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1917-1921: Die Sowjets vor der Frage des Staates
Im vorangehenden Artikel dieser Serie (Internationale Revue Nr. 49) haben wir gesehen, wie in Russland die Räte zwar 1917 die Macht ergriffen, aber diese Macht zunehmend verloren, bis sie eine bloße Fassade waren, die künstlich aufrechterhalten wurde, um die kapitalistische Konterrevolution, die sich siegreich durchgesetzt hatte, zu verschleiern. Das Ziel dieses Artikels ist es, die Gründe für diesen Prozess zu begreifen, um daraus die Lehren für zukünftige revolutionäre Versuche zu ziehen.
Das Wesen des aus der Revolution hervorgehenden Staates
Marx und Engels analysierten die Pariser Kommune von 1871 und zogen einige Lehren zur Frage des Staates, die wir hier kurz wie folgt zusammenfassen können: 1. Das Proletariat muss den bürgerlichen Staat komplett zerstören. 2. Unmittelbar nach der Revolution formiert sich der Staat aufs Neue, und zwar aus zwei Gründen: a) Die Bourgeoisie ist noch nicht gänzlich besiegt und ihrer Grundlage beraubt; b) in der Übergangsgesellschaft gibt es immer noch nichtausbeutende Klassen (Kleinbürgertum, Bauern, städtisches Subproletariat …), deren Interessen sich nicht mit denen des Proletariats decken.
Dieser Artikel hat nicht das Ziel, das Wesen dieses neuen Staates zu analysieren[1], aber um das hier behandelte Thema zu beleuchten, müssen wir nachweisen, dass der neue Staat zwar nicht identisch ist mit seinen Vorläufern in der Geschichte, aber trotzdem Charakterzüge trägt, die ein Hindernis für die Entfaltung der Revolution darstellen; genau aus diesem Grund bemerkte bereits Engels und unterstrich Lenin in Staat und Revolution, dass das Proletariat schon am ersten Tag der Revolution mit einem Prozess des Absterbenlassens des neuen Staates beginnen muss.
Nach der Machtübernahme in Russland war das erste Hindernis, auf das die Sowjets stießen, der neu auferstandene Staat. Dieser ist „trotz seiner scheinbar großen materiellen Macht, (…) tausendmal verletzlicher gegenüber dem Feind als die anderen Arbeiterorganisationen. In der Tat verdankt der Staat seine größte materielle Macht objektiven Faktoren, die vollständig den Interessen der ausbeutenden Klassen entsprechen, die aber umgekehrt überhaupt nicht zwingend etwas mit der revolutionären Rolle des Proletariats zu tun haben“[2], „Die schreckliche Gefahr einer Rückkehr zum Kapitalismus drohte im Wesentlichen im verstaatlichten Bereich. Dies umso mehr, als der Kapitalismus hier in seiner unpersönlichen – man könnte sagen: vergeistigten – Form daher kommt. Die Verstaatlichung kann so während langer Zeit dazu dienen, einen dem Sozialismus diametral entgegen gesetzten Prozess zu verschleiern“[3].
Im vorangehenden Artikel haben wir die Umstände beschrieben, welche die Schwächung der Sowjets begünstigten: der Bürgerkrieg, die Hungersnot, das allgemeine Chaos der gesamten Wirtschaft, die Erschöpfung und die voranschreitende Auflösung der Arbeiterklasse, usw. Die „stille Verschwörung“ des Sowjetstaates, die ebenfalls zur Schwächung der Sowjets beitrug, operierte auf drei Achsen: 1. das wachsende Gewicht, das die klassischen Institutionen des Staates gewannen: die Armee, die Tscheka (die politische Polizei) und die Gewerkschaften; 2. der „klassenübergreifende Charakter“ der Sowjets und die beschleunigte Bürokratisierung, die daraus resultierte; 3. die zunehmende Integration der bolschewistischen Partei in den Staat. Wir haben den ersten Punkt im vorangehenden Artikel behandelt, der vorliegende Artikel ist den beiden anderen Faktoren gewidmet.
Die fatale Verstärkung des Staates
Der Sowjetstaat schloss zwar die Bourgeoisie aus, er war aber nicht der Staat ausschließlich des Proletariats. Er schloss nichtausbeutende gesellschaftliche Klassen wie die Bauernschaft, das Kleinbürgertum, verschiedene Mittelschickten ein. Diese Klassen neigten dazu, ihre eigennützigen Interessen zu wahren, und stellten der Bewegung zum Kommunismus unweigerlich Hindernisse in den Weg. Dieser unvermeidliche „klassenübergreifende Charakter“ drängte den neuen Staat in eine Rolle, welche die Arbeiteropposition[4] 1921 brandmarkte: „die sowjetische Politik zielt in verschiedene Richtungen, und ihre Stellung zur Klasse ist verzerrt“, und er war der Nährboden, auf dem sich die Verwaltungsbürokratie errichtete.
Kurz nach dem Oktober begannen ehemalige zaristische Beamte mit der Besetzung von Stellen in den sowjetischen Institutionen, insbesondere wenn es darum ging, improvisierte Entscheide angesichts drängender Probleme zu fällen. Als man beispielsweise im Februar 1918 vor der Unmöglichkeit stand, die Bevölkerung mit den lebensnotwendigsten Gütern zu versorgen, musste das Volkskommissariat auf die Hilfe von Kommissionen zurückgreifen, welche die alte Provisorische Regierung ins Leben gerufen hatte. Ihre Mitglieder nahmen den Auftrag an unter der Bedingung, dass sie von keinem Bolschewiki abhängig sein würden, was die Partei umgekehrt ebenfalls akzeptierte. Ähnlich lief es mit der Neuorganisierung des Bildungswesens 1918-19, als man auf ehemalige zaristische Beamte zurückgreifen musste, die dann allmählich das vorgeschlagene Bildungsprogramm abzuändern begannen.
Darüber hinaus verwandelten sich die besten proletarischen Kämpfer je länger je mehr in Bürokraten, die weit entfernt von den Massen agierten. Die Sachzwänge des Krieges nahmen zahlreiche Arbeiterkader in Beschlag für Aufgaben als politische Kommissare, Inspektoren oder militärische Führer. Die fähigsten Arbeiter wurden Kader in der wirtschaftlichen Verwaltung. Die vormaligen Reichsbürokraten und die Neulinge mit proletarischer Herkunft bildeten zusammen eine bürokratische Schicht, die sich mit dem Staat identifizierte. Aber dieses Organ hat seine eigene Logik, und seinen Sirenengesängen gelang es, selbst so erfahrene Revolutionäre wie Lenin und Trotzki zu verführen.
Die ehemaligen Beamten, die der bürgerlichen Elite entstammten, waren Träger dieser Ideologie, und sie drangen in die sowjetische Festung durch das Tor ein, das ihren der neue Staat öffnete: „Tausende von denen, die durch Gewohnheit und Tradition mehr oder weniger eng an die Klasse der enteigneten Bourgeoisie gebunden waren, erhielten die Gelegenheit, in das ‚revolutionäre Bollwerk‘ einzudringen – durch die Hintertür – und ihre Rolle als Kommandeure über den Arbeitsprozesses im ‚Arbeiterstaat‘ fortzusetzen (…) Viele wurden (von oben) bald auf führende Posten der Wirtschaft versetzt. Sie verschmolzen mit der neuen politisch-administrativen ‚Elite‘, für welche die Partei selber den Kern stellte, indem die ‚aufgeklärteren‘ und technisch geschulten Teile der ‚enteigneten Klasse‘ schon bald gehobene Stellen in den Produktionsverhältnissen übernehmen konnten.“[5] Der sowjetische Historiker Kritsmann charakterisierte diese Leute so: „die Repräsentanten der alten Intelligentsia legten eine herablassende und feindliche Haltung gegenüber der Öffentlichkeit an den Tag“[6].
