Die 1950er und 60er Jahre: Damen, Bordiga und die Leidenschaft für den Kommunismus

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Vor unserem Streifzug durch die Geschichte der Versuche des spanischen Anarchismus, einen "libertären Kommunismus" während des Krieges in Spanien von 1936-39 zu verwirklichen, haben wir den Beitrag der Gauche Communiste de France (GCF) über den Staat in der Übergangsperiode[1] veröffentlicht. Es ist ein Text, der auf den theoretischen Fortschritten der italienischen und belgischen Linksfraktionen in den 1930er Jahren basiert und bereits in mehrfacher Hinsicht über deren Vorstellungen hinausgeht. Die GCF war Teil eines Wiederauflebens proletarischer politischer Organisationen nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber Anfang der 1950er Jahre befand sich das proletarische Milieu in einer schweren Krise, da immer deutlicher wurde, dass die tiefe Niederlage der Arbeiterklasse durch den Krieg nicht verflogen war. Im Gegenteil, der Sieg der Demokratie über den Faschismus hatte die Orientierungslosigkeit des Proletariats weiter verschärft. Das Ende der Konterrevolution, die in den 1920er Jahren begonnen hatte, war noch weit entfernt.

In unserem Buch Die Deutsch-Holländische Linke, insbesondere in Kapitel 11, "Der Communistenbond Spartacus und die 'Rätekommunistische Strömung‘ (1942-50)", haben wir uns mit den bedeutenden Entwicklungen beschäftigt, die in einem Teil der holländischen kommunistischen Linken stattfanden. Der Versuch des Communistenbond Spartacus, sich für Diskussionen mit anderen Strömungen (wie der GCF) zu öffnen und einige der alten Positionen der KAPD wieder einzunehmen, war eine Abkehr von den in den 30er Jahren entwickelten parteifeindlichen Ideen. Diese Fortschritte waren jedoch zerbrechlich, und die grundsätzlich anarchistischen Ideen, die von der Mehrheit der Deutsch-Holländischen Kommunistischen Linken als Reaktion auf die Degeneration des Bolschewismus angenommen worden waren, kehrten bald wieder mit Wucht  zurück und trugen zu einem langwierigen Prozess der Auflösung in hauptsächlich lokale Gruppen bei, die sich auf die unmittelbaren Kämpfe der Arbeiter*innen konzentrierten.

1952 löste sich die GCF auf. Zum Einen durch eine Fehldiagnose der historischen Lage, die zu dem Schluss führte, dass ein dritter Weltkrieg unmittelbar bevorstünde, und durch die Abreise von Marc Chirik, dem einflussreichsten Mitglied der GCF, nach Venezuela, und zum Anderen durch eine Kombination aus persönlichen Spannungen und unausgesprochenen politischen Differenzen. Marc kämpfte gegen diese Schwierigkeiten in einer Reihe von Briefen aus der Ferne, in denen er versuchte, die Aufgaben revolutionärer Organisationen unter den historischen Bedingungen, denen sie jetzt gegenüberstanden, darzustellen, aber er konnte den Zerfall der Gruppe nicht aufhalten. Einige seiner ehemaligen Mitglieder schlossen sich der Gruppe Socialisme ou Barbarie um Cornelius Castoriadis an – darüber mehr in einem späteren Artikel.

Im selben Jahr fand eine Spaltung in zwei große Tendenzen innerhalb der Internationalistischen Kommunistischen Partei in Italien statt – Tendenzen, die von Anfang an mehr oder weniger bestanden hatten, die aber in der Lage waren, eine Art Modus Vivendi zu etablieren, als sich die Partei in einer euphorischen Wachstumsphase befand. Als der Rückzug im Klassenkampf immer offensichtlicher wurde, war die Organisation angesichts der Demoralisierung vieler Arbeiter, die sich ihr zu Beginn oberflächlich aktivistisch angeschlossen hatten, gezwungen, über ihre zukünftigen Aufgaben und Ausrichtungen nachzudenken.

Die 1950er und frühen 60er Jahre waren somit eine weitere dunkle Periode für die kommunistische Bewegung, welche vor einer Fortsetzung der tiefen Konterrevolution stand, die in den 30er und 40er Jahren über die Arbeiterklasse hereingebrochen war. Dieses Mal aber vom Bild eines triumphierenden Kapitalismus beherrscht, der sich – vielleicht endgültig – von der katastrophalen Krise der 30er Jahre erholt zu haben schien. Es war vor allem der Triumph des US-Kapitals, der Demokratie, einer Wirtschaft, die relativ schnell von den Sparmaßnahmen der Nachkriegszeit in den Konsumboom der späten 50er und frühen 60er Jahre überging. Sicherlich hatte diese "glorreiche" Periode ihre Schattenseiten, vor allem die unerbittliche Konfrontation zwischen den beiden imperialistischen Supermächten mit ihrer Verbreitung lokaler Kriege und der übergreifenden Bedrohung durch einen nuklearen Holocaust. Darüber hinaus gab es im "demokratischen" Block eine Zunahme der Paranoia über Kommunismus und Subversion, wie die McCarthy-Hexenjagden in den USA zeigten. In dieser Atmosphäre waren die revolutionären Organisationen, wo immer sie noch existierten, noch kleiner und noch isolierter als in den 1930er Jahren.

Diese Periode markierte somit einen tiefen Bruch in der Kontinuität mit der Bewegung, die die Welt nach dem Ersten Weltkrieg erschüttert hatte, und mit den mutigen Minderheiten, die sich der fortschreitenden Konterrevolution widersetzt hatten. Als der Wirtschaftsboom weiterging, erschien die Vorstellung dass der Kapitalismus ein vorübergehendes System sei, das durch seine eigenen inneren Widersprüche zum Scheitern verurteilt war, weit weniger offensichtlich als in den Jahren 1914-1945, als das System von einer gigantischen Katastrophe in die nächste stürzte. War der Marxismus selbst gescheitert? Dies war sicherlich die Botschaft, die eine ganze Reihe von Soziologen und anderen professionellen bürgerlichen Denkern verbreitete, und solche Ideen durchdrangen bald die revolutionäre Bewegung selbst, wie wir in unserer jüngsten Serie über die Dekadenz[2] gesehen haben.

Dennoch war die Generation der Militanten, die von der Revolution oder vom Kampf gegen die Degeneration der von ihr geschaffenen politischen Organisationen gestählt worden war, nicht ganz verschwunden. Einige der Schlüsselfiguren der kommunistischen Linken blieben nach dem Krieg und in der Zeit des Rückzugs in den 50er und 60er Jahren aktiv, und für sie war die Perspektive des Kommunismus trotz allem keineswegs tot und begraben. Pannekoek, der zwar nicht mehr direkt mit einer Organisation verbunden war, veröffentlichte sein Buch über die Arbeiterräte und ihre Rolle beim Aufbau einer neuen Gesellschaft[3]. Bis ins hohe Alter blieb er mit einer Reihe von Gruppen in Kontakt, die nach dem Krieg auftauchten, wie zum Beispiel Socialisme ou Barbarie. Militante, die während des Krieges mit dem Trotzkismus gebrochen hatten, wie Castoriadis und Munis, hielten an einer politischen Aktivität fest und versuchten, eine Vision von dem zu entwerfen, was jenseits des kapitalistischen Horizonts lag. Und Marc Chirik, der über ein Jahrzehnt lang "unorganisiert" war, hatte das revolutionäre Denken und Forschen keineswegs aufgegeben. Als er Mitte der 60er Jahre ins organisierte militante Leben zurückkehrte, hatte er seine Ansichten zu einer Reihe von Fragen geklärt, nicht zuletzt zu den Problemen der Übergangsperiode.

Wir werden in den folgenden Artikeln auf die Schriften von Castoriadis, Munis und Chirik zurückkommen. Wir halten es für richtig, über ihre individuellen Beiträge zu sprechen, auch wenn ihre Arbeit fast immer im Rahmen einer politischen Organisation geleistet wurde. Ein revolutionärer Kämpfer existiert nicht nur als Individuum, sondern als Teil eines kollektiven Organismus, der letztlich von der Arbeiterklasse und ihrem Kampf um das Bewusstsein für ihre historische Rolle hervorgebracht wird. Ein Militanter ist per Definition eine Person, die sich mit aller Entschlossenheit dem Aufbau und der Verteidigung einer politischen Organisation widmet und die somit von einer tiefen Loyalität gegenüber der Organisation und ihren Bedürfnissen motiviert ist. Aber – und hier, wie wir unten sehen werden, unterscheiden wir uns von den von Bordiga entwickelten Vorstellungen – die revolutionäre Organisation ist kein anonymes Kollektiv, in dem der Einzelne seine Persönlichkeit opfert und damit seine kritischen Fähigkeiten aufgibt. Eine gesunde politische Organisation ist eine Assoziation, in der die Individualität der verschiedenen Genossen genutzt und nicht unterdrückt wird. In einer solchen Assoziation ist Platz für die besonderen theoretischen Beiträge der verschiedenen Genossen und natürlich für die Debatte über die Differenzen, die von einzelnen Militanten aufgeworfen werden. Wie wir in dieser Serie festgestellt haben, ist die Geschichte des kommunistischen Programms also nicht nur eine Geschichte der Kämpfe der Arbeiterklasse, nicht nur eine Geschichte der Organisationen und Strömungen, die die Lehren aus diesen Kämpfen gezogen und zu einem kohärenten Programm ausgearbeitet haben, sondern auch der einzelnen Militanten, die in diesem Prozess der Ausarbeitung den Weg gewiesen haben.

Damen und Bordiga als revolutionäre Militante

In diesem Artikel kommen wir auf die Arbeit der Italienischen Kommunistischen Linken zurück, die vor dem Krieg mit der Fraktion im Exil einen so unersetzlichen Beitrag zum Verständnis der Probleme des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus geleistet hatte. Dieser Beitrag war auf den marxistischen Grundlagen aufgebaut, welche die linkskommunistische Strömung in Italien in der vorangegangenen Phase, der Zeit des imperialistischen Weltkriegs und der revolutionären Welle der Nachkriegszeit, errichtet hatte. Nach dem zweiten imperialistischen Weltkrieg verschwand das theoretische Erbe der Italienischen Linken trotz der Fehler und Schismen, unter denen die Internationalistische Kommunistische Partei litt, nicht. Und während dieses gesamten Zeitraums, ob wir nun die Frage der Übergangsperiode oder andere Fragen anschauen, ist es unmöglich, das Zusammenspiel und oft auch die Opposition zweier führender Militanter dieser Strömung – Onorato Damen und Amadeo Bordiga – zu ignorieren.

