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Trotzki und die „Kultur des Kommunismus“
In einem vorangegangenen Artikel (Internationale Revue Nr. 30) sind wir auf die Debatte über die „proletarische Kultur“ in den ersten Jahren der Russischen Revolution eingegangen. Unser Artikel war gleichzeitig Einführung eines Auszuges aus Trotzkis Buch Literatur und Revolution, welches unserer Meinung nach den klarsten Rahmen zu dieser Debatte liefert, indem es die Politik einer proletarischen politischen Macht auf der Ebene der Kunst und Kultur beschreibt.
Die hier abgedruckten Auszüge, versehen mit unseren Gedanken dazu, stammen aus einem anderen Kapitel dieses Buches, in welchem Trotzki seine Vision von Kunst und Kultur in einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft entwickelt. Nachdem er den Begriff einer „proletarischen Kultur“ in den vorangegangenen Kapiteln seines Buches verworfen hat, erlaubt er sich nun einen Ausblick auf eine wirklich menschliche Kultur in einer klassenlosen Gesellschaft. Es ist ein Ausblick, der weit über die spezifischen Fragen der Kunst in die Sphären einer verwandelten Gesellschaft reicht.
Wir sind nicht die ersten oder einzigen, welche die Bedeutung dieses Buchkapitels hervorheben. Isaak Deutscher zitiert es ausführlich in seiner Trotzki-Biografie und schlussfolgert: „Seine Vision von der klassenlosen Gesellschaft lag natürlich allem marxistischen Denken zugrunde, das ja vom französischen utopischen Sozialismus beeinflusst war. Aber kein marxistischer Schriftsteller hat vor oder nach Trotzki die grosse Zukunft mit einem solch realistischen Blick und einer solch glühenden Phantasie erschaut.“ („Nicht von der Politik allein“ in Trotzki, Der unbewaffnete Prophet, Urban-Verlag, Seite 196)
Auch Richard Sites machte später in seiner umfassenden Studie über die sozial-experimentellen Strömungen, welche die ersten Jahre der Russischen Revolution begleiteten, eine Verbindung zwischen den Ansichten Trotzkis und der utopistischen Tradition. Das gesamte Kapitel in einem Satz zusammenfassend nennt er es „Die Mini-Utopie oder Hülle einer Welt unter dem Kommunismus“, welche nach seinen Worten von Trotzki mit einer „lyrischen Kontrolle“ beschrieben wurde. Für Sites war dies „ein aussergewöhnlicher Beitrag an den experimentellen Utopismus der die 20er Jahre kennzeichnete“ (Revolutionary Dreams, Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution, OUP, 1989, Seite 168, übersetzt von uns). Doch hier gilt es vorsichtig zu sein: In seiner Einführung tendiert Sites dazu, die utopistische Tendenz der marxistischen entgegenzustellen, indem er Trotzkis Bemühungen als mehr utopistisch denn marxistisch darstellt. Für das konventionelle bürgerliche Denken ist der Marxismus utopisch – doch nur in einem negativen Sinn, dass diese Vision der Zukunft lediglich ein Phantasiegebilde sei. Doch nun möchten wir Trotzki zu Wort kommen lassen und wollen dann zu Ende des Artikel darüber nachdenken, ob seine Arbeit wirklich als utopisch abgetan werden kann.
Kunst in der Revolution und Kunst in der kommunistischen Gesellschaft
Das Kapitel greift zu Beginn das wichtigste Argument aus dem Abschnitt über die proletarische Kultur auf: Das Ziel der proletarischen Revolution ist nicht die Schaffung einer brandneuen „proletarischen Kultur“ sondern ein Zusammenfügen aller positiven Aspekte vergangener kultureller Bemühungen in eine wirklich menschliche Kultur. Trotzkis Unterscheidung zwischen revolutionärer Kunst und sozialistischer Kunst verdeutlicht diese Präzisierung:
„Die Kunst der Revolution, die unausweichlich aller Widersprüche der Übergangsgesellschaft wiederspiegelt, darf man nicht mit der sozialistischen Kultur verwechseln, für die eine Basis noch gar nicht geschaffen ist. Andererseits darf man nicht vergessen, dass die sozialistische Kunst aus der Kunst der Übergangszeit erwachsen wird.
Wenn wir auf dieser Unterscheidung bestehen, dann lassen wir uns keinesfalls von irgendwelchen pedantischen schematischen Überlegungen leiten. Nicht ohne Grund hat Engels die sozialistische Revolution einen Sprung aus dem Reich des Zwanges in das Reich der Freiheit genannt. Die Revolution selbst ist noch kein „Reich der Freiheit“. Im Gegenteil, die Züge des „Zwanges“ erlangen in ihr die extremste Entwicklung. Während der Sozialismus zusammen mit den Klassen auch die Klassengesellschaft beseitigt, treibt die Revolution den Klassenkampf bis zur höchsten Intensität. In der Zeit der Revolution ist diejenige Literatur notwendig und fortschrittlich, die den Zusammenschluss der Werktätigen im Kampf gegen die Ausbeuter fördert. Die Revolutionsliteratur muss vom Geist des sozialen Hasses durchdrungen sein, der in der Epoche der proletarischen Diktatur ein schöpferischer Faktor in der Hand der Geschichte ist. Im Sozialismus ist die Solidarität die Grundlage der Gesellschaft. Die ganze Literatur, die ganze Kunst werden auf einen anderen Grundton abgestimmt sein. Diejenigen Gefühle, die wir Revolutionäre nur unter Hemmungen beim Namen nennen – weil diese Namen von scheinheiligen und trivialen Menschen so sehr missbraucht wurden: uneigennützige Freundschaft, Nächstenliebe, herzliche Teilnahme – werden in der sozialistischen Poesie in mächtigen Akkorden aufklingen.“ (Trotzki, Literatur und Revolution, Arbeiterpresseverlag 1994, Seite 227)
Zusammen mit Rosa Luxemburg stellen wir Trotzkis Formulierung des „sozialen Hasses“ in Frage, selbst in der Periode der proletarischen Diktatur. Dieser Ausdruck ist verbunden mit dem Konzept des Roten Terrors, das Trotzki ebenfalls vertrat, vom Spartakusbund jedoch in seinem Programm explizit verworfen wurde.1 .