Aber die Hauptgefahr ging von der staatlichen Maschinerie selbst aus, mit ihrer wachsenden, aber kaum wahrzunehmenden Trägheit. Eine Folge davon war, dass selbst die treusten Beamten dazu neigten, sich von den Massen zu entfernen, ihnen zu misstrauen, speditive Methoden zu übernehmen, Entscheide ohne Anhörung zu fällen in Angelegenheiten, die Tausende von Leuten betrafen, als handle es sich um bloße Verwaltungsfragen, mit Dekreten zu regieren. „Die Partei ging von der Arbeit der Zerstörung zu derjenigen der Verwaltung über und entdeckte dabei die Tugenden von Ruhe und Ordnung und Unterordnung unter die rechtmäßige Gewalt der revolutionären Macht.“[7]
Die bürokratische Logik des Staates passte vollkommen zur Bourgeoisie, die als ausbeuterische Klasse gewohnt ist, die Ausübung der Macht an eine spezialisierte Abteilung von Berufspolitikern und Beamten zu delegieren. Für das Proletariat aber ist es verheerend, immer den Spezialisten zu vertrauen; es muss aus seinen Fehlern lernen und selber Entscheidungen treffen, um diese in die Praxis umzusetzen, wenn es beginnen will, auch sich in diesem Prozess zu verändern. Die Logik der proletarischen Macht liegt nicht in der Delegation der Macht, sondern in der direkten Ausübung derselben.
Die Revolution wurde im April 1918 mit einem Dilemma konfrontiert. Die Weltrevolution hatte sich noch nicht ausgedehnt, und die imperialistische Invasion drohte die Sowjetbastion zu überfallen. Das gesamte Land verfiel in Chaos, "die Verwaltungs- und Wirtschaftsorganisation löst sich in einem alarmierenden Grad auf. Die Gefahr für die Revolution kam nicht vom organisierten Widerstand, sondern vom Zusammenbruch jeder Autorität. Der Appel in Staat und Revolution, 'den Staatsapparat zu vernichten', schien nun nicht mehr aktuell zu sein, dieser Teil des revolutionären Programms war über alle Erwartungen hinaus erfüllt worden."[8]
Der Sowjetstaat war mit drastischen Entscheidungen, die er zu treffen hatte, konfrontiert: schnellstmöglich die Rote Armee aufbauen, den Transport organisieren, die Produktion erhöhen, den Nahrungsbedarf der hungernden Städte garantieren, das soziale Leben organisieren. All dies musste gegen die totale Sabotage der Unternehmer und Manager erledigt werden, was zu einer breiten Beschlagnahme der Industrieproduktion, der Banken, Geschäfte usw. führte. Dies stellt die sowjetische Macht vor eine zusätzliche Herausforderung. Eine erhitzte Debatte in der Partei und den Sowjets entfaltete sich. Jeder war für den militärischen und wirtschaftlichen Widerstand, bis die proletarische Revolution in anderen Ländern, hauptsächlich aber in Deutschland ausbrechen würde. Die Unstimmigkeit entstand jedoch in der Frage der Organisierung des Widerstandes: Sollte der Staatsapparat gestärkt, oder sollten die Organisation und die Fähigkeiten der Arbeitermassen verbessert werden? Lenin führte diejenigen an, die die erste Lösung verteidigten, während einige Tendenzen der Linken der bolschewistischen Partei die zweite verteidigten.
In seiner Broschüre Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht argumentiert Lenin, dass "die Hauptaufgabe, die vor der Revolution stand (....) die war, die heruntergekommene Wirtschaft wieder aufzubauen, die Wiedererrichtung einer Arbeiterdisziplin und die Erhöhung der Produktivität, Sicherung der strengen Buchhaltung und die Kontrolle über die Produktion und den Vertrieb, die Abschaffung der Korruption und der Verschwendung und – vielleicht vor allem – der Kampf gegen die allgegenwärtige kleinbürgerliche Mentalität. Er schrak nicht vor dem zurück, was er selber bürgerliche Methoden nannte, einschließlich den Einsatz von bürgerlichen technischen Spezialisten (…) den Rückgriff auf Stücklohn; die Anwendung des ‚Taylor-Systems‘ (…) Er rief folglich zur ‚Ein-Mann-Verwaltung‘ auf."[9]
Warum kam Lenin zu dieser Auffassung? Der erste Grund war die Unerfahrenheit: Die Sowjetmacht war mit riesigen und dringenden Aufgaben belastet, ohne aus früher gemachten Erfahrungen schöpfen zu können; und ohne solche war es nicht möglich, die theoretischen Reflexionen weiter zu treiben. Der zweite Grund war die verzweifelte und untragbare Situation, die wir beschreiben haben. Aber wir müssen auch in Betracht ziehen, dass Lenin ein Opfer der staatlichen und bürokratischen Logik wurde und allmählich als ihr Sprecher auftrat. Diese Logik brachte ihn dazu, den alten Technikern, Verwaltern und Beamten Vertrauen zu schenken, die im Kapitalismus erzogen worden waren, und darüber hinaus den Gewerkschaften, die verantwortlich dafür waren, Arbeiter zu disziplinieren, unabhängige Initiativen und Arbeiter-Demonstrationen zu ersticken, die kapitalistischen Arbeitsteilung und die enge korporatistische Mentalität durchzusetzen, die ihrem Wesen entspricht.
Die Oppositionellen brandmarkten die Idee, dass "die Art der Staatskontrolle der Unternehmen bürokratisch zentralisiert werden muss, in der Regel durch unterschiedliche Kommissare, die Entmachtung der unabhängigen Sowjets und die Verwerfung in der Praxis des Kommune-Staats, der von unten regiert wird. (....) Die Einführung der Arbeitsdisziplin im Zusammenhang mit der Wiederherstellung der kapitalistischen Führung in der Produktion kann die Produktivität der Arbeit nicht wesentlich vergrößern, aber wird die Klassenautonomie, die Aktivität und den Grad der Organisation des Proletariats schmälern".[10]
Die Arbeiteropposition beklagte, dass "in Anbetracht des katastrophalen Zustandes unserer Wirtschaft, die sich noch auf das kapitalistische System verlässt (Bezahlung von Löhnen, verschiedene Ansätze, Arbeiterkategorien usw.), die Eliten unserer Partei den schöpferischen Fähigkeiten der Arbeiter misstrauen und die Lösung des wirtschaftlichen Chaos in der Erbschaft der alten Kapitalisten, Unternehmer und Techniker suchen, deren schöpferische Fähigkeit in Wirtschaftsangelegenheiten durch die Routine verdorben wird, durch Gewohnheit und Methoden und Management der kapitalistischen Produktionsweise"[11].
Weit davon entfernt abzusterben, wuchs die Staatsmacht in erschreckender Weise: "Ein 'weißer' Professor, der im Herbst 1919 von Moskau nach Omsk kam, berichtete, dass an der Spitze vieler Zentralen und Glavki ehemalige Arbeitgeber, Beamte und Betriebsleiter sitzen. Der unvorbereitete Besucher der Zentren, der persönlich die ehemalige Geschäftswelt kannte, wäre überrascht, die ehemaligen Eigentümer von großen Lederfabriken zu sehen, die im Glavkozh sitzen, große Fabrikanten in den Textilorganisationen usw."[12] Im März 1919, während der Debatte des Petrograder Sowjets, gestand Lenin: "Wir verjagten die alten Bürokraten, aber sie sind wiedergekommen, sie nennen sich 'Kammunisten', wenn sie Kommunist nicht sagen können, sie hängen sich ein rotes Bändchen an und drängen sich auf die warmen Plätzchen.“[13]
Das Wachstum der sowjetischen Bürokratie überwältigte schließlich die Sowjets. Sie zählte im Juni 1918 114‘259 Angestellte, ein Jahr später 529‘841 und im Dezember 1920 schon 5‘820‘000! Das “Staatsinteresse" wurde unbarmherzig über den revolutionären Kampf um den Kommunismus gestellt, "die allgemeinen Interessen des Staates wurden über die Interessen der Arbeiterklasse gestellt"[14].
