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Internationale Revue - 2004

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Internationale Revue 33

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Attentate in Madrid

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Der Kapitalismus sät den Tod

Am Donnerstag, 11. März um sieben Uhr morgens, erschüttern zwei Bomben ein Arbeiterquartier in Madrid. Ebenso blind wie am 11. September 2001 oder bei den Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg oder in Guernica haben die Bomben des kapitalistischen Kriegs eine Zivilbevölkerung ohne Verteidigungsmöglichkeit getroffen. Die Bomben haben ohne Diskriminierung Männer, Frauen, Kinder, Junge und auch aus „muslimischen“ Ländern Immigrierte getötet, deren Familienangehörige – Gipfel des Elends – in gewissen Fällen aus Angst davor, aufgrund ihres illegalen Aufenthalts verhaftet und ausgewiesen zu werden, nicht einmal wagten, zur Identifikation der Leichen zu kommen.
Es handelt sich gleich wie bei den Angriffen auf die Twin Towers um einen Kriegsakt. Dennoch besteht ein bedeutender Unterschied zwischen den beiden Ereignissen: Im Gegensatz zum 11. September, als das Ziel aus einem grossen Symbol der Macht des amerikanischen Kapitalismus bestand - auch wenn tatsächlich die offensichtliche Absicht existierte zu töten, um den Effekt von Horror und Terror zu verstärken - handelt es sich diesmal in keiner Weise um einen symbolischen Akt, sondern um einen direkten Schlag gegen die Zivilbevölkerung als integralem Bestandteil des Krieges. Beim 11. September handelte es sich um ein Ereignis von weltweiter Tragweite, um ein beispielloses Massaker auf amerikanischem Boden, dessen erste Opfer die Arbeiter und Angestellten der New Yorker Büros waren. Es lieferte dem amerikanischen Staat den Vorwand, den er sich selbst konstruierte, indem er nichts gegen die Vorbereitungen der Attentate, über die er im Bilde war, unternahm, um eine neue Periode in der Entfaltung und im Gebrauch seiner imperialistischen Macht zu eröffnen. Die USA haben laut verkündet, dass sie von nun an in ihrem Krieg gegen den Terrorismus zur Verteidigung ihrer Interessen allein und überall in der Welt zuschlagen würden. Das Attentat vom 11. März ist nicht mit der Eröffnung einer neuen Periode, sondern mit der Banalisierung des Horrors gleichzusetzen. Es handelt sich nicht mehr darum, Ziele mit möglichst hohem Propagandawert, sondern direkt die Arbeiterklasse zu treffen. In den Zügen der Vororte von Atocha verkehrten um sieben Uhr morgens bestimmt keine Chefs oder Mächtige wie in den Luxusbüros der Twin Towers.
Heute gehört es zum guten Ton, die Verbrechen des Nationalsozialismus und Stalinismus zu verurteilen. Aber während dem gesamten Zweiten Weltkrieg haben die demokratischen Mächte die Zivilbevölkerung bombardiert - und hauptsächlich die Arbeiter - mit dem Ziel, Terror zu verbreiten und am Ende des Kriegs mit der Zerstörung ganzer Arbeiterquartiere jegliche Möglichkeit eines proletarischen Aufstands zu unterbinden. Die Tag und Nacht stets umfangreicheren Bombardierungen deutscher Städte am Kriegsende sind eine scharfe Verurteilung der ekelhaften Heuchelei der Regierungserklärungen, die bei anderen anprangern, was sie selber ohne zu zögern ausführen (Irak, Tschetschenien, Kosovo sind nur einige Beispiele der in letzter Zeit ausgetragenen imperialistischen Rivalitäten von denen hauptsächlich die Zivilbevölkerung betroffen ist). Man kann sagen, dass die Attentäter von Madrid gute Schüler waren.1
Entgegen allen Prognosen ist in den auf das Attentat von Atocha folgenden Wahlen die Regierung Aznar geschlagen worden. Die Presse hat den Sieg des Sozialisten Zapatero auf zwei Gründe zurückgeführt: Es haben viel mehr Arbeiter und Junge an den Wahlen teilgenommen und es herrschte eine starke Wut gegen die hinterhältigen Versuche der Regierung Aznar, die die Schuld an den Attentaten der baskischen Terrororganisation ETA in die Schuhe schob, um so der Frage des Irakkriegs auszuweichen.
Wir haben bereits anlässlich des Attentats auf die Twin Towers unterstrichen, wie sich in den Arbeiterquartieren von New York spontane Solidariätsbekundungen und eine Ablehnung der nach Revanche trachtenden Kriegspropaganda ausgedrückt haben2, sie aber nicht autonom waren und diese Reaktionen der Solidarität somit nicht ausreichend waren, um eine Klassenreaktion hervorzurufen. Sie wurden statt dessen in eine pazifistische Bewegung gegen den Irakkrieg umgemünzt. Ebenso kann man sagen, dass mit der Abwahl Aznars viele die Manipulationsversuche der Regierung zurückweisen wollten, wohingegen die Tatsache der Wahlteilnahme bereits einen Sieg für die Bourgeoisie darstellt, denn man teilt so die Idee, dass man gegen den Krieg stimmen könne.

Weshalb dieses Verbrechen?

Für die revolutionäre Arbeiterklasse ist es unabdingbar die Realität zu verstehen, wenn sie sie ändern will. Allererste Verantwortung für die Kommunisten ist es also, die Ereignisse zu analysieren, mit allen Kräften Anstrengungen für das Verständnis zu unternehmen, damit das Proletariat in der Lage ist, einen wirklichen Widerstand zu entfalten, der auch auf der Höhe der Gefahren ist, die es bedrohen und die im Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft liegen. Wenn der Terrorakt von Madrid tatsächlich ein Kriegsakt war, handelt es sich gleichwohl um einen neuen Typ von Krieg, wo die Bomben nicht mehr einem bestimmten Land oder einem besonderen imperialistischen Interesse zuzuordnen sind. Die erste Frage, die wir uns also stellen müssen: Wer hat von dem Verbrechen in Atocha profitiert?
Zuerst kann man feststellen, dass das bei der amerikanischen Bourgeoisie bestimmt nicht der Fall war. Auf den ersten Blick könnte das Attentat die zentrale These der amerikanischen Propaganda aufwerten, dass es sich um einen Weltkrieg gegen den Terrorismus handeln würde, in den alle Länder verstrickt wären. Hingegen macht es die Behauptung der Amerikaner vollständig unglaubwürdig, wonach sich die Situation im Irak verbessert habe und die Macht bald an einen irakischen Staat übergeben werden könne. Die Machtübernahme der sozialistischen Fraktion der spanischen Bourgeoisie ist allerdings eine Gefahr für die strategischen Interessen der USA. Wenn Spanien seine Truppen aus dem Irak zurück zieht, so ist das für die USA nicht nur auf militärischer Ebene ein harter Schlag, sondern auch auf politischer, da ihr Anspruch auf eine Führungsrolle in der Koalition der Willigen gegen den Terrorismus beeinträchtigt wird.
Die spanischen Sozialisten sind ein Flügel der Bourgeoisie, der sich immer mehr nach Frankreich und Deutschland ausrichtete und auch die Karte der europäischen Integration spielte. Ihre Regierungseinsetzung hat sofort eine Periode scheinheiliger Machenschaften eröffnet, deren Ausgang man heute noch schwerlich präzis voraussagen kann. Unmittelbar nach seinem Wahlsieg hat Zapatero angekündigt, dass die spanischen Truppen aus dem Irak zurück gezogen würden. Gleich darauf machte er einen Rückzieher und liess verlauten, dass die Truppen unter der Bedingung der Übergabe des Besatzungskommandos an die UNO bleiben würden. Das spanische Lavieren stellt nicht nur die Teilnahme in der amerikanischen Koalition im Irak, sondern auch  seine Rolle als trojanisches Pferd in Europa und überhaupt im Spiel der Allianzen in der europäischen Union in Frage. Bisher haben Spanien, Polen und Grossbritannien - jedes Land aufgrund eigener Interessen - gemeinsam eine pro-amerikanische Koalition gegen die französisch-deutschen Ambitionen gebildet, die alle europäischen Länder in Opposition zu den USA bringen wollten. Polen wollte sich mit der Entsendung von Truppen in den Irak das amerikanische Wohlwollen und eine starke Stütze gegen die deutschen Druckversuche für den kritischen Augenblick des Beitritts zur EU erkaufen. Es stellt sich also die Frage (wenn Spanien tatsächlich die amerikanische Koalition verlassen und sich nach Europa und nach einer pro-deutschen Ausrichtung orientieren sollte, was sehr wahrscheinlich ist), ob Polen stark genug sein wird, um ohne die Unterstützung Spaniens den Oppositionskurs gegen Deutschland und Frankreich fortzusetzen. Die letzten privaten Erklärungen des polnischen Premierministers, die auch gleich wieder dementiert wurden, dass sie von den USA um den Finger gewickelt worden seien, lassen darüber gewisse Zweifel aufkommen.
Für die USA ist es also ein harter Schlag. Sie riskieren nicht nur einen Alliierten im Irak zu verlieren, sondern vor allem eine Unterstützung in Europa.3 Mit dem Wegfall von Spanien und Polen droht die Kapazität der USA, den Weltpolizisten zu spielen, nachhaltig geschwächt zu werden.
Wenn die USA und die Fraktion um Aznar die grossen Verlierer des Attentats sind, wer hat dann gewonnen? Es sind offensichtlich Frankreich und Deutschland sowie die pro-sozialistische Fraktion Spaniens, die eher nach Europa ausgerichtet ist. Ist also ein durch zwischengeschaltete Islamisten von französischen und spanischen Geheimdiensten geplanter Schlag vorstellbar?
Beginnen wir mit dem Argument, dass solche Dinge in Demokratien nicht vorkommen. Wir haben bereits4 gezeigt, wie die Geheimdienste gegebenenfalls eine direkte Rolle in den Konflikten und Abrechnungen innerhalb der nationalen Bourgeoisien spielen können. Das Beispiel der Entführung und Ermordung von Aldo Moro in Italien ist diesbezüglich besonders aufschlussreich. Die Ermordung Aldo Moros ist als ein Verbrechen der linksextremen Roten Brigaden präsentiert worden, aber es handelte sich in Tat und Wahrheit um das Werk der italienischen Geheimdienste, die diese Terrorgruppe infiltriert hatten. Aldo Moro ist von der herrschenden pro-amerikanischen Fraktion der italienischen Bourgeoisie getötet worden, weil er vorschlug, die italienische kommunistische Partei (damals von der UdSSR beeinflusst) in die Regierung aufzunehmen.5 Der Versuch der Einflussnahme auf Wahlergebnisse, d.h. auf die Reaktionen eines wichtigen Bevölkerungsteils, durch die Sprengung eines Vorortszugs ist eine Operation von ganz anderer Tragweite als die Ermordung eines Mannes zur Beseitigung eines störenden Elements innerhalb der Bourgeoisie. In einer solchen Situation gibt es zu viele Ungewissheiten. Insbesondere hing das erwartetet Resultat (die Niederlage der Regierung Aznar und ihre Ersetzung durch eine sozialistische Regierung) von der Reaktion der Regierung Aznar selbst ab. Die Wahlanalysten stimmen darin überein, dass die Wahlresultate sehr stark von den unglaubwürdigen und zunehmend verzweifelten Versuchen der Regierung bestimmt wurden, die Verantwortung für die Attentate auf die ETA abzuwälzen. Es wäre auch ein ganz anderes Resultat in Betracht gekommen, wenn Aznar in der Lage gewesen wäre, das Ereignis zu seinen Gunsten auszunutzen, indem er die Wählenden für einen Kampf für die Demokratie und gegen den Terror mobilisiert hätte. Die Risiken einer solchen Operation wären also zu gewichtig gewesen. Wenn man dann noch die Unfähigkeit des französischen Geheimdienstes selbst zur Ausführung einer kleinen Operation (man erinnere sich an die Versenkung des Greenpeace-Schiffs Rainbow Warrior oder an die jämmerliche Aktion zur Befreiung von Ingrid Bettancourt im brasilianischen Dschungel) in Betracht zieht, kann man sich nur schlecht vorstellen, dass die französische Regierung sich eine solche Operation bei einem europäischen „Freund“ erlauben würde.

Was für ein Krieg?

Wir haben gesagt, dass es sich beim Attentat von Atocha genauso wie bei demjenigen auf die Twin Towers um einen Kriegsakt handeln würde. Aber um was für einen Krieg handelt es sich? In der ersten Periode der Dekadenz des Kapitalismus konnte man die imperialistischen Kriege klar festmachen: In den grossen imperialistischen Schlachten von 1914 und 1939 standen sich die Grossstaaten mit ihrem ganzen nationalen, militärischen und diplomatischen Arsenal gegenüber. In der Periode der grossen imperialistischen Blöcke (1945–1989) trugen die rivalisierenden Blöcke ihre Konflikte auf Nebenschauplätzen aus. Es war damals schon schwieriger, die wirklichen Befehlshaber in diesen Kriegen zu identifizieren, die oft als Auseinandersetzungen um die nationale Befreiung dargestellt wurden. Mit dem Eintritt des Kapitalismus in die Zerfallsphase sind mehrere Tendenzen aufgetaucht, die man heute in den terroristischen Attentaten erkennen kann:
 „- die Entwicklung des Terrorismus, der Geiselnahmen als Mittel der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Staaten mit Verletzung aller der ‘Gesetze’, die der Kapitalismus in der Vergangenheit verabschiedet hatte, um diese Konflikte zwischen den Fraktionen der herrschenden Klasse zu ‘regeln’, ...
- die Entfaltung des Nihilismus, das Ansteigen der Zahl der Selbstmorde unter Jugendlichen, der Hoffnungslosigkeit ...
- die Ausbreitung des Drogenkonsums, das heute zu einem Massenphänomen wird, das zu einer weiteren Korruption im Staat und in den Finanzorganismen beiträgt ...
- das Wuchern von Sekten, das Erstarken von religiösen Einstellungen auch in den fortgeschrittenen Ländern, die Verwerfung eines rationellen, zusammenhängenden, aufeinander aufbauenden Denkens ...“ 6
Diese Thesen sind 1990 veröffentlicht worden, zu einer Zeit also, als die Ausführung solcher Attentate (beispielsweise diejenigen in Strassen von Paris 1986/87) von Ländern dritter oder vierter Ordnung wie Syrien, Libanon oder Iran ausgingen: Der Terrorismus war so etwas wie die Atombombe der Armen. Kaum 15 Jahre später sehen wir im Auftauchen des sog. islamistischen Terrorismus ein neues Phänomen: Die Desintegration von ganzen Staaten, das Auftauchen von Kriegsherren, die sich junger Kamikazes bedienen, deren einzige Perspektive im Leben der Tod ist. Der Terrorismus dient dazu, die Interessen dieser Kriegsherren auf dem internationalen Schachfeld voranzubringen.
Wie auch immer die noch im Dunkeln liegenden Details des Attentats von Madrid aussehen mögen, es ist doch offensichtlich, dass es mit den Ereignissen der amerikanischen Besetzung des Iraks zusammenhängt. Man kann sich vorstellen, dass die Ambition des Anstifters des Attentats war, die Bevölkerung des spanischen Kreuzfahrer-Landes für die Teilnahme an der Besetzung des Iraks zu bestrafen. Der Krieg im Irak ist heute aber keineswegs mehr nur mit dem Widerstand einiger unverbesserlicher Anhänger Saddam Husseins gegen die Besetzung zu erklären. Im Gegenteil: Dieser Krieg tritt soeben in eine neue Phase ein. Er wandelt sich in eine Art internationaler Bürgerkrieg. Im Irak finden die Zusammenstösse immer häufiger nicht nur zwischen dem Widerstand und den amerikanischen Truppen statt, sondern zwischen den diversen Kräften der Saddam-Anhänger, der wahabitisch inspirierten Sunniten (zu denen sich auch Ossama bin Laden zählt), den Schiiten, Kurden und Turkmenen. In Pakistan entwickelt sich mit dem Bombenattentat gegen eine schiitische Prozession (mit 40 Toten) und der umfangreichen Militäroperation der pakistanischen Armee in Waziristan an der afghanischen Grenze ein Bürgerkrieg. In Afghanistan können all die Erklärungen über die Festigung der Regierung Karzai nicht darüber hinweg täuschen, dass die Regierung nur Kabul und die nähere Umgebung kontrolliert, und dies auch nur unter grössten Anstrengungen. Der Bürgerkrieg im gesamten Süden des Landes verrichtet weiterhin ein zerstörerisches Werk. In Israel und Palästina verschlechtert sich die Situation mit dem Einsatz von Kindern zum Transport von Bomben durch die Hamas. In Europa flammt der Konflikt zwischen Albanern und Serben in Kosovo wieder auf. Die Kriege in Ex-Jugoslawien sind bei weitem noch nicht beendet, sondern sind vorerst aufgrund der massiven militärischen Präsenz der Besatzungstruppen auf Eis gelegt.
Wir haben es hier nicht mehr mit einem klassischen imperialisitschen krieg zu tun, sondern mit dme allgemeinen Zerfall der Gesellschaft in bewaffnete Banden. Man kann eine Analogie mit dem China an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert machen. Wenn die Phase des Zerfalls des Kapitalismus durch eine Pattsituation im Kräfteverhältnis zwischen den reaktionären Kapitalisten und dem revolutionären Proletariat gekennzeichnet ist, so war die Situation im Reich der Mitte gekennzeichnet von einer Blockade zwischen der herrschenden feudal-absolutistischen Klasse und ihren Mandarinen und dem aufsteigenden Bürgertum, das aber wegen seiner Entwicklung zu schwach war, um das imperiale Regime zu stürzen. So ist das Reich in zahlreiche  Gebiete zerfallen, die alle durch einen Kriegsherren beherrscht wurden. Es gab unaufhörlich Konflikte, die auf der Ebene der historischen Entwicklung jeglicher Rationalität entbehrten.
Die Tendenz zur Desintegration der kapitalistischen Gesellschaft hemmt in keiner Weise die Verstärkung des Staatskapitalismus noch befördert sie die Umwandlung des kapitalistischen Staates in einen Beschützer der Gesellschaft. Im Gegensatz zu dem, was uns die herrschende Klasse der entwickelten Länder glauben machen möchte – beispielsweise dadurch, dass sie die spanische Bevölkerung gegen den Terror oder gegen den Krieg an die Urne ruft – sind die Grossmächte keineswegs Bollwerke gegen den Terrorismus oder den sozialen Zerfall. Sie sind die dafür eigentlich Verantwortlichen. Vergessen wir nicht, dass die Achse des Bösen heute – Bin Laden und andere Herren der gleichen Art – gestern noch Kämpfer für die Freiheit gegen das sowjetische Reich des Bösen waren, dass sie vom westlichen Block sowohl finanziert als auch bewaffnet wurden. Und dabei kann man es bei weitem nicht bewenden lassen: In Afghanistan haben sich die USA wenig empfehlenswerter Kriegsherren der Nordallianz und im Irak der kurdischen Peschmerga bedient. Ganz im Gegensatz zu allen Eintrichterungen verstärkt sich der kapitalistische Staat angesichts der kriegerischen Tendenzen und den zentrifugalen Kräften mehr und mehr.
Die imperialistischen Mächte welcher Grössenordnung auch immer zögern niemals, Kriegsherren oder terroristische Banden zu ihrem Vorteil zu gebrauchen.
Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft nimmt aufgrund der globalen Ausdehnung und der weitaus grösseren Dynamik, als sie alle vorausgehenden Gesellschaftsformationen auswiesen, noch schrecklichere Züge als in der Vergangenheit an. Wir unterstreichen hier einen Aspekt: Die Todessehnsucht, die auf der jungen Generation lastet. Le Monde vom 26. März zitiert einen Psychologen im Gaza-Streifen:  „Ein Viertel aller jungen Knaben älter als 12 haben nur einen  Traum: Sterben als Märtyrer.“ Der Artikel fährt fort: „Der Kamikaze ist in den Strassen von Gaza zu einer respektierten Figur geworden, kleine Kinder binden sich falsche Sprengstoffgürtel um, um die Erwachsenen nachzuahmen.“
1990 haben wir bereits folgendes geschrieben: „Für die Arbeiterklasse ist es von grösster Bedeutung und damit auch für die Revolutionäre in ihren Reihen, dass sie sich von der tödlichen Bedrohung durch den Zerfall für die Gesellschaft bewusst ist ... (Sie) müssen mit aller Energie jegliche Tendenzen innerhalb der Arbeiterklasse bekämpfen, die versuchen, sich über die Wirklichkeit hinwegzutrösten, die Augen vor der ganzen Tragweite der Weltlage zu verschliessen.“7 Dieser Aufruf ist leider weitum unverstanden geblieben oder unter den mageren Kräften der kommunistischen Linken sogar verachtet worden.

Eine Klasse von Geiern

Die spanische Bourgeoisie war nicht direkt für die Attentate von Atocha verantwortlich. Jedoch hat sie sich wie ein Geier auf die Kadaver der Proletarier gestürzt. Selbst noch als Leichname haben die Arbeiter so der herrschenden Klasse  als Nahrung für die Propagandamaschinerie für die Nation und die Demokratie gedient. Mit der Parole „das vereinte Spanien wird niemals besiegt werden“ hat sich die gesamte Bourgeoisie der durch die Attentate provozierten Gefühle bedient, um die Arbeiter an die Wahlurnen zu drängen, die viele unter anderen Umständen hätten links liegen lassen. Unabhängig von den Resultaten ist die hohe Wahlbeteiligung bereits ein Sieg für die Bourgeoisie, da sie zum Ausdruck bringen, dass ein grosser Teil der spanischen Arbeiter geglaubt hat, dass sie sich dem bürgerlichen Staat zu ihrem Schutz gegen den Terrorismus anvertrauen können und dass sie dafür die demokratische Einheit der spanischen Nation verteidigen müssen.
Schlimmer noch: über die nationale Einheit um die Verteidigung der Demokratie hinaus wollten sich die verschiedenen Fraktionen der spanischen Bourgeoisie der Attentate bedienen, um die Unterstützung der Bevölkerung im allgemeinen und der Arbeiterklasse im besonderen für ihre strategische und imperialistische Ausrichtung zu gewinnen. Mit dem Finger zeigte Aznar auf den baskischen Separatismus als dem Schuldigen, er wollte so das Proletariat für die Stärkung des Polizeistaates gewinnen. Die Sozialisten haben die Verantwortung Aznars für das Engagement an der Seite der USA und die Präsenz von spanischen Truppen im Irak verurteilt und wollten so eine andere strategische Ausrichtung, die Allianz mit dem französisch-deutschen Tandem herbeiführen.
Das Verständnis für die durch den kapitalistischen Zerfall herbeigeführte Situation wird also für das Proletariat um so notwendiger, wenn es seine Unabhängigkeit als politische Klasse angesichts der bürgerlichen Propaganda, die die Proletarier in einfache, vom demokratischen Staat abhängige Bürger umwandelt, wieder finden und verteidigen will.

Die Wahlen sind vorbei, die Krise bleibt

Mit diesen Wahlen hat die Bourgeoisie einen Sieg errungen, aber sie hat nicht die Wirtschaftskrise beseitigen können. Die heutigen Angriffe bleiben nicht mehr nur auf der Ebene dieses oder jenes Unternehmens, dieses oder jenes Wirtschaftszweigs, sondern sie betreffen das ganze Proletariat. In diesem Sinn bringen die nun in allen europäischen Ländern (und auch in den USA mit dem Verschwinden von Rentenplänen in den Börsenkatastrophen im Stil von Enron) vorgetragenen Angriffe gegen das Rentensystem und die Sozialversicherungen eine neue Situation hervor, auf die die Arbeiterklasse eine Antwort finden muss. Unser Verständnis dieser Situation wird im in dieser Nummer publizierten Bericht über den Klassenkampf dargelegt. Angesicht der Kriegsbarbarei und des sozialen Zerfalls kann und muss sich die Arbeiterklasse auf die Höhe der Gefahr schwingen, nicht nur auf der Ebene der unmittelbaren Verteidigung gegen ökonomische Angriffe, sondern vor allem auf der Ebene des allgemeinen politischen Verständnisses der Todesdrohung gegen die gesamte Menschheit. Rosa Luxemburg äusserte sich diesbezüglich schon 1915: „Der Weltfriede kann weder durch internationale Schiedsgerichte kapitalistischer Diplomaten noch durch diplomatische Abmachungen über ,Abrüstung‘ (...) und dergleichen utopische oder in ihrem Grunde reaktionäre Projekte gesichert werden. Imperialismus, Militarismus und Kriege sind nicht zu beseitigen und  nicht einzudämmen, solange die kapitalistischen Klassen unbestritten ihre Klassenherrschaft ausüben. Die einzige Sicherung und die einzige Stütze des Weltfriedens ist der revolutionäre Wille und die politische Aktionsfähigkeit des internationalen Proletariats.“8

Geographisch: 

  • Spanien [1]

Theoretische Fragen: 

  • Terrorismus [2]

Das proletarische politische Milieu angesichts des Krieges

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<<>> Die Geissel des Sektierertums im internationalistischen Lager>

<<>><<>>>Das Ende des Jahres 2003 war durch einen ernsten Schritt des weltweiten Kapitalismus in Richtung Untergang gekennzeichnet: der Schritt besteht aus dem zweiten Golfkrieg und dem Entstehen einer militärischen Zwickmühle in einem für die ganze Welt bedeutenden strategischen Gebiet. Dieser Krieg ist von entscheidender Wichtigkeit für das neue imperialistische Gleichgewicht, denn mit dem angloamerikanischen Eingreifen, der Besetzung des Irak und der Opposition der verschiedenen imperialistischen Kräfte, die von nun an mehr und mehr zu den USA gegensätzliche Positionen einnehmen. Auf diese neue Schlachterei und die Propaganda der Bourgeoisie konnten die wichtigsten revolutionären Gruppen der internationalen kommunistischen Linken noch einmal mit eindeutigen internationalistischen Positionen antworten. Gegen die ideologischen bürgerlichen Kampagnen haben diese Gruppen das ABC des Marxismus verteidigt. Das bedeutet sicher nicht, dass diese Organisationen alle übereinstimmende Positionen vertreten. Wir müssen aus unserem Blickwinkel sogar sagen, dass die meisten Wortmeldungen bedeutsame Schwächen aufwiesen. Dies betrifft besonders das Verständnis der Phase der offenen imperialistischen Konflikte seit dem Zusammenbruch des Ostblocks, der Auflösung des gegnerischen Blockes und die Tragweite dieser Konflikte. Die Unterschiede sind Ausdruck der Heterogenität im schwierigen Reifungsprozess der Arbeiterklasse, die sich auch auf der Ebene ihrer revolutionären Vorhut ausdrückt. In diesem Sinne können die Unterschiede kein Element eines grundsätzlichen Gegensatzes zwischen Angehörigen des gleichen revolutionären Lagers sein, solange die Klassengrundsätze nicht vernachlässigt werden. Sie zeigen hingegen die absolute Notwendigkeit einer ständigen Debatte zwischen diesen Organisationen.  Eine solche öffentliche Debatte ist nicht nur Voraussetzung für die Klärung im revolutionären Lager, sondern auch ein klarer Faktor der Abgrenzung gegenüber den linksradikalen  Gruppen des politischen Lagers der Bourgeoisie (Trotzkismus, Anarchismus). Sie Muss es den heranwachsenden Kräften ermöglichen, sich gegenüber den verschiedenen Angehörigen des proletarischen Lagers zu orientieren.>

Unsere Organisation hat in diesem Sinn einen Aufruf an die anderen revolutionären Organisationen gerichtet. Er erfolgte beim Ausbruch des zweiten Golfkrieges und hatte eine gemeinsame Initiative (Dokumente, öffentliche Versammlungen…) zum Ziel, um „die internationalistischen Standpunkte so weit wie möglich zu verbreiten“:
„Die aktuellen Gruppen der kommunistischen Linken teilen alle diese grundsätzlichen Positionen, trotz der Meinungsverschiedenheiten, die zwischen ihnen bestehen. Die IKS ist sich dieser Unterschiede sehr bewusst und hat nie versucht, sie zu vertuschen. Im Gegenteil, sie hat sich immer bemüht, die Meinungsverschiedenheiten mit den anderen Gruppen in ihrer Presse aufzuzeigen und die Punkte, die sie für verfehlt hält, zu bekämpfen. Vor diesem Hintergrund ist die IKS entsprechend der Haltung der Bolschewiken 1915 in Zimmerwald und der italienischen Fraktion in den 30er-Jahren der Meinung, dass es die Verantwortung der wirklichen Kommunisten ist, der ganzen Arbeiterklasse auf breitestmögliche Art und Weise gegenüber dem imperialistischen Krieg und den bürgerlichen Kampagnen die grundlegenden Positionen des Internationalismus aufzuzeigen. Das bedeutet unserer Ansicht nach, dass die Gruppen der kommunistischen Linken sich nicht mit ihren je eigenen Interventionen in ihrer eigenen Ecke zufrieden geben dürfen, sondern dass sie sich zusammenschliessen müssen, um gemeinsam auszudrücken, was ihre gemeinsame Position ausmacht. Für die IKS hätte eine gemeinsame Intervention der unterschiedlichen Gruppen der kommunistischen Linken eine politische Wirkung in der Arbeiterklasse, die weit über die Summe ihrer Kräfte hinausginge, die – wie wir alle wissen – zurzeit ziemlich eingeschränkt sind. Darum schlägt die IKS den angeschriebenen Gruppen vor, sich zu treffen, um gemeinsam alle möglichen Mittel zu diskutieren, die es der kommunistischen Linke erlauben, geeint für die Verteidigung des Internationalismus zu sprechen, ohne die je eigenen Interventionen der einzelnen Gruppen zu verurteilen oder in Frage zu stellen.“1
Dieser Aufruf wurde an folgende Organisationen verschickt:
-    Bureau International pour le Parti Révolutionnaire (BIPR)
-    Partito Comunista Internazionale (Il Comunista, Le Prolétaire)
-    Partito Comunista Internazionale (Il Partito, genannt „von Florenz“)
-    Partito Comunista Internazionale (Il Programma Comunista).
Leider wurde er entweder mit schriftlichen Antworten abgelehnt – von PCI-Le Prolétaire und dem BIPR – oder ignoriert. In unserer Internationalen Revue 32 haben wir die Antworten und unsere Stellungnahme zum Schweigen der anderen Gruppen bereits dargelegt.
Mit dem vorliegenden Artikel verfolgen wir zwei Ziele. Einerseits zeigen wir mit der Analyse der Stellungnahmen der wichtigsten proletarischen Gruppen zum Krieg zu zeigen, dass tatsächlich ein politisches proletarisches Milieu existiert, das sich durch seine Treue zum proletarischen Internationalismus von den verschiedenen linken verbalrevolutionären und von allen offen bürgerlichen Organisationen unterscheidet. Anderseits konzentrieren wir uns auf einige Unterschiede, die zwischen uns und diesen Gruppen bestehen, um zu erklären, dass sie fehlgeleiteten Vorstellungen dieser Gruppen entspringen. Gleichzeitig zeigen wir, dass sie eine gewisse Einheit des Handelns  gegenüber der weltweiten Bourgeoisie nicht verunmöglichen. Mehr noch, wir beweisen, dass diese Unterschiede, so schwerwiegend sie auch sein mögen, von diesen Gruppen als Vorwand  verwendet werden, um ein solches gemeinsames Handeln abzulehnen.
Es gibt tatsächlich ein politisches proletarisches Milieu, was seine verschiedenen Bestandteile auch immer darüber denken mögen.
In unserem Aufruf an die revolutionären Gruppen haben wir die Kriterien, die unserer Meinung nach trotz der Divergenzen in anderen Fragen eine minimale Basis für die Abgrenzung des revolutionären vom konterrevolutionären Lager ermöglichen, dargestellt:
1.    Der imperialistische Krieg ist nicht das Resultat einer „schlechten“ oder „kriminellen“ Politik von dieser oder jener besonderen Regierung oder von diesem oder jenem Sektor der herrschenden Klasse: Es ist der Kapitalismus als Ganzes der für den imperialistischen Krieg verantwortlich ist.
2.    In diesem Sinne kann die Haltung des Proletariats und der Kommunisten gegenüber dem Krieg keinesfalls sein, sich dem einen oder anderen Lager anzuschliessen – auch nicht auf „kritische“ Art und Weise: Die amerikanische Offensive gegen den Irak anzuklagen bedeutet konkret überhaupt nicht, diesem Land und seiner Bourgeoisie auch nur die geringste Unterstützung zu bringen.
3.    Die einzige Position, die den Interessen des Proletariats entspricht, ist der Kampf gegen den Kapitalismus als Ganzes, also gegen alle Sektoren der Bourgeoisie weltweit, nicht mit der Perspektive eines „friedlichen Kapitalismus“, sondern für den Umsturz dieses Systems  und die Errichtung der Herrschaft des Proletariats.
4.    Der Pazifismus ist bestenfalls eine kleinbürgerliche Illusion mit der Neigung, das Proletariat von seinem Klassenterrain abzubringen; meistens ist er nur ein von der Bourgeoisie zynisch benutztes Instrument, um die Proletarier zur Verteidigung von „friedlichen“ und „demokratischen“ Sektoren der herrschenden Klasse in den imperialistischen Krieg einzubeziehen. Darum ist die Verteidigung der internationalistischen proletarischen Position nicht von der konzessionslosen Anklage des Pazifismus zu trennen. (ebenda)
Alle Gruppen, an die wir den Aufruf gerichtet hatten, erfüllten, wie wir zeigen werden, mit ihren Stellungnahmen diese minimalen Kriterien.
Der PCI Programma Comunista gibt eine sehr richtige Einschätzung der aktuellen Phase: “Der Todeskampf einer auf der Aufteilung in Klassen beruhenden Produktionsweise ist viel wilder als man es sich vorstellen könnte. Die Geschichte lehrt es uns: während der soziale Unterbau von unaufhörlichen Spannungen und Widersprüchen durchzogen wird, mobilisiert die herrschende Klasse ihre Energien für ein Überleben um jeden Preis - und so spitzen sich die Gegensätze zu, die Tendenz zur Zerstörung nimmt zu, die Konfrontationen auf wirtschaftlicher, politischer und militärischer Ebene vervielfältigen sich. Die gesamte Gesellschaft mit allen Schichten und Klassen wird von einem Fieber erfasst, das sie zerfleischt und jedes Organ befällt.“2
Il Partito von Florenz und Le Prolétaire tragen mit der Feststellung, dass der Krieg nicht von diesem oder jenem , den man als den Bösen bezeichnen kann, ausgelöst wird, sondern aus einer imperialistischen Auseinandersetzung auf weltweiter Ebene entsteht, zur Einschätzung der Lage bei:
–    „Die Eurofront – soweit sie auch Widerstand leistet – ist keine Kraft des Friedens, die sich einer kriegerischen Dollarfront widersetzt, sondern ein Lager in der allgemeinen innerimperialistischen Auseinandersetzung, in die sich die Herrschaft des Kapitals stürzt.“3
–    „Der Krieg gegen den Irak ist trotz der Ungleichheit der Kräfte kein Kolonialkrieg, sondern in jeder Hinsicht ein imperialistischer Krieg auf beiden Seiten, obwohl der geschlagene Staat kleiner und weniger entwickelt ist, ist er trotzdem ein bourgeoiser Staat und Ausdruck einer kapitalistischen Gesellschaft.“4
–    „Das sogenannte Friedenslager, das heisst die imperialistischen Staaten, die den Angriff der USA auf den Irak als schädlich für ihre Interessen hielten, fürchtet sehr, dass die durch ihren schnellen Sieg gestärkten USA sie ihre Opposition teuer bezahlen lassen wird, zuerst durch ihre Verdrängung aus der Region. Die dreckigen imperialistischen Rivalitäten zwischen den Staaten nehmen zu. Die Amerikaner erklären, dass Frankreich und Russland grosszügig auf ihre gigantischen Schuldguthaben gegenüber dem Irak verzichten sollten, während man sich auf der anderen Seite darüber entrüstet, dass die Verträge für den „Wiederaufbau“ des Landes zum Vornherein grossen amerikanischen Unternehmen zugeteilt werden, und dass die Vermarktung des Erdöls in die gleichen Hände fäll Bezüglich dieses berühmten „Wiederaufbaus“ und dem wirtschaftlichen Wohlergehen, das dem irakischen Volk versprochen wurde, genügt es , sich vor Augen zu halten, wie es um den Wiederaufbau Afghanistans und die Situation in Ex-Jugoslawien steht – zwei Regionen in denen die westlichen Truppen noch immer präsent sind – um zu verstehen, dass für die Bourgeoisie auf beiden Seiten des atlantischen Ozeans nur der Wiederaufbau der für eine rentable Produktion notwendigen Infrastruktur zählt, um damit das Wohlergehen der kapitalistischen Unternehmen zu sichern.“5
Diese Positionen lassen also einer kritischen Unterstützung des einen oder des anderen Lagers keinerlei Platz. Ganz im Gegenteil stellen sie für diese Gruppen das eherne Fundament dar für eine Anklage gegen alle diese Länder und politischen Kräfte, die auf verlogene Art und Weise ihre eigenen imperialistischen Pläne hinter der Verteidigung des Friedens verstecken.
So stellt Il Partito fest: „Die angebliche, gemeinsame Verdammung des Krieges (durch die westlichen Länder, adR) ist unbestreitbar zweideutig, weil diese Haltung eine unterschiedliche, ja gegensätzliche Herkunft und Bedeutung für die antagonistischen Klassen hat. Die ,europäische Partei‘, die das Grosskapital und die Hochfinanz von dieser Seite des Atlantiks vertritt, und die heute immer stärker mit den Amerikanern konkurriert und rivalisiert, ist gegen diesen Krieg. Das heisst nicht, dass die Finanzmagnaten persönlich auf die Strasse gehen, um ihre Spruchbänder hochzuhalten, aber sie halten das Kommando über die einflussreichen Medien, die Parteien und die systemtreuen Gewerkschaften sicher in der Hand, um die beeinflussbare öffentliche Meinung nach rechts oder nach links auszurichten. Für das Kapital sind die Kriege manchmal tatsächlich ,notwendig‘, obwohl sie oft ,ungerecht‘ sind. Es ist ausserordentlich leicht, dies zu unterscheiden: Die Kriege, die man gewinnt, sind ,notwendig‘, die ,ungerechten‘ sind die, welche von Anderen gewonnen werden. Zum Beispiel: für die europäischen Kapitalisten, bereit, Jugoslawien auf schreckliche Art unter sich aufzuteilen, waren die Bombardierungen Belgrads (die beinahe schlimmer waren als die heutigen über dem Irak) ,notwendig‘; hingegen die Bombardierungen Bagdads, wo die fetten Ölverträge von der neuen, von den ,Befreiern‘ eingesetzten ,demokratischen Verwaltung‘ annulliert werden und also verloren gehen, sind ,ungerecht‘“.6
Der Programma Comunista schreibt: „Keinen Mann und kein Geldstück für die imperialistischen Kriege: offener Kampf gegen die eigene nationale Bourgeoisie, italienisch oder US-amerikanisch, deutsch oder französisch, serbisch oder irakisch.“7
Il Partito Comunista: „Die französischen und die deutschen Regierungen – unterstützt von Russland und China – sind gegen diesen Krieg, aber nur um ihre eigenen imperialistischen Interessen, die durch die Offensive der USA im Irak und in der ganzen Region bedroht sind, zu verteidigen.“8
Das BIPR: „Der eigentliche Feind der USA (…) ist der Euro, der anfängt, die absolute Vorherrschaft des Dollars auf gefährliche Art zu bedrohen.“9
Aus allen oben stehenden Überlegungen folgt, dass die einzige konsequente Haltung der tödliche Kampf gegen das Kapital, in welchem Gewand sich dieses auch immer zeigt , und die bedingungslose Anklage des Pazifismus ist. Das tun diese Gruppen und vor allem das BIPR:
–     “Europa – insbesondere die deutsch-französische Achse – versucht, die militärischen Pläne der Amerikaner zu durchkreuzen, indem es jetzt die Karte des Pazifismus ausspielt, und es hat damit eine ideologische Falle gestellt, in die bereits Viele getappt sind. Aufgrund der Tatsachen wissen wir genau, dass jeder beliebige europäische Staat, wenn er die Notwendigkeit dafür gespürt hat, nicht gezögert hat, seine wirtschaftlichen Interessen  mit Waffengewalt geltend zu machen. Heute zeichnet sich in vielen Stellungnahmen der ,Gehorsamsverweigerer‘ bereits ein neuer über-nationaler, europäischer Nationalismus ab. Sogar die Bezugnahme auf ein Europa der Menschenrechte und der sozialen Werte, im Gegensatz zum zugespitzten Individualismus der Amerikaner, ist die Voraussetzung für das zukünftige Einschwenken auf die Ziele der europäischen Bourgeoisie in ihrer entscheidenden Auseinandersetzung mit der  amerikanischen Bourgeoisie.“10
–    „Ein grosser Teil der ,linken‘ Parlamentarier und ihr verwandter Bewegungen (grosse Bereiche der Anti-Globalisierungs-Bewegung) beruft sich auf ein Europa der Menschenrechte und der sozialen Werte, das dem zugespitzten Individualismus der Amerikaner entgegensteht. Er versucht damit vergessen zu machen, dass das gleiche Europa – bezüglich der ,sozialen Werte‘ – die Renten verkleinert hat und mit Nachdruck neue Einschnitte fordert (die sogenannten ,Reformen‘ der Altersvorsorge); das gleiche Europa hat bereits Millionen Arbeiter entlassen, und übt jetzt Druck aus, um die Kraft der Arbeit auf eine Wegwerfware zu reduzieren
–    mit einer fortschreitenden, zerstörerischen Verelendung.“11
Alles Vorangehende zeigt also das Bestehen eines gemeinsamen Lagers, das den Grundsätzen des Proletariats treu ist, das Lager der kommunistischen Linken, und das unabhängig vom Bewusstsein, das die verschiedenen Gruppen, aus denen es sich zusammensetzt, davon haben.
Das verhindert wie gesagt nicht, dass teilweise schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten zwischen der IKS und diesen Gruppen bestehen, wie wir im Folgenden noch genauer sehen werden. Das Problem ist nicht das Bestehen dieser Meinungsverschiedenheiten an sich, sondern dass diese Gruppen sie als Rechtfertigung für ihre Weigerung heranziehen, eine besonders ernste Situation gemeinsam zu beantworten und dass sie gleichzeitig nichts tun, dass diese Fragen in einer ernsthaften, öffentlichen Debatte geklärt werden.

Falsche Bezugnahmen auf Lenin, um das Ausbleiben einer gemeinsamen Aktion zu rechtfertigen

In der Internationalen Revue 32 haben wir den Frontismusvorwurf des Prolétaire und den Idealismusvorwurf des BIPR beantwortet, die damit den angeblich fehlgeleiteten Charakter vieler Analysen der IKS beweisen wollen. Ausser einem in der Nummer 466 des Prolétaire erschienen Artikel haben wir keine Antwort darauf bekommen. Für diese Organisation rechtfertigt die Absicht, die Uneinigkeit, die uns in der Frage des revolutionären Defätismus entzweit, zu überwinden, vollständig die Kritik des Frontismus, die sie bezüglich unseres Aufrufes zu einer gemeinsamen Aktion an uns richtet.
Wir müssen also angesichts dieses Artikels des Prolétaire auf die Frage des revolutionären Defätismus zurückkommen. Der Prolétaire-Artikel enthält ein neues Element, auf das wir uns im Folgenden konzentrieren:
„Es ist unwahr, dass die Organisationen, die in diese Kategorie eingestuft  werden, sich im Grunde im Wesentlichen einig sind, dass sie eine gemeinsame Position teilen, nicht einmal nur in der Frage des Krieges und des Internationalismus. Im Gegenteil widersprechen sie sich in politischen und programmatischen Fragen, die in Zukunft lebenswichtig für den proletarischen Kampf und  für die Revolution sein werden, genauso wie sie sich bereits heute widersprechen, was die Ausrichtungen und Handlungsanweisungen angeht, die den wenigen Kräften, die Klassenpositionen suchen, zu geben sind. Besonders in der Frage des Krieges haben wir das Schwergewicht auf den Begriff des revolutionären Defätismus gelegt, weil dieser seit Lenin die kommunistische Haltung in den imperialistischen Kriegen kennzeichnet. Die IKS hingegen stellt sich gegen den revolutionären Defätismus. Wie sollte es also möglich sein, zusammen eine gemeinsame Haltung auszudrücken, die im Grunde genommen, wenn man nur ein wenig an der Oberfläche kratzt, wenn man über die schönen und grossen Sprüche über den Sturz des Kapitalismus und die Diktatur des Proletariats hinweggeht, gar nicht besteht? Eine gemeinsame Aktion wäre nur mit der Einwilligung möglich, unvereinbare Widersprüche auszuradieren oder abzumildern, das heisst, sie vor den Augen der Proletarier, an die man sich richten will, zu verstecken - nur mit der Einwilligung, den Aktivisten aus anderen Ländern, die man erreichen will, ein falsches Bild einer ,kommunistischen Linken‘, die sich im Wesentlichen einig ist, zu zeigen, das heisst, sie zu täuschen. Seine Positionen zu tarnen – auf das laufen die Einigungsvorschläge, in der Hoffnung, einen unmittelbaren oder zufälligen Erfolg zu erzielen, nämlich gewollt oder ungewollt hinaus , ist das nicht die klassische Definition des Opportunismus?“12 (Unterstreichungen im Original)
Die PCI stellt sich gegenüber unserem Einwand beharrlich taub, dass „über ,Frontismus‘ zu reden ... nicht nur dazu bei(-trägt), die Meinungsverschiedenheiten zu klären, es ist auch insoweit ein Faktor der Konfusion, als es die realen Divergenzen, die Klassengrenzen, die die Internationalisten von der gesamten Bourgeoisie, von den Rechtsradikalen bis hin zu den Linksextremisten, trennt, auf eine Stufe mit den Meinungsverschiedenheiten unter Internationalisten stellt.“ (Internationalen Revue 32)
Aus Unwissenheit (das heisst aus Schludrigkeit in der Kritik von politischen Positionen, was kein kleiner Mangel für eine revolutionäre Organisation ist) oder vielleicht aus dem Bedürfnis nach einer einfachen Polemik, fasst die PCI auch die Haltung der IKS zur Frage des revolutionären Defätismus nicht zusammen. Sie beschränkt sich auf die Feststellung, dass „die IKS gegen den revolutionären Defätismus“ sei, und lässt so das Feld für jegliche Interpretation unser Haltung offen, darin inbegriffen – warum auch nicht – dass die IKS im Falle eines Angriffs anderer Länder für die „Verteidigung des Vaterlandes“ wäre. Wir rufen hier also unsere Position zu dieser Frage in Erinnerung, die wir bereits in der Zeit des ersten Golfkrieges entwickelt hatten. Im Artikel „ Das proletarische politische Milieu im Angesicht des Golfkrieges“ von 1991 befürworten wir das Folgende: “Dieser Begriff wurde von Lenin während dem Ersten Weltkrieg geprägt. Er entsprach dem Willen, die Winkelzüge der ,Zentristen‘ anzuprangern, welche, obwohl sie ,im Prinzip‘ einverstanden waren, jede Beteiligung an dem imperialistischen Krieg zurückzuweisen, es befürworteten zu warten, bis die Arbeiter der ,feindlichen‘ Länder bereit waren, den Kampf gegen den Krieg aufzunehmen, bevor sie die Arbeiter ,ihrer eigenen‘ Länder dazu aufriefen. Um diese Haltung zu untermauern argumentierten sie, wenn die Arbeiter eines Landes denen der feindlichen Länder zuvorkämen, begünstigten sie deren Sieg im imperialistischen Krieg. Lenin entgegnete sehr richtig auf diesen bedingten ,Internationalismus‘, dass die Arbeiterklasse eines Landes keine gemeinsamen Interessen mit der Bourgeoisie ,ihres‘ Landes hat, und er unterstrich besonders, dass die Niederlage dieser Bourgeoisie den Kampf der Arbeiterklasse nur begünstigen konnte, wie man es bereits am Beispiel der Pariser Kommune (die aus der Niederlage gegen Preussen hervorging) und am Beispiel der Revolution von 1905 in Russland (das im Krieg gegen Japan geschlagen worden war) gesehen hatte. Aus dieser Feststellung zog er den Schluss, dass jedes Proletariat die Niederlage ,seiner‘ eigenen Bourgeoisie ,wünschen‘ musste. Dieser letzte Standpunkt war bereits damals falsch, weil er die Revolutionäre jedes Landes dazu verleitete, für ,ihr‘ Proletariat die günstigsten Bedingungen für die proletarische Revolution zu behaupten, obwohl die Revolution weltweit – und zuerst in den entwickelten Ländern (die alle am Krieg beteiligt waren) – hätte stattfinden müssen. Trotzdem hat die Schwäche dieser Position bei Lenin nie zu einer Infragestellung des unnachgiebigsten Internationalismus geführt (es ist sogar diese Unnachgiebigkeit, die ihn zu einer solchen ,Entgleisung‘ verleitete). Es wäre Lenin niemals in den Sinn gekommen, die Bourgeoisie des ,feindlichen‘ Landes zu unterstützen, obwohl sich eine solche Haltung logischerweise aus seinen ,Wünschen‘ hätte ableiten können. Diese unstimmige Position wurde im Gegensatz dazu mehrmals von bürgerlichen Parteien mit ,kommunistischer‘ Färbung benutzt, um ihre Teilnahme am imperialistischen Krieg zu begründen. So haben zum Beispiel die französischen Stalinisten nach der Besiegelung des deutsch-russischen Paktes von 1939 plötzlich die Tugenden des ,proletarischen Internationalismus‘ und ,revolutionären Defätismus‘ wiederentdeckt – Tugenden, die sie seit langem vergessen hatten, und die sie mit der gleichen Geschwindigkeit wieder verdrängten, als Deutschland 1941 den Krieg gegen die Sowjetunion eröffnete. Den gleichen „revolutionären Defätismus“ konnten die italienischen Stalinisten nutzen, um nach 1941 ihre Politik an der Spitze des ,Widerstandes‘ gegen Mussolini zu begründen. Heute rechtfertigen die Trotzkisten der Länder (und sie sind zahlreich), die in den Kampf gegen Saddam Hussein verwickelt sind, ihre Unterstützung des Letzteren im Namen des gleichen ,revolutionären Defätismus‘“.13
Es ist also nicht das Unterfangen der IKS, das fraglich ist, sondern dieses seiner Kritiker, die die Lehren der Arbeiterbewegung aus der ersten weltweiten revolutionären Welle von 1917–1923 nicht gezogen haben.
Kann man nach dieser Klarstellung der Frage des revolutionären Defätismus weiterhin der Ansicht sein, die von uns aufgezeigten Meinungsverschiedenheiten stellten ein Hindernis dar für eine gemeinsame Antwort der verschiedenen Gruppen auf den Krieg? Trotz der Irrtümer der Gruppen, an die wir unseren Aufruf gerichtet hatten, denken wir, dass ihre internationalistische Ausrichtung nicht in Frage gestellt ist. Diese Gruppen, die den revolutionären Defätismus verteidigen, sind tatsächlich nicht gleich wie die stalinistischen und trotzkistischen Verräter, die die Unklarheit des Begriffes von Lenin für die Rechtfertigung des Krieges verwenden. Es handelt sich um proletarische politische Gruppen, die aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage waren, bezüglich einiger Fragen der Arbeiterbewegung „Nägel mit Köpfen zu machen“.

Sektierertum gegenüber der Kommunistischen Linken und Opportunismus gegenüber den Linken

Erinnern wir uns daran, dass das BIPR der Ansicht ist, dass die Unterschiede zur IKS für eine gemeinsame Antwort auf die Frage des Krieges zu gross sind.
Der folgende Ausschnitt aus einem Flugblatt von Battaglia Comunista, einer der beiden Gruppen des BIPR, drückt trotzdem eine grundsätzliche Übereinstimmung in der Analyse des Kräfteverhältnisses zwischen Bourgeoisie und Proletariat aus – genau die Frage, in der gemäss BIPR die Standpunkte so weit entfernt sind:
„Unter einigen Gesichtspunkten ist es für den Krieg nicht mehr notwendig, die Arbeiterklasse für die Fronten anzuwerben: es genügt, dass sie zu Hause bleibt, in den Fabriken und in den Bureaus, um für den Krieg zu arbeiten. Das Problem stellt sich dann, wenn diese Klasse anfängt, sich zu weigern für den Krieg zu arbeiten, und damit sofort ein ernstes Hindernis für die Entwicklung des Krieges selber wird. Das – und nicht die noch so grossen Kundgebungen der pazifistischen Staatsbürger und noch weniger die Mahnwachen mit den Predigten des Papstes – ist eine Bremse für den Krieg: das kann den Krieg beenden.“14 (Unterstreichung im Original)
Dieser Ausschnitt drückt die richtige Idee aus, dass Krieg und Klassenkampf nicht zwei unabhängige Variablen, sondern Gegensätze sind: je mehr das Proletariat der Bourgeoisie auf den Leim geht, desto freiere Hand hat sie, ihre Kriege zu führen; je mehr diese Klasse sich weigert, für den Krieg zu arbeiten, desto stärker wird sie „sofort ein ernstes Hindernis für die Entwicklung des Krieges selber“. So wie diese Idee hier in den Worten von Battaglia Comunista15 ausgedrückt wird, ist sie jener, die unserem Begriff vom historischen Kurs unterlegt ist, sehr ähnlich. Der historische Kurs als geschichtliches Resultat der zwei oben aufgezeigten Entwicklungslogiken: die dauernde Neigung des Kapitalismus zum Krieg, und die geschichtliche Neigung der ungeschlagenen Arbeiterklasse, die entscheidende Auseinandersetzung mit der feindlichen Klasse zu suchen. Battaglia dagegen hat die Gültigkeit dieser Position immer bestritten, indem sie uns des Idealismus bezichtigte. Auf diesen und auf andere Punkte, in denen Battaglia uns vorwirft, die aktuelle Situation nicht zu verstehen und uns in unseren „Idealismus“ zu flüchten, haben wir ausführlich in vielen Artikeln und zahlreichen Polemiken geantwortet.16
Von einer Organisation, die sich in der Einschätzung der Meinungsverschiedenheiten mit der IKS derart kleinlich zeigt, könnte man eine ähnliche Haltung gegenüber allen anderen Gruppen erwarten. Dem ist ganz und gar nicht so.
Wir beziehen uns hier auf die Haltung des BIPR, wie sie sich bei seiner Sympathisantengruppe, die sie im nordamerikanischen Raum vertritt, der Internationalist Workers Group (IWG) (mit der Publikation Internationalist Notes), zeigt. Diese Gruppe ist zusammen mit Anarchisten aufgetreten und hat eine gemeinsame öffentliche Veranstaltung mit Red and Black Notes und mit der Ontario Coalition Against Poverty (OCP), die eine typische linke, aktivistische Gruppe zu sein scheint, abgehalten. Die IWG hat kürzlich eine solidarische Stellungnahme mit inhaftierten „Genossen“ der OCP, die wegen Vandalismus während den letzten Kundgebungen gegen den Krieg in Toronto verhaftet worden waren, veröffentlicht. Sie hat auch eine öffentliche Versammlung zusammen mit „anarcho-kommunistischen Genossen“ in Québec abgehalten.
Obwohl wir von der Notwendigkeit überzeugt sind, in den Debatten der politischen Gruppen, die zwischen revolutionären und bürgerlichen Haltungen schwanken, anwesend zu sein, um dort den Einfluss der kommunistischen Linken geltend zu machen, brachte uns – und das ist noch milde ausgedrückt – die hier angewendete „Methode“ aus der Fassung. Diese weist eine Grosszügigkeit auf, die in vollständigem Widerspruch steht zur harten Strenge, die das europäische BIPR zeigt. Diesen methodischen und also prinzipiellen Unterschied eingedenk, meinten wir, auch an die IWG den Aufruf für ein gemeinsames Vorgehen richten zu müssen. Dies machten wir mit einem Schreiben, das unter anderem das Folgende aussagte:
„Wenn wir es richtig verstehen, beruht die Absage des BIPR vor allem auf die aus Sicht des BIPR zu grossen Unterschiede zwischen unseren Grundsätzen. Wir zitieren den Brief, den wir vom BIPR erhalten haben: ,Eine gemeinsame Aktion gegen den Krieg oder zu jedem anderen Problem kann nur ins Auge gefasst werden zwischen genau definierten und politisch unzweideutig identifizierten Partnern, die jene Grundsätze teilen, die wir für grundlegend halten.‘“
Wir haben währenddessen von der Internetseite des BIPR und auch aus anderer Quelle (letzte Nummer der Internationalist Notes und Flugblätter von Red&Black) erfahren, dass Internationalist Notes in Kanada eine gemeinsame Versammlung mit Anarcho-Kommunisten in Québec und mit libertären Rätekommunisten und Anti-Armuts-Aktivisten in Toronto abgehalten hat. Es ist offensichtlich, dass die Unterschiede in einigen Fragen zwischen IKS und BIPR unbedeutend sind im Vergleich zu den Gegensätzen  zwischen der kommunistischen Linken einerseits und anderseits den Anarchisten (auch wenn sie dem Anarchismus das Wort „kommunistisch“ aufkleben), und die Aktivisten gegen die Armut scheinen auf ihrer Internetseite nicht einmal eine antikapitalistische Haltung einzunehmen. Auf dieser Grundlage können wir nur schlussfolgern, dass das BIPR zwei unterschiedliche Strategien bezüglich seiner Intervention zum Krieg hat: eine auf dem nordamerikanischen Kontinent – und eine andere in Europa. Die Gründe des BIPR, eine gemeinsame Aktion mit der IKS in Europa abzulehnen, sind offensichtlich in Kanada und Amerika nicht gegeben.
Wir richten darum dieses Schreiben ausdrücklich an Internationalist Notes als Vertreter des BIPR in Nordamerika, um den Vorschlag, den wir dem gesamten BIPR schon unterbreitet hatten, noch einmal aufzunehmen.“17
Wir haben nie eine Antwort auf diesen Brief erhalten, was an sich schon ein Vorgehen bedeutet, das der revolutionären kommunistischen Politik fremd ist. Ein Vorgehen, das eine politische Stellungnahme nur den eigenen Launen und dem Weg des geringsten Widerstandes überlässt.18 Dass wir keine Antwort erhalten haben, ist sicher kein Zufall, sondern der Tatsache zu verdanken, dass eine glaubwürdige Antwort ohne Selbstkritik nicht möglich gewesen wäre. Überdies ist die Politik des IWG in Nordamerika sicher nicht eine Eigenart der amerikanischen Genossen, sondern zeigt das typische Gesicht des BIPR, das Sektierertum und Opportunismus vereinigt: Sektierertum in den Beziehungen mit der kommunistischen Linken, und Opportunismus mit allen Anderen.19
Allgemeiner verstanden liegt der Grund für die Ablehnung unseres Aufrufes nicht in den tatsächlich bestehenden Unterschieden zwischen unseren Organisationen, sondern eher in einem ebenso sektiererischen wie opportunistischen Willen, von einander getrennt zu bleiben, um in seiner Ecke seine politische Tätigkeit  ruhig fortzusetzen, ohne Gefahr zu laufen, kritisiert zu werden, oder mit den unermüdlichen „Hinterfragern“  und „Störenfrieden“ der IKS zu tun zu haben.
Eine solche Haltung dieser Gruppen ist weder zufällig noch neuartig.  Sie erinnert an die der niedergehenden 3. Internationale, die sich der kommunistischen Linken verschloss – das heisst der klarsten und entschlossensten Strömung in der Definition der revolutionären Positionen – und sich gleichzeitig breit der Rechten „öffnete“  mit ihrer Fusionspolitik gegenüber den zentristischen Bewegungen ( die „Terzini“ in Italien, die USPD in Deutschland) und der „Einheitsfront“ mit der Sozialdemokratie, der Verräterin und Henkerin der Revolution. Internationalisme, Organ der kommunistischen Linken in Frankreich (Vorläuferin der IKS), bezieht sich auf diese opportunistische Haltung der kommunistischen Internationalen, als es in den 40er-Jahren die 1942 auf einer opportunistischen Basis erfolgte Gründung der internationalistischen kommunistischen Partei Italiens, gemeinsame Vorgängerin aller bordigistischen kommunistischen Parteien Italiens und von Battaglia Comunista, kritisierte: „Es ist nicht im Mindesten überraschend, dass wir heute, 23 Jahre nach der Diskussion zwischen Lenin und Bordiga anlässlich und über die Gründung der Kommunistischen Partei Italiens, Zeuge der Wiederholung des gleichen Fehlers werden. Die Methode der kommunistischen Internationale, die so wütend von der Fraktion der Linken (von Bordiga) bekämpft wurde, und deren Auswirkungen katastrophal für das Proletariat waren, wird heute von der Fraktion selber für den Aufbau der kommunistischen Partei Italiens verwendet.“20
In den 30er-Jahren nahmen die Trotzkisten die gleiche opportunistische Haltung namentlich gegenüber der italienischen Linken ein.21 Und als es wegen der Gründung der PCInt einen Bruch innerhalb dieser italienischen Linken gab, erinnerte die Haltung der neuen Partei gegenüber der kommunistischen Linken Frankreichs an die Haltung der Trotzkisten. Obwohl man zu  dieser Zeit im Gegensatz zum Trotzkismus und zur kommunistischen Internationalen nicht von einer Entartung der neu gegründeten PCInt sprechen konnte, und wenn man auch heute nicht von einer Entartung des BIPR oder des PCI sprechen kann, so bleibt trotzdem die Gründung der PCInt ein Schritt zurück im Vergleich zu der Aktivität und dem Niveau der Aufklärung durch die Fraktion der italienischen Linken (mit ihrer Zeitschrift Bilan) in den 30-er Jahren. Internationalisme kritisierte diesen Opportunismus mit folgenden Worten:
–    „Genossen, es gibt zwei Methoden der Umgruppierung: es gibt die des ersten Kongresses der kommunistischen Internationalen, der allen Gruppen und Parteien, die sich kommunistisch nannten, einlud, um ihre Positionen zu konfrontieren. Und es gibt jene von Trotzki, der 1931 die internationale Opposition und das Sekretariat „umorganisierte“ , indem er vorher sorgfältig und ohne Erläuterung die italienische Fraktion und andere Gruppen, die vorher dazu gehört hatten, ausschaltete (die alten Genossen werden sich an ein Protestschreiben, das die italienische Fraktion an alle Sektionen der internationalen Opposition verschickte, erinnern, in dem dieses willkürliche und bürokratische Vorgehen Trotzkis gebrandmarkt wurde)“.22
–    „Der PCI wurde in den fiebrigen Wochen 1943 gegründet. Man liess nicht nur die positive Arbeit, die die italienische Fraktion in dem langen Zeitraum von  1927–1944 geleistet hatte, beiseite, sondern in etlichen Punkten war die Position der neuen Partei hinter diejenige der nicht-parlamentarischen Fraktion Bordigas von 1921 zurückgefallen. Namentlich in der Frage der Einheitsfrontpolitik, wo im Rahmen von lokalen Kundgebungen den stalinistischen Parteien Vorschläge zur Bildung einer Einheitsfront gemacht wurden, namentlich bezüglich der Beteiligung an Gemeinde- und Parlamentswahlen, wo die alte Position der Enthaltung aufgegeben wurde, namentlich bezüglich des Antifaschismus, wo die Türen der Partei den Mitgliedern des Widerstandes weit geöffnet wurden, um nicht nur von der Gewerkschaftsfrage zu reden, in der die Partei völlig die alte Haltung der kommunistischen Internationalen Aufnahm, also die Haltung der Fraktion, die innerhalb der Gewerkschaften für die Eroberung dieser Gewerkschaften kämpft, und ging sogar noch weiter auf diesem Weg für die Bildung von gewerkschaftlichen Minderheiten (Die Position und die Politik der revolutionären gewerkschaftlichen Opposition. Mit einem Wort, unter dem Namen der Partei der internationalen kommunistischen Linken haben wir ein italienisches Gebilde von klassischem trotzkistischen Zuschnitt ohne die Verteidigung der UdSSR. Gleiche Bekanntmachung der Partei unabhängig vom reaktionären Kurs, gleiche opportunistische Praxispolitik, gleiche unfruchtbare Massenagitation, gleiches Misstrauen gegenüber der Theoriediskussion und der Auseinandersetzung der Ideen, sei es innerhalb der Partei oder mit den anderen revolutionären Gruppen.“23
Battaglia Comunista trägt also noch heute das Markenzeichen des ursprünglichen Opportunismus. Wie wir es oben bereits gesagt haben, glauben wir trotzdem an die Möglichkeit und die Notwendigkeit einer Debatte zwischen den verschiedenen Angehörigen des revolutionären Lagers, und wir geben sicher wegen einer Zurückweisung nicht auf, so unverantwortlich diese auch sein mag.

