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Internationale Revue 56

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Berichte und Resolutionen des 23. Kongresses der IKS

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Wir veröffentlichen hier eine Reihe von Dokumenten, die vom 23. Kongress der IKS stammen: Berichte, die diskutiert und ratifiziert wurden (oder Auszüge daraus), und Resolutionen, die angenommen wurden. Dazu gehören auch ein Artikel über die gesamte Arbeit des Kongresses und der Bericht über den Historischen Kurs mit einer kurzen Einführung dazu. Wir fügen dieser Sammlung einen Bericht zur Aktualisierung unserer Analyse über den Zerfall hinzu, der bereits vom 22. IKS-Kongress ratifiziert worden ist und einen Rahmen für einige der Berichte an den 23. Kongress gibt.

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Internationale Revue 56

Die verschiedenen Facetten der fraktionsähnlichen Arbeit

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Im Frühjahr 2019 hielt die IKS ihren 23. Internationalen Kongress ab. In diesem Artikel wollen wir über unsere Arbeit berichten.

Punkt 4 des Berichts über die Struktur und die Funktionsweise der revolutionären Organisation definiert den Internationalen Kongress als „(…) Ort, wo die Einheit der Organisation in ihrem ganzen Ausmaß zum Ausdruck kommt. Auf dem Internationalen Kongreß wird das Programm der IKS definiert, bereichert und korrigiert; dort werden auch die Organisationsformen und Funktionsweisen festgelegt, verändert oder präzisiert; die Analysen und Gesamtausrichtungen angenommen; eine Bilanz der vergangenen Aktivitäten gezogen und Arbeitsperspektiven für die Zukunft verabschiedet.“[1]

Im Mittelpunkt dieses Kongresses stand unsere Kontinuität mit der Kommunistischen Internationale, deren hundertjähriges Gründungsjubiläum im vergangenen Jahr stattfand. Historische Kontinuität und Transmission sind ein grundlegendes Anliegen der revolutionären Organisation. Auf dieser Grundlage wurde in der vom Kongress verabschiedeten Aktivitätenresolution daran erinnert, dass „die Kommunistische Internationale vor hundert Jahren im März 1919 mit der Absicht gegründet wurde, die ‚Partei des revolutionären Aufstandes des Weltproletariats‘ zu sein. Heute, unter anderen Umständen, aber unter Bedingungen, die immer noch durch die historische Epoche der Dekadenz des Kapitalismus bestimmt sind, bleibt das von der Kommunistischen Internationale gesteckte Ziel, die Schaffung der weltpolitischen Partei der revolutionären Arbeiterklasse, das Ziel der fraktionsähnlichen Arbeit der IKS.“

Die Resolution besteht auf der Tatsache, dass „die Kommunistische Internationale nicht aus heiterem Himmel geschaffen wurde, ihre Gründung hing von den vorangegangenen Jahrzehnten der fraktionsähnlichen Arbeit der marxistischen Linken in der Zweiten Internationale ab, insbesondere von der bolschewistischen Partei“[2]. Das bedeutet für die heutigen Revolutionäre, dass „so wie die Komintern nicht ohne die Vorarbeit der marxistischen Linken hätte geschaffen werden können, so wird die zukünftige Internationale nicht ohne eine internationale zentralisierte fraktionähnliche Tätigkeit der organisatorischen Erben der Kommunistischen Linken zustande kommen“.

Wir haben daran erinnert, dass „die Kommunistische Internationale unter den schwierigsten Umständen gegründet wurde, die man sich vorstellen kann: Sie folgte auf vier Jahre massenhaften Gemetzels und Verelendung des Weltproletariats; die revolutionäre Bastion in Russland war einer totalen Blockade und militärischen Interventionen durch die imperialistischen Mächte unterworfen; der Spartakisten-Aufstand in Deutschland war im Blut ertränkt worden, und zwei der Schlüsselfiguren der neuen Internationale, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, wurden kurz vor ihrer Gründung ermordet“. Die Resolution unterstreicht, dass trotz der Unterschiede zur Zeit der revolutionären Reaktion auf den Ersten Weltkrieg und der darauf folgenden Konterrevolution“die IKS immer schwierigeren Bedingungen gegenübersteht, da der dekadente Kapitalismus in seiner Phase des Zerfalls immer mehr in eine barbarische Spirale aus Wirtschaftskrise und imperialistischem Konflikt versinkt. Um ihre historischen Aufgaben zu erfüllen, muss die IKS Kraft und Kampfgeist aus den Krisen schöpfen, denen sie ausgesetzt sein wird, so wie es die marxistische Linke von 1919 tat.“

Fraktionsähnliche Arbeit

Uns in eine Linie der Kontinuität mit den Bemühungen der Kommunistischen Internationale stellend, sah der Kongress sein Ziel darin, unsere Arbeit ähnlich wie die einer Fraktion zu entwickeln und zu konkretisieren. Der Begriff der Fraktion war in der Geschichte der Arbeiterbewegung immer von entscheidender Bedeutung. Wie die Arbeiterklasse als Ganzes sind ihre politischen Organisationen dem Druck fremder Ideologien ausgesetzt, sowohl der bürgerlichen als auch der kleinbürgerlichen. Dies führt insbesondere zur Krankheit des Opportunismus.[3] Um gegen diese Krankheit zu kämpfen, erzeugt das Proletariat linke Fraktionen innerhalb seiner Organisationen: „Es war immer die Linke, die für die Kontinuität zwischen den drei wichtigsten internationalen politischen Organisationen des Proletariats sorgte. Es war die Linke, die durch die marxistische Strömung die Kontinuität zwischen der Ersten und Zweiten Internationale gegen die proudhonistischen, bakuninistischen, blanquistischen und korporatistischen Strömungen gewährleistete. Es war die Linke – die zuerst die reformistischen Tendenzen bekämpfte und dann die „Sozialpatrioten“ –, die während des Krieges die Kontinuität zwischen der Zweiten und Dritten sicherstellte. Und es war wiederum die Linke, und insbesondere die Italienische und Deutsch-Holländische Linke, welche die revolutionären Errungenschaften der Dritten Internationale, die von der sozialdemokratischen und stalinistischen Konterrevolution unterworfen wurde, aufgriff und weiterentwickelte.“[4]

Wenn sein Kampf siegreich sein soll, braucht das Proletariat eine Kontinuität in seinem Klassenbewusstsein. Andernfalls ist es dazu verdammt, Spielball der Pläne seines Feindes zu sein. Die linken Fraktionen waren immer die engagiertesten und entschlossensten bei der Verteidigung dieser Kontinuität des Klassenbewusstseins, seiner Entwicklung und Bereicherung.

Gruppen wie die Internationalistische Kommunistische Tendenz (IKT) erheben folgenden Einwand: „Fraktion von was? Lange Zeit gab es innerhalb des Proletariats keine kommunistischen Parteien.“[5] Und es stimmt, dass die Kommunistischen Parteien in den 1930er Jahren endgültig zur Bourgeoisie überliefen. Wir sind keine Fraktionen, aber das bedeutet nicht, dass wir nicht eine ähnliche Arbeit wie eine Fraktion leisten müssten.[6] Ein Werk, das sich zu einem kohärenten Ganzen zusammenfügt:

  • der Kampf gegen den Opportunismus;
  • die Verteidigung und Entwicklung der kritischen historischen Kontinuität des Proletariats, die eine Brücke zwischen der Vergangenheit der Arbeiterbewegung und ihrer Zukunft bildet;
  • die Antwort auf neue Situationen, die in der Gesellschaft und im proletarischen Klassenkampf entstehen.

Der Kongress vertiefte unser Verständnis der fraktionsähnlichen Arbeit auf der Ebene unserer Presse, unserer Intervention, der theoretischen Methode, der Ausarbeitung der marxistischen Methode und der Verteidigung der Organisation. Es gibt eine ganze Arbeit, die mit dem Bau einer Brücke zur zukünftigen Partei verbunden ist und die auf sehr festen theoretischen, programmatischen, analytischen und organisatorischen Grundlagen beruhen muss. Das ist es, was das Proletariat braucht, wenn es einen Weg durch die schrecklichen Erschütterungen des Kapitalismus finden und eine revolutionäre Offensive zum Sturz dieses Systems entwickeln will.

In diesem Rahmen der fraktionsähnlichen Arbeit wurde dem Kongress ein Bericht über die Transmission (d.h. die Weitergabe der Erfahrung) vorgelegt, obwohl wir aus Zeitmangel nicht in der Lage waren, ihn zu diskutieren. Angesichts der Bedeutung der Frage werden wir jedoch die Diskussion in der nächsten Zeit führen. Die Transmission von Erfahrungen ist für das Proletariat lebenswichtig. Viel mehr als alle anderen revolutionären Klassen in der Geschichte braucht es die Lehren aus den Kämpfen seiner vorangegangenen Generationen, um sich deren Errungenschaften anzueignen und seinen Kampf in Richtung seiner revolutionären Ziele voranzutreiben. Die Weitergabe ist für die Kontinuität der revolutionären Organisationen besonders wichtig, weil es eine ganze Reihe von Ansätzen, Praktiken, Traditionen und Erfahrungen gibt, die zum Proletariat gehören und den fruchtbaren Boden bilden, auf dem die proletarisch-politische Organisation ihre Arbeitsweise entfaltet und ihre Lebendigkeit bewahrt. Wie es in der vom Kongress verabschiedeten Aktivitätenresolution heißt: „Die IKS muss in der Lage sein, den neuen Genossen die Notwendigkeit zu vermitteln, die Geschichte der revolutionären Bewegung gründlich zu studieren und ein wachsendes Wissen über die verschiedenen Elemente der Erfahrung der Kommunistischen Linken in der Zeit der Konterrevolution zu entwickeln.“

Der Bericht über die Transmission widmet ein zentrales Kapitel dem Verständnis der Bedingungen der Militanz und den historischen Errungenschaften, die sie leiten müssen. Die Bildung bewusster, entschlossener Militanter, die fähig sind, den härtesten Prüfungen standzuhalten, ist eine sehr schwierige Aufgabe, aber sie ist für die Bildung der zukünftigen Partei der proletarischen Revolution unerlässlich.

Der Zerfall: Eine beispiellose Epoche in der Menschheitsgeschichte

In den 1980er Jahren begann die IKS zu verstehen, dass die Gesellschaft weltweit in eine historische Sackgasse geraten war. Einerseits hatte der Kapitalismus angesichts des Widerstands des Proletariats der zentralen Länder gegen eine massive militärische Mobilisierung keine freie Hand, um sich auf das organische Ergebnis seiner historischen Krise – den allgemeinen imperialistischen Weltkrieg – zuzubewegen. Andererseits war das Proletariat trotz der Fortschritte in seinen Kämpfen zwischen 1983 und 1987 nicht in der Lage, seine eigene Perspektive hin zur proletarischen Revolution zu eröffnen. Da keine der beiden Klassen in der Lage war, ihre jeweilige Perspektive durchzusetzen, begann die Gesellschaft auf der Stelle zu treten, sie trat in einen Fäulnisprozess ein, ein wachsendes Chaos, die Ausbreitung zentrifugaler Tendenzen, jeder kämpft für sich selbst. Eine spektakuläre Erscheinung dieser Dynamik war der Zusammenbruch des Ostblocks.

Die IKS musste sich einer Herausforderung für die marxistische Theorie stellen. Einerseits haben wir im September 1989 die Thesen über die ökonomische und politische Krise in der UdSSR und den osteuropäischen Ländern[7] vorgelegt, in denen wir zwei Monate vor dem Fall der Berliner Mauer den brutalen Untergang der UdSSR ankündigten. Andererseits waren wir gezwungen, die neue Situation gründlich zu verstehen, indem wir 1990 die Thesen über den Zerfall ausarbeiteten, deren Grundgedanke folgender war: „(...) den allgemeinen Zerfall herauszustellen, in den dieses System gegenwärtig versinkt und der sich noch verschlimmern wird. Neben dem streng quantitativen Aspekt erreicht das Phänomen des gesellschaftlichen Zerfalls heute solch ein Ausmaß und solch eine Tiefe, daß eine neue und einzigartige Qualität erlangt wird, die den Eintritt des Kapitalismus in eine besondere Phase, in die ultimative Phase seiner Geschichte manifestiert, eine Phase, in welcher der Zerfall ein, wenn nicht gar der entscheidende Entwicklungsfaktor der Gesellschaft sein wird.“[8]

Der 23. Kongress hat die beträchtliche Verschärfung des Zerfallsprozesses, von dem insbesondere die zentralen Länder betroffen sind, sorgfältig untersucht. Wir haben spektakuläre Beispiele dafür gesehen – unter anderem den Brexit in Großbritannien, den Sieg von Trump oder die Regierung Salvini in Italien.

All diese Punkte wurden in den Berichten und Beschlüssen des Kongresses, die wir veröffentlicht haben[9], weitgehend aufgegriffen, und wir laden unsere Leser und Leserinnen dazu ein, diese Dokumente aufmerksam und kritisch zu studieren. Mit diesen Dokumenten versuchen wir, auf die wichtigsten Tendenzen der gegenwärtigen Situation zu reagieren.

Der Zerfall, der sich unserer Ansicht nach weltweit ausbreitet und immer mehr alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens beherrscht, ist ein in der Geschichte der Menschheit beispielloses Phänomen. Im Kommunistischen Manifest von 1848 wurde eine solche Möglichkeit in Betracht gezogen: „Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“ Historische Beispiele, die den Zusammenbruch einer ganzen Zivilisation und den „gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“ betrafen, waren jedoch lokal begrenzt und konnten durch die spätere Herrschaft neuer Eroberer leicht überwunden werden. In dem Maße, in dem die Dekadenz der Produktionsweisen vor dem Kapitalismus (Sklaverei, Feudalismus) das mächtige wirtschaftliche Aufkommen der neuen herrschenden Klasse mit sich brachte und diese eine Ausbeuterklasse war, konnten die neuen Produktionsverhältnisse den Zerfall der alten Ordnung begrenzen und sogar für ihre eigenen Interessen von diesem profitieren. Im Gegensatz dazu ist dies im Kapitalismus unmöglich, da „die kommunistische Gesellschaft, die allein dem Kapitalismus folgen kann, sich nicht innerhalb desselben entwickeln kann; es gibt es keine Möglichkeit irgendeiner Regeneration der Gesellschaft, wenn es zuvor nicht einen gewaltsamen Sturz der bürgerlichen Klasse und die Auslöschung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse gegeben hat.“ (Thesen über den Zerfall)

Das Proletariat muss sich den Bedingungen und Auswirkungen dieser neuen historischen Epoche stellen und alle Lehren ziehen, die sich daraus für seinen eigenen Kampf ergeben, insbesondere über die Notwendigkeit, noch energischer als in der Vergangenheit seine politische Klassenautonomie zu verteidigen, da der Zerfall diese in große Gefahr bringt. Der Zerfall begünstigt Teilbereichs-Kämpfe (Feminismus, Ökologie, Antirassismus, Pazifismus, usw.), Kämpfe, die nicht an die Wurzeln der Probleme gehen, sondern nur deren Auswirkungen ansprechen und, schlimmer noch, sich auf bestimmte Aspekte des Kapitalismus konzentrieren, während das System als Ganzes erhalten bleibt. Diese Mobilisierungen verwässern das Proletariat in einer klassenübergreifenden Masse, die sich in eine Reihe falscher „Gemeinschaften“ auf der Grundlage von Rasse, Religion, Affinität usw. zersplittert und auflöst. Die einzige Alternative ist der Kampf des Proletariats gegen die Ausbeutung, denn „der Kampf gegen die ökonomischen Grundlagen des Systems beinhaltet den Kampf gegen die Überbaubereiche der kapitalistischen Gesellschaft, aber im umgekehrten Fall triff das nicht zu“ (Punkt 12 unserer Plattform).

Die Lage des Klassenkampfes

Die revolutionäre Organisation zeichnet sich durch ein kämpferisches Engagement innerhalb der Klasse aus. Dies konkretisiert sich in der Verabschiedung von Resolutionen, in denen die gegenwärtige Situation in einen historischen Rahmen gestellt wird, um Perspektiven aufzuzeigen, die eine Orientierung für den proletarischen Kampf geben können. So hat der Kongress eine spezifische Resolution über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und eine allgemeinere Resolution zur internationalen Lage verabschiedet.

Der Zerfall hat einen starken Einfluss auf den Kampf des Proletariats. Konfrontiert mit den blendenden Auswirkungen des Sturzes des angeblichen „Sozialismus“ 1989 und der enormen antikommunistischen Kampagne der Bourgeoisie, hat die Arbeiterklasse einen tiefen Rückschlag in ihrem Bewusstsein und in ihrer Kampfbereitschaft erlitten, deren Auswirkungen immer noch andauern – und in den letzten 30 Jahren sogar noch schlimmer geworden sind.[10]

Der Kongress vertiefte den historischen Rahmen für das Verständnis des Klassenkampfes, indem er die Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen seit 1968[11] genau untersuchte. Die Resolution unterstreicht folgendes:

  • Die Errungenschaften der Kämpfe zwischen 1968 und 89 sind nicht verloren gegangen, auch wenn sie von vielen ArbeiterInnen (und Revolutionären) vergessen wurden: der Kampf für die Selbstorganisation und die Ausweitung der Kämpfe; die Anfänge eines Verständnisses der arbeiterfeindlichen Rolle der Gewerkschaften und Parteien der kapitalistischen Linken; der Widerstand dagegen, in den Krieg hineingezogen zu werden; das Misstrauen gegenüber dem Wahlzirkus und dem parlamentarischen Geschacher usw. Künftige Kämpfe müssen auf der kritischen Aneignung dieser Errungenschaften beruhen, sie weiterführen und dürfen sie auf keinen Fall verwerfen oder vergessen.
  • Die große Gefahr der Demokratie für das Proletariat, den Demokratismus und die Instrumente des demokratischen Staates, insbesondere die Gewerkschaften, die linken Parteien und die extreme Linke, aber auch seine ideologischen Kampagnen und politischen Manöver.
  • Die Lage ist trotz der Anstrengungen, die wir in den Kämpfen zwischen 2006 und 2011 gesehen haben, wo, neben dem Wiederauftreten von Versammlungen, viele Fragen über die Zukunft der Gesellschaft aufgeworfen wurden, durch die gegenwärtige Schwäche des Proletariats geprägt.[12]
  • Den positiven Effekt, den bestimmte Aspekte der gegenwärtigen Situation mit sich bringen können: eine größere Konzentration von ArbeiterInnen in großen Städten, assoziierte Arbeit im Weltmaßstab, wachsende Verbindungen zwischen jungen ArbeiterInnen auf internationaler Ebene, die Eingliederung neuer Teile des Proletariats in Ländern wie China, Bangladesch, Südafrika, Mexiko.
  • Die unverzichtbare Rolle des Kampfes der ArbeiterInnen auf ihrem Klassenterrain gegen die immer heftigeren Schläge der historischen Krise des Kapitalismus.

Auf dem Kongress gab es unterschiedliche Einschätzungen über den Klassenkampf und seine Dynamik. Hat das Proletariat auf der Ebene des Bewusstseins Niederlagen erlitten, die seine Fähigkeiten ernsthaft schwächen? Gibt es eine unterirdische Reifung des Bewusstseins, oder erleben wir im Gegenteil eine Vertiefung des Rückgangs der Klassenidentität und des Bewusstseins?

Diese Fragen sind Teil einer laufenden Debatte, wobei Änderungsanträge zur Kongressresolution[13] vorgelegt wurden.

Andere brennende Fragen der Weltlage

Entsprechend seiner Verantwortung untersuchte der Kongress auch weitere Aspekte, die die Entwicklung der Welt bestimmen:

  • Die Tendenz zum Kontrollverlust des politischen Apparats der Bourgeoisie hinsichtlich des Wahlzirkus und der Bildung von Regierungen, ein Phänomen, das durch den Brexit verdeutlicht wird (siehe: Bericht über die Auswirkungen des Zerfalls auf das politische Leben der Bourgeoisie (2019)[14];
  • die beträchtliche Verschärfung der imperialistischen Spannungen, insbesondere zwischen den USA und China und am Persischen Golf, sowie die Verschärfung des Wettrüstens; der Handelskrieg, der die Folge der Verschärfung der Krise ist und der von den USA als Mittel benutzt wird, um imperialistischen Druck auf ihre Rivalen auszuüben;
  • die immer näher rückende Perspektive neuer Erschütterungen in der Weltwirtschaft: sinkende Wachstumsraten, Verlangsamung des Welthandels, exorbitante Verschuldung, das unglaubliche Phänomen negativer Zinssätze usw.

Der Marxismus ist eine lebendige Theorie. Das bedeutet, dass er in der Lage sein muss, zu erkennen, dass bestimmte Instrumente zur Analyse der historischen Situation nicht mehr genügen. Dies ist der Fall bei dem Begriff des Historischen Kurses, der auf die Periode 1914-89 voll und ganz zutraf, der aber als Mittel zum Verständnis der Dynamik des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen in der gegenwärtigen historischen Periode in gewissen Aspekten die Geltung verloren hat und erweitert werden muss. Dies veranlasste den Kongress, einen Bericht zu dieser Frage zu verabschieden.[15]

Die Verteidigung der Organisation

Die revolutionäre Organisation ist ein Fremdkörper in der bürgerlichen Gesellschaft. Das Proletariat ist „einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist“ (Marx). Die Arbeiter können nie wirklich ihren Platz in dieser Gesellschaft finden, weil sie als ausgebeutete Klasse, die jeglicher Produktionsmittel beraubt ist, wirtschaftlich immer in einer prekären Situation und der Arbeitslosigkeit ausgeliefert sind, und weil sie politischen „Parias“ („Ausgestoßene“) sind, die ihre Perspektive und ihre Emanzipation nur außerhalb des Kapitalismus finden können. Dies ist nur möglich in einer kommunistischen Gesellschaft, die nicht entstehen kann, bevor der bürgerliche Staat weltweit gestürzt wird. Die Bourgeoisie, ihre Politiker, ihre Ideologen mögen den „arbeitenden Bürger“, die Arbeiter als eine Summe entfremdeter Individuen verächtlich akzeptieren, aber sie verabscheuen und lehnen das Proletariat als Klasse wütend ab. Entsprechend den Eigenschaften ihrer Klasse sind revolutionäre Organisationen, obwohl sie Teil der kapitalistischen Welt sind, gleichzeitig ein Fremdkörper innerhalb dieser Welt, weil ihre eigentliche Existenzberechtigung und ihr Programm auf der Notwendigkeit eines totalen Bruchs mit der Funktionsweise, der Herangehensweise und den Werten der heutigen Gesellschaft beruhen.

In diesem Sinne ist die revolutionäre Organisation ein Gebilde, das von der bürgerlichen Gesellschaft heftigst abgelehnt wird. Nicht nur wegen der historischen Bedrohung, die sie als Vorhut des Proletariats darstellt, sondern weil ihre bloße Existenz die Bourgeoisie ständig daran erinnert, dass sie selbst von der Geschichte verurteilt ist. Eine Bestätigung der dringenden Notwendigkeit, dass die Menschheit den tödlichen Wettbewerb eines „Jeden gegen Alle“ durch die Vereinigung freier und gleichgestellter Individuen ersetzen muss. Es ist diese neue Form der Radikalität, die die Bourgeoisie nicht verstehen kann und die sie mit Angst erfüllt, so dass sie sich ständig gegen die Organisationen und Revolutionäre des Proletariats mobilisieren muss. Wie es das Kommunistische Manifest unterstreicht: „Die kommunistische Revolution ist das radikalste Brechen mit den überlieferten Eigentumsverhältnissen; kein Wunder, daß in ihrem Entwicklungsgange am radikalsten mit den überlieferten Ideen gebrochen wird.“

Ein Fremdkörper zu sein bedeutet, dass die revolutionäre Organisation ständig bedroht ist. Dies nicht nur durch Repression und die Versuche, sie von innen heraus durch spezialisierte staatliche Organe oder durch die Aktionen parasitärer Gruppen (dazu später) zu infiltrieren und zu zerstören, sondern auch durch die ständige Gefahr, durch das Eindringen arbeiterfeindlicher Ideologien von ihren Aufgaben und ihrer Funktion abgelenkt zu werden.

Die Organisation kann ohne permanenten Kampf nicht existieren. Der Kampfgeist ist ein wesentliches Merkmal der revolutionären Organisation. Kämpfe, Krisen und Schwierigkeiten sind die ureigensten Merkmale aller revolutionären Organisationen.

„In der Zweiten Internationale (1889-1914) war die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) bekannt wegen ihrer Anfälligkeit für Krisen und Spaltungen, die sie erlebt hatte. Sie wurde deshalb von den gewichtigsten Parteien der Internationale mit Missachtung bestraft, vor allem von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), die von Erfolg zu Erfolg zu eilen schien und deren Mitgliederzahlen und Wählerstimmen sich stetig vermehrten. Doch die Krisen der russischen Partei und der Kampf des bolschewistischen Flügels, sie zu überwinden und aus ihnen zu lernen, stählten die revolutionäre Minderheit in ihrer Bereitschaft, Widerstand gegen den imperialistischen Krieg von 1914 zu leisten und die Oktoberrevolution von 1917 anzuführen. Im Gegensatz dazu kollabierte die Fassade der Einheit der SPD (die nur von „Störenfrieden“ wie Rosa Luxemburg herausgefordert wurde) 1914 vollkommen und unwiderruflich mit dem totalen Verrat ihrer internationalistischen Prinzipien angesichts des Ersten Weltkrieges.“[16]

Die Verteidigung der Organisation ist ein fester Bestandteil der Tätigkeit der Organisation und war daher ein wichtiger Punkt in der Bilanz und den Perspektiven unserer Aktivitäten auf diesem Kongress. Dieser Kampf wird an allen Fronten geführt. Die wichtigste und spezifischste ist der Kampf gegen Versuche, sie zu zerstören (durch Verleumdung, Verunglimpfung, Verdacht und Misstrauen). Aber gleichzeitig „ist auch die IKS dem Druck des Opportunismus auf die programmatischen Positionen ausgesetzt; und sie muss gegen die Gefahr einer Sklerose kämfen, die die anderen Gruppen der Kommunistischen Linken schon in einem höheren Ausmaß geschwächt haben“ (Aktivitätsresolution des Kongresses). Deshalb besteht eine Einheit und eine Kohärenz zwischen diesem lebenswichtigen Aspekt des Kampfes gegen die drohende Zerstörung und der nicht minder wichtigen Notwendigkeit, gegen jeden Ausdruck von Opportunismus, der in unseren Reihen entstehen könnte, zu kämpfen:“Ohne diesen permanenten Kampf auf langfristiger historischer Ebene und Wachsamkeit gegenüber dem politischen Opportunismus, werden die Verteidigung der Organisation, ihre Zentralisierung und die Prinzipien ihrer Funktionsweise als solche nutzlos sein. Wenn es wahr ist, dass ohne proletarisch-politische Organisation das beste Programm eine Idee ohne soziale Kraft ist, so ist es ebenso wahr, dass ohne volle Treue zum historischen Programm des Proletariats die Organisation zu einer leeren Hülle wird. Zwischen den Prinzipien der politischen Organisation und den programmatischen Prinzipien des Proletariats gibt es Einheit und keinen Gegensatz oder Trennung.“ (ebenda)

Dennoch muss auf jeden Versuch, die Organisation zu zerstören, schnell und energisch reagiert werden, denn, „während der Kampf für die Verteidigung der Theorie und der Kampf für die Verteidigung der Organisation untrennbar und gleichermaßen unverzichtbar sind, so stellt das Aufgeben der Verteidigung der Theorie eine Bedrohung dar, sicherlich tödlich, aber eher mittelfristig, während das Aufgaben der Organisation schon eine kurzfristige Bedrohung darstellt. Solange sie existiert, kann sich die Organisation erholen, auch auf der Ebene der Theorie, aber wenn die Organisation nicht mehr existiert, wird keine Theorie sie wiederbeleben.“ (ebenda)

Der Kampf gegen den Parasitismus

Die Geschichte der Arbeiterbewegung hat eine Gefahr verdeutlicht, die heute eine erhebliche Bedeutung erlangt hat – die Gefahr des Parasitismus. Die Erste Internationale musste sich bereits gegen diese von Marx und Engels identifizierte Gefahr verteidigen: „Es ist außerdem an der Zeit, ein für allemal den inneren Kämpfen ein Ende zu bereiten, die durch das Vorhandensein dieser parasitären Körperschaft täglich von neuem in unserer Assoziation provoziert werden. Diese Streitigkeiten dienen nur dazu, Kräfte zu vergeuden, die dazu benutzt werden sollten, das jetzige bourgeoise Regime zu bekämpfen. Indem die Allianz die Tätigkeit der Internationale gegen die Feinde der Arbeiterklasse lähmt, dient sie ausgezeichnet der Bourgeoisie und den Regierungen.“ (Engels, Der Generalrat an alle Mitglieder der Internationalen Arbeiterassotiation)

Die Internationale musste gegen das Komplott von Bakunin kämpfen, einem Abenteurer, der eine Fassade des Radikalismus benutzte, um ein Werk der Intrigen und Verleumdungen gegen Militante wie Marx und Engels, Angriffe auf das Zentralorgan der Internationale (den Generalrat), Destabilisierung und Desorganisation der Sektionen, die Schaffung geheimer Strukturen zur Verschwörung gegen die Tätigkeit und das Funktionieren der proletarischen Organisation zu verbergen.[17]

Zweifellos sind die historischen Bedingungen, unter denen sich der heutige proletarische Kampf entwickelt, ganz anders als zur Zeit der Ersten Internationale. Es handelte sich um eine Massenorganisation, die alle lebendigen Kräfte des Proletariats zusammenfasste, eine „Macht“, die die bürgerlichen Regierungen wirklich beunruhigte. Heute ist das proletarische Milieu extrem schwach, reduziert auf eine Anzahl kleiner Gruppen, die keine unmittelbare Gefahr für die Bourgeoisie darstellen. Dennoch haben die Schwierigkeiten und Gefahren, denen dieses Milieu ausgesetzt ist, Ähnlichkeiten mit denjenigen, mit denen die Erste Internationale konfrontiert war. Insbesondere die Existenz von „parasitären Körpern“, deren Daseinsgrund nicht darin besteht, zum Kampf der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie beizutragen, sondern im Gegenteil darin, die Tätigkeit der in diesem Kampf engagierten Organisationen zu sabotieren. Zur Zeit der Ersten Internationale führte die von Bakunin angeführte Allianz eine Sabotagearbeit innerhalb der Internationalen selbst durch (bevor sie auf dem Haager Kongress im September 1872 ausgeschlossen wurde). Heute, vor allem wegen der Zersplitterung des proletarischen Milieus in eine Handvoll kleiner Gruppen, operieren die „Parasiten“ nicht innerhalb einer bestimmten Gruppe, sondern am Rande, im Umfeld dieser Gruppen und versuchen, entweder aufrichtige, aber unerfahrene Leute zu rekrutieren oder jene, die von kleinbürgerlichen Ideen beeinflusst wurden (wie es die Allianz in Spanien, Italien, der Schweiz und Belgien tat). Sie können dadurch die authentisch proletarischen Gruppen diskreditieren und ihre Aktivitäten sabotieren (wie es die Allianz tat, als sie erkannte, dass sie nicht in der Lage sein würde, die Kontrolle über die Internationale zu übernehmen).

Leider ist diese Lehre aus der Geschichte von der Mehrheit der Organisationen der Kommunistischen Linken vergessen worden. Da die Priorität der Parasiten darin besteht, die größte Organisation der Kommunistischen Linken, die IKS, ins Visier zu nehmen, halten diese Organisationen dies für ein „Problem der IKS“ und gehen sogar so weit, dass sie in bestimmten Momenten herzliche Beziehungen zu parasitären Gruppen unterhalten. Das Verhalten der parasitären Gruppen (von der Communist Bulletin Group vor fast 40 Jahren über eine Reihe kleiner Gruppen, Blogs oder Einzelpersonen bis zur Internationalen Gruppe der Kommunistischen Linken GIGC) spricht jedoch für sich selbst:

  • Die abscheuliche Verunglimpfung unserer Organisation und unserer Militanten, insbesondere die Vorwürfe, dass wir stalinistische Methoden anwendeten oder sogar „staatliche Agenten“ seien;
  • Diebstahl unseres Materials;
  • Drohungen, die bürgerliche Justiz oder die Polizei gegen unsere GenossInnen einzusetzen;
  • Veröffentlichung von polizeilich verwertbarem Material mit Informationen, die die Identität unserer Mitglieder bloßstellt oder Misstrauen zwischen den Mitgliedern innerhalb der Organisation säen könnten.

Der Generalrat der Ersten Internationale war der Ansicht, dass das Bündnis „ausgezeichnet der Bourgeoisie und den Regierungen“ dient. Ebenso wird in der Aktivitätenresolution des 23. Kongresses die Auffassung vertreten, dass „in der gegenwärtigen historischen Epoche der Parasitismus objektiv im Namen der Bourgeoisie arbeitet, um die IKS zu zerstören“ und dass, „wie die Erfahrung der letzten 30 Jahre zeigt, der politische Parasitismus eine der größten Gefahren ist, denen wir uns stellen müssen. (...) In den vergangenen Jahrzehnten hat der politische Parasitismus nicht nur weiter agiert, sondern sein gegen die IKS gerichtetes Arsenal weiter entwickelt und sein Repertoire erweitert.“

So konnten wir in letzter Zeit eine raffiniertere, aber auch gefährlichere Art von Machenschaften beobachten: die Verfälschung der Tradition der Kommunistischen Linken durch die irreführende Verbreitung der Idee einer Existenz einer Kommunistischen Linken auf der Grundlage des Trotzkismus. Unabhängig von der dahinter steckenden Absicht zielt ein solches Unterfangen darauf ab, die Front der Verleumdung und des Denunziantentums zu verstärken, um so einen „Sperrring zu schaffen, der die IKS von den anderen Organisationen und Gruppen des proletarisch-politischen Milieus und von den suchenden politisierten Leuten isoliert.“ (ebenda)

Aus diesem Grund verpflichtete der Kongress die gesamte Organisation zu einem entschlossenen und unnachgiebigen Kampf gegen den Parasitismus, da der Kongress der Ansicht ist, dass „eine wesentliche, langfristige Achse der Intervention der IKS ein offener und kontinuierlicher politischer und organisatorischer Kampf gegen den Parasitismus sein muss, um ihn aus dem proletarischen Milieu zu verbannen.“ (ebenda)

Der Kampf um die zukünftige Partei

Unsere fraktionsähnliche Tätigkeit hat also eine Reihe von Facetten, die eine Einheit bilden: Verteidigung der Organisation, Kampf gegen den Parasitismus, Entwicklung des Marxismus, Fähigkeit zur Analyse und Intervention angesichts der Entwicklung der Weltlage. Diese Einheit stand im Mittelpunkt dieses Kongresses und wird die Tätigkeit der IKS leiten müssen. Wie wir zu Beginn dieses Artikels sagten, standen im Mittelpunkt des 23. Kongresses eine kämpferische Erinnerung an die Erfahrung der Dritten Internationale und das Bemühen, alle Lehren aus dieser Erfahrung zu ziehen. Deshalb endet die Aktivitätenresolution mit folgender Verpflichtung: „Um ihre historischen Aufgaben zu erfüllen, muss die IKS Kraft und Kampfgeist aus den Krisen schöpfen, denen wir ausgesetzt sind, wie es die marxistische Linke von 1919 tat. Wenn sie fähig ist, fraktionsähnliche Arbeit zu übernehmen, dann wird sie die Mittel haben, die gegenwärtigen und neuen revolutionären Energien der Kommunistischen Linken auf klaren programmatischen Grundlagen neu zu gruppieren und so ihre Rolle bei der Gründung der zukünftigen Partei voll und ganz zu spielen.“

IKS, Dezember 2019


[1]Internationale Revue Nr. 22 [2].

[2]Innerhalb der Zweiten Internationale leisteten nur die Bolschewiki eine konsequente Fraktionsarbeit, während andere Strömungen gegen den zügellosen Opportunismus kämpften, allerdings ohne einen kohärenten und globalen Kampf auf allen Ebenen zu führen (Luxemburg, Pannekoek, Bordiga usw.). Diese Unterscheidung ist wichtig: siehe Teil 3 und 4 unserer Polemik mit dem BIPR: "Das Verhältnis zwischen Fraktion und Partei in der marxistischen Tradition [3]".

[3] Siehe: Resolution on opportunism and centrism in the periode of decadence, International Review Nr. 44, https://en.internationalism.org/content/3152/6th-congress-icc-what-stake [4]   

[4] "Understanding the Decadence of Capitalism: The classe nature of the social democracy [5]", International Review Nr. 50 (engl., franz. und span. Ausgabe).

[5] https://www.leftcom.org/en/articles/2018-12-22/the-fraction-party-question-in-the-italian-left [6]  

[6] Internationale Revue Nr. 53: Bericht über die Rolle der IKS als „Fraktion“ [7].

[7] Internationale Revue Nr. 12 [8].

[8] Internationale Revue Nr. 13 [9]

[9] siehe: Resolution über die internationale Lage (2019), Bericht über die Auswirkungen des Zerfalls auf das politische Leben der Bourgeoise (2019, auf Englisch, Französische, Spanisch), Bericht über den Zerfall heute (Mai 2017)

[10] de.internationalism.org/content/1374/kollaps-des-stalinismus-die-arbeiterklasse-vor-einer-schwierigeren-lage [10]

[11] https://de.internationalism.org/content/2862/resolution-ueber-das-kraeft... [11]

[12] Siehe dazu:  und https://en.internationalism.org/international-review/201111/4593/indignados-spain-greece-and-israel [12]

[13] Die IKS hatte immer als zentrale Orientierung das Bemühen, dass ihre Debatten vor der gesamten Klasse und dem politisierten Milieu veröffentlicht werden. Dabei haben wir eine genaue Methode eingehalten: „Weil die Debatten, die in der Organisation stattfinden, im allgemeinen die ganze Arbeiterklasse betreffen, müssen diese auch nach Außen getragen werden, wobei aber die folgenden Bedingungen eingehalten werden müssen:

- Diese Debatten betreffen allgemeine politische Fragen und sie müssen einen ausreichenden Reifegrad erreicht haben, damit ihre Veröffentlichung einen wirklichen Beitrag zur Bewußtseinsentwicklung der Arbeiterklasse liefert.

- Die Bedeutung und der Raum für diese Debatten darf das allgemeine Gleichgewicht der Publikationen nicht stören.

