Heißer Herbst in Italien 1969

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Anlässlich des 40jährigen Jahrestages des Heißen Herbstes in Italien erinnern wir an die damals bedeutenden Kämpfe und gehen der Frage nach, welche von den damals gezogenen Lehren sich als richtig erwiesen haben.

Das Klassenbewusstsein der Arbei­terklasse ist ein historisches, d.h. die Arbeiter können nur siegen, wenn sie nicht allein aus ihren unmittelbaren Kämpfen, sondern aus ihrer Geschichte lernen. Eine der spezifischen Aufgaben der Revolutionäre besteht darin, die Lehren aus der Geschichte zu ziehen, sie für künftige Generationen hinüberzuretten, sie in den Kämpfen von heute und morgen nutzbrin­gend einzubringen.

Es geht zunächst um die Frage, wie ist der ‚Heiße Herbst‘ in Ita­lien zu erklären, was waren seine Ursachen. Welche Erklärungsversuche haben sich als richtig erwiesen, die der Linkskommunisten oder die der sogenannten Operaisten von Potere Ope­raio (PO, auch als Arbeiterautonomie, Autonomia Operaia) bekannt? Welche Lehren sind aus den damaligen Kämpfen zu ziehen, welche Lehren sind von den beiden oben genannten Gruppierungen gezogen worden? Welche Erklärung gibt es dafür, dass manche Wortführer von damals heute in bürgerlichen Regierungen sitzen?

Die IKS und ihre Vorläufer zur damaligen Zeit als Vertreter des Linkskommunismus sahen und sehen den ‚Heißen Herbst‘ in Italien nicht isoliert, sondern als Teil des weltweiten Wie­derauflebens des Klassenkampfes nach jahrzehntelanger sozialdemokratischer, stalinistischer und faschistischer Konterrevolution. Diese Kämpfe waren die Reaktion einer neuen Generation von Arbeitern auf die nach der Wiederaufbauzeit, die den Verwüstungen des 2.Weltkriegs folgte, zurückkehrende Dauerkrise des Kapitalismus. Es war eine ungeschlagene Gene­ration der Arbeiterklasse, nicht demoralisiert durch die finsteren Zeiten der Konterrevolution. Diese neue Generation war freilich auch von den Erfahrungen der früheren Generationen abgeschnitten. PO sah die Ursache des ‚Heißen Herbstes‘ mehr als eine Besonderheit Italiens, verursacht durch die aus Süditalien emigrierten Massenarbeiter an den Fließbändern der riesigen Fabri­ken Norditaliens. Die Operaisten glaubten damals wie viele andere, der Kapitalismus habe seine Krisen endgültig überwunden. Sie führten ein neues Konzept der Krise des Kapitals ein, „die keine spontane Wirtschaftskrise mehr ist, welche von inneren Widersprüchen hervorge­rufen wird, sondern eine politische Krise, die von den subjektiven Bewe­gungen der Arbeiterklasse, durch ihre Forderungskämpfe hervorgerufen wird.“ Später meinten sie, die Krise werde absichtlich von den Kapitalisten ausgelöst, z.B. die Arbeitslosig­keit bewusst inszeniert, um die Arbeiter besser disziplinieren zu können.

Die Entwicklung der damaligen Kämpfe

Die Kämpfe in Italien begannen bereits im Herbst 1968 mit wilden Streiks. Es war vor allem ein Kampf gegen die zunehmende Arbeitshetze. In den Riesenwerken von Pirelli und La Bioccoca in Turin und Mailand fand unter Führung der stalinistischen Gewerkschaft über mehrere Monate ein sog. Leistungsstreik statt.