        Ezechiele (Dezember 2003)

Aktuelles und Laufendes: 

  • Irak [3]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Kommunistische Linke [4]

Theoretische Fragen: 

  • Internationalismus [5]

Die „andere Globalisierung“

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Eine ideologische Falle für die Arbeiterklasse

Der Erfolg des Europäischen Sozialforums (ESF) im letzten November in Paris zeigt deutlich, wie die „andere Globalisierung“1 während dem letzten Jahrzehnt Fuss fassen konnte. Nach einer zögerlichen Anlaufszeit mit einer eng begrenzten Anhängerschaft (die Bewegung zog sogleich weltumspannend „Denker“ und Akademiker an und war in dieser Hinsicht begrenzter als bezüglich der geographischen Ausdehnung) wies die Bewegung bald alle Merkmale einer ideologischen Strömung im traditionellen Sinn auf: ein populärer Ruf dank den radikalen Demonstrationen in Seattle 1999 während dem Gipfeltreffen der Welthandelsorganisation (WTO), dann die Medienstars, allen voran unstreitbar José Bové, und schlussendlich die unmisslichen Events: das Weltsozialforum (WSF), welches in Porto Alegre (Brasilien) stattfand und eine Alternative zum Davoser Forum, dem Treffen der weltwirtschaftlichen Drahtzieher, darstellen soll. Porto Alegre sollte zum Symbol der Bürger-Selbstverwaltung werden; hier fanden die ersten drei Treffen des WSF (2001, 2002 und 2003) statt.
Seither stieg diese Welle weiter an: Während das WSF neue Kontinente erobert und im Januar 2004 in Indien stattfand, spriessen Abkömmlinge auf regionaler Ebene (das Europäische Sozialforum ist nur ein Ausdruck davon, weitere finden wir zum Beispiel in Afrika). Die Instrumente dieser Bewegung, Zeitungen und Zeitschriften, Meetings und Demonstrationen, erfahren einen atemberaubenden Aufschwung. Wer sich heute mit gesellschaftlichen Fragen auseinandersetzt, sieht sich zwangsläufig mit einer Ideenflut der „anderen Globalisierung“ konfrontiert.
Dieser rasche Aufschwung wirft eine Reihe von Fragen auf: Woher kommt das hohe Tempo, die Mächtigkeit und die grosse Ausdehnungskraft dieser Bewegung? Und: warum gerade jetzt?
Für die Anhänger der „anderen Globalisierung“ ist die Antwort einfach: ihre Bewegung ist derart erfolgreich, weil sie wirkliche Lösungen für die Probleme der Menschheit aufzeigt. Nach dem oben gesagten bleiben uns die Anhänger der „anderen Globalisierung“ noch die Antwort auf eine weitere Frage schuldig: weshalb schenken die Medien (selbst weitgehend unter Kontrolle der von ihnen jäh verpönten „transnationalen Unternehmen“) den Worten und Taten dieser Bewegung so viel Aufmerksamkeit?
Tatsächlich drückt der Erfolg der „anderen Globalisierung“ eine reale Notwendigkeit aus und dient realen Interessen. Die Frage ist nur, wer hat diese Bewegung nötig und welchen Interessen dient sie? Dient sie, ihrem eigenen Anspruch zufolge, den Interessen unterdrückter Bevölkerungsgruppen (arme Bauern, Frauen, Pensionäre, Arbeiter, „Aussätzige“ etc.) oder vielmehr der herrschenden Gesellschaftsordnung, von der sie ja gefördert und finanziert wird?
Um diese Fragen zu beantworten, untersucht man am Besten die gegenwärtigen ideologischen Bedürfnisse der bürgerlichen Klasse. Fakt ist, dass die herrschende Klasse nach dem besten Mittel sucht, um dem Bewusstseinsprozess des Proletariats einen entschiedenen Rückschlag zu versetzen.
Als erstes Muss die Wirtschaftskrise betrachtet werden. Seit ihren Anfängen Ende der 60er-Jahre, ist sie nun so weit fortgeschritten, dass sich die Bourgeoisie diesbezüglich zu einer relativ realistischen Sprache gezwungen sieht.
Der schamlose Trug, wonach die zweistelligen Wachstumsraten der asiatischen „Drachen“ (Südkorea, Taiwan, etc.) die Prosperität des Kapitalismus in der dem Zusammenbruch des Ostblocks folgenden Periode zeigen sollen, ist nicht länger haltbar. Denn die „Drachen“ speien kein Feuer mehr. Auch die „Tiger“ (Indonesien, Thailand, etc.), die den selben Weg hätten einschlagen sollen, brüllen nicht mehr, sondern betteln um die Gnade ihrer Kreditoren. Der nächste Trug war der, welcher an die Stelle der „aufstrebenden Länder“ die „aufstrebende New Economy“ setzte. Er hielt noch weniger lang an: das Wertgesetz holte die „New Economy“ bald von den spekulativen Höhenflügen herunter und stürzte manches Unternehmen ins Verderben.
Den „Kontext der Rezession“ lasten sich die nationalen Bourgeoisien gegenseitig an. Mit dieser Beschönigung aber kann die Verschärfung der ökonomischen Krise im Herzen des Kapitalismus kaum verschleiert werden. Gleichzeitig wird uns endlos gesagt, wir müssten „einen Effort leisten“, den „Gürtel enger schnallen“, um die Wirtschaft wieder auf einen Wachstumspfad zu bringen. Ein solches Gerede wird aber niemals die Angriffe der Bourgeoisie auf die Arbeiterklasse gänzlich verschleiern können. Die sich verschärfende Krise verlangt nach immer härteren und ausgedehnteren Angriffen, die zudem mehr denn je simultan sein müssen, um die Interessen der Herrschenden bewahren zu können.
Solche Attacken provozieren zwangsläufig Reaktionen in der Arbeiterklasse, die sich zwar je nach Land und Zeit unterscheiden, aber in ihrer Gesamtheit zur Entwicklung des Klassenkampfes führen. Für Elemente der Arbeiterklasse kann eine solche Situation der Funke sein, der das Klassenbewusstsein entfacht. Wenn auch die derzeitige Entwicklung des Klassenbewusstseins nicht spektakulär ist, so taucht nichtsdestotrotz heute im Proletariat eine Reihe von Fragen auf, etwa über die wahren Gründe hinter den Angriffen der bürgerlichen Klasse, über die tatsächliche Situation der Wirtschaftskrise, aber auch über die wirklichen Ursachen der in der ganzen Welt andauernd ausbrechenden Kriege. Es wird auch die Frage gestellt, wie diese Katastrophen wirksam bekämpft werden können. Jedenfalls können sie nicht länger einfach der „menschlichen Natur“ angehängt werden.
Derartige Fragen stecken noch in ihren Anfängen und stellen noch lange keine Gefahr für die politische Herrschaft des Kapitalismus dar. Nichtsdestotrotz: heute schon Muss sich die herrschende Klasse mit ihnen auseinandersetzen und nach Wegen suchen, sie im Keime zu ersticken. Hierin zeigt sich das Hauptanliegen des ideologischen Apparats der „anderen Globalisierung“: eine Reaktion der herrschenden Klasse gegen die Anfänge einer Bewusstseinsentwicklung in der Arbeiterklasse. Erinnern wir uns an das zentrale, endlos wiederholte Thema nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der sogenannten sozialistischen Länder: „Der Kommunismus ist tot, lang lebe der Liberalismus! Die Konfrontation zwischen den zwei Welten ist vorbei, was umso besser ist, da sie die Ursache von Krieg und Armut war. Künftig kann es nur noch die eine Welt geben: die Welt des liberalen demokratischen Kapitalismus, Quelle des Friedens und Wohlstands.“
Bald war es klar, dass diese „brandneue“ Welt wie seit jeher Kriege entfachen, Armut und Barbarei verbreiten würde, auch nach dem Zusammenbruch des „Evil Empire“ (in den Worten von US-Präsidenten Reagan). Und weniger als zehn Jahre nach der triumphalen Versicherung, es könne nur eine Welt geben, sind wir Zeuge der wiedererweckten Idee, eine „alternative Welt“ zum Liberalismus sei möglich. Die herrschende Klasse hat offensichtlich die Langzeiteffekte ihrer Systemkrise auf das Klassenbewusstsein verstanden. Sie will die Arbeiterklasse von der Entwicklung einer eigenen Perspektive für eine „andere Welt“ abbringen, in der die Bourgeoisie nicht wie bei der „anderen Globalisierung“ keinen Platz hätte.

Die Grundlagen der Bewusstseinsentwicklung der Arbeiterklasse und das Ziel des bürgerlichen Angriffs

Die Fragen von suchenden Elementen in der Arbeiterklasse lassen sich hauptsächlich unter folgenden drei Überschriften zusammenfassen:
–    Was ist die Realität der heutigen Welt?
–    Mit welcher Perspektive kann diese verändert werden?
–    Wie können wir eine solche Perspektive erreichen?
Diese drei Fragen gehören zum zentralen Anliegen der Arbeiterbewegung seit ihren Anfängen. Die Arbeiterklasse kann die grundlegenden Ursachen dieser Situation verstehen. Sie kann begreifen, dass es nur eine Perspektive gibt, die eine Alternative zu dieser Situation eröffnen kann. Diese Klasse ist fähig, ihre eigene revolutionäre Rolle in dieser Situation zu verstehen und deshalb kann sie sich die Waffen zum Umsturz des Kapitalismus aneignen und den Kommunismus errichten.
Die Bourgeoisie besitzt die Fähigkeit, den Prozess dieses Klassenbewusstseins und die damit verbundenen historischen Gefahren zu verstehen. Wir können auf nahezu zwei Jahrhunderte Erfahrung zurückgreifen, die uns zeigt, dass diese Fähigkeit der Bourgeoisie nicht unterschätzt werden darf. Sie führt dazu, dass die Ideologie der „anderen Globalisierung“, trotz ihrer unterschiedlichen Erscheinungsformen, im wesentlichen auch auf den oben erwähnten drei Themen aufbaut.
Das erste dieser Themen – die Realität der heutigen Welt – zeigt unmittelbar, wie sehr die Ideologie der „anderen Globalisierung“ ein integraler Teil des bürgerlichen Mystifikationsapparats ist. Diese Ideologie teilt nämlich gänzlich die Lügen über die gegenwärtige wirtschaftliche Situation des Kapitalismus. Bei den Anhängern der „anderen Globalisierung“ ebenso wie bei den Anarchisten und Linksextremen wird die Realität der kapitalistischen Systemkrise versteckt hinter der andauernden Denunzierung der „riesigen Trusts“. Wenn ganze Gebiete der Erde in ein Wirtschaftsdesaster verfallen, ist dies die Schuld der multinationalen Trusts. Wenn Armut die ganze Welt befällt und bis zum Herzen der industrialisierten Länder vordringt, so ist dies die Schuld der multinationalen Trusts und deren Profitgier. Überall auf der Erde gibt es genügend und grenzenlosen Reichtum, der für alle Menschen genügen würde, wenn da nicht eine rücksichtslose Minderheit den gesamten Reichtum an sich reissen würde. In diesem scheinbar kohärenten Schema fehlt allerdings ein kritisches Element, um die Realität der weltweiten Situation und ihrer Entwicklung zu verstehen: die unabwendbare Krise, die den Bankrott des Kapitalismus aufzeigt.
Für die herrschende Klasse war es immer von grösster Bedeutung, die Realität von der Vergänglichkeit ihres Systems zu verbergen, welches dazu verurteilt ist, eines Tages von der historischen Bühne zu verschwinden. Die Herrschenden versuchen daher, die zunehmenden Erschütterungen des Kapitalismus herunterzuspielen. Sie starten also ihr Gerede über das „Licht am Ende des Tunnels“ und über die schönen Zeiten, die uns „gleich um die Ecke“ erwarten. Aber während sie dieses Gerede entfalten, verschärft sich die Situation zunehmend. Die Bourgeoisie will die alte Lüge neu verpackt wissen und verpasst ihr daher mit der „anderen Globalisierung“ einen neuen Anstrich.
Dies hindert die Bewegung für eine „andere Globalisierung“ aber nicht daran, für eine Alternative zur gegenwärtigen Welt zu werben; oder besser gesagt für mehrere Alternativen. Dies betrifft das zweite der oben genannten Themen. Jeder Teil der Bewegung bringt seine eigene, sich von den anderen ein klein wenig unterscheidende Kritik an der heutigen Welt an: ihre Ideen können ökologisch gefärbt, geprägt von bestimmten ökonomischen Theorien oder kulturellen, nahrungsspezifischen oder sexuellen Orientierungen sein...die Liste liesse sich endlos ergänzen. Und sie erschöpfen sich nicht in blosser Kritik: jeder dieser Teile bietet seine eigene Lösung an. Damit musste aus dem Slogan „andere Globalisierung“ der Plural „andere Welten sind möglich“ werden. Die Vorschläge reichen von einer Welt ohne genmanipulierte Nahrungsmittel bis zu einer Welt der Selbstverwaltung, realisiert wohlverstanden über den Weg des klassischsten Staatskapitalismus. Da keine dieser politischen Alternativen den Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft durchbrechen könnte, stellen natürlich noch so viele solche Varianten keine Gefahr für die herrschende Klasse dar. Diese Alternativen bringen nichts als mehr oder weniger wichtige, mehr oder weniger utopische Verbesserungen der kapitalistischen Gesellschaft hervor, die alle mit der Herrschaft der Bourgeoisie verträglich sind. Tatsächlich ist die Bourgeoisie mit dieser Palette von „Lösungen“ gegen die Mängel des Systems gewappnet für die Konfrontation mit der Arbeiterklasse. Alle diese „Lösungen“ helfen, die einzige Perspektive, die fähig ist, dieser Barbarei und Armut ein Ende zu setzen, zu verschleiern: der Umsturz des dem Tode geweihten Kapitalismus, dem Ursprung aller dieser Mängel.
Das dritte Thema der Antiglobalisierungsbewegung ergibt sich aus den zwei ersten: nachdem der wahre Grund der kapitalistischen Armut und Barbarei und die einzige Perspektive, die alldem ein Ende setzen könnte, verschleiert sind, bleibt nur noch, die einzige hierfür fähige Kraft einzudämmen. Zu diesem Zweck unterstützt die Antiglobalisierungsbewegung eine Vielzahl von Bauernrevolten in der 3. Welt, José Bovés Bauernkonföderationen in Europa oder verzweifelte Angriffe des lokalen Kleinbürgertums gegen korrupte Diktaturen. Offensichtlich zeugen alle diese Revolten von einer Reaktion gegen die Misere, von der ein Grossteil der Menschheit betroffen ist. Aber bei keiner dieser Revolten findet sich auch nur die geringste Spur einer Lösung, um die von ihnen angegriffene kapitalistische Herrschaft auch umzustürzen.
Während mehr als eineinhalb Jahrhunderten hat die Arbeiterbewegung gezeigt, dass das Proletariat die einzige Kraft ist, welche die Gesellschaft verändern kann. Das Proletariat ist nicht die einzige Klasse, die gegen den Kapitalismus revoltiert, wohl aber die einzige, die den Schlüssel zur Überwindung des Kapitalismus bei sich trägt. Hierzu muss es sich nicht nur auf internationaler Ebene zusammenschliessen; es muss auch als autonome Klasse handeln, unabhängig von allen anderen Gesellschaftsklassen. Die Bourgeoisie ist sich darüber vollauf im klaren. Mit der Unterstützung von allen diesen nationalistischen kleinbürgerlichen Kämpfen will sie das Proletariat in eine Sackgasse drängen und der Entwicklung seines eigenen Bewusstseins und seiner eigenen Perspektive einen Riegel vorschieben.
Die Gefahr, welche die Bourgeoisie mit dieser Art von Mystifikation bannen will, ist nicht neu: das Proletariat hat seit dem Anbruch der kapitalistischen Dekadenz anfangs des 20. Jahrhunderts die potentielle Fähigkeit, den Kapitalismus umzustürzen. Und die herrschende Klasse begriff diese Gefahr seit dem Ersten Weltkrieg und der revolutionären Welle, die mit der Oktoberrevolution 1917 begann und während mehreren Jahren – von Deutschland 1919 bis China 1927 – an den Grundfesten des Kapitalismus rüttelte. Die Bourgeoisie wartete nicht bis 1990, um ihre Kampagnen zu starten. Schon seit über einem Jahrhundert sieht sich die Arbeiterklasse bezüglich der wahren Natur der Wirtschaftskrise, der kommunistischen Perspektive und des Potentials des Klassenkampfs ideologischen Angriffen ausgesetzt. Die Antiglobalisierungswelle ist also fest im bürgerlichen Denken verankert. Das Auftauchen dieser Bewegung drückt aber dennoch eine Veränderung der Klassenkonfrontation auf ideologischer Ebene aus. Diese Veränderung zwingt die herrschende Klasse, ihre mystifizierenden Methoden gegen das Proletariat anzuwenden.

Die Bourgeoisie braucht eine ideologische Erneuerung...

„Ein Gewinnerteam wechselt man nicht aus“, pflegen Sportkommentatoren zu sagen. Und weil die Voraussetzungen der bürgerlichen Mystifikationen, um die Arbeiterklasse von der Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins abzuhalten, keine grundsätzliche Veränderung durchmachen, ändert sich auch nicht die Art dieser Mystifikationen, wie wir oben gesehen haben. Als Vehikel dieser Mystifikationen zur Verschleierung des historischen Bankrotts der kapitalistischen Produktionsweise dienen traditionellerweise die Parteien der Linken (Stalinisten, Sozialdemokraten). Diese bieten der Arbeiterklasse falsche Alternativen und unterminieren jegliche Perspektive ihrer Kämpfe.
Diese Parteien haben schon seit dem Ausgang der 60er-Jahre, als die gegenwärtige Krise ihren Anfang nahm, und vor allem durch das Wiederauftauchen des Proletariats auf der historischen Bühne nach vier Dekaden der Konterrevolution (die wichtigen Streiks vom Mai 1968 in Frankreich, der „heisse Herbst“ von 1969 in Italien, etc.) ihre ideologische Wirkungskraft verloren. Der kraftvollen Zunahme der proletarischen Kämpfe entgegneten die linken Parteien, indem sie ihre Idee einer alternativen Regierungsweise hervorbrachten, welche den Forderungen der Arbeiter angeblich entgegenkommen würde. Teil dieser „Alternative“ war, dass der Staat bedeutend mehr Einfluss in der Wirtschaft haben sollte. Letztere war seit 1967 und mit dem Ende der Wiederaufbauperiode nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt von zunehmenden Erschütterungen. Die linken Parteien riefen die Arbeiterklasse zur Mässigung oder gar zum Stopp ihrer Kämpfe auf: sie sollte stattdessen ihrem Wunsch nach Veränderung an der Wahlurne Ausdruck verleihen und die Linke in die Regierung hieven. Diese würde die Interessen der Arbeiter begünstigen. Seither hat sich die Linke (besonders die Sozialdemokraten, aber zum Beispiel in Frankreich auch die „Kommunisten“) an zahlreichen Regierungen beteiligt. Dabei verteidigt sie nicht die Interessen der Arbeiter, sondern greift deren Lebensbedingungen an, um die Krise besser managen zu können. Darüber hinaus aber versetzte der Zusammenbruch des Ostblocks und der sogenannten „sozialistischen“ Regime Ende der 1980er-Jahre der Glaubwürdigkeit der „kommunistischen“ Parteien, welche diesen Regimes Rückhalt boten, einen herben Rückschlag. Damit ging auch ihr Einfluss in der Arbeiterklasse zurück.
Die sich verschärfende Krise bringt die Arbeiterklasse dazu, den Kampf wieder aufzunehmen. Gleichzeitig entsteht innerhalb der Arbeiterklasse allmählich eine Reflexion über die tatsächlichen Gesellschaftsverhältnisse. Zugleich geraten die Parteien, welche traditionellerweise die Interessen des Kapitals innerhalb der Reihen der Arbeiterklasse verteidigten, in ernsthaften Misskredit. Es fällt ihnen daher schwerer, ihre vergangene Rolle weiterhin zu spielen. Deshalb reihen sie sich bei den Manövern gegen die Debatten und die Unruhen innerhalb der Arbeiterklasse nicht an vorderster Front ein. Im Rampenlicht steht dagegen die Antiglobalisierungsbewegung. Diese hat die Mehrzahl der Themen, die ehemals zum Rüstzeug der linken Parteien gehörten, übernommen. Daher finden sich die linken Parteien (vor allem die „kommunistischen“) in der Antiglobalisierungsbewegung derart heimisch, mögen sie auch diskret und „kritisch“ bleiben. Diese Diskretion verhilft der Antiglobalisierungsbewegung lediglich zu einem „innovativen“2 Erscheinen und verhindert, dass diese im Voraus in Misskredit gerät.
Die bemerkenswerte Übereinstimmung der Mystifikationen der „alten Linken“ und der „anderen Globalisierung“ zeigt sich in machen zentralen Themen.

...oder wie eine alte Idee neu verpackt wird

Um einen Überblick über die Hauptthemen in der „anderen Globalisierung“ zu bekommen, wenden wir uns den Schriften der ATTAC3 zu, dem wichtigsten „theoretischen“ Organ dieser Bewegung.
ATTAC hatte ihre offizielle Geburtsstunde im Juni 1998 aufgrund mehrerer Kontaktaufnahmen, die einem Editorial von Ignacio Ramonet in der Dezemberausgabe 1997 der französischen Le Monde Diplomatique folgten. Das seitherige Wachstum der Mitgliederzahlen auf 30’000 Ende 2000 deutet den Erfolg dieser Organisation an. Zur Mitgliedschaft gehören über 1000 Organisationen (Gewerkschaften, Gemeinschaftsgruppen, lokale Vereinigungen von Ratsdelegierten), mehrere hundert französische Parlamentsmitglieder, viele Staatsangestellte, darunter vor allem Lehrer, und zahlreiche, in 250 lokale Komitees gruppierte Berühmtheiten aus Politik und Kunst.
Ausgangspunkt dieser mächtigen ideologischen Organisation war die Idee von der „Tobin Tax“, die wir James Tobin, Nobelpreisträger in Ökonomie, verdanken. Tobin zufolge würde eine Steuer von 0,05% auf grenzüberschreitende Finanztransaktionen ermöglichen, diese zu regulieren und eine wuchernde Spekulation zu verhindern. Vor allem aber könnten mit dieser Steuer, so ATTAC, die Fonds armen Ländern als Entwicklungshilfe zugewiesen werden.4
Warum eine solche Steuer? Um, so ATTAC, im selben Zuge diesen Finanztransaktionen entgegenzutreten und zugleich von ihnen zu profitieren (was zumindest widersprüchlich ist, denn warum soll man eine Profitmöglichkeit zerstören wollen?). Sie symbolisieren die Globalisierung der Wirtschaft, die – verallgemeinert – die Reichen reicher und die Armen ärmer macht.
Ausgangspunkt von ATTACs Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft ist folgender: „Die Globalisierung der Finanzwelt verschärft die wirtschaftliche Unsicherheit und die soziale Ungleichheit. Sie übergeht und degradiert den Volksentscheid, die demokratischen Institutionen und die Souveränität von Staaten auf Kosten des allgemeinen Interesses. Stattdessen vertritt sie die gänzlich spekulative Logik, welche die Hauptinteressen der transnationalen Unternehmen und Finanzmärkte ausdrückt.“5
Was ist der ATTAC zufolge die Ursache für diese Wirtschaftsentwicklung? Wir finden darauf folgende Antworten: „Eine der bedeutendsten Fakten des späten 20. Jahrhunderts war die wachsende Macht der Finanzen in der Wirtschaftswelt: dies ist der Prozess der finanziellen Globalisierung, das Resultat der von den Regierungen der G7 auferlegten politischen Entscheide.“
Die Erklärung dieses Wandels im ausgehenden 20. Jahrhundert folgt später: „Im Rahmen des ,fordistischen‘ Kompromisses6, der bis in die 1970er wirkte, kamen Bosse und Lohnempfänger zu einer Übereinkunft, indem eine Aufteilung der Produktivitätssteigerung innerhalb des Unternehmens vereinbart wurde. Dadurch konnte die Aufteilung von Mehrwert erhalten bleiben. Das Aufkommen des Aktionärskapitalismus bedeutete den Untergang dieses Regimes. Das traditionelle Modell, bekannt als das ,Teilhabermodell‘ und verstanden als Interessensgemeinschaft dreier Partner innerhalb des Unternehmens, musste einem neuen ,Aktionärsmodell‘ weichen. Dieses räumt den Interessen der Besitzer von Börsenkapital, mit anderen Worten den Unternehmensfonds selbst, oberste Priorität ein.“7 Und weiter: „Hauptzweck der an der Börse notierten Unternehmen ist es, ,Aktionärswert zu schaffen‘, also eine Wertsteigerung der Aktien zu erzielen, um Mehrwert zu erzeugen und den Reichtum der Aktionäre zu vergrössern.“8
Folgen wir weiter der Argumentation der Antiglobalisierungsbewegung, so verursachte die neue Richtung der Regierungen der G7 einen Wandel in der Geschäftswelt. Die multinationalen Unternehmen und grossen Finanzinstitutionen konnten aus der Warenproduktion keinen Profit mehr erzielen und „übten daher Druck auf Unternehmen aus, damit diese auf Kosten produktiver Investition grösstmögliche Dividenden ausschütten“.
Die bisher aufgeführten Zitate der Antiglobalisierungsbewegung genügen, um folgende drei Aspekte zu verdeutlichen:
–    diese Bewegung hat nichts neuartiges erfunden
–    die Ideologie dieser Bewegung ist gänzlich bürgerlich
–    die Ideen der Antiglobalisierungsbewegung sind eine Gefahr für die Arbeiterklasse
Die heutigen „Transnationalen“, die sich angeblich der Kontrolle des Staates entziehen, sind den „Multinationalen“, die von den linken Parteien wegen denselben Sünden schon in den 1970er-Jahren angegriffen wurden, bemerkenswert ähnlich. Tatsächlich ist es einerlei, ob man sie „multinational“ oder „transnational“ nennt: diese Unternehmen haben durchaus eine Nationalität, nämlich diejenige der Mehrheit ihrer Aktionäre. Die Multinationalen sind im Allgemeinen die grossen Unternehmen der mächtigsten Staaten – allen voran der USA. Zusammen mit den militärischen und diplomatischen Waffen gehören sie zu den Instrumenten der imperialistischen Politik dieser Staaten. Und wenn dieser oder jener Nationalstaat (wie etwa die „Bananenrepubliken“) dem Diktat irgendeines riesigen Multinationalen unterworfen ist, so bedeutet das grundsätzlich nur, dass jener bestimmte Staat derjenigen Grossmacht unterliegt, auf der dieses multinationale Unternehmen basiert.
Schon während der 1970er-Jahre verlangte die Linke nach „mehr Staat“, um die Macht dieser „modernen Monster“ zu beschränken und den von ihnen produzierten Reichtum gerechter zu verteilen. Bis hierher haben ATTAC & Co also absolut nichts Neues hervorgebracht. Vor allem müssen wir die trügerische Idee verwerfen, als wäre der Staat jemals ein Instrument zur Interessensverteidigung der Ausgebeuteten gewesen. Das Gegenteil ist der Fall: der Staat ist ein Instrument zur Verteidigung der herrschenden Ordnung und also der Interessen der Herrschenden und Ausbeutenden. Unter bestimmten Umständen mag der Staat, um seine Rolle besser wahrzunehmen, sich diesem oder jenem Teil der herrschenden Klasse entgegensetzen. Dies zeigt sich etwa anhand einiger Massnahmen der britischen Regierung in der Wachstumsphase des Kapitalismus. Die britische Regierung verabschiedete Gesetze, um die Ausbeutung der Arbeitskraft, besonders der Kinder, einzugrenzen. Obwohl mancher Kapitalist diese Gesetze als seinen Interessen zuwider laufend empfand, konnten sie verhindern, dass die Arbeitskraft – Quelle allen kapitalistischen Wohlstands – schon vor ihrer Volljährigkeit en masse zerstört würde. Als zweites Beispiel sei an die Massnahmen des Nazistaates erinnert, der bestimmte Sektionen der herrschenden Klasse (vor allem die jüdische Bourgeoisie) verfolgte, was natürlich nicht im Interesse der Unterdrückten geschah.
Der Wohlfahrtsstaat ist vor allem ein Mythos mit dem Ziel, die Unterdrückten dahin zu bringen, den Fortgang der kapitalistischen Unterdrückung und die Herrschaft der Bourgeoisie zu akzeptieren. Im Niedergang der kapitalistischen Wirtschaft zeigt der Staat – ob „links“ oder „rechts“ – sein wahres Gesicht: Löhne werden eingefroren, „Sozialbudgets“, Ausgaben im Gesundheitssektor, Arbeitslosenunterstützung und Renten werden gekürzt. Und wenn die Arbeiter sich weigern, solche Opfer zu erbringen, so ist es wiederum der Staat, der ihnen mit Schlagstock, Tränengas und Verhaftungen, und, wenn alles nichts nützt, mit Kugeln, entgegentritt.
Die Anhänger der Antiglobalisierungsbewegung wollen in der besten Tradition der klassischen Linken tatsächlich die Vorstellung von einem Staat verbreiten, der fähig wäre, die Interessen der Unterdrückten gegen die multinationalen Konzerne zu verteidigen. Deshalb sprechen sie von einem möglichen „guten Kapitalismus“, der dem „schlechten Kapitalismus“ entgegengesetzt wäre.
Nun aber wird diese Idee durch die „Entdeckung“ von ATTAC, dass Profit der Hauptzweck des Kapitalisten ist, zu einer äusserst grotesken Karikatur, begleitet vom Gerede über Unterschiede zwischen „Aktionären“ und „Teilhabern“. ATTAC erklärt uns nun, dass Kapitalisten investieren, um Profite zu machen - eine Charakteristik, die seit der Geburtsstunde des Kapitalismus ihre Gültigkeit hat.
Was die „strikt spekulative Logik“ anbetrifft, ausgelöst angeblich durch die „Globalisierung der Finanzwelt“, so wurde dafür kaum an irgendeinem Treffen der G7 oder durch die Machtübernahme eines Ronald Reagan oder einer Margaret Thatcher der Startschuss gesetzt. Die Spekulation ist so alt wie der Kapitalismus selbst. Im 19. Jahrhundert hob Marx schon hervor, dass bei einer sich anbahnenden Überproduktionskrise die Spekulation der produktiven Investition tendenziell vorgezogen wird. Die Bourgeois verstanden pragmatisch, dass bei einer Sättigung des Marktes die von ihnen mit eigens gekauften Maschinen produzierten Waren möglicherweise nicht abgesetzt werden können. Dadurch kann weder der in ihnen enthaltene Mehrwert (erzeugt durch die Arbeiter, welche die Maschinen in Bewegung setzten), noch der Wert des Startkapitals realisiert werden. Aus diesem Grund schienen Handelskrisen, wie Marx bemerkte, als Resultat der Spekulation, während in Wirklichkeit die Spekulation nichts anderes als ein vorzeitiges Krisenwarnzeichen ist. In gleicher Weise sind die Spekulationen, die wir heute wahrnehmen, nicht Resultat eines fehlerhaften Verhaltens dieser oder jener kapitalistischen Gruppe, der es an Bürgernähe fehlt, sondern Ausdruck der allgemeinen Krise des Kapitalismus.
Hinter der grotesken Stupidität der „wissenschaftlichen Analysen“ von den „Antiglobalisierungsexperten“ steckt eine Idee, die von den Verteidigern des Kapitalismus seit langer Zeit benutzt wurde, um die Arbeiterklasse von einer revolutionären Perspektive abzubringen. Mitte des 19. Jahrhunderts versuchte der kleinbürgerliche Sozialist Proudhon, die „guten“ von den „schlechten“ Seiten des Kapitalismus zu scheiden und setzte sich für eine Art „fairen Handel“ und industrielle Selbstverwaltung (Kooperativen) ein.
Später war es die reformistische Strömung innerhalb der Arbeiterbewegung, und darin besonders ihr Haupttheoretiker Bernstein, der die Vorstellung eines Kapitalismus vertrat, der zunehmend den Interessen der Ausgebeuteten genügen könnte, wenn nur der Druck der Arbeiterklasse ihn dazu zwingen würde. Dies sollte im Rahmen der bürgerlichen Institutionen wie etwa dem Parlament geschehen. Ziel des Kampfes der Arbeiterklasse sollte es demnach sein, den „guten“ Kapitalisten ihren Triumph über die „schlechten“ Kapitalisten zu sichern. Denn Letztere würden aufgrund ihres Egoismus oder ihrer Kurzsichtigkeit die „positive“ Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft verhindern.
Heute sind es ATTAC und ihre Sympathisanten, welche eine Rückkehr zum „fordistischen Kompromiss“ vorschlagen, der vor masslosen Aufblähung der Finanzsphäre existiert und unter Arbeitern und Kapitalisten die „Aufteilung des Mehrwerts garantiert“ haben soll. Die Bewegung der „anderen Globalisierung“ erweitert damit die Palette des bürgerlichen Mystifikationsapparates:
–     indem sie der Idee Vorschub leistet, der Kapitalismus könnte von seinen Angriffen gegen die Arbeiterklasse ablassen; in Wirklichkeit aber entspringen diese Angriffe einer Krise, die vom System nicht überwunden werden kann;
–    indem sie davon ausgeht, dass die Grund-
lagen für einen „Kompromiss“ zwischen Arbeit und Kapital vorhanden wären;
Zusammengefasst bedeutet dies, dass die Arbeiter davon abgehalten werden, gegen die kapitalistische Produktionsform zu kämpfen, welche tatsächlich verantwortlich ist für die zunehmende Ausbeutung, die um sich greifende weltweite Barbarei und das sich zuspitzende Elend. Vielmehr werden die Arbeiter dazu angehalten, eine abstruse chimärische Version desselben Systems zu verteidigen. Sie sollten also mit anderen Worten anstelle ihrer eigenen Interessen diejenigen ihres Todfeindes, der Bourgeoisie, verteidigen.
Es ist heute oberste Priorität, die Antiglobalisierungsbewegung zu denunzieren und auf breiter Ebene zu intervenieren, um gegen ihre Ideen zu kämpfen. Diese Priorität gilt für alle proletarischen Elemente, die sich bewusst sind, dass heute die einzige alternative Weltordnung diejenige des Kommunismus ist, und dass der Kommunismus einzig durch eine absolut standfeste Opposition gegen die Bourgeoisie und alle ihre Ideologien erbaut werden kann. Die „andere Globalisierung“ ist nur die jüngste Verkörperung dieser Ideologie. Sie muss ebenso energisch wie die Sozialdemokratie und der Stalinismus bekämpft werden.

                    Günter

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Gegen die Mystifikationen des Europäischen Sozialforums

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Nur eine andere Welt ist möglich: Der Kommunismus!

Zwischen dem 12. und 15. November 2003 wurde in Paris das „Europäische Sozialforum“ (ESF) abgehalten, eine Art europäischer Ableger des Weltsozialforums, das mehrere Jahre hintereinander im brasilianischen Porto Allegre stattgefunden hatte (2002 wurde das ESF in Florenz, Italien, abgehalten, und für 2004 ist es in London geplant). Das ESF hat mittlerweile beträchtliche Dimensionen angenommen: Laut den Organisatoren nahmen rund 40.000 Menschen aus allen möglichen europäischen Ländern (von Portugal bis Osteuropa) teil, ein Programm von 600 Seminaren und Workshops in den verschiedensten Tagungsorten (Theatergebäude, Rathäuser, prestigeträchtige öffentliche Gebäude) erstreckte sich über ganz Paris, und zum Abschluss fand eine Grossdemonstration von 60–100.000 Menschen mit den unverbesserlichen italienischen Stalinisten von Rifondazione Comunista an der Spitze und den Anarchisten der CNT als Nachhut statt. Auch wenn sie wenig öffentliche Aufmerksamkeit ernteten, fanden neben dem ESF zeitgleich zwei weitere „europäische Sozialforen“ statt, eines für die Mitglieder des Europäischen Parlaments, das andere für Gewerkschafter. Und als seien drei „Foren“ nicht genug, organisierten die Anarchisten ein „Libertäres Sozialforum“ (LSF) in der Pariser Metro, zur gleichen Zeit wie das ESF und bewusst als Alternative zu ihm dargestellt.
„Eine andere Welt ist möglich!“ Dies war einer der grossen Slogans des ESF. Und es besteht kein Zweifel daran, dass für viele der Demonstranten am 15. November, vielleicht gerade unter den jungen Leuten, die erst politisch aktiv werden, ein wahrhaftes und drückendes Bedürfnis bestand, gegen den Kapitalismus und für eine „andere Welt“ im Gegensatz zur heutigen mit ihrer grenzenlosen Armut und ihren endlosen und abscheulichen Kriegen zu kämpfen. Zweifellos wurden einige von ihnen durch das Gemeinschaftsgefühl auf diesem Zusammentreffen inspiriert. Doch das Problem ist nicht nur zu wissen, dass „eine andere Welt möglich“ – und notwendig – ist, sondern auch und vor allem zu wissen, welche Art von Welt sie sein soll und wie man sie errichtet.

Eine Antwort auf diese Frage kann das ESF schwerlich anbieten. Angesichts der Unmenge und Unterschiedlichkeit der teilnehmenden Organisationen (von Organisationen der „Jungen Manager“ und „Jungen Unternehmer“ über christliche Vereinigungen bis hin zu Trotzkisten wie LCR und SWP, Stalinisten der KPF und von Rifondazione und selbst Anarchisten wie Alternative Libertaire) fällt es schwer zu glauben, dass das ESF auch nur eine kohärente Antwort oder überhaupt eine Antwort geben kann. Jedermann ist darum bemüht, seine eigenen Ideen zur Geltung zu bringen, daher die enorme Mannigfaltigkeit der Themen, die in Flugblättern, Debatten und Slogans zum Ausdruck kamen. Jedoch stellt sich bei näherem Hinschauen heraus, dass die Ideen, die aus dem ESF kommen, erstens nichts Neues enthalten und zweitens auch absolut nichts „Antikapitalistisches“ in sich bergen.
Die breite Mobilisierung rund um das ESF plus die Öffentlichkeit, die diese Masse an Themen der „Antiglobalisierungs“-Tendenz in so vielen linken und linksextremen Gruppen erfuhr, veranlasste die IKS dazu, mit aller Entschlossenheit, die in unseren Kräften steht, bei diesem Ereignis zu intervenieren. Da wir vermuteten, dass die „Debatten“ des ESF im Voraus inszeniert wurden (ein Verdacht, der von etlichen Teilnehmern dieser Debatten uns gegenüber bestätigt wurde), konzentrierten sich unsere Militanten, die von überall aus Europa herkamen, auf den Verkauf unserer Presse und auf die Teilnahme an den informellen Diskussionen rund um das ESF und während der Abschlussdemonstration. Ausserdem waren wir auf dem LSF anwesend, um in den Debatten zu intervenieren und die Perspektive des Kommunismus gegen den Anarchismus in den Vordergrund zu rücken.

Eine Welt ohne Handel und Austausch?

„Die Welt steht nicht zum Verkauf“ ist ein beliebter Slogan, der in vielen Versionen konkretisiert wurde: „Die Kultur steht nicht zum Verkauf“ für die Künstler und Theaterangestellten1, „Die Gesundheit steht nicht zum Verkauf“ für die Krankenschwestern und das Krankenhauspersonal oder „Die Erziehung steht nicht zum Verkauf“ für die Lehrer.

Wer wäre nicht berührt von solchen Slogans? Wer möchte schon gern seine Gesundheit oder die Erziehung seiner Kinder verkaufen?
Doch wenn wir die Realität hinter diesen Slogans betrachten, beginnen wir, den Braten zu riechen. Tatsächlich bereitet das, was vorgeschlagen wird, dem „Ausverkauf der Erde“ kein Ende, sondern begrenzt ihn allenfalls: „Befreiung der sozialen Dienste von der Logik des Marktes“. Was bedeutet dies konkret? Wir alle wissen, dass, seitdem der Kapitalismus existiert, alles bezahlt werden Muss, selbst der Gesundheitsdienst oder das Erziehungswesen. All jene Aspekte des gesellschaftlichen Lebens, die die „Antiglobalisierer“ angeblich „von der Logik des Marktes befreien“ wollen, sind tatsächlich Teil des Gesamtlohns der Arbeiter, ein Teil, der üblicherweise vom Staat verwaltet wird. Weit entfernt davon, „von der Logik des Marktes befreit“ zu sein, ist das Lohnniveau, jenes Äquivalent an Produktion, das an die Arbeiterklasse zurückgeht, eine Frage des Marktes und betrifft den Kern der kapitalistischen Ausbeutung. Das Kapital bezahlt seine Arbeitskraft stets so gering wie möglich, mit anderen Worten: mit einem Minimum dessen, was für die Reproduktion der nächsten Arbeitergeneration notwendig ist. Heute, wo die Welt in eine immer tiefere Krise stürzt, benötigt jedes nationale Kapital immer weniger Hände und Muss jene Hände, die es noch benötigt, immer geringer entlohnen, wenn es nicht von seinen Konkurrenten auf dem Weltmarkt eliminiert werden will. In dieser Situation kann die Arbeiterklasse die Reduzierung ihrer Löhne – wie „sozial“ sie auch sein mag - nur durch ihren eigenen Kampf abwehren, und nicht, indem man den kapitalistischen Staat dazu auffordert, seine Löhne von den Marktgesetzen zu „befreien“, etwas, wozu der Staat vollkommen unfähig wäre, selbst wenn er wollte.
In der kapitalistischen Gesellschaft kann das Proletariat kraft seines eigenen Kampfes bestenfalls eine günstigere Aufteilung des Sozialprodukts erzwingen: Es kann die Mehrwertrate, die die kapitalistische Klasse extrahiert, zu Gunsten des variablen Kapitals – d.h. der Löhne – reduzieren. Aber dies in heutigem Zusammenhang zu tun, erfordert zunächst ein hohes Kampfniveau (wie wir nach der Niederlage der Kämpfe in Frankreich im Mai 2003 sahen, die stürmischen Angriffen gegen den Soziallohn folgten) und kann zweitens nur von vorübergehender Natur sein (wie wir nach der Bewegung von 1968 gesehen haben).
Nein, die Idee, dass „die Welt“ nicht zum Verkauf steht, ist nichts anderes als ein erbärmlicher Schwindel. Die eigentliche Natur des Kapitalismus besteht genau darin, dass alles zum Verkauf steht, und die Arbeiterbewegung weiss dies seit 1848: „Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt (...) Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.“ So formulierten es Marx und Engels im Kommunistischen Manifest: Es zeigt nur, wie gültig ihre Prinzipien heute bleiben!

Fairer Handel statt freier Handel?

„Fairer Handel, nicht freier Handel!“ war ein anderes Hauptthema auf dem ESF, das durch die Anwesenheit französischer Kleineigentümer mit ihrem „Bio“-Käse und anderen Produkten grossen Auftrieb erhielt. Wer sehe denn nicht auch gern die Bauern und kleinen Handwerker in der Dritten Welt anständig von den Früchten ihrer Arbeit leben? Wer möchte denn nicht die Dampfwalze der Agrarindustrie dabei aufhalten, die Bauern von ihrem Land zu werfen und zu Millionen in die Slums von Mexiko City und Kalkutta zu pferchen?
Doch wie in der Frage des Marktes sind auch hier schöne Gefühle ein schlechter Ratgeber.
Zunächst einmal ist an der „Freihandels“-Bewegung überhaupt nichts Neues. Das Geschäft mit der Wohltätigkeit (mit Gesellschaften wie Oxfam, die selbstverständlich auf dem ESF anwesend waren) hat „Freihandel“ für Handwerke praktiziert und seit über 40 Jahren deren Produkte in ihren Geschäften verkauft, ohne auch nur im Mindesten verhindert zu haben, dass Millionen von Menschen in Afrika, Asien oder Lateinamerika in die Armut gestürzt wurden.
Darüber hinaus ist dieser Slogan aus den Mündern der „Antikapitalisten“ gleich zweifach heuchlerisch. Jemand wie José Bové, Präsident der französischen Bauernunion, kann ausgiebig den antikapitalistischen Superstar spielen, indem er die Lebensmittelindustrie und den Teufel McDonalds denunziert. Dies hindert jedoch die Mitglieder derselben Bauernunion nicht daran, für die Forderung zu demonstrieren, die Subventionen, die sie im Rahmen der europäischen Agrarpolitik2 bekommen, aufrechtzuerhalten. Indem sie die Preise der französischen Agrarprodukte mit ihren Subventionen niedrig hält, ist gerade die EU-Agrarpolitik eines der Hauptinstrumente für die Aufrechterhaltung des unfairen Handels zum Vorteil des einen und unvermeidlich zum Nachteil des anderen. Ähnlich bedeutet „fairer Handel“ für die amerikanische Stahlindustrie, für die die Gewerkschafter in Seattle demonstriert hatten und wofür sie seither berühmt geworden sind, Zolltarife auf den Import „ausländischer“ Stahlprodukte, die billiger produziert werden, zu erheben. Letztendlich ist „fairer Handel“ lediglich ein anderer Name für Handelskriege.
Im Kapitalismus ist der Begriff der „Fairness“ ohnehin eine Illusion. Wie Engels es bereits 1881 in einem Artikel sagte, als er den Begriff des „gerechten Lohns“ kritisierte: „Die Gerechtigkeit der politischen Ökonomie, wie sie in Wirklichkeit die Gesetze fixiert, die die bestehende Gesellschaft beherrschen, diese Gerechtigkeit ist ganz anders auf der einen Seite – auf der des Kapitals.“ (Engels, Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk, 7. Mai 1881, Werke Bd. 19, S. 249/250)
Der dreisteste Schwindel in diesem ganzen Geschäft mit dem „fairen Handel“ ist die Idee, dass die Anwesenheit von „antiglobalistischen“ Demonstranten in Seattle oder Cancun die Verhandlungsführer aus den Drittweltländern ermutigt habe, gegen die Forderungen der „reichen Länder“ aufzubegehren. Wir wollen hier nicht näher auf die Tatsache eingehen, dass der Gipfel von Cancun in einer bitteren Niederlage für die schwächeren Länder endete, da die Europäer nicht ihre Agrarpolitik ändern und die Amerikaner damit fortfahren, die amerikanischer Farmer massiv gegen die Billigimporte aus den armen Ländern zu subventionieren. Nein, was wirklich widerwärtig ist, ist, darauf zu vertrauen, dass die Regierungsmitglieder und die Bürokraten der Drittweltländer an diesen Verhandlungen teilnahmen, um die Bauern und Armen zu vertreten. Das Gegenteil ist der Fall! Um nur ein Beispiel zu nehmen: Als Brasiliens Lula die US-Zolltarife denunzierte, die auf importierten Orangensaft erhoben wurden, um die amerikanische Orangenindustrie zu schützen, da hatte er nicht die armen Bauern im Sinn, sondern die enormen kapitalistischen Orangenplantagen Brasiliens, wo die Arbeiter ähnlich schuften wie auf den Orangenplantagen Floridas.

Keine Unterstützung des bürgerlichen Staates!

Der gemeinsame Faden, der sich durch all diese Themen zieht, ist folgender: Gegen die „Neoliberalen“ und die „transnationalen“ Gesellschaften (jene üblen „Multis“, gegen die die antiglobalistischen Vorgänger bereits in den 70er-Jahren gewettert hatten) werden wir dazu angehalten, unser Vertrauen in den Staat zu setzen oder, noch besser, den Staat zu stärken. Die „Antiglobalisten“ behaupten, dass das Business die Macht vom „demokratischen“ Staat konfisziert habe, um seine eigenen „kommerziellen“ Gesetze durchzusetzen, und dass daher der „Widerstand der Bürger“ notwendig sei, um die Staatsmacht und den „öffentlichen Dienst“ wiederzubeleben.
Welch ein Gaunerstück! Nirgendwo ist heute der Staat präsenter als in der Wirtschaft, auch in den Vereinigten Staaten. Es ist der Staat, der den Weltmarkt reguliert, indem er die Leitzinsen, Zolltarife usw. festlegt. Der Staat ist der Hauptakteur in der nationalen Binnenwirtschaft, mit öffentlichen Ausgaben von – abhängig von Land zu Land – 30 bis 50 % des BSP und mit ständig wachsenden Staatsdefiziten. Noch wichtiger als dies ist Folgendes: Wann immer die Arbeiter kapieren, dass sie ihre Lebensbedingungen gegen die Angriffe der Kapitalisten verteidigen müssen – wer, wenn nicht die Polizeikräfte des Staates, stellt sich ihnen gleich von Anbeginn in den Weg? Zu fordern – wie es die „Antiglobalisten“ tun“ – dass der Staat gestärkt werden soll, damit er uns gegen die Kapitalisten verteidigt, ist wirklich ein gigantischer Schwindel: Der bürgerliche Staat ist dafür da, die Bourgeoisie gegen die Arbeiter zu beschützen, und nicht umgekehrt. 3
Es kommt nicht von ungefähr, dass das ESF diesen Aufruf fabriziert, den Staat und besonders seine linken Fraktionen zu unterstützen, die als die besten Vertreter der „Zivilgesellschaft“ gegen den „Neoliberalismus“ vorgestellt werden. Wie das Sprichwort sagt, bestimmt der die Melodie, der auch zahlt, und es ist äusserst aufschlussreich, einen Blick auf die Finanziers der 3,7 Millionen Euro Kosten für das ESF zu werfen:
–    Zunächst einmal trugen die lokalen Behörden von Seine-St.Denis, Val de Marne und Essonne mehr als 600.000 Euros dazu bei, während die Stadt von St.Denis allein 570.000 Euros abzweigte.4 In der Tat ist es die französische „Kommunistische“ Partei – jene stalinistische Schurkenbande – die nach Jahren der Komplizenschaft an den vom stalinistischen Staat in Russland begangenen Verbrechen und nach Jahrzehnten der Sabotage des Arbeiterkampfes ihre politische Unschuld käuflich wiedererwerben möchte.
–     Die französische Sozialistische Partei ist durch die Angriffe, die sie in ihrer Regierungszeit gegen die Arbeiter unternommen hatten, am meisten diskreditiert, und es ist wahr, dass die Zuhörer auf dem ESF nicht die Gelegenheit versäumten, sich über Laurent Fabius (einen bekannten sozialistischen Führer) lustig zu machen, als er es wagte, sich in den Debatten einzumischen. Man könnte meinen, dass die PS nicht versessen auf das ESF ist, doch ganz im Gegenteil! Die Stadt Paris (kontrolliert von der PS) trug eine Million Euro zur Begleichung der Kosten des ESF bei.
–    Und die französische Regierung? Eine rechte, durch und durch neoliberale französische Regierung, in Artikeln, Flugblättern und Plakaten von der gesamten Linken, von den Anarchisten bis zu den Stalinisten, denunziert – wird sie nicht wenigstens beunruhigt sein, wenn sie sieht, dass das Forum so viele Menschen anzieht? Nein, überhaupt nicht! Durch die persönliche Anordnung des Präsidenten Jacques Chirac trug das Aussenministerium 500.000 Euros für das ESF bei.
Wer zahlt, möchte sicherlich einen Profit erzielen! Das ESF wurde von der gesamten französischen Bourgeoisie, von der Linken bis zur Rechten, grosszügig finanziert und ausgehalten. Und nun beabsichtigt die gesamte französische Bourgeoisie, von links bis rechts, vom unbestreitbaren Erfolg des ESF zu nutzniessen, und zwar besonders auf zwei Ebenen:
–    Erstens ist das ESF ein Mittel für den linken Flügel des Staatsapparates, sich selbst zu erneuern (nachdem er durch die Jahre an der Regierung diskreditiert wurde, wo er den Lebensbedingungen der Arbeiter einen Schlag nach dem anderen versetzt und die Verantwortung für die imperialistische Politik des französischen Imperialismus übernommen hatte). Da politische Parteien nicht mehr in Mode sind, verkleiden sie sich als „Vereine“, um sich selbst einen Hauch von „Bürger“, „Demokratie“, „Netzwerk“ zu verleihen: Die KPF trat in der Form ihrer „Espace Karl Marx“ auf, die PS mit ihrer „Fondation Léo Lagrange“ und „Jean Jaurès“.5 Wir sollten betonen, dass nicht nur die Linke ein Interesse daran hat, uns ihre vergangenen Untaten vergessen zu machen – was eh jedem klar ist. Die gesamte herrschende Klasse hat ein Interesse daran, die gesellschaftlichen Fronten zu kaschieren, sicherzustellen, dass die Arbeiterkämpfe – ja, viel allgemeiner, der Abscheu und das Hinterfragen, die durch die kapitalistische Gesellschaft provoziert werden – in die Richtung der alten reformistischen Rezepte gelenkt werden, und zu verhindern, dass es zu einer Bewusstseinsbildung kommt, die notwendig ist, um die kapitalistische Ordnung zu stürzen und all ihren Krankheiten ein Ende zu bereiten.
–    Zweitens hat die gesamte französische Bourgeoisie ein Interesse an der Ausweitung und Stärkung der deutlich antiamerikanischen Atmosphäre auf dem ESF. Die enorme Zerstörung und der fürchterliche Menschenverlust in den beiden Weltkriegen und vor allem die Wiederbelebung des Klassenkampfes  sowie das Ende der Konterrevolution 1968 haben dazu beigetragen, den Nationalismus zu diskreditieren, den die Bourgeoisie dazu benutzt, um die Völker wie 1914 oder 1939 in das Gemetzel zu schicken. Konsequenterweise haben, auch wenn es nicht so etwas wie einen „europäischen Block“ und noch weniger eine „europäische Nation“ gibt, die Bourgeoisien der verschiedenen europäischen Länder, besonders in Frankreich und Deutschland, ein Interesse daran, das Entstehen eines antiamerikanischen und eines vagen „pro-europäischen“ Gefühls zu ermutigen, mit der Absicht, die Verteidigung ihrer eigenen imperialistischen Interessen gegen den US-Imperialismus als die Verteidigung einer „anderen“ oder gar „antikapitalistischen“ Weltsicht zu präsentieren. Zum Beispiel ist die „antiglobalistische“ Unterstützung für einen Bann gegen den Import von amerikanischen GMOs nach Frankreich im Namen der „Ökologie“ und der „Verteidigung der öffentlichen Gesundheit“ in Wahrheit nichts anderes als eine Episode im Wirtschaftskrieg, dazu bestimmt, der französischen Forschung Zeit zu geben, mit ihren amerikanischen Rivalen auf diesem Gebiet gleichzuziehen.6
Moderne Marketingtechniken verkaufen Produkte nicht mehr direkt, sie benutzen ein ganzes System, das sowohl subtil als auch effektiver ist: Sie verkaufen eine „Weltsicht“, einen „Life Style“, dem sie Produkte beifügen, die angeblich jenen Stil verkörpern. Die Organisatoren des ESF nutzen exakt dieselbe Methode: Sie offerieren uns eine unwahre „Weltsicht“, in der Kapitalismus nicht mehr kapitalistisch ist, die Nationen nicht mehr imperialistisch sind und eine „andere Welt“ ohne kommunistische Revolution möglich ist. Sodann versuchen sie im Namen dieser „Vision“, uns alte Produkte mit längst überschrittenem Mindesthaltbarkeitsdatum unterzujubeln: die so genannten „kommunistischen“ und „sozialistischen“ Parteien, bei dieser Gelegenheit als „Bürgerinitiativen“ verkleidet.
Da die französische Bourgeoisie die Gelder für dieses Ereignis herausgerückt hat, ist es nur normal, dass ihre politischen Parteien die ersten sein wollen, die vom ESF profitieren. Doch sollten wir uns nicht einbilden, dass diese Angelegenheit allein von der französischen herrschenden Klasse inszeniert worden war – bei weitem nicht. Die Kampagne zur Erneuerung der Glaubwürdigkeit des linken Flügels der Bourgeoisie, in mannigfaltigen europäischen und weltweiten „Sozialforen“ praktiziert, dient der gesamten kapitalistischen Klasse weltweit.

Eine andere libertäre Welt?  

Das „Libertäre Sozialforum“ war ausdrücklich als eine Alternative zum eher „offiziellen“ Forum angekündigt worden, das von den grossen bürgerlichen Parteien organisiert worden war. Man mag sich die Frage stellen, wie alternativ Ersteres tatsächlich war: Einer der Hauptorganisatoren des LSF (die Alternative Libertaire) nahm auch als aktiver Part am ESF teil und die LSF-Demonstration schloss sich nach einem kurzen „unabhängigen“ Bummel der grossen ESF-Demo an.
Wir beabsichtigen nicht, ausführlich darüber zu berichten, worüber auf dem LSF gesprochen wurde, und wollen nur einige der wichtigen Themen erwähnen.
Wir wollen mit der „Debatte“ über „selbstverwaltete Räume“ (Hausbesetzungen, Wohngemeinschaften, Dienstleistungsnetzwerke, „Alternative Cafés“, etc.) beginnen. Wenn wir das Wort „Debatte“ in Anführungszeichen setzen, dann deshalb, weil die Diskussionsleitung alles Mögliche tat, um die Diskussion auf blosse Beschreibungen der entsprechenden „Freiräume“ durch die Teilnehmer zu beschränken und jede Art der kritischen Einschätzung selbst aus dem anarchistischen Lager zu verhindern. Es wurde schnell offenbar, dass „self-management“ etwas sehr Relatives ist: Ein Teilnehmer aus Grossbritannien erklärte, dass sie ihren „Freiraum“ für die erkleckliche Summe von £ 350.000 (500.000 Euros) erkauft haben; andere zählten die Gründung eines „Freiraums“ .... im Internet auf, eine Kreation der, wie wir alle wissen, US DARPA.7
Noch verräterischer war die Praxis, die diese vielfältigen „Freiräume“ vorschlugen: eine freie und „alternative“ Pharmazie (d.h. Amateur-Kräutermittel), legale Beratungsdienste, Cafés, Austausch von Diensten, etc. Mit anderen Worten, eine Mischung aus kleinen Ladenbesitzern und Sozialdiensten, die gerade von den staatlichen Kürzungen abgeschafft wurden. Mit anderen Worten: Das Äusserste im anarchistischen Radikalismus ist es, staatliche Funktionen zu übernehmen, ohne dafür bezahlt zu werden.
Eine andere Debatte über „unentgeltliche öffentliche Dienste“ enthüllte in aller Vollständigkeit die Leere des offiziellen, ehrbaren Anarchismus. Es wurde behauptet, dass die „öffentlichen Dienste“ irgendwie eine Opposition gegen die Marktwirtschaft in sich trügen, indem sie Bedürfnisse der Bevölkerung umsonst befriedigen – und „selbstverwaltet“ selbstverständlich, mit Kundenkomitees, Produzentenkomitees und Gemeindekomitees. Diese Komitees und die „lokalen Komitees“, die derzeit vom französischen Staat für die Bewohner der Pariser Vorstädte aufgebaut werden, gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Die Frage wurde so gestellt, als sei es möglich, eine institutionelle Opposition innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu installieren, zum Beispiel indem man einen unentgeltlichen öffentlichen Verkehr etabliert.
Ein weiteres Kennzeichen des Anarchismus, das auf dem LSF stark zum Vorschein kam, ist seine tief verwurzelte elitäre und erzieherische Natur. Der Anarchismus will nicht wahrnehmen, dass eine „andere Welt“ aus dem Zentrum der gegenwärtigen Widersprüche in der Welt entstehen kann. In Folge dessen kann er sich einen Übergang von der heutigen zur künftigen Welt lediglich in der Form des „guten Beispiels“ vorstellen, das von den „selbstverwalteten Räumen“ auf erzieherische Weise gegen die Krankheiten des heute vorherrschenden „Produktivismus“ vorexerziert werden soll. Doch wie Marx bereits vor mehr als einem Jahrhundert sagte: Wenn eine neue Gesellschaft dank der Erziehung des Volkes entsteht, wer erzieht dann die Erzieher? Denn diejenigen, die vorhaben, die Erzieher zu sein, sind selbst von der Gesellschaft geformt, in der wir leben, und ihre Ideen von einer „anderen Welt“ bleiben in Wahrheit tief verankert in der Welt von heute.
Im Kern servierten uns die beiden „Sozialforen“ in der Verkleidung neuer und revolutionärer Ideen nichts anderes als altes Gedankengut, das sich seit langem als untauglich, wenn nicht vollständig konterrevolutionär gezeigt hatte.
Die „selbstverwalteten Räume“ erinnern an die Kooperativen und an ähnliche Gesellschaften des 19. Jahrhunderts, ganz zu schweigen von den Arbeiter-„Kollektiven“ unserer Zeit (von Lip in Frankreich bis hin zu Triumph in Grossbritannien), die entweder bankrott gingen oder gewöhnliche kapitalistische Unternehmen blieben, eben weil sie gezwungen waren, innerhalb der kapitalistischen Marktwirtschaft zu produzieren und zu verkaufen. Sie erinnern ebenfalls an jene „Gemeinschafts“-Unternehmen der 70er-Jahre (Hausbesetzungen, Gemeinschaftskomitees, „freie Schulen“), die darin endeten, als soziale Dienste in den bürgerlichen Staat integriert zu werden.
All diese Ideen mittels einer radikalen Umwandlung kraft kostenloser öffentlicher Dienste erinnern an den Reformismus, der bereits eine Illusion der Arbeiterbewegung um 1900 gewesen war und der 1914 den totalen Bankrott erlebte, als er Partei ergriff für „seinen eigenen“ Staat, um dessen „Errungenschaften“ gegen den imperialistischen „Aggressor“ zu verteidigen. Diese Ideen erinnern an die Schaffung des „Wohlfahrtsstaates“ durch die herrschende Klasse nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, um das Management und die Mystifikation der Arbeitskraft (insbesondere durch den „Beweis“, dass die Millionen von Opfern nicht umsonst gestorben seien) zu rationalisieren.

