Problem, sondern ein politisches: Mehr als je zuvor stellt der Kapitalismus eine tödliche Gefahr für das Überleben der Menschheit dar; mehr als je zuvor liegt die Zukunft der Menschheit in den Händen der Arbeiterklasse. Dies ist keinesfalls eine mechanistische oder abstrakte Vision. Es ist eine Notwendigkeit, deren Wurzeln in der Realität der kapitalistischen Produktionsweise liegen. Um den Knoten zwischen der kommunistischen Revolution und dem Sturz in die Barbarei zu lösen, muss sich die Arbeiterklasse beeilen. Je mehr Zeit verstreicht, desto mehr hinterlässt der beschleunigte Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft einer künftigen kommunistischen Gesellschaft ein apokalyptisches Erbe.

BT



[1] [10] Das Protokoll von Kyoto vom Dezember 1997 ist eine Liste von Prinzipien, die von den Staaten angenommen wurde, welche die Konvention der Klimakonferenz von Rio 1992 unterschrieben hatten, und die sie dazu verpflichtete, Emissionen, die zum Treibhauseffekt führen, bis zum Jahr 2010 um 5,2% zu reduzieren. 

[2] [10] Der Treibhauseffekt „ist ein Prozess, welcher Gasen, die in der Atmosphäre nicht vorherrschend sind (Wasserdampf, Kohlendioxid, Methan, Ozon), eine erhebliche Wirkung zukommen lässt: Indem sie die infrarote Strahlung daran hindern, den Planeten frei zu verlassen, halten sie genügend Sonnenwärme zurück, damit der Planet bewohnbar wird (sonst würde eine mittlere Temperatur von minus 18 Grad herrschen)“ (Hervé Le Treut, Forschungsdirektor des meteorologischen Institutes Paris, Le Monde, 7. 8. 2000)        

[3] [10] Hervé Le Treut, ebenda.

[4] [10] Vgl. den Artikel „Das barbarischste Jahrhundert der Geschichte“ in International Review Nr. 101, franz./engl./span. Ausgabe 

[5] [10] Aus Platzgründen können wir hier all die anderen Aspekte des ökologischen Desasters nicht weiter ausführen: die unkontrollierte Verödung und Abholzung der Wälder, das Verschwinden von Lebensraum für Tiere und ihr damit einhergehendes Aussterben (von heute bis zum Jahr 2010 werden 20% der bekannten Tierarten verschwunden sein, davon ein Drittel Haustiere), die permanente Vergiftung mit Dioxin, der massive Gebrauch toxischer Pestizide, der Mangel an Trinkwasser (alle acht Sekunden stirbt ein Kind wegen mangelndem oder schlechtem Wasser), die nukleare Vergiftung durch Militär- und Zivilwirtschaft, die Ausplünderung ganzer Regionen durch die Ölwirtschaft, die Auszehrung der Meeresschätze, die Folgen lokaler Kriege usw. Wie bei der globalen Erwärmung besteht auch hier die „Lösung“ der Bourgeoisie darin, die Realität zu verschleiern, während sich die Verhältnisse immer mehr zuspitzen.

Theoretische Fragen: 

  • Umwelt [11]

Korrespondenz mit Russland

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Die entscheidende Rolle der linken Fraktionen in der marxistischen Tradition

Bei jeder sich bietenden Gelegenheit haben wir das Entstehen von revolutionären Gruppen und Elementen in Osteuropa, besonders in Russland, begrüßt. Sie stehen unübersehbar in einem internationalen Zusammenhang. Auf jedem Kontinent haben proletarische politische Gruppen, welche die Tradition des Linkskommunismus vertreten, mit dieser Art von Elementen zu tun bekommen. Wir sollten dies daher als eine charakteristische, mittelfristige Tendenz der gegenwärtigen Periode betrachten. Gerade nach dem Zusammenbruch der UdSSR und ihres imperialistischen Blocks hat die Bourgeoisie triumphierend den Bankrott des Kommunismus und das Ende des Klassenkampfes verkündet. Durch diese Ereignisse verwirrt, konnte die Arbeiterklasse nicht anders, als unter den Hammerschlägen der ideologischen Kampagnen der Bourgeoisie den Rückzug antreten. Doch außerhalb konterrevolutionärer Perioden kann es eine historische Klasse nicht dabei belassen, auf Angriffe welche ihre eigene Existenz und Perspektive so tief in Frage stellen, lediglich zu reagieren. Wenn es ihr nicht gelingt, ihren wirtschaftlichen Kampf durch Ausdehnung voranzutreiben,  dann muss sie zumindest ihre politische Avantgarde stärken um sich zu verteidigen. Die isolierten Elemente, Diskussionsgruppen, Kerne und Grüppchen sollten den Grund ihrer Existenz nicht bei sich selbst oder im Zufall suchen. Sie sind ein Produkt der internationalen Arbeiterklasse. Auf ihren Schultern liegt eine schwere Verantwortung. Zunächst müssen sie den historischen Prozess anerkennen, dessen Produkt sie sind, und bis ans Äußerste für ihr Bewusstsein und ihre politische Klarheit kämpfen, ohne von der Schwere der Aufgabe erdrückt zu werden.

 In den Ländern der Peripherie der kapitalistischen Großmächte werden diese kleinen Minderheiten mit einer Unzahl von Schwierigkeiten konfrontiert: geographische Zersplitterung, Sprachprobleme, wirtschaftliche Rückständigkeit. Zu diesen materiellen Schwierigkeiten gesellen sich darüber hinaus noch die politischen, die aus der Schwäche der Arbeiterbewegung und der Abwesenheit einer robusten Tradition des revolutionären Marxismus herrühren. In Russland, dem „Land der großen Lüge“, wie Anton Ciliga es in seinem Buch Au pays du grand mensonge (1938 veröffentlicht) nannte, wo die stalinistische Konterrevolution am schlimmsten gewütet hatte, war die Zerstörung und Entstellung des kommunistischen Programms grenzenlos. Das Potenzial, das in diesen neuen revolutionären Energien steckt, kann an der Art und Weise ermessen werden, wie sie bestrebt sind, diese Schwierigkeiten zu überwinden:

- durch die Beipflichtung zum proletarischen Internationalismus, wie sie aus ihrer Denunziation des Krieges und aller imperialistischen Lager in den Kriegen in Tschetschenien und Ex-Jugoslawien ersichtlich wird;

- durch ihre Suche nach internationalen Kontakten;

- durch ihre Wiederentdeckung der politischen Strömungen, die während der 1920er Jahre als Erste im Namen des Kommunismus den Kampf gegen die Degeneration der kommunistischen Bewegung und den Aufstieg Stalins und des Opportunismus aufnahmen.

Dies war stets der Boden für die Entwicklung des revolutionären Marxismus: international, internationalistisch und einen historischen Standpunkt vertretend.

Die Abgrenzung vom Linksextremismus

Diese Herangehensweise offenbart die wahrhaft proletarische Natur dieser Gruppen, die sehr schnell mit der Notwendigkeit konfrontiert wurden, sich selbst abseits zu stellen vom heutigen Trotzkismus – der immer gute Gründe hat, die Arbeiter zur Teilnahme am imperialistischen Krieg einzuladen – und vom Maoismus, jenem waschechten Abkömmling des stalinistischen „Nationalkommunismus“. Dies ist eine Klassengrenze, die die internationalistischen Linkskommunisten vom „Linksextremismus“ trennt [1] [12].

Offensichtlich sind all diese aus derselben Situation hervorgegangenen proletarischen Elemente sehr heterogen. Sich der Identifizierung des Stalinismus mit dem Kommunismus zu verweigern, die empörendsten Erklärungen der feindlichen Propaganda zu denunzieren ist nicht die schwierigste aller Übungen, denn ihre bürgerliche Natur wird schnell offenbar. „Es war Lenin, der das Fundament für das Regime legte, das später ‚stalinistisch‘ genannt wurde.“ Für die wenig scharfsinnigen Journalisten ist dies dadurch bewiesen, „dass Lenin der Gründer der Kommunistischen Internationale war, deren Ziel die ‚kommunistische Weltrevolution‘ war. Aufgrund seiner eigenen Überzeugung unternahm Lenin die Oktoberrevolution nur, weil er von der Unvermeidbarkeit einer europäischen Revolution überzeugt war, die in Deutschland beginnen sollte.“ (aus: L’Histoire, Nr. 250, S. 19) Man muss sich der Lügen bewusst sein, die verbreitet werden von der nationalen Beengtheit unserer ausgekochten Universitäten. Doch die Offensive der Bourgeoisie beschränkt sich nicht auf diese Karikatur. Wir müssen uns auch weiterhin mit der grundsätzlichen Bedeutung der Russischen Revolution und des Werkes Lenins identifizieren und sie verteidigen. Denn hier stoßen wir nicht nur auf eine subtile Degradierung der marxistischen Theorie durch den Linksextremismus, sondern auch auf eine Reihe von gefährlichen Konfusionen oder programmatischen Streitpunkten, die das Objekt einer harten Diskussion innerhalb der politischen Bewegung des Proletariats bleiben.

Es gilt also einen ganzen Klärungsprozess durchzuführen, den all diese Elemente nicht notwendigerweise in ihren Schlussfolgerungen berücksichtigt haben. Um den Stalinismus zu begreifen, ist es notwendig, der trotzkistischen Theorie eines „degenerierten Arbeiterstaates“, der anarchistischen Auffassung, dass er nichts anderes sei als das unvermeidliche Produkt eines „autoritären Sozialismus“, und dem vollkommen mechanistischen Marxismus der Rätisten, die den Bolschewismus als ein auf die Bedürfnisse des Kapitalismus in Russland zugeschnittenes Instrument betrachten, entgegentreten. Hinter diesen Fragen verbirgt sich das Problem des historischen Niedergangs des kommunistischen Programms und seiner Kohärenz. Die Ablehnung aktivistischer Ungeduld und die Konfrontation mit diesem Problem ist eine Bedingung für den Eintritt in die Reihen jener anonymen Militanten, die heute den Kampf für denselben Kommunismus fortsetzen, der von Marx‘ und Engels im Kommunistischen Manifest vor 150 Jahren dem Proletariat vorgestellt wurde.

Doch wo ist der Faden, der den proletarischen Kampf von Gestern, Heute und Morgen miteinander verknüpft? Um ihn aufzunehmen, müssen wir stets von der letzten revolutionären Erfahrung des Proletariats ausgehen. Heute heißt dies, mit der Revolution vom Oktober 1917 zu beginnen. Es geht dabei nicht um eine religiöse Huldigung der Vergangenheit, sondern um eine kritische Bewertung der Revolution, ihrer großartigen Schritte nach vorn, aber auch ihrer Irrtümer und Niederlagen. Die Russische Revolution selbst wäre unmöglich gewesen ohne die Lehren aus der Pariser Kommune. Ohne die kritische Bilanz der Kommune, die in den Adressen an den Generalrat der Internationalen Arbeiter Assoziation IAA gezogen worden war, und Lenins vorzüglicher Synthese in Staat und Revolution wäre dem russischen Proletariat kein Erfolg beschieden gewesen. Hier liegt die tiefe Einheit zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem kommunistischen Programm und der Tat. Und es waren die linkskommunistischen Fraktionen, welche die schwere Arbeit einer Bilanz der Russischen Revolution auf sich nahmen. Eine Bilanz, die bis in ihr kleinstes Teil lebenswichtig für die nächste Revolution ist, so wie dies auch in der Vergangenheit der Fall war.

Daher begrüßen wir aufs Wärmste die Bemühungen, die auf die Wiederaneignung dieser Bilanz ausgerichtet sind, und unterstützen sie mit all unserer Kraft. Was uns angeht, so haben wir nicht nur versucht, diesen Genossen all die Dokumente zur Verfügung zu stellen, die sie benötigen, sondern auch ihre wichtigsten Positionen bekannt zu machen, sofern es die Übersetzungsprobleme zuließen, und in militantem Geist an den Kontroversen über die wichtigsten politischen Fragen teilzunehmen, mit jener Offenheit und Solidarität, welche die Diskussion unter Kommunisten auszeichnen.

In der Internationalen Revue Nr. 92 und 101 (engl., franz., span.) sowie in unserer territorialen Presse haben wir bereits die Entwicklung des proletarisch-politischen Milieus in Russland berücksichtigt. In diesem Artikel beabsichtigen wir, unsere Korrespondenz mit dem Südlichen Büro (SB) der Marxistischen Arbeitspartei (MLP) zu veröffentlichen. Die MLP sieht sich selbst in der Kontinuität der Arbeiterbewegung, und in diesem Sinn bezieht sich der Begriff „Arbeit“ direkt auf die Russische Sozialdemokratische Arbeitspartei (RSDLP) während des Übergangs vom 19. ins 20. Jahrhundert. Die Genossen führen diese Korrespondenz mit uns im Namen des Südlichen Büros, da sie die MLP insgesamt aufgrund der Tatsache, dass die Diskussion innerhalb der MLP noch im Gange ist, nicht in sämtliche Details ihrer Positionen einweihen können. Doch wir wollen die Genossen zunächst vorstellen, sie selbst und ihre politischen Kämpfe seit ihrem ersten Kongress im März 1990, der den Anstoß zur Bildung der „MLP – der Partei der Diktatur des Proletariats“ gab[2] [12].

„Allseits gute Stimmung herrschte bei der Gründung einer neuen kommunistischen Partei, die sich deutlich von Gorbatschows KPdSU unterschied, welche zu der Zeit in der UdSSR noch existierte. Doch das ideologische Make-up der Teilnehmer auf diesem ersten Kongress war so mannigfaltig wie instabil, und eine erste Spaltung fand statt, mit einer kleinen Gruppe von zwölf Leuten (die meinten, dass Russland ein ‚Feudalstaat‘ mit einer großräumig entwickelten Industrie sei und dass die UdSSR daher eine bürgerliche Revolution zu durchlaufen habe, ehe sie zur sozialistischen Revolution gelangt); unmittelbar nach der Spaltung trafen sie sich in einem Nebenraum und stellten ein Komitee für die Bildung einer ‚demokratischen (marxistischen) Arbeitspartei‘ auf. Doch zu mehr reichte es nicht, und so lösten sie sich wieder auf.“ (Brief vom 10.Juli 1999)

 „Es gab keinen Trotzkisten auf diesem ersten Kongress, aber es verblieben dafür ein paar Stalinisten und Anhänger der Idee des ‚Industriefeudalismus‘, die, anders als die Spalter, nicht meinten, dass eine bürgerliche Revolution nötig sei. Nichtsdestotrotz vereinten sich alle Teilnehmer um die Parole: ‚Die Arbeiterklasse muss sich selbst organisieren‘ und ‚Die Macht der Sowjets ist die Arbeitermacht‘. Auch der zweite Kongress fand im September 1990 in Moskau statt. Er nahm mehrere Texte über die Partei einschließlich des Programms an. Die Idee der staatskapitalistischen Natur der UdSSR wurde übernommen. Fast überflüssig zu sagen, dass die verbliebenen Vertreter des ‚industriellen Feudalismus in der UdSSR‘ die Partei während dieses Kongresses verließen und ihre eigene ‚Partei der Diktatur des Proletariats (Bolschewiki)‘ gründeten. Die Stalinisten, von denen es nur wenige gab, verließen ebenfalls die Partei.“ (ebenda)

 „Die erste Konferenz der MLP im Februar 1991 entfernte den Begriff ‚Die Partei der proletarischen Diktatur' aus dem Namen der Gruppe. 1994/95 bildete sich innerhalb der Partei eine kleine Fraktion, die meinte, dass die Produktionsweise in der UdSSR neo-asiatisch sei. Früh im Januar 1996 spaltete sich diese Fraktion ab und trat den (argentinischen) morenistischen Trotzkisten der Internationalen Arbeiterpartei bei, die ziemlich aktiv in Russland und in der Ukraine sind.“ (ebenda)

 „Das auf dem Zweiten Kongress angenommene Programm enthielt im Besonderen die folgenden Grundprinzipien:

- Die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats für den Übergang zum Kommunismus (Sozialismus) und die Notwendigkeit dieses Übergangs selbst;

- genauer, die Diktatur der städtischen Arbeiterklasse ist notwendig, nicht die der Partei der proletarischen Diktatur oder jene ‚aller Arbeiter‘, noch weniger ‚aller Menschen‘;

- der Ruin der russischen Partei des Proletariats in den 1920er Jahren und die Notwendigkeit ihrer Wiedererschaffung heute;

- die Erkenntnis, dass die ‚Diktatur der Klasse‘ und die ‚Diktatur der Partei‘ als Vorhut der Klasse nicht ein und dieselbe Sache sind.“ (ebenda)

Und die Genossen sagten schlussendlich, „obwohl das Programm von 1990 keine Kritik der Theorie vom ‚Sozialismus in einem Land‘ oder der Notwendigkeit einer Weltrevolution enthielt, waren diese Ideen ein Allgemeinplatz und galten als selbstverständlich.“ (ebenda)

Wir sehen, wie bitter der Kampf in Russland war, wie lebenswichtig es ist, mit den ehemaligen Stalinisten zu brechen, die sich selbst immer noch für Revolutionäre halten. Wir sehen auch den Druck, der von einem ganzen Arsenal trotzkistischer Sekten ausgeübt wird, wobei jede versucht, ihr eigenes, selbst patentiertes revolutionäres Rezept zu verkaufen. 1980 beeilten sich die westlichen Gewerkschaften (CFDT in Frankreich, AFL-CIO in den USA), logistische Unterstützung für Solidarnosc gegen den Kampf der polnischen Arbeiter zu leisten. Heute sind es die Trotzkisten, die mit ihren guten Ratschlägen und ihrem Beistand gen Osten eilen, um die Wiedergeburt eines politischen Milieus des Proletariats zu verhindern. Im Moment betrifft diese Wiedergeburt lediglich eine kleine Minderheit, die sich vielfachen Ausdrücken der herrschenden Ideologie ausgesetzt sieht, welche, im wahrsten Sinn des Wortes, allgegenwärtig ist.

Die Frage des historischen Erbes

In ihren Briefen vom 15. März und 20. März 2000 bezogen die Genossen Stellung zu unserer Polemik mit dem IBRP über den Klassenkampf in den Ländern der kapitalistischen Peripherie, veröffentlicht in der Internationalen Revue Nr. 100 (engl., franz., span.); doch vor allem entwickelten sie eine Reihe von offiziellen Positionen des Südlichen Büros der MLP.

Der Autor der beiden Briefe schrieb ausdrücklich: „Die anderen Mitglieder des SB der MLP stimmen den Hauptpositionen dieses Kommentars zu. Ihr könnt daher die obigen Positionen als die unseren ansehen.“ (20. März)

Wir müssen zunächst erwähnen, dass die Genossen durch die Polemik zwischen der IKS und dem IBRP etwas verwirrt waren, einfach, weil sie noch nicht die Möglichkeit hatten, die grundsätzlichen Positionen beider Organisationen gründlich zu prüfen. Daher hatten sie einige Schwierigkeiten, die wirklichen Unstimmigkeiten zu identifizieren, und sahen in ihnen einen bloßen Zank, in dem mehr Wert auf den einen Aspekt der Realität als auf dem anderen gelegt würde, „auch wenn beide oft zwei Seiten derselben dialektischen Einheit sind“, wie sie sagen. Im Endeffekt „habt ihr beide Recht“, ganz wie man die Sache betrachtet. Wir denken, dass Erfahrung und Diskussion ihnen erlauben werden, einen klareren Blick dafür zu bekommen, was das proletarische Lager an Gemeinsamkeiten hat und wo die Unstimmigkeiten liegen. Die Genossen schreiben: „Wir denken, dass die Schwäche der Linkskommunisten in Westeuropa diese ist: Statt erfolgreich als Gleiche unter Gleichen miteinander zu kooperieren, ignoriert ihr euch entweder oder ‚entblößt‘ die anderen, indem ihr ‚die Bettdecke auf eure Seite des Bettes zieht‘, wie man in Russland sagt (...) Für uns, dem SB der MLP, sollten alle Linkskommunisten, die ‚Staatskapis‘ (d.h. jene, die die staatskapitalistische Natur der UdSSR anerkennen), wie wissenschaftliche Mitarbeiter im gleichen Forschungsinstitut zusammenarbeiten!“ (15. März)

Wir fürchten uns nicht vor Ironie, die alle großen Revolutionäre gepflegt hatten. Dennoch ist es unser Anliegen bei der Vorstellung der wahren Positionen unserer Widersacher, aufzuzeigen, wohin sie führen, und unerschütterlich zu verteidigen, was wir als unantastbare Prinzipien des Marxismus betrachten. Unser Angriff richtet sich nicht gegen eine besondere Person oder Gruppe, sondern gegen opportunistische Herangehensweisen bzw. theoretische Irrtümer, für die wir morgen teuer bezahlen werden. Deshalb widerspricht revolutionäre Unnachgiebigkeit niemals dem Bedürfnis nach Solidarität unter Kommunisten.

Auf der Grundlage dieses ersten Eindrucks schlossen die Genossen, dass die gesamte Kommunistische Linke als historische Strömung schwach sei. Und es ist vor allem dieser Gedanke, den wir kritisieren wollen. Die Divergenzen zwischen IBRP und IKS über die Fragen des Imperialismus und der Dekadenz des Kapitalismus vor Augen, behaupten die Genossen, dass dies ein Irrtum in der Methode sei, dass es nicht eine Angelegenheit von „entweder - oder“, sondern von „sowohl - als auch“ sei. In der Tat machten sich Linkskommunisten oft diese Herangehensweise zu Eigen. Es ist offensichtlich, dass wir nicht alle Positionen der Linkskommunisten, seitdem sie aus der Kommunistischen Internationale hervorzutreten begonnen hatten, übernommen haben. Im Gegenteil, wir sind fälschlicherweise beschuldigt worden, gegen die Partei zu sein, sind als ungeduldige Aktivisten bezeichnet worden, als leichtfertige Radikale, unfähig zu Konzessionen und zum Anarchismus neigend, was letztendlich zu einem sterilen Purismus führe, der unfähig sei, die Probleme anders zu sehen als in Schwarz-Weiß-Begriffen: entweder das Eine oder das Andere. Alle führenden Mitglieder der Kommunistischen Linken waren Marxisten aus tiefstem Herzen und der Idee der Partei äußerst zugetan. Ihr Ziel war es, eben jene Partei gegen den Opportunismus zu verteidigen. Dies war die Arbeit, die anstand.

 „Genosse“, schrieb Gorter in seiner Antwort an den Genossen Lenin, „mit der Errichtung der Dritten Internationale ist auch bei uns der Opportunismus nicht gestorben. Wir sehen ihn schon in allen kommunistischen Parteien, in allen Ländern. Es würde ein Wunder sein und allen Gesetzen der Entwicklung widersprechen, wenn dasjenige, wodurch die zweite Internationale starb, nicht in der dritten fortlebte!“ Bordiga nahm denselben Gedanken auf: „Es wäre absurd, steril und extrem gefährlich, zu behaupten, dass die Partei und die Internationale auf mysteriöse Weise vor einem Rückfall in den Opportunismus oder vor jeder Tendenz gefeit ist, dahin wieder zurückzukehren!“ (Thesenentwurf der Linken, Kongress von Lyon, 1926) Dies war ein Zeichen dafür, dass es notwendig war, als eine Fraktion zu arbeiten, nicht als simple Opposition, die Trotzkis Strömung in eine Sackgasse und anschließend in den völligen Bankrott führte. Die Linke ihrerseits bewährte sich als Erbe der marxistischen Strömung in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Sie kehrte zu der Aufgabe zurück, die Lenin 1903 gegen den Opportunismus in der Zweiten Internationale begonnen hatte und die es den Bolschewiki erlaubte, 1914 beide imperialistische Lager zu bekämpfen, den Prinzipien des Kommunismus treu zu bleiben und der Partei somit zu ermöglichen, ihre Rolle im Oktoberaufstand voll wahrzunehmen. Es war eine Arbeit für die Partei, nicht gegen sie. Die Kommunistische Linke kämpfte bis zum bitteren Ende, trotz der Ausschlüsse und all der Hindernisse, die sich ihnen durch die formale Führungsdisziplin in den Weg stellten. Es war der Geist Lenins, von dem sich die Linke inspirieren ließ. 1911 systematisierte Lenin den Begriff der Fraktion, wobei er die Erfahrung nutzte, die die Bolschewiki seit der Bildung ihrer Fraktion auf der Genfer Konferenz 1904 erlangt hatten: „Eine Fraktion ist eine Organisation innerhalb der Partei, die nicht durch den Ort der Arbeit, nicht durch die Sprache oder durch andere objektive Bedingungen, sondern durch eine besondere Plattform der Auffassungen in Parteifragen zusammengehalten wird.“ (Über die neue Fraktion der Versöhnler oder der Tugendhaften, Werke Bd. 17, S. 253, Dietz Verlag Berlin) Revolutionäre Unnachgiebigkeit steht in keiner Weise im Gegensatz zum Realismus, sie allein kann wirklich die konkrete Situation erfassen. Was hätte realistischer sein können als die Ablehnung der Position Trotzkis, der 1936 die Eröffnung einer neuen revolutionären Periode erblickte, durch die Italienische Linke?

Die Fraktion steht im Mittelpunkt der Frage eines historischen Erbes. Es ist die Fraktion, welche die Verbindung zwischen der alten und der neuen Partei sicherstellt, vorausgesetzt, sie ist in der Lage, die Lehren aus den Erfahrungen der Arbeiterklasse zu ziehen und sie in eine neue Bereicherung des Programms umzusetzen. Zum Beispiel haben etliche Revolutionäre seit dem Ersten Weltkrieg bemerkt, dass sich die Rolle des bürgerlichen Parlaments völlig gewandelt hatte. Doch es waren die Linkskommunisten, die die prinzipiellen Konsequenzen daraus zogen: die Ablehnung des revolutionären Parlamentarismus und jeder Beteiligung an den Wahlen der bürgerlichen Demokratie. Es waren die italienischen Linkskommunisten, die die Rolle der Fraktion in aller Gründlichkeit ausarbeiteten.

„Die Umwandlung der Fraktion in eine Partei wird von zwei Elementen bedingt, die eng miteinander verknüpft sind:

1. Die Erarbeitung neuer politischer Positionen durch die Fraktion, um in der Lage zu sein, dem Kampf des Proletariats für die Revolution in seiner neuen, fortgeschritteneren Phase einen soliden Rahmen zu verschaffen (...)

 2. Die Überwindung der Klassenverhältnisse des gegenwärtigen Systems (...) durch den Ausbruch revolutionärer Bewegungen, die es der Fraktion ermöglichen werden, mit Blick auf den Aufstand die Führung des Kampfes in die Hand zu nehmen.“ (Bilan Nr. 1)

Die Genossen der MLP erinnern uns daran, dass gemäß dem dialektischen Materialismus die Bewegung in der Realität ein komplexes Phänomen sei, bei dem sich eine Vielzahl von Faktoren in Bewegung setzt. Doch sie vergessen dabei, dass das System von Widersprüchen, das die Realität produziert, in bestimmten Momenten eine klar umrissene Alternative eröffnet. Dann gibt es nur das eine oder das andere, entweder Sozialismus oder Barbarei, entweder proletarische Politik oder bürgerliche Politik. Das zentristische Abdriften der Führung der Internationale, angefangen mit der Parole „Zu den Massen“, liegt allein in der Suche nach Abkürzungen begründet, die ihre Klassenpolitik tiefgreifend veränderte: sowohl Räte als auch Gewerkschaften, sowohl außerparlamentarischer Kampf als auch revolutionärer Parlamentarismus, sowohl Internationalismus als auch Nationalismus... Und es war eine Katastrophe. Jede politische Erneuerung war ein Schritt tiefer in die Niederlage. Weit entfernt davon, die Parteien und kommunistischen Kerne zu stärken, bewirkten die Allianzen mit der Sozialdemokratie nichts anderes, als die Kräfte zu erdrosseln, die sich nur auf der Basis eines klaren kommunistischen Programms entwickeln konnten. Lenins Buch Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus symbolisiert diese opportunistische Wende. Er beabsichtigte zu kritisieren, was er als unvermeidliche und vergangene Fehler einer authentischen revolutionären Strömung ansah: „Natürlich ist der Fehler des linken Doktrinarismus im Kommunismus gegenwärtig tausendmal weniger gefährlich und weniger folgenschwer als der Fehler des rechten Doktrinarismus...“ Aber er endete damit, die Positionen der Linken mit jenen des Anarchismus zu vermischen, während er gleichzeitig das Prestige der Rechten aus dem Grund hebt, weil sie noch immer große Bereiche des Proletariats dominieren. Das ist Zentrismus. Und die Rechten machten ausgiebig von der Autorität, die ihnen so verliehen wurde, Gebrauch, um die Linken zu isolieren.

Lohnarbeit und Weltmarkt, zwei grundsätzliche Kennzeichen des Kapitalismus

Die Genossen schreiben: „Wir meinen, dass das 21. Jahrhundert Zeuge neuer Schlachten für nationale Unabhängigkeit sein wird. Trotz der Macht (und der Dekadenz, gemäß Euch) des Kapitalismus in den hochentwickelten Ländern kann der Kapitalismus in den rückständigen Ländern seine Entwicklung,, sein Wachstum sozusagen im eigenen Schrittmaß fortsetzen. Und dies ist keine Frage von Prinzipien, es ist die objektive Realität!“ (15. März)

Dies ist in der Tat ein wichtiger Punkt der Nichtübereinstimmung innerhalb des politischen Milieus des Proletariats. Wie die Genossen wissen, denken wir, dass Lenin falsch lag, als er Rosa Luxemburg entgegnete: „Nationale Kriege der Kolonien und Halbkolonien sind in der Epoche des Imperialismus nicht nur wahrscheinlich, sondern unvermeidlich.“ (Lenin, Ges. Werke, Bd. 22, S. 315) Doch es ist wichtig zu betonen, dass dies die Genossen nicht dazu veranlasst hat, dem proletarischen Internationalismus abzuschwören, auch wenn er unserer Auffassung nach dadurch geschwächt wird. Ihnen geht es darum zu definieren, unter welchen Bedingungen die Einheit des internationalen Proletariats stattfindet, nicht darum, sich hinter Lenin zu verstecken, um die eine oder andere imperialistische Macht zu unterstützen, wie es die Linksextremisten tun.

 „Ihr habt zweifellos bemerkt, wie wenig leninistisch wir sind. Nichtsdestotrotz denken wir, dass Lenins Position in dieser Frage die beste ist. Jede Nation (merke: Nation, nicht Nationalität oder nationale bzw. ethnische Gruppe, etc.) hat das vollständige Recht der Selbstbestimmung innerhalb des Rahmens ihres ethno-historischen Territoriums, bis hin zur Abtrennung und Schaffung eines neuen Staates (...) Was die Marxisten interessiert, ist die Frage der freien Verfügbarkeit der Selbstbestimmung des Proletariats innerhalb dieser oder jener Nation, mit anderen Worten: die Möglichkeit, über sich selbst zu bestimmen, ob die Klasse für sich bereits existiert oder nur die Möglichkeit für vor-proletarische Elemente, sich selbst innerhalb des Rahmens eines neuen bürgerlichen Nationalstaates als Klasse zu bilden. Dies ist der Fall in Tschetschenien. Tschetschenien/Ingutschetien wurde unter Sowjetmacht industrialisiert, aber mehr als 90% aller Arbeiter waren russischer Herkunft; die Tschetschenen waren Kleinbauern, Intellektuelle, Staatsfunktionäre, etc. Lasst die neue tschetschenische Bourgeoisie erst einmal das nationale tschetschenische Proletariat schaffen, lasst sie erst einmal mit der Ausbeutung ihres nationalen Proletariats, ihrer Bauernschaft, ihrer einheimischen Bevölkerung (die russischen Arbeiter werden bestimmt nicht zurückkommen, um sich von den Nationalisten enthaupten zu lassen) beginnen, und dann werden wir sehen, was aus der ‚stabilen Einheit der tschetschenischen Nation‘ werden wird! Erst dann wird die Einheit des russischen und tschetschenischen Proletariats eine objektive Möglichkeit sein, und nicht vorher." (15. März)

Doch diese Position führt zu einer Reihe von Widersprüchen, die auch nicht dadurch aufgelöst werden können, indem die Genossen einfach erklären, dass „... die Anerkennung der Objektivität des nationalen Kampfes nicht bedeutet, ihn zu rechtfertigen (übrigens: was bedeutet der Begriff ‚rechtfertigen‘?) oder gar zu einem Bündnis mit Fraktionen der nationalen Bourgeoisie aufzurufen!“ (20. März)

Das ganze Problem besteht darin zu erkennen, worin diese objektive Realität besteht, von der die Genossen sprechen. Tatsächlich entspricht sie einer vergangenen Epoche, der Epoche der Bildung von bürgerlichen Nationen gegen den Feudalismus. Haben die Genossen wirklich die nationalistische Motivation der tschetschenischen Bourgeoisie analysiert? Wenn ja, dann hätten sie sich vergegenwärtigt, dass diese nationalen Forderungen nicht mehr denselben Inhalt haben wie auf früheren Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung. Rosa Luxemburg fasst dies so zusammen: „Die französische Bourgeoisie hatte (...) das Recht, während der Großen Revolution im Namen des französischen ‚Volkes‘ als dritter Stand aufzutreten, und sogar die deutsche Bourgeoisie konnte sich bis zu einem gewissen Grade im Jahre 1848 als Repräsentant des deutschen ‚Volkes‘ verstehen (...) In beiden Fällen bedeutete dies nichts anderes, als dass die revolutionäre Sache der bürgerlichen Klasse im damaligen Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung mit derjenigen des gesamten Volkes zusammenfiel, da dieses mit der Bourgeoisie noch eine politisch einheitliche Masse gegen den herrschenden Feudalismus bildete.“ (Nationalitätenfrage und Autonomie (1908), publiziert in Internationalismus und Klassenkampf, Sammlung Luchterhand, S. 259 f.) Die Genossen sehen nicht, dass der Grad gesellschaftlicher Entwicklung nicht von der lokalen, tschetschenischen Situation bestimmt wird, sondern vom gesellschaftlichen Umfeld, von der allgemeinen Situation. Als blutiger Spielball des Imperialismus und in völliger Abhängigkeit vom Weltmarkt hat Tschetschenien schon längst alle Hauptkennzeichen einer feudalen Gesellschaft abgelegt.

Den Genossen zufolge existiert in einer gewissen Zahl von Ländern eine fortschrittliche Bourgeoisie, „da der nationale Kapitalismus weiterhin spontan aus den traditionellen Sektoren entsteht, in Einklang mit den allgemeinen Entwicklungsgesetzen der Völker in der Epoche des zweiten gesellschaftlichen Überbaus, jener des Privateigentums. Es gibt drei dieser Überbauten: den Überbau des primitiven Kommunismus (Nr. 1), dann den Überbau des Privateigentums einschließlich der Sklaverei in der Antike, des Feudalismus und Kapitalismus (Nr. 2) und schließlich den Überbau eines authentischen Kommunismus (Nr. 3). Dies ist, Marx zufolge, die Trinität (s. die Entwürfe seiner Antwort an Vera Sassulitsch, 1881). Doch es gibt ein paar Länder – und es werden derer immer weniger -, wo ein sich selbst entwickelnder nationaler Kapitalismus dominiert. Wo dies der Fall ist, kann die fortschrittliche Bourgeoisie mit der Unterstützung des Volkes (einschließlich der Arbeiter, besonders wenn sie sich in einem vor-proletarischen Zustand befinden!) an die Macht gelangen. Aber all dies ist sehr temporär, da sie immer abhängiger von der imperialistischen Weltbourgeoisie werden, wie der Fall Afghanistan uns zeigt (...) Der Kapitalismus kann mit einer Welle im ‚Meer‘ des zweiten Überbaus (s.o.) verglichen werden, ja, nicht mit einer Welle, sondern mit einem ganzen Prozess von Wellen! Der zweite Überbau (Marx nannte ihn ‚ökonomisch‘) erzeugt diese Wellen von innen! Doch die Grenzen, die Gestade dieses ‚Meeres‘ des ‚ökonomischen Überbaus‘ sind gleichzeitig die Grenzen des Kapitalismus, sie sind die Küste, an denen die Wogen des Kapitalismus ‚brechen‘.

Das wesentliche Kennzeichen dieses ‚Meeres‘ des ökonomischen gesellschaftlichen Überbaus (der zweite in der Trinität) ist das Wertgesetz. Doch der ‚Wellenprozess‘ beginnt, wird angeregt und erhält seinen Anstoß von... dem kleinen Eigentümer-Produzenten! Er war, ist und wird der aktive Mittler des Wertgesetzes über dem gesamten Umfang des ökonomischen Überbaus der Gesellschaft (des ‚zweiten‘, jenes des Privatkapitals) sein. Aus diesem Grund kann der Kapitalismus den kleinen Produzenten nicht zerstören! Und deshalb kann der Staatsmonopolismus weder vollständig noch lang andauernd sein. Die Welle wird abebben! Wenn die Linkskommunisten die Dinge von diesem Standpunkt aus analysiert hätten, so hätten sie viele Probleme vermieden, einschließlich ihrer eigenen Beziehungen! Und der Platz und die Rolle der sozialen Weltrevolution des Proletariats wären verständlicher gewesen.“ (20. März)

Wie sollen wir uns diese Perspektive einer Rückentwicklung des Staatskapitalismus, die die Genossen vertreten, erklären? Jeder Tag stärkt die Tendenz zum Wirtschaftsmanagement durch einen einzigen, kollektiven Kapitalisten, wie Engels in seinem Anti-Dühring voraussah. Überall ist es der Staat, der die Fusionen der großen multinationalen Unternehmen regelt und ihnen seine Orientierung aufzwingt. Jeder Staat, der auf eine solche Kontrolle verzichtet, würde sich sofort in einer Position der Schwäche im Handelskrieg wiederfinden. Die Position der Genossen kann zweifellos nur vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der UdSSR verstanden werden. In diesem Fall verallgemeinern die Genossen eine spezifische Situation. Die UdSSR war durch ihre ökonomische Schwäche gezeichnet, und was da zusammenbrach, war nicht der Staatskapitalismus, sondern seine krasseste Karikatur, in der die überwiegende Mehrheit der Industrie verstaatlicht war. Direktes Staatseigentum der Unternehmen ist stets ein Zeichen der Schwäche. In den entwickeltsten Ländern ist der Staatskapitalismus genauso real, aber weitaus flexibler, da der Staat nur teilweise Eigentum in einigen Gesellschaften besitzt, ansonsten sich damit zufrieden gibt, die ökonomischen Regeln festzulegen, die jedes Unternehmen befolgen muss.

Wir können durchaus nachvollziehen, warum die Genossen den Staatskapitalismus als ein vorübergehendes Phänomen darstellen, da für sie der kleine, unabhängige Produzent am besten Privateigentum und Wertgesetz symbolisiert. Es trifft zu, dass der Kapitalismus einst als eine Gesellschaft ihren Anfang nahm, die vom Privateigentum und dem Warenaustausch charakterisiert war. In der Tat ist der Kapitalismus ihre logische Folge und ihr höchster Ausdruck, solange Waren in Kapital verwandelt werden. Es ist ebenfalls wahr, dass der Kapitalismus nie imstande sein wird, den kleinen Produzenten vollständig aus der Welt zu schaffen. Doch es trifft gleichfalls zu, dass sich der kleine Produzent unter einem ständigen Wettbewerbsdruck befindet. Heute, wo die Überproduktion allgegenwärtig und permanent geworden ist, wird ein Teil der Bourgeoisie ins Kleinbürgertum gespült, und gleichzeitig werden zahllose Kleinproduzenten in den Ruin und in die Arbeitslosigkeit gestoßen, es sei denn, sie überleben mit kleinen Geschäften, die sich oft hart am Rande der Legalität befinden. Der Kleinproduzent ist nicht für den Kapitalismus charakteristisch, sondern vielmehr Überlebender aus vorkapitalistischen Gesellschaften bzw. aus der ersten Entwicklungsstufe des Kapitalismus. In der bürgerlichen Mythologie wird der Kapitalist stets als kleiner Produzent präsentiert, der dank seiner eigenen Bemühungen irgendwann zum großen Produzenten wird. Aus dem kleinen Handwerker des Mittelalters sei der Großindustrielle geworden. Die historische Realität sieht völlig anders aus. Nicht die städtischen Handwerker, sondern vielmehr die Kaufleute traten aus dem zerfallenden Feudalismus als künftige kapitalistische Klasse hervor. Mehr noch, oft befanden sich unter den ersten Proletariern, die der formellen Herrschaft des Kapitals unterworfen wurden, eben jene Handwerker. Die Genossen vergessen, dass der Kapitalist nicht in erster Linie ein Produzent ist, sondern ein Kaufmann, ein Händler. Er ist ein Kaufmann, der hauptsächlich mit der Arbeitskraft handelt.