Doch es gibt keinen Zweifel, dass „Solidarität die Grundlage der Gesellschaft“ im Sozialismus sein wird. Dies führte Trotzki zur Widerlegung des Argumentes, ein solcher „Ausbruch von Solidarität“ stünde im Widerspruch zur künstlerischen Kreativität: „Birgt aber vielleicht, wie die Nietzscheaner befürchten, ein Übermass an Solidarität die Gefahr einer Entartung des Menschen zu einem sentimental passiven Herdenwesen in sich? Keineswegs. Die mächtige Kraft des Wettstreits, die in der bürgerlichen Gesellschaft den Charakter eines Marktwettbewerbs hatte, wird in der sozialistischen Gesellschaftsordnung nicht verschwinden, sondern, um in der Sprache der Psychoanalyse zu sprechen, sublimiert, d.h. eine höhere und produktivere Form annehmen: Sie wird zu einem Kampf um die eigene Meinung, den eigenen Entwurf und um den eigenen Geschmack werden. Je mehr der politische Kampf abebbt – und in einer klassenlosen Gesellschaft wird es ihn nicht mehr geben – desto mehr werden die befreiten Leidenschaften in den Strom der Technik und des Aufbaus einschliesslich der Kunst gelenkt werden, die natürlich allgemeiner, reifer und bewusster sowie zur höchsten Form des sich vervollkommnenden Lebensaufbaus auf allen Gebieten wird und nicht nur ein „schönes“ Anhängsel am Rande.
Alle Sphären des Lebens: die Bodenbearbeitung, die Planung menschlicher Siedlungen, der Bau von Theatern, die Methoden der gesellschaftlichen Kindererziehung, die Lösung wissenschaftlicher Probleme, die Schaffung eines neuen Stils werden alle und jeden einzelnen zutiefst erfassen. Die Menschen werden sich in „Parteien“ teilen: in Fragen über einen neuen gigantischen Kanal, über die Verteilung von Oasen in der Sahara – auch eine solche Frage wird auftauchen – über Klima- und Wetterregulierung, über das neue Theater, über eine chemische Hypothese, über zwei in der Musik sich bekämpfende Richtungen oder über das beste System des Sports. Diese Gruppen werden von keinerlei Klassen- oder Kasteneigennutz vergiftet sein. Alle werden in gleichem Masse an den Errungenschaften der Gesamtheit interessiert sein. Der Kampf wird stets einen rein ideellen Charakter tragen. Er wird nichts von Profitgier, Gemeinheit, Verrat, Bestechlichkeit und von all dem an sich haben, was das Wesen der „Konkurrenz“ in der Klassengesellschaft ausmacht. Aber dadurch wird der Kampf nicht minder packend, dramatisch und leidenschaftlich sein. Da aber in der sozialistischen Gesellschaft alle Probleme – darunter auch diejenigen, die früher elementar und automatisch gelöst wurden (Alltagsleben) oder sich in der Obhut besonderer Priesterkasten befanden (Kunst) – Allgemeingut werden, so kann man mit voller Gewissheit sagen, dass es für kollektive Interessen und Leidenschaften und für den individuellen Wettbewerb ein äusserst weites Feld und eine unbegrenzte Anzahl von Anlässen geben wird. Die Kunst wird dementsprechend keinen Mangel an Entladungen der gesellschaftlichen Nervenenergie und an jenen kollektiv-psychischen Impulsen haben, die zur Ausbildung neuer Kunstrichtungen und zu Stilwechsel zwingen. Die ästhetischen Schulen werden ihrerseits „Parteien“ um sich gruppieren, d.h. nach Temperament, Geschmack und Geistesrichtung sich unterscheidende Gruppen. In diesem selbstlosen, angespannten Kampf auf einem ständig höher werdenden Fundament der Kultur wird die menschliche Persönlichkeit mit ihrer unschätzbaren Eigenschaft, sich nie mit dem Erreichten zu begnügen, wachsen und alle Kanten abschleifen. Wahrlich, wir haben keinen Grund, uns vor einer Einschläferung der Persönlichkeit oder Verarmung der Kunst in der sozialistischen Gesellschaft zu fürchten.“ (ebenda, Seite 228)
Trotzki untersucht danach, welcher Kunststil oder Schule der revolutionären Periode am nächsten steht. In einem gewissen Masse haben diese Überlegungen eine eher lokale und zeitlich begrenzte Bedeutung, da sie sich auf Kunstströmungen beziehen, welche schon lange verschwunden sind, wie der Symbolismus oder der Futurismus. Zudem sind mit dem stetigen Versinken des Kapitalismus in seine dekadente Phase und der Zuspitzung der Kommerzialisierung, des Egoismus und der Atomisierung verschiedenste Kunstströmungen und Schulen verschwunden. In den 30er Jahren schon hatte das „Manifest der internationalen futuristischen Künstler und revolutionären Schriftsteller“, von Trotzki in Zusammenarbeit mit André Breton und Diego Riviera geschrieben, diese Entwicklung vorausgesagt: „Die Kunstschulen der letzten Jahrzehnte, der Kubismus, der Futurismus, der Dadaismus und der Surrealismus haben sich alle abgelöst ohne dass eine zur vollen Blüte kam (...) Es gibt keinen Ausweg aus dieser Sackgasse nur mit künstlerischen Mitteln. es handelt sich um eine Krise der Zivilisation. (...) Wenn sich die gegenwärtige Gesellschaft nicht wieder aufrichten kann geht die Kunst unweigerlich zugrunde, so wie die Kunst Griechenlands unter den Ruinen der Sklavengesellschaft untergegangen ist.“ (von uns übersetzt) Eine zukünftige Revolution wird mit grosser Wahrscheinlichkeit an die kollektivsten künstlerischen Bewegungen, welche sich mit der Revolution identifizieren und von den Schulen der Vergangenheit inspiriert sind ohne sie lediglich zu kopieren, einen neuen Impuls weitergeben. Es gilt noch anzufügen, dass Trotzki, der sich zur Beschreibung der Kunst in der revolutionären Periode für den Begriff „Realismus“ entschied, jedoch keinesfalls die positiven Beiträge verschiedener Schulen zurückwies, auch wenn sich deren Anliegen – wie im Falle des Symbolismus – weit von den sozialen Grundlagen des Alltags wegbewegten oder eher eine Flucht vor der Realität darstellten:2 „Im Gegenteil, der neue Künstler verwendet alle Methoden und Prozesse, die in der Vergangenheit entwickelt wurden, um das neue Leben zu erfassen. Dies ist kein künstlerischer Eklektizismus, denn die Einheit der Kunst wird durch eine aktive Wahrnehmung der Welt und des Lebens gebildet.“
Dies steht in Verbindung mit Trotzkis genereller Sichtweise zur Kultur, die wir im vorgängigen Artikel (Internationale Revue Nr. 30) beschrieben haben, welche sich gegen den Pseudo-Radikalismus wandte, der alles aus der Vergangenheit über Bord werfen will.