- Die Organisation als Ganzes entscheidet und übernimmt die Veröffentlichung dieser Publikationen entsprechend den gültigen Kriterien, die auch für das Schreiben irgendeines anderen Artikels in der Presse angewandt werden: der Grad der Klarheit und der Redaktionsform, das Interesse, das er für die Arbeiterklasse darstellt. Deshalb soll man keine Texte auf irgendeine Einzelinitiative von einzelnen Mitgliedern der Organisation hin außerhalb der für diesen Zweck bestimmten Organe veröffentlichen. Auch gibt es kein „formales“ Recht innerhalb der Organisation (weder für ein einzelnes Mitglied noch für eine Tendenz), einen bestimmten Text veröffentlichen zu lassen, wenn die Verantwortlichen der Publikationen dessen Nützlichkeit nicht sehen oder den Zeitpunkt nicht für angebracht erachten.“ (Bericht zur Struktur und Funktionsweise der Organisation der Revolutionäre, in Internationale Revue Nr. 22)

[14] auf Englisch (https://en.internationalism.org/content/16711/report-impact-decomposition-political-life-bourgeoisie-23rd-icc-congress [13]), Französisch und Spanisch auf unserer Webseite veröffentlicht

[15] Vgl. https://de.internationalism.org/content/2929/einfuehrung-zum-bericht-ueber-den-historischen-kurs-2019 [14] und https://de.internationalism.org/content/2930/bericht-ueber-den-historischen-kurs [15]

[16] Ausserordentliche Internationale Konferenz der IKS: Die Nachrichten über unser Ableben sind stark übertrieben [16], Internationale Revue Nr. 52.

[17] Vgl. de.internationalism.org/content/1078/der-haager-kongress-von-1872-der-kampf-gegen-den-politischen-parasitismus [17]

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Internationale Revue 56

Einführung zum Bericht über den Historischen Kurs (2019)

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Der Bericht zur Frage des "Historischen Kurses" des 23. Kongresses der IKS, den wir nachstehend veröffentlichen, bestätigt eine wesentliche Änderung der Analyse in einem Grundlagentext von 1978, mit dem Titel Der Historische Kurs (Internationale Revue Nr. 5)

Diese Änderung der Analyse ist eine direkte Folge der Veränderung des globalen Kontextes nach dem Zusammenbruch des imperialistischen Ostblocks im Jahr 1989, der ebenfalls zum Zerfall des Westblocks führte. Was sich in der neuen Situation mit dem Eintritt der Welt in die Periode des Zerfalls des Kapitalismus tatsächlich aufdrängt, ist die Notwendigkeit, die bedeutenden Veränderungen in der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen zu analysieren. Insbesondere die Tatsache, dass die alternative „Revolution oder die Zerstörung der Menschheit“ durch einen Weltkrieg sich nicht mehr unter den gleichen Bedingungen stellt, da mit dem Verschwinden der beiden imperialistischen Blöcke der Weltkrieg momentan nicht mehr auf der Tagesordnung steht.

Bei der Erarbeitung der notwendigen Änderung unserer Analyse haben wir die Methode von Marx und der marxistischen Bewegung seit ihrer Gründung aufgegriffen, die darin besteht, Positionen, die Analyse oder sogar das komplette Programm zu ändern, wenn sie nicht mehr dem Lauf der Geschichte entsprechen, um dem eigentlichen Zweck des Marxismus als revolutionäre Theorie treu zu bleiben. Ein berühmtes Beispiel ist das der wichtigen Änderungen, die Marx und Engels im Laufe der Zeit am Kommunistischen Manifest selbst vorgenommen haben und die in den späteren Vorworten, die sie diesem grundlegenden Werk hinzugefügt haben, im Lichte der historischen Veränderungen zusammengefasst wurden. Nachfolgende Generationen von revolutionären Marxisten verwendeten die gleiche kritische Methode:

„Der Marxismus ist eine revolutionäre Weltanschauung, die stets nach neuen Erkenntnissen ringen muss, die nichts so verabscheut wie das Erstarren in einmal gültigen Formen, die am besten im geistigen Waffengeklirr der Selbstkritik und im geschichtlichen Blitz und Donner ihre lebendige Kraft bewährt.“ (Rosa Luxemburg, Antikritik, Ges. Werke, Band 5, Seite 523)
Luxemburgs Beharren auf der Notwendigkeit, frühere Analysen zu überdenken, um dem Wesen und der Methode des Marxismus als revolutionäre Theorie treu zu bleiben, stand damals in direktem Zusammenhang mit der tiefen Bedeutung des Ersten Weltkriegs. Der Krieg von 1914-1918 markierte den Wendepunkt in der Produktionsweise des Kapitalismus, von seiner Periode des Aufstiegs oder Fortschritts hin zu einer Periode der Dekadenz und des Zusammenbruchs, welche die Bedingungen und das Programm der Arbeiterbewegung grundlegend veränderte. Aber lediglich die Linke in der Zweiten Internationale erkannte, dass die vorangegangene Periode endgültig vorbei war und dass das Proletariat in die "Epoche der Kriege und Revolutionen" – wie die Dritte Internationale es später ausdrückte – eintrat. Der opportunistische rechte Flügel der Sozialdemokratie behauptete fälschlicherweise, der imperialistische Erste Weltkrieg sei ein nationaler Verteidigungskrieg – wie die begrenzten und kleineren Kriege des 19. Jahrhunderts – und schloss sich mit der imperialistischen Bourgeoisie zusammen. Der zentristische Flügel behauptete, der Krieg sei nur eine vorübergehende Verirrung und die Dinge würden nach der Einstellung der Feindseligkeiten "wieder zur Normalität zurückkehren". Vertreter dieser beiden Strömungen kämpften schließlich offen gegen die proletarische revolutionäre Welle, die den Ersten Weltkrieg beendete, während die Führer der proletarischen Revolutionsversuche wie Luxemburg, Lenin und Trotzki in den neu gegründeten kommunistischen Parteien die "Ehre des internationalen Sozialismus" bewahrten, indem sie die überholten Formeln der Sozialdemokratie ablegten, die nun zur Rechtfertigung der Konterrevolution benutzt wurden.

Die großen Veränderungen, welche sich mit dem Ende des Kalten Krieges 1989 ausdrückten, hatten nicht das gleiche Ausmaß wie die von 1914. Aber sie markierten eine bedeutende neue Etappe in der Entwicklung der kapitalistischen Dekadenz, die mit der Entstehung ihrer letzten Phase, der des sozialen Zerfalls, zusammenfällt. Die Wende von 1989 änderte zwar nicht das politische Programm der Arbeiterklasse, das während der gesamten Dekadenz des Kapitalismus gültig blieb, aber sie markierte eine große Veränderung gegenüber den Bedingungen, unter denen sich der Klassenkampf in den sieben Jahrzehnten zwischen 1914 und 1989 entwickelt hatte. Der Bericht, den wir hier veröffentlichen, trägt zu den kritischen Bemühungen bei, die marxistische Analyse über diesen wichtigen Wendepunkt in der Weltgeschichte zu aktualisieren.

Im Jahr 1989, genau zum Zeitpunkt der genannten Ereignisse, welche die Welt erschütterten, hatte die IKS bereits in verschiedenen Texten die sich abzeichnenden wichtigen Veränderungen analysiert. Im Text Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft von 1990, und im Orientierungstext Militarismus und Zerfall von 1991 (beide in: Internationale Revue Nr. 13) unterstrich die IKS, dass die folgende Periode vom beschleunigten Zerfall und dem Chaos einer Produktionsweise in ihrer Agonie beherrscht würden, die noch immer von den gewaltsamen und zerstörerischen Widersprüchen der kapitalistischen Dekadenz geprägt ist, nun jedoch in einer neuen Form und in einem neuen Kontext. Das Wiederaufleben des proletarischen Klassenkampfes ab 1968, der den Ausbruch eines dritten Weltkrieges verhinderte, stand nun vor neuen Schwierigkeiten und einer sich abzeichnenden langen Periode des Rückzugs und der Desorientierung der Arbeiterklasse. Aber die sich vertiefende Wirtschaftskrise wird das Proletariat dazu drängen, seinen Kampf wieder aufzunehmen.

Darüber hinaus beendete der Zusammenbruch des Ostblocks, vielleicht endgültig, die Teilung der Welt in zwei bewaffnete Lager, welche die prägende Konstellation war, in die der Imperialismus die Welt in seiner dekadenten Phase gesteuert hatte. Der Erste und der Zweite Weltkrieg sowie die Ereignisse davor und danach zeigten, dass der Kapitalismus sich nicht mehr wie im 19. Jahrhundert durch koloniale Expansion entwickeln konnte und dass es jedem der rivalisierenden imperialistischen Staaten überlassen blieb, durch die Massaker des Krieges eine neue Aufteilung des Weltmarkts zu seinem Vorteil zu betreiben. Dieser Versuch drückte sich in der Tendenz aus, die verschiedenen Länder hinter jedem der beiden mächtigsten Gangster neu zu gruppieren, ein Prozess, der sich nach 1945 voll und ganz bestätigt hat. Nach dem Zeitraum 1914-1989, der von der Teilung der Welt in zwei rivalisierende imperialistische Blöcke beherrscht war, hörte die Tendenz zur Blockbildung in den interimperialistischen Beziehungen auf und jede Macht verfolgt bisher ihren blutigen Weg, der vom "Jeder für sich" geprägt ist.

Der Bericht untersucht und bekräftigt diese seit 1989 modifizierte Analyse. Aber er erweitert ihren Geltungsbereich.

2015 begann der 21. Kongress der IKS mit einem großen, langfristigen Projekt, das 40 Jahre unseres Bestehens Revue passieren ließ, um „ein möglichst klares Licht auf unsere Stärken und Schwächen zu werfen und festzustellen, was in unseren Analysen gültig ist und wo wir uns geirrt haben. Dies mit dem Ziel, uns zu stärken und unsere Schwächen zu überwinden.“ (40 Jahre nach der Gründung der IKS: Welche Bilanz, welche Perspektiven für unsere Arbeit, Internationale Revue Nr. 53) Der hier publizierte Bericht über die Frage des Historischen Kurses vom 23. Kongresses ist eine Folge dieser spezifischen Bemühungen und führt die Analyse, die bereits in den vor dreißig Jahren verfassten Texten enthalten ist, einen Schritt weiter, indem er den ursprünglichen Text über den Historischen Kurs von 1978 Punkt für Punkt untersucht. Dabei kommt er zum Schluss, dass allein der Begriff "Historischer Kurs" nicht mehr als ausreichend angesehen werden kann, um alle Perioden des Klassenkampfes abzudecken. Er gilt für den Zeitraum von Sarajevo 1914 bis zum Zusammenbruch der UdSSR im Jahr 1989, nicht aber für die vorangegangene oder die folgende Periode. Mit dieser Schlussfolgerung unterstreicht der Bericht eine sehr wichtige Unterscheidung, die zwischen zwei verschiedenen Konzepten zu machen ist:

- Einerseits das Konzept des Historischen Kurses, das auf die Zeit von Sarajevo bis zum Fall der Berliner Mauer (einschließlich ihrer verschiedenen Phasen) anwendbar ist und die Dynamik der Gesellschaft in diesem Zeitraum betrifft, die unlösbar mit dem Kräfteverhältnis zwischen den Klassen verbunden, aber nicht identisch ist.

- Andererseits das Konzept des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen, das für alle Perioden des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat gilt.

Diese beiden Begriffe – Historischer Kurs und Kräfteverhältnis zwischen den Klassen – sind daher nicht identisch oder synonym, aber der Text von 1978 legt diese Unterscheidung nicht eindeutig fest.

Wir freuen uns, dass der Bericht vor seiner Veröffentlichung bereits eine lebhafte öffentliche Debatte ausgelöst hat (mehrere Dutzend Beiträge in unserem Online-Forum zu diesem Thema seit Juli 2019), da seine wichtigsten Schlussfolgerungen bereits in der Resolution zur internationalen Lage des 23. Kongresses enthalten waren, die unseren Lesern bereits zugänglich sind. Heute ist noch nicht der Zeitpunkt, um eine Bilanz dieser Debatte zu ziehen, die sich noch im Anfangsstadium befindet. Aber sie muss entwickelt werden. Die kritische Debatte ist ein wesentlicher Teil der marxistischen Bemühungen, ein neues Verständnis der Aktualität zu gewinnen, während wir im „geschichtlichen Blitz und Donner“ stehen.

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Internationale Revue 56

Bericht über den Historischen Kurs

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In der materialistischen Geschichtsauffassung von Marx drängen die Widersprüche des Kapitalismus zur Alternative: Sozialismus oder Barbarei. Entweder ein Kampf des Proletariats zur Überwindung der Herrschaft der Bourgeoisie oder die absolute Zerstörung dieser sich gegenüberstehen Klassen und der gesamten Gesellschaft.

Ein Verständnis der Entwicklung des Klassenkampfes innerhalb des Kapitalismus – in seinen verschiedenen historischen Etappen, mit seinen Fortschritten und Rückschritten, der wechselnden relativen Stärke der sich gegenüberstehenden Akteure – war deshalb für die Analyse der Avantgarde des Proletariats und für die Anwendung der marxistischen Methode immer von entscheidender Bedeutung.

Der einschneidende Veränderung der globalen Situation, hervorgerufen durch den Zusammenbruch des Ostblocks 1989 und den Schritt des Kapitalismus in die Phase des gesellschaftlichen Zerfalls, forderte von unserer Organisation, unter Einbezug der wachsenden Schwierigkeiten der Arbeiterklasse in dieser neuen Situation, eine Anpassung der Analyse über die gesellschaftliche Dynamik bezüglich des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen. Konkret: Die Analyse über den Historischen Kurs vom 3. Internationalen Kongress der IKS im Jahr 1978 (Internationale Revue Nr. 5) war nach 1989 nicht mehr anwendbar, da die imperialistischen Rivalitäten nicht mehr die Form einer Konfrontation zwischen zwei Blöcken annahm und eine kapitalistische Antwort in der Form eines neuen imperialistischen Weltkrieges für die nächste Zukunft nicht mehr bevorstand. Der Text Militarismus und Zerfall von 1991 (Internationale Revue Nr. 13), den die IKS unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Ostblocks verfasste, die Thesen über den Zerfall von 1990 (Internationale Revue Nr. 13), der Text Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, Destabilisation und Chaos" von 1990 (Internationale Revue Nr. 12) betrachteten das weltweite Kräfteverhältnis zwischen den Klassen bereits auf eine andere Art und Weise, im Vergleich zum Text von 1978.

In den folgenden zwei Jahrzehnten untersuchte die IKS den Wechsel in der Analyse über das Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und die Auswirkungen für die Dynamik der gesamten Gesellschaft in vielen Texten und Artikeln, vor allem in veröffentlichen Berichten und Resolutionen über den Klassenkampf für unsere Internationalen Kongresse. Diese bestätigten die zunehmenden Schwierigkeiten und Bedrohungen für die Arbeiterklasse, hervorgerufen durch die Periode des sozialen Zerfalls des Kapitalismus.

Dazu können zum Beispiel verweisen auf den Bericht über den Klassenkampf vom 13. Kongress der IKS 1999 (Internationale Revue Nr. 25) und den Bericht über den Klassenkampf für den 14. Kongress mit dem Titel: Die revolutionäre Bewegung und das Konzept des Historischen Kurses (Internationale Revue Nr. 29 und 30).

Andere Artikel über die Frage des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen in der Periode des Zerfalls behandelten diese Frage ebefalls: Weshalb hat die Arbeiterklasse den Kapitalismus noch nicht überwunden? (International Review Nr. 103 und 104, engl., franz., span. Ausgabe) und Den Zerfall des Kapitalismus verstehen (Internationale Revue Nr. 34)[1]

Auch wenn die IKS die wichtigsten theoretischen Elemente entwickelte, um zu verstehen, was sich im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen verändert hatte, so stellten wir bisher noch keine spezifische Untersuchung über den Text zum Historischen Kurs von 1978 an. Zweifellos ist eine Korrektur dieses Versäumnisses – wenn auch verspätet – erforderlich, wenn wir unserer historischen Methode treu bleiben wollen. Dies nicht nur, um unsere Analyse und Argumentation angesichts der großen Ereignisse zu ergänzen oder zu ändern, sondern um diese Änderung auch unter konkreter Bezugnahme auf die ursprüngliche Analyse zu begründen. Unsere politische Methode bestand nie darin, frühere Positionen oder Analysen aufzugeben, ohne öffentlich auf das, was wir früher entwickelt hatten, zu berücksichtigen, denn eine ahistorische Invarianz oder ein Monolithismus sind widersinnig und stellen ein Hindernis für die Klärung des Klassenbewusstseins dar. Was im Text über den Historischen Kurs von 1978 gültig bleibt, was durch den veränderten historischen Kontext innerhalb des dekadenten Kapitalismus überholt ist und die Grenzen dieses Textes aufgezeigt hat, all das muss genauer verstanden und erklärt werden, damit etwaige verbliebene Anachronismen aufgedeckt und geklärt werden können.

Zusammenfassung der Punkte des Textes über den Historischen Kurs von 1978:

Punkt 1: Revolutionäre müssen fähig sein, Voraussagen zu treffen. Dies ist eine spezielle Fähigkeit und Notwendigkeit des menschlichen Bewusstseins (Marx verglich die aus Instinkt schaffende Biene und den mit Bewusstsein bauenden menschlichen Architekten). Der Marxismus, als eine wissenschaftliche Methode wie die Wissenschaft, kann „nur durch die Umwandlung der auf eine Reihe von Experimenten gegründeten Hypothesen in Vorhersagen und durch die Konfrontation dieser Vorhersagen mit neuen Experimenten als Forscher diese Hypothesen für richtig (oder falsch) erklären und sein Verständnis fortentwickeln“. (Der Historische Kurs, Internationale Revue Nr. 5)

Der Marxismus stellt seine Voraussagen über die kommunistische Revolution auf eine wissenschaftliche, materialistische Analyse über den Zusammenbruch des Kapitalismus und die Klasseninteressen des revolutionären Proletariats. Diese allgemeine und langfristige Perspektive ist für Marxisten relativ einfach. Die Schwierigkeit für RevolutionärInnen besteht darin, mittelfristige Vorhersagen darüber zu treffen, ob der Klassenkampf voranschreitet oder zurückgeht. Vor allem kann sich der Marxismus offensichtlich nicht auf kontrollierte Experimente verlassen, so wie es die Laborwissenschaft tun kann.

Punkt 2: Der proletarische Klassenkampf ist von sehr unterschiedlichen Entwicklungsphasen, von extremen Höhen und Tiefen gekennzeichnet, was darauf zurückzuführen ist, dass die Arbeiterklasse eine ausgebeutete Klasse ist, die in der alten Gesellschaft keinerlei Machtbasis hat und daher für lange Perioden zur Unterwerfung verurteilt ist. Die relativ kurzen Aufschwünge ihres Kampfes werden durch die Krisenzeiten des Kapitalismus (Wirtschaftskrise und Krieg) bestimmt. Das Proletariat kann nicht von einem Erfolg zum nächsten voranschreiten, so wie es die aufstrebenden Ausbeuterklassen in der Vergangenheit jeweils konnten. Tatsächlich ist der endgültige Erfolg des Proletariats durch eine lange Reihe von schmerzhaften Niederlagen gekennzeichnet. Daher Marx' Aussage in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte von 1852 über die extrem ungleiche Entwicklung des Klassenkampfes.[2] Die Existenz einer derart ungradlinigen Entwicklung des Klassenkampfes war in der Vergangenheit offensichtlich, aber die Länge und Tiefe der Konterrevolution zwischen 1923 und 1968 hat sie verschleiert.

Punkt 3: Dennoch sind genaue mittelfristige Vorhersagen der Revolutionäre über die Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen unerlässlich. Die Folgen von Fehlern in dieser Hinsicht sind ernst: das Abenteurertum von Willich-Schapper nach den Niederlagen der Revolutionen von 1848; die „Theorie der Offensive“ der KAPD, als die revolutionäre Welle in den 1920er Jahren verebbte, Trotzkis Gründung der 4. Internationale von 1938 in der Tiefe der Konterrevolution. Im Gegensatz zu diesen Beispielen haben sich einige Vorhersagen als vollkommen gültig erwiesen: Marx und Engels, die erkannten, dass nach 1849 und 1871 jeweils eine Periode des Rückzugs der Arbeiterklasse unvermeidlich war; Lenins Vorhersage einer weltrevolutionären Welle in den Aprilthesen von 1917; die Klarsicht der Italienischen Kommunistischen Linken bezüglich der 1930er Jahre als eine Periode der entscheidenden Niederlage.

Punkt 4, 5, 11: Die Vorhersage über die Dynamik und Richtung des Klassenkampfes zeigt an, ob Revolutionäre mit oder gegen den Strom schwimmen. Fehler oder Unwissenheit darüber, was diese Richtung ist, können katastrophal sein. Dies gilt insbesondere in der kapitalistischen Dekadenz, wo der Gegensatz – imperialistischer Krieg oder proletarische Revolution – viel höher ist als in der Periode des kapitalistischen Aufstiegs.

Punkt 6: Der Gegensatz und der gegenseitige Ausschluss der beiden Begriffe der historischen Alternative Krieg oder Revolution. Während die Krise des dekadenten Kapitalismus zu einer dieser beiden Alternativen führen kann, entwickeln sich Krieg oder Revolution nicht im Einklang, sondern antagonistisch. Dieser Punkt richtet sich insbesondere an Battaglia Comunista und die Comunist Workers Organisation CWO, die Weltkrieg und Revolution in der Zeit seit 1968 als gleichermaßen möglich angesehen haben – und dies immer noch tun.

Punkte 7, 8: Diese Punkte zeigen, dass die imperialistischen Weltkriege des 20. Jahrhunderts und insbesondere derjenige von 1939-45 erst dann entfacht werden konnten, als das Proletariat besiegt, seine revolutionären Versuche zerschlagen, und es dann hinter den Kriegsideologien seiner jeweiligen imperialistischen Herren mobilisiert worden war. Dies mit Hilfe des Verrats der ehemaligen Arbeiterparteien, die die Klassengrenze unwiderbringlich überschritten hatten.

Punkt 9: Die Situation des Proletariats seit 1968 ist nicht mehr dieselbe wie vor den beiden vorangegangenen Weltkriegen. Es ist ungeschlagen und kämpferisch, widerstandsfähig gegen die mobilisierenden Ideologien der imperialistischen Blöcke und stellt somit ein Hindernis für die Entfesselung eines dritten Weltkrieges dar.

Punkt 10: Alle militärischen und wirtschaftlichen Bedingungen für einen neuen Weltkrieg sind bereits vorhanden, nur die Unterwerfung des Proletariats fehlt. Ein Punkt, der auch an Battaglia Comunista gerichtet war, welche Gruppe andere unplausible Erklärungen dafür hatte, weshalb der Weltkrieg noch nicht ausgebrochen war.

Kommentar zum Text über den Historischen Kurs von 1978:

Was im Text gültig bleibt:

Die ersten fünf Punkte des Textes über den Historischen Kurs behalten ihre absolute Gültigkeit bezüglich der Bedeutung und Notwendigkeit, dass die Revolutionäre die zukünftige Entwicklung des Klassenkampfes vorhersagen: die Notwendigkeit, solche Vorhersagen aus der Sicht der marxistischen Methode auszuarbeiten; die Stichhaltigkeit der historischen Beispiele, die den kritischen Charakter der Prognosen der Revolutionäre bezüglich des Klassenkampfes und die schwerwiegenden Folgen von Fehlern in dieser Hinsicht zeigen; die Argumente gegen die Gleichgültigkeit oder den Agnostizismus von Battaglia Comunista und der CWO in dieser Frage.

Das zentrale Argument des Textes behält auch für den Zeitraum 1914-1989 seine volle Gültigkeit. Mit dem Beginn der Periode der Dekadenz des Kapitalismus haben sich die Bedingungen der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen gegenüber denen der Periode des Aufstiegs des Kapitalismus grundlegend geändert. Die Tendenz des Imperialismus in der Periode der Dekadenz führte zu weltweiten Konfrontationen zwischen rivalisierenden Blöcken, welche, als der Erste Weltkrieg mit voller Wucht ausbrach, die massive Mobilisierung der Arbeiterklasse als Kanonenfutter erforderten. Der Ausbruch der Feindseligkeiten hing von einer politischen Niederlage der wichtigsten Teile des Weltproletariats ab. Die sozialdemokratischen Parteien und die Gewerkschaften, die durch einen langen Prozess der opportunistischen und revisionistischen Degeneration verfault waren, scheiterten im kritischen Moment von 1914 kläglich und gaben, von einigen Ausnahmen abgesehen, den Internationalismus auf und schlossen sich den Kriegsanstrengungen ihrer eigenen nationalen herrschenden Klasse an, wobei sie die orientierungslose Arbeiterklasse hinter sich herzogen. Die Erfahrung des beispiellosen Abschlachtens von Arbeitern in Uniform in den Schützengräben und das Elend an der "Heimatfront" führten jedoch nach einigen Jahren zur Wiedererlangung des Gewichts des Proletariats auf der Waage des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und eröffneten die weltrevolutionäre Welle von 1917-1923, welche die Bourgeoisie zwang, den Krieg zu beenden, um die Ausbreitung der proletarischen Revolution zu verhindern.

Seit dem Ersten Weltkrieg wurde daher die Vorstellung eines historischen Kurses des Klassenkampfes in Richtung Krieg oder in Richtung Revolution klar bestätigt. Um seine militärische Antwort auf die Krisen der kapitalistischen Dekadenz durchzusetzen, musste der Kapitalismus die revolutionären Bestrebungen des Proletariats besiegen und dieses, als es geschlagen war, hinter den Interessen der Bourgeoisie mobilisieren. Umgekehrt stellte ein wiederauflebendes Proletariat ein großes Hindernis für dieses Unterfangen dar und eröffnete die Möglichkeit der Alternative des Proletariats: die kommunistische Revolution.

Die Niederlage der Revolution in Russland und in Deutschland in den 1920er Jahren eröffnete den Kurs hin zum Zweiten Weltkrieg. Im Gegensatz zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gab es in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg keine Veränderung im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, da das Proletariat nicht nur politisch, sondern auch physisch durch die beispiellose Brutalität und den Terror des Stalinismus und Faschismus einerseits, und des demokratischen Antifaschismus andererseits, vor, während, und unmittelbar nach dem Massenmord des Krieges besiegt wurde. Aus den Trümmern des Krieges von 1939-45 ging keine revolutionäre Welle hervor, im Gegensatz zur Lage am Ende des Krieges von 1914-18. Die Situation der fortgesetzten proletarischen Niederlage führte jedoch nicht zu einem dritten Weltkrieg nach 1945, wie es Revolutionäre damals glaubten. Die 1950er und 60er Jahre brachten einen langen wirtschaftlichen Wiederaufbau und einen langwierigen Kalten Krieg mit stellvertretenden lokalen Kriegen mit sich. In dieser Zeit gewann das Proletariat allmählich seine Stärke zurück, und das Gewicht der Kriegsideologien der 1930er Jahre verminderte sich. Mit dem Ausbruch einer neuen Weltwirtschaftskrise begann 1968 auch ein neues Wiederaufleben des Klassenkampfes, das eine weitere imperialistische Lösung durch einen dritten Weltkrieg vereitelte. Aber die Arbeiterklasse war nicht in der Lage, von ihren defensiven Kämpfen zu einer revolutionären Offensive überzugehen. Der Zusammenbruch eines der beiden imperialistischen Blöcke, des Ostblocks im Jahr 1989, setzte der Möglichkeit eines Weltkriegs ein Ende, obwohl imperialistischen Kriege selbst unter dem Druck der sich verschärfenden Weltwirtschaftskrise in chaotischer Form weiter zunahmen.

Was im Text nicht mehr gültig ist:

Für das bessere Verständnis des Problems zitieren wir hier aus einem Treffen unseres Zentralorgans im Januar 1990:

"In der Periode der kapitalistischen Dekadenz sind alle Staaten imperialistisch und ergreifen die notwendigen Maßnahmen, um ihren Appetit zu befriedigen: Kriegswirtschaft, Waffenproduktion usw. Wir müssen klar sagen, dass die sich vertiefenden Erschütterungen der Weltwirtschaft und die Rivalitäten zwischen den verschiedenen Staaten auch zunehmend auf militärischer Ebene nur noch schärfer werden können. Der Unterschied wird in der kommenden Periode darin bestehen, dass diese Gegensätze, die bisher von den beiden großen imperialistischen Blöcken gesteuert und genutzt wurden, nun in den Vordergrund treten werden. Das Verschwinden des russischen imperialistischen Gendarmen und das zukünftige Verschwinden des amerikanischen Gendarmen öffnen, was ihre ehemaligen "Partner" betrifft, die Tür zur Entfesselung einer ganzen Reihe weiterer lokaler Rivalitäten. Im Augenblick können diese Rivalitäten und Konfrontationen nicht in einen Weltkrieg ausarten (selbst wenn man annimmt, dass das Proletariat nicht mehr in der Lage wäre, Widerstand zu leisten). Mit dem Verschwinden der von den beiden Blöcken auferlegten Disziplin, drohen diese Konflikte jedoch häufiger und gewaltsamer zu werden, vor allem natürlich in den Gebieten, in denen das Proletariat am schwächsten ist (...) der Trend zu einer neuen Teilung der Welt zwischen zwei Militärblöcken wird durch das immer tiefer und weiter verbreitete Phänomen der Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft, wie wir bereits hervorgehoben haben, eingeschränkt und vielleicht sogar endgültig gefährdet.

In einem solchen Kontext des Kontrollverlusts der Weltbourgeoisie über die Situation ist es unwahrscheinlich, dass die dominanten Sektoren der Weltbourgeoisie heute in der Lage sind, die für die Wiederherstellung der Militärblöcke notwendige Organisation und Disziplin umzusetzen (...) Deshalb ist es von grundlegender Bedeutung zu betonen, dass, wenn die Lösung des Proletariats – die kommunistische Revolution – die einzige ist, die sich der Zerstörung der Menschheit entgegenstellen kann (welche die einzige „Antwort“ darstellt, welche die Bourgeoisie auf ihre Krise geben kann), diese Zerstörung nicht unbedingt aus einem dritten Weltkrieg resultieren muss. Sie kann auch Folge der Fortsetzung des Zerfalls bis hin zu den extremen Folgen (ökologische Katastrophen, Epidemien, Hungersnöte, entfesselte lokale Kriege usw.) sein.

Nachdem sich die historische Alternative "Sozialismus oder Barbarei", wie sie der Marxismus immer hervorhob, während des größten Teils des 20. Jahrhunderts in der Form von "Sozialismus oder imperialistischer Krieg" ausgedrückt hat, ist in den letzten Jahrzehnten durch die Entwicklung von Atomwaffen in der erschreckenden Form von "Sozialismus oder Zerstörung der Menschheit" offensichtlich geworden. Auch heute, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, ist diese Perspektive voll und ganz gültig. Aber es muss betont werden, dass eine solche Zerstörung durch einen allgemeinen imperialistischen Krieg ODER durch den Zerfall der Gesellschaft entstehen kann. (…)

Auch wenn der Weltkrieg zum gegenwärtigen Zeitpunkt und vielleicht endgültig keine Bedrohung für das Leben der Menschheit darstellen kann, so kann diese Bedrohung, wie wir gesehen haben, sehr wohl vom Zerfall der Gesellschaft ausgehen. Und dies um so mehr, da die Entfesselung des Weltkrieges das Festhalten des Proletariats an den Idealen der Bourgeoisie erfordert, ein Phänomen, das im Augenblick bei seinen entscheidenden Teilen keineswegs auf der Tagesordnung steht. Der Zerfall braucht dieses Festhalten an den Idealen der Bourgeoisie durch die Arbeiterklasse nicht, um die Menschheit zu zerstören. In der Tat stellt der Zerfall der Gesellschaft streng genommen keine "Antwort" der Bourgeoisie auf die offene Krise der Weltwirtschaft dar. In Wirklichkeit kann sich diese Zersetzung gerade deshalb entwickeln, weil die herrschende Klasse aufgrund der Nicht-Rekrutierung des Proletariats nicht in der Lage ist, ihre eigene spezifische Antwort auf diese Krise, den Weltkrieg und die Mobilisierung für ihn zu geben. Die Arbeiterklasse kann, indem sie ihre Kämpfe entwickelt (wie sie es seit Ende der 1960er Jahre getan hat) und sich nicht unter bürgerliche Fahnen stellen lässt, die Bourgeoisie daran hindern, den Weltkrieg auszulösen. Andererseits kann nur der Sturz des Kapitalismus den Zerfall der Gesellschaft aufhalten. So wie die Kämpfe des Proletariats in diesem System in keiner Weise dem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Kapitalismus entgegenwirken können, so können die Kämpfe des Proletariats in diesem System kein Hindernis gegen dessen Zerfall darstellen."

1989 markiert einen grundlegenden Wandel in der allgemeinen Dynamik der kapitalistischen Gesellschaft in der Phase der Dekadenz.

Vor diesem Datum war das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen der bestimmende Faktor dieser Dynamik. Von diesem Kräfteverhältnis hing der Ausgang der Verschärfung der Widersprüche im Kapitalismus ab: entweder die Entfesselung des Weltkriegs oder die Entwicklung des Klassenkampfes, mit der Perspektive der Überwindung des Kapitalismus.

Nach 1989 war diese allgemeine Dynamik der kapitalistischen Dekadenz nicht mehr direkt durch das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen bestimmt. Wie auch immer dieses Kräfteverhältnis aussehen mag, der Weltkrieg steht nicht mehr auf der Tagesordnung, aber der Kapitalismus wird weiterhin im Zerfall versinken, da der gesellschaftliche Zerfall dazu neigt, der Kontrolle der sich gegenüberstehenden Klassen zu entgleiten.

Im Paradigma, das den größten Teil des 20. Jahrhunderts beherrschte, definierte der Begriff des "Historischen Kurses" die beiden möglichen Ergebnisse einer historischen Entwicklung: entweder Weltkrieg oder Klassenkonflikte. Nachdem das Proletariat eine entscheidende Niederlage erlitten hatte (wie am Vorabend von 1914 oder als Folge der Zerschlagung der revolutionären Welle von 1917-23), wurde der Weltkrieg unausweichlich. Im Paradigma, das die gegenwärtige Situation definiert (bis zur Rekonstituierung zweier neuer imperialistischer Blöcke, was vielleicht nie geschehen wird), ist es durchaus möglich, dass das Proletariat eine tiefe Niederlage erleidet, ohne dass dies eine entscheidende Auswirkung auf die allgemeine Entwicklung der Gesellschaft hat. Man kann sich natürlich fragen, ob eine solche Niederlage die Konsequenz hätte, das Proletariat dauerhaft daran zu hindern, seinen Kopf wieder zu erheben. Wir müssten dann von einer endgültigen Niederlage sprechen, die zum Ende der Menschheit führen würde. Eine solche Möglichkeit ist nicht auszuschließen, insbesondere angesichts des zunehmenden Gewichts des Zerfalls. Diese Bedrohung wird im Manifest des 9. Kongresses deutlich aufgezeigt: "Kommunistische Revolution oder Zerstörung der Menschheit". Aber wir können keine Prognose in dieser Richtung abgeben, weder in Bezug auf die gegenwärtige Situation der Schwäche der Arbeiterklasse noch für den Fall, dass sich diese Situation weiter verschlechtert. Deshalb ist der Begriff des "Historischen Kurses" nicht mehr in der Lage, die Dynamik der gegenwärtigen Weltlage und das Kräfteverhältnis zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat in der Periode des Zerfalls zu definieren. Nachdem er zu einem für diese neue Periode unzureichenden Konzept geworden ist, muss er aufgegeben werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Text über den Historischen Kurs von 1978, obwohl er in Bezug auf die Methode und die Analyse der Periode 1914-1989 richtig war, heute begrenzt ist. Dies weil er erstens von großen und beispiellosen historischen Ereignissen überholt wurde, und zweitens durch seine Tendenz, den Begriff des Historischen Kurses und denjenigen der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen als identisch zu setzen, obwohl sie nicht identisch sind. Insbesondere spricht der Text von 1978 vom Historischen Kurs, um die verschiedenen Momente des Klassenkampfes im 19. Jahrhundert zu beschreiben, auch wenn in Wirklichkeit:

- eine Zunahme der Arbeiterkämpfe weder die Aussicht auf eine revolutionäre Periode zu einer Zeit bedeutete, in der die proletarische Revolution noch nicht auf der Tagesordnung stand, noch den Ausbruch eines großen Krieges verhindern konnte (z.B. den Krieg zwischen Frankreich und Preußen 1870, als die Macht des Proletariats zunahm);

- eine große Niederlage des Proletariats (wie die Zerschlagung der Pariser Kommune) nicht zu einem neuen Krieg führte.

In gewisser Weise ähnelt diese Tendenz, den Historischen Kurs fälschlicherweise mit dem Kräfteverhältnis zwischen den Klassen im Allgemeinen zu identifizieren, der unpräzisen Art und Weise, wie der Begriff des Opportunismus verwendet wurde. Eine Zeit lang gab es innerhalb der IKS, und im weiteren Sinne im politischen proletarischen Milieu, eine Identifizierung zwischen Opportunismus und Reformismus. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts beruhte eine solche Identifizierung, auch wenn sie bereits ein Fehler war, auf einer Realität: In der Tat war zu dieser Zeit eine der wichtigsten Erscheinungsformen des Opportunismus der Reformismus. Aber mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine Periode der Dekadenz hat der Reformismus nicht mehr seinen Platz in der Arbeiterbewegung: Organisationen oder Strömungen, die die Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus durch progressive Reformen des gegenwärtigen Systems befürworten, gehören notwendigerweise auf die Seite der Bourgeoisie, während der Opportunismus weiterhin eine Krankheit darstellt, die die proletarischen Organisationen vergiften und zerstören kann.

Wir haben dazu tendiert, auf der Grundlage der Erfahrungen der Arbeiterklasse im 20. Jahrhundert den Begriff der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat mit dem Begriff eines "Historischen Kurses" zu identifizieren, während dieser auf eine grundlegende und exklusive Alternative in den Konsequenzen hinweist, den Weltkrieg oder die Revolution, also eine Auswirkung jenes Kräfteverhältnisses. In gewisser Weise ähnelt die gegenwärtige historische Situation der des 19. Jahrhunderts: Das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen kann sich in die eine oder andere Richtung entwickeln, ohne das Leben der Gesellschaft entscheidend zu beeinflussen. Ebenso wenig kann dieses Kräfteverhältnis oder seine Entwicklung als "Kurs" bezeichnet werden. In diesem Sinne kann der Begriff "Niederlage des Proletariats", wenn er in der gegenwärtigen Periode seinen ganzen Wert behält, nicht mehr dieselbe Bedeutung haben wie in der Zeit vor 1989. Wichtig hingegen ist es, die Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat zu berücksichtigen, und ständig zu studieren: Können wir davon ausgehen, dass diese Entwicklung zugunsten des Proletariats verläuft (was noch nicht bedeutet, dass es kein Zurück mehr gibt) oder dass wir uns in einer Dynamik der Schwächung der Klasse befinden (in dem Wissen, dass diese Dynamik auch umgekehrt werden kann).