Die Integration der bolschewistischen Partei in den Staat
In dem Maße, wie der Staat sich stärkte, sog er die bolschewistische Partei in sich auf. Diese hatte zwar zunächst nicht vor, sich in eine Staatspartei zu verwandeln. Gemäß den Zahlen von 1918 beschäftigte das Zentralkomitee der Bolschewiki nur sechs Verwaltungsangestellte im Vergleich zu deren 65 beim Rat der Kommissare; die Sowjets von Petrograd und Moskau hatten sogar über 200. „Die bolschewistischen Organisationen hingen finanziell von der Hilfe ab, die ihnen die örtlichen Sowjetinstitutionen zukommen ließen, und insgesamt war diese Abhängigkeit eine vollständige. Es geschah sogar, dass bekannte Bolschewiki – wie zum Beispiel Preobraschenski – angesichts der neuen Tatsachen vorschlugen, dass die Partei sich auflösen sollte, um im Sowjetapparat aufzugehen.“ Der Anarchist Leonard Schapiro anerkannte, dass „die besten Parteikader sich in den zentralen oder örtlichen Apparat der Sowjets integriert hatten“. Viele Bolschewiki waren der Ansicht, dass „die örtlichen Komitees der bolschewistischen Partei nichts anderes waren als die Propagandaabteilungen der örtlichen Sowjets“[15]. Die Bolschewiki hatten sogar Zweifel an ihren Fähigkeiten, Macht an der Spitze der Sowjets auszuüben. „Als unmittelbar nach dem Oktoberaufstand die neue Sowjetregierung gebildet wurde, zögerte Lenin einen Moment lang, bevor er die Stelle als Vorsitzender des Rats der Volkskommissare annahm. Seine politische Intuition sagte ihm, dass dies seine Fähigkeit, als Vorhut der Vorhut zu handeln, behindern werde – seine Position untergraben, die er so klar zwischen April und Oktober 1917 eingenommen hatte“[16]. Lenin befürchtete nicht ohne Grund, dass die Partei und ihre führenden Mitglieder, wenn sie mit dem Tagesgeschäft der Sowjetregierung beschäftigt sind, zu Gefangenen des Systems werden und die allgemeinen Ziele der proletarischen Bewegung, die nicht mit dem Verwaltungsalltag der Staatsaufgaben verknüpft werden können, aus den Augen verlieren.[17]
Die Bolschewiki wollten die Macht nicht monopolisieren, und sie organisierten den ersten Rat der Volkskommissare gemeinsam mit den Linken Sozialrevolutionären. Einige Sitzungen des Rates waren sogar offen für Delegierte der menschewistischen Internationalisten und der Anarchisten.
Die Regierung wurde erst im Juli 1918 ganz bolschewistisch, nach der Aufstand der Sozialrevolutionäre gegen die Schaffung eines Komitees der armen Bauern: „Am 6. Juli erschienen zwei junge Tscheka-Mitglieder der Sozialrevolutionären Partei und Hauptakteure der Verschwörung, A. Andrejew und G. Blumkin, in der deutschen Botschaft und wiesen sich mit amtlichen Dokumenten über ihre Stellung und Aufgabe aus. Nachdem sie ins Büro des Borschafters, Graf von Mirbach, gelassen worden waren, erschossen sie ihn und flohen. Darauf nahm eine Abteilung von Tschekisten unter dem Kommando eines Linken Sozialrevolutionärs, Popov, eine Reihe von überraschenden Verhaftungen vor einschließlich derjenigen der Führer der Tscheka, Dscherschinskys und Lazis’, des Vorsitzenden des Moskauer Sowjets, Smidowitsch, und des Volkskommissars der Post, Podbjelskys. Er übernahm auch die Gewalt über die Hauptsitze der Tscheka und des Zentralen Postbürogebäudes.“[18]
In Folge dieser Ereignisse gab es in der Partei eine Invasion von allen möglichen Opportunisten und Karrieristen, ehemaligen zaristischen Beamten und menschewistische Führer, die übergelaufen waren. Nogin, ein alter Bolschewik, „sprach über schreckliche Sachverhalten von Trunkenheit, Völlerei, Korruption, Raub und verantwortungslosem Verhalten von Seiten vieler Parteiarbeiter, so dass einem die Haare zu Berge standen.“[19] Im März 1918, vor dem Parteikongress, erzählte Zinovjew die Geschichte von einem Parteigenossen, der ein neues Mitglied willkommen geheißen und aufgefordert habe, am nächsten Tag seine Mitgliedskarte abholen zu kommen, worauf er zur Antwort erhalten habe: „Nein, Genosse, ich brauche sie jetzt, um einen Bürojob zu kriegen.“
Wie Marcel Liebman festhielt: „Dass so viele Männer, die nur in Worten Kommunisten waren, in die Partei eintraten, hatte damit zu tun, dass sie nun die zentrale Macht war, die einflussreichste Institution im gesellschaftlichen und politischen Leben, eine, die die neue Elite vereinte, die Geschäftsführer und sonstigen Leiter einstellte, das Instrument und der Kanal, durch den der Weg nach Oben und zum Erfolg führte“, und er fügte hinzu, dass „die Privilegien der mittleren und jüngeren Kader bei der Parteibasis Proteste auslösten“[20], während solche Vorgänge in einer bürgerlichen Partei zum Alltag gehören.
Die Partei versuchte dieser Invasion mit zahlreichen Ausschlüssen entgegen zu treten. Aber diese Maßnahme stellte sich als wirkungslos heraus, da sie das Problem nicht an der Wurzel erfasste, denn die Fusion zwischen Staat und Partei verstärkte sich unaufhaltsam. Diese Gefahr ging in einer ähnlichen Weise von der Identifizierung der Partei mit der russischen Nation aus. Die proletarische Partei ist in der Tat international, und ihre Sektion in einem oder mehreren Ländern, in denen das Proletariat eine isolierte Bastion unter Kontrolle hat, darf sich keinesfalls mit der Nation identifizieren, sondern einzig und allein mit der Weltrevolution.
Die Umwandlung des Bolschewismus in einen Partei-Staat wurde schließlich mit dem Argument theoretisiert, dass die Partei die Macht im Namen der Klasse ausübe, dass die Diktatur des Proletariats die Diktatur der Partei sei[21]; diese Idee entwaffnete die Partei theoretisch und politisch und schloss ihre Kapitulation gegenüber dem Staat ab. In einer seiner Resolutionen stimmte der 8. Parteitag (im März 1918) der Auffassung zu, dass die Partei „individuellen politischen Einfluss in den Sowjets und Kontrolle über all ihre Tätigkeiten gewinnen“ muss[22]. Diese Resolution wurde in den folgenden Monaten umgesetzt, indem in allen Sowjets Zellen der Partei gebildet wurden, um jene zu kontrollieren. Kamenjew erklärte, dass „die Kommunistische Partei die Regierung Russlands ist. Das Land wird regiert durch die 600'000 Parteimitglieder.“[23] Dem Ganzen setzte Sinowjew die Krone auf, als er am 2. Kongress der Kommunistischen Internationale erklärte, dass „jeder bewusste Arbeiter erkennen muss, dass die Diktatur der Arbeiterklasse nur durch die Diktatur ihrer Vorhut, d.h. die Kommunistische Partei, verwirklicht werden kann“[24] und ähnlich Trotzki am 10. Parteitag (1921), wo er auf eine Intervention der Arbeiteropposition antwortete: „Sie haben gefährliche Losungen aufgestellt. Sie haben aus demokratischen Prinzipien einen Fetisch gemacht. Sie haben das Recht der Arbeiter Vertreter zu wählen über das der Partei gestellt. Als ob die Partei nicht befugt wäre, ihre Diktatur auszuüben, selbst wenn diese Diktatur zeitweilig mit der gerade herrschenden Stimmung der Arbeiterdemokratie zusammenstößt!“ Trotzki sprach vom „revolutionären geschichtlichen Erstgeburtsrecht der Partei“. „Die Partei ist verpflichtet, die Diktatur aufrecht zu erhalten (…) unabhängig von den vorübergehenden Schwankungen sogar in der Arbeiterklasse (…) Die Diktatur beruht nicht in jedem Moment auf dem formellen Prinzip der Arbeiterdemokratie (…)“[25]
Das Proletariat verlor die Bolschewistische Partei als seine Vorhut. Der Staat diente nicht mehr dem Proletariat; vielmehr benützt der Staat die Partei als Rammbock gegen das Proletariat. Die Plattform der Fünfzehn, einer Oppositionsgruppe, die in den späten 1920er Jahren in der Bolschewistischen Partei entstand, stellte es so dar: „Die Bürokratisierung der Partei, die Entartung ihrer regierenden Spitzen, die Verschmelzung des leitenden Parteiapparates mit dem bürokratischen Staatsapparat, die Verminderung des Einflusses des proletarischen Teils der Partei – das alles zeigt, dass das Zentralkomitee in seiner Politik der Knebelung der Partei bereits die Grenzen überschritten hat, hinter der die Liquidierung der Partei und ihre Umwandlung in einen Hilfsapparat des Staates beginnt. Die Durchführung dieser Liquidation würde das Ende der proletarischen Diktatur in der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken bedeuten. Die Partei ist die Vorhut und die wichtigste Waffe im Klassenkampf des Proletariats. Ohne sie ist weder sein Sieg noch die Aufrechterhaltung seiner Diktatur möglich.“[26]
Das Proletariat muss sich unabhängig vom Übergangsstaat organisieren
Wie hätte das Proletariat in Russland das Kräfteverhältnis umdrehen, die Sowjets wieder beleben, das Wachsen des nachrevolutionären Staates aufhalten und dabei das Tor zu dessen wirklichen Absterben aufstoßen und die weltweite revolutionäre Bewegung vorwärts bringen können?