Es hat den Anschein, als ob die Genossen dabei von einer Passage in Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus inspiriert worden sind. Lenin erklärt nämlich, dass die Macht der Bourgeoisie „nicht nur in der Stärke des internationalen Kapitals, in der Stärke und Festigkeit der internationalen Verbindungen der Bourgeoisie besteht, sondern auch in der Macht der Gewohnheit, in der Stärke der Kleinproduktion. Denn Kleinproduktion gibt es auf der Welt leider noch sehr, sehr viel; die Kleinproduktion aber erzeugt unausgesetzt, täglich, stündlich, elementar und im Massenumfang Kapitalismus und Bourgeoisie“. Erinnern wir uns an die Begleitumstände dieser Äußerung. Wir befinden uns hier im Jahr 1920, und seit 1918 hatte sich innerhalb der bolschewistischen Partei zwischen Lenin und den Linkskommunisten, die das Blatt Kommunist veröffentlichten, eine Kontroverse entwickelt. Die führende Figur der Linken, Bucharin, gesellte sich früh zur Mehrheit der Partei, nachdem er sich in der Frage des Brest-Litowsker Vertrages noch in der Minderheit befunden hatte. Doch die Gruppe selbst setzte die Kontroverse über die Frage des Staatskapitalismus fort, den Lenin als eine Etappe auf dem Weg zum Sozialismus und somit als einen Schritt vorwärts verstand. Es trifft zu, dass das siegreiche Proletariat zwar nicht mit der Wut der alten herrschenden Klasse, so doch mit der tödlichen Last riesiger bäuerlicher Massen konfrontiert war, die ihre eigenen Gründe hatten, sich jedem weiteren Fortschreiten des revolutionären Prozesses zu widersetzen. Aber diese gesellschaftlichen Schichten lasteten auf dem Proletariat vor allem in Gestalt des Staates, der in seinem natürlichen Drang zur Verteidigung des gesellschaftlichen Status quo dahin tendierte, zu einer autonomen Macht mit eigenen Gesetzen zu werden. Alle Revolutionäre wussten, dass eine Isolation fatal für die Russische Revolution wäre. Die Frage war, ob die bürgerliche Macht durch einen militärischen Sieg der weißen Armeen oder unter dem enormen Druck des Kleinbürgertums wiederhergestellt werden würde. Von diesem Standpunkt ausgehend, war die Partei nicht in der Lage, den Prozess zu erfassen, der durch die Erschaffung einer Staatsbürokratie zur Wiedergeburt der russischen Bourgeoisie führen sollte. Die Kritik der Linken enthielt etliche Schwächen (wie sollte es auch anders sein in der Hitze des Gefechts?), und Lenin hielt oftmals zu Recht den Finger drauf. Doch die Linkskommunisten demonstrierten ihre ganze Stärke, als sie die Gefahr des Staatskapitalismus enthüllten. Dieselbe Herangehensweise finden wir später bei der deutschen Linken wieder, die die Erste war, die das stalinistische Russland als staatskapitalistisch analysierte. In der oben zitierten Passage offenbart Lenin große Verwirrung über die Natur des Kapitalismus, die sich bereits in seinem Pamphlet Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus 1916 gezeigt hatte. In diesem wie auch in anderen Punkten ist es heute möglich, eine Synthese all der Beiträge der Linkskommunisten trotz ihrer Verschiedenartigkeit und mancher gegensätzlicher Positionen zu schaffen, weil sie der marxistischen Methode und den kommunistischen Prinzipien grundsätzlich treu geblieben waren. „Der Staatskapitalismus ist kein organischer Schritt zum Sozialismus. Tatsächlich stellt er die letzte Verteidigungsform des Kapitalismus gegen den Zusammenbruch des Systems und das Auftreten des Kommunismus dar. Die kommunistische Revolution ist die dialektische Negation des Staatskapitalismus.“ (Internationale Revue Nr. 99, engl., franz., span.)

Nach unserer Auffassung ist es ein Fehler, den kleinen, unabhängigen Produzenten als den Agenten des Mehrwerts darzustellen. Ganz allgemein gesprochen, wird der Kapitalismus nicht vom Kapitalisten geschaffen, sondern umgekehrt: Der Kapitalismus erzeugt die Kapitalisten. Indem wir diese Herangehensweise auf Russland anwenden, verstehen wir, warum „der Staat nicht so funktionierte wie wir angenommen hatten“, um Lenins Worte zu benutzen. Die Macht, die dem russischen Staat ihre Richtung aufzwang, war weitaus größer als die „NEP-Leute“, als Privatkapitalismus oder kleines Eigentum. Es war die ungeheure, unpersönliche Macht des Weltkapitals, die kompromisslos den Lauf der russischen Wirtschaft und des Sowjetstaates bestimmte. Wenn die Genossen Schwierigkeiten dabei haben, die grundsätzliche Natur des Kapitalismus oder des Staatskapitalismus als Ausdruck eines dekadenten Systems zu begreifen, liegt dies zweifellos auch daran, dass sie die Dinge aus einer sehr langfristigen Perspektive betrachten, so wie Marx in seinem Brief an Vera Sassulitsch, in dem er die Menschheitsgeschichte in drei Perioden unterteilte: die archaische Gesellschaftsstruktur (primitiver Kommunismus), die zweite Gesellschaftsstruktur der Klassenherrschaft und den modernen Kommunismus, der die kollektive Produktion und Aneignung auf einer höheren Ebene wiederherstellt. Für Marx waren die Beispiele primitiver Gesellschaften ein weiterer Beweis dafür, dass die Familie, das Privateigentum und der Staat der menschlichen Natur nicht immanent sind. Diese Texte sind auch eine Denunziation der fatalistischen Interpretation der ökonomischen Entwicklung und der bürgerlichen Vision eines linearen, widerspruchsfreien Prozesses. Doch wenn wir auf diesem Terrain bleiben, wird es unmöglich, präzise zu untersuchen, was am Kapitalismus so besonders ist, und vor allem zu erkennen, dass der Kapitalismus selbst eine Geschichte hat, dass er sich von einem fortschrittlichen System in eine ernsthafte Barriere in der Entwicklung der Produktivkräfte verwandelt hat. Die Fundamente solch einer Analyse wurden bereits im Kommunistischen Manifest so wie anderen Texten von Marx gelegt. Nach der Pariser Kommune und dem Ende der großen nationalen Kämpfe im 19. Jahrhundert zeigte Marx sich fähig zu erkennen, dass die Bourgeoisie in den kapitalistischen Hauptländern keine revolutionäre Rolle auf der historischen Bühne mehr spielte, auch wenn dem Kapitalismus noch ein unermessliches Expansionsfeld offen stand. Eine neue Periode, die der kolonialen Eroberungen und des Imperialismus, brach an. Diese Herangehensweise ermöglichte es dem Marxismus, die historische Entwicklung vorwegzunehmen und den Eintritt des Kapitalismus in seine Periode der Dekadenz vorherzusehen. Dies wird sehr deutlich in dieser Passage aus dem zweiten Entwurf: „Das kapitalistische System hat im Westen seinen Höhepunkt überschritten und den Punkt erreicht, wo es nichts anders mehr als ein rückläufiges soziales System wird“.

Marx‘ Überlegungen über die bäuerlichen Gemeinden Russlands sollten von gewissen Linken verunstaltet werden. Der Amerikaner Shanin zum Beispiel betrachtet sie als Beweis dafür, dass der Sozialismus durch bäuerliche Revolutionen in der Peripherie des Kapitalismus erreicht werden kann. Ohne seine Begeisterung für Ho Tschi Minh und Mao zu teilen, haben Raja Dunajewskaja und die Gruppe News and Letters dennoch dieselbe Herangehensweise praktiziert. Sie behaupten, dass der Marx der 1880er Jahre nach einem neuen revolutionären Subjekt außerhalb der Arbeiterklasse Ausschau gehalten habe. Ein Teil der Linksextremen stellt daher die Arbeiterklasse nur als ein revolutionäres Subjekt unter vielen anderen dar, als da sind: primitive Stämme, Frauen, Schwule, Schwarze, Jugendliche, die Völker der „Dritten Welt“.

Oktober 1917: Ein Produkt der Weltlage

Solche Absurditäten haben nichts gemein mit den Ideen der russischen Genossen. Doch wie wir sehen werden, führt sie ihre Behauptung, nationale Kriege seien noch möglich, zu einer originellen Analyse der Oktoberrevolution von 1917.

 „Wir unsererseits (das SB der MLP) denken, dass die Geschichte diesen Eckstein Lenins, seine Auffassung über das ‚schwächste Glied‘,  bereits widerlegt hat! Doch Achtung: sie hat auf einer sehr originellen Weise gezeigt, dass es möglich war, ‚die Kette des Imperialismus‘  zu sprengen, ja, sogar den ‚Sozialismus zu errichten‘ in jenen rückständigen Ländern (oder, wie Ihr sie nennt, den ‚zurückgebliebenen‘ Ländern, obwohl ich hier einen Unterschied machen würde: Der Aufbau des Sozialismus begann nicht nur in kapitalistisch zurückgebliebenen Ländern wie Russland z.B., sondern auch in der Mongolei, in Vietnam, etc., in Ländern also, die wirklich rückständig sind). Und wir sehen: Ja, es ist möglich, den Sozialismus in einzelnen Ländern aufzubauen und zu etablieren (mit anderen Worten: ‚den Aufbau zu beenden‘)... Aber! Dies bedeutet keineswegs, dass dies in irgendeiner Weise zum Kommunismus führt! Niemals und in keiner Weise! Warum waren, theoretisch betrachtet, die Bolschewiki in der Lage, diesen Weg einzuschlagen, warum waren sie in der Lage, sich selbst und viele andere, einschließlich der Linkskommunisten, zu täuschen? Die Ursache von all dem liegt in.... nur einem Wort (und in dieser Frage geht es nicht um meinen Subjektivismus: hinter diesem Wort verbirgt sich eine völlig unrichtige, fundamental anti-marxistische Auffassung!) – dieses Wort (diese ‚Losung‘ des Tages) ist die ‚sozialistische Revolution‘! Wo doch Marx und vor allem Engels solch ein Zerrbild des Konzeptes der ‚sozialen Revolution des Proletariats‘, der kommunistischen Weltrevolution akzeptiert hatten! Wie die ‚sozialistische Revolution‘ endet sie früher oder später im ‚Aufbau des Sozialismus‘, wobei sich dann herausstellt, dass dieser ‚Sozialismus‘, ob ‚staatlich‘, ‚marktwirtschaftlich‘ oder ‚national‘, in Wahrheit nicht mit dem Kapitalismus gebrochen hat!“ (15. März)

 „Wo dieser von Außen kommende kapitalistische Sektor existiert, spielt die progressive Bourgeoisie eine Rolle und hat einen Einfluss, der umgekehrt proportional zum Reifegrad des Sektors ist: Die Bourgeoisie des importierten kapitalistischen Sektors lastet schwer auf der progressiven nationalen Bourgeoisie und korrumpiert sie, ganz zu schweigen von der (transnationalen) imperialistischen Weltbourgeoisie. Diese beiden Sektoren waren in Russland Anfang des 20. Jahrhunderts präsent, und der russische Marxismus war Ausdruck der Beziehungen innerhalb des von Außen kommenden kapitalistischen Sektors. Doch dann entschieden sich die Bolschewiki, für alle Ausgebeuteten zu sprechen: für jene im Sektor des importierten, entwickelten Kapitalismus, für jene im Bereich des nationalen Kapitalismus (und selbst für jene im landwirtschaftlichen Sektor mit seinen überlebenden ländlichen Gemeinden). Und so wurden sie zu ‚Sozial-Jakobinern‘ und verkündeten die ‚sozialistische Revolution‘.“  (20. März)

   „Ihr befasst Euch mit dem Problem des Objektiven und Subjektiven in der proletarischen Weltrevolution, und das ist richtig. Aber warum habt Ihr nicht den leisesten Zweifel daran, dass ‚objektiv die Revolution seit dem imperialistischen Weltkrieg von 1914 möglich gewesen ist‘, etc.? Dachten nicht auch Marx und Engels zu ihrer Zeit, dass ‚die Revolution objektiv möglich war‘? Erinnert Euch an die Kategorien der Dialektik: Möglichkeit und Wirklichkeit, Notwendigkeit und Eventualität! Wie wir wissen, ist es notwendig, zwischen der abstrakten (formellen) und der praktischen (konkreten) Möglichkeit zu unterscheiden. Eine abstrakte Möglichkeit ist durch die Abwesenheit der Haupthindernisse für die im Werden begriffenen Ziele gekennzeichnet, wobei hingegen alle notwendigen Bedingungen für ihre Verwirklichung vorhanden sind. Eine praktische Möglichkeit besitzt alle Bedingungen, die für ihre Verwirklichung notwendig sind: Latent vorhanden, wird sie unter bestimmten Umständen zur neuen Wirklichkeit. Der Wandel dieser Bedingungen in ihrer Gesamtheit bestimmt den Übergang von der abstrakten zur praktischen Möglichkeit, und Letztere verwandelt sich in die Wirklichkeit. Das numerische Maß der Möglichkeit wird ausgedrückt durch den Begriff der Wahrscheinlichkeit. Die Notwendigkeit ist, wie wir wissen, die Art und Weise der Umwandlung der Möglichkeit in Wirklichkeit, wobei es nur eine einzige Möglichkeit für ein bestimmtes Ziel gibt, die Wirklichkeit werden kann. Und die Eventualität ist im Gegensatz dazu die Art und Weise der Umwandlung der Möglichkeit in Realität, bei der es mehrere, verschiedene Möglichkeiten für ein bestimmtes Ziel (unter bestimmten Umständen natürlich) gibt, die Wirklichkeit werden können, aber nur eine, die tatsächlich verwirklicht wird.“ (15. März)

Wir begreifen nicht, wie man sagen kann, dass die Errichtung des Sozialismus in einem Land sowohl möglich als auch, da er in keiner Weise mit dem Kapitalismus bricht, unmöglich ist. Wir ziehen es vor, der Behauptung beizupflichten, dass der Sozialismus in einem Land eine Mystifikation war, die in keiner Beziehung zur Realität stand, eine Waffe der Konterrevolution. Was die Genossen anscheinend sagen, ist, dass die Bolschewiki an einem bestimmten Punkt aufhörten, die Interessen des Proletariats zu vertreten. Dies war in der Tat die stalinistische Konterrevolution. Die ganze Schwierigkeit bei diesem Problem, mit dem viele Revolutionäre seit den 30er Jahren zu kämpfen hatten, besteht darin, dass die Konterrevolution erst ganz am Ende eines Prozesses der Degeneration und des opportunistischen Abgleitens kam. Am Ende dieses langen und manchmal unmerklichen Prozesses fand dann gewissermaßen ein Umschlagen von Quantität in Qualität statt. Was zunächst nicht mehr als ein Problem innerhalb der Arbeiterbewegung dargestellt hatte, wuchs sich zur bürgerlichen Konterrevolution aus. Doch der Bruch in der Natur des Sowjetregimes war dafür um so deutlicher: Er fand statt in Gestalt der Eliminierung der alten bolschewistischen Garde durch Stalin, der Ersetzung der Perspektive der Weltrevolution durch die Verteidigung des nationalen Kapitals Russlands. Die Schwächung der Macht der Arbeiterräte und die Untergrabung der Führung der bolschewistischen Partei durch den Opportunismus folgten zwei parallelen Wegen zur Etablierung der Macht der russischen Staatsbourgeoisie. Die Erinnerung an die wahre Bewegung der Klassenkonfrontationen in den 1920er Jahren rüstet uns nicht nur gegen die bürgerliche Propaganda, sondern auch gegen jede Schwächung der revolutionären Theorie, wie jene, die, objektiv oder subjektiv, eine Kontinuität zwischen Lenin und Stalin sieht.

Die Genossen werden letztendlich eine solche Schwächung erleiden, wenn sie die stalinistische Konterrevolution aus dem Blick verlieren und die Idee einführen, dass „die Bolschewiki entschieden, für alle Ausgebeuteten zu sprechen“. Wann und warum wurde eine solche Entscheidung getroffen? Bedeuten die Worte „alle Ausgebeuteten“ alle Arbeitenden, mit anderen Worten: neben dem Proletariat verschiedene andere Klassen, einschließlich der nicht-ausbeutenden Klassen wie die Bauernschaft und den Rest des Kleinbürgertums, die im Kapitalismus ausgebeutet werden? Wenn dies der Fall ist, dann akzeptieren sie das Gerede von Stalin und besonders von Mao über den „Block der vier Klassen“ als Realität. Jedenfalls können wir ihrer Behauptung nicht folgen, dass Marx und Engels das Konzept einer sozialistischen Revolution akzeptiert (?) hatten, die „in Wirklichkeit nicht mit dem Kapitalismus bricht“. Es trifft zu, dass einige Formulierungen von Marx und Engels zu Verwechslungen zwischen der Verstaatlichung des Kapitalismus und dem Sozialismus führen können. Damals sind sie ohne weiteres verstanden worden, in einer Epoche, als das Proletariat unter bestimmten Umständen die progressive Bourgeoisie noch gegen die Überbleibsel des Feudalismus unterstützte. Bewusstsein und Programm sind das Resultat einer ständigen Auseinandersetzung mit der Ideologie der herrschenden Klasse. Wenn Revolutionäre die Buchstaben des Programms schärfen, präziser machen wollen, müssen sie getreu dem Geist der früheren Generationen von Marxisten vorgehen. Die endgültige Korrektur der überlebenden „staatskapitalistischen“ Irrtümer in der marxistischen Doktrin wurde durch die Erfahrung der Russischen Revolution von 1917 ermöglicht. Doch die Voraussetzungen dafür waren schon bei Marx vorhanden, in seiner Definition des Kapitals als ein gesellschaftliches Verhältnis und des Kapitalismus als ein auf Lohnarbeit, Auspressung und Realisierung von Mehrwert gegründetes System. So gesehen, verändert der Übergang von individuellem Kapitaleigentum zu kollektivem Staatseigentum keineswegs den Charakter der Gesellschaft. Mehr noch, der Keim ihrer Kritik am angeblich progressiven Charakter des kollektiven Staatseigentums ist bereits im Kampf von Marx und Engels gegen den Lassalleschen Staatssozialismus enthalten, der die Arbeiter dazu bringen wollte, den Staat gegen die Kapitalisten und gegen die Liebknecht/Bebel-Strömung innerhalb der deutschen Sozialdemokratie zu nutzen, die es ihrerseits zugelassen hatte, dass die Formulierungen der Lassalleaner in das Gothaer Programm rutschten.

Wir möchten die Gedanken der Genossen folgendermaßen zusammenfassen. Der Bolschewismus sei zunächst eine marxistische Strömung gewesen, die die Interessen des Proletariats im Rahmen der entwickelten kapitalistischen Verhältnisse ausgedrückt habe. Aber diese seien ursprünglich ausländischer Herkunft gewesen, während innerhalb Russlands ein weniger entwickelter Kapitalismus existiert habe, der einer antifeudalen Revolution bedurfte. Somit seien die Bolschewiki nicht der stalinistischen Konterrevolution, sondern bereits zuvor dem Charme des nationalen Kapitals erlegen gewesen und hätten beschlossen, „Sozial-Jakobiner“ zu werden. Hier wird der Unterschied zwischen ihrer Vision und jener des Rätekommunismus ersichtlich. Für Letztere konnte die Russische Revolution nur im Staatskapitalismus enden, und die Bolschewiki waren eine Widerspiegelung dieses von Anbeginn vorbestimmten Schicksals. Diese Entdeckung kam spät, denn sie datiert in den 1930er Jahren, als es Pannekoek, der damals zum Rätekommunisten wurde, in einem Gewaltakt gelang, die Erbsünde des Bolschewismus in Lenins Buch von 1908 Materialismus und Empiriokritizismus zu enthüllen. „Es ist eine so deutliche und ausschliessliche Widerspiegelung des oben angegebenen Charakters der erstrebten russischen Revolution, seine Grundgedanken stimmen so völlig mit denen des bürgerlichen Materialismus überein, dass, hätte man es damals gekannt (...) (im Westen) und wäre man damals imstande gewesen, es richtig zu interpretieren, man hätte voraussagen können, dass die kommende russische Revolution den Charakter einer bürgerlichen Revolution tragen und in irgendeinen sich auf die Arbeiter stützenden Kapitalismus ausmünden müsse.“ (Pannekoek, Lenin als Philosoph, Ca ira – Verlag 1991, S. 142/143)

Die marxistische Methode basiert auf dem Konzept als Ganzes, woraus sie ihr Verständnis auch für die konkreteren Situationen schöpft. Indem sie vom kleinen, unabhängigen Produzenten bzw. von einer lokalen Situation ausgehen, entfernen sich die Genossen von der marxistischen Methode und enden darin, ein paar Überbleibsel des Feudalismus fälschlicherweise als allgemeine Merkmale darzustellen. Es ist angebracht, sich daran zu erinnern, dass Russland 1917 die fünftgrößte Industrienation der Welt war. Dadurch, dass die Entwicklung des russischen Kapitalismus die Stufe der Handwerksproduktion und der Manufakturen größtenteils übersprungen hatte, nahm der russische Kapitalismus die modernste und konzentrierteste Form an: Die Putilow-Fabrik z.B. mit mehr als 40.000 Arbeitern war die weltweit größte. Es ist diese Entwicklung, die den Schlüssel zum Verständnis der Lage in Russland vermittelt, nicht der Gegensatz zwischen dem von Außen und dem von Innen kommenden Kapitalismus.  Die Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse hatten einen Punkt erreicht, der nichts gemeinsam hatte mit der Epoche der bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts. „Russlands staatlicher Apparat wird seit dem famosen Zusammenbruch im Krimkriege und seit seiner Modernisierung durch die Reformen Alexanders II. in hohem Maße durch geliehenes Kapital aus Europa, in der Hauptsache aus Frankreich, bestritten (...) Das geliehene französische Kapital dient seit Jahrzehnten in der Hauptsache zu zwei Zwecken: Eisenbahnbau mit Staatsgarantien und Militärrüstungen. Zur Bedienung beider ist in Russland seit den siebziger Jahren – unter dem Schutze des Hochschutzzollsystems – eine starke Großindustrie entstanden. Das Leihkapital aus dem alten kapitalistischen Lande Frankreich hat in Russland einen jungen Kapitalismus großgezogen, der aber seinerseits nachhaltig der Unterstützung und Ergänzung durch eine bedeutende Einfuhr an Maschinen und anderen Produktionsmitteln aus technischen führenden Ländern, England und Frankreich, bedarf.“ (Rosa Luxemburg, Einführung in die Nationalökonomie, Ges. Werke, Bd. 5, S. 553) Das Beispiel Polens ist gleichermaßen bedeutend. Die Bildung des Weltmarktes ist ein Hauptmerkmal der kapitalistischen Produktionsweise, er zerstört die vorkapitalistischen Verhältnisse. Es ist dieser dynamische Prozess, der die Bedingungen für die Einheit des internationalen Proletariats schafft, nicht die autonome Entwicklung eines nationalen Kapitals. Die Revolution von 1905 war die erste praktische Demonstration dieses Prozesses. Im Gegensatz dazu hat die Losung des „Rechts der Völker auf Selbstbestimmung“, die die Bolschewiki tragischerweise unterstützten, die Spaltung des Proletariats nur verstärkt. Wurde dies nicht in der Praxis der 1920er Jahre bestätigt?

Die Dekadenz eines gesellschaftlichen Gebildes

Weder die Bolschewiki noch irgendeine moderne Bourgeoisie können mit den Jakobinern verglichen werden. Das Ende der Weltmarktbildung und die Überproduktionskrise haben die Möglichkeit jeder wirklichen Weiterentwicklung eliminiert. Die tschetschenische Bourgeoisie wird niemals ein nationales Proletariat schaffen. Wo würde sie einen Absatz für ihre Waren finden? Nur die proletarische Revolution kann die Fundamente für eine Industrialisierung der rückständigen Länder legen. Das Kommunistische Manifest beschreibt sehr gut, wie die Bourgeoisie eine Welt nach ihrem eigenen Bild schafft, indem sie billige Waren exportiert und ihre Warenbeziehungen immer weiter ausdehnt. Doch lange, bevor der gesamte Planet industrialisiert ist, erreicht sie ihre Grenzen. Schon Marx und Engels hatten aufgezeigt, wie die unlösbaren Widersprüche, die den Verhältnissen der Lohnarbeit entspringen, den Kapitalismus nur in seine Dekadenz führen können. Charles Fouriers eindringliche Kritik hat bereits die Grundzüge dieses Gedankens angedeutet: „Fourier, wie man sieht, handhabt die Dialektik mit derselben Meisterschaft wie sein Zeitgenosse Hegel. Mit gleicher Dialektik hebt er hervor, gegenüber dem Gerede von der unbegrenzten menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit, dass jede geschichtliche Phase ihren aufsteigenden, aber auch ihren absteigenden Ast hat, und wendet diese Anschauungsweise auch auf die Zukunft der gesamten Menschheit an.“ (Engels, Anti-Dühring, MEW, Bd. 20, S. 243) Marx erklärt dieses Phänomen. In einem bestimmten Moment in der Entwicklung des Kapitalismus kann die Tendenz der fallenden Profitrate aufgrund des gesättigten Weltmarktes nicht mehr durch ein entsprechendes Wachstum des Mehrwerts kompensiert werden. „Aber in demselben Maße, worin seine (des Kapitalisten Produktion sich ausgedehnt hat, hat sich das Bedürfnis des Absatzes für ihn ausgedehnt. Die mächtigeren und kostspieligeren Produktionsmittel, die er ins Leben gerufen, befähigen ihn zwar, seine Ware wohlfeiler zu verkaufen, sie zwingen ihn aber zugleich, mehr Waren zu verkaufen, einen ungleich größeren Markt für seine Waren zu erobern (S. 418). (...) In dem Maße endlich, wie die Kapitalisten durch die oben geschilderte Bewegung gezwungen werden, schon vorhandne riesenhafte Produktionsmittel auf größerer Stufenleiter auszubeuten und zu diesem Zweck alle Springfedern des Kredits in Bewegung zu setzen, in demselben Maße vermehren sich die industriellen Erdbeben, worin die Handelswelt sich nur dadurch erhält, dass sie einen Teil des Reichtums, der Produkte und selbst der Produktionskräfte den Göttern der Unterwelt opfert - nehmen mit einem Wort die Krisen zu. Sie werden häufiger und heftiger schon deswegen, weil in demselben Maße, worin die Produktenmasse, also das Bedürfnis nach ausgedehnten Märkten wächst, der Weltmarkt immer mehr sich zusammenzieht, immer weniger neue Märkte zur Exploitation übrigbleiben, da jede vorhergehende Krise einen bisher uneroberten oder vom Handel nur oberflächlich ausgebeuteten Markt dem Welthandel unterworfen hat.“ (Lohnarbeit und Kapital, MEW Bd. 6, S. 423) Es blieb den linken Fraktionen, mit Lenin und Luxemburg an der Spitze, vorbehalten, aufzuzeigen, dass der Ausbruch des ersten imperialistischen Weltkrieges das Zeichen dafür war, dass der Kapitalismus in die Phase seines Zerfalls eingetreten war. Die kommunistische Revolution war nicht mehr nur notwendig, sie war auch möglich geworden.

Zum Schluss dieser ersten Antwort auf die Genossen der MLP rufen wir zur Weiterentwicklung der Debatte und Reflexion auf, wobei es uns Leid tut, dass wir nicht in der Lage gewesen waren, ihre Texte aus dem Russischen zu übersetzen.

Wir hoffen, dass die Diskussion und gegenseitige Kritik fortgesetzt werden. Doch wir möchten auch darauf drängen, dass diese Debatte nicht auf uns selbst begrenzt sein darf: Sie sollte sich öffnen und  andere Genossen in Russland sowie Gruppen des politischen Milieus des Proletariats auf der ganzen Welt einschließen.

 

Pal



[1] [12] Seit Mai ‚68 ist der Begriff „Linksextremismus“ allgemein gebräuchlich geworden, nicht um die Opposition innerhalb der Kommunistischen Internationale zu beschreiben, die Lenin brüderlich kritisierte und die der Ausdruck des Linkskommunismus war, sondern um all jene außerparlamentarischen Strömungen zu benennen, die, wie die Trotzkisten und die Maoisten (hierbei sollten wir zwischen den „Maoisten“ der westlichen Länder, die wir als „Linksextremisten“ bezeichnen, und Mao selbst unterscheiden, der, indem er die Theorie einer Art von „bäuerlichen Nationalkommunismus“ schuf, nichts mit der Arbeiterbewegung zu tun gehabt hatte. Er war eher eine „orientale“ Version des Stalinismus), Verrat am Internationalismus begingen und die Parteien der bürgerlichen Linken (Sozialisten und Stalinisten) sowie die Gewerkschaften kritisch unterstützen. Er ist daher ein Begriff, um eine politische Tendenz zu beschreiben, die eindeutig dem politischen Apparat der Bourgeoisie angehört.

[2] [12] Diese Korrespondenz war ursprünglich auf Französisch verfasst. Die Übersetzungen sind von uns, und wir haben natürlich unser Bestes gegeben, um die Meinungen der Genossen nicht zu verfälschen.

Theoretische Fragen: 

  • Internationalismus [13]

Internationale Revue 28

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14. Kongress der IKS

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Bericht über die Wirtschaftskrise (Auszüge)

Vor über 80 Jahren ist der Kapitalismus in seine dekadente Phase getreten. Er überlebt einzig noch dadurch, dass er die Menschheit in eine Spirale der offenen Krise wirft. Diese Spirale setzt sich aus dem generalisierten Krieg, dem Wiederaufbau, und der erneuten Krise zusammen.1 Die wirtschaftliche Stagnation und die Erschütterungen des Systems im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mündeten schnell in die schreckliche Schlächterei des Ersten Weltkriegs, die grosse Depression von 1929 mündete nach 10 Jahren in das noch wildere Gemetzel des Zweiten Weltkriegs. Die am Ende der 60er Jahre beginnende Krise jedoch mündete nicht in die organische Lösung eines neuen generalisierten Kriegs, weil das Proletariat nicht geschlagen war.

Angesichts dieser neuartigen Situation der ausweglosen Krise führt der Kapitalismus ein ständiges Krisenmanagement. Für dessen Umsetzung nahm er Rückgriff auf sein erstrangiges Organ zur Verteidigung seines Systems: den Staat. Auch wenn die Tendenz zum Staatskapitalismus sich bereits vor mehreren Jahrzehnten herausgebildet hatte, so haben wir in den letzten 30 Jahren der Perfektionierung und einer bisher unbekannten Verfeinerung der Interventionsmechanismen und der Kontrolle der Wirtschaft und Gesellschaft beiwohnen können. Zur Begleitung der Krise mit dem Ziel, ihren Rhythmus im Vergleich zu 1929 zu verlangsamen und weniger spektakulär zu gestalten, haben die Staaten sich in eine astronomische Verschuldung gestürzt, wie sie die Geschichte bisher noch nie gesehen hat. Die wichtigsten Mächte haben mit einer Zusammenarbeit zur Unterstützung und Organisierung des Welthandels begonnen, um die schlimmsten Auswirkungen der Krise auf die schwächsten Länder abzuwälzen.2 Dieser Überlebensmechanismus erlaubte es den zentralen Ländern, die auch eine Schlüsselstellung bezüglich des Klassenkampfes einerseits, bezüglich der Aufrechterhaltung der globalen Stabilität des Kapitalismus anderseits einnehmen, einen verlangsamten und stufenweisen Fall in die Krise zu bewerkstelligen. So entstand der Eindruck der Beherrschung und der Normalität oder sogar des "Fortschritts" oder der "Erneuerung".

Diese Begleitmaßnahmen führten jedoch keineswegs zu einer Stabilisierung der Situation. Der Kapitalismus ist seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ein globales System, das allen bedeutenden Gebieten dieses Planeten seine Produktionsbeziehungen aufgezwungen hat. Unter diesen Bedingungen kann das Überleben eines nationalen Kapitals oder von Zusammenschlüssen derselben nur auf Kosten der Rivalen gehen. Im Laufe der letzten 30 Jahre konnten wir einer fortschreitenden Degeneration des Kapitalismus beiwohnen. Seine Reproduktion vollzog sich auf einer sich ständig verengenden Grundlage, das Weltkapital verarmt.3

Dieser fortschreitende Zusammenbruch des Gesamtkapitals hat sich durch periodische Erschütterungen manifestiert, die in keiner Art und Weise etwas mit den zyklischen Krisen des 19. Jahrhunderts gemeinsam haben. Diese Erschütterungen zeigten sich in den mehr oder weniger starken Rezessionen von 1974/75, 1980-1982 und 1991-1993. Jedoch drückte sich die Rezession nicht in erster Linie durch den offiziellen Fall des Produktionsindex aus, und zwar gerade weil der Staatskapitalismus alles in seiner Möglichkeit Liegende unternimmt, um dieses zu klassische und offensichtliche Zeichen des Systemzusammenbruchs zu unterbinden. Die Rezession hat sich also tendenziell in anderen, nicht weniger schwerwiegenden und gefährlichen Formen dargestellt. Hier sind zu nennen: die monetären Erschütterungen des britischen Pfund Sterling 1967 und des Dollar 1971, die brüske inflationäre Explosion in den 70er Jahren, die Schuldenkrise und die Erschütterungen des Finanzsektors ab der zweiten Hälfte der 80er Jahre: Börsenkrach 1987, Mini-Börsenkrach 1989, die Erschütterung des europäischen Währungssystems 1992/93, der Tequila-Effekt (Abwertung des mexikanischen Peso und Fall der lateinamerikanischen Börsen) 1994 und die sog. Asienkrise 1997/98.

Der 13. Kongress der IKS hatte die schwerwiegenden Schäden dieser letzten Episode der Krise analysiert. Damals hatten wir die äußerst pessimistischen Warnungen der bürgerlichen Experten einbezogen, die offen von Rezession und sogar Depression gesprochen hatten.

Diese Rezession ist dann allerdings nicht eingetroffen und der Kapitalismus konnte abermals das Jubellied über die eiserne Gesundheit seiner Produktionsweise anstimmen. Die Dreistigkeit ging bis zur Behauptung, eine neue Gesellschaft sei mit der „New Economy“ entstanden. Der Anstieg der Inflation im Sommer 2000, dessen Tragweite und Auswirkungen nicht unterschätzt werden dürfen, hat die generelle Euphorie dann allerdings ein wenig verstummen lassen. In etwas mehr als zwei Jahren konnten wir dem brutalen Einbruch von 1997/98, dem euphorischen Aufschwung zwischen der zweiten Jahreshälfte 1999 und dem Sommer 2000 und dem erneuten Rückgang des Index beiwohnen.

Das neue Jahrtausend wird der Krise keine Lösung mehr anbieten können ausser der Stabilisierung der Situation, wenn nicht gar im Gegenteil eine neue Phase des Zusammenbruchs, der uns all die Leiden des 20. Jahrhunderts als Zuckerschleck erscheinen lässt.

10 Jahre ununterbrochenes Wachstum in den USA

Die Bewunderer des Kapitalismus geifern schon nur bei der Erwähnung  dieser "10 Jahre Wachstum ohne Inflation".4 In ihrem Delirium sind sie sogar soweit gegangen, das Ende aller zyklischen Krisen und ein ununterbrochenes Wachstum vorauszusagen.

Diese Herren geben sich erst gar nicht Mühe, die Wachstumsraten anderer Epochen des Kapitalismus zu vergleichen, und noch weniger, seine Natur und Zusammensetzung zu verstehen. Sie sind vollständig mit dem "Wachstum" zufrieden. Aber angesichts dieser unmittelbaren und oberflächlichen Betrachtungsweise, die ja typisch ist für die Ideologen einer dem Untergang geweihten Gesellschaftsordnung, wenden wir eine globale und historische Betrachtungsweise an und sind somit in der Lage, die Falschheit all dieser Argumente, die sich auf die "10 Jahre ununterbrochenen Wachstums in den USA" stützen, zu entlarven.

Wenn wir die Wachstumsraten der USA seit 1950 unter die Lupe nehmen, stellen wir fest, dass das Wachstums der vergangenen 10 Jahre das geringste der letzten 50 Jahre ist:

Mittlere BIP-Wachstumsraten der USA5

1950-1964            3,68%

1965-1972            4,23%

1973-1990            3,40%

1991-1999            1,98%

Diese Zahlen sehen auch in anderen hochindustrialisierten Ländern nicht anders aus:

Mittlere BIP-Wachstumsraten  in den wichtigen Industrieländern6

1960-73         1973-89             1989-99

Japan                        9,2%               3,6%                    1,8%

Deutschland             4,2%               2,0%                    2,2%

Frankreich                5,3%               2,4%                    1,8%

Italien                         5,2%               2,8%                   1,5%

Großbritannien         3,1%               2,0%                   1,7%

Kanada                     5,3%               3,4%                   1,9%

Diese beiden Tabellen zeigen den graduellen, aber anhaltenden Niedergang der Weltwirtschaft, der den Triumphalismus der Führer des Kapitalismus in nichts auflöst und ihre Täuschungsmanöver entblößt: sie wollen uns mit Zahlen täuschen, die vollständig aus ihrem historischen Kontext herausgelöst worden sind.

Das "amerikanische Wachstum" hat tatsächlich eine Geschichte, die uns aber vorenthalten wird: Man spricht nicht darüber, wie die Wiederankurbelung der Wirtschaft 1991/92 zustande kam. Es mussten nämlich 33 Mal die Zinsen gesenkt werden, so dass die Zinsraten für das an Banken geliehene Geld unter der Inflationsrate lag! Der Staat hat also eigentlich "Gratisgeld" zur Verfügung gestellt. Man spricht noch weniger über das ab 1995 abflauende Wachstum, das mehrere Finanzkrisen mit der "asiatischen Grippe" 1997/98 als Tiefpunkt nach sich zog und in die Stagnation 1996-1998 mündete.

Was steckt jedoch hinter der letzten Wachstumsphase von 1996-1998? Ihre Grundlage ist noch verletzlicher und zerstörerischer, denn ihr Motor verwandelt sich in eine historisch gesehen beispiellose spekulative Blase. Die Investition an der Börse wird die "einzig rentable Investition".

Die amerikanischen Familien und Unternehmen wurden in einem perversen Mechanismus zur Verschuldung ermutigt, um an der Börse zu spekulieren und die gekauften Titel als Sicherheiten für den frenetischen Kauf von Waren und Dienstleistungen zu gebrauchen, was dann den Motor des Wachstums darstellte. Die Grundlagen der eigentlichen Investitionen sind so ernsthaft zerstört worden: Unternehmen und Individuen haben ihre Verschuldung von 1997 bis 1999 um 300% gesteigert. Die Sparquote ist seit 1996 negativ (nach 53 Jahren von ununterbrochen positiven Sparquoten), während sie 1991 noch +8,3% betrug, sank sie 1999 auf -2,5%.

Der Konsum auf Pump erhält zwar die Wachstumsflamme in Gang, aber die Auswirkungen auf der produktiven Ebene der USA sind tödllich.7 Paul Samuelson, ein bekannter Ökonom,  räumt ein, dass "die Auslastung der industriellen Produktionskapazitäten Nordamerikas seit ihrem Gipfel in der Mitte der 80er Jahre nur noch gefallen ist". Die Industrie verliert immer mehr an Bedeutung, seit April 1998 sind 418‘000 Stellen gestrichen worden. Die amerikanische Zahlungsbilanz erlitt mit der Vergrösserung des Defizits von -2,5% des BIP 1998 auf aktuell -4% eine spektakuläre Verschlechterung.

Diese Art des Wachstums steht in krassem Gegensatz zu demjenigen, das der Kapitalismus, historisch betrachtet, erlebt hat. Zwischen 1865 und 1914 erzielten die USA mit der ständigen Erhöhung der Handels- und Finanzüberschüsse ein spektakuläres Wachstum. Die amerikanische Expansion nach dem Zweiten Weltkrieg beruhte auf der Überlegenheit im Export von Gütern und Kapital. 1948 beispielsweise deckten die amerikanischen Exporte 180% der Importe. Seit 1971 erzielten die USA erstmals eine negative Handelsbilanz, die seither ständig gewachsen ist.

Während sich das Wachstum der zentralen kapitalistischen Länder im 19. Jahrhundert auf die Exportzunahme an Gütern und Kapital abstützte, was zu einer ständigen Eingliederung von neuen Gebieten in die kapitalistischen Produktionsverhältnisse führte, wohnen wir heute einer aberwitzigen und gefährlichen Entwicklung bei: Heute fliessen, unterstützt durch den überbewerteten Dollar, die Reichtümer in die USA, um die wichtigste Nationalökonomie der Welt zu unterstützen. Seit 1985 ist der Investitionsfluss in die 10 wichtigsten Nationalökonomien der Welt größer als umgekehrt. Das bedeutet konkret, dass der Kapitalismus unfähig ist, die globale Produktion auszudehnen und nun all seine Mittel auf die Erhaltung der Metropolen konzentriert. Der Rest der Welt wird zu einer riesigen Brachlandschaft degradiert, und somit werden die Grundlagen der kapitalistischen Reproduktion zerstört.

Die nicht eingetretene Rezession nach der Asienkrise

Man möchte uns glauben machen, dass die schwerwiegende Erschütterung von 1997/98 nichts als eine zyklische Krise gleich jenen des 19. Jahrhunderts gewesen sei. Zu jener Zeit ist aber jede Krise mit einer neuen Produktionsausdehnung zu Ende gegangen, so dass immer ein höheres Produktionsniveau als in der vorhergegangenen Periode erreicht wurde. Neue Märkte öffneten sich durch die Eingliederung neuer Territorien in die kapitalistischen Produktionsverhältnisse. So entstanden einerseits neue Proletariermassen, die Mehrwert hervorbrachten, anderseits neue zahlungskräftige Käufer für die hergestellten Waren.

Eine solche Lösung ist für den heutigen Kapitalismus nicht mehr angesagt: Die Märkte sind bereits seit längerer Zeit gesättigt. Der Ausweg kann also nicht in neuen Märkten und in neuen Lohnarbeit verrichtenden Proletariermassen liegen, sondern gerade im Gegenteil: Heute greift man zur Verschuldung und versucht so, den realen Fall der Produktion und die neuen Entlassungswellen (die uns dann als Restrukturierungen, Privatisierungen und Fusionen untergejubelt werden) zu kaschieren. Auf diese Weise werden die Quellen des Mehrwerts ausgetrocknet: „Das Fehlen kaufkräftiger Märkte, auf denen die Realisierung des produzierten Mehrwerts möglich ist, führte zur Bildung fiktiver Märkte (...) Mit einem komplett gesättigten Weltmarkt konfrontiert kann ein Wachstum der Produktionszahlen nur durch ein Wachstum der Schulden stattfinden. Eine noch beträchtlichere Zuspitzung als zuvor.“ (Internationale Revue  Nr. 59, engl./frz./span. Ausgabe)   

Das Resultat ist eine ständig gewaltsamere Erschütterung und ein tieferer Fall während die Aufschwünge lediglich den Fall leicht abfedern: Der ganze Prozess spielt sich in einer Dynamik des progressiven Zerfalls ab.

Im 19. Jahrhundert befand sich der Kapitalismus in einer dynamischen Expansionsphase, in der jede Krise eine neue Prosperitätsphase vorbereitete. Heute beobachten wir den genau umgekehrten Prozess: Jede Aufschwungsphase ist nichts anderes als die Vorbereitung neuer und schwerwiegenderer Erschütterungen.