In einem allgemeineren und langfristigen Sinne bringt der Verzicht auf das Konzept des "Historischen Kurses" die Notwendigkeit mit sich, dass revolutionäre Marxisten eine vertiefte historische Untersuchung der gesamten Entwicklung des proletarischen Klassenkampfes an die Hand nehmen, um die Kriterien für die Bewertung des Kräfteverhältnisses zwischen Bourgeoisie und Proletariat in der Periode des kapitalistischen Zerfalls besser zu verstehen.


[1]Dieser Artikel erwähnt die Gleichgültigkeit anderer Gruppen der Kommunistischen Linken gegenüber dieser Frage und ihre entschiedene Ablehnung der Analyse der IKS als „nicht-marxistisch“, was darauf hindeutet, dass sie noch keinen theoretischen Beitrag zu dieser lebenswichtigen Frage der Entwicklung des Gleichgewichts der Klassenkräfte leisten können – zumal sie die berühmte erste Zeile des Kommunistischen Manifests, und damit ein wesentliches Gebot des historischen Materialismus, vergessen haben. Bezüglich des Parasitismus denunziert der Artikel den Angriff der polizeiähnlichen "Internen Fraktion der IKS" (heute die IGCL) auf den IKS-Bericht über den Klassenkampf vom 14. Kongress und seine Analyse der Auswirkungen des kapitalistischen Zerfalls auf den Klassenkampf als eine "opportunistische" und "revisionistische" "Liquidierung des Klassenkampfes", obwohl das Personal dieser Gruppe mit dieser Analyse noch einverstanden war, als diese Leute kurz zuvor noch Mitglieder der IKS waren. Organisatorischer Verrat geht im parasitären Milieu Hand in Hand mit politischem.

[2] „Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefaßt, die Ekstase ist der Geist jedes Tages; aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt erreicht, und ein langer Katzenjammer erfaßt die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt. Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!“

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Internationale Revue 56

Bericht über den Zerfall heute (Mai 2017)

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Vor mehr als 25 Jahren hat die IKS die Thesen zum Zerfall verabschiedet . Seitdem ist diese Analyse der gegenwärtigen Phase der Gesellschaft zu einem Schlüsselelement im Verständnis unserer Organisation über die Entwicklung der Welt geworden. Das folgende Dokument ist im Hinblick auf die Entwicklung der Weltlage im letzten Vierteljahrhundert und insbesondere in der jüngsten Zeit eine Aktualisierung der Thesen zum Zerfall.

Konkret müssen wir die wesentlichen Punkte der Thesen mit der gegenwärtigen Situation konfrontieren: In welchem Maße sind die verschiedenen Elemente bestätigt, ja sogar verstärkt worden, und inwieweit sind sie widerlegt worden oder müssen weiterentwickelt werden. Insbesondere die gegenwärtige Weltlage erfordert es, dass wir auf drei Fragen von zentraler Bedeutung zurückkommen:

- Terrorismus

- Flüchtlinge

- den Aufstieg des Populismus als Ausdruck des Kontrollverlusts der Bourgeoisie über das „politische Spiel”.

1) Der allgemeine Rahmen für die Analyse des Zerfalls

„Doch so wie es angebracht ist, eine klare Unterscheidung zwischen der Dekadenz des Kapitalismus und der Dekadenz früherer Gesellschaften zu machen, so ist es auch unverzichtbar, den grundlegenden Unterschied zwischen den Zerfallselementen, die den Kapitalismus seit Anfang des Jahrhunderts erfaßt haben, und dem allgemeinen Zerfall herauszustellen, in den dieses System gegenwärtig versinkt und der sich noch verschlimmern wird. Neben dem streng quantitativen Aspekt erreicht das Phänomen des gesellschaftlichen Zerfalls heute solch ein Ausmaß und solch eine Tiefe, daß eine neue und einzigartige Qualität erlangt wird, die den Eintritt des Kapitalismus in eine besondere Phase, in die ultimative Phase seiner Geschichte manifestiert, eine Phase, in welcher der Zerfall ein, wenn nicht gar der entscheidende Entwicklungsfaktor der Gesellschaft sein wird.” (Punkt 2)

„Konkret: nicht nur, daß der imperialistische Charakter aller Staaten, die Drohung eines neuen Weltkriegs, die Absorption der Gesellschaft durch den staatlichen Moloch, die permanente kapitalistische Wirtschaftskrise in der Zerfallsphase fortbestehen, sie erreichen in Letzterer eine Synthese und einen ultimativen Abschluß.” (Punkt 3)

„Doch die Geschichte bleibt in solch einer Situation, in der die beiden fundamentalen – und antagonistischen – Klassen der Gesellschaft aufeinanderprallen, ohne ihre eigene Antwort durchsetzen zu können, nicht stehen. Noch weniger als in den anderen vorhergehenden Produktionsweisen ist im Kapitalismus eine Stagnation, ein „Einfrieren“ des gesellschaftlichen Lebens möglich. Während die Widersprüche des krisengeschüttelten Kapitalismus sich noch weiter zuspitzen, führen die Unfähigkeit der Bourgeoisie, der gesamten Gesellschaft irgendeine Perspektive anzubieten, und die Unfähigkeit des Proletariats, die seinige offen zu behaupten, zum Phänomen des allgemeinen Zerfalls, zur Fäulnis der Gesellschaft bei lebendigem Leib.” (Punkt 4)

„Tatsächlich kann sich keine Produktionsweise entwickeln, sich lebensfähig halten und den gesellschaftlichen Zusammenhalt sicherstellen, wenn sie nicht in der Lage ist, der von ihr dominierten Gesellschaft in ihrer Gesamtheit eine Perspektive anzubieten. Und dies trifft besonders auf den Kapitalismus als dynamischste Produktionsweise der Geschichte zu.” (Punkt 5)

„In einer historischen Lage dagegen, in der die Arbeiterklasse noch nicht in der Lage ist, sich unmittelbar im Kampf für ihre eigene Perspektive, für die einzige realistische, die kommunistische Revolution zu engagieren, in der aber auch die Bourgeoisie keine Perspektive anzubieten hat, noch nicht mal kurzfristig, kann die einstige Fähigkeit Letzterer, das Phänomen des Zerfalls in der Dekadenzperiode einzuschränken und zu kontrollieren, nicht mehr helfen, sondern löst sich unter den wiederholten Schlägen der Krise in Luft auf.” (Punkt 5)

Zunächst müssen wir auf einem wesentlichen Aspekt unserer Analyse bestehen: Der Begriff „Zerfall“ wird auf zwei verschiedene Arten verwendet. Zum einen bezieht er sich auf ein Phänomen, das die Gesellschaft besonders in der Zeit der Dekadenz des Kapitalismus betrifft, und zum anderen bezieht er sich auf eine bestimmte historische Phase des Kapitalismus, seine Endphase.

„Neben dem streng quantitativen Aspekt erreicht das Phänomen des gesellschaftlichen Zerfalls heute solch ein Ausmaß und solch eine Tiefe, daß eine neue und einzigartige Qualität erlangt wird, die den Eintritt des Kapitalismus in eine besondere Phase, in die ultimative Phase seiner Geschichte manifestiert, eine Phase, in welcher der Zerfall ein, wenn nicht gar der entscheidende Entwicklungsfaktor der Gesellschaft sein wird.” (Punkt 2)

Auf der Grundlage unserer Analyse des Zerfalls können wir diese beispiellose Situation erkennen, in der keine der beiden entscheidenden Klassen der Gesellschaft, weder die Bourgeoisie noch das Proletariat, in der Lage ist, ihre eigene Antwort auf die Krise der kapitalistischen Wirtschaft – entweder den Weltkrieg oder umgekehrt die kommunistische Revolution umzusetzen. Selbst wenn es zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen den Klassen gekommen wäre, wenn sich die Bourgeoisie z.B. auf einen neuen allgemeinen Krieg zubewegt oder wenn das Proletariat Kämpfe geführt hätte, die eine revolutionäre Perspektive eröffneten, würde das nicht bedeuten, dass die Periode des Zerfalls der Gesellschaft beendet wäre (wie die IGCL dümmlich behauptet). Der Zerfallsprozess der Gesellschaft ist unumkehrbar, weil er der Endphase der kapitalistischen Gesellschaft entspricht. Das Einzige, was bei einer solchen Wende hätte geschehen können, ist eine Verlangsamung dieses Prozesses, sicherlich keine „Umkehr“. Aber eine solche Wende ist auf jeden Fall nicht eingetreten. Das Weltproletariat war im vergangenen Vierteljahrhundert völlig unfähig, sich überhaupt eine Perspektive für den Umsturz der bestehenden Ordnung zu verschaffen. Ganz im Gegenteil, wir haben einen Rückschritt in seiner Kampfbereitschaft sowie in seiner Fähigkeit, die grundlegende Waffe seines Kampfes, die Solidarität, zu zeigen, erlebt.

Ebensowenig ist es der Bourgeoisie gelungen, für sich selbst eine wirkliche Perspektive zu erreichen, „außer der Flickschusterei, um die Wirtschaft zu stützen“ (Thesen, Punkt 9). Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks schien die Weltwirtschaft nach einer Periode der Instabilität in diesem Bereich eine deutliche Erholung von ihrer Krise zu erleben. Vor allem die BRIC-Staaten zeigten beeindruckende Wachstumsraten. Doch die Euphorie, die die Weltbourgeoisie erfasst hatte, die sich vorstellte, dass ihre Wirtschaft wie in der Zeit des „Nachkriegsbooms“ wieder aufleben könnte, wurde durch die Erschütterungen der Jahre 2007-2008, welche die Zerbrechlichkeit des Finanzsektors vor Augen führten, als eine Depression ähnlich der der 1930er Jahre drohte, grausam gedämpft. Der Weltbourgeoisie gelang es, den Schaden zu begrenzen, insbesondere mit einer massiven Injektion von öffentlichen Geldern in die Wirtschaft, die zu einer Explosion der Staatsschulden führte und namentlich die Euro-Krise in den Jahren 2010-2013 auslöste. Gleichzeitig blieb die Wachstumsrate der größten Volkswirtschaft der Welt auf einem niedrigeren Niveau als vor 2007, obwohl die Zinssätze praktisch bei Null lagen. Was die hochgelobten BRIC-Länder betrifft, so sind sie nun auf die „ICs” (Indien und China) reduziert worden, da Brasilien und Russland mit einer spektakulären Verlangsamung ihres Wachstums oder sogar einer Rezession konfrontiert sind. Was heute in der herrschenden Klasse dominiert, ist nicht Euphorie, der Glaube an eine  „strahlende Zukunft“, sondern Ernüchterung und Angst, was sicherlich nicht der gesamten Gesellschaft das Gefühl vermittelt, dass eine „bessere Zukunft möglich ist“, insbesondere bei den Ausgebeuteten, deren Lebensbedingungen sich weiter verschlechtern.

Die historischen Bedingungen, die zu dieser Phase des Zerfalls geführt haben, bestehen also nicht nur weiter, sondern haben sich verschlechtert, was zu einer Vertiefung der meisten Erscheinungen des Zerfalls geführt hat.

Um diese Verschlimmerung vollständig zu verstehen, ist es wichtig, daran zu erinnern, dass – wie Punkt 2 der Thesen hervorhebt – von der Epoche oder Phase des Zerfalls, und nicht nur von „Erscheinungen des Zerfalls“ die Rede ist.

Punkt 1 der Thesen besteht darauf, dass es einen entscheidenden Unterschied zwischen der Dekadenz des Kapitalismus und der Dekadenz anderer Produktionsweisen, die ihm vorausgegangen sind, gibt. Diesen Unterschied zu betonen ist wichtig in Bezug auf die Frage, die den Schlüssel zum Zerfall darstellt: die Perspektive. Wenn wir die Dekadenz des Feudalismus betrachten, können wir sehen, dass sie durch die „parallele“ Entstehung der kapitalistischen Beziehungen und den allmählichen und teilweisen Aufstieg der Klasse der Bourgeoise begrenzt wurde. Der Zerfall einer Reihe von wirtschaftlichen, sozialen, ideologischen und politischen Formen der Feudalgesellschaft wurde in der Realität (nicht unbedingt mit einem wirklichen Bewusstsein) durch die neu sich herausbildende Produktionsweise in gewisser Weise abgeschwächt. Zwei Beispiele seien genannt: Der Absolutismus wurde in einigen Ländern für die wirtschaftliche Entwicklung des Kapitals genutzt und trug zur Bildung eines nationalen Marktes bei; und die religiöse Auffassung von der „Reinigung des Körpers“ – der angeblich die Heimstätte des Teufels war – hatte einen Nutzen für die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals, indem sie die Geburtenrate erhöhte und den zukünftigen Proletariern und Proletarierinnen Disziplin aufzwang.

Aus diesem Grund mag es in der Dekadenz des Feudalismus mehr oder weniger fortgeschrittene Erscheinungen des gesellschaftlichen Zerfalls gegeben haben, aber es konnte keine spezifische Zerfallsphase geben. In der Geschichte der Menschheit konnten einige sehr isolierte Zivilisationen in einem vollständigen Zerfall enden, was zu ihrem Verschwinden führte. Aber nur der Kapitalismus kann in seiner Dekadenz als historisches und weltweites Phänomen eine globale Ära des Zerfalls aufweisen.

2) Soziale Erscheinungen des Zerfalls

Die Thesen von 1990 wiesen auf die wichtigsten sozialen Erscheinungsformen des Zerfalls hin:

•          „die Zunahme von Hungersnöten in den Ländern der „Dritten Welt“ [...]

•          die Umwandlung der „Dritten Welt“ in ein gewaltiges Slum, in dem Hunderte von Millionen Menschen wie Ratten in der Kanalisation leben [...]

•          die Ausbreitung desselben Phänomens im Herzen der großen Städte der „fortgeschrittenen“ Länder [...]

•          die „zufälligen“ Katastrophen, deren Zahl sich in der letzten Zeit vervielfacht hat [...]

•          die immer zerstörerischeren Folgen von „Naturkatastrophen“ auf menschlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene [...]

•          die Umweltverschmutzung, die unglaubliche Ausmaße annimmt [...]” (Punkt 7)

Die offiziellen Zahlen der FAO zeigen einen Rückgang der Unterernährung seit den 1990er Jahren. Dennoch gibt es auch heute noch fast eine Milliarde Menschen, die an Unterernährung leiden. Diese Tragödie betrifft insbesondere Südasien und vor allem Afrika südlich der Sahara, wo in einigen Regionen fast die Hälfte der Bevölkerung, vor allem die Kinder, dem Hunger zum Opfer fallen, mit dramatischen Folgen für ihr Wachstum und ihre Entwicklung. Während die Technologie zu phänomenalen Produktivitätssteigerungen, auch im Agrarsektor, geführt hat, können die Bauern in vielen Ländern ihre Produkte nicht verkaufen, und der Hunger ist wie in den schlimmsten Zeiten der Menschheitsgeschichte weiterhin eine Geißel für Hunderte von Millionen Menschen. Und wenn er die reichen Länder nicht trifft, dann deshalb, weil der Staat noch immer in der Lage ist, seine Armen zu ernähren. Zum Beispiel erhalten 50 Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten Nahrungsmittelhilfe-Gutscheine.

Heute leben mehr als eine Milliarde Menschen in Slums, und die Zahl hat sich seit 1990 noch erhöht. Die „Verwandlung der Dritten Welt in ein riesiges Slum“ ist also so offensichtlich, dass der dem Davos-Forum 2015 vorgelegte Bericht über globale Risiken erstmals die „rasche und unkontrollierte Urbanisierung“ zu den großen Risiken zählt, die den Planeten bedrohen, wobei er insbesondere feststellt, dass „40 % des urbanen Wachstums weltweit in Barackensiedlungen stattfindet“, was bedeutet, dass dieser Anteil in den unterentwickelten Ländern viel höher ist.

Und dieses Phänomen des Wachstums von Elendsvierteln breitet sich tendenziell in den reichsten Ländern aus, und zwar in verschiedenen Formen: Millionen von Amerikanern, die während der Subprime-Krise ihr Zuhause verloren, die Zahl der bestehenden Obdachlosen, die Lager von Roma oder Flüchtlingen am Rande vieler europäischer Städte und sogar in den Zentren ... Und selbst von denjenigen, die in dauerhaften Wohnungen leben, hausen zig Millionen in echten Slums. Im Jahr 2015 lebten 17,4 % der Einwohner der Europäischen Union unter überfüllten Bedingungen, 15,7 % der Wohnungen hatten undichte Leitungen oder Fäulnis, und 10,8 % der Wohnungen waren ohne Heizung. Dies galt nicht nur für die armen Länder Europas, denn die Zahlen lagen bei 6,7 %, 13,1 % bzw. 5,3 % in Deutschland und 8 %, 15,9 % bzw. 10,9 % im Vereinigten Königreich.

Wir könnten auch viele Beispiele für „zufällige“ Katastrophen in den letzten 25 Jahren anführen. Aber es genügt, zwei der spektakulärsten und dramatischsten Beispiele zu nennen, die nicht in der Dritten Welt, sondern in den beiden am weitesten entwickelten Wirtschaftsmächten zu finden sind: die Überschwemmungen von New Orleans im August 2005 (fast 2000 Tote, eine fast entvölkerte Stadt) und die Atomkatastrophe von Fukushima im März 2011, die mit der von Tschernobyl 1986 vergleichbar ist.

Was das „die Umweltverschmutzung“ betrifft, „die unglaubliche Ausmaße annimmt“, so waren wir, als wir diese Worte schrieben noch weit entfernt von den heutigen Beobachtungen und Prognosen, die in wissenschaftlichen Kreisen allgemein anerkannt sind und auf die die meisten Sektoren der Bourgeoisie jedes Landes sich berufen (auch wenn die herrschende Klasse aufgrund der Gesetze des Kapitalismus nicht in der Lage ist, die erforderlichen Maßnahmen durchzuführen). Die Liste ist lang, nicht nur der Katastrophen, die die Menschheit aufgrund der Umweltzerstörung erwarten, sondern auch derjenigen, die uns schon jetzt treffen: die Verschmutzung der Luft in den Städten und des Wassers der Ozeane, der Klimawandel, der immer heftigere Wetterphänomene mit sich bringt, die sich ausbreitende Wüstenbildung, das zunehmende Verschwinden von Pflanzen- und Tierarten, die das biologische Gleichgewicht unseres Planeten immer mehr bedrohen (das Verschwinden der Bienen zum Beispiel ist eine Bedrohung für unsere Nahrungsressourcen).

3) Die politischen und ideologischen Erscheinungsformen des Zerfalls

Das Bild, das wir 1990 zeichneten, war folgendes:

•          „die unglaubliche Korruption, die im politischen Apparat wächst und gedeiht [...]

•          die Entwicklung des Terrorismus, der Geiselnahmen als Mittel der kriegerischen Auseinandersetzung  zwischen Staaten unter Verletzung von „Gesetzen“, die der Kapitalismus einst verabschiedet hatte, um die Konflikte zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse zu „reglementieren“

•          der ununterbrochene Anstieg der Kriminalität, der Unsicherheit, der Gewalt in den Städten [...]

•          die Flutwelle der Drogen, die heute zu einem Massenphänomen werden und stark zur Korruption im Staat und den Finanzorganismen beitragen [...]

•          die Fülle an Sekten, das Wiederaufleben religiöser Geisteshaltungen auch in fortgeschrittenen Ländern, die Ablehnung eines vernunftgesteuerten, zusammenhängenden, konstruktiven  Denkens [...]

•          die Belanglosigkeit, die Käuflichkeit all der „künstlerischen“ Produktionen, der Literatur, der Musik, der Malerei, der Architektur [...]

•          das „Jeder für sich“, die Atomisierung des Einzelnen, die Zerstörung der Familienbeziehungen, die Ausgrenzung der alten Menschen, die Zerstörung der Gefühle [...]” (Punkt 8)

All diese Aspekte haben sich bestätigt und sogar noch verschlimmert. Lässt man die Aspekte, die mit den nachstehend hervorgehobenen Punkten (Terrorismus, Flüchtlingsfrage und Zunahme des Populismus) zusammenhängen, kurz beiseite, so kann man beispielsweise feststellen, dass die Gewalt und die städtische Kriminalität in vielen Ländern Lateinamerikas und auch in den Vororten einiger europäischer Städte – teilweise im Zusammenhang mit dem Drogenhandel, aber nicht nur dort – explodiert ist. Was diesen Handel und sein enormes Gewicht in der Gesellschaft, auch auf wirtschaftlicher Ebene, betrifft, so kann man sagen, dass es sich um einen ständig wachsenden „Markt“ handelt, da das Unbehagen und die Verzweiflung, die jede Schicht der Bevölkerung trifft, zunehmen. Was die Korruption und all die Machenschaften – in anderen Worten „Wirtschaftskriminalität“ – angeht, so sind in den letzten Jahren viele Fälle aufgedeckt worden (wie die „Panama-Papiere“, die nur eine winzige Spitze des Eisbergs des Gangstertums sind, in dem der Finanzsektor immer mehr Fuß fassen muss). In Bezug auf die Käuflichkeit von Kulturschaffenden und ihre Rehabilitierung können wir die jüngste Verleihung des Literaturnobelpreises an Bob Dylan, künstlerisches Symbol der Revolte in den 1960er Jahren, zitieren, aber es gibt noch viele andere, die wir nennen könnten. Schließlich hat sich die Zerstörung der menschlichen Beziehungen, der Familienbande und des menschlichen Mitgefühls nur noch verschlimmert, wie der Gebrauch von Antidepressiva, die Explosion von psychischem Druck und Stress am Arbeitsplatz und das Aufkommen neuer Berufe, die solche Menschen „unterstützen“ sollen, belegen. Es gibt auch Hinweise auf echte Massaker wie das vom Sommer 2003 in Frankreich, wo 15.000 ältere Menschen während der Hitzewelle starben.

4) Die Frage des Terrorismus

Diese Frage ist selbstverständlich weder in der Geschichte noch in den Analysen der IKS neu (siehe z.B. den Text Terror, Terrorismus und Klassengewalt, der in der Nummer 3 der Internationalen Revue veröffentlicht wurde. Gleichwohl ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass unser Genosse MC auf der Grundlage der Bombenanschläge von Paris im Jahr 1985 eine Reflexion über den Zerfall begann. Als besonders bedeutsam analysieren die Thesen den Eintritt des Kapitalismus in die Phase des Zerfalls: „die Entwicklung des Terrorismus, der Geiselnahmen als Mittel der kriegerischen Auseinandersetzung  zwischen Staaten unter Verletzung von „Gesetzen“, die der Kapitalismus einst verabschiedet hatte, um die Konflikte zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse zu ‘reglementieren’“.

Es ist kaum notwendig, darauf hinzuweisen, wie weit diese Frage im Leben des Kapitalismus einen herausragenden Platz eingenommen hat. Heute ist der Terrorismus als Instrument des Krieges zwischen Staaten in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens gerückt. Wir haben sogar die Konstituierung eines neuen Staates, das Kalifat des IS, mit seiner Armee, seiner Polizei, seiner Verwaltung, seinen Schulen erleben müssen, für den der Terrorismus die auserkorene Waffe ist.

Die quantitative und qualitative Zunahme der Rolle des Terrorismus hat vor 15 Jahren mit dem Angriff auf die Twin Towers einen entscheidenden Schritt getan, und es war die führende Weltmacht, die diesem Angriff bewusst die Tür öffnete, um ihre Intervention in Afghanistan und im Irak zu rechtfertigen. Die Anschläge von Madrid 2004 und London 2005 haben dies bestätigt. Die Gründung des IS in den Jahren 2013-14 und die Angriffe in Frankreich in den Jahren 2015-16, Belgien und Deutschland im Jahr 2016 stellen einen weiteren Schritt in diesem Prozess dar.

Darüber hinaus geben uns die Thesen einige Anhaltspunkte dafür, die wachsende Faszination eines Teils der Jugend in den entwickelten Ländern für den Dschihadismus und Selbstmordattentate zu verstehen:

•          „die Ausbreitung des Nihilismus, der Selbstmorde unter Jugendlichen, der Hoffnungslosigkeit [...], des Hasses und der Fremdenfeindlichkeit

•          die Fülle an Sekten, das Wiederaufleben religiöser Geisteshaltungen auch in fortgeschrittenen Ländern, die Ablehnung eines vernunftgesteuerten, zusammenhängenden, konstruktiven  Denkens [...]

•          das Überhandnehmen von Gewalt- und Horrorszenen, von Blut und Massakern in eben diesen Medien [...]”

All diese Aspekte haben sich in den vergangenen Jahrzehnten nur noch verstärkt. Sie betreffen alle Bereiche der Gesellschaft. Im fortgeschrittensten Land der Welt ist eine „religiöse Rechte“ (die „Tea Party“) innerhalb einer der beiden politischen Parteien entstanden, die für die Verwaltung der Interessen des nationalen Kapitals zuständig ist, eine Bewegung, die die am meisten begünstigten Gesellschaftsschichten umfasst. In ähnlicher Weise hat in einem Land wie Frankreich die Einführung der Homo-Ehe (die an sich nur ein Manöver der Linken war, um vom Verrat ihrer Wahlversprechen und den Angriffen auf die Ausgebeuteten abzulenken) Millionen von Menschen aus allen gesellschaftlichen Bereichen mobilisiert, vor allem aber die Bürgerlichen und Kleinbürger, die eine solche Maßnahme als Beleidigung Gottes betrachteten. Gleichzeitig nehmen Obskurantismus und religiöser Fanatismus unter den am meisten benachteiligten Bevölkerungsgruppen, insbesondere unter den jungen proletarischen Eingewanderten, die muslimisch sind, weiter zu und ziehen eine beträchtliche Anzahl von „einheimischen“ Jugendlichen mit sich. Noch nie haben wir in europäischen Städten so viele Schleier oder gar „Burkas“ um die Köpfe muslimischer Frauen gesehen. Und was ist mit der Haltung jener Zehntausenden von jungen Menschen, die nach der Ermordung der Karikaturisten der Zeitung Charlie Hebdo der Meinung waren, sie hätten sich das selbst zuzuschreiben, indem sie den „Propheten“ gezeichnet haben?

5) Die Frage der Flüchtlinge

Diese Frage wird in den Thesen von 1990 nicht behandelt. Deshalb bieten wir hier eine Ergänzung an, die sich mit diesem Problem befasst.

Die Frage der Flüchtlinge hat in den letzten Jahren einen zentralen Platz im Leben der Gesellschaft erhalten. Im Jahr 2015 waren mehr als 6 Millionen Menschen gezwungen, ihr Land zu verlassen, wodurch die Zahl der Flüchtlinge auf der Welt auf über 65 Millionen angestiegen ist (mehr als die Bevölkerung Großbritanniens). Dazu kommen noch die 40 Millionen Menschen, die innerhalb ihres eigenen Landes vertrieben werden. Dieses Phänomen ist seit dem Zweiten Weltkrieg beispiellos.

Vertreibung und Auswanderung sind Teil der Geschichte der Menschheit, einer Spezies, die vor 200.000 Jahren in einem kleinen Teil Ostafrikas auftauchte und sich überall auf der Welt ausbreitete, wo es verwertbare Ressourcen für Nahrung und andere Grundbedürfnisse des Lebens gab. Einer der großen Momente dieser Bevölkerungsbewegungen ist die Kolonialisierung des größten Teils des Planeten durch die europäischen Mächte, ein Phänomen, das vor 500 Jahren entstand und mit dem Aufstieg des Kapitalismus zusammenfiel (siehe hierzu den entsprechenden Abschnitt des Kommunistischen Manifests). Im Allgemeinen setzen sich die Migrationsströme (auch wenn sie Händler, Abenteurer oder durch Eroberung getriebene Soldaten umfassen) hauptsächlich aus Bevölkerungsgruppen zusammen, die aus ihrem Land wegen Verfolgung (englische Protestanten der „Mayflower“, Juden aus Osteuropa) oder Armut (Iren, Sizilianer) fliehen. Erst mit dem Aufkommen des Kapitalismus in seiner Dekadenzphase werden die vorherrschenden Migrationsströme umgekehrt. Zunehmend sind es die Bewohner der Kolonien, die, vom Elend getrieben, in die Metropolen kommen, um Arbeit (im Allgemeinen gering qualifiziert und sehr schlecht bezahlt) zu finden. Dieses Phänomen setzte sich nach den Entkolonialisierungswellen fort, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 1960er Jahre aufeinander folgten. Ende der 1960er Jahre führte die offene Krise der kapitalistischen Wirtschaft mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit in den entwickelten Ländern bei gleichzeitiger Zunahme der Armut in den ehemaligen Kolonien zu einem deutlichen Anstieg der illegalen Einwanderung. Seitdem hat sich die Situation trotz der heuchlerischen Reden der herrschenden Klasse nur noch verschlimmert, die in den „Papierlosen“ noch billigere Arbeitskräfte findet im Vergleich zu denen, die Papiere haben.

Mehrere Jahrzehnte lang ging es bei den Migrationsströmen also hauptsächlich um wirtschaftliche Auswanderung. Neu ist jedoch, dass in den letzten Jahren der Anteil der Einwandernden, die aus Kriegs- oder Repressionsgründen aus ihrem Land geflohen sind, explodiert ist und eine Situation wie nach dem Spanischen Krieg oder dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschaffen hat. Jahr für Jahr steigt die Zahl der Flüchtlinge, die mit allen möglichen Mitteln, auch mit den gefährlichsten, an die Türen Europas klopfen, was die Aufnahmefähigkeit der europäischen Länder auf die Probe stellt und die Flüchtlingsfrage zu einem wichtigen politischen Thema in diesen Ländern macht (siehe unten zur Frage des Populismus).

Die massiven Bevölkerungsbewegungen sind keine Phänomene, die der Phase des Zerfalls vorbehalten sind. Aber sie nehmen heute eine Dimension an, die sie zu einem eigenständigen Element des Zerfalls macht, und wir können auf dieses Phänomen die Analyse anwenden, die wir 1990 zur Arbeitslosigkeit vorgelegt haben:

„Zwar ist die Arbeitslosigkeit, die direkt aus der Wirtschaftskrise resultiert, als solche kein Ausdruck des Zerfalls, aber sie kann in dieser besonderen Phase der Dekadenz zu Konsequenzen führen, die aus ihr ein singuläres Element im Zerfall machen.” (Punkt 14)

6) Der Aufstieg des Populismus

Das Jahr 2016, insbesondere mit der Brexit-Abstimmung und der Wahl von Donald Trump an die Spitze der ersten Weltmacht, markiert eine Phase von großer Bedeutung in der Entwicklung eines Phänomens, das noch keine bedeutende Rolle gespielt hatte, als es in Ländern wie Frankreich, Österreich oder, in geringerem Maße, Italien mit dem Aufstieg der populistischen extremen Rechten bei den Wahlen auftrat. Dieses Phänomen ist offensichtlich nicht das Ergebnis eines bewussten politischen Willens der herrschenden Teile der Bourgeoisie, auch wenn diese Teile es eindeutig gegen das Bewusstsein des Proletariats einzusetzen wissen.

In den Thesen von 1990 heißt es:

„Unter den Hauptkennzeichen des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft muß man die zunehmenden Schwierigkeiten der Bourgeoisie hervorheben, die Entwicklung der Lage auf politischer Ebene zu kontrollieren.” (Punkt 9)

„Diese allgemeine Tendenz der Bourgeoisie, die Kontrolle über die Leitung ihrer Politik zu verlieren, ist ein wichtiger Faktor beim Zusammenbruch des Ostblocks, und er wird mit diesem Zusammenbruch noch stärker werden, aufgrund:

•          der Zuspitzung der Wirtschaftskrise, die aus Letzterem resultiert;

•          der Auflösung des westlichen Blocks infolge des Verschwindens des rivalisierenden Blocks;

•          der Schürung der einzelnen Rivalitäten, die das vorübergehende Zurückdrängen der Perspektive eines Weltkriegs zwischen verschiedenen Sektoren der Bourgeoisie (insbesondere zwischen nationalen Fraktionen, aber auch zwischen Cliquen innerhalb eines gleichen Nationalstaats) bewirkt.” (Punkt 10)

Die Verschärfung der Wirtschaftskrise infolge des Zusammenbruchs des Ostblocks hat sich zu Beginn nicht fortgesetzt. Dennoch haben die anderen Aspekte ihre Gültigkeit behalten. Was in der gegenwärtigen Situation betont werden muss, ist die volle Bestätigung dieses Aspekts, den wir vor 25 Jahren festgestellt haben: die Tendenz, dass die herrschende Klasse zunehmend die Kontrolle über ihren politischen Apparat verliert.

Offensichtlich werden diese Ereignisse von verschiedenen Sektoren der Bourgeoisie (insbesondere von denen der Linken) aus bekannten historischen Gründen dazu benutzt, die Flamme des Antifaschismus (dies ist besonders in Deutschland der Fall) wiederzubeleben. Auch in Frankreich gab es bei den letzten Regionalwahlen im Dezember 2015 eine „Republikanische Front“, bei der die Sozialistische Partei ihre Kandidaten zurückzog und dazu aufrief, für die Rechte zu stimmen, um dem Front National den Weg zu blockieren. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass das Hauptangriffsziel antifaschistischer Kampagnen, die Arbeiterklasse, derzeit keine Bedrohung oder auch nur eine große Sorge für die Bourgeoisie darstellt.

In der Tat kann die fast einhellige Meinung der verantwortungsbewusstesten Sektoren der Bourgeoisie und ihrer Medien gegen den Brexit, gegen die Wahl von Trump, gegen die extreme Rechte in Deutschland oder gegen den Front National in Frankreich nicht als ein Manöver betrachtet werden: die vom Populismus vorgeschlagenen wirtschaftlichen und politischen Optionen sind keineswegs realistische Option für die Verwaltung des nationalen Kapitals (im Gegensatz zu den Optionen der Linken des Kapitals, die angesichts der „Exzesse“ der neoliberalen Globalisierung eine Rückkehr zu keynesianischen Lösungen vorschlagen). Wenn wir uns auf den Fall Europas beschränken, könnten populistisch geführte Regierungen, wenn sie ihre Programme umsetzen, nur zu einer Art Vandalismus führen, der die Instabilität, die die Institutionen dieses Kontinents bedroht, nur noch weiter verschärfen würde. Und dies um so mehr, als das politische Personal der populistischen Bewegungen zwar eine ernsthafte Erfahrung auf dem Gebiet der Demagogie gesammelt hat, aber keineswegs bereit ist, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen.

Bei der Entwicklung unserer Analyse des Zerfalls sind wir davon ausgegangen, dass dieses Phänomen sich sowohl auf die Form der imperialistischen Konflikte (siehe den Artikel Militarismus und Zerfall, in der Internationalen Revue 13) als auch auf das Bewusstsein des Proletariats auswirkt. Demgegenüber waren wir der Ansicht, dass es keine wirklichen Auswirkungen auf die Entwicklung der Krise des Kapitalismus haben würde. Wenn der gegenwärtige Aufstieg des Populismus dazu führen würde, dass diese Strömung in einigen der wichtigsten europäischen Länder an die Macht käme, so würde der Zerfall jedoch auch eine solche Auswirkung entfalten.

In der Tat kann der Aufstieg des Populismus in einem bestimmten Land spezifische Ursachen haben (wie z. B. nach dem Sturz des Stalinismus für bestimmte osteuropäische Länder, die Auswirkungen der Finanzkrise von 2007-2008, die Millionen von Amerikanern ruiniert und ihrer Häuser beraubt hat, usw.). Dennoch hat er ein gemeinsames Element, das in den meisten fortgeschrittenen Ländern auftritt: der tiefe Vertrauensverlust in die „Eliten“, d.h. die traditionellen Regierungsparteien (konservative oder fortschrittliche wie die Sozialdemokraten) aufgrund ihrer Unfähigkeit, die Gesundheit der Wirtschaft wiederherzustellen, den stetigen Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Armut zu stoppen. In diesem Sinne stellt der Aufstieg des Populismus eine Art Revolte gegen die derzeitigen politischen Führer dar, aber eine Revolte, die nicht zu einer alternativen Perspektive zum Kapitalismus führen kann. Die einzige Klasse, die eine solche Alternative bieten kann, ist das Proletariat, wenn es sich auf seinem Klassenterrain mobilisiert und sich der Notwendigkeit und der Möglichkeit der kommunistischen Revolution bewusst wird. Mit dem Populismus ist es dasselbe wie mit dem allgemeinen Phänomen des Zerfalls der Gesellschaft, das die gegenwärtige Lebensphase des Kapitalismus kennzeichnet: Ihre entscheidende Ursache ist die Unfähigkeit des Proletariats, eine eigene Antwort, eine eigene Alternative zur Krise des Kapitalismus zu finden. In diesem Vakuum wird der Vertrauensverlust in die offiziellen Institutionen der Gesellschaft, die nicht mehr in der Lage sind, sie zu schützen, der Vertrauensverlust in die Zukunft, die Tendenz, in die Vergangenheit zu blicken, Sündenböcke zu suchen, die für die Katastrophe verantwortlich sind, immer stärker. In diesem Sinne ist der Aufstieg des Populismus ein Phänomen, das ganz typisch für die Epoche des Zerfalls ist. Dies gilt umso mehr, als er wertvolle Verbündete im Aufstieg des Terrorismus findet, der ein wachsendes Gefühl der Angst und Hilflosigkeit hervorruft, insbesondere angesichts des massiven Zustroms von Flüchtlingen, die die Angst schüren, dass sie gekommen sind, um den Einheimischen die Arbeit wegzunehmen oder neue Terroristen zu infiltrieren.

Als wir den Eintritt des Weltkapitalismus in die akute Phase seiner Wirtschaftskrise erkannten, wiesen wir darauf hin, dass es diesem System zunächst gelungen war, seine katastrophalsten Auswirkungen auf die Peripherie abzuwälzen, dass diese Auswirkungen aber wie ein Bumerang in das Zentrum zurückkehren würden. Dasselbe Modell gilt für die drei Fragen, die seither ausführlicher diskutiert wurden:

- Der Terrorismus existiert bereits in einem viel dramatischeren Ausmaß in einigen Ländern der Peripherie;

- dieselben Länder haben ein weitaus größeres Problem mit Flüchtlingen als die zentralen Länder;

- diese Länder sind auch den Erschütterungen ihres politischen Apparates ausgesetzt.