Unsere Welt geht mit einer neuen Welt schwanger

Im Kapitalismus wie in jeder Klassengesellschaft ist es absolut unvermeidlich, dass die vorherrschenden Gedanken die Gedanken der herrschenden Klasse sind. Es ist nur deshalb möglich, die Notwendigkeit und die materielle Möglichkeit  einer kommunistischen Revolution zu verstehen, weil innerhalb der kapitalistischen Welt eine Gesellschaftsklasse existiert, die diese revolutionäre Zukunft bereits in sich verkörpert: die Arbeiterklasse. Im Gegensatz dazu können wir, wenn wir nur einfach versuchen, uns „vorzustellen“, wie eine „bessere“ Gesellschaft auf der Basis unserer Wünsche und Vorstellungen, wie sie heute von der kapitalistischen Gesellschaft (und entsprechend dem Modell unserer anarchistischen „Erzieher“) geformt werden, aussehen müsste, nichts anderes tun, als die gegenwärtige kapitalistische Welt „neu zu erfinden“, indem wir entweder dem reaktionären Traum der Kleinproduzenten, die nicht weiter blicken können als bis zum Ende ihres „selbstverwalteten Raumes“, oder dem mega-monströsen Delirium eines wohltätigen Weltstaates à la George Monbiot anheimfallen.8
Der Marxismus dagegen, innerhalb der kapitalistischen Welt von heute die Voraussetzungen der neuen Welt zu entdecken, die die kommunistische Revolution zum Leben erwecken müssen, falls die Menschheit ihrem Verderben entgehen will. Wie es das Kommunistische Manifest 1848 formulierte: „Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung.“9
Wir können drei gesonderte, aber miteinander verwobene Hauptelemente in dieser „unter unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung“ unterscheiden.
Das erste ist die Umwandlung, die der Kapitalismus im Produktionsprozess der gesamten menschlichen Spezies bereits vollzogen hat. Ein ganz alltägliches Objekt dieser Umwandlung ist die Arbeit, die nicht mehr das Werk eines selbstgenügsamen Handwerkers oder lokaler Fabrikation ist, sondern die gemeinsame Arbeit von Tausenden, wenn nicht Zehntausenden von Männern und Frauen, die an einem Netzwerk teilhaben, das sich über den ganzen Planeten erstreckt. Durch die kommunistische Weltrevolution von den Zwängen der kapitalistischen Marktverhältnisse für die Produktion und der privaten Aneignung ihrer Früchte befreit, wird die Zerstörung allen lokalen, regionalen und nationalen Partikularismus die Grundlage für die Konstitution einer einzigen menschlichen Gemeinschaft auf Weltebene sein. Der Fortschritt in der gesellschaftlichen Umwandlung und die Bekräftigung eines jeglichen Aspektes des gesellschaftlichen Lebens in dieser weltweiten Gemeinschaft wird zum Verschwinden aller Unterschiede zwischen den ethnischen Gruppen, den Völkern  und Nationen (wozu die Bourgeoisie heute ermutigt, um die Arbeiterklasse zu spalten) führen. Es ist absehbar, dass Bevölkerungen und Sprachen so weit vermischt werden, bis keine Europäer, Afrikaner oder Asiaten (und schon gar nicht Katalanen, Bretonen und Basken!) mehr existieren, sondern eine vereinte menschliche Spezies, deren intellektuelle und künstlerische Produktion in einer einzigen Sprache ihren Ausdruck finden, die von allen verstanden und unendlich reicher, präziser und harmonischer als jene sein wird, in denen die begrenzte und zerfallende Kultur von heute ihren Ausdruck findet.10
Das zweite Hauptelement, das mit dem ersten eng verknüpft ist, ist die Existenz einer Klasse in der kapitalistischen Gesellschaft, die an ihrem höchsten Punkt diese Realität eines internationalen und vereinten Produktionsprozesses verkörpert und ausdrückt. Ob sie amerikanische Stahlarbeiter, britische Arbeitslose, französische Behördenangestellte, deutsche Maschinenschlosser, indische Programmierer oder chinesische Bauarbeiter sind, all diese Arbeiter haben eins gemeinsam: dass sie immer unerträglicher ausgebeutet werden durch die globale kapitalistische Klasse und dass sie sich dieser Ausbeutung nur entledigen können, wenn sie die kapitalistische Ordnung an sich stürzen.
Wir sollten an dieser Stelle zwei Aspekte in der Natur der Arbeiterklasse hervorstreichen:
–    Zuallererst ist die Arbeiterklasse, anders als die Bauern oder kleinen Handwerker, ein Geschöpf des Kapitalismus, das unabdingbare Notwendigkeit für diese Gesellschaft ist ohne diesem sie nicht leben kann. Der Kapitalismus konnte die Bauern und die Handwerker unterdrücken, sie auf den Status von Proletariern reduzieren – oder zur Arbeitslosigkeit verdammen, wie in der gegenwärtigen dekadenten Ökonomie. Doch der Kapitalismus kann nicht ohne das Proletariat existieren. So lange wie der Kapitalismus existiert, wird auch das Proletariat existieren. Und so lange das Proletariat existiert, wird es in sich das revolutionäre kommunistische Projekt des Sturzes des Kapitalismus und des Aufbaus einer anderen Welt tragen.
–    Ein anderes fundamentales Kennzeichen der Arbeiterklasse liegt in der Bewegung und der Vermischung von Völkern, um auf die Bedürfnisse der kapitalistischen Produktion zu antworten. „Die Arbeiter haben kein Vaterland“, wie das Manifest sagt, nicht nur weil sie kein Eigentum besitzen, sondern auch weil sie dem Kapital und dessen Anforderungen an die Arbeitskraft auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Die Arbeiterklasse ist durch ihre eigentliche Natur eine Klasse von Immigranten. Um sich davon zu überzeugen, müssen wir lediglich die Bevölkerung in jeder grösseren Industriestadt betrachten: Die Strassen sind voller Männer und Frauen aus allen Herren Länder. Doch dies trifft auch auf die unterentwickelten Länder zu: An der Elfenbeinküste sind viele Landarbeiter Burkinabé, südafrikanische Bergarbeiter kommen aus allen Landesteilen, aber auch aus Simbabwe und Botswana, Arbeiter am Persischen Golf kommen aus Indien, Palästina oder von den Philippinen, in Indonesien gibt es Millionen von ausländischen Arbeitern in den Fabriken. Diese Realität der Arbeiterexistenz – die das Vermischen der Völker vorausnimmt, von der wir weiter oben gesprochen hatten – demonstriert die Zwecklosigkeit des von Anarchisten und Demokraten lieb gewonnenen Ideals lokaler oder regionaler „Gemeinschaften“. Um nur ein Beispiel zu nehmen: Was kann der schottische Nationalismus der Arbeiterklasse Schottlands, die sich zum Teil aus asiatischen Immigranten zusammensetzt, bestenfalls anbieten? Nichts natürlich. Die einzig wahre Gemeinschaft, die Arbeiter, die von ihren Wurzeln gekappt wurden, finden können, ist die weltweite Gemeinschaft, die sie nach der Revolution errichten werden.
–    Das dritte Hauptelement, das wir hier unterstreichen wollen, kann in einer einzigen Statistik zusammengefasst werden: In allen Klassengesellschaften, die dem Kapitalismus vorausgingen, bearbeiteten (mehr oder weniger) 95% der Bevölkerung das Land, und der Mehrwert, den sie produzierten, reichte gerade aus, um die anderen 5% (Kriegsherren und die Kirche, aber auch Kaufleute, Handwerker, etc.) zu ernähren. Heute hat sich diese Logik in ihr Gegenteil verkehrt, da in den entwickeltsten Ländern selbst die Produktion von materiellen Waren immer weniger Arbeiter beschäftigt. Mit anderen Worten: Auf der Ebene der physischen Kapazität des Produktionsapparates hat die Menschheit einen Grad an Überfluss erreicht, der alle Ziele und Ambitionen möglich macht.
Bereits unter dem Kapitalismus haben die menschlichen Produktionskapazitäten eine – im Vergleich zur gesamten früheren Geschichte – qualitativ neue Situation geschaffen: Während zuvor der Mangel und manchmal auch der nackte Hunger das Los breiter Bevölkerungsmassen war, vor allem wegen der natürlichen Grenzen der Produktion (niedrige Produktivität auf dem Land, geringe Ernten), sind unter dem Kapitalismus die einzigen Gründe für Mangel die kapitalistischen Produktionsverhältnisses selbst. Die Krise, die die Arbeiter auf die Strasse wirft, wird nicht von einem unzureichenden Produktionsniveau verursacht: Im Gegenteil, sie ist das direkte Resultat der Unmöglichkeit alles zu verkaufen, was produziert wird.11 Darüber hinaus hat in den so genannten „fortgeschrittenen“ Ländern ein immer weiter wachsender Teil der Wirtschaftsaktivitäten absolut keinen Nutzen ausserhalb des kapitalistischen Systems selbst: Finanz- und Börsenspekulation aller Art, astronomische Rüstungsetats, Modeartikel, „künstliche Alterung“, womit bezweckt wird, die Erneuerung des Produkts zu forcieren, Werbung etc. Wenn wir weiter schauen, wird deutlich, dass der Gebrauch der globalen Ressourcen auch von der wachsend irrationalen – ausser vom Standpunkt der kapitalistischen Profitabilität – Funktionsweise der Wirtschaft beherrscht wird: Stunden, die Millionen von Menschen auf dem täglichen Weg von und zur Arbeit verbringen, oder der Transport von Frachten auf der Strasse statt auf der Schiene, um auf  die unvorhersehbaren Erfordernisse eines anarchischen Produktionsprozess zu reagieren etc. Kurz, das Verhältnis zwischen dem Zeitaufwand für die Produktion zur Befriedigung der Minimalbedürfnisse (Lebensmittel, Kleidung, Obdach) und dem für die Produktion „über das Minimum hinaus“ (um es mal so zu formulieren) ist vollständig umgekippt.12

Die Geburt einer planetarischen Gemeinschaft

Wenn wir auf Demonstrationen oder vor den Fabriktoren unsere Presse verkaufen, werden wir häufig mit derselben Frage konfrontiert: „Was ist denn Kommunismus, wenn Ihr sagt, dass er nie existiert hatte?“ In einer solchen Lage versuchen wir, eine Antwort zu geben, die sowohl allgemein als auch kurz ist, und wir antworten daher oft: „Der Kommunismus ist eine Welt ohne Klassen, ohne Nationen und ohne Geld.“ Auch wenn diese Definition sehr einfach klingt (und negativ, denn sie definiert den Kommunismus als etwas „ohne...“), enthält sie dennoch die grundlegenden Kennzeichen einer kommunistischen Gesellschaft:
–    Sie wird ohne Klassen sein, weil sich das Proletariat nicht selbst befreien kann, indem es eine neue ausbeutende Klasse wird: Das Wiederauftreten einer ausbeutenden Klasse nach der Revolution würde tatsächlich die Niederlage der Revolution und das Überleben der Ausbeutung bedeuten.13 Das Verschwinden der Klassen entspringt ganz natürlich den Interessen einer siegreichen Arbeiterklasse, ihrer eigenen Emanzipation. Eines der ersten Ziele der Klasse wird darin bestehen, die Arbeitszeit zu reduzieren, indem die Arbeitslosen und die Massen ohne Arbeit in der Dritten Welt, aber auch das Kleinbürgertum, die Bauern und sogar die Mitglieder der gestürzten Bourgeoisie in den Produktionsprozess integriert werden.
–    Sie wird ohne Nationen sein, weil der Produktionsprozess bereits weit über den nationalen Rahmen hinausgegangen ist und dabei die Nation als organisatorischen Rahmen für die menschliche Gesellschaft überflüssig gemacht hat. Durch die Schaffung der ersten weltweiten Gesellschaft ist der Kapitalismus bereits über den nationalen Rahmen hinaus geschritten, innerhalb dessen er geboren wurde. So wie die bürgerliche Revolution alle feudalen Partikularitäten und Grenzen (Steuern auf den Transport von Waren innerhalb der nationalen Grenzen, spezifische Gesetze, Gewichte und Masseinheiten, die in dieser oder jener Stadt und Region galten) zerstört hat, so wird die proletarische Revolution der letzten Spaltung der Menschheit, die Spaltung in Nationen, ein Ende bereiten.
–    Sie wird ohne Geld sein, weil der Begriff des Austausches keine Bedeutung im Kommunismus hat, dessen Überfluss die Befriedigung der Bedürfnisse jedes Gesellschaftsmitglieds erlauben wird. Der Kapitalismus hat die erste Gesellschaft geschaffen, wo der Warenaustausch auf die Gesamtheit der Produktion ausgeweitet ist (im Gegensatz zu früheren Gesellschaften, wo der Warenaustausch im Wesentlichen auf Luxusgüter oder bestimmte Artikel beschränkt blieb, die, wie das Salz, nicht überall produziert werden konnten). Heute wird der Kapitalismus durch seine Unfähigkeit stranguliert, alles auf dem Markt zu verkaufen, was er zu produzieren imstande ist. Die eigentliche Tatsache des Kaufens und Verkaufens ist zu einer Barriere für die Produktion geworden. Der Austausch wird daher verschwinden. Mit ihm wird auch die Idee der Ware verschwinden, einschliesslich der allerersten Ware: die Lohnarbeit.
Diese drei Prinzipien sind den Gemeinplätzen der bürgerlichen Ideologie diametral entgegengesetzt, nach der es eine gierige und gewalttätige „menschliche Natur“ gibt, die die Spaltungen zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten oder zwischen Nationen verewigt. Natürlich eignet sich diese Idee der „menschlichen Natur“ bestens für die Bourgeoisie, rechtfertigt sie doch ihre Klassenherrschaft und hindert die Arbeiterklasse daran, klar und deutlich zu identifizieren, was tatsächlich für das Elend und die Massaker, die die Menschheit heute überwältigen, verantwortlich ist. Aber dies hat rein gar nichts mit der Realität zu tun: Während die „Natur“ (d.h. das Verhalten) anderer Tierarten von ihrer natürlichen Umgebung bestimmt wird, wird die „menschliche Natur“ um so mehr von unserer gesellschaftlichen, nicht natürlichen Umgebung bestimmt, je mehr die Herrschaft des Menschen über die Natur voranschreitet.

Das umgewandelte Verhältnis zwischen Mensch und Natur

Die drei Punkte, die wir oben hervorgehoben haben, sind nicht mehr als äusserst kurze Skizzen. Dennoch haben sie tiefergehende Auswirkungen auf die kommunistische Gesellschaft von morgen.
Es ist richtig, dass Marxisten es stets vermieden haben, „Blaupausen“ zu entwerfen, erstens, weil der Kommunismus von der wirklichen Bewegung der grossen Massen der Menschheit aufgebaut wird, und zweitens, weil wir uns den Kommunismus noch viel weniger vorstellen können, als ein Bauer des 11. Jahrhunderts sich den modernen Kapitalismus vorstellen konnte. Dies hindert uns jedoch nicht daran, einige der allgemeineren Charakteristiken anzugeben, die aus dem folgen, was wir gerade gesagt haben (aus Platznot sehr kurz, versteht sich).
Wahrscheinlich wird die radikalste Änderung dem Verschwinden des Widerspruchs zwischen dem Menschen und seiner Arbeit entspringen. Die kapitalistische Gesellschaft hat den in einer Klassengesellschaft stets existierenden Widerspruch zwischen der Arbeit, mit anderen Worten: die Tätigkeit, die wir nur ausüben, weil wir dazu gezwungen werden, und der Freizeit, mit anderen Worten: die Zeit, in der wir unsere Aktivitäten (natürlich nur begrenzt) frei wählen können, auf die Spitze getrieben.14 Die Nötigung, die uns zu arbeiten zwingt, ist einerseits auf den Mangel, der uns durch die Grenzen der Arbeitsproduktivität aufgezwungen wird, und andererseits auf die Tatsache zurückzuführen, dass ein Teil der Früchte der Arbeit von der ausbeutenden Klasse angeeignet wird. Im Kommunismus wird dieser Mangel nicht mehr existieren: Zum ersten Mal in der Geschichte wird die menschliche Spezies frei produzieren, und die Produktion wird ausschliesslich auf die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse ausgerichtet sein. Wir können sogar annehmen, dass die Wörter „Arbeit“ und „Freizeit“ aus der Sprache verschwinden werden, da keine Aktivität aus schlichter Notwendigkeit unternommen wird. Die Entscheidung, zu produzieren oder nicht, wird nicht allein von der Nützlichkeit des zu produzierenden Dings abhängen, sondern auch von der Lust oder dem Interesse am Produktionsprozess selbst.
Die eigentliche Idee der „Befriedigung von Bedürfnissen“ wird ihren Charakter ändern. Grundbedürfnisse (Lebensmittel, Kleidung, Obdach) werden einen immer weniger wichtigen Platz einnehmen, während die Bedürfnisse, die von der gesellschaftlichen Entfaltung der Spezies bestimmt werden, immer mehr in den Vordergrund rücken. Es wird keine Unterscheidung mehr zwischen „künstlerischer“ und nicht-künstlerischer Arbeit geben. Der Kapitalismus ist eine Gesellschaft, die den Widerspruch zwischen „Kunst“ und „Nicht-Kunst“ auf die äusserste Spitze getrieben hat. Erst mit dem Aufstieg des Kapitalismus begann der Künstler, sein Werk zu unterzeichnen, und wurde die Kunst zu einer spezifischen Tätigkeit, die von der täglichen Produktion abgetrennt wurde. Heute hat diese Tendenz mit einer fast totalen Trennung zwischen den „schönen Künsten“ auf der einen Seite (unverständlich für die grosse Mehrheit der Bevölkerung und reserviert für eine dünne intellektuelle Minderheit) und der industrialisierten Kunstproduktion der Werbung und der „Popkultur“, beide reserviert für die „Freizeitaktivitäten“, ihren Höhepunkt erreicht. All dies ist nichts anderes als die Folge des Widerspruchs zwischen dem Menschen und seiner Arbeit. Mit dem Verschwinden dieses Widerspruchs wird auch der Widerspruch zwischen „nützlicher“ und „künstlerischer“ Produktion verschwinden. Schönheit, die Befriedigung der Sinne und des Geistes werden ebenfalls fundamentale menschliche Bedürfnisse sein, die der Produktionsprozess befriedigen Muss.15
Auch die Erziehung wird ihren gesamten Charakter ändern. In jeder Gesellschaft ist es der Zweck der Erziehung von Kindern, ihnen zu erlauben, ihren Platz in der erwachsenen Gesellschaft einzunehmen. Unter dem Kapitalismus bedeutet das „Einnehmen seines Platzes in der erwachsenen Gesellschaft“ für sie, ihren Platz in einem System brutaler Ausbeutung einzunehmen, wo diejenigen, die nicht profitabel sind, faktisch keinen Platz haben. Der Zweck der Erziehung (den uns die „alternativen Kosmopoliten“ als nicht „zum Verkauf“ stehend aufschwatzen) ist es daher vor allem, die neue Generation mit Fähigkeiten auszustatten, die notwendig sind, um das nationale Kapital gegen seine Konkurrenten auf dem Weltmarkt zu stärken. Es ist ebenfalls klar, dass der Kapitalismus absolut kein Interesse daran hat, ein kritisches Verhalten gegenüber seiner eigenen gesellschaftlichen Organisation zu fördern. Kurz, der Zweck der Erziehung ist nichts anderes, als junge Menschen  zu unterwerfen und sie nach der kapitalistischen Gesellschaft und den Erfordernissen ihres Produktionsprozesses zu gestalten; kein Wunder also, dass Schulen immer mehr zu Lernfabriken werden und die Lehrer wie Arbeiter am Fliessband wirken.
Im Kommunismus wird im Gegensatz dazu die Integration der Jungen in die erwachsene Welt die grösstmögliche Schärfung all ihrer physischen und intellektuellen Sinne fordern. In einem Produktionssystem, dass von den Erfordernissen des Profits völlig befreit sein wird, wird sich die erwachsene Welt dem Kind allmählich, entsprechend der Entwicklung seiner Fähigkeiten, öffnen, und der junge Erwachsene wird nicht mehr der peinigenden Erfahrung ausgesetzt sein, die Schule zu verlassen, um in einen grimmigen Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt geworfen zu werden. So wie es keinen Widerspruch mehr zwischen „Arbeit“ und „Freizeit“ oder „Produktion“ und „Kunst“ geben wird, so wird es auch keinen Gegensatz zwischen der Schule und der „Welt der Arbeit“ geben. Die Wörter „Schule“, „Fabrik“, „Büro“, „Kunstgalerie“, „Museum“ werden verschwinden17  oder ihre Bedeutung völlig verändern, da die Gesamtheit der menschlichen Aktivität in einem harmonischen Bemühen zusammengefasst sein wird, um die physischen, intellektuellen und sinnlichen Bedürfnisse der Spezies zu entwickeln und zu befriedigen.

Die Verantwortung des Proletariats

Kommunisten sind keine Utopisten. Wir haben hier versucht, äusserst kurze und notwendigerweise beschränkte Skizzen dessen zu entwerfen, wie der neuen Gesellschaft aussehen Muss, die der heutige Kapitalismus in seinem Schoss trägt. In diesem Sinn ist der Slogan der „alternativen Kosmopoliten“, dass „eine andere Welt möglich ist“ (oder gar „andere Welten möglich sind“), eine reine Mystifikation. Nur eine andere Welt ist möglich: der Kommunismus.
Aber die Geburt dieser neuen Welt ist beileibe nicht unvermeidlich. In diesem Zusammenhang gibt es keinen Unterschied zwischen dem Kapitalismus und den anderen Klassengesellschaften, die ihm vorausgingen, wo „Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Bnaron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte (...) in stetem Gegensatz zueinander (standen), (....) einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf (führten), einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“18 Mit anderen Worten: gleichgültig, wie notwendig sie ist, ist die kommunistische Revolution nicht unausweichlich. Der Übergang vom Kapitalismus in die neue Welt wird nicht möglich sein ohne die Gewalt der proletarischen Revolution als ihre unvermeidliche Geburtshelferin.19 Doch die Alternative unter den Bedingungen eines fortgeschrittenen Zerfalls der heutigen Gesellschaft ist die Vernichtung nicht nur der beiden „kämpfenden Klassen“, sondern der gesamten menschlichen Art. Daher die gigantische Verantwortung, die auf den Schultern der weltweiten revolutionären Klasse lastet.
Von der heutigen Situation aus betrachtet, mag die Entwicklung der revolutionären Fertigkeiten des Proletariats als solch ein unmöglicher, abgehobener Traum erscheinen, dass die Versuchung gross ist, heute „irgendetwas zu tun“, selbst wenn dies bedeuten sollte, sich auf jene alten Schurken der stalinistischen und sozialistischen Parteien, anders ausgedrückt, den linken Flügel des bürgerlichen Staatsapparates, einzulassen. Doch für die revolutionären Minderheiten ist der Reformismus kein Notbehelf, den man mangels besserer Alternativen anwendet. Er ist im Gegenteil ein tödlicher Kompromiss mit dem Klassenfeind. Der Weg zur Revolution, der allein eine „andere Welt“ schaffen kann, wird lang und schwierig sein, aber es ist der einzige Weg, der existiert.

Geographisch: 

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  • Kommunismus [10]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Das Klassenbewusstsein [8]

Klassenkampfbericht

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Die Entwicklung des Klassenkampfs im Kontext der allgemeinen Angriffe und des fortgeschrittenen Zerfalls des Kapitalismus

Wir veröffentlichen nachstehend den im Herbst 2003 anlässlich der Zusammenkunft des Zentralorgans der IKS präsentierten und angenommenen Klassenkampfbericht.1 Dieser Bericht bestätigt die Analysen der Organisation über die Beständigkeit des Kurses hin zu Klassenkonfrontationen (der durch den internationalen Aufschwung des Klassenkampfs 1968 einsetzte) trotz dem schwerwiegenden Rückschlag, den das Proletariat auf der Bewusstseinsebene seit dem Zusammenbruch des Ostblocks hat einstecken müssen. Der Bericht stellte sich die besondere Aufgabe, eine Einschätzung des unmittelbaren und langfristigen Einflusses der Verschärfung der Wirtschaftskrise und der kapitalistischen Angriffe auf die Arbeiterklasse vorzunehmen. So stellt er fest, dass die „breiten Mobilisierungen vom Frühling 2003 in Frankreich und in Österreich einen Wendepunkt im Klassenkampf seit 1989 darstellen. Sie sind ein erster bedeutender Schritt in der Wiederaneignung der Kampfbereitschaft in der Arbeiterklasse nach der längsten Rückflussperiode seit 1968.”
Wir sind noch weit von einer internationalen Welle massiver Kämpfe entfernt, da sich die Kampfbereitschaft auf internationaler Ebene noch in embryonalem und heterogenem Zustand befindet. Man muss jedoch die beträchtliche Verschlimmerung der Entwicklungsperspektiven des Kapitalismus sowohl bezüglich des Abbaus des Wohlfahrtsstaates als auch die Zuspitzung der Ausbeutung in allen Formen und schliesslich die Entwicklung der Arbeitslosigkeit einbeziehen, die zusammen als Hefe in der Bewusstseinsentwicklung der Arbeiterklasse wirken. Der Bericht betont insbesondere die Tiefe, aber auch die Langsamkeit der Wiederaufnahme des Klassenkampfs.
Seit der Niederschrift dieses Berichts haben sich die Merkmale des Wechsels in der Dynamik in der Arbeiterklasse nicht verändert. Die seitherige Entwicklung illustriert eine im Bericht angesprochene Tendenz, dass erst isolierte Manifestationen des Klassenkampfs den gewerkschaftlich vorgegebenen Rahmen verlassen. Die territoriale Presse der IKS hat über solche Kämpfe vom Ende des Jahres 2003 im Transportwesen in Italien und bei der Post in Grossbritannien berichtet. Diese Kämpfe haben die Basisgewerkschaften auf den Plan gerufen, um Sabotagearbeit zu verrichten. Auch besteht die bereits vor diesem Bericht von der IKS aufgezeigte Tendenz zum Auftauchen von nach revolutionärer Kohärenz suchenden Elementen fort.
Das ist ein sehr langer Weg, den die Arbeiterklasse wird zurück legen müssen. Die Kämpfe, zu denen sie gezwungen sein wird, werden den Schmelztiegel der Reflexion darstellen, die durch die Verschärfung der Krise verstärkt und durch die Intervention der Revolutionäre befruchtet wird. Durch sie kann die Klasse ihre Identität und ihr Selbstvertrauen wieder gewinnen, an den historischen Erfahrungen anknüpfen und die Klassensolidarität entwickeln.

Der Klassenkampfbericht für den 15. Kongress der IKS2 unterstrich den unausweichlichen Charakter einer Antwort der Arbeiterklasse auf die qualitative Entwicklung der Krise und auf die scharfen Angriffe auf eine neue Generation ungeschlagener Arbeiter. Die Antwort besteht aus einer langsamen, aber bedeutsamen Wiederaneignung der Kampfbereitschaft. Der Bericht identifizierte eine Verbreitung und eine zwar noch embryonale aber doch wahrnehmbare Vertiefung der unterirdischen Reifung des Bewusstseins. Er betonte die Bedeutung der Tendenz zu massiveren Kämpfen für die Wiederaneignung der Klassenidentität und des Selbstvertrauens durch die Arbeiterklasse. Er zeigte auf, dass mit der objektiven Entwicklung der Widersprüche des Systems die Herausbildung eines ausreichenden Klassenbewusstseins – insbesondere bezüglich der Zurückgewinnung der kommunistischen Perspektive – die entscheidende Frage für die Zukunft der Menschheit wird. Er setzte den Akzent auf die historische Bedeutung des Auftauchens einer neuen Generation von Revolutionären und betonte, dass dieser Prozess trotz des Rückgangs der Kampfbereitschaft und des Klassenbewusstsein in der Gesamtheit der Arbeiterklasse schon seit 1989 in Gang ist. Der Bericht zeigte also die Grenzen des Rückflusses auf und betonte, dass der historische Kurs in Richtung massiver Klassenkonfrontationen bestehen bleibt und dass die Arbeiterklasse in der Lage ist, den erlittenen Rückschlag zu überwinden. Gleichzeitig ging der Bericht auf die Fähigkeit der herrschenden Klasse ein, all die Implikationen dieser Entwicklung zu erfassen und ihnen entgegen zu treten. Er stellte diese Entwicklung in den Kontext der negativen Auswirkungen des Zerfalls des Kapitalismus. Er wies auf die enorme Verantwortung der revolutionären Organisationen angesichts der voranschreitenden Bemühungen der Arbeiterklasse und der neuen Generationen von kämpfenden Arbeitern und Revolutionären hin.
Beinahe unmittelbar nach dem 15. Kongress und in der auf den Irakkrieg folgenden Periode hat die Mobilisierung der Arbeiter in Frankreich (sie gehört zu den bedeutendsten Mobilisierungen seit dem Zweiten Weltkrieg) diese Perspektiven schnell bestätigt. In der Revue Internationale 114 haben wir eine erste Bilanz dieser Bewegung gezogen und festgestellt, dass diese Kämpfe die These eines angeblichen Verschwindens der Arbeiterklasse widerlegen. Der Artikel bekräftigt, dass die gegenwärtigen Angriffe „die Hefe im langsamen Reifungsprozess der Bedingungen für das Auftauchen von massiven Kämpfen bilden, die notwendig für die Wiederaneignung der proletarischen Klassenidentität und für die schrittweise Auflösung der Illusionen hauptsächlich in die mögliche Reformierbarkeit des Systems sind. Die Massenaktionen werden die Wiedererrichtung des Bewusstseins über die eigene Ausbeutung sowie über die Bedeutung als Trägerin einer anderen historischen Perspektive für die Gesellschaft sein. Deshalb ist die Krise der Verbündete des Proletariats. Der Weg, den sich die Arbeiterklasse für diese eigene revolutionäre Perspektive bahnen muss, ist jedoch keine Autobahn. Er wird schrecklich lang, von Fallen besetzt sein, die der Feind ihr stellen wird.“ Die im Klassenkampfbericht vom 15. Kongress herausgearbeiteten Perspektiven haben sich somit nicht nur durch die Entwicklung einer neuen Generation von suchenden Elementen auf internationaler Ebene bestätigt, sondern auch durch die Arbeiterkämpfe.
Der vorliegende Klassenkampfbericht beschränkt sich also auf eine Aktualisierung und eine genauere Überprüfung der langfristigen Bedeutung gewisser Aspekte der letzten Arbeiterkämpfe.

2003: Ein Wendepunkt

Die breiten Mobilisierungen vom Frühling 2003 in Frankreich und in Österreich stellen in den Klassenkämpfen seit 1989 einen Wendepunkt dar. Sie sind ein erster wichtiger Schritt in der Wiederaneignung der Kampfbereitschaft der Arbeiter nach der längsten Rückflussperiode seit 1968. Die 90er-Jahre haben sicher schon sporadische, aber doch wichtige Ausdrücke dieser Kampfbereitschaft gesehen. Die Gleichzeitigkeit der Bewegungen in Frankreich und Österreich indessen sowie weiter die Tatsache, dass die deutschen Gewerkschaften gleich unmittelbar danach die Niederlage der ostdeutschen Metallarbeiter3 organisierten, um präventiv gegen den proletarischen Widerstand vorzugehen, beleuchten die Entwicklung seit Beginn des neuen Jahrtausends. Diese Ereignisse bestätigen die Tatsache, dass die Arbeiterklasse angesichts der dramatischen Verschärfung der Krise und den stets massiveren und allgemeineren Angriffen zunehmend zum Kampf gezwungen ist, und dies trotz dem noch immer fehlenden Selbstvertrauen.
Diese Änderung betrifft nicht nur die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse, sondern auch  ihren Geisteszustand, die Perspektive, in deren Rahmen sich ihre Aktivitäten abspielen. Es gibt derzeit Anzeichen eines Verlusts von Illusionen nicht nur über die typischen Mystifikationen der 90er-Jahre (die IT-Revolution, die individuelle Bereicherung an der Börse usw.), sondern auch über diejenigen, die durch die Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg hervorgerufen worden sind, so die Hoffnung auf ein besseres Leben für die nachfolgende Generation und einen geruhsamen Lebensabend für diejenigen, die die Lohnarbeit überlebt haben.
Der Artikel in der Revue Internationale 114 erinnert an die massive Rückkehr des Proletariats auf der historischen Szene 1968 und an das Wiederauftauchen einer revolutionären Perspektive, die nicht nur eine Antwort auf die Angriffe auf unmittelbarer Ebene darstellten, sondern vor allem auch auf die Auflösung von Illusionen über eine bessere Zukunft, die der Kapitalismus in der Nachkriegszeit scheinbar verhiess. Im Gegensatz dazu, was uns eine vulgäre und mechanistische Deformation des historischen Materialismus glauben machen wollte, sind solche Wendungen im Klassenkampf, selbst wenn sie durch unmittelbare Verschlechterung der materiellen Lebensbedingungen verursacht werden, immer das  Resultat einer veränderten Wahrnehmung der Zukunft. Die bürgerliche Revolution in Frankreich ist nicht mit dem Ausbruch der Krise des Feudalismus (die bereits seit längerem schwelte) explodiert, sondern als es offensichtlich wurde, dass der Absolutismus dieser Krise nicht mehr die Stirn bieten konnte. In der gleichen Weise begann die Bewegung, die zur ersten weltweiten revolutionären Welle führen sollte, nicht im August 1914, sondern erst, als die Illusionen über eine schnelle militärische Lösung des Weltkrieges zerstört waren.
Deshalb auferlegen uns die kürzlich stattgefunden Kämpfe die Hauptaufgabe, ihre historische Bedeutung zu verstehen.

Eine langsame Entwicklung der sozialen Situation

Nicht jeder Wendepunkt im Klassenkampf hat dieselbe Bedeutung und Tragweite wie 1917 oder 1968. Diese Daten bezeichnen einen Wechsel des historischen Kurses, während 2003 lediglich den Anfang des Endes einer Rückflussphase innerhalb des allgemeinen Kurses hin zu massiven Klassenkonfrontationen darstellt. Von 1968 bis 1989 war der Klassenkampf bereits von mehreren Rückfluss- und Aufschwungphasen gekennzeichnet. Insbesondere führte die Ende der 70er-Jahre entfesselte Dynamik schnell zum Höhepunkt der Massenstreiks im Sommer 1980 in Polen. Das Ausmass der veränderten Bedingungen zwang die Bourgeoisie damals zu einer unverzüglichen Änderung der politischen Orientierung: Die Linke wurde in die Opposition versetzt, um die Kämpfe besser von innen her zu sabotieren.4  Es ist auch notwendig, zwischen der gegenwärtigen Änderung bei der Wiederaneignung der Kampfbereitschaft durch die Arbeiterklasse  und dem Aufschwung in den 70er- und 80er-Jahren zu unterscheiden.
Auf viel allgemeinerer Ebene muss man in der Lage sein, zwischen einer Situation zu unterscheiden, in der man eines Morgens aufwacht und die Welt ist nicht mehr dieselbe wie am Vortag, und Änderungen, die beinahe von der Allgemeinheit beinahe unbemerkt vor sich gehen wie beispielsweise der Gezeitenwechsel. Die gegenwärtige Entwicklung gehört unbestreitbar letzterer an. In diesem Sinn bedeuten die Mobilisierungen vor Kurzem gegen die Angriffe auf das Rentenwesen in keiner Weise eine unmittelbare und spektakuläre Anpassung der Situation, die eine sofortige und grundlegende Entfaltung der politischen Kräfte der Bourgeoisie zur Gegenwehr verlangen würde.
Wir sind noch weit von einer internationalen Welle massiver Kämpfe entfernt. In Frankreich war der massive Charakter der Mobilisierungen vom Frühling 2003 hauptsächlich auf das Erziehungswesen beschränkt. In Österreich war die Mobilisierung zwar breiter,  dafür aber zeitlich auf einige Aktionstage im öffentlichen Sektor beschränkt. Der Metallarbeiterstreik in Ostdeutschland war in keiner Art und Weise ein Ausdruck einer unmittelbaren  Kampfbereitschaft der Arbeiter, sondern eher eine für die noch am wenigsten kämpferischen Teile der Klasse (die noch von der kurz nach der deutschen Wiedervereinigung aufgetretenen Massenarbeitslosigkeit traumatisiert sind)  aufgestellte Falle,  um allgemein den Eindruck zu erwecken, dass sich ein Kampf nicht lohne. Weiter sind die Nachrichten über die Bewegungen in Frankreich und Österreich teilweise einem vollständigen Black Out unterlegen,  ausser ganz am Ende der Bewegung, wo sie zur Verbreitung eines entmutigenden Bildes benutzt wurden. In anderen für den Klassenkampf zentralen Ländern wie Italien, Grossbritannien, Spanien oder die Beneluxländer gab es bis kürzlich keine Massenmobilisierungen. Ausrücke einer der grossen Gewerkschaftszentralen entgleitenden Kampfbereitschaft wie der wilde Streik des Personals von British Airways in Heathrow, bei Alcatel in Toulouse oder in  Puertollano in Spanien im vergangenen Sommer  (siehe dazu die Révolution internationale 339) blieben punktuell und isoliert.
Selbst in Frankreich verunmöglichten die ungenügende Entwicklung der Kampfbereitschaft und vor allem deren verbreitete Abwesenheit die Ausdehnung dieser Bewegung über den Erziehungssektor hinaus.
Sowohl auf internationaler also auch auf nationaler Ebene befindet sich die Kampfbereitschaft also noch im embryonalen Stadium und ist noch sehr heterogen. Der bisher wichtigste Ausdruck ist der Kampf der Lehrer in Frankreich im letzten Frühling und er ist in erster Linie das Resultat einer Provokation der Bourgeoisie, die darin bestand, diesen bestimmten Sektor schwerer anzugreifen, um die Antwort auf die Rentenreform, die die ganze Arbeiterklasse betrifft, auf diesen Sektor zu polarisieren.5 Angesichts der grossangelegten Manöver der Bourgeoisie muss man auch die grosse Naivität, ja Blindheit der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit inklusive die suchenden Gruppen und Teile des politisch-proletarischen Milieus (hauptsächlich die Gruppen der kommunistischen Linken) und selbst vieler unserer Sympathisanten feststellen. Im Augenblick ist die Bourgeoisie nicht nur in der Lage, die ersten Ausdrücke der Unzufriedenheit bei den Arbeitern in Schach zu halten und zu isolieren, sondern sie kann sogar mit mehr oder weniger Erfolg (mehr in Deutschland als in Frankreich) diese noch relativ schwache Kampfbereitschaft gegen die langfristige Entwicklung der allgemeinen Kampfbereitschaft wenden.
Noch viel wichtiger als das Vorangegangene ist die Tatsache, dass die Bourgeoisie noch nicht zur Strategie der Linken in der Opposition zurückkehren muss. In Deutschland hat die Bourgeoisie die grösste Wahlfreiheit zwischen einer linken oder einer rechten Regierung. Anlässlich der Offensive Agenda 2010 gegen die Arbeiter haben sich 95% der Delegierten sowohl der SPD als auch der Grünen zugunsten eines Verbleibs in der Regierung ausgesprochen. Grossbritannien und Deutschland bildeten in den 70er und 80er-Jahren die Avantgarde der Weltbourgeoisie bei der Umsetzung der Politik der Linken in der Opposition als geeignetstem Mittel gegen die Arbeiterklasse. Und selbst Grossbritannien ist in der Lage, mit der linken Regierung die soziale Front unter Kontrolle zu halten.
Im Unterschied zur Situation, die Ende der 90er-Jahre vorherrschte, können wir heute nicht mehr von einer Politik der Linken an der Regierung als vorherrschende Orientierung der europäischen Bourgeoisie sprechen. Vor fünf Jahren war die Welle der linken Wahlsiege auch an die Illusionen über die ökonomische Lage gebunden. Heute muss sich die Bourgeoisie angesichts der Tiefe der gegenwärtigen Krise darum kümmern, dass die Regierungen ab und zu wechseln, um die demokratischen Illusionen zu stärken.6 Wir müssen uns in diesem Kontext daran erinnern, dass die deutsche Bourgeoisie schon im letzten Jahr zwar die Wiederwahl Schröders begrüsst hat, aber auch zum Ausdruck gebracht hat, dass sie mit einer konservativen Regierung Stoiber durchaus auch zufrieden gewesen wäre.

Der Bankrott des Systems

Die Tatsache, dass die ersten Scharmützel des Klassenkampfs in einem langen und schwierigen Prozess von Klassenkämpfen hin zu massiveren Kämpfen in Frankreich und Österreich stattfinden, ist vielleicht gar nicht so zufällig, wie es scheint. Wenn zwar das französische Proletariat für seinen explosiven Charakter bekannt ist, was teilweise auch erklärt, dass es 1968 an der Spitze des internationalen Wiederaufschwungs des Klassenkampfs stand, so kann man das schwerlich von der österreichischen Arbeiterklasse der Nachkriegszeit behaupten. Was diese beiden Länder jedoch gemeinsam haben, das ist die Tatsache, dass die massiven Angriffe das Rentenwesen zum zentralen Inhalt hatten. Man muss auch bemerken, dass die deutsche Regierung, die gegenwärtig dabei ist, die weitreichendste Attacke in Westeuropa auszulösen, noch sehr vorsichtig bezüglich der Frage der Renten zu Werke geht. Frankreich und Österreich hingegen befinden sich unter denjenigen Ländern, in denen hauptsächlich wegen der politischen Schwäche insbesondere der rechten Bourgeoisie die Renten bisher viel weniger unter Beschuss geraten waren. Deshalb werden in diesen Ländern die Erhöhung der Anzahl der bis zur Rente zu arbeitenden Jahre sowie die Rentenkürzungen viel bitterer wahrgenommen.
Die Verschärfung der Krise zwingt also die Bourgeoisie dazu, mit der Verzögerung des Rückzugs in den Ruhestand ein soziales Zückerchen zu streichen. Bisher liess gerade dieses Zückerchen die Arbeiter die bittere Pille der unerträglichen Ausbeutungsbedingungen der letzten Jahrzehnte schlucken und es maskierte auch das tatsächliche Ausmass der Arbeitslosigkeit.
Angesichts der in erschreckendem Ausmass zu Beginn der 70er-Jahre wieder auftauchenden Geissel reagierte die Bourgeoisie mit wohlfahrtsstaatlichen Massnahmen. Diese Massnahmen sind vom ökonomischen Standpunkt aus betrachtet ein Nonsens und bilden heute einen der Hauptgründe für die unermessliche öffentliche Verschuldung. Der gegenwärtige Abbau des Wohlfahrtsstaats öffnet der tiefgreifenden Frage nach der Zukunftsperspektive des Kapitalismus die Tür.
Nicht alle kapitalistischen Angriffe rufen dieselben Verteidigungsreaktionen der Arbeiterklasse hervor. Es ist viel leichter, gegen Lohnsenkungen oder die Verlängerung des Arbeitstags zu kämpfen als gegen die Verminderung des relativen Lohns, die das Resultat einer Zunahme der Arbeitsproduktivität (aufgrund der Technologieentwicklung) und also des Akkumulationsprozesses des Kapitals selbst ist. Diese Realität beschreibt Rosa Luxemburg in folgenden Worten: „Eine Lohnverringerung, die eine Herabsetzung der reellen Lebenshaltung der Arbeiter herbeiführt, ist ein sichtbares Attentat der Kapitalisten gegen die Arbeiter und wird von diesen (...) in der Regel mit sofortigem Kampf beantwortet, in günstigen Fällen auch abgewehrt. Hingegen das Sinken des relativen Lohns wird anscheinend ohne die geringste persönliche Teilnahme des Kapitalisten bewirkt, und dagegen haben die Arbeiter innerhalb des Lohnsystems, das heisst auf dem Boden der Warenproduktion, gar keine Möglichkeit des Kampfes und der Abwehr.“7
Der Anstieg der Arbeitslosigkeit stellt die Arbeiterklasse vor dieselben Schwierigkeiten wie die Intensivierung der Ausbeutung (Angriff auf den relativen Lohn). Wenn der kapitalistische Angriff der Arbeitslosigkeit die Jungen betrifft, die noch nie gearbeitet haben, enthält sie nicht die explosive Dimension wie bei Entlassungen, schlicht da gar niemand entlassen werden muss. Die Existenz einer höheren Arbeitslosigkeit jedoch stellt einen antreibenden Faktor der unmittelbaren Arbeiterkämpfe dar, weil sie für eine wachsende Anzahl von noch beschäftigen Arbeitern eine ständige Gefahr repräsentiert, aber auch weil dieses gesellschaftliche Phänomen Fragen hervorruft, deren Antwort nicht um die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Wandels umhin kommt. Rosa Luxemburg fügt bezüglich des Kampfs gegen die relative Lohnsenkung hinzu: „Der Kampf gegen das Sinken des relativen Lohns bedeutet deshalb auch den Kampf gegen den Warencharakter der Arbeitskraft, das heisst gegen die kapitalistische Produktion im ganzen. Der Kampf gegen den Fall des relativen Lohns ist also nicht mehr ein Kampf auf dem Boden der Warenwirtschaft, sondern ein revolutionärer, umstürzlerischer Anlauf gegen  den Bestand dieser Wirtschaft, er ist die sozialistische Bewegung des Proletariats.“
Die 1930er-Jahre zeigten, wie mit der Massenarbeitslosigkeit die absolute Verarmung explodiert. Wäre der Arbeiterklasse nicht im voraus eine Niederlage zugefügt worden, wäre das allgemeine, absolute Gesetz der Kapitalakkumulation Gefahr gelaufen, sich ins Gegenteil zu kehren: das Gesetz der Revolution. Die Arbeiterklasse hat ein historisches Gedächtnis, das mit der Vertiefung der Krise langsam aktiviert wird. Die Massenarbeitslosigkeit und die Lohnsenkungen wecken heute mit der allgemeinen Verunsicherung und der generalisierten Verarmung wieder die Erinnerung an die 30er-Jahre. Der Abbau des Wohlfahrtsstaates wird die marxistische Sichtweise bestätigen.
Wenn Rosa Luxemburg darauf hinweist, dass die Arbeiter auf dem Terrain der Produktion von Konsumgütern nicht die geringste Möglichkeit haben, sich gegen die relative Lohnsenkung zur Wehr zu setzen, so ist das weder Fatalismus noch Pseudoradikalismus, wie ihn die letzte Essener Tendenz der KAPD mit der Parole „die Revolution oder nichts“ vertreten hat, sondern die Erkenntnis, dass der Kampf nicht in den Grenzen der unmittelbaren Verteidigungskämpfe bleiben kann und mit einer weitest möglichen politischen Vision geführt werden muss. In den 80er-Jahren sind die Fragen der Arbeitslosigkeit und der Intensivierung der Ausbeutung bereits gestellt worden, jedoch oft auf eine eingeschränkte und lokale Weise. Die englischen Minenarbeiter achteten nur auf die Rettung ihrer Arbeitsplätze. Die heutige qualitative Vertiefung der Krise erlaubt, dass Fragen über die Arbeitslosigkeit, die Armut, die Ausbeutung in umfassender und auf politische Art gestellt werden. Das ist auch bei der Rente, der Gesundheit, der Versorgung von Arbeitslosen, den Lebensbedingungen, der Länge des Arbeitslebens und bei der Zukunft der kommenden Generationen der Fall. In noch sehr embryonaler Form ist das in den letzten Kämpfen gegen die Angriffe auf das Rentenwesen identifizierte Potential vorhanden. Diese langfristige Lehre ist am wichtigsten. Sie ist von grösserer Tragweite als der Rhythmus, mit dem die unmittelbare Kampfbereitschaft nun wieder hergestellt wird. Rosa Luxemburg erläutert, dass die direkte Konfrontation mit den zerstörerischen Auswirkungen der objektiven Mechanismen des Kapitalismus (Massenarbeitslosigkeit, Intensivierung der relativen Ausbeutung) die Auslösung von Kämpfen zunehmend erschwert. Deshalb werden sie auf der Ebene der Politisierung auch bedeutsamer, selbst bei einem langsameren Rhythmus und mühsameren Verlauf.

Die Schemata der Vergangenheit überwinden

Mit der Vertiefung der Krise kann es sich das Kapital nicht mehr leisten, bedeutende materielle Zugeständnisse zu machen um damit das Ansehen der Gewerkschaften aufzupolieren, wie dies 1995 in Frankreich noch der Fall war.8 Trotz der gegenwärtigen Illusionen der Arbeiter sind die Möglichkeiten der Bourgeoisie, die keimende Kampfbereitschaft für gross angelegte Manöver zu missbrauchen, eingeschränkt. Diese Grenzen zeigen sich daran, dass die Gewerkschaften gezwungen sind, allmählich wieder ihre Rolle als Saboteure der Kämpfe zu übernehmen: „Heute wird wieder auf das in der Geschichte des Klassenkampfes eher klassische Schema zurückgegriffen: Die Regierung schlägt hart zu, die Gewerkschaften widersetzen sich und predigen zunächst die Gewerkschaftseinheit, um die Arbeiter massenhaft hinter sich zu scharen und unter gewerkschaftlicher Kontrolle einzupacken. Dann eröffnet die Regierung Verhandlungen, und die Gewerkschaften geben die Einheit auf, um besser die Spaltung und Verwirrung in die Reihen der Arbeiter hinein zu tragen. Diese Methode, die auf der gewerkschaftlichen Spaltung gegenüber dem Anstieg des Klassenkampfs aufbaut, ist für die Bourgeoisie die bewährteste, um allgemein den gewerkschaftlichen Rahmen zu halten, wobei der Verlust des Ansehens soweit wie möglich auf den einen oder anderen bereits im voraus bestimmten Gewerkschaftsapparat konzentriert wird, der einige Federn lassen muss. Dies bedeutet aber, dass die Gewerkschaften heute wieder der Feuerprobe unterworfen werden und dass die unweigerliche Entwicklung der kommenden Kämpfe für die Arbeiterklasse erneut das Problem der Auseinandersetzung mit ihren Feinden stellen wird, in der sie ihre Klasseninteressen verteidigen und die Erfordernisse des Kampfes erkennen muss.“9
Auch wenn die Bourgeoisie heute bei der Durchführung von gross angelegten Manövern gegenüber der Arbeiterklasse noch kaum beunruhigt ist, so wird die Verschlimmerung der wirtschaftlichen Lage dazu tendieren, dass immer häufiger spontane, punktuelle, isolierte Konfrontationen zwischen Arbeitern und Gewerkschaften stattfinden.
Die Wiederholung des klassischen Schemas der Konfrontation mit der gewerkschaftlichen Sabotage, die nun wieder auf die Tagesordnung kommt, begünstigt so die Möglichkeit für die Arbeiter, sich auf die Lehren der Vergangenheit zu beziehen.
Das sollte uns aber nicht zu einer schematischen Haltung verleiten, die für das Verständnis der zukünftigen Kämpfe und die Intervention in ihnen einfach auf den Rahmen und die Kriterien der 1980er-Jahre abstellt. Die gegenwärtigen Kämpfe sind diejenigen einer Klasse, die erst wieder zu ihrer ganz elementaren Klassenidentität zurückfinden muss. Die Schwierigkeit zu verstehen, dass man zu einer gesellschaftlichen Klasse gehört, und die fehlende Erkenntnis darüber, dass man einem Klassenfeind gegenübersteht, sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Auch wenn die Arbeiter noch ein Grundgefühl für die Notwendigkeit der Solidarität haben (da dies zu den proletarischen Daseinsbedingungen gehört), müssen sie wieder einen Begriff dafür gewinnen, was die Klassensolidarität wirklich ist.
Um die Rentenreform umzusetzen, musste die Bourgeoisie nicht auf die gewerkschaftliche Sabotage der Ausweitung der Bewegung zurückgreifen. Der Kern ihrer Strategie bestand darin, dass die Lehrer als Hauptziel spezifische Forderungen aufstellten. Zu diesem Zweck sollte dieser Sektor, der bereits durch frühere Angriffe arg betroffen war, nicht nur den allgemeinen Angriff auf die Renten über sich ergehen lassen, sondern darüber hinaus einen zusätzlichen besonderen, nämlich den Plan der Dezentralisierung des nicht unterrichtenden Personals, auf welchen der Sektor in der Tat die Mobilisierung ganz konzentrierte. Zentrale Forderungen für sich zu beanspruchen, die den Kampf zur Niederlage verurteilen, ist immer das Merkmal einer wesentlichen Schwäche der Arbeiterklasse, die sie noch überwinden muss, um bedeutend voranzukommen. Ein Beispiel, das diese Notwendigkeit veranschaulicht, ist dasjenige der Kämpfe von 1980 in Polen, wo die Illusionen bei den Arbeitern über die westliche Demokratie es ermöglichten, dass die Forderung nach „freien Gewerkschaften“ schliesslich zuoberst auf der Forderungsliste stand, die der Regierung vorgelegt wurde, was das Tor zur Niederlage und zur Unterdrückung der Bewegung aufstiess.
In den Kämpfen in Frankreich im Frühjahr 2003 führten der Verlust der Klassenidentität und des Begriffs der Arbeitersolidartität dazu, dass die Lehrer schliesslich akzeptierten, dass ihre besonderen Forderungen vor die allgemeine Frage der Angriffe auf die Renten gestellt wurden. Die Revolutionäre dürfen nicht davor zurückschrecken, diese Schwäche der Klasse einzugestehen und ihre Intervention danach auszurichten.
Der Klassenkampfbericht des 15. Kongresses legt besonderes Gewicht auf das Wiedererstarken der Kampfbereitschaft, das es dem Proletariat erst erlauben wird voran zu kommen. Doch hat dies nichts mit einer operaistischen Anbetung der Kampfbereitschaft als solcher zu tun. In den 30er-Jahren gelang es der Bourgeoisie, die Kampfbereitschaft der Arbeiter auf den Weg der Kriegsvorbereitung zu lenken. Die Wichtigkeit der heutigen Kämpfe besteht darin, dass sie den Ort der Bewusstseinsentwicklung in der Arbeiterklasse darstellen können. Auch wenn es unmittelbar lediglich und bescheiden um die Wiedererlangung der Klassenidentität durch das Proletariat geht, so ist dies doch der Knackpunkt für die Wiederbelebung des kollektiven und historischen Gedächtnisses des Proletariats und für die Entfaltung der Klassensolidarität. Diese ist die einzige Alternative zur wahnsinnigen bürgerlichen Konkurrenzlogik, wo jeder gegen jeden kämpft.
Die Bourgeoisie ihrerseits macht sich keine Illusionen darüber, dass diese Frage nebensächlich wäre. Bis heute hat sie alles daran gesetzt zu verhindern, dass eine Bewegung losbricht, die den Arbeitern ihre Zugehörigkeit zu einer und derselben Klasse in Erinnerung rufen könnte. Die Lehre aus 2003 ist, dass sich mit der Zuspitzung der Krise der Arbeiterkampf unweigerlich entwickeln wird. Es ist nicht so sehr die Kampfbereitschaft als solche, die die herrschende Klasse beunruhigt, sondern vielmehr die Gefahr, dass die Auseinandersetzungen das Bewusstsein der Arbeiterklasse nähren. Die Bourgeoisie ist heute in dieser Frage nicht weniger, sondern mehr in Sorge als in der Vergangenheit, und zwar weil die Krise heute tiefer und globaler ist. Ihre Hauptsorge besteht darin, dass immer dann, wenn die Kämpfe nicht vermieden werden können, wenigstens deren positiven Auswirkungen auf das Selbstvertrauen, auf die Solidarität und das Nachdenken in der Arbeiterklasse in Grenzen gehalten werden, d.h. dafür zu sorgen, dass aus dem Kampf die falschen Lehren gezogen werden. In den 80er-Jahren hat die IKS gelernt, in den damaligen Kämpfen in jedem Einzelfall das Hindernis für den Fortschritt der Bewegung zu erkennen und die Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften und den Linken auf den Punkt zu bringen. Oft war es die Frage der Ausweitung der Kämpfe. Konkrete Vorstösse in den Vollversammlungen, mit denen wir dazu aufriefen, zu den anderen Arbeitern zu gehen, stellten den Sprengstoff dar, mit dem wir den Boden für das allgemeine Voranschreiten der Bewegung ebneten. Die wichtigsten Fragen heute – was ist der Klassenkampf, was sind seine Ziele, seine Methoden, wer sind die Gegner, welches sind die zu überwindenden Hindernisse? – scheinen die Antithese der Fragen der 80er-Jahre zu sein. Sie scheinen „abstrakter“ zu sein, da sie unmittelbar weniger umsetzbar sind, eine Rückkehr zum Ausgangspunkt der Ursprünge der Arbeiterbewegung darstellen. Die heutigen Fragen anzugehen erfordert mehr Geduld, eine langfristige Sicht, tiefere politische und theoretische Fähigkeiten für die Intervention. Eigentlich sind die gegenwärtig wesentlichen Fragen nicht abstrakter, sondern schlicht globaler. Es ist weder abstrakt noch rückständig, in einer Vollversammlung zur Frage der Forderungen der Bewegung zu intervenieren oder die Gewerkschaften dabei zu entlarven, wie sie jede wirkliche Perspektive einer Ausweitung verhindern. Der allgemeine Charakter dieser Fragen weist den weiteren Weg. Vor 1989 scheiterte das Proletariat genau deshalb, weil es die Frage des Klassenkampfes zu eng stellte. Und weil das Proletariat in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre in der Gestalt von Minderheiten das Bedürfnis nach einer globaleren Sichtweise zu spüren begonnen hat, hat umgekehrt die Bourgeoisie, die sich der potentiellen Gefahr bewusst ist, die Antiglobalisierungbewegung geschaffen, um den auftauchenden Fragen eine falsche Antwort zu liefern.
Darüber hinaus sind die linken Teile des Kapitals, insbesondere die Linksextremen, zu Meistern in der Kunst geworden, die Auswirkungen des Zerfalls der Gesellschaft gegen die Arbeiterkämpfe einzusetzen. Während die Wirtschaftskrise eine tendenziell allgemeine Infragestellung des Systems begünstigt, hat der Zerfall gerade die gegenteilige Wirkung. Während der Bewegung in Frankreich im Frühjahr 2003 und beim Metallarbeiterstreik in Deutschland sahen wir, wie die Gewerkschaftsaktivisten im Namen der „Ausweitung“ oder der „Solidarität“ die Mentalität kultivierten, die Minderheiten von Arbeitern beseelt, wenn sie anderen Arbeitern den Kampf aufzuzwingen versuchen und ihnen dabei die Verantwortung für eine Niederlage der Bewegung zuschieben, wenn sie sich weigern, in die Aktionen einbezogen zu werden.
Während der Märzaktion 1921 in Deutschland waren die tragischen Szenen, die sich vor den Fabriken abspielten, als die Arbeitslosen versuchten, die Arbeiter davon abzuhalten, die Arbeit wieder aufzunehmen, ein Ausdruck der Verzweiflung angesichts des Abebbens der revolutionären Welle. Die Aufrufe der französischen Linksextremen im letzten Frühjahr, die Schüler von den Abschlussprüfungen abzuhalten, das Theater der westdeutschen Gewerkschafter, die die ostdeutschen Metallarbeiter – die keinen langen Streik für die 35-Stunden-Woche machen wollten – an der Wiederaufnahme der Arbeit hindern wollten, sind gefährliche Angriffe gegen den eigentlichen Begriff der Arbeiterklasse und der Solidarität. Sie sind umso gefährlicher, als sie die Ungeduld, den Unmittelbarkeitswahn und den sinnlosen Aktivismus fördern, welche Erscheinungen ohnehin charakteristisch für den Zerfall sind. Wir sind vorgewarnt: Obwohl die kommenden Kämpfe zwar ein Ort der Bewusstseinsentwicklung sind, unternimmt die Bourgeoisie alles, um sie in einen Friedhof des proletarischen Nachdenkens zu verwandeln.
Hier sehen wir für die kommunistische Intervention wertvolle Aufgaben: „geduldig erklären“ (Lenin), weshalb die Solidarität nicht verordnet werden kann, sondern ein gegenseitiges Vertrauen zwischen den verschiedenen Teilen der Klasse voraussetzt; erklären, warum die Linke, im Namen der Arbeitereinheit, alles unternimmt, um diese Einheit zu zerstören.

Die Grundlage unseres Vertrauens in die Arbeiterklasse

Alle Teile des proletarischen politischen Milieus anerkennen die Bedeutung der Krise bei der Entwicklung der Kampfbereitschaft der Arbeiter. Aber die IKS ist unter den gegenwärtig existierenden Strömungen die einzige, die davon ausgeht, dass die Krise das Klassenbewusstsein der grossen Massen anregt. Die anderen Gruppen beschränken in ihrer Analyse die Rolle der Krise auf den Umstand, dass sie die Arbeiter rein physisch zum Kampf drängt. Für die Rätisten zwingt die Krise die Klasse mehr oder weniger mechanisch zur Revolution. Für die Bordigisten bringt das Erwachen des „Klasseninstinkts“ den Inhaber der Klassenbewusstseins, d.h. die Partei, an die Macht. Für das IBPR kommt das Klassenbewusstsein von aussen, von der Partei. Unter den suchenden Gruppen, meinen die Autonomen (die sich insofern auf den Marxismus berufen, als sie die Notwendigkeit der Autonomie des Proletariats gegenüber den anderen Klassen betonen) und die Operaisten, dass die Revolution das Ergebnis der Arbeiterrevolte und eines individuellen Wunsches nach einem besseren Leben sei. Diese falschen Auffassungen wurden durch die Unfähigkeit der jeweiligen Gruppen verstärkt zu verstehen, dass das Scheitern einer proletarischen Antwort auf die Krise von 1929 eine Folge der vorangegangenen Niederlage der weltweiten revolutionären Welle war. Eine Konsequenz dieses mangelnden Verständnisses ist die immer noch kursierende Idee, wonach der imperialistische Krieg für die Revolution die günstigeren Voraussetzungen schaffe als die Krise (vgl. dazu unseren Artikel „Warum die Alternative Krieg oder Revolution“ in: Revue Internationale, Nr. 30).
Demgegenüber stellt der Marxismus die Frage, wie folgt: „Die wissenschaftliche Begründung des Sozialismus stützt sich nämlich bekanntermassen auf drei Ergebnisse der kapitalistischen Entwicklung: vor allem auf die wachsende Anarchie der kapitalistischen Wirtschaft, die ihren Untergang zu einem unvermeidlichem Ergebnis macht, zweitens auf die fortschreitende Vergesellschaftung des Produktionsprozesses, die die positiven Ansätze der künftigen sozialen Ordnung schafft, und drittens auf die wachsende Machte und Klassenerkenntnis des Proletariats, das den aktiven Faktor der bevorstehenden Umwälzung bildet.“10
Rosa Luxemburg unterstrich das Verhältnis zwischen diesen drei Gesichtspunkten und der Rolle der Krise und schrieb dazu: „Die Sozialdemokratie leitet ihr Endziel ebenso wenig von der siegreichen Gewalt der Minderheit wie von dem zahlenmässigen Übergewicht der Mehrheit, sondern von der ökonomischen Notwendigkeit und der Einsicht in diese Notwendigkeit ab, die zur Aufhebung des Kapitalismus durch die Volksmasse führt und die sich vor allen in der kapitalistischen Anarchie äussert.“11
Während der Reformismus (und heutzutage die Linke des Kapitals) Verbesserungen dank der staatlichen Intervention und Gesetzen, die die Arbeiter schützen würden, verspricht, enthüllt die Krise, „dass das Lohnsystem nicht ein Rechtsverhältnis, sondern ein rein ökonomisches ist“.12
Unter den Angriffen, denen die Klasse ausgesetzt ist, beginnt sie das wahre Wesen des Kapitalismus zu verstehen. Dieser marxistische Standpunkt bestreitet überhaupt nicht die Wichtigkeit der Rolle der Revolutionäre und der Theorie für diesen Prozess. Die Arbeiter werden die Bestätigung und die Erklärung für ihre eigenen Erfahrungen in der marxistischen Theorie finden.

                Oktober 2003

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [11]

Theoretische Fragen: 

  • Zerfall [12]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [13]

Wirtschaftskrise - Die Krise ist ein Ausdruck der historischen Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise

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Die Krise ist ein Ausdruck der historischen Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise

Seit nunmehr über zweieinhalb Jahren kündigt die Bourgeoisie den Aufschwung an und nach jedem Quartal sieht sie sich gezwungen, seinen Beginn wieder zu verschieben. Seit ebenfalls mehr als zweieinhalb Jahren liegen die Ergebnis der Wirtschaftsentwicklung systematisch unter den Vorhersagen, was die herrschende Klasse dazu zwingt, sie ständig nach unten zu revidieren. Die gegenwärtige Rezession hat im zweiten Halbjahr 2000 begonnen und ist somit bereits eine der längsten seit dem Ende der 60er-Jahre. Und auch wenn sich jenseits des Atlantiks erste Anzeichen eines Aufschwungs zeigen, so sind Europa und Japan noch weit davon entfernt. Man Muss auch darauf hinweisen, dass der Aufwärtstrend in den USA hauptsächlich das Produkt eines in den vergangenen 40 Jahren beispiellosen staatlichen Interventionismus und einer Flucht nach vorn in Form einer massiven Verschuldung ist. Bereits machen sich Ängste über eine neue spekulative Blase, diesmal im Immobiliensektor, breit.
Was den auf eine Unterstützung der wirtschaftlichen Aktivitäten abzielenden staatlichen Interventionismus anbetrifft, so Muss man feststellen, dass die amerikanische Regierung das Budgetdefizit unkontrolliert ansteigen lässt. Im Jahr 2001 schloss der Haushalt mit 130 Milliarden Dollar noch positiv, während das Defizit 2003 gemäss Schätzungen bereits 300 Milliarden (3,6% des BSP) erreichen wird. Heute beunruhigen das Ausmass dieses Defizits sowie die Aussicht des weiteren Anstiegs angesichts des Irakkonflikts und der sinkenden Steuereinnahmen die politische Klasse und die Geschäftskreise in den USA mehr und mehr.
Die drastische Reduktion der Zinsraten durch die Zentralbank hat nicht nur die Unterstützung der wirtschaftlichen Aktivitäten zum Ziel, sondern hauptsächlich die Aufrechterhaltung der Nachfrage der Haushalte durch neue Verhandlungen über ihre Hypothekarschulden. Das abnehmende Gewicht der Zahlungen für Hypothekarkredite erlaubte somit eine Steigerung der von den Banken gewährten Verschuldung. Die Hypothekarschuld der amerikanischen Haushalte ist auf diese Weise auf 700 Milliarden Dollar (mehr als das Zweifache der öffentlichen Verschuldung!) angestiegen. Die Zunahme der gesamten amerikanischen Verschuldung, also des Staates, der Haushalte und Unternehmen erklärt, weshalb die USA schneller als andere Länder wieder auf Wachstumskurs gekommen sind. Allerdings kann er nur gehalten werden, wenn ihre wirtschaftliche Aktivität mittelfristig weiter unterstützt wird, sonst geht es ihnen wie Japan vor mehr als 10 Jahren, als eine spekulative Blase im Immobiliensektor platzte und Rechnungen angesichts vieler ungedeckter Schulden nicht mehr beglichen werden konnten.
Europa wird sich einen solchen Luxus kaum leisten können, denn seine Defizite sind bereits beim Eintritt der Rezession eindrücklich gewesen und diese hat sie nur noch vergrössert. So sind Deutschland und Frankreich, die zusammen das ökonomische Herz Europas bilden, mit einer öffentlichen Verschuldung von 3,8% beziehungsweise 4% des BIP die schlechtesten Schüler der Klasse. Sie befinden sich weit über der im Vertrag von Maastricht fixierten Schwelle (3%) und laufen somit Gefahr, von den Blitzen der europäischen Kommission getroffen, sprich mit den dafür vorgesehenen Bussen bestraft zu werden. Somit sind die Möglichkeiten Europas, eine konsequente Ankurbelungspolitik zu betreiben, eingeschränkt. Hinzu kommt, dass die USA mit der Abwertung des Dollars gegenüber dem Euro zur Reduktion des Handelsdefizits Europa im Weg stehen, das mehr und mehr Probleme hat, einen Exportüberschuss zu erzielen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich die zentralen Länder Europas wie Deutschland, Frankreich, Holland und Italien in einer Rezession befinden und die anderen nicht weit davon entfernt sind.
Diejenigen, die beim Fall der Berliner Mauer noch den Reden der Bourgeoisie über den Beginn eines neuen Wachstumszeitalters und die Öffnung des osteuropäischen Marktes geglaubt hatten, sind bereits eines Besseren belehrt worden. Die Wiedervereinigung Deutschlands stellt in keiner Art und Weise ein Sprungbrett zur deutschen Herrschaft dar, sondern eher eine schwere Last für das Land. Deutschland war einmal die Lokomotive Europas, aber seit der Wiedervereinigung ist es lediglich  noch der letzte Wagen, der kaum mehr in der Lage ist, dem Rhythmus des Zuges zu folgen. Die Inflation ist niedrig und kippt beinahe in eine Deflation, die hohen realen Zinsraten zähmen die Aktivitäten noch mehr, und die Existenz des Euro unterbindet von nun an eine Politik der kompetitiven Abwertung der nationalen Währung. Die Arbeitslosigkeit, die Lohnbescheidenheit und die Rezession führen zu einer Stagnation des inneren Marktes, wie sie in vorangegangen Konjunkturabkühlungen in diesem Land noch nie beobachtet worden ist. Weiter wird auch die zukünftige Integration der osteuropäischen Länder schwer auf der Konjunktur lasten.
All das führt unausweichlich zu einem drastischen Anstieg der Angriffe gegen die Arbeitsbedingungen und das Lebensniveau der Arbeiterklasse. Austeritätsmassnahmen, Massenentlassungen und beispiellose Verschärfungen der Ausbeutung der Arbeit stehen auf den Tagesordnungen der Bourgeoisie überall in der Welt. Gemäss den stark untertriebenen offiziellen Statistiken wird die Arbeitslosigkeit in Deutschland bald 5 Millionen betragen und Ende des Jahres 6,1% in den USA sowie 10% in Frankreich. In Europa gibt die französisch-deutsche Achse mit dem Raffarin-Plan und Schröders Agenda 2010 den Ton der Politik an, die überall eingeleitet wird: Zurückfahren des Budgetdefizits, Verminderung der Steuern für hohe Einkünfte, Lockerung der Kündigungsbestimmungen, Reduktion der Arbeitslosenentschädigung und verschiedener Zuschüsse, Verminderung der Rückzahlungen für Pflegekosten und Erhöhung des Rentenalters. Die bereits Pensionierten müssen heute insbesondere die Kosten der Austeritätsmassnahmen tragen, womit definitiv die Idee einer wohlverdienten Ruhe nach dem Arbeitsleben zerschlagen wird. In den USA beobachtet man seit dem Zusammenbruch von Pensionskassen oder deren hohen Verlusten seit dem Börsenkrach eine massive Rückkehr von bereits Pensionierten auf den Arbeitsmarkt. Sie stehen unter dem Zwang zu arbeiten, um zu überleben. Die Arbeiterklasse steht also vor einer umfangreichen Austeritätsoffensive, die übrigens auf ökonomischer Ebene die Rezession nur verlängern und weitere Angriffe nach sich ziehen wird.