Japan (die zweite Weltwirtschaftsmacht) ist ein schlagender Beweis. Dieses Land bewegt sich nicht mehr vom Fleck und erreichte 1999 eine rachitische Wachstumsrate von 0,3%. Die Perspektiven für das Jahr 2000 sind sehr pessimistisch. Und dies trotz einer spektakulären Entwicklung der Staatsausgaben: Das Staatsdefizit erreichte 1999 9,2% des BIP.

Die “New Economy”

Die Argumente über das „enorme Wachstum“ in Amerika und die „spielende Überwindung der Asienkrise“ entbehren jeglicher seriösen Analyse. Doch ein drittes Argument scheint mehr Bestand zu haben: „die Revolution der New Economy“, welche die Fundamente der Gesellschaft komplett umwälzen und durch das Internet die traditionelle Aufteilung der Gesellschaft in Klassen (Arbeiter und Unternehmer) auflösen werde, sie zu einer Masse von „Partnern“ mache. Mit anderen Worten, der Motor der Wirtschaft sei nicht mehr die Anhäufung von Profit, sondern der Konsum und die Information. Schlussendlich werde die Krise zu einem alten Hut aus vergangenen Zeiten, da sich die Weltwirtschaft harmonisch durch die Transaktionen via Internet reguliere. Das einzige Problem seien die „Unangepassten“ die noch in der „alten Ökonomie“ verharren würden.

Es ist hier nicht der Ort, um erneut all diese stupiden Behauptungen aufzulisten. Der erste Artikel in der Internationalen Revue Nr. 26 entlarvte schon auf überzeugende Art und Weise diesen neuen Mythos mit dem uns der Kapitalismus einlullen will.8

Zuerst sollten wir uns an die Geschichte erinnern: Wie oft schon in den letzten siebzig Jahren hat uns der Kapitalismus ein ökonomisches „Modell“ als endgültige Lösung verkaufen wollen? In den 30er Jahren präsentierten sich die sowjetische Industrialisierung, der amerikanische New Deal und der belgische DeMan-Plan als Lösung gegen die Krise von 1929 - sie führten aber in Wirklichkeit zum Zweiten Weltkrieg! Es waren der „Wohlfahrtsstaat“ der 50er, der „Aufschwung“ der 60er Jahre, die verschiedenen „Wege zum Sozialismus“ und die „Rückkehr zu Keynes“ in den 70er Jahren, die „Reagonomics“ und das „japanische Modell“ der 80er Jahre, die „asiatischen Tiger“ und die „Globalisierung“ der 90er Jahre - heute ist es die „New Economy“. Der Sturm der Krise hat sie alle nacheinander hinweggefegt. Schon ein Jahr nach ihrer Geburt ist die „New Economy“ veraltet und unbrauchbar.

Zweitens wurde die Lüge portiert, dass die „New Economy“, basierend auf dem Internet, sehr viele Arbeitsplätze schaffen würde. Dies ist ein kompletter Irrtum. Der oben zitierte Artikel von Battaglia comunista (Fussnote 5) zeigt auf, dass von den 20 Millionen geschaffenen Arbeitsplätzen in den USA lediglich eine Million mit dem Internet zusammenhängen. Der Rest besteht aus „High-Tech-Jobs“ wie Hundeausführen, Parkplatzbewachung, Pizza- und Hamburgerkurieren, Babysittern usw.

In Wirklichkeit eliminiert die Einführung des Internet in Handel, Information, Finanz und öffentlicher Verwaltung Arbeitsplätze statt neue zu schaffen. Eine Studie über Bankinstitute der „New Economy“ zeigt, dass:

-          ein Netz von Büros, die Computer ohne permanente Verbindung einsetzen9, 100 Angestellte;

-          ein Netz von Büros mit permanent verbundenen Computern nur noch 40 Angestellte;

-          ein Telebanking-Netz 25 Angestellte;

-          ein Internet-Banking-Netz schließlich gerade noch 3 Angestellte beschäftigt.

Eine andere Studie der EU kommt zum Schluss, dass das Ausfüllen von Formularen via Internet einen Drittel der Arbeitsplätze in der öffentlichen Verwaltung überflüssig machen kann.

Ist es möglich, dass das Internet die Basis für eine Ausweitung der kapitalistischen Produktion bildet?

Der Zyklus des Kapitals kennt zwei untrennbare Stufen: die Mehrwertproduktion und ihre Realisierung. In der dekadenten Phase des Kapitalismus, mit einem gesättigten Markt, wird die Realisierung des Mehrwerts zum Hauptproblem. In diesem Rahmen nehmen die Kosten für Absatz, Verteilung und Finanzierung, welche zur Realisierung des Mehrwerts gehören, enorme Proportionen an. Die Unternehmen und Staaten entwickeln einen gigantischen Apparat für Absatz, Werbung, Finanzierung usw., um aus dem noch existierenden Markt die letzten Tropfen auszupressen (Tricks zur künstlichen Vergrößerung des Konsums) und den Konkurrenten Marktsegmente abspenstig zu machen.

Zu diesen notwendigen Kosten für die Realisierung des Mehrwerts kommen jedoch weitere hinzu, die eine noch größere Dimension annehmen: die Aufrüstung, der Aufbau einer gigantischen staatlichen Bürokratie usw. Die Einführung des Internet versucht, das enorme Gewicht dieser Kosten so weit als möglich zu senken, doch für die Wirtschaft als Ganze, vom Gesichtpunkt des Gesamtkapitals aus betrachtet, kann sich der Markt nicht erweitern. Er erfährt nur eine erneute Reduktion, die Menge der zahlungskräftigen Käufer nimmt ab.

Weit entfernt davon, Gesundheit und Fortschritt des Kapitalismus darzustellen, ist die ganze Geschichte mit dem Internet Ausdruck der tödlichen Spirale, in der er sich befindet: Der Rückgang eines kaufkräftigen Marktes steigert die unproduktiven Kosten und bedeutet Schulden, was wiederum den kaufkräftigen Markt reduziert, worauf erneut die Schraube der Schulden und unproduktiven Kosten angezogen wird - und so weiter!

Das erneute Auftauchen der Inflation

Die Inflation ist eine typische Erscheinung des dekadenten Kapitalismus und fand ihren wohl spektakulärsten Ausdruck im Deutschland der 20er Jahre mit einer Entwertung der Mark von über 2000%. Nach dem gewaltigen Ausbruch der Inflation in den 70er Jahren hat der Kapitalismus 20 Jahre lang die Inflationsraten in den industrialisierten Ländern beträchtlich gesenkt. Doch wie wir bereits im Bericht für den 13. Kongress der IKS schrieben, wurde die Inflation in Wirklichkeit nur versteckt durch eine kräftige Reduktion der Kosten und ein sehr aufmerksames Vorgehen der Zentralbanken bezüglich der zirkulierenden Geldmenge. Dennoch, die Gründe für die Inflation – die gigantische Verschuldung und die unproduktiven Kosten, die notwendig sind, um das System über Wasser zu halten - sind keineswegs verschwunden, sondern nehmen immer mehr an Gewicht zu. Der neue inflationäre Druck, welcher sich seit Beginn des Jahres 2000 entwickelt, kommt also keineswegs überraschend. Die Zuspitzung der Krise, die sich seit 1995 in einer Erschütterung der Börsen ausdrückt, kann eine weitere schwerwiegende Episode durch einen Ausbruch der Inflation auslösen.

In ihrem Bericht vom Juni 2000 läutete die OECD die Alarmglocken wegen des zunehmenden inflationären Risikos, welches von der amerikanischen Wirtschaft ausgeht: „Die gerade stattgefundene Steigerung der Inlandsnachfrage ist untolerierbar, und ein inflationärer Druck wurde in letzter Zeit viel spürbarer, während das gegenwärtige Handelsdefizit scharf, nämlich auf 4% des Bruttoinlandproduktes, anstieg. Die Herausforderung für die Regierenden ist eine geordnete Reduktion der steigenden Nachfrage.“ Nachdem die Inflation in den USA 1998 einen Tiefststand erreicht hat (1,6%), wird sie laut der US-Notenbank im Jahr 2000 auf 4,5% ansteigen. Diese Tendenz wurde auch in Europa festgestellt, wo der Durchschnitt für die Euro-Zone von 1,3% 1998 auf eine Voraussage von 2,4% für das Jahr 2000 anstieg, mit Spitzen wie in Holland (erwartete 3,5%), Spanien (im September 3,6%) und Irland (wo 4,5% erreicht wurden).

Die astronomische Verschuldung, die Spekulationsblase, der sich vertiefende Graben zwischen Produktion und Konsumption und das zunehmende Gewicht der unproduktiven Kosten drängen an die Oberfläche und stellen die angebliche Gesundheit der Wirtschaft in Frage.

Die katastrophalen Auswirkungen des Krisenmanagements

Nach knapp 2 Jahren Ruhe gerät die Weltwirtschaft erneut in einen Sturm.

Der Lärm der Kampagnen über die „Gesundheit“ des Kapitalismus und die „New Economy“ ist umgekehrt proportional zur tatsächlichen Wirkung der Politik des Krisenmanagements. Die triumphalistischen Höhenflüge verdecken den immer beschränkter werdenden Handlungsspielraum der Staaten. Der wirtschaftliche, menschliche und gesellschaftliche Preis, den das Proletariat und die gesamte zukünftige Menschheit zu bezahlen haben, wird immer höher. Der Kapitalismus droht die ganze Welt durch Kriege (heute sind sie noch lokal begrenzt) und die Politik des „Krisenmanagements“ in eine Trümmerlandschaft zu verwandeln. Es drohen vor allem 3 Gefahren:

-          der Zusammenbruch der Wirtschaft in immer mehr Ländern;

-          ein zunehmender Prozess der Schwächung

-          und Zersetzung der Ökonomie der zentralen Länder;

-          Angriffe auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse.

Die „Organisierung“ des weltweiten Handels und der Finanzen durch die am meisten industrialisierten Länder hat die schlimmsten Auswirkungen der Krise auf die peripheren Länder abgewälzt und diese in eine gigantische Brachlandschaft verwandelt. Unsere Genossen in Mexiko haben in Revolución Mundial hervorgehoben, dass „bis Ende der 60er Jahre die Länder der Peripherie vornehmlich Exporteure von Rohmaterialien waren. Doch die Tendenz ist, dass die peripheren Länder Importeure werden, selbst von Rohstoffen. Mexiko zum Beispiel, das Land des Mais, ist heute Importeur dieses Getreides. Es sind heute die zentralen Länder, welche zu Exporteuren von Rohstoffen geworden sind.“ Der Kapitalismus konzentriert sich heute dermaßen darauf, die zentralen Länder über Wasser zu halten, dass diese nun auf dem Rohstoffmarkt konkurrenzfähig sind, während es historisch eine internationale Arbeitsteilung gab, die von diesen Ländern selbst eingeführt wurde und die die Rohstoffproduktion den peripheren Ländern überließ.

Ein kürzlich verfasster Bericht der Weltbank über Afrika präsentiert ein schreckliches Bild: Afrika liefert nicht mehr als 1% des weltweiten Bruttosozialproduktes und sein Anteil am Welthandel beträgt weniger als 2%. „Während der letzten 30 Jahre hat Afrika die Hälfte seines Anteils am Weltmarkt verloren, die traditionellen Rohstoffmärkte eingeschlossen. Nur um den Anteil zu halten den es 1970 hatte, müsste es zusätzlich 70 Billionen Dollar pro Jahr mehr einnehmen.“ In Kilometern gemessen hat Afrika weniger Strassen als Polen und nur 16% davon sind asphaltiert. Weniger als 20% der Bevölkerung hat Zugriff auf elektrischen Strom, und weniger als 50% verfügen über trinkbares Wasser. Es gibt nur 10 Millionen Telefone für eine Bevölkerung von 300 Millionen Menschen. Mehr als 20% der Erwachsenen sind mit AIDS infiziert und die Arbeitslosigkeit in den großen Städten wird auf rund 25% geschätzt. Jede fünfte Person in Afrika lebt in einem Kriegsgebiet. Diese Zahlen schliessen Südafrika und die nordafrikanischen Länder mit ein, ansonsten würden die Zahlen noch schlimmer aussehen.

Diese Entfaltung der Barbarei kann nur durch die unkontrollierte Vertiefung der kapitalistischen Krise erklärt werden. So wie die Entwicklung des Kapitalismus im England des 19. Jahrhunderts die Zukunft der Welt aufzeigte, kündigt heute die Misere in Afrika die Zukunft an, die der Kapitalismus der Menschheit bereitet, wenn er nicht überwunden werden kann.10 Die Auswirkungen des „Krisenmanagements“ greifen mehr und mehr auch die Infrastruktur und Grundlage des Produktionsapartes der großen kapitalistischen Staaten an, deren Grundstrukturen immer zerbrechlicher werden.

Bürgerliche Experten geben offen zu, dass der westliche Kapitalismus eine „Risikogesellschaft“ geworden sei. Mit dieser Beschönigung verschleiern sie den beschleunigten Zerfall, dem die Transportsysteme (Luftfahrt, Eisenbahn und Straßen) unterliegen. Dies zeigt sich klar in der Zunahme von Unfällen bei Untergrundbahnen und der Eisenbahn, wie letzthin bei einer Seilbahn in Österreich, wo 150 Menschen starben.

Dasselbe spielt sich bei der öffentlichen Infrastruktur ab. Kanalisationssysteme, Dämme und Schutzvorrichtungen gegen Überschwemmungen sind immer mehr veraltet; eine Konsequenz der systematischen und zunehmenden Budgetstreichungen für deren Unterhalt. Das Ergebnis waren Überschwemmungen und andere Katastrophen in Ländern wie England, Deutschland und Holland, wo sich doch solche Ereignisse bisher vor allem auf südliche und unterentwickelte Ländern beschränkten.

Was das Gesundheitssystem angeht, so ist die Kindersterblichkeitsrate in New Yorker Quartieren wie Harlem und Brooklyn höher als in Shanghai oder Moskau. Die Lebenserwartung in diesen Gebieten beträgt 66 Jahre. In Großbritannien stellt die nationale Ärztegesellschaft in einem Bericht, der am 25. November 1996 veröffentlicht wurde, fest, dass „die Krankheiten aus der Zeit Dickens von neuem England befallen. Dies sind die typischen Armutskrankheiten wie Rachitis und Tuberkulose.“     

Der Angriff auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse

Die Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse ist das wichtigste Indiz für das Voranschreiten der Krise. Wie Marx es im Kapital ausdrückte: „Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde.“ (3. Band, MEW 25 S. 501) Der Angriff auf die Lebensbedingungen war in den 70er Jahren noch relativ sanft, er hat sich aber in den letzten 20 Jahren zugespitzt.11

Um die Verschuldung aufrecht zu erhalten, Ballast abzuwerfen und jedes unrentable Geschäft abzustoßen und mit diesen Mitteln den erbarmungslosen Konkurrenzkampf auszufechten, hat jedes nationale Kapital die schlimmsten Auswirkungen der Krise auf die Arbeiterklasse abgewälzt: Seit den 80er Jahren ist das Leben der “privilegierten” Arbeiter der zentralen Ländern - ganz zu schweigen von der furchtbaren Lage ihrer Klassenbrüder und -schwestern in den Ländern der Dritten Welt - mit dem glühenden Eisen der Massenentlassungen gebrandmarkt worden, mit der Umwandlung der festen Anstellung in prekäre Arbeit, der Ausbreitung von schlechtest entlöhnten Stellen verbunden mit Unterbeschäftigung, der Verlängerung des Arbeitstages mithilfe von zahlreichen Schlichen wie der “35-Stunden-Woche”, der Kürzung der Renten und der Sozialhilfe, dem schwindelerregenden Anstieg der Arbeitsunfälle ...

Die Arbeitslosigkeit ist der wichtigste und zuverlässigste Maßstab der historischen Krise des Kapitalismus. Die herrschende Klasse der industrialisierten Länder ist sich der Ernsthaftigkeit des Problems bewusst und hat eine Verschleierungspolitik gegenüber der Arbeitslosigkeit entwickelt, mit der sie diese vor den Augen der Arbeiter und der ganzen Bevölkerung zu verstecken versucht. Diese Politik, die zahlreiche Arbeiter auf ein tragisches Karussell verbannt (eine prekäre Stelle, einige Monate Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, ein Umschulungskurs, wieder einige Monate Arbeitslosigkeit etc.) und zu der sich die skandalöse Manipulation der Statistiken gesellt, erlaubt es der Bourgeoisie, in alle Windrichtungen zu verkünden, dass die “dauerhaften” Erfolge die Arbeitslosigkeit ausgerottet hätten.

Eine Studie über den Prozentsatz der Arbeitslosen unter den 25- bis 55-jährigen offenbart viel genauere Zahlen als die allgemeinen Statistiken über die Arbeitslosigkeit, die die Prozentzahlen verwässern, indem sie die Jungen, die häufig ihre Studien fortsetzen (18-25-jährige), und die frühpensionierten Arbeiter (56-65-jährige) darunter mischen:

Durchschnittliche Arbeitslosenrate bei den 25- bis 55-jährigen (1988-95)

Frankreich                             11.2%

Großbritannien                      13.1%

USA                                       14.1%

Deutschland                          15.0%

In Großbritannien entwickelte sich die Zahl der Familien, bei denen alle Mitglieder arbeitslos waren, wie folgt12:

1975                             6.5%

1985                           15.1%

1995                           19.1%

Die unmittelbare Konjunktur der letzten Monate war gekennzeichnet von einer Entlassungswelle ohnegleichen in allen produktiven Sektoren, von der Industrie über die sehr alten Handelsunternehmen wie Marks & Spencer bis zu den Dot.com-Unternehmen.

Die UNO erarbeitet einen Index mit der Bezeichnung IMA (Index der menschlichen Armut). 1998 betrug der Prozentsatz der Bevölkerung, der unter diesem IMA-Minimum lebt, in:

den USA                   16,5%

Großbritannien         15,1%

Frankreich                11,9%

Italien                         11,6%

Deutschland             10,4%

Die Löhne sind in den letzten 10 Jahren kontinuierlich gesunken. Betrachten wir die USA allein, so ist „das durchschnittliche Wocheneinkommen – die Inflationsrate mit einberechnet – von 80% der amerikanischen Arbeiter zwischen 1973 und 1995 um 18% von 315 Dollar auf 285 Dollar pro Woche gefallen“13. Diese Zahlen wurden in den letzten fünf Jahren nochmals bestätigt: Zwischen Juli 1999 und Juni 2000 fielen die Lohnkosten in den USA um 0,8%. Der durchschnittliche Stundenlohn betrug 1973 11,5 Dollar, 1999 10 Dollar14. Die Ausbeutung nahm in den USA unerbittlich zu: Um dasselbe Einkommen zu erhalten (die Inflationsrate einberechnet), mussten die Arbeiter 1999 mehr Stunden arbeiten als 1980.

Die Grenzen des Kapitalismus

Die Überlebensstrategie des Kapitalismus hat bis heute in den zentralen Ländern eine Stabilität aufrecht erhalten können, allerdings zum Preis, dass die Situation an sich nur noch verschlimmert wurde: „Im Gegensatz zu 1929 ist die Bourgeoisie in den letzten 30 Jahren gegenüber der Krise nicht überrascht oder tatenlos gewesen, sondern hat ständig auf sie reagiert, um ihren Verlauf zu kontrollieren. Dies erklärt die lange Dauer und die erbarmungslose Vertiefung der Krise, die sich trotz aller Bemühungen der herrschenden Klasse weiter zuspitzt. (...) 1929 gab es noch keine ständige staatliche Überwachung der Wirtschaft, der Finanzmärkte und der internationalen Handelsabkommen, keine Garantieerklärungen, keine internationale Feuerwehr, um diejenigen zu retten, die in Schwierigkeiten steckten. Zwischen 1997-99 dagegen sind ganze Wirtschaften mit beträchtlicher ökonomischer und politischer Bedeutung in der kapitalistischen Welt den Bach runter gegangen trotz der Existenz all dieser staatskapitalistischen Instrumente.“  (Resolution zur internationalen Lage, 13. Kongress der IKS)

Angesichts dieser Situation ist es eine falsche, auf Hoffnungslosigkeit und kurzfristigem Denken beruhende Methode, wie besessen auf die große Rezession zu warten, in der die herrschende Klasse derart die Kontrolle verlieren würde, dass die Krise durch ihre Brutalität und die ausgelöste sichtbare Katastrophe die kapitalistische Produktionsweise in Frage stellen würde.

Wir schließen die Möglichkeit einer Rezession nicht aus. 1999-2000 brauchte der Kapitalismus, um noch atmen zu können, noch riskantere Dosen desselben Gifts, das zur Explosion von 1997-98 führte, was in nächster Zukunft noch größere Erschütterungen erwarten lässt. Doch die Tiefe der Krise lässt sich nicht am Fall der Produktionszahlen messen, sondern vielmehr - aus einem globalen und historischen Sichtwinkel - an der Zuspitzung der Widersprüche, dem sich verringernden Spielraum für Manöver und vor allem an der Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse.

Unsere Broschüre Die Dekadenz des Kapitalismus beschreibt zur Kritik der Auffassungen Trotzkis, demzufolge in der dekadenten Phase des Kapitalismus „die Produktivkräfte der Menschheit zu wachsen aufgehört haben“, folgendes: „Jede gesellschaftliche Änderung ist das Ergebnis einer langen und wirklichen Zuspitzung des Zusammenstoßes zwischen den Produktionsverhältnissen und den Produktivkräften. Falls wir die Hypothese eines endgültigen und ständigen Stillstandes dieser Entwicklung verteidigen, könnte nur eine „absolute“ Verschärfung der Beschränkungen, den die Produktionsverhältnisse darstellen, die Tendenz zur eindeutigen Zuspitzung dieses Widerspruchs erklären. Man kann jedoch feststellen, dass die Bewegung, die sich im allgemeinen während den verschiedenen Dekadenzzeiträumen der Geschichte (den Kapitalismus eingeschlossen) entwickelt, eher zu einer Ausdehnung der Grenzen bis zu deren „Äußersten“ neigt, als zu einem Schrumpfen derselben.“ (Die Dekadenz des Kapitalismus, Seite 18)

Ein wichtiger Teil der marxistischen Analyse zur Dekadenz von Produktionsformen ist das Verständnis über die Art und Weise, wie der Kapitalismus sein „Krisenmanagement“ betreibt, um in den zentralen Ländern die Auswirkungen möglichst begrenzt zu halten. War nicht das römische Reich gezwungen, sich aus Byzanz zurückzuziehen und weite Gebiete der Invasion der Barbaren zu überlassen? Reagierten nicht auch die feudalen Könige mit derselben despotischen Manier Angesichts des Erfolgs der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise?

„Die Befreiung der Sklaven unter dem späten römischen Reich, die Befreiung der Leibeigenen am Ende des Mittelalters, die beschränkten Freiheiten, die die im Verfall begriffene Monarchie den neuen Städten der Bourgeoisie zugestehen musste, die Verstärkung der Zentralmacht der Krone, die Ausschaltung der „Schwertadligen“ zugunsten eines „Kleideradels“, der zentralisiert, geschwächt und dem König direkt unterworfen war, ebenso die kapitalistischen Erscheinungen wie Planungsversuche, die Bemühungen der Lockerung der nationalen, wirtschaftlichen Grenzen, die Tendenz der Ersetzung der schmarotzerhaften Bourgeoisie durch „wirkungsvolle Manager“, die Angestellte der Kapitals sind, die Politik des „New-Deal“-Types und die ständigen Manipulationen bestimmter Mechanismen des Wertgesetztes, all dies beweist die Tendenz zur Ausweitung des juristischen Rahmens durch die Offenlegung der Produktionsverhältnisse. Die dialektische Bewegung kann nicht aufgehalten werden, nachdem die Gesellschaft ihren Höhepunkt erreicht hat. Diese Bewegung unterläuft einen qualitativen Wandel, aber sie endet nicht. Die Verschärfung der der Gesellschaft innewohnenden Widersprüche setzt sich notwendigerweise fort, und daher muss diese Entwicklung der gefesselten Kräfte weitergehen, selbst wenn sie sich auch noch so langsam vollzieht.“ (ebenda)

Die Entwicklung der letzten 30 Jahre stimmt vollkommen mit dieser Analyse überein. Nach mehr als 50 Jahren Überleben inmitten großer Erschütterungen hat sich der Kapitalismus auf eine Politik des Krisenmanagements zu konzentrieren, um einen brutalen Kollaps in den zentralen Ländern zu verhindern. Ein solcher Kollaps würde für den Kapitalismus wegen der sich über diese 50 Jahre angehäuften Widersprüche und vor allem angesichts eines ungeschlagenen Proletariates eine Katastrophe bedeuten.

In seinem Kampf gegen den ökonomischen Determinismus. der im Milieu der Linksopposition herrschte, verurteilte Bilan die plumpe Deformierung des Marxismus, welche behauptete: “Der produktive Mechanismus ist nicht nur die Quelle zur Bildung von Klassen, sondern bestimmt automatisch die Aktion und die Politik der Klassen und der Menschen, die sie repräsentieren; das Problem wird so vollkommen simplifiziert; die Menschen und selbst die Klassen würden so lediglich zu Marionetten der Produktivkräfte.“ (Bilan Nr. 5, „Die Prinzipien, Waffen der Revolution“) Doch, „wenn es zwar absolut richtig ist, dass die ökonomischen Mechanismen die Bildung von Klassen bestimmen, so ist es total falsch zu glauben, dass die ökonomischen Mechanismen diese direkt dazu stoßen, den Weg einzuschlagen, der zu ihrer Abschaffung führt“ (ebenda). Aus diesem Grunde „ist die Aktion der Klassen nicht möglich ohne ein Verständnis ihrer historischen Rolle und der Mittel. die zu ihrem Sieg führen. Die Klassen sind abhängig von den ökonomischen Mechanismen, um geboren zu werden und zu sterben, doch um zu siegen, müssen sie fähig sein, sich eine politische und organische Gestalt zu geben, ohne die sie, selbst wenn es durch die Entwicklung der Produktivkräfte bestimmt ist, Gefahr laufen, für lange Zeit Gefangene der alten Klasse zu bleiben, welche ihrerseits selbst den Kurs der ökonomischen Entwicklung gefangen hält.“ (ebenda)

Es ist kaum möglich, die gegenwärtigen Probleme, die durch den heutigen Kurs der historischen Krise des Kapitalismus gestellt werden, treffender zu beschreiben. Es ist nicht unsere Aufgabe, auf die apokalyptische Depression zu warten, sondern eine methodische Analyse der konstanten Zuspitzung der Krise zu entwickeln und damit das Scheitern aller kapitalistischer Maßnahmen, die der Kapitalismus als „Mittel zur Überwindung der Krise und als Weg zu besseren Zeiten“ präsentiert, aufzuzeigen. All dies mit der Sorge um das Wesentliche: die Entwicklung des Klassenkampfes und vor allem des Bewusstseins des Proletariates, des Totengräbers der kapitalistischen Gesellschaft und Handwerkers der Aktion der Menschheit zur Bildung einer neuen Gesellschaft.

Aus diesem Grunde hat die Resolution des letzten Kongresses klargestellt, dass es in der Entwicklung des Kapitalismus keinen „wirtschaftlichen Punkt gibt, wo es „keine Rückkehr“ mehr geben kann, ab dem das System unwiderruflich dazu verdammt wäre zu verschwinden. Genauso wenig gibt es irgendeine theoretisch festgelegte Grenze des Schuldenbergs (die Hauptdroge des todkranken Kapitalismus), die das System sich selbst setzen kann, ohne seine eigene Existenz zu verunmöglichen. In der Realität hat der Kapitalismus seine ökonomischen Grenzen mit dem Eintritt in die Phase seiner Dekadenz erreicht. Seitdem konnte der Kapitalismus nur noch durch zunehmende Manipulationen an den Gesetzen des Kapitalismus überleben: eine Aufgabe, die nur der Staat erfüllen kann.

In Wirklichkeit sind die Grenzen des Kapitalismus politisch und nicht ökonomisch. Der Ausgang der historischen Krise des Kapitalismus hängt von der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen ab:

entweder kann das Proletariat seinen Kampf entfalten, bis es seine weltweite revolutionäre Diktatur durchsetzen kann,

oder der Kapitalismus stürzt die Menschheit durch seine ihm innewohnende Tendenz zum Krieg in Barbarei und endgültige Zerstörung.“


1 Siehe dazu: Internationale Revue Nr. 25: „Wohin der Kapitalismus die Welt treibt“ und International Review Nr. 101 (engl./franz./span. Ausgabe): „Das barbarischste Jahrhundert der Geschichte“.

2 Im Rahmen dieser Zusammenarbeit gegen die kleinen Gangster haben sich die Großen jedoch eine wütende Schlacht zur Steigerung des jeweils eigenen Anteils an der Weltwirtschaft geliefert.

3 „Die kapitalistische Gesellschaft in der imperialistischen Epoche ist wie ein Gebäude bei dem das Material für den Bau der oberen Stockwerke den unteren und dem Fundament entnommen wurde. Je wilder die oberen Stöcke in die Höhe schießen, desto schwächer werden die Fundamente, die das Gebäude stützen. Je größer der Schein der Macht an der Spitze, desto zerbrechlicher ist das Gebäude in Wirklichkeit.“ (Internationalisme Nr. 2, „Bericht über die internationale Situation“, Juli 1945)        

4 Diese runde Ziffer ist eh falsch. In Realität handelt es sich um 33 Wachstumsmonate (8 Jahre und ein Quartal). All die Kommentare über das „Aussergewöhnliche“ dieses Wachstumszyklus unterschlagen bewusst, dass es in den 60er Jahren einen längeren Zyklus (35 Trimester) gab.

5 Die Zahlen stammen aus einem Artikel von Battaglia comunista über die „New Economy“: Prometeo Nr. 1, 2000.

6 UNO-Bericht der Wirtschaftskommission für Europa.

7 Das Gewicht der Rüstungsausgaben in den USA drückt ebenfalls auf das kranke Wachstum. Diese Ausgaben erreichten 1985 in der Epoche des sog. Kriegs der Sterne unter Reagan den Höhepunkt mit 352‘000 Millionen Dollar und sind seit 1990 auf den Tiefstand von 1997 mit 255‘000 Millionen Dollar gefallen. Seither ist ein neuer Anstieg zu verzeichnen, 2000 erreichten die Ausgaben wieder 274‘000 Millionen Dollar (Zahlen aus Révolution Internationale Nr. 305).

8 Die Juniausgabe 2000 von Prometeo enthielt auch einen Artikel gegen den Mythos der „Neuen Ökonomie“ und enthält wertvolle Argumente.

9Als Vergleichsgrundlage dient ein solches Netz von Büros mit 100 Arbeitsplätzen und Computern ohne permanente Verbindung.

10 Die herrschende Klasse bietet demgegenüber andere Visionen an, diejenigen der Bewegung von Prag und Seattle: Die Schuld wird einer bestimmten Form der kapitalistischen Politik in die Schuhe geschoben (dem Liberalismus und der Globalisierung), fordert einen „faireren Handel“, „Schuldenerlasse“ und „radikale Proteste“. Sie fördert somit die Idee, dass der Kapitalismus gesund sei, eine fortschrittliche Entwicklung stattfinden könnte und „Reformen“ möglich seien, wenn nur die „Irrtümer“ des IWF und der WTO und anderer „Bösewichte“ korrigiert würden.

11 Vgl. unsere Serie ”30 Jahre offene Krise des Kapitalismus” in Internationale Revue Nr. 24-26

12 Quelle: London School of Economics, eine im Januar 1997 veröffentlichte Studie.

13 Diese Zahlen sind einem Buch von J. Gray mit dem Titel Falso amanecer entnommen, welches eine Kritik an der Globalisierung sein will.

14 Zahlen aus dem zitierten Artikel von Battaglia comunista in Prometeo.

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Kommunistische Linke [2]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [14]

1921 Kronstadt verstehen

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Vor 80 Jahren im März 1921, vier Jahre nach der erfolgreichen Machtübernahme durch die Arbeiterklasse in der russischen Oktoberrevolution 1917, unterdrückte die bolschewistische Partei gewaltsam eine Erhebung in der Garnison der baltischen Flotte in Kronstadt auf der kleinen Insel Kotlin im finnischen Meerbusen, 30 Kilometer von Petrograd entfernt.

Die bolschewistische Partei hatte im Kampf gegen die konterrevolutionären Armeen der russischen und ausländischen Bourgeoisien eine mehrjährige Erfahrung im Führen eines blutigen Bürgerkrieges gesammelt. Doch der Aufstand der Kronstädter Garnison war neu und anders: Es war ein Aufstand von Innen, von der Arbeiterklasse, die das Sowjetregime unterstützt hatte, die die Avantgarde der Oktoberrevolution gewesen war und nun Klassenforderungen aufstellte, um etliche inakzeptable Deformationen und Verirrungen der neuen Machthaber zu korrigieren.

Die gewaltsame Niederschlagung dieses Kampfes bildete seitdem einen Bezugspunkt für das Verständnis der Bedeutung des revolutionären Projektes. Und heute, wo die Bourgeoisie alles daran setzt, der Arbeiterklasse zu beweisen, dass es einen unerschütterlichen Zusammenhang zwischen Marx und Lenin sowie Stalin und dem Gulag gibt, um so mehr.

Wir haben nicht die Absicht, in alle historischen Details zu gehen. Frühere Artikel in der Internationalen Revue haben sich mit dem Ereignis bereits detailliert befasst. (Internationale Revue, engl./franz./span. Ausgabe, Nr. 3: „Die Lehren von Kronstadt“, und Nr. 100: „Das Proletariat und der Staat in der Übergangsperiode“)

Im Gegenteil, wir wollen die Gelegenheit dieses Jubiläums wahrnehmen, um uns polemisch mit zwei Arten von Argumenten über den Aufstand von Kronstadt auseinanderzusetzen: erstens die anarchistische Verwendung der Ereignisse, um die autoritäre, konterrevolutionäre Natur des Marxismus und der Parteien, die in seinem Namen agieren, zu beweisen; zweitens der Gedanke, der noch immer im proletarischen Lager heute existiert, wonach die Niederschlagung der Rebellion eine „tragische Notwendigkeit“ gewesen sei, um die Errungenschaften des Oktobers zu verteidigen.

Die anarchistische Sichtweise

Der anarchistischen Historiker Voline schreibt: „Lenin hat von der Kronstädter Bewegung nichts begriffen – oder wollte vielmehr nichts begreifen. Für ihn und seine Partei ging es einzig und allein darum, die Macht zu behaupten, koste es was es wolle. (...) Als autoritäre und staatsgläubige Marxisten konnten die Bolschewiki keine Freiheit der Massen zulassen, keine Unabhängigkeit ihrer Aktion. Sie hatten überhaupt kein Vertrauen in die freien Massen. Sie waren überzeugt, dass der Sturz ihrer Diktatur das Ende des ganzen begonnenen Werkes, die Gefährdung der Revolution überhaupt bedeuten würde, der Revolution, mit der sie ihre Diktatur verwechselten. (...) Kronstadt war der erste vollkommen unabhängige Versuch des Volkes, sich von jedem Joch zu befreien und die Soziale Revolution zu verwirklichen: Es war ein direkter, entschlossener und kühn durchgeführter Versuch der werktätigen Massen selbst, ohne „politische Hüter“, ohne „Führer“ oder Vormund. Kronstadt war der erste Schritt zur Dritten, zur Sozialen Revolution. Kronstadt fiel. Aber es tat, was es tun musste, und das ist das Entscheidende. In dem verwirrenden und finsteren Labyrinth der Wege, die sich den revolutionären Massen anbieten, ist Kronstadt ein strahlender Leuchtturm, der den richtigen Weg erhellt. Dabei ist es unwichtig, dass die Aufständischen – unter den spezifischen Bedingungen – noch von einer Macht (der Sowjets) sprachen, anstatt den Begriff und die Vorstellung einer Macht für immer zu verbannen, anstatt von Koordination, Organisation und Administration zu sprechen. Dies war der letzte Tribut an die Vergangenheit. Wenn die uneingeschränkte Diskussions-, Organisations- und Handlungsfreiheit von den werktätigen Massen selbst endgültig errungen sein wird, wenn der wahre Weg der unabhängigen Aktivität des Volkes beschritten sein wird, dann folgt alles übrige zwangsläufig, automatisch.“ (Voline, Der Aufstand von Kronstadt, Unrast-Verlag, Seiten 128 und 133. Originaltitel: Die unbekannte Revolution)

Für die Anarchisten, deren Sichtweisen Voline prägnant ausdrückt, war die Unterdrückung des Kronstädter Aufstandes also die natürliche, logische Konsequenz aus den marxistischen Auffassungen der Bolschewiki. Der Substitutionismus der Partei, die Identität zwischen der Diktatur des Proletariats und der Parteidiktatur und die Schaffung eines Übergangsstaates seien Ausdruck ihrer überbordenden Gier nach Macht, Autorität über die Massen gewesen, in die sie kein Vertrauen besessen hätten. Bolschewismus bedeutete Voline zufolge die Ersetzung der einen Form der Unterdrückung durch eine andere.

Doch war Kronstadt für ihn nicht nur eine Revolte, sondern ein Modell für die Zukunft. Indem der Kronstädter Sowjet sich selbst auf wirtschaftliche und soziale Aufgaben (Koordination, Organisation, Administration) beschränkt, und sich nicht um politische Aufgaben (dem Gerede über die Sowjetmacht) geschert habe, habe er bildhaft gemacht, wie eine wahre soziale Revolution aussehen müsste: eine Gesellschaft ohne Führer, ohne Parteien, ohne Staat, ohne Macht jeglicher Art, eine Gesellschaft der sofortigen und völligen Freiheit.

Dumm nur für die Anarchisten, dass die erste Lektion sich auffällig mit der vorherrschenden Ideologie der Weltbourgeoisie deckt, wonach eine kommunistische Revolution nur zu einer neuen Form der Tyrannei führt.

Diese Übereinstimmung in der Sichtweise zwischen den Anarchisten und der Bourgeoisie ist nicht zufällig. Beide behandeln die Geschichte mit den Abstraktionen der Gleichheit, Solidarität und Brüderlichkeit gegen Hierarchie, Tyrannei und Diktatur. Die Bourgeoisie benutzte diese moralischen Prinzipien zynisch und heuchlerisch gegen die Oktoberrevolution, um die Brutalität der konterrevolutionären Kräfte zwischen 1918 und 1920 zu rechtfertigen, als sie bewaffnete Interventionen gegen Russland anführte und es wirtschaftlich strangulierte. Die praktische Alternative der Anarchisten zum Bolschewismus ist auf der anderen Seite eine naive Utopie, wo die historischen Probleme, denen die proletarische Revolution gegenüber steht, auf mysteriöse Weise wegschmelzen.

Doch wie die Ereignisse von Spanien 1936 bestätigen, bleibt der anarchistischen Naivität, nachdem sie die marxistische historische Konzeption der Revolution verworfen hat, nur noch, vor der praktischen Konterrevolution der Bourgeoisie zu kapitulieren.

Wenn die Bolschewiki grundsätzlich von einer Manie für die völlige Machtausübung motiviert waren, wie Voline behauptet, dann ist der Anarchismus im Gegensatz dazu unfähig, auf eine ganze Reihe von Fragen zu antworten, die von der historischen Realität aufgeworfen werden. Wenn das ultimative Ziel der Bolschewiki die Macht war, warum verdammten sie sich dann, anders als die Mehrheit der Sozialdemokraten, selbst zu einer Periode der Ächtung zwischen 1914 und 1917, als sie den imperialistischen Krieg denunzierten und dazu aufriefen, ihn in einen Bürgerkrieg zu verwandeln? Warum weigerten sie sich dann, anders als die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, zusammen mit der liberalen Bourgeoisie Russlands nach der Februarrevolution von 1917 der Provisorischen Regierung beizutreten, und forderten stattdessen: „Alle Macht den Räten“?

Warum vertrauten sie den Fähigkeiten der russischen Arbeiterklasse, im Oktober die proletarische Weltrevolution zu beginnen, anders als der überwiegende Rest der internationalen Sozialdemokratie, die das dortige Proletariat für zu rückständig und zahlenmäßig für zu klein hielten, um die Bourgeoisie zu stürzen?

Warum vertrauten sie der Unterstützung durch die Arbeiterklasse, errangen und behielten sie, als es darum ging, die notwendigen Opfer zu erbringen, um die alliierte Blockade zu überleben und mit Waffen in den Händen den konterrevolutionären Armeen zu widerstehen?

Wie ist es zu erklären, dass sie das Weltproletariat dazu inspirierten, dem russischen Vorbild mit eigenen revolutionären Versuchen in ganz Europa und in der restlichen Welt zu folgen? Wie konnte die bolschewistische Partei die Initiative bei der Schaffung einer neuen Kommunistischen Internationalen auf Weltebene übernehmen?

Und schließlich: Weshalb trat der Integrationsprozess der Partei in die Staatsmaschinerie, ihre Aneignung der Massenorgane der Arbeitermacht – die Arbeiterräte und Fabrikkomitees – und letztendlich der Gebrauch von Gewalt gegen den Klassenkampf nicht über Nacht auf, sondern erst nach einer längeren Periode?

Die Theorie von der den Bolschewiki innewohnenden „Boshaftigkeit“ erklärt weder die Degeneration der Russischen Revolution im Allgemeinen noch die Kronstädter Episode im Besonderen.