Trotzki verwendete dieselbe Methode bezüglich des Problems der grundlegenden literarischen Formen wie der Komödie und der Tragödie. Entgegen denjenigen, welche der Komödie und der Tragödie keinerlei Platz in der Kunst der Zukunft einräumten, liefert uns Trotzki eine Methode, um zu sehen, an was bestimmte kulturelle Errungenschaften in der geschichtlichen Evolution der sozialen Formationen gebunden sind. Die antike griechische Tragödie einerseits drückte die unpersönliche Dominanz der Götter über die Menschen aus, welche damit die relative Machtlosigkeit des Menschen gegenüber der Natur in den archaischen Gesellschaften widerspiegelte. Die Tragödie Shakespears andererseits, welche tief gebunden war an die Geburtswehen der bürgerlichen Gesellschaft, stellte einen Schritt vorwärts dar, weil sie sich auf individuellere menschliche Emotionen konzentrierte: „Als die bürgerliche Gesellschaft die Beziehungen atomisierte, hatte sie zur Zeit ihres Aufstiegs ein grosses Ziel, das Befreiung der Persönlichkeit hiess. Aus ihm wuchsen die Dramen Shakespears und Goethes „Faust“. Der Mensch betrachtet sich als Mittelpunkt des Weltalls und damit auch der Kunst. Dieses Thema reichte für Jahrhunderte. Im Wesentlichen war die ganze neue Literatur der Durcharbeitung dieses Themas gewidmet, aber das ursprüngliche Ziel – die Befreiung der Persönlichkeit und ihre Qualifizierung – verblasste und wurde auf das Gebiet der neuen entseelten Mythologie in dem Masse abgedrängt, in dem die Haltlosigkeit der bürgerlichen Gesellschaft sich durch ihre unerträglichen Widersprüche offenbarte.“ (ebenda, Seite 240)
Trotzki zeigt danach auf, dass die Bedingungen, welche die Tragödie entstehen liessen, nicht an die Vergangenheit gebunden sind, sondern noch lange in der Zukunft weiterexistieren werden. Denn der Mensch ist (wie Marx es formulierte) im Grunde genommen ein leidendes Wesen, welches andauernd konfrontiert ist mit dem Konflikt zwischen seinen unbegrenzten Anstrengungen und dem objektiven Universum, das ihn herausfordert: „Der Zusammenprall des Persönlichen mit dem Überpersönlichen ist jedoch nicht nur auf religiöser Basis und nicht nur auf der Grundlage einer über den Menschen hinauswachsenden menschlichen Leidenschaft möglich. Das Überpersönliche ist vor allen Dingen das Gesellschaftliche. Solange der Mensch seine gesellschaftliche Organisation nicht meistert, erhebt sie sich über ihn als Schicksal. Ob sie hierbei ihren religiösen Hintergrund abwirft oder nicht, sie bleibt auf jeden Fall eine zweitrangige Angelegenheit, die vom Grad der Hilflosigkeit des Menschen abhängt. Der Kampf Babeufs für den Kommunismus in einer Gesellschaft, die für ihn noch nicht reif war, war der Kampf eines antiken Helden gegen das Schicksal. Das Schicksal Babeufs hat alle Male einer echten Tragödie ebenso wie das Schicksal jener Gracchen, deren Namen sich Babeuf beigelegt hatte. Die Tragödie isolierter persönlicher Leidenschaften ist für unsere Zeit zu fade. Aber weshalb? Weil wir in einer Epoche der sozialen Leidenschaften leben. Die Tragödie unserer Epoche ist der Zusammenstoss der Persönlichkeit mit dem Kollektiv oder der Zusammenprall zweier feindlicher Kollektive in einer Persönlichkeit.
Unsere Zeit ist wieder eine Zeit der grossen Ziele. Durch sie ist sie geprägt. Aber die Grösse dieser Ziele liegt eben darin, dass der Mensch danach strebt, sich vom Mystischen und allerlei sonstigem ideellen Nebel zu befreien, seine Gesellschaft und sich selbst nach einem Plan umzubauen, den er selbst geschaffen hat. Das ist natürlich gewaltiger als das kindliche Spiel in der Antike, das ihrem kindlichen Alter zu Gesicht stand, oder als die Mönchsphantasien des Mittelalters oder der Hochmut des Individualismus, der die Persönlichkeit vom Kollektiv trennt, um sie dann, nachdem sie rasch bis auf den letzten Grund ausgeschöpft war, in die Leere des Pessimismus zu stossen oder sie erneut vor dem leicht aufgefrischten Apis-Stier auf alle viere niederzuwerfen.
Die Tragödie stellt daher eine hohe Form der Literatur dar, weil sie eine heroische Spannung der Bestrebungen und eine Begrenztheit der Ziele, Konflikte und Leiden voraussetzt. (...) Ob die Kunst der Revolution Zeit haben wird, eine „hohe“ revolutionäre Tragödie zu geben, ist schwer vorauszusehen. Aber die sozialistische Kunst wird die Tragödie wiederauferstehen lassen. Und natürlich ohne Gott. Die neue Kunst wird eine atheistische Kunst sein. Sie wird auch die Komödie zu neuem Leben erwecken, denn der neue Mensch wird auch lachen wollen. Sie wird dem Roman eine neues Leben einflössen. Sie wird der Lyrik alle Rechte einräumen, weil der neue Mensch besser und stärker lieben wird, als es die Menschen früher getan haben, und weil er sich über die Probleme von Geburt und Tod Gedanken machen wird.