Die Tatsache, dass die zentralen Länder heute eine derartigen Bumerangeffekt erleben, ist ein Anzeichen dafür, dass die menschliche Gesellschaft weiter und tiefer in den Zerfall rutscht.

7) Die allgemeine Schwierigkeit, die Existenz des Zerfalls zu anerkennen

Einer der Gründe für die Schwierigkeiten, auf die das Proletariat und vor allem seine eigene Avantgarde gestoßen sind, um diese Epoche des Zerfalls zu erkennen und zu verstehen und sich gegen sie zu wappnen, liegt in der Natur des Zerfalls als einer historischen Phase.

Der Prozess des Zerfalls, der die gegenwärtige historische Periode prägt, stellt ein Phänomen dar, das auf sehr heimtückische Weise voranschreitet. Insofern er die Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens am tiefsten berührt und sich in der Zerrüttung der tiefsten sozialen Beziehungen manifestiert, hat er nicht unbedingt einen einzigen und unbestreitbaren Ausdruck, wie z.B. der Ausbruch des Weltkrieges oder revolutionäre Verhältnisse. Vielmehr drückt sie sich durch eine Vielzahl von Phänomenen aus, die in keinem offensichtlichen Zusammenhang miteinander stehen.

Jedes der Phänomene könnte für sich genommen zeigen, dass der Zerfall nicht neu ist, sondern mit früheren Stadien der kapitalistischen Dekadenz verbunden ist. Zum Beispiel gibt es eine Fortsetzung der imperialistischen Kriege. Innerhalb dieser Kontinuität findet man jedoch das Element der Tendenz des „Jeder-für-sich“ und insbesondere „die Entwicklung des Terrorismus, der Geiselnahmen als Mittel der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Staaten unter Verletzung von „Gesetzen“, die der Kapitalismus einst verabschiedet hatte, um die Konflikte zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse zu ‘reglementieren’“ (These 8). Diese Elemente erscheinen „undeutlich“ inmitten der klassischen und allgemeinen Züge des imperialistischen Krieges, was es schwierig macht, sie zu identifizieren. Eine oberflächliche Untersuchung wird sie nicht aufdecken. Dasselbe gilt für den politischen Apparat der Bourgeoisie (so kann das Aufkommen des Populismus fälschlicherweise mit dem Phänomen des Faschismus zwischen den beiden Kriegen in Verbindung gebracht werden).

Die Tatsache, dass die beiden wesentlichen Klassen der Gesellschaft (das Proletariat und die Bourgeoisie) nicht in der Lage sind, eine Perspektive zu bieten, begünstigt das Fehlen einer globalen Vision und führt zu einer passiven Anpassung an die bestehende Realität. Dies begünstigt engstirnige, blinde, kleinbürgerliche Visionen ohne Zukunftsorientierung. Man kann sagen, dass der Zerfall an sich schon ein mächtiger Faktor ist, der das Bewusstsein der eigenen Wirklichkeit auslöscht. Das ist sehr gefährlich für das Proletariat. Aber es erzeugt auch eine Blindheit der Bourgeoisie, so dass der Zerfall aufgrund der Schwierigkeit, ihn zu erkennen, ein kumuliertes Phänomen erzeugt, das in seinen Auswirkungen spiralförmig ansteigt.

Schließlich verschärfen zwei dem Kapitalismus eigentümliche Tendenzen diese Schwierigkeit, den Zerfall und seine Folgen zu erkennen, noch weiter:

Der „Kapitalismus als dynamischste Produktionsweise der Geschichte” (Punkt 5); und „die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren.” (Kommunistisches Manifest).

Dies vermittelt den Eindruck einer permanenten „Modernität“, einer Gesellschaft, die trotz allem „fortschreitet“ und sich entwickelt. Eine Folge davon ist, dass der Zerfall nicht in allen Ländern einheitlich verläuft. Er ist in China und anderen asiatischen Ländern stärker abgeschwächt. Andererseits nimmt er in anderen Teilen der Welt eine viel extremere Form an, zum Beispiel in Afrika oder in einigen Ländern Lateinamerikas. All dies neigt dazu, den Zerfall zu „verschleiern“. Man könnte sagen, dass der ekelerregende Geruch, den er erzeugt, durch den verführerischen Duft der „Modernität“ vermindert wird.

In den fortgeschrittensten Ländern ist die Bourgeoisie mit der Entwicklung des Staatskapitalismus immer noch in der Lage, bestimmte Gegentendenzen zu erzeugen, um die Auswirkungen des Zerfalls zu vermindern. Wir können dies beim Brexit sehen, wo die britische Bourgeoisie sich schnell wieder organisiert hat, um den Schaden zu begrenzen.

8) Die Auswirkungen des Zerfalls auf die Arbeiterklasse

In Punkt 13 der Thesen wird diese Frage in den folgenden Passagen behandelt:

„Die verschiedenen Elemente, die die Stärke des Proletariats ausmachen, stoßen direkt mit den verschiedenen Facetten dieses ideologischen Zerfalls zusammen:

•          Das kollektive Handeln und die Solidarität stoßen mit der Atomisierung, dem „Jeder für sich“, dem „Frechheit zahlt sich aus“ zusammen.

•          Das Bedürfnis nach Organisierung steht dem gesellschaftlichen Zerfall entgegen, der Zerstörung von Beziehungen, die erst ein gesellschaftliches Leben ermöglichen.

•          Die Zuversicht in die Zukunft und in die eigenen Kräfte wird ständig untergraben durch die allgemeine Hoffnungslosigkeit, die in der Gesellschaft durch den Nihilismus, durch die Ideologie des „No future“ immer mehr überhand nimmt.

•          Das Bewußtsein, die Klarheit, die Kohärenz und Einheit im Denken, der Sinn für Theorie müssen sich mühsam ein Weg bahnen inmitten der Flucht in Trugbilder, der Drogen, Sekten, des Mystizismus, der Verweigerung des Nachdenkens und der Zerstörung des Denkens, die unsere Epoche charakterisieren.” (Punkt 13)

Die Erfahrungen der Kämpfe der letzten 25 Jahre haben diese Analysen weitgehend bestätigt. Dies gilt insbesondere, wenn man die beiden am weitesten fortgeschrittenen Bewegungen dieser Periode betrachtet: die Anti-CPE-Bewegung in Frankreich im Jahr 2006 und die Bewegung der Indignados in Spanien im Jahr 2011. Es trifft zu, dass die Solidarität im Zentrum beider Bewegungen stand, wie sie auch im Zentrum begrenzterer Erfahrungen stand – wie anlässlich der Mobilisierung gegen die Rentenreform in Frankreich 2003 oder beim U-Bahnstreik in New York 2005. Diese Ausdrücke blieben jedoch isoliert und riefen, abgesehen davon, dass sie auf eine eher passive Sympathie stießen, keine allgemeine Mobilisierung der Klasse hervor.

Solidarität und kollektives Handeln ist eines der grundlegenden Merkmale des proletarischen Kampfes, aber es war viel schwieriger, es zum Ausdruck zu bringen als in der Vergangenheit, trotz der schweren Angriffe auf die Arbeiterklasse, zum Beispiel auf der Ebene der Entlassungen. Es stimmt, dass die einschüchternde Erfahrung der Krise zu einem vorübergehenden Rückzug in der Kampfbereitschaft geführt hat, aber die Tatsache, dass ein solcher Rückzug fast permanent geworden ist, bedeutet, dass wir verstehen müssen, dass dieser Faktor zwar eine Rolle spielt, aber nicht der einzige ist, und wir sollten die Bedeutung dessen bedenken, was These 13 über das „Jeder-für-sich“, die Atomisierung und den individuellen Rückzug sagt.

Die Frage der Organisation steht im Mittelpunkt des Kampfes des Proletariats. Abgesehen von den enormen Schwierigkeiten, die revolutionäre Minderheiten haben, sich ernsthaft mit der Frage der Organisation auseinanderzusetzen (die einen weiteren Text verdienen würde), haben die Probleme der Klasse sich zu organisieren, trotz der spektakulären Verbreitung von Vollversammlungen in der Bewegung der Indignados oder in der Anti-CPE-Bewegung, verschärft. Abgesehen von diesen fortgeschritteneren Beispielen, die ein zukunftsweisender Schritt bleiben, haben viele andere ähnliche Kämpfe große Schwierigkeiten gehabt, sich zu organisieren. Dies gilt insbesondere für die „Occupy“-Bewegung im Jahr 2011 oder die Bewegungen in Brasilien und der Türkei im Jahr 2013.

Das Vertrauen in die eigene Stärke als Klasse ist ein Schlüsselelement des Kampfes des Proletariats, das bisher so sehr fehlte. In den Fällen der beiden soeben erwähnten wichtigen Bewegungen erkannte sich die überwältigende Mehrheit der Teilnehmer nicht als Teil der Arbeiterklasse. Sie sahen sich selbst als „normale Bürger*innen“, was vom Standpunkt der Auswirkungen demokratischer Illusionen, aber auch angesichts der gegenwärtigen populistischen Welle sehr gefährlich ist.

Auch das Vertrauen in die Zukunft und insbesondere in die Möglichkeit einer neuen Gesellschaft fehlte, abgesehen von einigen wenigen sehr allgemeinen Einsichten oder der Fähigkeit, auf sehr embryonale Weise Fragen über den Staat, die Moral, die Kultur usw. zu stellen. Diese Überlegungen sind aus der Sicht der Zukunft sicherlich sehr interessant. Sie sind jedoch sehr begrenzt geblieben und im Allgemeinen weit unter dem Niveau der Überlegungen, das 1968 in den am weitesten entwickelten Bewegungen erreicht wurde.

Die Entwicklung des Bewusstseins und des kohärenten und einheitlichen Denkens ist eines der Elemente, das, wie in Punkt 13 der Thesen erwähnt, in dieser Phase auf enorme Hindernisse stößt. Während das Jahr 1968 durch einen bedeutenden sozialen Umwälzungsprozess unter verschiedenen Minderheiten vorbereitet wurde und danach, zumindest für eine Weile, eine Vielzahl von suchenden Elementen hervorbrachte, sollten wir feststellen, dass nur sehr wenig dieser sozialen Reifung die Bewegungen von 2006 und 2011 vorbereitet bzw. überdauert hat. Trotz des Ernstes der historischen Situation – unvergleichlich ernster als 1968 – ist keine neue Generation von revolutionären Minderheiten aufgetaucht. Dies zeigt, dass sich die traditionelle Kluft innerhalb des Proletariats – wie Rosa Luxemburg betonte – zwischen objektiver Entwicklung und subjektivem Verständnis – mit dem nicht zu unterschätzenden Phänomen des Zerfalls bedeutend verschärft hat.

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Internationale Revue 56

Bericht des 23. Internationalen Kongresses der IKS über den Klassenkampf: Bildung, Verlust und Rückeroberung der proletarischen Klassenidentität

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Die kapitalistische Gesellschaft, die sich in der Endphase ihres Niedergangs befindet, bringt eine ganze Reihe von „Identitätskrisen“ hervor. Die Atomisierung, die dem System der verallgemeinerten Warenproduktion innewohnt, erreicht neue Dimensionen, und das gilt sowohl für das gesellschaftliche Leben als Ganzes als auch für die Reaktionen auf das zunehmende Elend und die zunehmende Unterdrückung, die das System hervorruft. Einerseits werden Gruppen und Einzelpersonen, die unter besonderer Unterdrückung leiden, ermutigt, als bestimmte Gruppen dagegen zu kämpfen – als Frauen, als Schwule, als Transgender, als ethnische Minderheiten usw. –, wobei sie nicht selten direkt miteinander konkurrieren, wie bei der aktuellen Konfrontation zwischen Transgender-Aktivist*innen und bestimmten Zweigen des Feminismus. Diese Phänomene der „Identitätspolitik“ werden gleichzeitig vom linken Flügel der Bourgeoisie bis hin zu ihren angesehensten Akademiker*innen und mächtigsten politischen Kreisen (wie in der Demokratischen Partei in den USA) übernommen.

Unterdessen erhebt sich der rechte Flügel der Bourgeoisie, während er vordergründig den Aufstieg der Identitätspolitik ablehnt, zur Verteidigung seiner eigenen Form der Identitätssuche: die Suche nach den wahren Männern, die vom Gespenst des Feminismus bedroht seien, die Sehnsucht nach dem Ruhm der Weißen Rasse, die von ausländischen Horden verdrängt werde.

Die Suche nach diesen partiellen und manchmal völlig fiktiven Identitäten und Gemeinschaften ist ein Gradmesser für die Selbstentfremdung der Menschheit in einer historischen Epoche, in der eine universelle menschliche Gemeinschaft sowohl möglich als auch notwendig für das Überleben der Gattung ist. Und vor allem ist sie, wie andere Erscheinungsformen des sozialen Zerfalls, das Produkt des Verlustes der einen Identität, deren Bestätigung zur Schaffung einer solchen Gemeinschaft führen kann, auch bekannt als Kommunismus: der Klassenidentität des Proletariats. Die jüngste Bewegung der „Gelb-Westen“ in Frankreich veranschaulicht die Gefahren, die sich aus diesem Verlust der Klassenidentität ergeben: dass eine große Zahl von Arbeiter*innen, zu Recht verärgert über die ständigen Angriffe auf ihren Lebensstandard, nicht für ihre eigenen Interessen, sondern hinter den Forderungen und Handlungen anderer sozialer Klassen mobilisiert wird – in diesem Fall des Kleinbürgertums und eines Teil der Bourgeoisie selbst[1].

Die Identität des Proletariats ist wesentlich revolutionär

Die Ausbeutung der Arbeiterklasse ist der Grundstein für das gesamte Gebäude des Kapitalismus. Es ist nicht nur eine Form der Unterdrückung unter vielen, wie die Befürworter der Identitätspolitik offen oder heimlich argumentieren. Denn trotz aller Veränderungen, die der Kapitalismus in den letzten zwei Jahrhunderten durchgemacht hat, regiert der Kapitalismus weiterhin die Erde, und das, was Karl Marx 1844 über das revolutionäre Wesen des Proletariats schrieb und oft zitiert wurde, bleibt so wahr wie eh und je. Es ist eine Klasse, deren Kampf gegen den Kapitalismus die Lösung für all das „besondre Unrecht“ dieser Gesellschaft beinhaltet – eine „Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besondres Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, welche nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann, welche in keinem einseitigen Gegensatz zu den Konsequenzen, sondern in einem allseitigen Gegensatz zu den Voraussetzungen des deutschen Staatswesens steht, einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat.“[2]

In der Heiligen Familie, die er in der gleichen Zeit schrieb, erklärt Marx, dass die Arbeiterklasse ihrem Sein gemäß eine revolutionäre Klasse ist, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst ist:

„Wenn die sozialistischen Schriftsteller dem Proletariat diese weltgeschichtliche Rolle zuschreiben, so geschieht dies keineswegs, wie die kritische Kritik zu glauben vorgibt, weil sie die Proletarier für Götter halten. Vielmehr umgekehrt. Weil die Abstraktion von aller Menschlichkeit, selbst von dem Schein der Menschlichkeit, im ausgebildeten Proletariat praktisch vollendet ist, weil in den Lebensbedingungen des Proletariats alle Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft in ihrer unmenschlichsten Spitze zusammengefaßt sind, weil der Mensch in ihm sich selbst verloren, aber zugleich nicht nur das theoretische Bewußtsein dieses Verlustes gewonnen hat, sondern auch unmittelbar durch die nicht mehr abzuweisende, nicht mehr zu beschönigende, absolut gebieterische Not - den praktischen Ausdruck der Notwendigkeit - zur Empörung gegen diese Unmenschlichkeit gezwungen ist, darum kann und muß das Proletariat sich selbst befreien. Es kann sich aber nicht selbst befreien, ohne seine eigenen Lebensbedingungen aufzuheben. Es kann seine eigenen Lebensbedingungen nicht aufheben, ohne alle unmenschlichen Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft, die sich in seiner Situation zusammenfassen, aufzuheben. Es macht nicht vergebens die harte, aber stählende Schule der Arbeit durch. Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird.“[3]

Klassenidentität hat also eine objektive Grundlage, die so lange unveränderlich bleibt, wie es den Kapitalismus gibt, aber das subjektive Bewusstsein dessen, „was das Proletariat ist“, wird seit langem von der negativen Seite der proletarischen Bedingung zurückgehalten: der Tatsache, dass „der Mensch im Proletariat sich selbst verloren hat“, dass es eine Klasse ist, die unter dem vollen Gewicht der menschlichen Selbstentfremdung leidet. In späteren Werken erklärte Marx, dass die besonderen Formen der Entfremdung in der kapitalistischen Gesellschaft – der Prozess, der auch als „Verdinglichung“ bekannt ist, der Schleier der Mystifizierung, der dem universellen Warenaustausch innewohnt – es den Ausgebeuteten besonders schwer machen, das wirkliche Wesen ihrer Ausbeutung und die wahre Identität ihrer Ausbeuter zu begreifen. Und deshalb muss es ein „theoretisches Bewusstsein dieses Verlustes“ geben, und der Sozialismus muss in seinen Methoden wissenschaftlich werden.  Aber dieses theoretische Bewusstsein ist keineswegs von den realen Bedingungen der Arbeit und ihrer Revolte gegen die Unmenschlichkeit der kapitalistischen Ausbeutung getrennt.

Wenn Marx schreibt, dass sich das Proletariat  „nicht selbst befreien (kann), ohne seine eigenen Lebensbedingungen aufzuheben“, meint die so genannte „Kommunisierungs“-Strömung, dass jeder positive Bezug auf eine Klassenidentität nur reaktionär sein könne, da sie nicht mehr als eine Beschönigung dessen sei, was das Proletariat innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft ist, deshalb verlange die kommunistische Revolution die sofortige Selbstaufhebung der Arbeiterklasse. Aber damit verliert diese Strömung die dialektische Wirklichkeit einer Arbeiterklasse aus den Augen als einer Klasse, die sowohl der kapitalistischen Gesellschaft als auch nicht ihr angehört, die zugleich ausgebeutet wie auch revolutionär ist. Wir bestehen mit Marx darauf, dass das Proletariat nur dann den Weg zur wirklichen Auflösung aller Klassen und zum „völligen Neubeginn“ der Menschheit ebnen kann, wenn es sich sowohl auf der Ebene seiner wirtschaftlichen und sozialen Kämpfe wie auch als tonangebend für die politische Ausrichtung der Gesellschaft behauptet. Deshalb wird sich dieser Bericht genau auf das Problem der Klassenidentität konzentrieren: von seiner ersten Entwicklung in der aufstrebenden Phase des Kapitalismus über seinen späteren Verlust bis hin zur zukünftigen Wiederaneignung.

Die Bildung von Klassenidentität

Das Proletariat ist per Definition die Klasse der Besitzlosigkeit. Es formte sich nach der Enteignung der Bauern von ihren kleinen Grundstücken oder der Handwerker von ihren Produktionsmitteln; die Enteigneten wurden in die verseuchten Elendsviertel der frühen Industriegesellschaft getrieben. Engels schreibt in Die Lage der arbeitenden Klasse in England über all die demoralisierenden Auswirkungen dieses Prozesses, der zahlreiche Proletarier in Alkoholsucht und Kriminalität führte und sie dem brutalsten Wettbewerb untereinander aussetzte. Aber Engels lehnte jede moralisierende Verurteilung dieser rein individuellen Reaktionen auf ihren Zustand ab und verwies auf die Alternative, die sich bereits abzeichnete: den kollektiven Kampf der Arbeiter für die Verbesserung ihres Zustands durch die Gründung von Gewerkschaften, Bildungs- und Kulturvereinen und politischen Parteien wie den Chartisten - all dies letztlich inspiriert von der Vision einer höheren Gesellschaftsform. Die physische Zusammenführung der Arbeiter in den Städten und Fabriken war die objektive Voraussetzung für diesen Kampf. Dies ist eine Dimension der Arbeitsvereinigung, die die relative Isolation von Handwerkern und Bauern überwindet; aber als rein „soziologischer“ Prozess war die Maschinerie der frühen Industrialisierung so brutal und traumatisch, dass sie auch zur Produktion einer gleichgültigen Masse von Armen und sogar zum Aussterben des Proletariats durch Hunger und Krankheit hätte führen können. Es war die Anerkennung eines gemeinsamen Klasseninteresses, im Gegensatz zu dem der Bourgeoisie, das die eigentliche Grundlage für die ursprüngliche Klassenidentität des Proletariats war. Die „Organisation der Proletarier zur Klasse“, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, war also untrennbar mit dem Wachstum des Klassenbewusstseins und der Organisation verbunden: „und damit zur politischen Partei“, wie es weiter fährt. Die Arbeiterklasse ist nicht nur eine assoziierte Klasse „an sich“, nicht nur objektiv: Assoziation als Voraussetzung für eine höhere Form der sozialen Organisation entsteht erst, wenn die subjektive Dimension, die Selbstorganisation und Vereinigung der Klasse im Kampf gegen Ausbeutung, aus ihrer Stellung im kapitalistischen Gesellschaftsverhältnis heraus entsteht.

Aber das Proletariat bleibt die Klasse der Besitzlosigkeit, und das galt schließlich für seine Instrumente selbst, die es zu seiner eigenen Verteidigung geschaffen hatte. Die ersten Gewerkschaften und politischen Parteien, die eigentlich auf dem Verständnis beruhten, dass das Proletariat keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft war, und das Projekt der Aufhebung der bestehenden Ordnung verfolgten, waren auch an die Notwendigkeit gebunden, dass die Klasse ihr Los innerhalb des Systems verbessern musste. Und entgegen den ersten Erwartungen der Gründer des Marxismus war dieses System noch weit entfernt von einer „finalen Krise“ oder Periode des Niedergangs, so dass je länger und umfangreicher das Proletariat seine Organisationen innerhalb des Rahmens der kapitalistischen Gesellschaft schmiedete, desto größerer wurde die Gefahr, dass diese Organisationen Teil der bürgerlichen Gesellschaft – institutionalisiert werden. Wie Engels es 1892 formulierte: „Die Trades Unions, vor kurzem noch als Teufelswerk verrufen, wurden jetzt von den Fabrikanten kajoliert und protegiert als äußerst wohlberechtigte Einrichtungen und als ein nützliches Mittel, gesunde ökonomische Lehren unter den Arbeitern zu verbreiten.“[4] Im Rückblick und nach bitterer historischer Erfahrung wissen wir, dass der Weg zur Revolution nicht über den schrittweisen Aufbau von Massenorganisationen der Arbeiter*innen innerhalb des Systems führt. Im Gegenteil, als die eigentliche Probe mit dem Beginn der Dekadenz bevorstand, wurden diese Organisationen, die durch die herrschende Gesellschaft und Ideologie langsam, aber sicher korrumpiert worden waren, von der herrschenden Klasse endgültig übernommen, um ihr bei der Führung ihrer imperialistischen Kriege und der Bekämpfung der Revolution zu helfen.

Dies war keineswegs ein linearer Prozess. Das Proletariat wurde ständig daran erinnert, dass es im Wesentlichen eine gesetzlose Klasse war – eine Kraft für die Revolution. Seine ersten Bemühungen, elementarste Vereinigungen zu seiner Verteidigung zu bilden, wurden von der Bourgeoisie schonungslos unterdrückt, die lange Zeit brauchte, um zu verstehen, dass sie die eigenen Organisationen der Arbeiter*innen gegen sie einsetzen konnte. Darüber hinaus drängten die politischen Bedingungen in Europa Mitte des 19. Jahrhunderts das Proletariat in mindestens zwei wichtigen historischen Momenten zu offenen Aufständen gegen die herrschende Klasse: 1848 und 1871. In Frankreich, wo die Revolution nach der Erfahrung von 1789-93 bereits heimisch war, nahm die Arbeiterklasse die Waffen gegen den Staat in die Hand und stellte insbesondere 1871 konkret die Aufgabe seiner Zerstörung und der Ersetzung durch die Diktatur des Proletariats. Aber Klassenbewegungen, die auf eine revolutionäre Zukunft hindeuteten, waren nicht auf Frankreich beschränkt: In England, dem Land der „graduellen Veränderungen“, enthüllte die Streikbewegung von 1842 bereits die Konturen des Massenstreiks, der in einer späteren Epoche zur charakteristischen Kampfmethode werden sollte[5]. Die Chartistenbewegung selbst verstand ihre Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht als eine Forderung, dass die Arbeiterklasse die politische Macht in die eigenen Hände nehmen sollte, und ihre Methoden beschränkten sich nicht auf Petitionen an die Bourgeoisie: Sie führten auch zu einem Flügel der „physischen Gewalt“, der 1839 während des Aufstandes in Newport nicht zögerte, sich gegen das bestehende Regime zu bewaffnen[6]. Die Gründung der Ersten Internationale 1864, obwohl sie ihren Ursprung in der Notwendigkeit der internationalen Koordination von Abwehrkämpfen hatte, war ein weiterer Beleg dafür, dass die Arbeiterklasse mit den Fundamenten der bürgerlichen Gesellschaft zusammen stieß – dass eine wirklich selbstbewusste Klassenidentität nicht in den Rahmen des Nationalstaats gezwängt werden konnte.   

Die Angst, die die Internationale und die Pariser Kommune in den Herzen der Bourgeoisie weckten, sowie die objektiven Bedingungen der kapitalistischen Expansion auf den ganzen Planeten in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten die Grundlage für die spätere Integration der Massenarbeiterorganisationen in die bürgerliche Gesellschaft und schließlich in den Staatsapparat selbst. Zu diesen Faktoren kommen die Verwirrungen und opportunistischen Zugeständnisse hinzu, die innerhalb der proletarischen Bewegung selbst entstanden sind, nicht zuletzt die Identifikation des Proletariats mit dem nationalen Interesse, die die Zweite Internationale mit ihrer föderalen Struktur und ihren Schwierigkeiten, die Entwicklung der nationalen Frage zu verstehen, nie überwinden konnte. Aber das Gefühl einer Klassenidentität, das während der langen Zeit der Sozialdemokratie entstand, einer Zeit, in der die organisierte Arbeiterbewegung einem großen Teil der Arbeiter*innen nicht nur Organe zur wirtschaftlichen Verteidigung und zur politischen Betätigung, sondern ein ganzes soziales und kulturelles Leben zur Verfügung stellte, verschwand keineswegs mit dem Anbruch der Epoche des kapitalistischen Niedergangs. Im Gegenteil, verwandelt in eine gegen das Proletariat gerichtete Mystifikation, lastete es „wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“ und wurde insbesondere von den sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien übernommen, um ihre Kontrolle über die Arbeiterklasse zu behalten: „Klassenidentität ist die Anerkennung durch das Proletariat, dass es eine eigenständige Klasse in der Gesellschaft darstellt, der Bourgeoisie gegenüber steht und eine aktive Rolle in der Gesellschaft spielt. Dies bedeutet jedoch nicht mechanisch, dass es sich selbst als die revolutionäre Klasse in der Gesellschaft erkennt. Viele Jahre lang stand die Klassenidentität im Zeichen der Vorstellung einer Klasse der kapitalistischen Gesellschaft, die einen angemessenen Lebensstandard anstrebte und Anerkennung als gesellschaftliche Kraft genoss.

Diese Art der Identität wurde durch die Konterrevolution und insbesondere durch die Gewerkschaften und den Stalinismus geschaffen, indem sie sich auf bestimmte Schwächen stützten, die auf die Zeit der Zweiten Internationale zurückgehen: ein Arbeiter, der sich um seine Rechte in der Gesellschaft kümmert, von ihr anerkannt wird, mit den Großunternehmen und Arbeitervierteln verbunden ist, stolz auf seinen Zustand als „Arbeiterbürger“ ist und zum Universum der großen Arbeiterfamilie gehört.

Eine solche Identität war sehr stark mit einer bestimmten Periode verbunden: der des Zenits des Kapitalismus (1870-1914), aber ihre Verlängerung in die Zeit der Dekadenz, in der die von Marx angekündigte Vision eines Proletariats, das zutiefst von der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen ist, dazu geführt hat, dass sie zu einer sehr gefährlichen falschen Identität geworden ist, voller Illusionen darüber, in die kapitalistische Gesellschaft integriert zu werden, sich ihr anzupassen, wodurch eine wirkliche Klassenidentität und ein wirkliches Bewusstsein angegriffen wurden. Die einzige mögliche Identität für das Proletariat ist die einer Klasse, die von dieser Gesellschaft ausgeschlossen ist und die die kommunistische Perspektive in sich trägt“[7].

Hauptstufen der Entfremdung von der Klassenidentität im Zeitalter der Dekadenz

Ein Text über das Krafteverhältnis zwischen den Klassen, den unser internationales Zentralorgan im April 2018 angenommen hat und der sich auf den Orientierungstext über Vertrauen und Solidarität[8] bezog, skizzierte zwei Phasen in der Geschichte der Arbeiterbewegung seit 1848. Im Mittelpunkt stehen die Entwicklung und der Verlust des Selbstbewusstseins der Arbeiterklasse, aber diese Frage ist sehr eng mit dem Problem der Klassenidentität verbunden: Die Arbeiterklasse kann nur dann Vertrauen in sich selbst haben, wenn sie sich ihrer eigenen Existenz und Interessen bewusst ist.

„Während der ersten Phase, die vom Beginn seiner Selbstbehauptung als autonome Klasse bis zur revolutionären Welle 1917–23 reichte, war die Arbeiterklasse trotz einer Reihe von oftmals blutigen Niederlagen in der Lage, mehr oder weniger kontinuierlich ihr Selbstvertrauen und ihre politische und gesellschaftliche Einheit zu formen. Die wichtigsten Manifestationen dieser Fähigkeit waren, in Ergänzung zum Arbeiterkampf selbst, die Entwicklung einer sozialistischen Vision, einer theoretischen Kapazität, einer politischen revolutionären Organisation. All dies, das Werk von Jahrzehnten und Generationen, wurde von der Konterrevolution unterbrochen und gar in sein Gegenteil verkehrt. Nur winzige revolutionäre Minderheiten waren imstande, ihr Vertrauen in das Proletariat in den folgenden Jahrzehnten aufrechtzuerhalten. 1968, mit dem Ende der Konterrevolution, begann sich diese Tendenz erneut umzukehren. Jedoch blieben die neuen Ausdrücke des Selbstvertrauens und der Klassensolidarität durch diese neue und ungeschlagene proletarische Generation in den immediatistischen Kämpfen verwurzelt. Sie beruhten nicht im gleichen Maße wie vor der Konterrevolution auf eine sozialistische Vision, auf die politische Erschaffung einer Klassentheorie und auf das Weiterreichen angesammelter Erfahrung und Kenntnisse von einer Generation an die nächste. Mit anderen Worten, das historische Selbstvertrauen des Proletariats und seine Traditionen der aktiven Einheit und kollektiven Auseinandersetzung gehören zu den Aspekten seiner Auseinandersetzung, die am meisten durch den Bruch in der organischen Kontinuität gelitten haben. Zudem gehören sie zu den schwierigsten Aspekten, die es wiederherzustellen gilt, da sie mehr als viele andere von einer lebenden politischen und sozialen Kontinuität abhängen. Dies erhöht umgekehrt die besondere Verwundbarkeit der neuen Generationen der Klasse und ihrer revolutionären Minderheiten.“

Wir können hinzufügen, dass der große Verrat von 1914-18 schon vor dem erschütternden Schlag der Niederlage der ersten revolutionären Welle den Verlust jahrzehntelanger geduldiger Arbeit beim Aufbau ihrer Gewerkschaften und politischen Parteien bedeutete, ein Verlust, der für die Arbeiterklasse besonders schwer zu akzeptieren und zu verstehen war: Selbst unter den Revolutionären, die sich diesem Verrat widersetzten, konnte nur eine Minderheit begreifen, dass diese Organisationen für die Klasse unwiederbringlich verloren gegangen waren. Mit dem Aufstieg des Stalinismus wurde das, was bislang bloß eine Schwäche in der Klarheit gewesen war, zur Grundlage für die Bildung einer Schein-Identität, wie es der Bericht über die Perspektiven des Klassenkampfs nachzeichnete. Aber obwohl diese schreckliche Last, die aus der Vergangenheit stammt, katastrophale Auswirkungen auf den Fortschritt der revolutionären Welle hatte – was insbesondere in der Theorie und der Praxis der Einheitsfront zum Ausdruck kam  –, warf diese Periode auch Licht auf die neue Form der Klassenidentität, die sich im Massenstreik, in der Bildung von Arbeiterräten und im Aufstieg der Dritten Internationale ausdrückte. Wie Marx bereits gesagt hatte, ist das Proletariat revolutionär oder es ist nichts: Diese wiederentdeckte Klassenidentität war nicht wirklich „neu“, sondern brachte nur das zum Vorschein, „was das Proletariat ist“. In der Epoche der Kriege und Revolutionen kann die Klasse ihre Identität nur begreifen, indem sie sich außerhalb aller bestehenden Institutionen und in direkter Antithese zur kapitalistischen Gesellschaft organisiert.

Die folgenden Jahrzehnte der Konterrevolution vertieften diesen Prozess der Enteignung. In den 1930er Jahren wurde das Proletariat mit der größten Wirtschaftskrise in der Geschichte des Kapitalismus konfrontiert, der ersten realen Wirtschaftskrise der Dekadenz. Aber die Kommunistischen Parteien, die gegründet worden waren, um dem Verrat von 1914 entgegenzuwirken, hatten ihrerseits den Internationalismus zugunsten der berüchtigten Theorie des Sozialismus in einem Land aufgegeben und versuchten über die Volksfront, die Arbeiterklasse politisch in die Nation aufzulösen und sie auf den Krieg vorzubereiten. Sogar die anarchistischen Gewerkschaften, die in Spanien ein proletarisches Leben aufrecht erhalten hatten, verfielen diesem weiteren Verrat. Der Ausbruch des Krieges 1939 bedeutete entgegen Vercesis Argument nicht das „soziale Verschwinden des Proletariats“ und damit die Nutzlosigkeit organisierter politischer Aktivitäten für Revolutionäre. Das Proletariat kann sozial nicht verschwinden, solange es Kapital gibt, und die Bildung revolutionärer Minderheiten entspricht einem ständigen Bedürfnis innerhalb der Klasse. Aber er bedeutete sicherlich einen neuen Schritt in ihrer Orientierungslosigkeit, nicht nur wegen des Terrors von Faschismus und Stalinismus, sondern, noch heimtückischer, durch ihre Einbindung in das Projekt der Verteidigung der Demokratie. Und es beinhaltete die schnelle Integration der trotzkistischen Opposition in die Kriegsanstrengungen und die Auflösung ihrer linken Fraktionen. Das Proletariat meldete sich gegen Ende des Krieges in einigen Ländern zurück, vor allem in Italien 1943, aber entgegen den Erwartungen eines großen Teils der italienischen kommunistischen Linken (einschließlich Vercesi) bedeutete dies keine Umkehrung des konterrevolutionären Kurses.

Die Konterrevolution, die immer totalitärere Formen annahm, hielt auch in der Zeit des Aufschwungs nach dem Krieg an, während das Kapital neue Formen entdeckte, um das Selbst-Bewusstsein des Proletariats zu untergraben. Dies war die Zeit, in der „Soziologen mit der Theoretisierung der ‚Verbürgerlichung‘ der Arbeiterklasse begannen, die sie als Folge der Entwicklung von Konsumgesellschaft und Wohlfahrtsstaat sahen. Und in der Tat bremsen diese beiden Aspekte des Kapitalismus nach 1945 immer noch die Arbeiterklasse auf ihrem Weg zur Bildung einer revolutionäre Kraft.  Die Konsumgesellschaft atomisiert die Arbeiterklasse und verbreitet die Illusion, dass jede*r ins Paradies des individuellen Besitzes eintreten könne.  Der Wohlfahrtsstaat – der in manchen Fällen von linken Parteien eingeführt und als Eroberung der Arbeiterklasse dargestellt wurde – ist ein noch bedeutenderes Instrument der kapitalistischen Kontrolle. Er untergräbt das Selbstvertrauen der Arbeiterklasse und macht sie abhängig vom Wohlwollen des Staates; und später, in der Phase der Massenmigration, bedeutete deren Organisierung durch den Nationalstaat, dass die Frage des Zugangs zu medizinischer Versorgung, zu Wohnungen und anderen Dienstleistungen zu einem starken Faktor bei der Stempelung der Migrant*innen zu Sündenböcken und bei Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse wurde.“[9]

Die Wiederbelebung des Klassenkampfes nach 1968, der mit dem Massenstreik in Polen 1980 seinen Höhepunkt erreichte, widerlegte die Vorstellung, wonach die Arbeiterklasse in den Kapitalismus integriert worden sei, und gab uns einen weiteren Einblick in ihre wesentliche Identität als einer Kraft, die sich nur durch die Zerschlagung ihrer institutionellen Ketten ausdrücken kann. Wildcat-Streiks außerhalb der Gewerkschaften, Generalversammlungen und jederzeit abwählbare Streikkomitees, starke Tendenzen zur Ausweitung des Kampfes – Embryonen oder tatsächliche Erscheinungsformen des Massenstreiks – riefen die Perspektive der Arbeiterräte wach. Gleichzeitig bildete sie den Nährboden für eine kleine, aber wichtige Wiederbelebung der internationalen kommunistischen Bewegung, die in den 1950er Jahren beinahe ganz verschwunden war – eine wesentliche Voraussetzung für die zukünftige Gründung einer neuen Weltpartei.

Und doch gilt, wie die oben zitierte Passage aus dem Orientierungstext über Vertrauen und Solidarität argumentiert: Während der Mai 68 und die nachfolgenden Bewegungen die Frage nach einer neuen Gesellschaft auf theoretischer Ebene aufwarfen, blieb der Klassenkampf als Ganzes auf dem wirtschaftlichen Terrain und es gelang ihm nicht, in eine politische Konfrontation mit dem Kapitalismus hinüberzuwachsen. Die Grenzen des proletarischen Wiedererwachens enthielten die Samen der neuen Phase des Zerfalls, in der das Proletariat nahe an den Punkt gekommen ist, wo es seine Klassenidentität ganz verliert.

