Seit Jahren schon wachsen die Budgetdefizite der Industrieländer, ihre Verschuldung steigt ununterbrochen und verallgemeinert sich in kaum kontrollierbarer Weise. Auf der Tagesordnung stehen die Zerstörung des Wohlfahrtsstaates und massive Entlassungen in zahlreichen Regionen der Welt, während alle Ankündigungen eines "Wirtschaftsaufschwungs" leere Versprechen sind. In dieser Situation, in der sich die Zukunft in dunklen Farben abzeichnet, hört die Bourgeoisie aber nicht auf, uns das "Wirtschaftswunder China" anzupreisen. Angesehene Ökonomen rühmen China als Vorboten einer neuen Entwicklungsphase des Weltkapitalismus.
Der "Triumph der roten Kapitalisten" und der "Boom der chinesischen Wirtschaft wären demnach die Propheten einer neuen Entwicklungsphase des Kapitalismus.
Ein ungestümes Wachstum...
Das BIP-Wachstum Chinas hält zweifelsohne Rekorde: 7,8% im Jahr 2002, 9,1% im Jahr 2003 und zweistellige Voraussagen für 2004. Als China der Welthandelsorganisation WTO beitrat, befand sich der Welthandel in einer Flaute; der Handel zwischen China und dem Rest der asiatischen Welt nahm aber kräftigen Aufschwung. Und 2003, als der Welthandel nur um 4,5% zunahm, wuchs derjenige Asiens allein um 10 bis 12%, insbesondere auch derjenige Chinas, dessen Importe um 40% und die Exporte um 35% zunahmen. Von 1998 bis 2003 stiegen die Exporte um 122%, die "Hightech"-Produktion um 363%. 2003 wurde China zum internationalen Investitionsempfänger Nr. 1: mit 53,5 Milliarden Dollar an internationalen Investitionen übertraf es gar die USA. Es herrscht eine wilde Finanzspekulation im Land.
In nur zwei Jahren ist das Reich der Mitte zum Motor der Weltwirtschaft geworden. Gewissen Ökonomen zufolge wird es in 15 Jahren Japan und in 45 Jahren die Vereinigten Staaten eingeholt haben. Chinas BIP ist heute schon demjenigen Frankreichs oder Großbritanniens gleich.
Japan, die USA und Europa reißen sich um die Produkte "Made in China" und um die neuen Industrieregionen Chinas, die wie Pilze aus dem Boden schießen und Investitionen magnetisch anziehen. Und so beabsichtigt die Europäische Union ihre Partnerschaft mit China zu vertiefen und es zum wichtigsten Handelspartner zu machen. Die amerikanische Bourgeoisie investiert massiv und zunehmend in China mit dem doppelten Ziel, die chinesische Wirtschaftsentwicklung voranzutreiben und zu verhindern, dass die USA die Konkurrenzfähigkeit gegenüber China verlieren. Das Handelsdefizit Amerikas gegenüber Peking erreichte im Jahr 2003 130 Milliarden Dollar, was eine Folge der Überflutung des amerikanischen Marktes mit chinesischen Produkten ist.
... auf Sand gebaut
Auf den ersten Blick zeigt sich ein idyllisches Bild: ein ungestümes Wachstum, das spielend mit Krisen wie 1997 in Südostasien oder mit dem Platzen der Finanzblase der "New Economy" im Jahr 2001 fertig wird. In eben diesem Jahr tritt China der WTO bei.
Dieser Eintritt in die WTO ist aber kein wirklicher Umbruch der chinesischen Wirtschaft, sondern eine Etappe in ihrer Politik der Wirtschaftsliberalisierung, die Ende der 1970er Jahre ihren Anfang genommen hatte. Zuerst wurden dabei die Exportindustrien gefördert und dann weitere Industrien geschützt - die Automobil-, die Nahrungsmittel- und Konsumgüterindustrie. Später, im Verlauf der letzten zehn Jahre, führte China ein Zollregime ein, das die in der Küstenzone konzentrierte Exportindustrie bevorzugen sollte.
Aber die Zurschaustellung der Gewinne, die heute in der letzten großen Bastion des angeblichen "Kommunismus" gemacht werden, kann über die zerstörerischen Kräfte des Kapitalismus in seiner offenen Krise nicht hinwegtäuschen.
Bürgerliche Experten stellen sich die Frage: "Wie lange kann das noch so weitergehen?" Sie plädieren für eine Verlangsamung der Investitionen und stellen fast mit "Erleichterung" fest, dass die Investitionstätigkeit in fixes Kapital im Monat Mai und gemessen am Jahrestempo nur um 18% zugenommen hat (verglichen mit den 43% im ersten Trimester). Die galoppierende Inflation ist ein Zeichen dieser "Überhitzung", vor der sich die Ökonomen so sehr fürchten. Im April lag die Inflationsrate bei offiziell 3,8%, in Wirklichkeit aber bei über 7% - gemäß Wirtschaftsexperten, die die Verschwommenheit der offiziellen Statistiken in China kennen und deuten können. Im Lebensmittelsektor liegt sie bei 10%. Die größte Teuerung erfuhr aber der Rohstoffmarkt. Hier führten Tempo und Begierde der industriellen Nachfrage zu der seit 30 Jahren stärksten Preiserhöhung. Stahl, Aluminium, Zinn, Baumwolle und vor allem Erdöl nähren eine unkontrollierbare und explosive Spekulation.