Ab 1921 war die Revolution in Russland und die sie anführende bolschewistische Partei mit einer schwierigen Situation konfrontiert. Die Ausbreitung der Revolution auf Deutschland und andere Länder schien weitaus weniger wahrscheinlich als 1919. Die Lage der Weltwirtschaft hatte sich verhältnismäßig stabilisiert, und der Spartakusaufstand, Angelpunkt der Weltrevolution, war gescheitert. Innerhalb Russlands war die Lage, trotz des Sieges im Bürgerkrieg, infolge der wiederholten Anschläge durch konterrevolutionäre Armeen und der wirtschaftlichen Strangulierung, die von der internationalen Bourgeoisie bewusst organisiert worden war, dramatisch. Die industrielle Infrastruktur lag in Trümmern, und die Arbeiterklasse war durch ihre Opfer auf den Schlachtfeldern zunächst im Ersten Weltkrieg und dann im Bürgerkrieg und schließlich dadurch dezimiert, dass sie in Scharen die Städte verlassen und aufs Land gehen mussten, um zu überleben. Auch sahen sich die Bolschewiki einer wachsenden Unzufriedenheit mit dem Regime nicht nur unter den Bauern gegenüber, die eine Reihe von Erhebungen in den Provinzen in Gang setzten, sondern vor allem unter den Arbeitern, die Mitte Februar 1921 eine Streikwelle in Petrograd auslösten. Und dann kam Kronstadt.

Wie konnte Russland eine Bastion der Weltrevolution bleiben, die Verdrossenheit der Arbeiterklasse und die wirtschaftliche Auflösung überstehen und gleichzeitig auf die späte Hilfe durch die Arbeiterrevolutionen in anderen Ländern und besonders in Europa warten? Die Anarchisten haben keine Erklärung für die Degeneration der Revolution, außer, ihre Augen vor dem Problem der politischen Souveränität des Proletariats, der Zentralisierung ihrer Macht, der internationalen Ausdehnung der Revolution und der Übergangsperiode zur kommunistischen Gesellschaft zu schließen. Dies ändert nichts an der Tatsache, dass die Bolschewiki einem katastrophalen Irrtum aufgesessen waren, als sie auf den Aufstand von Kronstadt militärisch antworteten und den Widerstand der Arbeiterklasse als einen Akt des Verrates und der Konterrevolution behandelten. Doch die bolschewistische Partei konnte nicht von der nachträglichen Einsicht profitieren wie die heutigen Revolutionäre. Sie konnte lediglich die Errungenschaften der Arbeiterbewegung zu jener Zeit nutzen, die niemals zuvor mit der immens schwierigen Aufgabe konfrontiert war, sich innerhalb einer feindlichen, kapitalistischen Umwelt an der Macht zu halten. Weder das Verhältnis der Sowjets zur Partei der Arbeiterklasse nach der erfolgreichen Machtergreifung noch das Verhältnis von beiden zum Übergangsstaat, der unvermeidbar war, um den bürgerlichen Staat erfolgreich zu zerschlagen, war verstanden worden.

Als sie das Staatsruder übernahm und allmählich die Arbeiterräte und Fabrikkomitees dem Staat einverleibte, stocherte die bolschewistische Partei im Dunkeln. Gemäß der vorherrschenden Meinung innerhalb der damaligen Arbeiterbewegung kam die Hauptgefahr für die Revolution von außerhalb des neuen Staatsapparates: von der internationalen Bourgeoisie und von der Bauernschaft sowie der russischen Bourgeoisie im Exil. Keine Tendenz in der kommunistischen Bewegung zu jener Zeit, nicht einmal der linke Flügel, hatte eine alternative Perspektive, auch wenn es Manche, auch innerhalb der bolschewistischen Partei, gab, die vor der Bürokratisierung des Regimes warnten. Aber ihre Rezepte waren nur bedingt wirksam und enthielten zudem andere Gefahren. Die Arbeiteropposition von Kollontai und Schljapnikow forderte die Gewerkschaften auf, die Arbeiter gegen die staatlichen Exzesse zu verteidigen, und übersah dabei, dass die Arbeiterräte sie als Massenorgane des revolutionären Proletariats abgelöst hatten.

Es gab so manchen in der bolschewistischen Partei, der gegen die Zerschlagung der Revolte opponierte: die Parteimitglieder in Kronstadt, die sich der Bewegung anschlossen, und Elemente wie Gawrjil Miasnikow, der später die Arbeitergruppe gründen sollte und sich der militärischen Lösung widersetzte. Doch die existierenden linken Tendenzen in der Partei und in der Kommunistischen Internationalen unterstützten, trotz ihrer Kritik am bolschewistischen Regime, unbeirrt die Anwendung von Gewalt. Die Arbeiteropposition meldete sich gar freiwillig bei den Stoßtruppen. Die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands, die KAPD, die gegen die Parteidiktatur opponierte, stimmte dennoch der militärischen Handlungen gegen die Kronstädter Rebellion zu (dies hindert einige Anarchisten wie die Anarchistische Föderation in Großbritannien heute nicht daran, die KAPD als ihre Ahnen zu beanspruchen!).

Schließlich bildeten die Forderungen des Kronstädter Sowjets entgegen der Auffassung Volines keine kohärente, alternative Perspektive, da sie hauptsächlich in einem unmittelbaren und lokalen Kontext eingebunden waren und sich nicht mit den weiteren Auswirkungen für die proletarische Bastion und mit der Weltlage befassten. Insbesondere gaben sie keine Antwort darauf, wie die Rolle der Avantgardepartei aussehen sollte.921#_edn1">1

Erst später, viel später, versuchten Revolutionäre, all die Lehren aus der Niederlage der Russischen Revolution und der revolutionären Welle, die dadurch ausgelöst wurde, zu ziehen, und konnten so auf die wirklichen Lektionen dieser tragischen Episode hinweisen:

„Es mag sein, dass unter bestimmten Umständen das Proletariat – und wir wollen ihm sogar zugestehen, dass es unbewusstes Opfer der feindlichen Manöver ist – in den Kampf gegen den proletarischen Staat tritt. Was ist in einer solchen Situation zu tun? Wir müssen von dem Prinzip ausgehen, dass der Sozialismus dem Proletariat nicht mit Zwang und Gewalt aufoktroyiert werden kann. Es wäre besser gewesen, Kronstadt zu verlieren, als es vom geographischen Standpunkt aus festzuhalten, da dieser Sieg substantiell nur ein Resultat haben konnte: die Änderung der eigentlichen Basis, der Substanz der vom Proletariat ausgeübten Tat.“ (Octobre Nr. 2, März 1938, Organ des Internationalen Büros der Fraktionen der Kommunistischen Linken)

Die Linkskommunisten haben den Finger auf das wesentliche Problem gelegt: Die bolschewistische Partei hat, indem sie staatliche Gewalt gegen die Arbeiterklasse anwendete, sich selbst an die Spitze der Konterrevolution gesetzt. Der Sieg über Kronstadt beschleunigte die Tendenz der bolschewistischen Partei, zu einem Instrument des russischen Staates gegen die Arbeiterklasse zu werden. Aus dieser Einsicht heraus waren die Linkskommunisten in der Lage, andere, kühne Schlussfolgerungen zu ziehen. Die kommunistische Partei muss, um die Vorhut des Proletariats zu bleiben, ihre Autonomie gegenüber dem postrevolutionären Staat sicherstellen, der die unvermeidliche Tendenz hat, den Status quo zu erhalten und das Fortschreiten des revolutionären Prozesses zu verhindern.

Die bordigistische Sichtweise

Jedoch ist diese Schlussfolgerung weit davon entfernt, von den heutigen Linkskommunisten allgemein anerkannt zu werden. In der Tat sind einige von ihnen, besonders die bordigistische Strömung, in völligem Gegensatz zu der Position der italienischen Fraktion von 1938, zu den Rechtfertigungen Lenins und Trotzkis für die Unterdrückung Kronstadts zurückgekehrt: „Es wäre sinnlos, über die schrecklichen Umstände, welche die Bolschewiki zwangen, Kronstadt niederzuschlagen, mit jemandem zu diskutieren, der aus Prinzip dagegen ist, dass eine proletarische Macht in ihrer Geburtsstunde oder auf dem Weg zur ihrer Konsolidierung auf Arbeiter schießen darf. Die Prüfung des schrecklichen Problems, mit welchem der proletarische Staat konfrontiert ist, beinhaltet eine Kritik an der Vision der Revolution durch eine rosarote Brille und lässt uns verstehen, weshalb die Niederschlagung dieser Rebellion mit den Worten Trotzkis ausgedrückt „eine tragische Notwendigkeit“  war, eine Notwendigkeit und eine Pflicht zugleich.“ („Kronstadt: eine tragische Notwendigkeit“, Programme Communiste Nr. 88, Organ der Internationalistischen Kommunistischen Partei, auf Französisch, übersetzt durch uns)

Die bordigistische Strömung mag unnachgiebig den Internationalismus der bolschewistischen Partei vertreten, doch indem sie diesen Teil der Tradition, zu der sie, wie sie selbst behauptet, gehört, übergeht, vertritt sie genauso vehement die Fehler der Bolschewiki und zeigt sich unfähig, aus all den Gründen für die Degeneration von Partei und Revolution zu lernen.921#_edn2">2

Ihr zufolge ist das Verhältnis der Partei zur Klasse und zum postrevolutionären Staat im revolutionären Prozess keine Frage des Prinzips, sondern der Zweckdienlichkeit: Wie übt die revolutionäre Avantgarde in jeder Lage am besten ihre Funktion aus.

„Dieser gigantische Kampf kann auch innerhalb des Proletariates selbst  schreckliche Spannungen hervorrufen. Es ist zwar klar, dass die Partei die Revolution und die Diktatur nicht gegen oder ohne die Massen machen kann, der revolutionäre Wille der Klasse drückt sich aber nicht durch konsultative Abstimmungen oder „Meinungsumfragen“ aus, in denen eine „numerische Mehrheit“, oder noch absurder, eine Einstimmigkeit zu suchen wäre. Er drückt sich durch ein Anwachsen und eine immer klarere  Ausrichtung der Kämpfe aus, in denen die entschlossensten Teile die unentschlossenen und zweifelnden mitreißen und falls nötig den Widerstand beiseite fegen. Während der Umtriebe des Bürgerkrieges und der Diktatur können sich die Verhältnisse und Beziehungen unter den verschiedenen Schichten ändern. Und weit entfernt von irgendeinem Recht auf „Rätedemokratie“ mit gleichem Gewicht und gleicher Wichtigkeit für alle Arbeiterschichten, Halbproletarier oder Kleinbürger, erklärt Trotzki in Terrorismus und Kommunismus, dass selbst ihr Recht an den Arbeiterräten teilzunehmen, das heisst an den Organen des proletarischen Staates, von ihrer Haltung in den Kämpfen abhängt.

Keine „verfassungsmäßige Regel“, kein „demokratisches Prinzip“ kann die Beziehungen innerhalb des Proletariates harmonisieren. Kein Rezept kann die Widersprüche zwischen den lokalen Bedürfnissen und den Erfordernissen der internationalen Revolution lösen, zwischen den unmittelbaren Bedürfnissen und den Erfordernissen des historischen Kampfes der Klasse, Widersprüche, die ihren Ausdruck im Widerstand verschiedener Teile des Proletariates finden. Kein Formalismus erlaubt es, Regeln aufzustellen über das Verhältnis zwischen der Partei, der fortgeschrittensten Fraktion der Arbeiterklasse und Organ ihres revolutionären Kampfes, und den Massen, die in unterschiedlichem Masse unter dem Druck der lokalen und unmittelbaren Bedingungen stehen. Selbst die beste Partei, die fähig ist ‚den Geist der Massen zu überwachen und zu beeinflussen‘ wie Lenin sagte, muss manchmal das Unmögliche von den Massen verlangen. Genauer gesagt, sie findet die ‚Grenze‘ des Möglichen nur im Versuch noch weiter zu gehen.“ (ebenda, übersetzt von uns)

1921 wählte die bolschewistische Partei den falschen Weg ohne jegliche vorherige Erfahrung oder Parameter, an denen sie sich hätte orientieren können. Heute machen die Bordigisten absurderweise aus den Fehlern der Bolschewiki Tugenden und erklären: „Es gibt keine Prinzipien.“ Die Bordigisten zaubern das Problem der Ausübung proletarischer Macht dadurch weg, dass sie formale und abstrakte Methoden zur Erlangung einer gemeinsamen Position der gesamten Klasse verspotten. Auch wenn es sicherlich zutrifft, dass es nie ein perfektes Mittel geben kann, um in einer äußerst schwankenden Situation einen Konsens zu erreichen, auch wenn die Erfahrungen aus Deutschland 1918 und anderswo zeigen, dass die Arbeiterräte gegenüber den Vereinnahmungsversuchen der Bourgeoisie verwundbar sind, haben sie (oder die Sowjets) sich dennoch als das geeignetste Mittel zur Widerspiegelung und Ausführung des sich entfaltenden revolutionären Willens des Proletariats in seiner Gesamtheit erwiesen. Obwohl die Bordigisten so generös sind zuzugeben, dass die Partei ohne die Massen keine Revolution machen könne, haben die Massen anschließend keine Möglichkeit, ihren revolutionären Willen als gesamte Klasse auszudrücken, außer durch die Partei und mit der Genehmigung der Partei. Und die Partei kann das Proletariat notfalls mit dem Maschinengewehr korrigieren, wie in Kronstadt. Entsprechend dieser Logik hat die proletarische Revolution zwei sich widersprechende Parolen: vor der Revolution „Alle Macht den Sowjets“, nach der Revolution „Alle Macht der Partei“.

Anders als Octobre haben die Bordigisten vergessen, dass im Gegensatz zur bürgerlichen Revolution die Aufgaben einer proletarischen Revolution nicht an eine Minderheit delegiert werden können, sondern von der selbstbewussten Mehrheit ausgeübt werden müssen. Die Emanzipation der Arbeiter ist die Aufgabe der Arbeiterklasse selbst.

Die Bordigisten lehnen sowohl die bürgerliche Demokratie wie auch die Arbeiterdemokratie ab, als sei beides derselbe Schwindel. Doch die Sowjets bzw. Arbeiterräte – das Mittel, durch das sich das Proletariat für den Sturz des Kapitalismus selbst mobilisiert – müssen die Organe der proletarischen Diktatur sein, die die Spannungen und Differenzen innerhalb des Proletariats reflektieren und regulieren sowie seine bewaffnete Macht über den Übergangsstaat beherbergen. Die Partei, die unersetzliche Avantgarde, kann, so klar und so weit gegenüber dem Rest des Proletariats vorangeschritten sie in einer bestimmten Zeit auch sein mag, dennoch nicht dieses an der Macht ersetzen.

Doch nachdem sie das Recht der Partei – praktisch, nicht „prinzipiell“ – demonstriert haben, Arbeiter niederzuschießen, fahren die Bordigisten fort und streiten, als schreckten sie selbst vor dem Schrecken dieser Schlussfolgerung zurück, ab, dass der Aufstand von Kronstadt überhaupt einen proletarischen Charakter gehabt habe. Einer von Lenins Definitionen jener Zeit folgend, sei Kronstadt eine „kleinbürgerliche Konterrevolution“ gewesen, die den reaktionären Weißgardisten Tür und Tor geöffnet habe.

Es ist sicherlich richtig, dass alle Arten konfuser und gar reaktionärer Ideen von den Rebellen Kronstadts zum Ausdruck gebracht wurden, und einige von ihnen spiegelten sich in ihrer Plattform wider. Es trifft ebenfalls zu, dass die organisierten Kräfte der Konterrevolution versucht hatten, die Rebellion für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Doch die Arbeiter von Kronstadt betrachteten sich selbst weiterhin in Kontinuität mit der Revolution von 1917 und als integraler Bestandteil der proletarischen Bewegung auf Weltebene:

„Lasst die Arbeiter der gesamten Welt wissen, dass wir, die Verteidiger der Sowjetmacht, die Errungenschaften der sozialen Revolution schützen. Wir werden gewinnen oder auf den Ruinen von Kronstadt zugrunde gehen, indem wir für die eigentliche Sache der proletarischen Massen kämpfen.“ (aus der Kronstädter Prawda)

Welche Konfusionen von den Kronstädter Rebellen auch immer ausgedrückt wurden, es ist absolut unstrittig, dass ihre Forderungen auch die Interessen des Proletariats widerspiegelten, das sich fürchterlichen Lebensbedingungen, einer wachsenden Unterdrückung durch die Staatsbürokratie und dem Verlust seiner politischen Macht in den verkümmerten Sowjets gegenübersah. Der Versuch der Bolschewiki, sie als kleinbürgerlich und potenzielle Agenten der Konterrevolution zu brandmarken, war natürlich ein Vorwand, um eine Situation äußerster Gefahr und Komplexität innerhalb der Arbeiterklasse mit Gewalt zu lösen.

Mit dem Vorteil der historischen, nachträglichen Einsicht und des theoretischen Werkes der Kommunistischen Linken gewappnet, sind wir in der Lage, den fundamentalen Irrtum in der Argumentation der Bolschewiki zu erkennen: Sie schlugen den Aufstand von Kronstadt nieder, und trotzdem wurden die Kommunisten von einer antiproletarischen Diktatur massakriert – vom Stalinismus, der absoluten Macht der kapitalistischen Bürokratie. Tatsächlich haben die Bolschewiki mit der Niederschlagung der Bemühungen der Arbeiter von Kronstadt, die Sowjets zu regenerieren, mit ihrer Identifizierung mit dem Staat den Weg geebnet für den Stalinismus, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie halfen mit bei der Beschleunigung des konterrevolutionären Prozesses, der weitaus fürchterlichere und tragischere Konsequenzen für die Arbeiterklasse haben sollte als die Restauration durch die Weißen. In Russland gewann die Konterrevolution, indem sie sich selbst als kommunistisch darstellte. Der Gedanke, dass das stalinistische Russland die lebende Verkörperung des Sozialismus sei und in direkter Kontinuität mit der Oktoberrevolution stünde, erzeugte schlimme Verwirrungen und uferlose Demoralisierung in den Reihen der Arbeiterklasse überall auf der Welt. Wir leben heute, wo die Bourgeoisie seit 1989 mit der Gleichsetzung des Todes des Stalinismus mit dem Tod des Kommunismus fortfährt, noch immer mit den Konsequenzen dieser Verzerrung der Realität.

Aber die Bordigisten identifizieren sich trotz dieser Erfahrung immer noch mit dem tragischen Fehler von 1921. Für sie war dies weniger eine „tragische“ Notwendigkeit, sondern eine kommunistische Pflicht, die jederzeit wiederholt werden muss!

Wie die Anarchisten sehen die Bordigisten keinen Widerspruch zwischen der bolschewistischen Partei von 1917, die den bewaffneten Willen des in den Sowjets organisierten, revolutionären Proletariats nicht nur lenkte, sondern sich ihm auch beugte und von ihm abhängig war, und der bolschewistischen Partei von 1921, die die Sowjets zu einem Schatten ihrer früheren Macht degradierte und die staatliche Gewalt gegen die Arbeiterklasse richtete. Doch während die Anarchisten der Bourgeoisie bei ihrer gegenwärtigen Kampagne helfen, indem sie die Bolschewiki als machiavellistische Tyrannen porträtieren, feiern die Bordigisten diesen arglistigen Ruf als den eigentlichen Gipfel revolutionärer Kompromisslosigkeit.

Doch eine Kommunistische Linke, die den Namen auch verdient, muss, auch wenn sie sich mit dem bolschewistischen Erbe identifiziert, in der Lage sein, seine Fehler zu kritisieren. Die Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes war einer der schädlichsten und schlimmsten von ihnen.

 Como, 8. Januar 2001



1 siehe Internationale Revue, Nr. 3, engl./franz./span. Ausgabe, S. 51, zur Plattform der Kronstädter Revolte

2 Das Internationale Büro für die Revolutionäre Partei (IBRP), ein anderer Zweig der Linkskommunisten, hat eine zweideutige Position zu Kronstadt. In einem Artikel, der in Revolutionary Perspectives Nr. 23 (1986) veröffentlicht wurde, wird der proletarische Charakter der Oktoberrevolution und der bolschewistischen Partei bekräftigt und die anarchistische Idealisierung des Kronstädter Aufstandes abgelehnt, indem unterstrichen wird, dass der Aufstand eindeutig die ungünstigen Bedingungen für die proletarische Revolution widergespiegelt habe und dass er viele konfuse und reaktionäre Elemente enthalten habe. Gleichzeitig kritisiert der Artikel den bordigistischen Gedanken, dass der Angriff auf Kronstadt eine Notwendigkeit gewesen sei, um die Diktatur der Partei zu wahren. Er bestätigt, dass eine der fundamentalen Lehren von Kronstadt darin besteht, dass die Diktatur des Proletariats von der Klasse selbst ausgeübt werden muss, durch ihre Arbeiterräte, und nicht durch die Partei. Er zeigt ebenfalls auf, dass die Irrtümer der Bolschewiki bezüglich des Verhältnisses zwischen Partei und Klasse im allgemeinen Rahmen der Isolation der proletarischen Bastion die innere Degeneration sowohl der Partei als auch des Sowjetstaates beschleunigten. Nichtsdestotrotz charakterisiert der Artikel die Revolte nicht als proletarisch und antwortet nicht auf die fundamentale Frage: Ist es möglich, dass eine proletarische Diktatur gegen die Unzufriedenen unter den Arbeitern Gewalt anwendet? Die Genossen des IBRP sagen gar, dass als Folge der Manipulationen der Konterrevolution – selbst wenn sie damit ein Kapitel der langsamen Agonie in der Arbeiterbewegung ansprechen – die Unterdrückung der Revolte mehr als gerechtfertigt gewesen sei.

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Welle 1917-1923 [15]

Bilan Nr. 11 vom Oktober/November 1934

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Krisen und Zyklen in der Wirtschaft des niedergehenden Kapitalismus II

Vorstellung

Im Folgenden veröffentlichen wir den zweiten Teil einer Studie, die in der Zeitschrift "Bilan" 1934 erschienen ist. Wir haben in der letzten Nummer der Internationalen Revue den ersten Teil publiziert, in dem Mitchell die Grundlagen der marxistischen Analyse des Profits und der Kapitalakkumulation in der Kontinuität von Marx und Rosa Luxemburg untersucht. In diesem zweiten Teil wendet er sich der "Analyse der allgemeinen Krise des dekadenten Imperialismus" zu und erklärt mit einer bemerkenswerten Klarheit die Merkmale dieser allgemeinen Krise des Imperialismus. Diese Studie errichtete damals die theoretische Grundlage für das Verständnis der unausweichlichen Tendenz zum Krieg in der historischen Krise des Kapitalismus. Sie bleibt von brennendem Interesse, da sie einen theoretischen Rahmen gibt für das heutige Verständnis der Wirtschaftskrise.                                                      IKS

Wir haben im ersten Teil dieser Studie festgestellt, dass die Periode von 1852 bis 1873 den Stempel einer beträchtlichen Entwicklung des Kapitalismus in freier Konkurrenz (gemildert einzig durch den Protektionismus  zur Verteidigung von im Wachstum befindlichen Industrien) trug. In dieser historischen Phase  vollendeten die diversen nationalen Bourgeoisien ihre ökonomische und politische Vorherrschaft auf den Ruinen der feudalistischen Überbleibsel. Sie befreiten die kapitalistischen Produktivkräfte von allen Fesseln: in Russland mit der Aufhebung der Leibeigenschaft, in den Vereinigten Staaten mit dem Sezessionskrieg und der Überwindung der anachronistischen Sklaverei und in Italien und Deutschland mit der Vollendung der nationalen Einigung. Der Vertrag von Frankfurt beendete den Zyklus der großen nationalen Kriege, aus denen die modernen Staaten hervorgegangen waren.

Der organische Prozess in der kapitalistischen Ära

Im schnellen Entwicklungsrhythmus integrierte die kapitalistische Produktionsweise bereits gegen 1873 die angrenzenden außerkapitalistischen Gebiete in ihre Sphäre, in ihren Markt. Europa war eine große, von der kapitalistischen Produktionsweise beherrschte Warenwirtschaft geworden (mit Ausnahme von einigen rückständigen Gebieten im Zentrum und im Osten). Auf dem nordamerikanischen Kontinent errichtete der bereits stark entwickelte angelsächsische Kapitalismus seine Hegemonie.

Der kapitalistische Akkumulationsprozess wurde zeitweise von zyklischen Krisen unterbrochen, nahm dann aber mit um so ungestümerer Kraft aufs Neue seinen Lauf und brachte eine ungeheure Zentralisierung der Produktionsmittel hervor, die den tendenziellen Fall der Profitrate noch mehr beschleunigte. Es gab ein Aufblühen riesiger Unternehmen mit hoher organischer Zusammensetzung des Kapitals, das durch die Entwicklung von Aktiengesellschaften weiter angeregt wurde. Diese Gesellschaften ersetzten den individuellen Kapitalisten, der allein nicht in der Lage war, den extensiven Forderungen der Produktion zu genügen. Die Industriellen verwandelten sich in den Verwaltungsräten untergeordnete Agenten.

Ein anderer Prozess kam in Gang: Aus der Notwendigkeit, einerseits dem tendenziellen Fall der Profitrate entgegenzuwirken, d.h. den Profit auf einer Höhe zu halten, die dem Charakter der kapitalistischen Produktionsweise entspricht, andererseits eine anarchische und zerstörerische Konkurrenz zu bremsen, tauchten nach 1873 monopolistische Organisationsformen auf. Erste Kartelle entstanden, bald darauf die konzentriertere Form der Syndikate. Schließlich entstanden Trusts und Konzerne mit horizontaler Integration ähnlicher Industrien oder vertikaler Integration von verschiedenen Produktionszweigen.

Mit dem Zustrom von beträchtlichen Mengen an verfügbaren Ersparnissen, die durch die intensive Akkumulation erwirtschaftet wurden, erlangte das Humankapital einen überragenden Einfluss. Das Beteiligungssystem, das sich über die Monopolgebilde spannte, gab ihm den Schlüssel zur Kontrolle der Produktion. Das industrielle sowie das Handels- und Bankkapital verloren so schrittweise ihre selbständige Stellung im wirtschaftlichen Mechanismus und auch einen beträchtlichen Anteil am Mehrwert. Sie wurden zu einer höheren kapitalistischen Organisationsweise gedrängt, die nach eigenem Gutdünken agiert: Es entstand das Finanzkapital. Dieses war alles in allem gesehen das Ergebnis der kapitalistischen Akkumulation und ihrer widersprüchlichen Erscheinungsformen. Diese Definition hat natürlich nichts mit jener gemeinsam, die das Finanzkapital als einen Willensausdruck einzelner Individuen darstellt, die vom Spekulationsfieber getrieben werden, um andere kapitalistische Formationen auszuplündern und ihre „freie“ Entwicklung zu behindern. Eine solche Auffassung vertreten die kleinbürgerlichen Sozialdemokraten  und Neomarxisten, die sich im Sumpf des "Antihyperkapitalismus" bewegen, und bringt das Unverständnis für die Gesetze der kapitalistischen Entwicklung zum Ausdruck. Sie ist dem Marxismus fremd und verstärkt lediglich die ideologische Herrschaft der Bourgeoisie.

Der Prozess der organischen Zentralisierung lässt die Konkurrenz keineswegs verschwinden, sondern vergrößert sie im Gegenteil in anderen Formen. Sie bringt also nur eine höhere Stufe der grundlegenden kapitalistischen Widersprüchlichkeit zum Ausdruck. Auf die Konkurrenz zwischen Individualkapitalisten, die sich zur Zeit des "progressiven" Kapitalismus auf allen nationalen und internationalen Märkten tummelten, folgt der internationale Wettstreit zwischen höher entwickelten Organismen: nämlich den Monopolen, den Herren der nationalen Märkte und der Grundindustrien.

In dieser Zeit hat die Produktion einen Umfang erreicht, der die Kapazitäten des nationalen Marktes überfordert und sie deshalb geographisch, durch koloniale Eroberungen zu Beginn der imperialistischen Ära, ausweitet. Die höchste Form der kapitalistischen Konkurrenz manifestiert sich schließlich in den imperialistischen Kriegen. Sie taucht auf, sobald alle Gebiete des Globus unter den imperialistischen Nationen aufgeteilt sind. Unter der Leitung des Finanzkapitals findet ein Transformationsprozess der nationalen Gebilde statt. Diese Umbildung der globalen Wirtschaftseinheiten ist eine Folge der historischen Umwälzungen und brachte schließlich eine globale Arbeitsteilung mit sich. "Die Monopole verstärken den Widerspruch zwischen dem internationalen Charakter der kapitalistischen Weltwirtschaft und dem Charakter des kapitalistischen Nationalstaates." (Rosa Luxemburg)

Die Entwicklung des ökonomischen Nationalismus ist sowohl intensiv als auch extensiv.

Das Hauptgerüst der intensiven Entwicklung bildet der Protektionismus. Er beschützt nun aber nicht mehr die in Entstehung begriffenen Industrien, sondern die Monopole des nationalen Marktes und beinhaltet zwei Möglichkeiten: Im Innern bringt er einen Superprofit ein, nach Außen erlaubt er das Dumping durch den Verkauf unter dem Wert.

Die extensive Entwicklung orientiert sich an der Eroberung von vorkapitalistischen Gebieten und Kolonien, um der ständigen Notwendigkeit  zur Ausdehnung des Kapitals, sprich: der Realisierung und Kapitalisierung des Mehrwerts, gerecht zu werden.

Die fundamentale Notwendigkeit der kapitalistischen Produktionsweise besteht in der ständigen Ausdehnung seines Marktes, um der ständigen Drohung einer Überproduktion an Waren, die sich in den zyklischen Krisen bemerkbar macht, zu entgehen. Einerseits steigt die organische Zusammensetzung des Kapitals und führt so zu Monopolen, zum Finanzkapital und zu einem wirtschaftlichen Nationalismus, anderseits mündet die historische Entwicklung in den Imperialismus. Bucharin definiert den Imperialismus als "ein Produkt des Finanzkapitals", was aber nichts anderes als eine falsche Herleitung ist und vor allem auch eine Außerachtlassung des gemeinsamen Ursprungs beider o.g. Aspekte des kapitalistischen Prozesses bedeutet: nämlich der Mehrwertproduktion.

Die Kolonialkriege in der ersten Phase des Kapitalismus

Der Zyklus der nationalen Kriege ist hauptsächlich durch den Kampf von sich im Aufbau befindlichen Nationen charakterisiert. Die Bedürfnisse der kapitalistischen Produktion machen eine ihnen entsprechende politische und soziale Struktur erforderlich.

Die zu erobernden Gebiete kann man folgendermaßen unterteilen:

a)     Die Siedlungskolonien dienen hauptsächlich als Kapitalanlagefelder und werden als solche eine Art Verlängerung der metropolitanen Wirtschaft. Sie durchlaufen eine ähnliche kapitalistische Entwicklung und werden in einigen Bereichen gar Konkurrenten. Beispiele dafür sind die britischen Dominions, die eine vollständige kapitalistische Struktur aufweisen.

b)     In den Ausbeutungskolonien mit dichter Bevölkerung verfolgt das Kapital zwei Hauptzielsetzungen: Es realisiert hier seinen Mehrwert und eignet sich günstig Rohstoffe an, was eine Wachstumsbremse für das konstante Kapital und somit eine Verbesserung des Verhältnisses der Mehrwertmasse zum Gesamtkapital bedeutet. Den Prozess der Realisierung der Waren haben wir bereits beschrieben: Der Kapitalismus zwingt die Bauern und die Kleinproduzenten zur Arbeit nicht nach ihren Bedürfnissen, sondern für den Markt, wo die kapitalistisch hergestellten Produkte gegen die landwirtschaftlichen Produkte ausgetauscht werden. Die Agrarvölker in den Kolonien müssen sich unter dem Druck des Handelskapitals in die Warenwirtschaft integrieren und auf die Großkultur von Rohstoffen wie Baumwolle, Kautschuk, Reis usw. konzentrieren. Die Kolonialanleihen sind ein Vorstoß des Finanzkapitals zur Bereitstellung von Kaufkraft, die zum Aufbau eines Verkehrsnetzes für die Waren dient: Es werden Eisenbahnen und Häfen zur Erleichterung des Rohstofftransports oder aber strategische Anlagen zur Konsolidierung der imperialistischen Herrschaft gebaut. Das Finanzkapital wacht sehr streng darüber, dass diese Kapitalien nicht etwa zur wirtschaftlichen Emanzipation der Kolonien dienen, dass sich die Produktivkräfte also nur in einer Art und Weise entwickeln, in der sie für die metropolitanen Industrien keine Gefahr darstellen können. So werden beispielsweise ihre Aktivitäten auf eine erste Verarbeitung der Rohstoffe gelenkt, die mit der einheimischen Arbeitskraft quasi gratis ausgeführt wird. Die Bauern, die unter dem Gewicht der Wucherzinsen und der Steuern ächzen, müssen die Produkte ihrer Arbeit weit unter dem Wert, wenn nicht gar unter den Kosten verkaufen.

Zu den zwei erwähnten Kolonisierungsmethoden gesellt sich eine dritte: Man belegt Einflusszonen in rückständigen Staaten, macht sie durch Anleihen und Kapitalanlagen abhängig. Der breite Strom von Kapitalexporten ging einher mit der Ausweitung des monopolistischen Protektionismus und begünstigte die Ausweitung der kapitalistischen Produktionsweise auf Zentral- und Osteuropa, nach Amerika und selbst nach Asien, wo Japan zu einer imperialistischen Macht wurde.

Die Ungleichheit der kapitalistischen Entwicklung setzte sich im Prozess der kolonialen Ausdehnung fort. Zu Beginn des Zyklus der Kolonialkriege standen die ältesten kapitalistischen Nationen bereits auf einer soliden imperialistischen Basis. Die beiden größten damaligen Mächte, Großbritannien und Frankreich, hatten bereits erkleckliche Teile Amerikas, Asiens und Afrikas unter sich aufgeteilt. Dieser Umstand trug dazu bei, dass diese Länder zuungunsten ihrer jüngeren Konkurrenten Deutschland und Japan ihre Ausdehnung vollenden konnten, während Letztere sich mit einigen mageren Flecken in Afrika und Asien zufrieden geben mussten. Jedoch waren sie in der Lage, ihre metropolitane Stellung in ungleich höherem Rhythmus zu verstärken als die alten Nationen: Deutschland konnte als Industriemacht bald den europäischen Kontinent dominieren, sich gegenüber dem englischen Imperialismus erheben und schließlich die Frage der Weltherrschaft stellen, deren Lösung im ersten imperialistischen Krieg gesucht wurde.

Während sich im Laufe des Zyklus der Kolonialkriege die wirtschaftlichen Unterschiede und die imperialistischen Widersprüche zuspitzten, konnten die daraus resultierenden Klassenkonflikte durch die Bourgeoisie in den fortgeschrittenen Ländern noch friedlich „gelöst“ werden. Dies war dank der während der kolonialen Raubzüge angehäuften Reserven an Mehrwert möglich. Die Bourgeoisie konnte nun daraus schöpfen und die privilegierten Schichten der Arbeiterklasse korrumpieren.1 Die beiden letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts  schufen innerhalb der internationalen Sozialdemokratie den Boden für den Triumph des Opportunismus und Reformismus, monströse parasitäre Gewächse, die sich von den Kolonialvölkern nähren.

Der koloniale Expansionismus ist in seiner Entwicklungsfähigkeit jedoch begrenzt, da er in seinem unersättlichen Eroberungsdrang bald alle außerkapitalistischen Absatzgebiete in sich aufgesogen hat. So orientiert sich die Konkurrenz zwischen den imperialistischen Mächten, nun bar jeglicher Ausweichmöglichkeiten, hin zum imperialistischen Krieg.

„Diejenigen, die sich nun mit der Waffe in der Hand gegenüberstehen“, sagt R. Luxemburg, „sind nicht einerseits die kapitalistischen Länder und andererseits Länder mit Naturalwirtschaft, sondern Staaten, die gerade durch die Identität ihrer fortgeschrittenen kapitalistischen Entwicklung zur Auseinandersetzung gedrängt werden.“

Zyklen von interimperialistischen Kriegen und Revolutionen in der allgemeinen Krise des Kapitalismus

Während die alten Naturgesellschaften Tausende von Jahren bestehen blieben und die antiken und feudalen Gesellschaftsordnung ebenfalls eine lange historische Zeitspanne durchliefen, ist „die moderne kapitalistische Produktion dagegen“, wie Engels hervorhob, „kaum 300 Jahre alt und wurde zur herrschenden erst mit der Errichtung der Großindustrie, d.h. seit 100 Jahren, hat in dieser kurzen Zeitspanne Ungleichheiten in der Verteilung hervorgebracht - Konzentration des Kapitals in einer kleinen Anzahl Hände auf der einen Seite, Konzentration der eigentumslosen Massen in den großen Städten auf der anderen Seite -, die ihren Sturz unausweichlich vorbereiten“.

Die kapitalistische Gesellschaftsordnung ist aufgrund der zugespitzten Widersprüche ihrer Produktionsweise nicht in der Lage, ihre historische Mission zu vollenden, d.h. kontinuierlich die Produktivkräfte und die Produktivität der menschlichen Arbeitskraft weiter zu entwickeln. Die Revolte der Produktivkräfte gegen die private Aneignung wird nun permanent. Der Kapitalismus tritt in seine allgemeine Zerfallskrise ein, und die Geschichte wird Zeuge seiner blutigen Agonie.

Fassen wir die Hauptcharakteristiken dieser allgemeinen Krise zusammen: eine allgemeine und konstante industrielle Überproduktion; eine chronische und technische Arbeitslosigkeit, die die Produktion von Kapital erschwert; eine beträchtliche permanente Massenarbeitslosigkeit, die die Klassenwidersprüche verschärft; eine chronische landwirtschaftliche Überproduktion (wir analysieren diese weiter unten), die die industrielle Krise in eine allgemeine Krise verwandelt; eine beträchtliche Verlangsamung des kapitalistischen Akkumulationsprozesses, hervorgerufen durch eine Verengung des Ausbeutungsfeldes der Arbeitskräfte (organische Zusammensetzung),  und der kontinuierliche Fall der Profitrate, den Marx bereits voraussah, als er schrieb, dass „die Produktion jeden belebenden Anreiz verliert und in Schlaftrunkenheit verfällt, sobald sich die Bildung von Kapital ausschließlich in den Händen von einigen großen Kapitalisten befindet, für die die Masse des Profits die Rate kompensiert. Die Profitrate ist die Triebkraft der kapitalistischen Produktion. Ohne Profit keine Produktion.“ Schließlich die Notwendigkeit für das Finanzkapital, nach einem Extraprofit zu trachten, nicht durch die Produktion von Mehrwert, sondern durch die Ausplünderung sowohl der Konsumenten (durch die Verteuerung der Warenpreise über ihren Wert hinaus) als auch der Kleinproduzenten (durch die Aneignung eines Teils ihrer Arbeit). Der Extraprofit stellt also eine auf der Warenzirkulation erhobene indirekte Steuer dar. Der Kapitalismus weist die Tendenz auf, im wahrsten Sinn des Wortes parasitär zu werden.

Schon während der beiden letzten Jahrzehnte vor dem Weltkrieg hatten sich diese Faktoren der allgemeinen Krise entwickelt und in gewisser Weise gewirkt, obwohl sich die Konjunktur noch in einem Aufwärtstrend befand – sozusagen der „Schwanengesang“ des Kapitalismus. 1912 wurde der Kulminationspunkt erreicht, die kapitalistische Welt wurde von Waren überschwemmt. 1923 brach die Krise in den USA aus und griff nach Europa über. Der Funke von Sarajewo führte zur Explosion und zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Dieser stellte die Neuaufteilung der Kolonien auf die Tagesordnung. Das folgende Massaker bildete ein beträchtliches Ventil für die kapitalistische Produktion und eröffnete „großartige“ Perspektiven.

Die Schwerindustrie fabrizierte nun nicht mehr Produktions-, sondern Destruktionsmittel und auch die Konsumgüterindustrie arbeitete nun nicht mehr in erster Linie für die Existenzsicherung der Menschen, sondern an der Beschleunigung ihrer Zerstörung. Auf der einen Seite führte der Krieg die „heilsame“ Operation der Wiederherstellung der überzogenen Kapitalwerte aus, indem er sie ersatzlos zerstörte. Auf der anderen Seite ermöglichte er durch einen beträchtlichen Preisanstieg unter dem Regime von Preiskontrollen die Realisierung von Waren weit über ihren Wert. Die Masse des Extraprofits, den das Kapital aus der Ausplünderung der Konsumenten so bezog, kompensierte bei weitem die Verminderung der Mehrwertmasse, die das Resultat einer Reduzierung von Gelegenheiten zur Ausbeutung von Arbeitskraft, eine Folge ihrer Mobilisierung für die Front, war.

Der Krieg zerstört vor allem viele Arbeitskräfte, die im Frieden nicht im Produktionsprozess verwendet werden können und somit eine zunehmende Gefahr für die Herrschaft der Bourgeoisie darstellen.2 Man schätzt die Zerstörung von reellen Werten auf einen Drittel des gesamten weltweiten, durch die Arbeit von Generationen von Arbeitern und Bauern akkumulierten Reichtums. Dieses soziale Desaster nimmt aus der Sicht der weltkapitalistischen Interessen das Aussehen einer gesunden Bilanz einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung an, die mit Wertpapieren und deren Gewinn- und Verlustrechnung handelt, von Gewinnen aufgebläht den Ruin zahlloser kleiner Unternehmen und das Elend der Arbeiter überdeckt. Denn obwohl die Zerstörungen apokalyptische Ausmaße annehmen, gehen sie nicht auf Kosten des Kapitalismus. Angesichts der dringenden Notwendigkeit, eine Kriegswirtschaft zu etablieren, versammeln sich während des Konfliktes alle Mächte unter dem Schirm des kapitalistischen Staates. Der Staat wird zum großen und unersättlichen Konsumenten, der seine Kaufkraft mittels gigantischer Anleihen unter bezahlter Mithilfe des Finanzkapitals aus dem nationalen Sparfonds beschafft. Er bezahlt mit Verträgen, die nichts anderes als eine Hypothek auf zukünftige Einkommen der Arbeiter und Bauern sind. Marx‘ vor über 75 Jahren getroffene Feststellung erhält hier die volle Bestätigung: "Der einzige Teil des so genannten nationalen Reichtums, der wirklich in das kollektive Eigentum der modernen Völker übergeht, ist ihre öffentliche Schuld."