Klassenidentität in der Phase des Zerfalls

Um zu verstehen, warum sich das Selbst-Bewusstsein des Proletariats als soziale Kraft seit Ende der 1980er Jahre zurückzieht, ist es notwendig, seine verschiedenen Dimensionen getrennt zu untersuchen, um zu begreifen, wie sie zusammenwirken.

Zunächst einmal neigt eine kapitalistische Gesellschaft, deren Voraussetzungen fragwürdig werden, eine Gesellschaft in offener Auflösung, eine Gesellschaft, die schon jahrzehntelang im Niedergang begriffen und in ihrer weiteren Entwicklung blockiert ist, mehr oder weniger automatisch dazu, die soziale Atomisierung zu verschärfen, die von Anfang an ein wesentliches Merkmal dieser Gesellschaft war, wie Engels in Die Lage der arbeitenden Klasse in England festhielt:

„(...) und wenn wir auch wissen, daß diese Isolierung des einzelnen, diese bornierte Selbstsucht überall das Grundprinzip unserer heutigen Gesellschaft ist, so tritt sie doch nirgends so schamlos unverhüllt, so selbstbewußt auf als gerade hier in dem Gewühl der großen Stadt. Die Auflösung der Menschheit in Monaden, deren jede ein apartes Lebensprinzip und einen aparten Zweck hat, die Welt der Atome ist hier auf ihre höchste Spitze getrieben.“[10]

In der Endphase dieser Gesellschaft verschärft sich der Krieg eines jeden gegen jeden auf allen Ebenen: von der zunehmenden Entfremdung des Einzelnen über den gewaltsamen Konkurrenzkampf zwischen Straßenbanden, die auf der Ebene dieser oder jener Wohnsiedlung oder Nachbarschaft operieren, über den rasenden Kampf zwischen Unternehmen um ihren Anteil an einem begrenzten Markt bis hin zum wachsenden Chaos der militärischen Rivalitäten zwischen Staaten und Protostaaten auf internationaler Ebene. Diese Tendenz liegt auch der Suche nach Gemeinschaften zugrunde, die auf einer beschränkten Identität beruhen, auf die wir bereits hingewiesen haben – ein Reflex gegen die Atomisierung, der aber nur dazu dient, sie auf einer anderen Ebene zu verstärken. Diese Auflösung der sozialen Bindungen schreitet dauernd und heimtückisch fort – in umgekehrter Richtung zum Potenzial für die Vereinigung der Arbeiterklasse um ihre gemeinsamen Interessen, mit anderen Worten: zur Neubildung der proletarischen Klassenidentität.

Die Bourgeoisie ist natürlich direkt von diesem Prozess betroffen – wie wir in Bezug auf ihre Fähigkeit zur Kontrolle ihres politischen Apparats und in Bezug auf die wachsende Schwierigkeit, stabile Allianzen auf der Ebene der Beziehungen zwischen den Staaten aufrechtzuerhalten, festgestellt haben. Aber im Gegensatz zur Arbeiterklasse kann die Bourgeoisie die Auswirkungen des Zerfalls bis zu einem gewissen Grad zu ihrem Vorteil nutzen und sogar verstärken. Der Zusammenbruch des Ostblocks zum Beispiel war ein Paradebeispiel für die „objektiven“ Zerfallsprozesse, die durch eine sich vertiefende und unlösbare Wirtschaftskrise angetrieben wurden. Aber aufgrund der besonderen historischen Umstände, die mit der Bildung dieses Blocks verbunden waren – das Ergebnis einer besiegten proletarischen Revolution, die zu einem System führte, das sich vom Kapitalismus des Westens abzuheben schien –, gelang es der Bourgeoisie, aus diesen Ereignissen einen wahrhaften ideologischen Ansturm gegen das Proletariat zu orchestrieren, einen Angriff auf das Klassenbewusstsein, der seit den 90er Jahren eine wichtige Rolle beim Rückfluss des Kampfes spielte. In einer Arbeiterklasse, die bereits in den Kampfwellen nach 68 große Schwierigkeiten hatte, eine Perspektive für ihren Widerstand zu entwickeln, griffen die Kampagnen über den „Tod des Kommunismus“ diese wesentliche Dimension des Klassenbewusstseins frontal an: ihre Fähigkeit, perspektivisch zu denken und sich eine Orientierung für die Zukunft zu geben. Aber diese Kampagnen hörten damit nicht auf: Sie verkündeten nicht nur das Ende jeder Möglichkeit einer Alternative zum Kapitalismus, sondern auch das Ende des Klassenkampfes und der Arbeiterklasse selbst. Dabei war sich die Bourgeoisie selbst der Notwendigkeit bewusst, die Klassenidentität als Mittel zur Bekämpfung der Bedrohung durch die proletarische Revolution zu untergraben.

Eine dritte Dimension der Untergrabung der Klassenidentität in der Zeit des Zerfalls hängt damit zusammen: Das Beharren darauf, dass die Arbeiterklasse eine bedrohte oder ausgestorbene Art sei, wird durch die strukturellen Veränderungen gestützt, zu deren Einführung die herrschende Klasse als Reaktion auf die Wirtschaftskrise ihres Systems verpflichtet war – alles, was unter die irreführenden Titel Neoliberalismus und Globalisierung fällt, vor allem aber der Prozess der „Deindustrialisierung“ der alten kapitalistischen Zentren. Dieser Prozess wurde natürlich von der Notwendigkeit bestimmt, unrentable Industrien aufzugeben und Kapital in Gebiete der Welt zu verlagern, in denen die gleichen Waren viel billiger produziert werden können. Aber es gab immer ein direktes arbeiterfeindliches Element in diesem Prozess: Die Bourgeoisie war sich zum Beispiel bewusst, dass sie sich mit dem Sieg über die Bergleute in Großbritannien und der Schließung der Minen nicht nur von einem großen wirtschaftlichen Klotz am Fuß befreien, sondern auch einen schweren Schlag gegen einen sehr kämpferischen Teil ihres Klassenfeindes ausführen würde. Natürlich schaffte die Bourgeoisie durch die Verlagerung ganzer Industrien in den Fernen Osten und anderswo neue proletarische Bataillone im Klassenkrieg, aber sie hatte auch ein gewisse Ahnung davon, dass die industrielle Arbeiterklasse der wichtigsten kapitalistischen Zentren eine besondere Gefahr für sie darstellte. Die Arbeiterklasse beschränkt sich nicht allein auf das Industrieproletariat, aber dieser Sektor war schon immer das Herzstück der Arbeiterbewegung und insbesondere der massiven und revolutionären Kämpfe der Vergangenheit – was sich zum Beispiel in der Rolle der Putilow-Werke in der Russischen Revolution, der Arbeiter des Ruhrgebiets in der Deutschen Revolution, der Renault-Arbeiter im französischen Massenstreik von 1968 und der Werftarbeiter in Polen im Jahr 1980 zeigte.

Neben der Schließung vieler dieser alten Industrien hat der Kapitalismus versucht, ein neues Modell der Arbeiterklasse zu schaffen, insbesondere in den Dienstleistungsbranchen, die in den älteren kapitalistischen Ländern wie Großbritannien ein größeres Gewicht im Wirtschaftsleben erhielten. Dieses Modell ist die so genannte „Gig Economy“, in der die Arbeiter*innen aufgefordert werden, sich nicht als Arbeiter*innen zu verstehen, sondern als Einzelunternehmer*innen, die, wenn sie hart genug arbeiten, vorwärts kommen können, die mit dem Unternehmen individuell verhandeln können, um ihre Löhne und sonstigen Bedingungen zu verbessern. Auch diese Veränderungen werden letztendlich von den Bedürfnissen des Profits diktiert, aber sie werden auch von der Bourgeoisie aufgegriffen, um zu verhindern, dass sich die Arbeiter*innen als Arbeiter*innen und als Teil einer ausgebeuteten Klasse sehen.

6. Populismus und Anti-Populismus

Seit unserem letzten Kongress im April 2017 hat sich der populistische Aufschwung fortgesetzt, trotz der Bemühungen der maßgebenden Fraktionen der Bourgeoisie, einen Damm gegen ihn zu errichten, wie bei der Wahl von Macron in Frankreich und dem von der Demokratischen Partei und einem Teil der staatlichen Sicherheitsdienste in den USA organisierten „Widerstand“ gegen Trump. Die Zuverlässigkeit Deutschlands als Hindernis für die Ausbreitung des Populismus wurde durch die Wahlerfolge  der AfD und die Entwicklung einer pogromistischen Bewegung auf der Straße an Orten wie Chemnitz stark geschwächt. Die Spaltung und Beinahe-Lähmung der britischen Bourgeoisie bezüglich Brexit haben sich verstärkt. Die Einsetzung einer populistischen Regierung in Italien zusammen mit der Opposition populistischer Regierungen in Osteuropa haben die Zukunft der EU ernsthaft erschwert. Die Bedrohung der Einheit des spanischen Staates durch die Kräfte des katalanischen und anderer Nationalismen ist nicht überwunden. In Brasilien ist der Sieg von Bolsanaro ein neuer Schritt im Aufstieg der „starken Führer“, die sich offen für Staatsterror gegen jede Opposition gegen ihre Herrschaft einsetzen. Schließlich zeigt das Phänomen der „Gelben Westen“ in Frankreich und anderswo die Fähigkeit der Populisten, sich nicht nur im Wahlzirkus, sondern auch auf den Straßen in großen Demonstrationen zu manifestieren, die einige der Anliegen und sogar die Methoden der Arbeiterklasse aufgreifen können, während sie gleichzeitig die Bedeutung der Klassenidentität weiter vernebeln.

Der Populismus mit seiner aggressiv nationalistischen und fremdenfeindlichen Sprache, seiner Geringschätzung für sachliche Beweise und wissenschaftliche Forschung, seiner Verbreitung von Verschwörungstheorien und seiner kaum verborgenen Nähe zur nackten Gewalt faschistischer Straßenbanden ist zweifellos ein reines Produkt des Zerfalls, der Hinweis darauf, dass die Kapitalistenklasse angesichts des historischen Patts zwischen den Klassen sogar nach ihren eigenen Begriffen Rückschritte macht. Aber während der Populismus ein Produkt des sozialen Zerfalls ist und dazu neigt, die Kontrolle der Bourgeoisie über ihren gesamten politischen und wirtschaftlichen Apparat zu untergraben, kann die herrschende Klasse auch hier die Probleme des Populismus in ihrem dauerndem Krieg gegen das Klassenbewusstsein nutzen.

Dies zeigt sich bei Teilen des Proletariats, die, ohne jede Perspektive auf Klassenwiderstand gegen den Kapitalismus und die Auswirkungen seiner Krise, direkt in die populistische Politik hineingezogen wurden und in eine neue Version des „Sozialismus der Narren“ verfallen sind: die Idee, dass ihr Elend durch die wachsende Flut von Migranten und Flüchtlingen verursacht werde, die wiederum die Schocktruppen finsterer Eliten seien, die darauf abzielten, die christliche, weiße oder nationale Kultur zu untergraben. Diese Wahnvorstellungen verbinden sich mit der bedingungslosen Unterstützung der populistischen Parteien und Demagogen, die sich als „gegen die Elite“ gerichtete Kräfte, als Tribüne des „wahren Volkes“ präsentieren. Der Einfluss solcher Ideen – die auch eine bedeutende Minderheit in Richtung der Praxis des Pogroms und des Terrorismus führen können – wirkt eindeutig dagegen, dass diese Teile des Proletariats ihre wahre Identität als Teil einer ausgebeuteten Klasse wiedererlangen, als Teil der Klasse, die nicht durch antinationale Intrigen ins Elend gedrängt wurde, sondern durch die unerbittlichen Auswirkungen der globalen kapitalistischen Krise.

Aber eingedenk Bordigas berühmten Diktums, dass „das schlimmste Produkt des Faschismus der Antifaschismus ist“, müssen wir auch darauf hinweisen, dass die bürgerliche Opposition gegen den Populismus eine nicht minder wichtige Rolle in dem ideologischen Schwindel spielt, der das Proletariat daran hindert, seine unabhängigen und antagonistischen Klasseninteressen gegen alle Flügel der herrschenden Klasse anzuerkennen. Luxemburg schrieb auf den ersten Seiten ihrer Junius-Broschüre über die Pogromstimmung, die sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs in Deutschland ausbreitete, eine „Kischinjow-Luft“, „in der der Schutzmann an der Ecke der einzige  Vertreter der Menschenwürde war“. 

In den USA wird das gleiche Erscheinungsbild durch die ungeheuren Äußerungen und Praktiken von Trump geschaffen, so dass die Demokraten, liberale Republikaner, Richter am Obersten Gerichtshof und sogar das FBI und die CIA beginnen, wie die Guten auszusehen. In Großbritannien stimuliert die scheinbare Dominanz des politischen Lebens durch eine kleine Bande von „Brexit-Extremisten“, die wiederum mit Geld zweifelhafter Herkunft und sogar mit den Machenschaften des russischen Imperialismus verbunden ist, die Entwicklung einer Massen-Opposition gegen den Brexit, die mit der offenen Ermutigung von Teilen der Medien bis zu 750.000 Menschen auf den Straßen von London mobilisieren kann, um ein zweites Referendum zu fordern. Obwohl solche Mobilisierungen oft als brave Mittelstandsbewegung verspottet werden, ziehen sie zweifellos eine große Zahl dieses gebildeten städtischen Proletariats an, das durch die Lügen der Populisten verärgert ist, sich aber noch nicht von den liberalen und linken Fraktionen der Bourgeoisie lösen kann.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die gesamte politische Debatte wird in der Regel durch die Fragen von für oder gegen Trump, für oder gegen den Brexit usw. dominiert, eine Debatte, die von patriotischen und demokratischen Ideologien völlig beherrscht wird. Die bürgerliche Opposition gegen Trump stellt sich als das wirkliche, eigentliche Amerika dar, noch mehr als Trump und seine Anhänger, und sie verurteilt die gegenwärtige Regierung vor allem wegen ihrer Verletzung demokratischer Normen; ebenso geht es im Vereinigten Königreich immer um die wahren Interessen „unseres Landes“, und beide Seiten präsentieren sich als diejenige, die an Demokratie und dem Willen des Volkes interessiert sei.  Dieselbe Polarisierung lässt sich in den „Kulturkriegen“ beobachten, die den Aufstieg des Populismus vorangetrieben haben: Wie wir bereits erwähnt haben, ist der Populismus selbst eine Form der Identitätspolitik, die sich als Verteidiger der ausschließlichen Interessen dieser oder jener Nation oder ethnischen Gruppe versteht, und er führt einen sich aufschaukelnden Kampf mit allen anderen Formen der Identitätspolitik, sei es mit den islamistischen Banden, die dazu dienen, die Wut einer bestimmten Schicht von hoffnungslosen jungen Proletarier*innen, die in städtischen Ghettos festsitzen, in die Irre zu lenken, oder sei es mit der Linken und ihren Kampagnen zu Rassen- und Geschlechterfragen. Diese Polarisierung ist ein echter Ausdruck einer zerfallenden und zunehmend gespaltenen Gesellschaft, aber angesichts des Proletariats zeigt der dekadente Kapitalismus seinen totalitären Charakter, insofern als gerade diese Polarisierung das soziale und politische Terrain einnimmt und dazu neigt, die Entstehung von Debatten oder Aktionen auf dem Terrain des Proletariats zu blockieren.

Die Gefahr des Nihilismus und das Potenzial für eine Wiederentdeckung der Klassenidentität

Die kapitalistische Welt in ihrem Zerfall erzeugt zwangsläufig apokalyptische Stimmungen. Sie kann der Menschheit keine Zukunft bieten, und ihr Potenzial für die Zerstörung in einem Ausmaß, das jede Phantasie übertrifft, ist für weite Teile der Weltbevölkerung immer offensichtlicher geworden. Die extremste Ausprägung dieses Gefühls, dass die Welt, in der wir leben, an ihr Ende gelangt sei, , drückt sich in der verzerrten Mythologie des islamischen Dschihadismus oder der rechtsgerichteten christlichen Überlebensideologie aus, aber es geht dabei um eine viel allgemeinere Stimmung. Zunehmend beunruhigende Berichte von wissenschaftlichen Gremien über Klimawandel, Artenzerstörung und toxische Verschmutzung aller Art haben das Gefühl des Untergangs verstärkt: Wenn die Wissenschaftler sagen, dass wir 12 Jahre Zeit haben, um eine Umweltkatastrophe zu verhindern, dann ist bereits jetzt klar, dass die Regierungen und Unternehmen der Welt fast nichts tun werden, um die in diesen Berichten befürworteten Maßnahmen durchzuführen, aus Angst, den Wettbewerbsvorteil der Volkswirtschaften zu schwächen. Mit dem Aufkommen populistischer Regierungen wird die Weigerung, etwas gegen die Klimaerwärmung zu tun, trotz der realen Gefahren für die Welt immer krasser; man setzt auf reinen Vandalismus, den Rückzug aus internationalen Abkommen und die Beseitigung aller Grenzen der Ausbeutung der Natur, wie im Falle von Trump in den USA und Bolsanaro in Brasilien. Hinzu kommt, dass der imperialistische Krieg chaotischer und unberechenbarer wird, während eine wachsende Zahl von Staaten Zugang zu Atomwaffen hat; so ist es kaum verwunderlich, dass Nihilismus und Verzweiflung noch weiter verbreitet sind als in der Zeit des Zweiten Weltkriegs, trotz der nicht verblichenen Schatten von Auschwitz, Hiroshima und eines drohenden Atomkriegs zwischen den beiden imperialistischen Blöcken.

Nihilismus und Verzweiflung entstehen aus einem Gefühl der Machtlosigkeit, aus einem Verlust der Überzeugung, dass es eine mögliche Alternative zu dem vom Kapitalismus vorbereiteten Alptraumszenario gibt. Nihilismus und Verzweiflung neigen dazu, die Reflexion und den Willen zum Handeln zu lähmen. Und wenn die einzige soziale Kraft, die diese Alternative darstellen könnte, praktisch nichts von ihrer eigenen Existenz weiß, bedeutet das, dass das Spiel vorbei ist, dass der Punkt, ab welchem es kein Zurück mehr gibt, bereits erreicht ist?

Wir sind uns durchaus bewusst, dass der Kapitalismus umso mehr die Grundlage für eine menschlichere Gesellschaft untergräbt, je länger er im Zerfall versinkt. Auch dies wird am deutlichsten durch die Zerstörung der Umwelt veranschaulicht, die den Punkt erreicht, an dem sie die Tendenz zu einem vollständigen Zusammenbruch der Gesellschaft beschleunigen kann, ein Sachverhalt, der nicht die Selbstorganisation und das Vertrauen in die Zukunft begünstigt, die für die Durchführung der Revolution erforderlich sind; und selbst wenn das Proletariat auf dem ganzen Planeten an die Macht kommt, wird es mit einer gigantischen Arbeit konfrontiert sein, die nicht nur das von der kapitalistischen Akkumulation hinterlassene Chaos aufräumt, sondern auch eine Spirale der Zerstörung umkehrt, die bereits in Gang gesetzt wurde.

Aber wir wissen ebenso, dass Verzweiflung die Realität auch verzerrt, einerseits Panik und andererseits Verdrängung erzeugt und es uns nicht erlaubt, klar über die Möglichkeiten nachzudenken, die uns noch zur Verfügung stehen. In einer Reihe jüngerer Dokumente, die den Kongressen der IKS und den Treffen des Zentralorgans vorgelegt wurden, hat die Organisation eine Reihe objektiver Entwicklungen untersucht, die in den letzten Jahrzehnten stattgefunden (oder besser gesagt sich fortgesetzt) haben und die sich für das Proletariat auszahlen könnten. Die wichtigsten dieser Entwicklungen sind:

  • Das Wachstum des Proletariats auf weltweiter Ebene, das wir in der Vergangenheit tendenziell verneint haben, insbesondere durch das außerordentliche Wachstum der Industrie in China und anderen Ländern im Osten und im Pazifikraum. Die von einigen Soziologen vorgebrachte Idee, dass wir in einer „postindustriellen“ Gesellschaft leben, erscheint völlig lächerlich, wenn man sieht, dass sich die kapitalistische Gesellschaft mehr denn je „als eine gewaltige Akkumulation von Waren“ präsentiert; und dass der Kern all dieses Materials, dieses rasante Bauen, Produzieren und Verteilen, trotz der enormen Fortschritte der Robotisierung immer noch vom Menschen getragen wird. Der Kapitalismus ohne das Proletariat ist eine reine Fiktion. Gleichzeitig haben wir eine zunehmende Proletarisierung unzähliger „professioneller“ und nicht werkseigener Arbeitsplätze erlebt.
  • Dieses Wirtschaftswachstum – so fragil es auch sein mag – hat sich gerade durch seine Verbindung mit der modernen Kommunikationstechnologie zunehmend globalisiert, eine internationale Kette, die ständig an die nationalen Grenzen stößt und den Kapitalismus zwingt, sich international zu organisieren. Der gegenwärtige Trend zum nationalistischen Protektionismus versucht, diese Entwicklung umzukehren, aber es ist bezeichnend, dass die meisten seiner Befürworter in Wirklichkeit nicht in der Lage sind, ihre Verbindungen zum „heimatlosen“ globalen Kapital zu brechen. In Großbritannien zum Beispiel sind die führenden Finanziers von Brexit (wie Arron Banks, dessen Offshore-Fonds derzeit gerichtlich untersucht werden) allesamt Spekulanten auf der Weltbühne, und das Gleiche gilt für Trump und einige seiner engagiertesten Unterstützer.  Und diese Tendenzen haben zu einer Arbeiterklasse geführt, die in ihrer Form und in ihren täglichen Aktivitäten immer internationaler wird: aufgrund der Nutzung des Internets zur Koordination globaler Produktionsnetzwerke, der „Freizügigkeit der Arbeit“ über Grenzen hinweg, die zwangsläufig mit dem Kapitalverkehr einhergeht, und anderer Ursachen. Dies ist ein Teil der Klasse, der ebenfalls hochqualifiziert ist, oft eine Universitätsausbildung und eine „natürliche“ Widerstandskraft gegen Populismus und Rassismus hat.
  • Zu diesen Entwicklungen in Form des Proletariats gehört auch eine zunehmende Einbeziehung von Frauen in die damit verbundene Arbeitswelt – in die Gesundheits- und Pflegeindustrie im Westen, in die Kommunikationsindustrie in Indien zum Beispiel oder in die Fabrikproduktion in Bangladesch und China. Dies bildet die objektive Grundlage für die Überwindung der Geschlechtertrennung in der Klasse und für das Verständnis, dass die sexuelle Unterdrückung von Frauen und andere Formen der sexuellen Unterdrückung an der Wurzel ein Problem für die Klasse sind, ein fieses Hindernis für ihre Vereinigung. Gleichzeitig war die Teilnahme von Proletarierinnen am Klassenkampf immer ein starkes Element bei der Entwicklung der moralischen Dimension.
  • Technologische Entwicklungen – in marxistischer Hinsicht die Entwicklung der Produktivkräfte – sind potenziell auch ein Faktor, um zu erkennen, wie veraltet eigentlich die kapitalistischen Produktionsweise ist. Im heutigen Produktionsprozess erzeugt der zunehmende Einsatz von Computern und Robotern einerseits Arbeitslosigkeit, andererseits Überarbeitung; aber umgekehrt wird auch deren mögliche Nutzung zur Entlastung der Menschheit von der Plackerei immer deutlicher. Gleichzeitig deutet der Einsatz der digitalen Technologie in den Bereichen Vertrieb, Zahlung und Finanzierung auf die Möglichkeit hin, dass die Warenform selbst bankrott ist, dass die Technologie einfach zur Messung der Verteilung nach Bedarf eingesetzt werden könnte. Daraus sind verschiedene utopische „postkapitalistische“ Theorien entstanden, die sich in dem Glauben wiegen, dass solche Entwicklungen automatisch durch den Einsatz der Technologie selbst eintreten würden[11], die aber dennoch eine von Marx vorhergesagte wachsende Realität zum Ausdruck bringen: dass „das Kapital sich selbst überlebt hat“.
  • Dass die Warenform, die Wertproduktion überholt ist, drückt sich vor allem in dem vielleicht wichtigsten „objektiven Faktor“ aus: der Wirtschaftskrise. Sie ist die Unfähigkeit des Kapitals, aus sich selbst über sich selbst hinauszugehen, die der Grund für die gegenwärtige Krise der Zivilisation ist; und wenn die Widersprüche, die sich aus diesem historischen Zustand ergeben, am offensten werden, neigen sie dazu, der ausgebeuteten Klasse die Notwendigkeit einer neuen Produktionsweise aufzuzeigen. Die Krise von 2008 – auch wenn ihre Form (eine Kreditklemme, die die Proletarier*innen mehr als einzelne Sparende denn als Teil einer kollektiven Klasse traf) und die Mittel zu ihrer Überwindung (die Anwendung schwerer Dosen desselben Giftes, das überhaupt zu ihr geführt hatte) eine massive und globale Entwicklung des Klassenbewusstseins nicht begünstigten – bleibt dennoch ein Beweis für die wesentliche Verletzlichkeit und Überfälligkeit des Systems, das in Zukunft auf noch größere Krisen zusteuert. Über der Weltwirtschaft brauen sich große Sturmwolken zusammen, und es steht außer Frage, dass die wachsende Unfähigkeit der herrschenden Klasse, die wirtschaftlichen Widersprüche des Systems zu meistern, und damit die zunehmende Notwendigkeit frontaler Angriffe auf die Arbeits- und Lebensbedingungen ein Schlüsselfaktor für die Wiederbelebung des Klassenkampfes und eines breiteren proletarischen Selbstbewusstseins bleiben.
  • Die Notwendigkeit einer Entwicklung auf der subjektiven Ebene.

Aber wir müssen bedenken, dass diese objektiven Faktoren, obwohl sie für die Wiederherstellung der Klassenidentität und des Klassenbewusstseins notwendig sind, an sich nicht ausreichend sind, und dass es andere Faktoren gibt, die der Realisierung des darin enthaltenen Potenzials entgegenwirken. So haben die neuen Generationen von Industriearbeitern im Osten oft ein hohes Maß an Militanz gezeigt (z.B. massive Streiks in der Textilindustrie in Bangladesch), aber es fehlen ihnen die langen politischen Traditionen des westlichen Proletariats, auch wenn diese weitgehend begraben wurden. Die Integration von Frauen in die Lohnarbeit war, wenn das Klassenbewusstsein gering ist, oft begleitet von einer Zunahme an Belästigungen.  Und wir haben auch gesehen (sicherlich in den 1930er Jahren, aber auch bis zu einem gewissen Grad nach 2008), dass die Wirtschaftskrise unter bestimmten Umständen eher zu einem Faktor der Demoralisierung und der individuellen Atomisierung als der kollektiven Mobilisierung werden kann.

Die Arbeiterklasse ist die Klasse des Bewusstseins. Im Gegensatz zur bürgerlichen Revolution basiert ihre Revolution nicht auf einer stetigen Anhäufung von Reichtum und wirtschaftlicher Macht. Es kann nur Erfahrung, die Tradition der Kämpfe, Organisationsmethoden und so weiter sammeln. Zusammenfassend ist das subjektive Element entscheidend, um ein objektives Potenzial zu begreifen und umzusetzen.

Dieses subjektive Potenzial kann nicht unmittelbar gemessen werden. Das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen existiert historisch, und wir können sagen, dass, auch wenn die Zeit nicht auf unserer Seite steht, und obwohl der Zerfall zu einer wachsenden Bedrohung wird und man bei der  Arbeiterklasse gewaltige Unterschiede bei dem Bestreben der Überwindung des gegenwärtigen Rückflusses feststellen kann, sie weltweit seit 1968 nicht geschlagen worden ist und somit ein Hindernis gegen den vollständigen Absturz in die Barbarei bleibt; sie behält somit das Potenzial zur Überwindung des gesamten Systems. – Aber wir können dies nur dann weiter behaupten, wenn wir die unmittelbaren Ausdrucksformen der Rebellion gegen die soziale Ordnung sorgfältig prüfen. Und diese fehlen nicht:

Im Hinblick auf die offenen Kämpfe der Klasse werden wir uns zwei aktuelle Beispiele ansehen:

1. In Großbritannien haben wir in den letzten zwei Jahren kleine, aber bedeutende Streiks von Arbeiter*innen in der „Gig“-Ökonomie erlebt, wie in einem Artikel von Worldrevolution beschrieben:

  • „Eine der Ängste hinsichtlich Arbeiter*innen in sehr prekären Gelegenheitsjobs, unter denen sich zahlreiche Immigrant*innen befinden, besteht darin, dass sie nicht in der Lage seien zu kämpfen und  sie daher nur ein Druckmittel zur Senkung der Löhne seien. Unternehmen wie Uber und Deliveroo behaupten gerne, dass ihre Mitarbeiter selbständig seien (also keinen Mindestlohn, Urlaub oder Krankenstand bekommen). Der jüngste Streik bei Deliveroo, der sich auf die Fahrer von UberEats ausbreitete, hat beide Fragen beantwortet. Sie sind definitiv Teil der Arbeiterklasse und durchaus in der Lage, sich zu verteidigen.

Vor der Drohung mit einem neuen Vertrag, der den Wechsel ergäbe von einem Stundenlohn plus Bonus für jede Lieferung (7 Pfund plus 1 Pfund) zu bloß einem Lohn für jede Lieferung, organisierten die Arbeiter*innen von Deliveroo, trotz ihrer scheinbaren Isolation voneinander und ihrer prekären Umstände, Treffen, um ihren Kampf zu führen, eine Moped- und Fahrrad-Demo durch die Straßen von London und einen 6-tägigen Streik. Sie bestanden auf gemeinsamen Verhandlungen gegenüber dem „Angebot“ des Geschäftsführers, mit ihnen individuell zu sprechen. Am Ende wurde die Drohung, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren würden, wenn sie den neuen Vertrag nicht unterschreiben würden, zurückgezogen; und er wurde von denen, die sich dafür entscheiden, vor Gericht angefochten. Ein Teilsieg.

Einige UberEats-Fahrer*innen kamen zu Deliveroo-Meetings. Sie sehen sich ähnlichen Bedingungen gegenüber und erhalten fälschlicherweise den Status einer selbständigen Erwerbstätigkeit; die Bezahlung ist gesunken, so dass sie kaum den Mindestlohn verdienen, ohne garantierte Bezahlung, nur 3,30 Pfund pro Lieferung. Nach einem wilden Streik wurde ein Arbeiter entlassen (oder „deaktiviert“, da er nicht durch das Arbeitsrecht geschützt ist), was den Mut unterstreicht, den Arbeiter*innen brauchen, die in so unsicheren Branchen kämpfen…“[12].

In jüngerer Zeit, im Oktober 2018, streikten die Beschäftigten einer Reihe von Schnellimbissen in verschiedenen Städten im Vereinigten Königreich – Macdonalds, TGI Fridays und JD Witherspoon wie auch UberEats-Fahrer*innen, und die einen schlossen sich wechselseitig den Streikposten und Demonstrationen der anderen an. Wie der Artikel in Worldrevolution, der Zeitung der IKS in Großbritannien, sagt, basieren diese Aktionen auf der Erkenntnis, dass die Arbeiter*innen dieser Unternehmen tatsächlich Teil einer kollektiven gesellschaftlichen Klasse, und nicht einfach isolierte Individuen sind. Es war auch bedeutsam, dass an diesen Streiks neben den im Vereinigten Königreich Geborenen auch viele Migrations-Arbeiter*innen beteiligt waren, während einige der Aktionen mit Streiks in denselben Unternehmen in Europa koordiniert wurden. Gleichzeitig, so die BBC, „werden die Streiks parallel zu den Arbeitskämpfen der Fast-Food-Arbeiter in Chile, Kolumbien, den USA, Belgien, Italien, Deutschland, den Philippinen und Japan durchgeführt“[13].

Der Begriff des „Prekariats“, der auf diese Arbeiter*innen angewendet wird, impliziert, dass es sich um eine neue Klasse handelt, aber prekäre Beschäftigung war schon immer Teil der Lage der Arbeiterklasse. In gewisser Weise führen uns die Methoden der „Gig-Economy“, bei der die Arbeiter*innen oft sehr kurzfristig und zufällig beschäftigt werden, zurück zu den Tagen, in denen Bau- oder Hafenarbeiter als Tagelöhner in der Warteschlange zur Arbeitssuche anstanden.

Die Versuche von Arbeiter*innen aus verschiedenen Unternehmen und Ländern, zusammenzukommen, sind eine Bestätigung der Klassenidentität gegenüber dem zuvor erwähnten „neuen Modell“ und zeigen, dass kein Teil der Klasse, egal wie zerstreut und unterdrückt, unfähig ist, für seine  Interessen zu kämpfen. Gleichzeitig hat die Tatsache, dass diese Arbeiter*innen von den traditionellen Gewerkschaften weitgehend ignoriert wurden, einen Raum für radikalere Formen der Gewerkschaftsarbeit eröffnet: In Großbritannien haben halbsyndikalistische Organisationen wie „die IWW“, die „Independent Workers Union of Great Britain“ und „United Voices of the World“ dies schnell ausgenutzt, um die Arbeiter*innen zu „organisieren“. Dies ist wohl unvermeidlich in einer Situation, in der es keine allgemeine Klassenbewegung gibt, aber der Einfluss dieser radikalen Gewerkschaften zeugt von der Notwendigkeit für die Bourgeoisie, einer echten Radikalisierung unter einer Minderheit von Arbeiter*innen zu begegnen.

2. Kämpfe gegen die Kriegswirtschaft im Nahen Osten: Die Streiks und Demonstrationen, die im Juli 2018 in vielen Teilen Jordaniens, des Irak und des Iran ausbrachen und in mehreren kürzlich auf unserer Webseite[14] veröffentlichten Artikeln beschrieben wurden, waren eine direkte Reaktion der Proletarier*innen der Region auf das Elend, das der Bevölkerung durch die Kriegswirtschaft zugefügt wurde. Die Forderungen der Proteste konzentrierten sich stark auf grundlegende wirtschaftliche Fragen: Wasserknappheit und Gesundheitsversorgung, Armutslöhne oder ausstehende Lohnzahlungen, Arbeitslosigkeit, was beweist, dass diese Bewegungen auf einem Klassenterrain begannen. Sie stellten auch eine Reihe politischer Forderungen, die dazu neigten, proletarische Interessen gegen die Interessen der herrschenden Klasse und ihrer Kriege voranzustellen: Im Iran zum Beispiel wurden sowohl „fundamentalistische“ als auch „Reform“-Fraktionen der Theokratie in einen Topf geworfen und die imperialen Ansprüche des iranischen Regimes häufig verspottet; im Irak riefen Demonstranten, dass sie weder Sunniten noch Schiiten seien; und „nicht nur Regierungs- und Kommunalgebäude waren das Ziel von Angriffen der Demonstrationen, sondern auch die schiitischen Institutionen, deren „Unterstützung“ für die Welle der Proteste als scheinheilig entlarvt wurde. Die Delegation des „radikalen“ Populisten al-Sadr zu den Demonstrierenden wurde angegriffen und davongejagt – das zeigten Filme in den Sozialen Medien“[15].

Noch wichtiger ist, dass es im Herbst 2018 eine Reihe von sehr kämpferischen Arbeiterstreiks in der iranischen Industrie gab, mit einigen klaren Ausdrucksformen der Solidarität zwischen den Arbeiter*innen verschiedener Unternehmen, wie im Falle der Stahlarbeiter*innen von Foolad und der Zuckerarbeiter*innen von HaftTappeh. Letzterer Kampf wurde auch international bekannt durch die Abhaltung von Vollversammlungen und Äußerungen eines wichtigen Streikführers, Ismail Bakhshi, über ihren Streikausschuss als einer Art embryonalen Sowjets oder Arbeiterrates. Dies griffen verschiedene Leuten des Milieus auf, die damit suggerierten, dass Arbeiterräte im Iran auf der unmittelbaren Tagesordnung stünden, was unserer Meinung nach bei weitem nicht der Fall ist. Andere Aussagen von Bakhshi zeigen, dass es selbst bei den fortgeschritteneren Arbeiter*innen ernsthafte Verwirrung über die Selbstverwaltung gibt[16]. Es ist auch so, dass einige der Parolen in den früheren Straßenprotesten einen nationalistischen und sogar monarchistischen Charakter hatten. Trotz dieser tiefgreifenden Schwächen sind wir nach wie vor der Meinung, dass diese Kampfwelle im Iran ein wichtiger Ausdruck des intakten Potenzials des Klassenkampfes war. Da der Krieg zu einer ständig gegenwärtigen Realität für wachsende Teile der Klasse wird, erinnern diese Bewegungen nicht nur an den absoluten Antagonismus zwischen dem Proletariat und dem imperialistischen Krieg, sondern auch an ein embryonales Bewusstsein für diesen Antagonismus, das sich sowohl in einigen der formulierten Parolen als auch in der internationalen Gleichzeitigkeit dieser Aufwallungen im Iran, im Irak und in Jordanien ausdrückt.

Die Ausbreitung der sozialen Empörung

Diese Beispiele werden nicht als Beweis für eine globale Wiederbelebung des Klassenkampfes oder gar des Endes seines Rückzugs präsentiert, was ohnehin das Entstehen wichtiger Klassenbewegungen in den zentralen Ländern des Systems erfordern würde. In diesen Ländern ist die soziale Situation noch stärker durch das Fehlen großer Kämpfe auf dem proletarischen Terrain gekennzeichnet. Und doch haben wir eine Reihe von Protesten erlebt, die eine wachsende Empörung über die Brutalität und Zerstörungskraft der kapitalistischen Gesellschaft zum Ausdruck bringen. Insbesondere in den USA haben wir die direkten Aktionen an den Flughäfen gegen die Inhaftierung und Vertreibung von Reisenden aus muslimischen Ländern gesehen; riesige Demonstrationen nach Polizeischüssen auf junge Schwarze in einer Reihe von Städten: Charlotte, St. Louis, New York, Sacramento ... und die massive Mobilisierung junger Menschen nach den Schießerei an der Marjory Stoneman Douglas High School in Parkland, Florida. Der Klimawandel und die Zerstörung der Umwelt sind auch ein Grund für Proteste, insbesondere die in vielen Ländern unter dem Dach von „Youth for Climate“ organisierten Schulstreiks oder die Proteste von Extinction Rebellion in London, gegen die Ausrottung von Tier- und Pflanzenarten. Ebenso wurde die Empörung über die herablassende und gewalttätige Behandlung von Frauen - nicht nur in „rückständigen“ Ländern wie Indien, sondern auch in den so genannten „liberalen Demokratien“ - auch auf der Straße ausgedrückt und nicht auf Internetforen beschränkt.