Diese Frage hätte nur in einer Entwicklung der Weltrevolution gelöst werden können. „In Russland konnte das Problem nur gestellt werden.“[27] „(…) musste es klar sein, dass es in Europa unermesslich schwieriger ist, die Revolution anzufangen, dass es bei uns unermesslich leichter ist, anzufangen, aber schwieriger als dort sein wird, die Revolution fortzuführen“[28].
Im Zusammenhang mit dem Kampf für eine Weltrevolution gab es in Russland zwei konkrete Aufgaben: die Partei für das Proletariat bewahren, indem man sie wegzieht aus den Fängen des Staates, sich selbst in den Arbeiterräten organisieren, die fähig sind, die Sowjetstruktur neu zu schaffen. Wir behandeln hier nur den letzten Aspekt.
Das Proletariat muss sich unabhängig vom Übergangsstaat organisieren und seine eigene Diktatur über ihn ausüben. Das mag jenen dumm vorkommen, die eine Vorliebe für einfache Formeln und Syllogismen haben und sagen, dass der Staat, wenn das Proletariat herrschende Klasse, sein treustes Organ sein müsse. In Staat und Revolution schrieb Lenin unter Bezugnahme auf Marxens Kritik des Gothaer Programms von 1875: „In seiner ersten Phase, auf seiner ersten Stufe kann der Kommunismus ökonomisch noch nicht völlig reif, völlig frei von Traditionen, von den Spuren des Kapitalismus sein. Daraus erklärt sich eine so interessante Erscheinung wie das Fortbestehen des „engen bürgerlichen Rechtshorizonts“ während der ersten Phase des Kommunismus. Das bürgerliche Recht setzt natürlich in Bezug auf die Verteilung der Konsumtionsmittel unvermeidlich auch den bürgerlichen Staat voraus, denn Recht ist nichts ohne einen Apparat, der imstande wäre, die Einhaltung der Rechtsnormen zu erzwingen. So ergibt sich, dass im Kommunismus nicht nur das bürgerliche Recht eine gewisse Zeit fortbesteht, sondern auch der bürgerliche Staat – ohne Bourgeoisie!“[29]
Der Staat in der Übergangsperiode[30] ist ein „bürgerlicher Staat ohne Bourgeoisie“[31], oder, um es präziser zu fassen, ein Staat, der noch die tiefsten Charakterzüge einer Klassengesellschaft trägt, einer Ausbeutungsgesellschaft: In dieser Phase gelten nach wie vor bürgerliches Recht[32], das Wertgesetz, der moralische und geistige Einfluss des Kapitalismus. Die Übergangsgesellschaft trägt noch viele Aspekte der alten Gesellschaft in sich, aber sie hat bereits eine tiefe Veränderung durchgemacht, die lebendig bleiben muss, weil sie das Einzige ist, das zum Kommunismus führen kann: die massenhafte, bewusste und organisierte Tätigkeit der großen Mehrheit der Arbeiterklasse, ihre Organisierung zur politisch herrschenden Klasse, die Diktatur des Proletariats.
Die tragische Erfahrung der Russischen Revolution zeigt, dass die Organisierung des Proletariats als bestimmende Klasse nicht durch den Übergangsstaat (den Sowjetstaat) erfolgen kann.
Kollontai kritisierte, „dass aber die Arbeiterklasse selbst, als Klasse, als einheitliche, nicht in sich zersplitterte soziale Einheit, mit einheitlichen, gleichartigen Klassenbedürfnissen, -aufgaben und -interessen und folglich auch einer gleichartigen, konsequenten, klipp und klar formulierten Politik, eine immer geringere Rolle in der Sowjetrepublik spielt“[33].
Die Sowjets waren der Kommune-Staat, von dem Engels als der politischen Assoziation der Volksklassen sprach. Dieser Kommune-Staat spielt eine unabdingbare Rolle bei der Unterdrückung der Bourgeoisie im Verteidigungskrieg gegen den Imperialismus und bei der Aufrechterhaltung eines Mindestmaßes an gesellschaftlichem Zusammenhalt, aber er kann nicht den Kampf für den Kommunismus selber führen. Marx sah das bereits in seinem (ersten) Entwurf des Bürgerkriegs in Frankreich voraus: „so ist die Kommune nicht die soziale Bewegung der Arbeiterklasse und folglich nicht die Bewegung einer allgemeinen Erneuerung der Menschheit, sondern ihr organisiertes Mittel der Aktion. Die Kommune beseitigt nicht den Klassenkampf, durch den die arbeitenden Klassen die Abschaffung aller Klassen, und folglich aller [Klassenherrschaft] erreichen wollen (…), aber sie schafft das rationelle Zwischenstadium, in welchem dieser Klassenkampf seine verschiednen Phasen auf rationellste und humanste Weise durchlaufen kann.“[34] Prosper Lissagaray kritisiert in seiner Geschichte der Commune von 1871 „das Zaudern, die Verwirrungen und – in einigen Fällen – leeren Phrasen gewisser Delegierter im Rat der Kommune, von denen viele eigentlich nur eine altmodische kleinbürgerliche Radikalität verkörperten, die oft durch die Versammlungen der proletarischen Viertel in Frage gestellt wurde. Mindestens einer der revolutionären Clubs erklärte, dass die Kommune aufgelöst gehöre, weil sie zu wenig revolutionär sei!“[35]
„(…) der Staat ist in unseren Händen – aber hat er unter den Verhältnissen der Neuen Ökonomischen Politik in diesem Jahr nach unserem Willen funktioniert? Nein. Das wollen wir nicht zugeben: Er hat nicht nach unserem Willen funktioniert. Wie hat er denn funktioniert? Das Steuer entgleitet den Händen: Scheinbar sitzt ein Mensch da, der den Wagen lenkt, aber der Wagen fährt nicht dorthin, wohin er ihn lenkt, sondern dorthin, wohin ein anderer ihn lenkt – jemand, der illegal ist, der gesetzwidrig handelt, der von Gott weiß woher kommt (…)“[36]
Um dieses Problem zu lösen, setzte die Bolschewistische Partei verschiedene Maßnahmen um. Einerseits erklärte die 1918 angenommene Sowjetische Verfassung, dass „Der Gesamtrussische Sowjetkongress aus Vertretern der örtlichen Sowjets besteht, wobei die Städte auf je 25'000 Einwohner einen Delegierten und die ländlichen Gebiete auf je 125'000 Einwohner einen Delegierten haben. Dieser Artikel kodifizierte die Vorherrschaft des Proletariats gegenüber der Bauernschaft“[37], während andererseits das Programm der Bolschewistischen Partei, das 1919 angenommen wurde, festhielt: „erstens (ist) jedem Mitglied eines Sowjets unbedingt eine bestimmte Arbeit auf dem Gebiet der Staatsverwaltung zu übertragen, zweitens (sind) diese Arbeiten nacheinander zu wechseln, so dass sie den ganzen Aufgabenkreis der Staatsverwaltung, alle ihre Zweige erfassen, und drittens, (ist) durch eine Reihe allmählicher und behutsam ausgewählter, aber unbeirrt durchgeführter Maßnahmen die ganze werktätige Bevölkerung ohne jede Ausnahme zu selbständiger Teilnahme an der Verwaltung des Staates heranzuziehen“.[38]
Diese Maßnahmen standen unter dem Einfluss der Lehren aus der Pariser Commune. Sie zielten darauf ab, den Privilegien und Vorrechten der Staatsbeamten Grenzen zu setzen. Aber dies wirksam umzusetzen, wäre nur das autonom, unabhängig vom Staat[39] in Arbeiterräten organisierte Proletariat in der Lage gewesen.
Der Marxismus ist eine lebendige Theorie, die auf der Grundlage der geschichtlichen Erfahrungen vertieft und berichtigt werden muss. Indem die Bolschewiki die von Marx und Engels vermachten Lehren aus der Pariser Commune zogen, verstanden sie, dass der Kommune-Staat, der seinem eigenen Verschwinden entgegen gehen sollte, der Ausdruck der Sowjets sei. Aber gleichzeitig setzten sie ihn fälschlicherweise einem proletarischen Staat gleich[40] und meinten, dieser Prozess laufe von selbst ab, aus dem Staat heraus.[41] Die Erfahrung der Russischen Revolution lehrt, dass es für den Staat nicht möglich ist, einfach selber abzusterben, und deshalb muss man unterscheiden zwischen den Arbeiterräten und den allgemeinen Sowjets; jene sind der Ort, wo das Proletariat sich selber organisiert und seine Diktatur über den Übergangs-Kommune-Staat ausübt, der sich darstellt in den allgemeinen Sowjets.