Der Krieg beschleunigt natürlich die Zuspitzung der sozialen Widersprüche. Der Donnerschlag des Oktober 1917 eröffnet die letzte Phase des Massakers. Der schwächste Teil des globalen Kapitalismus fiel in sich zusammen. Revolutionäre Erschütterungen ließen Mittel- und Osteuropa erbeben. Die bürgerliche Macht wankte. Dem Konflikt musste ein Ende gesetzt werden. In Russland gelang es der Arbeiterklasse unter der Führung einer in 15 Jahren der Arbeiterkämpfe und ideologischen Arbeit gestählten Partei, eine noch schwache Bourgeoisie zu überwältigen und eine eigene Diktatur zu errichten; in den Ländern Zentraleuropas jedoch ist der Kapitalismus schon fester verwurzelt und der Bourgeoisie gelang es, obschon unter dem Druck der revolutionären Welle ins Wanken geraten, mit Hilfe einer noch mächtigen Sozialdemokratie und dem Umstand der völlig Unreife der kommunistischen Parteien das Proletariat in eine Richtung zu lenken, die es immer weiter von seinen eigenen Zielsetzungen entfernte. Das Anliegen des Kapitalismus wurde durch den Waffenstillstand erleichtert, der die Möglichkeit schuf, die "Kriegsprosperität" in eine Periode des wirtschaftlichen Wachstums zu verlängern, die durch die Notwendigkeit gerechtfertigt wurde, die Kriegsproduktion der Erneuerung und Instandsetzung des Produktionsapparates in Friedenszeiten anzupassen, um dem riesigen Deckungsbedarf bei den Grundbedürfnissen nachzukommen.  Dieser Aufschwung integrierte fast die Gesamtheit aller demobilisierten Arbeiter. Zudem machte die Bourgeoisie der Arbeiterklasse wirtschaftliche Zugeständnisse, wenn sie nicht gerade den Profit schmälerten (die gestiegenen Löhne folgten der Entwertung der Kaufkraft auf den Fuß). Diese Konzessionen weckten in der Arbeiterklasse die Illusion einer Verbesserung ihres Loses innerhalb des Kapitalismus. Sie isolierten die Arbeiterklasse von der revolutionären Avantgarde und erlaubten schließlich deren Liquidierung.

Die Erschütterungen auf der Ebene der Währungen verschlimmerten die bereits durch den Krieg verursachte Unordnung der Wertehierarchie und der Austauschbeziehungen. Der Aufschwung mündete (zumindest in Europa) in spekulative Aktivitäten und in eine Zunahme von fiktiven Werten statt in eine neue zyklische Phase. Er erreichte im übrigen schon bald seinen Höhepunkt. Und obwohl die Produktionskapazitäten stark vermindert worden und auch spürbar unter dem Vorkriegsniveau geblieben waren, überstieg das Produktionsvolumen schnell wieder die Kapazität der Massenkaufkraft. Deshalb erlebten wir bereits 1920 eine neue Krise, die der 3. Kongress der Kommunistischen Internationale als "Reaktion der Armut gegen die Anstrengungen, so zu produzieren, zu handeln und zu leben wie in der vorangehenden kapitalistischen Epoche", d.h. als fiktive Prosperität im Krieg und in der Nachkriegsära, definierte.

Ganz im Gegensatz zu Europa erschien die Krise in den Vereinigten Staaten noch als Schlusspunkt eines industriellen Zyklus. Der Krieg erlaubte es der US-Wirtschaft, sich vom Griff der wirtschaftlichen Depression von 1913 zu lösen und bot ihr beträchtliche Akkumulationsmöglichkeiten durch die Eliminierung ihrer europäischen Konkurrenten und der Eröffnung eines nahezu unerschöpflichen militärischen Marktes. Amerika lieferte nun Rohstoffe, landwirtschaftliche und industrielle Produkte nach Europa. Gestützt auf ihre kolossale Produktivkraft, auf eine mächtige industrialisierte Landwirtschaft, ihren enormen Kapitalressourcen und auf ihre Position als Hauptgläubiger der Welt, wurden die USA zum ökonomischen Mittelpunkt des Weltkapitalismus und verschoben so die Achse der imperialistischen Widersprüche. Der englisch-amerikanische Antagonismus trat nun an Stelle der englisch-deutschen Rivalität, die der Motor des Ersten Weltkriegs war.3 Das Ende des Krieges ließ in den USA einen starken Kontrast zwischen dem überentwickelten Produktionsapparat und dem beträchtlich zusammengeschrumpften Markt entstehen. Dieser Widerspruch entlud sich in der Krise vom April 1920, die der Wendepunkt des jungen amerikanischen Imperialismus zum Sturz seiner Ökonomie in den allgemeinen Zerfall war.

In der dekadenten Phase des Imperialismus gibt es nur noch einen Ausweg für die Gegensätze des Kapitalismus: den Krieg. Die Menschheit kann diesem Umstand allein durch die Revolution entgehen. Doch die Oktoberrevolution zeigte sich in den fortgeschrittenen westlichen Ländern nicht imstande, das Bewusstsein des Proletariats zur Reife zu bringen. Die Revolution war nicht in der Lage, die Produktivkräfte in Richtung Sozialismus zu lenken, der allein die Widersprüche des Kapitalismus überwinden konnte. So war, nachdem die letzten revolutionären Energien nach der Niederlage des deutschen Proletariats 1923 erst einmal ausgebrannt waren, die Bourgeoisie in der Lage, ihrem System wieder eine relative Stabilität zu verleihen. Obwohl sie ihre Vorherrschaft stärkte, drängte sie es nichtsdestotrotz wieder auf eine Fährte, die zu einer neuen und noch verheerenderen Feuersbrunst führt.

In der Zwischenzeit begann eine neue Periode wirtschaftlichen Aufschwungs, der alle Erscheinungsmerkmale einer Prosperität analog zu den Zyklen im aufsteigenden Kapitalismus hatte, zumindest was einen der Hauptaspekte anbelangt: nämlich die Produktionsentwicklung. Wir haben jedoch gesehen, dass das frühere Wachstum mit einer Ausdehnung des kapitalistischen Marktes einherging, der sich außerkapitalistische Gebiete einverleibte. Das Wachstum der Jahre 1924-1929 fand jedoch im Rahmen der allgemeinen Krise des Kapitalismus statt und konnte nicht auf solcherlei Möglichkeiten zurückgreifen. Im Gegenteil, wir wohnten einer Verschärfung der allgemeinen Krise bei, die von gewissen Faktoren, die wir nun kurz unter die Lupe nehmen, angetrieben wurde:

a)     Dem kapitalistischen Markt ist das große Absatzgebiet des imperialen Russland amputiert worden, einem Importeur von Industriegütern und Kapital und Exporteur von Rohstoffen und landwirtschaftlichen Produkten, die dank einer heftigen Ausbeutung der Bauern billig verkauft wurden. Schlimmer noch: Dieses letzte große vorkapitalistische Gebiet mit seinen enormen Ressourcen und den unermesslichen Arbeitskräften war in fürchterliche soziale Konvulsionen gestoßen worden, was es dem Kapitalismus unmöglich machte, hier sichere Investitionen zu tätigen.

b)     Der Zusammenbruch der weltwirtschaftlichen Mechanismen eliminierte das Gold als Universalwährung und als allgemeines Äquivalent für Waren. Das Fehlen eines gemeinsamen Maßstabs und die Koexistenz von Währungssystemen, die entweder auf dem Gold, dem fixen Wechselkurs oder der Nichtkonvertibilität fußten, verursachten derartige Preisunterschiede, dass der Wertbegriff zunehmend vage wurde, der internationale Handel aus den Fugen geriet und seine Unordnung durch die immer häufigere Zuflucht zum Dumping verschlimmert wurde.

c) Die chronische und allgemeine Krise der Landwirtschaft in den Agrarstaaten und in den landwirtschaftlichen Sektoren der Industriestaaten erreichte ihr volles Ausmaß in der Weltwirtschaftskrise. In der Vorkriegszeit erhielt die Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktion den Hauptimpuls von der Industrialisierung und der landwirtschaftlichen Kapitalisierung in den großen Gebieten der USA, Kanadas und Australiens und weitete sich auf die rückständigen Gebiete Zentraleuropas und Südamerikas aus, deren hauptsächliche Agrarwirtschaften ihren halbautonomen Charakter verloren und nun vollständig vom Weltmarkt abhängig wurden.

Darüber hinaus übten die Industrieländer, welche normalerweise Importeure landwirtschaftlicher Güter waren, eine Politik des wirtschaftlichen Nationalismus aus und versuchten, ihre eigenen agrarwirtschaftlichen Defizite durch die Erweiterung der Anbauflächen für Getreide und durch eine Steigerung der Erträge unter dem Schutz von Zollschranken und Subventionen auszugleichen.

Diese Praxis wurde zunehmend auch in den Ländern mit industrialisierter Landwirtschaft (USA, Kanada und Argentinien) angewendet. Aus dem monopolistischen Druck resultierte ein Regime von unrealistischen Agrarpreisen, die auf das Niveau der höchsten Produktionskosten anstiegen und schwer auf der Massenkaufkraft lasteten (dies macht sich vor allem beim Getreide, einem Massenkonsumartikel, bemerkbar).

Die völlige Integration der bäuerlichen Wirtschaften in den Markt führte zu einer für den Kapitalismus wichtigen Konsequenz: Die nationalen Märkte konnten nun nicht mehr ausgedehnt werden und hatten den Punkt der absoluten Sättigung erreicht. Der Bauer blieb zwar scheinbar ein unabhängiger Produzent, jedoch wurde er genauso wie ein Lohnabhängiger in die Sphäre der kapitalistischen Produktion integriert: Gleich wie der Arbeiter durch den Zwang zum Verkauf seiner Arbeitskraft seiner Mehrarbeit beraubt wird, ist auch der Bauer nicht in der Lage, sich die in seinem Produkt enthaltene Mehrarbeit anzueignen, da er dieses unter seinem Wert verkaufen muss.

Im nationalen Markt zeigt sich die Vertiefung der kapitalistischen Widersprüche deutlich: Einerseits nimmt der Anteil des Proletariats am Gesamtprodukt zunächst relativ, schließlich absolut ab; die Erhöhung der permanenten Arbeitslosigkeit sowie der industriellen Reservearmee vermindert den Absatz für landwirtschaftliche Güter. Die daraus resultierende Verringerung der kleinbäuerlichen Kaufkraft schränkt den Markt für kapitalistische Güter ein. Die konstante Senkung der allgemeinen Massenkaufkraft der Arbeiter und Bauern gerät nun in einen immer krasseren Gegensatz zur überbordenden landwirtschaftlichen Produktion, die vor allem Massenkonsumgüter herstellt.

Die Existenz einer endemischen landwirtschaftlichen Überproduktion (sie wird anhand des Falls der Getreidepreise zwischen 1926 und 1933 um zwei Drittel klar ersichtlich) verstärkt die Zerfallsfaktoren, die innerhalb der allgemeinen Krise des Kapitalismus wirken. Denn die landwirtschaftliche Überproduktion unterscheidet sich streng genommen von der kapitalistischen Überproduktion insofern, als ihr nicht entgegengehandelt werden kann (es sei denn durch den „glücklichen“ Umstand einer Naturkatastrophe), betrachtet man die spezifische Natur der landwirtschaftlichen Produktion, die noch immer unzureichend zentralisiert und kapitalisiert ist und Millionen von Familien beschäftigt.

Wir haben nun die Bedingungen bestimmt, in deren Rahmen sich die interimperialistischen Widersprüche entwickeln. Es ist nun leicht, den wahren Charakter der ungewöhnlichen Prosperität in der Periode der Stabilisierung des Kapitalismus zu erraten. Die Hauptzüge der Konjunkturphase von 1924 bis 1928 - die beträchtliche Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktion, des globalen Handelsvolumens und der internationalen Kapitalbewegungen – erklären sich aus der Notwendigkeit, die Spuren des Krieges zu entfernen und die früheren Produktionskapazitäten wiederaufzubauen, so dass sie für ihr fundamentales Ziel genutzt werden konnten: die Vollendung der ökonomischen und politischen Struktur der imperialistischen Staaten, die die Sicherstellung ihrer Konkurrenzfähigkeit bestimmt, und die Herrichtung der Ökonomien für den Krieg. Es wird nun klar, dass all diese konjunkturellen Schwankungen, obwohl sie sich auf einer aufsteigenden Kurve bewegen, nichts anderes als die Veränderungen der imperialistischen Kräfteverhältnisse widerspiegeln, die in der Neuaufteilung der Welt durch den Versailler Vertrag fixiert worden waren.

Der technische Fortschritt und das Wachstum der Produktionskapazitäten nahmen hauptsächlich in Deutschland gigantische Ausmaße an. Nach den inflationären Erschütterungen der Jahre 1922/23 nahmen die englischen, französischen und vor allem amerikanischen Kapitalinvestitionen derart zu, dass sie keine heimische Anlagemöglichkeit mehr vorfanden und durch die Banken insbesondere an die UdSSR zur Finanzierung des Fünfjahresplans geleitet wurden.

Im Laufe des Expansionsprozesses der Produktivkräfte wurde auch das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate wieder virulent. Die organische Zusammensetzung nahm nun noch schneller als die Entwicklung des Produktionsapparates zu, was sich vor allem in den Hauptbranchen zeigte. Das Resultat war eine Änderung im konstanten Kapital: Der fixe Teil (Maschinen) stieg stark im Verhältnis zum zirkulierenden Teil (Rohstoffe und Verbrauchsgüter) und wurde zu einem einengenden Faktor, der die Produktionskosten in dem Masse erhöhte, wie das Produktionsvolumen schrumpfte und das fixe Kapital den Gegenwert zum geliehenem Kapital darstellte. Die mächtigsten Unternehmen reagierten daher  beim geringsten Konjunktureinbruch am sensibelsten. 1929, auf dem Höhepunkt der wirtschaftlichen Prosperität, wurden in den USA für die gesamte Stahlproduktion lediglich 85% der Produktionskapazitäten benötigt; im März 1933 war die Auslastungsrate der Produktionskapazitäten auf 15% gefallen. 1932 wurden in den großen Industrieländern wertmäßig nicht einmal mehr so viele Produktionsgüter produziert, wie eigentlich zum Ersatz des verbrauchten fixen Kapitals notwendig gewesen wären.

Solche Fakten spiegeln einen anderen widersprüchlichen Aspekt des dekadenten Imperialismus wider: die Aufrechterhaltung eines teilweise ungenutzten Produktionsapparates als wichtiges militärisches Potenzial.

In der Zwischenzeit griff das Finanzkapital, um die Produktionskosten zu vermindern, auf die uns bereits vertrauten Mittel zurück: auf die Senkung der Rohstoffpreise, um den Wert des zirkulierenden Teils des konstanten Kapitals zu reduzieren; auf die Festsetzung der Verkaufspreise über ihren Wert, um einen Extraprofit zu erzielen; auf die Reduzierung des variablen Kapitals entweder mittels direkter bzw. indirekter Lohnsenkungen oder mittels der Intensivierung der Arbeit, die durch eine Verlängerung des Arbeitstages erreicht und durch Rationalisierung und Fließbandarbeit realisiert wird. Man versteht, weshalb diese letztgenannten Methoden gerade in den technisch am meisten entwickelten Ländern, nämlich den USA und Deutschland, am rigorosesten eingeführt worden sind, d.h. in Ländern, die in Zeiten der Rezession benachteiligt sind gegenüber weniger entwickelten Staaten, in denen die Produktionspreise viel stärker auf eine Lohnsenkung reagieren.

Die Rationalisierung findet indessen ihre Grenze in der menschlichen Kapazität. Außerdem erlauben die Lohnsenkungen nur so lange eine Steigerung der Mehrwertmasse, wie es keine Senkung der Zahl der beschäftigten Arbeiter gibt. Konsequenterweise müssen zur Lösung des Grundproblems  - Erhaltung des Werts und der Rentabilität des investierten Kapitals durch die Produktion und Realisierung eines Maximums an Mehrwert und Extraprofit (bei parasitärer Ausweitung des Erstgenannten) - andere Richtungen eingeschlagen werden. Um lebensunfähiges Kapital am Leben zu halten und ihm einen Profit zu sichern, muss man ihm "frisches" Geld zur Verfügung stellen, was das Finanzkapital natürlich nicht seinen eigenen Fonds  zu entnehmen bereit ist. Es schöpft dieses Geld also entweder aus den Ersparnissen, die ihm der Staat zur Verfügung stellt, oder aus der Kaufkraft der Verbraucher. Daher die Entwicklung der Monopole, der staatlichen Teilhaberschaft an Mischbetrieben, daher die Schaffung von kostspieligen „öffentlichen Bedürfnissen“, Anleihen, der staatlichen Beihilfen für unprofitable Betriebe bzw. der staatlichen Garantien ihrer Einnahmen. Deshalb auch die Kontrolle der Haushaltsausgaben, die "Demokratisierung" der Steuern durch die Erweiterung der steuerpflichtigen Basis, die Steuererlasse zu Gunsten  des Kapitals, um die "Lebenskraft" der Nation wiederzubeleben, die Verminderung der "nichtproduktiven" sozialen Ausgaben etc.

Doch all dies genügt nicht. Die produzierte Mehrwertmasse bleibt ungenügend und die Produktionssphäre muss ausgedehnt werden. Während der Krieg das große Ventil für die kapitalistische Produktion ist, ist es in „Friedenszeiten“ der Militarismus (d.h. alle Aktivitäten, die mit der Vorbereitung auf den Krieg zu tun haben), der den Mehrwert fundamentaler Bereiche der vom Finanzkapital kontrollierten Produktion realisiert. Letzteres bestimmt die Aufnahmekapazitäten des Militarismus, indem es einen Teil der Kaufkraft der Arbeiter- und Bauernmassen konfisziert und durch die Besteuerung an den Staat überweist, welcher der Besitzer der Zerstörungsmittel und der strategischen Öffentlichkeitsarbeit ist. Doch der so gewonnene Aufschub kann die Widersprüche des Kapitalismus natürlich nicht lösen. Marx hat dies bereits vorausgesehen: "Der Widerspruch zwischen der durch das Kapital konstituierten allgemeinen gesellschaftlichen Macht und der Macht jedes einzelnen Kapitalisten, über die gesellschaftlichen Bedingungen der kapitalistischen Produktion zu bestimmen, entwickelt sich immer weiter." All diese der Bourgeoisie innewohnenden Antagonismen müssen schließlich von ihrem Herrschaftsapparat, den kapitalistischen Staat, in die Hände genommen werden, der dazu aufgerufen ist, die fundamentalen Interessen der gesamten bürgerlichen Klasse vor der sie bedrohenden Gefahr zu beschützen und die Vereinigung der Partikularinteressen der verschiedenen kapitalistischen Formationen – die teilweise bereits vom Finanzkapital ausgeführt worden war – zu vervollständigen. Je weniger Mehrwert es zu teilen gibt, desto schärfer sind die internen Konflikte und desto mehr gebietet sich diese Konzentration. Die italienische Bourgeoisie war die erste, die Zuflucht im Faschismus suchte, weil ihre zerbrechliche ökonomische Struktur unter dem Druck nicht nur der Krise von 1921, sondern auch der gewalttätigen sozialen Konflikte auseinander zu brechen drohte.

Deutschland, eine Macht ohne Kolonien und mit einem schwachen imperialistischen Fundament, war im vierten Jahr der Weltwirtschaftskrise dazu gezwungen, die Gesamtheit der wirtschaftlichen Ressourcen im Schosse des totalitären Staates zu konzentrieren, indem es die einzige Kraft zerschlug, die sich selbständig gegen die kapitalistische Diktatur hätte wehren können. Darüber hinaus war in Deutschland der Umwandlungsprozess der Wirtschaft in ein Instrument des Krieges am fortgeschrittensten. Hingegen verfügten die weit mächtigeren imperialistischen Mächte Frankreich und England noch über beträchtliche Reserven an Mehrwert; sie hatten noch nicht definitiv den Weg der staatlichen Zentralisierung betreten.

Wir haben gerade gesehen, dass das Wachstum der Jahre 1924 bis 1928 eine Folge der Wiederherstellung und strukturellen Verstärkung der imperialistischen Mächte war, mit einer Anzahl von zweitrangigen Staaten, die entsprechend ihren eigenen Interessen und Neigungen sich in den Dunstkreis Ersterer begeben hatten. Aber gerade weil diese Expansion zwei entgegengesetzte – obwohl eng miteinander verknüpfte – Bewegungen beinhaltet, eine in Richtung einer Ausweitung der Produktion und der Zirkulation von Waren, die andere in Richtung Zersplitterung des Weltmarktes in unabhängige Volkswirtschaften, konnte dieser Sättigungspunkt nicht lange hinausgezögert werden.

Die Weltkrise, die die Traumtänzer des Wirtschaftsliberalismus als eine zyklische Krise betrachtet wissen wollen, die dank der Effekte „spontaner“ Faktoren gelöst werden könne und der der Kapitalismus daher durch die Anwendung von Arbeitsprogrammen nach Art von De Man entweichen könne, eröffnet die Periode der interimperialistischen Kämpfe, zunächst ökonomisch und politisch, dann gewaltsam und blutig, sobald die Krise alle friedlichen Möglichkeiten des Kapitalismus erschöpft hat.

Wir können hier den Prozess des in seinem Ausmaß noch nie da gewesenen wirtschaftlichen Zusammenbruchs nicht analysieren. Während der Krise werden alle von uns bereits beschriebenen Versuche, einen Ausweg aus seinen Widersprüchen zu finden, zigfach und mit verzweifelter Energie vom Kapitalismus angewendet:  Ausweitung der Monopole vom nationalen Markt auf die Kolonien und Versuche, unter dem Schutz einer einzigen Zollmauer (Ottawa) einheitliche Imperien zu bilden; die Diktatur des Finanzkapitals und die Verstärkung seiner parasitären Aktivitäten; der Rückzug der internationalen Monopole, die im Angesicht des aufsteigenden Nationalismus zur Aufgabe gezwungen wurden (Kreuger Krach); die Zuspitzung der Gegensätze durch die Errichtung von Zollschranken, zu denen sich Auseinandersetzungen über Währungen gesellen, was die Goldbestände der Zentralbanken in Mitleidenschaft zog; im Handel die Einsetzung von Institutionen zur Regulierung von Ausgleichszahlungen oder gar Tauschhandel, die die Regelfunktion des Goldes als allgemeingültiges Äquivalent für sämtliche Waren übernahmen; die Annullierung nicht wiedergutzumachender „Reparationen“ und die Nichtanerkennung der amerikanischen Schulden durch die „Sieger“staaten, die Suspendierung des Schuldendienstes für private Anleihen und Schulden in den „besiegten“ Staaten, was zu einem Zusammenbruch der internationalen Kreditpolitik und der „moralischen“ Werte des Kapitalismus führte.

Wenn wir die bestimmenden Faktoren der allgemeinen Krise des Kapitalismus erkennen, begreifen wir, warum die Weltkrise von der „natürlichen“ Wirkung der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus nicht aufgefangen werden kann und warum im Gegenteil diese Gesetzmäßigkeiten durch die kombinierte Macht von Finanzkapital und kapitalistischem Staat ausgehöhlt werden, die sämtliche Manifestationen von kapitalistischen Partikularinteressen verdichtet haben. Unter diesem Gesichtswinkel müssen all die vielfältigen "Experimente" und Versuche zur Verbesserung der Lage, zur Wiedergenesung gesehen werden, die während der Krise auftauchten. All diese Aktivitäten  werden nicht auf internationaler Ebene im Sinne einer Verbesserung der Weltkonjunktur, sondern auf der nationalen Ebene der imperialistischen Wirtschaften und in einer Form ausgeübt, die ihren Strukturen angepasst ist. Wir können hier nicht spezifische Ausdrücke wie die der Deflation, Inflation oder Währungsabwertung analysieren. Sie sind lediglich von zweitrangigem Interesse, da sie untergeordnet und kurzlebig sind. All diese künstlichen Wiederbelebungsversuche der sich im Zerfall befindlichen Wirtschaft bringen dennoch gemeinsame Früchte hervor. Diejenigen, die demagogisch versprachen, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und die Kaufkraft der Massen zu steigern, endeten mit dem gleichen Resultat: nicht mit der Senkung der Arbeitslosenzahlen, mit denen sich die offiziellen Statistiken brüsten, sondern mit der Verteilung der verfügbaren Arbeit unter immer mehr Arbeitern, was natürlich nur eine Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen verursacht.

Die Steigerung der Produktion im Bereich der Investitionsgüter (und nicht der Konsumgüterindustrie), die sich in jedem Imperialismus bemerkbar macht, wird einzig durch die Politik der öffentlichen (strategischen) Arbeiten und des Militarismus alimentiert, deren Bedeutung wir sehr gut kennen.

Wohin er sich auch immer wendet, was auch immer er versucht, um dem Griff der Krise zu entkommen, der Kapitalismus wird unaufhaltsam zu seinem Schicksal, der Auslösung eines neuen Krieges, getrieben. Heute ist es noch nicht möglich zu bestimmen, wann und wo er ausbrechen wird. Es ist jedoch wichtig zu unterstreichen, dass er im Zusammenhang mit der Aufteilung Asiens ausbrechen und weltweit sein wird.

Alle Imperialismen steuern zum Krieg, ob sie nun im demokratischen Gewand oder in der faschistischen Uniform daher kommen. Das Proletariat darf sich nicht in eine abstrakte Unterscheidung zwischen „Demokratie“ und Faschismus ziehen lassen, denn dies lenkt es nur von seinem täglichen Kampf gegen die eigene Bourgeoisie ab. Seine Aufgaben und Taktiken von den illusorischen Perspektiven einer wirtschaftlichen Wiedergenesung oder von der Scheinexistenz von gegen den Krieg eingestellten, kapitalistischen Kräften abhängig zu machen würde das Proletariat geradewegs in den Krieg führen oder es jeder Möglichkeit berauben, den Weg zur Revolution zu finden.

MITCHELL


1 Wir lehnen diese falsche Auffassung über die "privilegierten Schichten der Arbeiterklasse" ab, die unter dem Konzept der "Arbeiteraristokratie" bekannt ist. Dieses Konzept ist hauptsächlich von Lenin entwickelt worden (der es wiederum von Engels aufgegriffen hatte) und wird heute noch von den bordigistischen Gruppen vertreten. Wir haben unsere Auffassung zu dieser Frage im Artikel "Die Arbeiteraristokratie: eine soziologische Theorie zur Spaltung der Arbeiterklasse" (Internationale Revue, Nr. 25, franz., engl. und span. Ausgabe, 2. Halbjahr 1981) dargelegt.

2 Auch wenn es unbestreitbar ist, dass der „Krieg enorme Mengen an Arbeit zerstört“, mit anderen Worten: dass er zu Massakern an einer großen Anzahl von Proletariern führt, so kann dieser Satz doch zum Schluss führen, dass die Bourgeoisie das Mittel des Krieges ergreift, um der Gefahr durch das Proletariat zu begegnen. Diese Auffassung teilen wir nicht. Diese unmarxistische Sichtweise, gemäß der der Krieg im Kapitalismus tatsächlich „ein Bürgerkrieg der Bourgeoisie gegen das Proletariat“ sei, wurde innerhalb der Italienischen Linken vor allem von Vercesi vertreten.

3 Diese Behauptung sollte bald durch die Realität widerlegt werden. Sie stützte sich auf eine politische Position, gemäß der die Hauptkonkurrenten im Handel zwingend auch die Hauptfeinde auf imperialistischer Ebene sein mussten. Diese Auffassung ist bereits in einer Debatte der Komintern vertreten worden. Es war Trotzki, der ihr zu Recht aus dem Grunde widersprach, dass militärische Antagonismen nicht notwendig ökonomische Rivalitäten widerspiegeln.

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Kommunistische Linke [2]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Italienische Linke [3]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Marxismus: die Theorie der Revolution [16]

Deutsche Revolution XII (Teil 1)

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1923: Die Bourgeoisie will der Arbeiterklasse eine entscheidende Niederlage beifügen

Wir haben in den vorherigen Artikeln gesehen, wie nach dem Erreichen des Höhepunktes der revolutionären Welle 1919  das Proletariat in Russland isoliert blieb. Während die Komintern gegenüber dem Rückflussß der Welle durch eine opportunistische Kehrtwende zu reagieren versuchte, dadurch ihre Degenerierung einleitete, verselbständigte sich der russische Staat zunehmend gegenüber der Klassenbewegung und versuchte, die Komintern verstärkt in seinen Dienst zu stellen.

Gleichzeitig spürte die Bourgeoisie, nachdem sie den Bürgerkrieg gegen Russland beendet hatte, dass nicht mehr die gleiche Gefahr von der Arbeiterklasse in Russland ausging und dass international die Welle von Kämpfen rückläufig war. Sie hatte bemerkt, dass die Komintern nicht mehr mit aller Kraft die Sozialdemokratie bekämpfte, ja, statt dessen sich gar mit ihr durch Einheitsfronten zu verbünden suchte. Instinktiv erkannte die bürgerliche Klasse, dass der russische Staat nicht mehr nach Ausdehnung der Revolution strebte, sondern zu einer Kraft geworden war, die nach einem eigenständigen Platz als Staat suchte, wie es die Konferenz von Rapallo hatte deutlich werden lassen. Die Bourgeoisie spürte, dass sie gegen die Arbeiterklasse eine internationale Offensive einleiten konnte, deren Schwerpunkt in Deutschland liegen sollte.

Neben Russland 1917 war die Arbeiterklasse in Deutschland und Italien am weitesten gegangen. Trotz der Niederlagen im Frühjahr 1920 nach der Abwehr des Kapp-Putsches und selbst nach den Märzkämpfen 1921 zeigte sich die Arbeiterklasse in Deutschland immer noch kämpferisch, aber international war sie relativ isoliert. Während  die Arbeiter in Österreich, Ungarn und Italien bereits besiegt waren und sich massiven Angriffen ausgesetzt sahen, und  das Proletariat Deutschlands, Polens und Bulgariens zu verzweifelten Reaktionen getrieben wurde,  blieb die Lage in Frankreich und Großbritannien vergleichsweise  stabil.

Bei ihrem Vorhaben, der Arbeiterklasse in Deutschland eine entscheidende Niederlage beizufügen und somit die ganze internationale Arbeiterklasse zu schwächen, konnte die Bourgeoisie mit der internationalen Unterstützung der gesamten Kapitalistenklasse rechnen. Zudem hatte sie sich gleichzeitig durch die Integration der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften in den Staatsapparat beträchtlich verstärken können.

1923 versuchte die Bourgeoisie, die Arbeiterklasse in eine nationalistische Falle zu locken, in der Hoffnung, sie so von ihrem Kampf gegen den Kapitalismus abzulenken.

Die verheerende Politik der KPD: Schutz der Demokratie und Einheitsfront

Wir haben in früheren Artikeln aufgezeigt, wie die KPD sich durch den Ausschluss der ‘Linksradikalen’, die später die KAPD gründeten, selbst schwächte und dadurch die Tür zum Opportunismus weit öffnete.

Während die KAPD vor den Gefahren des Opportunismus und der Degenerierung der Komintern sowie vor dem Staatskapitalismus in Russland warnte, reagierte die KPD opportunistisch. Sie war es, die 1921 in einem „Offenen Brief an die Arbeiterparteien“ als erste Partei zu einer Einheitsfront aufrief.

„Der Kampf um die Einheitsfront führt zur Eroberung der alten proletarischen Klassenorganisationen (Gewerkschaften, Genossenschaften usw.). Er verwandelt die durch die Taktik der Reformisten zu Werkzeugen der Bourgeoisie gewordenen Organe der Arbeiterschaft wieder in Organe des proletarischen Klassenkampfes.“

Und das, obwohl die Gewerkschaften selbst mit Stolz bekannt hatten: „Aber die Tatsache, dass die Gewerkschaften der einzige, feste Damm sind, der Deutschland bisher vor der bolschewistischen Flut geschützt hat, bleibt bestehen!“ (Korrespondenzblatt der Gewerkschaften, Juni 1921)  Der KPD-Gründungsparteitag hatte sich nicht getäuscht, als er mit der Stimme Rosa Luxemburgs erklärte: „Die offiziellen Gewerkschaften haben sich im Verlaufe des Krieges und in der Revolution bis zum heutigen Tage als eine Organisation des bürgerlichen Staates und der kapitalistischen Klassenherrschaft gezeigt.“ Nun jedoch trat man für die Rückverwandlung der zum Klassenfeind übergelaufenen Organe in Arbeiterorgane ein.

Gleichzeitig plädierte die KPD-Führung unter Brandler für eine Einheitsfront von Oben, also mit der SPD-Führung. Dieser Ausrichtung stellte sich der Flügel um Fischer und Maslow mit der Losung der ‚Arbeiterregierung‘ innerhalb der KPD entgegen. Er meinte, die Losung der ‘Arbeiterregierung’ ebenso wie „die Unterstützung der sozialdemokratischen Minderheitsregierung (bedeutet) (...) nicht ein Weitertreiben der Zersetzung der SPD“, sie fördere „die Illusionen der Massen, als ob das sozialdemokratische Kabinett eine Machtposition der Arbeiterklasse wäre“; „es heiße die KPD zu liquidieren, wolle man der SPD als Partei zugestehen, dass sie revolutionär kämpfen könne“.

Aber vor allem die gerade entstandenen Strömungen der Kommunistischen Linken in Deutschland und in Italien wandten sich gegen diese Politik der Einheitsfront.

„Was die Arbeiterregierung angeht, fragen wir: Warum will man sich mit den Sozialdemokraten verbünden? Um nur das zu machen, was sie zu machen verstehen, was sie können und wollen, oder um sie zu aufzufordern, das zu machen, was sie nicht vermögen, nicht können und nicht wollen? Erwartet man von uns, dass wir den Sozialdemokraten sagen, wir seien bereit, mit ihnen zusammenzuarbeiten, gar im Parlament und gar in dieser Regierung, die man als ‘Arbeiterregierung’ bezeichnet? In diesem Fall, d.h. wenn man von uns verlangt, dass wir im Namen der Kommunistischen Partei ein Projekt der Arbeiterregierung erarbeiten, an dem sich die Kommunisten und Sozialdemokraten beteiligen sollten, und diese Regierung den Massen als eine ’anti-bürgerliche Regierung’ präsentieren, entgegnen wir: Wir übernehmen die volle Verantwortung für unser Handeln, denn solch eine Haltung steht im völligen Gegensatz zu den Grundprinzipien des Kommunismus.“ (Il Comunista, 26.3.1922)

Auf dem 4. Kongress „akzeptierte die KP Italiens somit nicht, sich an gemeinsamen Organen mit verschiedenen politischen Organisationen zu beteiligen (...) Sie vermied es auch, gemeinsame Erklärungen mit politischen Parteien zu verabschieden, wenn diese Erklärungen im Widerspruch zu ihrem Programm standen und der Arbeiterklasse als das Ergebnis von Verhandlungen dargestellt wurden, die darauf abzielten, eine gemeinsame Linie zu finden (...) Von Arbeiterregierung zu sprechen (....) heißt, in der Praxis das politische Programm des Kommunismus zu verwerfen, d.h. die Notwendigkeit, die Massen auf den Kampf für die Diktatur des Proletariats vorzubereiten.“ (Bericht der KPI auf dem 4. Kongress der Kommunistischen Internationale, Nov. 1922)

Ungeachtet dieser Kritik der Linkskommunisten bot schon im November 1922 die KPD entgegen dem Votum der Komintern der SPD in Sachsen eine Koalition an.

Die gleiche KPD, die es auf ihrer Gründungskonferenz Anfang 1919 noch abgelehnt hatte, „mit den Handlangern der Bourgeoisie, mit den Scheidemann-Ebert die Regierungsgewalt zu teilen, weil er (der Spartakusbund) in einer solchen Zusammenwirkung einen Verrat an den Grundsätzen des Sozialismus, eine Stärkung der Gegenrevolution und eine Lähmung der Revolution erblickt“, trat nun für das exakte Gegenteil ein.

Zudem ließ die KPD sich von den in den Parlamentswahlen errungenen Stimmenanteil   blenden, als sie glaubte,  diese Stimmen würden das tatsächliche Kräfteverhältnis oder gar einen entsprechenden Einfluss der Partei zum Ausdruck bringen.

Die ersten faschistischen Gruppierungen rekrutierten sich bereits aus Mittelstand und der Kleinbourgeoisie, etliche rechtsradikale Wehrgruppen fingen,  meist mit Kenntnis des Staates, an, Militärübungen abzuhalten. Der Großteil dieser Gruppen war direkt aus den Freikorps hervorgegangen, die die SPD-geführte Regierung 1918-1919 als Antwort auf die revolutionären Kämpfe der Arbeiter aufgestellt hatte. Schon am 31. August 1921 hatte die Rote Fahne erklärt, dass „die Arbeiterschaft das Recht und die Pflicht hat, den Schutz der Republik vor der Reaktion zu übernehmen...“. Ein Jahr später, im November 1922, unterzeichnete die KPD ein Abkommen mit den Gewerkschaften und der SPD (‘Berliner Abkommen’), das die „Demokratisierung der Republik“ (Republikschutzgesetz, Entfernung der Reaktionäre aus Verwaltung, Justiz und Armee) anstrebte. Damit verstärkte die KPD die Illusionen der Arbeiter über die bürgerliche Demokratie und stellte sich in direkten Gegensatz zu den Positionen der Italienischen Linken um Bordiga, die auf dem 4. Weltkongress im November 1922 in ihrer Analyse des Faschismus  betonte, dass die bürgerliche Demokratie nur die Maske der Diktatur der Bourgeoisie sei.

In einem früheren Artikel haben wir bereits hervorgehoben, dass die Komintern insbesondere in der Person Radeks ihre Kritik an der Politik der KPD nicht den Statuten entsprechend vortrug und der KPD-Führung oft dadurch in den Rücken fiel, indem sie parallel zu ihr fungierte. Zudem drangen immer mehr kleinbürgerliche Umgangsformen in die  Partei ein. Eine Stimmung des Misstrauens  und der Verdächtigungen machte sich breit, anstatt durch brüderliche Kritik, wo notwendig, eine Stärkung der Organisation herbeizuführen[1].

 

Die herrschende Klasse spürte, dass die KPD dabei war, Verwirrung in der Arbeiterklasse zu stiften, statt durch Klarheit und Entschlossenheit eine echte Führungsrolle zu übernehmen. Die herrschende Klasse ahnte, dass sie die opportunistische Haltung der KPD noch gegen die Arbeiterklasse einsetzen konnte.

Mit dem Abebben der revolutionären Welle eine Zuspitzung der imperialistischen Konflikte 

Die Veränderung im Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat nach dem Abebben der revolutionären Welle nach 1920 wurde auch anhand der interimperialistischen Beziehungen sichtbar. Kaum war die unmittelbare Bedrohung durch die Arbeiterklasse zurückgegangen und die revolutionäre Flamme der russischen Arbeiterklasse erloschen, begannen die imperialistische Spannungen wieder an Schärfe zuzunehmen.

Deutschland selbst strebte mit allen Tricks danach, seine durch den Ausgang des Weltkriegs und die Unterzeichnung des Versailler Vertrages eingetretene Schwächung rückgängig zu machen. Gegenüber den ‘Siegerländern’ im Westen bestand seine Taktik darin zu versuchen, Großbritannien und Frankreich gegeneinander auszuspielen, da an eine offene militärische Konfrontation mit ihnen nicht zu denken war. Gleichzeitig versuchte Deutschland, die traditionell engen Beziehungen zu seinen Nachbarn im Osten wieder zu erneuern. Wir haben in einem früheren Artikel beschrieben, wie zielstrebig die deutsche Bourgeoisie in Anbetracht der imperialistischen Spannungen im Westen geheime Waffenlieferungen und militärische Zusammenarbeit mit dem neuen russischen Staat beschlossen hatte.

So erkannte einer der großen Militärchefs in Deutschland: „Seit dem Friedensabschluss sind die Beziehungen zu Russland die erste und bislang nahezu einzige Verstärkung, die wir durchsetzen konnten. Dass sich die Grundlagen dieser Beziehung in der Wirtschaft befinden, liegt in der Natur der Sache; aber die Stärke liegt darin begründet, dass diese wirtschaftliche Annäherung die Möglichkeit einer politischen und damit auch militärischen Verbindung eröffnet.“ (Seeckt, zitiert von Carr, S. 434)

Gleichzeitig hatte der russische Staat in Gestalt Bucharins verlauten lassen: „Ich behaupte, dass wir schon mächtig genug sind, ein Bündnis mit einer ausländischen Bourgeoisie einzugehen, damit wir mittels dieses bürgerlichen Staates eine andere Bourgeoisie besiegen (...) Falls ein Militärbündnis mit einem bürgerlichen Staat geschlossen wird, besteht die Aufgabe der Genossen in jedem Land darin, zum Sieg der beiden Verbündeten beizutragen.“ (Bucharin, zitiert von Carr, ebenda)

„Wir sagen diesen Herren der deutschen Bourgeoisie (...) wenn Sie wirklich gegen die Besatzung, wirklich gegen die Beleidigungen durch die Entente ankämpfen wollen, haben Sie keine andere Wahl als eine Annäherung mit dem ersten proletarischen Land zu suchen, das unbedingt diese Länder unterstützen muss, die jetzt in einer erbärmlichen Abhängigkeit gegenüber dem internationalen Imperialismus stecken.“ (Sinowjew, 12. Parteikongress, April 1923)

In nationalistischer Manier sprach das  deutsche Kapital von der ‘Schmach und der Unterjochung’ durch das Auslandskapital, insbesondere durch Frankreich. So gaben  deutsche Militärführer sowie prominente Vertreter der deutschen Bourgeoisie  wiederholt öffentliche Erklärungen von sich, denen zufolge die einzige Rettung für die deutsche Nation gegen die Knechtschaft von Versailles in einem Militärbündnis mit der Sowjetunion und einem „revolutionären Volkskrieg“ gegen den französischen Imperialismus lag.

Innerhalb des russischen Staates, wo sich mittlerweile eine neue Schicht von staatskapitalistischen Verwaltern herausgebildet hatte, stieß diese Politik auf ein großes Echo.