Die neue Kunst wird alle alten, von der Entwicklung des schöpferischen Geistes geschaffenen Formen wiederauferstehen lassen. Die Zersetzung und der Zerfall dieser Formen haben keineswegs absolute Bedeutung, d.h. sie bedeuten nicht, dass sie mit dem Geist der neuen Zeit absolut unvereinbar wäre. Der Dichter der neuen Epoche muss nur die menschlichen Gedanken auf eine neue Art durchdenken und die menschlichen Gefühle neu durchleben.“ (ebenda Seite 240-242)
Vor allem sticht in diesem Abschnitt hervor, dass Trotzki fast dieselbe Herangehensweise entwickelt wie Marx in den Grundrissen – das Vorwerk zum Kapital, welches bis 1939 unveröffentlicht blieb und von Trotzki vermutlich nie gelesen wurde. Wie Trotzki geht es Marx um die Dialektik in den Veränderungen der Form des künstlerischen Ausdrucks, in Verbindung mit der materiellen Entwicklung der Produktivkräfte und den darin liegenden menschlichen Werten. Diese Passage ist dermassen klärend, dass wir sie in ihrer ganzen Länge zitieren: „Bei der Kunst bekannt, dass bestimmte Blütezeiten derselben keineswegs im Verhältnis zur allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft, also auch der materiellen Grundlage, gleichsam des Knochenbaus ihrer Organisation, stehn. Z.B. die Griechen verglichen mit den Modernen oder auch Shakespare. Von gewissen Formen der Kunst, z.B. dem Epos, sogar anerkannt, dass sie in ihrer weltepochemachenden, klassischen Gestalt nie produziert werden können, sobald die Kunstproduktion als solche eintritt; also dass innerhalb des Bereichs der Kunst selbst gewisse bedeutende Gestaltungen derselben nur auf einer unentwickelten Stufe möglich sind. Wenn dies im Verhältnis der verschiedenen Kunstarten innerhalb des Bereichs der Kunst selbst der Fall ist, ist es schon weniger auffallend, dass es in Verhältnis des ganzen Bereichs der Kunst zur allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft der Fall ist. Die Schwierigkeit besteht nur in der allgemeinen Fassung dieser Widersprüche. Sobald sie spezifiziert werden, sind sie schon erklärt.
Nehmen wir z.B. das Verhältnis der griechischen Kunst und dann Shakespeares zur Gegenwart. Bekannt, dass die griechische Mythologie nicht nur das Arsenal der griechischen Kunst, sondern ihr Boden. Ist die Anschauung der Natur und der gesellschaftlichen Verhältnisse, die der griechischen Phantasie, und daher der griechischen Kunst zugrunde liegt, möglich mit selfactors (automatische Spinnmaschinen) und Eisenbahnen und Lokomotiven und elektrischen Telegraphen? Wo bleibt Vulcan gegen Roberts et Co., Jupiter gegen den Blitzableiter und Hermes gegen den Crédit mobilier (französische Aktienbank)? Alle Mythologie überwindet und beherrscht und gestaltet die Naturkräfte in der Einbildung und durch die Einbildung; verschwindet also mit der wirklichen Herrschaft über dieselben. Was wird aus der Fama neben Printinghouse square? Die griechische Kunst setzt die griechische Mythologie voraus, d.h., die Natur und die gesellschaftlichen Formen selbst schon in einer unbewusst künstlerischen Weise verarbeitet durch die Volksphantasie. Das ist ihr Material. Nicht jede beliebige Mythologie, d.h. nicht jede beliebige unbewusst künstlerische Verarbeitung der Natur (hier darunter alles Gegenständliche, also die Gesellschaft eingeschlossen). Ägyptische Mythologie konnte nie der Boden oder der Mutterschoss griechischer Kunst sein. Aber jedenfalls eine Mythologie. Also keinesfalls eine Gesellschaftsentwicklung, die alles mythologische Verhältnis zur Natur ausschliesst, alles mythologisierende Verhältnis zu ihr; also vom Künstler eine von Mythologie abhängige Phantasie verlangt.
Von einer andren Seite: Ist Achilles möglich mit Pulver oder Blei? Oder überhaupt die „Iliade“ mit der Druckerpresse oder gar Druckmaschine? Hört das Singen und Sagen und die Muse mit dem Pressbengel nicht notwendig auf, also verschwinden nicht notwendige Bedingungen der epischen Poesie?
Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin zu verstehn, dass griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, dass sie uns noch Kunstgenuss gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten.
Ein Mann kann nicht wieder zum Kind werden, oder er wird kindisch. Aber freut ihn die Naivität des Kindes nicht, und muss er nicht selbst wieder auf einer höhern Stufe streben, seine Wahrheit reproduzieren? Lebt in der Kindernatur nicht in jeder Epoche ihr eigener Charakter in seiner Naturwahrheit auf? Warum sollte die geschichtliche Kindheit der Menschheit, wo sie am schönsten entfaltet, als eine nie wiederkehrende Stufe nicht ewigen Reiz ausüben? Es gibt ungezogene Kinder und altkluge Kinder. Viele der alten Völker gehörten in diese Kategorie. Normale Kinder waren die Griechen. Der Reiz ihrer Kunst für uns steht nicht im Widerspruch zu der unentwickelten Gesellschaftsstufe, worauf sie wuchs. Ist vielmehr ihr Resultat und hängt vielmehr unzertrennlich damit zusammen, dass die unreifen gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie entstanden und alleine entstehen konnte, nie wiederkehren können.“ (Einleitung zu den Grundrissen, MEW Bd. 42, Seite 43-45)
In beiden Abschnitten ist der Ausgangspunkt derselbe: um jede einzelne Kunst verstehen zu können, muss sie in ihrem historischen Kontext verstanden werden, und dabei im Kontext der Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte. Nur dies erlaubt uns, die grundlegenden Wechsel, welche die Kunst während der verschiedenen historischen Perioden gekannt hat zu verstehen. So wie Trotzki beschreibt, dass die Dimension der Tragik nie gänzlich aus der Kunst ausgeschlossen sein wird, da der menschlichen Umgebung nie gänzlich fern, stellt Marx fest, dass die wirkliche theoretische Herausforderung weniger in der Feststellung liegt, künstlerische Ausdrücke stünden im Zusammenhang mit der sozialen Entwicklung, sondern viel mehr im Verständnis, weshalb die kreativen Schöpfungen der „Kindheit der Menschheit“ noch über Jahrhunderte für die gegenwärtige und zukünftige Menschheit nachhallen können. Mit anderen Worten: wie ausser mit Bezugnahme auf das „stumme Genie“ Feuerbachs oder die idealistische Art der bürgerlichen Moralisten, kann uns das Studium der Kunst helfen, die wirklichen grundlegenden Charakteristiken der menschlichen Aktivität und des menschlichen Wesens als solches zu begreifen?