Während der stürmischen Jahre von Krieg und Revolutionen von 1914 bis 1926 bewiesen Damen und Bordiga sehr deutlich ihre Fähigkeit, gegen die herrschende Ordnung zu kämpfen, die das Markenzeichen eines kommunistischen Militanten ist. Damen wurde wegen Agitation gegen den Krieg inhaftiert; Bordiga kämpfte unermüdlich, um die Arbeit seiner Fraktion innerhalb der Sozialistischen Partei zu entwickeln und dann auf eine Spaltung mit dem rechten Flügel und den Zentristen und die Bildung einer kommunistischen Partei mit festen Prinzipien zu drängen. Als die neue Kommunistische Internationale selbst Anfang der 1920er Jahre einen opportunistischen Kurs einschlug, stand Bordiga wieder an vorderster Front gegen die Taktiken der  Einheitsfront und die "Bolschewisierung" der KP. Er hatte den immensen Mut, sich 1926 bei der Sitzung des Exekutivkomitees der KI in Moskau zu erheben und Stalin als Totengräber der Revolution anzuprangern. Im selben Jahr wurde Bordiga selbst verhaftet und auf die Insel Ustica[4] verbannt. Damen war unterdessen auch aktiv gegen die Versuche der KI, der zunächst von der Linken dominierten italienischen Partei eine opportunistische Politik aufzuzwingen. Zusammen mit Fortichiari, Repossi und anderen gründete er 1926 das Comitato di Intesa (Einigungskomitee)[5]. Während der faschistischen Zeit erlebte er mehr als eine Episode der Gefangenschaft und des Exils, aber er wurde nicht zum Schweigen gebracht, was zu einer Gefangenenrevolte in Pianosa führte.

Zu diesem Zeitpunkt gab es jedoch einen Unterschied in der Reaktion der beiden Militanten, der sehr langfristige Folgen haben sollte. Bordiga, unter Hausarrest gestellt und verpflichtet, alle politischen Aktivitäten einzustellen (wie mild die Faschisten damals schienen!), vermied alle Kontakte zu seinen Genossen und konzentrierte sich ganz auf seine Arbeit als Ingenieur. Er erkannte an, dass die Arbeiterklasse eine historische Niederlage erlitten hatte, zog aber nicht die gleiche Schlussfolgerung daraus wie die Genossen, die die Fraktion im Exil bildeten. Letztere verstand, dass es nach wie vor notwendig war, eine organisierte politische Aktivität aufrechtzuerhalten, auch wenn dies nicht mehr in Form einer Partei sein konnte. So war Bordiga zum Zeitpunkt der Gründung der Italienischen Fraktion und während des gesamten folgenden äußerst fruchtbaren Jahrzehnts von diesen theoretischen Entwicklungen völlig abgeschnitten[6]. Damen hingegen pflegte die Kontakte und organisierte nach ihrer Rückkehr nach Italien eine Reihe von Genossen aus der Fraktion mit der Idee, zur Bildung der Partei beizutragen. Dazu gehörten Kämpfer wie Stefanini, Danielis und Lecci, die den wesentlichen Positionen der Fraktion in den 30er Jahren und im Krieg treu geblieben waren. 1943 wurde im Norden Italiens der Partito Comunisa Internazionalista (PCInt) ausgerufen; 1945 wurde die Partei nach einer voreiligen Umgruppierung mit Elementen um Bordiga im Süden Italiens[7] "wieder gegründet".

Infolgedessen war die vereinte Partei, die sich um eine von Bordiga geschriebene Plattform herum bildete, von Anfang an ein Kompromiss zwischen zwei Tendenzen. Die Genossen um Damen waren in vielen grundlegenden Klassenpositionen viel klarer, und diese standen nicht zuletzt im Zusammenhang mit den Entwicklungen der Fraktion – zum Beispiel der ausdrücklichen Übernahme der Theorie der Dekadenz des Kapitalismus und der Ablehnung von Lenins Position zur nationalen Selbstbestimmung.

In diesem Sinne – und wir haben unsere Kritik am tiefgreifenden Opportunismus, der von Anfang an mit der Gründung der Partei verbunden war, nie verheimlicht – zeigte die Tendenz um Damen die Fähigkeit, einige der wichtigsten programmatischen Errungenschaften der Italienischen Fraktion im Exil aufzunehmen und sogar einige der Schlüsselfragen, die innerhalb der Italienischen Fraktion aufgeworfen wurden, zu übernehmen und sich auf eine besser ausgearbeitete Position zuzubewegen. Dies war bei der Gewerkschaftsfrage der Fall: Innerhalb der Fraktion war dies eine ungelöste Debatte gewesen, in der Stefanini als erster die Idee verteidigt hatte, dass die Gewerkschaften bereits in den kapitalistischen Staat integriert worden seien. Obwohl man nicht sagen kann, dass die Position der Damen-Tendenz in der Gewerkschaftsfrage jemals völlig einheitlich war, war sie zweifellos klarer als diejenige, die nach der Spaltung von 1952 zur dominierenden "bordigistischen" Ansicht wurde.

Dieser Klärungsprozess erstreckte sich auch auf die Aufgaben der kommunistischen Partei in der proletarischen Revolution. Wie wir in früheren Artikeln dieser Serie[8] gesehen haben, war die Fraktion trotz einiger hartnäckiger Vorstellungen über die Partei, die die Diktatur des Proletariats ausübt, im Wesentlichen über diese Position hinausgegangen, indem sie daran festhielt, dass eine wichtige Lehre der Russischen Revolution darin bestand, dass die Partei sich nicht mit dem Übergangsstaat verbinden sollte. Die Damen-Tendenz ging noch weiter und machte deutlich, dass es die Aufgabe der Partei war, keine Macht auszuüben. In der Plattform von 1952 heißt es zum Beispiel: "Zu keiner Zeit und unter keinen Umständen sollte das Proletariat seine Rolle im Kampf aufgeben. Es sollte seine historische Mission nicht an andere delegieren oder seine Macht auf andere übertragen – nicht einmal auf seine eigene politische Partei."

Wie wir in unserem Buch Die Italienische Kommunistische Linke zeigen, waren diese Erkenntnisse ganz logisch mit bestimmten Entwicklungen in der Staatsfrage verknüpft:

"Viel kühner war die Position der PCInt in der Frage des Staates in der Übergangsperiode, wo er sichtlich von Bilan und Octobre geprägt worden war. Damen und seine Genossen lehnten die Gleichsetzung der Diktatur des Proletariats mit der Parteidiktatur ab. Hinsichtlich des 'proletarischen Staates' trat er für eine weitgehende Demokratie in den Räten ein. Er schloss die von Kronstadt verifizierte Auffassung nicht aus, dass bei Konfrontationen zwischen dem 'Arbeiterstaat' und dem Proletariat die Kommunistische Partei sich auf die Seite des Proletariats stellen müsse: ‚Die Diktatur des Proletariats darf auf keinen Fall auf die Diktatur der Partei reduziert werden, selbst wenn es sich um die Partei des Proletariats handelt, die Kopf und Führer des proletarischen Staates ist. Staat und die Partei an der Macht tragen als Organe solch einer Diktatur den Keim eines Kompromisses mit der alten Welt in sich – eine Tendenz, die sich, wie uns die russische Erfahrung gezeigt hat, aufgrund der zeitweisen Unfähigkeit der Revolution entfaltet und verstärkt, sich über ein Land hinaus auszudehnen, indem sie sich mit den Aufstandsbewegungen in anderen Ländern zusammenschließt. Unsere Partei a) muss vermeiden, zum Instrument des Arbeiterstaates und seiner Politik zu werden […] muss die Interessen der Revolution auch in Zusammenstößen mit dem Arbeiterstaat verteidigen; b) muss vermeiden, bürokratisiert zu werden, weil sie ihre Leitungsebenen oder ihre peripheren Zentren zu einem Manöverfeld von Karrieristen macht; c) muss vermeiden, dass die Klassenpolitik auf formalistische und administrative Art erdacht und ausgeführt wird.‘[9]

Die wichtigste Erkenntnis der Fraktion – der Begriff der Fraktion selbst, die Form und Funktion, welche die revolutionäre Organisation in einer Zeit der Niederlage im Klassenkampf annehmen muss – war jedoch für die Damen-Tendenz völlig verloren, ebenso wie die eng damit verbundene Auffassung vom Historischen Kurs, die Notwendigkeit das globale Kräftegleichgewicht zwischen den Klassen zu verstehen, das innerhalb der Epoche der Dekadenz tiefgreifende Veränderungen erfahren kann. Die Genossen um Damen konnten den schwerwiegenden Fehler von '43 – die Bildung einer "Partei" in einem einzigen Land in einer Zeit tiefgreifender Konterrevolution – nicht wirklich kritisieren und verschärften den Fehler, indem sie die Partei als permanente Notwendigkeit und sogar als permanente Realität theoretisierten. So blieb trotz der schnellen Schrumpfung zu einer "Mini-Partei" der ursprüngliche Fokus der Umgruppierung von 1943-45 aufrechterhalten: Aufbau einer Präsenz innerhalb der Arbeiterklasse und die entscheidende Führung in ihren Kämpfen – auf Kosten dessen was wirklich notwendig war: die Konzentration auf die theoretische Klärung der Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Zeit.

Die ihr entgegengesetzte Tendenz um Genossen wie Bordiga und Maffi war im Allgemeinen viel verwirrter über die wichtigsten Klassenpositionen. Bordiga ignorierte mehr oder weniger die Errungenschaften der Fraktion und plädierte für eine Rückkehr zu den Positionen der ersten beiden Kongresse der Dritten Internationale, die für ihn auf Lenins "Wiederherstellung" des kommunistischen Programms beruhten. Ein extremes Misstrauen gegenüber opportunistischen "Innovationen" des Marxismus (die auf dem Boden der Konterrevolution zu blühen begannen) führte ihn zur Idee des "invarianten" (unveränderlichen) Programms, das 1848 in Stein gemeißelt worden sei und nur dann und deshalb exhuminiert werden müsse, weil es regelmäßig von den Opportunisten und Verrätern begraben werde[10]. Wie wir oft betont haben, basiert dieser Begriff der Invarianz auf einer sehr "variablen" Geometrie, so dass beispielsweise Bordiga und seine Anhänger sowohl behaupten konnten, dass der Kapitalismus in seine Epoche der Kriege und Revolutionen eingetreten war (eine Grundposition der Dritten Internationale), als auch gegen den Begriff des Niedergangs polemisierten, da er sich auf ein pazifistische und gradualistische Ideologie stütze.[11]

Diese Infragestellung der Dekadenz hatte wichtige Auswirkungen auf die Analyse der Wesensart der Russischen Revolution (definiert als Doppelrevolution, nicht anders als die rätistische Vision) und insbesondere auf die Charakterisierung der Kämpfe um nationale Unabhängigkeit, die in den ehemaligen Kolonien immer zahlreicher wurden. Mao wurde, anstatt als das gesehen zu werden, was er war – Ausdruck der stalinistischen Konterrevolution und Produkt des kapitalistischen Niedergangs – als ein großer bürgerlicher Revolutionär ähnlich der Gestalt von Cromwell gefeiert. Später sollten die Bordigisten mit der gleichen Wertschätzung für die Roten Khmer in Kambodscha aufwarten, und dieses tiefe Unverständnis der nationalen Frage sollte in den späten 1970er Jahren in der bordigistischen Partei für Chaos sorgen, in einem beträchtlichen Ausmaß, welches den Internationalismus ganz aufgab.