Auch die proletarischen Internationalisten innerhalb der Komintern und der russischen Partei, die noch am Ziel der Ausdehnung der Weltrevolution festhielten, ließen sich durch diese Lockrufe des deutschen Kapitals blenden. Während es für das deutsche Kapital nie in Frage gekommen wäre, ein wirkliches Bündnis mit Russland gegen den Westen einzugehen, erschien den damaligen russischen Staatsführern und der Komintern-Spitze dieses Angebot als echt, sie ließen sich täuschen und liefen in die Falle. So trugen sie aktiv dazu bei, dass die Arbeiterklasse in die gleiche Falle getrieben wurde.

Mit Rückendeckung der gesamten Kapitalistenklasse heckte die deutsche Bourgeoisie folgenden Plan gegen die Arbeiterklasse aus. Einerseits wollte das deutsche Kapital dem Druck des Versailler Vertrages ausweichen, indem man insbesondere gegenüber Frankreich die Reparationsleistungen verschleppte und einzustellen drohte, andererseits sollte die Arbeiterklasse in Deutschland in eine nationalistische Falle gelockt werden. Dazu war jedoch die `Mithilfe‘ des russischen Staates und der Komintern erforderlich.

So fasste die deutsche Bourgeoisie den bewussten Entschluss, das französische Kapital durch Zahlungsverweigerung der Reparationsschulden zu provozieren. Frankreich reagierte darauf am 11. Januar 1923 mit der Besetzung des Ruhrgebietes.

Gleichzeitig ergänzte das deutsche Kapital seine Taktik durch den Entschluss, an der durch die Krise hervorgerufenen Inflationsspirale bewusst zu drehen. Das deutsche Kapital setzte die Inflation als eine Waffe ein, um die Reparationskosten abzuschwächen und um die Last der Kriegsanleihen zu erleichtern. Außerdem sollte somit die Modernisierung seiner Produktionsanlagen finanziert werden.

Die Bourgeoisie war sich dessen bewusst, dass die Inflation der Stachel im Fleisch der Arbeiterklasse sein würde, der sie in den Kampf treiben würde. Und der herrschenden Klasse kam es darauf an, diesen einkalkulierten Abwehrkampf der Arbeiterklasse auf ein nationalistisches Terrain zu locken. Der ausgelegte Köder war die in Kauf genommene Ruhrgebietsbesetzung durch französisches Militär. Es war daher kreuzwichtig für die Arbeiterklasse und ihre Revolutionäre, diese Falle der sich im Überlebenskampf befindlichen deutschen Bourgeoisie zu erkennen und zu entblößen. Andernfalls drohte die Gefahr, dass die deutsche Bourgeoisie der Arbeiterklasse eine entscheidende Niederlage beifügte. So war die deutsche Bourgeoisie also bereit, erneut die Arbeiterklasse herauszufordern, da sie spürte, dass das internationale Kräfteverhältnis gekippt war und Teile des russischen Staates zu dieser Politik verführt werden konnten, ja, gar die Komintern in diese Falle gelockt werden konnte.

Die Provokation der Ruhrgebietsbesetzung: Welche Aufgabe der Arbeiterklasse?

Frankreich hoffte, durch die Einverleibung des Ruhrgebiets zum größten Stahl- und Kohleproduzenten in Europa aufzusteigen, denn das Ruhrgebiet lieferte für Deutschland 72% der Kohleproduktion, 50% der Eisen-Stahl-Produktion, 25% der gesamten deutschen Industrieproduktion. Es lag auf der Hand, dass, sobald diese Produktion für Deutschland ausfiel, der starke Produktionsrückgang zu Güterknappheit und schwerwiegenden wirtschaftlichen Zerrüttungen führen musste. Die deutsche Bourgeoisie war also zu einem großen Opfer bereit, weil für sie viel auf dem Spiel stand. Das Kapital setzte alles daran, die Arbeiter zu Streiks und Arbeitsniederlegungen mit nationalistischem Hintergrund anzustacheln. Unternehmer und die Regierung in Berlin beschlossen die Aussperrung, und wer unter den französischen Besatzungstruppen arbeitete, wurde mit Entlassung bedroht. Am 4. März kündigte SPD-Reichspräsident Ebert schwere Strafen für die Arbeiter an, die in den Gruben oder bei der Eisenbahn für Frankreich arbeiteten. Am 24. Januar 1923 appellierten Unternehmer und der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund gemeinsam, „sofort Geldmittel“ im Kampf gegen Frankreich zur Verfügung zu stellen. Die Folge: Immer mehr Firmen im Ruhrgebiet schmissen ihre Beschäftigten auf die Straße. Und das vor dem Hintergrund einer galoppierenden Inflation:  Während der Dollar noch im April 1922 1.000 Mark kostete, betrug sein Preis im November 1922 schon 6.000, nach der Ruhrgebietsbesetzung im Februar 1923 20.000 Mark. Im Laufe des Jahres stieg er dann  auf 100.000 Mark (Juni), auf 1 Mio. Mark Ende Juli auf 10 Mio. Mark Ende August, 100 Mio. Mark Mitte September und schließlich im November auf 4.200.000.000.000 Mark.

Diese Entwicklung traf die Kohlebarone im Ruhrgebiet nicht so hart, da sie in der Zwischenzeit eine Bezahlung in Gold bzw. in Sachwerten eingeführt hatten. Für die Arbeiterklasse dagegen bedeutete dies, am Hungertuch zu nagen. Häufig marschierten Arbeitslose und Beschäftigte zu den Rathäusern, um ihre Forderungen vorzulegen. Immer wieder kam es zu Zusammenstößen mit den französischen Truppen.

Die Komintern treibt die Arbeiter in die Falle des Nationalismus

Den Sirenengesängen des deutschen Kapitals über einen gemeinsamen Kampf zwischen den ‘unterdrückten Nationen’ Deutschland und Russland erlegen, verbreitete die Komintern selbst die Idee, in Deutschland sei eine starke Regierung erforderlich, die der französischen Besatzerregierung entschlossen und ungestört von jeglichem Klassenkampf die Stirn biete. Damit opferte die Komintern den  proletarischen Internationalismus zugunsten der Interessen des russischen Staates.[2]

Diese Politik wurde im Namen des ‘Nationalbolschewismus’ vollzogen. Während die Komintern sich im Herbst 1920 noch energisch und entschlossen ‘national-bolschewistischen Tendenzen’ entgegengestellt und in den Verhandlungen mit der KAPD den Ausschluss der Nationalbolschewisten Laufenberg und Wolffheim aus ihren Reihen gefordert hatte, plädierte sie nun selbst für diese Linie.

Diese Kehrtwende der Komintern läßt sich nicht nur mit den Konfusionen und dem Opportunismus innerhalb des EKKI erklären. Jene  ‘unsichtbare Hand’ der Kräfte, die nicht an der Revolution, sondern an der Stärkung des Staates interessiert waren, spielte dabei auch eine Rolle. Der Köder des Nationalbolschewismus konnte erst ausgelegt werden, als die Komintern schon in der Entartung begriffen, in die Fangarme des russischen Staates geraten und von diesem einverleibt worden war. Radek argumentierte: „Die Sowjetunion ist in Gefahr, alle Aufgaben müssen der Verteidigung der Sowjetunion untergeordnet werden, auf Grund dieser Analyse würde eine revolutionäre Bewegung in Deutschland gefährlich sein und den Interessen der Sowjetunion zuwiderlaufen (.....) Die deutsche kommunistische Bewegung ist nicht fähig, den deutschen Kapitalismus zu stürzen, sie hat als Stütze der russischen Außenpolitik zu dienen. Ein unter Führung der bolschewistischen Partei organisiertes Europa, das die militärische Leistungsfähigkeit der deutschen Armee gegen den Westen einsetzt, das ist die Perspektive, der einzige Ausweg.“

Die Rote Fahne schrieb im Januar 1923:  „Die deutsche Nation wird in den Abgrund gestoßen, wenn das Proletariat sie nicht rettet. Die Nation wird von den deutschen Kapitalisten verkauft und vernichtet, wenn sich die Arbeiterklasse nicht dazwischen wirft. Entweder verhungert und zerfällt die deutsche Nation unter der Diktatur der französischen Bajonette oder sie wird durch die Diktatur des Proletariats gerettet.“

„Heute bedeutet jedoch der Nationalbolschewismus, dass alles von dem Gefühl durchdrungen ist, dass die Rettung nur bei den Kommunisten vorhanden ist. Wir sind heute der einzige Ausweg. Die starke Betonung der Nation in Deutschland ist ein revolutionärer Akt, wie die Betonung der Nation in den Kolonien“ (Rote Fahne, 21.06.1923). „Die Nation zerfällt. Das Erbe des deutschen Proletariats (...) ist bedroht. Nur die Arbeiterschaft kann die Nation retten.“ (1.4.1923, Rote Fahne)

Rakosi, Delegierter der Komintern, lobte die KPD für diese Linie: „... eine kommunistische Partei muss an die nationale Frage ihres Landes herantreten. Die deutsche Partei hat diese Frage mit glücklicher Hand angeschnitten. Sie ist dabei, den deutschen Faschisten die nationalistische Waffe aus den Händen zu schlagen.“ (Schüddelkopf, S. 177)

In einem Manifest an Sowjetrussland meinte die KPD: „Der Parteitag dankt Sowjetrussland für die mit Strömen von Blut und unermesslichen Opfern unverwischbar in die Geschichte geschriebene große Lehre, dass die Sache der Nation heute die Sache der Arbeiterklasse ist.“

Thalheimer sprach am 18. April sogar davon, „der proletarischen Revolution sei es vorbehalten, nicht allein Deutschland zu befreien, sondern das Werk Bismarcks mit dem Anschluss Österreichs zu vollenden. Diese Aufgabe muss das Proletariat an der Seite des Kleinbürgertums erfüllen.“ (Die Internationale, V 8, 18.4.23, S. 242-247)

Welche Perversion der Grundsatzpositionen der Kommunisten in der nationalen Frage! Welche Abkehr von der internationalistischen Position der Revolutionäre im 1. Weltkrieg, an deren Spitze Lenin und Rosa Luxemburg gestanden hatten, die für die Abschaffung aller Nationen eingetreten waren!

Im Rheinland und in Bayern war die separatistische Bewegung nach dem Krieg im Aufschwung begriffen. Die Gunst der Stunde witternd und mit französischer Unterstützung wollten diese Kräfte eine Loslösung des Rheinlands vom Reich durchsetzen.  Mit Stolz berichtete die KPD-Presse, wie man der Cuno-Regierung unter die Arme griff, um gegen die Separatisten zu kämpfen. „Aus dem Ruhrgebiet wurden kleine bewaffnete Stoßtrupps nach Düsseldorf gezogen, die den Auftrag erhielten, die Ausrufung der ‘Rheinischen Republik’ unmöglich zu machen. Als mittags gegen 14.00 Uhr die Separatisten auf den Rheinwiesen versammelt waren und die Kundgebung beginnen sollte, griffen einige Stoßtrupps mit Handgranaten die Separatisten an. Einige wenige Handgranaten genügten, und die ganze Separatistenbande versuchte in völliger Auflösung und Panik, die Rheinwiesen zu räumen (...) Von einer Kundgebung oder Ausrufung der ‘Rheinischen Republik’ konnte keine Rede mehr sein.“ (W. Ulbricht, S. 132, Bd. I)

„Wir verraten kein Geheimnis, wenn wir aussprechen, dass die kommunistischen Stoßtrupps, die in der Pfalz, in der Eifel und am Düsseldorfer Totensonntag mit Revolvern und Handgranaten die Separatisten auseinandergetrieben haben, unter der Führung von nationalgesinnten preußischen Offizieren standen.“ (Vorwärts, 4.9.1930/Flugblatt der Gruppe)

Diese nationalistische Orientierung war aber nicht allein das Werk der KPD, sondern die Ausgeburt der Politik des russischen Staates und bestimmter Teile der Komintern.

Nach Absprache mit dem EKKI sollte der Zentrale zufolge der Kampf in erster Linie gegen Frankreich und erst in zweiter Linie gegen die deutsche Bourgeoisie geführt werden. Deshalb behauptete die Zentrale: „Die Niederlage des französischen Imperialismus im Weltkrieg war kein kommunistisches Ziel, seine Niederlage im Ruhrgebiet ist ein kommunistisches Ziel.“

Die KPD und die Hoffnung auf ein ‘nationales Bündnis’

Folglich wandte sich die KPD-Zentrale gegen die Auslösung von Streiks.

Schon auf dem Leipziger Parteitag Ende Januar, kurze Zeit nach Beginn der Ruhrgebietsbesetzung, hatte die Zentrale mit Unterstützung der Komintern eine Diskussion über ihre Orientierung blockiert, da sie befürchtete, es würde zu einer Ablehnung ihrer Orientierung kommen, weil der Großteil der Partei sich ihr widersetzte. 

Als die Ruhrgebiets-Verbände der KPD am 23. März einen Bezirksparteitag abhielten, um über Kampfmaßnahmen zu entscheiden, wandte sich die Zentrale gegen die Ausrichtung der Ortsgruppen der KPD im Ruhrgebiet. Die Zentrale der KPD behauptete, „eine starke Regierung allein kann Deutschland retten, eine Regierung, die getragen ist von der lebendigen Kräften der Nation“ (Rote Fahne, 1. April 23).

Dennoch traten die meisten Delegierten der KPD-Konferenz im Ruhrgebiet ein für:

-          die Niederlegung der Arbeit in allen militärisch besetzten Gebieten, 

-          die Übernahme der Betriebe unter Ausnutzung des deutsch-französischen Konfliktes und, wenn möglich, die lokale Machtergreifung.

Innerhalb der KPD prallten somit zwei inhaltlich unterschiedliche Orientierungen aufeinander: eine proletarisch- internationalistische Ausrichtung, die für die Konfrontation mit der Cuno-Regierung und eine Radikalisierung der Bewegung im Ruhrgebiet eintrat[3]; dagegen stand die Position der KPD-Zentrale, die sich energisch und mit Unterstützung der Komintern gegen Streiks aussprach und die Arbeiterklasse auf ein nationalistisches Terrain drängte.

Das Kapital war sich der Sabotage der Arbeiterkämpfe so sicher, dass der Staatssekretär von Malzahn nach einem Gespräch mit Radek am 26. Mai in einer streng geheimen Denkschrift an Ebert und die wichtigsten Minister berichtete: „Er (Radek) könne mir versichern, dass russische Sympathien schon aus eigenen Interesse im Ruhrkampf auf Seiten der deutschen Regierung ständen(...) Er habe in den letzten acht Tagen mit allen Kräften auf die kommunistischen Parteiführer eingewirkt, um ihnen die Dummheit ihres jetzigen Vorgehens gegen die deutsche Regierung vorzuhalten. Wir würden ja sehen, dass in einigen Tagen die Kommunistenputsche in der Ruhr abnehmen würden.“ (Archive des Auswärtigen Amtes, Bonn, Deutschland 637.442ff; in Dupeux, S. 181).

Nach dem Angebot der Einheitsfront an die konterrevolutionäre SPD und die Parteien der 2. Internationalen nun die Stillhaltepolitik gegenüber der kapitalistischen deutschen Regierung.

Wie weit die KPD-Führung sich darüber im Klaren war, dass sie der Regierung „nicht in den Rücken fallen durfte“, beweist eine Stellungnahme der Roten Fahne: „Die Regierung weiß, dass die KPD aus Rücksicht auf die Gefahr seitens des französischen Kapitalismus über vieles geschwiegen hat, was diese Regierung (...) unmöglich machen würde für jede internationale Verhandlung. Solange die sozialdemokratischen Arbeiter nicht zusammen mit uns für die Arbeiterregierung kämpfen, hat die Kommunistische Partei kein Interesse daran, dass an die Stelle dieser kopflosen Regierung eine andere bürgerliche tritt (...) Entweder lässt die Regierung die Mordhetze gegen die KP verstummen, oder wir werden das Schweigen brechen.“ (27.5.1923, Rote Fahne, Dupeux, S. 181)

Nationalistische Lockrufe an die patriotische Kleinbourgeoisie

Da die Inflation auch die Kleinbourgeoisie und den Mittelstand praktisch enteignet hatte, erblickte die KPD die Möglichkeit, diesen Schichten ein Bündnis vorzuschlagen. Statt auf den eigenständigen Kampf der Arbeiterklasse zu pochen, der in dem Maße, wie er an Stärke und Ausstrahlung zunimmt, andere nicht-ausbeutende Schichten mit einbeziehen kann, wurden diese Schichten mit der Aussicht geködert, ein Bündnis mit der Arbeiterklasse einzugehen. „Wir müssen vor die leidenden, verwirrten, aufgebrachten Massen des proletarischen Kleinbürgertums treten und ihnen sagen, dass sie sich selbst und die Zukunft Deutschlands nur dann verteidigen können, wenn sie sich mit dem Proletariat zum Kampf gegen die wahre Bourgeoisie verbunden haben.“ (Carr, Interregnum, S. 176)

„Aufgabe der KPD ist es, den breiten kleinbürgerlichen und intellektuellen nationalistischen Massen die Augen darüber zu öffnen, dass nur die Arbeiterklasse, nachdem sie gesiegt hat, imstande sein wird, den deutschen Boden, die Schätze der deutschen Kultur und die Zukunft der deutschen Nation zu verteidigen.“ (Rote Fahne vom 13. Mai 1923)

Auch diese Politik - Sammlung auf nationaler Grundlage - war nicht das Produkt der KPD allein, sondern wurde von der Komintern selbst mitgetragen. Die Rede, die Radek am 20. Juni 1923 vor dem EKKI hielt, legt Zeugnis davon ab. In dieser Rede lobte er Schlageter, Mitglied rechtsradikaler separatistischer Kreise, der am 26. Mai bei Sabotageaktionenen gegen Eisenbahnbrücken bei Düsseldorf von den französischen Militärs gefasst und erschossen worden war. Es war der gleiche Radek, der in den Reihen der Komintern 1919 und 1920 mit darauf gedrängt hatte, die Hamburger Nationalbolschewisten aus den Reihen der KPD und KAPD zu werfen. „Aber wir glauben, dass die große Mehrheit der national empfindenden Massen nicht in das Lager des Kapitals, sondern in das Lager der Arbeit gehört. Wir wollen und wir werden zu diesen Massen den Weg suchen und den Weg finden. Wir werden alles tun, dass Männer, wie Schlageter, die bereit waren, für eine allgemeine Sache in den Tod zu gehen, nicht Wanderer ins Nichts, sondern Wanderer in eine bessere Zukunft der gesamten Menschheit werden.“ (Radek, 20.06.23)

„Es ist klar, die deutsche Arbeiterklasse wird nie zur Macht kommen, wenn sie nicht imstande ist, den breiten Massen des deutschen Volkes das Vertrauen zu geben, dass sie für die Abschaffung des Joches des fremden Kapitals mit allen Kräften kämpfen wird.“ (Dupeux, S. 190)

Diese Idee, dass das „Proletariat als Vorhut, das nationalistische Kleinbürgertum als Nachhut“, kurzum: das Volk für die Revolution eintreten könnte, dass man die Nationalisten auf die Seite der Arbeiter ziehen müsse, wurde  später vom 5. Kongress der Komintern 1924 vorbehaltlos bestätigt.

Während die KPD-Opposition sich gegen diese Orientierung auf die ‘Stillhaltepolitik’ wandte, die von der KPD-Zentrale bis September 1923 praktizierte wurde, schützte es sie nicht davor, die Arbeiterklasse selbst in Sackgassen zu lenken und nationalistischen Verlockungen anheim zu fallen. So betrieb Ruth Fischer eifrig anti-semitische Propaganda. „Wer gegen das Juden-Kapital aufruft, (...) ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß (...) Tretet die Juden-Kapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie (...) Der französische Imperialismus ist jetzt die größte Gefahr der Welt, Frankreich ist das Land der Reaktion (...) Nur im Bunde mit Russland (...) kann das deutsche Volk den französischen Kapitalismus aus dem Ruhrgebiet herausjagen...“ (Flechtheim S. 178)

Die Arbeiterklasse wehrt sich auf ihrem Klassenterrain

Während es der Bourgeoisie also darum ging, die Arbeiterklasse in Deutschland auf nationalistisches Terrain zu locken, sie damit von der Verteidigung ihrer eigenständigen Klasseninteressen abzubringen, während das EKKI und die KPD-Führung dabei tatkräftig mithalfen, ließ sich der Großteil der Arbeiterklasse im Ruhrgebiet und in den anderen Städten nicht auf dieses Terrain ziehen. Es gab fast keinen Betrieb, wo die Arbeiter nicht in den Streik traten.

Immer wieder und zunehmend landesweit kam es zu kleineren Streik- und Protestwellen. So am 9. März in Oberschlesien, wo 40‘000 Bergarbeiter streikten, am 17. März in Dortmund, wo ebenfalls Bergarbeiter in den Ausstand traten. Immer häufiger kam es zu Zusammenschlüssen zwischen demonstrierenden Arbeitslosen, Beschäftigten und Notstandsarbeitern, wie am 2. April in Mühlheim /Ruhr.

Obwohl sich Teile der KPD-Führung durch die nationalistischen Umwerbungsversuche verführen und täuschen ließen, war für die deutsche Bourgeoisie, sobald die Streiks im Ruhrgebiet ausgebrochen waren, klar, dass sie die Hilfe der anderen kapitalistischen Staaten einfordern musste. In Mühlheim/Ruhr hatten am 12. April  Arbeiter mehrere Betriebe besetzt. Nahezu die ganze Stadt wurde bestreikt, das Rathaus besetzt. Da aufgrund der Besetzung durch französische Truppen die Reichswehr im Ruhrgebiet zur Niederschlagung der Streiks nicht intervenieren durfte, wurde die Polizei gerufen, deren Kräfte jedoch nicht ausreichten, um die Arbeiter vernichtend zu schlagen. Deshalb appellierte der Bürgermeister von Düsseldorf in einem Brief an den Oberbefehlshaber der französischen Besatzungstruppen um Unterstützung: „Ich muss sie daran erinnern, dass während des Kommune-Aufstandes das deutsche Oberkommando den französischen Truppen in jeder Beziehung entgegenkam, um den Aufstand gemeinsam zu unterdrücken. Ich bitte Sie, uns die gleiche Unterstützung zu erweisen, wenn Sie nicht wollen, dass künftig eine gefährliche Situation entsteht.“ (Dr. Lutherbeck, Brief an  General de Goutte)

So wurde wiederholt die Reichswehr zu Niederschlagungsaktionen in verschiedene Städte geschickt - unter anderem nach Gelsenkirchen und Bochum. Während die deutsche Regierung ihre angebliche Feindschaft gegenüber Frankreich zur Schau trug, zögerte sie nie, ihr Militär gegen die Arbeiter zu schicken, die dem Nationalismus widerstanden hatten.

Die rasante Beschleunigung der Wirtschaftskrise, vor allem die Inflation, heizten die Kampfbereitschaft der Arbeiter wieder an. Löhne und Gehälter der Arbeiter verloren stündlich an Wert. Im Vergleich zur Vorkriegszeit war die Kaufkraft um drei Viertel gesunken. Immer mehr Arbeiter wurden arbeitslos. Im Sommer zählte man ca. 60% Arbeitslose. Selbst Beamte erhielten vom Staat nur Spottlöhne. Unternehmen wollten ihre eigene Währungen drucken, Gemeindeverwaltungen führten ‘Notwährungen’ zur Bezahlung ihrer Beamten ein. Da der Verkauf von Lebensmitteln für die Bauern nicht mehr Gewinn bringend war, hielten sie ihre Produkte zurück und horteten sie. Die Nahrungsmittelversorgung kam teilweise zum Erliegen. Arbeiter und Arbeitslose demonstrierten immer öfter gemeinsam. Überall kam es zu Hungerrevolten und Plünderungen. Oft konnte die Polizei den Hungerrevolten nur noch ohnmächtig zusehen. 

Ende Mai traten im Ruhrgebiet ca. 400‘000 Arbeiter in den Streik, im Juni wiederum ca.  100‘000 Berg- und Hüttenarbeiter in Schlesien sowie 150‘000 Metaller in Berlin. Im Juli brach eine weitere Streikwelle aus, die auch von gewalttätigen Zusammenstößen gekennzeichnet war.

In diesen Kämpfen trat erneut ein Merkmal auf, das die Radikalisierung aller Arbeiterkämpfe in der Dekadenz auszeichnet: eine große Welle von Gewerkschaftsaustritten. Die Arbeiter kamen in den Betrieben zu Vollversammlungen zusammen und versammelten sich immer häufiger auch auf den Straßen. Man verbrachte mehr Zeit auf der Straße, in Diskussionen und Demonstrationen, als auf der Arbeit. Die Gewerkschaften stemmten sich mit aller Kraft gegen diese Entwicklung. Die Arbeiter strebten spontan danach, sich in Vollversammlungen, Fabrikkomitees und Fabrikausschüssen vor Ort zusammenzuschließen. Die Bewegung gewann weiter an Auftrieb. Sie scharte sich dabei nicht um nationalistische Forderungen, sondern suchte nach einer Klassenorientierung.

Was machten die revolutionären Kräfte an ihrer Seite?

Die KAPD, die mittlerweile durch das Fiasko der Spaltung in die Essener und Berliner Richtung und durch die Gründung der Kommunistischen Arbeiter-Internationale (KAI) zahlenmäßig stark geschrumpft und organisatorisch erheblich geschwächt war, konnte als solche in dieser Situation keine Präsenz zeigen, obwohl sie laut ihre Ablehnung der nationalbolschewistichen Falle äußerte.

Auch die KPD, die immer mehr Zulauf erhielt, hatte sich einen Strick um den Hals gelegt. Sie konnte keine klare Orientierung bieten - im Gegenteil. Was schlug sie vor?[4] Sie weigerte sich, auf den Sturz der Regierung hin zu arbeiten. Sie KPD und die Komintern stifteten mit ihrer Politik große Verwirrung und trugen zur Schwächung der Arbeiterklasse bei.

Einerseits wetteiferte die KPD mit den Faschisten auf nationalistischem Terrain. So hielt am 10. August z.B. (am gleichen Tag, als in Berlin eine Streikwelle ausbrach) in Stuttgart Thalheimer im Namen der KPD noch gemeinsame Versammlungen mit Nationalsozialisten ab. Andererseits rief sie gleichzeitig zum Kampf gegen die faschistische Gefahr auf. Während die Berliner Regierung jegliche Demonstrationen verboten hatte und die KPD-Zentrale sich dem Verbot beugen wollte, pochte die Parteilinke auf der unbedingten Durchführung einer Demonstration am 29. Juni, die zu einer großen Einheitsfrontdemonstration gegen die Faschisten werden sollte.

In ihrer Unfähigkeit, eine klare Entscheidung zu treffen, ließ die KPD am Tag der Demo 250‘000 Teilnehmer auf den Straßen und vor den Parteibüros vergeblich auf ihre Anweisungen warten.

Die KPD gegen die Intensivierung der August-Kämpfe

Im August setzte eine erneute Streikwelle ein.  Nahezu täglich demonstrierten Arbeiter -  beschäftigte wie arbeitslose. In den Betrieben brodelte es, an vielen Orten entstanden Fabrikkomitees. Der Einfluß der KPD erreichte seinen Höhepunkt.

Am 10. August traten die Drucker der Notenbankpresse in den Ausstand. In einer Wirtschaft, in der der Staat stündlich immer mehr Geld drucken musste, sollte der Streik der Notenscheindrucker eine besonders lähmende Wirkung auf die Wirtschaft haben. Die Papiergeldreserve war innerhalb weniger Stunden verbraucht. Die Löhne konnten nicht mehr ausgezahlt werden. Der Drucker-Streik, der in Berlin einsetzte, griff wie ein Lauffeuer auf andere Teile der Klasse über. Von Berlin aus pflanzte er sich fort über die Wasserkante, das Rheinland, Württemberg, Oberschlesien, Thüringen bis nach Ostpreussen. Immer mehr Teile der Arbeiterklasse schlossen sich der Bewegung an. Am 11. und 12. August kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen in mehreren Städten; über 35 Arbeiter wurden dabei erschossen. Wie schon in allen vorangegangenen Bewegungen der Arbeiterklasse seit 1914 zeichneten sich auch diese Kämpfe dadurch aus, dass sie sich außerhalb und gegen den Willen der Gewerkschaften entwickelten.

Die Gewerkschaften erkannten den Ernst der Lage. Einige von ihnen wollten vortäuschen, den Streik zu unterstützen, um ihn besser von Innen her sabotieren zu können. Andere stellten sich ihm offen entgegen. Die KPD selbst bezog nach der Ausdehnung der Berliner Streiks Stellung: „Für eine Verschärfung der ökonomischen Streiks, nicht aber für das Aufstellen von politischen Forderungen“.

Und sobald die Gewerkschaftsführung verkündet hatte, dass sie den Streik nicht unterstützte, rief die KPD-Zentrale zum Abbruch des Streiks auf. Man wolle nicht außerhalb der Gewerkschaften streiken.

Während Brandler darauf bestand, den Streik abzubrechen, da der ADGB offiziell nicht mitmachte, wollten örtliche Parteiorganisationen dagegen die zahlreichen lokalen Streiks ausdehnen und zu einer einzigen Bewegung gegen die Cuno-Regierung  zusammenfassen. So wurde die „übrige Arbeiterschaft (aufgerufen), ihre Bewegung mit der mächtigen Bewegung des Berliner Proletariats zu vereinen und den Generalstreik über ganz Deutschland auszudehnen“.

Die Partei hatte sich selbst in eine Sackgasse manövriert. Denn die Parteileitung wandte sich gegen die Fortsetzung und Ausdehnung der Streiks, da andernfalls die Ablehnung des nationalistischen Sumpfes, in den das Kapital die Arbeiter zerren wollte, notwendig geworden wäre. Gleichzeitig wäre damit auch die Einheitsfront mit SPD und Gewerkschaften gefährdet gewesen. Noch am 18.August schrieb die Rote Fahne: „Sogar mit Leuten, die Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordet haben, werden wir zusammengehen, wenn sie in unsere Reihen treten wollen“ (18.08.1923).

Die Ausrichtung auf die Einheitsfront, die Verpflichtung, in den Gewerkschaften zu arbeiten, unter dem Vorwand, dort die Arbeiter zu ‘erobern’, bedeutete in Wirklichkeit, sich der gewerkschaftlichen Ausrichtung und Struktur zu unterwerfen, dazu beizutragen, dass die Arbeiter ihren Kampf nicht in die eigenen Hände nehmen können. All das brachte die KPD in einen schrecklichen Konflikt: entweder die Dynamik des Arbeiterkampfes anerkennen, die nationalistische Orientierung und die gewerkschaftliche Sabotage zu verwerfen, oder sich gegen die Streiks wenden, in den gewerkschaftlichen Apparat aufgesogen, letztendlich zu einer Schutzmauer des Staates zu werden und als Hindernis der Interessen der Arbeiter zu wirken. Zum ersten Mal war damit die KPD wegen ihrer gewerkschaftlichen Ausrichtung in eine offene Konfrontation mit der kämpfenden  Arbeiterklasse geraten, denn die Dynamik des Kampfes selbst zwang die Arbeiter dazu, den gewerkschaftlichen Rahmen zu sprengen. Die Konfrontation mit den Gewerkschaften war unausweichlich. Statt dessen diskutierte die KPD-Zentrale, wie sie die Unterstützung der Gewerkschaftsführer für den Streik gewinnen kann!

Unter dem Druck dieser Streikwelle trat am  12. August die Cuno-Regierung zurück. Am 13. August gab die Zentrale der KPD einen Aufruf zur Beendigung des Streiks heraus. Dieser Aufruf der Zentrale stieß auf den Widerstand der Betriebsräte in Berlin, die sich mittlerweile radikalisiert hatten, wie auch der örtlichen Parteileitungen, die für eine Fortführung der Bewegung eintraten. Die örtlichen Parteileitungen warteten auf Anordnungen der Zentrale. Sie wollten isolierte Zusammenstöße mit der Reichswehr vermeiden, bis die Waffen, die das Zentralkomitee angeblich zur Verfügung hatte, verteilt sein würden.

Während die KPD Opfer ihrer eigenen nationalbolschewistischen Politik und der Einheitsfronttaktik geworden war, die Arbeiterklasse damit wie benommen dastand und nicht wusste, was zu tun war, war die Bourgeoisie bereit, die Initiative zu ergreifen.

Wie auch in früheren Situationen aufsteigender Kampfkraft der Arbeiterklasse sollte die SPD die besondere Rolle übernehmen, der Bewegung die Spitze zu brechen. An die Stelle des der Zentrumspartei nahestehenden Cuno trat eine ‘große’ Koalition, an deren Spitze der Zentrumspolitiker Gustav Stresemann stand, der aber von vier SPD-Ministern unterstützt wurde (mit Hilferding als Finanzminister). Dieser Eintritt der SPD in die Regierung war nicht Ausdruck einer lähmenden Hilflosigkeit und Handlungsunfähigkeit des Kapitals, wie die KPD fälschlicherweise vermutete, sondern ein bewusster Schachzug der Bourgeoisie zur Eindämmung der Bewegung. Die SPD war keineswegs dabei auseinander zu brechen, wie die KPD-Führung später behauptete, noch war die Bourgeoisie gespalten oder unfähig, eine neue Regierungsclique aufzustellen.

Am 14. August kündigte Stresemann die Einführung einer neuen Währung und  wertbeständiger Löhne an. Die Bourgeoisie hatte die  Zügel in der Hand behalten und beschloss bewusst die Beendigung der Inflationsspirale - genauso wie sie sich ein Jahr zuvor dazu entschlossen hatte, diese bewusst auszulösen.

Gleichzeitig rief die Regierung zum Abbuch des ‘passiven Widerstandes’ gegen Frankreich im Ruhrgebiet auf und erklärte nach dem Kokettieren mit Russland nun den ‘Kampf gegen den Bolschewismus’  zu einem der  obersten Ziele der deutschen Politik.

Durch das Versprechen, die Inflation zu beenden, konnte die Bourgeoisie eine Wende im Kräfteverhältnis herbeiführen - denn auch wenn nach dem Abbruch der Bewegung in Berlin am 20. August im Rheinland und Ruhrgebiet erneut eine Streikwelle aufloderte, flachte die Bewegung insgesamt schnell ab.

Auch wenn die Arbeiterklasse sich nicht auf das nationalistische Terrain hatte ziehen lassen, konnte sie ihre Bewegung nicht weiter vorantreiben. Einer der Gründe: Die KPD selbst war zum Gefangenen ihrer nationalbolschewistischen Politik geworden. So war die Bourgeoisie ihrem Ziel, der Arbeiterklasse eine entscheidende Niederlage beizufügen, einen Schritt näher gekommen.

Die Arbeiterklasse ging desorientiert aus diesen Kämpfen hervor, mit dem Gefühl, gegenüber der Krise hilflos zu sein. 

Die linken Fraktionen in der Komintern, die sich nach der Aufkündigung des erhofften Bündnisses zwischen dem ‘unterdrückten Deutschland’ und Russland noch isolierter fühlten, versuchten nach dem Fiasko des Nationalbolschewismus nun, das Blatt durch einen verzweifelten Aufstandsversuch zu wenden. Dies werden wir im nächsten Artikel behandeln.   

Dv


[1] Der Parteivorsitzende des Jahres 1922, Ernst Meyer, beschimpfte in seiner Privatkorrespondenz die Zentrale und einzelne Parteiführer. So schickte Meyer Charakterisierungen anderer Parteiführer an seine Frau. Er bat seine Frau, sie solle ihm über die Stimmung in der Partei unterrichten, während er in Moskau weilte. So gab es Privatkorrespondenzen von Mitgliedern der KPD-Zentrale mit der Komintern, und jeder der verschiedenen Flügel innerhalb der Komintern pflegte seine besondere Beziehungen zum entsprechenden ‘Flügel’ innerhalb der KPD. Das Netz ‘informeller Kanäle’ war weit verzweigt. Darüber hinaus war die Atmosphäre in weiten Teilen der Partei vergiftet. Auf dem 5. Kongress der Komintern  berichtete Ruth Fischer, die selbst entscheidend zu dieser Entwicklung beigetragen hatte: „Auf dem Leipziger Parteitag (im Jan. 1923) kam es vor, dass Arbeiter verschiedener Bezirke an einem Tische saßen. Dann fragten sie zum Schluss: Woher kommst du? Und dann sagte der brave Arbeiter: Ich komme aus Berlin. Dann standen die anderen vom Tisch auf und ließen ihn sitzen. So war die Lage in unserer Partei.“ (R. Fischer auf dem 5. Kongreß der Komintern, S. 201)

[2] Innerhalb der tschechischen KP erhob sich dagegen Widerstand. So griff Neurath Thalheimers Position als einen Ausdruck der Zersetzung durch patriotische Gefühle an. Auch ein anderer tschechischer Kommunist, Sommer, verlangte in der Roten Fahne die Ablehnung dieser Orientierung. „Es kann keine Verständigung mit dem inneren Feind geben“ (Carr, Interregnum, S. 168).

[3] Gleichzeitig wollte man selbständige Wirtschaftseinheiten aufzubauen, was zum Teil auf starke syndikalistische Strömungen zurückzuführen ist. Die Vorstellung der KPD-Opposition war, eine im Rhein-Ruhr-Gebiet errichtete Arbeiterrepublik sollte eine Armee nach Mitteldeutschland schicken, um dort zur Machtergreifung beizutragen. Diese von R. Fischer eingebrachte Resolution wurde mehrheitlich mit 68 zu 55 Stimmen abgelehnt.

[4] Viele Arbeiter, die ohne Erfahrung, ohne größere theoretische und politische Bildung waren, fühlten sich zur Partei hingezogen. Die Partei öffnete sich für Masseneintritte. Jeder war willkommen. Bereits im April 1922 hatte die KPD verkündet: „In der gegenwärtigen politischen Situation [hat die KPD] die Pflicht, jeden Werktätigen, der zu ihr will, in ihre Reihen aufzunehmen.“ Im Sommer 1923 gingen viele lokale Parteibezirke in die Hände junger, radikaler Elemente über. Damit strömten noch mehr ungeduldige und unerfahrene Elemente in die Partei. Innerhalb von sechs Monaten verzeichnete sie einen Mitgliederzuwachs von 225.000 auf 295.000, von September 1922 bis September 1923 stieg die Zahl der Ortsgruppen von 2481 auf 3321. Damals verfügte die KPD über einen eigenen Pressedienst und 34 Tageszeitungen sowie zahlreiche Zeitschriften. Gleichzeitig hatten viele dubiose Kräfte die Partei infiltriert, um sie zu unterwandern.

Theorie und Praxis: 

  • Deutsche Revolution [6]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1919 - Deutsche Revolution [17]

Theoretische Fragen: 

  • Internationalismus [13]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarische Revolution [18]

Internationale Revue 28 - Editorial

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In New York wie überall auf der Welt sät der Kapitalismus Tod.

Wir wissen nun, dass die Attentate von New York mehr als 6‘000 Tote verursacht haben. Abgesehen von dieser unglaublichen Zahl stellt die Zerstörung des World Trade Centres einen Wendepunkt in der Geschichte dar, dessen Ausmaß wir noch nicht voll erfassen können. Es handelt sich um den ersten Angriff auf US-Territorium seit Pearl Harbour 1941, die erste Bombardierung auf dem US-amerikanischen Kontinent in seiner Geschichte, die erste Bombardierung einer Metropole der entwickelten Industriestaaten seit dem 2. Weltkrieg. Wie die Medien sagen, handelt es sich um eine wirkliche Kriegshandlung. Und wie alle Kriegshandlungen ist es ein schreckliches Verbrechen, das gegen eine wehrlose Zivilbevölkerung verübt wurde. Wie immer ist die Arbeiterklasse Hauptopfer dieser Kriegshandlungen. Die Sekretärinnen, das Reinigungs- und Unterhaltungspersonal, die Büroangestellten, die den Hauptteil der Getöteten ausmachten, gehören zu uns.

Und wir verwehren der heuchlerischen Bourgeoisie und den ihr ergebenen Medien den Anspruch darauf, wegen der ermordeten Arbeiter Trauer zu zeigen. Die herrschende Kapitalistenklasse ist schon verantwortlich für so viele Massaker und so viele Gemetzel: das schreckliche Abschlachten des 1. Weltkriegs, das noch größere Abschlachten des 2. Weltkriegs, als zum ersten Mal die Zivilbevölkerung zur Hauptzielscheibe wurde. Erinnern wir uns, zu was die herrschende Klasse fähig war: Sie hat London, Dresden, Hamburg, Hiroshima, Nagasaki bombardiert und Millionen Tote in den KZs der Nazis und im Gulag des Stalinismus hinterlassen.

Erinnern wir uns an die Hölle der Bombardierungen der Zivilbevölkerung und der flüchtenden irakischen Armee während des Golfkrieges 1991 und der Hunderttausenden von Toten. Erinnern wir uns an die alltäglichen und noch fortdauernden Massaker in Tschetschenien, die in Komplizenschaft mit den Demokratien des Westens verübt werden. Erinnern wir uns an die Komplizenschaft des belgischen, französischen und amerikanischen Staates während des Bürgerkriegs in Algerien, an die schrecklichen Pogrome in Ruanda.

Erinnern wir uns auch an die afghanische Bevölkerung, die heute durch amerikanische Bomben terrorisiert wird und die schon mehr als 20 Jahre an ununterbrochenem Krieg leidet, der zur Flucht von 2 Millionen Menschen in den Iran, von 2 Millionen nach Pakistan, mehr als einer Million Toten geführt hat. Die Hälfte der Bevölkerung ist von Nahrungsmittellieferungen der UNO und anderer NGOs abhängig.

Dies sind nur einige Beispiele von vielen für das Wüten eines Kapitalismus, der immer mehr in einer unüberwindbaren Wirtschaftskrise versinkt und unwiderruflich im Niedergang steckt. Der Kapitalismus steckt in einer verzweifelten Lage.

Die Bombenangriffe von New York sind kein Angriff „gegen die Zivilisation“, sondern sie sind im Gegenteil der Ausdruck dieser bürgerlichen „Zivilisation“.