Das bedeutet, dass die Arbeiter quasi die ganze Produktion mitorganisierten mit dem Ziel, die Arbeitsabläufe zu verlangsamen. Die sog. Operaisten von Potere Operaio sahen darin einen mustergültigen Klassenkampf. Aber die politischen Ergebnisse dieses Kampfes fielen keines­wegs zugunsten des Proletariats aus. Während am Anfang der Bewegung die Verbindung zwischen den verschiedenen Abteilungen der Riesenwerke durch Umzüge demonstrierender Arbeiter hergestellt wurde, führte die angeblich ‘proletarische’ Reorganisation der Produk­tion zur Isolierung voneinander, indem die Massenversammlungen der kämpfenden Arbeiter durch die Tätigkeit der ‘Produktionsspezialisten’ ersetzt wurden, die für eine gleichmäßige Verlangsamung der Produktion sorgen wollten. Das Ganze führte außerdem dazu, dass die Arbeiter selbst begannen, in betriebswirtschaftlichen - sprich kapitalistischen - Kategorien zu denken, sich von den Arbeitern außerhalb zu isolieren. Diese Sackgasse der Verlangsamung der Produktion, statt den Kampf auszuweiten, trug dazu bei zu verhindern, dass das italieni­sche Proletariat bereits 1968 mit Massenstreiks unmittelbar dem französischen Beispiel folgte. Aber das reichte nicht aus, um die Kampfkraft der Klasse insgesamt wieder abzuwür­gen. Jedenfalls gingen die Arbeiterkämpfe bald weit über dieses ‘Modell’ hinaus. Eine zweite große Kampfwelle begann im Frühjahr 1969, als die Beschäftigten von Fiat Turin in einen Solidaritätsstreik mit den von der Polizei belagerten Arbeitern der süditalienischen Kleinstadt Battipaglia traten (bei der Belagerung waren Arbeiter von der Polizei erschossen worden). Die Unruhe der Arbeiter schwoll zu einer breiten Streikbewe­gung an, zum sog. ‘roten’ oder ‘schleichenden Mai’ (maggio striciante).

Aber obwohl die Gewerkschaften sich als ‘Organisatoren des Kampfes’ aufspielten, hat­ten sie die Lage nicht im Griff. Die Arbeiter stellten ihre eigenen Forderungen an Stelle der ge­werkschaftlichen auf. Sie tauschten die gewerkschaftliche Streikleitung durch eigene, von Vollversammlungen gewählte, jederzeit wieder abwählbare Delegierte aus. Teilweise wurden die Gewerkschaftsvertreter auf den Vollversammlungen ausgepfiffen oder gar ausgeschlossen. Es festigte sich die Idee, dass im Kampf die Arbeiter alles selber in die Hand nehmen müssen und nichts den Gewerkschaften überlassen dürfen. Vor den großen Fabriken fanden wöchentlich öffentliche Vollversammlungen statt, so dass Arbeiter aus der gesamten Umgebung daran teilnehmen konnten.

Diese zweite Kampfeswelle gipfelte am 3.Juli in einem Generalstreik in Turin gegen die all­gemeinen Mieterhöhungen in der Stadt. Die Arbeiter der Großbetriebe und die Bevölkerung der armen Stadtteile kamen in einer großen Demonstration zusammen, die in Straßenschlach­ten und im Barrikadenbau endete. Damals wohnten Zehntausende Arbeiter aus Süditalien in primitiven Schlafsälen, andere mussten sogar in den Bahnhofswartesälen übernachten. Kapi­talisten wie die Agnelli Familie, Besitzer der FIAT-Werke, reagierten gewöhnlich auf Lohn­erhöhungen der Arbeiter mit Mieterhöhungen, um das Geld wieder reinzuholen. Unter der Führung der streikenden Arbeiter in den Fabriken bildeten sich Stadtteilkomitees, um gegen Mieterhöhungen zu kämpfen und die gewaltsame Räumung von mietsäumigen Arbeiterfa­milien zu verhindern.

Wie Rosa Luxemburg bereits 1906 in ihrer Massenstreikbroschüre betonte, überwindet der Arbeiterkampf notwendigerweise die künstliche Trennung zwischen dem politischen, ökono­mischen und sozialen Kampf, und erhebt damit den Anspruch des Proletariats, der Gesell­schaft eine neue Führung zu geben. Ohne die Führung durch die Arbeiterklasse bleiben die Proteste der anderen Bevölkerungsschichten perspektivlos und ohnmächtig. So z.B. die Prote­ste der sog. Hausbesetzerbewegung der 70er und 80er Jahre, die zu nichts als ein paar auto­nomen Ghettos geführt haben.

Es folgte die Sommerpause, die die Klasse zum Nachdenken und zum Sammeln ihrer Kräfte nützte.