In der Parteifrage, in Bezug auf die Fehler der Bolschewiki bei der Führung des Sowjetstaates war es, als hätte die Fraktion nie existiert. Die Partei übernimmt die Macht, führt den Staatsapparat, drängt den Roten Terror gnadenlos auf ... Selbst die wichtigen Nuancen Lenins über die Notwendigkeit, dass die Arbeiterklasse vor der Bürokratisierung und Verselbständigung des Übergangsstaates zurückschreckt, schienen vergessen worden zu sein. Wie wir in einem früheren Artikel dieser Serie[12] argumentieren, enthält Bordigas wichtigster Beitrag über die Lehren aus der Russischen Revolution in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, Gewalt und Diktatur im Klassenkampf (1946), sicherlich einige Erkenntnisse über das Problem der Degeneration, aber sein eher dogmatischer Antidemokratismus ermöglichte es ihm nicht, das Problem zu erkennen, wenn die Partei und der Staat das Proletariat ersetzen.

Auch wenn die Bordiga-Tendenz die Parteigründung von 1943 nie offen in Frage stellte, konnte sie verstehen, dass die Organisation in eine viel schwierigere Phase eingetreten war und dass man sich auf andere Aufgaben zu konzentrieren habe. Bordiga hatte der Gründung der Partei zunächst skeptisch gegenüber gestanden. Ohne das geringste Verständnis für den Begriff der Fraktion zu zeigen – er vergrub vielmehr seine eigene Erfahrung der Fraktionsarbeit vor dem Ersten Weltkrieg unter seinen nachfolgenden Theorien über die formale und die historische Partei[13] –, schien er doch zu verstehen, dass die bloße Aufrechterhaltung einer Routine der Intervention in den unmittelbaren Kampf nicht der richtige Weg und dass es notwendig war, zu den theoretischen Grundlagen des Marxismus zurückzukehren. Nachdem er den Beitrag der Fraktion und andere Beiträge der Kommunistischen Linken abgelehnt hatte, war diese Arbeit in Bezug auf die wichtigsten programmatischen Positionen nicht abgeschlossen, ja nicht einmal angepackt. Doch soweit es um allgemeinere theoretische Fragen geht, insbesondere um die Frage nach dem Wesen der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft, scheint es uns, dass es in dieser Zeit Bordiga war und nicht die "Damenisten", der uns das wichtigste Vermächtnis hinterlassen hat.

Die Leidenschaft für den Kommunismus: Bordigas Verteidigung der wissenschaftlichen und philosophischen Manuskripte von 1844

Das Buch Bordiga und die Leidenschaft für den Kommunismus, eine Sammlung von Schriften, die Jacques Camatte 1972 zusammenstellte, ist das beste Zeugnis für die Tiefe von Bordigas Reflexionen über den Kommunismus, insbesondere zwei große Präsentationen auf Parteiversammlungen in den Jahren 1959-60, die den ökonomischen und politischen Manuskripten von Marx von 1844 gewidmet sind: Kommentare zu den 1844er Manuskripten (1959-60) und Steintafeln der kommunistischen Theorie der Partei (die Seitenverweise beziehen sich auf den ersten Text, sofern nicht anders angegeben).

„Eine der Aufgaben unserer unpersönlichen Parteiarbeit müsste sein, den Text der Marx’schen Studien von 1844, mit dem wir uns hier befassen, „wieder zusammenzufügen“; das Manuskript ist in allen Ausgaben von wenig kompetenter Hand zusammengestellt, so dass es seltsame Sprünge von einem Hauptthema zum nächsten gibt. Dass noch ein Gemeinplatz darin besteht zu sagen, Marx sei in seinen Frühschriften Hegelianer gewesen, und erst später historischer Materialist – und womöglich noch später vulgärer Opportunist –, wird auch durch so verständige Herausgeber wie S. Landshut und J. P. Meyer (Berlin, 1931) bestätigt, die diese Manuskripte als philosophische Vorrede zum gewaltigen Werk des „Kapital“ ansehen. Aufgabe der revolutionären marxistischen Schule ist es, allen Gegnern (denen freisteht, entweder alles anzunehmen oder alles zu verwerfen) die Geschlossenheit der Theorie von ihrem ersten Auftreten bis zu Marx’ Tod, und sogar darüber hinaus vor Augen zu führen (es geht hier um den Grundbegriff der Invarianz – im Gegensatz zur These, wonach die Parteilehre fortwährend bereichert würde).“[14]

Hier haben wir sowohl die Stärken als auch die Schwächen von Bordigas Herangehensweise in einem Absatz. Einerseits: die unnachgiebige Verteidigung der Kontinuität von Marx' Denken und die Ablehnung der Vorstellung, dass die 1844er Manuskripte das Produkt eines Marx sind, der noch im Wesentlichen idealistisch und hegelianisch (oder zumindest unter dem Einfluss Feuerbachs) gewesen sei, einer Vorstellung, die insbesondere mit dem stalinistischen Intellektuellen Althusser in Verbindung steht und die wir bereits in früheren Artikeln dieser Serie kritisiert haben.[15]

Für Bordiga deuten die 1844er Manuskripte mit ihrer tiefen Bloßstellung der kapitalistischen Entfremdung und ihrer inspirierenden Beschreibung der kommunistischen Gesellschaft, die sie überwinden wird, bereits darauf hin, dass Marx einen qualitativen Bruch mit den fortschrittlichsten Formen des bürgerlichen Denkens vollzogen hatte. Insbesondere die 1844er Manuskripte, die einen großen Teil der Kritik an der Hegelschen Philosophie enthalten, zeigen, dass das, was Marx in Sachen Dialektik von Hegel aufnimmt und sein Bruch mit Hegel – was bedeutet, ihn dialektisch umzukehren, ihn "auf die Füße zu stellen" – sowie die Annahme einer kommunistischen Weltsicht genau im selben Moment stattfinden. Bordiga betont insbesondere die Ablehnung des Ausgangspunktes des Hegelschen Systems, des individuellen "Ich" durch Marx: “Deutlich wird: Für Marx besteht der Irrtum Hegels darin, seinen gewaltigen spekulativen Bau auf eine streng formale, d.h. abstrakte Grundlage, die des „Bewusstseins“, zu stellen. Und wie Marx so oft sagen wird, muss vom Sein ausgegangen werden, nicht vom Bewusstsein, das das Ich von sich selbst hat. Hegel befindet sich von Beginn an im Käfig des hohlen Dialogs zwischen Subjekt und Objekt. Sein Subjekt ist das im absoluten Sinn verstandene Ich (...)“

Gleichzeitig ist es offensichtlich, dass die 1844er Manuskripte für Bordiga den Beweis für seine Theorie der Invarianz des Marxismus liefern, eine Idee, die unserer Meinung nach durch die tatsächliche Entwicklung des kommunistischen Programms, die wir in dieser Serie verfolgt haben, widerlegt wird. Aber wir werden später auf diese Frage zurückkommen. Was wir mit Bordigas Sichtweise auf die 1844er Manuskripte teilen, ist vor allem: die Zentralität von Marx' Auffassung von Entfremdung, nicht nur gegenüber den Manuskripten, sondern gegenüber seinem gesamten Werk; eine Reihe grundlegender Elemente in Bordigas Auffassung von der Dialektik der Geschichte; und die erhabene Vision des Kommunismus, die Marx in seinem späteren Werk nie abgelehnt hat (obwohl er sie unserer Meinung nach bereichert hat).

Die Dialektik der Geschichte

Bordigas Verweise auf den Begriff der Entfremdung in den 1844er Manuskripten prägen seinen gesamten Blick auf die Geschichte, da er darauf besteht, dass "in der gegenwärtigen kapitalistischen Epoche der höchste Grad der Entfremdung des Menschen erreicht wurde“ (S. 124). Ohne das Verständnis aufzugeben, dass die Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus und die Zerstörung der alten feudalen Ausbeutungsmethode eine Voraussetzung für die kommunistische Revolution ist, verachtet er den leichtfertigen Fortschrittsglauben der Bourgeoisie, der seine Überlegenheit gegenüber früheren Produktions- und Erlebnisformen der Welt beansprucht. Er meinte sogar, dass das bürgerliche Denken in gewisser Weise leer ist im Vergleich zu den viel verspotteten vorkapitalistischen Standpunkten. Der Marxismus hat in Bordigas Worten folgendes gezeigt: "Nun gut, ihr der verkommenen bürgerlichen Kultur entstammenden Dummköpfe, eben darauf bestehen wir! Und wir haben das Recht dazu, weil unsere Entdeckung, der erstmalige Gebrauch des großartigen Schlüssels, der die auf der Menschheit lastenden Gegensätze und Rätsel auflöst, bereits die wissenschaftliche und kritische Kenntnis enthalten hat, die eure Belehrungen – vor allem gegenüber den noch älteren Positionen des menschlichen Denkens, die ihr Bourgeois unter der Eitelkeit eurer aufklärerischen Rhetorik für immer begraben zu haben glaubt – als hohle und haltlose Märchen offenbart. Seit damals und durch jenes jäh aufblitzende Licht wissen wir, dass die Hirn-Onanie der Meinung ein zu hasenfüßiger Weg ist, um zum Kern der gutgläubigsten aller Glaubensüberzeugungen vordringen zu können, eines Glaubens, der in rohen Worten verkündet wurde, doch aus dem lebendigen Schoß der Geschichte auf die Welt kam." (S. 30) Selbst wenn also sowohl die Bourgeoisie als auch das Proletariat ihre Religionskritik formulieren, gibt es wieder einen Bruch zwischen den beiden Klassenstandpunkten: „Ein gefährlicher Irrtum, denn selbst dann, wenn die Ideologen der modernen Bourgeoisie sich trauten (was keineswegs immer der Fall war), offen mit den Grundsätzen der christlichen Kirche zu brechen, begreifen wir Marxisten den Atheismus ganz und gar nicht als eine der Bourgeoisie und dem Proletariat gemeinsame ideologische Plattform; gegenüber der Bourgeoisie ist das Proletariat der Protagonist der zukünftigen Geschichte, und bei jenem Ideenstreit handelte es sich um den Kampf zwischen den entstehenden bürgerlichen Schichten auf der einen Seite und dem alten Landadel und seiner Feudalverfassung auf der anderen Seite.“ (S. 2)

Mit solchen Behauptungen scheint Bordiga an die Gedanken einiger der "philosophischen" Kritiker des Marxismus der Zweiten Internationale (und darüber hinaus der offiziellen Philosophie der Dritten Internationale) wie Pannekoek, Lukacs und Korsch anzuknüpfen, die die Idee ablehnten, dass, so wie der Sozialismus der logische nächste Schritt in der historischen Evolution sei und nur die "Übernahme" des kapitalistischen Staates und der Wirtschaft erfordere, der historische Materialismus einfach der nächste Schritt im Vormarsch des klassischen bürgerlichen Materialismus sei. Solche Ansichten basieren auf einer tiefen Unterschätzung des Antagonismus zwischen bürgerlichen und proletarischen Weltsichten, der unvermeidlichen Notwendigkeit eines revolutionären Bruchs mit den alten Formen. Es gibt natürlich eine Kontinuität, aber diese ist alles andere als allmählich und friedlich. Diese Art der Herangehensweise an das Problem steht im Einklang mit der Vorstellung, dass die Bourgeoisie die soziale und natürliche Welt nur durch die verzerrende Linse der Entfremdung sehen kann, die unter ihrer Herrschaft ihre "höchste" Phase erreicht hat.