Nach der Machtergreifung durch die Sowjets muss das Proletariat seine eigene Organisation erhalten und aufbauen, die unabhängig von den Sowjets handeln: die roten Garden, die Fabrikkomitees, die Nachbarschaftskomitees, die Arbeiterabteilungen der Sowjets, die Vollversammlungen.
Die Fabrikkomitees, das Herz der Organisation der Arbeiterklasse
Wir haben schon gesehen, wie die Fabrikkomitees eine entscheidende Rolle während der Krise der Sowjets im Juli gespielt hatten,[42] und wie sie vor der Manipulation der Bourgeoisie bewahrt werden konnten, um im Oktober ihre Rolle als Organe des Aufstands spielen zu können.[43] Im Mai 1917 befand die Konferenz der Fabrikkomitees von Jarkow (Ukraine), das diese sich in „Organe der Revolution umwandeln und sich der Konsolidierung ihrer Siege widmen sollen“.[44] Zwischen dem 7. und dem 12. Oktober beschloss eine Konferenz der Fabrikkomitees Petrograds, einen zentralen Rat der Fabrikkomitees zu bilden, der den Namen Arbeitersektion des Petrograder Sowjets erhielt. Dieser Zentralrat begann unmittelbar aktiv in die Politik der Sowjets zu intervenieren, die sich dadurch zunehmend radikalisierten. In seinem Werk Die Sowjetischen Gewerkschaften anerkennt Isaac Deutscher, dass „die mächtigsten und gefürchtetsten Werkzeuge der Revolution die Fabrikkomitees gewesen sind, und nicht die Gewerkschaften“[45].
Zusammen mit den anderen Basisorganisationen, die direkt und organisch aus der Klasse heraus entstanden waren, drückten die Fabrikkomitees in natürlicher Weise und authentischer als die Sowjets die Gedanken, die Tendenzen und die Fortschritte der Arbeiterklasse aus, indem sie eine tiefgreifende Symbiose mit ihr aufrechterhielten.
Während der Übergangsphase zum Kommunismus hat das Proletariat auf der Ebene der Wirtschaft keineswegs die Rolle der herrschenden Klasse. Aus diesem Grunde kann sie, anders als die Bourgeoisie unter dem Kapitalismus, die Macht nicht an eine institutionelle Macht delegieren, in diesem Falle den Staat. Hinzu kommt noch, dass er trotz seiner Eigenschaften als Kommune-Staat nicht der Vertreter der spezifischen Interessen des Proletariats ist, die von der revolutionären Veränderung der Welt bestimmt werden, sondern er vertritt die Interessen der gesamten nichtausbeutenden Klassen. Endlich ist die unausweichliche Tendenz des Staatswesens zur Bürokratisierung der Grund für seine Verselbständigung und Entgegenstellung zu den Massen, indem er ihnen seine Herrschaft aufzwingt. Aus diese Grunde kann die Diktatur des Proletariats nicht von einem staatlichen Organ aus kommen, sondern von einer Kampfkraft, von Debatten und ständiger Mobilisierung, einem Organ also, das die Unabhängigkeit der Klasse sichert, die Bedürfnisse der Arbeitermassen vertritt und ihre eigene Veränderung in den Aktionen und Diskussionen erlaubt.
Wir haben am Ende des vierten Artikels dieser Serie aufgezeigt, dass nach der Machübernahme die Basisorganisationen der Sowjets und die Kampforgane der Klasse zunehmend verschwanden. Dies war eine tragische Phase, welche das Proletariat schwächte und den sozialen Zerfall beschleunigte, unter dem es litt.
Die Rote Garde, welche 1905 nur vorübergehend entstanden war, erstand im Februar 1917 unter der Kontrolle der Arbeiterkomitees wieder auf. Es gelang ihr, um die 100’000 Mitglieder zu mobilisieren. Sie blieb bis Mitte 1918 aktiv, aber der Bürgerkrieg stürzte sie in eine schlimme Krise. Die enorme Übermacht der imperialistischen Streitkräfte hat die Unfähigkeit der Roten Garde, sich ihnen entgegenzustellen, zu Tage gebracht. Die Einheiten im südlichen Russland unter dem Kommando von Antonov Owsejenko haben heroischen Widerstand geleistet, sie wurden trotzdem hinweggefegt und geschlagen. Opfer ihrer Angst vor der Zentralisierung sind die Einheiten, die weiterhin versuchten, operativ tätig zu sein, ohne jeglichen Nachschub geblieben, z.B. fehlten die Patronen. Es war vor allem eine städtische Miliz mit beschränkter Bewaffnung und Ausbildung. Sie hatte auch keine Organisationserfahrung, man hätte sie höchstens als Nothilfetrupp oder Hilfstrupp einer organisierten Armee einsetzen können, für einen regulären Krieg war sie aber nicht geeignet. Die Notwendigkeit des Augenblicks erforderte, dass in aller Eile eine Rote Armee mit aller militärischen Rigidität gebildet wurde.[46] Diese absorbierte viele Einheiten der Roten Garde, die sich als solche aufgelöst hatte. Es gab bis 1919 Versuche, die Rote Garde wieder aufzubauen, einige Sowjets boten ihre Mitarbeit der Roten Armee an. Dies wurde aber von ihr systematisch abgelehnt, wenn nicht sogar solche Einheiten gewaltsam aufgelöst wurden.
Das Verschwinden der Roten Garde gab dem sowjetischen Staat eine der klassischen Prärogativen des Staats, das Gewaltmonopol, was umgekehrt dem Proletariat einen großen Teil seiner Verteidigungsmittel aus der Hand schlug, da es nun über keine eigene militärische Macht mehr verfügte.
Die Quartierkomitees verschwanden Ende 1919. Sie wurden integriert in die proletarische Organisation der Arbeiter der kleinen Unternehmen und des Handels, der Arbeitslosen, der Jungen, der Rentner, der Familien, die Teile der gesamten Arbeiterklasse waren. Es handelte sich dabei auch um ein wesentliches Mittel, um die proletarischen Ideen und Taten nach und nach in den Schichten der städtischen Randständigen, der Handwerker, Kleinbauern etc. zu verbreiten.
Das Verschwinden der Fabrikkomitees war ein entscheidender Schlag. Wie wir im vierten Artikel dieser Serie gesehen haben, geschah dies schnell, und schon Ende 1918 gab es sie nicht mehr. Die Gewerkschaften spielten bei deren Zerstörung eine entscheidende Rolle.
Der Konflikt brach offen auf einer chaotischen Gesamtrussischen Konferenz der Fabrikkomitees am Vorabend der Oktoberrevolution aus. Während der Debatten tauchte die Idee auf: „Wenn die Fabrikkomitees gebildet werden, haben die Gewerkschaften aufgehört zu existieren, und die Fabrikkomitee haben die Lücke gefüllt“. Ein anarchistischer Delegierter erklärte, dass „die Gewerkschaften die Fabrikkomitees aufsaugen wollen. Die Leute haben nichts gegen die Fabrikkomitees, aber es gibt eine Unzufriedenheit mit den Gewerkschaften. Für den Arbeiter ist die Gewerkschaft eine von außen aufgezwungene Organisationsform. Das Fabrikkomitee steht ihnen näher.“ Eine der von der Konferenz angenommenen Resolutionen hielt fest: „‘Arbeiterkontrolle – innerhalb der von der Konferenz gezogenen Grenzen – ist nur unter der politischen und wirtschaftlichen Herrschaft der Arbeiterklasse möglich‘. Sie warnte vor ‚isolierten‘ und ‚ungeordneten‘ Aktionen und wies darauf hin, dass ‚die Übernahme der Fabriken durch die Arbeiter und ihr Einsatz für den persönlichen Profit mit den Zielen des Proletariats nicht vereinbar‘ sei.“[47]
Die Bolschewiki verteidigten dogmatisch die Idee, dass die Gewerkschaften die wirtschaftlichen Organe des Proletariats seien, und sie nahmen Stellung für sie im Konflikt zwischen ihnen und den Fabrikkomitees. Auf derselben Konferenz brachte ein bolschewistischer Delegierter vor, dass „die Fabrikkomitees ihre Kontrollfunktionen zugunsten der Gewerkschaften ausüben müssen und darüber hinaus finanziell von ihnen abhängig sein sollten“.[48]
Am 3. November 1917 erließ der Rat der Volkskommissare ein Dekret über die Arbeiterkontrolle, in welchem stand, dass die Beschlüsse der Fabrikkomitees durch die „Gewerkschaften und Gewerkschaftskongresse“ aufgehoben werden können[49]. Dieser Entscheid rief lebhaften Protest bei den Fabrikkomitees und Parteimitgliedern hervor. Schließlich wurde das Dekret abgeändert: Von den 21 Delegierten, die den Rat der Arbeiterkontrolle bildeten, vertraten 10 die Gewerkschaften und nur 5 die Fabrikkomitees! Dieses Ungleichgewicht versetzte die Letzteren nicht bloß in eine Schwächeposition, sondern pferchte sie in die Logik der Verwaltung der Produktion, was sie gegenüber den Gewerkschaften noch verletzlicher machte.