Angesichts des allgemeinen Verlustes der Klassenidentität kann man kaum verhindern, dass solche Proteste in die Fallen der Bourgeoisie tappen – in Mystifikationen über Identitätspolitik und Reformismus, und somit direkt von linken und demokratischen bürgerlichen Fraktionen manipuliert werden. Das Phänomen der Gelbwesten zeigt auch die Gefahr, dass sich die Klasse weiter in interklassistischen Bewegungen verliert, die von der Ideologie des Populismus und Nationalismus dominiert werden.

Nur durch die Wiedererlangung des Selbstbewusstseins als Klasse, durch die Entwicklung des Kampfes auf dem eigenen Terrain, können all die Energie und der legitime Zorn, die heute in sterile oder schädliche Richtungen gelenkt werden, morgen vom Proletariat „wiederhergestellt“ werden. Dass dies mehr als ein vager Wunsch ist, zeigt die Dynamik der Indignados-Bewegung im Jahr 2011. Motiviert durch „klassische“ Themen der Arbeiterklasse – Arbeitslosigkeit, Arbeitsplatzunsicherheit, die Auswirkungen des Crashs 2008 auf den Lebensstandard – war sie eine Bewegung, die auch Fragen nach der Zukunft der Menschheit in einem System aufwarf, das viele ihrer Teilnehmer*innen als „veraltet“ betrachteten. In der Folge organisierten sie alle möglichen Diskussionen über Moral, Wissenschaft, Umwelt, Fragen von Sex und Geschlecht usw. – in diesem Sinne wurde der Geist vom Mai 68 wieder belebt, indem sie die Frage nach einer Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft stellten. Dies war Ausdruck einer proletarischen Bewegung, die zu verstehen begonnen hatte, dass sie sowohl die Antwort auf „besondere Fehler“ als auch diejenige auf den „Fehler im Allgemeinen“ enthält. Es zeigte sich, dass sich der Klassenkampf nicht nur auf weitere Sektoren der kapitalistischen Wirtschaft, sondern auch auf die Bereiche Politik und Kultur erstrecken muss.

Dennoch bleibt das Problem bestehen, dass, auch wenn die Indignados im Wesentlichen eine Bewegung des Proletariats waren, größtenteils zusammengesetzt aus Erwerbstätigen, prekär Beschäftigten, Arbeitslosen, Studierenden und Gymnasiast*innen, sich die Mehrheit ihrer Protagonist*innen vor allem als Bürger*innen sah und daher besonders anfällig für die Ideologie von „Echte Demokratie jetzt“ und anderen Linken war, die versuchten, die Bewegung in ein reformiertes parlamentarisches Regime zu integrieren. Es gab natürlich einen beträchtlichen proletarischen Flügel der Bewegung (im politischen und nicht im soziologischen Sinne), der die Dinge anders sah, aber diese Leute blieben eine Minderheit und scheinen eine noch viel kleinere Minderheit von Leuten hervorgebracht zu haben, die sich in Richtung revolutionärer Politik bewegt haben. Das „Identitätsproblem“ der Indignados-Bewegung wurde 2017 weiter betont, als so viele derjenigen, die wirklich empört über die Zukunft des Kapitalismus waren, in den Betrug des Nationalismus, insbesondere seiner katalanischen Version, verfallen sind.

Eine der größten Schwächen der Bewegung war ihre mangelnde Verbindung zwischen der Bewegung auf den Straßen und Plätzen und den Kämpfen am Arbeitsplatz, und diese Lücke ist etwas, das zukünftige Kämpfe überwinden müssen. Wir haben in den jüngsten Bewegungen im Nahen Osten und vielleicht noch deutlicher bei den Streiks der Metallarbeiter in Vigo im Jahr 2006 einen Blick darauf geworfen. Denn so, wie die Gewinnung der Straße für die Zusammenführung von Arbeiter*innen aus verschiedenen Sektoren wie auch mit Arbeitslosen unerlässlich ist, so ist die Bewegung an den Arbeitsplätzen der Schlüssel, um alle Menschen auf der Straße daran zu erinnern, dass sie Teil einer Klasse sind, die ihre Arbeitskraft an das Kapital verkaufen muss.

Diese Verbindung wird auch bei der Lösung der Aufgabe, vereinigenden Organisationen in den künftigen Massenbewegungen zu finden, – bei der Frage der Arbeiterräte – von Bedeutung sein. In früheren revolutionären Bewegungen entstanden die Arbeiterräte spontan aus der Zentralisierung der Vollversammlungen in den großen Industrieeinheiten. Dies wird zweifellos ein wichtiger Faktor in Regionen bleiben, in denen solche Einheiten noch bestehen (z.B. in Deutschland) oder in der letzten Zeit entwickelt worden sind (China, indischer Subkontinent, etc.). Aber angesichts der Bedeutung der alten Zentren des Klassenkampfes, vor allem Europas, die einem langen Prozess der Deindustrialisierung unterworfen gewesen sind, ist es möglich, dass Räte aus einem Zusammenschluss von Versammlungen, die an zentralen Arbeitsplätzen wie Krankenhäusern, Universitäten, Lagern usw. abgehalten werden, und Massentreffen hervorgehen, die auf Straßen und Plätzen abgehalten werden, wo Arbeiter*innen aus verstreuten Arbeitsplätzen, Arbeitslose und prekär Beschäftigte ihre Kämpfe vereinigen können.

Die Tatsache, dass große Teile der Bevölkerung durch die kombinierten Auswirkungen der Krise und die Veränderungen in der „Zusammensetzung“ der Arbeiterklasse proletarisiert wurden, bedeutet, dass Versammlungen, die auf territorialen und nicht auf industriellen Einheiten beruhen, einen proletarischen Charakter behalten werden, auch wenn die Gefahr des Einflusses kleinbürgerlicher und anderer Schichten in solchen Organisationsformen offensichtlich besteht. Solche Dilemmata führen uns zur Frage der Autonomie der Klasse und ihres Verhältnisses zum Übergangsstaat in der Revolution der Zukunft, denn die Arbeiterklasse, die ihre Identität als revolutionäre soziale Kraft wiederentdeckt hat, wird diese Identität als Autonomie während der Übergangszeit politisch und organisatorisch bewahren müssen, bis alle Proletarier*innen geworden sind und somit keine*r mehr Proletarier*in ist.

Es ist auch wahrscheinlich, dass diese neu gefundene revolutionäre Identität in Zukunft eine direktere politische Form annehmen wird: Mit anderen Worten, dass sich die Klasse durch ein wachsendes Festhalten an der kommunistischen Perspektive definieren wird, nicht zuletzt, weil die Tiefe der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise die Illusionen in eine mögliche „Rückkehr zur Normalität“ des im Zerfall befindlichen Kapitalismus aufgelöst haben wird. Wir sahen einen Hinweis darauf beim Erscheinen des proletarischen Flügels in der Indignados-Bewegung: Sein proletarischer Charakter basierte nicht so sehr auf seiner soziologischen Zusammensetzung, sondern auf seinem Kampf zur Verteidigung der Autonomie der Versammlungen und einer allgemeinen Perspektive der sozialen Transformation gegenüber den verschiedenen linken Trittbrettfahrern. Die Partei der Zukunft könnte durch das Zusammenspiel solcher großen proletarischen Minderheiten mit den kommunistischen politischen Organisationen entstehen. Natürlich bedeutet die Zerbrechlichkeit des bestehenden Milieus der Kommunistischen Linken, dass es keine Garantie dafür gibt, dass das Rendezvous stattfindet. Aber wir können sagen, dass das Auftauchen neuer Elemente, die sich heute in Richtung der Kommunistischen Linken bewegen – einige von ihnen sind sehr jung – ein Zeichen dafür ist, dass der Prozess der unterirdischen Reifung eine Realität ist und dass er trotz der sehr offensichtlichen Schwierigkeiten des Klassenkampfes weitergeht. Auch wenn wir verstehen, dass die Partei der Zukunft keineswegs eine Massenorganisation sein wird, die die Klasse als Ganzes umfassen will, bringt diese Dimension der Politisierung des Kampfes das zum Vorschein, was im klassischen marxistischen Wort zusammengefasst ist: „Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei“.

(28.12.18)


[1] https://de.internationalism.org/content/2834/die-bewegung-der-gelbwesten-ein-volksaufstand-ohne-perspektive [18]

[2] Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung

[3] www.mlwerke.de/me/me02/me02_019.htm [19]

[4] Vorwort zur englischen Ausgabe (von 1892) zu Die Lage der arbeitenden Klasse in England

[5] vgl. dazu den Artikel in unserer englischsprachigen Presse: History of the workers' movement in Britain, Part 2: Chartism and the 1842 general strike, https://en.internationalism.org/wr/304/chartism-1848 [20]

[6] Dieser Bewegung war der Aufstand der Merthyr im Jahre 1831 vorausgegangen, der, so könnte man argumentieren, besser organisiert und erfolgreicher war, auch wenn die Arbeiter*innen nur in einer Stadt und nur für einen kurzen Moment die Macht übernehmen konnten. Er war auch der erste dokumentierte Moment, in dem die Arbeiter unter der roten Flagge marschierten.

[7] Aus einem Bericht über die Perspektiven des Klassenkampfes, Dezember 2015

[8] Internationale Revue Nr. 31, 2003, Orientierungstext: Das Vertrauen und die Solidarität im Kampf des Proletariats; /content/615/orientierungstext-das-vertrauen-und-die-solidaritaet-im-kampf-des-proletariats-1-teil [21]

[9] Resolution zum Klassenkampf, 22. IKS-Kongress

[10] Aus dem Kapitel „Die großen Städte“.

[11]Siehe zum Beispiel Paul Masons Buch, Postkapitalismus, Grundrisse einer kommenden Ökonomie, und seine Kritik durch die Communist Workers‘ Organisation (CWO).

[12] Deliveroo, Uber Eats: Struggle by precarious and immigrant workers (https://en.internationalism.org/content/14136/deliveroo-ubereats-struggles-precarious-and-immigrant-workers [22], 2016)

[13] McDonald's, UberEats and Wetherspoon workers strike over pay (https://www.bbc.com/news/business-45734662 [23])

[14] Class struggle in Jordan’s war economy [24] ; Iraq: marching against the war machine [25] ; Internationalist Voice and protests in the Middle East [26]

[15]  Iraq: marching against the war machine [25]

[16] Response to Internationalist Voice on strikes in Iran [27]

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Internationale Revue 56

Resolution zur internationalen Lage (2019): imperialistische Spannungen, Leben der Bourgeoisie, Wirtschaftskrise

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1) Vor dreißig Jahren betonte die IKS die Tatsache, dass das kapitalistische System in die letzte Phase seiner Dekadenzzeit, die seines Zerfalls eingetreten war. Diese Analyse basierte auf einer Reihe von empirischen Fakten, bot aber gleichzeitig einen Rahmen für das Verständnis dieser Fakten: „Doch die Geschichte bleibt in solch einer Situation, in der die beiden fundamentalen - und antagonistischen - Klassen der Gesellschaft aufeinanderprallen, ohne ihre eigene Antwort durchsetzen zu können, nicht stehen. Noch weniger als in den anderen vorhergehenden Produktionsweisen ist im Kapitalismus eine Stagnation, ein ‘Einfrieren’ des gesellschaftlichen Lebens möglich. Während die Widersprüche des krisengeschüttelten Kapitalismus sich noch weiter zuspitzen, führen die Unfähigkeit der Bourgeoisie, der gesamten Gesellschaft  irgendeine Perspektive anzubieten, und die Unfähigkeit des Proletariats, die seinige offen zu behaupten, zum Phänomen des allgemeinen Zerfalls, zur Fäulnis der Gesellschaft bei lebendigem Leib.“ (Der Zerfall: die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus, Mai 1990, auch Thesen über den Zerfall genannt, Punkt 4, Internationale Revue Nr. 13)

Unsere Analyse hat die beiden Bedeutungen des Begriffs „Zerfall“ sorgfältig geklärt; einerseits gilt er für ein Phänomen, das die Gesellschaft betrifft, insbesondere in der Zeit der Dekadenz des Kapitalismus, und andererseits bezeichnet er eine bestimmte historische Phase dieser Phase, ihre Endphase: „.... so ist es auch unverzichtbar, den grundlegenden Unterschied zwischen den Zerfallselementen, die den Kapitalismus seit Anfang des Jahrhunderts erfaßt haben, und dem allgemeinen Zerfall herauszustellen, in den dieses System gegenwärtig versinkt und der sich noch verschlimmern wird. Neben dem streng quantitativen Aspekt erreicht das Phänomen des gesellschaftlichen Zerfalls heute solch ein Ausmaß und solch eine Tiefe, daß eine neue und einzigartige Qualität erlangt wird, die den Eintritt des Kapitalismus in eine besondere Phase, in die ultimative Phase seiner Geschichte manifestiert, eine Phase, in welcher der Zerfall ein, wenn nicht gar der entscheidende Entwicklungsfaktor der Gesellschaft sein wird.“ (a.a.O., Punkt 2)

Vor allem dieser letzte Punkt, die Tatsache, dass der Zerfall tendenziell zum entscheidenden Faktor für die Entwicklung der Gesellschaft und damit aller Komponenten der Weltsituation wird – eine Idee, die von den anderen Gruppen der Kommunistischen Linken keineswegs geteilt wird –, bildet  den Schwerpunkt dieser Resolution.

2) Die Thesen über den Zerfall vom Mai 1990 heben eine ganze Reihe von Merkmalen in der Entwicklung der Gesellschaft hervor, die sich aus dem Eintritt des Kapitalismus in diese letzte Phase seiner Existenz ergeben. Der vom 22. Kongress angenommene Bericht stellte fest, dass sich all diese Merkmale verschlechtern, wie z.B.:

  • „die Ausbreitung von Hungersnöten in den Ländern der ‚Dritten Welt‘ (...);
  • die Verwandlung der ‚Dritten Welt‘ in einen riesigen Slum, in dem Hunderte von Millionen Menschen wie Ratten in der Kanalisation überleben;
  • die Entwicklung des gleichen Phänomens im Herzen der Großstädte in den ‚fortgeschrittenen‘ Ländern (...);
  • die jüngste Zunahme von ‚zufälligen‘ Katastrophen (...), die immer verheerenderen Auswirkungen von ‚Naturkatastrophen‘ auf menschlicher, sozialer und wirtschaftlicher Ebene (...);
  • die Zerstörung der Umwelt, die verheerende Ausmaße erreicht“ (Thesen über den Zerfall, Punkt 7).

Der gleiche Bericht des 22. Kongresses des IKS betonte auch die Bestätigung und Verschärfung der politischen und ideologischen Erscheinungsformen des Zerfalls, die wir 1990 festgestellt hatten:

„- die unglaubliche Korruption, die im politischen Apparat wächst und gedeiht, (...);

  • die Entwicklung des Terrorismus, der Geiselnahmen als Mittel der kriegerischen Auseinandersetzung  zwischen Staaten unter Verletzung von ‘Gesetzen’, die der Kapitalismus einst verabschiedet hatte, um die Konflikte zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse zu ‘reglementieren’;
  • der ununterbrochene Anstieg der Kriminalität, der Unsicherheit, der Gewalt in den Städten (...);
  • die Ausbreitung des Nihilismus, der Selbstmorde unter Jugendlichen, der Hoffnungslosigkeit (wie er durch das ‘No Future’ der Riots in den westlichen Großstädten zum Ausdruck kommt), des Hasses und der Fremdenfeindlichkeit (...);
  • die Flutwelle der Drogen, die heute zu einem Massenphänomen werden und stark zur Korruption im Staat und den Finanzorganismen beitragen (...);
  • die Fülle an Sekten, das Wiederaufleben religiöser Geisteshaltungen auch in fortgeschrittenen Ländern, die Ablehnung eines vernunftgesteuerten, zusammenhängenden, konstruktiven Denkens (...);
  • das Überhandnehmen von Gewalt- und Horrorszenen, von Blut und Massakern in eben dieser Medien (...);
  • die Belanglosigkeit, die Käuflichkeit all der ‘künstlerischen’ Produktionen, der Literatur, der Musik, der Malerei, der Architektur (...);
  • das ‘Jeder-für-sich’, die Atomisierung des Einzelnen, die Zerstörung der Familienbeziehungen, die Ausgrenzung der alten Menschen, die Zerstörung der Gefühle (...)“ (Thesen zum Zerfall, Punkt 8).

Der Bericht des 22. Kongresses konzentrierte sich insbesondere auf die Entwicklung eines Phänomens, das bereits 1990 festgestellt wurde (und das eine wichtige Rolle im Bewusstsein der IKS über den Eintritt des dekadenten Kapitalismus in die Zerfallsphase gespielt hatte): die Benutzung des Terrorismus in imperialistischen Konflikten. Der Bericht stellte fest, dass: „Die quantitative und qualitative Zunahme des Stellenwerts des Terrorismus hat mit dem Angriff auf die Zwillingstürme (...) einen entscheidenden Schritt getan (...). Dies wurde anschließend mit den Anschlägen in Madrid 2004 und London 2005 (....), der Gründung von Daesh 2013-14 (...), den Angriffen in Frankreich 2015-16, Belgien und Deutschland 2016 bestätigt“. Der Bericht stellte auch fest, dass im Zusammenhang mit diesen Angriffen und als charakteristischer Ausdruck des Zerfalls der Gesellschaft die Ausbreitung des radikalen Islamismus, der ursprünglich von der Schiiten inspiriert war (mit der Errichtung des Mullah-Regimes im Iran im Jahr 1979), aber im Wesentlichen das Ergebnis war der sunnitischen Bewegung ab 1996 mit der Ausbreitung  und Festsetzung der Taliban in Kabul und, noch mehr, nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im Irak durch amerikanische Truppen.

3) Zusätzlich zur Bestätigung der bereits in den Thesen von 1990 festgestellten Tendenzen stellte der vom 22. Kongress angenommene Bericht fest, dass zwei neue Phänomene aufgetreten waren, die sich aus dem anhaltenden Zerfall ergeben hatten und eine wichtige Rolle im politischen Leben vieler Länder spielen sollten:

  • eine dramatische Zunahme der Migrationsströme ab 2012, die bis 2015 andauerte und hauptsächlich aus dem kriegszerstörten Nahen Osten stammte, insbesondere nach dem „Arabischen Frühling“ von 2011;
  • der anhaltende Anstieg des Populismus in den meisten europäischen Ländern und auch in der führenden Macht der Welt mit der Wahl von Donald Trump im November 2016.

Massive Bevölkerungswanderungen sind kein für die Phase des Zerfalls spezifisches Phänomen. Sie erhalten nun jedoch eine Dimension, die sie zu einem singulären Element dieses Zerfalls machen, sowohl in Bezug auf ihre aktuellen Ursachen (insbesondere das Chaos des Krieges, das in den Herkunftsländern herrscht) als auch auf ihre politischen Folgen in den Zielländern. Insbesondere die massive Ankunft von Flüchtlingen in Europa war eine wichtige Grundlage für die populistische Welle, die sich in Europa entfaltete, obwohl diese Welle schon lange vorher zu steigen begann (vor allem in einem Land wie Frankreich mit dem Aufstieg des Front National).

4) Tatsächlich haben populistische Parteien in Europa in den letzten zwanzig Jahren mittlerweile dreimal mehr Stimmen erhalten (ihr Anteil stieg von 7% auf 25%), wobei die Zahl nach der Finanzkrise 2008 und der Flüchtlingskrise 2015 stark gestiegen ist. In etwa zehn Ländern nehmen diese Parteien an der Regierung oder einer Mehrheit im Parlament teil: Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Bulgarien, Österreich, Dänemark, Norwegen, Schweiz und Italien. Auch dort, wo populistische Gruppen nicht an der Regierung beteiligt sind, haben sie einen erheblichen Einfluss auf das politische Leben der Bourgeoisie. Wir zitieren drei Beispiele:

  • In Deutschland war es der wachsende Stimmenanteil der AfD, der Angela Merkel erheblich schwächte und sie zwang, die Führung ihrer Partei aufzugeben;
  • In Frankreich hat es der „Mann des Schicksals“, Macron, Apostel einer „Neuen Welt“, obwohl er bei den Wahlen 2017 einen großen Sieg über Marine Le Pen erringen konnte, keineswegs geschafft, den Einfluss ihrer Partei zurückzubinden, die seiner eigenen Partei gemäß den Umfragen immer hart auf den Fersen folgt, der République en Marche, die behauptet, „sowohl rechts als auch links“ zu sein, mit politischem Personal von beiden Seiten (zum Beispiel einem Premierminister von rechts und einem Innenminister der Sozialistischen Partei);
  • in Großbritannien sehen wir bei der vormals traditionell geschicktesten Bourgeoisie der Welt seit mehr als einem Jahr das Spektakel tiefer Ratlosigkeit, das sich aus ihrer Unfähigkeit ergibt, den von den populistischen Strömungen auferlegten „Brexit“ zu bewältigen.

Ob die populistischen Strömungen in der Regierung sind oder einfach nur das klassische politische Spiel stören, sie entsprechen weder einer rationalen Option für die Verwaltung des nationalen Kapitals noch einer bewussten Karte der maßgebenden Teile der bürgerlichen Klasse, die, insbesondere durch ihre Medien, diese Strömungen ständig anprangern. Was der Aufstieg des Populismus tatsächlich ausdrückt, ist die Verschlimmerung eines Phänomens, das bereits in den Thesen von 1990 angekündigt wurde: „Unter den Hauptkennzeichen des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft muß man die zunehmenden Schwierigkeiten der Bourgeoisie hervorheben, die Entwicklung der Lage auf politischer Ebene zu kontrollieren.“ (Punkt 9) Ein Phänomen, das im Bericht des 22. Kongresses deutlich erwähnt wird: „Was in der gegenwärtigen Situation betont werden muss, ist die volle Bestätigung dieses Aspekts, den wir vor 25 Jahren identifiziert haben: der Trend zu einem wachsenden Kontrollverlust der herrschenden Klasse über ihren politischen Apparat.“

Der Aufstieg des Populismus ist unter den gegenwärtigen Umständen Ausdruck des zunehmenden Kontrollverlustes der Bourgeoisie über das Funktionieren der Gesellschaft, der sich im Wesentlichen daraus ergibt, was im Kern ihres Zerfalls liegt, der Unfähigkeit der beiden grundlegenden Klassen der Gesellschaft, eine Antwort auf die unlösbare Krise zu geben, in die die kapitalistische Wirtschaft versinkt. Mit anderen Worten, der Zerfall ist im Wesentlichen das Ergebnis der Ohnmacht der herrschenden Klasse, einer Ohnmacht, die in ihrer Unfähigkeit verwurzelt ist, diese Krise in der kapitalistischen Produktionsweise zu überwinden, und die zunehmend dazu neigt, ihren politischen Apparat zu beeinflussen.

Zu den aktuellen Ursachen der populistischen Welle gehören die Hauptmanifestationen des sozialen Zerfalls: der Anstieg von Verzweiflung, Nihilismus, Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, verbunden mit einer wachsenden Ablehnung der „Eliten“ (die „Reichen“, Politiker, Technokraten) und in einer Situation, in der die Arbeiterklasse nicht in der Lage ist, selbst auf embryonale Weise eine Alternative anzubieten. Es ist natürlich möglich, dass der Populismus in Zukunft seinen Einfluss verliert, entweder weil er selbst seine eigene Machtlosigkeit und Korruption bewiest oder weil ein Wiedererstarken der Arbeiterkämpfe ihm den Boden unter den Füßen wegzieht. Andererseits kann sie in keiner Weise die historische Tendenz der Gesellschaft, im Zerfall zu versinken, oder die verschiedenen Erscheinungsformen davon in Frage stellen, einschließlich des zunehmenden Kontrollverlustes der Bourgeoisie über ihr politisches Spiel. Und das hat nicht nur Auswirkungen auf die Innenpolitik jedes Staates, sondern auch auf alle Beziehungen zwischen Staaten und die imperialistischen Konfigurationen.

Der historische Kurs – ein Paradigmenwechsel

5) 1989-90 analysierten wir angesichts des Auseinanderbrechens des Ostblocks dieses in der Geschichte beispiellose Phänomen des Zusammenbruchs eines ganzen imperialistischen Blocks ohne einen generalisierten Konflikt als erste große Verdeutlichung der Phase des Zerfalls. Gleichzeitig untersuchten wir die neue Weltkonstellation, die sich aus diesem historischen Ereignis ergab:

„Das Verschwinden des russischen imperialistischen Gendarmen und damit auch der Gendarmenrolle des amerikanischen Imperialismus gegenüber seinen wichtigsten ‚Partnern‘ von einst öffnet Tür und Tor für eine ganzen Reihe von lokalen Rivalitäten. Diese Rivalitäten und Zusammenstöße können gegenwärtig nicht in einen Weltkrieg ausarten (selbst wenn das Proletariat nicht in der Lage wäre, sich dagegen zur Wehr zu setzen). (...) Bislang hat im Zeitalter der Dekadenz solch eine Situation der ‚Verzettelung‘ der imperialistischen Antagonismen in Abwesenheit von Blöcken (oder von Schlüsselregionen), die die Welt unter sich aufgeteilt haben, nie lange angedauert. Das Verschwinden der imperialistischen Konstellation, die aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen war, trug die Tendenz zur Bildung zweier neuer Blöcke in sich. Heute steht dies jedoch noch nicht auf der Tagesordnung“, denn „die Tendenz zur Aufteilung der Welt zwischen zwei neuen Blöcken (wird) durch das sich immer mehr zuspitzende und ausdehnende Phänomen des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft konterkariert oder gar irreparabel geschädigt, wie wir bereits hervorgehoben haben. (...)

Vor einem solchen Hintergrund, dem Kontrollverlust der Weltbourgeoisie über die Lage, läßt sich nicht beurteilen, ob die dominanten Teile unter ihr heute in der Lage sind, die notwendige Organisierung und Disziplinierung für die Neubildung von militärischen Blöcken umzusetzen.“ (Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks – Destabilisierung und Chaos, Internationale Revue Nr. 12)

So stellte 1989 einen grundsätzlichen Wechsel in der allgemeinen Dynamik der kapitalistischen Gesellschaft dar:

  • Vor diesem Zeitpunkt war das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen das bestimmende Element dieser Dynamik: Von diesem Kräfteverhältnis hing das Ergebnis der Verschärfung der Widersprüche des Kapitalismus ab: entweder die Entfesselung des Weltkriegs oder die Entwicklung von Klassenkämpfen mit dem Sturz des Kapitalismus als Perspektive.
  • Nach diesem Datum wird diese Dynamik nicht mehr durch das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen bestimmt. Unabhängig vom Kräfteverhältnis steht der Weltkrieg nicht mehr auf der Tagesordnung, und trotzdem wird der Kapitalismus weiter im Zerfall versinken.

6) In dem Paradigma, das den größten Teil des 20. Jahrhunderts beherrschte, definierte der Begriff des „Historischen Kurses“ das Ergebnis einer historischen Entwicklung: entweder Weltkrieg oder Klassenkämpfe, und sobald das Proletariat eine entscheidende Niederlage erlitten hatte (wie am Vorabend von 1914 oder nach der revolutionären Welle von 1917-23), wurde der Weltkrieg unvermeidlich. Im Paradigma, das die gegenwärtige Situation definiert (solange sich nicht zwei neue imperialistische Blöcke herausbilden, was möglicherweise nie mehr geschehen wird), ist es möglich, dass das Proletariat eine so tiefe Niederlage erleidet, die endgültig ein Wiedererstarken verhindert, aber es ist durchaus auch möglich, dass das Proletariat eine tiefe Niederlage erleidet, ohne dass dies eine entscheidende Konsequenz für die allgemeine Entwicklung der Gesellschaft hat. Deshalb ist der Begriff des „Historischen Kurses“ nicht mehr geeignet, die Situation der gegenwärtigen Welt und das Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat zu definieren.

In gewisser Weise ähnelt die aktuelle historische Lage der des 19. Jahrhunderts. Denn zu jener Zeit:

- bedeutete eine Zunahme der Arbeiterkämpfe nicht die Aussicht auf eine Revolution – in einer Epoche, in der die proletarische Revolution noch nicht auf der Tagesordnung stand; ebenso wenig konnte sie verhindern, dass ein großer Krieg ausbrach (z.B. der Krieg zwischen Frankreich und Preußen 1870, als die Macht des Proletariats mit der Entwicklung der IAA anstieg);

  • führte eine große Niederlage des Proletariats (wie die Niederschlagung der Pariser Kommune) nicht zu einem neuen Krieg.

Allerdings ist es wichtig zu betonen, dass der Begriff des „Historischen Kurses“, wie er von der Italienischen Fraktion in den 1930er Jahren und von der IKS zwischen 1968 und 1989 verwendet wurde, durchaus gültig war und den grundlegenden Rahmen für das Verständnis der Weltlage bildete. Die Tatsache, dass unsere Organisation seit 1989 die neuen, noch nie aufgetretenen Tatsachen dieser Situation berücksichtigen musste, kann keineswegs als Infragestellung unseres Analyserahmen bis zum damaligen Zeitpunkt interpretiert werden.

Die imperialistischen Spannungen

7) Bereits 1990, zur gleichen Zeit, als wir das Verschwinden der imperialistischen Blöcke sahen, die den „Kalten Krieg“ beherrscht hatten, betonten wir, dass sich die militärischen Auseinandersetzungen fortsetzen und sogar verschärfen würden:

„Im Zeitalter der Dekadenz des Kapitalismus sind ALLE Staaten imperialistisch und treffen ihre Vorkehrungen, um sich dieser Realität anzupassen: Kriegswirtschaft, Aufrüstung usw. Daher werden die zunehmenden Erschütterungen der Weltwirtschaft die Zwietracht zwischen den verschiedenen Staaten schüren, einschließlich und zunehmend auf der militärischen Ebene. (...) Diese Rivalitäten und Zusammenstöße können gegenwärtig nicht in einen Weltkrieg ausarten (...). Hingegen werden diese Konflikte aufgrund des Wegfalls der vom Block auferzwungenen Disziplin viel häufiger und gewalttätiger werden, insbesondere natürlich in den Regionen, wo das Proletariat am schwächsten ist.“ (Internationale Revue Nr. 12, Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks – Destabilisierung und Chaos).

Keineswegs „impliziert das gegenwärtige Verschwinden der Blöcke eine Verringerung oder gar Infragestellung des beherrschenden Einflusses des Imperialismus auf die Gesellschaft. Der fundamentale Unterschied liegt in der Tatsache, daß, wenn das Ende des Stalinismus der Eliminierung einer besonders absurden Form des Staatskapitalismus gleich kam, das Ende der Blöcke die Tür zu einer noch barbarischeren, absurderen, chaotischeren Form des Imperialismus öffnet.“ (Internationale Revue Nr. 13, Militarismus und Zerfall)

Seitdem hat die globale Situation diese Tendenz zu einem sich verschlimmernden Chaos, wie wir vor einem Jahr beobachtet haben, nur noch bestätigt:

„Die Entwicklung des Zerfalls hat zu einer blutigen und chaotischen Entfesselung von Imperialismus und Militarismus geführt. Die Explosion der Tendenz eines jeden für sich selbst hat zum Aufstieg der imperialistischen Ambitionen der Mächte der zweiten und dritten Ebene sowie zur zunehmenden  Schwächung der dominanten Stellung der USA in der Welt geführt. Die gegenwärtige Situation ist gekennzeichnet durch imperialistische Spannungen und ein immer weniger kontrollierbares Chaos, vor allem aber durch seinen höchst irrationalen und unberechenbaren Charakter, der mit den Auswirkungen des populistischen Drucks verbunden ist, insbesondere mit der Tatsache, dass die stärkste Macht der Welt heute von einem populistischen Präsidenten geführt wird, der mit von seinem Temperament geprägten unberechenbaren Reaktionen regiert.“ (Internationale Revue Nr. 55, Bericht über die imperialistischen Spannungen, Juni 2018).

8) Im Nahen Osten, wo die Schwächung der amerikanischen Führung am deutlichsten zu erkennen ist und wo die amerikanische Unfähigkeit, sich militärisch direkt in Syrien zu engagieren, das Feld für andere Imperialismen offen gelassen hat, bündeln sich diese historischen Tendenzen:

Russland hat sich dank seiner militärischen Stärke im syrischen Konfliktfeld ausbreiten können und sich als eine wichtige Kraft zur Erhaltung seines Marinestützpunktes in Tartus etabliert.

Der Iran ist durch seinen militärischen Sieg zur Rettung seines Verbündeten, des Assad-Regimes, und durch den Bau eines irakisch-syrischen Landkorridors, der den Iran direkt mit dem Mittelmeer und der libanesischen Hisbollah verbindet, der Hauptnutznießer und hat sein Ziel erreicht, in dieser Region die Führung zu übernehmen, insbesondere durch den Einsatz von Truppen außerhalb seines Territoriums.

Die Türkei, besessen von der Angst vor der Einrichtung autonomer kurdischer Zonen, die sie destabilisieren, operiert militärisch in Syrien.

Die militärischen „Siege“ im Irak und in Syrien gegen den Islamischen Staat und der Machterhalt Assads bieten keine Aussicht auf Stabilisierung. Im Irak hat die militärische Niederlage des Islamischen Staates die Ressentiments der ehemaligen sunnitischen Fraktion um Saddam Hussein, der sie hervorgebracht hat, nicht beseitigt: Die erstmalige Machtausübung durch die Schiiten treibt sie nur noch weiter an. In Syrien bedeutet der militärische Sieg des Regimes nicht die Stabilisierung oder Befriedung des gemeinsamen syrischen Raums, der der Intervention verschiedener Imperialismen mit konkurrierenden Interessen ausgesetzt ist.

Russland und der Iran sind tief gespalten über die Zukunft des syrischen Staates und die Anwesenheit ihrer Truppen auf seinem Territorium; weder Israel, das der Stärkung der Hisbollah im Libanon und in Syrien feindlich gegenübersteht, noch Saudi-Arabien, das sich gegen den Aufstieg des Irans mit anderen zusammenschließt, können diesen iranischen Fortschritt tolerieren; während die Türkei die übermäßigen regionalen Ambitionen ihrer beiden Rivalen nicht akzeptieren kann.

Auch die Vereinigten Staaten und der Westen können ihre Ambitionen in diesem strategischen Bereich der Welt nicht aufgeben.

Die zentrifugale Aktion der verschiedenen kleinen und großen Mächte, deren divergierende imperialistische Appetite ständig aufeinander prallen, fördert nur das Fortbestehen der gegenwärtigen Konflikte, wie im Jemen, sowie die Aussicht auf zukünftige Konflikte und die Ausbreitung von Chaos.

9) Während Russland nach dem Zusammenbruch der UdSSR 1989 dazu verdammt schien, nur eine untergeordnete Machtrolle zu spielen, feiert es ein starkes Comeback auf der imperialistischen Ebene. Als Macht im Niedergang und ohne die wirtschaftliche Fähigkeit, den militärischen Wettbewerb mit anderen Großmächten langfristig aufrechtzuerhalten, hat es durch die Wiederherstellung seiner militärischen Fähigkeiten seit 2008 seine sehr hohe militärische Aggressivität und seine Macht bewiesen, international als Störfaktor aufzutreten:

  • So hat Russland mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 die Containment-Politik der USA (mit der Integration seiner ehemaligen Verbündeten des Warschauer Pakts in die NATO) auf dem europäischen Kontinent untergraben, wobei die separatistische Amputation des Donbass jede Möglichkeit zunichte machte, die Ukraine in einen zentralen Teil des antirussischen Dispositivs zu verwandeln.
  • Es hat die Schwierigkeiten Amerikas beim Vorstoß in Richtung Mittelmeer genutzt: Durch seine militärische Intervention in Syrien konnte Russland seine militärische Präsenz der Marine in diesem Land und im östlichen Mittelmeerraum verstärken. Russland ist es vorerst auch gelungen, sich der Türkei, einem NATO-Mitglied, anzunähern, das sich aus dem amerikanischen Machtbereich entfernt.

Die derzeitige Annäherung Russlands an China auf der Grundlage der Ablehnung amerikanischer Allianzen im asiatischen Raum hat nur schwache Aussichten auf eine langfristige Allianz angesichts der unterschiedlichen Interessen der beiden Staaten. Die Instabilität der Beziehungen zwischen den Mächten verleiht dem russischen eurasischen Staat und dem Kontinent jedoch eine neue strategische Bedeutung im Hinblick auf die Rolle bei der Eindämmung Chinas.

10) Die aktuelle Situation ist vor allem durch den schnellen Machtzuwachs Chinas geprägt. Dieses hat die Aussicht (durch massive Investitionen in neue technologische Bereiche, in künstliche Intelligenz usw.), sich bis 2030-50 als führende Wirtschaftsmacht zu etablieren und bis 2050 eine „Weltklasse-Armee zu schaffen, die in der Lage ist, in jedem modernen Krieg den Sieg zu erringen“. Die sichtbarste Ausdrucksform ihrer Ambitionen ist die seit 2013 eingeleitete Errichtung der „Neuen Seidenstraßen“ (Schaffung von Verkehrskorridoren auf See und an Land, Zugang zum europäischen Markt und Schutz ihrer Handelsrouten), die als Mittel zur Stärkung ihrer wirtschaftlichen Präsenz, aber auch als Instrument zur Entwicklung ihrer imperialistischen Macht in der Welt und auf lange Sicht konzipiert sind und die die amerikanische Vorherrschaft unmittelbar bedrohen.

Dieser Aufstieg Chinas führt zu einer allgemeinen Destabilisierung der Beziehungen zwischen den Mächten, die bereits in eine ernsthafte strategische Phase eingetreten sind, in der die dominante Macht, die Vereinigten Staaten, versucht, die chinesischen Macht, die sie bedroht, einzudämmen und deren Aufstieg zu brechen. Die von Obama begonnene amerikanische Reaktion – von Trump wieder aufgegriffen und mit anderen Mitteln verstärkt – stellt einen Wendepunkt in der amerikanischen Politik dar. Die Verteidigung ihrer Interessen als Nationalstaat folgt nun der Politik des „Jeder-für-sich“, die die imperialistischen Beziehungen dominiert: Die Vereinigten Staaten entwickeln sich vom Weltpolizisten zum Hauptfaktor einer Politik des  „Jeder-für-sich“, d.h. einer Politik des Chaos und stellen die seit 1945 unter ihrer Schirmherrschaft entstandene Weltordnung in Frage.