Der chinesische Staat bemüht sich selbst, das Wirtschaftswachstum zu beschränken und verordnete Krediteinfrierungen und Preisblockaden für Konsumgüter, wo die Teuerung gegenwärtig 1% im Monat ausmacht. Für die chinesischen Behörden war es somit schon ein Erfolg, als sie das Wachstum für den Monat Juli auf 15,5% beschränken konnten.
Die drohenden Gefahren sind aber zahlreich. Die Immobilienblase verursacht den chinesischen Behörden Kopfschmerzen; der Bankensektor ist eigentlich beinahe bankrott: mindestens 50% der Guthaben sind unsicher. 60% der Investitionen fließen nicht in den Produktionszyklus, sondern werden in Hongkong oder in einem Steuerparadies angelegt, d.h. für Finanzspekulationen oder Geldwäscherei verwendet.
Die astronomischen Profite, die heute in China realisiert werden, sind in Wirklichkeit nur das Resultat einer zügellosen Spekulation, die nicht nur China, sondern die ganze Welt betrifft. Diese Profite sind keine Folge von wirklichem Warenverkauf und Aufwertung des produktiven Kapitals. Es wird immer schwieriger, für die den Weltmarkt überschwemmenden Waren Käufer zu finden - den Tiefpreisen zum Trotz. Die wirkliche Perspektive zeigt neue Verschärfungen der historischen Krise des Kapitalismus auf. Die Ereignisse in China haben nichts zu tun mit einer Entwicklung der Produktivkräfte, wie sie im 19. Jahrhundert stattfand. Die Wachstumsphasen von damals versprachen eine immer ungestümere Entwicklung der Produktivkräfte, heute jedoch zeugen sie von der eindeutigen Verschärfung der Widersprüche des Systems.
Das schreiende Elend der Bevölkerung und der Arbeiterklasse in China
Was der chinesischen Bevölkerung heute widerfährt, ist ein frappanter Ausdruck dieser Widersprüche. Die ärmsten 20% der Bevölkerung des Landes erhalten nur 6% des Einkommens der Gesamtbevölkerung. Man vergleiche diese Zahlen mit denjenigen Indiens oder Indonesiens (dieselben 20% erhalten hier 8% respektive 9% des Gesamteinkommens), beides Länder, die als extrem arm gelten.
Das berühmte Perlendelta mit seinen Reisfeldern in der Provinz Guangdong zwischen Shenzen und Kanton wurde in nur zehn Jahren zu einem der wichtigsten Fabrikationszentren der Welt. Hier betragen die Arbeiterlöhne bis zu 100 Euro im Monat, damit gehören die Arbeiter in dieser Region trotzdem noch zu Besserverdienenden im chinesischen Maßstab. Den Arbeitern werden zudem nur neun Ferientage im Jahr gewährt.
Die Arbeitslosigkeit hat in China extreme Ausmaße angenommen. Offiziell bei 4,7%, erreicht sie in gewissen Regionen bis zu 35%, so etwa in Liaoning. Ende 2003 zählte man 27 Millionen Proletarier, die aus bankrotten Staatsunternehmen entlassen worden sind. Millionen von Stellen wurden gestrichen und die sich deshalb vermehrenden Revolten wurden mit Knüppeln unter Kontrolle gebracht. Die Bilanz: Mindestens 150 Millionen Bauern sind in die Slums um die Großstädte geflüchtet und leben dort zusammengepfercht am Rande der städtischen Zentren Ostchinas, suchen Arbeit, wobei die Mehrzahl unter ihnen keine finden wird.
Das Bildungssystem ist vollkommen verwahrlost und die Gesundheitszustände sind erschreckend: keine Krankenversicherung, dafür Spitäler, die ihre Dienste nur gegen Bezahlung erbringen, damit sie überhaupt weiter existieren können; die Katastrophe ist absehbar. Mehr als 200 Millionen Chinesen leiden an Hepatitis B und/oder C, ein bis zwei Millionen von ihnen sind auch HIV-infiziert und in sechs Jahren werden es voraussichtlich 15 Millionen sein. 550 Millionen sind mit Tuberkulose infiziert, von ihnen sterben etwa 200'000 pro Jahr.