Die Vereinigung von Kunst und Industrie
Trotzki wendet sich nun dem praktischen Verhältnis zwischen Kunst, Industrie und Bau in der revolutionären Periode zu. Er konzentriert sich vor allem auf das Feld der Architektur, den Überschneidungspunkt zwischen Kunst und Bau. Sicherlich, auf dieser Ebene war das von Armut geplagte Russland immer noch dazu verdammt, zerstörte Gebäude und Strassen wieder aufzubauen. Doch trotz der extrem knappen Ressourcen konnte das revolutionäre Russland eine neue Synthese von Kunst und praktischen Gebäuden entwickeln. Dies war vor allem der Fall mit der konstruktivistischen Schule um Tatlin, welcher vermutlich am besten bekannt ist durch seinen Entwurf des Monuments der Dritten Internationale. Doch Trotzki schien unzufrieden mit diesen Experimenten und unterstrich, dass kein wirklicher Wideraufbau stattfinden könne, solange die grundlegenden ökonomischen Probleme nicht gelöst seien (und dies konnte sicher nicht in Russland alleine geschehen). Er engagierte sich eher darin, zu untersuchen, welche Möglichkeiten dem zukünftige Kommunismus zur Verfügung stehen, wenn einmal die grundlegenden politischen, militärischen und ökonomischen Probleme gelöst sind. Für Trotzki war dies ein Projekt, welches nicht eine Minderheit von Spezialisten umfassen sollte, sondern eine Kollektive Anstrengung sein musste: „Es unterliegt keinem Zweifel, dass in der Zukunft – und je weiter um so mehr – derartige monumentale Aufgaben wie die Planung neuer Garten-Städte, vorbildlicher Häuser, Eisenbahnen und Häfen – nicht nur die am Wettbewerb beteiligten Ingenieure und Architekten, sondern auch die breiten Volksmassen mitreissen werden. Das ameisenartige Durcheinander von Stadtvierteln und Strassen wird Steinchen für Steinchen unmerkbar von Geschlecht zu Geschlecht ersetzt durch den titanischen Bau von Dorf-Städten, nach der Karte und mit dem Zirkel. Um diesen Zirkel werden sich echte Volksgruppen dafür und dagegen bilden, eigenartige bautechnische Parteien der Zukunft, mit Agitation, mit Leidenschaften, Meetings, Abstimmungen. In diesem Kampf wird die Architektur von neuem, aber schon auf höherer Ebene, von den Gefühlen und Stimmungen der Massen durchdrungen sein, und die Menschheit wird sich plastisch erziehen, d.h. sie wird sich daran gewöhnen, die Welt als gefügigen Ton zum formen immer vollkommenerer Lebensformen zu betrachten. Die Wand zwischen Kunst und Industrie wird fallen. Der zukünftige hohe Stil wird kein verzierender, sondern ein gestaltender sein. Darin haben die Futuristen recht. Es wäre allerdings ein Fehler, wollte man dies als eine Liquidierung der Kunst, als ihre Selbstaufgabe vor der Technik auslegen.(...) Bedeutet dies etwa, dass die Industrie die Kunst ganz in sich aufsaugen oder dass die Kunst die Industrie zu sich auf den Olymp emporheben wird? Diese Frage kann man so und anders beantworten, je nachdem, ob wir von der Industrie oder von der Kunst her an sie herangehen. Aber im objektiven Endergebnis wird es zwischen den antworten keinen Unterschied geben. Beide bedeuten eine gigantische Erweiterung der Sphäre und eine nicht weniger gigantische Steigerung der künstlerischen Qualifikation der Industrie, wobei wir damit ausnahmslos die gesamte produktive Tätigkeit des Menschen meinen: Die mechanisierte und elektrifizierte Landwirtschaft wird ein Teil dieser Industrie werden. (ebenda, Seite 245-247)
Hier liefert uns Trotzki eine Konkretisierung der Vision von Marx in den Ökonomischen und philosophischen Manuskripten: Der Mensch, befreit von der entfremdeten Arbeit, wird eine Welt „im Einklang mit den Gesetzen der Schönheit“ schaffen.3
Die Landschaften der Zukunft
Trotzki beginnt danach seine Vision zu beschreiben und erlaubt sich eine sehr malerische Darstellung der Städte und Landschaften der Zukunft: „Aber nicht nur zwischen der Kunst und der Industrie wird die Trennwand fallen, sondern gleichzeitig auch zwischen der Kunst und der Natur. Nicht in jenem Rousseauschen Sinne, dass die Kunst sich dem Naturzustand nähern wird, sondern im Gegenteil, dass die Natur „künstlicher“ werden wird. Die gegenwärtige Verteilung von Berg und Tal, von Feldern und Wiesen, Steppen, Wäldern und Meeresküsten darf man keinesfalls als endgültig bezeichnen. Gewisse Veränderungen – und nicht einmal geringe – hat der Mensch bereits im Bild der Natur hervorgebracht; aber das sind im Vergleich zu dem, was noch kommen wird, nur schülerhafte Experimente. Wenn der Glaube nur versprach, Berge zu versetzen, so ist die Technik, die nichts „auf Treu und Glauben“ hinnimmt, wirklich imstande, Berge abzutragen und sie zu versetzen. Bis jetzt machte man das zu industriellen Zwecken (Bergwerke) oder für Verkehrszwecke (Tunnels); in Zukunft wird das in unvergleichlich grösserem Ausmass geschehen, je nach den Erfordernissen des gesamten Produktions- und Kunstplans. Der Mensch wird sich mit der Neuregistrierung der Berge und Flüsse befassen und die Natur überhaupt ernstlich verändern. Schliesslich wird er die Erde, wenn auch nicht nach seinem Vor- und Ebenbild, so doch nach seinem Geschmack umbauen. Wir haben keinen Grund zu der Befürchtung, dass dieser Geschmack ein schlechter sein wird.