Das Motto "Gegen den Immediatismus" steht mehr als einmal in den Untertiteln dieser Beiträge. Für Bordiga war es wichtig, eine Verengung des Fokus auf den gegenwärtigen Moment der Geschichte zu vermeiden und über den Kapitalismus hinaus sowohl vorwärts als auch rückwärts zu schauen. In der gegenwärtigen Epoche ist das bürgerliche Denken vielleicht unmittelbarer denn je, mehr denn je auf das Besondere, das Hier und Jetzt, das Kurzfristige fixiert, da es in tödlicher Angst lebt, dass die historische Sicht uns befähigen wird, seine flüchtige Natur zu erkennen. Aber Bordiga entwickelt auch eine Polemik gegen die klassischen "großen Narrative" der Bourgeoisie in ihrem optimistischeren Zeitalter: nicht weil sie großartig waren, sondern weil die Darstellungen der Bourgeoisie die wahre Geschichte deformierte. So wie der Übergang vom bürgerlichen zum proletarischen Denken nicht nur ein weiterer Schritt nach vorne ist, so ist die Geschichte im Allgemeinen keine gerade Linie, die von der Dunkelheit zum Licht führt, sondern Ausdruck der Dialektik in der Bewegung: "Der Fortschritt der Menschheit und des Wissens des gepeinigten homo sapiens ist kein kontinuierlicher, sondern verläuft in Sprüngen, unterbrochen durch finstere und verhängnisvolle Abstürze in Form verfallender, gar verwesender Gesellschaften." (S. 30) Dies ist keine zufällige Formulierung: An anderer Stelle im gleichen Text sagt er: "(…) einen Weg, der in den flachen Anschauungen der herrschenden Ideologien als ein ständiger und beständiger Aufstieg erscheint. Der Marxismus teilt diese Weltsicht nicht und kennzeichnet ihn vielmehr als eine von gewaltsamen Krisen durchbrochene Reihe abwechselnder Auf- und Abstiege" (S. 21). Eine klare Antwort, würde man meinen, an diejenigen, die das Konzept des Aufstiegs und der Dekadenz aufeinanderfolgender Produktionsweisen ablehnen ...

Die dialektische Sicht der Geschichte sieht Bewegung als Folge des – oft gewalttätigen – Zusammenpralls von Widersprüchen. Aber sie enthält auch den Begriff der Spirale und die "Rückkehr auf einer höhere Ebene". So ist der Kommunismus der Zukunft in einem wichtigen Sinne eine Rückkehr des Menschen zu sich selbst, wie Marx es in den 1844er Manuskripten formuliert, denn er ist nicht nur ein Bruch mit der Vergangenheit, sondern eine Synthese von allem, was in ihr menschlich war: „Der Mensch kehrt nicht zu sich selbst zurück, wie er es am Anfang seiner langen Geschichte begonnen hat, sondern verfügt schließlich über alle Vollkommenheiten einer gewaltigen Entwicklung, die in Form all der aufeinander folgenden Techniken, Bräuche, Religionen, Philosophien erworben wurden, deren nützliche Seiten – wenn wir uns auf diese Weise ausdrücken dürfen – in der Zone der Entfremdung gefangen waren.“ (S. 125)

Ein konkreteres Beispiel dafür: In einem kurzen Artikel über die Bewohner der Insel Janitzio in Mexiko[16], der 1961 verfasst und in die Sammlung von Camatte aufgenommen wurde, entwickelt Bordiga die Idee, dass "im natürlichen und primitiven Kommunismus" der Einzelne, der immer noch mit seinen Mitmenschen in einer realen Gemeinschaft verbunden ist, nicht die gleiche Angst vor dem Tod hat wie in der sozialen Atomisierung durch Privateigentum und Klassengesellschaft; und dass uns dies einen Hinweis darauf gibt, dass im Kommunismus der Zukunft, wo das Schicksal des/r Einzelnen mit dem der Spezies verbunden sein wird, die Angst vor dem persönlichen Tod und "jeder Kult der Lebenden und der Toten" überwunden wird. Bordiga bestätigt damit seine Kontinuität mit jenem zentralen Strang der marxistischen Tradition, der bekräftigt, dass in gewissem Sinne "die Mitglieder der primitiven Gesellschaften dem menschlichen Wesen näher gekommen sind" (S. 175) – dass der Kommunismus der fernen Vergangenheit auch als Vorbild für den Kommunismus der Zukunft verstanden werden kann[17].

Was der Kommunismus nicht ist

Bordigas Verteidigung der 1844er Manuskripte war in hohem Maße eine lange Anklagerede gegen den Betrug des angeblichen "real existierenden Sozialismus" in den Ländern des Ostblocks, der nach dem "antifaschistischen Krieg" von 1939-45 wieder an Bedeutung gewonnen hatte. Seinen Angriff führte er auf zwei Ebenen: Negation und Affirmation. Eine Absage an die Behauptung, wonach das, was in der UdSSR und ähnlichen Regimen existierte, irgendetwas mit Marx' Vorstellung vom Kommunismus zu tun habe, vor allem auf wirtschaftlicher Ebene; umgekehrt das Festhalten an den grundlegenden Merkmalen kommunistischer Produktionsverhältnisse.

Laut einer Version eines an verschiedenen Orten aufgetauchten Witzes in der alten UdSSR unterrichtet ein Ausbilder in der Parteischule junge Komsomol-Mitglieder über die Schlüsselfrage: Wird es im Kommunismus Geld geben?: "Historisch gesehen, Genossen, gibt es drei Positionen zu dieser Frage. Es gibt den rechten Flügel, die proudhonistisch-bucharinistische Abweichung: Im Kommunismus wird jeder Geld haben. Dann gibt es die ultra-linke, infantile Abweichung: Im Kommunismus wird niemand Geld haben. Was ist nun die dialektische Position des Marxismus-Leninismus? Es ist klar: Im Kommunismus werden einige Leute Geld haben, und andere werden kein Geld haben."

Ob Bordiga mit diesem Witz vertraut war oder nicht, seine Antwort auf die Stalinisten in seinen Kommentaren geht in eine ähnliche Richtung. Ein Vorwort zu einer der stalinistischen Ausgaben der 1844er Manuskripte weist darauf hin, dass Marx' Text eine Polemik gegen Proudhons Theorie des gleichen Lohns enthält, was bedeutet, dass es für den in der UdSSR praktizierten „authentischen“ Marxismus im Sozialismus ungleiche Löhne geben muss. Aber im anschließenden Abschnitt mit der Überschrift "Entweder Lohnarbeit oder Sozialismus" weist Bordiga darauf hin, dass Marx in den 1844er Manuskripten, wie auch in anderen Werken wie Das Elend der Philosophie und Das Kapital, die Proudhon’sche Hohlheit widerlegt, „denn dieser erdenkt sich einen Sozialismus in dem weiterhin Löhne gezahlt werden, wie es in Russland der Fall ist. Marx bekämpft nicht die Theorie der Gleichheit der Löhne, sondern die Theorie des Lohns! Lohn, auch wenn er für alle gleich wäre, bedeutet immer Nicht-Sozialismus. Und wenn er nicht nivelliert, nicht gleich ist, kann von Sozialismus erst recht keine Rede sein." (S. 8)

Und einer der folgenden Abschnitte trägt den Titel: "Entweder Geld oder Sozialismus": So wie die Lohnarbeit in der UdSSR fortbesteht, so muss es auch ihre Entsprechung: die Dominanz der menschlichen Beziehungen durch den Tauschwert und damit durch Geld. Um auf die tiefe Kritik des Geldes als Ausdruck der Entfremdung zwischen den Menschen zurückzukommen, die Marx unter Berufung auf Shakespeare und Goethe in den 1844er Manuskripten entwickelte und in Das Kapital wieder aufnahm, bestand Bordiga darauf, dass "Gesellschaften daher, in denen Geld zirkuliert, Gesellschaften sind, in denen die Entfremdung der Arbeit und des Menschen herrscht, Gesellschaften des Privateigentums, die zur barbarischen Vorgeschichte der menschlichen Gattung" gehören (S. 13).

Bordiga zeigt in der Tat, dass die Stalinisten mehr mit dem Vater des Anarchismus gemeinsam haben, als sie zugeben wollen. Proudhon sieht in der Tradition eines "rohen Kommunismus", den Marx bereits zu dem Zeitpunkt als reaktionär erkannte, als er selbst sich dem Kommunismus zuzuwenden begann, eine Gesellschaft, in der "die jährlichen Einnahmen zu gleichen Teilen sozial unter allen Mitgliedern der Gesellschaft verteilt sind, die alle zu Lohnarbeitern geworden sind". Mit anderen Worten, diese Vorstellung vom Kommunismus oder Sozialismus war eine, in der das Elend der proletarischen Situation verallgemeinert und nicht abgeschafft wurde und in der die "Gesellschaft" selbst zum Kapitalisten wurde. Und als Antwort auf diejenigen – nicht nur die Stalinisten, sondern auch ihre linken Apologeten, die Trotzkisten –, die leugneten, dass die UdSSR eine Form des Kapitalismus sein könnte, weil sie (mehr oder weniger) einzelne Kapitalbesitzer losgeworden sei, antwortet Bordiga: "Es macht keinen Sinn zu fragen, wo denn die Kapitalisten sind. Die Antwort wurde 1844 gegeben: Die Gesellschaft ist ein abstrakter Kapitalist." (S. 10)

Die polemische Zielscheibe dieser Essays sind nicht allein die offenen Verteidiger der UdSSR. Wenn der Kommunismus den Tauschwert abschafft, dann deshalb, weil er alle Formen des Eigentums abgeschafft hat[18] – nicht nur das Staatseigentum in der Art wie im Programm des Stalinismus, sondern auch die klassische anarchosyndikalistische Version (die Bordiga auch der zeitgenössischen Gruppe Socialisme ou Barbarie mit ihrer Definition des Sozialismus als Arbeiter-Selbstverwaltung der Produktion zuschreibt): "Das Land den Bauern und die Fabriken den Arbeitern und ähnliche klägliche Parodien des großartigen Programms der revolutionären kommunistischen Partei" (S. 178, englische Ausgabe). Im Kommunismus muss das einzelne Unternehmen als solches abgeschafft werden. Wenn es weiterhin Eigentum derjenigen ist, die in ihm arbeiten, oder sogar der lokalen Gemeinschaft um sie herum, ist es nicht wirklich sozialisiert worden, und die Beziehungen zwischen den verschiedenen selbstverwalteten Unternehmen müssen zwangsläufig auf dem Austausch von Waren basieren. Wir werden auf diese Frage zurückkommen, wenn wir uns die Vision des Sozialismus ansehen, die von Castoriadis und der Gruppe Socialisme ou Barbarie entwickelt wurde.