Die Krise enthüllt, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse überholt sind

Der ununterbrochene Niedergang der Wachstumsraten seit dem Ende der 60er-Jahre1 entlarvt die durch die Bourgeoisie geschickt während der ganzen 90er-Jahre aufrechterhaltene Lüge über die dank der New Economy, der Globalisierung sowie der neoliberalen Rezepte angeblich wiedergefundene wirtschaftliche Prosperität des Kapitalismus. Die Krise hat denn auch nichts mit der Wirtschaftspolitik zu tun: Wenn sich die keynesianischen Rezepte der 50er- und 60er-Jahre, später die neokeynesianischen der 70er-Jahre erschöpft haben und wenn die neoliberalen Rezepte der 80er- und 90er-Jahre nichts haben lösen können, so ist das darauf zurück zu führen, dass die globale Krise nicht die Folge einer falschen Wirtschaftspolitik ist, sondern einfach die Grundwidersprüche der kapitalistischen Mechanismen offenbart. Wenn die Krise nichts mit der Wirtschaftspolitik zu tun hat, so erst recht nicht mit der Ausrichtung der Regierung. Ob es nun eine linke oder rechte Regierung ist, sie alle haben der Reihe nach alle verfügbaren Rezepte ausprobiert. So sind die gegenwärtigen Regierungen der USA und Englands, die als die glühendsten Vertreter des Neoliberalismus und der Globalisierung gelten, von entgegengesetzter politischer Ausrichtung und wenden heute die weitreichendsten neokeynesianischen Rezepte an, indem sie die öffentlichen Defizite zügellos ansteigen lassen. Wenn man die Austeritätsprogramme der rot-grünen Regierung Schröder und der rechtsliberalen Regierung Raffarin unter die Lupe nimmt, so Muss man feststellen, dass sie sich gleichen wie ein Tropfen dem anderen, dass sie die gleichen Massnahmen anwenden.
Angesichts der sich seit 35 Jahren drehenden Krisenspirale und der ununterbrochenen Austeritätsmassnahmen besteht eine der wesentlichen Verantwortungen der Revolutionäre darin aufzuzeigen, dass die Wurzeln in der historischen Sackgasse des Kapitalismus liegen und dass die im Zentrum der kapitalistischen Produktionsverhältnisses liegende Lohnarbeit2 überholt ist. Tatsächlich vereint die Lohnarbeit gleichzeitig all die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Beschränktheiten der kapitalistischen Produktion des Profits sowie die Hindernisse bei der vollständigen Realisierung des letzteren.3 Die Verallgemeinerung der Lohnarbeit lag der Expansion des Kapitalismus im 19. Jahrhundert zugrunde; seit dem Ersten Weltkrieg ist sie die Grundlage der relativen Beschränktheit des zahlungsfähigen Marktes gemessen an den Notwendigkeiten der Akkumulation. Es liegt in der Verantwortung der Revolutionäre, gegen all die mystifizierenden, also falschen Erklärungen für die Krise anzutreten, die Sackgasse aufzuzeigen: Der Kapitalismus war eine notwendige und fortschrittliche Produktionsweise, die heute historisch überholt ist und die Menschheit ins Verderben führt. Wie bei all den dekadenten Phasen der vergangenen antiken und feudalen Produktionsweisen liegt die Sackgasse im Umstand begründet, dass die grundlegenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnisses zu eng geworden sind und keine weitere Entwicklung der Produktivkräfte im bisherigen Ausmass erlauben.4 In der heutigen Gesellschaft stellt die Lohnarbeit diese Bremse für die volle Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse dar. Einzig die Aufhebung dieser sozialen Verhältnisse und die Einführung des Kommunismus werden der Menschheit die Befreiung von diesen Widersprüchen bringen.
Seit dem Fall der Berliner Mauer führt die Bourgeoisie unaufhörlich Kampagnen über die „Unmöglichkeit des Kommunismus“, „die Utopie der Revolution“ und die „Auflösung der Arbeiterklasse“ in einer Masse von Bürgern, deren einzige legitime Handlungsweise die „demokratische“ Reform eines Kapitalismus sei, der als der unüberwindbare Horizont der Menschheit dargestellt wird. Im Rahmen dieses ideologischen Angriffs kommt den Globalisierungsgegnern das Protestmonopol zu. Die Bourgeoisie gibt sich alle Mühe, ihnen eine erstrangige Stellung als privilegierte Gesprächspartner und Kritiker zu geben: In den Medien wird den Analysen und Aktionen dieser Strömung viel Platz eingeräumt. Ihre hervorragendsten Vertreter erhalten gelegentlich Einladungen an Gipfeltreffen oder an andere offizielle Veranstaltungen. Der Grund liegt darin, dass sich die ideologischen Versatzstücke der Globalisierungsgegner mit der Kampagne der Bourgeoisie über die „Utopie des Kommunismus“ ideal ergänzen, da sie von den gleichen Voraussetzungen ausgehen: Der Kapitalismus sei das einzig mögliche System und seine Reform somit die einzige Alternative. Diese Bewegung mit der ATTAC an der Spitze und ihren Wirtschaftsexperten vertritt die Auffassung, dass der Kapitalismus so human gestaltet werden könne, dass der „gute und regulierte Kapitalismus“ den „schlechten Finanzkapitalismus“ ersetzen werde. Die Krise sei die Konsequenz der neoliberalen Deregulierung und der Politik des Finanzkapitalismus, der seine Diktatur der 15% zwingendem Ertrag über den Industriekapitalismus errichtet habe. Dies sei anscheinend alles an einer obskuren Versammlung 1979 im sogenannten „Washingtoner Konsens“ entschieden worden. Die Austerität, die finanzielle Instabilität, die Rezessionen usw. seien nichts anderes als die Konsequenz dieses neuen Kräfteverhältnisses, das sich innerhalb der Bourgeoisie zugunsten des Wucherkapitals herausgebildet habe. Daher auch die Forderung nach „Regulierung der Finanzen“, der „Zurückdrängung“ und „Umleitung der Investitionen in die produktive Sphäre“ usw.
In diesem Umfeld allgemeiner Verwirrung über die Ursprünge und Gründe der Krise ist es an den Revolutionären, die Grundlagen für ein klares Verständnis herzustellen und vor allem zu zeigen, dass sie das Produkt des historischen Bankrotts des Kapitalismus ist. Mit anderen Worten haben sie die Aufgabe nachzuweisen, dass der Marxismus auch und gerade auf diesem Gebiet immer noch gültig ist. Leider Muss man aber feststellen, dass die Krisenanalysen der Gruppen des proletarischen Milieus wie des PCInt - Programme Communiste oder des IBRP weit davon entfernt sind, dieser Aufgabe gerecht zu werden und sich von der Ideologie der Globalisierungsgegner abzugrenzen. Gewiss gehören diese beiden Gruppen unbestreitbar zum proletarischen Milieu und unterscheiden sich grundlegend von der Antiglobalisierungsbewegung durch ihre Denunzierung der reformistischen Illusionen und durch die Verteidigung der Perspektive einer kommunistischen Revolution. Ihre eigene Analyse der Krise ist indessen zu weiten Teilen dieser Bewegung abgekupfert.
Einige ausgewählte Beispiele: „Die aus der Spekulation hervorgehenden Gewinne sind so wichtig, dass sie nicht nur für die ,klassischen‘ Unternehmen attraktiv sind, sondern auch für viele andere. Wir erwähnen hier die Versicherungen oder die Pensionsfonds, bei denen Enron ein exzellentes Beispiel darstellt ... Die Spekulation ist ein komplementäres, um nicht zu sagen das hauptsächliche Element der Bourgeoisie, sich den Mehrwert anzueignen ... Es hat sich die Regel eingebürgert, dass der Ertrag von Investitionen in Unternehmen im Minimum 15% betragen Muss. Um bei den Aktien eine solche Wachstumsrate zu erreichen oder zu übertreffen, musste die Bourgeoisie die Ausbeutungsbedingungen der Arbeiterklasse verschärfen: Der Arbeitsrhythmus ist intensiviert, die Reallöhne sind gesenkt worden. Massenentlassungen haben Hunderttausende von Arbeitern betroffen“ (IBRP, in: Bilan et Perspectives, Nr. 4, S. 6). Man kann bereits feststellen, dass es eine seltsame Art der Problemstellung für eine Gruppe ist, die sich als „materialistisch“ versteht und die selbst die IKS als „idealistisch“ auffasst. „Eine Regel hat sich eingebürgert“, sagt uns das IBRP. Hat sie sich von ganz alleine eingebürgert? Wir wollen dem IBRP keine solche Idee unterstellen. Es ist eine Klasse, eine Regierung oder eine gegebene menschliche Organisation, die eine solche Regel aufgestellt hat, aber warum? Weil etwa gewisse Mächtige dieser Erde plötzlich gieriger und böser geworden sind, als dies normalerweise der Fall ist? Weil die „Bösen“ den Sieg über die „Guten“ (oder die „weniger Bösen“) davon getragen haben. Oder ganz einfach, wie es die Auffassung des Marxismus ist, weil die objektiven Bedingungen der Weltwirtschaft die herrschende Klasse dazu gezwungen hat, die Ausbeutung der Arbeiter zu verschärfen. Leider wird in der zitierten Passage das Problem nicht von dieser Seite angegangen.
Weiter, und das ist noch schlimmer, könnte man solche Stellen in irgendwelchem Heftchen der Antiglobalisierungsbewegung finden: Die Finanzspekulation sei zur Hauptquelle des kapitalistischen Profits geworden; die Finanzspekulation habe den Unternehmen ihre Regel von den 15% aufgezwungen; die Finanzspekulation sei verantwortlich für die verschärfte Ausbeutung, die Massenentlassungen und die Lohnsenkungen und schliesslich sei es die Finanzspekulation, die am Ursprung des Deindustrialisierungsprozesses und der Misere auf dem gesamten Planeten stehen würde. „Die Akkumulation der finanziellen und spekulativen Profite nährt den Prozess der Deindustrialisierung und zieht Arbeitslosigkeit und Elend auf dem gesamten Planeten nach sich“ (ebd., S. 7).
Was den PCInt – Programme Communiste anbelangt, so steht es mit dieser Organisation kaum besser, auch wenn sie sich weit allgemeiner hält und sich mit der Autorität Lenins schmückt:
„Das Finanzkapital, die Banken werden aufgrund der kapitalistischen Entwicklung die wirklichen Akteure der Zentralisierung des Kapitals, was zu einer Zunahme der Macht der gigantischen Monopole führt. Im imperialistischen Stadium des Kapitalismus beherrscht das Finanzkapital die Märkte, die Unternehmen, die ganze Gesellschaft, und diese Herrschaft führt wiederum zur finanziellen Konzentration bis zu dem Punkt, an dem ,das Finanzkapital, das in wenigen Händen konzentriert ist und faktisch eine Monopolstellung einnimmt, ziehtkolossale und stets zunehmende Profite aus Gründungen, aus dem Emissionsgeschäft, aus Staatsanleihen usw. , verankert die Herrschaft der Finanzoligarchie und legt der gesamten Gesellschaft einen Tribut zugunsten der Monopolisten auf‘5. Der Kapitalismus entwickelt sich aus dem kleinen Wucherkapital und beendet seine Evolution in der Form eines gigantischen Wucherkapitals“ (Programme Communiste, Nr. 98, S. 1, eigene Übersetzung). Hier haben wir also ein weiteres Beispiel einer Denunzierung des parasitären Finanzkapitals, das auch den radikalsten Globalisierungsgegnern gefallen könnte.6
Man sucht in diesen Textausschnitten vergeblich nach irgendeinem Beweis, dass der Kapitalismus als Produktionsweise überholt sei, dass es der Kapitalismus als Gesamtheit sei, der verantwortlich für die Krisen, die Kriege und das Elend auf der Welt sei. Man sucht vergeblich nach einer Verurteilung der Hauptidee der Globalisierungsgegner, gemäss der das Finanzkapital schuld an der Krise sei, während es eben tatsächlich der Kapitalismus als System ist. Diese beiden Gruppen der Kommunistischen Linken lassen mit der Übernahme einer ganzen Reihe von Argumenten der Globalisierungsgegner die Türe weit offen für die opportunistischen Theorien der linken Analysen. Sie stellen die Krise als Folge der Errichtung eines neuen Kräfteverhältnisses innerhalb der Bourgeoisie zwischen der Finanzoligarchie und dem industriellen Kapital dar. Die Finanzoligopole hätten sich mit der Entscheidung von Washington zur brüsken Erhöhung der Zinsraten über das Unternehmenskapital gestellt.
In Wirklichkeit gab es nie einen Triumph der Banken über die Industriellen, die Bourgeoisie als Gesamtheit ist in ihrer Offensive gegen die Arbeiterklasse zu einer höheren Geschwindigkeit übergegangen.

Die Finanzprofite als Basis eines Wucherkapitalismus?

Die Verurteilung der Entwicklung der Finanzsphäre ist heute ein allen kritischen Ökonomen gemeinsames Thema. Die zurzeit modische Erklärung dieser ,Kritiker des Kapitalismus‘ lautet, dass die Profitrate tatsächlich angestiegen sei, aber dass sich die Finanzoligarchie den Profit angeeignet hätte, sodass die industrielle Profitrate sich nicht bedeutend erhöht hätte. Dies erklärt auch, weshalb die Wirtschaft nicht wieder in Schwung gekommen sei (siehe Grafik). Richtig ist, dass seit Anfang der 80er-Jahre in der Folge des Entscheids von 1979 zur Erhöhung der Zinsraten ein beträchtlicher Teil des Mehrwerts nicht mehr in der Selbstfinanzierung der Unternehmen akkumuliert, sondern in Form von Finanzerträgen verteilt worden ist. Die vorherrschende Antwort auf diese Feststellung lautet, dass das Wachstum der Finanzsphäre eine Folge der Umlenkung des globalen Profits sei, was wiederum die produktive Investition behindern würde. Die Schwäche des Wirtschaftswachstums würde sich so also aus dem Parasitismus der Finanzsphäre ergeben. Daraus leiten sich auch die pseudo-marxistischen ,Erklärungen‘, die sich auf Lenin stützen, ab: „Das Finanzkapital, das in wenigen Händen konzentriert ist und faktisch eine Monopolstellung einnimmt, zieht kolossale und stets zunehmende Profite aus Gründungen, aus dem Emissionsgeschäft, aus Staatsanleihen usw., verankert die Herrschaft der Finanzoligarchie und legt der gesamten Gesellschaft einen Tribut zugunsten der Monopolisten auf.“ (siehe Fussnote 5). Die Finanzprofite würden in den Unternehmen also einen wahrhaftigen Abfluss herbeiführen (den bekannten Ertrag von 15%).
Diese Analyse ist ein Rückschritt in die Vulgärökonomie, in der das Kapital je nach Höhe der relativen Profitrate quasi zwischen produktiver Investition oder Platzierung in der Finanzsphäre auswählen kann. Auf mehr theoretischer Ebene beziehen sich diese Erklärungen der parasitären Finanzsphäre auf zwei Theorien des Werts und des Profits.
Der marxistische Ansatz besagt, dass der Wert vor seiner Verteilung existiert und ausschliesslich im Produktionsprozess durch die Ausbeutung der Arbeitskraft hergestellt wird. Im Band 3 des Kapitals präzisiert Marx, dass der Zins „...ein Teil des Profits (ist), den das fungierende Kapital, statt in die eigne Tasche zu stecken, an den Eigner  des Kapitals wegzuzahlen hat“ (MEW 25, S. 351). Diesbezüglich unterscheidet sich Marx radikal von der bürgerlichen Ökonomie, die den Profit als eine Summe der Einkünfte der Faktoren (Einkünfte der Arbeitskraft, Einkünfte des Kapitals, Einkünfte aus dem Boden usw.) darstellt. Die Ausbeutung verschwindet, weil jeder Faktor entsprechend seinem eigenen Beitrag zur Produktion entschädigt wird: „Für die Vulgärökonomie, die das Kapital als selbständige Quelle des Werts, der Wertschöpfung, darstellen will, ist natürlich diese Form ein gefundnes Fressen, eine Form, worin die Quelle des Profits nicht mehr erkenntlich und worin das Resultat des kapitalistischen Produktionsprozesses – getrennt vom Prozess selbst – ein selbständiges Dasein erhält.“ (MEW 25, S. 405 f.) Der Finanzfetischismus besteht aus der Illusion, dass die Ausgabe eines Kapitalanteilscheins (Aktie, Obligation usw.) im eigentlichen Sinn des Wortes Zinsen „produziert“. Mit einem solchen Titel kauft man sich jedoch lediglich das Anrecht auf einen Teil des geschaffenen Werts; es wird auf diese Weise aber noch kein Wert geschaffen. Einzig und allein die Arbeit fügt dem Produkt einen Wert hinzu. Das Kapital, das Eigentum, eine Aktie, ein Sparbuch oder ein Maschinenpark bringen nichts von alleine hervor. Die Menschen produzieren.7 Das Kapital bringt etwas ein, wie der Jagdhund das Wild apportiert. Es schafft nichts, aber es gibt seinem Besitzer das Recht auf einen Anteil dessen, was derjenige, der sich des Kapitals bedient hat, geschaffen hat. In diesem Sinn ist das Kapital weniger ein Objekt als vielmehr ein soziales Verhältnis: Ein Teil der Arbeitsfrucht anderer endet in den Händen des Kapitalbesitzers. Die Antiglobalisierungsideologie stellt diese Ordnung der Dinge auf den Kopf, weil sie die Schaffung von Mehrwert mit seiner Aufteilung verwechselt. Der kapitalistische Profit entsteht ausschliesslich aus der Ausbeutung der Arbeitskraft, es gibt für die Gesamtheit der Bourgeoisie keine Spekulationsprofite (auch wenn der eine oder andere besondere Sektor aus der Spekulation einen Gewinn ziehen kann). Die Börse bringt also keinen Wert hervor.
Die andere Theorie flirtet mit der Vulgärökonomie und versteht den globalen Profit als Summe aus dem industriellen Profit einerseits und dem Finanzprofit anderseits. Die Akkumulationsrate sei schwach, weil der Profit in der Finanzsphäre höher sei als der industrielle Profit. Diese Sichtweise stammt aus dem Nachlass der verstorbenen stalinistischen Parteien, die seinerzeit eine volkstümliche Kritik des Kapitalismus verbreitet haben. Diese besteht darin, dass eine parasitäre Oligarchie (die 200 Familien in Frankreich usw.) den ,legitimen‘ Profit an sich reissen würde. Es handelt sich eigentlich um dieselbe Idee: Gemäss diesem Finanzfetischismus bringt die Börse gleich wie die Ausbeutung der Arbeitskraft Wert hervor. In dieser Überlegung liegt auch die ganze Mystifikation der Tobin-Steuer, die auf eine Regulierung und einen menschlichen Kapitalismus abzielt. Wenn ein Neben- zu einem Hauptwiderspruch erhoben wird, birgt dies die Gefahr eines typisch linken Abgleitens in sich, das darin besteht, den guten Weizen vom schlechten Spreu zu trennen: den investierenden vom spekulierenden Kapitalismus. Das führt zur Sichtweise, dass die Aufblähung des Finanzsektors eine Art Parasitismus auf einem gesunden kapitalistischen Körper sei. Die Krise wird nicht verschwinden, auch nicht nach der Vernichtung des Programme Communiste so teuren gigantischen Wucherkapitals. Auf eine gewisse Weise führt diese Einengung des Blickwinkels auf die Ausweitung des Finanzsektors zu einer Unterschätzung des Ausmasses der Krise: Sie rühre von der parasitären Rolle des Finanzsektors, der den Unternehmen eine zu hohe Profitrate abverlange und sie so an der Realisierung ihrer produktiven Investitionen hindere. Wenn das tatsächlich der Fall wäre, so würde die „Euthanasie der Rentner“ (Keynes) das Problem lösen.
Diese Konzessionen auf analytischer Ebene an linksbürgerliche „Theorien“ führen dazu, eine gewisse Anzahl von ökonomischen Gegebenheiten als Beweis für die absolute Vorherrschaft des Finanzsektors und seine gegenüber der Wirtschaft praktizierte Blutsaugerei darzustellen. Die Beweisführung lässt einen richtiggehend schwindlig werden: „Die Grossunternehmen lenken ihre Investitionen in die Finanzmärkte, da sie als tragfähiger angesehen werden ... Dieser phänomenale Markt entwickelt sich in weit höherer Geschwindigkeit als derjenige der Produktion ... Was die täglichen monetären Währungstransaktionen im Umfang von 1300 Milliarden Dollar im Jahr 1996 betrifft, so sind davon 5 bis 8% zur Bezahlung von Waren oder Dienstleistungen über Grenzen hinweg getätigt worden ... 85% dieser 1300 Milliarden täglicher Operationen sind also rein spekulativ! Diese Zahlen müssen wieder angepasst werden, denn die 85% sind heute überholt“ (IBRP, in: Bilan et Perspectives, Nr. 4, S.6). Ja, sie sind tatsächlich überholt und die Beträge erreichen mittlerweile 1500 Milliarden Dollar, was den Umfang der Verschuldung der Dritten Welt ausmacht, aber diese Zahlen ängstigen nur die Ignoranten, denn sie machen keinen Sinn! In der Realität zirkulieren diese Gelder lediglich und die Summen sind um so grösser, je schneller sich das Karussell dreht. Es reicht, sich eine Person vorzustellen, die jede halbe Stunde zu spekulativen Zwecken eine Einheit von 100 in eine andere Währung umtauscht: Nach 24 Stunden beträgt die Summe der Transaktionen 4800. Wenn diese Person nun jede Viertelstunde dieselbe Operation vornimmt, so hat sich die Gesamtsumme verdoppelt. Diese Summe ist jedoch rein virtuell, denn die Person besitzt noch immer nur 100 plus 5 oder minus 10 je nach Talent in der Kunst des Spekulierens. Leider macht eine solch mediengerechte Darstellung der Tatsachen, wie sie auch das IBRP betreibt, die Interpretation der Krise als Produkt des parasitären Finanzsektors glaubwürdiger.
Tatsächlich ist die Aufblähung des Finanzsektors durch die Anhäufung nicht akkumulierten (d.h. nicht wieder investierten) Mehrwerts zu erklären. Die Überproduktionskrise und die beschränkt vorhandenen rentablen Akkumulationsfelder führen dazu, dass der Mehrwert in der Form von Einkommen aus dem Finanzsektor verteilt wird. Es ist also nicht das zinstragende Kapital, das sich den produktiven Investitionen entgegenstellen oder sie gar ersetzen würde. Die Aufblähung des Finanzsektors entspricht der Zunahme des nicht mehr profitabel investierbaren Mehrwerts.8 Die Verteilung der Gewinne aus dem Finanzkapital steht nicht automatisch in Widerspruch zur Akkumulation auf der Grundlage der Unternehmensselbstfinanzierung. Wenn die Profite aus der wirtschaftlichen Tätigkeit attraktiv sind, werden die Finanzerträge neu investiert und nehmen so an der Akkumulation der Unternehmen teil. Heute geht es nicht darum zu erklären, weshalb die Profite in der Form von Gewinnen des Finanzkapitals durch die Tür verschwinden, sondern weshalb sie nicht durch das Fenster zurückkommen und wieder produktiv im Wirtschaftskreislauf investiert werden. Wenn ein bedeutender Teil dieser Summen wieder investiert würde, so würde sich dies in einer Erhöhung der Akkumulationsrate ausdrücken. Wenn das aber nicht eintritt, so ist es auf die Überproduktionskrise und also die Verknappung von rentablen Akkumulationsfeldern zurückzuführen.
Der Finanzparasitismus ist ein Symptom, eine Folge der Schwierigkeiten des Kapitalismus und nicht die Ursache der Schwierigkeiten. Die Finanzsphäre ist das Schaufenster der Krise, weil sich in ihr die Börsenblasen, die Währungseinbrüche und die Bankenturbulenzen abspielen. Diese Erschütterungen sind aber die Konsequenzen der Widersprüche, die ihren Ursprung in der produktiven Sphäre haben.

Die Lohnarbeit im Zentrum der Überproduktionskrise

Was spielt sich seit über 20 Jahren ab? Die Austeritätspolitik und die Lohnsenkungen9 erlaubten eine Wiederherstellung der unternehmerischen Profitrate, jedoch haben die gewachsenen Profite nicht zu einer Erhöhung der Akkumulationsrate (also der Investitionen) und somit der Arbeitsproduktivität geführt. Das Wachstum ist somit rezessiv geblieben (siehe Grafik). Kurz gesagt hat die Zurückstutzung der Arbeitskosten die Märkte eingeschränkt und somit zu einem Anwachsen der Finanzerträge und nicht zu einer Reinvestition der Profite geführt. Weshalb aber sind die Reinvestitionen heute so schwach, wenn doch die Unternehmensprofite wiederhergestellt worden sind? Warum kommt die Akkumulation nach dem nunmehr zwanzigjährigen Anstieg der Profitrate nicht wieder in Gang? Marx und später Rosa Luxemburg haben uns gelehrt, dass die Produktionsbedingungen (Auspressung von Mehrwert) eine Sache und die Realisierungsbedingungen dieser in den hergestellten Waren kristallisierten Mehrarbeit eine andere Sache sind. Die in den Produkten kristallisierte Mehrarbeit wird nur zu klingendem und akkumulierbarem Mehrwert, wenn die hergestellten Waren auf den Märkten verkauft worden sind. Dieser fundamentale Unterschied zwischen den Produktions- und Realisierungsbedingungen erlaubt es uns zu verstehen, weshalb es keine mechanische Verbindung zwischen Profitrate und Wachstum gibt.
Die Grafik fasst die Entwicklung des Kapitalismus seit dem Zweiten Weltkrieg sehr gut zusammen. In der aussergewöhnlichen Wachstumsphase während dem Wiederaufbau wachsen alle wichtigen Variablen wie Profit, Akkumulation, Wachstum und Arbeitsproduktivität oder sie bewegen sich auf hohem Niveau bis zum Wiederauftauchen der offenen Krise beim Übergang von den 60er- zu den 70er-Jahren. Die Produktivitätsgewinne beginnen sich seit den 60er-Jahren zu erschöpfen und reissen die anderen Variablen bis zu Beginn der 80er-Jahre mit sich in die Tiefe. Seither befindet sich der Kapitalismus auf ökonomischer Ebene  in einer beispiellosen Situation, gekennzeichnet durch eine Konstellation von steigenden Profitraten und gleichzeitig mittelmässiger Arbeitsproduktivität, Akkumulationsrate und also Wachstumsrate. Dieses Auseinanderdriften von Profitrate und den anderen Variablen seit nun mehr als 20 Jahren kann nur im Rahmen der Dekadenz des Kapitalismus verstanden werden. Für das IBRP ist das aber nicht der Fall, es ist der Meinung, dass das Konzept der Dekadenz auf den Abfallhaufen der Geschichte gehöre: „Welche Rolle spielt also das Konzept der Dekadenz in einer militanten Kritik der politischen Ökonomie, d.h. der vertieften Analyse der Phänomene und der Dynamik des Kapitalismus in der gegenwärtigen Periode? Keine ... Mit dem Konzept der Dekadenz kann man weder die Krisenmechanismen erklären, noch das Verhältnis zwischen Krise und Aufblähung des Finanzsektors oder der Grossmachtpolitik zur Kontrolle der Finanzerträge und ihrer Ressourcen anprangern“ (IBRP: Eléments de réflexion sur les crises du CCI). Das IBRP zieht es vor, das Schlüsselkonzept der Dekadenz, das einst zu seinen eigenen Positionen gehörte10, fallen zu lassen, um es durch modische Erklärungen des globalisierungsfeindlichen Milieus wie der Aufblähung des Finanzsektors oder der Finanzrente zu ersetzen, um die Krise und die Politik der Grossmächte zu verstehen. Es geht sogar so weit zu behaupten, dass „.diese Konzepte (es ist hauptsächlich von der Dekadenz die Rede) nicht zur Methode und zum Arsenal zur Kritik der politischen Ökonomie gehören“ (ebd.).
Weshalb ist der Rahmen der Dekadenz unabdingbar für das Verständnis der Krise heute? Weil der ununterbrochene Niedergang der Wachstumsrate seit dem Ende der 60er-Jahre in den Ländern der OECD mit jeweils 5,2%, 3,5%, 2,8%, 2,6% und 2,2% für die 60er, 70er, 80er, 90er-Jahre und 2000–2002 die Rückkehr des Kapitalismus zu seiner durch den Ersten Weltkrieg eröffneten historischen Tendenz bestätigt. Die Klammer der aussergewöhnlichen Wachstumsphase (1950–1975) ist endgültig geschlossen.11 Damit fand der Kapitalismus nach einem letzten Aufbäumen unausweichlich zum Wachstumsrhythmus der Jahre 1914–1950 zurück. Ganz im Gegenteil zum Geschrei unserer Kritiker ist die Dekadenztheorie des Kapitalismus keineswegs das spezifische Produkt der 30er-Jahre.12 Sie stellt das Herzstück des historischen Materialismus dar, das endlich gefundene Geheimnis der Abfolge von Produktionsweisen in der Geschichte, und sie gibt somit den Rahmen zum Verständnis und zur Analyse der Evolution des Kapitalismus und insbesondere der Periode, die mit dem Ersten Weltkrieg einsetzte. Sie ist von allgemeiner Tragweite; sie ist für ein ganzes historisches Zeitalter gültig und hängt in keiner Weise von einer besonderen Periode oder einer momentanen ökonomischen Konjunktur ab. Aber selbst wenn wir die aussergewöhnliche Wachstumsphase zwischen 1950 und 1975 einbeziehen – zwei Weltkriege, die Depression der 30er-Jahre und mehr als 35 Jahre der Krise und Austerität präsentieren eine nüchterne Bilanz der Dekadenz des Kapitalismus: kaum 30 bis 35 (grosszügig gerechnet) Jahre ,Prosperität‘ auf 55 bis 60 Jahre von Krieg und/oder Wirtschaftskrise (und das Schlimmste kommt noch!). Die historische Tendenz zur Bremsung des Wachstums der Produktivkräfte durch die überholt gewordenen kapitalistischen Produktionsverhältnisses ist die Regel, der Rahmen zum Verständnis der Evolution des Kapitalismus, darin eingeschlossen die Ausnahme der Prosperitätsphase nach dem Zweiten Weltkrieg (wir werden darauf in einem nächsten Artikel zurück kommen). Im Gegensatz zur Vorstellung der reformistischen Strömung, die sich von den Ergebnissen des Kapitalismus der Belle Epoque hat vereinnahmen lassen, ist die Verwerfung der Dekadenz ein reines Produkt der Prosperitätsjahre.
Die Grafik zeigt uns übrigens auch deutlich, dass dem Anstieg der Profitrate weder eine Verbesserung der Arbeitsproduktivität noch eine Verringerung des Kapitals zugrunde liegt. Das erlaubt uns auch, endgültig mit dem Geschwätz über die angebliche ,neue technologische Revolution‘ Schluss zu machen. Gewisse von der Informationstechnologie entzückte Universitätsabsolventen sind der Bourgeoisie mit ihrer Kampagne über die New Economy in die Falle gegangen und verwechseln die Frequenz ihres Computers mit der Arbeitsproduktivität: Wenn der Pentium 4 zweihundertmal schneller als die erste Generation dieses Rechners dreht, bedeutet dies noch lange nicht, dass der Büroangestellte zweihundertmal schneller tippt und seine Produktivität entsprechend ansteigt. Die Grafik
zeigt deutlich, dass sich die Arbeitsproduktvität seit den 60er-Jahren im Niedergang befindet. Und der Grund dafür liegt darin, dass trotz der wiederhergestellten Profite die Akkumulationsrate (Investitionen als Grundlage für mögliche Gewinne in der Produktivität) nicht wieder angezogen hat. Die ,technologische Revolution‘ existiert nur in den bürgerlichen Kampagnen und in der Vorstellung derjenigen, die leichtfertig daran glauben. Die empirische Feststellung einer seit den 60er-Jahren ununterbrochenen Verlangsamung der Produktivität (des technischen Fortschritts und der Arbeitsorganisation) widerspricht dem in den Medien vermittelten und gut in den Köpfen verankerten Bild eines technologischen Wandels, einer neuen industriellen Revolution, die heute von der Informatik und der Telekommunikation, dem Internet und von Multimedia getragen werde. Wie kann man die Kraft dieser Mystifikation, die die Realität in unseren Köpfen verdreht, erklären?
Zuallererst Muss man daran erinnern, dass der Fortschritt in der Produktivität nach dem Zweiten Weltkrieg weit spektakulärer war als das, was uns heute als New Economy präsentiert wird. Die Einführung von Arbeitsschichten zu 8 Stunden, die Verallgemeinerung des Fliessbands in der Industrie, die schnellen Fortschritte  in der Entwicklung und Verbreitung von neuen Transporttypen (Lastwagen, Zug, Flugzeug, Auto, Schiff), die Ersetzung von Kohle durch billigeres Erdöl, die Einführung von Kunststoffen und die Ersetzung von teureren Materialen, die Industrialisierung der Landwirtschaft, der selbstverständliche Zugang zur Elektrizität, zum Erdgas, zu fliessendem Wasser, zu Radio und Telefon, die Mechanisierung des Haushalts durch die Entwicklung von elektrischen Apparaten usw. sind weit spektakulärer was die Steigerung der Produktivität anbelangt als die neusten Entwicklungen im Bereich der Informatik und Telekommunikation. Deshalb befindet sich das Produktivitätswachstum seit den Goldenen Sechzigern im Niedergang.
Weiter wird eine permanente Verwirrung zwischen dem Auftauchen neuer Konsumgüter und dem Produktivitätsfortschritt aufrecht erhalten. Der Innovationsfluss, die Vervielfachung von noch so aussergewöhnlichen Neuheiten (DVD, GSM-Telefone, Internet usw.) auf der Ebene der Konsumgüter deckt sich nicht mit dem Phänomen der Produktivitätssteigerung. Diese bedeutet nämlich die Fähigkeit, Ressourcen bei der Produktion einer Ware oder Dienstleistung einzusparen. Der Ausdruck technischer Fortschritt Muss immer im Sinn eines Fortschritts der Produktions- und/oder Organisationstechnik verstanden werden, also vom strikten Standpunkt der Einsparung von Ressourcen in der Herstellung einer Ware oder der Ausrichtung einer Dienstleistung. So vorzüglich das numerische Wachstum auch sein mag, es übersetzt sich nicht in ein bedeutendes Wachstum der Produktivität im Produktionsprozess. Das ist der ganze Bluff der New Economy.
Im Gegensatz zu den Behauptungen unserer Kritiker, die die Realität der Dekadenz und die Gültigkeit der theoretischen Beiträge von Rosa Luxemburg verneinen und die aus dem tendenziellen Fall der Profitrate das Alpha und Omega der Evolution des Kapitalismus machen, zeigt der Wirtschaftsgang seit Beginn der 80er-Jahre deutlich, dass der Anstieg der Profitrate nicht wegen eines Anstiegs des Wachstums zustande kam. Es gibt gewiss eine starke Beziehung zwischen der Profitrate und der Akkumulationsrate, aber sie ist weder mechanisch noch einseitig: Es handelt sich um zwei teilweise unabhängige Variablen. Das widerspricht den Behauptungen derjenigen, für die die Überproduktionskrise zwingend vom Fall der Profitrate und der Rückkehr des Wachstums abhängig ist: „Der Widerspruch zwischen Produktion und Realisierung des Mehrwerts erscheint als eine Überproduktion von Gütern und also als Ursache der Sättigung des Marktes, die wiederum dem Akkumulationsprozess im Weg steht. Das System in seiner Gesamtheit ist somit nicht in der Lage, den Fall der Profitrate auszugleichen. Tatsächlich verhält es sich umgekehrt ... Der Wirtschaftszyklus und der Verwertungsprozess machen den Markt ,zahlungsfähig‘ oder ,zahlungsunfähig‘. Diese widersprüchlichen Gesetze regeln den Akkumulationsprozess und nur mit ihnen kann man die ,Krise‘ des Marktes erklären“ (Text von Battaglia Comunista an der ersten Konferenz der Gruppen der kommunistischen Linken, Mai 1977). Heute können wir klar feststellen, dass die Profitrate seit 20 Jahren ansteigt, während das Wachstum bescheiden ist. Die Bourgeoisie hat niemals so viel von Deflation gesprochen wie zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Dem Kapitalismus gelingt es zwar, profitabel zu produzieren, aber das heisst nicht, dass er automatisch durch diesen Mechanismus auch gleich den zahlungsfähigen Markt schafft, auf dem er die in seinen Produkten kristallisierte Mehrarbeit in klingenden Mehrwert umwandeln kann, was ihm wiederum die Reinvestition des Profits erlauben würde. Die Bedeutung des Marktes hängt nicht mechanisch von der Entwicklung der Profitrate ab. Genau so wie bei den anderen die Entwicklung des Kapitalismus bestimmenden Parametern handelt es sich bei ihm um eine teilweise unabhängige Variabel. Das Verständnis dieses grundlegenden Unterschieds zwischen den Produktions- und den Realisierungsbedingungen erlaubt uns, wie es Marx und meisterhaft vertieft auch Rosa Luxemburg aufgezeigt haben, zu verstehen, weshalb es keinen Automatismus zwischen des Profitrate und dem Wachstum gibt.

Dekadenz und Orientierungen für die Widerstandskämpfe

Die neben der IKS zwei wichtigsten Gruppen der kommunistischen Linken – Programme Communiste und das IBRP – können den Widerstandskämpfen der Arbeiterklasse keine klare und kohärente Orientierung geben, da sie die Dekadenz als Rahmen für das Verständnis der gegenwärtigen Periode und der Krise verwerfen, die Entwicklung des Staatskapitalismus auf allen Ebenen unterschätzen, die Finanzspekulation als Ursache aller Übel auf der Welt bezeichnen. Um sich dessen zu vergewissern, braucht man lediglich ihre Analyse über die Politik der Bourgeoisie bezüglich der Austerität und die Schlussfolgerungen, die sie aus ihrer Analyse der Krise ziehen, zu konsultieren: „Im Lauf der 50er-Jahre sind die kapitalistischen Ökonomien wieder in Schwung gekommen und die Bourgeoisie sah ihre Profite wieder und zwar auf dauerhafte Weise aufblühen. Diese Expansion setzte sich auch im folgenden Jahrzehnt fort und stützte sich auf den Kredit und auf die Unterstützung des Staates. Sie hat unbestreitbar zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter (soziale Sicherheit, Kollektivabsprachen,  Lohnerhöhungen...) geführt. Diese von der Bourgeoisie unter dem Druck der Arbeiterklasse gemachten Zugeständnisse führten zu einem Sinken der Profitrate. Dieses unabwendbare Phänomen ist auf die interne Dynamik des Kapitals zurückzuführen ... Im Anfangsstadium des Kapitalismus war die Bourgeoisie in der Lage, mit den aus den Kolonien und von ihren Völkern eingefahrenen Profiten einen gewissen sozialen Frieden zu garantieren, indem sie die Arbeiterklasse am ausgepressten Mehrwert teilhaben liess. Heute ist es nicht mehr so: Die Logik der Spekulation stellt alle in den vergangenen Jahrzehnten von der Arbeiterklasse der ,zentralen Länder‘ erkämpften sozialen Errungenschaften in Frage“ (IBRP, in: Bilan et Perspectives, Nr. 4, S. 5ff.).
Auch hier können wir feststellen, dass die Türen durch das Fallenlassen des Dekadenzrahmens sehr weit für Zugeständnisse gegenüber linken Analysen offen stehen. Das IBRP zieht es vor, die linken Märchen über die ,sozialen Errungenschaften (soziale Sicherheit, Kollektivabsprachen, Lohnerhöhungen...)‘ zu kopieren, die Zugeständnisse der Bourgeoisie unter dem Druck der Arbeiterklasse gewesen seien und in der gegenwärtigen Logik der Spekulation in Frage gestellt würden. Das IBRP würde sich besser auf die von den Gruppen der internationalen kommunistischen Linken (Bilan, Communisme usw. ) überlieferten theoretischen Errungenschaften stützen, die analysierten, dass diese Massnahmen von der Bourgeoisie benutzte Mittel waren, um die Arbeiterklasse an den Staat zu binden und sie von ihm abhängig zu machen!
In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus waren die Entwicklung der Produktivkräfte und des Proletariats ungenügend, um die Herrschaft der Bourgeoisie zu bedrohen und auf internationaler Ebene erfolgreich eine Revolution durchzuführen. Deshalb konnte sich die  Arbeiterklasse in heftigen Kämpfen mittels eigener Organe, d.h. der Arbeiterparteien und der Gewerkschaften, als Klasse im Kapitalismus konstituieren und zwar gegen all die Sabotageversuche der Bourgeoisie. Die Vereinigung des Proletariats ist mittels der Kämpfe um Reformen herbeigeführt worden und führte zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Klasse: Es wurden Reformen auf ökonomischer und politischer Ebene realisiert. Das Proletariat hat als Klasse die Bürgerrechte im politischen Leben der Gesellschaft erkämpft, oder in den Worten Marxens in Das Elend der Philosophie gesprochen: Die Arbeiterklasse hat das Recht zu leben und „als Klasse für sich selbst“ im gesellschaftlichen Leben zu existieren erkämpft. Sie besitzt als organisierte Klasse eigene Orte für tägliche Versammlungen, hat eigene Ideen und ein gesellschaftliches Programm, eigene Traditionen und Lieder.
Als der Kapitalismus 1914 in seine dekadente Phase trat, hat die Arbeiterklasse unter Beweise gestellt, dass sie in der Lage ist, die bürgerliche Herrschaft umzustürzen: Sie hat die Bourgeoisie zur Beendigung des Krieges gezwungen und eine internationale Welle von revolutionären Kämpfen entfesselt. Seither stellt das Proletariat für die Bourgeoisie eine ständige Gefahr dar. Deshalb kann sie nicht mehr tolerieren, dass die feindliche Klasse auf eigenem Terrain ständige Organisationen besitzt und darin ein eigenes Leben führt und eigene Gedanken hegt. Der Staat weitet seine totalitäre Herrschaft auf alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens aus. Alles wird von seinen allgegenwärtigen Tentakeln umfasst. Alles was sich in der Gesellschaft bewegt, Muss sich bedingungslos dem Staat unterwerfen oder ihm in einem tödlichen Kampf entgegentreten. Die Zeit, in der das Kapital die Existenz von permanenten proletarischen Organen tolerierte, ging endgültig zu Ende. Der Staat hat das organisierte Proletariat als permanente Kraft von der gesellschaftlichen Bühne vertrieben. „Seit dem Ersten Weltkrieg haben sich parallel zur wachsenden Bedeutung des Staates in der Wirtschaft die Gesetze vervielfacht, die die Beziehung zwischen Kapital und Arbeit regeln und damit einen engen Rahmen schaffen, der den proletarischen Widerstand aufs Minimum beschränken und ihn all seiner Kräfte berauben soll“ (Auszug aus unserer Broschüre: Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse). Der Staatskapitalismus bedeutet auf gesellschaftlicher Ebene die Überführung jeglichen Klassenlebens auf das Terrain der Bourgeoisie. Der Staat hat sich in gewissen Ländern über den Umweg der Gewerkschaften, in anderen auf direktem Weg der Streik- oder Hilfskassen und der Kranken- und Arbeitslosenversicherung bemächtigt, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Arbeiterklasse eingerichtet worden waren. Die Bourgeoisie hat die politische Solidarität aus den Händen der Arbeiterklasse gerissen und sie in eine ökonomische Solidarität in den Händen des Staates umgewandelt. Der Staat hat durch die Aufteilung des Lohns in direkte Vergütung durch den Chef und eine indirekte Vergütung durch den Staat auf mächtige Weise die Mystifikation verstärkt, wonach er ein über den Klassen stehendes Organ sei, das die gemeinsamen Interessen und die soziale Sicherheit der Arbeiterklasse garantiere. Der Bourgeoisie ist es auf diesem Weg gelungen, die Arbeiterklasse ideologisch und materiell an den Staat zu binden. So lautete die Analyse der Italienischen Linken und der Belgischen Fraktion der Internationalen Kommunistischen Linken anlässlich der ersten in den 30er-Jahren vom Staat errichteten Arbeitslosen- und Hilfskassen.13
Was hat das IBRP der Arbeiterklasse zu sagen? Zuerst, dass die ,Logik der Spekulation‘ verantwortlich sei für die ,Infragestellung aller sozialer Errungenschaften‘ und dass die ,Aufblähung des Finanzsektors‘ das absolute Böse sei. Das IBRP vergisst so beiläufig, dass die Krise und die Angriffe gegen die Arbeiterklasse nicht erst bis zum Auftreten der ,Logik der Spekulation‘ gewartet haben. Glaubt das IBRP wirklich, wie es seine Prosa glauben lässt, dass es der Arbeiterklasse nach einer Überwindung der ,Logik der Spekulation‘ wieder besser gehen würde? Genau das Gegenteil ist der Fall. Diese linke Mystifikation, wonach der Kampf gegen die Austerität vom Kampf gegen die Logik der Spekulation abhängig sei, Muss mit allen Kräften bekämpft werden!
Aber es kommt noch viel schlimmer! Es handelt sich um eine enorme Mystifikation, dem Proletariat glauben zu machen, dass die soziale Sicherheit, die Kollektivabsprachen und selbst der Mechanismus der Lohnerhöhung über die Indexierung oder die automatische Teuerungsanpassung ,durch einen harten Kampf erreichte soziale Errungenschaften‘ seien. Bei der Reduktion der Tagesarbeitszeit, dem Verbot der Kinderausbeutung, dem Verbot der Frauen-Nachtarbeit usw. handelt es sich tatsächlich um Zugeständnisse, die durch einen harten Kampf der Arbeiterklasse in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus erreicht worden sind. Dagegen haben die angeblichen ,sozialen Errungenschaften‘ wie die soziale Sicherheit oder die Kollektivabsprachen in den Sozialverträgen für den Wiederaufbau überhaupt nichts mit dem proletarischen Klassenkampf zu tun. Die Arbeiterklasse war geschlagen, erschöpft vom Krieg, berauscht und mystifiziert durch den Nationalismus, euphorisiert von der Befreiung, kurz: Sie war nicht in der Lage, durch Kämpfe solche Errungenschaften zu erzielen. Die Bourgeoisie der Exilregierungen hat die Initiative  für die Ausarbeitung der Sozialverträge für den Wiederaufbau ergriffen. Sie hat all die Mechanismen des Staatskapitalismus auf die Beine gestellt. Die Bourgeoisie hat mitten im Krieg in den Jahren 1943 und 1945 (!) die Initiative zur Versammlung aller ,lebendigen Kräfte der Nation‘, aller ,Sozialpartner‘ durch paritätische Zusammenkünfte von Vertretern der Unternehmer, der Regierung und der verschiedenen Parteien und Gewerkschaften., d.h. in der perfektesten nationalen Übereinstimmung der Résistance ergriffen, um den Wiederaufbau der zerstörten Wirtschaft zu planen und die gesellschaftlich schwierige Phase des Wiederaufbaus auszuhandeln. Es gab keine ,Zugeständnisse der Bourgeoisie unter dem Druck der Arbeiterklasse‘ im Sinn einer auf dem eigenen Terrain kämpfenden und eine eigene Strategie zur Überwindung des Kapitalismus entwickelnden Arbeiterklasse, die die Bourgeoisie dazu gezwungen hätte, einen Kompromiss zu akzeptieren. Jedoch sind Mittel in Übereinstimmung mit allen Teilen der Bourgeoisie (Unternehmer, Gewerkschaften, Regierung) eingesetzt worden, um die Arbeiterklasse sozial zu kontrollieren und so dem Wiederaufbau zum Erfolg zu verhelfen.13 Muss man daran erinnern, dass es auch die Bourgeoisie war, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine ganze Palette von Gewerkschaften wie die CFTC in Frankreich oder die CSC in Belgien auf die Beine gestellt hat?
Selbstverständlich verurteilen die Revolutionäre den Zugriff sowohl auf den direkten als auch auf den indirekten Lohn und die Angriffe auf das Lebensniveau, wenn die Bourgeoisie die soziale Sicherheit zusammenstreicht, aber niemals dürfen die Revolutionäre das Prinzip selber des von der Bourgeoisie errichteten Mechanismus zur Bindung der Arbeiterklasse an den Staat verteidigen!14 Die Revolutionäre sollen im Gegenteil die ideologische und materielle Logik, die diesem Mechanismus als angebliche ,Neutralität des Staates‘, der ,vom Staat organisierten sozialen Solidarität‘ usw. zugrunde liegt, anprangern.
Angesichts der allgemeinen Verschärfung der Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise und den Schwierigkeiten der Arbeiterklasse steht sehr viel auf dem Spiel. Deshalb Muss es die Aufgabe der Revolutionäre sein, eine notwendige Vertiefung als Antwort auf die durch die Geschichte gestellten neuen Fragen herbeizuführen. Diese Vertiefung kann aber nicht auf der Grundlage der von der extremen Linken des politischen Apparates der Bourgeoisie verbreiteten Analysen gemacht werden. Einzig auf der Grundlage des Marxismus und der Errungenschaften der kommunistischen Linken und insbesondere ihrer Analyse der Dekadenz des Kapitalismus werden die Revolutionäre auf der Höhe ihrer Verantwortung sein können.     
                C. Mcl

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [14]

Internationale Revue 34

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"Volksaufstände" in Lateinamerika:

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Der Ausbruch von massiven Klassenkämpfen im Mai 1968 in Frankreich und in der Folge auch in Italien, Grossbritannien, Spanien, Polen und anderswo setzte der konterrevolutionären Periode ein Ende, die seit der Niederschlagung der revolutionären Welle 1917–23 so schwer auf der internationalen Arbeiterklasse gelastet hatte. Der proletarische Riese ist auf der historischen Szene wieder aufgestanden. Diese Kämpfe hatten auch in Lateinamerika ein grosses Echo, zuerst 1969 im „Cordobaza“ in Argentinien. Zwischen 1969 und 1975 führten die Arbeiter in der ganzen Region, vom Süden Chiles bis nach Mexiko an der Grenze zu den USA, einen erbitterten Kampf gegen die Versuche der Bourgeoisie, die Kosten der Wirtschaftskrise auf sie abzuwälzen. Und in den folgenden Kampfwellen, von denen jene von 1977–80 im polnischen Massenstreik kulminierte und jene von 1983–89 von umfangreichen Bewegungen in Belgien, Dänemark und bedeutenden Kämpfen in zahlreichen anderen Ländern gekennzeichnet war, setzte auch das Proletariat Lateinamerikas den Kampf fort, wenn auch nicht auf dieselbe spektakuläre Weise. Es zeigte, dass die Arbeiterklasse einen einzigen und gleichen Kampf gegen den Kapitalismus führt, dass sie eine einzige und gleiche internationale Klasse ist, was auch immer die Unterschiede in den Bedingungen seien.

Heute erscheinen diese Kämpfe in Lateinamerika wie ein ferner Traum. Die aktuelle gesellschaftliche Situation in der Region kennt keine massiven Kämpfe und ähnliche Manifestationen oder gar bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen dem Proletariat und den Repressionskräften. Sie ist von einer allgemeinen gesellschaftlichen Instabilität gekennzeichnet. Der „Aufstand“ in Bolivien im Oktober 2003, die massiven Strassendemonstrationen, die im Dezember innert weniger Tage fünf argentinische Präsidenten aus dem Amt spülten, die venezolanische „Volksrevolution“ von Chavez, der in den Medien breitgetretene Kampf der Zapatistas in Mexiko, all diese und ähnliche Ereignisse haben die gesellschaftliche Bühne dominiert. In diesem Mahlstrom allgemeiner Unzufriedenheit, der sozialen Revolte gegen die sich ausbreitende Verarmung und Verelendung erscheint die Arbeiterklasse als eine unzufriedene Schicht unter anderen, die zu ihrer Verteidigung gegen die Verschlechterung ihrer Lage an der Revolte der anderen unterdrückten und verarmten Schichten der Gesellschaft teilnimmt und in ihnen aufgeht. Angesichts dieser Schwierigkeiten der Arbeiterklasse dürfen die Revolutionäre nicht einfach die Arme verschränken, sondern sie müssen unbeugsam die Unabhängigkeit der Arbeiterklasse verteidigen.

„Die Autonomie des Proletariats gegenüber allen Klassen der Gesellschaft ist die erste Vorbedingung für die Entwicklung des Klassenkampfs hin zur Revolution. Alle Bündnisse mit anderen Klassen oder Schichten und insbesondere jene Bündnisse mit Fraktionen der Bourgeoisie können nur zur Entwaffnung des Proletariats gegenüber seinen Feinden führen, da diese Bündnisse die Arbeiterklasse zur Aufgabe der einzigen Grundlage führen, wo das Proletariat seine Kräfte stärken kann: auf der Grundlage seines Kampfes als Klasse.“(1)

Da einzig die Arbeiterklasse eine revolutionäre Klasse ist, trägt auch nur sie eine Perspektive für die gesamte Menschheit in sich. Doch heute ist sie von Manifestationen des anwachsenden gesellschaftlichen Zerfalls des dahinsiechenden Kapitalismus umzingelt und hat grosse Schwierigkeiten, den Kampf als autonome Klasse mit eigenständigen Interessen aufzunehmen. Mehr denn je muss man in dieser Zeit an Marx erinnern, der schrieb: „Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäss geschichtlich zu tun gezwungen sein wird.“ (2)

Der Klassenkampf in Lateinamerika von 1969 bis 1989

Die Geschichte des Klassenkampfes in Lateinamerika in den letzten 35 Jahren ist Teil des internationalen Klassenkampfes. Sie ist eine Geschichte harter Kämpfe, gewaltsamer Zusammenstösse mit dem Staatsapparat, zeitweiliger Siege und bitterer Niederlagen. Die spektakulären Bewegungen vom Ende der 60er und dem Beginn der 70er-Jahre haben eine Phase von schwierigeren und schmerzhafteren Kämpfen eröffnet. In dieser Phase stellte sich die fundamentale Frage, wie die Klassenautonomie zu verteidigen und zu entwickeln sei, mit noch grösserer Schärfe.

Der Kampf der Arbeiter 1969 in der Industriestadt Cordoba war besonders wichtig. Er manifestierte sich in einer einwöchigen bewaffneten Auseinandersetzung zwischen dem Proletariat und der argentinischen Armee. Die Kämpfe in ganz Argentinien, in Lateinamerika, ja der ganzen Welt sind dadurch stimuliert worden. Es handelte sich um den Beginn einer Kampfwelle, die in Argentinien 1975 mit dem Kampf der Metallarbeiter von Villa Constitución, dem bedeutendsten Zentrum der Stahlproduktion des ganzen Landes, den Höhepunkt erreichte. Die Arbeiter von Villa Constitución waren mit der gesamten Macht des Staatsapparates konfrontiert; denn die herrschende Klasse wollte mit der Niederschlagung dieses Kampfes ein Exempel statuieren. Daraus ergab sich ein sehr hohes Niveau der Auseinandersetzung zwischen Bourgeoisie und Proletariat: „Die Stadt wurde unter militärische Besetzung durch 4.000 Mann gestellt (...) Jedes Viertel wurde systematisch durchkämmt und es wurden Verhaftungen vorgenommen, was aber nur die Wut der Arbeiter provozierte: 20.000 Arbeiter sind in den Streik getreten und haben Fabriken besetzt. Trotz Mordanschlägen und Bombardierungen von Arbeiterhäusern hat sich sofort ein aussergewerkschaftliches Kampfkomitee gebildet. Viermal wurde die Streikführung eingekerkert, aber jedes Mal entstand sofort ein neues Komitee. Wie in Cordoba 1969 haben bewaffnete Arbeitergruppen die Verteidigung der Arbeiterquartiere übernommen und haben den Aktivitäten der paramilitärischen Banden ein Ende bereitet.

Die Aktion der Stahl- und Metallarbeiter, die eine Lohnsteigerung um 70 Prozent forderten, hat sehr schnell von der Solidarität der Arbeiter in anderen Betrieben des Landes – in Rosario, in Cordoba und Buenos Aires – profitiert. In Buenos Aires haben beispielsweise die Arbeiter von Propulsora, die aus Solidarität in einen Streik getreten waren und die ihre ganzen Lohnforderungen (130.000 Pesos monatlich) durchsetzen konnten, entschieden, die Hälfte ihres Lohnes den Arbeitern von Villa Constitución zu spenden.“ (3)

Aus dem gleichen Grund haben die Arbeiter in Chile zu Beginn der 70er-Jahre ihre Klasseninteressen verteidigt und es abgelehnt, sie zugunsten der Volksfront-Regierung Allendes zu opfern: „Der Widerstand der Arbeiter gegen Allende begann 1970. Im Dezember 1970 traten 4.000 Minenarbeiter in Chuquicamata in den Streik und forderten höhere Löhne. Im Juli 1971 legten 10.000 Minenarbeiter in Lota Schwager ihre Arbeit nieder. Beinahe zur gleichen Zeit breitete sich eine Streikwelle in den Minen von El Salvador, El Teniente, Chuquicamata, La Exotica und Rio Blanco aus. Überall wurden höhere Löhne gefordert (...) Im Mai/Juni 1973 setzten sich die Minenarbeiter erneut in Bewegung. In den Minen von El Teniente und Chuquicamata traten 10.000 Arbeiter in den Streik. Die Minenarbeiter von El Teniente forderten eine Lohnerhöhung um 40 Prozent. Allende setzte die Provinzen O’Higgins und Santiago unter Militärkontrolle, weil die von El Teniente ausgehende Lähmung eine ernsthafte Bedrohung für die Wirtschaft darstellte.“ (4)

Wichtige Arbeiterkämpfe haben sich auch in anderen bedeutenden Arbeiterkonzentrationen Lateinamerikas zugetragen. In Lima, Peru, brachen 1976 aufstandsartige Streiks aus. Sie wurden blutig unterdrückt. Einige Monate später traten die Minenarbeiter von Centramin in den Streik. In Riobamba, Ecuador, fand ein Generalstreik statt. Im Januar des gleichen Jahres brach in Mexiko eine Streikwelle aus. 1978 gab es erneut Generalstreiks in Peru. Nach zehn ruhigen Jahren setzten sich 200.000 Metallarbeiter in Brasilien an die Spitze einer Streikbewegung, die von Mai bis Oktober dauerte. In Chile kam es 1976 zu Streiks der Metro-Angestellten von Santiago und der Minenarbeiter. In Argentinien brachen trotz des Terrors der Militärjunta 1976 Streiks in den Elektrizitätswerken und in der Automobilindustrie aus, die in gewaltsame Zusammenstösse zwischen Arbeitern und der Armee mündeten. Die 70er-Jahre waren auch von wichtigen Kampfepisoden in Bolivien, Guatemala und Uruguay gekennzeichnet.

Auch in den 80er-Jahren hat das Proletariat Lateinamerikas an der internationalen Kampfwelle teilgenommen, die 1983 in Belgien begonnen hatte. Die entwickeltsten dieser Kämpfe waren von den entschiedenen Anstrengungen seitens der Arbeiter gekennzeichnet, die Bewegung auszuweiten. So kämpften beispielsweise die Angestellten des Bildungssektors in Mexiko für eine Erhöhung der Gehälter: „Die Forderung der Arbeiter des Erziehungswesens stellte bereits von Beginn an die Frage nach der Ausweitung der Kämpfe, denn es herrschte eine allgemeine Unzufriedenheit gegenüber den Austeritätsplänen. Auch wenn die Bewegung gerade schwächer wurde, als jene im Erziehungswesen begann, streikten und demonstrierten doch 30.000 Angestellte des öffentlichen Sektors ausserhalb der gewerkschaftlichen Kontrolle. Sie erkannten, dass die Ausdehnung und Einheit des Kampfes notwendig waren: Zu Beginn haben die Arbeiter aus dem Süden von Mexiko City Delegierte zu anderen Beschäftigten des Bildungssektors entsandt und sie dazu aufgerufen, sich dem Kampf anzuschliessen. Sie sind auch auf die Strassen gegangen und haben Kundgebungen durchgeführt. Sie haben sich dagegen gewehrt, den Kampf einzig auf die Lehrer einzugrenzen, und haben alle Arbeiter des Erziehungswesens (Lehrer, Verwaltungsangestellte, Handarbeiter) in den Massenversammlungen zusammengerufen, um den Kampf zu kontrollieren.“ (5)

Die gleichen Tendenzen haben sich auch in anderen Teilen Lateinamerikas gezeigt: „Selbst die bürgerlichen Medien haben von einer ‚Streikwelle’ in Lateinamerika gesprochen, mit Kämpfen in Chile, Peru, Mexiko (...) und auch in Brasilien, wo Arbeiter aus Banken, von den Docks, aus dem Gesundheits- und Bildungssektor gleichzeitig gegen das Einfrieren der Löhne protestierten.“ (6)

Die Arbeiterklasse Lateinamerikas hat von 1969 bis 1989 trotz aller Rückschläge, Schwierigkeiten und Schwächen gezeigt, dass sie vollumfänglich am historischen Wiederaufschwung der internationalen Arbeiterklasse teilnahm.

Der Fall der Berliner Mauer und die darauf folgende Propagandaflut der Bourgeoisie über den „Tod des Kommunismus“ haben einen tiefgreifenden Einbruch in den Klassenkämpfen auf internationaler Ebene herbeigeführt. Das hat sich vor allem im Verlust der Klassenidentität des Proletariats gezeigt. Dieser Rückschlag zeitigte bei den Arbeitern Südamerikas weit schädlichere Auswirkungen, da die Entwicklung der Krise und des gesellschaftlichen Zerfalls die verarmten, unterdrückten und verelendeten Massen in den Strudel der interklassistischen Revolten zogen. Das erschwert die schwierige Aufgabe, sich als autonome Klasse zu behaupten und die Distanz gegenüber der „Volksmacht“ und den Volksaufständen zu wahren.

Die schädlichen Auswirkungen des kapitalistischen Zerfalls und der interklassistischen Revolten

Der Zusammenbruch des Ostblocks war sowohl Produkt als auch Beschleunigungsfaktor des Zerfalls des Kapitalismus vor dem Hintergrund einer sich vertiefenden Wirtschaftskrise. Lateinamerika wurde davon mit voller Wucht getroffen. Millionen von Menschen wurden dazu gezwungen, ihr Dorf zu verlassen und sich auf der verzweifelten Suche nach inexistenten Arbeitsplätzen in die Slumsiedlungen der grossen Städte zu begeben, während gleichzeitig Millionen von jungen Arbeitern aus dem Lohnarbeitsprozess ausgeschlossen wurden. Dieses Phänomen ist seit 35 Jahren wirksam und erfuhr in den letzten zehn Jahren eine brutale Verschärfung. Es hat zu einem massiven Wachstum jener Gesellschaftsschichten geführt, die zur nichtausbeutenden und keinen Lohn empfangenden Schichten der Bevölkerung gehören. Diese dem Verhungern nah überlassenen Teile der Gesellschaft, die um ihr tagtägliches Brot kämpfen müssen, nehmen ständig zu.

In Lateinamerika leben 221 Millionen Menschen (41 Prozent der Bevölkerung) in Armut. Diese Zahl ist allein im letzten Jahr um sieben Millionen (von denen sechs Millionen in eine extreme Armut absanken) und in den letzten zehn Jahren um 21 Millionen angestiegen. Gegenwärtig leben 20 Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung in äusserster Armut. (7)

Die Verschärfung des gesellschaftlichen Zerfalls zeigt sich im Wachstum der informellen, scheinselbstständigen Wirtschaft des Strassenverkaufs. Das Ausmass dieses Sektors variiert entsprechend der Wirtschaftskraft eines Landes. In Bolivien übertraf im Jahr 2000 die Zahl der Scheinselbstständigen die der Lohnempfänger (47,8 zu 44,5 Prozent der aktiven Bevölkerung), während in Mexiko das Verhältnis noch 21:74,4 beträgt.

Auf dem ganzen Kontinent leben 128 Millionen Menschen oder 33 Prozent der städtischen Bevölkerung in Elendsquartieren. Diese Millionenmassen leben beinahe ohne jegliche sanitäre Installationen und elektrischen Strom. Ihr Leben ist geprägt von Kriminalität, von Drogen und vom Bandenwesen. In den Elendsvierteln von Rio finden seit Jahren Kämpfe zwischen rivalisierenden Gangs statt, eine Situation, die im Film La Ciudade de Deus anschaulich porträtiert wurde. Die Arbeiter Lateinamerikas und insbesondere jene in den Elendsquartieren sind mit den weltweit höchsten Kriminalitätsraten konfrontiert. Die Zerstörung der familiären Bindungen hat zu einer massiven Zunahme von ihrem Schicksal überlassenen Strassenkindern geführt.

Millionen von Bauern haben immer grössere Schwierigkeiten, dem Boden auch nur die miserabelsten Subsistenzmittel zu entreissen. In einigen tropischen Gebieten hat, neben der Holzindustrie, dies zu einer Beschleunigung der Umweltzerstörung geführt, da die landhungrigen Bauern dazu gezwungen sind, auf den Boden des Regenwaldes vorzudringen. Diese Lösung bringt jedoch nur eine kurze Atempause, da die dünne Humusschicht des Regenwaldes schnell ausgelaugt ist, und endet in einer Spirale der Entwaldung.

Die Zunahme der Schicht der Verelendeten hatte eine bedeutende Auswirkung auf die Fähigkeit des Proletariats, die eigene Klassenautonomie zu verteidigen. Das hat sich ganz klar Ende der 80er-Jahre gezeigt, als in Venezuela, Argentinien und Brasilien Hungerrevolten ausbrachen. Mit Hinweis auf den Aufstand in Venezuela, in dem mehr als Tausend Menschen umkamen und ebenso viele verletzt wurden, warnten wir damals vor den Gefahren solcher Aufstände für das Proletariat: „Die treibende Kraft dieser gesellschaftlichen Tumulte war eine blinde, perspektivlose Wut, die sich über lange Jahre systematischer Angriffe gegen die Lebens- und Arbeitsbedingungen jener, die noch eine Arbeit hatten, aufgestaut hatte. In ihnen entluden sich die Frustrationen von Millionen von Arbeitslosen, von Jungen, die nie gearbeitet haben und die von der Gesellschaft gnadenlos in den Sumpf der Verelendung getrieben wurden. Die Länder der Peripherie des Kapitalismus sind unfähig, diesen Menschen auch nur die geringste Lebensperspektive aufzuzeigen (...)Aufgrund des Mangels einer politischen Orientierung auf eine proletarische Perspektive sind diese Strassenunruhen mit den Brandschatzungen von Autos, den ohnmächtigen Konfrontationen mit der Polizei und später mit den Plünderungen von Lebensmittel- und Elektrowarengeschäften einzig von der Wut und der Frustration angetrieben worden. Die Bewegung, die als Protest gegen die wirtschaftlichen Massnahmen entstanden war, hat sich also sehr rasch in Plünderungen und perspektivlosen Zerstörungen aufgelöst.“ (8)

In den 90er-Jahren wurde die Verzweiflung der nicht-ausbeutenden Schichten in zunehmendem Masse von Teilen des Bürgertums und des Kleinbürgertums ausgenutzt. In Mexiko haben sich die Zapatistas mit ihren Ideen über die „Volksmacht“ und ihrer Eigendarstellung als Repräsentant eben dieser Macht anfangs als Meister darin ausgewiesen. In Venezuela hat Chavez die nicht-ausbeutenden Schichten, vor allem die Bewohner der Elendsviertel, hinter der Idee einer „Volksrevolution“ gegen das alte, korrumpierte System mobilisiert.