Die selbsternannten ‘Avantgarden’ nützten die Verschnaufpause aber, um zu versuchen, an­stelle der diskreditierten Gewerkschaften die Organisation der bevorstehenden Kämpfe in die Hand zu bekommen. Unter der Parole „Vereinigen wir die Kämpfe, schaffen wir die Organi­sation“ fand am 26. /27. Juli ein Kongress der ‘Arbeiterdelegationen und Betriebsavantgar­den’ in Turin statt, mit dem Ziel, eine nationale, permanente Streikführung einzurichten. Die treibenden Kräfte dieses Vorstoßes waren die Gruppen Lotta Continua und Potere Operaio. Im Laufe der Zeit verstand sich Potere Operaia zunehmend als eine im Betrieb verankerte Alternative zu den von den Arbeitern oft verhassten ‘K-Gruppen’. Die Kritik an den 'K-Grup­pen‘ „war aber niemals grundsätzlicher Art, sondern beschränkte sich weitgehend darauf den 'K-Gruppen‘ vorzuwerfen, ‚abgehoben draußen vor den Fabriktoren ihre Flugblätter zu verteilen, anstatt in den Fabriken verankert zu sein.“ (Artikel zu K.H. Roth in Weltrevolution Nr.95)

Vollversammlungen kontra Stellvertreterpolitik

Auf diesem Kongress brachten Lotta Continua und Potere Operaio unverhohlen ihr Miss­trauen gegenüber den von den Vollversammlungen gewählten Streikkomitees zum Ausdruck. Sie warfen den selbstorganisierten Arbeitern vor, quasi Ersatzgewerkschaften zu schaffen, weil die Delegierten in den jeweiligen Betrieben verankert waren, also nicht permanent und natio­nal organisiert waren. Die Arbeiterdelegierten hingegen bestanden darauf, der Schwer­punkt der Bewegung müsse in den Betrieben verbleiben. Die Arbeiter spürten instinktiv, dass ihre Delegierten ohnmächtig wurden, sobald die Betriebe nicht mehr mobilisiert waren, d.h. sobald die Klasse insgesamt mittels der Vollversammlungen nicht mehr die Kämpfe von un­ten dirigierten. Wenn die Klasse nicht kämpft, können Delegierte nichts mehr ausrichten, wer­den überflüssig, es sei denn, sie suchen eine alternative Machtbasis, und zwar auf der Seite des Kapitals - eine andere gibt es in dem Klassenkampf zwischen Lohnarbeit und Kapital nicht. Die einstigen Delegierten selbst werden dies anders sehen, ihre neue Machtbasis in ih­rem Verhandlungsgeschick und ihrer ‘Expertise’ erblicken. Sie werden sich zunehmend auf ihre Beziehungen zum Gewerkschaftsapparat, auf machtpolitische Schachzüge verlassen. Sie werden beginnen, die Arbeiter zu verachten, die sich für die Feinheiten der Arbeit der ‘Ex­perten’ nicht interessieren und ihre ‘Selbstaufopferung’ geringschätzen. Sie werden beginnen, die Arbeiter als eine passive Manövriermasse zu betrachten. M.a.W. permanente Delegierte, welche sich zu einer zentralen Streikleitung zusammenschließen, wie von Lotta Continua und Potere Operaio auf diesem Kongress verlangt, werden zu neuen Gewerkschaften, zu zusätzlichen Hindernissen für den autonomen Arbeiterkampf.

Der heiße Herbst

Weil die Kraft des Klassenkampfes noch ausreichte, um diese und andere Versuche, während des Sommers das Schwergewicht von den kämpfenden Arbeiter wegzuverlagern, zu vereiteln, konnte es zum Gipfel der gesamten Bewegung im Herbst 1969 kommen. Der Heiße Herbst wurde durch einen riesigen, spontanen, außergewerkschaftlichen Streik am 2.September in der Halle 32 des FIAT-Werks in Turin ausgelöst, und dauerte teilweise bis Dezember an, bis durch deutliche Zugeständnisse die Kapitalisten die Proletarier für längere Zeit wieder zur Arbeit bewegen konnten. Wichtig war außerdem, dass die Gewerkschaften sich davor hüteten, sich offen den kämpfenden Arbeitern entgegenzustellen, sondern stattdessen bestrebt waren, dass die Arbeiterdelegierten von den Unternehmern anerkannt wurden als ständige d.h. ge­werkschaftliche Vertreter, welche an Stelle der kämpfenden Arbeiter handeln. Auf diese Weise sorgten die Gewerkschaften dafür, dass die erste Kampfeswelle des Proletariats Ende 1969 ihren Höhepunkt bereits überschritten hatte, und danach abebbte bis zur Niederlage der Arbeiter von FIAT Mirafiori 1973.