Heute tritt diese unendlich heuchlerische herrschende Klasse mit blutbeschmierten Händen vor uns - ein Blut, das von den Arbeitern und den anderen Ausgebeuteten stammt, die durch ihre Bomben umgekommen sind - und wagt vorzugeben, sie trauere über die Toten, obwohl sie selbst für den Tod dieser Menschen verantwortlich ist.

Die gegenwärtigen Kampagnen der westlichen Demokratien gegen den Terrorismus sind besonders heuchlerisch. Nicht nur, weil das zerstörerische Wüten unter der Zivilbevölkerung durch den staatlichen Terror dieser Demokratien viel tödlicher ist als die schlimmsten Attentate (Millionen von Toten in den Kriegen in Korea und Vietnam – um nur einige zu nennen). Nicht nur weil diese Demokratien sich unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Terrorismus unter anderem mit Russland zusammenschließen, obwohl sie häufig dessen Kriegsverbrechen gegen die Bevölkerung in Tschetschenien angeprangert haben. Nicht nur weil sie nie gezögert haben, mittels Staatsstreichen und blutiger Diktaturen ihre eigenen Interessen durchzusetzen (wie die USA im Falle Chiles z.B.). Sie sind auch Heuchler, weil sie nie davor zurückgeschreckt haben, terroristische Mittel einzusetzen oder das Leben von Zivilisten zu opfern, solange diese Methoden auch nur vorübergehend ihren Interessen dienten. Erinnern wir uns einiger Beispiele aus der jüngsten Geschichte:

In den 80er Jahren schossen russische Flugzeuge eine Boeing der Korean Airlines über dem Luftraum der UdSSR ab. Im Nachhinein fand man heraus, dass das Abweichen von der Flugroute durch den US-Geheimdienst eingefädelt worden war, um so die Reaktion der Russen gegenüber dem Eindringen eines Flugzeuges in ihren Luftraum zu testen.

Während des Iran-Irak-Krieges schossen die USA ein iranisches Linienflugzeug über dem Persischen Golf ab. Der iranische Staat sollte gewarnt werden, sich ruhig zu verhalten, und davon abgeschreckt werden, einen Krieg am Golf auszulösen.

Während französischen Atomwaffenversuchen in Mururoa im Pazifik hat Frankreich Agenten seines Geheimdienstes nach Neuseeland geschickt, um das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrier in die Luft zu jagen und zu versenken.

Das Attentat im Bahnhof von Bologna, bei dem in den 70er Jahren ca. 100 Menschen ihr Leben verloren, wurde lange Zeit den Roten Brigaden in die Schuhe geschoben, bis man schließlich herausfand, dass der italienische Geheimdienst am Werk gewesen war. Dieser Geheimdienst war zutiefst verbunden mit Mafia-Aktivitäten um das Netz Gladio, das von den USA in ganz Europa aufgebaut worden war und das im Verdacht steht, an einer Reihe von mörderischen Attentaten in Belgien beteiligt gewesen zu sein.

Während des Bürgerkrieges in Nicaragua lieferte die Reagan-Regierung Waffen und Geld an die „Contras“. Es handelte sich um eine Geheimaktion, die gegenüber dem US-Kongress verschwiegen und durch den Waffenverkauf an den Iran (auch illegal) sowie den Drogenhandel finanziert wurde.

Der sehr demokratische Staat Israel setzt auch heute noch seine Politik der Attentate und des Mordens in den Gebieten Palästinas gegen die Führer der Fatah, Hamas usw. fort1 [19].

Wir können nicht mit Sicherheit behaupten, dass heute Osama Bin Laden wirklich verantwortlich ist für die Angriffe auf das World Trade Centre, wie dies der US-Staat behauptet. Aber wenn diese Hypothese sich als richtig herausstellt, dann ist nur ein Kriegsherr der Kontrolle seiner alten Herren entwichen. Bin Laden ist nicht einfach ein fanatischer, islamisierter Terrorist. Im Gegenteil – seine Karriere fing an, als er ein Teil der US-imperialistischen Kette im Krieg gegen die UdSSR in Afghanistan war. Aus einer stinkreichen saudischen Familie stammend, die von der Königsfamilie um Bin Saoud unterstützt wurde, wurde Bin Laden 1979 in Istanbul von der CIA rekrutiert. „Der Afghanistankrieg war soeben ausgebrochen und Istanbul war eine Durchgangsstelle, die die Amerikaner ausgewählt hatten, um von dort Freiwillige an die afghanische Guerrillafront zu schicken. Zunächst für die Logistik verantwortlich, wurde Bin Laden zum Finanzvermittler des Waffenhandels, der jeweils von den USA und Saudi-Arabien mit einem gleichen Anteil von ca. 1,2 Mrd. $ pro Jahr finanziert wurde. 1980 traf Bin Laden in Afghanistan ein, wo er praktisch bis zum Abzug der Russen 1989 verblieb. Er hatte die Aufgabe, die Mittel unter den verschiedenen Fraktionen des Widerstands zu verteilen, d.h. er nahm eine höchst politische Schlüsselrolle ein. Damals unterstützten ihn die USA und Saudi-Arabien vollständig, wobei sein Freund, der Prinz Turki Bin Faycal, der Bruder des saudischen Königs und Chef der saudischen Geheimdienste sowie dessen Familie eine entscheidende Rolle spielten. Er beteiligte sich an Geldwäsche zur Umwandlung von schmutzigem in sauberes Geld und umgekehrt.“ (Le Monde 15.9.2001). Dieser gleichen Zeitung zufolge habe Bin Laden ebenso ein Netz für den Opiumhandel aufgebaut - zusammen mit seinem Freund Gulbuddin Hekmatyar, einem Taliban-Führer, der auch von den USA unterstützt wurde. Diese und jener beschuldigen sich heute gegenseitig „der große Teufel“ und „der Welt führender Terrorist“ zu sein, als ob sie unversöhnliche Feinde wären; tatsächlich aber sind sie die treuen Verbündete von gestern.2 [20]

Der allgemeine Rahmen

Aber abgesehen von dem Ekel, den die Anschläge von New York und die Heuchelei der Bourgeoisie hervorrufen, müssen die Revolutionäre und die Arbeiterklasse die Gründe dieses Massakers begreifen, wenn wir keine einfache Zuschauer sein wollen, die die Ereignisse mit Schrecken verfolgen. Gegenüber den bürgerlichen Medien, die behaupten, verantwortlich seien die islamischen „Fundamentalisten“, die „Schurkenstaaten“, die „Fanatiker“, entgegnen wir: Der wahre Verantwortliche ist das ganze kapitalistische System.

Aus unserer Sicht trat der Kapitalismus zu Beginn des letzten Jahrhunderts auf der ganzen Welt in sein Niedergangsstadium ein3 [21]. In den Jahren um 1900 schloss der Kapitalismus seine historische Aufgabe ab: Die Einverleibung des gesamten Erdballs in einen einzigen Weltmarkt, die Auslöschung des Einflusses früherer Machtstrukturen (feudaler, Stammesgesellschaften usw.) lieferten die materiellen Grundlagen dafür, dass zum ersten Mal in der Geschichte eine wirkliche Menschengemeinschaft errichtet wird. Wenn die Produktivkräfte diesen Entwicklungsstand erreicht hatten, bedeutete dies, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu einer Fessel für ihre weitere Entwicklung geworden sind. Seitdem kann der Kapitalismus kein fortschrittliches System mehr sein; statt dessen ist er zu einer Fessel für die Gesellschaft geworden.

Die Dekadenz einer Gesellschaft eröffnet nie einfach einen Zeitraum des Zerfalls oder der Stagnation. Im Gegenteil – der Konflikt zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen kann nur ein gewalttätiger sein. Dies belegt die Geschichte zur Zeit des Niedergangs der römischen Sklavengesellschaft, die geprägt war von gesellschaftlichen Erschütterungen, Kriegen im Innern und nach Außen, die Invasion von Barbaren, bis die Reifung neuer Produktionsverhältnisse, der Feudalismus, den Durchbruch einer neuen Gesellschaftsform ermöglichte. Der Niedergang des Feudalismus war ebenso von zwei Jahrhunderten zerstörerischer Kriege bis zum Beginn der bürgerlichen Revolutionen geprägt (insbesondere in England im 17. Jahrhundert, Frankreich im 18. Jahrhundert), wodurch die Macht der Feudalherren und der absoluten Monarchen gebrochen und ein Zeitraum kapitalistischer Herrschaft eröffnet wurde.

Die kapitalistische Produktionsform ist die dynamischste der ganzen Menschengeschichte, da sie nur durch eine ständige Umwälzung der vorhandenen Produktionsformen und - wichtiger noch – eine ständige Erweiterung ihres Handlungsraumes überleben kann. Weniger noch als bei den früheren Gesellschaften konnte ihr Niedergang ein Zeitraum des Friedens sein. Materiell wurde der Beginn des Niedergangs des Kapitalismus durch zwei gewaltige und entgegengesetzte Ereignisse geprägt: den Ersten Weltkrieg und die proletarische Revolution in Russland 1917.

Seit dem Ersten Weltkrieg konnten die Zusammenstöße zwischen den imperialistischen Großmächten keine begrenzten Kriege mehr sein oder beschränkt bleiben auf entfernt gelegene Länder wie während der Eroberung der Kolonien. Von 1914 an wurden die imperialistischen Konflikte zu unglaublich mörderischen, zerstörerischen Konflikten mit weltweiter Ausstrahlung.

In der Oktoberrevolution 1917 gelang es dem russischen Proletariat zum ersten Mal in der Geschichte, die Kapitalistenherrschaft zu zerschlagen; die Arbeiterklasse stellte ihr revolutionäres Wesen unter Beweis und zeigte, dass sie dazu in der Lage ist, die Barbarei des Krieges zu beenden und das Tor zur Bildung einer neuen Gesellschaft aufzustoßen.

In ihrem Manifest, das die 3. Internationale verfasst hatte, um dem Proletariat auf dem Weg zur Weltrevolution die Richtung zu weisen, erklärte sie, dass der durch den Krieg eröffnete Zeitraum der des kapitalistischen Niedergangs ist, die „Periode der Kriege und der Revolutionen“, oder wie Marx im Kommunistischen Manifest gesagt hatte, bestand die Alternative im Sieg der Revolution einerseits und dem gemeinsamen Ruin der sich bekämpfenden Klassen andererseits. Die Revolutionäre der Kommunistischen Internationale fassten entweder diesen Sieg ins Auge oder den Abstieg der gesamten menschlichen Zivilisation in die Hölle.

Sie konnten sich sicher nicht den Horror des 2. Weltkriegs ausmalen, die KZs, die Atombombenabwürfe usw. Und noch weniger konnten sie sich die noch nie da gewesene historische Lage von heute vorstellen.

So wie der Erste Weltkrieg den Eintritt des Kapitalismus in seinen Niedergang eröffnete, stellte der Zusammenbruch des russischen Blocks 1989 dessen Eintritt in eine neue Phase dieses Niedergangs dar: den seines Zerfalls. Der Dritte Weltkrieg, der seit dem Zweiten Weltkrieg seit 1945 vorbereitet wurde, fand nicht statt. Seit dem Mai 1968 in Frankreich, d.h. dem massivsten Streik in der Geschichte, und einer Reihe von Arbeiterkämpfen, die die großen kapitalistischen Staaten bis Ende der 80er Jahre erschüttert haben, wurde deutlich, dass die Arbeiterklasse, insbesondere die Arbeiterklasse im Zentrum des kapitalistischen Systems, nicht bereit war, wie 1914 oder wie 1939 in einem neuen Krieg verheizt zu werden. Aber während die Arbeiterklasse sich implizit dem Krieg verweigerte, hat sie es dennoch nicht geschafft, eine Bewusstseinsstufe zu erreichen, die ihrer eigentlichen Stellung in der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer historischen Rolle als Totengräber des Kapitalismus entspricht. Eine der auffallenden Ausdrücke dieser Schwierigkeit zeigt sich in der Unfähigkeit der heutigen kommunistischen Gruppen, etwas anderes als kleine, zerstreute Gruppen zu sein, ohne ein bedeutendes Echo in der Arbeiterklasse.

Die Gefahr eines Weltkrieges zwischen den beiden imperialistischen Blöcken ist verschwunden, aber die Menschheit ist weiterhin bedroht. Die Fäulnis des Kapitalismus ist nicht einfache eine Phase, der andere folgen werden. Sie ist die Endphase des Niedergangs, die nur zu einem der beiden „Wege“ führen kann: entweder proletarische Revolution und Übergang zu einer neuen Form menschlicher Gesellschaft, oder der immer schnellere Abstieg in eine grenzenlose Barbarei, mit der viele unterentwickelte Staaten jetzt schon konfrontiert sind und die jetzt zum ersten Mal auch im Herzen der bürgerlichen Gesellschaft zugeschlagen hat. Vor dieser Wahl steht die Gesellschaft jetzt.

Das Auseinanderbrechen des russischen Blocks hat die imperialistischen Rivalitäten nicht aus der Welt geschafft; im Gegenteil: Die imperialistischen Ambitionen nicht nur der alten europäischen Großmächte können jetzt ungehindert walten, sondern auch die der zweitrangigen Regionalmächte, bis hin zu den kleinsten Ländern und den jämmerlichsten Kriegsherren.

1989 kündigte uns Präsident Bush das Ende des Konfliktes mit dem „Reich des Bösen“ an und versprach uns einen neuen Zeitraum des Friedens und des Wohlstands. 2001 wurden die USA zum ersten Mal in der Geschichte in ihrem Herzen getroffen, und der Sohn Bushs, der mittlerweile Präsident geworden ist, kündigte danach einen „Kreuzzug des Guten gegen das Böse“ an, ein Kreuzzug, der bis „zur weltweiten Auslöschung all der terroristischen Gruppen“ dauern werde. Am 16. September wiederholte Donald Rumsfeld, US-Verteidigungsminister, dass es sich um „lange, breitgefächerte Anstrengungen“ handelte, die „nicht nur Tage oder Wochen dauern werden, sondern Jahre“ (Le Monde, 18. 9.01). So stehen wir vor einem Krieg, dessen Ende selbst die herrschende Klasse nicht absehen kann. Keiner redet mehr euphorisch über die hinter uns liegenden zehn Jahre amerikanischen „Wohlstands“, sondern man wird sich bewusst über das, was Winston Churchill 1940 dem englischen Volk angekündigt hatte: „Blut, Schweiß und Tränen“.

Die Lage, vor der wir heute stehen, bestätigt in jedem Punkt das, was wir in unserer Resolution zur internationalen Situation auf dem 14. Kongress der IKS im Frühjahr dieses Jahres schrieben:

„Das Auseinanderbrechen der alten Blockstrukturen und der Blockdisziplin ließ der Entfaltung der nationalen Rivalitäten auf einem bislang nie gekannten Niveau freien Lauf und brachte einen wachsenden chaotischen Kampf des Jeder-gegen-jeden mit sich - von den Großmächten der Welt bis hin zu den finstersten örtlichen Warlords. Das äußerte sich in einer Zunahme lokaler und regionaler Kriege, in denen die Großmächte ständig Vorteile für sich herausschlagen wollen (...)

Die für die gegenwärtige Phase des kapitalistischen Zerfalls charakteristischen Kriege sind nicht weniger imperialistisch als die Kriege in den früheren Phasen der Dekadenz, aber sie haben an Ausmaß zugenommen, sind weniger kontrollierbar und schwieriger auch nur vorübergehend zu beenden. (...) Die kapitalistischen Staaten sind alle Gefangene einer Logik, die sich ihrer Kontrolle entzieht und die selbst im kapitalistischen Sinne immer weniger Sinn macht, und deshalb ist die Lage, vor der die Menschheit steht, so gefährlich und instabil.“ (vgl. Weltrevolution Nr. 106)

Wem nützt das Verbrechen?

Zum Zeitpunkt, als wir diesen Artikel verfassen, hat niemand – kein Staat, keine Terroristengruppe – die Verantwortung für die Attentate übernommen. Dabei liegt es auf der Hand, dass dazu eine lange Vorbereitung und großer Materialeinsatz erforderlich war; die Debatte unter den „Experten“ hat begonnen, ob dies nur die Tat einer Terroristengruppe sein konnte oder allein das Ausmaß der Angriffe die Beteiligung von Geheimdiensten irgendeines Staates erforderlich machte. All die öffentlichen Erklärungen der US-Behörden weisen mit dem Finger auf die Organisation al-Kaida Osama Bin Ladens, aber sollen wir diese Erklärungen notwendigerweise für bare Münze nehmen?4 [22]

In Ermangelung wirklich konkreter Beweise und aufgrund des geringen Vertrauens, das wir den bürgerlichen Medien schenken können, müssen wir der alten Detektivmethode treu bleiben und den Beweggrund für das Verbrechen finden. Wem nützt das Verbrechen?

Hätte eine andere Großmacht geneigt sein können, diesen Schlag zu wagen? Hätte ein europäischer Staat oder Russland oder China, - d.h. ein Staat, der durch die US-Supermacht verletzt worden ist, aber seine eigenen Ambitionen verdunkelt - geneigt sein können, den USA einen Schlag ins Herzen zu versetzen und damit das Ansehen dieser Supermacht auf der Welt zu untergraben? Diese These scheint uns a priori als unmöglich, da das Resultat der Attentate auf internationaler Ebene vorhersehbar war: Die USA mussten ihre Vorherrschaft erneut behaupten und ihre Entschlossenheit zeigen, militärisch überall gegen jeden loszuschlagen und ihre Fähigkeit unter Beweis stellen, alle Staaten der Erde – ob sie wollen oder nicht - hinter sich zu scharen.

Dann gibt es die sogenannten „Schurkenstaaten“ wie Irak, Iran, Libyen usw. Die Vermutung, dass sie beteiligt waren, erscheint uns zumindest unwahrscheinlich. Abgesehen von der Tatsache, dass diese Staaten in der Regel weniger „Schurken“ sind als von ihnen behauptet wird (die iranische Regierung z.B. unterstützt eher die Allianz mit den USA), liegt es auf der Hand, dass sie ein großes Risiko eingehen würden, wenn ihre Mittäterschaft aufgedeckt würde. Sie würden das Risiko der vollständigen militärischen Zerstörung auf sich nehmen, und der Vorteil solch einer Aktion erscheint für sie sehr ungewiss.

Im Nahen Osten beschuldigen die Palästinenser und der israelische Staat sich gegenseitig der terroristischen Umtriebe. Wir schließen sofort eine palästinensische Beteiligung aus: Arafat und seine Konsorten wissen genau, dass nur die USA Israel daran hindern können, die Missgeburt ihres Staates zu zerstören; und aus ihrer Sicht sind die Anschläge in New York ein totales Desaster, das „alles Arabische“ sofort in Misskredit geraten lässt. Die gleiche Herangehensweise – aber mit umgekehrten Vorzeichen, um der Welt und vor allem den USA aufzuzeigen, dass man den „Terroristen“ Arafat auslöschen muss – könnte jetzt angewendet werden mit der Frage nach einer israelischer Beteiligung: Der israelische Geheimdienst Mossad wäre sicherlich von seinen organisatorischen Fähigkeiten her dazu in der Lage, solche Angriffe durchzuführen, aber es ist kaum vorstellbar, dass der Mossad solch einen Schritt ohne die Zustimmung des US-Staates wagen würde.

Die US-Beschuldigungen sind vielleicht gerechtfertigt: Diese Attentate seien das Werk einer Gruppe, d.h. eines Teils dieser nebulösen Menge von Terroristengruppen, die es zuhauf im Nahen Osten und in anderen Teilen der Welt gibt. Dann wäre es viel schwerer, das Motiv zu erhellen, denn diese Gruppen haben keine leicht erkennbaren staatlichen Interessen. Aber man kann hinzufügen: Selbst wenn die Gruppe al-Kaida beteiligt wäre, würde das nicht viel zur Klärung beitragen: Der Zerfall der kapitalistischen Weltwirtschaft wird seit Jahren geprägt von dem Aufblühen einer gewaltigen Schattenwirtschaft, die sich auf den Drogenhandel, die Prostitution, Waffen- und Flüchtlingshandel stützt. So hat das finstere islamische Regime der Taliban Afghanistan nicht daran gehindert, zum Hauptlieferanten für Opium und Heroin zu werden – im Gegenteil. In Russland hat der Geschäftsmann Berezowski, ein enger Freund Jelzins, nie ein Hehl aus seinen Geschäftsverbindungen zur tschetschenischen Mafia gemacht. In Lateinamerika finanzieren sich linksextreme Guerrillagruppen wie die kolumbianische FARC durch den Verkauf von Kokain. Überall manipulieren die Staaten diese Gruppen gemäß ihrer eigenen Interessen. Und das zumindest seit dem 2. Weltkrieg, als die US-Armee den Mafia-Boss Lucky Luciano aus dem Gefängnis ließ, um den USA bei der Landung ihrer Truppen in Sizilien behilflich zu sein. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass gewisse Geheimdienste auf eigene Faust gehandelt haben, unabhängig vom Willen ihrer Regierungen.

Die letzte Hypothese mag als „wahnsinnigste“ erscheinen: Die US-Regierung oder ein Teil von ihr - innerhalb der CIA zum Beispiel - hätte vielleicht die Attentate mit vorbereitet, sie hervorgerufen und sie stattfinden lassen ohne einzugreifen. Es stimmt, dass der Schaden, der für die weltweite Glaubwürdigkeit der USA und auch auf wirtschaftlicher Ebene entstanden ist, zu groß erscheint, um sich eine solche Vermutung überhaupt vorzustellen.

Bevor man sie jedoch verwirft, sollte man den weiter reichenden Vergleich mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour (dieser Vergleich wird übrigens in der Presse oft gezogen) ziehen und einen Blick auf die Geschichte werfen.

Am 8. Dezember 1941 griffen japanische Marine- und Flugzeugverbände den US-Stützpunkt in Pearl Harbour auf Hawaii an, wo nahezu die gesamte US-Flotte des Pazifiks vor Anker lag. Die für die Sicherheit auf dem Stützpunkt verantwortlichen Militärs waren durch diesen Angriff völlig überrascht, und der Angriff richtete großen Schaden an: Die meisten vor Anker liegenden Schiffe sowie mehr als die Hälfte der Flugzeuge wurden zerstört; man beklagte 4‘500 Tote und Verletzte auf amerikanischer Seite im Vergleich zu 30 verlorenen Flugzeugen auf japanischer Seite. Während bis zum damaligen Zeitpunkt die Mehrheit der US-Bevölkerung gegen einen Kriegseintritt der USA gegen die Achsenmächte war und die isolationistischen Bereiche der US-Bourgeoisie, die im Komitee „Amerika zuerst“ zusammengeschlossen waren, eine große Rolle spielten, brachte der „heuchlerische und feige“ Angriff der Japaner jeglichen Widerstand gegen einen Kriegseintritt zum Schweigen. Präsident Roosevelt, der von Anfang an für den Kriegseintritt war und seit geraumer Zeit für eine militärische Unterstützung Englands eintrat, erklärte: „Wir müssen feststellen, dass der moderne Krieg, so wie er von den Nazis geführt wird, eine widerwärtige Angelegenheit ist. Wir wollten nicht in den Krieg eintreten. Jetzt sind wir am Krieg beteiligt und wir werden mit all unseren Kräften kämpfen.“ Er vermochte es, eine lückenlose nationale Einheit um seine Politik herzustellen.

Nach dem Krieg wurde auf Betreiben der Republikaner eine umfassende Untersuchung angestellt, die aufklären sollte, warum das US-Militär so stark von den japanischen Angriff überrascht worden war. Diese Untersuchung brachte deutlich ans Tageslicht, dass höchste politische Stellen die Verantwortung für den japanischen Angriff und dessen Erfolg trugen. Einerseits hatten sie während der japanisch-amerikanischen Verhandlungen, die zu diesem Zeitpunkt stattfanden, für Japan unannehmbare Bedingungen aufgestellt, insbesondere ein Embargo für Öllieferungen an Japan. Andererseits hatten sie, obwohl sie über die japanischen Vorbereitungen (insbesondere durch Entschlüsselung des Nachrichtenkodes des japanischen Generalstabs) voll im Bild waren, die Leitung des Militärstützpunktes in Pearl Harbour nicht unterrichtet. Roosevelt hatte gar den Admiral Richardson getadelt, der sich der Bündelung der gesamten Pazifikflotte in dieser Basis widersetzt hatte. Man muss allerdings bemerken, dass die drei Flugzeugträger (d.h. bei weitem die wichtigsten Kriegsschiffe), die dort normalerweise stationiert waren, den Hafen einige Tage zuvor verlassen hatten. Tatsächlich stimmen heute die meisten ernsthaften Historiker darin überein, dass die US-Regierung Japan provoziert hatte, um den Kriegseintritt der USA in den 2. Weltkrieg zu rechtfertigen und die Unterstützung der US-Bevölkerung und aller Teile der Bourgeoisie zu erlangen.

Es ist heute schwierig zu sagen, wer der Verantwortliche für die Attentate in New York ist; insbesondere ist es schwierig zu behaupten, dass es sich um eine Neuauflage des Angriffs auf Pearl Harbour handelt. Was wir dagegen mit Sicherheit sagen können, ist, dass die USA als allererste davon profitieren, womit sie eindrucksvoll unter Beweis stellen, wie sie aus dem Schlag gegen sie Kapital schlagen können.

Wie die USA Nutzen aus der Lage ziehen

The Economist fasste es sehr knapp zusammen: „Die von den USA zusammengestellte Koalition ist sehr außergewöhnlich. Diese Allianz umfasst Russland, die NATO-Länder, Usbekistan, Tadschikistan, Pakistan, Saudi-Arabien und die anderen Golfstaaten, schweigende Zustimmung Irans und Chinas – das wäre vor dem 11. September nicht denkbar gewesen.“

Zum ersten Mal in ihrer Geschichte hat die NATO den Bündnisfall gemäß Artikel 5 erklärt, wonach alle Mitgliedsstaaten gezwungen sind, einem von Außen angegriffenen Mitgliedsstaat Hilfe zu leisten. Noch außergewöhnlicher ist, dass der russische Präsident Putin seine Zustimmung zur Benutzung russischer Stützpunkte für „humanitäre Operationen“ (die sicherlich ebenso „humanitär“ sind wie die Bombardierung des Kosovos) gegeben und gar logistische Hilfe angeboten hat. Russland stellt sich nicht dagegen, dass Tadschikistan und Usbekistan es den USA erlaubt haben, ihre Flughäfen für militärische Operationen der USA gegen Afghanistan zu benutzen. Amerikanische und britische Truppen befinden sich wohl schon vor Ort und leisten der Nordallianz Hilfe, die als einzige afghanische Gruppe noch gegen die Taliban-Regierung aufmarschieren kann.

Offensichtlich geschieht all dies nicht ohne Hintergedanken. Russland, um damit zu beginnen, beabsichtigt aus der gegenwärtigen Situation einen Vorteil zu erringen, indem es jede Kritik an seinem blutigen Krieg in Tschetschenien zum Verstummen bringt und die Versorgung der Rebellen aus Afghanistan (die bestimmt nicht ohne Mitwirkung des ISI, des pakistanischen Geheimdienstes, zustande kam) unterbindet. Usbekistan begrüßt die Ankunft US-amerikanischer Truppen als Druckmittel gegen Russland, den lästigen Grossen Bruder.

Was die europäischen Staaten betrifft, so schliessen sich diese nicht aus freien Stücken den USA an, und jeder versucht, möglichst seine Handlungsfreiheit zu erhalten. Im Moment erklärt einzig die britische Bourgeoisie eine totale, auch militärische Solidarität mit den USA mit der Präsenz von 20‘000 Soldaten im Persischen Golf (dem größten Kontingent seit dem Falklandkrieg) und der Entsendung der Eliteeinheit SAS nach Usbekistan. Auch wenn die englische Bourgeoisie in den letzten Jahren gegenüber den USA mit ihrer Unterstützung für eine europäische schnelle Eingreiftruppe, die unabhängig von den USA agieren kann, und der Zusammenarbeit mit den französischen Seestreitkräften eine gewisse Distanz aufgebaut hat, so ist sie durch ihre eigene Geschichte im Nahen Osten und ihren historischen und vitalen Interessen in dieser Region gezwungen, sich heute hinter die USA zu stellen. England spielt wie alle anderen sein eigenes Spiel, und in der jetzigen Situation beinhaltet dies eine treue Zusammenarbeit mit Amerika. So drückte es Lord Palmerston schon im 19. Jahrhundert aus: „Wir haben keine ewigen Verbündeten und keine dauernden Feinde. Unsere Interessen sind permanent, und es ist unsere Pflicht, diese aufrecht zu erhalten.“ (zitiert aus Kissinger, Die Diplomatie) Lord Robertson, der aktuelle NATO-Generalsekretär konnte es sich nicht verkneifen, die Selbständigkeit jedes Mitgliedslandes zu betonen: „Es ist klar, dass für jeden Staat eine würdevolle moralische Verpflichtung besteht, Hilfe zu leisten. Diese wird einmal davon abhängen, was das angegriffene Land entscheidet, und auch von der Art, wie die Mitgliedsländer an dieser Operation teilnehmen können.“ (Le Monde, 15.9.2001) Frankreich ist da noch nuancierter: Für Alain Richard, den Verteidigungsminister, können die Prinzipien „der gegenseitigen Unterstützung (der NATO) gut angewandt werden“, doch „jede Nation macht dies mit den für sie passenden Mitteln“, und wenn „die militärische Aktion notwendig ist, um die terroristische Bedrohung einzudämmen, dann gibt es nichts anderes“. „Solidarität bedeutet nicht Blindheit“, fügte Henri Emmanuelli, ein Führer der Sozialdemokratischen Partei an.5 [23] Präsident Chirac setzte bei seinem Besuch in Washington das Tüpfchen aufs I: „Die militärische Zusammenarbeit kann selbstverständlich in Erwägung gezogen werden, doch nur in dem Maße, wie wir uns zuvor über die Ziele und Modalitäten einer Aktion, deren Ziel die Ausschaltung des Terrorismus ist, absprechen.“ (zitiert aus Le Monde, 15. und 20.9.2001).

Es gibt einen Unterschied zwischen der heutigen Situation und derjenigen des Golfkrieges von 1990/91. Vor 11 Jahren schloss die von den USA einberufene Allianz die militärischen Kräfte verschiedener europäischer und arabischer Staaten (vor allem Saudi-Arabien und Syrien) zusammen. Heute sind die USA gewillt, auf der militärischen Ebene alleine vorzugehen. Dies zeigt auf, wie sehr ihre diplomatische Isolation wie auch das Misstrauen gegenüber ihren „Alliierten“ seit jenem Krieg zugenommen haben. Die USA werden diese sicher dazu verpflichten, sie zu unterstützen, insbesondere indem sie versuchen werden, sich deren nachrichtendienstliche Netze dienstbar zu machen, doch werden die USA keine Fessel bei der militärischen Aktion dulden.

Es gilt noch einen anderen Vorteil hervorzuheben, den die herrschende Fraktion der US-amerikanischen Bourgeoisie auf der innenpolitischen Ebene aus der heutigen Lage zieht. Es gab schon immer eine „isolationistische“ Tendenz innerhalb der amerikanischen Bourgeoisie, die davon ausgeht, dass ihr Land durch die Weltmeere genügend abgeschirmt und genug reich sei, um sich nicht in die Angelegenheiten der Welt einmischen zu müssen. Es war diese Fraktion, die sich gegen den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg stemmte und die von Roosevelt nach dem Angriff auf Pearl Harbour zum Schweigen gebracht wurde. Es ist klar, dass diese Fraktion heute nichts zu sagen hat, und der Kongress bewilligte 40 Milliarden Dollar mehr für den „Kampf gegen den Terrorismus“, von denen 20 Milliarden ausschließlich dem Präsidenten zu Verwendung bereit stehen. Dies bedeutet eine enorme Verstärkung der zentralen Staatsmacht

Weshalb Afghanistan?

Mit einer außerordentlichen Schnelligkeit hat die Polizei und der amerikanische Geheimdienst einen Urheber des Attentats präsentiert: Osama Bin Laden und seine Taliban-Freunde.6 [24] Und bevor auch nur ein einziger konkreter Beweis vorlag, hat der amerikanische Staat sein Ziel und seine Absicht bekannt gegeben: dem Taliban-Regime den Garaus zu machen. Zum Zeitpunkt, als wir diesen Artikel schreiben (und es ist sicher, dass sich die Situation dramatisch weiterentwickelt, bis diese Zeitschrift die Druckerei verlässt) kündigt die Presse die Präsenz von fünf amerikanischen und britischen Transportflugzeugen in der Region, die Landung von US-Flugzeugen in Usbekistan und einen vorgesehenen Angriff in den nächsten 48 Stunden an. Wenn man einen Vergleich anstellt mit den sechs Monaten Vorbereitungszeit vor der Attacke gegen den Irak 1991, so kann man sich wahrlich fragen, ob das alles nicht schon vorher geplant war. In jeden Fall ist es für die amerikanische Bourgeoisie entscheidend, ihre eigene Ordnung in Afghanistan durchzusetzen. Und das offensichtlich nicht um die reiche Wirtschaft oder die Märkte diese ausgebluteten Landes zu erobern. Weshalb also Afghanistan?

Dieses Land ist auf der ökonomischen Ebene nie von Interesse gewesen, doch genügt ein Blick auf die Landkarte, um seine strategische Wichtigkeit zu verstehen, die es seit mehr als zwei Jahrhunderten hat. Seit der Bildung des Raj (dem britischen Reich in Indien) und während des gesamten 19. Jahrhunderts war Afghanistan ein Ort der Konfrontation zwischen dem britischen und dem russischen Imperialismus in dem, was damals „das Große Spiel“ hieß. Großbritannien beobachtete mit Besorgnis das Vorrücken des russischen Imperialismus in Richtung der Emirate von Taschkent, Samarkand und Bukhara und noch mehr gegenüber seinen Jagdgründen in Persien (dem heutigen Iran). Großbritannien nahm nicht ohne Grund an, dass das Ziel der zaristischen Armeen die Eroberung Indiens sei, aus dem es enorme Profite und ein großes Prestige herausschlug. Deshalb unternahm es zwei militärische Feldzüge in Afghanistan (der erste endete in einer bitteren Niederlage mit dem Verlust von 16‘000 Mann und einem einzigen Überlebenden).

Das 20. Jahrhundert machte den Nahen Osten mit der Entdeckung von riesigen Ölreserven in dieser Region, mit der Abhängigkeit der Wirtschaft der entwickelten Länder und vor allem deren Armeen vom Öl, zu einem strategisch noch wichtigeren Gebiet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Afghanistan für die militärischen Pläne der beiden großen imperialistischen Blöcke zur Drehscheibe in der Region. Die USA vereinigten die Türkei, Iran und Pakistan in der CENTO (Central Treaty Organisation), der Iran war gespickt mit amerikanischen Abhörstationen, und die Türkei wurde eine der stärksten militärischen Mächte des Nahen Ostens. Pakistan wurde von den USA unterstützt als Bollwerk gegen Indien, welches gegenüber den russischen Ansprüchen sehr offen war.

Die islamische „Revolution“ im Iran entriss dieses Land dem Einfluss der USA. Russlands Invasion in Afghanistan 1979, das die Schwäche der USA zu seinen Gunsten nutzen wollte, bedeutete für die ganze Strategie des amerikanischen Blocks ein große Gefahr, und zwar nicht nur im Nahen und Mittleren Osten, sondern in ganz Asien. Da sie die russischen Stellungen nicht direkt angreifen konnten (vor allem wegen dem spektakulären Wiederaufflammen von Arbeiterkämpfen, ausgelöst durch den Massenstreik in Polen) reagierten die USA mittels einer auf die Beine gestellten Guerilla. Seit diesem Zeitpunkt haben die USA zusammen mit dem pakistanischen Staat und seinem ISI als Handlangern mit den modernsten Waffen die zweifellos rückständigste „Befreiungsbewegung“ auf der ganzen Welt unterstützt. Und um auch ihre Finger mit im Spiel zu haben beeilten sich die Geheimdienste Großbritanniens und Frankreichs, der Nordallianz von General Massud ihre Hilfe anzubieten.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben zwei neue Ereignisse die strategische Bedeutung Afghanistans verstärkt. Einerseits förderten das Auseinanderfallen Russlands und das Auftauchen neuer unbeständiger Staaten (Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisien, Turkmenistan, Armenien, Aserbaidschan und Georgien) den Appetit zweitrangiger imperialistischer Mächte: Die Türkei versuchte mittels Allianzen in den neuen Türkei-freundlichen Staaten Fuß zu fassen; Pakistan setzte auf das Taliban-Regime, um seinen Einfluss zu vergrößern und um Rückendeckung im Kaschmir-Krieg gegen Indien zu erhalten; und letzten Endes darf auch der Versuch Russlands, von neuem seine militärische Präsenz in der Region aufzubauen, nicht vergessen werden. Andererseits zieht die Entdeckung neuer wichtiger Ölreserven rund ums Kaspische Meer und vor allem in Kasachstan die großen westlichen Erdölkonzerne an.

Wir können an dieser Stelle nicht alle imperialistischen Rivalitäten und Konflikte genau beleuchten, welche diese Region seit 19897 [25] erschüttern. Doch um ein Bild des Pulverfasses zu bekommen, welches Afghanistan umgibt, genügt es, einige dieser Konflikte und Gegnerschaften aufzulisten:

Die absurden Grenzen, die durch das Auseinanderfallen der UdSSR entstanden sind, bringen es mit sich, dass die reichste und bevölkertste Region - das Fergana-Tal – aufgeteilt ist zwischen Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisien, und zwar so, dass keiner dieser Staaten über eine direkte Route zwischen der Hauptstadt und seinem bevölkerungsreichsten Teil besitzt.

Nach einem fünfjährigen Bürgerkrieg sind die Islamisten der „Tadschikischen Vereinigten Union“ in die Regierung eingetreten; dennoch muss man sich bewusst sein, dass sie ihre Verbindungen zur islamischen Bewegung in Usbekistan (der stärksten Guerillabewegung) nicht abgebrochen haben, vor allem weil letztere tadschikisches Gebiet passieren muss, um Usbekistan von ihren Basen in Afghanistan aus anzugreifen:

Usbekistan ist das einzige Land, welches die Präsenz russischer Truppen auf seinem Territorium zurückgewiesen hat, und steht deshalb unter dem Druck Russlands.

Pakistan unterstützt seit jeher die Taliban, dies auch mit einer Beteiligung von 2000 Soldaten an den letzten Offensiven gegen die Nordallianz. Es erhofft sich damit, eine „strategische Vertiefung“ in der Region gegenüber Indien und Russland zu schaffen, nicht zu sprechen vom lukrativen Heroinhandel, der zum größten Teil via Pakistan läuft und von den Generälen des ISI kontrolliert wird.

China, welches seine eigenen Probleme mit den Uigur-Separatisten in Xinjiang hat, versucht, seinen Einfluss in der Region auch durch die Shanghai-Coorporation-Organisation, welche die oben aufgeführten, nach dem Auseinanderbrechen der UdSSR entstandenen Staaten (mit Ausnahme von Turkmenistan, das von der UNO als neutral anerkannt wurde) und Russland umfasst, zu verstärken. Gleichzeitig will China mit den Taliban gut Freund bleiben und schickte sich an, einen Industrie- und Handelsvertrag mit ihrer Regierung abzuschließen.

Natürlich stehen die USA nicht abseits. Sie haben der wenig anerkannten usbekischen Regierung bereits Hilfe zukommen lassen: „Das US-Militär kennt das usbekische Militär und die Luftwaffenstützpunkte von Taschkent gut. Amerikanische Verbände haben an Manövern mit Truppen aus Usbekistan, Kasachstan und Kirgisien teilgenommen, als Teil der Centrazbat-Übungen im Rahmen des NATO-Programms „Partnerschaft für den Frieden“. Mehrere dieser Übungen fanden auf der Militärbasis von Chirchik, in der Nähe von Taschkent statt. Usbekistan hat sich seit seiner Unabhängigkeit 1991 auch aktiv um US-Unterstützung bemüht, oft auf Kosten seiner Verbindungen zu Russland (...) Anlässlich einer Reise der damaligen Staatssekretärin Albright in dieser Region im Jahre 2000 haben die USA Usbekistan militärisches Material für mehrere Millionen Dollar versprochen, und amerikanische Spezialeinheiten haben usbekische Truppen im Anti-Terror- und Gebirgskampf geschult.“.

Die USA intervenieren also in einem wahren Pulverfass, angeblich um dort den „dauerhaften Frieden“ einzuführen. Heute können wir nicht genau voraussagen, was das Resultat der ganzen Sache sein wird. Doch die Geschichte des Golfkrieges zeigt uns, dass heute, zehn Jahre nach Ende des Krieges:

die Region keinen Frieden kennt, solange Zusammenstöße zwischen Israelis und Palästinensern, zwischen Kurden und Türken, zwischen Regierungen und fundamentalistischen Guerillas sich zuspitzen, sowie auch die wöchentlichen Bombardierungen des Iraks durch amerikanische und britische Flugzeuge anhalten;

die US-Truppen sich in der Region fest auf ihren neuen Basen in Saudi-Arabien installiert haben und diese Präsenz selbst zu einer Quelle der Instabilität wird (antiamerikanisches Attentat in Dahran).

Wir können aber mit Sicherheit voraussagen, dass die in Afghanistan geführte Intervention keinen Frieden, keine Freiheit, keine Gerechtigkeit und keine Stabilität bringen wird, sondern einzig und allein mehr Krieg und Elend, so dass das Feuer des Hasses und die Hoffnungslosigkeit der Bevölkerung noch stärker geschürt werden, dieselbe Hoffnungslosigkeit, von welcher die Kamikazepiloten am 11. September beseelt waren.

Die Krise und die Arbeiterklasse

Nur einige Tage vor dem Attentat auf New York kündigte Hewlett-Packard die Übernahme von Compaq an. Diese Fusion wird 14'500 Stellen kosten. Das ist nur ein Beispiel unter vielen für die Vertiefung der Krise, die immer mehr zu- und immer stärker auf die Arbeiter einschlägt.