Diese Volksbewegungen hatten reale Auswirkungen auf das Proletariat, insbesondere in Venezuela, wo nach wie vor die Gefahr einer teilweisen Verstrickung in einem blutigen Bürgerkrieg zwischen den rivalisierenden Fraktionen der Bourgeoisie besteht.

Die Morgendämmerung des 21. Jahrhunderts hat keine Verminderung der zerstörerischen Auswirkungen der Verzweiflung der nicht-ausbeutenden Schichten mit sich gebracht. Im Dezember 2001 ist das argentinische Proletariat – es ist eines der ältesten und erfahrensten der lateinamerikanischen Arbeiterklasse – in einen Volksaufstand gerissen worden, der in einem Zeitraum von 15 Tagen fünf Präsidenten hintereinander von der Macht weggeputzt hatte. Im Oktober 2003 ist der Hauptsektor der bolivianischen Arbeiterklasse, die Minenarbeiter, ebenfalls in einen blutigen, vom Kleinbürgertum und den Bauern angeführten Volksaufstand verstrickt worden, in dem es zahlreiche Tote und Verletzte gab – und dies alles im Namen der Verteidigung der bolivianischen Gasreserven und der Legalisierung der Koka-Produktion!

Die Tatsache, dass bedeutende Teile des Proletariats von diesen Revolten erfasst worden sind, ist von grosser Bedeutung, weil dies offenbart, dass die Arbeiterklasse die Klassenautonomie weitgehend verloren hat. Anstatt sich als Proletarier mit eigenen Interessen zu verstehen, haben sich die Arbeiter Boliviens und Argentiniens als Bürger verstanden, die gemeinsame Interessen mit den kleinbürgerlichen und nicht-ausbeutenden Schichten der Gesellschaft teilen.

Die absolute Notwendigkeit einer revolutionären Klarheit

Mit der Verschärfung der Lage wird es weitere Aufstände dieses Typs geben, in denen es, wie das bereits in Venezuela der Fall war, auch blutige Bürgerkriege und Massaker geben kann, die bedeutende Teile der internationalen Arbeiterklasse physisch und ideologisch vernichten können. Angesichts dieser düsteren Perspektive ist es die Pflicht der Revolutionäre, ihre Intervention auf die Notwendigkeit auszurichten, dass das Proletariat einen Kampf zur Verteidigung der eigenen, spezifischen Klasseninteressen führen muss. Unglücklicherweise befinden sich nicht alle revolutionären Organisationen diesbezüglich auf der Höhe der eigenen Verantwortung. Das Internationale Büro der revolutionären Partei (IBRP) verlor gegenüber dem Gewaltausbruch der argentinischen Bevölkerung jeglichen politischen Kompass und schätzte die Lage völlig falsch ein: „Spontan sind die Arbeiter auf die Strassen gegangen und haben die Jungen, Studenten und bedeutende Teile des proletarisierten und wie sie selber verarmten Kleinbürgertums mit sich gezogen. Gemeinsam haben sie ihre Wut gegen die heiligen Stätten des Kapitalismus gerichtet: gegen Banken, Büros, aber hauptsächlich gegen Kaufhäuser und allgemein gegen Geschäfte, die ebenso angegriffen wurden wie die Bäckereien in den mittelalterlichen Brotaufständen. Die Regierung entfesselte eine blutige Repression mit Dutzenden von Toten und Tausenden Verletzten und hoffte so, die Rebellen einzuschüchtern. Das hat aber kein Ende der Revolte herbeigeführt, sondern sie ist im Gegenteil auf den Rest des Landes ausgedehnt worden und nahm immer mehr einen Klassencharakter an. Selbst die Regierungsgebäude, Symbole der Ausbeutung und der finanziellen Plünderung, sind angegriffen worden.“ (9)

Erst kürzlich hat Battaglia Comunista angesichts des sozialen Aufruhrs in Bolivien, der in den blutigen Ereignissen vom Oktober 2003 kulminierte, einen Artikel veröffentlicht, der die indianischen Ayllu (Gemeinderäte) pries: „Die Ayllu hätten nur eine Rolle in der revolutionären Strategie spielen können, wenn sie den gegenwärtigen Institutionen den proletarischen Inhalt der Bewegung entgegengestellt und die archaischen und lokalistischen Aspekte überwunden hätten, d.h. also nur, wenn sie als wirksamer Mechanismus für eine Einheit zwischen Indianern, weissen und farbigen Proletariern zur Errichtung einer Front gegen die Bourgeoisie und jenseits jeglicher rassischer Rivalitäten gewirkt hätten (...) Die Ayllu hätten ein Ausgangspunkt für die Vereinigung und Mobilisierung des indianischen Proletariats sein können, aber das ist noch unzureichend als Grundlage für die Errichtung einer vom Kapitalismus emanzipierten Gesellschaft.“ Dieser Artikel von Battaglia Comunista wurde im November 2003 veröffentlicht, also nachdem sich die blutigen Ereignisse vom Oktober zugetragen hatten, in denen just das indianische Kleinbürgertum das Proletariat und insbesondere die Minenarbeiter zu einer hoffnungslosen Auseinandersetzung mit den Armeekräften verleitete. Ein Massaker, in dem Proletarier geopfert wurden, damit die indianische Bourgeoisie und das indianische Kleinbürgertum ein grösseres „Stück vom Kuchen“ ergattern konnten bei der Neuverteilung von Macht und Profiten, die aus der Ausbeutung der Bergarbeiter und Landarbeiter stammen. Wie einer ihrer Führer, Alvero Garcia, freimütig zugab, haben die Indianer keine verschwommenen Träume über die Ayllu als Ausgangspunkt für eine bessere Gesellschaft.

Der Enthusiasmus des IBRP bezüglich der Ereignisse in Argentinien ist die logische Folge seiner Analyse über die „Radikalisierung des Bewusstseins“ der nicht-ausbeutenden Schichten in den peripheren Ländern: „Die Diversität der sozialen Strukturen, die Tatsache, dass das Aufzwingen der kapitalistischen Produktionsweise das alte Gleichgewicht umkippt und dass die Aufrechterhaltung ihrer Existenz auf die Grundlage und Ausweitung der Verelendung von immer grösseren Massen von Proletarisierten und Enterbten fusst, die politische Unterdrückung und Repression, die notwendig zur Unterjochung der Massen sind, all das führt zu einem grösseren Potenzial für die Radikalisierung des Bewusstseins in den peripheren Ländern als in den Metropolen (...) In vielen dieser (peripheren) Länder ist die ideologische und politische Integration des Individuums in die kapitalistische Gesellschaft noch kein Massenphänomen wie in den Ländern der Metropolen.“ (10)

Gemäss diesem Standpunkt sind diese massiven und gewaltsamen Volksaufstände positiv. In der Vorstellung des IBRP ist das Untertauchen des Proletariats in der Welle des Interklassismus nicht der Ausdruck einer sterilen und zukunftslosen Revolte, sondern die Konkretisierung „einer Radikalisierung des Bewusstseins“. Infolgedessen hat sich das IBRP als völlig unfähig erwiesen, die wirklichen Lehren aus Ereignissen wie die des Dezembers 2001 in Argentinien zu ziehen.

Sowohl in den „Thesen“ als auch in den Analysen der konkreten Situationen begeht das IBRP zwei Fehler, die gewisse Allgemeinplätze der Linken und der Antiglobalisierungsbewegung widerspiegeln. Der erste Fehler ist die theoretische Ansicht, dass die Bewegungen zur Verteidigung nationaler, bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Interessen, die mit denen des Proletariats unvereinbar sind (wie die Ereignisse in Bolivien oder der Aufstand vom Dezember 2001 in Argentinien), in Arbeiterkämpfe umgewandelt werden könnten. Der zweite, eher empirische Fehler besteht in der Einbildung, dass diese wundersame Umwandlung auch tatsächlich stattgefunden hat und dass Bewegungen, die vom Kleinbürgertum und von nationalistischen Sprüchen dominiert werden, wirkliche Arbeiterkämpfe sind.

Wir sind bereits in einem Artikel in der Internationalen Revue Nr. 30 („Volksaufstand in Argentinien: Nur auf dem Klassenterrain des Proletariats kann die Bourgeoisie zurückgedrängt werden“) mit dem IBRP bezüglich seiner politischen Desorientierung angesichts der Ereignisse in Argentinien ins Gericht gegangen. Am Ende dieses Artikels fassen wir unseren Standpunkt zusammen: „Unsere Analyse bedeutet absolut nicht, dass wir die Kämpfe des Proletariats in Argentinien und in anderen Zonen, wo der Kapitalismus schwächer ist, mit Verachtung strafen oder unterschätzen. Sie bedeutet einfach, dass Revolutionäre, als die Vorposten des Proletariats und mit einer klaren Vision von der Marschrichtung der proletarischen Bewegung als Ganzes ausgestattet, die Verantwortung haben, deutlich und exakt auf die Stärken und Grenzen des Arbeiterkampfes hinzuweisen, darauf, wer die Verbündeten sind und welche Richtung sein Kampf einschlagen sollte. Um dem gerecht zu werden, müssen sich Revolutionäre mit all ihrer Kraft der opportunistischen Versuchung – durch Ungeduld, Immediatismus oder einen historischen Mangel an Vertrauen in das Proletariat – entgegenstemmen und dürfen nicht eine Klassen übergreifende Revolte (wie wir sie in Argentinien gesehen haben) mit einer Klassenbewegung verwechseln.“ (11)

Das IBRP hat auf unsere Kritik geantwortet (12) und die Position, wonach das Proletariat diese Bewegung angeführt hatte, verteidigt und gleichzeitig die Auffassung der IKS verurteilt: „Die IKS unterstreicht die Schwächen des Kampfes und weist auf die interklassistische und heterogene Natur und die linksbürgerliche Führung hin. Sie beklagt sich über die Gewalt innerhalb der Klasse und über die vorherrschenden bürgerlichen Ideologien wie den Nationalismus. Für die IKS macht der Mangel an kommunistischem Bewusstsein aus dieser Bewegung eine ‚sterile Revolte ohne Zukunft’.“Es ist klar, dass das IBRP unsere Analyse nicht verstanden hat, oder besser: sie ziehen es vor, sie als das zu betrachten, als was sie sie betrachten wollen. Wir können die Leser nur dazu ermutigen, unseren Artikel zu lesen.

Im Gegensatz zu diesem Standpunkt analysiert der Nucleo Comunista Internationalista (NCI) – eine Gruppe, die sich in Argentinien Ende des Jahres 2003 gebildet hat – diese Ereignisse ganz anders und zieht entsprechend auch andere Schlussfolgerungen. In der zweiten Nummer seines Bulletins führte der NCI eine Polemik mit dem IBRP über die Natur der Ereignisse in Argentinien: „Das IBRP sagt fälschlicherweise, dass das Proletariat Studenten und andere soziale Schichten hinter sich gerissen habe. Das ist ein grosser Irrtum, den es mit den Genossen der GCI12 teilt. Tatsache ist, dass die Arbeiterkämpfe, die während des Jahres 2001 stattgefunden haben, die Unfähigkeit des argentinischen Proletariats aufgezeigt haben, nicht nur die Führung der Gesamtheit der Arbeiterklasse, sondern auch der auf den Strassen protestierenden sozialen Bewegung zu übernehmen und alle nicht ausbeutenden Schichten hinter sich zu scharen. Im Gegenteil waren es nicht-proletarische Schichten, die sich in den Ereignissen vom 19. und 20. Dezember an die Spitze stellten. Also können wir sagen, dass die Entwicklung dieser Bewegungen keine historische Zukunft aufwiesen, was sich auch im darauf folgenden Jahr bestätigt hat.“ (13)

Die GCI sagt bezüglich der Verstrickung von Proletariern in Plünderungen Folgendes: „Es gab mehr als nur den Willen, den Unternehmen und Banken soviel Geld wie möglich zu klauen. Es handelte sich um einen allgemeinen Angriff auf die Welt des Geldes, des Privateigentums, der Banken und des Staates, gegen diese Welt, die eine Beleidigung für das menschliche Leben ist. Das ist nicht nur eine Frage der Enteignung, sondern auch eine Behauptung des revolutionären Potenzials, des Potenzials zur Zerstörung einer Gesellschaft, die die Menschen zerstört.“ (14)

Der NCI stellt sich gegen eine solche Sichtweise und präsentiert eine ganz andere Analyse über die Beziehung zwischen diesen Ereignissen und der Entwicklung des Klassenkampfes:

„Die Kämpfe in Argentinien in der Periode 2001–2002 sind kein isoliertes Ereignis, sie waren das Produkt einer längeren Entwicklung, die wir in drei Teile aufteilen können:

a) Erstes Element 2001: Wie wir bereits weiter oben gesagt haben, war 2001 von einer Serie von Kämpfen für typische Arbeiterforderungen geprägt. Ihr gemeinsamer Nenner war die Isolierung gegenüber anderen Abteilungen des Proletariats und die Prägung der Konterrevolution: die Vermittlung, die von der Hegemonie der politischen Führung der Gewerkschaftsbürokratie gesichert war.

Trotz dieser Begrenztheit konnte man bedeutende Manifestationen von Arbeiterselbstorganisation erkennen wie beispielsweise der Minenarbeiter von Rio Turbio im Süden des Landes, in Zanon und in Norte de Salta (zusammen mit den Bauarbeitern und arbeitslosen, ehemaligen Erdölarbeitern). Diese kleinen Arbeiterabteilungen bildeten die Avantgarde, die die Notwendigkeit der Einheit der Arbeiterklasse und der streikenden Proletarier zur Debatte stellten.

b) Zweitens die zwei Tage vom 19. und 20. Dezember: Wir wiederholen, dass dies weder eine von Teilen der Arbeiterklasse noch eine von Arbeitslosen angeführte Revolte war, sondern ein interklassistischer Aufstand. Das Kleinbürgertum war darin das zentrale Element, denn die ökonomischen Angriffe der Regierung De La Rua waren direkt gegen seine Interessen und auch, mit dem Dekret vom Dezember 2001 zur Einfrierung der Bankguthaben, gegen ihre Wählerbasis und politische Unterstützung gerichtet ( ...)

c) Drittens muss man vorsichtig sein und sich davor hüten, die so genannten Volksversammlungen zu verherrlichen, die sich in den kleinbürgerlichen Vierteln von Buenos Aires, weit ab von den Arbeitervierteln, an die Spitze der Bewegung stellten. Dennoch gab es in dieser Zeit eine Entwicklung von sehr bescheidenen Kämpfen auf dem Terrain der Arbeiterklasse, die im Begriff waren zu wachsen: Gemeindearbeiter und Lehrer demonstrierten, forderten die Auszahlung ihrer Löhne; Industriearbeiter kämpften gegen die Entlassungen durch die Unternehmerorganisationen (z.B. die Lastwagenfahrer).

Damals besassen die beschäftigten und unbeschäftigten Arbeiter die Möglichkeit nicht nur einer wahren Einheit, sondern auch der Aussaat einer späteren autonomen Klassenorganisation. Dagegen hat die Bourgeoisie versucht, die Arbeiterklasse mit Hilfe der neuen Bürokratie der Piqueteros zu spalten und irrezuführen. Damit ist die Erfahrung, die eine bedeutende Waffe in den Händen der Arbeiter war, verschmäht worden, wie im Fall der so genannten Nationalversammlung der beschäftigten und unbeschäftigten Arbeiter.

Aus diesen Gründen denken wir, dass es ein Fehler ist, die Kämpfe, die sich 2001 und 2002 hindurch ereigneten, mit den Ereignissen vom 19. und 20. Dezember 2001 zu identifizieren, denn sie unterscheiden sich und das eine ist nicht die Konsequenz des anderen.

Die Ereignisse vom 19. und 20. Dezember hatten absolut keinen proletarischen Charakter, da sie weder von Arbeitenden noch von Arbeitslosen angeführt worden waren. Letztere lieferten die Munition für die Slogans und Interessen des Kleinbürgertums von Buenos Aires, die vollständig verschieden sind von den Zielen des Proletariats ( ...)

Dies zu erwähnen ist sehr wichtig, weil in der Periode der Dekadenz des Kapitalismus das Proletariat Gefahr läuft, die Klassenidentität und das Vertrauen in die eigene Rolle als Subjekt der Geschichte und entscheidende Kraft der gesellschaftlichen Umwandlung zu verlieren. Das ist ein Ergebnis des Rückflusses des Klassenbewusstseins, der wiederum das Resultat des Zusammenbruchs des stalinistischen Blocks und des Gewichts der kapitalistischen Propaganda über die Niederlage des Klassenkampfs auf das Denken der Arbeiter ist. Darüber hinaus hat die Bourgeoisie den Arbeitern eingeredet, dass es keinen Klassengegensatz gebe, dass die Leute vielmehr durch die Beteiligung am bzw. den Ausschluss vom Markt vereint oder getrennt würden. Sie versucht also, den blutigen Graben zwischen Proletariat und Bourgeoisie einzuebnen.

Diese Gefahr hat man in Argentinien während der Ereignisse vom 19. und 20. Dezember 2001 gesehen, in denen die Arbeiterklasse nicht fähig war, sich in eine autonome Kraft im Kampf für die eigenen Interessen zu verwandeln. Sie ist vielmehr in den Strudel der interklassistischen Revolte unter der Führung von nicht-proletarischen Schichten gerissen worden ...“ (s.o.)

Der NCI stellt die Ereignisse in Bolivien in denselben Rahmen: „Natürlich muss man den kämpfenden bolivianischen Arbeitern Respekt zollen und sie voll und ganz unterstützen, dennoch ist es notwendig, die Tatsache klarzustellen, dass die Kampfbereitschaft der Klasse nicht das einzige Kriterium zur Bestimmung des Kräfteverhältnisses zwischen Bourgeoisie und Proletariat ist, da die Arbeiterklasse in Bolivien nicht fähig war, eine massive und vereinte Bewegung zu entwickeln, die hinter sich den Rest der nicht-ausbeutenden Schichten der Gesellschaft hätte vereinigen können. Das Gegenteil hat sich zugetragen: Die Bauern und die Kleinbürger haben diese Revolte angeführt.

Das bedeutet, dass die bolivianische Arbeiterklasse sich in einer interklassistischen ‚Volksbewegung’ aufgelöst hat. Wir behaupten dies aus verschiedenen Gründen:

a) Die Bauernschaft hat diese Revolte mit zwei Zielsetzungen angeführt: die Legalisierung des Kokaanbaus und die Verweigerung des Verkaufs von Erdgas an die USA.

b) Es wurde die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung als Mittel erhoben, um aus der Krise herauszukommen und ‚die Nation wieder aufzubauen’.

c) Nirgendwo hat diese Bewegung den Kampf gegen den Kapitalismus zuvorderst gestellt.

Die Ereignisse in Bolivien weisen eine grosse Ähnlichkeit mit denen in Argentinien 2001 auf, wo das Proletariat ebenfalls durch die Slogans des Kleinbürgertums aufgerieben worden ist. Diese ‚Volksbewegungen’ enthielten tatsächlich einen ziemlich reaktionären Aspekt, indem sie den Wiederaufbau der Nation oder den Rauswurf der ‚Gringos’ und die Rückgabe der Rohstoffe an den bolivianischen Staat propagierten (...) Die Revolutionäre müssen Klartext sprechen und sich illusionslos und ohne Selbsttäuschung auf die Tatsachen des Klassenkampfs stützen. Es ist notwendig, eine proletarische, revolutionäre Position einzunehmen, denn es wäre ein ernster Fehler, eine soziale Revolte mit einem engen politischen Horizont mit einem proletarischen antikapitalistischen Kampf zu verwechseln.“ (15)

Diese Analyse des NCI stützt sich auf die wirklichen Tatsachen und zeigt ganz klar auf, dass das IBRP die eigenen Wünsche zur Realität erhebt, wenn es die Idee der „Radikalisierung des Bewusstseins“ unter den nicht-ausbeutenden Schichten propagiert. Die konkrete Situation in der Peripherie ist die wachsende Zerstörung der gesellschaftlichen Beziehungen, die Propagierung des Nationalismus, des Populismus und anderer ähnlich reaktionärer Ideologien, die alle sehr ernste Folgen für die Fähigkeit des Proletariats haben, die eigenen Klasseninteressen zu verteidigen.

Glücklicherweise scheint diese Tatsache doch nicht vollständig unbemerkt von gewissen Publikationen des IBRP zu bleiben. Die Nummer 30 der Revolutionary Perspectives (Organ der Communist Workers Organisation, der Gruppe des IBRP in Grossbritannien) präsentiert im Editorial „Die imperialistischen Rivalitäten spitzen sich zu, der Klassenkampf muss sich zuspitzen“ ein der Realität viel näheres Bild der Ereignisse in Argentinien und in Bolivien: „Wie in Argentinien waren diese Proteste interklassistisch und ohne klare soziale Zielsetzung. Wir haben dies im Fall Argentiniens gesehen, wo die gewaltsame Agitation vor zwei Jahren den Weg für die Austerität und Verarmung geebnet hatte (...) Während der Ausbruch der Revolte die Wut und die Verzweiflung der Bevölkerung in vielen peripheren Ländern aufzeigt, können solche Ausbrüche gleichwohl keinen Ausweg aus der dort existierenden katastrophalen gesellschaftlichen Lage finden. Der einzige Weg nach vorn ist der Klassenkampf und seine Verbindung mit den Arbeiterkämpfen der Metropolen.“

Der Artikel denunziert indessen unglücklicherweise nicht die Rolle des Nationalismus oder der indianischen Kleinbourgeoisie in Bolivien. So bleibt die offizielle Position des IBRP bezüglich dieser Frage notwendigerweise jene, die von Battaglia Comunista vertreten wird, wonach „die Ayllu ein Ausgangspunkt für die Vereinigung und die Mobilisierung des indianischen Proletariats sein könnten“. Die Realität ist, dass die Ayllu der Ausgangspunkt für die Mobilisierung des indianischen Proletariats hinter dem indianischen Kleinbürgertum, den Bauern und Kokapflanzern in ihrem Kampf gegen die regierende Fraktion der Bourgeoisie waren.

Diese Verirrung von Battaglia Comunista, den „indianischen Gemeinderäten“ ein Potenzial bei der Entwicklung des Klassenkampfes zuzuschreiben, ist vom NCI nicht unbemerkt geblieben. Er sah es als notwendig an, Battaglia zu dieser Frage zu schreiben. Nachdem er betont hatte, was die Ayllu tatsächlich sind, nämlich „ein Kastensystem zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Unterschiede zwischen der Bourgeoisie, gleich, ob weiss, mestizisch oder eingeboren, und dem Proletariat“, richtet der NCI in seinem Brief (datiert vom 14. November 2003) folgende Kritik an Battaglia: „Unserer Ansicht nach handelt es sich bei dieser Position um einen schwerwiegenden Irrtum, da sie dieser traditionellen eingeborenen Institution die Fähigkeit zuspricht, Ausgangspunkt für die Arbeiterkämpfe in Bolivien zu sein, auch wenn sie in der Folge ihre Grenzen aufzeigt. Wir betrachten die Aufrufe der Anführer der Volksrevolte zur Wiederherstellung der mythischen Ayllu als Spaltung zwischen den weissen und den indianischstämmigen Arbeitern. Dies ist auch der Fall bei der Forderung an die herrschende Klasse nach einem grösseren Anteil am Kuchen, der vom Mehrwert, das aus dem bolivianischen Proletariat, gleich, welcher Herkunft, herausgepresst wurde, produziert wird.

Jedoch glauben wir fest daran, dass im Gegensatz zu eurer Erklärung der ‚Ayllu’ niemals als ‚ein Beschleuniger und Integrator in einem einzigen und gemeinsamen Kampf’ wird wirken können, da er von reaktionärer Natur ist und die ‚eingeborene’ Annäherung eine Idealisierung (eine Verfälschung) der Geschichte dieser Gemeinden darstellt, da ‚im Inkasystem die Gemeindeelemente des Ayllu in ein unterdrückerisches Kastensystem im Dienste der Oberschicht, der Inkas, eingebunden waren’ (Osvaldo Coggiola, „L’indigénisme bolivarien“). Aus diesem Grund ist es ein schwerwiegender Fehler zu meinen, dass der Ayllu als Beschleuniger und Integrator der Kämpfe wirken könnte.

Es ist wahr, dass die bolivianische Rebellion von eingeborenen Gemeinschaften von Bauern und Kokapflanzern angeführt worden ist, aber gerade hier liegt auch der grosse Schwachpunkt und nicht etwa die Stärke, da es sich um eine einfache und simple Volksrebellion handelt, in der die Arbeiter nur eine zweitrangige Rolle spielen. Die bolivianische interklassistische Revolte leidet also an der Abwesenheit einer revolutionären Arbeiterperspektive. Im Gegensatz zu den Gedanken gewisser Strömungen des trotzkistischen und guevaristischen Lagers kann man diese Revolte keinesfalls als ‚Revolution’ bezeichnen. Die eingeborenen Bauernmassen setzten sich in keinem Augenblick den Umsturz des kapitalistischen Systems in Bolivien zum Ziel. Im Gegenteil: Wir haben bereits gesagt, dass die Ereignisse in Bolivien sehr stark vom Chauvinismus geprägt sind: Verteidigung der nationalen Würde, Verweigerung des Erdgasverkaufs an Chile, Widerstand gegen die Ausmerzung der Kokapflanze.“

Die Rolle der Ayllu in Bolivien findet in der mexikanischen AZLN (Zapatistische Armee der nationalen Befreiung) ein Ebenbild: Sie hat die eingeborenen Gemeindeorganisationen zur Mobilisierung der indianischen Kleinbourgeoisie, der Bauern und Proletarier von Chiapas und anderen Regionen Mexikos im Kampf gegen die Hauptfraktion der mexikanischen Bourgeoisie gebraucht. Dieser Kampf stand auch im interimperialistischen Spannungsfeld zwischen den USA und gewissen europäischen Mächten.

Diese Sektoren der indianischen Bevölkerung Lateinamerikas sind weder ins Proletariat noch in die Bourgeoisie integriert worden und sind einer extremen Armut und Marginalisierung ausgeliefert. Diese Situation „hat Intellektuelle und gewisse Strömungen des Kleinbürgertums und der Bourgeoisie dazu veranlasst, nach Argumenten zu suchen, weshalb die Indianer ein gesellschaftlicher Körper mit einer historischen Alternative seien und wie sie als Kanonenfutter für den so genannten Kampf für die ethnische Verteidigung zu gebrauchen seien. Tatsächlich befinden sich hinter diesen Kämpfen aber die Interessen der Bourgeoisie. Man hat das nicht nur in Chiapas, sondern auch in Ex-Jugoslawien gesehen, wo die ethnischen Fragen von der Bourgeoisie manipuliert wurden, um einen formellen Vorwand für den Kampf der imperialistischen Mächte zu liefern.“ (16)

Die vitale Rolle der Arbeiterklasse in den zentralen Ländern des Kapitalismus

Das Proletariat ist mit einer sehr ernsthaften Verschlechterung der gesellschaftlichen Umwelt konfrontiert, in der es leben und kämpfen muss. Seine Fähigkeit, ein Vertrauen in sich selbst zu entwickeln, ist vom zunehmenden Gewicht der Hoffnungslosigkeit der nicht-ausbeutenden Schichten bedroht. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kräfte nutzen diese Situation für ihre eigenen Zwecke aus. Es wäre eine sehr schwerwiegende Vernachlässigung unserer Verantwortung, wenn wir diese Gefahr unterschätzen würden.

Nur durch die Entwicklung der Unabhängigkeit als Klasse und die Behauptung der Klassenidentität, durch die Stärkung des Vertrauens in die Fähigkeiten zur Verteidigung der eigenen Interessen wird das Proletariat zu einer Kraft werden, der es möglich ist, die anderen nicht-ausbeutenden Schichten der Gesellschaft hinter sich zu scharen.

Die Geschichte des Arbeiterkampfes in Lateinamerika zeigt, dass die Arbeiterklasse eine lange und reiche Erfahrung aufweist. Die Anstrengungen der argentinischen Arbeiter 2001 und 2002 zur Wiederaufnahme von unabhängigen Klassenkämpfen (beschrieben in den Zitaten vom NCI (17)) zeigen, dass die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse intakt ist. Sie trifft jedoch auf grosse Schwierigkeiten, die Ausdruck von bereits langanhaltenden Schwächen des Proletariats in der Peripherie des Kapitalismus und der enormen materiellen und ideologischen Kraft des Zerfallsprozesses in diesen Regionen sind. Es ist kein Zufall, wenn die bedeutendsten Ausdrücke der Klassenautonomie in Lateinamerika in den 60er- und 70er-Jahren liegen, mit anderen Worten: vor dem Prozess des Zerfalls und seiner negativen Auswirkungen auf die Klassenidentität des Proletariats. Eine solche Situation verstärkt nur die historische Verantwortung des Proletariats in den industriellen Konzentrationen im Herzen des Kapitalismus. Dort befinden sich die am weitesten vorangeschrittenen und die gegenüber den zersetzenden Auswirkungen des Zerfalls widerstandsfähigsten Teile der Arbeiterklasse. Das Signal zur Beendigung der fünfzigjährigen konterrevolutionären Phase Ende der 60er-Jahre war in Europa ertönt und das Echo hallte in Lateinamerika wider. Aus demselben Grunde wird die Rekonstituierung der Arbeiterklasse als historisches Gegengift zum kapitalistischen Verfall notwendigerweise von den konzentriertesten und politisch erfahrensten Bataillonen der Arbeiterklasse ausgehen, an erster Stelle von jenen in Westeuropa. Das bedeutet nicht, dass die Arbeiter Lateinamerikas keine vitale Rolle in der zukünftigen Generalisierung und Internationalisierung der Kämpfe spielen werden. Von allen Sektoren der Arbeiterklasse in der Peripherie des Systems sind sie gewiss die politisch am fortgeschrittensten. Das beweist die Existenz einer revolutionären Tradition in diesem Teil der Welt und auch das gegenwärtige Auftauchen von neuen Gruppen auf der Suche einer revolutionären Klarheit. Diese Minoritäten sind der Gipfel eines proletarischen Eisbergs, der die unsinkbare Titanic des Kapitals zum Sinken bringt.

Phil

Fußnoten:

1 s. Punkt 9 der Plattform der IKS.

2 Friedrich Engels/Karl Marx, Die heilige Familie, in: MEW, Bd. 2, S. 38.

3 s. Argentinien sechs Jahre nach Cordoba“, in: World Revolution, Nr. 1, 1975, S. 15f.

4 s. Der unaufhaltsame Fall von Allende, in: World Revolution Nr. 268.

5 s. Mexiko: Arbeiterkämpfe und revolutionäre Intervention, in: World Revolution, Nr. 124, Mai 1989.

6 Der schwierige Weg zur Vereinheitlichung des Klassenkampfes, in: World Revolution Nr. 124, Mai 1989.

7 nach Angaben der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC).

8 s. Kommuniqué an die gesamte Arbeiterklasse, in: Internacionalismo, Organ der IKS in Venezuela, zit. nach: World Revolution Nr. 124, Mai 1989.

9 s. Lektionen aus Argentinien: Positionsbezug des IBRP: Entweder die revolutionäre Partei und der Sozialismus oder die verallgemeinerte Armut und der Krieg, in: Internationalist Communist, Nr. 21, Herbst/Winter 2002.

10 s. Thesen über die kommunistischen Taktiken für die Peripherie des Kapitalismus, siehe: www.ibrp.org [15]. Die IKS kritisiert diese Thesen in: Der Kampf der Arbeiterklasse in den peripheren Ländern des Kapitalismus, in: Revue Internationale Nr. 100.

11 s. Volksaufstand in Argentinien: Nur auf dem Klassenterrain des Proletariats kann die Bourgeoisie zurückgedrängt werden, in: Internationale Revue, Nr. 30, November 2002.

12 s. Arbeiterkämpfe in Argentinien: Polemik mit der IKS“, in: Internationalist Communist, Nr. 21, Herbst/Winter 2002.

13 s. Zwei Jahre nach dem 19. und 20. Dezember, in: Revolucion Comunista, Nr. 2.

14 s. A propos Klassenkampf in Argentinien, in: Communismo, Nr. 49.

15 Die bolivianische Revolte, in: Revolucion Comunista, Nr. 1.

16 s. Einzig die proletarische Revolution kann die Indianer befreien, in: Revolucion Mundial, Nr. 64, September/Oktober 2001. Organ der IKS in Mexiko.

17 s. Révolution Internationale, Nr. 315, September 2001.

Geographisch: 

  • Süd- und Mittelamerika [16]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Das Klassenbewusstsein [8]

Anmerkungen zur Geschichte der imperialistischen Konflikte

  • 1912 Aufrufe

Anmerkungen zur Geschichte der imperialistischen Konflikte im Nahen Osten (Teil I)

Im Laufe der vergangenen hundert Jahre war der Nahe Osten oft Schauplatz imperialistischer Kriege.

Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten drei offene Kriege zwischen Israel und seinen feindlichen Nachbarn (1949, 1967, 1973), ein permanenter Kriegszustand zwischen Israel und den bewaffneten palästinensischen Kämpfern (mit den bewaffneten Terroristenbanden und Selbstmordattentätern auf der einen und dem israelischen Staatsterror auf der anderen Seite), ein acht Jahre langer Krieg zwischen Iran und Irak, unablässige Scharmützel zwischen kurdischen Nationalisten und dem türkischen Staat, 20 Jahre Krieg in Afghanistan, der Golfkrieg 1991 und die Besetzung des Iraks 2003, die nur eine Verschlimmerung des Kriegszustandes zur Folge hatte.

Kein anderer Teil der Erde zeigt deutlicher, dass der Kapitalismus nur durch Krieg und Zerstörung überleben kann, dass alle Länder – ob gross oder klein – imperialistisch sind, dass keine systemimmanente Auflösung der kapitalistischen Widersprüche möglich ist, dass der Krieg seine eigene Dynamik geschaffen hat und die Arbeiter sich auf dem internationalistischen Terrain vereinigen und gemeinsam jeden Nationalismus bekämpfen müssen.

Diese kurze Geschichte des Nahen Ostens hat zum Ziel aufzuzeigen, dass die Vielzahl der regionalen und lokalen Konflikte in dieser Region nur im Zusammenhang mit dem weltweiten Imperialismus verstanden werden kann.

Der Nahe Osten: Schnittpunkt der imperialistischen Interessen aller kapitalistischer Mächte

Zwischen dem Indischen Ozean und dem Mittelmeer, zwischen Asien, Europa und Afrika gelegen, war der Nahe Osten schon lange bevor seine Erdölvorkommen entdeckt wurden ein umstrittenes Gebiet.

Seit dem Beginn der Expansion des kapitalistischen Europas in diese Region haben die globalen strategischen Interessen die Politik der verschiedenen Mächte bestimmt. Diese haben sich nie nur wegen der Nachfrage nach diesem oder jenem Rohstoff die Stirn geboten.

Schon in seiner frühen Expansionsphase, noch bevor die industrielle Revolution voll in Schwung kam, beeilte sich der britische Kapitalismus, in Indien Fuss zu fassen und seinen französischen Rivalen von dort zu vertreiben. Bereits im frühen 19. Jahrhundert wurde Grossbritannien zur vorherrschenden Macht. Systematisch bemühte sich Grossbritannien darum, strategisch wichtige Stellungen auf dem Weg nach Indien zu besetzen. 1839 wurde Aden (im heutigen Yemen) besetzt und die Briten übernahmen die Polizeifunktion an der Golfküste, wo Piraten die Handelsentwicklung beeinträchtigt hatten.

Aber der Nahe Osten entwickelte sich schnell auch zu einem Expansionsziel des russischen Kapitalismus. Nach den Zusammenstössen mit Persien (1828) und seinen wiederholten Kriegen gegen das osmanische Reich – allein im 19. Jahrhundert führten Russland und die Türkei dreimal Krieg gegeneinander (1828, 1855 und 1877); im Krimkrieg von 1853–56 stiess Russland mit der Türkei, mit Grossbritannien, Frankreich und Italien am Schwarzen Meer zusammen – Russland versuchte, in Richtung Kaukasusregion, Kaspisches Meer und in Richtung der heute unter den Namen Kasachstan und Tadschikistan geläufigen Region zu expandieren. Sein Hauptziel war der Zugang zum Indischen Ozean via Afghanistan und Indien.

Um die russische Expansion in diese Gegend abzuwehren, nahm Grossbritannien zweimal Afghanistan ein (1839–1842 und 1878–1880). Nach seinem Sieg im zweiten Afghanistankrieg errichtete Grossbritannien ein Marionettenregime in diesem Land.[1]

Als sich Ende des 19. Jahrhunderts der deutsche Imperialismus in Richtung Balkan und Naher Osten ausbreitete, beschlossen Grossbritannien und Russland, ihren Konflikt über die Vorherrschaft in Asien beizulegen. Sie einigten sich darauf, das Gebiet rund um Afghanistan aufzuteilen, um dem deutschen Vorrücken Einhalt zu gebieten. Gleichzeitig installierte Grossbritannien 1893 in Afghanistan die „Durand-Linie“. Durand weitete entgegen den Absichten des afghanischen Königs die Grenze gen Osten durch einen schmalen Landstreifen, den Wakhan, aus, der sich durch das Pamirgebirge bis nach China erstreckt, um eine Pufferzone zwischen Russland und Indien zu installieren. 1907 unterzeichneten Grossbritannien und Russland einen Vertrag, der die Gebiete rund um den Iran aufteilte.

Ausserdem erzielte Grossbritannien 1882 einen strategisch bedeutenden Sieg, indem es Ägypten militärisch besetzte und seinen französischen Widersacher, der den 1869 eröffneten Suez-Kanal gebaut hatte, verdrängte. Der Suez-Kanal wurde zum Dreh- und Angelpunkt der britischen Vorherrschaft im Nahen Osten und war von allerhöchster Bedeutung für die britische Herrschaft in Indien und anderen Teilen Asiens und Afrikas. Noch 1956 entsandten Grossbritannien und Frankreich Truppen, um die Kontrolle über den Kanal zu verteidigen, und widersetzten sich damit den USA.

Von Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg hatte Grossbritannien die bestimmende Position im Nahen Osten inne und hielt damit seine europäischen Widersacher Russland und Frankreich in Schach.

Wie oben erwähnt, betrachteten die europäischen Kolonialmächte, als sie ihre Kolonien „einsammelten“ und ihre imperialistischen Ziele definierten, die Frage der Rohstoffe, ob Erdöl oder andere, nicht als vorrangig. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Erdölvorkommen des Nahen Ostens von geringer Bedeutung, und auch andere Rohstoffe spielten keine entscheidende Rolle.[2] Schon damals spielten eher strategische und militärische Erwägungen die Hauptrolle.

Die Natur der imperialistischen Konflikte entwickelte jedoch einen qualitativ neuen Charakter, als die Erdkugel Anfang des 20. Jahrhunderts zwischen den europäischen Grossmächten aufgeteilt war.

Sobald die europäischen Mächte bei dem Versuch, die Welt unter sich und weiteren aufzuteilen (Nordafrika unter Italien und Frankreich, Ägypten und Fachoda/Sudan unter Frankreich und Grossbritannien, Zentralasien unter Grossbritannien und Russland, der Ferne Osten zwischen Russland und Japan, China unter Japan und Grossbritannien, der Pazifik-

raum unter den USA und Japan, Marokko unter Deutschland und Frankreich), aneinander gerieten, nahmen auch die Spannungen im Nahen Osten stark zu.

Deutschland, das verspätet auf dem Weltmarkt erschienen war und verzweifelt versuchte, sich Kolonien anzueignen, konnte diese bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts nur noch Ländern entreissen, die sich bereits „etabliert“ hatten. Das hatte zur Folge, dass Deutschland vor allem versuchte, die Positionen der alleinigen Weltmacht, nämlich Grossbritanniens, zu untergraben. Schon Ende des 19. Jahrhunderts bemühte sich Deutschland darum, eine militärische Präsenz zu errichten. Doch wie wir gesehen haben, war der deutsche Imperialismus zwar in der Lage, die britischen Interessen in dieser Region zu bedrohen und zu untergraben, aber er war unfähig, die britische Herrschaft zu stürzen. Auch wenn er ein ständiger Herausforderer und „Unruhestifter“ besonders der britischen Interessen war, besass er, anders als der britische Imperialismus, nicht die Mittel, um seine Präsenz in der Region zu erzwingen.

Deutschland versuchte also, sich weiter östlich auf dem Balkan auszuweiten (es ist kein Zufall, dass der Erste Weltkrieg dort ausgelöst wurde, nachdem sich die imperialistischen Gegensätze in zwei Balkankriegen 1912–1913 zugespitzt hatten, während denen das osmanische Reich seine europäischen Gebiete an Bulgarien, Serbien, Griechenland und Albanien verlor). Das sich auflösende osmanische Reich wurde zum Angelpunkt der deutschen imperialistischen Ansprüche im Nahen Osten.

Während Marx noch die territoriale Einheit der Türkei als Barriere gegen die russischen Ambitionen im Nahen Osten unterstützt hatte, erkannte Rosa Luxemburg Anfang des 20. Jahrhunderts, dass sich die Weltlage verändert hatte und die Unterstützung der Türkei ein reaktionäres Projekt geworden war. „Dass bei der Vielfältigkeit der nationalen Fragen, welche den türkischen Staat zersprengen: der armenischen, kurdischen, syrischen, arabischen, griechischen (bis vor kurzem noch der albanischen und makedonischen), bei der Mannigfaltigkeit der ökonomisch-sozialen Probleme in den verschiedenen Teilen des Reiches (…) war für jedermann und namentlich für die deutsche Sozialdemokratie seit langem ganz klar, dass eine wirkliche Regeneration des türkischen Staates eine vollständige Utopie ist, und dass jede Anstrengung, diese verfaulten und zusammenbrechenden Ruinen aufrechtzuerhalten, nur ein reaktionäres Unternehmen darstellen kann.“[3]

Für den deutschen Imperialismus war die Türkei das Schlüsselland für seine Ambitionen.[4] Deutschland unterstützte die Türkei militärisch (es bildete den türkischen Generalstab aus, lieferte Waffen und unterzeichnete 1914 einen Beistandspakt für den Kriegsfall); es wurde auch zum wichtigsten Zulieferer finanzieller und technischer Hilfe. Darum hat „die Position des deutschen Imperialismus ihn in Gegensatz zu den anderen europäischen Staaten im Nahen Osten gebracht. Vor allem zu Grossbritannien. Die Errichtung strategischer Bahnen und die Stärkung des türkischen Imperialismus unter deutschem Einfluss wurden aber hier an einem der weltpolitisch empfindlichsten Punkte für Grossbritannien vorgenommen: in einem Kreuzungspunkt zwischen Zentralasien, Persien, Indien einerseits und Ägypten andererseits.“[5]

Eine weitere Ambition des deutschen Imperialismus zu jener Zeit war der Bau der Bagdadbahn, die den deutschen Truppen als elementarer logistischer Hebel dienen sollte.[6]

Der Zusammenbruch des osmanischen Reiches war entscheidend für die Ausbreitung der imperialistischen Konflikte sowohl auf dem Balkan als auch im Nahen Osten.

Bis zum Ersten Weltkrieg war der grösste Teil des Nahen Ostens unter der Kontrolle des osmanischen Reiches. In Asien kontrollierte die Türkei Syrien (einschliesslich Palästina), einen Teil der arabischen Halbinsel (die damals noch keine festen Grenzen hatte), einen Teil der Kaukasusregion und Mesopotamiens (bis nach Bassorah).

Der Zusammenbruch des osmanischen Reiches führte weder auf dem Balkan noch im Nahen Osten zur Bildung einer grossen Industrienation, die auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig gewesen wäre. Im Gegenteil, der imperialistische Druck führte zu einer Aufsplitterung, zur Bildung einer Reihe von „verkrüppelten Kleinstaaten“. Diese Kleinstaaten auf dem Balkan waren während des gesamten 20. Jahrhunderts und bis in unsere Tage ebenso Objekt der imperialistischen Rivalitäten zwischen den Grossmächten, wie der asiatische Teil der Trümmer des osmanischen Reiches, der Nahe Osten, Schauplatz andauernder imperialistischer Konflikte blieb.

Der Ferne Osten blieb, abgesehen von einigen weniger wichtigen Konflikten, abseits des Ersten Weltkrieges. Im Gegensatz dazu war der Nahe Osten schon immer Schlachtfeld konkurrierender Parteien gewesen.[7] Schon in der Zeit des Ersten Weltkrieges, lange bevor die Palästinafrage und die Frage eines jüdischen Staates gestellt wurde, war die Region ein imperialistisches Minenfeld gewesen. Wie wir aber sehen werden, trugen die Konflikte um Palästina und einen zionistischen Staat zu einer weiteren Verschärfung in einer Region bei, die ohnehin Brennpunkt imperialistischer Konflikte ist.

Der Fall des osmanischen Reiches und die imperialistischen Konstellationen am Ende des Ersten Weltkrieges

Während des Ersten Weltkrieges versuchten die europäischen Länder, ihre „Verbündeten“ in der Region für ihre Kriegsanstrengungen zu mobilisieren.

Grossbritannien, das zusammen mit Russland Deutschland und die Türkei bekämpfte, versuchte, die arabische Bourgeoisie für ein Bündnis gegen die osmanischen Herrscher zu gewinnen. Es ermutigte alle Unabhängigkeitsbestrebungen gegen die türkischen Herrscher, stachelte Stämme der Hedjas (im westlichen Teil der arabischen Halbinsel) auf und unterstützte Sherif Hussein aus Mekka.

Bereits im Ersten Weltkrieg dienten die lokalen Führer als Schachfiguren in den Machtkämpfen der europäischen Mächte. Die Briten konnten sich mit Hilfe von Lawrence von Arabien, der eine wichtige Rolle als Verbindungsoffizier zu den arabischen Rebellen spielte, deren Kampf gegen die Türken zunutze machen. Auch die jüdischen Einwanderer wurden als Kanonenfutter für den englischen Imperialismus rekrutiert.

Nachdem Deutschland die Türkei im Februar 1915 dazu gedrängt hatte, eine Offensive gegen die englischen Stellungen in Ägypten zu führen, um sich des Suez-Kanals zu bemächtigen (eine Offensive, die bereits nach wenigen Tagen aus Mangel an logistischer Unterstützung und an Waffenlieferungen scheiterte), erwies sich die Türkei als die grosse Verliererin des Krieges.

Dies entfachte umgekehrt die imperialistischen Gelüste sowohl der europäischen Mächte als auch der lokalen arabischen Herrscher. In der Hoffnung, von der Gelegenheit zu profitieren, lieferten sich im Sommer 1917 die von Sherif Hussein kommandierten arabischen Truppen ein richtiggehendes Wettrennen mit der englischen Armee, um sich Teile des türkischen Gebietes zu schnappen. Dieselben Truppen marschierten im Oktober 1918 in Damaskus ein und riefen ein arabisches Königreich aus. So zeigten die arabischen Führer ihre eigenen imperialistischen Ambitionen, nachdem sie als Kanonenfutter für die englischen imperialistischen Interessen in der Türkei gedient hatten. Sie wollten ein „panarabisches Reich“ mit Damaskus als Hauptstadt errichten. Doch diese nationalistischen Ambitionen stiessen sofort mit den englischen und französischen Interessen zusammen: Es gab keinen Raum für die arabischen imperialistischen Ansprüche.

Als das osmanische Reich auseinanderbrach und die deutsch-türkische Niederlage sich abzeichnete, begannen Frankreich und Grossbritannien Pläne zu schmieden, um den Nahen Osten unter sich aufzuteilen.

Die arabischen Staaten wurden von der Aufteilung der Beute ausgeschlossen. Die Bildung einer grossen arabischen Nation, die die Überbleibsel des kollabierten osmanischen Reiches umfassen würde, war historisch unmöglich geworden. Die Hoffnungen der herrschenden Klasse Arabiens, eine grosse arabische Nation aufzubauen, waren zum Scheitern verurteilt, weil die europäischen imperialistischen Haie keinen lokalen Widersacher dulden konnten.

Im Frühjahr 1915 teilten die europäischen Mächte Grossbritannien, Frankreich, Russland, Italien und Griechenland nach Geheimverhandlungen den Nahen Osten unter sich auf. Grossbritannien und Frankreich unterzeichneten im Mai 1916 ein Geheimabkommen (Sykes-Picot-Vertrag), demzufolge

– Grossbritannien die Kontrolle über Haifa, Acca, die Negev-Wüste, Südpalästina, den Irak, die arabische Halbinsel, sowie Transjordanien (heute: Jordanien),

– Frankreich den Libanon und Syrien bekommen erhalten sollte.

Im April 1920 erhielt Grossbritannien das Mandat des Völkerbundes für Palästina, Jordanien, Iran, Irak; Frankreich erhielt das Mandat für Syrien und Libanon und trat die Kontrolle über Mossul (mit seinen reichen Ölquellen) gegen englische Zugeständnisse in Elsass-Lothringen und Syrien ab.

Von da an waren Deutschland als geschlagenes Land und Russland nach der Oktoberrevolution 1917 für eine lange Zeit auf der imperialistischen Bühne im Nahen Osten nicht mehr präsent. Die Zahl der Widersacher in der Gegend sank beträchtlich. Grossbritannien und Frankreich wurden die herrschenden Kräfte, wobei Grossbritannien klar die stärkste Stellung innehielt. Die bestimmenden Kräfte waren während des Krieges und bis in die 30er-Jahre europäisch, die USA spielten noch keine bedeutende Rolle.

Um sein Kolonialreich zu verteidigen, das von anderen Mächten untergraben wurde, musste Grossbritannien ein besonderes Augenmerk auf die strategisch hoch bedeutende Region von Palästina legen. Palästina bedeutete für Grossbritannien die Verbindung zwischen dem Suez-Kanal und dem zukünftigen britischen Mesopotamien. Keiner anderen Macht, weder einer europäischen noch einer arabischen, sollte es erlaubt werden, einen Keil zwischen Mesopotamien und den Suez-Kanal zu treiben. 1916 erklärte Grossbritannien die Kontrolle über Palästina zum ausschliesslichen Ziel seiner Politik.

Bis zum Ersten Weltkrieg, solange das osmanische Reich Bestand hatte, wurde Palästina stets als Teil Syriens angesehen. Aber mit dem Mandat Grossbritanniens für Palästina hatten die imperialistischen Mächte eine neue „Einheit“ geschaffen. Wie alle im Laufe der Dekadenz des Kapitalismus neu geschaffenen „Einheiten“ war auch sie dazu bestimmt, zum permanenten Schauplatz von Konflikten und Kriegen zu werden.

Die lokalen palästinensischen Herrscher waren noch schwächer als die anderen arabischen Herrscher. Aufgrund ihrer wirtschaftlichen Rückständigkeit verfügten sie weder über eine industrielle Basis noch über Finanzkapital, sie hatten keinerlei wirtschaftliches Potenzial und konnten sich nur auf militärische Mittel stützen, um ihre Interessen zu verteidigen.

1919 wurde der erste palästinensische Nationalkongress einberufen und Amin al-Hussein wurde zum Mufti von Jerusalem ernannt. Die palästinensischen Nationalisten nahmen Kontakt mit Frankreich auf, um die englische Herrschaft in Palästina ins Wanken zu bringen. Mit der Hilfe Syriens und der französischen Besatzungstruppen in Syrien wurde ein militärischer Aufstand gegen die Briten organisiert, der indes von der britischen Armee schnell niedergeschlagen wurde.

Gleichzeitig wurden die palästinensischen Herrscher, die ihre Unabhängigkeit in einer Welt beanspruchten, die keinen Raum für einen neuen Nationalstaat bot, mit einem neuen, vom Ausland kommenden „Widersacher“ konfrontiert.

Nach der Balfour-Erklärung von Grossbritannien im November 1917, die Unterstützung bei der Errichtung einer jüdischen Heimstatt in Palästina versprach, nahm die Zahl der jüdischen Einwanderer beständig zu. Die Zionisten begannen einen blutigen Überlebenskampf gegen die palästinensischen Herrscher.

Grossbritannien nutzte die jüdischen Siedler an zwei Fronten. Nachdem es während des Krieges im Kampf gegen den türkischen Rivalen das „Zion Mule Corps“ seiner Armee angegliedert hatte, benutzte Grossbritannien nun die jüdischen Nationalisten gleichzeitig gegen seinen Hauptgegner Frankreich und gegen die arabischen Nationalisten. So stiftete Grossbritannien die Zionisten dazu an, vor dem Völkerbund zu erklären, dass die Juden in Palästina weder französischen noch internationalen, sondern nur britischen Schutz wünschten.

Obwohl in Rivalität miteinander verbunden, handelten Frankreich und Grossbritannien resolut und gemeinsam gegen lokale arabische Nationalisten, sobald sich deren Ruf nach nationaler Unabhängigkeit erhob. So setzten sie nun militärische Mittel ein, um ihre Unabhängigkeitsansprüche der arabischen Nationalisten zu unterdrücken, nachdem sie sich noch während des 1. Weltkrieges gegen die Türken ihrer bedient hatten. Kaum hatte Scheich Feisal im Oktober 1918 in Damaskus ein „unabhängiges arabisches Reich“ proklamiert, das Palästina umfassen sollte, unterwarfen ihn im Juli 1920 französische Truppen – wobei sie Bombenflugzeuge gegen die arabischen Nationalisten einsetzten.

Im März 1918 fanden in Ägypten eine Reihe von Protesten von ägyptischen Nationalisten, Arbeitern und Bauern statt, die soziale Reformen forderten. Sie wurden von der britischen und ägyptischen Armee gemeinsam niedergeworfen, wobei mehr als 3.000 Ägypter getötet wurden. Auch 1920 wurde eine Protestbewegung im irakischen Mossul von Grossbritannien niedergeschlagen.

Die lokale Bourgeoisie hatte in keinem der arabischen Länder oder Protektorate die Mittel, unabhängige, vom kolonialen Zugriff und den „Schutzmächten“ befreite Staaten zu errichten.

Die Forderung nach nationaler Befreiung war nichts anderes als eine reaktionäre Forderung. Während Marx und Engels einige nationalistische Bewegungen unter der einzigen Bedingung unterstützt hatten, dass die Bildung der Nationalstaaten das Wachstum und die Verstärkung der Arbeiterklasse beschleunigen würde, damit Letztere als Totengräber des Kapitalismus handeln konnte, zeigten die Entwicklungen im Nahen Osten dagegen, dass es keinen Raum für die Bildung einer neuen arabischen oder palästinensischen Nation gab. Nachdem der Kapitalismus in die Phase seines Niederganges eingetreten war, konnten – wie auch überall sonst auf der Welt – keine nationale Fraktion des Kapitals eine fortschrittliche Rolle mehr spielen. Unfähig, neue kapitalistische Absatzmärkte zu erobern, konnten die Widersacher nur militärisch reagieren: Die Kolonialmächte verhinderten im Nahen Osten die Bildung einer neuen arabischen Nation, und die lokalen arabischen Bourgeoisien widersetzten sich den Versuchen, einen neuen palästinensischen Nationalstaat zu errichten.

Um die Situation im Nahen Osten nach dem Niedergang des osmanischen Reiches und dem Ende des Ersten Weltkriegs zusammenzufassen, möchten wir folgende Punkte hervorheben:

– Die beiden europäischen Mächte Frankreich und Grossbritannien, die in Rivalität zueinander standen und ihre „Protégés“ gewählt hatten, beherrschten die Region.

– Deutschland und Russland mit ihren starken imperialistischen Ambitionen in der Region wurden zurückgedrängt.

– Die arabische Bourgeoisie war nicht in der Lage, einen lebensfähigen panarabischen Nationalstaat zu schaffen.

– Die neu geschaffene Einheit, das Protektorat Palästina, mit einer verkrüppelten, rückständigen herrschenden Klasse Palästinas an der Spitze, geriet in Konflikt mit einer „Schutz“macht (Grossbritannien), die dazu nicht in der Lage war, und mit dem neuen zionistischen Rivalen, der von aussen einsickerte.

Die arabische Bourgeoisie, die mit den Kolonialmächten aneinander geriet, die sie daran hindern wollten, einen neuen, lebensfähigen Staat zu bilden, widersetzte sich ihrerseits der Bildung einer neuen palästinensischen „Einheit“.

Die USA, Hauptnutzniesser des Ersten Weltkrieges, waren noch nicht bereit. Im Zentrum der imperialistischen Rivalitäten stand nicht die Eroberung von bestimmten Rohstoffen, sondern die Eroberung strategischer Positionen.

Wir sehen, dass die Situation im Nahen Osten die von Rosa Luxemburg während des Ersten Weltkrieges entwickelte Analyse voll und ganz bestätigte: „Der Nationalstaat, die nationale Unabhängigkeit und Einheit, das war das ideologische Banner, unter dem sich im letzten Jahrhundert die grossen bürgerlichen Staaten Zentraleuropas bildeten. Der Kapitalismus ist nicht vereinbar mit dem Partikularismus der Kleinstaaten, mit einem politischen und wirtschaftlichen Zerbröckeln; er braucht ein grösstmögliches zusammenhängendes Gebiet mit einem einheitlichen Zivilisationsniveau, um sich auszubreiten; ohne diese Voraussetzung könnte man weder die gesellschaftlichen Bedürfnisse auf die von der kapitalistischen Warenproduktion erzielte Ebene heben, noch würde der Mechanismus der modernen bürgerlichen Herrschaft funktionieren. Vor ihrer Ausbreitung über die ganze Erdkugel hat die kapitalistische Wirtschaftsweise versucht, sich ein zusammenhängendes Gebiet in den nationalen Grenzen eines Staates zu schaffen (…) Die nationale Phrase dient heute nur dazu, mehr schlecht als recht imperialistische Ansprüche zu maskieren, wenn sie nicht als Kriegsruf in den imperialistischen Konflikten verwendet wird, als einziges und letztes ideologisches Mittel, um die Zustimmung der Volksmassen zu fangen und sie die Rolle des Kanonenfutters in den imperialistischen Kriegen spielen zu lassen.“[8]

DE

Fußnoten:

1. Friedrich Engels, Angriff“, in: MEW Bd. 14, S. 68

2. 1900 betrug der Erdölverbrauch etwa 20 Millionen Tonnen und diese Nachfrage wurde durch die amerikanischen und russischen Quellen abgedeckt (Hauptförderregion war der Golf von Mexiko). Die verschärfte Militarisierung und die Ablösung der Kohle durch Öl in der Industrie und als Treibstoff für Lokomotiven erhöhten die Nachfrage stark. Zwischen 1900 und 1910 hat sich die Erdölproduktion mehr als verdoppelt und erreichte 43.8 Millionen Tonnen. Die Erfindung des Dieselmotors für den Lokomotivantrieb und die Dampfschiffe schufen die technische Grundlage, aber erst die Erfordernisse einer militarisierten Wirtschaft führten zur Verdoppelung der Rohölproduktion. Vor dem I. Weltkrieg spielte der Nahe Osten lediglich eine zweitrangige Rolle in der Erdölversorgung des Weltmarktes. Erst nach dem I. Weltkrieg stieg die Ölförderung im Nahen Osten beträchtlich an.

3. Rosa Luxemburg, Junius-Broschüre, Absatz 4, in Gesammelte Werke Bd 4, S. 83ff.

4. Der deutsche Imperialismus schwankte zwischen der Unterstützung für die Türkei und für die nationalistischen jüdischen Siedler. Wenn die Zionisten mit deutscher Unterstützung eine jüdische Heimstatt in Palästina eingerichtet hätten, hätte dies einen Konflikt mit dem osmanischen Reich hervorgerufen. Doch Deutschland wollte es nicht riskieren, seine Verbindung mit der Türkei zu lösen, weil diese sein wichtigster Verbündeter im weltweiten Machtkampf mit Grossbritannien war.

5. Rosa Luxemburg, Junius-Broschüre, Absatz 4, in Gesammelte Werke Bd 4, S. 83ff. Rosa Luxemburg war eine der Ersten, die die historischen Folgen der neuen Bedingungen, die der Anfang der Dekadenz mit sich brachte, erfasste. Schon in ihrem Buch über Die wirtschaftliche Entwicklung Polens 1898 zeigte sie, dass die Kommunisten die Bildung eines polnischen Staates nicht mehr unterstützen konnten. In dem Text Die nationalen Kämpfe in der Türkei und die Sozialdemokratie 1896 und in Die nationale Frage und die Autonomie 1908 zeigte sie den historischen Wandel auf, der zwischen dem Aufstieg und dem Niedergang eingetreten war und jede Unterstützung für die Türkei verunmöglichte.

6. Rohrbach schrieb in seinem Buch Die Bagdadbahn“: „Grossbritannien kann von Europa aus nur an einer Stelle zu Lande angegriffen und schwer verwundet werden: von Ägypten (…) Die Türkei kann aber nur unter der Voraussetzung an Ägypten denken, dass sie über ein ausgebautes Eisenbahnsystem in Kleinasien und Syrien verfügt. Die Bagdadbahn war von Anfang an dazu bestimmt, Konstantinopel und die militärischen Kerngebiete des türkischen Reiches in unmittelbare Verbindung mit Syrien und den Provinzen am Euphrat und Tigris zu bringen. Natürlich war in diesem Plan das Projekt inbegriffen, türkische Truppen nach Ägypten zu transportieren.“ (Paul Rohrbach, zitiert nach Rosa Luxemburg, in: Der Krieg und die deutsche Politik).

7. Obwohl der Nahe Osten ein Nebenkriegsschauplatz des Ersten Weltkrieges war, liessen von den 20 Millionen Opfern etwa 350.000 aus dem Nahen Osten ihr Leben in diesem Krieg. Die türkische und alliierte Seeblockade der arabischen Häfen sowie Epidemien und Hungersnöte erforderten zahlreiche Tote. 30 Prozent der ägyptischen Männer wurden von der britischen und australischen Armee eingezogen, um als Handlanger zu dienen.

8. Rosa Luxemburg, Junius-Broschüre, Absatz 4, in Gesammelte Werke Bd 4, S. 83ff.

Den Zerfall des Kapitalismus verstehen (Teil I)

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Die marxistischen Wurzeln des Begriffs „Zerfall“

In den „Thesen über den Zerfall“ (Erstpublikation in der International Review Nr. 62 und in Deutsch in: Internationale Revue Nr. 13) sowie im Artikel „Der Zerfall des Kapitalismus“ (Internationale Review Nr. 57, engl., franz., span. Ausgabe) haben wir gezeigt, dass der Kapitalismus in eine neue und letzte Phase seiner Dekadenz eingetreten ist, in die des Zerfalls. Sie wird charakterisiert durch die Verstärkung und Zuspitzung aller Widersprüche des System.

Leider sah sich unsere Organisation mit dem Bemühen, diese wichtige Entwicklung im Leben des Kapitalismus zu analysieren, einerseits der blossen Gleichgültigkeit einiger Gruppen der Kommunistischen Linken gegenüber; anderseits sind wir auch auf völliges Unverständnis, ja gar auf Anschuldigungen jeglicher Art gestossen wie z.B. auf den Vorwurf, wir seien von der marxistischen Methode abgekommen.

Die vielleicht groteskeste Stellungnahme kommt von Parti Communiste International (PCI), deren Presseorgane Le Prolétaire und

Il Comunista. In einer von ihr kürzlich publizierten Broschüre mit dem Titel „Le Courant Communiste International: à contre-courant du marxisme et de la lutte de classe“ (Die Internationale Kommunistische Strömung gegen den Marxismus und Klassenkampf) äussert sich diese Organisation zu unserer Analyse des Zerfalls wie folgt: „Wir wollen an dieser Stelle auch keine detaillierte Kritik an dieser nebulösen Theorie anbringen, sondern begnügen uns damit, auf die vom Marxismus und Materialismus am stärksten abweichenden Entdeckungen hinzuweisen.“ Und dies ist auch schon alles, was die PCI zu unserer Analyse zu sagen weiss, während sie an anderer Stelle auf siebzig Seiten gegen unsere Organisation polemisiert.

Nun ist aber die theoretische Reflexion für eine Organisation, die beansprucht, die historischen Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten, eine Pflicht ersten Ranges. Diese Reflexion soll die Kampfbedingungen verdeutlichen und die Analysen der Gesellschaft, die sie ja als falsch beurteilt, kritisieren. Diese Notwendigkeit ist um so akuter, da ebendiese Analysen gar von anderen revolutionären Organisationen verteidigt werden. (1)

Das Proletariat und die ihm zugehörigen avantgardistischen Minderheiten brauchen einen globalen Rahmen für das Verständnis der Situation. Ohne einen solchen Rahmen können sie den Ereignissen lediglich mit empirischen und immediatistischen Reaktionen begegnen. Und diese werden durch die Ereignisabfolge selbst überrumpelt.

Die Communist Workers Organisation (CWO) ihrerseits, britischer Zweig des Internationalen Büros für die Revolutionäre Partei (IBRP), geht in drei Artikeln ihrer Presseorgane (2) auf unsere Analyse des Zerfalls des Kapitalismus ein. Wir werden weiter unten die genauen Argumente der CWO betrachten. Vorerst sei nur gesagt, dass ihre Kritik im Prinzip besagt, unsere Analyse sei nicht marxistisch.

Angesichts dieses Urteils (und die CWO ist damit nicht allein unter den revolutionären Organisationen) erscheint es uns wichtig, die marxistischen Wurzeln des Begriffs „Zerfall“ des Kapitalismus aufzudecken und verschiedene Aspekte und Bedeutungen dieses Begriffs zu präzisieren und zu entwickeln. Deshalb haben wir uns für die Veröffentlichung einer Artikelserie mit der Überschrift „Den Zerfall verstehen“ entschieden. Diese Artikelserie versteht sich als Fortsetzung einer früheren, nämlich der vor einigen Jahren erschienenen Serie „Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen“ (3). Schliesslich ist der Zerfall ein Phänomen der Dekadenz und kann nicht isoliert von ihr verstanden werden.

Der Zerfall – ein Phänomen der Dekadenz des Kapitalismus

Die marxistische Methode liefert einen materialistischen und historischen Rahmen, um die unterschiedlichen Momente des Lebens des Kapitalismus sowohl in der aufsteigenden als auch in der absteigenden Phase zu charakterisieren.