Dieser „strategische Kampf für die neue Weltordnung zwischen den Vereinigten Staaten und China“, der in allen Bereichen gleichzeitig geführt wird, erhöht die Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit weiter, die bereits in der besonders komplexen, instabilen und sich wandelnden Situation des Zerfalls verankert sind: Dieser große Konflikt zwingt alle Staaten, ihre sich entwickelnden imperialistischen Optionen zu überdenken.

11) Die Phasen des Aufstiegs Chinas sind untrennbar mit der Geschichte der imperialistischen Blöcke und ihrem Verschwinden 1989 verbunden: Die Position der Kommunistischen Linken über die „Unmöglichkeit der Entstehung neuer Industrienationen“ in der Zeit der Dekadenz und die Verurteilung von Staaten, „die ihren industriellen Rückstand vor dem Ersten Weltkrieg nicht wettmachen konnten“, dazu, „in totaler Unterentwicklung zu stagnieren oder in eine chronische Abhängigkeit gegenüber den hochindustrialisierten Ländern zu geraten“, galt im Zeitraum von 1914 bis 1989. Es war die Zwangsjacke der Organisation der Welt in zwei gegnerische imperialistische Blöcke (andauernd zwischen 1945 und 1989) zur Vorbereitung auf den Weltkrieg, die jede größere Umwälzung der Hierarchie zwischen den Mächten verhinderte. Chinas Aufstieg begann mit der amerikanischen Hilfe, die seine imperialistische Annäherung an die Vereinigten Staaten im Jahr 1972 belohnte. Er setzte sich nach dem Verschwinden der Blöcke im Jahr 1989 entschlossen fort. China scheint der Hauptnutznießer der „Globalisierung“ zu sein, nachdem es 2001 der WTO beigetreten und zur Werkstatt der Welt geworden war; dorthin wurden immer mehr Produktionsstandorte aus dem Westen verlagert und seitens des Westens immer mehr investiert, so dass es schließlich zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt wurde. Es bedurfte der beispiellosen Umstände der historischen Epoche des Zerfalls, um China den Aufstieg zu ermöglichen; ohne diese Umstände des Zerfalls wäre es nicht dazu gekommen.

Chinas Macht trägt alle Stigmata der Endphase des Kapitalismus: Sie basiert auf der extremen Ausbeutung der proletarischen Arbeitskräfte, auf der ungezügelten Entwicklung der Kriegswirtschaft durch das nationale Programm der „militärisch-zivilen Fusion“ und wird von der katastrophalen Zerstörung der Umwelt begleitet, während der „nationale Zusammenhalt“ auf der polizeilichen Kontrolle der Massen beruht, die der politischen Bildung der Einheitspartei und in Xinjiang und Tibet brutaler physischer Unterdrückung unterworfen sind. Tatsächlich ist China nur eine riesige Metastase des generalisierten militärischen Krebsgeschwürs des gesamten kapitalistischen Systems: Seine Rüstungsproduktion entwickelt sich in rasendem Tempo, sein Verteidigungshaushalt hat sich in 20 Jahren versechsfacht und liegt seit 2010 an zweiter Stelle der Welt.

12) Die Errichtung der „Neuen Seidenstraße“ und Chinas allmählicher, anhaltender und langfristiger Fortschritt (Abschluss von Wirtschaftsabkommen oder zwischenstaatlichen Partnerschaften in der ganzen Welt (mit Italien; mit dem Zugang zum Hafen von Athen im Mittelmeerraum) bis nach Lateinamerika; mit der Errichtung einer Militärbasis in Dschibuti – dem Tor zu seinem wachsenden Einfluss auf dem afrikanischen Kontinent) betrifft alle Staaten und stört das ganze „bestehende Gleichgewicht“.

In Asien hat China bereits das Gleichgewicht der imperialistischen Kräfte zum Nachteil der Vereinigten Staaten verändert. Es ist jedoch nicht möglich, dass es die durch den Niedergang der amerikanischen Führung hinterlassene „Lücke“ automatisch füllt, weil das Jeder-für-sich im imperialistischen Bereich dominiert und das Misstrauen, das seine Macht hervorruft. Bedeutende imperialistische Spannungen haben sich insbesondere in folgenden Konflikten aufgebaut:

  • Indien, das die Schaffung der Seidenstraße in seiner unmittelbaren Umgebung (Pakistan, Burma, Sri Lanka) als Strategie der Einkreisung und als Angriff auf seine Souveränität anprangert, unternimmt ein großes Programm zur Modernisierung seiner Armee und hat seinen Haushalt seit 2008 fast verdoppelt;
  • und Japan, das den gleichen Wunsch hat, China zu blockieren. Tokio hat damit begonnen, seinen Status nach dem Zweiten Weltkrieg in Frage zu stellen, der seine rechtliche und materielle Fähigkeit zur Anwendung militärischer Gewalt einschränkt, und es unterstützt direkt andere Staaten in der Region, diplomatisch, aber auch militärisch, um China gemeinsam zu konfrontieren.

Die Feindseligkeit dieser beiden Staaten gegenüber China treibt ihre Konvergenz und ihre Annäherung an die Vereinigten Staaten voran. Letztere haben eine Vier-Parteien-Allianz Japan-Vereinigte Staaten-Australien-Indien ins Leben gerufen, die einen Rahmen für die diplomatische, aber auch militärische Annäherung zwischen den verschiedenen Staaten gegen den Aufstieg Chinas bietet.

In dieser Phase des „Aufholens“ gegenüber der US-Macht durch China versucht dieses, seine hegemonialen Ambitionen zu verbergen, um eine direkte Konfrontation mit seinem Rivalen zu vermeiden, die seinen langfristigen Plänen schadet, während die Vereinigten Staaten jetzt die Initiative ergreifen, die chinesischen Bemühungen zu blockieren, und den größten Teil ihrer imperialistischen Aufmerksamkeit auf den indisch-pazifischen Raum richten.

13) Trotz Trumps Populismus, trotz Meinungsverschiedenheiten innerhalb der amerikanischen Bourgeoisie über die Verteidigung ihrer Führung und trotz Spaltungen, insbesondere in Bezug auf Russland, verfolgt die Trump-Administration eine imperialistische Politik in Kontinuität und Übereinstimmung mit den grundlegenden imperialistischen Interessen des amerikanischen Staates. Die Mehrheit der Sektoren der amerikanischen Bourgeoisie ist sich einig, dass es wichtig ist, den Rang der USA als unbestritten führende Weltmacht zu verteidigen.

Angesichts der chinesischen Herausforderung durchlaufen die Vereinigten Staaten eine große Transformation ihrer imperialistischen Weltstrategie. Diese Verschiebung basiert auf der Beobachtung, dass der Rahmen der „Globalisierung“ die Position der Vereinigten Staaten nicht gesichert, sondern eher geschwächt hat. Die Formalisierung des Prinzips der Verteidigung nur ihrer Interessen als Nationalstaat und die Auferlegung profitabler Machtverhältnisse als Hauptgrundlage für die Beziehungen zu anderen Staaten durch die Trump-Administration bestätigt das Scheitern der Politik der letzten 25 Jahre des Kampfes gegen die Tendenz des „Jeder-für-sich“ als Weltpolizist zur Verteidigung der ab 1945 geltenden Weltordnung und zieht die Konsequenzen daraus.

Diese Trendwende der Vereinigten Staaten spiegelt sich wider in:

- dem Rückzug aus (oder Infragestellung von) internationalen Abkommen und Institutionen, die zu Hindernissen für ihre Vorherrschaft geworden sind oder den gegenwärtigen Bedürfnissen des amerikanischen Imperialismus widersprechen: Rückzug aus dem Pariser Abkommen über den Klimawandel, Reduzierung der Beiträge an die UNO und Rückzug aus der UNESCO, dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, dem Globalen Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration;

  • der Bereitschaft zur Anpassung der NATO, des von den Blöcken geerbten militärischen Bündnisses, das in der gegenwärtigen Konfiguration der imperialistischen Spannungen viel von seiner Relevanz verloren hat, indem sie den Verbündeten eine größere finanzielle Verantwortung für ihren Schutz auferlegt und den automatischen Charakter der Entsendung des amerikanischen Schutzschirms revidiert haben;
  • der Tendenz, den Multilateralismus zugunsten bilateraler Abkommen (basierend auf seiner militärischen und wirtschaftlichen Stärke) aufzugeben und die Hebel der wirtschaftlichen Erpressung, des Terrors und der Androhung von roher militärischer Gewalt (wie von Atomschlägen gegen Korea) zu nutzen, um sich durchzusetzen;
  • dem Handelskrieg mit China, vor allem mit dem Ziel, China jede Möglichkeit zu verwehren, wirtschaftliche Bedeutung zu erlangen und strategische Sektoren zu entwickeln, die es ihm ermöglichen würden, die Hegemonie der USA direkt in Frage zu stellen;
  • der Infragestellung multilateraler Rüstungskontrollvereinbarungen (NIF-Vertrag und START), um ihre technologische Führungsrolle zu behaupten und den Rüstungswettlauf wieder in Gang zu bringen, um die amerikanischen Konkurrenten zu erschöpfen (gemäß der bewährten Strategie, die zum Zusammenbruch der UdSSR führte). Die Vereinigten Staaten haben 2018 einen der höchsten Militärhaushalte ihrer Geschichte angenommen; sie erneuern ihre nuklearen Fähigkeiten und erwägen die Schaffung einer sechsten Komponente der US-Armee, um den Weltraum zu beherrschen, um den Bedrohungen Chinas im Satellitenbereich zu begegnen.

Das Vandalen-Verhalten eines Trump, das amerikanische internationale Verpflichtungen über Nacht unter Missachtung etablierter Regeln kündigen kann, stellt einen neuen und starken Faktor der Unsicherheit dar und gibt weitere Impulse zum „Jeder-für-sich“. Es ist ein weiteres Kennzeichen der neuen Phase, in der der Kapitalismus weiter in die Barbarei und den Abgrund des ungezügelten Militarismus versinkt.

14) Der Wandel in der amerikanischen Strategie ist auf einigen den wichtigsten imperialistischen Schauplätzen spürbar:

  • Im Nahen Osten besteht das erklärte Ziel der Vereinigten Staaten gegenüber dem Iran (und der Sanktionen gegen ihn) darin, das Regime zu destabilisieren und zu stürzen, indem sie seine internen Spaltungen ausnutzen. Während die Vereinigten Staaten versuchen, ihren begonnenen militärischen Rückzug aus dem Sumpf von Afghanistan und Syrien fortzusetzen, verlassen sie sich nun einseitig auf ihre Verbündeten in Israel und insbesondere Saudi-Arabien (die bei weitem größte regionale Militärmacht) als Rückgrat ihrer Politik zur Eindämmung des Iran. In diesem Zusammenhang geben sie jedem dieser beiden Staaten und ihren jeweiligen Führern die Garantie einer unerschütterlichen Unterstützung an allen Fronten, um ihr Bündnis zu straffen (Bereitstellung modernster militärischer Ausrüstung, Unterstützung von Trump im Skandal um die Ermordung des saudischen Oppositionellen Khashoggi, Anerkennung von Ost-Jerusalem als Hauptstadt Israels und der israelischen Souveränität auf den syrischen Golanhöhen). Die Priorität der Eindämmung des Iran geht einher mit der Aussicht, die Osloer Abkommen mit ihrer „Zwei-Staaten-Lösung“ (Israel und Palästina) für die Palästina-Frage aufzugeben. Die Einstellung der US-Hilfe für die Palästinenser und die PLO und der Gegenvorschlag eines ‚großen Deals‘ (die Aufgabe jedes Anspruchs auf die Schaffung eines palästinensischen Staates als Gegenleistung für eine ‚riesige‘ US-Wirtschaftshilfe) zielen darauf ab, den palästinensischen Streitpunkt zu lösen, der von allen regionalen Imperialisten gegen die Vereinigten Staaten instrumentalisiert wurde, um die tatsächliche Annäherung zwischen ihren arabischen und israelischen Verbündeten zu erleichtern.
  • In Lateinamerika führen die Vereinigten Staaten eine Gegenoffensive durch, um eine bessere imperialistische Kontrolle in ihrem traditionellen Einflussbereich zu gewährleisten. Der Aufstieg von Bolsonaro zur Regierungsmacht in Brasilien ist als solcher nicht das Ergebnis eines einfachen Populismusschubs, sondern das Ergebnis einer gewaltigen Operation des amerikanischen Drucks auf die brasilianische Bourgeoisie, eine Strategie, die vom amerikanischen Staat mit dem Ziel verfolgt wird, Brasilien wieder unter seine imperialistischen Fittiche zu bringen. Als Auftakt zu einem umfassenden Plan zum Sturz der antiamerikanischen Regime der „Troika der Tyrannei“ (Kuba, Venezuela und Nicaragua) haben wir den bisher erfolglosen Versuch gesehen, den chavistischen Clan des Maduro-Regimes in Venezuela zu beseitigen.

Washington fügt jedoch China eindeutig einen Rückschlag zu, das Venezuela zu seinem politischen Verbündeten zur Ausweitung seines Einflusses auserwählt und sich als machtlos gegenüber den USA erwiesen hat, sich ihrem Druck zu widersetzen. Es ist nicht unmöglich, dass diese amerikanische Offensive der imperialistischen Rückeroberung ihres lateinamerikanischen Hinterhofes eine systematischere Offensive gegen China auf anderen Kontinenten einleiten könnte. Vorläufig ebnet sie den Weg zum Einbruch Venezuelas in das Chaos eines festgefahrenen Zusammenstoßes zwischen bürgerlichen Fraktionen sowie zu einer zunehmenden Destabilisierung der gesamten südamerikanischen Zone.

15) Die gegenwärtige allgemeine Verstärkung der imperialistischen Spannungen spiegelt sich in der Wiederbelebung des Wettrüstens und des Kampfes um die militärische technologische Vorherrschaft nicht nur dort wider, wo die Spannungen am deutlichsten sind (in Asien und im Nahen Osten), sondern für alle Staaten, alle führenden Großmächte. Alles deutet darauf hin, dass eine neue Phase der interimperialistischen Auseinandersetzungen und der tieferen Versenkung des Systems in die Kriegsbarbarei bevorsteht.

In diesem Kontext wird die EU (Europäische Union) in Bezug auf die internationale imperialistische Situation weiterhin der Tendenz zur Fragmentierung begegnen, wie sie im Bericht über die imperialistischen Spannungen vom Juni 2018 (International Review Nr. 161, engl./frz./span. Ausgabe; auf Deutsch auf der Webseite unter Bericht über die imperialistischen Spannungen [28]) analysiert ist.

Die Wirtschaftskrise

16) Auf wirtschaftlicher Ebene ist die Situation des Kapitalismus seit Anfang 2018 durch eine starke Verlangsamung des weltweiten Wachstums gekennzeichnet (von 4% im Jahr 2017 auf 3,3% im Jahr 2019), aufgrund derer die Bourgeoisie eine weitere Verschlechterung in den Jahren 2019-20 erwartet. Diese Verlangsamung erwies sich 2018 als stärker wie erwartet, und der IWF musste seine Prognosen für die nächsten zwei Jahre zurückschrauben, und sie betrifft praktisch alle Teile des Kapitalismus gleichzeitig: China, die Vereinigten Staaten und die Eurozone. Im Jahr 2019 haben sich 70% der Weltwirtschaft verlangsamt, insbesondere in den „fortgeschrittenen“ Ländern (Deutschland, Vereinigtes Königreich). Einige der Schwellenländer befinden sich bereits in der Rezession (Brasilien, Argentinien, Türkei), während China, das sich seit 2017 verlangsamt und 2019 voraussichtlich noch um 6,2% wachsen wird, die niedrigsten Wachstumsraten seit 30 Jahren verzeichnet.

Der Wert der meisten Währungen in den Schwellenländern hat sich teilweise deutlich abgeschwächt, wie in Argentinien und der Türkei.

Ende 2018 verzeichnete der Welthandel ein Nullwachstum, während die Wall Street 2018 die größten „Korrekturen“ an den Aktienmärkten der letzten 10 Jahre erlebte. Die meisten Indikatoren blinken und legen die Aussicht auf einen neuen Tiefpunkt in der kapitalistischen Wirtschaft frei.

17) Die Kapitalistenklasse hat keine Zukunft anzubieten, ihr System wurde von der Geschichte verurteilt. Seit der Krise von 1929, der ersten großen Krise im Zeitalter der Dekadenz des Kapitalismus, hat die Bourgeoisie nicht aufgehört, die Intervention des Staates zur Ausübung der allgemeinen Kontrolle über die Wirtschaft zu vergrößern. Zunehmend mit einer Verengung der außerkapitalistischen Märkte konfrontiert, die mehr und mehr von einer allgemeinen Überproduktion bedroht sind, hat sich „der Kapitalismus (...) durch die bewusste Intervention der Bourgeoisie am Leben (erhalten), die es sich nicht länger leisten kann, der unsichtbaren Hand des Marktes zu trauen. Doch die Lösungen werden auch zu Problemen:

  • Die zunehmende Verschuldung produziert einen Berg von Problemen für die Zukunft;
  • das Aufblähen des Staates und des Rüstungssektors erzeugt einen enormen inflationären Druck.

Seit den 70er Jahren haben diese Probleme zu verschiedenen Wirtschaftsstrategien geführt, die abwechslungsweise auf den „Keynesianismus“ und den „Neo-Liberalismus“ setzten, doch keine kann die bestehenden Probleme in den Griff bekommen, geschweige denn eine endgültige Lösung herbeiführen. Bemerkenswert ist jedoch die Entschlossenheit der Bourgeoisie, ihre Wirtschaft um jeden Preis am Leben zu erhalten und ihre Fähigkeit, die Tendenz zum Zusammenbruch durch eine gigantische Verschuldung zu bremsen.“ (Resolution zur internationalen Lage, 16. Kongress der IKS, 2005)

Der auf der Ebene jedes nationalen Kapitals errichtete Staatskapitalismus, der aus den Widersprüchen der Dekadenz und der historischen Sackgasse des kapitalistischen Systems hervorgeht, gehorcht jedoch nicht einem strengen wirtschaftlichen Determinismus; im Gegenteil, sein Handeln, das im Wesentlichen politischer Natur ist, integriert und kombiniert gleichzeitig die wirtschaftliche Dimension, die soziale (wie man seinen Klassenfeind entsprechend dem Kräfteverhältnis zwischen den Klassen bekämpft) und die imperialistische Dimension (die Notwendigkeit, einen riesigen Rüstungssektor im Zentrum jeder wirtschaftlichen Aktivität zu halten). So hat der Staatskapitalismus in der Geschichte der Dekadenz verschiedene Phasen und Organisationsmodalitäten erlebt.

18) In den 1980er Jahren wurde unter dem Einfluss der großen Wirtschaftsmächte eine solche neue Phase eingeleitet: die der „Globalisierung“. In einem ersten Schritt erfolgte sie zunächst in Form der Reaganomics, schnell gefolgt von einer zweiten, die die beispiellose historische Situation des Zusammenbruchs des Ostblocks nutzte, um eine umfassende Reorganisation der kapitalistischen Produktion auf globaler Ebene zwischen 1990 und 2008 zu erweitern und zu vertiefen.

Die Aufrechterhaltung der Zusammenarbeit zwischen den Staaten, insbesondere unter Nutzung der alten Strukturen des Westblocks, und die Aufrechterhaltung einer gewissen Ordnung im Handel waren Mittel zur Bewältigung der sich verschärfenden Krise (die Rezessionen von 1987 und 1991-93), aber auch der ersten Auswirkungen der Zerfalls, die im wirtschaftlichen Bereich damit weitgehend abgeschwächt werden konnten.

Nach dem Beispiel der EU bei der Beseitigung von Zollschranken zwischen den Mitgliedstaaten wurde die Integration vieler Zweige der Weltproduktion durch die Entwicklung echter Produktionsketten auf globaler Ebene verstärkt. Durch die Kombination von Logistik, Informationstechnologie und Telekommunikation, werden Größenvorteile erzielt; durch die verstärkte Nutzung der Arbeitskraft des Proletariats (durch erhöhte Produktivität, internationalen Wettbewerb, Freizügigkeit der Arbeitskräfte, um niedrigere Löhne durchzusetzen), die Unterordnung der Produktion unter die finanzielle Logik der maximalen Rentabilität hat der Welthandel, wenn auch in geringerem Maße, weiter zugenommen, die Weltwirtschaft stimuliert und einen „zweiten Atemstoß“ erzeugt, der die Existenz des kapitalistischen Systems verlängert hat.

19) Der Krach von 2007/09 bedeutete einen weiteren Schritt beim Versinken des kapitalistischen Systems in seine unumkehrbare Krise: Nach vier Jahrzehnten des Rückgriffs auf Kredite und Schulden, um dem wachsenden Hang zur Überproduktion entgegenzuwirken, unterbrochen von immer tieferen Rezessionen und immer begrenzteren Erholungen, war die Rezession 2009 die bedeutendste seit der Weltwirtschaftskrise. Es war das massive Eingreifen der Staaten und ihrer Zentralbanken, welches das Bankensystem vor dem völligen Bankrott bewahrte und eine riesige Staatsverschuldung schuf, indem die Zentralbanken Staatsanleihen zurückkauften, die nicht mehr zurückgezahlt werden konnten.

Das chinesische Kapital, das auch stark von der Krise betroffen ist, hat eine wichtige Rolle bei der Stabilisierung der Weltwirtschaft gespielt, indem es Pläne zur Wiederbelebung der Wirtschaft in den Jahren 2009, 2015 und 2019 auf der Grundlage massiver Staatsverschuldung umgesetzt hat.

Nicht nur die Ursachen der Krise 2007-2011 sind nicht gelöst oder überwunden, sondern auch die Schwere und die Widersprüche der Krise sind auf ein höheres Niveau gerückt: Es sind nun die Staaten selbst, die mit der erdrückenden Last ihrer Schulden konfrontiert sind (den „Staatsschulden“), die ihre Interventionsfähigkeit zur Wiederbelebung ihrer jeweiligen Volkswirtschaften weiter beeinträchtigen. „Schulden wurden eingesetzt, um die ungenügenden Absatzmärkte zu kompensieren, doch dies führt zu keinem Wachstum, wie die ab 2007 einsetzende Finanzkrise verdeutlicht. Wie auch immer, all die Maßnahmen, die zur erneuten Beschränkung der Schulden ergriffen werden, konfrontieren den Kapitalismus mit seiner Überproduktionskrise, und das in einem internationalen Kontext der permanenten Zuspitzung und Begrenzung des Spielraums für finanzielle Manöver.“ (Resolution zur internationalen Lage, 20. Kongress der IKS, 2013).

20) Die aktuelle Entwicklung der Krise durch die zunehmenden Störungen, die sie in der Organisation der Produktion zu einer riesigen multilateralen Konstruktion auf internationaler Ebene erleidet, die durch gemeinsame Regeln vereinheitlicht sein sollten, zeigt die Grenzen der „Globalisierung“. Das ständig wachsende Bedürfnis nach Einheit (was nie etwas anderes bedeutet hat als die Auferlegung des Gesetzes des Stärkeren auf die Schwächsten) einer aufgrund der „transnationalen“ Verflechtung stark nach Ländern segmentierten Produktion (in Einheiten, die grundsätzlich durch Wettbewerb getrennt sind und in denen jedes Produkt an einem Ort entworfen und mit Hilfe von Elementen, die anderswo hergestellt werden, an einem dritten Ort zusammengebaut wird) stößt sich am nationalen Wesen jedes Kapitals, an die Grenzen des Kapitalismus, der unwiderruflich in sich gegenseitig konkurrierende Nationen aufgeteilt ist. Dies ist der maximale Grad der Einheit, den die bürgerliche Welt nicht aufheben kann. Die sich vertiefende Krise (sowie die Forderungen der imperialistischen Rivalität) stellen multilaterale Institutionen und Mechanismen auf eine harte Probe.

Diese Tatsache wird durch die derzeitige Haltung der beiden Hauptmächte im Wettbewerb um die Weltherrschaft veranschaulicht:

  • China hat seinen wirtschaftlichen Aufstieg sowohl der Nutzung der Hebel des WTO-Multilateralismus als auch der Entwicklung seiner eigenen Politik der Wirtschaftspartnerschaften zu verdanken (z.B. mit dem Projekt der „Neuen Seidenstraße“, das darauf abzielt, der Verlangsamung seines Wachstums entgegenzuwirken) ohne Rücksicht auf ökologische oder „demokratische“ Standards (die typisch sind für die Globalisierungspolitik zur Durchsetzung westlicher Standards und des globalen Wettbewerbs zwischen Begünstigten und Verlierern der Globalisierung). Ideologisch stellt China die westlich-liberale Ordnung, die sich aus seiner Sicht im Niedergang befindet, in Frage und versucht, seit 2012 durch die Schaffung von Institutionen (Shanghai-Organisation, Asiatische Entwicklungsbank...) die Grundlagen für eine alternative, konkurrierende Weltordnung zu schaffen, die die Bourgeoisie als „antifreiheitlich“ bezeichnet.
  • Der amerikanische Staat unter der Trump-Administration (unterstützt von einer Mehrheit der amerikanischen Bourgeoisie) sieht sich als Verlierer der „Globalisierung“ (die er ursprünglich initiiert hatte), da seine Position als Weltmarktführer von seinen Rivalen (hauptsächlich China, aber auch Westmächten wie Deutschland) nach und nach untergraben wurde. Die Politik von „America First“ tendiert dazu, Regulierungsinstitutionen (WTO, G7 und G20) zu umgehen, die je länger je weniger in der Lage sind, die Position Amerikas zu bewahren (was ihre Hauptaufgabe war), und stattdessen bilaterale Abkommen bevorzugen, die ihre Interessen und die für die Geschäftstätigkeit wesentliche Stabilität besser verteidigen.

21) Der Einfluss des Zerfalls ist ein zusätzlicher destabilisierender Faktor. Insbesondere die Entwicklung des Populismus verschärft die sich verschlechternde Wirtschaftslage weiter, indem er einen Faktor der Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit angesichts der Turbulenzen der Krise einführt. Die Machtergreifung populistischer Regierungen mit unrealistischen Programmen für das nationale Kapital, die das Funktionieren der Weltwirtschaft und des Handels schwächen, schafft ein Durcheinander und erhöht die Gefahr einer Schwächung der vom Kapitalismus seit 1945 auferlegten Maßnahmen, die darauf abzielten, einen autarken Rückzug auf den nationalen Rahmen zu vermeiden, der die unkontrollierte Ausbreitung der Wirtschaftskrise fördert. Das Durcheinander des Brexit und der schwierige Austritt aus der EU sind ein weiteres Beispiel: Die Unfähigkeit der britischen Regierungsparteien, über die Bedingungen für die Trennung und die Art der künftigen Beziehungen zur Europäischen Union zu entscheiden, die Unsicherheiten bei der „Wiederherstellung“ der Grenzen, insbesondere zwischen Nordirland und Irland, die ungewisse Zukunft eines proeuropäischen Schottlands, das sich vom Vereinigten Königreich zu trennen droht, beeinträchtigen die englische Wirtschaft (durch die Entwertung des Pfunds) sowie die seiner ehemaligen EU-Partner, die um die langfristige Stabilität gebracht werden, die sie zur Regulierung der Wirtschaft benötigen.

Die Meinungsverschiedenheiten über die Wirtschaftspolitik in Großbritannien, den USA und anderswo zeigen, dass es nicht nur zwischen rivalisierenden Nationen, sondern auch im eigenen Land wachsende Spaltungen gibt – Spaltungen zwischen „Multilateralisten“ und „Unilateralisten“, aber auch innerhalb dieser beiden Ansätze (z.B. zwischen „harten“ und „weichen“ Brexitern im Vereinigten Königreich). Nicht nur gibt es keinen Minimalkonsens mehr über die Wirtschaftspolitik unter den Ländern des ehemaligen Westblocks – diese Frage wird auch innerhalb der nationalen Bourgeoisien selbst immer kontroverser.

22) Die gegenwärtige Anhäufung all dieser Widersprüche im aktuellen Kontext der fortschreitenden Wirtschaftskrise sowie die Fragilität des Währungs- und Finanzsystems und die massive weltweite Verschuldung der Staaten nach 2008 eröffnen eine Zeit schwerer Verwerfungen und stellen das kapitalistische System wieder vor die Aussicht auf einen Abwärtstrend. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass der Kapitalismus sicherlich nicht alle Mittel endgültig ausgeschöpft hat, die sein Versinken in der Krise verlangsamen und unkontrollierte Situationen, insbesondere in den Kernländern, vermeiden sollen. Die Überschuldung der Staaten, bei denen ein wachsender Teil des Sozialprodukts für den Schuldendienst aufgewendet werden muss, wirkt sich stark auf die nationalen Haushalte aus und verringert ihren Handlungsspielraum angesichts der Krise erheblich. Deshalb ist es gewiss, dass diese Situation:

  • die Politik der Verschuldung als wichtigstes Linderungsmittel gegenüber den Widersprüchen der Überproduktionskrise und als Mittel zum Aufschub der Fristen mit der Aussicht auf immer schwerwiegendere zukünftige Verwerfungen nicht beenden wird;
  • das Wettrüsten, zu dem jeder Staat unwiderruflich verurteilt ist, nicht bremsen wird. Es nimmt mit dem wachsenden Gewicht der Kriegswirtschaft und der Rüstungsproduktion, dem wachsenden Anteil am BIP, der weiterhin auf diese Produktion verwendet wird (und der heute den höchsten Stand seit 1988, zum Zeitpunkt der Konfrontation zwischen imperialistischen Blöcken, erreicht), eine offensichtlich irrationale Form an.

23) Was das Proletariat betrifft, so können diese neuen Verwerfungen nur zu noch schwerwiegenderen Angriffen auf seine Lebens- und Arbeitsbedingungen auf allen Ebenen und insbesondere in der ganzen Welt führen:

  • durch die verstärkte Ausbeutung der Arbeitskraft mittels weiterer Lohnsenkungen und Erhöhung des Rhythmus und der Produktivität in allen Sektoren;
  • durch den weiteren Abbau der Überreste des Sozialstaates (zusätzliche Einschränkungen der verschiedenen Leistungssysteme für Arbeitslose, der Sozialhilfe und der Altersrenten) und ganz allgemein durch den „sanften“ Verzicht auf die Finanzierung aller Formen von Hilfe oder Unterstützung im freiwilligen oder halböffentlichen Sektor;
  • die Verringerung der staatlichen Kosten, die Bildung und Gesundheit bei der Produktion und Erhaltung der Arbeitskraft des Proletariats verursachen (und damit erhebliche Angriffe auf die Proletarier in diesen öffentlichen Bereichen);
  • die Verschärfung und weitere Ausbreitung der Prekarität als Mittel dafür, das Gewicht der Massenarbeitslosigkeit auf alle Teile der Klasse zu verteilen.
  • -Angriffe, die sich hinter Finanzoperationen verbergen, wie z.B. negative Zinssätze, die kleine Sparkonten und Pensionsfonds untergraben. Und obwohl die offiziellen Inflationsraten für Konsumgüter in vielen Ländern niedrig sind, haben Spekulationsblasen zu einer wahren Explosion der Wohnungskosten beigetragen.
  • die Erhöhung der Lebenshaltungskosten, insbesondere der Steuern und der Preise von Gütern des täglichen Bedarfs.

Obwohl die Bourgeoisie in allen Ländern immer mehr gezwungen ist, ihre Angriffe auf die Arbeiterklasse zu verstärken, ist ihr Handlungsspielraum auf der politischen Ebene keineswegs erschöpft. Wir können sicher sein, dass sie alle Mittel einsetzen wird, um zu verhindern, dass das Proletariat auf seinem eigenen Klassenterrain auf die zunehmende Verschlechterung seiner Lebensbedingungen durch die Verwerfungen in der Weltwirtschaft reagiert.

Mai 2019

Rubric: 

Internationale Revue 56

Resolution über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen (2019)

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1) Ende der 1960er Jahre, mit der Erschöpfung des wirtschaftlichen Aufschwungs der Nachkriegszeit, war die Arbeiterklasse angesichts der sich verschlechternden Lebensbedingungen wieder auf der gesellschaftlichen Bühne aufgetaucht. Die international explodierenden Arbeiterkämpfe beendeten die längste Zeit der Konterrevolution in der Geschichte, öffneten einen neuen historischen Kurs in Richtung Klassenkonfrontationen und hinderten die herrschende Klasse daran, ihre eigene Antwort auf die akute Krise des Kapitalismus zu geben: einen dritten Weltkrieg. Dieser neue historische Kurs war durch das Aufkommen massiver Kämpfe gekennzeichnet, insbesondere in den zentralen Ländern Westeuropas mit der Bewegung vom Mai 1968 in Frankreich, gefolgt vom „Heißen Herbst“ in Italien 1969 und vielen anderen Kämpfen wie in Argentinien im Frühjahr 1969 und in Polen im Winter 1970-71. In diesen massiven Bewegungen erhoben große Teile der neuen Generation, die keinen Krieg erlebt hatten, erneut die Perspektive des Kommunismus zur realen Möglichkeit.

Im Zusammenhang mit dieser allgemeinen Bewegung der Arbeiterklasse in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren müssen wir auch die internationale Wiederbelebung der organisierten Kommunistischen Linken in einem sehr kleinen, aber nicht minder bedeutenden Ausmaß hervorheben, der Tradition, die der Flagge der proletarischen Weltrevolution in der langen Nacht der Konterrevolution treu geblieben war. In diesem Prozess stellte die Gründung der IKS einen wichtigen Impuls für die Kommunistische Linke als Ganzes dar.

Angesichts einer Dynamik, die zu einer Politisierung der Arbeiterkämpfe führte, entwickelte die Bourgeoisie (die von der Bewegung vom Mai 1968 überrascht worden war) sofort eine groß angelegte und langfristige Gegenoffensive, um zu verhindern, dass die Arbeiterklasse ihre eigene Antwort auf die historische Krise der kapitalistischen Wirtschaft gibt: die proletarische Revolution.

2) Aufgrund des Bruchs in der politischen Kontinuität mit der Arbeiterbewegung der Vergangenheit manifestierte sich die Tendenz zur Politisierung der 1960er Jahre in der Entstehung dessen, was Lenin einen „politischen Sumpf“ nannte: ein Milieu von verwirrten Gruppen und Elementen und gleichzeitig eine Übergangszone, die zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat liegt. Im Moment seiner größten Ausdehnung umfasste dieser Bereich der Politisierung vor allem junge und unerfahrene Menschen, viele von ihnen Student*innen. Bereits in der ersten Hälfte der 1970er Jahre war das Ergebnis einer Kristallisierung innerhalb dieser Zone, dass:

- es der Linken des Kapitals gelang, einen großen Teil dieser jungen Elemente, die am Prozess der Politisierung beteiligt waren, für sich zu gewinnen;

- Frustration und Enttäuschung viele von ihnen, die stark von der Ungeduld und dem „Radikalismus“ des Kleinbürgertums geprägt waren, zu Teilkämpfen führten oder in gewaltsame, von kleinen Minderheiten getragene Aktionen des Terrorismus (Baader-Meinhof-Gruppe in Deutschland, Rote Brigaden in Italien, dann Action Directe in Frankreich);

- die Schichten des Sumpfes, die nach proletarischen Positionen strebten, dazu tendierten, sich in Richtung autonomer und/oder operaistischer (arbeitertümelnder) Politik oder der Verteidigung des Mythos der „Selbstverwaltung“ zu bewegen.

Darüber hinaus haben die „kritische“ Anlehnung der wichtigsten linken Gruppen (Trotzkisten und Maoisten) an die Konterrevolution und ihre organisatorische Praxis und Intervention als kryptostalinistische Sekten, aber auch der sinnlose Aktivismus des autonomen Milieus und der Gewaltkult der terroristischen Mikrogruppen einen großen Teil dieser neuen Generation auf dem Weg zu einer Politisierung zerstört. Dieses destruktive Unterfangen trug dazu bei, die wirkliche revolutionäre Bewegung des Proletariats zu entstellen und zu diskreditieren. Parallel zu dieser äußerst negativen Rolle, die der pseudoradikale Teil des Sumpfes und die Gruppen der extremen Linken spielten, entwickelte die Bourgeoisie eine breit angelegte und langfristige politische Gegenoffensive gegen die historische Wiederbelebung des Klassenkampfes. Diese politische Gegenoffensive der Bourgeoisie bestand zunächst Anfang der 1970 er Jahre darin, die „Alternative“ zu schaffen, die Linke in den wichtigsten westlichen Ländern an die Regierung zu bringen. Das Ziel, die Arbeiterklasse wieder in die Wahlurne zu treiben, indem man die Illusion sät, dass das Programm der linken Parteien es ermöglichen würde, die Lebensbedingungen der ausgebeuteten Massen zu verbessern. Diese erste Welle von Kämpfen, die sich seit Ende der 1960 er Jahre entwickelt hatte, erschöpfte sich daher in diesen „Jahren der Illusionen“.

3) Aber mit der Verschärfung der Wirtschaftskrise in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre war eine neue Welle von Arbeiterkämpfen entstanden, an denen auch das Proletariat in einigen osteuropäischen Ländern (insbesondere in Polen im Sommer 1980) beteiligt war.

Angesichts dieser Wiederaufnahme des Klassenkampfes nach einer kurzen Zeit des Rückflusses musste die Bourgeoisie ihre Strategie ändern, die darauf abzielte, jede Politisierung des Proletariats durch ihre wirtschaftlichen Kämpfe zu verhindern. Im Sinne einer vernünftigen Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen bürgerlichen Fraktionen wurde es den rechten Regierungsparteien überlassen, wirtschaftliche Angriffe gegen die Lebensbedingungen des Proletariats zu führen, während die linken Oppositionsparteien (unterstützt von den Gewerkschaften und Linken) die Verantwortung dafür trugen, die Kämpfe der Arbeiter*innen von innen zu sabotieren und sie auf das Terrain der parlamentarischen Mystifikationen zu lenken.

Der Massenstreik in Polen im August 1980 zeigte, dass das Proletariat trotz des bleiernen Gewichts der stalinistischen Regime in der Lage war, seinen Kopf zu heben und spontan seine Kampfmethoden wiederzuerlangen, einschließlich souveräner Vollversammlungen, der Wahl von diesen Versammlungen gegenüber rechenschaftspflichtigen Streikkomitees, der notwendigen geografischen Ausdehnung der Kämpfe und ihrer Vereinigung über korporatistische Spaltungen hinaus.

Dieser gigantische Kampf der Arbeiterklasse in Polen hat gezeigt, dass das Proletariat sich gerade im Kampf der Massen gegen wirtschaftliche Angriffe seiner eigenen Stärke bewusst werden, seine Klassenidentität gegen das Kapital bekräftigen und sein Selbstvertrauen entwickeln kann.