Obwohl der Sowjet der Fabrikkomitees während mehrerer Monate am Leben gehalten wurde und sogar versuchte, einen allgemeinen Kongress zu organisieren (siehe den vierten Artikel dieser Reihe), gelang es den Gewerkschaften schließlich, die Fabrikkomitees aufzulösen. Der Zweite Gewerkschaftskongress, der vom 25. bis 27. Januar 1919 abgehalten wurde, nahm eine Resolution an, die „verlangte, dass ‚den Verwaltungsvorrechten der Gewerkschaften offizieller Status zuerkannt‘ werde. Er sprach von der ‚Verstaatung‘ (ogosud arstvlenie) der Gewerkschaften, da ihre Funktion sich ausweitete und verschmolz mit der Regierungsmaschinerie der industriellen Verwaltung und Kontrolle“[50].
Mit dem Verschwinden der Fabrikkomitees „wurden die Industriearbeiter im ‚sowjetischen‘ Russland 1920 ‚wieder der Autorität der Geschäftsführung, der Arbeitsdisziplin, der Lohnanreize, dem wissenschaftlichen Management unterworfen – den bekannten Formen der kapitalistischen Industrieorganisation mit denselben bourgeoisen Managern, mit dem einzigen Unterschied, dass der Staat als Eigentümer fungierte‘“[51]. Die Arbeiter waren wieder völlig atomisiert, ohne ihre eigene Einheitsorganisation, denn die Sowjets wurden immer mehr dem klassischen Wahlprozedere der bürgerlichen Demokratie angeglichen und zu bloßen Parlamenten.
Nach der Revolution gibt es noch nicht den Überfluss, und die Arbeiterklasse ist weiterhin den Bedingungen im Reich der Notwendigkeit unterworfen, die auch Ausbeutung in der ganzen Phase miteinschließt, in welcher die Weltbourgeoisie noch nicht geschlagen ist. Sogar über diesen Zeitpunkt hinaus, nämlich so lange die Integration der anderen gesellschaftlichen Schichten in die assoziierte Arbeit nicht abgeschlossen ist, wird die Anstrengung zur Produktion des wesentlichen Reichtums hauptsächlich durch das Proletariat geleistet werden. Der Weg zum Kommunismus wird deshalb von einem ständigen Kampf begleitet sein, die Ausbeutung zu vermindern, bis sie schließlich verschwunden sein wird.[52] „Um ihre politische Herrschaft kollektiv ausüben zu können, muss die Arbeiterklasse die grundlegenden materiellen Bedürfnisse des Lebens gesichert und insbesondere genügend Zeit und Energie haben, um sich am politischen Leben beteiligen zu können.“[53] Marx schrieb: „Würden sie in ihren tagtäglichen Zusammenstößen mit dem Kapital feige nachgeben, sie würden sich selbst unweigerlich der Fähigkeit berauben, irgendeine umfassendere Bewegung ins Werk zu setzen.“[54] Wenn das Proletariat nach der Machtergreifung ein ständiges Anwachsen seiner Ausbeutung akzeptiert, wir es unfähig sein, den Kampf für den Kommunismus zu führen.
Das geschah im nach-revolutionären Russland. Die Ausbeutung der Arbeiterklasse stieg in unglaublichem Ausmaß an, je mehr sie ihre Autonomie und ihre Selbstorganisierung verlor. Dieser Prozess wurde unumkehrbar, als sich herausstellte, dass die Ausbreitung der Revolution gescheitert war. Die Gruppe Arbeiterwahrheit[55] drückte die Lage klar aus: „die Revolution endete in einer vollständigen Niederlage der Arbeiterklasse (…) Die Bürokratie und die NEP-Leute sind eine neue Bourgeoisie geworden, die von der Ausbeutung der Arbeiter lebt und von ihrer Desorganisierung profitiert. Da die Gewerkschaften in den Händen der Bürokratie sind, sind die Arbeiter hilfloser denn je. (…) Die Kommunistische Partei (…) hat, nachdem sie zur herrschenden Partei geworden ist, zur Partei der Organisatoren und Führer des Staatsapparats und des auf kapitalistischer Grundlage beruhenden wirtschaftlichen Lebens, unwiderruflich ihre Verbindungen und ihre Gemeinsamkeit mit dem Proletariat verloren“.[56]
C. Mir, 28.12.2010
[1] Vgl. die zum Thema publizierten Artikel, z.B.: „Probleme der Übergangsperiode (1975)“; Kapitel 7 aus dem Buch Italienische Kommunistische Linke, „Bilanz der Russischen Revolution, Partei, Gewerkschaften, Klassenkampf, der Staat in der Übergangsperiode“, /content/713/kapitel-7-bilanz-der-russischen-revolution-partei-gewerkschaften-klassenkampf-der-staat; Aus der Serie über den Kommunismus: „Wie das Proletariat sich organisiert, um den Kapitalismus zu stürzen“, https://de.internationalism.org/node/201
[2] Bilan Nr. 18, Organ der Fraktion der Kommunistischen Linken Italiens, S. 618. Bilan setzte die Arbeiten von Marx, Engels und Lenin in der Frage des Staats fort, insbesondere betreffend seine Rolle in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus, des Staats, den Bilan in Anlehnung an eine Formulierung von Engels als „Geissel, die das Proletariat als Erbe übernimmt und der gegenüber wir ein schon fast instinktives Misstrauen hegen“ (Bilan Nr. 26, S. 874), betrachtete.
[3] Internationalisme Nr. 10, Organ der Gauche communiste de France (GCF), der Kommunistischen Linken Frankreichs, 1945-1953. Die Kommunistische Linke Frankreichs setzte das Werk von Bilan fort und war Vorfahre unserer Organisation.
[4] Linke Tendenz, die in der Partei 1920-21 auftauchte. Das Ziel des vorliegenden Artikels liegt nicht darin, die verschiedenen Linksfraktionen zu analysieren, die in der bolschewistischen Partei als Antwort auf die Degenerierung entstanden sind. Wir verweisen dazu auf die zahlreichen anderen Artikel, die wir zu diesem Thema schon publiziert haben, z.B. Die Kommunistische Linke Russlands, /content/747/kommunistische-linke-russlands.
Es ist zu unterstreichen, dass der Arbeiteropposition zwar das Verdienst zukam, die Probleme der Revolution zu erkennen, aber die Lösungen, die sie vorschlug, verschlimmerten die Sache nur. Sie ging davon aus, dass die Gewerkschaften immer mehr Macht haben sollten. Sie dachte richtigerweise, dass der „Sowjetapparat (…) eine gemischte soziale Zusammensetzung aufweist“, stellte aber die Frage: „Wer soll die Potenzen der Diktatur des Proletariats auf dem Gebiet des wirtschaftlichen Aufbaus verwirklichen? Sollen es die Organe sein, die ihrer Zusammensetzung nach Klassenorgane sind, die unmittelbar, durch lebendige Bande mit der Produktion verknüpft sind, d.h. also die Gewerkschaften (…)?“, um sie zu bejahen (zit. nach Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, Olten, 1967, S. 190, aus einer Rede Alexandra Kollontais). Diese Sichtweise reduziert einerseits die Aktivitäten des Proletariats auf den engen Bereich des „wirtschaftlichen Aufbaus“ und schreibt andererseits bürokratischen Organen, welche die Fähigkeiten des Proletariats verstümmeln, den Gewerkschaften, eine utopische Mission zu, nämlich die Selbsttätigkeit der Massen zu entwickeln.
[5] Vgl. Maurice Brinton, The Bolsheviks and Workers‘ Control, Einführung, https://www.marxists.org/archive/brinton/1970/workers-control/index.htm.