„Genauso wie der Kapitalismus verschiedene Zeiträume in seiner historischen Entwicklung durchlaufen hat – Entstehung, Aufstieg, Niedergang – beinhaltete jeder dieser Zeiträume auch unterschiedliche und voneinander abgegrenzte Phasen. So gab es z.B. in der aufsteigenden Phase die nacheinander folgenden Phasen des freien Marktes, der Aktiengesellschaften, der Monopole, des Finanzkapitals, der kolonialen Eroberungen und der Entwicklung des Weltmarkts. In der Periode der Dekadenz gibt es auch verschiedene Phasen: Imperialismus, Weltkriege, Staatskapitalismus, permanente Krise und heute der Zerfall. Es handelt sich dabei um verschiedene, nacheinander folgende Ausdrücke des Lebens des Kapitalismus, mit jeweils typischen Charakteristiken, selbst wenn diese Ausdrücke vorher schon bestanden oder beim Anbruch einer neuen Phase gar weiterbestehen.“ (4) Die geläufigste Illustration dieses Phänomens ist zweifelsohne der Imperialismus, der „streng genommen nach 1870 beginnt, als sich der Kapitalismus merklich neu gestaltet. Die Periode der Bildung der Nationalstaaten in Europa und Nordamerika ist abgeschlossen und an Stelle von Grossbritannien als Weltfabrik haben sich verschiedene andere nationale Kapitalfraktionen entwickelt, die sich im Wettbewerb um die Vorherrschaft des Weltmarktes befinden, nicht nur im Wettbewerb um die inneren Märkte, sondern auch um die Kolonialmärkte.“ (5) Der Imperialismus erlangt „jedoch erst mit dem Eintritt des Kapitalismus in die Epoche seiner Dekadenz (...) eine vorherrschende Stellung in der Gesellschaft, in der Politik der Staaten und in den internationalen Verhältnissen (...), so dass er in der ersten Phase seiner Dekadenz diese besonders stark prägt. Dadurch identifizierten viele Revolutionäre der damaligen Zeit ihn mit der Dekadenz des Kapitalismus schlechthin.“ (6)

Die Dekadenzphase des Kapitalismus trägt sehr wohl von Anfang an Elemente des Zerfalls in sich. Kennzeichen davon sind die Auflösung der Gesellschaft, das Versagen ihrer ökonomischen, politischen und ideologischen Strukturen. Nichtsdestotrotz wird der Zerfall erst an einem bestimmten Entwicklungspunkt und unter sehr bestimmten Umständen innerhalb der Dekadenz zu einem oder gar zu dem entscheidenden Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung, indem sie eine besondere Phase eröffnet, nämlich die des Zerfalls der Gesellschaft. Dass diese Phase die Vervollständigung jener Phasen darstellt, die ihr während der Dekadenz vorausgingen, wird von der Geschichte dieser Periode attestiert.

Der erste Kongress der Kommunistischen Internationale (2. bis 6. März 1919) zeigte auf, dass der Kapitalismus in eine neue Epoche, die seines historischen Niedergangs, eingetreten ist, in dem er die Keime des inneren Zerfalls des Systems identifizierte: „Eine neue Epoche ist geboren: die Epoche der Auflösung und des inneren Zusammenbruchs des Kapitalismus, die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats.“ (7) Die gesamte Menschheit sieht sich der Gefahr einer Selbstzerstörung ausgesetzt, sollte der Kapitalismus die proletarische Revolution überleben: „Der Menschheit, deren ganze Kultur jetzt in Trümmern liegt, droht die Gefahr vollständiger Vernichtung. (...) Die alte kapitalistische „Ordnung“ existiert nicht mehr, sie kann nicht mehr bestehen. Das Endresultat der kapitalistischen Produktionsweise ist das Chaos.“ (8) „Heute steht die Verelendung vor uns, nicht nur die soziale, sondern die physiologische, die biologische in ihrer ganzen erschütternde Wirklichkeit.“ (9)

Diese neue Epoche wird auf gesellschaftlicher Ebene durch das historische Ereignis des Ersten Weltkrieges markiert, der sie eröffnet hat: „Wenn der freie Wettbewerb als Regulator der Produktion und der Verteilung in den Hauptgebieten der Wirtschaft von dem System der Trusts und Monopole noch in den dem Kriege vorangegangenen Jahrzehnten verdrängt wurde, so wurde durch den Gang des Krieges die regelnde Rolle den Händen der ökonomischen Vereinigungen entrissen und direkt der militärischen Staatsmacht ausgeliefert.“ (10) Das genannte Phänomen ist nicht von konjunktureller Natur, hervorgerufen durch den Ausnahmezustand des Krieges, sondern eine permanente und unumkehrbare Tendenz: „…hat die völlige Unterordnung der Staatsmacht unter die Gewalt des Finanzkapitals durch diese Massenabschlachtung nicht nur den Staat, sondern auch sich selbst vollends militarisiert und ist nicht mehr fähig, seine wesentlichen ökonomischen Funktionen anders als mittels Blut und Eisen zu erfüllen (…) Die Verstaatlichung des wirtschaftlichen Lebens, gegen welche der kapitalistische Liberalismus sich so sträubt, ist zur Tatsache geworden. Nicht nur zum freien Wettbewerb, sondern auch zur Herrschaft der Trusts, Syndikate und anderer wirtschaftlicher Ungetüme gibt es keine Rückkehr. Die Frage besteht einzig darin, wer künftig der Träger der verstaatlichten Produktion sein wird: der imperialistische Staat oder der Staat des siegreichen Proletariats?“ (11)

Die darauf folgenden acht Jahrzehnte haben diesen eindeutigen Wendepunkt der kapitalistischen Gesellschaft nur bestätigt. Sie erlebten eine massive Entwicklung des Staatskapitalismus und der Kriegsökonomie nach der Krise von 1929, den Zweiten Weltkrieg, die darauf folgende Wiederaufbauphase und den Start eines verrückten nuklearen Wettrennens, den Kalten Krieg, der ebenso viele Tote wie die beiden Weltkriege zusammen gefordert hat, und seit 1967 – mit dem Ende der Wiederaufbauperiode nach dem Krieg – das zunehmende Versinken der Wirtschaft in der Krise. Diese Krise dauert nun schon seit dreissig Jahren an und wird begleitet von einer endlosen Spirale militärischer Erschütterungen. Kurz gesagt: es ist eine Welt, die keine andere Perspektive als die eines unaufhörlichen Todeskampfes anbietet, geprägt durch Zerstörung, Elend und Barbarei.

Eine solche historische Entwicklung kann nur den Zerfall der kapitalistischen Produktionsweise auf allen Ebenen des Gesellschaftslebens – Wirtschaft, Politik, Moral, Kultur etc. – fördern. Offensichtlich wurde dies einerseits durch den irrationalen Wahnsinn und die Bestialität des Nazismus mit seinen Konzentrationslagern sowie durch den Stalinismus mit seinem Gulag und andererseits durch den Zynismus und die Heuchelei ihrer demokratischen Gegenspieler mit ihren mörderischen Bombardierungen, die verantwortlich sind für Hunderttausende von Opfern unter der deutschen (besonders in Dresden) und japanischen Bevölkerung (besonders die beiden Atombomben über Hiroshima und Nagasaki), obwohl diese beiden Länder bereits geschlagen waren. Die Kommunistische Linke Frankreichs argumentierte 1947, dass die Zerfallstendenzen des Kapitalismus das Produkt der ihm innewohnenden unüberwindbaren Widersprüche sind: „Angesicht ihres eigenen Zerfalls, wählt die Bourgeoisie immer das geringere Übel, sie flickt hier zusammen und stopft dort ein Loch, obschon sie weiss, dass der Sturm stärker wird“. (12)

Der Zerfall – die Endphase der Dekadenz des Kapitalismus

Die Widersprüche und Manifestationen der Dekadenz des Kapitalismus, die ihre verschiedenen Momente hintereinander auszeichnen, verschwinden nicht mit der Zeit, sondern behaupten sich. So erscheint die Zerfallsphase, die ihren Anfang in den 80er-Jahren nahm, „als das Ergebnis der Anhäufung all der Charakteristiken eines im Sterben liegenden Systems. Die Phase des Zerfalls ist nach einem dreiviertel Jahrhundert Todeskampf der Gipfel einer durch die Geschichte zum Tode verurteilten Produktionsform. Nicht nur, dass das imperialistische Wesen aller Staaten, die Drohung eines neuen Weltkrieges, die Absorption der Gesellschaft durch den Staatsmoloch und die ständige Krise der kapitalistischen Wirtschaft in der Phase des Zerfalls fortbestehen, sie erreichen darüber hinaus im Zerfall ihre höchste Synthese und äusserste Konsequenz“.(13)

Der Beginn der Phase des Zerfalls (Zerfall (14)) ist also kein Blitz aus heiterem Himmel, sondern muss als Kristallisierung eines Prozesses verstanden werden, der schon in den vorhergehenden Etappen des dekadenten Kapitalismus latent war, aber erst ab einem bestimmten Moment zum zentralen Faktor der Situation wurde. Somit kann den Phänomenen des Zerfalls, die, wie erwähnt, die bisherige Dekadenzphase bis anhin begleitet haben, quantitativ und qualitativ nicht dieselbe Bedeutung zugeschrieben werden, die sie seit Beginn der 80er-Jahre haben. Der Zerfall ist nicht einfach eine „neue Phase“, welche die Abfolge früherer Phasen innerhalb der Dekadenz (Imperialismus, Weltkriege, Staatskapitalismus) fortsetzt, sondern die Endphase des Systems.

Die Phase des allgemeinen Zerfalls, der Verwesung der Gesellschaft, wird durch die Tatsache verursacht, dass die Widersprüche des Kapitalismus sich noch weiter verschlimmern, da die Bourgeoisie unfähig ist, der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit auch nur den Hauch einer Perspektive anzubieten, und das Proletariat nicht imstande ist, seine eigene Perspektive unmittelbar zu behaupten.

In einer Klassengesellschaft handeln die Individuen, ohne ihr eigenes Leben wirklich und bewusst zu kontrollieren. Das bedeutet aber nicht, dass eine solche Gesellschaft völlig blind und ohne Orientierung bzw. Perspektive funktionieren kann. „Tatsächlich kann sich keine Produktionsform am Leben erhalten, sich entfalten, den gesellschaftlichen Zusammenhalt sicherstellen, wenn sie nicht in der Lage ist, der gesamten, von ihr beherrschten Gesellschaft eine Perspektive anzubieten. Dies trifft besonders auf den Kapitalismus zu, der die dynamischste Produktionsform der bisherigen Geschichte ist.“ (15)

Dieser immer stärkere Verlust eines Wegweisers für die Gesellschaft ist kennzeichnend für die aktuelle Phase des kapitalistischen Zerfalls. Hier besteht ein wichtiger Unterschied zur Periode des Zweiten Weltkrieges. Der Zweite Weltkrieg legte die Barbarei des kapitalistischen Systems auf erschreckende Weise offen. Aber Barbarei ist nicht gleichzusetzen mit Zerfall. Inmitten der Barbarei des Zweiten Weltkriegs entbehrte die Gesellschaft keiner „Orientierung“: Die kapitalistischen Staaten waren fähig, die gesamte Gesellschaft mit eiserner Hand anzuführen und sie für den Krieg zu mobilisieren. In dieser Hinsicht hat die Periode des Kalten Krieges ähnliche Charakteristiken: Das gesamte gesellschaftliche Leben wurde durch die Staaten kontrolliert, die am blutigen Kampf der beiden Blöcke teilnahmen. Die gesamte Gesellschaft wurde von einer „organisierten“ Barbarei umhüllt. Im Unterschied dazu ist seit Beginn der Zerfallsphase diese „organisierte“ Barbarei durch eine anarchistische und chaotische Barbarei ersetzt worden, in der das „Jeder-für-sich“, die Instabilität von Bündnissen, die Kriminalisierung der internationalen Beziehungen vorherrscht.

Zerfall und Klassenkampf

Im Sinne des Marxismus ändern sich also „die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse (...), verwandeln sich mit der Veränderung und Entwicklung der materiellen Produktionsmittel, der Produktionskräfte. Die Produktionsverhältnisse in ihrer Gesamtheit bilden das, was man die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Gesellschaft nennt, und zwar eine Gesellschaft auf bestimmter, geschichtlicher Entwicklungsstufe, eine Gesellschaft mit eigentümlichem, unterscheidendem Charakter. Die antike Gesellschaft, die feudale Gesellschaft, die bürgerliche Gesellschaft sind solche Gesamtheiten von Produktionsverhältnissen, deren jede zugleich eine besondere Entwicklungsstufe in der Geschichte der Menschheit bezeichnet“. (16) Aber ebenso bilden diese Produktionsverhältnisse den Rahmen für ihre eigene Entwicklung und für den Antrieb des Klassenkampfes, zur Entwicklung der Menschheit. So stellt Engels fest, „dass die ökonomische Produktion und die aus ihr mit Notwendigkeit folgende gesellschaftliche Gliederung einer jeden Geschichtsepoche die Grundlage bildet für die politische und intellektuelle Geschichte dieser Epoche; dass demgemäss (seit Auflösung des uralten Gemeinbesitzes an Grund und Boden) die ganze Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen gewesen ist, Kämpfen zwischen ausgebeuteten und ausbeutenden, beherrschten und herrschenden Klassen auf verschiedenen Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung“. (17) Die Verknüpfungen zwischen den Produktionsverhältnissen und der Entwicklung der Produktivkräfte einerseits und dem Klassenkampf andererseits wurden vom Marxismus nie als simpel und mechanisch aufgefasst, so als werde Letztgenanntes allein von Erstgenanntem bestimmt. In dieser Frage warnte Bilan in Reaktion auf die Linksopposition vor der vulgär-marxistischen Interpretation, dass „die ganze Entwicklung der Geschichte auf das Gesetz der Entwicklung der Ökonomie und der Produktivkräfte reduziert werden kann„, und dass diese Interpretation das neue Element im Marxismus ist im Vergleich zu den vorangegangenen historischen Theorien, welche von der Weiterentwicklung der kapitalistischen Gesellschaft völlig überzeugt waren. Für solch eine vulgär-materialistische Interpretation repräsentiert „der produktive Mechanismus nicht nur die Quelle der Klassenformierungen, sondern er bestimmt auch automatisch das Handeln und die Politik der Klassen und die Menschen, die sie ausführen. Somit wird das Problem des sozialen Kampfes nur simplifiziert. Menschen und Klassen wären nur von den ökonomischen Kräften gesteuerte Marionetten“. (18)

Die Gesellschaftsklassen handeln nicht nach einem durch die wirtschaftliche Entwicklung im Voraus festgesetzten Szenario. Bilan fügt hinzu, dass „die Klassenaktion nur als Folge der historischen Einsicht in die Rolle und die Mittel möglich ist, die für ihren Triumph angemessen sind. Die Klassen sind in ihrem Aufstieg und Niedergang vom ökonomischen Mechanismus abhängig (...) aber für ihren Sieg müssen sie sich eine politische und organische Gestaltung geben, ohne die sie, auch wenn von der Entwicklung der Produktivkräfte auserwählt, riskieren, für lange Zeit Gefangene der alten herrschenden Klasse zu bleiben, die ihrerseits in ihrem Sträuben den Gang der ökonomischen Entwicklung aufhält.“ (19)

An dieser Stelle müssen zwei äusserst wichtige Schlussfolgerungen aus dem Gesagten gezogen werden.

Erstens sind die ökonomischen Mechanismen, obschon bestimmend, selbst auch determiniert, weil der Widerstand der alten Klasse – von der Geschichte zum Tode verurteilt – den Lauf ihrer Entwicklung hemmt. Die Menschheit hat heute beinahe ein Jahrhundert der kapitalistischen Dekadenz hinter sich, die diese Realität veranschaulicht. Um brutale Zusammenbrüche zu vermeiden und die Zwänge der Kriegswirtschaft zu schultern, hat sich der Staatskapitalismus auf Dauer dem Wertgesetz entzogen. (20) Damit stürzt er die Wirtschaft in Widersprüche, die immer unüberwindbarer werden. Weit davon entfernt, die Widersprüche des kapitalistischen Systems zu überwinden, hat solch ein Eskapismus keine andere Konsequenz als die beträchtliche Verschärfung dieser Widersprüche. Bilan zufolge wurde dadurch die historische Entwicklung in einen gordischen Knoten unüberwindbarer Widersprüche gezwängt.

Zweitens ist es der revolutionären Klasse, die durch die Geschichte dazu bestimmt ist, den Kapitalismus zu überwinden, bisher nicht gelungen, diese historische Mission zu erfüllen. Die lange Periode der letzten dreissig Jahre ist eine klare Bestätigung der Analyse Bilans. Diese Analyse gehört in eine Reihe mit den all den anderen marxistischen Positionen. Zwar hat historische Wiederauftauchen des Proletariats 1968 die Bourgeoisie daran gehindert, die Gesellschaft in einen erneuten allgemeinen Krieg zu ziehen, doch war das Proletariat nicht imstande, seine Defensivkämpfe in eine offensive Schlacht zur Zerstörung des Kapitalismus zu verwandeln.

Dieser Rückschlag – für die Analyse ihrer allgemeinen und historisch ursächlichen Faktoren ist in diesem Artikel kein Platz (21) – war entscheidend für den Eintritt des Kapitalismus in seine Zerfallsphase.

Ausserdem ist der Zerfall das Resultat der Schwierigkeiten des Proletariats und trägt gleichzeitig zu ihrer Verschärfung bei: „Und ganz zuoberst haben die Auswirkungen des Zerfalls, wie wir oft festgestellt haben, eine zutiefst negative Auswirkung auf das Bewusstsein des Proletariats, auf seinen Sinn für sich selbst, da sie in all ihren verschiedenen Aspekten – Bandenmentalität, Rassismus, Kriminalität, Drogenmissbrauch, etc. – dazu dienen, die Klasse zu atomisieren, die Spaltungen in ihren Reihen zu vergrössern und sie im gesellschaftlichen Konkurrenzkampf aufzulösen.“ (22)

Tatsächlich: – tendiert das Verhalten der Zwischenschichten oder gar des Lumpenproletariats unter dem Einfluss der Zerfallsphase zu Verhaltensweisen, die den gröbsten Absurditäten des Kapitalismus oder gar anderer, vorhergehender Systeme entsprechen. Ihre hoffnungs- und zukunftslosen Revolten können das Proletariat kontaminieren oder einige Sektoren desselben mit sich reissen;

– beeinträchtigt die allgemeine Atmosphäre des moralischen und ideologischen Zerfalls die Möglichkeiten der Bewusstseinsentwicklung, der Einheit, des Vertrauens und der Solidarität des Proletariats: „Jawohl, die Arbeiterklasse ist nicht durch eine chinesische Mauer von der alten, der bürgerlichen Gesellschaft getrennt. Und wenn die Revolution anbricht, so geht es nicht so zu wie beim Tode eines einzelnen Menschen, wo die Leiche einfach hinausgetragen wird. Wenn die alte Gesellschaft zugrunde geht, kann man ihren Leichnam nicht in einem Sarg vernageln und ins Grab senken. Dieser Leichnam geht mitten unter uns in Verwesung über, er verfault und steckt uns selber an.“ (23);

– die Bourgeoisie die Auswirkungen des Zerfalls gegen das Proletariat einsetzen kann. Dies war besonders der Fall beim ohne Krieg oder Revolution erfolgten Zusammenbruch des alten sowjetischen Blocks, der eine wichtige und typische Demonstration des Zerfalls darstellt. Dieses Ereignis erlaubte der Bourgeoisie, eine enorme antikommunistische Kampagne auszulösen, die in einen wichtigen Rückfluss von Bewusstsein und Kampfkraft in den proletarischen Reihen mündete.

Marxismus contra Fatalismus

Der Übergang von einer niedrigen Produktionsweise zu einer höheren Produktionsweise ist nicht das fatale Produkt der Entwicklung der Produktivkräfte. Dieser Übergang kann nur im Rahmen einer Revolution geschehen, durch die die neue, dominierende Klasse die alte stürzt und neue Produktionsverhältnisse bildet.

Der Marxismus verteidigt den historischen Determinismus, doch dies bedeutet nicht, dass der Kommunismus das unausweichliche Ergebnis der Entwicklung des Kapitalismus ist. Eine solche Ansicht wäre eine vulgärmaterialistische Verfälschung des Marxismus. Tatsächlich bedeutet der historische Determinismus im marxistischen Sinn Folgendes:

1. Eine Revolution ist erst dann möglich, wenn alle Kapazitäten der bisherigen Produktionsweise erschöpft sind: „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoss der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“ (24)

2. Vom Kapitalismus gibt es kein Zurück zu früheren Produktionsformen (zum Feudalismus oder anderen vorkapitalistischen Produktionsweisen): Der Kapitalismus kann nur entweder durch die proletarische Revolution überwunden werden oder aber er stürzt die Menschheit in ihre Zerstörung.

3. Der Kapitalismus ist die letzte Klassengesellschaft. Die Gruppe Socialisme ou Barbarie und gewisse Abspaltungen des Trotzkismus (25) verteidigen hingegen eine „Theorie“, welche das Aufkommen einer „dritten Gesellschaft“ ankündigt, die weder kapitalistisch noch kommunistisch sei. Aus marxistischer Sicht ist dies abwegig, denn für den Marxismus sind die „bürgerlichen Produktionsverhältnisse die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses (…) Mit dieser Gesellschaftsformation schliesst daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab“. (26)

Der Marxismus hat das Ergebnis historischer Entwicklung immer in Form von Alternativen gezeichnet: Entweder setzt sich die revolutionäre Klasse durch und eröffnet den Weg zur neuen Produktionsform, oder die Gesellschaft verfällt der Anarchie und Barbarei. Das Kommunistische Manifest zeigt auf, wie sich der Klassenkampf manifestiert hat. „Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“ (27)

Gegen alle idealistischen Verirrungen, die das Proletariat vom Kommunismus abbringen wollen, definierte Marx den Kommunismus als die „reale Bewegung“ des Proletariats. Marx bestand auf der Tatsache, dass die Arbeiterklasse „keine Ideale zu verwirklichen (hat); sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoss der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben.“ (28) In Die Deutsche Ideologie kritisieren Marx und Engels eine solche Vision heftig: „Die Geschichte ist nichts als die Aufeinanderfolge der einzelnen Generationen, von denen Jede die ihr von allen vorhergegangenen übermachten Materiale, Kapitalien, Produktionskräfte exploitiert, daher also einerseits unter ganz veränderten Umständen die überkommene Tätigkeit fortsetzt und andrerseits mit einer ganz veränderten Tätigkeit die alten Umstände modifiziert, was sich nun spekulativ so verdrehen lässt, dass die spätere Geschichte zum Zweck der früheren gemacht wird, z.B., dass der Entdeckung Amerikas der Zweck zugrunde gelegt wird, der französischen Revolution zum Durchbruch zu verhelfen…“ (29)

Angewandt auf die derzeitige Entwicklungsphase des Kapitalismus ermöglicht die marxistische Methode zu verstehen, dass der Zerfall, wenn er auch reell existiert, kein rationales Phänomen der historischen Entwicklung ist. Der Zerfall ist in keiner Weise ein notwendiges Glied in einer Entwicklungskette, die zum Kommunismus führt. Im Gegenteil: die Zerfallsphase birgt die Gefahr einer fortschreitenden Zerstörung der materiellen Grundlagen des Kommunismus. Denn der Zerfall bedeutet eine langsam fortschreitende Zerstörung der Produktivkräfte, möglicherweise bis zu dem Punkt, wo der Aufbau des Kommunismus nicht mehr möglich ist: „Man kann also nicht, wie die Anarchisten, behaupten, dass eine sozialistische Perspektive offen war, als sich die Produktivkräfte zurückbildeten oder auf ihrem Niveau stehen blieben. Der Kapitalismus stellt eine notwendige und unumgängliche Etappe zur Errichtung des Sozialismus dar. Nur der Kapitalismus kann die objektiven Bedingungen für den Sozialismus entwickeln. Aber im aktuellen Stadium des Kapitalismus, und darüber sprechen wir, ist der Kapitalismus eine Bremse zur Entwicklung der Produktivkräfte geworden. Je länger der Kapitalismus andauert, desto mehr verschlechtern sich die Bedingungen für den Sozialismus. Die Frage, die sich heute stellt, ist die zwischen der historische Alternative Sozialismus oder Barbarei.“ (30)

Des Weiteren vernichtet der Zerfall auch allmählich die Grundlagen zur Einheit und Identität der proletarischen Klasse: „.. der Prozess der Desintegration, der durch die massive und andauernde Arbeitslosigkeit besonders unter den jungen Menschen, durch die Auflösung traditioneller militanter Arbeiterkonzentrationen im Herzen der Industrie hervorgerufen wurde, was die Atomisierung und die Konkurrenz unter den Arbeitern intensivierte (…) Die Fragmentierung der Klassenidentität, die wir besonders im letzten Jahrzehnt erlebt haben, ist kein irgendwie gearteter Fortschritt, sondern eine Manifestation des Zerfalls, die immense Gefahren für die Arbeiterklasse in sich birgt.“ (31)

Der Klassenkampf: Motor der Geschichte

Die geschichtliche Etappe des Zerfalls birgt die Gefahr einer Zerstörung der Grundlagen für die kommunistische Revolution in sich. In diesem Sinn unterscheidet sie sich nicht von den anderen Etappen innerhalb der Dekadenzphase des Kapitalismus, die ebenfalls diese Gefahr beinhalteten und von den Revolutionären damals vorgebracht wurden. Verglichen mit den vorhergehenden Phasen gibt es aber dennoch einige Unterschiede:

1. Früher führte der Krieg in eine Wiederaufbauperiode. Doch unter dem Einfluss des Zerfalls ist der Prozess der Menschheitszerstörung zwar langsamer und versteckter, aber unumkehrbar. (32)

2. Früher war die Zerstörungsgefahr mit dem Ausbruch eines Dritten Weltkrieges verknüpft, heute hingegen, in der Etappe des Zerfalls, wirken die unterschiedlichsten Gründe (lokale Kriege, die Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts, der langsame Abbau von Produktivkräften, der allmähliche Untergang der produktiven Infrastruktur, die graduelle Zerstörung der gesellschaftlichen Beziehungen) mehr oder weniger gleichzeitig bei der Zerstörung der Menschheit mit.

3. Früher präsentierte sich die Gefahr der Vernichtung in der brutalen Form eines neuen Weltkrieges, heute dagegen hüllt sie sich in einer weniger sichtbaren Kostüm, ist heimtückischer, viel schwerer zu beurteilen und noch schwerer zu bekämpfen. (33)

4. Die Tatsache, dass der Zerfall zentraler Faktor bei der Entwicklung der gesamten Gesellschaft ist, bedeutet, wie schon erwähnt, dass er auf allen Ebenen einen direkten und permanenter Einfluss auf das Proletariat ausübt: Bewusstseinsentwicklung, Einheit, Solidarität, etc.

Dennoch darf das „Verständnis der grossen Gefahren, die für die Arbeiterklasse und die ganze Menschheit vom Zerfall ausgehen, die Arbeiterklasse und mit ihr die revolutionären Minderheiten nicht dazu verleiten, eine fatalistische Haltung einzunehmen.“ (34)

Tatsächlich:

– hat das Proletariat keine bedeutenden Niederlagen erlitten und bleibt seine Kampffähigkeit weiterhin intakt;

– bildet derselbe Faktor, der die grundlegende Ursache des Zerfalls ist – die unabwendbare Verschärfung der Krise – auch „die Bedingung für die Fähigkeit der Klasse, dem ideologischen Gift der Fäulnis der Gesellschaft entgegenzutreten“. (35)

Nur die kommunistische Revolution selbst kann die Gefahr des Zerfalls für die Gesellschaft definitiv bannen. Die Verteidigungskämpfe der Arbeiter gegenüber der Krise reichen dagegen für die Bewältigung dieser Aufgabe nicht aus. Denn das Bewusstsein über die Krise allein kann die Probleme und Schwierigkeiten nicht lösen, mit denen das Proletariat konfrontiert ist und in immer stärkerem Masse konfrontiert wird. Daher muss das Proletariat:

„– ein Bewusstsein darüber, was in der gegenwärtigen historischen Situation auf dem Spiel steht, und insbesondere ein Bewusstsein über die tödlichen Gefahren entwickeln, die der Zerfall für die Menschheit mit sich bringt,

– entschlossen die Weiterentwicklung und Vereinigung seines Klassenkampfes fortsetzen,

– seine Fähigkeit weiterzuentwickeln, den verschiedenen Fallen auszuweichen, den die vom Zerfall selbst befallene Bourgeoisie den Arbeitern stellt…“ (36)

Der Zerfall zwingt das Proletariat dazu, seine Waffen des Bewusstseins, der Einheit, des Selbstvertrauens, der Solidarität, des Willens und des Heroismus zu schmieden. Trotzki nannte dies die subjektiven Faktoren und betonte in seiner Geschichte der Russischen Revolution ihre Wichtigkeit für dieses historische Ereignis. An allen Fronten des proletarischen Klassenkampfes (Engels sprach von dreien: der ökonomischen, der politischen und der theoretischen Front) müssen die Revolutionäre und die fortgeschrittensten Minderheiten des Proletariats diese Qualitäten kultivieren sowie tiefgehend und ausgiebig weiterentwickeln.

Die Zerfallsphase zeigt, dass von den beiden Faktoren, die die historische Weiterentwicklung bestimmen – der ökonomische Mechanismus und der Klassenkampf – der erstere überreif ist und daher die Gefahr der Zerstörung der Menschheit heraufbeschwört. Dadurch wird der zweite zum entscheidenden Faktor. Mehr denn je ist der proletarische Klassenkampf jetzt Motor der Geschichte. Bewusstsein, Einheit, Vertrauen, Solidarität, Wille und Heroismus sind Qualitäten, die das Proletariat im Klassenkampf auf einem völlig anderen, höheren Niveau einbringen kann als die anderen gesellschaftlichen Klassen der Geschichte. Es sind diese Qualitäten, die, aufs Höchste entwickelt, dem Proletariat erlauben, die dem Zerfall innewohnenden Gefahren zu überwinden und den Weg zur kommunistischen Befreiung der Menschheit zu eröffnen.

C. Mir

(*) Notiz

In einem Flugblatt der „IFIKS“ (jene selbst ernannte „Interne Fraktion der IKS“ ist zusammengesetzt aus Ex-Mitgliedern unserer Organisation) mit dem Titel „Fragen an die aktuellen Militanten und Sympathisanten der IKS“, welches im Vorfeld unserer öffentlichen Treffen sowie auf der pazifistischen Demonstration vom 20. März in Paris verteilt wurde, kommentiert diese Gruppe Auszüge aus der am 15. Internationalen Kongress der IKS angenommenen Resolution über die internationale Situation.

Erster Auszug: „Obgleich der Zerfall des Kapitalismus aus einer historischen ‚Sackgasse‘ zwischen den Klassen resultiert, ist diese Situation beileibe nicht statisch. Die Wirtschaftskrise, die am Anfang sowohl des Kriegskurses als auch der proletarischen Antwort steht, vertieft sich weiter, doch im Gegensatz zur Periode von 1968–89, als das Ergebnis der damaligen Klassenkonfrontationen nur der Weltkrieg oder die Weltrevolution sein konnte, eröffnet die neue Periode eine dritte Alternative: die Zerstörung der Menschheit nicht durch einen apokalyptischen Krieg, sondern durch ein allmähliches Fortschreiten des Zerfalls, der nach einer gewissen Zeit die Fähigkeit des Proletariats untergraben könnte, als Klasse zu antworten, und der den Planeten durch eine endlose Spirale von regionalen Kriegen und ökologischen Katastrophen gleichermassen unbewohnbar machen könnte. Um einen Weltkrieg zu führen, müsste die Bourgeoisie zunächst die Hauptbataillone der Arbeiterklasse offen konfrontieren, besiegen und sie anschliessend dazu mobilisieren, mit Begeisterung hinter den Bannern und der Ideologie eines neuen imperialistischen Blocks zu marschieren. In dem neuen Szenario könnte die Arbeiterklasse schleichend und indirekt besiegt werden, wenn es ihr nicht gelingt, auf die Krise des Systems zu antworten, und sie hinnimmt, dass sie immer tiefer in den Pfuhl des Zerfalls gedrängt wird.“ (37)

Kommentar der IFIKS: „Das ist eindeutig die opportunistische Einführung eines ‘dritten Weges’, der im Widerspruch zur klassisch marxistischen These einer historischen Alternative steht. Wie bei Bernstein, Kautsky und ihren Epigonen steht die Idee eines dritten Weges im Widerspruch zur – gemäss dem Opportunismus ‘vereinfachenden’ – historischen Alternative von ‘Krieg oder Revolution’. Es handelt sich hier um eine offene und ausdrückliche Revision einer klassischen These der Arbeiterbewegung“

Zweiter Auszug unserer Resolution:

„Was mit dem Zerfall hinzu gekommen ist, ist die Möglichkeit einer historischen Niederlage nicht durch einen Frontalzusammenstoss zwischen den Hauptklassen, sondern durch ein langsames Dahinsiechen der Fähigkeit des Proletariats, sich selbst als eine Klasse zu konstituieren, was es erschweren würde, den point of no return wahrzunehmen, da dieser bereits vor dem eigentlichen katastrophalen Ende erreicht wäre. Dieser tödlichen Gefahr steht die Klasse heute gegenüber.“

Kommentar der IFIKS:

„Hier drückt sich die opportunistische und revisionistische Tendenz aus, den Klassenkampf zu liquidieren.“

In Wirklichkeit zeigt sich in diesen Zeilen die gezielte Absicht der IFIKS, unserer Organisation mit allen Mitteln Schaden zuzufügen – mit dem Ziel, sie zu zerstören. Die Mitglieder der IFIKS haben nach mehreren Jahrzehnten der Militanz innerhalb der IKS ihre kommunistischen Überzeugungen verloren und den Untergang der IKS beschworen. So sind sie zu den gröbsten Erbärmlichkeiten bereit, um an ihr Ziel zu kommen: Raub, spitzel-ähnliches Verhalten (38) sowie offensichtliche und schamlose Lügen. Doch die IKS hat ihre Positionen keineswegs „revidiert“, seitdem die weissen Ritter der IFIKS nicht mehr da sind, um sie vor der „Entartung“ zu beschützen.

In ihrem auf dem 13. Kongress der IKS angenommenen Bericht über den Klassenkampf, der einstimmig, also auch von den späteren Gründern der IFIKS, angenommen wurde, kann man u.a. lesen:

„Die Gefahren der neuen Periode für die Arbeiterklasse und für die Zukunft ihrer Kämpfe darf nicht unterschätzt werden. Während der Klassenkampf in den 70er und 80er-Jahren definitiv eine Barriere gegen den Krieg darstellte, wird der Prozess des Zerfalls von den Tageskämpfen weder gestoppt noch verlangsamt. Um einen Weltkrieg auszulösen, müsste die Bourgeoisie eine Reihe wichtiger Siege über die zentralen Bataillone der Arbeiterklasse erringen. Heute sieht sich das Proletariat einer längerfristigen, aber nicht minder gefährlichen Bedrohung des ‚Todes auf Raten‘ gegenüber, wo die Arbeiterklasse in wachsendem Masse durch den ganzen Prozess bis zu dem Punkt niedergerungen werden kann, an dem sie die Fähigkeit verliert, sich selbst als Klasse zu behaupten, während der Kapitalismus von einer Katastrophe in die nächste stürzt (lokale Kriege, Umweltkatastrophen, Hungersnöte, Seuchen, etc.), bis jener Punkt erreicht ist, an dem die Aussicht auf eine kommunistische Gesellschaft auf Generationen hinaus zerstört würde – ganz zu schweigen von der eigentlichen Vernichtung der Menschheit selbst.“ (Internationale Revue, Nr. 25)

Ebenso liest man in einem von der IKS auf ihrem 14. Kongress vom Frühling 2001 (mit der Zustimmung der gleichen künftigen Mitglieder der IFIKS) angenommenen Bericht über den Klassenkampf:

„Gleichzeitig ist diese Entwicklung wenig tröstlich für die Sache des Kommunismus, da sie eine Situation geschaffen hat, in der die Basis einer neuen Gesellschaft auch ohne Weltkrieg und somit ohne die Notwendigkeit, das Proletariat für den Krieg zu mobilisieren, untergraben werden kann. Im ersten Szenario ist es der Nuklearkrieg, der die Möglichkeit des Kommunismus definitiv aufs Spiel setzt, indem er den Planeten oder zumindest einen grossen Teil der globalen Produktivkräfte, einschliesslich des Proletariats, zerstört. Das neue Szenario sieht die Möglichkeit eines langsameren, aber nicht weniger tödlichen Rutsches in einen Zustand vor, in dem das Proletariat irreparabel zersplittert ist und die natürlichen sowie wirtschaftlichen Fundamente für die gesellschaftliche Umwandlung durch die Zunahme von lokalen und regionalen militärischen Konflikten, von Umweltkatastrophen und durch den gesellschaftlichen Zusammenbruch gleichermassen ruiniert werden.“ (Internationale Revue

Nr. 30)

Bezüglich dieser vom Kongress angekommenen Resolution erklärt der Punkt 13, dass „... die Gefahr bleibt, dass der eher schleichende Prozess des Zerfalls die Klasse allmählich überwältigen könnte, ohne dass der Kapitalismus ihre totale Niederlage herbeiführen muss…“ (Resolution zur internationalen Lage des 14. IKS-Kongress, in: Weltrevolution, Nr. 107)

Muss man annehmen, dass die glorreichen Verteidiger der „wahren IKS“ (wie sie sich definieren) am Schlafen waren, als diese Dokumente angenommen wurden, oder dass sich ihre Arme von allein erhoben, um für die Annahme des Berichts zu stimmen? Dann müsste man aber davon ausgehen, dass sie mehr als elf Jahre lang geschlafen haben, da es nämlich in einem im Januar 1990 vom Zentralorgan der IKS angenommenen (und von seinen Mitgliedern vorbehaltlos befürworteten) Bericht heisst: „Während der Weltkrieg gegenwärtig keine und vielleicht nie mehr eine Bedrohung für das Überleben der Menschheit darstellt, kann diese Bedrohung wiederum noch aus dem Zerfall der Gesellschaft herorgehen. Während die Auslösung eines Weltkrieges die Unterstützung der Arbeiterklasse für die Werte der Bourgeoisie erfordert (...) erfordert der Zerfall überhaupt nicht die Unterstützung der Arbeiter für die Zerstörung der Menschheit.“ (39)

Fußnoten:

1 Wir haben unsererseits zahlreiche Artikel unserer Presse der Kritik diesen unser Erachtens falschen Ansichten gewidmet. An erster Stelle sei die, bezogen auf den Marxismus, fälschliche „Innovation“ mit dem paradoxen Namen „Invarianz“ genannt. Im Namen dieser „Invarianz“ weigert sich die bordigistische Strömung (sie gehört wie die IKS der Kommunistischen Linken an) auf dogmatische Weise, die Realität einer weitreichenden Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft seit 1848 anzuerkennen. Damit widerspricht sie auch der Auffassung, dass das System in seine dekadente Phase getreten ist (siehe unsere Artikel über die Ablehnung der Dekadenztheorie durch die Internationale Kommunistische Partei

(Kommunistisches Programm), in: International Review Nrn. 77 und 78 und über die Ablehnung des IBRP, The Conception of Decadence in Capitalism, in: International Review, Nr. 79 (engl., franz., span. Ausgabe).

2 Es handelt sich um folgende Artikel: War and the ICC (Der Krieg und die IKS) in Revolutionary Perspectives, Nr. 24, Workers’ Struggles in Argentina: Polemic with the ICC (Arbeiterkämpfe in Argentinien: eine Polemik mit der IKS) in Internationalist Communist, Nr. 21 und Imperialsm’s New World Order“ (Die neue Weltordnung des Imperialismus) in: Revolutionary Perspectives, Nr. 27.

3 s. International Review Nrn. 48, 49, 50, 54, 55 und 56 (engl., franz., span. Ausgabe). und in Deutsch Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen in: Internationale Revue Nrn. 10–12.

4 s. Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft, Punkt 3, in: Internationale Revue Nr. 13.

5 s. On Imperialisme, in: Internationale Review

Nr. 19 (engl., franz., span. Ausgabe).

6 s. Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft, in: Internationale Revue Nr. 13.

7s. Richtlinien der Kommunistischen Internationale, angenommen auf dem 1. Kongress, Die Kommunistischen Internationale: Manifeste, Leitsätze, Thesen und Resolutionen, Bd, 1, Intarlit (1984) und: www.sinistra.net/komintern/dok/1krichtkid.html [17]

8 Ebd.

9 s. Manifest der Kommunistischen Internationale an das Weltproletariat, weitere Quellenangabe siehe Fussnote 7 auf dieser Seite.

10 s. Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft, in: Internationale Revue Nr. 13.

11. Ebd.

12 s. Instabilité et décadence capitaliste, in: Internationalisme Nr. 23.

13 s. Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft, Punkt 3, in: Internationale Revue Nr. 13.

14 Wenn wir den Begriff des Zerfalls benutzen, so beziehen wir uns auf die Phase des Zerfalls. Die Ausdrücke „Phase des Zerfalls“ und „Phänomen des Zerfalls“ sind zu unterscheiden. Wie wir oben gesehen haben, begleitet das Phänomen des Zerfalls mehr oder weniger deutlich den gesamten Prozess der Dekadenz und wird zum bestimmenden Faktor erst in der Zerfallsphase selbst.

15 s. Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft, Punkt 3, Internationale Revue Nr. 13.

16 Karl Marx, Lohnarbeit und Kapital, in: MEW 6, S. 408.

17 Friedrich Engels, Vorwort zur deutschen Neuausgabe des Kommunistischen Manifests von 1883, in: MEW 21, S. 3.

18 s. Les principes, armes de la révolution, in: Bilan, Nr. 5.

19 Ebenda. Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass eine Idee nicht auf Anhieb bei den Lesern als unbestreitbar marxistisch empfunden wird, nur weil sie von der linkskommunistischen Strömung Italiens entwickelt wurde. Zumindest sollte diese Tatsache aber die Genossen und Sympathisanten von Organisationen interessieren, die sich zu dieser historischen Strömung zählen – etwa das IBRP oder die verschiedenen sich Internationale Kommunistische Partei nennenden Gruppen.

20 Siehe das Kapitel in unserer Broschüre Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse: Der Kampf des Proletariats im aufsteigenden und im dekadenten Kapitalismus.

21 s.Why the proletariat has not yet overtrown capitalism, in: Internationale Review Nr. 103 und 104 (engl., franz., span. Ausgabe).

22 s. Bericht über den Klassenkampf – das Konzept des historischen Kurses in der revolutionären Bewegung, angenommen vom 14. Kongress der IKS; Internationale Revue Nr. 29 und 30.

23 Lenin, Referat über den Kampf gegen die Hungersnot, in: Werke, Bd. 27, S. 432.

24 Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 13, S. 9.

25 Burnham und seine neue Theorie einer „Managerklasse“.

26 Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 13, S. 9.

27 Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW 4, S. 462.

28 Karl Marx Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: MEW 17, S. 343.

29 Karl Marx/Friedrich Engels Die deutsche Ideologie, in: MEW 3, S. 45.

30 L’évolution du capitalisme et la nouvelle perspective, Kommunistische Linke Frankreichs, Internationalisme, Nr. 46, 1952; wiederveröffentlicht in: InternationaleRevew Nr. 21 (engl., franz., span. Ausgabe/Der Text ist auch in Deutsch erhältlich)

31 Bericht über den Klassenkampf – das Konzept des historischen Kurses in der revolutionären Bewegung, angenommen vom 14. Kongress der IKS, in: Internationale Revue Nrn. 29 und 30.

32 Die Periode des Kalten Krieges zeigte schon mit ihrem wahnwitzigen nuklearen Rüstungswettlauf das Ende jeglicher Möglichkeit eines Wiederaufbaus infolge eines möglicherweise ausbrechenden Dritten Weltkrieges.

33 siehe die Notiz * am Ende des Artikels.

34 s. Der Zerfall der Kapitalistischen Gesellschaft, Punkt 17, in: Internationale Revue Nr. 13.

35 Ebd.

36 Ebd.

37 s. Resolution über die internationale Situation vom 15. Kongress der IKS, in: Internationale Revue Nr. 31, Hervorhebungen von der IFIKS.

38 s Die Polizeimethoden der IFIKS, in Weltrevolution Nr. 117.

39 s. Der Zusammenbruch des Ostblocks: Destabilisierung und Chaos, in: Internationale Revue Nr. 12.

Theoretische Fragen: 

  • Zerfall [12]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [14]

Die Theorie der Dekadenz ist das Herzstück des historischen Materialismus (Teil I):

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Von Marx zur Kommunistischen Linken

Wir beginnen hier mit einer neuen Reihe von Texten, die sich der Theorie der Dekadenz widmen.[1] Seit nunmehr einiger Zeit haben sich die Kritiken gegen diese Auffassung gehäuft. Zu einem grossen Umfang waren sie das Werk von Akademikern oder parasitärer Grüppchen. Andere dagegen drückten ein echtes Unverständnis innerhalb des revolutionären Milieus aus oder kamen von suchenden Elementen, die ernsthafte Fragen über die Evolution des Kapitalismus auf historischer Ebene stellten.[2] Wir haben bereits auf den grössten Teil dieser Kritiken geantwortet.[3] Heute jedoch müssen wir erleben, wie sich der Hintergrund der Kritik geändert hat. Es handelt sich nicht mehr um Fragen, Missverständnisse oder Zweifel; sie stellen nicht mehr einzelne Aspekte in Frage. Stattdessen haben wir es mit einer totalen Ablehnung zu tun, mit einer bestimmten Art von Kritik, die auf die Exkommunikation vom Marxismus hinausläuft.

Doch die Theorie der Dekadenz ist nichts Geringeres als die Konkretisierung des historischen Materialismus in der Analyse der Evolution der Produktionsweisen. Sie ist somit der unverzichtbare Rahmen zum Verständnis der historischen Periode, in der wir leben. Zu wissen, ob sich die Gesellschaft noch fortentwickelt oder ob sie am Ende ist, ist entscheidend, um zu begreifen, was in politischer und sozio-ökonomischer Hinsicht auf dem Spiel steht, und um entsprechend zu handeln. Wie in allen vergangenen Gesellschaftsformen drückt auch die Aufstiegsperiode des Kapitalismus den historisch notwendigen Charakter der Produktionsverhältnisse aus, die er verkörpert, d.h. ihre vitale Rolle bei der Ausbreitung der gesellschaftlichen Produktivkräfte. Die Phase der Dekadenz drückt hingegen die Umwandlung dieser Verhältnisse in eine wachsende Schranke gegen eben diese Entwicklung aus. Dies ist eine der theoretischen Haupterrungenschaften, die uns Marx und Engels hinterlassen haben.

Das 20. Jahrhundert war eines der mörderischsten in der gesamten Geschichte der Menschheit sowohl im Ausmass, in Häufigkeit und Dauer der Kriege, die einen grossen Raum in diesem Jahrhundert einnahmen, als auch hinsichtlich des beispiellosen Ausmasses der menschlichen Katastrophen in dieser Zeit: von den grössten Hungersnöten in der Geschichte bis hin zum systematischen Völkermord und mitten drin Wirtschaftskrisen, die den ganzen Planeten schüttelten und Abermillionen von Proletariern und Menschen in tiefste Armut stürzten. Es gibt im 19. Jahrhundert nichts Vergleichbares. Während der Belle Epoque erreichte die bürgerliche Produktionsweise ungeahnte Höhen: Sie hatte den Erdball vereinheitlicht, hatte einen Grad an Produktivität und technologischer Raffinesse erreicht, von denen man zuvor nur träumen konnte. Trotz der Häufung von Spannungen im gesellschaftlichen Fundament waren die letzten 20 Jahre des Aufstiegs des Kapitalismus (1894–1914) am prosperierendsten; der Kapitalismus schien unüberwindlich, und bewaffnete Konflikte wurden in die Peripherien verbannt. Anders als das „lange 19. Jahrhundert“, das ein Zeitalter fast ununterbrochenem moralischen, intellektuellen und materiellen Fortschritts war, gab es seit 1914 dagegen einen markanten Rückschritt an allen Fronten. Der in wachsender Weise apokalyptische Charakter des Wirtschafts- und Gesellschaftslebens überall auf dem Planeten und das Menetekel der Selbstzerstörung in einer endlosen Reihe von Konflikten und in gar noch folgenreicheren Umweltkatastrophen sind in keiner Weise eine natürliche Fatalität oder das schlichte Produkt menschlicher Verrücktheit und auch nicht ein Kennzeichen des Kapitalismus von Beginn an: Sie sind eine Manifestation der Dekadenz der kapitalistischen Produktionsweise, die – einst, vom 16. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg[4], ein mächtiger Faktor in der ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklung – mittlerweile zu einer Fessel jeglicher solcher Entwicklung und zu einer Bedrohung für das Überleben der Menschheit an sich geworden war.

Warum sieht sich die Menschheit ausgerechnet jetzt mit der Existenzfrage konfrontiert, wo sie einen Grad an Produktivkraftentwicklung erreicht hat, der sie zum ersten Mal in der Geschichte in die Lage versetzt, sich auf eine Welt ohne materielle Not, auf eine vereinte Gesellschaft zuzubewegsen, die imstande ist, ihren Handlungen die Bedürfnisse, die Wünsche und das Bewusstsein der Menschheit zugrundezulegen? Bildet das Weltproletariat wirklich jene revolutionäre Kraft, die die Menschheit aus dem Schlamassel ziehen kann, in das der Kapitalismus sie geführt hat? Warum können die meisten Kampfformen der Arbeiter in unserer Epoche nicht so aussehen wie im 19. Jahrhundert, wie der Kampf um eine allmähliche Reformierung durch die Gewerkschaften, den Parlamentarismus oder die Unterstützung der Bildung von neuen Nationalstaaten oder bestimmter fortschrittlicher Fraktionen der Bourgeoisie? Es ist unmöglich, sich in der heutigen historischen Lage zurechtzufinden – ganz zu schweigen davon, eine avantgardistische Rolle einzunehmen – ohne eine globale, zusammenhängende Vision zu besitzen, die diese elementaren und kreuzwichtigen Fragen beantworten kann. Der Marxismus – der historische Materialismus – ist die einzige Konzeption von der Welt, die es möglich macht, eine solche Antwort zu liefern. Seine klare und einfache Antwort kann in ein paar Worten zusammengefasst werden; so wie die Produktionsweisen vor ihm ist auch der Kapitalismus kein ewiges System: „Über einen gewissen Punkt hinaus wird die Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke für das Kapital; also das Kapitalverhältnis eine Schranke für die Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit. Auf diesem Punkt angelangt, tritt das Kapital, d.h. Lohnarbeit, in dasselbe Verhältnis zur Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums und der Produktivkräfte, wie Zunftwesen, Leibeigenschaft, Sklaverei, und wird als Fessel notwendig abgestreift. Die letzte Knechtgestalt, die die menschliche Tätigkeit annimmt, die der Lohnarbeit auf der einen, des Kapitals auf der anderen Seite, wird damit abgehäutet, und diese Abhäutung selbst ist das Resultat der dem Kapital entsprechenden Produktionsweise; die materiellen und geistigen Bedingungen der Negation der Lohnarbeit und des Kapitals, die selbst schon die Negation früherer Formen der unfreien gesellschaftlichen Produktion sind, sind selbst Resultate seines Produktionsprozesses. In schneidenden Widersprüchen, Krisen, Krämpfen drückt sich die wachsende Unangemessenheit der produktiven Entwicklung der Gesellschaft zu ihren bisherigen Produktionsverhältnissen aus.“[5]

Solange der Kapitalismus seine historisch fortschrittliche Rolle erfüllte und das Proletariat noch nicht ausreichend entwickelt war, konnten die Arbeiterkämpfe nicht in eine triumphierende Weltrevolution münden; allerdings erlaubten sie dem Proletariat, sich selbst zu erkennen und als Klasse durch den gewerkschaftlichen und parlamentarischen Kampf um echte Reformen und dauerhafte Verbesserungen ihrer Lebensbedingungen zu behaupten. Von dem Moment an, wo das kapitalistische System in die Dekadenz eintrat, wurde die kommunistische Weltrevolution zu einer Möglichkeit wie zu einer Notwendigkeit. Die Form der Arbeiterkämpfe wurde radikal umgewälzt, auch auf unmittelbarer Ebene: Die Verteidigungskämpfe konnten weder in Form noch im Inhalt durch die Kampfmittel ausgedrückt werden, die im 19. Jahrhundert geschmiedet worden waren, wie die Gewerkschaften und die parlamentarische Repräsentation von politischen Arbeiterorganisationen.

Von den revolutionären Bewegungen gezeugt, die dem Ersten Weltkrieg ein Ende bereiteten, wurde 1919 die Kommunistische Internationale im Wissen darum gegründet, dass die Bourgeoisie nicht mehr eine historisch fortschrittliche Klasse war: „2. Die Niedergangsperiode des Kapitalismus. Nach Abschätzung der ökonomischen Weltlage konnte der 3. Kongress mit vollkommener Bestimmtheit konstatieren, dass der Kapitalismus nach Erfüllung seiner Mission, die Entwicklung der Produktion zu fördern, in unversöhnlichen Widerspruch zu den Bedürfnissen nicht nur der gegenwärtigen historischen Entwicklung, sondern auch der elementarsten menschlichen Existenzbedingungen geraten ist. Im letzten imperialistischen Kriege spiegelte sich dieser fundamentale Widerspruch wider, der durch den Krieg noch verschärft wurde und der die Produktions- und Zirkulationsverhältnisse den schwersten Erschütterungen aussetzte. Der überlebte Kapitalismus ist in das Stadium getreten, in dem die Zerstörungsarbeit seiner zügellosen Kräfte die schöpferischen, wirtschaftlichen Errungenschaften, die das Proletariat noch in den Fesseln kapitalistischer Knechtschaft geschaffen hat, lähmt und vernichtet.“[6]

Von da an war die Erkenntnis, dass der Erste Weltkrieg den Eintritt des kapitalistischen Systems in seine dekadente Periode markierte, gemeinsames Gedankengut der Mehrheit der linkskommunistischen Gruppierungen, die dank dieses historischen Kompasses in der Lage waren, kompromisslos auf dem kohärenten Klassenterrain auszuharren. Die IKS hat lediglich ein Erbe aufgegriffen und weiterentwickelt, das von der deutschen und italienischen Linken in den 30er- und 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts und anschliessend von der Gauche Communiste in Frankreich der 40er und 50er-Jahre bereichert und übermittelt wurde.

Entscheidende Klassenauseinandersetzungen sind am Horizont sichtbar. Es ist daher für das Proletariat wichtiger denn je, sich seine eigene Konzeption von der Welt wiederanzueignen, die in fast zwei Jahrhunderten der Arbeiterkämpfe und der theoretischen Ausarbeitung durch seine politischen Organisationen entwickelt worden war. Mehr denn je muss das Proletariat verstehen, dass die gegenwärtige Verschärfung der Barbarei und die ununterbrochene Steigerung der Ausbeutung keine natürliche Sache sind, sondern das Resultat der ökonomischen und gesellschaftlichen Gesetze, die die Welt weiterhin regieren, obwohl sie historisch seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts obsolet sind. Es ist wichtiger denn je für die Arbeiterklasse zu verstehen, dass dieselben Kampfformen, die sie im 19. Jahrhundert gelernt hatte (Minimalprogramm der Kämpfe um Reformen, die Unterstützung progressiver Fraktionen der Bourgeoisie, etc.) und die in der Periode des Aufstiegs des Kapitalismus auch sinnvoll waren, als Letzterer die Existenz eines organisierten Proletariats innerhalb der Gesellschaft noch „tolerieren“ konnte, in der Dekadenzperiode nur in die Sackgasse führen können. Mehr denn je zuvor ist es lebenswichtig für das Proletariat zu begreifen, dass die kommunistische Revolution nicht ein ideeller Traum, eine Utopie ist, sondern eine Notwendigkeit und eine Möglichkeit, die ihre wissenschaftlichen Fundamente im Verständnis der Dekadenz der kapitalistischen Produktionsweise hat.

Zweck dieser neuen Artikelreihe über die Dekadenztheorie ist es, auf all die Einwände, die gegen sie erhoben werden, zu antworten. Diese Einwände sind ein Hindernis auf dem Weg der neuen revolutionären Kräfte zu den Positionen der Kommunistischen Linken; auch untergraben sie die politische Klarheit unter den Gruppen des revolutionären Milieus.

Von Marx zur Kommunistischen Linken

Im ersten Artikel dieser Reihe wollen wir also damit beginnen, entgegen jener Stimmen, die behaupten, dass das Konzept und selbst der Begriff der Dekadenz in den Schriften von Marx und Engels nicht vorhanden waren oder keinen wissenschaftlichen Wert eingeräumt bekamen, nochmals zu wiederholen, dass diese Theorie nicht weniger als der Kern des historischen Materialismus ist. Wir werden aufzeigen, dass dieser theoretische Rahmen, so wie der Begriff „Dekadenz“, durchaus in ihrem Werk vorhanden ist. Hinter dieser Kritik bzw. Preisgabe des Begriffs der Dekadenz verbirgt sich die nackte Ablehnung des eigentlichen Kerns des Marxismus. Es ist völlig verständlich, dass sich die Kräfte der Bourgeoisie gegen die Idee sträuben, dass sich ihr System in der Dekadenz befindet. Das Problem ist jedoch, dass ausgerechnet in dem Moment, wo es überlebenswichtig ist, auf die wirklichen Gefahren für die Arbeiterklasse und die Menschheit hinzuweisen, Gruppen, die von sich behaupten, marxistisch zu sein, just jenes Werkzeug von sich weisen, das von der marxistischen Methode zur Verfügung gestellt wird, um die Realität zu begreifen.[7]

Die Theorie der Dekadenz in den Schriften der Begründer des historischen Materialismus

Entgegen dem, was allgemein behauptet wird, ist die Hauptentdeckung in den Schriften von Marx und Engels nicht die Existenz von Klassen oder des Klassenkampfes, nicht die Werttheorie oder der Mehrwert. All diese Auffassungen wurden von Historikern und Ökonomen bereits zu einer Zeit entwickelt, als die Bourgeoisie noch eine revolutionäre Klasse war, die gegen die feudalen Widerstände ankämpfte. Das fundamental neue Element im Werk von Marx und Engels wohnte in ihrer Analyse des historischen Charakters der Klassenteilung inne, der Dynamik, die der Abfolge der verschiedenen Produktionsweisen zugrundelag; dies ist es, was sie dazu führte, den Übergangscharakter der kapitalistischen Produktionsweise und die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats als Zwischenphase auf dem Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft zu begreifen. Mit anderen Worten, das, was den Kern ihrer Entdeckungen bildet, ist nichts anderes als der historische Materialismus: „Was mich betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben. Bürgerliche Geschichtsschreiber hatten längst vor mir die historische Entwicklung dieses Kampfes der Klassen, und bürgerliche Ökonomen die ökonomische Anatomie derselben dargestellt. Was ich neu tat, war 1. nachzuweisen, dass die Existenz der Klassen bloss an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. dass der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. dass diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet.“[8]

Gemäss unserer Kritiker ist der Begriff der Dekadenz überhaupt nicht marxistisch, ja, steht nicht einmal in den Werken von Marx und Engels. Das einfache Studium ihrer Haupttexte zeigt jedoch, dass dieser Begriff sich sehr wohl im eigentlichen Herzen des historischen Materialismus befindet. So schrieb Engels in seinem „Anti-Dühring“[9] (1877) in diesem Zusammenhang, dass die wichtigste Sache, die Fourier und der historische Materialismus gemeinsam hatten, nichts anderes sei als der Begriff des Aufstiegs und der Dekadenz einer Produktionsweise, die für die gesamte menschliche Geschichte gültig seien: „Am grossartigsten aber erscheint Fourier in seiner Auffassung der Geschichte der Gesellschaft (…) Fourier, wie man sieht, handhabt die Dialektik mit derselben Meisterschaft wie sein Zeitgenosse Hegel. Mit gleicher Dialektik hebt er hervor, gegenüber dem Gerede von der unbegrenzten menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit, dass jede geschichtliche Phase ihren aufsteigenden, aber auch ihren absteigenden Ast hat, und wendet diese Anschauungsweise auch auf die Zukunft der gesamten Menschheit an.“[10]

In der Passage aus den „Grundrissen einer Kritik der politischen Ökonomie“, die in der Einleitung dieses Artikels zitiert wurde, gibt Marx möglicherweise die klarste Definition dessen, was sich hinter dem Begriff der Dekadenzphase verbirgt. Er identifiziert diese Phase als einen besonderen Schritt im Leben einer Produktionsweise. „Über einen gewissen Punkt hinaus…“ – wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse der Produktion zu einem Hindernis für die Weiterentwicklung der Produktionsmittel werden – wird „... das Kapitalverhältnis eine Schranke für die Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit“. Hat die Wirtschaftsentwicklung einmal diesen Punkt erreicht, bewirkt das Festhalten an den jeweiligen gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen – Lohnarbeit, Leibeigentum, Sklaverei – eine fundamentale Behinderung der Weiterentwicklung der Produktivkräfte. Dies ist der Grundmechanismus in der Evolution aller Produktionsweisen: „Auf diesem Punkt angelangt, tritt das Kapital, d. h. Lohnarbeit, in dasselbe Verhältnis zur Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums und der Produktivkräfte, wie Zunftwesen, Leibeigenschaft, Sklaverei, und wird als Fessel notwendig abgestreift.“ Marx definiert die Charakteristiken sehr präzise: „In schneidenden Widersprüchen, Krisen, Krämpfen drückt sich die wachsende Unangemessenheit der produktiven Entwicklung der Gesellschaft zu ihren bisherigen Produktionsverhältnissen aus.“ Diese allgemeine theoretische Definition der Dekadenz wurde von Marx und Engels als ein „operatives wissenschaftliches Konzept“ bei der konkreten Analyse der Entwicklung der Produktionsweisen benutzt.