Die wirklichen Hindernisse für den Zusammenschluss befinden sich in den Köpfen

Nach Auffassung der Operaisten ging es nur um die Hegemonie der Massenarbeiter über die Passivität und den Widerstand bestimmter Schichten der Klasse. Und um das zu erreichen, ist eine Organisation zu schaffen, die kompetenter ist bei der Verwaltung der Kämpfe als die Gewerkschaften. „Warum üben die Gewerkschaften noch die Kontrolle über den Ablauf der Kämpfe aus? Einfach wegen ihrer organisatorischen Überlegenheit. Es handelt sich um ein 'Management' -Problem.“ (Artikel zur Autonomia in Weltrevolution Nr.95) Die Revolutio­näre werden hier gesehen als technische Organisatoren des Klassenkampfes. Nach dieser Vor­stellung ist die Vereinigung der Arbeiter vor allem eine Sache der Ortskenntnisse, von Schleichwegen, des Ausnutzens der ‚legalen‘ Kommunikation im Betrieb durch einige Ex­perten. Aber die Arbeiterklasse wird im Laufe ihres Kampfes schon Wege finden um zusam­menzukommen. Das Entscheidende ist das Bewusstsein über die Notwendigkeit der Vereini­gung der Kämpfe, darüber, dass der auf den einzelnen Betrieb beschränkte Kampf eine Sack­gasse ist. Die wirklichen Hindernisse sind keineswegs die Tore und Zäune, sondern die Mau­ern in den Köpfen, die der Kapitalismus bzw. die herrschende Klasse zwischen den Arbeitern aufrichtet.

In dem Maße wie die Welle von Kämpfen, die 1968 begann, nachließ, als deutlich wurde, dass die kapitalistische Krise unübersehbar zurückgekehrt war, und der Klassenkampf entgegen der Annahme der Operaisten nicht permanent ist, sondern wellenförmig und explosionsartig, setzte man auf das Erlernen von Tricks, die ein guter Guerillero kennen muss, auf die ‘Ar­beiteruntersuchung', um Hintertürchen und schwache Stellen zu erkunden. Andere Reaktio­nen auf den Rückgang der Kämpfe waren der Terrorismus, ein voluntaristischer Versuch dem Rückfluss entgegenzusteuern, und die Verlagerung des Kampfes von der Fabrik auf neue Kampfgebiete, z. B. auf den Stadtteil, was, wie gesagt nur zum Ghetto der Autonomen führte.

Die Kampfmethoden der weltweiten Kämpfe der späten 60er und frühen 70er Jahre waren vielmehr eine Bestätigung der Thesen der Kommunistischen Linken, hier vornehmlich der deutsch-holländischen Linken, welche von Rosa Luxemburg und der deutschen Revolution ausge­hend, die Selbstorganisierung der Klasse gegen Kapital und Gewerkschaften betonte.

Gegen die Auffassung der Operaisten, die Revolutionäre seien die technischen Organisatoren des Klassenkampfes, und gegen ihre Be­schränkung auf den Betrieb lassen wir Lenin und Luxemburg zu Wort kommen, wobei bei dem von ihnen damals verwendeten Begriff Sozialdemokratie die revolutionäre Arbeiterpartei gemeint war, und selbstverständlich nicht die SPD von heute: „Wer die Aufmerksamkeit, die Beobachtungsgabe und das Bewusstsein der Ar­beiterklasse ausschließlich oder vorwiegend auf sich selber lenkt, der ist kein Sozialdemo­krat, denn die Selbsterkenntnis der Arbeiterklasse ist untrennbar verbunden [....] mit den an­hand der Erfahrung des politischen Lebens erarbeiteten Vorstellungen von den Wechselbe­ziehungen aller Klassen der modernen Gesellschaft.“ (Lenin, Was tun?) „Statt sich mit der technischen Seite, mit dem Mechanismus des Massenstreiks fremden Kopf zu zerbrechen, ist die Sozialdemokratie gerufen, die politischen Leitung auch mitten in der Revolutionsperiode zu übernehmen.“ (Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Luxemburg Werke, Bd.2, S.133)

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