Wie Trotzki in den visionären Schlusspassagen von Literatur und Revolution[19] – der 1924 wahrscheinlich keine Kenntnis von den 1844er Manuskripten hatte – steigt Bordiga dann aus der Sphäre der Negation des Kapitalismus und seiner Entfremdung auf, von der Beharrung auf dem, was der Sozialismus nicht ist, zur positiven Bestätigung dessen, was die Menschheit in den höheren Stufen der kommunistischen Gesellschaft darstellen wird. Die 1844er Manuskripte, wie wir in einem frühen Artikel dieser Serie[20] dargelegt haben, sind voll von Passagen, die beschreiben, wie die Beziehungen zwischen Menschen und zwischen Mensch und Natur im Kommunismus umgewandelt werden. Und Bordiga zitiert ausführlich aus den bedeutendsten dieser Passagen in seinen beiden Texten, vor allem, wo es um die Umwandlung der Beziehungen zwischen Männern und Frauen geht, und wo sie darauf bestehen, dass die kommunistische Gesellschaft das Entstehen einer höheren Stufe des bewussten Lebens zulässt.

Die Transformation der Beziehung zwischen den Geschlechtern

Durch die gesamten 1844er Manuskripte lehnt Marx den "rohen Kommunismus" ab, der zwar die bürgerliche Familie angreift, die Frau aber immer noch als Objekt betrachtet und über eine kommende "Weibergemeinschaft" spekuliert. Im Gegenteil: Bordiga zitiert Marx, nach dem das Maß für den tatsächlichen Fortschritt der Gattung die Vermenschlichung der Beziehung zwischen Mann und Frau ist. Aber umgekehrt werden die Frau und die Beziehung zwischen den Geschlechtern im Kapitalismus Gefangene der Warenbeziehungen bleiben.

Nachdem er Marx' Gedanken zu diesen Fragen wieder aufgenommen hat, schweift Bordiga für einen Moment ab zum Problem der Terminologie, der Sprache. "Wir müssen, wenn wir die Textstellen wiedergeben, mal das Wort „Mensch“, mal das Wort „Mann“ gebrauchen. Das heutzutage hart klingende Wort „Weib“ brauchen wir nicht benutzen. Als vor einem halben Jahrhundert eine Umfrage zum Feminismus – die armselige Konsequenz, die die Kleinbürger aus der grauenhaften Unterjochung der Frau in der Eigentümergesellschaft ziehen – gemacht wurde, antwortete der damals noch tüchtige Marxist Filippo Turati mit dürren Worten: „Die Frau … ist Mensch“. Er wollte sagen, sie wird es im Kommunismus sein, doch in der bürgerlichen Gesellschaft ist sie ein Tier, oder ein Objekt." (S. 20)

Feminismus eine bürgerliche Abweichung? Dies ist eine Position, die von denen, die argumentieren, dass es einen "sozialistischen Feminismus" oder einen "Anarchofeminismus" geben könne, entschieden abgelehnt wird. Aber aus Bordigas Sicht hat der Feminismus einen bürgerlichen Ausgangspunkt, weil er auf die "Gleichstellung" der Geschlechter innerhalb der bestehenden sozialen Beziehungen abzielt; und das führt logischerweise zu der Forderung, dass Frauen "gleichermaßen" in der Lage sein sollten, in imperialistischen Armeen zu kämpfen oder sich zu Unternehmensleiterinnen und Ministerpräsidentinnen empor zu arbeiten.

Der Kommunismus brauchte nicht den Zusatz von Feminismus oder gar "sozialistischem Feminismus", um von Anfang an ein Verfechter der Solidarität von Männern und Frauen im Hier und Jetzt zu sein. Das kann nur im Klassenkampf, im Kampf gegen kapitalistische Unterdrückung und Ausbeutung und für die Schaffung einer Gesellschaft verwirklicht werden, in der die "ursprüngliche Form der Ausbeutung" – die der Frau durch den Mann – nicht mehr möglich sein wird. Mehr noch: Der Marxismus hat auch erkannt, dass der weibliche Teil der Spezies – wegen seiner doppelten Unterdrückung und seines fortgeschritteneren moralischen Gefühls (insbesondere im Zusammenhang mit seiner historischen Rolle bei der Erziehung von Kindern) – oft an der Spitze des Kampfes steht, zum Beispiel bei der Revolution 1917 in Russland, die mit Demonstrationen von Frauen gegen Brotmangel begann, oder in jüngerer Zeit bei den massiven Streiks in Ägypten 2007. Tatsächlich spielten nach der anthropologischen Schule von Chris Knight, Camilla Power und anderen, die sich mit der marxistischen Tradition in der Anthropologie identifiziert, weibliche Moral und Solidarität eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der menschlichen Kultur, in der ursprünglichen "menschlichen Revolution"[21]. Bordiga stimmt mit dieser Sichtweise überein, wenn er im Abschnitt "Der Liebe bedürfen alle" argumentiert, dass die den Frauen zugewiesene passive Funktion rein ein Produkt von Eigentumsbeziehungen sei, und weiterfährt: "weil die Geschlechtsliebe aber die Grundlage der Reproduktion der Gattung ist, ist die Frau ihrer Natur nach in Wirklichkeit das aktive Geschlecht, und die unserer Analyse unterzogenen Geldformen enthüllen sich als wider die Natur." (S. 24) Und er fährt mit einer Zusammenfassung fort, wie die Abschaffung der Warenbeziehungen dieses Verhältnis verändern wird: "Im vom Geld befreiten Kommunismus wird das sexuelle Verlangen bei beiden Geschlechtern das gleiche Gewicht und die gleiche Bedeutung haben. Und die gesellschaftliche Aussage, dass das Bedürfnis des anderen Menschen mein menschliches Bedürfnis ist, wird in der geschlechtlichen Hingabe Wirklichkeit, insofern das Bedürfnis des einen Geschlechts im Bedürfnis des anderen eingelöst wird."

Bordiga erklärt dann, dass diese Transformation auf den materiellen und sozialen Veränderungen der kommunistischen Revolution basieren wird: "Das ist nicht als bloßes, auf eine bestimmte Art des physischen Verhältnisses gegründetes sittliches [bzw. moralisches] Verhältnis bestimmbar, sondern geht darüber hinaus, was seinen Grund im Ökonomischen hat: Die Nachkommen und die sich dadurch ergebenden Verpflichtungen betreffen nicht die sich vermählenden Eltern, sondern die Gesellschaft selbst." Von diesem Ausgangspunkt aus wird die zukünftige Menschheit in der Lage sein, die Grenzen der bürgerlichen Familie zu durchbrechen.

Bewusstes Leben auf einer anderen Ebene

In einem früheren Artikel dieser Serie[22] haben wir argumentiert, dass bestimmte Passagen in den 1844er Manuskripten nur dann Sinn machen, wenn wir sie als Vorwegnahme einer Bewusstseinsveränderung, einer neuen Seinsform sehen, die kommunistische soziale Beziehungen ermöglichen werden. Der Artikel betrachtete ausführlich den Abschnitt aus dem Kapitel "Privateigentum und Kommunismus", in dem Marx darüber spricht, wie das Privateigentum (im weitesten Sinne verstanden) dazu diente, die menschlichen Sinne einzuschränken, die menschliche Sinneswahrnehmung zu behindern – oder, um einen genaueren Begriff aus der Psychoanalyse zu verwenden, die menschliche Sinneserfahrung zu verdrängen. Folglich wird der Kommunismus die "Emanzipation der Sinne" mit sich bringen, eine neue körperliche und geistige Beziehung zur Welt, die mit dem "inspirierten" Zustand verglichen werden kann, den Künstler*innen in ihren kreativsten Momenten erleben.

Gegen Ende von Bordigas Text Steintafeln gibt es einen Abschnitt mit dem Titel "Nieder mit der Persönlichkeit, das ist der Schlüssel!" Wir werden diese Frage der "Persönlichkeit" später aufgreifen, aber wir wollen zunächst einmal untersuchen, wie Bordiga in seiner Interpretation der 1844er Manuskripte die Veränderung des menschlichen Bewusstseins in der kommunistischen Zukunft vorsieht.

Er beginnt mit der Feststellung, dass wir im Kommunismus "die jahrtausendealte Täuschung des Einzelnen gegenüber der natürlichen Welt, die von den Philosophen dummerweise als "äußerlich" bezeichnet wird, hinter uns gelassen haben werden. Äußerlich wovon? Äußerlich vom "Ich", diesem höchsten Defizit; aber wir können nicht mehr sagen, äußerlich der menschlichen Spezies, denn die Spezies Mensch ist innerlich der Natur, Teil der physischen Welt." Und er fährt fort zu sagen, dass "in diesem kraftvollen Text Objekt und Subjekt wie Mensch und Natur ein und dasselbe wird. Wir können sogar sagen, dass alles zum Objekt wird: Der Mensch als Subjekt "gegen die Natur" verschwindet, zusammen mit der Illusion eines einzigen Ichs." (S. 190, englischsprachige Ausgabe)

Dies kann nur ein Hinweis auf die Passage im Kapitel "Privateigentum und Kommunismus" sein: "Indem daher überall einerseits dem Menschen in der Gesellschaft die gegenständliche Wirklichkeit als Wirklichkeit der menschlichen Wesenskräfte, als menschliche Wirklichkeit und darum als Wirklichkeit seiner eignen Wesenskräfte wird, werden ihm alle Gegenstände als die Vergegenständlichung seiner selbst, als die seine Individualität bestätigenden und verwirklichenden Gegenstände, als seine Gegenstände, d.h. Gegenstand wird er selbst."

Bordiga geht weiter: "Wir haben gesehen, dass, wenn man vom Individuum auf die Spezies übergeht, der Geist, dieser absolute Unglückliche, in die objektive Natur aufgelöst wird. Das individuelle Gehirn als schlechte passive Maschine wird durch das soziale Gehirn ersetzt. Darüber hinaus weist Marx auf einen kollektiven menschlichen Sinn hin, der über den isolierten körperlichen Sinn hinausgeht". Und er zitiert weiter die 1844er Manuskripte über die Emanzipation der Sinne und betont, dass dies auch die Entstehung einer Art kollektiven Bewusstseins anzeigt – was wir als Übergang vom "gesunden Menschenverstand" des isolierten Egos zur Vergemeinschaftung der Sinne bezeichnen könnten.

Was halten wir von diesen Vorstellungen? Bevor wir sie als Science-Fiction abtun, sollten wir uns daran erinnern, dass wir in der bürgerlichen Gesellschaft vor allem das Ego oft als das absolute Zentrum unseres Seins betrachten ("Ich denke, also bin ich"), aber es gibt auch eine lange Tradition des Denkens, die darauf besteht, dass das Ego nur eine relative Wirklichkeit ist, bestenfalls ein bestimmter Teil unseres Seins. Diese Sichtweise ist sicherlich zentral für die psychoanalytische Theorie, für die das erwachsene Ich nur durch einen langen Prozess der Verdrängung und Spaltung zwischen dem bewussten und dem unbewussten Teil von uns selbst entsteht – und darüber hinaus der "einzige Sitz der Angst"[23], denn zwischen den Anforderungen der äußeren Realität und den unerfüllten, im Unbewussten vergrabenen Triebe gefangen, ist es ständig mit seinem eigenen Sturz oder Untergang beschäftigt.