Das Konzept der Dekadenz in der Analyse der früheren Produktionsweisen

Nachdem sie einen grossen Teil ihrer Energie dafür aufgebracht hatten, die Mechanismen und Widersprüche des Kapitalismus zu entziffern, lag es für Marx und Engels nahe, eine fundierte Studie über seine Geburt aus dem Leib des Feudalismus zu verfassen. So fertigte Engels 1884 eine unvollendete Ergänzung im Zusammenhang mit der von ihm geplanten Neuausgabe „Der Bauernkrieg in Deutschland“ an, deren Zweck es war, einen historischen Gesamtrahmen jener Periode zu liefern, in der die von ihm analysierten Ereignisse stattfanden. Er betitelte diese Ergänzung ausdrücklich „Über den Verfall des Feudalismus und das Aufkommen der Bourgeoisie“. Hier einige höchst bedeutsame Auszüge: „Während der wüsten Kämpfe des herrschenden Feudaladels das Mittelalten mit viel Lärm erfüllte, hatte die stille Arbeit der unterdrückten Klasse in ganz Westeuropa das Feudalsystem untergraben, hatte Zustände geschaffen, in denen für den Feudalherrn immer weniger Platz blieb. (…) Während der Adel immer überflüssiger und der Entwicklung hinderlicher, wurden so die Stadtbürger die Klasse, in der die Fortentwicklung der Produktion und des Verkehrs, der Bildung, der sozialen und politischen Institutionen sich verkörpert fand. Alle diese Fortschritte der Produktion und des Austausches waren in der Tat, nach heutigen Begriffen, sehr beschränkter Natur. Die Produktion blieb gebannt in die Form des reinen Zunfthandwerks, behielt also selbst noch einen feudalen Charakter; der Handel blieb innerhalb der europäischen Gewässer und ging nicht über die levantischen Küstenstädte hinaus, in denen er die Produkte des Fernen Ostens eintauschte. Aber kleinlich und beschränkt, wie die Gewerbe und mit ihnen die gewerbetreibenden Bürger blieben, sie reichten hin, die feudale Gesellschaft umzuwälzen, und sie blieben wenigstens in der Bewegung, während der Adel stagnierte. (…) Im fünfzehnten Jahrhundert war also die Feudalität in ganz Westeuropa in vollem Verfall. (…) Überall aber hatten sich – in den Städten wie auf dem Land – die Elemente der Bevölkerung gemehrt, die vor allem verlangten, dass das ewige sinnlose Kriegführen aufhöre, jene Fehden der Feudalherren, die den innern Krieg permanent machten, selbst wenn der fremde Feind im Lande war, jener Zustand ununterbrochener, rein zweckloser Verwüstung, der das ganze Mittelalter hindurch gewährt hatte. (…) Wir sahen, wie der Feudaladel anfing, in ökonomischer Beziehung in der Gesellschaft des späteren Mittelalters überflüssig, ja hinderlich zu werden; wie er auch bereits politisch der Entwicklung der Städte und des damals nur in monarchischer Form möglichen nationalen Staats im Wege stand. Trotz alledem hatte ihn der Umstand gehalten, dass er bis dahin das Monopol der Waffenführung hatte, dass ohne ihn keine Kriege geführt, keine Schlachten geschlagen werden konnten. Auch dies sollte sich ändern; der letzte Schritt sollte getan werden, um dem Feudaladel klarzumachen, dass die von ihm beherrschte gesellschaftliche und staatliche Periode zu Ende, dass er in seiner Eigenschaft als Ritter, auch auf dem Schlachtfeld, nicht mehr zu brauchen sei.“[11]

Diese langen Ausführungen von Engels sind insofern besonders aufschlussreich, als sie uns zurückversetzen sowohl in den Prozess des „Niedergangs des Feudalismus“ als auch gleichzeitig in den „Aufstieg der Bourgeoisie“ und den Übergang zum Kapitalismus. In wenigen Sätzen verkünden sie die vier Hauptzüge der Dekadenzperiode einer jeglichen Produktionsweise und des Übergangs zu einer neuen:

a) Das langsame und allmähliche Auftauchen einer neuen revolutionären Klasse, die der Träger neuer gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse innerhalb der alten, zerfallenden Gesellschaft ist: „Während der Adel immer überflüssiger und der Entwicklung hinderlicher, wurden so die Stadtbürger die Klasse, in der die Fortentwicklung der Produktion und des Verkehrs, der Bildung, der sozialen und politischen Institutionen sich verkörpert fand.“ Die Bourgeoisie repräsentierte das Neue, der Adel stand für das Ancien Régime; erst als ihre Wirtschaftsmacht sich innerhalb der feudalen Produktionsweise einigermassen konsolidiert hatte, fühlte sich die Bourgeoisie stark genug, der Aristokratie die Macht streitig zu machen. Nebenbei bemerkt, widerspricht dies formal der bordigistischen Sichtweise der Geschichte, eine besonders deformierte Vision des historischen Materialismus, die postuliert, dass jede Produktionsweise tendenziell stets aufsteigend sei und allein durch ein brutales Ereignis (Revolution? Krise?) plötzlich und nahezu senkrecht zu Fall gebracht werden könne. Am Ende dieser „erlösenden“ Katastrophe erscheine ein neues gesellschaftliches Regime aus der Tiefe des Abgrunds: „Die marxistische Vision kann als eine Reihe von Zweigen dargestellt werden, von Kurven, die zum Gipfel streben, dem anschliessend ein gewaltsamer, plötzlicher, nahezu vertikaler Fall folgt; und am Ende dieses Falls erhebt sich ein neues gesellschaftliches Regime.“[12]

b) Die Dialektik zwischen dem Alten und dem Neuen auf der Ebene der ökonomischen Struktur: „Alle diese Fortschritte der Produktion und des Austausches waren in der Tat, nach heutigen Begriffen, sehr beschränkter Natur. Die Produktion blieb gebannt in die Form des reinen Zunfthandwerks, behielt also selbst noch einen feudalen Charakter; der Handel blieb innerhalb der europäischen Gewässer und ging nicht über die levantischen Küstenstädte hinaus, in denen er die Produkte des Fernen Ostens eintauschte. Aber kleinlich und beschränkt, wie die Gewerbe und mit ihnen die gewerbetreibenden Bürger blieben, sie reichten hin, die feudale Gesellschaft umzuwälzen, und sie blieben wenigstens in der Bewegung, während der Adel stagnierte. (…) Im fünfzehnten Jahrhundert war also die Feudalität in ganz Westeuropa in vollem Verfall.“ Doch so begrenzt („Kleingewerbe“) der materielle Fortschritt der Bourgeoisie auch war, es reichte aus, die „stagnierende“ Feudalgesellschaft zu stürzen, die sich, wie Engels sagt, „in ganz Westeuropa in vollem Verfall“, befand. Auch dies widerspricht formal einer anderen total absurden, frei erfundenen Theorie, die besagt, dass der Feudalismus ausstarb, da er sich einer effektiveren Produktionsweise gegenübersah, die ihm sozusagen den Rang ablief:

– „Wir haben in den vorhergehenden Seiten gesehen, dass es vielfältige Wege gibt, auf denen eine gegebene Produktionsweise verschwinden kann (...) Sie kann auch von innen aufgebrochen werden, durch eine aufstrebende Produktionsform, bis zu dem Punkt, wo die quantitative Bewegung einen qualitativen Schritt macht und das Neue das Alte stürzt. Dies war beim Feudalismus der Fall, der die kapitalistische Produktionsweise ins Leben setzte.“[13]

– „Der Feudalismus verschwand im Zuge des Erfolges der Marktwirtschaft. Anders als die Sklaverei verschwand er nicht wegen eines Produktivitätsmangels. Im Gegenteil: Die Geburt und Entwicklung der kapitalistischen Produktion wurde durch die wachsende Produktivität der feudalen Landwirtschaft ermöglicht, die die Bauernmassen überflüssig machte und in die Lage versetzte, Proletarier zu werden und genug Mehrwert zu schaffen, um die wachsende Bevölkerung in den Städten zu ernähren. Der Kapitalismus ersetzte den Feudalismus nicht, weil die Produktivität des Letzteren stagnierte, sondern weil er der Produktivität der kapitalistischen Wirtschaft unterlegen war.“[14]

– Im Gegensatz dazu spricht Marx deutlich über „die Zünfte und die Fesseln, die diese der freien Entwicklung der Produktion“, über „Feudalmacht und ihre empörenden Vorrechte“, über „Die industriellen Kapitalisten, diese neuen Potentaten, mussten ihrerseits nicht nur die zünftigen Handwerksmeister verdrängen, sondern auch die im Besitz der Reichtumsquellen befindlichen Feudalherren. Von dieser Seite stellt sich ihr Emporkommen dar als Frucht eines siegreichen Kampfes gegen die Feudalmacht und ihre empörenden Vorrechte sowie gegen die Zünfte und die Fesseln, die diese der freien Entwicklung der Produktion und der freien Ausbeutung des Menschen durch den Menschen angelegt“.[15]

Die Analyse, die von den Gründern des historischen Materialismus erstellt wurde und auf empirischer Ebene durch historische Untersuchungen[16] völlig bestätigt worden war, ist das genaue Gegenteil der Ausschweifungen jener, die die Theorie der Dekadenz ablehnen. Die Analyse der Dekadenz des Feudalismus und des Übergangs zum Kapitalismus wurde im „Kommunistischen Manifest“ deutlich ausgesprochen, wenn Marx von der „aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangenen modernen bürgerlichen Gesellschaft“ spricht, davon, dass Weltmarkt und Kolonialmärkte „einen nie gekannten Aufschwung und damit dem revolutionären Element in der zerfallenden feudalen Gesellschaft eine rasche Entwicklung (verschafften) (…) Die bisherige feudale oder zünftige Betriebsweise der Industrie reichte nicht mehr aus für den mit neuen Märkten anwachsenden Bedarf (...) Wir haben also gesehen: Die Produktions- und Verkehrsmittel, auf deren Grundlage sich die Bourgeoisie heranbildete, wurden in der feudalen Gesellschaft erzeugt. Auf einer gewissen Stufe der Entwicklung dieser Produktions- und Verkehrsmittel entsprachen die Verhältnisse, worin die feudale Gesellschaft produzierte und austauschte, die feudale Organisation der Agrikultur und Manufaktur, mit einem Wort die feudalen Eigentumsverhältnisse den schon entwickelten Produktivkräften nicht mehr. Sie hemmten die Produktion, statt sie zu fördern. Sie verwandelten sich in ebenso viele Fesseln. Sie mussten gesprengt werden, sie wurden gesprengt.“[17]

– Für jene, die lesen können, ist Marx sehr deutlich: Er spricht über eine „zerfallende feudale Gesellschaft“. Warum befand sich der Feudalismus in der Dekadenz? Weil „die feudalen Eigentumsverhältnisse den schon entwickelten Produktivkräften nicht mehr (entsprachen)“. Innerhalb dieser im Ruin befindlichen Gesellschaft sollte der Übergang zum Kapitalismus, zur „aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangenen modernen bürgerlichen Gesellschaft“ beginnen. Marx entwickelte diese Analyse auch in der „Kritik der politischen Ökonomie“: „Nur in den Zeiten des Untergangs des Feudalwesens, wo es aber noch kämpft unter sich – so in England im 14. und ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts – ist ein goldenes Zeitalter für die sich emanzipierende Arbeit“[18] Um die feudale Dekadenz zu charakterisieren, die vom beginnenden 14. Jahrhundert bis zum 18. Jahrhundert reichte, benutzten Marx und Engels zahlreiche Begriffe, die keinerlei Zweideutigkeiten bei all jenen zulassen, die ein Minimum an politischer Ehrlichkeit besitzen: „die Feudalität in ganz Westeuropa in vollem Verfall“; „der Adel stagnierte“; „zerfallende feudale Gesellschaft“; „die feudalen Eigentumsverhältnisse (…) verwandelten sich in ebenso viele Fesseln“; „die Zünfte und die Fesseln, die diese der freien Entwicklung der Produktion“[19]

c) Die Entwicklung von Konflikten zwischen verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse: „Während der wüsten Kämpfe des herrschenden Feudaladels das Mittelalten mit viel Lärm erfüllte (...) ununterbrochener, rein zweckloser Verwüstung, der das ganze Mittelalter hindurch gewährt hatte“. Was er sich nicht mehr durch seine ökonomische und politische Vorherrschaft über die Bauernschaft verschaffen konnte, das versuchte der Feudaladel durch Gewalt zu bekommen. Konfrontiert mit wachsenden Schwierigkeiten, genügend Mehrwert aus der Feudalrente zu extrahieren, begann der Adel, sich in endlosen Konflikten selbst in Stücke zu reissen, was keine anderen Konsequenzen hatte, als sich selbst und die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu ruinieren. Der Hundertjährige Krieg, der Europas Bevölkerung halbierte, und die pausenlosen Erbfolgekriege sind die besten Beispiele dafür.

d) Die Entwicklung von Kämpfen durch die ausgebeutete Klasse: So „hatte die stille Arbeit der unterdrückten Klasse in ganz Westeuropa das Feudalsystem untergraben“ Auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Verhältnisse nimmt die Dekadenz der Produktionsweise die Form einer quantitativen und qualitativen Entwicklung der Kämpfe zwischen den antagonistischen Klassen an: der Kampf der ausgebeuteten Klasse, die ihr Elend um so mehr spürt, je mehr die Ausbeutung durch eine verzweifelte herrschende Klasse bis an ihre Grenzen getrieben wird; Kämpfe jener Klasse, die der Träger der neuen Gesellschaft ist und die sich mit den Kräften der alten gesellschaftlichen Ordnung anlegt (in der Vergangenheit war dies stets eine neue ausbeutende Klasse; unter dem Kapitalismus ist es das Proletariat, eine sowohl ausgebeutete als auch revolutionäre Klasse).

Diese langen Zitate über das Ende der feudalen Produktionsweise und den Übergang zum Kapitalismus demonstrieren schon für sich in aller Deutlichkeit, dass das Konzept der Dekadenz von Marx und Engels nicht nur theoretisch definiert worden war, sondern auch als operatives wissenschaftliches Konzept diente, das sie benutzten, um die Dynamik bei der Aufeinanderfolge der von ihnen untersuchten Produktionsweisen zu enthüllen. Es war daher völlig logisch für sie, dieses Konzept zu benutzen, ob sie nun die primitiven, asiatischen oder antiken Gesellschaften betrachteten. So beleuchteten Marx und Engels in Die deutsche Ideologie, als sie die Entfaltung der Produktionsweise der Sklaverei analysierten, die allgemeinen Kennzeichen der Dekadenz in diesem System: „Die letzten Jahrhunderte des verfallenden Römischen Reichs und die Eroberung durch die Barbaren selbst zerstörten eine Masse von Produktivkräften; der Ackerbau war gesunken, die Industrie aus Mangel an Absatz verfallen, der Handel eingeschlafen oder gewaltsam unterbrochen, die ländliche und städtische Bevölkerung hatte abgenommen“.[20] Auch in der Analyse der primitiven Gesellschaften finden wir den eigentlichen Kern der Definition der Dekadenz einer Produktionsweise von Marx und Engels: „Die Geschichte des Verfalls der Urgemeinschaften (...) ist noch zu schreiben. Bisher hat man dazu nur magere Skizzen geliefert. (…)2. dass die Ursachen ihres Verfalls von den ökonomischen Gegebenheiten herrühren, die sie hinderten, eine gewisse Stufe der Entwicklung zu überschreiten…“[21]

Schliesslich vergleicht Marx im Kapital hinsichtlich der Dekadenz der asiatischen Produktionsweise die Stagnation der asiatischen Gesellschaften mit dem Übergang zum Kapitalismus in Europa: [22] „Revolutionär wirkt der Wucher in allen vorkapitalistischen Produktionsweisen nur, indem er die Eigentumsformen zerstört und auflöst, auf deren fester Basis und beständiger Reproduktion in derselben Form die politische Gliederung ruht. Bei asiatischen Formen kann der Wucher lange fortdauern, ohne etwas andres als ökonomisches Verkommen und politische Verdorbenheit hervorzurufen. Erst wo und wann die übrigen Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise vorhanden, erscheint der Wucher als eines der Bildungsmittel der neuen Produktionsweise, durch Ruin der Feudalherrn und der Kleinproduktion einerseits, durch Zentralisation der Arbeitsbedingungen zu Kapital andererseits.“[23]

Die Herangehensweise von Marx und Engels an die Dekadenz des Kapitalismus

Da gibt es jene, die sehr gut wissen, dass Marx und Engels ausführlichen Gebrauch vom Konzept der Dekadenz für die Produktionsweise vor dem Kapitalismus machten, und dennoch behaupten: „Marx verlieh dem Kapitalismus nur in der historischen Phase eine fortschrittliche Definition, in welcher er die ökonomische Welt des Feudalismus eliminierte und eine Periode kraftvoller Entwicklung der Produktivkräfte hervorrief, die von der früheren Wirtschaftsform gehemmt worden waren; doch ging er nicht weiter in der Definition der Dekadenz, ausgenommen das eine Mal in seinem berühmten ,Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie.“[24] Nichts könnte falscher sein! Ihr ganzes Leben hindurch analysierten Marx und Engels die Entfaltung des Kapitalismus und versuchten ständig, die Kriterien für den Moment seines Eintritts in die Dekadenz zu bestimmen.

So nahmen sie schon frühzeitig, nämlich im Kommunistischen Manifest, an, dass der Kapitalismus seine historische Mission erfüllt habe und dass die Zeit reif sei, zum Kommunismus überzugehen: „Die Produktivkräfte, die ihr zur Verfügung stehn, dienen nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse; im Gegenteil, sie sind zu gewaltig für diese Verhältnisse geworden, sie werden von ihnen gehemmt; und sobald sie dies Hemmnis überwinden, bringen sie die ganze bürgerliche Gesellschaft in Unordnung, gefährden sie die Existenz des bürgerlichen Eigentums. Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen (...) Die Gesellschaft kann nicht mehr unter ihr leben, d.h. ihr Leben ist nicht verträglich mit der Gesellschaft.“[25]

Wir wissen, dass Marx und Engels später erkannten, dass ihre Diagnose übereilt war. So schrieb 1850 Marx: „Bei dieser allgemeinen Prosperität, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich so üppig entwickeln, wie dies innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt möglich ist, kann von einer wirklichen Revolution keine Rede sein. Eine solche Revolution ist nur in den Perioden möglich, wo diese beiden Faktoren, die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsformen, miteinander in Widerspruch geraten. (…) Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese.“[26]

Und in einem sehr aufschlussreichen Brief an Engels, datiert vom 8. Oktober 1858, ging Marx an die qualitativen Kriterien heran, um den Übergang in die Phase der Dekadenz zu bestimmen, d.h. „die Herstellung des Weltmarkts, wenigstens seinen Umrissen nach, und einer auf seiner Basis ruhenden Produktion“. Seiner Auffassung nach trafen diese beiden Kriterien auf Europa zu – er nahm 1858 an, dass die Zeit für die sozialistische Revolution auf dem Kontinent reif sei – aber noch nicht auf den Rest des Globus, wo er den Kapitalismus immer noch in seiner aufsteigenden Phase sah: „Die eigentliche Aufgabe der bürgerlichen Gesellschaft ist die Herstellung des Weltmarkts, wenigstens seinen Umrissen nach, und einer auf seiner Basis ruhenden Produktion. Da die Welt rund ist, scheint dies mit der Kolonisation von Kalifornien und Australien und dem Aufschluss von China und Japan zum Abschluss gebracht. Die schwierige question für uns ist die: auf dem Kontinent ist die Revolution immanent und wird auch sofort einen sozialistischen Charakter annehmen. Wird sie in diesem kleinem Winkel nicht notwendig gecrusht werden, da auf viel grösserm Terrain das movement der bürgerlichen Gesellschaft noch ascendant ist?.“[27]

Im „Kapital“ sagt Marx, über die kapitalistische Produktionsweise: „Das beweist damit nur aufs neue, dass sie altersschwach wird und sich mehr und mehr überlebt.“[28] Und auch 1881 argumentiert Marx im zweiten Entwurf seines Briefes an Vera Sassulitsch, dass der Kapitalismus im Westen in seine dekadente Phase getreten sei: „Obwohl das kapitalistische System im Westen im Verblühen ist, und sich die Zeit nähert, da es nur noch eine ‚archaische‘ Formation sein wird…“[29] Auch hier sind für jene, die des Lesens kundig sind und eine Grundehrlichkeit besitzen, die Begriffe, die Marx benutzt, wenn er über die Dekadenz des Kapitalismus spricht, unzweideutig: „Periode der Senilität“, „repressives Gesellschaftssystem“, „Fessel der Entwicklung der Produktivkräfte“,„ein System, das sich immer mehr überlebt hat“, etc.

Schliesslich schloss Engels diese Untersuchung 1895: „Die Geschichte hat uns und allen, die ähnlich dachten, unrecht gegeben. Sie hat klargemacht, dass der Stand der ökonomischen Entwicklung auf dem Kontinent damals noch bei weitem nicht reif war für die Beseitigung der kapitalistischen Produktion: Sie hat dies bewiesen durch die ökonomische Revolution, die seit 1848 den ganzen Kontinent ergriffen (…) so beweist dies ein für allemal, wie unmöglich es 1848 war, die soziale Umgestaltung durch einfache Überrumpelung zu erobern.“[30] In den Worten von Marx und Engels beweist dies „ein für allemal“ die Dummheiten auf den endlosen Seiten Papier, die von parasitären Elementen über die Möglichkeit der kommunistischen Revolution ab 1848 produziert werden: „Wir haben bei etlichen Gelegenheiten die These vertreten, dass der Kommunismus seit 1848 möglich ist.“[31] Diese Narreteien werden unglücklicherweise zu einem grossen Teil auch von den Bordigisten der PCI geteilt, die uns in einer sehr schlechten Polemik vorwarfen, zusammen mit Marx und Engels zu behaupten, dass „die Bedingungen für den Sturz einer Gesellschaftsform auf ihrem Gipfelpunkt nicht existieren“, und die behaupteten, dass dies „ein ganzes Jahrhundert der Existenz und des Kampfes des Proletariats und seiner Partei in den Mülleimer schmeisst (...) plötzlich kann weder die Geburt der kommunistischen Theorie noch die Bedeutung und die Lehren der Revolutionen des 19. Jahrhunderts begriffen werden.“[32]

Warum ist dieses Argument vollkommen haltlos? Weil in der Zeit, als Marx und Engels „Das Kommunistische Manifest“ schrieben, es in der Tat periodische Verlangsamungen im Wirtschaftswachstum gab, die die Form von zyklischen Krisen annahmen. Bei der Untersuchung dieser Krisen waren sie in der Lage, all die Ausdrücke der fundamentalen Widersprüche des Kapitalismus zu analysieren. Doch die „Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse“[33] war lediglich eine Jugendrevolte. Das Ergebnis dieser regelmässigen Explosionen war die Stärkung des Systems, das in seiner kraftvollen Wachstumsphase fähig war, sich seiner Kinderkleidung und der letzten feudalen Hindernisse auf seinem Weg zu entledigen. 1850 waren nur zehn Prozent der Weltbevölkerung in die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse integriert. Das System der Lohnarbeit hatte noch seine ganze Zukunft vor sich. Marx und Engels besassen den brillanten Scharfsinn, in den Wachstumskrisen des Kapitalismus die Essenz all seiner späteren Krisen zu erblicken und somit eine Zukunft tiefer Umbrüche vorauszusagen. Wenn sie dazu fähig waren, so, weil jede Gesellschaftsform von Geburt an den Keim all ihrer Widersprüche, die einst zu ihrem Untergang führen werden, in sich trägt. Doch solange diese Widersprüche sich noch nicht bis zu dem Punkt entwickelt hatten, wo sie zu einer ständigen Schranke gegen das Wachstum werden, bilden sie den eigentlichen Motor dieses Wachstums. Die plötzlichen Verlangsamungen in der kapitalistischen Ökonomie im 19. Jahrhundert waren keinesfalls diese permanenten und wachsenden Schranken. So war Rosa Luxemburg, indem sie Marx‘ Intuition über die Frage weiterträgt, wann der Kapitalismus in die Dekadenz eintreten werde – mit „der Herstellung des Weltmarkts, wenigstens seinen Umrissen nach, und einer auf seiner Basis ruhenden Produktion“ (Marx) – in der Lage, die Dynamik und den Moment hervorzustreichen: „Wenn wir deshalb einerseits (...) die bisherigen Krisen, sozusagen die Jugendkrisen, (...) bereits hinter uns haben, so sind wir andererseits noch nicht bis zu jenem Grade der Ausbildung und der Erschöpfung des Weltmarktes vorangeschritten, der einen fatalen periodischen Anprall der Produktivkräfte an die Marktschranken, die wirkliche kapitalistische Alterskrisen, erzeugen würde. (…) Ist einmal der Weltmarkt im grossen und ganzen ausgebildet und kann er durch keine plötzliche Erweiterung mehr vergrössert werden, schreitet zugleich die Produktivität der Arbeit unaufhaltsam fort, dann beginnt über kurz oder lang der periodische Widerstreit der Produktivkräfte mit den Austauschschranken, der von selbst, durch seine Wiederholung, immer schroffer und stürmischer wird.“[34]

Der Begriff der Dekadenz im Kapital von Marx

Wir sahen oben, dass Marx und Engels vom Begriff der Dekadenz in ihren Hauptwerken über den historischen Materialismus und die Kritik der politischen Ökonomie („Die Deutsche Ideologie“, „Das Kommunistische Manifest“, „Anti-Dühring“, „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“, „Das Nachwort zu Der deutsche Bauernkrieg“), aber auch in einer Reihe von Briefen und Vorworten reichlich Gebrauch machten. Wie aber steht’s mit dem Buch, das das IBRP als Meisterstück von Marx betrachtet. Das Büro behauptet, dass der Terminus Dekadenz „in den drei Bänden des Kapitals nirgendwo auftaucht“.[35] Anscheinend hat das IBRP das Kapital nicht sehr gründlich gelesen, ist doch der Begriff der Dekadenz in allen Teilen, wo Marx sich entweder mit der Geburt oder mit dem Tod des Kapitalismus befasst, allemal präsent!

So bekräftigt Marx in den Seiten des Kapitals seine Analyse der Dekadenz des Feudalismus und, innerhalb Letzterem, des Übergangs zum Kapitalismus: „Obgleich die ersten Anfänge kapitalistischer Produktion uns schon im 14. und 15. Jahrhundert in einigen Städten am Mittelmeer sporadisch entgegentreten, datiert die kapitalistische Ära erst vom 16. Jahrhundert. Dort, wo sie auftritt, ist die Aufhebung der Leibeigenschaft längst vollbracht und der Glanzpunkt des Mittelalters, der Bestand souveräner Städte, seit geraumer Zeit im Erbleichen. (…) Das Vorspiel der Umwälzung, welche die Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise schuf, ereignet sich im letzten Drittel des 15. und den ersten Dezennien des 16. Jahrhunderts.“[36]

„Hier fällt die kapitalistische Produktionsweise in einen neuen Widerspruch. Ihr historischer Beruf ist die rücksichtslose, in geometrischer Progressive vorangetriebne Entfaltung der Produktivität der menschlichen Arbeit. Diesem Beruf wird sie untreu, sobald sie, wie hier, der Entfaltung der Produktivität hemmend entgegentritt. Sie beweist damit nur aufs neue, dass sie altersschwach wird und sich mehr und mehr überlebt.“[37]

Nebenbei bemerkt, fasste Marx die Periode der Senilität des Kapitalismus als eine Phase ins Auge, wo der Kapitalismus sich immer mehr „überlebt“ hat, wo er zum Hindernis in der Weiterentwicklung der Produktivität wird. Dies straft auch einer anderen Theorie Lügen, die im Grossen und Ganzen von der Gruppe Internationalist Perspectives erfunden wurde und derzufolge die Dekadenz des Kapitalismus (aber auch des Feudalismus, siehe oben) von einer blühenden Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktivität der Arbeit charakterisiert ist![38]

Schliesslich ruft Marx in einer anderen Passage des „Kapitals“ den allgemeinen Prozess der Aufeinanderfolge der historischen Produktionsweisen in Erinnerung: „Aber jede bestimmte historische Form dieses Prozesses entwickelt weiter die materiellen Grundlagen und gesellschaftlichen Formen desselben. Auf einer gewissen Stufe der Reife angelangt, wird die bestimmte historische Form abgestreift und macht einer höhern Platz. Dass der Moment einer solchen Krise gekommen, zeigt sich, sobald der Widerspruch und Gegensatz zwischen den Verteilungsverhältnissen, daher auch der bestimmten historischen Gestalt der ihnen entsprechenden Produktionsverhältnisse einerseits und den Produktivkräften, der Produktionsfähigkeit und der Entwicklung ihrer Agentien andrerseits, Breite und Tiefe gewinnt. Es tritt dann ein Konflikt zwischen der materiellen Entwicklung der Produktion und ihrer gesellschaftlichen Form ein.“[39]

Hier nimmt er die Terminologie auf, die er in der „Kritik der politischen Ökonomie“ benutzte, wie wir weiter unter untersuchen werden. Doch zunächst sollte unterstrichen werden, dass das, was auf das „Kapital“ zutrifft, auch für die mannigfaltigen Vorbereitungsarbeiten gültig ist, wo der Begriff der Dekadenz hinreichend präsent ist.[40] Der beste Rat, den wir dem IBRP geben können, ist, noch einmal die Schulbank zu drücken und das Lesen zu lernen.

Der Begriff der Dekadenz, wie er von Marx in der Kritik der Politischen Ökonomie definiert wird

So fasst Marx die Hauptresultate seiner Forschungen 1859 im „Vorwort zur Kritik an der Politischen Ökonomie“ zusammen:

„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muss man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern muss vielmehr dies Bewusstsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoss der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind. In grossen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoss der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schliesst daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.“[41]

Unsere Kritiker haben die notorische Unehrlichkeit, die Frage der Dekadenz durch systematische Umwandlung und Uminterpretation der Schriften von Marx und Engels zu umgehen. Dies ist besonders bei diesem Auszug aus der „Kritik der politischen Ökonomie“ der Fall, der von ihnen – zu Unrecht, wie wir bereits gesehen haben – als der einzige Ort angesehen wird, wo Marx über die Dekadenz spricht! Doch spricht Marx nach Ansicht vom IBRP in dieser Passage nicht über zwei deutlich unterschiedliche Phasen in der historischen Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, sondern über das periodisch aufkommende Phänomen der Wirtschaftskrise: „Es ist dasselbe, wenn die Vertreter dieser Analyse (der Dekadenz, die Red.) sich gedrängt fühlen, die anderen Worte von Marx zu zitieren, denen zufolge die Produktivkräfte auf einer bestimmten Ebene der Entwicklung des Kapitalismus mit den Produktionsverhältnissen in Widerspruch geraten und so den Prozess der Dekadenz einleiten. Tatsache ist, dass der fragliche Ausdruck sich auf das Phänomen der allgemeinen Krise und des Bruchs im Verhältnis zwischen der Wirtschaftsstruktur und dem ideologischen Überbau bezieht, die Klassenepisoden erzeugen können, welche auf eine revolutionäre Richtung zusteuern, und nicht auf die diskutierte Frage.“[42]

Das Zitat von Marx für sich genommen lässt keinen Raum für Zweideutigkeiten. Es ist klar, unmissverständlich und folgt derselben Logik wie all die anderen Auszüge, auf die sich dieser Artikel bezieht. Von seinem Brief an J. Weydemeyer wissen wir, wie sehr Marx den historischen Materialismus als seinen wirklichen theoretischen Beitrag betrachtete, und als er sagte, dass „in wenigen Worten das Resultat, zu dem ich gelangte, mir als Leitfaden meiner Studien diente.“[43], sprach er exakt über die Evolution von Produktionsweisen, über ihre Dynamik und Widersprüche, die sich im dialektischen Verhältnis zwischen den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen und den Produktivkräften artikulierten. In wenigen Sätzen spannte Marx den gesamten Bogen der menschlichen Evolution: „In grossen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses (...) Mit dieser Gesellschaftsformation schliesst daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.“ Im Gegensatz zu den Behauptungen des IBRP berief sich Marx nicht auf periodische Krisenzyklen, auf regelmässig wiederkehrende Kollisionen zwischen den Produktivkräften und den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen oder auf Perioden des Wechsels in der Profitrate; Marx arbeitete auf einer anderen Ebene, auf der grossen Bühne der Evolution der Produktionsweisen, den historischen „Epochen“. In seinem Auszug, wie auch in all den anderen, die wir zitiert haben, definiert Marx klar und deutlich zwei allgemeine Phasen in der historischen Entwicklung einer Produktionsweise: eine Aufstiegsphase, wo die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse die Entwicklung der Produktivkräfte vorantreiben und erleichtern, und eine dekadente Phase, in der „aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte (...) Fesseln derselben“ werden. Marx macht deutlich, dass dieser Umschwung in einem bestimmten Moment – „über einen gewissen Punkt hinaus“ – stattfindet, und spricht keinesfalls über „periodisch aufkommende und stetig wachsende Kollisionen“, wie es die ungeeignete Interpretation des IBRP tut. Darüber hinaus benutzt Marx bei etlichen Gelegenheiten im Kapital Formulierungen, die mit jenen in der „Kritik der politischen Ökonomie“ identisch sind; und wenn er sich auf den historisch begrenzten Charakter des Kapitalismus bezieht, spricht er über zwei unterschiedliche Phasen seiner Evolution: „… dass die kapitalistische Produktionsweise an der Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke findet, die nichts mit der Produktion des Reichtums als solcher zu tun hat; und diese eigentümliche Schranke bezeugt die Beschränktheit und den nur historischen, vorübergehenden Charakter der kapitalistischen Produktionsweise; bezeugt, dass sie keine für die Produktion des Reichtums absolute Produktionsweise ist, vielmehr mit seiner Fortentwicklung aus gewisser Stufe in Konflikt tritt.“[44], oder auch, wenn er argumentiert, dass der Kapitalismus „altersschwach wird und sich mehr und mehr überlebt“[45].

Wir können dem IBRP nachsehen, wenn es einige Mühe beim Verständnis der „Kritik der politischen Ökonomie“ von Marx hat – jeder kann Fehler machen. Doch wenn die Irrtümer wiederholt werden, selbst wenn es um Zitate aus jenem Werk („Das Kapital“) geht, das das IBRP als seine Bibel betrachtet , dann ist dies mehr als ein einmaliger Ausrutscher.

Was unsere parasitären Kritiker angeht, so stürzen sie sich gern in lange syntaktische Sezierungen. Für die Revue Internationale de Mouvement Communiste (RIMC) „unternimmt die IKS die Mühe, die Phrase ‚So beginnt‘ zu unterstreichen, zweifellos um wie gute Gradualisten, die sie sind, die Betonung auf den fortschrittlichen Charakter der Bewegung zu legen, den sie gläuben identifiziert zu haben. Doch können wir ebensogut die Worte ‚soziale Revolution‘ unterstreichen, die genau das Gegenteil bedeuten, da eine Revolution der gewaltsame Sturz der herrschenden Ordnung ist, mit anderen Worten: ein brutaler und qualitativer Bruch in der Ordnung von Dingen und Ereignissen.“[46] Noch einmal für jeden, der lesen kann: Marx spricht über die Eröffnung einer „Epoche der sozialen Revolution“ (eine „Epoche“ ist eine ganze Periode, in der eine neue gesellschaftliche Ordnung der Dinge etabliert wird), und er argumentiert, dass dieser Wechsel einige Zeit dauern kann, wenn er uns mitteilt, dass diese „Änderung in den ökonomischen Grundlagen von einer mehr oder weniger schnellen Umwälzung begleitet wird“. Lebe wohl, „plötzlicher, gewaltsamer, nahezu vertikaler Fall und am Ende erhebt sich ein neues gesellschaftliches Regime“, Bordigas Ausspruch, der von der RIMC wiederholt wird! Anders als sie verwechselt Marx nicht eine „Änderung im ökonomischen Fundament“ mit einer politischen Revolution. Erstere entfaltet sich langsam innerhalb der alten Gesellschaft, die Revolution ist dagegen kürzer, zeitlich begrenzter, obwohl sie sich auch einige Zeit hinziehen kann, da der Sturz der politischen Macht der alten herrschenden Klasse durch eine neue herrschende Klasse sich normalerweise erst nach zahllosen zurückgeschlagenen Versuchen vollzieht, was zeitweilige Restaurationen nach kurzlebigen Siegen einschliessen kann.

Die politische Bedeutung dieser Kritiken

Was die parasitären Grüppchen anbetrifft, so ist es ihre wesentliche Funktion, die politische Klarheit zu trüben, Marx gegen die Kommunistische Linke aufzustellen und so eine Barriere zwischen den neuen, suchenden Elementen und den revolutionären Gruppen zu errichten. Bei ihnen ist die Sache klar. Wir müssen lediglich zeigen, wie zentral die Dekadenztheorie im Werk von Marx und Engels gewesen war, um ihren Behauptungen den Wind aus den Segeln zu nehmen, dass dies „eine Theorie (ist), die vom kommunistischen Programm total abweicht (...) solch eine Methode der Analyse hat nichts mit kommunistischer Theorie zu tun (...) vom Standpunkt des historischen Materialismus aus besitzt das Konzept der Dekadenz keinerlei Kohärenz. Es ist kein Bestandteil des theoretischen Arsenals des kommunistischen Programms. Als solches muss es vollkommen abgelehnt werden (...) Kein Zweifel, dass die IKS dieses Zitat (aus dem ersten Entwurf des Briefes von Marx an Vera Sassulitsch) nutzen wird, da in ihm das Wort ‚Dekadenz‘ zweimal vorkommt, was relativ selten bei Marx ist, für dem der Begriff keinerlei wissenschaftlichen Wert hatte.“[47] Solche Behauptungen sind total absurd. Motiviert von einem parasitären, gegen die IKS gerichteten Antrieb, ist das Einzige, was diese Darstellungen gemeinsam haben, der Ausschluss des Dekadenzkonzepts aus den Werken von Marx und Engels. So erscheint für Aufheben[48] „die Theorie des kapitalistischen Niedergangs das erste Mal in der Zweiten Internationalen“, während für die RIMC sie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in die Welt gesetzt wurde: „Das Ziel dieses Werks ist es, eine globale und definitive Kritik am Konzept der ‚Dekadenz‘ vorzunehmen, das als eines der Hauptverirrungen nach dem Ersten Weltkrieg die kommunistische Theorie vergiftete und wegen seines offensichtlich ideologischen Charakters jegliche wissenschaftliche Arbeit behindert, die die Restaurierung der kommunistischen Theorie bezweckt.“ Schliesslich war für Internationalist Perspectives Trotzki der Erfinder dieses Konzepts: „Das Konzept der Dekadenz des Kapitalismus entstand in der Dritten Internationalen, wo es insbesondere von Trotzki entwickelt worden war...“. Wer soll aus all dem schlau werden? Wenn es etwas gibt, was dem Leser klar sein muss, der sich die Auszüge von Marx und Engels angeschaut hat, die in diesem Artikel benutzt werden, dann die Tatsache, dass der Begriff der Dekadenz seinen wahren Ursprung exakt dort hatte, in ihrer historisch-materialistischen Methode. Nicht nur befindet sich dieser Begriff im Mittelpunkt des historischen Materialismus und ist auf der theoretischen wie begrifflichen Ebene präzise definiert, er wird auch als ein operatives wissenschaftliches Instrument bei der konkreten Analyse der Evolution verschiedener Produktionsweisen benutzt. Und wenn so viele Organisationen der Arbeiterbewegung den Begriff der Dekadenz weiterentwickelt haben, wie viele Schriften der parasitären Gruppen trotz allem erkennen müssen, dann deshalb, weil dieser Begriff im Zentrum des Marxismus steht!

Die Bordigisten der PCI haben die Analyse der Dekadenz, die zwischen 1928 und 1945[49] von der Italienischen Linken im Exil entwickelt wurde, trotz ihrer Beanspruchung der historischen Kontinuität mit ihr niemals akzeptiert. Der Geburtsakt des Bordigismus 1952 war von der Ablehnung dieses Konzepts gekennzeichnet.[50] Während Battaglia Comunista[51] die prinzipiellen Errungenschaften der Italienischen Linken in diesem Punkt aufrechterhielt, entfernten sich die Elemente rund um Bordiga von ihnen, als sie die Parti Communiste Internationale gründeten. Trotz dieses wesentlichen theoretischen Rückschritts verblieb die PCI dennoch stets im internationalistischen Lager der Linkskommunisten. Sie war stets im historischen Materialismus verwurzelt und hat in der Tat, wie auch immer ihr Bewusstseinsgrad gewesen sein mag, immer in grossen Zügen die Analyse der Dekadenz vertreten! Um dies zu belegen, brauchen wir lediglich ihre eigenen Grundsatzpositionen auf der Rückseite ihrer Publikationen zitieren: „Die imperialistischen Weltkriege zeigen, dass die Auflösungskrise des Kapitalismus unvermeidlich der Tatsache geschuldet ist, dass er endgültig in jene Periode eingetreten ist, in der seine Expansion nicht länger historisch das Wachstum der Produktivkräfte belebt, sondern ihre Akkumulation durch wiederholte und wachsende Zerstörungen bindet“ (im Grundsatz sagt die IKS nichts anderes!).[52] Wir können eine Reihe von Passagen aus ihren Texten zitieren, wo der Begriff der Dekadenz des Kapitalismus direkt oder indirekt anerkannt wird: „... während wir auf die zyklische Natur der Krisen und Katastrophen des Weltkapitalismus beharren, schmälert dies keineswegs die allgemeine Definition seines gegenwärtigen Zustands, eines Zustands der Dekadenz, in welcher ‚die objektiven Voraussetzungen für die proletarische Revolution nicht nur reif, sondern überreif sind‘, wie Trotzki es formulierte“.[53] Doch heute versucht sie in einem Pamphlet, das unsere Positionen kritisiert, mehrere Seiten lang eine (sehr schlechte) Polemik gegen das Konzept der Dekadenz zu verfassen, ohne zu realisieren, dass sie sich einmal mehr selbst widerspricht: „... wenn seit 1914 die Revolution und nur die Revolution überall und immer auf der Tagesordnung gestanden hat, d.h. die objektiven Bedingungen allgegenwärtig sind, ist es unmöglich, das Ausbleiben der Revolution zu erklären, ausser man flüchtet sich in subjektive Faktoren: Was fehle, um die Revolution zum Ausbruch zu bringen, sei allein das Bewusstsein des Proletariats. Dies ist ein verzerrtes Echo auf die falschen Positionen des grossen Trotzki Ende der 1930er-Jahre. Auch Trotzki dachte, dass die Produktivkräfte das Maximum dessen erreicht haben, was unter dem kapitalistischen Regime möglich sei, und dass folglicherweise die objektiven Bedingungen für die Revolution reif seien (und dass sie sogar anfangen, ‚überreif‘ zu sein): Das einzige Hindernis sei daher auf der Ebene der subjektiven Bedingungen zu suchen“.[54] Geheimnisvolle Invarianz!

Was Battaglia Comunista anbetrifft, so sei gesagt, dass sie sich trotz ihrer Kontinuitätsansprüche mit den Positionen der Italienischen Fraktion der Internationalen Linkskommunisten[55] auf dem Rückweg zu ihren bordigistischen Wurzeln befinden. Nachdem sie erst die Positionen von Bordiga 1952 abgelehnt und sich gewisse Lehren von der Italienischen Linken im Exil wiederangeeignet hatten, reisst nun ihre ausdrückliche Preisgabe der Dekadenztheorie, die von eben jener Fraktion entwickelt wurde[56], Battaglia Comunista zurück auf die Seite der Parti Communiste Internationale. Es ist eine Rückkehr zu den Quellen, da sowohl in der Gründungsplattform von 1946 als auch in der Plattform von 1952 der Begriff der Dekadenz fehlt. Die politische Vagheit dieser beiden programmatischen Dokumente, wenn es um das Verständnis dieser vom Ersten Weltkrieg eröffneten Periode geht, war die Matrix der Schwächen und Schwankungen von Battaglia Comunista bei der Verteidigung von Klassenpositionen gewesen.

Schliesslich hat diese Untersuchung uns den Blick dafür geschärft, dass die Schriften der Gründungsväter des Marxismus weit entfernt von den verschiedenen Versionen des historischen Materialismus sind, die unsere Kritiker vertreten. Wir warten darauf, dass sie uns mit Hilfe der Schriften von Marx und Engels die Gültigkeit ihrer Sichtweise der Abfolge der Produktionsweisen demonstrieren, so wie wir es in diesem Artikel mit dem Konzept der Dekadenz tun! Bis dahin amüsiert uns ihr fast grandioses Vorgaukeln von marxistischer Kompetenz; in Kenntnis der Werke von Marx und Engels sind wir uns sicher, dass wir unseren Sinn für Humor niemals verlieren werden.

Wenn Schmeicheleien an die Stelle einer politischen Linie treten

Seite um Seite behauptet die „Interne Fraktion der IKS“ (IFIKS[57]), dass sie gegen eine angebliche Degeneration unserer Organisation kämpft, und konzentriert sich dabei auf unsere Analyse des Kräfteverhältnisses, unsere Orientierung bei den Interventionen im Klassenkampf, unsere Theorie des Zerfalls des Kapitalismus, unser Verhalten gegenüber der Umgruppierung von Revolutionären, unsere interne Funktionsweise, etc. Sie argumentiert, dass die IKS sich in ihrem Todeskampf befinde und dass nun das IBRP den Pol der Klärung und Umgruppierung bilde: „Mit der Eröffnung des Kurses zum Opportunismus, Sektierertum und Defätismus durch die offizielle IKS steht nun das IBRP im Mittelpunkt einer Dynamik zum Aufbau der Partei“.[58] Diese Liebeserklärung wird darüber hinaus mit einer armseligen politischen Einverständniserklärung mit den Positionen des IBRP garniert: „Wir sind uns darüber bewusst, dass zwischen dieser Organisation und uns Divergenzen existieren, besonders über Fragen der Analyse-Methoden, weniger über politische Positionen.“[59] Mit einem Federstrich eliminiert die IFIKS, tapfere Verteidiger der Orthodoxie der IKS-Plattform, alle wichtigen politischen Divergenzen zwischen der IKS und dem IBRP. Jedoch gibt es etwas noch Bedeutsameres. Seit rund zwei Jahren wird das, was sich im eigentlichen Zentrum der IKS-Plattform befindet – die Frage der Dekadenz – mehr oder weniger offen vom IBRP in Frage gestellt[60] und zum Gegenstand einer sehr unehrlichen Kritik durch die PCI (Kommunistisches Programm) gemacht. Doch die IFIKS hat nichts Besseres zu tun, als vielsagend ruhig zu bleiben und sich gar zu entschuldigen, dass wir die Verteidigung des analytischen Rahmens der Dekadenz gegen alle Abweichungen der PCI und des IBRP aufgenommen haben: „Auf diese Weise stellt sie den proletarischen Charakter dieser Organisation und des IBRP in Frage und stösst beide an den Rand des proletarischen Lagers“.[61]

Bis jetzt hat es die IFIKS geschafft, nicht weniger als vier Artikel über das Thema „Dekadenz des Kapitalismus“ zu schreiben.[62] Diese Artikel tragen den pompösen Titel „Debatte innerhalb des proletarischen Lagers“, doch der Leser wird nicht den leisesten Hinweis auf die Preisgabe des Konzepts der Dekadenz durch das IBRP finden! Er wird jedoch die gewohnten Ausfälle gegen unsere Organisation vorfinden, in denen lächerlicherweise behauptet wird, dass wir es seien, die die Dekadenztheorie preisgeben! Nicht ein Wort über das IBRP, das ausdrücklich die Dekadenztheorie in Frage stellt, dafür aber die heftigsten Attacken gegen die IKS, die dieses Konzept kompromisslos verteidigt!

Vier Monate nach der Veröffentlichung eines neuen und langen Artikels durch das IBRP, in dem erklärt wird, warum es die Dekadenztheorie, wie sie von der Kommunistischen Linken erarbeitet worden ist [63], in Frage stellt, widmet die IFIKS in der Vorstellung ihres Bulletins, Nr. 24, April 2004, diesem Vorgang zwei Sätze, in der diesem „fundamentalen Beitrag“ Beifall gezollt wird: „Wir begrüssen die Arbeit der Genossen der PCInt, die ihrer Sorge Ausdruck verliehen haben, die Frage zu klären. Wir werden zweifellos die Gelegenheit haben, darauf zurückzukommen.“ [64] Der Artikel vom IBRP wird natürlich nicht als das betrachtet, was er ist – ein ernster Rückschritt auf programmatischer Ebene – sondern wird als ein Beitrag zur Auseinandersetzung mit unseren angeblichen politischen Verirrungen ausgegeben: „... die Krise, in der die IKS heute immer mehr versinkt, drängt die Gruppen des proletarischen Lagers dazu, zur Frage der Dekadenz zurückzukehren; dies drückt ihre Involvierung in der Auseinandersetzung gegen das opportunistische Abgleiten einer Gruppe aus dem politischen Milieu des Proletariats aus, ihre Beteiligung am Kampf, um zu retten, was vor der Katastrophe des opportunistischen Abgleitens unserer Organisation gerettet werden kann. Wir begrüssen diese Anstrengungen....“.[65]

Wenn Schmeicheleien an Stelle einer politischen Linie treten, so ist dies nicht mehr blosser Opportunismus, es ist Arschkriecherei. Um ihr Verhalten als Gangster und Informanten mit einem pseudo-radikalen Touch zu versehen, entdeckt die IFIKS auf die Schnelle wichtige Differenzen mit der IKS, besonders indem sie sich unserer Analyse des Zerfalls des Kapitalismus entledigt.[66] Die IFIKS musste eliminieren, was politisch am „unpopulärsten“ unter den Gruppen des revolutionären Milieus war, um sich ihnen anzubiedern und von ihnen anerkannt zu werden. So geht sie vor ihnen auf die Knie und umschmeichelt sie. Aber Letztere scheinen den Köder nicht annehmen zu wollen: „Auch wenn wir nicht die Möglichkeit ausschliessen, dass Individuen aus der IKS unseren Reihen beitreten können, so ist es doch völlig unmöglich, dass Gruppen oder Fraktionen, die mit ihren Organisation im Widerstreit stehen, en bloc und mit Positionen zu uns stossen, die mit den unsrigen nicht vereinbar sind (...) Solch ein Resultat kann nur durch eine völlige Infragestellung oder besser: durch einen Bruch mit den praktischen, politischen und allgemein programmatischen Positionen der IKS eintreten, und nicht durch ihre simple Modifizierung oder Verbesserung“.[67] Besser hätten wir es nicht formulieren können! Nachdem sie sich der Theorie des Zerfalls entledigt hat, ist die IFIKS bereit, all die politischen Divergenzen zwischen der IKS und dem IBRP auf ein paar geringfügige Fragen der „Analyse-Methoden“ zu reduzieren; morgen wird sie allemal dazu bereit sein, die Theorie der Dekadenz wegzuwerfen, um Gruppen, die diesen beiden Konzepten feindlich gegenüber eingestellt sind, zu verführen und somit ihre schmutzige und zutiefst unehrliche Arbeit beim Versuch fortzusetzen, die IKS von den restlichen Gruppen des politischen Milieus des Proletariats zu isolieren.

C. Mcl.

 

Fußnoten:

1. s. die mehrteilige Artikelreihe mit dem Titel Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen, in: Internationale Revue Nr. 10–12.

2. s. unsere Artikel über die Ablehnung der Dekadenztheorie durch die Internationale Kommunistische Partei/Kommunistisches Programm, in: International Review Nr. 77 und 78 und über die Ablehnung des IBRP, The Conception of Decadence in Capitalism, in: International Review, Nr. 79 (engl., franz., span. Ausgabe) und Das Wesen des imperialistischen Krieges, in: Internationale Revue Nr. 16 und Theorien der historischen Krise des Kapitalismus, in: Internationale Revue Nr. 17 und Hinter der Globalisierung der Wirtschaft verbirgt sich die Krise des Kapitalismus, in: Internationale Revue Nr. 18.

3. s. in International Review Nr. 105 und 106 die Antwort auf einen Brief aus Australien und in Nr. 111 und 112 eine Antwort auf die neuen revolutionären Elemente, die in Russland entstanden sind.

4. Streng genommen, vom 16. Jahrhundert bis zu den bürgerlichen Revolutionen, was die feudale Dekadenz anbelangt, und von den bürgerlichen Revolutionen bis 1914, was die Aufstiegsphase des Kapitalismus angeht.

5. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 635.

6. s. Thesen über die Taktik der Komintern, IV. Weltkongress der Kommunistischen Internationale, Hervorhebungen von uns.

7. s. Die Krise ist ein Ausdruck der historischen Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise, in: Internationale Revue, Nr. 33, hatten wir bereits die Gelegenheit zu zeigen, dass die Weigerung des IBRP und der PCI(Programme Communiste), sich selbst auf den Rahmen der Analyse zu stützen, die Wurzel ihres Übels ist, in Richtung Linksextremismus sowie alternatives Drittwelttum und weg von der marxistischen Analyse der Krise und der gesellschaftlichen Stellung der Arbeiterklasse zu rutschen.

8. Karl Marx, Brief an J. Weydemeyer, 5. März 1852, in: MEW Bd. 28. S. 507; Hervorhebung von uns.

9. Jene, die gerne Marx gegen Engels ausspielen würden, sollten sich Folgendes merken: „Ich bemerke nebenbei: Da die hier entwickelte Anschauungsweise zum weitaus grössern Teil von Marx begründet und entwickelt worden, und nur zum geringsten Teil von mir, so verstand es sich unter uns von selbst, dass diese meine Darstellung nicht ohne seine Kenntnis erfolgte. Ich habe ihm das ganze Manuskript vor dem Druck vorgelesen, und das zehnte Kapitel des Abschnitts über Ökonomie (aus der Kritischen Geschichte) ist von Marx geschrieben und musste nur, äusserlicher Rücksichten halber, von mir leider etwas verkürzt werden.“ (Engels, Anti-Dühring, in: MEW Bd. 20, S. 9)

10. Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, in: MEW Bd. 20, S. 243.

11. s. MEW 21, S. 392 ff.

12. Bordiga, Treffen von Rom 1951, veröffentlicht in Invariance, Nr. 4, eigene Übersetzung. Hinsichtlich unserer Kritik an der bordigistischen Auffassung über die historische Evolution siehe unseren Artikel in International Review Nr. 54, S. 14–19.

13. s. Dialectique des forces productives et des rapports de production dans la théorie communiste, veröffentlicht in der Revue Internationale de Mouvement Communiste (RIMC), eigene Übersetzung. gemeinsam verfasst von Communisme ou Barbarie und Communismo L’Union Proletarien sowie erhältlich unter folgender Adresse:https://membres.lycos.fr/rgood/formprod.htm [18].

14. s. 16 theses on the history and state of the capitalist economy, Internationalist Perspectives, eigene Übersetzung; sowie erhältlich unter folgender Adresse: https://users.skynet.be/ippi/4discus1tex.htm [19].

15. Karl Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 743.

16. s. das interessante Buch von Guy Bois, La grande depression médiévale, XIVe et XV siècle, PUF.

17. s. MEW, Bd. 4, S. 463/467.

18. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 409.

19. Ein einfacher Hinweis auf die Analysen von Marx und Engels reicht aus, um auf die grenzenlosen historischen Dummheiten parasitärer Gruppen wie Internationalist Perspectives, Robin Goodfellow (Ex-Communisme ou Barbarie und RIMC-Mitglied), etc. zu antworten, die darin enden, das genaue Gegenteil dessen zu behaupten, was die Gründer des historischen Materialismus und unleugbare historische Fakten aussagen. Wir werden dennoch die Gelegenheit wahrnehmen, in künftigen Artikeln detaillierter auf ihre Schlangenlinien zurückzukommen, weil sie leider junge Elemente, die noch nicht fest in marxistischen Positionen verankert sind, negativ beeinflussen können.

20. Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie“, in: MEW Bd. 3, S. 24.

21. Karl Marx, Brief an V. I. Sassulitsch, in MEW, Bd.19, S. 387.

22. Sie wurde von Marx in Asien lokalisiert, doch sie war keineswegs auf diese geographische Region beschränkt. Historisch entspricht sie den megalithischen, ägyptischen Gesellschaften, etc., die bis 4000 v. Chr. zurückreichen und der Höhepunkt eines langsamen Prozesses einer Gesellschaft war, die sich erstmals in Klassen teilte. Die gesellschaftliche Differenzierung, die sich mit dem Aufkommen von ökonomischem Überschuss und der Entstehung von materiellem Reichtum entwickelte, führte zu einer politischen Macht in der Gestalt eines Königsstaates. Die Sklaverei konnte darin gut existieren, sogar in einem beträchtlichen Umfang (Diener, Arbeiter bei grossen öffentlichen Arbeiten, etc.), doch sie beherrschte nur selten die Landwirtschaft; sie war noch nicht die vorherrschende Produktionsform. Marx gab dazu eine klare Definition im Kapital: „Sind es nicht Privatgrundeigentümer, sondern ist es wie in Asien der Staat, der ihnen direkt als Grundeigentümer und gleichzeitig Souverän gegenübertritt, so fallen Rente und Steuer zusammen, oder es existiert vielmehr dann keine von dieser Form der Grundrente verschiedne Steuer. Unter diesen Umständen braucht das Abhängigkeitsverhältnis politisch wie ökonomisch keine härtere Form zu besitzen als die ist, welche aller Untertanenschaft gegenüber diesem Staat gemeinsam ist. Der Staat ist hier der oberste Grundherr. Die Souveränität ist hier das auf nationaler Stufe konzentrierte Grundeigentum.“ (Das Kapital, Bd. 3, in; MEW Bd. 25, S. 799) All diese Gesellschaften verschwanden zwischen 1000 und 500 v. Chr. Ihre Dekadenz manifestierte sich in periodisch wiederkehrenden Bauernrevolten, in einer gigantischen Entwicklung unproduktiver Staatsausgaben und in unaufhörlichen Kriegen zwischen den Staaten, die in Plünderungen eine Lösung gegen die inneren Produktionshemmnisse zu finden versuchten. Endlose politische Konflikte und mörderische Rivalitäten innerhalb der herrschenden Kaste erschöpften die gesellschaftlichen Quellen, und die geographischen Grenzen der Expansion der Reiche zeigten, dass der äusserste Entwicklungsgrad, der mit den Produktionsverhältnissen vereinbar war, erreicht war.

23. Das Kapital, Bd. 3, in: MEW Bd. 25, S. 610–611.

24. s. Prometeo, Nr. 8, Dezember 2003, eigene Übersetzung.

25. in: Manifest der kommunistischen Partei, MEW Bd. 4, S. 468. Dieselben verstimmten Charaktere argumentieren, um die Bedeutung dieser Sentenz aus dem Manifest herunterzuspielen, gerne damit, dass dieser Auszug sich nicht auf den allgemeinen Prozess des Übergangs von einer Produktionsweise zur nächsten beziehe, sondern auf die regelmässige Wiederkehr von konjunkturellen Krisen der Überproduktion, die die Möglichkeit revolutionärer Perspektiven eröffneten. Nichts liegt der Wahrheit ferner als dies; der Zusammenhang des Auszugs ist eindeutig und folgt gleich, nachdem Marx den historischen Prozess des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus in Erinnerung gerufen hatte. Darüber hinaus verzerrt das ganze Argument das Ziel des Manifests, den Übergangscharakter der Produktionsweise und damit des Kapitalismus aufzuzeigen; es trachtete nicht danach, eine detaillierte Untersuchung der Funktionstüchtigkeit des Kapitalismus und seiner periodischen Krisen vorzunehmen, so wie dies im Kapital der Fall war.

26. K. Marx/F. Engels, Revue der ‘Neuen Rheinischen Zeitung‘, Mai–Oktober, in:1950, MEW Bd. 7, S. 440.

27. s. MEW, Bd. 19, S. 360.

28. K. Marx, Das Kapital, Bd. 3, in: MEW Bd. 25, S. 273.

29. K. Marx, Brief an V. I. Sassulitsch, in: MEW, Bd.19, S. 396ff.

30. Friedrich Engels, Einleitung zu Die Klassenkämpfe in Frankreich, in: MEW Bd. 22, S. 515.

31. Robin Goodfellow, Communism as a historic necessity, 1.2.2004, eigene Übersetzung. Oder: Die Dekadenztheorie zerrt „die Gesamtheit der kommunistischen Theorie ins Reich der Ideologie und Utopie, wenn sie ausserhalb jeglicher materiellen Basis (in der aufsteigenden Periode, d.Red.) gestellt wird. Die Menschheit stellt sich keine Probleme, die sie nicht praktisch lösen kann. Warum sollten wir unter diesen Umständen diese Positionen geltend machen? Wir sollten sie genauso kritisieren, wie Marx und Engels die utopischen Sozialisten kritisiert hatten. Der wissenschaftliche Sozialismus wäre ansonsten kein Bruch mit dem utopischen Sozialismus, sondern eine neue Episode in ihm.“ Robin Goodfellow, https://members.lycos.fr/resdint [20], eigene Übersetzung.

32. PCI-Pamphlet, Nr. 29, Le Courant Communiste Internationale: a contre-courant de marxisme et de la lutte de classe, eigene Übersetzung.

33. K. Marx/F. Engels, Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW Bd. 4, S. 467.

34. Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, in: Gesammelte Werke Bd. 1/1, S. 385/386.

35. „Welche Rolle spielt denn das Konzept der Dekadenz im Rahmen der militanten Kritik der politischen Ökonomie, d.h. für eine tiefere Analyse der Charakteristiken und der Dynamik des Kapitalismus in der Periode, in der wir leben? Keine. Ja, das Wort selbst taucht nirgendwo in den drei Bänden des Kapitals auf. Mit dem Konzept der Dekadenz kann man die Mechanik der Krise beileibe nicht erklären...“ (Comments on the latest Crisis of the ICC, in: Internationalist Communist, Nr. 21, S. 23, eigene Übersetzung).

36. K. Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW Bd. 23, S. 743ff.

37. K. Marx, Das Kapital, Bd. 3, in MEW Bd. 25, S. 272/273.

38. „Schliesslich nimmt die Neigung des Kapitals, die Produktivität zu erhöhen und daher die Produktivkräfte weiterzuentwickeln, in seiner dekadenten Phase nicht ab (...) Die Existenz des Kapitalismus in seiner dekadenten Phase zwingt es – gebunden an der Mehrwertproduktion, die aus lebendigem Kapital herausgezogen wird, aber im Angesicht der Tatsache, dass die Masse des Mehrwerts sich immer mehr verringert, so wie umgekehrt die Mehrarbeit immer weiter wächst – dazu, die Entwicklung der Produktivkräfte in einem immer irrsinnigeren Tempo zu forcieren.“ (Valeur, décadence et technologie – 12 thèses, Perspective Internationaliste, eigene Übersetzung; https:// users.skynet.be/ippi/3thdecad.htm).

39. K. Marx Das Kapital, Bd. 3, MEW Bd. 25, S. 891.

40. „Ideell betrachtet, reichte die Auflösung einer gewissen Bewusstseinsform hin, um eine ganze Epoche zu töten. Reell entspricht diese Schranke des Bewusstseins einem bestimmten Grad der Entwicklung der materiellen Produktivkräfte und daher des Reichtums. Allerdings fand Entwicklung statt nicht nur auf der alten Basis, sondern Entwicklung dieser Basis selbst. Die höchste Entwicklung diese Basis selbst (…) ist der Punkt, worin sie selbst zu der Form ausgearbeitet ist, worin sie mit der höchsten Entwicklung der Produktivkräfte vereinbar, daher auch der reichste Entwicklung der Individuen. Sobald dieser Punkt erreicht ist, erscheint die weitere Entwicklung als Verfall und die neue Entwicklung beginnt von einer neuen Basis.“ (S. 349); „Die sogenannte historische Entwicklung beruht überhaupt darauf, dass die letzte Form die vergangenen als Stufe zu sich selbst betrachtet, und, da sie selten, und nur unter ganz bestimmten Bedingungen fähig ist, sich selbst zu kritisieren – es ist hier natürlich nicht von solchen historischen Perioden die Rede, die sich selbst als Verfallszeit vorkommen – sie immer einseitig auffasst“ (Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politische Ökonomie, S. 26).

41. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW Bd. 13, S. 9. Hervorhebung von uns.

42. s. Prometeo, Nr. 8, Dezember 2003.

43. Karl Marx an J. Weydemeyer, MEW Bd. 28, eigene Übersetzung

44. K. Marx, Das Kapital, Bd. 3, in: MEW Bd. 25, 272

45. Ebd.

46. s. Dialectique des forces productives et des rapports de production dans la théorie communiste, veröffentlicht in der Revue Internationale de Mouvement Communiste (RIMC), eigene Übersetzung. gemeinsam verfasst von Communisme ou Barbarie und Communismo L’Union Proletarien sowie erhältlich unter folgender Adresse:https://membres.lycos.fr/ [21]

rgood/formprod.htm.

47. Ebd. Eigene Übersetzung.

48. s. On decadence: theory of decline or decline of theory ist ein Text der britischen Gruppe Aufheben.

49. s. unser Buch The Italian Communist Left.

50. s. Bordigas kritisches Nachdenken über die Dekadenztheorie, 1951 verfasst: La doctrine du diable au corps, veröffentlicht in Le Proletaire, Nr. 464 (die Zeitung der PCI in Frankreich); ebenfalls Le renversement de la praxis dans la theorie marxiste, wiederveröffentlicht in Programme Communiste, Nr. 56 (die theoretische Zeitschrift der PCI auf Französisch) wie auch die Protokolle des Rom-Treffens 1951, veröffentlicht in Invariance, Nr. 4.

51. Battaglia Comunista ist zusammen mit der Communist Workers Organisation eine der Gründungsorganisationen des Internationalen Büros für die Revolutionäre Partei (IBRP).

52. Im jüngsten Pamphlet, das vollständig der Kritik an unseren Positionen gewidmet war (Le Courant Communiste International: a contre courant du marxisme et de la lutte de classe“) widerspricht die PCI, von ihrer eigenen Prosa berauscht, ihren eigenen Grundsatzpositionen, indem sie argumentiert, dass „die IKS eine ganze Reihe von Phänomenen betrachtet, wie die Notwendigkeit für das Kapital, sich als Vorbedingung für eine neue Akkumulationsphase selbst regelmässig zu zerstören (...) für die IKS sind diese Phänomene angeblich neu und werden als Manifestationen der Dekadenz betrachtet (...) und nicht als Ausdruck der Weiterentwicklung und Stärkung der kapitalistischen Produktionsweise“(S. 8, eigene Übersetzung). Die PCI sollte uns klipp und klar mitteilen, ob „die imperialistischen Weltkriege zeigen, dass die Auflösungskrise des Kapitalismus unweigerlich der Tatsache geschuldet ist, dass der Kapitalismus endgültig in die Periode eingetreten ist, in der seine Expansion historisch das Wachstum der Produktivkräfte nicht mehr anregt, sondern ihre Akkumulation an wiederholten und wachsenden Zerstörungen bindet“– oder ob, wie sie in ihrem Pamphlet argumentiert und wie auch ihre grundsätzlichen Stellungnahmen andeuten, „die Notwendigkeit für das Kapital, sich regelmässig selbst zu zerstören“, keine „Manifestation der Dekadenz“ sei, sondern „der Ausdruck der Weiterentwicklung und Stärkung der kapitalistischen Produktionsweise“! Anscheinend hängt die programmatische Invarianz davon ab, was man sich wünscht, dass es geschehe!

53. Programme Communiste, Nr. 81; eigene Übersetzung.

54. PCI-Pamphlet, Nr. 29; eigene Übersetzung.

55. „Schlussendlich wurde die Partei auf den Grundlagen gegründet, die 1943 von der Fraktion von 1927 bis zum Krieg vertreten wurden, während die politischen Emigranten, jene, die die gesamte Arbeit der Linken Fraktion weiterführten, keine Initiative bei der Gründung der Internationalistischen Kommunistischen Partei 1943 ergriffen.“ (Einführung zur politischen Plattform der Internationalistischen Kommunistischen Partei, Publikationen der Internationalen Linkskommunisten, 1946, eigene Übersetzung).

56. „Was im dekadenten Kapitalismus historisch auf dem Spiel steht. Seit der Eröffnung der imperialistischen Phase des Kapitalismus zu Beginn des gegenwärtigen Jahrhunderts schwankte die Evolution zwischen imperialistischem Krieg und proletarischer Revolution. In der Epoche des Wachstums des Kapitalismus ebneten Kriege den Weg zur Expansion der Produktivkräfte durch die Zerstörung überholter Produktionsverhältnisse. In der Phase der kapitalistischen Dekadenz haben Kriege keine andere Funktion, als die Zerstörung eines Exzesses von Reichtum auszuführen...“ (Resolution über die Konstituierung des Internationalen Büros der Fraktionen der Kommunistischen Linken, in: Octobre, Nr. 1, Februar 1938, eigene Übersetzung); „Der Krieg 1914-18 markierte das Ende der Expansionsphase des kapitalistische Regimes… Die Endphase des Kapitalismus, die Phase des Niedergangs. Es ist grundsätzlich der Klassenkampf, welcher die historische Entwicklung bestimmt“ (Manifest des Internationalen Büros der Fraktionen der Kommunistischen Linken, Octobre Nr. 3, April 1938)

57. Die so genannte „Interne Fraktion der IKS“, die ein paar Mitglieder um sich sammelte, haben wir ausschlossen, da sie sich wie Spitzel aufführten.

58. s. Bulletin der IFIKS, Nr. 23; eigene Übersetzung.

59. Ebd. Eigene Übersetzung.

60. Wir antworteten bereits im Oktober 2002 auf die ersten Anzeichen dafür, dass das IBRP im Begriff war, den Begriff der Dekadenz preiszugeben (s. Die Dekadenz des Kapitalismus: ein fundamentales Konzept des Marxismus, in: Internationale Revue Nr. 31). Ein Jahr später machten wir eine substanzielle Kritik in der International Review Nr. 115 (s. für weiter Quellenangabe Fussnote 7).

61. s. International Review Nr. 115 (Vorstellung des IFIKS-Bulletins Nr. 22; eigene Übersetzung).

62. s. Bulletin der IFIKS, Nr. 18, 20, 22 und 24.

63. s. Prometeo, Nr. 8, Dezember 2003.

64. s. Bulletin der IFIKS, Nr. 24, April 2004, eigene Übersetzung.

65. Ebd.

66. Diese Elemente teilten die Analyse des Zerfalls, als sie noch Mitglieder der IKS waren (s. dazu unseren Artikel folgenden Artikel aus Seite 19 dieser Internationalen Revue Nr 34.