Aber die Niederlage der polnischen Arbeiter*innen mit der Gründung der „freien“ Gewerkschaft Solidarnosc (die von den Gewerkschaften der westlichen Länder unterstützt wurde) zeigte auch das sehr starke Gewicht demokratischer Illusionen in einem Land, in dem das Proletariat keine Erfahrung mit der bürgerlichen Demokratie hatte. Die Niederlage und Unterdrückung polnischer Arbeiter*innen eröffnete Anfang der 1980er Jahre eine neue Zeit des Rückzugs für den internationalen Klassenkampf.

4) Trotz seiner Tiefe war dieser Rückzug jedoch nur von kurzer Dauer. In der ersten Hälfte der 80er Jahre kam es angesichts der sich verschärfenden Wirtschaftskrise, der Explosion der Arbeitslosigkeit und der neuen Angriffe auf die Lebensbedingungen des Proletariats in den zentralen Ländern zu einer dritten Welle von Kämpfen. Trotz der Niederlage des langen Bergarbeiterstreiks in Großbritannien 1985 war diese Kampfwelle durch die Erosion der Linken in der Opposition gekennzeichnet, eine zunehmende Diskreditierung der Gewerkschaften (so geschehen in mehreren Ländern, darunter auch in Skandinavien, mit sporadischen spontanen Streiks, die außerhalb und gegen wiederholte Gewerkschaftsmanöver ausbrachen). Diese dritte Welle von Arbeiterkämpfen ging einher mit einer Zunahme der Stimmenthaltung bei den Wahlen.

Um nicht überrascht zu sein wie im Mai 68 und die ganze Dynamik der Konfrontation mit dem Gewerkschaftswesen an sich zu brechen, entwickelte die Bourgeoisie eine dritte Strategie: die Stärkung ihres Apparats zur Kontrolle der Arbeiterklasse durch den Einsatz von Basisgewerkschaften, angeführt von den Gruppen der extremen Linken des Kapitals. Angesichts des Anstiegs der Kampfbereitschaft, insbesondere im öffentlichen Sektor, stärkte die Bourgeoisie ihre gewerkschaftlichen und gewerkschaftsähnlichen Kräfte. Ziel dieser Politik war es, eine Ausweitung der Kämpfe über Unternehmen oder Sektoren hinaus zu verhindern, die Klassenidentität des Proletariats zu sabotieren, indem man zwischen „Kopf- und Handarbeiter*innen“ spaltete, und jede Tendenz zur Selbstorganisation des Proletariats zu stoppen.

5) Es war die britische Bourgeoisie (die intelligenteste der Welt), mit der Politik der „Eisernen Lady“ Margaret Thatcher, die den Ton für die Strategie der herrschenden Klasse in anderen zentralen Ländern angab, um die Dynamik des Klassenkampfes zu brechen.

Dank der sabotierenden Rolle der Bergarbeitergewerkschaft hatte die herrschende Klasse die Arbeiter*innen in einem langen, anstrengenden Teilstreik gefangen genommen, der völlig getrennt von anderen Produktionsbereichen war. Die vernichtende Niederlage des Bergarbeiterstreiks hat der gesamten Arbeiterklasse in diesem Land einen schweren Schlag versetzt. Dieser Erfolg der herrschenden Klasse in Großbritannien diente als Vorbild für die Bourgeoisie in anderen Ländern, insbesondere in Frankreich, dem Land in Europa, in dem das Proletariat traditionell sehr kämpferisch war. Die französische Bourgeoisie, inspiriert vom Beispiel der Eisernen Lady, die die Dynamik des Klassenkampfes blockierte, machte sich daran, die Arbeiter*innen im Korporatismus einzusperren, indem sie die Tendenz des „Jeder-gegen-jeden“ (eines der ersten Phänomene der Auflösung des Kapitalismus) voll ausnutzte.

Da die traditionell kämpferischsten und erfahrensten Sektoren des französischen Proletariats seit Mai 68 mehrfach mit Gewerkschaftssabotage konfrontiert waren (in den Bereichen Bergbau, Stahl, Verkehr, Automobilindustrie ...), konnte die Bourgeoisie eine solche Strategie nur nutzen, indem sie „Koordinationen“ einrichtete, welche die diskreditierten großen Gewerkschaftsbünden bei ihrer Sabotagearbeit ablösten.

In Italien, wo das Proletariat sehr wichtige und massenhafte Kämpfe geführt hatte (der Heiße Herbst 1969), benutzte die Bourgeoisie auch die gleiche Politik der korporatistischen Eindämmung, indem sie die Koordinationen der Bildungsarbeiter von 1987 wiederbelebte.

In Frankreich explodierte die Kampfbereitschaft trotz der Niederlage des Eisenbahnarbeiterstreiks 1986 (die der sabotierenden Arbeit der „Koordinationen“ bei der SNCF zu verdanken war) zwei Jahre später, 1988, wieder in einem anderen Teil des öffentlichen Sektors, in den Krankenhäusern. Angesichts einer tiefen und allgemeinen Unzufriedenheit gegenüber den Gewerkschaften und der potenziellen Gefahr, dass sich dieser massenhafte Kampf auf den gesamten öffentlichen Sektor ausbreitete, bekräftigte die herrschende Klasse erneut ihre Strategie der sektoriellen Einsperrung und Spaltung der Arbeiterklasse. Die französische Bourgeoisie konnte einen noch unerfahrenen und politisch „rückständiger“ gebliebenen Krankenhaussektor, die Krankenschwestern und -pfleger, nutzen, um jedes Streben nach Vereinigung in den Krankenhäusern zu kontrollieren und jede Möglichkeit einer Ausbreitung der Bewegung auf andere Teile des öffentlichen Sektors zu sabotieren.

Um die Bewegung im Krankenhaussektor zu brechen, bestand das Manöver der Bourgeoisie darin, den Krankenschwestern und -pflegern allein eine Art Bestechung anzubieten (eine Lohnerhöhung von 350 französischer Franken pro Monat, die eine Milliarde Franken verflüssigte, die bereits zu diesem Zweck in Reserve gehalten worden waren), während andere Kategorien in den Krankenhäusern, die sich für die Bewegung mobilisiert hatten, nichts erhielten! Diese Niederlage der Arbeiterklasse angesichts der historischen Tendenz des „Jeder-gegen-jeden“ konnte dem Proletariat nur dank der Drecksarbeit der selbsternannten „Krankenpflege-Koordination“ zugefügt werden, die mit Hilfe der CFDT sofort in Angriff genommen worden war. Diesem halbgewerkschaftlichen Organ gelang es, den Zorn des Pflegepersonals auf den sandigen Grund der Verteidigung eines bestimmten „Status“ zu führen, des „Bac plus 3“, der Grundlage für die Berechnung ihrer Löhne sein sollte, während ihre Bewegung mit dem Kampf gegen den Personalmangel und die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen begonnen hatte, von denen alle in den Krankenhäusern, „Kopf- und Handarbeiter*innen“ betroffen waren (siehe unsere Broschüre Bilan des luttes des infirmières: les coordinations, la nouvelle arme de la bourgeoisie). In den anderen Ländern Europas, auch in Deutschland (insbesondere in der Automobilindustrie), bestand dieses Manöver der Bourgeoisie darin, einer Gruppe von Arbeiter*innen desselben Unternehmens Lohnerhöhungen zu gewähren, um die Arbeiter*innen zu spalten, die Konkurrenz zwischen ihnen zu verschärfen, die Klassensolidarität zu schwächen und sie gegeneinander auszuspielen.

Aber noch schlimmer ist, dass die Bourgeoisie und ihre dressierten Gewerkschaften mit dieser Strategie, die Arbeiter*innen zu spalten und das „Jeder-gegen-jeden“ zu fördern, in der Lage waren, die Niederlagen des Proletariats als Siege darzustellen.

Die Revolutionäre dürfen den Machiavellismus der Bourgeoisie bei der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen nicht unterschätzen. Dieser Machiavellismus kann nur mit der Verschärfung der Angriffe auf die ausgebeutete Klasse fortgesetzt werden. Die Stagnation des Klassenkampfes, dann sein Rückzug Ende der 80er Jahre, resultierte aus der Fähigkeit der herrschenden Klasse, bestimmte Erscheinungsformen des Zerfalls der bürgerlichen Gesellschaft, insbesondere die Tendenz des „Jeder-gegen-jeden“, gegen die Arbeiterklasse zu wenden.

6) Seit dem Abebben der ersten Welle von Kämpfen waren es im Wesentlichen demokratische Illusionen (die durch die Gegenoffensive der Bourgeoisie und die gewerkschaftliche Sabotage angetrieben wurden), die das Haupthindernis für die Politisierung der Kämpfe der Arbeiterklasse darstellten.

Wie im Artikel in der Internationalen Revue Nr. 23 Der Kampf des Proletariats im aufsteigenden und im dekadenten Kapitalismus hervorgehoben, ist die Arbeiterklasse mit mehreren Faktoren konfrontiert, die die Politisierung ihrer Kämpfe erschweren:

- Die eigentliche Wesen des Proletariats sowohl als ausgebeutete Klasse, die von allem Eigentum enteignet wurde, wie auch als revolutionäre Klasse hat immer dazu geführt, dass das Klassenbewusstsein nicht von Sieg zu Sieg vorwärtsdrängen, sondern sich nur durch eine Reihe von Niederlagen ungleichmäßig zum Sieg entwickeln kann, wie Rosa Luxemburg argumentierte.

In der Zeit der Dekadenz:

- kann die Arbeiterklasse zur Verteidigung ihrer Interessen keine ständigen Massenorganisationen, politischen Parteien und Gewerkschaften, die ihr gehören würden, mehr unterhalten;

- gibt es kein politisches „Minimal“-Programm mehr wie in der vorherigen Epoche, sondern nur noch ein „Maximal“-Programm. Die bürgerliche Demokratie und ihr nationaler Rahmen sind keine Bühne mehr für das politische Handeln des Proletariats;

- hat der bürgerliche Staat gelernt, die ehemaligen politischen Parteien der Arbeiter*innen, die das Proletariat verraten hatten, intelligent gegen die Politisierung der Klasse einzusetzen.

Darüber hinaus hat in der aktuellen Epoche:

- der bürgerliche Staat gelernt, das Tempo der Wirtschaftskrise zu verlangsamen, und seine Angriffe in Abstimmung mit den Gewerkschaften zu planen, indem er alle möglichen Mittel einsetzte, um eine einheitliche Reaktion der Arbeiterklasse und eine Wiederaneignung der schließlich politischen Ziele seines Kampfes gegen den Kapitalismus zu verhindern;

- und haben alle Kräfte des Kapitalismus daran gearbeitet, die Politisierung der Arbeiterklasse zu blockieren, indem sie sie daran gehindert haben, die Verbindung zwischen ihren wirtschaftlichen Kämpfen gegen die Ausbeutung und der Weigerung der Arbeiter*innen in den zentralen Ländern herzustellen, sich für die Kriegspolitik der Bourgeoisie mobilisieren zu lassen. Ein besonders wichtiges Manöver in den frühen 1980er Jahren war die pazifistische Kampagne gegen Reagans „Star Wars“-Programm. Als sich die dritte Welle von Kämpfen in den späten 1980er Jahren zu erschöpfen begann, erfuhr die Dynamik des Klassenkampfes durch den spektakulären Zusammenbruch des Ostblocks und der stalinistischen Regime im Jahr 1989 einen brutalen Schlag und veränderte damit das Kräfteverhältnis zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie zugunsten der letzteren erheblich. Dieses Ereignis kündigte lautstark den Eintritt des Kapitalismus in die letzte Phase seiner Dekadenz an: die des Zerfalls. Als der Stalinismus zusammenbrach, tat er der Bourgeoisie einen letzten Gefallen. Er erlaubte es der herrschenden Klasse, der Dynamik des Klassenkampfes ein Ende zu setzen, die sich mit Fortschritten und Rückschlägen in zwei Jahrzehnten entwickelt hatte.

Da nicht der Kampf des Proletariats, sondern die Verrottung der kapitalistischen Gesellschaft auf innen heraus dem Stalinismus ein Ende setzte, konnte die Bourgeoisie dieses Ereignis ausnutzen, um eine gigantische ideologische Kampagne zu entfesseln, die darauf abzielte, die größte Lüge der Geschichte fortzusetzen: die Identifikation des Kommunismus mit dem Stalinismus. Damit hat die herrschende Klasse dem Bewusstsein des Proletariats einen äußerst heftigen Schlag versetzt. Die ohrenbetäubenden Kampagnen der Bourgeoisie über den so genannten „Bankrott des Kommunismus“ haben zu einem Rückschritt des Proletariats auf seinem Weg zu seiner historischen Perspektive des Sturzes des Kapitalismus geführt. Sie waren ein großer Schlag gegen seine Klassenidentität.

Dieses tiefe Zurückweichen des Bewusstseins und des Klassenkampfes hat sich in einem Rückgang des Kampfgeistes der Arbeiter*innen in allen Ländern, einer Stärkung der demokratischen Illusionen, einer sehr starken Wiederbelebung der gewerkschaftlichen Kontrolle und einer sehr großen Schwierigkeit für das Proletariat ausgedrückt, auf den Weg massiver Kämpfe zurückzukehren, trotz der Verschärfung der Wirtschaftskrise, des Anstiegs der Arbeitslosigkeit, der Prekarität und der allgemeinen Verschlechterung seiner Lebensbedingungen in allen Sektoren und allen Ländern.

Darüber hinaus musste sich das Proletariat mit dem Eintritt des Kapitalismus in die Endphase seiner Dekadenz nun der widerlichen Atmosphäre der Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft stellen, die seine Fähigkeit beeinträchtigt, den Weg zurück zu seiner revolutionären Perspektive zu finden. Auf der ideologischen Ebene „Die verschiedenen Elemente, die die Stärke des Proletariats ausmachen, stoßen direkt mit den verschiedenen Facetten dieses ideologischen Zerfalls zusammen:

- Das kollektive Handeln und die Solidarität stoßen mit der Atomisierung, dem "Jeder für sich", dem "Frechheit zahlt sich aus" zusammen.

- Das Bedürfnis nach Organisierung steht dem gesellschaftlichen Zerfall entgegen, der Zerstörung von Beziehungen, die erst ein gesellschaftliches Leben ermöglichen.

- Die Zuversicht in die Zukunft und in die eigenen Kräfte wird ständig untergraben durch die allgemeine Hoffnungslosigkeit, die in der Gesellschaft durch den Nihilismus, durch die Ideologie des "No future" immer mehr überhand nimmt.

- Das Bewußtsein, die Klarheit, die Kohärenz und Einheit im Denken, der Sinn für Theorie müssen sich mühsam ein Weg bahnen inmitten der Flucht in Trugbilder, der Drogen, Sekten, des Mystizismus, der Verweigerung des Nachdenkens und der Zerstörung des Denkens, die unsere Epoche charakterisieren.“ (Thesen über den Zerfall, Internationale Revue Nr. 13)

Mit dem Rückzug von seiner revolutionären Perspektive und der Klassenidentität hat auch das Proletariat das Vertrauen in sich selbst und in seine Fähigkeit, den Kapitalismus bei der Verteidigung seiner Lebensbedingungen effektiv zu bekämpfen, weitgehend verloren.

7) Einer der objektiven Faktoren, die den Verlust der Klassenidentität des Proletariats verschärften, war die Politik der Verlagerung und Umstrukturierung des Produktionsapparats in den wichtigsten Ländern Westeuropas und der Vereinigten Staaten. Viele große Konzentrationen von Arbeiter*innen wurden mit der Schließung von Minen, Stahlwerken, Automobilwerken usw. aufgelöst, Sektoren, in denen die Arbeiterklasse traditionell massive und sehr kämpferische Kämpfe geführt hatte. Diese industrielle Verwüstung wurde von der Stärkung der ideologischen Kampagnen über das Ende des Klassenkampfes und damit jeder revolutionären Perspektive begleitet. Diese bürgerlichen Kampagnen konnten sich dank der stalinistischen oder sozialdemokratischen Parteien entwickeln, die die Arbeiterklasse seit Jahrzehnten nur mit den Arbeitern im „Blaumann“ identifizieren und so die Tatsache verschleiern, dass Lohnarbeit und die Ausbeutung der Arbeitskraft die Arbeiterklasse definieren. Darüber hinaus ist das „Kopfarbeit“-Proletariat mit der Entwicklung neuer Technologien viel stärker auf kleine Produktionseinheiten verteilt, was das Entstehen massiver Kämpfe erschwert.

In einer solchen Situation des Rückzugs des Klassenbewusstseins des Proletariats und der Abkehr von jeder revolutionären Perspektive dominieren die Tendenz des Jeder-für-sich und die Konkurrenz im Kampf darum, inmitten des wachsenden wirtschaftlichen Abschwungs zu überleben.

Die Zunahme von Arbeitslosigkeit und Unsicherheit hat auch das Phänomen der „Uberisierung“ der Arbeit hervorgebracht. Indem die Uberisierung eine Internetplattform zur Arbeitssuche nutzt, verschleiert sie den Verkauf der Arbeitskraft an einen Chef hinter der Form von „selbständig Erwerbenden“ und verstärkt gleichzeitig die Verarmung und Unsicherheit dieser „Unternehmer“. Die „Uberisierung“ der individuellen Arbeit ist ein Schlüsselfaktor für die Atomisierung und die Schwierigkeiten, in den Streik zu treten, denn die Selbstausbeutung dieser Arbeiter*innen fesselt ihre Fähigkeit, kollektiv zu kämpfen und untereinander Solidarität gegen die kapitalistische Ausbeutung zu entwickeln.

8) Mit dem Bankrott der Bank Lehman Brothers und der Finanzkrise von 2008 konnte die Bourgeoisie einen weiteren Keil in das Bewusstsein des Proletariats treiben, indem sie eine neue ideologische Kampagne auf globaler Ebene entwickelte, die darauf abzielte, die (von den linken Parteien vorgetragene) Idee zu vermitteln, dass es die „betrügerischen Bankiers“ seien, die für diese Krise verantwortlich sind, während sie gleichzeitig den Anschein erweckte, dass der Kapitalismus durch Börsianer und die Macht des Geldes personifiziert werde.

Die herrschende Klasse war somit in der Lage, die Wurzeln des Versagens ihres Systems zu verbergen. Einerseits versuchte sie, die Arbeiterklasse zur Verteidigung des „schützenden“ Staates aufzufordern, da die Bankenrettungsmaßnahmen angeblich zum Schutz der Kleinsparer gedacht waren. Andererseits wurde diese Bankenrettungspolitik auch, insbesondere von der Linken, genutzt, um mit dem Finger auf Regierungen zu zeigen, die versuchten, die Bankiers und die Finanzwelt zu schützen.

Aber abgesehen von diesen Verschleierungen bestand die Wirkung dieser Kampagne auf die Arbeiterklasse darin, ihre Machtlosigkeit gegenüber einem unpersönlichen Wirtschaftssystem zu verstärken, dessen allgemeine Gesetze wie Naturgesetze erscheinen, die nicht kontrolliert oder verändert werden können.

9) Die Entfesselung imperialistischer Konflikte im Nahen Osten sowie das absolute Elend der verarmten Massen der Länder des afrikanischen Kontinents haben zu einem zunehmenden Flüchtlingsstrom in die Länder Westeuropas geführt. Auf der anderen Seite des Atlantiks wurde das Versinken des Kapitalismus im Zerfall durch den Exodus von Wellen von Migranten aus lateinamerikanischen Ländern in die Vereinigten Staaten veranschaulicht.

Angesichts dieser Zeichen des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft ist eine neue Gefahr für das Proletariat entstanden: die populistische Ideologie, die auf einer „identitären“ Entsolidarisierungspolitik gründet und angesichts der sich verschärfenden Krise, der „Verknappung der Ressourcen“, dafür eintritt, dass die „einheimischen“ Bevölkerungsgruppen das Schlimmste nur auf Kosten anderer nicht ausbeutender Teile der Bevölkerung vermeiden könnten. Diese Politik drückt sich aus im Protektionismus, in der Stigmatisierung von Einwanderern als „Profiteure des Sozialstaates“ und in der Schließung der Grenzen gegen Migrantenwellen.

Die zunehmend offene Ablehnung traditioneller bürgerlicher Parteien und „Eliten“ hat nicht zu einer Politisierung des Proletariats auf seinem Klassenterrain geführt, sondern zu einer Tendenz, auf dem parlamentarischen Terrain der bürgerlichen Demokratie „neue“ Leute zu suchen. Diese „neuen Leute“ sind größtenteils populistische Demagogen und Abenteurer (wie Donald Trump). Der Aufstieg rechtsextremer Parteien in mehreren europäischen Ländern ebenso wie der Aufstieg von Trump in den Vereinigten Staaten, der mit vielen Stimmen von Arbeiter*innen im „Rostgürtel“ gewählt wurde, zeigen, dass gewisse Teile des Proletariats (die von der Arbeitslosigkeit besonders betroffenen sind) durch Populismus, Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus und all die reaktionären und wissenschaftsfeindlichen Ideologien, die der Kapitalismus in seiner Fäulnis ausdünstet, vergiftet werden können.

Die Tendenz des Jeder-für-sich und die Auflösung Gesellschaft haben sich auch in der Gefahr manifestiert, dass bestimmte Bereiche des Proletariats sich unter nationalen oder regionalen Flaggen rekrutieren lassen (wie dies während der Krise um die Unabhängigkeit in Katalonien im Jahr 2018 der Fall war).

10) Aufgrund der gegenwärtigen großen Schwierigkeiten der Arbeiterklasse bei der Entwicklung ihrer Kämpfe, aufgrund ihrer Unfähigkeit, im Moment ihre Klassenidentität wiederzuerlangen und eine Perspektive für die gesamte Gesellschaft zu eröffnen, neigt das soziale Terrain dazu, von klassenübergreifenden Kämpfen besetzt zu sein, denen insbesondere das Kleinbürgertum den Stempel aufdrückt. Diese soziale Schicht, ohne historische Zukunft, kann nur ein Vehikel für Illusionen in die Möglichkeit der Reform des Kapitalismus sein, indem sie behauptet, dass der Kapitalismus ein „menschlicheres Gesicht“ haben sowie demokratischer, gerechter, sauberer, besorgter um die Armen und die Erhaltung des Planeten sein könne.

Diese klassenübergreifenden Bewegungen sind das Ergebnis einer Perspektivlosigkeit, die die Gesellschaft als ganze betrifft, einschließlich eines wichtigen Teils der herrschenden Klasse selbst.

Der Volksaufstand der „Gelbwesten“ in Frankreich gegen die „hohen Lebenshaltungskosten“ sowie die internationale Bewegung der „Jugend für das Klima“ sind Beispiele für die Gefahr des Interklassismus (der klassenübergreifenden Ideologie) für das Proletariat. Die Bürgerrevolte der „Gelbwesten“ (die von Anfang an von allen Parteien der Rechten und der extremen Rechten unterstützt und ermutigt wurde) zeigte die Fähigkeit der Bourgeoisie, klassenübergreifende soziale Bewegungen gegen das Bewusstsein des Proletariats einzusetzen.

Durch die Freigabe eines Pakets von 10 Milliarden Euro zur Bewältigung des Chaos im Zusammenhang mit den Demonstrationen der Gelbwesten konnten die französische Bourgeoisie und ihre Medien heimtückisch die Idee vermitteln, dass nur interkulturelle Bürgerbewegungen und kleinbürgerliche Kampfmethoden die Regierung zurückdrängen können.

Angesichts der Beschleunigung der wirtschaftlichen Angriffe auf die ausgebeutete Klasse und der Gefahr des Wiederauflebens von Arbeiterkämpfen versucht die Bourgeoisie nun, Klassenfeinde zu beseitigen. Indem sie versucht, das Proletariat in der „Gesellschaft der Bürger“ zu ertränken und seine Positionen zu verwässern, will die herrschende Klasse verhindern, dass es seine Klassenidentität wiedererlangt. Die internationale Medienberichterstattung über die Gelbwesten-Bewegung zeigt, dass die Vermittlung dieser Botschaften ein Anliegen der Bourgeoisie aller Länder ist.

Die Bewegung der Jugend für das Klima, die zwar eine weltweite Sorge über die Gefahr der Vernichtung der Menschheit zum Ausdruck bringt, wurde vollkommen auf das Gebiet der Teilbereichskämpfe abgelenkt, die von der Bourgeoisie leicht zu beantworten und stark kleinbürgerlich geprägt sind.

- „Nur das Proletariat trägt eine Perspektive für die Menschheit in sich, und deshalb gibt es in seinen Reihen den größten Widerstand gegen diesen Zerfall. Doch das Proletariat ist nicht immun gegen den Zerfall, insbesondere weil die Kleinbourgeoisie, mit der es sich auseinanderzusetzen hat, der Hauptträger dieses Zerfalls ist. (...) In dieser Periode muß es sein Ziel sein, den schädlichen Auswirkungen des Zerfalls in seinen eigenen Reihen zu trotzen, indem es nur auf seine eigenen Kräfte zählt, auf seine Fähigkeit baut, sich kollektiv und solidarisch für die Verteidigung seiner Interessen als ausgebeutete Klasse einzusetzen (...)“ (Thesen über den Zerfall).

Der Kampf um die Klassenautonomie des Proletariats ist in dieser Situation, die durch die Verschärfung des Zerfalls des Kapitalismus diktiert wird, von entscheidender Bedeutung:

- gegen klassenübergreifende Kämpfe;

- gegen Teilbereichskämpfe aller Arten von sozialen Kategorien, die eine falsche Illusion einer „Schutzgemeinschaft“ vermitteln;

- gegen die Mobilisierungen auf dem faulen Terrain von Nationalismus, Pazifismus, „ökologischer“ Reform usw.

Im Kräftegleichverhältnis zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat ist immer die herrschende Klasse in der Offensive, außer in einer revolutionären Situation. Trotz ihrer Schwierigkeiten in den eigenen Reihen und der zunehmenden Tendenz, die Kontrolle über ihren politischen Apparat zu verlieren, ist es der Bourgeoisie gelungen, die Ausdrücke der Auflösung ihres Systems abzulenken – und zwar gegen das Bewusstsein und die Klassenidentität des Proletariats. Die Arbeiterklasse hat daher den tiefen Rückschlag, den sie seit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der stalinistischen Regime erlitten hat, noch nicht überwunden. Dies umso weniger, als demokratische und antikommunistische Kampagnen, die langfristig aufrechterhalten werden, regelmäßig aktualisiert worden sind (z.B. anlässlich des hundertsten Jahrestages der Oktoberrevolution 1917).

11) Dennoch hat die Bourgeoisie es trotz dreißig Jahren Rückzug des Klassenkampfes bisher versäumt, der Arbeiterklasse eine entscheidende Niederlage zuzufügen, wie sie es in den 1920er und 1930er Jahren tat. Trotz der Ernsthaftigkeit der anstehenden Fragen in der aktuellen historischen Epoche ist die Situation nicht identisch mit der der konterrevolutionären Periode. Das Proletariat der zentralen Länder hat keine physische Niederlage erlitten (wie dies bei der blutigen Niederschlagung der Revolution in Deutschland während der ersten revolutionären Welle von 1917-23 der Fall war). Es wurde nicht massiv unter nationalen Fahnen rekrutiert. Die überwiegende Mehrheit der Proletarier ist nicht bereit, ihr Leben auf dem Altar der Verteidigung des nationalen Kapitals zu opfern. In den großen Industrieländern, in den Vereinigten Staaten wie auch in Europa, schlossen sich die proletarischen Massen nicht den imperialistischen (und so genannten „humanitären“) Kreuzzügen ihrer „nationalen“ Bourgeoisie an.

Der proletarische Klassenkampf besteht aus Fortschritten und Rückschlägen, bei denen die Arbeiterklasse danach strebt, ihre Niederlagen zu überwinden, aus ihnen zu lernen und wieder in den Kampf zurückzukehren. Wie Marx es im 18. Brumaire festhielt: „Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, (…) Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta!“

Diese „Verhältnisse“, die eine „Situation schaffen, die jede Umkehr unmöglich macht“, werden in erster Linie von der Erschöpfung der Linderungsmittel bestimmt, die es der Bourgeoisie bisher ermöglicht haben, den Zusammenbruch der Weltwirtschaft zu verlangsamen. Damit die Voraussetzungen für die Entstehung einer Periode des revolutionären Kampfes geschaffen werden können, ist es notwendig, dass „die Ausbeuter nicht mehr in der alten Weise leben und regieren können. Erst dann, wenn die ‚Unterschichten‘ das Alte nicht mehr wollen und die ‚Oberschichten‘ in der alten Weise nicht mehr können, erst dann kann die Revolution siegen.“ (Lenin, Kinderkrankheit…)

Die unaufhaltsame Verschärfung von Armut, Unsicherheit, Arbeitslosigkeit, die Angriffe auf die Würde der Ausgebeuteten in den kommenden Jahren bilden die materielle Grundlage, die die neuen Generationen von Proletariern dazu bringen kann, den Weg zurück auf den Weg der Kämpfe zu finden, die von früheren Generationen zur Verteidigung all ihrer Lebensbedingungen geführt wurden. Trotz aller Gefahren, die das Proletariat bedrohen, hat die Zeit der Auflösung des Kapitalismus die objektiven „Verhältnisse“, die seit Beginn der Arbeiterbewegung den Anstoß für die revolutionären Kämpfe des Proletariats bildeten, nicht beseitigt.

12) Die sich verschärfende Wirtschaftskrise hat bereits eine neue Generation auf der gesellschaftlichen Bühne auftreten lassen, auch wenn dieser Auftritt noch sehr begrenzt und embryonal ist: 2006 die Studentenbewegung in Frankreich gegen den CPE, fünf Jahre später folgte die Bewegung der „Indignados“ in Spanien. Diese beiden massenhaften Bewegungen der proletarischen Jugend haben spontan die Kampfmethoden der Arbeiterklasse wiederentdeckt, einschließlich der Debattenkultur in für alle offenen Massenversammlungen.

Diese Bewegungen waren auch durch Solidarität zwischen den Generationen gekennzeichnet (während sich die Studentenbewegung der späten 1960er Jahre, die sehr stark durch das Gewicht des Kleinbürgertums geprägt war, oft im Gegensatz zu den für den Krieg mobilisierten Generationen gesehen hatte).

Während sich in der Bewegung gegen den CPE die überwiegende Mehrheit der Student*innen, die gegen die Aussicht auf Arbeitslosigkeit und Unsicherheit kämpften, als Teil der Arbeiterklasse verstanden, hatten die Indignados in Spanien (obwohl sich ihre Bewegung international über soziale Netzwerke verbreitet hatte) kein klares Bewusstsein über die Zugehörigkeit zur ausgebeuteten Klasse.

Während die massenhafte Bewegung gegen den CPE eine proletarische Reaktion auf einen wirtschaftlichen Angriff war (welche die Bourgeoisie zum Rückzug des CPE zwang), war die Indignados-Bewegung im Wesentlichen von einer globalen Reflexion über den Bankrott des Kapitalismus und die Notwendigkeit einer anderen Gesellschaft geprägt.

Innerhalb dieser neuen Generation ist die Klassenidentität des Proletariats aufgrund der mangelnden Erfahrung dieser jungen Generation, ihrer Anfälligkeit für die Mystifikationen der „Antiglobalisierungs“-Ideologie und ihrer Schwierigkeit, die Geschichte und Erfahrung der Arbeiterbewegung zurückzugewinnen, noch nicht wiederhergestellt worden.

Dennoch hatten diese Bewegungen begonnen, die Grundlage für eine langsame Reifung des Bewusstseins innerhalb der Arbeiterklasse (und insbesondere der jungen hochqualifizierten Generationen) über die Herausforderungen der aktuellen historischen Situation zu legen.

13 Ein wesentliches Merkmal der Entwicklung des proletarischen Klassenbewusstseins war immer seine Fähigkeit zur unterirdischen Reifung, d.h. die Fähigkeit, sich auch außerhalb von Perioden des offenen Kampfes und sogar in Zeiten großer Niederlagen zu entwickeln. Das Klassenbewusstsein kann sich in kleinen Minderheiten vertiefen, ohne dass es sich im gesamten Proletariat weit ausbreitet. Die Entwicklung des Klassenbewusstseins sollte daher nicht nur an seiner unmittelbaren Ausbreitung in der Klasse zu einem bestimmten Zeitpunkt gemessen werden, sondern auch an seiner historischen Kontinuität. Wie wir im Artikel der International Review Nr. 42, Interne Debatte: Zentristisches Abgleiten in Richtung Rätismus, geschrieben haben: „Es ist nötig zu unterscheiden zwischen dem, was Teil einer Kontinuität in der historischen Bewegung des Proletariats ist – die fortschreitende Ausarbeitung seiner politischen Positionen und seines Programms –, und dem, was mit den von den Umständen abhängigen Faktoren zusammenhängt – dem Grad der Aufnahme dieser Positionen und ihrer Wirkung in der ganzen Klasse."

Die Existenz und entschlossene Aufrechterhaltung der Organisationen der Kommunistischen Linken unter den schwierigen Bedingungen des Zerfalls des Kapitalismus drückt diese unterirdische Fähigkeit des Klassenbewusstseins aus, seine historische Bewegung auch in einer Zeit der tiefen Orientierungslosigkeit des Proletariats wie heute zu entwickeln.

Diese unterirdische Reifung des Klassenbewusstseins des Proletariats drückt sich heute auch im Auftauchen kleiner Minderheiten und junger Leute aus, die auf der Suche nach einer Klassenperspektive und den Positionen der Kommunistischen Linken sind.

Die Organisationen der Kommunistischen Linken dürfen diese kleinen Minderheiten nicht ignorieren, auch wenn sie unbedeutend erscheinen. Der Kristallisierungsprozess ist in der Zeit des kapitalistischen Zerfalls viel langsamer und ungleichmäßiger als Ende der 1960 er und Anfang der 1970er Jahre.

Trotz der schädlichen Auswirkungen des Zerfalls und der Gefahren für das Proletariat „bleiben die historischen Möglichkeiten völlig offen. Trotz des Schlags, der der Bewußtwerdung des Proletariats durch den Zusammenbruch des Ostblocks verabreicht wurde, hat das Proletariat auf seinem Klassenterrain keine große Niederlage erlitten. (...) Aber darüber hinaus, und das ist das Element, das in letzter Instanz die Entwicklung der Weltlage bestimmt, bildet derselbe Faktor, der sich am Anfang der Entwicklung des Zerfalls befindet, den wesentlichen Ansporn für den Kampf und die Bewußtwerdung der Klasse, die eigentliche Bedingung für ihre Fähigkeit, dem ideologischen Gift der gesellschaftlichen Fäulnis zu widerstehen. Denn auch wenn das Proletariat kein Terrain findet, um die Teilkämpfe gegen die Auswirkungen des Zerfalls zu vereinen, bildet sein Kampf gegen die direkten Auswirkungen der Krise die Grundlage für die Weiterentwicklung seiner Klassenstärke und Einheit.“ (Thesen über den Zerfall).

14) In den wirtschaftlichen und defensiven Kämpfen des Proletariats siegen „von Zeit zu Zeit (...) die Arbeiter, aber nur vorübergehend. Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter. Sie wird befördert durch die wachsenden Kommunikationsmittel, die von der großen Industrie erzeugt werden und die Arbeiter der verschiedenen Lokalitäten miteinander in Verbindung setzen. Es bedarf aber bloß der Verbindung, um die vielen Lokalkämpfe von überall gleichem Charakter zu einem nationalen, zu einem Klassenkampf zu zentralisieren. Jeder Klassenkampf ist aber ein politischer Kampf. Und die Vereinigung, zu der die Bürger des Mittelalters mit ihren Vizinalwegen Jahrhunderte bedurften, bringen die modernen Proletarier mit den Eisenbahnen in wenigen Jahren zustande. Diese Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei, wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst. Aber sie ersteht immer wieder, stärker, fester, mächtiger.“ (Kommunistisches Manifest)

Die „wachsenden Kommunikationsmittel“, die es den Arbeiter*innen ermöglicht, sich „miteinander in Verbindung zu setzen“, um die „Lokalkämpfe zu zentralisieren“, sind nicht mehr die Eisenbahnen, wie zu Marx' Zeiten, sondern die neuen digitalen Telekommunikationstechnologien.

Wenn nämlich die Auswirkungen der „Globalisierung“, der Standortverlagerungen, des Verschwindens ganzer Industriesektoren, der Aufsplitterung der Produktion in eine Vielzahl kleiner Produktionseinheiten, der Vervielfachung kleiner Dienstleistungsarbeitsplätze, der Prekarisierung und der Uberisierung der Arbeit zu den Schlägen auf die Klassenidentität des Proletariats der alten Industriemetropolen beigetragen haben, so enthalten doch die neuen wirtschaftlichen, technologischen und sozialen Bedingungen, unter denen sich das Proletariat heute befindet, Elemente, die die Wiedereroberung dieser Klassenidentität in einem viel größeren Umfang als in der Vergangenheit begünstigen. Die „Globalisierung“ und insbesondere die Entwicklung des Internets, die Errichtung einer Art „globalen Netzwerks“ von Wissen, Fähigkeiten, Zusammenarbeit bei der Arbeit zur gleichen Zeit wie des Massenverkehrs, schaffen die objektiven Grundlagen für die Entwicklung einer Klassenidentität auf globaler Ebene, insbesondere für die neuen proletarischen Generationen.

15) Einer der Hauptgründe, warum das Proletariat nicht in der Lage war, seine Kämpfe und sein Bewusstsein so weit zu entwickeln, wie es der Ernst der geschichtlichen Lage erfordert, ist der Bruch der politischen Kontinuität mit der Arbeiterbewegung der Vergangenheit (und insbesondere mit der ersten revolutionären Welle von 1917-23). Dieser Bruch wurde durch die Schwäche der revolutionären Organisationen der linkskommunistischen Strömung veranschaulicht, die den Stalinismus in den 1920er und 1930er Jahren bekämpft hatten.

Das bedeutet, dass eine enorme Verantwortung auf der Kommunistischen Linken als Brücke zwischen der ehemaligen verschwundenen Partei (der Dritten Internationale) und der zukünftigen Partei des Proletariats liegt. Ohne Gründung dieser zukünftigen Weltpartei wird eine proletarische Revolution unmöglich sein, und die Menschheit wird am Ende von der Barbarei des Krieges und/oder der langsamen Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft verschluckt werden.

Die Kommunisten haben „theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus“ (Kommunistisches Manifest).

Mai 2019

Rubric: 

Internationale Revue 56

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