Es ist auch eine Ansicht, die in einer Reihe von "mystischen" Traditionen in Ost und West vertreten wurde, obwohl sie wahrscheinlich am konsequentesten von der indischen Philosophie und vor allem vom Buddhismus mit seiner Lehre von "anatta" – der Vergänglichkeit des separaten Selbst – entwickelt wurde. Aber all diese Traditionen neigen dazu, darin übereinzustimmen, dass es möglich sei, durch das direkte Eindringen in das Unbewusste das alltägliche Ich-Bewusstsein – und damit die Qual der ewigen Angst – zu überwinden. Die ideologischen Verzerrungen, die diese Traditionen unweigerlich begleiteten, berauben diesen Philosophien ihre klarsten Einsichten, die  die Möglichkeit eröffnen, dass der Mensch in der Lage ist, eine andere Art von Bewusstsein zu erlangen, in der die Welt um uns herum nicht mehr als ein feindseliges Anderes angesehen wird, und der Fokus des Bewusstseins verschiebt sich nicht nur intellektuell, sondern durch eine direkte und sehr körperliche Erfahrung, vom isolierten Atom zum Standpunkt der Spezies – in der Tat, dem Standpunkt von etwas noch mehr als der Spezies: der Natur, eines sich entwickelnden Universums, das sich selbst bewusst wird.

Es ist schwierig, die obigen Passagen von Bordiga zu lesen und zu dem Schluss zu kommen, dass er von etwas ganz anderem spricht. Und es ist wichtig zu beachten, dass Freud in den ersten Abschnitten von Das Unbehagen in der Kultur die Realität des "ozeanischen Gefühls", dieser Erfahrung der erotischen Einheit mit der Welt, anerkannt hat, obwohl er sie nur als Regression in den kindlichen Zustand vor der Entstehung des Ichs sehen konnte. Im gleichen Abschnitt des Buches akzeptiert er aber auch die Möglichkeit, dass die mentalen Techniken des Yoga die Tür zu "ursprünglichen Geisteszuständen öffnen können, die längst überlagert sind". Die Frage, die wir theoretisch aufwerfen müssen – und vielleicht zukünftige Generationen auch praktischer erforschen –, ist, ob die uralten Techniken der Meditation nur zu einer Regression, einem Zusammenbruch in die undifferenzierte Einheit von Tier oder Kind führen können; oder ob sie Teil einer dialektischen "Rückkehr zum Bewusstsein", einer selbstbewussten Erforschung unseres eigenen Geistes sein können. In diesem Fall weisen die Fälle des "ozeanischen Gefühls" nicht nur auf die kindliche Vergangenheit hin, sondern auch auf den Horizont eines fortgeschritteneren und universelleren menschlichen Bewusstseins. Dies war sicherlich die Ansicht von Erich Fromm in seiner Studie Zen-Buddhismus und Psychoanalyse, zum Beispiel, wenn er über das schreibt, was er den "Zustand der Nicht-Verdrängung" nennt, definiert als "einen Zustand, in dem man wieder das unmittelbare, unverzerrte Verständnis der Realität, der Einfachheit und Spontaneität des Kindes gewinnt; doch nach dem Prozess der Entfremdung, der Entwicklung des eigenen Intellekts, ist die Nicht-Verdrängung die Rückkehr zur Unschuld auf einer höheren Ebene; diese Rückkehr zur Unschuld ist erst möglich, wenn man seine Unschuld verloren hat.”[24]

Gegen die Zerstörung der Umwelt

Aber Bordigas theoretische Schriften in dieser Zeit stellten nicht nur die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zur Natur auf dieser sehr "philosophischen" Ebene. Er hat es auch in seinen weitsichtigen Überlegungen zur Frage der kapitalistischen Katastrophen und der Umweltprobleme angesprochen. Bordiga bringt sein Fachwissen als Ingenieur und vor allem seine tiefe Ablehnung des bürgerlichen "Fortschritts" wieder ein, um zu zeigen, wie das Streben nach Akkumulation die Samen solcher Katastrophen und letztlich die Zerstörung der Natur selbst enthält[25]. Besonders heftig ist Bordiga in seinen Artikeln über den Rausch der Urbanisierung, den er bereits in der Nachkriegszeit des Wiederaufbaus wahrnehmen konnte, und er verurteilt die Einzwängung des Menschen in immer engere Stadträume und die damit verbundene Philosophie des "Vertikalismus" im Bau. Er argumentiert, dass diese Reduzierung des Menschen auf die Ebene der Ameisen ein direktes Produkt der Akkumulationsbedürfnisse sei und in der kommunistischen Zukunft umgekehrt werde, und bekräftigt Marx‘ und Engels' Forderung nach Überwindung der Trennung zwischen Stadt und Land: "Wenn es nach der gewaltsamen Niederschlagung dieser immer obszöneren Diktatur möglich sein wird, jede Lösung und jeden Plan der Verbesserung der Bedingungen der lebenden Arbeit unterzuordnen, um mit diesem Ziel alles zu gestalten, was aus der toten Arbeit, aus dem konstanten Kapital, aus der Infrastruktur, die die menschliche Spezies im Laufe der Jahrhunderte aufgebaut hat und weiter auf der Erdkruste aufbaut, entstanden ist, dann wird der brutale Vertikalismus der Zementmonster lächerlich gemacht und unterdrückt, und in den riesigen Weiten des horizontalen Raumes, sobald die riesigen Städte entleert sind, werden die Kraft und Intelligenz des menschlichen Tieres allmählich dazu neigen, die Dichte des Lebens und der Arbeit über den bewohnbaren Teilen der Erde einheitlich zu gestalten; und diese Kräfte werden von nun an in Harmonie sein, und nicht mehr wilde Feinde wie in der deformierten Zivilisation von heute, wo sie nur noch durch das Gespenst von Knechtschaft und Hunger zusammengeführt werden" (veröffentlicht in Space against cement in The Human Species and the Earth's Crust (Espèce Humaine et Croûte Terrestre, Petite Bibliothèque Payot, S. 168). Es sei auch darauf hingewiesen, dass Bordiga 1952, als er eine Art "unmittelbares revolutionäres Programm" formulierte, dieses Forderungen enthielt, das zu stoppen, was er bereits als die unmenschliche Überlastung und das Tempo des Lebens sah, die durch die kapitalistische Urbanisierung hervorgerufen wurden (ein Prozess, der seither ein viel höheres Maß an Irrationalität erreicht hat). So fordert der siebte von neun Punkten "‘Anhalten der Bautätigkeit‘ von Wohnungen und Arbeitsstätten am Rande der großen Städte (und auch der kleinen), als Maßnahme zur gleichmäßigen Verteilung der Bevölkerung über das gesamte Territorium. Verringerung der Schnelligkeit, des Ausmaßes und der Verdickung des Verkehrs durch Verbot des überflüssigen Verkehrs" (in einem zukünftigen Artikel wollen wir auf die anderen Forderungen in diesem "Programm" zurückkommen, da sie eine Reihe von Formulierungen enthalten, die aus unserer Sicht stark kritisiert werden müssen).

Es ist interessant festzustellen, dass Bordiga, wenn es darum geht, zu beweisen, warum all dieser so genannte Fortschritt der kapitalistischen Stadt nichts dergleichen war, auf ein Konzept der Dekadenz zurückgriff, das er in anderen Polemiken aus dem Fenster wirft – zum Beispiel im Titel "Seltsame und wunderbare Geschichten der modernen sozialen Dekadenz"[26]. Ein solcher Begriff steht andererseits völlig im Einklang mit dem oben genannten allgemeinen Geschichtsbild, in dem Gesellschaften "bis zur Verwesung degenerieren" und Phasen des Auf- und Abstiegs durchlaufen können. Es ist, als ob Bordiga, einmal auf Distanz zur "schmalen" Welt der rivalisierenden politischen Positionen und gezwungen, zu den Grundlagen der marxistischen Theorie zurückzukehren, keine andere Wahl hätte, als anzuerkennen, dass der Kapitalismus, wie alle früheren Produktionsformen, auch in eine Epoche des Niedergangs eintreten muss – und dass diese Epoche seit langem angebrochen ist unabhängig von den Wundern des "Wachstums im Niedergang" des Kapitalismus, die die Menschheit ersticken und ihre Zukunft bedrohen.

Das Problem der "Invarianz"

Wir müssen nun auf Bordigas Vorstellung zurückkommen, dass die 1844er Manuskripte Beweise für seine Theorie der "Invarianz des Marxismus" lieferten. Wir haben bei verschiedenen Gelegenheiten argumentiert, dass es sich dabei um eine religiöse Vorstellung handelt. In einer scharfen Polemik mit der bordigistischen Gruppe, die Programma Comunista veröffentlicht, stellte Mark Chirik die tatsächliche Ähnlichkeit zwischen dem bordigistischen Konzept der Invarianz und der muslimischen Haltung der Unterwerfung unter eine unveränderliche Doktrin fest.[27]

Zielscheibe dieser Polemik waren hauptsächlich die Epigonen von Bordiga, aber was hat Bordiga selbst über die Beziehung zwischen dem Marxismus und den Quellen der "invarianten" Lehre in der Vergangenheit gesagt? In einem zukunftsweisenden Text mit dem Titel Die historische Invarianz des Marxismus[28] schreibt er: "Das theoretische Gut der revolutionären Arbeiterklasse ist weder eine Offenbarung noch ein Mythos noch eine idealistische Ideologie, wie es für die vorhergehenden Klassen zutraf. Es ist eine positive Wissenschaft, und bedarf einer festen und dauerhaften Formulierung ihrer Prinzipien und ihrer Aktionsregeln. Diese Formulierung soll die gleiche Rolle spielen und die gleiche bestimmende Wirksamkeit haben wie in der Vergangenheit die Dogmen, der Katechismus, die Tafeln, die Verfassungen, die Leitbücher der Vedas, der Talmut, die Bibel, der Koran und die Erklärung der Menschenrechte. Die grundlegenden Irrtümer in der Substanz oder der Form, die in diesen Sammelwerken enthalten waren, haben ihnen nichts von ihrer außerordentlichen organisatorischen und sozialen Kraft genommen; sie waren in dialektischer Folge zuerst revolutionär, dann konterrevolutionär - aber es war oft gerade diese feste Systematisierung, selbst wenn sie diese Irrtümer enthielt, die zu ihrer Kraft beigetragen hat."