67. IKP-Pamphlet, Nr. 29, eigene Übersetzung.

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Kommunistische Linke [4]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [14]

Einleitung zur Resolution über die Entwicklung des Klassenkampfes: Ein Wendepunkt im Klassenkampf

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Die Beschleunigung der weltweiten Krise des Kapitalismus engt den Manövrierspielraum der Bourgeoisie zunehmend ein. Sie hat in ihrer Ausbeuterlogik keine andere Wahl, als immer frontalere und gewaltsamere Angriffe gegen das Lebensniveau der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit zu starten.

Gewaltsame und frontale Angriffe gegen die Arbeiterklasse

Jede nationale Bourgeoisie wendet überall dieselben Massnahmen an: Entlassungspläne, die keinen Sektor aussparen; Arbeitsplatzverschiebungen; Verlängerung der Arbeitszeit; beschleunigter Abbau des Sozialwesens (Rente, Gesundheit, Arbeitslosengelder), Angriffe auf die Löhne; beschleunigte Präkarisierung der Arbeit, des Wohnens; zunehmende Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Alle Arbeiter, ob noch in Beschäftigung oder bereits arbeitslos, noch im Arbeitsleben oder bereits in der Rente, ob in privater oder in öffentlicher Anstellung, sind damit ununterbrochen konfrontiert.

In Italien werden, nachdem gegen das Rentensystem schon ähnliche Massnahmen wie in Frankreich ergriffen worden sind und Fiat eine Entlassungswelle hinter sich hat, 3700 Stellen (mehr als ein Sechstel der Gesamtbelegschaft) bei der Fluggesellschaft Alitalia angekündigt.

In Deutschland hat die rot-grüne Regierung Schröder mit der Umsetzung des Sparprogramms Agenda 2010 begonnen: Senkung der Entschädigung von Pflegekosten, zusätzliche Schnüffelei bei den krankheitsbedingten Absenzen, steigende Krankenkassenbeiträge für alle Lohnempfänger, Erhöhung der Rentenbeiträge sowie Erhöhung des gegenwärtig bei 65 Jahren liegenden Rentenbeginns. Siemens lässt mit Zustimmung der Gewerkschaft IG-Metall und unter Androhung der Produktionsverlagerung nach Ungarn die Arbeitszeit ohne Lohnausgleich von 35 auf 40 bis 48 Stunden erhöhen. Andere grosse Unternehmen handeln ähnliche Abkommen aus: die Deutsche Bahn, Bosch, Thyssen-Krupp, Continental und die ganze Autobranche (BMW, Opel, Volkswagen, Daimler-Chrysler). Dieselbe Politik ist auch in den Niederlanden anzutreffen. Dieses Land stand lange im Ruf, der Begründer der Teilzeitarbeit zu sein. Der holländische Wirtschaftsminister hat nun angekündigt, dass die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche (ohne Lohnausgleich) ein gutes Mittel sei, um die nationale Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen.

In Deutschland wird ab 2005 Hartz IV in Kraft gesetzt und zeigt den Weg auf, auf dem sich alle Bourgeoisien, insbesondere diejenigen Europas, bewegen: Die Arbeitslosen sollen weniger lang und eine geringere Entschädigung erhalten und die Zulassungsbedingungen sollen verschärft werden. Auch soll der Zwang zur Annahme einer schlechter entlohnten Arbeit verstärkt werden.

Diese Angriffe sind nicht auf den europäischen Kontinent begrenzt, sondern erstrecken sich auf die ganze Welt. Der kanadische Flugzeugbauer Bombardier Aerospace sieht die Streichung von 2000 bis 3200 Arbeitsplätzen vor, das amerikanische Telekommunikationsunternehmen AT&T entlässt 12'300 Arbeiter, General Motors streicht 10'000 Stellen, was auch die europäischen Standorte in Schweden und Deutschland bedroht. Die Bank of America kündigt die Streichung von zusätzlichen 4500 Stellen zu den bereits im April bekannt gemachten 12'500 Stellen an. In den USA, wo die Arbeitslosenquote neue Rekordstände erreicht (auch dort spricht man bereits vom „Wachstum ohne Beschäftigung“), leben um die 36 Millionen Menschen (12,5% der Bevölkerung) unter der Armutsschwelle, von denen wiederum 1,3 Millionen im Lauf des Jahres 2003 in unzumutbare Lebensumstände abgerutscht sind. 45 Millionen Menschen haben keinerlei soziale Absicherung. In Israel befinden sich die Gemeinden im Bankrott und die Gemeindeangestellten erhalten seit mehreren Monaten keinen Lohn mehr. Von den schrecklichen Ausbeutungsbedingungen der Arbeiter in der Dritten Welt angesichts der entfesselten Konkurrenz auf den Weltmärkten bei der Senkung der Arbeitskosten wollen wir erst gar nicht sprechen.

Die meisten dieser Angriffe werden als unabdingbare „Reformen“ mit dem Ziel verkauft, dass die Arbeiter die „Opfer“ akzeptieren. Der kapitalistische Staat und jede nationale Bourgeoisie geben vor, dass sie mit diesen angeblichen „Reformen“ nur das allgemeine Wohl verteidigen würden, dass sie für die Zukunft unserer Kinder und aller zukünftigen Generationen handeln würden. Die Bourgeoisie gaukelt uns vor, dass sie die Arbeitsplätze, die Arbeitslosenversicherung, die Krankenversicherung, das Rentenwesen retten will, während sie gleichzeitig mit dem umfassenden Abbau des sozialen Schutzes der Arbeiterklasse beschäftigt ist. Damit die Arbeiter diese Opfer leichter schlucken, behauptet sie, dass diese „Reformen“ im Namen der „bürgerlichen Solidarität“ unabdingbar seien: Es soll damit eine grössere Gerechtigkeit und soziale Gleichheit gegen die Verteidigung von kleinlichen korporatistischen Interessen, gegen Einzelinteressen und Privilegien erzielt werden. Wenn die herrschende Klasse von grösserer Gleichheit spricht, so handelt es sich tatsächlich um eine Angleichung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse auf tieferer Ebene. Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert, wo im historischen Kontext eines noch in Ausdehnung begriffenen Kapitalismus die bürgerlichen Reformen weithin zu einer Verbesserung der Bedingungen für die Arbeiterklasse führten, ist der Kapitalismus heute nicht mehr reformierbar. Er kann den Arbeitern nichts mehr anbieten als Elend und wachsende Verarmung. All diese Pseudoreformen sind nicht Ausdruck eines prosperierenden Kapitalismus, sondern im Gegenteil seines unausweichlichen Zusammenbruchs.

Die Arbeiterklasse hat begonnen auf die Angriffe der Bourgeoisie zu antworten

Die Resolution, die wir nachfolgend veröffentlichen, wurde durch das Zentralorgan der IKS im vergangenen Juni angenommen.

Das zentrale Anliegen dieses Textes war aufzuzeigen, dass es einen „Wendepunkt“ in der Entwicklung des Klassenkampfes gibt, worauf wir in unseren Analysen der Lage seit dem Frühjahr 2003 in Frankreich und Österreich angesichts der von der Bourgeoisie angestrengten „Rentenreformen“ hingewiesen hatten. Wir nahmen uns mit diesem Text vor, gewissen Lesern und Sympathisanten, die Zweifel an der Gültigkeit einer solchen Analyse geäussert hatten, erste Elemente einer Antwort zu liefern.

Seither hat die Realität des Klassenkampfes selbst, mit den verschiedenen sozialen Bewegungen, den auf internationaler Ebene vorhandenen Wendepunkt im Klassenkampf sehr viel greifbarer bestätigt.

Trotz der Stärke und Allgegenwart des gewerkschaftlichen Korsetts und der permanenten Kontrolle, die die Gewerkschaften immer noch über die Kämpfe ausüben, trotz der Hemmungen, den Kampf aufzunehmen – einerseits auf Grund der Einschüchterungsmanöver der Bourgeoisie und andererseits in Folge eines mangelnden Vertrauens in die eigenen Kampfmittel – ist es doch klar, dass die Arbeiterklasse begonnen hat, auf die Angriffe der Bourgeoisie zu antworten, auch wenn diese Antwort noch lange nicht dasselbe Niveau erreicht hat wie die Angriffe, denen sie ausgesetzt ist. Bereits die Mobilisierung der italienischen Nahverkehrsangestellten oder der englischen Postangestellten und Feuerwehrleute im Winter 2003, dann der Arbeiter in den FIAT-Fabriken von Melfi in Süditalien im Frühjahr angesichts der Entlassungspläne waren trotz ihrer Schwächen und ihrer Isolierung Teil der Wiederbelebung der Kampfbereitschaft der Arbeiter. Doch heute vervielfachen sich die Beispiele und werden bedeutsamer. In Deutschland haben im vergangenen Juli mehr als 60'000 Arbeiter bei Daimler-Chrysler an Streiks und Protestdemonstrationen gegen die Erpressung und das Ultimatum der Direktion teilgenommen, das darauf hinauslief, entweder gewisse „Opfer“ bei ihren Arbeitsbedingungen zu erbringen, damit die Produktivität gesteigert werden kann – dies insbesondere bei den Arbeitern der Fabrik von Sindelfingen-Stuttgart (Baden-Württemberg) – sowie den Stellenabbau in Sindelfingen, Untertürkheim und Mannheim zu akzeptieren, oder aber die Verlegung der Produktion in andere Gebiete hinzunehmen. Daraufhin haben nicht nur Arbeiter von Siemens, Porsche, Bosch und Alcatel, die von ähnlichen Angriffen betroffen sind, an den Mobilisierungen teilgenommen, sondern zahlreiche Arbeiter von Daimler-Chrysler in Bremen, welche von der geplanten Verlegung der Produktion und der entsprechenden Stellen hätten profitieren sollen, die sich aber trotz dieser bewusst eingesetzten Spaltungsstrategie der Unternehmensdirektion den Demonstrationen angeschlossen haben, was einen sehr bedeutsamen Keim der Arbeitersolidarität darstellt. In Spanien haben die Werftarbeiter in Puerto Real in der Nähe von Cadiz (Andalusien) wie auch in Sestao (in der Region von Bilbao) vor mehreren Wochen einen sehr hart geführten Kampf begonnen, in dem sie versuchen, sich gegen Privatisierungspläne zu wehren, der auf einen Abbau von Tausenden von Stellen hinauslaufen würde. Diesen Plan setzt die Linksregierung trotz anders lautenden früheren Versprechen um.

Erst kürzlich, am 2. Oktober, versammelten sich in Berlin auf einer Demonstration, die die Gewerkschaften und Globalisierungsgegner organisiert hatten und die die „Montagsdemonstrationen“ gegen Hartz IV hätten abschliessen sollen, 45'000 Leute. Am gleichen Tag fand in Amsterdam eine riesige Demonstration gegen die Regierungspläne statt; schon zuvor hatte es bedeutende regionale Mobilisierungen gegeben. Offiziell war von 200'000 Teilnehmern die Rede; es handelte sich somit um die grösste Demonstration der letzten zehn Jahre in den Niederlanden. Trotz der offiziellen Parole, die die Demonstration beherrschte und lautete: „Nein zur Regierung, ja zu den Gewerkschaften!“, war die spontane Reaktion der Teilnehmer die „Überraschung“ und die „Verwunderung“ darüber, dass man so zahlreich war. Es ist im Übrigen daran zu erinnern, dass die Niederlande mit Belgien zu den ersten Ländern gehörte, in denen sich bereits im Herbst 1983 eine internationale Wiederaufnahme der Arbeiterkämpfe angekündigt hatte.

Jede dieser Bewegungen ist ein Zeichen für das Nachdenken in der Arbeiterklasse, das immer weitere Kreise zieht: Die Häufung, die Massivität und der Charakter der Angriffe der Bourgeoisie werden nicht nur dazu führen, die Illusionen zu zerstören, die die herrschende Klasse zu verbreiten versucht, sondern sie zwingen gleichzeitig die Ausgebeuteten auf der Ebene des Bewusstseins zu einer Beunruhigung und einer Infragestellung der Aussichten, die dieses auf Dauer immer unerträglichere Ausbeutungssystem ihnen und ihren Kindern, den zukünftigen Generationen, bietet. Die IKS ist sich ihrer Verantwortung bei der langsam vonstatten gehenden stattfindenden Reifung des Bewusstseins der Arbeiter über den Bankrott des kapitalistischen Systems bewusst und intervenierte entsprechend aktiv in diesen Kämpfen. Sie gab im Juli in Deutschland und im September in Spanien Flugblätter heraus, die breit verteilt werden konnten, um so direkt gegenüber der lokalen Lage zu intervenieren. Am 2. Oktober konnte sie sowohl in Amsterdam als auch in Berlin nationale Verkaufsrekorde mit ihrer Presse erzielen, wie dies auch schon im Frankreich während der Kämpfe im Frühjahr 2003 der Fall gewesen war, was ebenfalls die Merkmale und das Potenzial des gegenwärtigen Wendepunktes verdeutlicht.

Theoretische Fragen: 

  • Historischer Kurs [22]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [13]

Imperialistische Rivalitäten (Teil I)

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Anmerkungen zur Geschichte der imperialistischen Konflikte im Nahen Osten (Teil I)

Im Laufe der vergangenen hundert Jahre war der Nahe Osten oft Schauplatz imperialistischer Kriege.

Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten drei offene Kriege zwischen Israel und seinen feindlichen Nachbarn (1949, 1967, 1973), ein permanenter Kriegszustand zwischen Israel und den bewaffneten palästinensischen Kämpfern (mit den bewaffneten Terroristenbanden und Selbstmordattentätern auf der einen und dem israelischen Staatsterror auf der anderen Seite), ein acht Jahre langer Krieg zwischen Iran und Irak, unablässige Scharmützel zwischen kurdischen Nationalisten und dem türkischen Staat, 20 Jahre Krieg in Afghanistan, der Golfkrieg 1991 und die Besetzung des Iraks 2003, die nur eine Verschlimmerung des Kriegszustandes zur Folge hatte.

Kein anderer Teil der Erde zeigt deutlicher, dass der Kapitalismus nur durch Krieg und Zerstörung überleben kann, dass alle Länder – ob gross oder klein – imperialistisch sind, dass keine systemimmanente Auflösung der kapitalistischen Widersprüche möglich ist, dass der Krieg seine eigene Dynamik geschaffen hat und die Arbeiter sich auf dem internationalistischen Terrain vereinigen und gemeinsam jeden Nationalismus bekämpfen müssen.

Diese kurze Geschichte des Nahen Ostens hat zum Ziel aufzuzeigen, dass die Vielzahl der regionalen und lokalen Konflikte in dieser Region nur im Zusammenhang mit dem weltweiten Imperialismus verstanden werden kann.

Der Nahe Osten: Schnittpunkt der imperialistischen Interessen aller kapitalistischer Mächte

Zwischen dem Indischen Ozean und dem Mittelmeer, zwischen Asien, Europa und Afrika gelegen, war der Nahe Osten schon lange bevor seine Erdölvorkommen entdeckt wurden ein umstrittenes Gebiet.

Seit dem Beginn der Expansion des kapitalistischen Europas in diese Region haben die globalen strategischen Interessen die Politik der verschiedenen Mächte bestimmt. Diese haben sich nie nur wegen der Nachfrage nach diesem oder jenem Rohstoff die Stirn geboten.

Schon in seiner frühen Expansionsphase, noch bevor die industrielle Revolution voll in Schwung kam, beeilte sich der britische Kapitalismus, in Indien Fuss zu fassen und seinen französischen Rivalen von dort zu vertreiben. Bereits im frühen 19. Jahrhundert wurde Grossbritannien zur vorherrschenden Macht. Systematisch bemühte sich Grossbritannien darum, strategisch wichtige Stellungen auf dem Weg nach Indien zu besetzen. 1839 wurde Aden (im heutigen Yemen) besetzt und die Briten übernahmen die Polizeifunktion an der Golfküste, wo Piraten die Handelsentwicklung beeinträchtigt hatten.

Aber der Nahe Osten entwickelte sich schnell auch zu einem Expansionsziel des russischen Kapitalismus. Nach den Zusammenstössen mit Persien (1828) und seinen wiederholten Kriegen gegen das osmanische Reich – allein im 19. Jahrhundert führten Russland und die Türkei dreimal Krieg gegeneinander (1828, 1855 und 1877); im Krimkrieg von 1853–56 stiess Russland mit der Türkei, mit Grossbritannien, Frankreich und Italien am Schwarzen Meer zusammen – Russland versuchte, in Richtung Kaukasusregion, Kaspisches Meer und in Richtung der heute unter den Namen Kasachstan und Tadschikistan geläufigen Region zu expandieren. Sein Hauptziel war der Zugang zum Indischen Ozean via Afghanistan und Indien.

Um die russische Expansion in diese Gegend abzuwehren, nahm Grossbritannien zweimal Afghanistan ein (1839–1842 und 1878–1880). Nach seinem Sieg im zweiten Afghanistankrieg errichtete Grossbritannien ein Marionettenregime in diesem Land.[1]

Als sich Ende des 19. Jahrhunderts der deutsche Imperialismus in Richtung Balkan und Naher Osten ausbreitete, beschlossen Grossbritannien und Russland, ihren Konflikt über die Vorherrschaft in Asien beizulegen. Sie einigten sich darauf, das Gebiet rund um Afghanistan aufzuteilen, um dem deutschen Vorrücken Einhalt zu gebieten. Gleichzeitig installierte Grossbritannien 1893 in Afghanistan die „Durand-Linie“. Durand weitete entgegen den Absichten des afghanischen Königs die Grenze gen Osten durch einen schmalen Landstreifen, den Wakhan, aus, der sich durch das Pamirgebirge bis nach China erstreckt, um eine Pufferzone zwischen Russland und Indien zu installieren. 1907 unterzeichneten Grossbritannien und Russland einen Vertrag, der die Gebiete rund um den Iran aufteilte.

Ausserdem erzielte Grossbritannien 1882 einen strategisch bedeutenden Sieg, indem es Ägypten militärisch besetzte und seinen französischen Widersacher, der den 1869 eröffneten Suez-Kanal gebaut hatte, verdrängte. Der Suez-Kanal wurde zum Dreh- und Angelpunkt der britischen Vorherrschaft im Nahen Osten und war von allerhöchster Bedeutung für die britische Herrschaft in Indien und anderen Teilen Asiens und Afrikas. Noch 1956 entsandten Grossbritannien und Frankreich Truppen, um die Kontrolle über den Kanal zu verteidigen, und widersetzten sich damit den USA.

Von Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg hatte Grossbritannien die bestimmende Position im Nahen Osten inne und hielt damit seine europäischen Widersacher Russland und Frankreich in Schach.

Wie oben erwähnt, betrachteten die europäischen Kolonialmächte, als sie ihre Kolonien „einsammelten“ und ihre imperialistischen Ziele definierten, die Frage der Rohstoffe, ob Erdöl oder andere, nicht als vorrangig. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Erdölvorkommen des Nahen Ostens von geringer Bedeutung, und auch andere Rohstoffe spielten keine entscheidende Rolle.[2] Schon damals spielten eher strategische und militärische Erwägungen die Hauptrolle.

Die Natur der imperialistischen Konflikte entwickelte jedoch einen qualitativ neuen Charakter, als die Erdkugel Anfang des 20. Jahrhunderts zwischen den europäischen Grossmächten aufgeteilt war.

Sobald die europäischen Mächte bei dem Versuch, die Welt unter sich und weiteren aufzuteilen (Nordafrika unter Italien und Frankreich, Ägypten und Fachoda/Sudan unter Frankreich und Grossbritannien, Zentralasien unter Grossbritannien und Russland, der Ferne Osten zwischen Russland und Japan, China unter Japan und Grossbritannien, der Pazifik-

raum unter den USA und Japan, Marokko unter Deutschland und Frankreich), aneinander gerieten, nahmen auch die Spannungen im Nahen Osten stark zu.

Deutschland, das verspätet auf dem Weltmarkt erschienen war und verzweifelt versuchte, sich Kolonien anzueignen, konnte diese bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts nur noch Ländern entreissen, die sich bereits „etabliert“ hatten. Das hatte zur Folge, dass Deutschland vor allem versuchte, die Positionen der alleinigen Weltmacht, nämlich Grossbritanniens, zu untergraben. Schon Ende des 19. Jahrhunderts bemühte sich Deutschland darum, eine militärische Präsenz zu errichten. Doch wie wir gesehen haben, war der deutsche Imperialismus zwar in der Lage, die britischen Interessen in dieser Region zu bedrohen und zu untergraben, aber er war unfähig, die britische Herrschaft zu stürzen. Auch wenn er ein ständiger Herausforderer und „Unruhestifter“ besonders der britischen Interessen war, besass er, anders als der britische Imperialismus, nicht die Mittel, um seine Präsenz in der Region zu erzwingen.

Deutschland versuchte also, sich weiter östlich auf dem Balkan auszuweiten (es ist kein Zufall, dass der Erste Weltkrieg dort ausgelöst wurde, nachdem sich die imperialistischen Gegensätze in zwei Balkankriegen 1912–1913 zugespitzt hatten, während denen das osmanische Reich seine europäischen Gebiete an Bulgarien, Serbien, Griechenland und Albanien verlor). Das sich auflösende osmanische Reich wurde zum Angelpunkt der deutschen imperialistischen Ansprüche im Nahen Osten.

Während Marx noch die territoriale Einheit der Türkei als Barriere gegen die russischen Ambitionen im Nahen Osten unterstützt hatte, erkannte Rosa Luxemburg Anfang des 20. Jahrhunderts, dass sich die Weltlage verändert hatte und die Unterstützung der Türkei ein reaktionäres Projekt geworden war. „Dass bei der Vielfältigkeit der nationalen Fragen, welche den türkischen Staat zersprengen: der armenischen, kurdischen, syrischen, arabischen, griechischen (bis vor kurzem noch der albanischen und makedonischen), bei der Mannigfaltigkeit der ökonomisch-sozialen Probleme in den verschiedenen Teilen des Reiches (…) war für jedermann und namentlich für die deutsche Sozialdemokratie seit langem ganz klar, dass eine wirkliche Regeneration des türkischen Staates eine vollständige Utopie ist, und dass jede Anstrengung, diese verfaulten und zusammenbrechenden Ruinen aufrechtzuerhalten, nur ein reaktionäres Unternehmen darstellen kann.“[3]

Für den deutschen Imperialismus war die Türkei das Schlüsselland für seine Ambitionen.[4] Deutschland unterstützte die Türkei militärisch (es bildete den türkischen Generalstab aus, lieferte Waffen und unterzeichnete 1914 einen Beistandspakt für den Kriegsfall); es wurde auch zum wichtigsten Zulieferer finanzieller und technischer Hilfe. Darum hat „die Position des deutschen Imperialismus ihn in Gegensatz zu den anderen europäischen Staaten im Nahen Osten gebracht. Vor allem zu Grossbritannien. Die Errichtung strategischer Bahnen und die Stärkung des türkischen Imperialismus unter deutschem Einfluss wurden aber hier an einem der weltpolitisch empfindlichsten Punkte für Grossbritannien vorgenommen: in einem Kreuzungspunkt zwischen Zentralasien, Persien, Indien einerseits und Ägypten andererseits.“[5]

Eine weitere Ambition des deutschen Imperialismus zu jener Zeit war der Bau der Bagdadbahn, die den deutschen Truppen als elementarer logistischer Hebel dienen sollte.[6]

Der Zusammenbruch des osmanischen Reiches war entscheidend für die Ausbreitung der imperialistischen Konflikte sowohl auf dem Balkan als auch im Nahen Osten.

Bis zum Ersten Weltkrieg war der grösste Teil des Nahen Ostens unter der Kontrolle des osmanischen Reiches. In Asien kontrollierte die Türkei Syrien (einschliesslich Palästina), einen Teil der arabischen Halbinsel (die damals noch keine festen Grenzen hatte), einen Teil der Kaukasusregion und Mesopotamiens (bis nach Bassorah).

Der Zusammenbruch des osmanischen Reiches führte weder auf dem Balkan noch im Nahen Osten zur Bildung einer grossen Industrienation, die auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig gewesen wäre. Im Gegenteil, der imperialistische Druck führte zu einer Aufsplitterung, zur Bildung einer Reihe von „verkrüppelten Kleinstaaten“. Diese Kleinstaaten auf dem Balkan waren während des gesamten 20. Jahrhunderts und bis in unsere Tage ebenso Objekt der imperialistischen Rivalitäten zwischen den Grossmächten, wie der asiatische Teil der Trümmer des osmanischen Reiches, der Nahe Osten, Schauplatz andauernder imperialistischer Konflikte blieb.

Der Ferne Osten blieb, abgesehen von einigen weniger wichtigen Konflikten, abseits des Ersten Weltkrieges. Im Gegensatz dazu war der Nahe Osten schon immer Schlachtfeld konkurrierender Parteien gewesen.[7] Schon in der Zeit des Ersten Weltkrieges, lange bevor die Palästinafrage und die Frage eines jüdischen Staates gestellt wurde, war die Region ein imperialistisches Minenfeld gewesen. Wie wir aber sehen werden, trugen die Konflikte um Palästina und einen zionistischen Staat zu einer weiteren Verschärfung in einer Region bei, die ohnehin Brennpunkt imperialistischer Konflikte ist.

Der Fall des osmanischen Reiches und die imperialistischen Konstellationen am Ende des Ersten Weltkrieges

Während des Ersten Weltkrieges versuchten die europäischen Länder, ihre „Verbündeten“ in der Region für ihre Kriegsanstrengungen zu mobilisieren.

Grossbritannien, das zusammen mit Russland Deutschland und die Türkei bekämpfte, versuchte, die arabische Bourgeoisie für ein Bündnis gegen die osmanischen Herrscher zu gewinnen. Es ermutigte alle Unabhängigkeitsbestrebungen gegen die türkischen Herrscher, stachelte Stämme der Hedjas (im westlichen Teil der arabischen Halbinsel) auf und unterstützte Sherif Hussein aus Mekka.

Bereits im Ersten Weltkrieg dienten die lokalen Führer als Schachfiguren in den Machtkämpfen der europäischen Mächte. Die Briten konnten sich mit Hilfe von Lawrence von Arabien, der eine wichtige Rolle als Verbindungsoffizier zu den arabischen Rebellen spielte, deren Kampf gegen die Türken zunutze machen. Auch die jüdischen Einwanderer wurden als Kanonenfutter für den englischen Imperialismus rekrutiert.

Nachdem Deutschland die Türkei im Februar 1915 dazu gedrängt hatte, eine Offensive gegen die englischen Stellungen in Ägypten zu führen, um sich des Suez-Kanals zu bemächtigen (eine Offensive, die bereits nach wenigen Tagen aus Mangel an logistischer Unterstützung und an Waffenlieferungen scheiterte), erwies sich die Türkei als die grosse Verliererin des Krieges.

Dies entfachte umgekehrt die imperialistischen Gelüste sowohl der europäischen Mächte als auch der lokalen arabischen Herrscher. In der Hoffnung, von der Gelegenheit zu profitieren, lieferten sich im Sommer 1917 die von Sherif Hussein kommandierten arabischen Truppen ein richtiggehendes Wettrennen mit der englischen Armee, um sich Teile des türkischen Gebietes zu schnappen. Dieselben Truppen marschierten im Oktober 1918 in Damaskus ein und riefen ein arabisches Königreich aus. So zeigten die arabischen Führer ihre eigenen imperialistischen Ambitionen, nachdem sie als Kanonenfutter für die englischen imperialistischen Interessen in der Türkei gedient hatten. Sie wollten ein „panarabisches Reich“ mit Damaskus als Hauptstadt errichten. Doch diese nationalistischen Ambitionen stiessen sofort mit den englischen und französischen Interessen zusammen: Es gab keinen Raum für die arabischen imperialistischen Ansprüche.

Als das osmanische Reich auseinanderbrach und die deutsch-türkische Niederlage sich abzeichnete, begannen Frankreich und Grossbritannien Pläne zu schmieden, um den Nahen Osten unter sich aufzuteilen.

Die arabischen Staaten wurden von der Aufteilung der Beute ausgeschlossen. Die Bildung einer grossen arabischen Nation, die die Überbleibsel des kollabierten osmanischen Reiches umfassen würde, war historisch unmöglich geworden. Die Hoffnungen der herrschenden Klasse Arabiens, eine grosse arabische Nation aufzubauen, waren zum Scheitern verurteilt, weil die europäischen imperialistischen Haie keinen lokalen Widersacher dulden konnten.

Im Frühjahr 1915 teilten die europäischen Mächte Grossbritannien, Frankreich, Russland, Italien und Griechenland nach Geheimverhandlungen den Nahen Osten unter sich auf. Grossbritannien und Frankreich unterzeichneten im Mai 1916 ein Geheimabkommen (Sykes-Picot-Vertrag), demzufolge

– Grossbritannien die Kontrolle über Haifa, Acca, die Negev-Wüste, Südpalästina, den Irak, die arabische Halbinsel, sowie Transjordanien (heute: Jordanien),

– Frankreich den Libanon und Syrien bekommen erhalten sollte.

Im April 1920 erhielt Grossbritannien das Mandat des Völkerbundes für Palästina, Jordanien, Iran, Irak; Frankreich erhielt das Mandat für Syrien und Libanon und trat die Kontrolle über Mossul (mit seinen reichen Ölquellen) gegen englische Zugeständnisse in Elsass-Lothringen und Syrien ab.

Von da an waren Deutschland als geschlagenes Land und Russland nach der Oktoberrevolution 1917 für eine lange Zeit auf der imperialistischen Bühne im Nahen Osten nicht mehr präsent. Die Zahl der Widersacher in der Gegend sank beträchtlich. Grossbritannien und Frankreich wurden die herrschenden Kräfte, wobei Grossbritannien klar die stärkste Stellung innehielt. Die bestimmenden Kräfte waren während des Krieges und bis in die 30er-Jahre europäisch, die USA spielten noch keine bedeutende Rolle.

Um sein Kolonialreich zu verteidigen, das von anderen Mächten untergraben wurde, musste Grossbritannien ein besonderes Augenmerk auf die strategisch hoch bedeutende Region von Palästina legen. Palästina bedeutete für Grossbritannien die Verbindung zwischen dem Suez-Kanal und dem zukünftigen britischen Mesopotamien. Keiner anderen Macht, weder einer europäischen noch einer arabischen, sollte es erlaubt werden, einen Keil zwischen Mesopotamien und den Suez-Kanal zu treiben. 1916 erklärte Grossbritannien die Kontrolle über Palästina zum ausschliesslichen Ziel seiner Politik.

Bis zum Ersten Weltkrieg, solange das osmanische Reich Bestand hatte, wurde Palästina stets als Teil Syriens angesehen. Aber mit dem Mandat Grossbritanniens für Palästina hatten die imperialistischen Mächte eine neue „Einheit“ geschaffen. Wie alle im Laufe der Dekadenz des Kapitalismus neu geschaffenen „Einheiten“ war auch sie dazu bestimmt, zum permanenten Schauplatz von Konflikten und Kriegen zu werden.

Die lokalen palästinensischen Herrscher waren noch schwächer als die anderen arabischen Herrscher. Aufgrund ihrer wirtschaftlichen Rückständigkeit verfügten sie weder über eine industrielle Basis noch über Finanzkapital, sie hatten keinerlei wirtschaftliches Potenzial und konnten sich nur auf militärische Mittel stützen, um ihre Interessen zu verteidigen.

1919 wurde der erste palästinensische Nationalkongress einberufen und Amin al-Hussein wurde zum Mufti von Jerusalem ernannt. Die palästinensischen Nationalisten nahmen Kontakt mit Frankreich auf, um die englische Herrschaft in Palästina ins Wanken zu bringen. Mit der Hilfe Syriens und der französischen Besatzungstruppen in Syrien wurde ein militärischer Aufstand gegen die Briten organisiert, der indes von der britischen Armee schnell niedergeschlagen wurde.

Gleichzeitig wurden die palästinensischen Herrscher, die ihre Unabhängigkeit in einer Welt beanspruchten, die keinen Raum für einen neuen Nationalstaat bot, mit einem neuen, vom Ausland kommenden „Widersacher“ konfrontiert.

Nach der Balfour-Erklärung von Grossbritannien im November 1917, die Unterstützung bei der Errichtung einer jüdischen Heimstatt in Palästina versprach, nahm die Zahl der jüdischen Einwanderer beständig zu. Die Zionisten begannen einen blutigen Überlebenskampf gegen die palästinensischen Herrscher.

Grossbritannien nutzte die jüdischen Siedler an zwei Fronten. Nachdem es während des Krieges im Kampf gegen den türkischen Rivalen das „Zion Mule Corps“ seiner Armee angegliedert hatte, benutzte Grossbritannien nun die jüdischen Nationalisten gleichzeitig gegen seinen Hauptgegner Frankreich und gegen die arabischen Nationalisten. So stiftete Grossbritannien die Zionisten dazu an, vor dem Völkerbund zu erklären, dass die Juden in Palästina weder französischen noch internationalen, sondern nur britischen Schutz wünschten.

Obwohl in Rivalität miteinander verbunden, handelten Frankreich und Grossbritannien resolut und gemeinsam gegen lokale arabische Nationalisten, sobald sich deren Ruf nach nationaler Unabhängigkeit erhob. So setzten sie nun militärische Mittel ein, um ihre Unabhängigkeitsansprüche der arabischen Nationalisten zu unterdrücken, nachdem sie sich noch während des 1. Weltkrieges gegen die Türken ihrer bedient hatten. Kaum hatte Scheich Feisal im Oktober 1918 in Damaskus ein „unabhängiges arabisches Reich“ proklamiert, das Palästina umfassen sollte, unterwarfen ihn im Juli 1920 französische Truppen – wobei sie Bombenflugzeuge gegen die arabischen Nationalisten einsetzten.

Im März 1918 fanden in Ägypten eine Reihe von Protesten von ägyptischen Nationalisten, Arbeitern und Bauern statt, die soziale Reformen forderten. Sie wurden von der britischen und ägyptischen Armee gemeinsam niedergeworfen, wobei mehr als 3.000 Ägypter getötet wurden. Auch 1920 wurde eine Protestbewegung im irakischen Mossul von Grossbritannien niedergeschlagen.

Die lokale Bourgeoisie hatte in keinem der arabischen Länder oder Protektorate die Mittel, unabhängige, vom kolonialen Zugriff und den „Schutzmächten“ befreite Staaten zu errichten.

Die Forderung nach nationaler Befreiung war nichts anderes als eine reaktionäre Forderung. Während Marx und Engels einige nationalistische Bewegungen unter der einzigen Bedingung unterstützt hatten, dass die Bildung der Nationalstaaten das Wachstum und die Verstärkung der Arbeiterklasse beschleunigen würde, damit Letztere als Totengräber des Kapitalismus handeln konnte, zeigten die Entwicklungen im Nahen Osten dagegen, dass es keinen Raum für die Bildung einer neuen arabischen oder palästinensischen Nation gab. Nachdem der Kapitalismus in die Phase seines Niederganges eingetreten war, konnten – wie auch überall sonst auf der Welt – keine nationale Fraktion des Kapitals eine fortschrittliche Rolle mehr spielen. Unfähig, neue kapitalistische Absatzmärkte zu erobern, konnten die Widersacher nur militärisch reagieren: Die Kolonialmächte verhinderten im Nahen Osten die Bildung einer neuen arabischen Nation, und die lokalen arabischen Bourgeoisien widersetzten sich den Versuchen, einen neuen palästinensischen Nationalstaat zu errichten.

Um die Situation im Nahen Osten nach dem Niedergang des osmanischen Reiches und dem Ende des Ersten Weltkriegs zusammenzufassen, möchten wir folgende Punkte hervorheben:

– Die beiden europäischen Mächte Frankreich und Grossbritannien, die in Rivalität zueinander standen und ihre „Protégés“ gewählt hatten, beherrschten die Region.

– Deutschland und Russland mit ihren starken imperialistischen Ambitionen in der Region wurden zurückgedrängt.

– Die arabische Bourgeoisie war nicht in der Lage, einen lebensfähigen panarabischen Nationalstaat zu schaffen.

– Die neu geschaffene Einheit, das Protektorat Palästina, mit einer verkrüppelten, rückständigen herrschenden Klasse Palästinas an der Spitze, geriet in Konflikt mit einer „Schutz“macht (Grossbritannien), die dazu nicht in der Lage war, und mit dem neuen zionistischen Rivalen, der von aussen einsickerte.

Die arabische Bourgeoisie, die mit den Kolonialmächten aneinander geriet, die sie daran hindern wollten, einen neuen, lebensfähigen Staat zu bilden, widersetzte sich ihrerseits der Bildung einer neuen palästinensischen „Einheit“.

Die USA, Hauptnutzniesser des Ersten Weltkrieges, waren noch nicht bereit. Im Zentrum der imperialistischen Rivalitäten stand nicht die Eroberung von bestimmten Rohstoffen, sondern die Eroberung strategischer Positionen.

Wir sehen, dass die Situation im Nahen Osten die von Rosa Luxemburg während des Ersten Weltkrieges entwickelte Analyse voll und ganz bestätigte: „Der Nationalstaat, die nationale Unabhängigkeit und Einheit, das war das ideologische Banner, unter dem sich im letzten Jahrhundert die grossen bürgerlichen Staaten Zentraleuropas bildeten. Der Kapitalismus ist nicht vereinbar mit dem Partikularismus der Kleinstaaten, mit einem politischen und wirtschaftlichen Zerbröckeln; er braucht ein grösstmögliches zusammenhängendes Gebiet mit einem einheitlichen Zivilisationsniveau, um sich auszubreiten; ohne diese Voraussetzung könnte man weder die gesellschaftlichen Bedürfnisse auf die von der kapitalistischen Warenproduktion erzielte Ebene heben, noch würde der Mechanismus der modernen bürgerlichen Herrschaft funktionieren. Vor ihrer Ausbreitung über die ganze Erdkugel hat die kapitalistische Wirtschaftsweise versucht, sich ein zusammenhängendes Gebiet in den nationalen Grenzen eines Staates zu schaffen (…) Die nationale Phrase dient heute nur dazu, mehr schlecht als recht imperialistische Ansprüche zu maskieren, wenn sie nicht als Kriegsruf in den imperialistischen Konflikten verwendet wird, als einziges und letztes ideologisches Mittel, um die Zustimmung der Volksmassen zu fangen und sie die Rolle des Kanonenfutters in den imperialistischen Kriegen spielen zu lassen.“[8]

DE

Fußnoten:

1. Friedrich Engels, Angriff“, in: MEW Bd. 14, S. 68

2. 1900 betrug der Erdölverbrauch etwa 20 Millionen Tonnen und diese Nachfrage wurde durch die amerikanischen und russischen Quellen abgedeckt (Hauptförderregion war der Golf von Mexiko). Die verschärfte Militarisierung und die Ablösung der Kohle durch Öl in der Industrie und als Treibstoff für Lokomotiven erhöhten die Nachfrage stark. Zwischen 1900 und 1910 hat sich die Erdölproduktion mehr als verdoppelt und erreichte 43.8 Millionen Tonnen. Die Erfindung des Dieselmotors für den Lokomotivantrieb und die Dampfschiffe schufen die technische Grundlage, aber erst die Erfordernisse einer militarisierten Wirtschaft führten zur Verdoppelung der Rohölproduktion. Vor dem I. Weltkrieg spielte der Nahe Osten lediglich eine zweitrangige Rolle in der Erdölversorgung des Weltmarktes. Erst nach dem I. Weltkrieg stieg die Ölförderung im Nahen Osten beträchtlich an.

3. Rosa Luxemburg, Junius-Broschüre, Absatz 4, in Gesammelte Werke Bd 4, S. 83ff.

4. Der deutsche Imperialismus schwankte zwischen der Unterstützung für die Türkei und für die nationalistischen jüdischen Siedler. Wenn die Zionisten mit deutscher Unterstützung eine jüdische Heimstatt in Palästina eingerichtet hätten, hätte dies einen Konflikt mit dem osmanischen Reich hervorgerufen. Doch Deutschland wollte es nicht riskieren, seine Verbindung mit der Türkei zu lösen, weil diese sein wichtigster Verbündeter im weltweiten Machtkampf mit Grossbritannien war.

5. Rosa Luxemburg, Junius-Broschüre, Absatz 4, in Gesammelte Werke Bd 4, S. 83ff. Rosa Luxemburg war eine der Ersten, die die historischen Folgen der neuen Bedingungen, die der Anfang der Dekadenz mit sich brachte, erfasste. Schon in ihrem Buch über Die wirtschaftliche Entwicklung Polens 1898 zeigte sie, dass die Kommunisten die Bildung eines polnischen Staates nicht mehr unterstützen konnten. In dem Text Die nationalen Kämpfe in der Türkei und die Sozialdemokratie 1896 und in Die nationale Frage und die Autonomie 1908 zeigte sie den historischen Wandel auf, der zwischen dem Aufstieg und dem Niedergang eingetreten war und jede Unterstützung für die Türkei verunmöglichte.

6. Rohrbach schrieb in seinem Buch Die Bagdadbahn“: „Grossbritannien kann von Europa aus nur an einer Stelle zu Lande angegriffen und schwer verwundet werden: von Ägypten (…) Die Türkei kann aber nur unter der Voraussetzung an Ägypten denken, dass sie über ein ausgebautes Eisenbahnsystem in Kleinasien und Syrien verfügt. Die Bagdadbahn war von Anfang an dazu bestimmt, Konstantinopel und die militärischen Kerngebiete des türkischen Reiches in unmittelbare Verbindung mit Syrien und den Provinzen am Euphrat und Tigris zu bringen. Natürlich war in diesem Plan das Projekt inbegriffen, türkische Truppen nach Ägypten zu transportieren.“ (Paul Rohrbach, zitiert nach Rosa Luxemburg, in: Der Krieg und die deutsche Politik).

7. Obwohl der Nahe Osten ein Nebenkriegsschauplatz des Ersten Weltkrieges war, liessen von den 20 Millionen Opfern etwa 350.000 aus dem Nahen Osten ihr Leben in diesem Krieg. Die türkische und alliierte Seeblockade der arabischen Häfen sowie Epidemien und Hungersnöte erforderten zahlreiche Tote. 30 Prozent der ägyptischen Männer wurden von der britischen und australischen Armee eingezogen, um als Handlanger zu dienen.

8. Rosa Luxemburg, Junius-Broschüre, Absatz 4, in Gesammelte Werke Bd 4, S. 83ff.

Geographisch: 

  • Naher Osten [23]

Theoretische Fragen: 

  • Imperialismus [24]

Resolution über die Entwicklung des Klassenkampfes

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Auf seiner Plenarsitzung im Herbst 2003 hat das Zentralorgan der IKS hervorgehoben, dass ein Wendepunkt in der Entwicklung des Klassenkampfes eingetreten ist:

„Die breiten Mobilisierungen vom Frühling 2003 in Frankreich und in Österreich stellen in den Klassenkämpfen seit 1989 einen Wendepunkt dar. Sie sind ein erster wichtiger Schritt in der Wiederaneignung der Kampfbereitschaft der Arbeiter nach der längsten Rückflussperiode seit 1968.“ Aber dieser Bericht, der auf dieser Plenarsitzung verabschiedet wurde, stellte fest: “Sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene befindet sich die Kampfbereitschaft (...) noch im embryonalen Stadium und ist noch sehr heterogen.“ Und er fuhr fort mit der Feststellung: „Auf viel allgemeinerer Ebene muss man in der Lage sein, zwischen einer Situation zu unterscheiden, in der man eines Morgens aufwacht und die Welt ist nicht mehr dieselbe wie am Vortag, und Änderungen, die von der Allgemeinheit beinahe unbemerkt vor sich gehen wie beispielsweise der Gezeitenwechsel. Die gegenwärtige Entwicklung gehört unbestreitbar letzterer an. In diesem Sinn bedeuten die Mobilisierungen vor Kurzem gegen die Angriffe auf das Rentenwesen in keiner Weise eine unmittelbare und spektakuläre Anpassung der Situation ...“

Acht Monate nach der Verabschiedung dieser Perspektiven durch unsere Organisation ist es notwendig, sich zu fragen, inwieweit sie sich bewahrheitet haben. Das ist das Ziel der vorliegenden Resolution.

1) Was sich zweifellos bestätigt hat, ist, dass es „in keiner Weise eine unmittelbare und spektakuläre Anpassung der Situation“ gegeben hat, denn seit den Kämpfen im Frühjahr 2003 in verschiedenen europäischen Ländern, insbesondere in Frankreich, gab es keine massive oder bemerkenswerte Bewegung im Klassenkampf. Auf dieser Grundlage gibt es kein entscheidendes Element, das es erlauben würde, die Idee zu bestätigen, wonach die Kämpfe des Jahres 2003 tatsächlich einen Wendepunkt in der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen darstellen. Insofern kann die Überzeugung, dass unsere Analyse richtig ist, nicht auf der Beobachtung der Situation der Arbeiterkämpfe im Laufe des letzten Jahres beruhen, sondern muss auf der Untersuchung aller Elemente der historischen Situation fussen, die die gegenwärtige Phase des Klassenkampfs kennzeichnen. Eine solche Untersuchung beruht darauf, dass man sich den Rahmen der Analyse vergegenwärtigt, den wir uns für die gegenwärtige historische Periode gegeben haben.

2) Im Rahmen dieser Resolution können wir notgedrungen nur in zusammengefasster Form die für die Lage des Klassenkampfes wesentlichen Elemente darlegen:

– Insgesamt ist die Weltlage seit dem Ende der 1960er-Jahre durch das Ende der Konterrevolution gekennzeichnet, die im Laufe der 1920er-Jahre auf das Proletariat niedergegangen war. Das historische Wiederaufflammen der Kämpfe, das insbesondere durch den Generalstreik im Mai 1968 in Frankreich, den „heissen Herbst“ von 1969 in Italien, den „Cordobazo“ in Argentinien im gleichen Jahr, die Streiks im Winter 1970–71 in Polen usw. gekennzeichnet war, eröffnete den Kurs in Richtung Klassenauseinandersetzungen: Trotz der Verschärfung der Wirtschaftskrise war die Bourgeoisie nicht imstande. ihre „traditionelle“ Antwort zu geben, d.h. einen Weltkrieg auszulösen, da die ausgebeutete Klasse aufgehört hatte, unter den Fahnen ihrer Ausbeuter zu marschieren.

– Dieser historische Kurs hin zu Klassenkonfrontationen, und nicht Richtung Weltkrieg, hat sich insofern gehalten, als das Proletariat weder eine direkte noch eine tiefe ideologische Niederlage erlitten hat, die es für die Sache der Bourgeoisie, z.B. für die Demokratie oder den Antifaschismus, mobilisiert hätte.

– Aber diese historische Wiederaufnahme der Kämpfe ist insbesondere während der 1980er-Jahre auf eine ganze Reihe von Schwierigkeiten gestossen, die einerseits durch die von der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse inszenierten Manöver, andererseits aber auch durch den organischen Bruch verursacht wurden, den die kommunistische Avantgarde aufgrund der Konterrevolution erlitt (keine bzw. verspätete Entstehung der Klassenpartei, mangelnde Politisierung der Kämpfe). Einer der wachsenden Faktoren bei den Schwierigkeiten, die die Arbeiterklasse betreffen, ist die Zuspitzung des Zerfalls der todkranken kapitalistischen Gesellschaft.

– Gerade der spektakulärste Ausdruck dieses Zerfalls, nämlich der Zusammenbruch der so genannten „sozialistischen“ Regimes und des Ostblocks Ende der 1980er-Jahre, markierte den Beginn eines bedeutenden Rückgangs des Bewusstseins in der ganzen Klasse aufgrund des Einflusses der dadurch ermöglichten Kampagnen über den „Tod des Kommunismus“.

– Dieser Rückzug der Klasse wurde Anfang der 1990er-Jahre noch durch eine ganze Reihe von Ereignissen vertieft, die das Gefühl der Machtlosigkeit der Arbeiterklasse auf die Spitze trieben:

– die Krise und der Krieg am Persischen Golf 1990–91;

– der Krieg in Jugoslawien seit 1991;

– die zahlreichen anderen Kriege und Massaker in vielen anderen Gegenden der Welt (Kosovo, Ruanda, Timor, etc.), die meist mit Beteiligung der Grossmächte unter der Losung der „humanitären Prinzipien“ stattfanden.

– Der massive Einsatz humanitärer Themen(wie zum Beispiel 1999 im Kosovo), bei denen die grausamsten Ausdrücke des Zerfalls (wie „die ethnische Säuberung“) ausgenutzt wurden, stellte einen zusätzlichen Faktor der Verunsicherung der Arbeiterklasse dar, insbesondere in den fortgeschrittenen Ländern, wo die Klasse aufgefordert wurde, ihren Regierungen für die militärischen Abenteuer Beifall zu spenden.

– Die Anschläge vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten haben es der Bourgeoisie der fortgeschrittenen Länder erlaubt, eine weitere Ladung an Mystifikationen über das Thema der „terroristischen Bedrohung“, des „notwendigen Kampfes“ gegen diese Bedrohung zu verbreiten – eine Mystifikation, die es insbesondere ermöglichte, den Krieg in Afghanistan Ende 2001 und den Krieg im Irak von 2003 zu rechtfertigen.

– Abgesehen davon erhielt die Wirtschaftskrise, deren unvermeidliche Verschärfung nach 1989 eine Arznei gegen das Gift der Kampagnen über den „Bankrott des Kommunismus“ und die „Überlegenheit des liberalen Kapitalismus“ hätte sein können, im Laufe der 1990er-Jahre einen Aufschub (der sich in einem gewissen Rückgang der Arbeitslosigkeit niederschlug); so hielten sich die Illusionen, die durch diese Kampagnen geschaffen wurden, während dieser Jahre auch mit der Unterstützung der Propaganda über die „Erfolgsgeschichten“ der asiatischen „Drachen“ und „Tiger“ und über die „Revolution der neuen Technologien“.

– Schliesslich zogen in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre in den meisten Ländern linke Parteien in die Regierungen ein, was einerseits durch den Rückgang des Bewusstseins und der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse, andererseits durch die relative Beruhigung der Wirtschaftskrise ermöglicht wurde; dieser Einzug der Linken in die Regierung erlaubte es der herrschenden Klasse (und dies war das Hauptziel dieser Politik), eine Reihe von wirtschaftlichen Angriffen gegen die Arbeiterklasse zu richten, ohne dabei grössere Mobilisierungen derselben zu riskieren; solche Mobilisierungen sind eine der Bedingungen dafür, dass die Klasse das Selbstvertrauen zurückgewinnen kann.

3) Erst auf der Grundlage dieser Elemente in ihrer Gesamtheit kann man feststellen, dass es wirklich einen Wendepunkt im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen gibt. Man kann sich einen ersten Begriff davon machen, wenn man die unterschiedliche Situation während zweier Momente in einem derjenigen Länder vergleicht, die seit 1968 (aber auch schon während dem 19. Jahrhundert) so etwas wie ein „Labor“ des Klassenkampfes und der dagegen gerichteten Manöver der Bourgeoisie dargestellt haben: in Frankreich. Die beiden wichtigsten Momente waren einerseits die Kämpfe im Herbst 1995 insbesondere im Transportsektor gegen den „Juppé-Plan“ zur Reform der Sozialversicherung und andererseits die Streiks im Frühjahr 2003 im öffentlichen Dienst gegen die Rentenreform, die in diesem Bereich eine Erhöhung des Rentenalters und eine Rentenkürzung bedeutete.

Wie die IKS schon seinerzeit unterstrich, waren die Kämpfe von 1995 die Fortsetzung eines Manövers, das von den verschiedenen Teilen der Bourgeoisie ausgearbeitet worden war und ganz grundsätzlich darauf abzielte, den Ruf der Gewerkschaften in einer Zeit aufzuwerten, wo die wirtschaftliche Lage nicht unmittelbar zu heftigen Angriffen zwang, damit die Gewerkschaften in Zukunft die Kämpfe des Proletariats wirksamer kanalisieren und sabotieren können.

Demgegenüber waren die Streiks im Frühling 2003 die Reaktion auf einen massiven Angriff auf die Arbeiterklasse, der für die Bourgeoisie notwendig geworden war, um der kapitalistischen Krise entgegenzutreten. In diesen Kämpfen zielte die Intervention der Gewerkschaften nicht darauf ab, ihr Image aufzupolieren, sondern die Bewegung so stark wie möglich zu sabotieren und sicherzustellen, dass der Kampf in einer schmerzhaften Niederlage endete.

Trotz dieser Unterschiede gab es auch Merkmale, die den beiden Episoden des Klassenkampfes gemeinsam waren: Der Hauptangriff, der alle Branchen oder mindestens grosse Sektoren der Arbeiterklasse traf (1995 der „Juppé-Plan“ zur Reform der Sozialversicherung, 2003 die Rentenreform im öffentlichen Dienst), wurde von einem spezifischen Angriff auf einen bestimmten Sektor begleitet (1995 die Reform der Altersrenten der Eisenbahner, 2003 die „Dezentralisierung“ eines Teils des Personals im Unterrichtswesen). Diese spezifisch angegriffenen Sektoren traten aufgrund ihrer gesteigerten und breiteren Kampfbereitschaft als Speerspitze der Bewegung auf. Nach einigen Streikwochen wurden diesen spezifischen Sektoren „Zugeständnisse“ gemacht, die die betroffenen Sektoren dazu bewegten, die Arbeit wieder aufzunehmen, was schliesslich einen allgemeinen Streikabbruch begünstigte, da ja die „Avantgarde“ selbst den Kampf aufgegeben hatte. Im Dezember 1995 führte die Rücknahme der Reform der Altersrenten der Eisenbahner zum Abbruch der Bewegung; 2003 trug der „Rückzug“ der Regierung bei den „Dezentralisierungs“-Massnahmen gegenüber bestimmten Teilen des Personals des Erziehungswesens zur Wiederaufnahme der Arbeit im Ausbildungssektor bei.

Doch traf die Wiederaufnahme der Arbeit in den beiden Episoden beileibe nicht auf die gleiche Stimmung:

– Im Dezember 1995 herrschte ein „Siegesgefühl“ vor, obgleich die Regierung am „Juppé-Plan“ festhielt (der zudem die Unterstützung einer der wichtigsten Gewerkschaften, der CFDT, erhalten hatte). Wenigstens in einem Punkt, bei den Altersrenten der Eisenbahner, musste die Regierung schlicht und einfach ihren Plan aufgeben;

– Ende Frühjahr 2003 hingegen wurden die wenigen Zugeständnisse, die hinsichtlich des Status bestimmter Kategorien des Personals im Unterrichtswesen gemacht wurden, keineswegs als Sieg empfunden (dies um so weniger, als die Hauptmasse, die Lehrer, von den Massnahmen und somit auch von deren Rücknahme überhaupt nicht betroffen waren), sondern als Ernüchterung angesichts der Tatsache, dass die Regierung nur gerade so viel nachgeben wollte; und das Gefühl der Niederlage wurde zusätzlich durch die Ankündigung der Behörden verstärkt, dass die Streiktage im Gegensatz zum bisherigen Brauch im öffentlichen Dienst vollumfänglich vom Lohn abgezogen sollten.

Wenn man versucht, eine Gesamtbilanz über diese beiden Episoden des Klassenkampfes zu ziehen, kann man die folgenden Punkte hervheben:

– 1995 begünstigt das in der Arbeiterklasse weitverbreitete Gefühl des Sieges die Erneuerung der Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften merklich. (Dieses Phänomen betrifft nicht allein Frankreich, sondern die meisten europäischen Länder, hauptsächlich Belgien und Deutschland, wo man ähnliche bürgerliche Manöver wie jenes in Frankreich erleben konnte. Wir haben in der Presse darauf hingewiesen.)

– 2003 führt das starke Gefühl der Niederlage in den Frühlingstreiks (in Frankreich, aber ebenso in anderen Ländern wie in Österreich) zu keiner grösseren Diskreditierung der Gewerkschaften, denen es gelungen war, eine Entlarvung zu vermeiden, und die in gewissen Fällen sogar als „kämpferischer als die Basis“ erschienen. Dennoch kündigt dieses Gefühl der Niederlage den Beginn eines Prozesses an, in dem die Gewerkschaften Federn lassen müssen, in dem die Vervielfachung ihrer Manöver es erlauben wird aufzuzeigen, dass unter ihrer Führung der Kampf immer in einer Niederlage enden wird und dass ihr Spiel genau darauf abzielt.

In diesem Sinn sind die Perspektiven für die Entwicklung der Kämpfe und des Bewusstseins des Proletariats nach 2003 viel besser als nach 1995, und zwar aus folgenden Gründen:

– Das Schlimmste für die Arbeiterklasse ist nicht eine offene Niederlage, sondern das Gefühl eines Scheinsieges nach einer reellen Niederlage. Das Gefühl eines solchen „Sieges“ (gegen den Faschismus und für die Verteidigung des „sozialistischen Vaterlandes“) bildete das wirksamste Mittel, um das Proletariat während vier Jahrzehnten Mitte des 20. Jahrhunderts in die Konterrevolution zu versenken.

– Die Gewerkschaften als Hauptkontrollinstrument der Arbeiterklasse und als Sabotagemittel ihrer Kämpfe sind in eine Schwächephase geraten.

4) Auch wenn man die Existenz eines Wendepunktes in den Kämpfen und im Bewusstsein der Arbeiterklasse empirisch durch die einfache Überprüfung der Unterschiede zwischen der Situation 2003 und 1995 feststellen kann, stellt sich dennoch die Frage, weshalb dieser Wendepunkt jetzt eintritt und nicht beispielsweise schon vor fünf Jahren eingetreten ist.

Darauf kann man zunächst eine einfache Antwort geben: Es sind die gleichen Gründe, die dafür verantwortlichen sind, dass die Antiglobalisierungsbewegung vor knapp fünf Jahren entstanden war und heute bereits zu einer wahrhaften Institution geworden ist, deren Kundgebungen Hunderttausende mobilisieren und die Aufmerksamkeit aller Medien auf sich ziehen.

Konkreter und präziser kann man als Antwort folgende Elemente benennen:

– Nach der enormen Auswirkung der Kampagne über den „Tod des Kommunismus“ seit Ende der 80er-Jahre musste eine gewisse Zeit, eigentlich ein ganzes Jahrzehnt, vergehen, bis sich der Nebel, die Verwirrung aufgrund dieser Kampagnen verflüchtigte, der Einfluss ihrer „Argumente“ nachliess. Diese Kampagnen waren um so erfolgreicher, als der innere Zusammenbruch dieser Regimes, die sich selbst über ein halbes Jahrhundert hinweg als „sozialistisch“, „proletarisch“ und „antikapitalistisch“ präsentiert haben (und auch so dargestellt wurden), ein enorm wichtiges Ereignis war. Das Weltproletariat benötigte vierzig Jahre, um aus der Konterrevolution herauszufinden, es wird ein gutes Viertel dieser Zeit benötigen, um sich von den Schlägen durch den Tod der Speerspitze eben dieser Konterrevolution, des Stalinismus, zu erholen, dessen „stinkender Kadaver noch immer die Umwelt vergiftet“ (wie wir bereits 1989 geschrieben haben).

– Vor allem die von Bush senior verkündete Idee, dass der Zusammenbruch der „sozialistischen“ Regimes und des Ostblocks die Errichtung einer neuen Weltordnung erlauben würde, musste erst vollständig ad absurdum geführt werden. Dies begann bereits auf brutale Weise mit der Golfkrise und dem anschliessenden Krieg 1990/91, setzte sich dann mit dem Krieg in Jugoslawien fort, der mit der Offensive im Kosovo bis 1999 dauerte. Darauf folgten die Attentate vom 11. September und jetzt der Krieg im Irak, während sich die Situation in Israel-Palästina unaufhörlich verschlechtert. Tagtäglich wird offensichtlicher, dass die herrschende Klasse nicht mehr in der Lage ist, sowohl ihren eigenen imperialistischen Zusammenstössen als auch dem globalen Chaos und der Wirtschaftskrise ein Ende zu bereiten.

– Gerade die letzte Periode und insbesondere der Beginn des 21. Jahrhunderts haben nach den Illusionen der 90er-Jahre über den „Aufschwung“, die „Drachenstaaten“ und die „Revolution der neuen Technologien„ wieder die Wirtschaftskrise des Kapitalismus auf die Tagesordnung gesetzt. Gleichzeitig hat dieser neue Schritt in die Krise die herrschende Klasse zur Intensivierung der ökonomischen Angriffe gegen die Arbeiterklasse, zur Generalisierung der Attacken gezwungen.

– Indessen haben die Gewalt und der immer systematischere Charakter der Angriffe gegen die Arbeiterklasse bisher zu keiner massiven oder spektakulären Antwort geführt. Nicht einmal eine Antwort im Ausmass vergleichbar zu 2003 ist erzielt worden. Weshalb also hat sich - in anderen Worten – der „Wendepunkt“ 2003 nicht in der Form einer ansteigenden Kurve oder in Gestalt einer Explosion von Kämpfen manifestiert (wie beispielsweise 1968 und in den folgenden Jahren)?

5) Auf diese Frage muss man auf verschiedenen Ebenen antworten.

An erster Stelle hat sich, wie wir bereits aufgezeigt haben, der historische Wiederaufschwung der Arbeiterklasse sehr langsam vollzogen: So lagen zwischen den ersten grossen Ereignissen dieses historischen Wiederaufschwungs, nämlich dem Generalstreik im Mai 1968 in Frankreich, und seinem Kulminationspunkt, den Streiks im Sommer 1980 in Polen, mehr als 12 Jahre. Ebenso vergingen zwischen dem Fall der Mauer in Berlin im November 1989 und den Streiks vom Frühling 2003 dreizehneinhalb Jahre, d.h. mehr als zwischen dem Beginn der ersten Revolution in Russland im Januar 1905 und der Oktoberrevolution 1917.

Die IKS hat bereits die Ursachen dieser Langsamkeit analysiert, mit der diese Entwicklung im Vergleich mit derjenigen vor der Revolution 1917 vor sich ging: Heute geht der Klassenkampf von der Wirtschaftskrise des Kapitalismus aus und nicht vom imperialistischen Krieg. Die Bourgeoisie ist in der Lage – das hat sie immer wieder bewiesen – den Rhythmus dieser Krise zu verlangsamen.

Die IKS hat auch andere Faktoren aufgezeigt, die für das langsame Entwicklungstempo der Kämpfe und des Bewusstseins des Proletariats verantwortlich sind. Es handelt sich um Faktoren im Zusammenhang mit dem durch die Konterrevolution verursachten organischen Bruch (weshalb auch die Bildung der Partei in Verspätung begriffen ist) und um den Zerfall des Kapitalismus, insbesondere die Tendenzen zur Hoffnungslosigkeit, zum Eskapismus und zum Rückzug, die alle das Proletariat betreffen.

Um die Langsamkeit dieses Prozesses zu verstehen, muss man übrigens auch die Auswirkungen der Krise selbst in Rechnung stellen: Sie äussert sich durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit, die einen wichtigen Lähmungsfaktor für die Arbeiterklasse darstellt. Das ist insbesondere bei den neuen Generationen der Fall, die zwar traditionellerweise die kämpferischste ist, die aber heute oft in die Arbeitslosigkeit gestürzt wird, bevor sie überhaupt die Erfahrung der assoziierten Arbeit und der Solidarität unter den Arbeitern hat machen können. Heute werden immer mehr Massenentlassungen vorgenommen, die eine Explosivkraft enthalten, auch wenn sie sich in den Fällen von Unternehmungsschliessungen nur schwer in der klassischen Form des Streiks ausdrücken kann, der in solchen Fällen unwirksam wäre. Aber während heute die Arbeitslosigkeit ansteigt, weil Pensionierte üblicherweise ganz einfach nicht mehr ersetzt werden, sind Arbeiter, die erst gar keine Stelle finden, oft orientierungslos.

Die IKS hat des öfteren darauf hingewiesen, dass der unausweichliche Anstieg der Arbeitslosigkeit eines der beweiskräftigsten Elemente des definitiven Bankrotts der kapitalistischen Produktionsweise darstellt, denn die wichtigste historische Funktion dieser Produktionsweise

war die weltweite und massive Ausbreitung der Lohnarbeit. Auf unmittelbarer Ebene aber ist die Arbeitslosigkeit hauptsächlich ein Faktor

der Demoralisierung der Arbeiterklasse und der

Lähmung ihrer Kämpfe. Erst in einer fortgeschritteneren Etappe der Klassenbewegung kann der subversive Charakter dieses Phänomens ein Entwicklungsfaktor des Kampfes und des Bewusstseins werden. Das wird der Fall sein, wenn sich die Perspektive der Überwindung des Kapitalismus wieder in den Reihen der Arbeiterklasse verbreitet, wenn auch noch nicht auf massive, so zumindest auf bedeutsame Weise.

6) Gerade hier liegt ein Grund für den langsamen Entwicklungsrhythmus der Arbeiterkämpfe heute, für die relativ schwache Antwort der Arbeiter auf die zunehmenden Angriffe des Kapitalismus: Es existiert heute ein noch sehr konfuses Gefühl – das in Zukunft aber noch entwicklungsfähig ist – dass es für die Widersprüche des Kapitalismus heute keine Lösung gibt, sei es auf wirtschaftlicher Ebene oder auf den anderen Ebenen seiner historischen Krise wie die permanenten kriegerischen Zusammenstösse, das zunehmende Chaos und die Barbarei, die jeden Tag klarer ihren unüberwindbaren Charakter aufzeigen.

Das Zurückschrecken des Proletariats vor der Ungeheuerlichkeit seiner Aufgaben haben bereits Marx und der Marxismus Mitte des 19. Jahrhunderts aufgezeigt.[1] Dieses Phänomen erklärt teilweise das Paradoxon der gegenwärtigen Situation: Einerseits haben die Kämpfe Mühe, sich trotz des Ausmasses der gegenwärtigen Angriffe gegen die Arbeiterklasse auszubreiten; andererseits sieht man in der Klasse bereits die Entwicklung einer tiefgreifenden Reflexion, obwohl sie gegenwärtig noch weitgehend unterirdisch stattfindet, wovon ein Ausdruck, der sich hartnäckig hält, das Auftauchen einer ganzen Reihe von Elementen und Grup

Fußnoten:

1. s. Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW Bd. 8, S. 111ff.

Theoretische Fragen: 

  • Historischer Kurs [22]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [13]

Quell-URL:https://de.internationalism.org/content/78/internationale-revue-2004

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