[6] zit. nach Marcel Liebmann, Le Léninisme sous Lénine, S. 167
[7] E.H. Carr, The Bolshevik Revolution, Kap. VIII, “Der Aufstieg der Partei”, S. 192 der Penguin-Ausgabe von 1973
[8] Ebenda, Note A, “Lenins Staatstheorie”, S. 251.
[9] Aus Internationale Revue 99 (engl./frz./span. Ausgabe), “Das Scheitern der Russischen Revolution verstehen” (Teil 1), S. 17.
[10] Ebenda, Zitat von Ossinski, einem Mitglied der linken Flügel in der Partei.
[11] Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, S.181 der spanischsprachigen Ausgabe, von uns übersetzt.
[12] Brinton, a.a.O., Kapitel über 1920. Die Glavki waren Staatsorgane für das Management der Wirtschaft.
[13] Lenin, März 1919, Sitzung des Petrograder Sowjets, Werke Bd. 29 S. 15.
[14] Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, S. 213 der spanischsprachigen Ausgabe, von uns übersetzt.
[15] Zitiert nach Marcel Liebman, Le Léninisme sous Lénine, S. 109
[16] International Review Nr. 99 (engl./frz./span. Ausgabe), a.a.O.
[17] Diese Sorge fand ein Echo bei der Kommunistischen Linken, die „1919 den Wunsch äußerte, man möge eine klarere Unterscheidung machen zwischen Staat und Partei. Ihnen schien es, dass diese mehr als jener auf den Internationalismus konzentriert war, was auf der Linie ihrer eigenen Sorgen lag. Die Partei sollte in einer gewissen Weise die Rolle des Gewissens der Regierung und des Staates spielen“ (Marcel Liebman, a.a.O.). Bilan beharrte auf dieser Gefahr für die Partei, vom Staat aufgesogen zu werden, und für die Arbeiterklasse, ihre Vorhut und ihre Hauptstütze, die Sowjets, zu verlieren: „Die Verwechslung zwischen diesen beiden Begriffen der Partei und des Staates ist besonders schädlich, da es nicht möglich ist, diese beiden Organe zu versöhnen, da es einen unauflösbaren Gegensatz gibt im Wesen, in der Funktion und in den Zielen von Staat und Partei. Das Adjektiv ‚proletarisch’ ändert nichts am Wesen des Staates, der ein ökonomisches oder politisches Zwangsorgan bleibt, während die Partei ein Organ ist, dessen Rolle insbesondere darin besteht, die Befreiung der Arbeiter nicht durch Zwang, sondern durch politische Erziehung zu erreichen“ (Bilan Nr. 26, S. 871).
[18] Pierre Broué, Trotsky, S. 255. Der Autor erzählt die Schilderung des anarchistischen Schriftstellers Leonard Schapiro.
[19] E.H. Carr, The Bolchevik Revolution, Ch. VIII, “The Ascendancy of the party”, Pelican Books, S. 212
[20] Marcel Liebman, a.a.O.
[21] Diese Theorie beruhte auf einer damals von allen Revolutionären geteilte Verwirrung über die Partei, ihr Verhältnis zur Klasse und die Frage der Macht, wie wir schon in einem Artikel der Serie über den Kommunismus, in International Review Nr. 91 (engl./frz./span. Ausgabe) geschrieben haben: „die damaligen Revolutionäre steckten trotz ihrem Engagement für das Rätesystem der Delegation, welches das alte System der parlamentarischen Repräsentation überflüssig machte, noch insofern in der parlamentarischen Ideologie fest, als sie in der Partei, die in den zentralen Sowjets die Mehrheit hatte, das Organ sahen, das die Regierung stellen und den Staat verwalten sollte.“ Tatsächlich wurde die alte Verwirrung verstärkt und bis zu ihrem Extrem getrieben durch die Theoretisierung des immer klareren Beweises der Verwandlung der Bolschewistischen Partei in den Partei-Staat.
[22] Marcel Liebman, a.a.O., S. 280
[23] A.a.O.
[24] A.a.O.
[25] Zitiert in Brintons Broschüre, Kapitel über 1921. Trotzki lag richtig mit der Idee, dass die Klasse durch Phasen der Verwirrung und des Zauderns gehen kann, während die Partei umgekehrt mit einem strengen theoretischen und programmatischen Gerüst gewappnet die Trägerin der geschichtlichen Interessen der Klasse ist und diese Interessen in ihr vertreten soll. Aber sie kann dies nicht mittels einer Diktatur über das Proletariat tun, die es nur schwächt, was zu weiterem Zaudern führt.
[26] Die Plattform der Gruppe der Fühnzehn wurde außerhalb Russlands erstmals durch den Zweig der Italienischen Linken veröffentlicht, welcher in den späten 1920er Jahren die Zeitung Reveil Commniste herausgab. Sie erschien auf Deutsch und Französisch unter dem Titel Vor dem Thermidor. Revolution und Konterrevolution in Sowjetrussland. Die Plattform der linken Opposition in der bolschewistischen Partei (Sapronow, Smirnow, Oborin, Kalin usw.) Anfang 1928.
[27] Rosa Luxemburg, Die Russische Revolution
[28] Lenin, Politischer Bericht des Zentralkomitees vom 7. März 1918 an den Außerordentlichen 7. Parteitag der KPR(B), Werke Bd. 27 S. 79 f.
[29] Kapitel V, „4. Die höhere Phase der kommunistischen Gesellschaft“
[30] Wie Marx benutzte auch Lenin den Begriff „erste Phase des Kommunismus“ nicht sauber, denn in Wirklichkeit leben wir nach der Zerstörung des bürgerlichen Staats immer noch unter einer Form des Kapitalismus mit einer besiegten Bourgeoisie, und wir denken, es ist präziser, wenn wir stattdessen von einer „Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus“ sprechen.
[31] In Verratene Revolution greift Trotzki die gleiche Idee auf, wenn er über den „doppelten“ Charakter des Staates spricht, „sozialistisch“ auf der einen Seite, aber „bürgerlich ohne Bourgeoisie“ auf der anderen. Vgl. dazu auch unseren Artikel in der Serie über den Kommunismus in International Review Nr. 105.
[32] Wie Marx in der Kritik des Gothaer Programms sagte, hat der Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ noch gar nichts mit Sozialismus zu tun.