Bordiga war sich in seinen Kommentaren bereits des Vorwurfs bewusst, dass solche Ideen ihn zurück zur religiösen Weltanschauung führten: "dass es ganz sinnig ist, den immer wieder auf der Bildfläche erscheinenden Philister zu ärgern – einen Grund, die Aussage als Beleidigung aufzufassen, wonach eine Mystik, oder wenn man lieber will, ein Mythos, in unserer Bewegung noch solange am Platz ist, wie sie real nicht gesiegt hat (denn ihr Sieg geht jeder weiteren Aneignung menschlicher Erkenntnis voran). Der Mythos, der in vielerlei Gestalt auftrat, war ja kein Hirngespinst von Geistern, die der Wirklichkeit gegenüber (wie bei Marx: zugleich „naturalistisch“ und „humanistisch“) die Augen zumachten; er war vielmehr eine unersetzliche Etappe auf dem einzigen Weg zur Aneignung der Kenntnisse, die in den Klassengesellschaften aus großen und weit auseinander liegenden revolutionären Rissen hervorbrechen und sich erst in der klassenlosen Gesellschaft frei werden entfalten können." (S. 30)

Bordiga hat recht, wenn man bedenkt, dass das mythische Denken in der Tat ein "unersetzlicher Schritt" in der Evolution des menschlichen Bewusstseins war und dass die Bibel, der Koran oder die Erklärung der Menschenrechte zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte authentisch revolutionäre Produkte waren. Er hat auch recht, wenn er anerkennt, dass die Einhaltung solcher "Tafeln des Gesetzes" zu einem anderen Zeitpunkt in der Geschichte konterrevolutionär wurde. Aber der Mechanismus, durch den sie unter neuen historischen Umständen konterrevolutionär wurden, war genau die Vorstellung, dass sie unverändert und unveränderlich seien. Der Islam zum Beispiel hält seine Offenbarung für reiner als die der jüdischen Thora, weil er im Gegensatz zu dieser, die späteren Revisionen und Bearbeitungen unterzogen worden sei, kein einziges Wort des Korans geändert habe, seit der Engel Gabriel sie Mohammed diktiert habe. Der Unterschied zwischen der marxistischen Sichtweise des kommunistischen Programms und dem Mythos oder religiösen Dogma besteht darin, dass der Marxismus seine Konzepte als historisches Produkt des Menschen sieht und somit durch nachfolgendes historisches Wachstum oder Erfahrung bestätigt oder widerlegt und nicht als eine ein für alle Mal fixierte Offenbarung aus einer übermenschlichen Quelle. Tatsächlich besteht er darauf, dass mythische oder religiöse Offenbarungen selbst Produkte der Menschheitsgeschichte sind und daher in ihrem Umfang und ihrer Klarheit selbst an ihren höchsten Leistungspunkten begrenzt sind. Indem Bordiga die Vorstellung übernimmt, dass der Marxismus selbst eine Art Mythos sei, verliert Bordiga die historische Methode aus den Augen, die er anderswo so gut anwendet.

Natürlich ist es wahr, dass das kommunistische Programm selbst nicht unendlich formbar ist und einen unveränderlichen Kern von allgemeinen Prinzipien wie den Klassenkampf, die Vergänglichkeit der Klassengesellschaft, die Notwendigkeit der proletarischen Diktatur und des Kommunismus aufweist. Außerdem gibt es ein Gefühl, in dem dieser allgemeine Umriss wie ein plötzlicher Geistesblitz erscheinen kann. Daher kann Bordiga schreiben: „Eine neue Lehre entsteht nicht in einem beliebigen Moment der Geschichte. Es gibt bestimmte, sehr charakteristische – und äußerst seltene – Zeiten in der Geschichte, wo sie wie ein blendendes Lichtbündel erscheinen kann; und wenn man diesen entscheidenden Moment nicht erkannt hat, dann ist es vergebens wieder auf die Kerzenstummel zurückzugreifen, mit denen der Universitätspedant oder der kleingläubige Kämpfer ihren Weg zu erhellen suchen.“ (14. These aus “Die historische Invarianz des Marxismus“)

Möglicherweise hat Bordiga die unglaublich reiche Phase von Marx' Werk im Sinn, aus der die 1844er Manuskripte und andere grundlegende Texte entstanden sind. Aber Marx betrachtete diese Texte nicht als seine letzten Worte über den Kapitalismus, den Klassenkampf oder den Kommunismus. Auch wenn er unserer Meinung nach den wesentlichen Inhalt dieser Schriften nie aufgegeben hat, betrachtete er sie als "erste Entwürfe", die durch weitere Forschung entwickelt und vertieft werden mussten, die wiederum eng mit den praktischen/theoretischen Experimenten der realen Bewegung des Proletariats verbunden waren.

Bordiga verweist in den Kommentaren (S. 26) auch auf eine bestimmte Passage in den 1844er Manuskripten als Nachweis der Invarianz. Hier schreibt Marx: „Die ganze Bewegung der Geschichte ist daher, wie sein wirklicher Zeugungsakt – der Geburtsakt seines empirischen Daseins – so auch für sein denkendes Bewusstsein die begriffne und gewusste Bewegung seines Werdens.“ (MEW 40, S. 536)

Und Bordiga fügt hinzu, dass das Subjekt dieses Bewusstseins nicht der einzelne Philosoph sein kann: Es kann nur eine Klassenpartei des Weltproletariats sein. Aber wenn der Kommunismus, wie Marx sagt, das Produkt der gesamten Bewegung der Geschichte ist, dann muss er lange vor dem Erscheinen der Arbeiterklasse und ihrer politischen Organisationen entstanden sein, so dass die Quelle dieses Bewusstseins älter sein muss als beide – so wie er innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft auch breiter ist als die politischen Organisationen der Klasse, auch wenn sie im Allgemeinen ihr am weitesten fortgeschrittener Ausdruck sind. Da der Kommunismus erst dann sich selbst klar werden kann, "begriffen und gewusst", wenn er zum proletarischen Kommunismus wird, ist dies sicherlich ein weiterer Beweis dafür, dass der Kommunismus und das kommunistische Bewusstsein etwas sind, das sich entwickelt, dass er nicht statisch ist, sondern ein Prozess des Werdens - und somit nicht unveränderlich sein kann.

Das Individuum und die Spezies

Die Kritik des Individualismus hat im Marxismus eine lange Geschichte, die auf Marx' Kritik an Hegel und insbesondere auf seinen Angriff auf Max Stirner zurückgeht. Und wenn er gegen den philosophischen Standpunkt des isolierten Denkers argumentiert, steht Bordiga auf festem Boden und verweist auf die schneidende Bemerkung der Deutschen Ideologie zum Heiligen Max, dass "die Philosophie im gleichen Verhältnis zum Studium der realen Welt steht wie die Masturbation zur sexuellen Liebe". Und wie wir gesehen haben, hat auch die Vorstellung, dass das Ego in gewisser Weise ein illusorisches Konstrukt ist, einen langen Stammbaum. Aber Bordiga geht noch weiter. Wie bereits erwähnt, steht der Abschnitt Tafeln aus Stein (Tables immuables), den wir vorhin zitiert haben, wo Bordiga voraussagt, dass die kommunistische Menschheit Zugang zu einer Art von Spezies oder kosmischem Bewusstsein haben wird, unter dem Titel "Nieder mit der Persönlichkeit, das ist der Schlüssel!“ Es ist, als ob Bordiga möchte, dass der einzelne Mensch in der Spezies subsumiert, statt durch sie realisiert werde.

Die Erfahrung eines Bewusstseinszustandes, der über das Ich hinausgeht, ist eher eine Höchsterfahrung als ein permanenter Zustand, aber jedenfalls nicht unbedingt eine Abschaffung der Persönlichkeit. Persönlichkeit als Maske vielleicht, Persönlichkeit als eine Art Privateigentum, Persönlichkeit als das äußere Gesicht der Illusion eines absoluten Egos – man könnte argumentieren, dass diese Form der Persönlichkeit in Zukunft überwunden wird. Aber die Natur selbst braucht Vielfalt, um voranzukommen, und das gilt nicht weniger für die menschliche Gesellschaft. Selbst die Buddhisten argumentierten nicht, dass die Erleuchtung den Einzelnen verschwinden lasse. Es gibt eine Zen-Geschichte, die erzählt, wie ein Schüler sich seinem Lehrer näherte, nachdem er gehört hatte, dass dieser Satori, das helle Licht der Erleuchtung, gesehen habe. Der Schüler fragt den Meister: "Wie fühlt es sich an, erleuchtet zu sein?" Worauf der Meister antwortet: "So unglücklich wie eh und je".

Und im gleichen Abschnitt von Tafeln aus Stein (Tables immuables) zitiert Bordiga den "großartigen Ausdruck" aus den 1844er Manuskripten: dass die Menschheit ein Wesen ist, das leidet, und dass, wenn es nicht leidet, es die Freude nicht kennen kann. Dieser fleischliche, sterbliche, individuelle Mensch wird auch weiterhin im Kommunismus existieren, der für Marx "die einzige Gesellschaft ist, in der die ursprüngliche und freie Entwicklung des Einzelnen kein bloßer Ausdruck mehr ist". (Deutsche Ideologie, "Die freie Entwicklung des Einzelnen")

Das sind natürlich Fragen für die ferne Zukunft. Aber Bordigas Misstrauen gegenüber der individuellen Persönlichkeit hat weitaus unmittelbarere Auswirkungen auf die Frage der revolutionären Organisation.

Wir wissen, dass Bordiga den bürgerlichen Fetisch der Demokratie scharf kritisiert hat, da er auf der falschen Vorstellung des isolierten Bürgers und auf dem tatsächlichen Fundament einer durch den Warenaustausch atomisierten Gesellschaft basiert. Die Erkenntnisse, die er in seinem Text Das demokratische Prinzip und anderswo gewonnen hat, ermöglichen es uns, die wesentliche Leere der demokratischsten Strukturen der kapitalistischen Ordnung aufzudecken. Aber es kommt ein Punkt in Bordigas Denken, an dem er das, was beim Sieg des Warenaustauschs über alle älteren Formen der Gemeinschaft authentisch "fortschrittlich" war, aus den Augen verliert: die Möglichkeit eines kritischen, individuellen Denkens, ohne das "positive Wissenschaft" – die Bordiga immer noch als Standpunkt des Proletariats anerkennt – nicht entstanden wäre. Auf Bordigas Parteivorstellung bezogen, führt diese Denkweise zum Konzept der "monolithischen", "anonymen" und sogar "totalitären" Organisation – alles Begriffe, die im bordigistischen Kanon positiv verwendet wurden. Es führt zur Theoretisierung der Negation des individuellen Denkens und damit der inneren Unterschiede und Debatten. Und wie bei allen totalitären Regimen gibt es immer mindestens ein Individuum, das alles andere als anonym bleibt – das zum Objekt eines Persönlichkeitskults wird. Und genau das wurde innerhalb der Internationalistischen Kommunistischen Partei der Nachkriegszeit von denen gerechtfertigt, die in Bordiga den "brillanten Führer" sahen, das Genie, das Antworten auf alle theoretischen Probleme der Organisation finden könne (auch wenn er eigentlich nicht Mitglied der Partei war!). Dies war die absurde Denkweise, welche die Gauche Communiste de France im Artikel gegen Die Auffassung vom genialen Führer[29] verwarf.

Bordigas Beitrag

Wir haben manchmal die Vorstellung von Bordiga kritisiert, wonach ein Revolutionär jemand sei, für den die Revolution bereits stattgefunden habe. Soweit diese Vorstellung die Unvermeidlichkeit des Kommunismus impliziert, sind diese Kritiken berechtigt. Aber es gibt auch eine Wahrheit in Bordigas Diktum. Kommunisten sind diejenigen, die die Zukunft in der Gegenwart repräsentieren, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, und in diesem Sinne messen sie die Gegenwart – und die Vergangenheit – im Lichte der Möglichkeit des Kommunismus. Bordigas "Leidenschaft für den Kommunismus" – sein Beharren darauf, die Überlegenheit des Kommunismus gegenüber allem, was die Klassengesellschaft und der Kapitalismus hervorgebracht hatten, zu demonstrieren – ermöglichte es ihm, den falschen Visionen des kapitalistischen und "sozialistischen" Fortschritts zu widerstehen, die in den 1950er und 60er Jahren in die Arbeiterklasse eingetrommelt wurden, und, vielleicht am wichtigsten, in der Praxis zu zeigen, dass der Marxismus eigentlich kein unveränderliches Dogma, sondern eine lebendige Theorie ist, denn es besteht kein Zweifel, dass die Beiträge von Bordiga zum Kommunismus unser Verständnis davon bereichern.