Der eifersüchtige und scheeläugige Kljujew hat in seinem Streit mit Majakowski behauptet, dass es „einem Liedschöpfer nicht anstände, sich um Hebekräne zu kümmern“ und dass „in des Herzens Hochöfen (und nicht in irgendwelchen anderen) des Lebens rotes Gold geschmolzen“ wird. In diesen Streit hat sich Iwanow-Rasumnik eingemischt: ein Narodnik, der auch linker Sozialrevolutionär gewesen ist – womit alles gesagt ist. Die Poesie des Hammers und der Maschine, in deren Namen angeblich Majakowski auftritt, erklärt Iwanow-Rasumnik als eine vergängliche Episode, die Poesie der „nicht handgemachten Erde“ dagegen als „die ewige Poesie der Welt“. Erde und Maschine werden einander als ewiger und unvergänglicher Quell der Poesie gegenübergestellt, und selbstverständlich gibt der immanente Idealist, der vorsichtige und fade Halbmystiker Rasumnik dem Ewigen den Vorzug vor dem Vergänglichen. In Wirklichkeit ist aber dieser Dualismus von Erde und Maschine falsch: Gegenüberstellen kann man dem rückständigen Bauernacker eine Weizenfabrik, sei es eine Plantage oder ein sozialistischer Betrieb. Die Poesie der Erde ist nicht ewig, sondern veränderlich, und der Mensch hat erst dann angefangen, artikulierte Lieder von sich zu geben, als er zwischen sich und die Erde Werkzeuge und Geräte, die ersten ganz primitiven Maschinen gestellt hat. Ohne den Hackenpflug, die Sichel und die Sense gibt es keinen Kolzow. Bedeutet das etwa, das die Erde des Hakenpflugs vor der Erde mit dem Elektropflug den Vorzug der Ewigkeit hat? Der neue Mensch, der sich erst jetzt projektiert und verwirklicht, wird nicht wie Kljujew, und nach diesem auch Rasumnik, die Auerhahnbalz und das Netz für den Stör dem Hebekran und dem Dampfhammer gegenüberstellen. Der sozialistische Mensch will und wird die Natur in ihrem ganzen Umfang einschliesslich der Auerhähne und der Störe mit Hilfe von Maschinen beherrschen. Er wird beiden ihren Platz anweisen, und zeigen wo sie weichen müssen. Er wird die Richtung der Flüsse ändern und den Ozeanen Regeln vorschreiben. Die idealistischen Tröpfe mögen glauben, dies werde langweilig werden – aber dafür sind sie eben Tröpfe. Natürlich wird dies nicht bedeuten, dass der ganze Erdball in Planquadrate eingeteilt wird und das die Wälder sich in Parks und Gärten verwandeln. Wildnis und Wald, Auerhähne und Tiger wird es wahrscheinlich auch dann noch geben, aber nur dort, wo ihnen der Mensch den Platz anweist. Und er wird dies so gescheit einrichten, dass selbst der Tiger den Baukran nicht bemerken und melancholisch werden, sondern wie in Urzeiten weiterleben wird. Die Maschine ist auf allen Lebensgebieten ein Werkzeug des modernen Menschen. Die gegenwärtige Stadt ist vergänglich, aber sie wird sich nicht in dem alten Dorf auflösen. Im Gegenteil, das Dorf wird sich grundsätzlich zur Stadt erheben. Das ist die Hauptaufgabe. Die Stadt ist vergänglich; aber sie kennzeichnet die Zukunft und weist ihr den Weg, während das gegenwärtige Dorf völlig in der Vergangenheit ruht.“ (ebenda, Seite 247-249)
In diesem Abschnitt findet sich eine scharfsichtige Zurückweisung der heutigen Primitivisten, welche die „Technologie“ für all die Krankheiten des sozialen Lebens verantwortlich machen und versuchen, zu einem idyllischen Traum von Einfachheit zurückzukehren, wie bevor die Schlange der Technologie in den Garten eingedrungen sei. Wie wir schon in anderen Artikeln gezeigt haben (siehe Internationale Revue, Nr. 13, Der Kapitalismus vergiftet die Erde), bedeutet eine solche Auffassung in Wirklichkeit einen Schritt zurück zu einer vor-menschlichen Vergangenheit und damit der Eliminierung der Menschheit. Trotzki zweifelt nicht an der Stadt als Wegweiser. Doch nicht in ihrer heutigen Form. Da er die heutige Stadt als ein Übergangsphänomen anerkennt, sind wir überzeugt, dass er sich voll und ganz in Übereinstimmung mit Marx und Engels Vorstellungen einer neuen Synthese zwischen Stadt und Land befindet. Und diese Vorstellungen haben nichts am Hut mit der zerstörerischen Verstädterung des Globus, die der Kapitalismus der Menschheit heute aufbürdet. Trotzki sieht den Schutz der Wildnis als Teil des Planes zur Verwaltung des Planeten. Heute zeigt die Verschmutzung der Umwelt, und nicht zuletzt die Bedrohung durch die Zerstörung der grossen Waldgebiete, noch mehr als in den Zeiten Trotzkis auf, wie lebenswichtig ein solcher Schutz ist. Heute sind wir mit der reellen Gefahr konfrontiert, dass es keine Tiger oder Wälder mehr zu beschützen gibt und die proletarische Macht der Zukunft wir sofort drakonische Massnahmen ergreifen müssen, um dem ökologischen Holocaust ein Ende zu bereiten. Doch gibt es keinerlei Zweifel: Die kommunistische Erholung der Natur wird auf der Basis der wichtigsten Fortschritte in Wissenschaft und Technik beruhen.