[33] Alexandra Kollontai in einer Intervention am 10. Parteitag, 1921, zitiert nach Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, Olten, 1967, S. 184. Ante Ciliga geht in seinem Buch Dix ans au pays du mensonge déconcertant in eine ähnliche Richtung: „Was diese Opposition vom Trotzkismus trennte, war nicht nur die Art, das Regime zu beurteilen und die gegenwärtigen Probleme zu verstehen. Vielmehr ging es dabei um das Verständnis der Rolle des Proletariats in der Revolution. Für die Trotzkisten war die Partei, für die Gruppen der extremen Linken war die Arbeiterklasse der Motor der Revolution. Der Kampf zwischen Stalin und Trotzki betraf die Politik der Partei, das leitende Personal der Partei; für den einen wie für den anderen war das Proletariat nur passives Objekt. Die Gruppen der extremen kommunistischen Linken hingegen interessierten sich vor allem für die Lage und die Rolle der Arbeiterklasse, dafür, was sie tatsächlich in der sowjetischen Gesellschaft war, und dafür, was sie in einer Gesellschaft sein sollte, die sich ehrlich die Aufgabe der Errichtung des Sozialismus stellt.“ (aus der französischen Ausgabe (1977, S. 259) von uns übersetzt, da diese Stelle in der deutschen Ausgabe Im Land der verwirrenden Lüge, Kapitel „Und jetzt?“ fehlt)
[34] Erster Entwurf zum „Bürgerkrieg in Frankreich“, Der Charakter der Kommune
[35] International Review Nr. 77 (engl./frz./span. Ausgabe), “1871, die erste proletarische Revolution”
[36] Lenin, Politischer Bericht des Zentralkomitees der KPR(B) vom 27. März 1922 an den XI. Parteitag, Werke Bd. 33 S. 266
[37] Victor Serge, L’An I de la Révolution russe, Band II, „Die sowjetische Verfassung“ (Übersetzung von uns)
[38] Entwurf des Programms der KPR(B), Lenin Werke Bd. 29 S. 93
[39] In seinem Grußschreiben an die Bayerische Räterepublik, die nur gerade drei Wochen dauern sollte, bevor sie im Mai 1919 durch die Truppen der sozialdemokratischen Regierung niedergeschlagen wurde, scheint Lenin für die Unabhängigkeit der Arbeiterräte einzutreten: „Die schnellste und umfassendste Durchführung dieser und ähnlicher Maßnahmen bei eigener Initiative der Arbeiter- und Landarbeiterräte und gesondert von ihnen der Kleinbauernräte wird Ihre Stellung festigen.“ 27. April 1919, Werke Bd. 29 S. 314
[40] Lenin scheint seine Zweifel darüber gehabt zu haben, denn er nannte diesen Staat bei verschiedenen Gelegenheiten „einen Arbeiter- und Bauernstaat mit bürokratischen Auswüchsen“; und 1921 während der Debatte über die Gewerkschaftsfrage vertrat er die Auffassung, dass das Proletariat in Gewerkschaften organisieren sollte und das Recht habe, sich mit Streiks gegen „seinen“ Staat zu verteidigen: „Indessen macht aber Gen. Trotzki (…) gleich selber einen Fehler. Nach ihm ist der Schutz der materiellen und geistigen Interessen der Arbeiterklasse nicht Sache der Gewerkschaften im Arbeiterstaat. Das ist ein Fehler. Gen. Trotzki spricht vom ‚Arbeiterstaat’. Mit Verlaub, das ist eine Abstraktion. Als wir 1917 vom Arbeiterstaat schrieben, war das verständlich; sagt man aber jetzt zu uns: ‚Wozu und gegen wen soll die Arbeiterklasse geschützt werden, wo es doch keine Bourgeoisie gibt, wo wir doch einen Arbeiterstaat haben’, so begeht man einen offensichtlichen Fehler. Es ist nicht ganz ein Arbeiterstaat, das ist es ja gerade. Hier liegt eben einer der grundlegenden Fehler des Gen. Trotzki. Wir sind jetzt von den allgemeinen Prinzipien zur sachlichen Erörterung und zu Dekreten übergegangen, man will uns aber von der Inangriffnahme des Praktischen und Sachlichen zurückzerren. So geht es nicht. Wir haben in Wirklichkeit nicht einen Arbeiterstaat, sondern einen Arbeiter- und Bauernstaat. Das zum ersten. Daraus aber folgt sehr viel. (Bucharin: „Was für einen Staat? Einen Arbeiter- und Bauernstaat?“) Gen. Bucharin schreit zwar da hinten: ‚Was für einen Staat? Einen Arbeiter- und Bauernstaat?’, ich werde ihm aber darauf nicht antworten. Wer Lust hat, der mag sich an den soeben zu Ende gegangenen Sowjetkongress erinnern, und das wird schon einen Antwort sein. – Aber nicht genug damit. Aus unserem Parteiprogramm – einem Dokument, das dem Verfasser des ‚ABC des Kommunismus’ sehr gut bekannt ist –, aus diesem Programm ist bereits ersichtlich, dass unser Staat ein Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen ist. Ja, mit diesem traurigen – wie soll ich mich ausdrücken? – Etikett mussten wir ihn versehen. Da haben Sie die Realität des Übergangs. Was meinen Sie, haben in einem praktisch derart beschaffenen Staat die Gewerkschaften nichts zu schützen, kann man ohne sie auskommen, wenn man die materiellen und geistigen Interessen des in seiner Gesamtheit organisierten Proletariats schützen will? Das ist theoretisch eine völlig falsche Argumentation. Das versetzt uns in den Bereich der Abstraktion oder des Ideals, das wir in 15-20 Jahren erreichen werden; aber ich bin nicht einmal so sicher, dass wir es in dieser Frist erreichen werden. Wir haben aber die Wirklichkeit vor uns, die wir gut kennen, wenn wir uns nur nicht berauschen und nicht hinreißen lassen von Intellektuellengerede oder von abstrakten Betrachtungen oder von dem, was manchmal als ‚Theorie’ erscheint, in Wirklichkeit aber ein Irrtum, eine falsche Einschätzung der Besonderheiten des Übergangs ist. Unser heutiger Staat ist derart beschaffen, dass das in seiner Gesamtheit organisierte Proletariat sich schützen muss, wir aber müssen diese Arbeiterorganisationen zum Schutz der Arbeiter gegenüber ihrem Staat und zum Schutz unseres Staates durch die Arbeiter ausnutzen.“ Über die Gewerkschaften, die gegenwärtige Lage und die Fehler Trotzkis, 30. Dezember 1920, Werke Bd. 32 S. 6 f.
[41] Lenin trat für eine Arbeiter- und Bauerninspektion (1922) ein, die aber schnell ihr Ziel der Kontrolle verfehlte und sich in eine zusätzliche bürokratische Kommission verwandelte.
[42] Vgl. Internationale Revue Nr. 49, „Was sind Arbeiterräte?“, Teil 2: „Das Wiederaufleben und die Krise der Arbeiterräte 1917“.
[43] Vgl. Internationale Revue Nr. 49, „Was sind Arbeiterräte?“, Teil 3: „Die Revolution von 1917 (von Juli bis Oktober): Von der Erneuerung der Arbeiterräte zur Machtergreifung“.
[44] Brinton, a.a.O., siehe Fußnote 10 S. 32 der spanischen Ausgabe, von uns übersetzt.
[45] Ebenda., S. 47 der spanischen Ausgabe, von uns übersetzt.
[46] Ohne hier in die Diskussion über die Notwendigkeit einer Roten Armee in dieser Phase der Übergangsperiode einzutauchen, die wir die Phase des Weltbürgerkriegs nennen können (d.h. solange das Proletariat noch nicht weltweit die Macht übernommen hat), scheint doch am russischen Beispiel offensichtlich, was folgt: Die Bildung der Roten Armee, ihre rasche Bürokratisierung und Behauptung als staatliches Organ, das gänzliche Fehlen eines proletarischen Gegengewichts in der Armee – all dies war Ausdruck eines für das Proletariat auf Weltebene sehr ungünstigen Kräfteverhältnisses zur Bourgeoisie. Wie wir im Artikel der Serie über den Kommunismus in der International Review Nr. 96 (engl./frz./span. Ausgabe) bemerkt haben: „Je mehr sich die Revolution weltweit ausdehnt, umso mehr wird sie direkt durch die Arbeiterräte und ihre Milizen geleitet, umso mehr werden die politischen über die militärischen Gesichtspunkte die Oberhand gewinnen, umso weniger wird es eine ‚Rote Armee‘ brauchen, um den Kampf zu führen“.
[47] Zitiert nach Brinton, Kapitel über 1917. Begeistert über den Ausgang der Konferenz, erklärte Lenin, dass „wir das Gravitationszentrum zu den Fabrikkomitees verschieben müssen. Die Fabrikkomitees müssen die Organe des Aufstands werden. Wir müssen unsere Parole ändern, statt ‚Alle Macht den Sowjets‘, müssen wir sagen: ‚Alle macht den Fabrikkomitees‘“ (ebda.).
[48] Ebenda, S. 35 der spanischen Ausgabe.
[49] Ebenda, S. 50 der spanischen Ausgabe.
[50] Ebenda., Kapitel über 1919. Die russische Erfahrung zeigt schlüssig das reaktionäre Wesen der Gewerkschaften auf, ihre unabwendbare Tendenz, sich in staatliche Struktur zu verwandeln und ihr unauflöslicher Gegensatz zu den neue Organisationsformen, die das Proletariat ab 1905 auf dem Hintergrund der neuen Bedingungen im dekadenten Kapitalismus und angesichts der Notwendigkeit der Revolution entwickelt hatte.
[51] Brinton, Kapitel über 1920, aus R.V. Daniels’ The Conscience of the Revolution zitierend.
[52] „Eine Politik der proletarischen Verwaltung kann deshalb (…) nur dann einen sozialistischen Inhalt haben, wenn sie einen wirtschaftlichen Kurs verfolgt, der dem kapitalistischen diametral entgegen gesetzt ist, wenn er eine zunehmende und konstante Verbesserung der Lebensbedingungen der Massen verfolgt, und nicht eine Verschlechterung“ (Bilan Nr. 28, „Probleme der Übergangsperiode“).
[53] International Review Nr. 95 (engl./frz./span. Ausgabe), “Das Programm der Diktatur des Proletariats”
[54] Marx, Lohn Preis und Profit
[55] Die Gruppe entstand 1922; sie war eine der letzten linken Fraktionen, die aus der Bolschewistischen Partei im Kampf für ihr Wiedererstehen, für ihre Wiederaneignung durch die Arbeiterklasse hervorgingen. Vgl. das Buch der IKS The Russian Communist Left.
[56] zit. nach Maurice Brinton, The Bolsheviks and Workers‘ Control, Übersetzung von uns aus dem Englischen