Nur einige Tage nach dem Anschlag kündigten United Airlines, US Air und Boeing Zehntausende von Entlassungen an. Seither sind ihrem Beispiel diverse Fluggesellschaften und Flugzeugproduzenten in der ganzen Welt gefolgt (Bombardier Aircraft, Air Canada, Scandinavian Airlines, British Airways und Swissair, um nur die letzten paar zu erwähnen).

Darüber hinaus behauptet die Bourgeoisie, ohne dabei rot zu werden, dass der Anschlag auf das World Trade Centre verantwortlich sei für die neue Krise, die nun über die Arbeiterklasse hereinbricht8 [26]. Die Erklärung scheint einen Anstrich von Wahrheit zu haben, da sich doch an der Börse aufgrund des Krachs nach dem 11. September 6,6 Billionen Dollar in Luft auflösten. Doch die Krise war schon vorher eine Tatsache, die Bosse nützten nur die Situation aus. Nach den Aussagen von Leo Mullin, dem CEO von Delta Airlines, wurde „die Sonderliquidität aufgrund des Geschäftsverlusts, der nur durch die Ereignisse vom 11. September verursacht wurde, berechnet, auch wenn der Kongress eine allgemeine Finanzspritze für die Industrie beschlossen hat (...) Die Nachfrage sinkt, während die laufenden Kosten steigen. Delta erleidet deshalb einen Abfluss von Mitteln.“ (Le Monde).

Die kapitalistische Welt ist schon voll von der Rezession erfasst, die sich natürlich zuerst in Angriffen auf die Arbeiterklasse ausdrückt. In den Vereinigten Staaten hat die Zahl der Arbeitslosen zwischen Januar und August 2001 um mehr als eine Million zugenommen. Riesenunternehmen wie Motorola und Lucent, die kanadische Nortel, die französische Alcatel, die schwedische Ericsson haben Zehntausende von Arbeitern entlassen. In Japan ist die Arbeitslosenrate in diesem Jahr von 2% auf 5% angestiegen9 [27]. Die haarsträubende Beschleunigung, mit der neue Entlassungswellen angekündigt werden (57‘000 zwischen 17. und 21. September in den USA) zeigt, wie die Bosse den Vorwand der Anschläge benutzten, um die Entlassungspläne, die sie schon seit Monaten vorbereitet hatten, in die Tat umzusetzen.

Die Arbeiterklasse bezahlt nicht nur für die Krise, sondern auch für den Krieg, und zwar nicht nur in den Vereinigten Staaten, wo sich die Rechnung bereits auf mindestens 40 Milliarden Dollar beläuft. In Europa sind sich alle Regierungen darin einig, dass sie ihre Anstrengungen im Hinblick auf die Bildung einer schnellen Eingreiftruppe, die den europäischen Mächten die unabhängige Intervention erlauben würde, erhöhen wollen. In Deutschland hat man 20 Milliarden DM für die militärische Aufrüstung noch nicht im Bundesbudget unterbringen können. Zweifellos wird man aber bald einen Platz dafür finden, und auch diese Rechnung werden die Arbeiter bezahlen müssen.

Die Solidarität des Burgfriedens ist entschieden eine Einbahnstraße, nämlich von den Arbeitern zur herrschenden Klasse! Und der Zynismus dieser herrschenden Klasse, die den Tod von Arbeitern als Vorwand für Stellenabbau benützt, kennt keine Grenzen.

Heute wie seit eh und je ist die Arbeiterklasse das erste Opfer des Krieges.

Ein Opfer mit dem eigenen Leib, aber vor allem auch in seinem Bewusstsein. Die Arbeiterklasse ist die einzige gesellschaftliche Kraft, die diesem System, das verantwortlich ist für den Krieg, ein Ende bereiten kann; die herrschende Klasse dagegen bedient sich des Kriegs, um zum Burgfrieden und der nationalen Einheit aufzurufen. Zur Einheit der Ausgebeuteten mit ihren Ausbeutern. Zur Einheit derer, die zuallererst unter dem Kapitalismus leiden, mit denen, die daraus ihre Genüsse befriedigen und ihre Privilegien ziehen.

Die erste Reaktion der Proletarier von New York, einer der größten Arbeiterstädte der Welt, war nicht diejenige eines rachedurstigen Chauvinismus. Zunächst gab es eine spontane Reaktion der Solidarität gegenüber den Opfern, wie dies mit den Schlangen von Blutspendern oder den Tausenden von individuellen Hilfeleistungen und Trostspenden bewiesen wurde. In den Arbeiterquartieren, wo man dann über die Toten trauerte, die nicht beerdigt werden konnten, stand auf Transparenten: „Hassfreie Zone“, „Zusammen zu leben ist die einzige Art, die Toten zu ehren“, „Krieg ist nicht die Antwort“. Es ist klar, dass diese Parolen von demokratischem und pazifistischem Geist durchdrungen sind. Ohne eine Kampfbewegung, die fähig ist, den kapitalistischen Angriffen einen starken Widerstand entgegen zu setzen, und vor allem ohne revolutionäre Bewegung, die fähig ist, sich in der Arbeiterklasse Gehör zu verschaffen, wird diese spontane Solidarität erbarmungslos weggefegt durch die gewaltige Patriotismuswelle, die die Medien seit den Attentaten in Bewegung gesetzt haben. Für diejenigen, die versuchen, sich der Kriegslogik zu entziehen, breitet der Pazifismus seine Arme aus, der immer der erste Kriegstreiber ist, wenn sich das „Vaterland in Gefahr“ befindet. So kann man beispielsweise auf einer pazifistischen Website folgende Erklärung (eines Einzelnen) lesen. „Wenn eine Nation angegriffen wird, muss der erste Entscheid sein, ob man kapituliert oder kämpft. Ich denke, dass es da keinen Mittelweg gibt: Entweder kämpft ihr, oder ihr kämpft nicht, und nichts zu tun heißt zu kapitulieren.“ (Willamette Week Online) Für die Grünen ist „die Nation heute geeint: Wir wollen nicht als uneinig mit der Regierung erscheinen.“ (Alan Metrick, Sprecher von Natural Resources Defence Council, 530‘000 Mitglieder, zitiert in Le Monde, 28. September 2001):

„Der Weltfriede kann weder durch internationale Schiedsgerichte kapitalistischer Diplomaten noch durch diplomatische Abmachungen über ‚Abrüstung‘, (...) und dergleichen utopische oder in ihrem Grunde reaktionäre Projekte gesichert werden. Imperialismus, Militarismus und Kriege sind nicht zu beseitigen und nicht einzudämmen, solange die kapitalistischen Klassen unbestritten ihre Klassenherrschaft ausüben. Die einzige Sicherung und die einzige Stütze des Weltfriedens ist der revolutionäre Wille und die politische Aktionsfähigkeit des internationalen Proletariats.“

Das schrieb Rosa Luxemburg 1915 (Leitsätze über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie) mitten in einer der dunkelsten Zeiten, die die Menschheit bis dahin gekannt hatte, während sich die Proletarier der am meisten entwickelten Länder auf den Schlachtfeldern des imperialistischen Krieges massakrierten. Auch heute ist die Zeit eine schwierige, sowohl für die Arbeiter im allgemeinen als auch für die Revolutionäre im besonderen, die das Banner der kommunistischen Revolution, koste es, was es wolle, hoch halten. Aber wir sind mit Rosa Luxemburg davon überzeugt, dass die Alternative Sozialismus oder Barbarei heißt und dass die Arbeiterklasse die einzige gesellschaftliche Kraft bleibt, die fähig ist, der Barbarei zu widerstehen und den Sozialismus zu errichten. Mit Rosa Luxemburg behaupten wir, dass die Beteiligung der Arbeiter am Krieg nicht bloß „ein Attentat (...) auf die bürgerliche Kultur der Vergangenheit (ist), sondern auf die sozialistische Kultur der Zukunft, ein tödlicher Streich gegen diejenige Kraft, die die Zukunft der Menschheit in ihrem Schoß trägt und die allein die kostbaren Schätze der Vergangenheit in eine bessere Gesellschaft hinüberretten kann. Hier enthüllt der Kapitalismus seinen Totenschädel, hier verrät er, dass sein historisches Daseinsrecht verwirkt, seine weitere Herrschaft mit dem Fortschritt der Menschheit nicht mehr vereinbar ist. (...) Der Wahnwitz wird erst aufhören und der blutige Spuk der Hölle wird verschwinden, wenn die Arbeiter (...) endlich aus ihrem Rausch erwachen, einander brüderlich die Hand reichen und den bestialischen Chorus der imperialistischen Kriegshetzer wie den heiseren Schrei der kapitalistischen Hyänen durch den alten mächtigen Schlachtruf der Arbeit überdonnern: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“

Jens, 3. Oktober 2001


1 [28] Es sei hinzugefügt, dass alle Staaten Geheimdienste unterhalten, die jeweils Abteilungen für „schmutzige Angelegenheiten“ haben, und wenn sie nicht ihre eigenen Killer beschäftigen, immer bereit sind, auf die Dienste von anderen, unabhängig Handelnden zurückzugreifen.

2 [29] Den Enthüllungen von Robert Gates (ehemaliger CIA-Chef) zufolge haben die USA nicht nur auf die russische Invasion Afghanistans reagiert, sondern sie haben sie absichtlich hervorgerufen, indem sie der damaligen pro-sowjetischen Opposition in Kabul unter die Arme griffen. Zbigniew Brzezinski (ehemaliger Berater Präsident Carters) sagte 1998 in einem Interview mit dem Nouvel Observateur: „Diese geheime Operation war eine exzellente Idee. Sie machte es möglich, die Russen in die afghanische Falle zu locken; erwarten Sie, dass ich das bedauere? An dem Tag, als die Sowjets offiziell die Grenze überschritten, schrieb ich Präsident Carter im wesentlichen: ‚Jetzt haben wir die Gelegenheit, der UdSSR ihren Vietnamkrieg aufzuzwingen (...) Wer ist wichtiger für die Geschichte der Welt? Die Taliban oder der Zusammenbruch des Sowjetreiches?‘“ (zitiert in Le Monde Diplomatique, Sept. 2001).

 

3 [30] Siehe unsere Broschüre „Die Dekadenz des Kapitalismus“.

4 [31] Erinnern wir uns an den Lockerbie-Prozess gegen die Agenten des libyschen Geheimdienstes. Die USA und Großbritannien haben steif und fest behauptet, dass die Libyer verurteilt werden müssten, auch nachdem klar geworden war, dass die Verantwortlichen eher auf syrischer Seite zu suchen waren. Aber damals streckten die USA gegenüber Syrien die Hand aus, um zu versuchen, es am Friedensprozess zwischen Israel und Palästina zu beteiligen.

5 [32] Nebenbei sei bemerkt, dass die sogenannte Kommunistische Partei Frankreichs keine derartigen Gefühlsregungen zeigte: Am 13. September hielt der nationale Rat des PCF eine zweiminütige Schweigeminute ein, „um dem ganzen amerikanischen Volk, der Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger dieses großen Landes und der Regierung, die sie sich gegeben haben, die Solidarität auszudrücken“. Oder was soll man sagen zum Titel von Lutte Ouvrière: „Man kann den Krieg nicht an allen vier Ecken der Welt aufrechterhalten, ohne dass es einem eines Tages selbst trifft“. Mit anderen Worten: „Getötete amerikanische Arbeiter, das stopft euch die Fresse“.

6 [33] Bezüglich dieser Schnelligkeit tun sich einige Fragen auf: ein Mietwagen mit arabischen Flughandbüchern wurde nur wenige Stunden nach dem Attentat entdeckt, auch wenn die Kamikaze-Piloten seit Monaten, wenn nicht sogar seit Jahren in den USA gewohnt hatten; der Bericht über ein in den Trümmern des World Trade Centers gefundenen Passes, der einem der Terroristen gehörte und offenbar nicht einmal durch die Explosion von einigen hundert Tonnen Kerosin zerstört wurde...  

7 [34] Wir gehen hier nicht im Besonderen auf die dauernden Konflikte um den Bau von neuen Pipelines zum Transport des Erdöls vom Kaspischen Meer zu den hochentwickelten Ländern ein, bei denen Russland versucht, eine Linie durch Tschetschenien und Russland bis nach Novorossiysk an der russischen Schwarzmeerküste zu errichten und die US-Regierung dagegen die Route Baku-Tiflis-Ceyhan (also Aserbaidschan-Georgien-Türkei) bevorzugt, welche Russland komplett umgeht. Es sei hier lediglich bemerkt, dass die US-Regierung ihre bevorzugte Route zum Nachteil der großen Erdölkonzerne erzwingen musste, welche diese als wirtschaftlich uninteressant bezeichneten.    

8 [35] Wie sie es schon 1974 tat, als die Krise angeblich durch den Anstieg der Ölpreises verursacht wurde, welche Erklärung dann auch wieder 1980 herhalten musste. Und was die Krise von 1990-93 betrifft, so sei sie die Folge des Golfkriegs gewesen ...

9 [36] Anzufügen bleibt, dass zwar diese Rate im Vergleich zu beispielsweise Frankreich als niedrig erscheint, dies aber nur den Erfolg des japanischen Staates nicht im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, sondern in der Zahlenschieberei unter Beweis stellt.

Aktuelles und Laufendes: 

  • 11. September [37]

Theoretische Fragen: 

  • Terrorismus [38]

Zehn Jahre nach dem Golfkrieg

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Halbwahrheiten, Lügen und Intrigen oder Wie die „demokratischen Goebbels“ arbeiten

Beim deutsch-französischen Fernsehsender Arte lief kürzlich eine lange Dokumentation mit dem vielsagenden Titel: „Les dessous de la guerre du Golf“ (was man in etwa mit „Die Wahrheit hinter dem Golfkrieg“ übersetzen kann). Zur selben Zeit wie die Dokumentation erschien in etlichen Wochenmagazinen eine Reihe von Artikeln, die voller „Enthüllungen“ über die Vorbereitung und Durchführung des Golfkrieges waren. Der Titel des französischen Wochenmagazins Marianne (22.-28. Januar 2001) wurde sogar noch ausdrücklicher: „Die Lügen über den Golfkrieg“. Warum kommen diese „Enthüllungen“ jetzt, zehn Jahre nach dem Ereignis, ans Tageslicht? Warum bringen jetzt, nach dem Haufen von Lügen während des Krieges, einige Fraktionen der Bourgeoisie Licht ins Dunkle der kriminellen Manöver der US-Administration unter Bush sen. bei ihrer Vorbereitung, Eröffnung und Führung des Krieges von seinem Beginn im Sommer 1990 bis Februar 1991, ja, bis heute?

Die offizielle Version

„Der Golfkrieg war eine militärische Operation, durchgeführt im Januar und Februar 1991 von den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten, welche mit dem Mandat der Vereinten Nationen gegen den Irak handelten, mit dem Ziel, die Besetzung Kuwaits durch die Truppen der Armee Saddam Husseins zu beenden, die am 2. August 1990 in das Land eingedrungen waren. Der UN-Sicherheitsrat forderte noch am 2. August den Rückzug der irakischen Truppen und rief dann ein ökonomisches, finanzielles und militärisches Embargo (‚Operation Desert Shield‘) aus, das anschließend in eine Blockade mündete. Am 29. November autorisierte eine weitere Resolution des Sicherheitsrates die Mitgliederstaaten dazu, Gewalt anzuwenden, falls sich die irakischen Truppen nicht bis zum 15. Januar 1991 aus Kuwait zurückgezogen haben. Am 17. Januar begann die anti-irakische Front, die unter amerikanischem Kommando in Saudi-Arabien stationiert und aus Truppen der USA, Großbritanniens, Frankreichs und rund zwanzig weiterer verbündeter Länder zusammengesetzt war, die Operation Wüstensturm, indem sie militärische Ziele im Irak und in Kuwait bombardierte. Eine vom 24. bis zum 28. Februar erfolgte, erfolgreiche Bodenoffensive in Richtung Kuwait City machte dem Krieg an der Front ein Ende. Der Irak verlor mehrere zehntausend Soldaten und Zivilisten, die Koalition verzeichnete dagegen weniger als 200 Opfer. Zwei Drittel der militärischen Kapazität des Iraks wurden zerstört. Der Krieg endete offiziell am 11. April 1991 mit der Annahme der vom Sicherheitsrat auferlegten Bedingungen, insbesondere der Zerstörung der chemischen und biologischen Waffen sowie der Lang- und Mittelstreckenraketen des Iraks, durch Saddam Hussein.“1

Dies ist die Art von Darstellung, wie wir sie aus den Schulbüchern kennen. Alles soll uns glauben machen, dass die so genannte historische „Objektivität“ gewahrt bleibt. Dies war im Wesentlichen der Kern dessen, was uns (abgesehen von den Opferzahlen) vor zehn Jahren erzählt worden war.

Der Krieg wurde mit der Verteidigung des unantastbaren Völkerrechts gerechtfertigt, das von der „hinterhältigen“ Invasion Kuwaits durch die Truppen Saddam Husseins mit Füßen getreten worden sei. Dies geschah just zu dem Zeitpunkt, als der Zusammenbruch des Ostblocks angeblich den Weg der Menschheit zu einer strahlenden Zukunft des „Friedens und Wohlstands“ eröffnet hatte. Letzteres wurde uns bei jeder Gelegenheit versprochen und stellte dar, was vom US-Präsidenten mit der Phrase von der „neuen Weltordnung“ bezeichnet wurde. Der Kriegstreiber, der sich weigerte, Völkerrecht zu respektieren, musste mit allen erdenklichen Mitteln gestoppt werden. Die UNO, internationales „Friedens“forum, wurde zur Bühne, auf der, vom Embargo bis zur Blockade, der Weltbevölkerung (mit anderen Worten: dem Proletariat) eine hinterhältige, diplomatische Farce vorgespielt wurde, damit Letztere den kommenden Krieg akzeptierte. Schließlich war der Krieg selbst angeblich ein „sauberer“, chirurgischer Krieg, in dem die einzigen Leute, die getötet wurden, die „bösen Jungs“ waren. Offiziell wurde der Krieg im April 1991 beendet, doch in Wahrheit ist sein Schlusswort noch nicht geschrieben, da die amerikanische Bourgeoisie seit zehn Jahren den einsamen Rächer mimt (manchmal von ihrem britischen Messdiener begleitet), indem sie Saddam (oder vielmehr die irakische Bevölkerung) regelmäßig als Punchingball benutzt, um in einer Welt, die immer tiefer vom Krieg in die Barbarei gedrängt wird, ihre Muskeln spielen zu lassen.2

Die „enthüllte Wahrheit“

 Heute erkennen einige Teile der bürgerlichen Presse die Wahrheit dessen an, was die IKS bereits vor zehn Jahren gesagt hatte. Wir sind auf diese Tatsache nicht „stolz“ – dies ist für uns nicht von Belang. Was uns jedoch interessiert, ist mehr denn je die Betonung der Notwendigkeit für die Revolutionäre, angesichts der Ereignisse wachsam zu bleiben, ihre Analysen in der marxistischen Methode einzubetten und der Überprüfung durch die Wirklichkeit zu unterwerfen, kritisch zu sein und ihre Orientierungen nicht wie ein Wetterhahn bei jeder Änderung der Windrichtung zu drehen. Dies ist Vorbedingung für das Fortschreiten des Klassenkampfes und eine der Hauptfunktionen der revolutionären Organisation. Wir sind ebenfalls daran interessiert zu verstehen, warum sich heute die Bourgeoisie entschlossen hat zu enthüllen, was sie einst verborgen hatte: d.h. die Arbeit derjenigen zu verstehen, die man die „demokratischen Goebbels‘“ nennen kann.3

Washingtons Falle

Die Arte-Dokumentation und die Zeitschrift Marianne sagen Folgendes: „Washingtons Falle: (...) Washington nahm kaum Notiz, als Saddam davon sprach, in seine einstige Provinz einzufallen“; die USA beteuerten, dass sie „kein Verteidigungsabkommen mit den Kuwaitis hatten“.  „Es war ein Manöver, um ihn zu täuschen“, und: „‘Wir können feststellen, dass die USA nach der Invasion keine diplomatische Lösung wollten‘, schlussfolgerte Dr. Halliday von der UN.“

Und genau dies sagten wir im frühen September 1990, einen Monat nach der Invasion Kuwaits durch Saddams Truppen und noch vor dem Kriegsausbruch: „Doch dies ist nicht das Ende ihrer Heuchelei und ihres Zynismus. Es scheint, als haben die USA diskret, aber absichtlich dem Irak gestattet, ein militärisches Abenteuer zu wagen. Ob richtig oder falsch – und es ist zweifellos richtig -, wirft es ein bezeichnendes Licht auf das Verhalten und die Praktiken der Bourgeoisie, ihrer Lügen und Manipulationen, auf den Nutzen, den sie aus den Ereignissen schlägt. (...) Der Irak hatte keine Wahl. Das Land wurde dahin gelenkt, diese Politik auszuführen. Und die USA ließen es gewähren, ermutigten es, um Saddam Husseins militärisches Abenteuer auszunutzen, wohl bewusst des wachsenden Chaos‘, wohl bewusst in der Absicht, ein Exempel zu statuieren.“  Im Sommer 1990 hatte die bürgerliche Presse diese Information sehr diskret enthüllt. Und hier können wir sehr gut sehen, wie die Propagandamaschinerie unter der demokratischen Diktatur arbeitet: Selbst nachdem einige Zeitungen eine verschleierte Darstellung der Falle gebracht hatten, die die USA für Saddam ausgelegt hatten, gaben sie die militärische Propaganda der anti-irakischen Koalition fast einstimmig wieder. Diese Heuchler geben dies heute freimütig zu: „Diesmal stellte die US-Armee sicher, dass die Journalisten ‚loyal‘ blieben.“ Es gelang der Regierung, die Presse auf Abstand zu halten. Tatsächlich wusste man nie, was los war, „sagte Paul Sullivan, Präsident des Hilfszentrums für Kriegsveteranen (...) Vier Monate lang spielten sie mit der Angst vor der fixen Idee, dass die irakische Armee, ‚die viertgrößte der Welt‘, ein gefährlicher Gegner sei...“ (Marianne). „Diese maßlose Blindheit (sic!) hinderte westliche Journalisten nicht daran, Märchen über (Saddams) diabolische Manövrierkünste zu verfassen (...) Die westliche Presse erging sich endlos über die tatsächlichen oder angeblichen Gräueltaten der Besatzerarmee. Zum Beispiel veröffentlichte sie die Geschichte einer ‚jungen Frau aus dem Volk‘, die Zeuge unbeschreiblichen Horrors gewesen sei. Diese ‚Überlebende‘ war in Wahrheit die Tochter des Botschafters Kuwaits in Washington ...“ So war nach der irakischen Invasion in Kuwait am 2. August alles getan, um die öffentliche Meinung zu „konditionieren“ und dazu zu bringen, das, was folgte, zu akzeptieren. Und die Journalisten, ob mit ihrer Übereinstimmung oder mehr oder weniger ohne ihr Wissen, erfüllten ihre Rolle voll und ganz.

Doch was die Journalisten trotz ihres heutigen Anspruchs, „ehrlich“ zu sein, nicht sagen, ist, dass die US-Falle vor allem ihren einstigen „Verbündeten“, mit anderen Worten: den anderen Großmächten, galt.

In einem Artikel unserer International Review4, datiert vom November 1990, nahmen wir ausführlicher zur von der Golfkrise geschaffenen Lage kurz vor Ausbruch des Krieges Stellung. Unsere Analyse basierte auf Positionen, die wir zuvor gefasst und in denen wir die Tatsache zum Ausdruck gebracht hatten, dass der Zusammenbruch des Ostblocks das Verschwinden des westlichen Blocks und die Entwicklung zentrifugaler Tendenzen in Letzterem, die Neigung aller Hauptmächte herbeigeführt habe, danach zu trachten, zur „Nummer 1“ zu werden. Die so genannte „neue Weltordnung“ war also nichts anderes als eine üble Täuschung. Obwohl sie dem Irak eine Falle stellte, galt die hauptsächliche Absicht der US-Politik nicht dem Irak, auch nicht der Region des Nahen Ostens oder gar dem Erdöl, sondern den anderen Hauptmächten, vor allem Frankreich, das gezwungen wurde, seinen langjährigen irakischen Verbündeten anzugreifen, während Deutschland und Japan genötigt wurden, finanzielle Unterstützung für die Kriegsausgaben herauszurücken. Die UdSSR befand sich bereits im Zustand der Auflösung, so dass ein paar diplomatische Floskeln ausreichten, um sie gefügig zu machen. So „gelang es den USA, eine Fassade der Einheit in der ‚internationalen Gemeinschaft‘ zu schaffen, indem sie im August 1990 die ‚Golfkrise‘ gegen den ‚verrückten Saddam‘ provozierten. Doch kaum zwei Monate später waren alle Mitglieder dieser ‚internationalen Gemeinschaft‘ offen darauf aus, ihre eigenen Interessen zu verteidigen.“ (International Review, Nr. 64) Ende Oktober begann Saddam wahrscheinlich die Falle zu dämmern, in die die US-Administration ihn gelockt hatte; jedenfalls spekulierte er, vielleicht „weil er sich der Klüfte zwischen den verschiedenen Ländern bewusst war“ (ebenda), auf die offensichtlichen Unstimmigkeiten innerhalb der westlichen Koalition: Ende Oktober 1990 ließ er alle französischen Geiseln frei und empfing etwa zur gleichen Zeit den deutschen Ex-Bundeskanzler Willy Brandt (dem prompt die Freilassung der deutschen Geiseln folgte).

In der Tat benutzten die USA den Irak zu einem Zeitpunkt, als ihr Status als einzige Weltsupermacht dabei war, in Frage gestellt zu werden, um „den anderen entwickelten Ländern ihre Macht und Entschlossenheit zu demonstrieren“ (ebenda), indem sie eine brutale und blutige Vergeltungsaktion gegen den Irak auslösten. Im gleichen Artikel schrieben wir unter der Überschrift „Der Gegensatz zwischen den USA, sekundiert von Großbritannien, und den anderen“: „Mit dem Zusammenbruch des russischen imperialistischen Blocks wurde das gesamte politisch-militärische und geostrategische Gleichgewicht auf dem Planeten zu Fall gebracht. Und diese Situation hat nicht nur in den Ländern und Gebieten des alten Ostblocks eine Periode des völligen Chaos‘ eröffnet, sie hat  überall die Tendenzen zum Chaos beschleunigt, womit die kapitalistische ‚Weltordnung‘ bedroht ist, deren Hauptnutznießer die Vereinigten Staaten sind. Letztere mussten als Erste reagieren. Sie (...) provozierten im August 1990  die ‚Golfkrise‘, nicht nur, um eine entscheidende Ausgangsposition in dieser Region zu erlangen, sondern auch und vor allem (....), um ein Exempel zu statuieren, das als eine Warnung gegen jeden dienen sollte, der sich ihrer Position als vorherrschende Supermacht in der weltkapitalistischen Arena  widersetzt.“ (ebenda).

Der Krieg bricht aus: Die Medien stehen Gewehr bei Fuß

Spätestens im Januar 1991 gelang es den USA, die Oberhand über die UN-Koalition zu erlangen. Eine Unmenge von Bomben regnete auf den Irak nieder. Der Zynismus der Gangster, die diese Koalition am Laufen hielten, ging so weit, dies einen „sauberen Krieg“ zu nennen. „Dem Pentagon zufolge waren diese Angriffe äußerst präzise. Das ist völlig unwahr. In einem Zeitraum von 41 Tagen wurden 85.000 Tonnen Bomben auf den Irak abgeworfen, was dem Siebeneinhalbfachen Hiroshimas entspricht! Zwischen 150’000 und 200’000 Menschen wurden getötet, die meisten von ihnen Zivilisten.“ (Ramsey Clark, ehemaliger Bevollmächtigter US-General in Marianne und in der Arte-Dokumentation) „Tatsächlich tat die Koalition weitaus mehr, als die irakische Militärmaschinerie auszulöschen: Sie zerstörte systematisch seine ökonomische Infrastruktur.“

Die Presse kollaborierte meist ohne Zögern mit den Regierungen der verschiedenen Krieg führenden Länder. Sie begnügte sich nicht damit, das irakische Regime und seinen Blut triefenden Diktator anzuklagen5: Sie stellte sich selbst auch unter das Kommando der Militärs der Koalition. Wir wollen hier an die Fernsehdokumentationen mit ihren zivilen und militärischen Experten erinnern, die in ihren gelehrten Reden von der „hochgefährlichen“ irakischen Armee sprachen, der angeblich viertgrößten auf der Welt. Dieselben Journalisten überschwemmten uns mit Details über die schrecklichen Waffen Bagdads, die fähig seien, die gesamte zivilisierte Welt zu bedrohen. Uns wurde erzählt, dass Saddams blutrünstige Armee Säuglinge in den Kinderkrippen Kuwaits getötet hätte. Auf westlicher Seite hätten unsere netten Piloten dagegen darauf geachtet, nur die strategischen Ziele der verhassten Macht zu zerstören. Heute bestätigt die Wochenzeitschrift Marianne die feige Unterwerfung und Komplizenschaft der Medien: „Vier Monate lang spielten sie mit der Angst davor, dass die irakische Armee (...) ein gefährlicher Gegner sei. Sie sprachen von verborgenen Pestizidfabriken, von Vorkommen angereicherten Urans (...), von der Reichweite der 'Superkanone‘. Niemand, so schien es, wagte es, die offensichtlichste Hypothese aufzugreifen: dass dieser großspurige Aufschneider (Saddam) lediglich so dumm wie widerspenstig war. Die wirklichen Spezialisten, die Militärhistoriker, ließen sich durch diese Konditionierung nicht täuschen: ‚Ohne jeglichen Schutz in der offenen Wüste werde die irakische Armee nicht eine Stunde der Feuerkraft der Koalition standhalten.‘ (...) Völlig konditioniert, nahm die öffentliche Meinung des Westens die Fiktion von den ‚intelligenten Waffensystemen‘ und den auf das strikte Minimum reduzierten Bombardierungen für bare Münze.“ (Marianne) Doch die Manipulationen endeten nicht etwa hier: Die USA ermutigten die Kurden im Norden Iraks und die Schiiten im Süden zum Aufstand gegen Saddam. „Am 3. März nahm General Schwarzkopf die irakische Kapitulation an und gestattete es dem Irak, seine Hubschrauber zu behalten (um die Aufstände niederzuschlagen)6. Wochenlang rief der CIA-Radiosender zum Aufstand auf, und dennoch rührten sich die Alliierten nicht, als Saddam die Aufständischen mit den Eliteeinheiten der Republikanischen Garden angriff und auf wundersame Weise dabei von den Bombern verschont wurde.“ (ebenda)

Warum „enthüllen“ die Medien heute all dies?

In diesen Zitaten spricht Marianne von „Konditionierung“. Diese Aufgabe fällt den Medien im Allgemeinen und dem Fernsehen im Besonderen zu. Wir wissen sehr wohl zu beurteilen, was die „demokratische“ Bourgeoisie unter der „Pressefreiheit“ versteht, vor allem zu derart wichtigen Zeitpunkten wie dem des Golfkriegs. All die Verteidiger der „Pressefreiheit“ stellten sich selbst ohne Zögern und auf Dauer unter die militärische Zensur. Und war einer von ihnen versucht, auf der Suche nach der Wahrheit oder einem sensationellen Aufmacher hinter den Vorhang zu schauen, so war unverzüglich die Armee zur Stelle, um ihn zur Ordnung zu rufen. Wie Marianne auf ihre Weise sagt: „Niemand, so schien es, wagte es, die offensichtlichste Hypothese aufzugreifen.“

Wir sehen deutlich die Funktionsweise der Propagandadienste in den demokratischen Staaten. Wenn Ereignisse Ruhe erfordern, wird nichts Wichtiges raus gelassen. Stattdessen werden wir mit allen Arten von Lügen, Halbwahrheiten, Manipulationen gefüttert, die durch die Auffassungen „unabhängiger“ Experten, Universitätsprofessoren u.ä. aufgedonnert und durch die „freie“ Stimme der Presse in den demokratischen Ländern noch glaubwürdiger gemacht werden. Nach den Ereignissen wird alles (oder beinahe alles) nach und nach „ans Tageslicht“ gebracht. Doch auch zehn Jahre später kann die „Wahrheit“ nur in Zeitschriften mit geringer Auflage oder in  Fernsehsendern mit kleiner Zuschauerquote gefunden werden. Die populäreren Massenmedien werden nach wie vor von einer Lawine der Desinformationen überschwemmt. Wir haben dieselben Mechanismen 1995 während des Genozids in Ruanda und vor allem während des letzten Krieges in Ex-Jugoslawien (Kosovo) arbeiten sehen, wo sich das Modell der Medienkontrolle aus dem Golfkrieg erneut bewährte.

Im Anschluss an den Golfkrieg und die Auslieferung der kurdischen und schiitischen Bevölkerung an die von Saddam Hussein angeheuerten Killer besaßen die „großen Demokratien“ den unglaublichen Zynismus, zu ihren berühmten „humanitären Interventionen“ und „Flugeinsätzen zur Rettung bedrohter Völker“ zu greifen. Bis zum Überdruss ist uns die „Pflicht zur humanitären Einmischung“ aufgetischt worden. Der Golfkrieg ist eine Art Schablone für all die imperialistischen Kampagnen gewesen, die ihm überall auf der Welt folgten.

Wenn heute ein Teil der Wahrheit veröffentlicht wird, so im Wesentlichen, weil die herrschende Klasse ihr System rechtfertigen muss. Uns soll glauben gemacht werden, dass solch eine Offenheit nur im „demokratischen“ Kapitalismus möglich ist. Die Möglichkeit, „in der Demokratie alles sagen zu dürfen“, wird dazu benutzt, um umgekehrt die Momente zu rechtfertigen, wo alles manipuliert, verzerrt oder versteckt werden muss.

Doch es gibt noch einen anderen Grund, warum gewisse Medien solche Fakten heute veröffentlichen. All diese Artikel und Dokumentationen haben eins gemeinsam: In ihnen erscheint der US-Staat als der allein Schuldige. Obwohl es zutrifft, dass die USA den „Kreuzzug“ anführte, die Falle vorbereitete und sie zuschnappen ließ sowie das meiste der bewaffneten Macht der Koalition bereitstellte, tragen alle Großmächte die Verantwortung für die im Krieg verursachten Massaker. Doch gewisse europäische Mächte – insbesondere Frankreich und Deutschland, für die die USA der Hauptrivale auf der imperialistischen Weltbühne sind – haben ein großes Interesse daran, ihre eigene Verantwortung zu minimieren sowie die Barbarei und den Zynismus des amerikanischen Imperialismus (der natürlich real genug ist) zu enthüllen.

Die revolutionäre Intervention

Natürlich erhalten auch wir unsere Informationen aus der bürgerlichen Presse. Schon 1990 gab es in einigen Zeitungen begrenzte Berichterstattungen über die Manipulationen. Seither war die Flut an Lügen so groß, dass das, was wir in unserer Presse sagten, bei einigen Leuten (einschließlich jener Gutgläubigen und selbst einiger linkskommunistischer Militanter) den Eindruck erweckte, wir seien nun völlig außer Rand und Band geraten und besessen von machiavellistischen Komplotten.

Doch diese Informationen sind an sich nicht das Wichtigste. Was bedeutsam ist, ist die Methode, die zur Analyse der Ereignisse benutzt wird. Wenn wir fähig waren zu begreifen, was zwischen 1990 und 1991 im Nahen Osten vor sich ging, so deshalb, weil wir uns analytisch die Konsequenzen des Zusammenbruchs des Ostblocks und des Zerfalls des Kapitalismus erarbeitet haben. Revolutionäre haben keine „geheimen Informanten“ und können auch keine haben. Unsere Stärke liegt in unserer Zugehörigkeit zu unserer Klasse, dem Proletariat, zu ihrer Geschichte und zur marxistischen Methode, die sie geschaffen hat.

Auch sollten wir nicht naiver Illusion anheimfallen: Auch Revolutionäre veröffentlichen heute nur unter Überwachung. Unser einziger Schutz ist nicht die „Pressefreiheit“, sondern die Stärke und der Kampf unserer Klasse.

Während der Ereignisse selbst waren allein Revolutionäre imstande, aufzuzeigen, was auf dem Spiel stand, und somit die Barbarei des Krieges und die Manipulation der Wahrheit durch die herrschende Klasse zu denunzieren. Zwar denunzierten einige Fraktionen der Bourgeoisie die Barbarei, die den Irak heimsuchte, doch geschah dies nur aus nationalistischen (anti-amerikanischen) oder offen pro-irakischen Gründen (wie dies bei gewissen linksextremen Gruppierungen der Fall war). Allein die Gruppen der Kommunistischen Linken verteidigten die internationalistische, proletarische Stellung während des Golfkrieges. Und unter diesen Gruppen war allein die IKS in der Lage, ein Licht darauf zu werfen, was in dieser Situation wirklich auf dem Spiel stand. Die für den Irak aufgestellte Falle wäre gegenstandslos gewesen, wenn es allein um Erdöl gegangen wäre. Ihr Zweck wird erst klar, wenn wir berücksichtigen, dass das, was wirklich auf dem Spiel stand, die US-Führerschaft in der Zeit nach dem Kollaps des Blocksystems war7. Erst in diesem Zusammenhang erhält die Ölfrage als ein Element in der allgemeinen imperialistischen Politik ihre volle Bedeutung.

Im Rahmen ihrer Propaganda und „News“ tut die Bourgeoisie alles, was sie kann, die Arbeiterklasse – die allein der Bourgeoisie und ihrem System ein Ende machen kann – daran zu hindern, sich darüber bewusst zu werden, was auf dem Spiel steht. Sie verdoppelt ihre Bemühungen, wann immer die tödliche Wirtschaftskrise, die das System seit den letzten 30 Jahren erfasst hat, oder Ereignisse wie der Golfkrieg zur Debatte stehen. Was ihre ideologischen Kapazitäten angeht, ihre Fähigkeit zu lügen, zu verstecken und die Realität zu verzerren, so bieten die Propagandaspezialisten totalitärer Regimes nichts, was die demokratische Bourgeoisie noch lernen könnte. Die Revolutionäre haben die Pflicht, nicht nur die imperialistische Barbarei, sondern auch die Propagandamechanismen zu denunzieren, womit die Bourgeoisie versucht, das Proletariat zu narkotisieren und für dumm zu verkaufen.

 PA, 30. März 2001


1 Dieses Zitat ist der Enzyklopädia Universalis entnommen. Ihre Artikel wurden von bedeutenden Historikern verfasst, und wir können davon ausgehen, dass die Kapitel in den Schulbüchern zur Indoktrination der jungen Generationen auf dieselbe Art und Weise geschrieben werden.

2 Dieser Bericht erwähnt nicht die Statisten, die der Vervollständigung des Szenarios dienen: die so genannten „Anti-Imperialisten“ und die Pazifisten. Einige Fraktionen der europäischen Bourgeoisie (von den Rechtsextremen bis hin zu den Linksextremen, in Frankreich einschließlich der „Nationalrepublikaner“ und anderer „Verteidiger der nationalen Souveränität“) heizen anti-amerikanische Ressentiments auf, um ihre Nichtübereinstimmung mit den gegenwärtigen rechten oder linken Regierungen in Europa auszudrücken. Im Allgemeinen betonen all diese bürgerlichen Fraktionen, die die anti-irakische Koalition kritisieren, die Bedeutung des Erdöls als Hauptursache des Krieges.

Frankreich befand sich damals unter der sozialistischen Regierung François Mitterands. Das einzige Regierungsmitglied, das seine Ablehnung gegenüber der anti-irakischen Koalition offen zum Ausdruck brachte, war der linke, nationalrepublikanische Chevènement. Spaniens sozialistische Regierung unter Felipe Gonzales nahm ebenfalls an der anti-irakischen Koalition teil, trotz des Gezeters gewisser Sozialisten. Es ist bemerkenswert, dass die Grünen in Deutschland durch und durch Pazifisten waren. Während des letzten Krieges in Ex-Jugoslawien – sie befanden sich bereits in der Regierung – waren sie, ohne zu zaudern, für die Bombardierung Serbiens. Wenn man etwas Gutes über die deutschen Grünen sagen kann, dann, dass sie uns langatmige Analysen über die wahre Natur des Pazifismus erspart haben. Es reicht aus, ihre Taten zu betrachten.

3 Dr. Goebbels war der Minister für Propaganda und Information im deutschen Naziregime. Wenn wir diesen Ausdruck benutzen, dann aus dem Grunde, weil Goebbels seither als archetypisches Muster für die Propaganda, Indoktrination und Manipulation des bürgerlichen Staates gilt. Doch wie dieser Artikel aufzuzeigen beabsichtigt, gibt es an ähnlichen Exemplaren auch in stalinistischen oder demokratischen Regimes keinen Mangel.

4 „Against the spiral of military barbarism, there is only one solution: the development of the class struggle“, International Review, Nr. 64, erstes Vierteljahr 1991;

5 In der Tat hat bis zum Zeitpunkt der Golfkrise die westliche Presse ein Loblied auf Saddam gesungen, indem sie ihn als „modernen“ Herrscher und vor allem als jemanden schilderte, der gegen die Ambitionen der iranischen Ajatollahs während des iranisch-irakischen Krieges unterstützt werden sollte. 1988 unterstützten westliche Regierungen Saddams Unterdrückung der Kurden, der dabei von chemischen Waffen Gebrauch machte, da er zu jener Zeit das Schlüsselelement gegen den Iran darstellte.

6 Marianne fährt fort, dass es „ein bisschen so war, als ob die Alliierten im Winter 1945 am Rhein gestoppt und Hitler genügend Waffen gelassen hätten, um mit eventuellen Aufständischen fertig zu werden“. Doch es ist nicht „ein bisschen so“, genau dies taten die Alliierten in Italien 1944, als sie ihre Nordoffensive gestoppt hatten, um dem faschistischen Regime freie Hand bei der Zerschlagung von Arbeiterstreiks und Aufständen zu gewähren, die dort ausgebrochen waren.

7 s. „The proletarian political milieu confronted with the Gulf War“ (1. November 90), International Review, Nr. 64 und unseren „Appeal to the proletarian political milieu“ in Nr. 67 (Juli 1991);

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