Die Befreiung des Alltagslebens
Trotzki wendet sich nun der Organisierung des Alltagslebens im Kommunismus zu: „Wovon heutzutage einzelne Enthusiasten nicht immer sehr gescheit träumen – hinsichtlich der Theatralisierung des Alltags und der Rhythmisierung des Menschen selbst – das fügt sich gut und nahtlos in diese Perspektive ein. Der Mensch wird, wenn er seine Wirtschaftsordnung rationalisiert, d. h. mit Bewusstsein erfüllt und seinem Vorhaben unterworfen hat, in seinem gegenwärtigen trägen und durch und durch verfaulten häuslichen Alltag keinen Stein auf dem anderen lassen. Die zentnerschwer auf der heutigen Familie lastenden Sorgen um die Ernährung und Erziehung werden von ihr genommen und Gegenstand der öffentlichen Initiative und des unerschöpflichen kollektiven Schaffens werden. Die Frau wird endlich aus dem Zustand der Halbsklaverei befreit werden. Neben der Technik wird die Pädagogik – im breitesten Sinn der psychophysischen Formung neuer Generationen – zur Beherrscherin der öffentlichen Meinung werden. Die pädagogischen Systeme werden mächtige „Parteien“ um sich scharen. Die sozialerzieherischen Experimente und der Wettbewerb verschiedener Methoden werden eine Entfaltung erfahren, von der man heute noch nicht einmal träumen kann. Die kommunistische Daseinsform wird nicht wie ein Korallenriff zufällig entstehen, sondern bewusst aufgebaut, durch die Idee überprüft, ausgerichtet und korrigiert werden. Wenn das Dasein aufhört, eine Elementargewalt zu sein, wird es aufhören schal zu sein. Der Mensch, der es gelernt hat, Flüsse und Berge zu versetzen und Volkspaläste auf den Gipfel des Montblanc oder auf dem Meeresgrund des atlantischen Ozeans zu bauen, wird seinem Alltag natürlich nicht nur Reichtum, Farbigkeit und Spannung verleihen, sondern auch höchste Dynamik. Die Hülle des Alltags wird – kaum entstanden – unter dem Ansturm neuer technischer und kultureller Erfindungen und Errungenschaften wieder gesprengt werden. Das Leben der Zukunft wird nicht eintönig sein.“ (ebenda, Seite 249-250)
Das Erwachen des Unbewussten
Im letzten Abschnitt des Buches erreicht Trotzkis Vision ihren Höhepunkt, wenn er sich von den Berggipfeln hinab begibt in die menschliche Psyche: „Mehr noch. Der Mensch wird endlich daran gehen, sich selbst zu harmonisieren. Er wird es sich zur Aufgabe machen, der Bewegung seiner eigenen Organe – bei der Arbeit, beim Gehen oder im Spiel – höchste Klarheit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit und damit Schönheit zu verleihen. Er wird den Willen verspüren, die halbbewussten und später auch die unterbewussten Prozesse im eigenen Organismus: Atmung, Blutkreislauf, Verdauung und Befruchtung zu meistern, und wird sie in den erforderlichen Grenzen der Kontrolle durch Vernunft und Willen unterwerfen. Das Leben, selbst das rein psychologische, wird zu einem kollektiv-experimentellen werden. Das Menschengeschlecht, der erstarrte Homo sapiens, wird erneut radikal umgearbeitet und – unter seinen eigenen Händen – zum Objekt kompliziertester Methoden der künstlichen Auslese und des psychophysischen Trainings werden. Das liegt vollkommen auf der Linie seiner Entwicklung. Der Mensch hat zuerst die dunklen Elementargewalten aus der Produktion und der Ideologie vertrieben, indem er die barbarische Routine durch wissenschaftliche Technik und die Religion durch Wissenschaft verdrängte. Dann hat er das Unbewusste aus der Politik vertrieben, indem er die Monarchie und die Stände durch die Demokratie und durch den rationalistischen Parlamentarismus und schliesslich durch die kristallklare Sowjetdiktatur ersetzte. Am schlimmsten hat sich die blinde Naturgewalt in den Wirtschaftsbeziehungen festgesetzt – aber auch dort vertreibt sie der Mensch durch die sozialistische Organisation der Wirtschaft. Dadurch wird ein grundlegender Umbau des traditionellen Familienlebens ermöglicht. Im tiefsten und finstersten Winkel des Unbewussten, Elementaren und Untergründigen hat sich die Natur des Menschen selbst verborgen. Ist es denn nicht klar, dass die grössten Anstrengungen des forschenden Gedankens und der schöpferischen Initiative darauf gerichtet sein werden? Das Menschengeschlecht wird doch nicht darum aufhören, vor Gott, den Kaisern und dem Kapital auf allen Vieren zu kriechen, um vor den finsteren Vererbungsgesetzen und dem Gesetz der blinden Geschlechtsauslese demütig zu kapitulieren! Der befreite Mensch wird ein grösseres Gleichgewicht in der Arbeit seiner Organe erreichen wollen, eine gleichmässigere Entwicklung und Abnutzung seiner Gewebe, um schon allein dadurch die Angst vor dem Tode in die Grenzen einer zweckmässigen Reaktion des Organismus auf Gefahren zu verweisen, weil es gar keinen Zweifel daran geben kann, dass gerade die äusserste Disharmonie des Menschen – die anatomische wie die psychologische – die ausserordentliche Unausgeglichenheit der Entwicklung der Organe und Gewebe dem Lebensinstinkt eine verklemmte, krankhafte und hysterische Form der Angst vor dem Tode verleiht, die den Verstand trübt und den dummen und erniedrigenden Phantasien von einem Leben nach dem Tode Nahrung gibt.
Der Mensch wird sich zum Ziel setzen, seiner eigenen Gefühle Herr zu werden, seine Instinkte auf die Höhe des Bewusstseins zu heben, sie durchsichtig klar zu machen, mit seinem Willen bis in die letzten Tiefen seines Unbewussten vorzudringen und sich so auf eine Stufe zu erheben – einen höheren gesellschaftlich-biologischen Typus, und wenn man will – den Übermenschen zu schaffen.