Bereits früher in diesem Artikel haben wir uns auf den Nachruf von Damen von 1970 bezogen, der darauf abzielte, den gesamten politischen Beitrag von Bordiga zu untersuchen[30]. Damen beginnt mit einer Auflistung aller Dinge, die "wir Bordiga verdanken", vor allem des immensen Beitrags, den er in seiner "klassischen" Periode zur Theorie des Abstentionismus und zum Verhältnis von Partei und Klasse geleistet hat. Aber wie wir gesehen haben, verschont er Bordiga zu Recht nicht von der Kritik an seinem Rückzug aus der Politik von Ende der 20er bis Anfang der 40er Jahre, seiner Weigerung, zu all den wirtschaftlichen und politischen Dramen, die diese Zeit füllen, Stellung zu nehmen. Damen untersucht seine Rückkehr ins politische Leben nach Kriegsende und schimpft auch über Bordigas Unklarheiten über den kapitalistischen Charakter der UdSSR. Er hätte noch weiter gehen und zeigen können, wie die Weigerung von Bordiga, die Errungenschaften der Fraktion anzuerkennen, zu einem klaren politischen Rückschritt in Schlüsselfragen wie der nationalen Frage, bei den Gewerkschaften und der Rolle der Partei in der proletarischen Diktatur führte. Aber was in Damens Text fehlt, ist eine Einschätzung des tatsächlichen Beitrags zum Verständnis des Kommunismus, den Bordiga in seinen späteren Jahren geleistet hat – ein Beitrag, den die kommunistische Linke noch aufnehmen muss, nicht zuletzt, weil er später von anderen mit zweifelhaften Zielen wie der "Kommunisierungs"-Strömung (von der Camatte einer der Gründerväter war) aufgenommen wurde, die ihn genutzt haben, um Ergebnisse zu erzielen, die Bordiga selbst sicherlich verworfen hätte. Aber das erfordert einen weiteren Artikel, und bevor wir dorthin kommen, wollen wir uns die anderen "Theorien der proletarischen Revolution" ansehen, die in den 50er, 60er und 70er Jahren entwickelt wurden.[31]

C.D. Ward (September 2016)


[1] Nach dem Zweiten Weltkrieg: Debatten darüber, wie die Arbeiter nach der Revolution an der Macht bleiben werden; nachzulesen auf Englisch unter https://en.internationalism.org/content/9523/aftermath-world-war-two-debates-how-workers-will-hold-power-after-revolution

[2] Der Nachkriegsboom hat den Niedergang des Kapitalismus nicht rückgängig gemacht; nachzulesen auf Englisch https://en.internationalism.org/internationalreview/201111/4596/post-war-boom-did-not-reverse-decline-capitalism

[3] Anton Pannekoek: Arbeiterräte. Texte zur sozialen Revolution. Fernwald (Annerod): Germinal Verlag, 2008

[4] Auf Ustica traf er auf Gramsci, der eine zentrale Rolle dabei gespielt hatte, die Linie der KI in der italienischen Partei durchzusetzen und Bordiga aus der Führung zu drängen. Inzwischen war Gramsci bereits krank und trotz ihrer erheblichen Unterschiede zögerte Bordiga nicht, die Verteidigung seiner Grundbedürfnisse zu übernehmen und mit ihm an der Bildung eines marxistischen Bildungskreises zu arbeiten.

[5] Dieser Text wurde kürzlich von der Internationalistischen Kommunistischen Tendenz als Broschüre auf Englisch wiederveröffentlicht.

[6] Die praktischen Probleme, mit denen Bordiga in dieser Zeit konfrontiert war, waren sicherlich beträchtlich: Ihm folgten zwei Polizisten, wohin auch immer er ging. Dennoch gab es auch ein freiwilliges Element in Bordigas Isolation von seinen Genossen, und Damen kritisierte Bordiga in einer Art Nachruf, kurz nach dessen Tod 1970 geschrieben, auf der Ebene des politischen Verhaltens scharf: "Sein politisches Verhalten, seine ständige Weigerung, eine politisch verantwortliche Haltung einzunehmen, muss in diesem besonderen Klima berücksichtigt werden. So wurden viele politische Ereignisse, einige von großer historischer Bedeutung, wie der Trotzki-Stalin-Konflikt und der Stalinismus selbst, verächtlich und ohne Echo ignoriert. Das Gleiche galt für unsere Fraktion im Ausland in Frankreich und Belgien, die Ideologie und Politik der Partei von Livorno, den Zweiten Weltkrieg und schließlich die Ausrichtung der UdSSR an der imperialistischen Front. Kein Wort, keine Zeile von Bordiga erschien während dieser historischen Periode, die auf einem breiteren und komplexeren Niveau war als der Erste Weltkrieg". https://www.leftcom.org/en/articles/2011-01-21/amadeo-bordiga-beyond-the-myth-and-the-rhetoric-0

Eine Studie über Bordigas "Jahre der Finsternis" wurde auf Italienisch veröffentlicht: Arturo Peregalli and Sandro Saggioro, Amadeo Bordiga. – La sconfitta e gli anni oscuri (1926-1945). Edizioni Colibri, Milan, November 1998

[9] S. 245 der deutschsprachigen Ausgabe. Diese Erkenntnisse über die potenziellen Gefahren, die vom "proletarischen" Staat ausgehen, scheinen verloren gegangen zu sein, wenn man die Überraschung bedenkt, die der Delegierte der PCInt/Battaglia Comunista auf dem Zweiten Kongress der IKS zum Ausdruck brachte, nachdem er einen Resolutionsvorschlag über den Staat in der Übergangsperiode gelesen hatte, der auf den Erkenntnissen der Fraktion und der GCF beruhte. Die Resolution wurde schließlich auf dem Dritten Kongress verabschiedet: /content/853/5-resolution-des-3kongresses-der-iks-zum-staat-der-uebergangsperiode-1979 siehe auch: https://de.internationalism.org/node/2421

[10] In seinem Vorwort zu Russland und die Revolution in der marxistischen Theorie (Russie et Révolution dans la Théorie Marxiste, Spartacus 1975) zeigt Jacques Camatte, dass Bordiga in den revolutionären Jahren nach dem Ersten Weltkrieg den Begriff der Invarianz nicht verteidigt hat, indem er sich insbesondere auf den ersten Artikel in der Sammlung Die Lehren der jüngsten Geschichte bezieht, der besagt, dass die reale Bewegung des Proletariats die Theorie bereichern kann, die offen einige von Marx' Vorstellungen von Demokratie und einigen der taktischen Vorschriften im Kommunistischen Manifest kritisiert: "Das System des kritischen Kommunismus muss natürlich in Verbindung mit der Integration historischer Erfahrungen nach dem Manifest von Marx und gegebenenfalls in eine entgegengesetzte Richtung zu bestimmten taktischen Verhaltensweisen von Marx und Engels verstanden werden, die sich als falsch erwiesen haben".

[14] neue deutsche Übersetzung, siehe: https://alter-maulwurf.de/download/707/

[15] siehe: Die Entfremdung der Arbeit ist die Vorbedingung für ihre Befreiung

/content/682/kommunismus-keine-schoenes-idealsondern-eine-notwendigkeit-serie-i-teil-3

[16] In Janitzio haben sie keine Angst vor dem Tod

[18] Eine ziemlich klare Darstellung von Bordigas Auffassung vom Sozialismus findet sich in einem Artikel von Adam Buick von der Sozialistischen Partei Großbritanniens (SPGB), die trotz aller anderen Fehler immer sehr deutlich verstanden hat, dass Sozialismus die Abschaffung von Lohnarbeit und Geld bedeutet. https://libcom.org/article/bordigism

[19] Leo Trotzki: „Literatur und Revolution“, in Internationale Revue Nr. 30 (/content/686/leo-trotzki-literatur-und-revolution)

[20] Siehe Der Kommunismus: Der Beginn der wirklichen Geschichte der Menschheit, in Internationale Revue Nr. 40 (/content/1557/der-kommunismus-der-beginn-der-wirklichen-geschichte-der-menschheit-ii). Dieser Artikel wie auch andere dieser Serie verweisen ebenfalls auf Bordigas Texte zum Kommunismus.

[23] Freud

[24] Zen-Buddhismus und Psychoanalyse. Fromm, ein Spross der Frankfurter Schule, der auch ausführlich über die frühen Schriften von Marx geschrieben hat, ist der Ansicht, dass das eigentliche Ziel der Psychoanalyse (das in großem Umfang nur in einer "gesunden Gesellschaft" erreicht werden könnte) nicht nur darin besteht, neurotische Symptome zu lindern oder die Instinkte der intellektuellen Kontrolle zu unterwerfen, sondern das Unbewusste bewusst zu machen und so das nicht verdrängte Leben zu erreichen. Er definiert damit die Methode der Psychoanalyse in Bezug auf dieses Ziel: "Sie untersucht die psychische Entwicklung eines Menschen von Kindheit an und versucht, die früheren Erfahrungen wiederherzustellen, um dem Menschen zu helfen, das zu erleben, was jetzt verdrängt wird. Es geht weiter, indem man Schritt für Schritt Illusionen in sich selbst über die Welt aufdeckt, so dass die parataxischen Verzerrungen und entfremdete Intellektualisierungen abnehmen. Indem sie sich selbst weniger fremd ist, wird die Person, die diesen Prozess durchläuft, weniger entfremdet von der Welt; weil sie die Kommunikation mit dem Universum in sich selbst eröffnet hat, hat sie die Kommunikation mit dem Universum außerhalb eröffnet. Das falsche Bewusstsein verschwindet, und mit ihm die Polarität bewusst-unbewusst." (ebenda. S. 107) Anderswo (S. 105) vergleicht er diese Methode mit der des Zen, der mit anderen Mitteln, aber auch durch eine Reihe kleinerer Erkenntnisse oder "satoris" zu einem qualitativ höheren Niveau des Seins in der Welt voranschreitet.

[25] Siehe auf Englisch die Sammlung  Murdering the Dead: Amadeo Bordiga on capitalism and other disasters, Antagonism Press, 2001, insbesondere: https://en.internationalism.org/worldrevolution/201403/9567/flooding-shape-things-come

[27] Eine Karikatur der Partei: die bordigistische Partei - Antwort an ”Kommunistisches Programm” /content/823/eine-karikatur-der-partei-die-bordigistische-partei-antwort-kommunistisches-programm

[31] Wie in einem kürzlich erschienenen Artikel von C. Derrick Varn im Blog Symptomatic Commentary, The brain of society: notes on Bordiga, organic centralism, and the limitations of the party form, festgestellt wurde, schien Bordiga sich dagegen zu sträuben, den Begriff der Partei für die höhere Phase des Kommunismus aufzugeben, und betrachtete sie vielmehr in dieser Hinsicht als das inkarnierte `soziale Gehirn'.

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Kommunismus