Bis zu welchem Ausmass der Selbstbeherrschung der Mensch der Zukunft es bringen wird – das ist ebenso schwer vorauszusehen wie jene Höhen, zu denen er seine Technik führen wird. Der gesellschaftliche Aufbau und die psychisch-physische Selbsterziehung werden zu zwei Seiten ein und desselben Prozesses werden. Die Künste: Wortkunst, Theater, bildende Kunst, Musik und Architektur – werden diesem Prozess eine herrliche Form verleihen. Genauer gesagt: Jene Hülle, in die sich der Prozess des kulturellen Aufbaus und der Selbsterziehung des kommunistischen Menschen kleiden wird, wird alle Lebenselemente der gegenwärtigen Künste bis zur Leistungsfähigkeit entfalten. Der Mensch wird unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner; sein Körper wird harmonischer, seine Bewegungen werden rhythmischer und seine stimme wird musikalischer werden. Die Formen des Alltagslebens werden dynamische Theatralität annehmen. Der durchschnittliche Menschentyp wird sich bis zum Niveau des Aristoteles, Goethe oder Marx erheben. Und über dieser Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen.“ (ebenda, Seite 250-252)
Um auf die Aussagen dieses letzten Abschnitts einzugehen wäre ein ganzer Artikel notwendig. Um aber den vorliegenden Artikel abzuschliessen, müssen wir zur Frage zurückkehren die zu Beginn gestellt wurde: Kann Trotzkis Bild vom Leben in einer kommunistischen Zukunft als eine Form von Utopismus, ausserhalb des reellen Rahmens der materiellen Möglichkeiten betrachtet werden?
Hier können wir Bezug nehmen auf Bordigas Aussage, dass der Unterschied zwischen Marxismus und Utopismus nicht darin liegt, dass sich letzterer vor allem der Beschreibung der Zukunft widmen würde und ersterer nicht, sondern im Unterschied zu den Utopisten der Marxismus, durch die Umschreibung des Proletariates und seine Identifizierung mit ihm als die eigentlich kommunistische Klasse, die wirkliche Bewegung entdeckt hat, welche den Kapitalismus überwinden und den Kommunismus errichten kann. Durch die Überwindung aller abstrakten Schemen, welche auf einfachen Idealen und Wünschen aufbauen, ist der Marxismus absolut berechtigt, die gesamte Geschichte der Menschheit zu untersuchen um sein Verständnis über die wirklichen Möglichkeiten der menschlichen Spezies zu entwickeln. Wenn Trotzki vom durchschnittlichen Individuum spricht, welches im Kommunismus die Höhen eines Aristoteles, Goethe oder Marx erreicht, stützt sich diese Aussage auf die Anerkennung, dass diese ausserordentlichen Individuen selbst Produkt breiterer sozialer Kräfte waren und daher als Meilensteine angesehen werden können, die den Weg in die Zukunft weisen. Als Indikatoren wie das menschliche Wesen einst sein könnte, wenn es die Fesseln der Klassenprivilegien und der ökonomischen Armseligkeit hinter sich gelassen hat.
Trotzki schrieb Literatur und Revolution 1924, zur Zeit als die Unruhe der stalinistischen Konterrevolution ihn voll umgab. Seine Vision ist um so mehr ein Zeugnis seines tiefen Vertrauens in die kommunistische Perspektive der Arbeiterklasse. In den heutigen Tagen des kapitalistischen Zerfalls, in denen alleine der Gedanke an den Kommunismus mehr als je zuvor nicht nur als Utopie, sondern als gefährliche Illusion verschrien wird, bleibt Trotzkis Portrait einer zukünftigen Menschheit eine wichtige Inspirationsquelle für eine neue Generation von revolutionären Militanten.
CDW
Fußnoten:
1 „Die proletarische Revolution verwendet keinen Terror für die Durchsetzung ihrer Ziele: sie betrachtet den Massenmord mit Hass und Aversion. Sie gebraucht solche Mittel nicht, da sie keinen Kampf gegen Individuen sondern gegen Institutionen führt.“ Dies heisst jedoch nicht, dass die Spartakisten gegen die Klassengewalt waren, welche nicht dasselbe bedeutet.
2 Wenn Trotzki den Begriff Realismus verwendete, sprach er von etwas breiterem als von der eigentlichen Schule des Realismus die ihr goldenes Zeitalter im 19ten Jahrhundert hatte. Er meinte damit „einen realistischen Monismus im Sinne einer Philosophie des Lebens, und nicht ein „Realismus“ im Sinne des traditionellen Arsenals der literarischen Schulen“. Es ist ebenfalls interessant, den Standpunkt Trotzkis nach seiner letzten Konfrontation mit der surrealistischen Bewegung kennen zu lernen, mit der er wichtige Übereinstimmungen hatte. Wir werden in einem Artikel darauf zurückkommen. Rückblickend kann man anfügen, dass Trotzkis Definition des Realismus nichts zu tun hatte mit der eindimensionalen Banalität des „Sozialistischen Realismus“, den die stalinistische Bürokratie hervorgebracht hatte. Im Gegensatz zur besten Tradition der Bolschewiki, welche über eine florierendes Aufstreben der Künste in den ersten Jahren der Revolution verfügt hatte, verlangte der „Sozialistische Realismus“ von der Kunst, lediglich Vehikel politischer Propaganda, und zudem einer reaktionären Propaganda zu sein, da sie sich in den Dienst des stalinistischen Terrors und den Aufbau eines staatskapitalistischen Kasernenregimes zu stellen hatte. Es ist sicher kein Zufall, dass der „Sozialistische Realismus“ sich in der Form wie auch im Inhalt nicht vom Nazi-Kitsch unterscheiden konnte. Wie Trotzki und Breton im Manifest der Internationalen Föderation schrieben: „Der Styl der offiziellen sowjetischen Malerei wird als „Sozialistsicher Realismus“ bezeichnet – eine solche Etikette konnte nur von einem Bürokraten an der Spitze des Departements der Künste eingeführt werden (...) Nur mit Abscheu und Horror kann man die Gedichte und Romane lesen oder die Bilder und Skulpturen betrachten, in denen Staatsdiener, bewaffnet mit Feder, Bürste und Pinsel, und bewacht durch Staatsdiener mit Revolvern, die „grossen genialen Führer“ glorifizieren, welche über keinen Funken von Genialität oder Grösse verfügen. Die Kunst der stalinistischen Epoche bleibt der schlagendste Ausdruck des Niedergangs der proletarischen Revolution.“
3 Siehe dazu die Artikelserie über die Manuskripte von 1844 und die darin enthaltene Vision des Kommunismus. Internationale Revue, Nr. 70 und 71, franz., engl., span.