Auch die Ernährungslage ist gekennzeichnet von dem Chaos der zügellosen Wirtschaftspolitik Chinas. Die Getreidereserven sinken auf ein gefährlich tiefes Niveau und die Landwirtschaft ist völlig desorganisiert, während sich die ländlichen Gebiete entvölkern. Aufgrund der intensiven Bodennutzung sind 80 Mio. Hektar (von den 130 Mio. Hektar an kultivierbarem Land) von der Verwüstung bedroht. All dies nährt zukünftige Mangelerscheinungen mit dementsprechend katastrophalen Folgen.
Die Umwelt wird zerstört durch die enorme Menge an Kohlenverbrennung, sowie durch den Bau von riesigen Dämmen, die der immer mehr wachsenden Elektrizitätsnachfrage gerecht werden sollen. China ist jetzt schon das Land, in dem die zweitgrößte Menge an Gasen mit Treibhauseffekt ausgeschieden wird. Unter den 20 Städten der Welt mit der stärksten Luftverschmutzung sind deren 16 chinesische.
In China spielt sich eine wirkliche Katastrophe ab. Diese Katastrophe kann nicht in einen neuen Aufschwung mit einer langen Entwicklungsperiode für Produktivkräfte münden, sondern sie ist ganz einfach der Vorbote eines neuen wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Seit dem Eintritt des Kapitalismus in seine offene Krise hat uns die Bourgeoisie schon verschiedene Modelle angepriesen: zuerst Brasilien, dann Argentinien, aber auch die "neuen industrialisierten Länder" Asiens. Erst kürzlich hat sie uns das Wunder der "New Economy", durchs Internet zum Leben erweckt, in den leuchtendsten Farben vorgegaukelt. Das Verenden des chinesischen Drachens wird bald die Kehrseite dieser "Wunder" aufzeigen, die dunkle Realität eines bankrotten Kapitalismus.
ES (15. September)
Der sechstägige Streik bei Opel in Bochum, als Antwort auf drohende Massenentlassungen und mögliche Werksschließungen bei General Motors, war der längste und bedeutendste spontane, inoffizielle Streik in einem Großbetrieb in Deutschland seit den großen wilden Streiks Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre in Westdeutschland.
Eine Woche lang schaute nicht nur die arbeitende Bevölkerung Deutschlands gespannt und mit großer Sympathie auf die Ereignisse in Bochum. Auch an den anderen Standorten von General Motors (GM) in Europa war unter den Belegschaften viel von Mitgefühl mit den Bochumer Kollegen und Bewunderung für deren Mut und Kampfeswille. Beispielsweise beim gewerkschaftlichen "Aktionstag" am 19. Oktober, wo die Arbeit kurzzeitig niedergelegt wurde. Den Grad der aufkeimenden Solidarität, welchen dieser Arbeitskampf erweckte, kann man daran messen, dass das Unternehmen während des Streiks nicht wagte, strafrechtlich gegen die Streikenden vorzugehen, obwohl - gerade im demokratischen Deutschland - normalerweise besonders rigoros gegen nicht-gewerkschaftliche, nicht im Rahmen von Tarifverhandlungen stattfindende Arbeiterkämpfe vorgegangen wird. Zwar baute die Werksleitung die übliche Drohkulisse auf, indem sie gegen die "Rädelsführer" hetzte, verlogene Gerüchte über zertrümmerte Autos und Produktionsteile in die Welt setzte, und mit der ganzen Härte des Strafgesetzes drohte, falls der Streik nicht sofort aufhöre. Doch hier hat die besitzende Klasse sehr gut verstanden, dass der Einsatz offener, staatlicher Repression eher dazu führen würde, die weitgehend noch passive Sympathie der anderen Arbeiter mit ihren kämpfenden Schwestern und Brüdern bei Opel in offene Empörung und aktive, eingreifende Solidarität zu verwandeln.
Bedeutung und Kontext des Kampfes bei Opel
Obwohl die IG Metall und der Betriebsrat von Opel Bochum den Streikabbruch damit rechtfertigten, dass die Arbeiter die Unternehmer zu Verhandlungen gezwungen hätten, und dass eine Standortgarantie abgegeben worden sei, ist die Hauptforderung der Streikenden aber, dass keine betriebsbedingten Kündigungen ausgesprochen werden dürfen, keineswegs erfüllt worden.
Die Bedeutung dieses Kampfes liegt aber darin, dass dadurch die Handlungsfähigkeit der Arbeiterklasse als eigenständige Kraft der heutigen Gesellschaft ins Bewusstsein gerufen wurde. Es war kein Zufall, dass die Auseinandersetzung bei Opel in den bürgerlichen Medien eine Debatte einerseits zwischen Soziologen, welche von einer "Rückkehr des Klassenkampfes im marxistischen Sinne" sprechen, und andererseits Ideologen der "alternativen Globalisierung" und der Bewegung des "Kampfes gegen die Arbeit", welche den Arbeiterkampf längst zu Grabe getragen haben wollen, ins Leben gerufen hatte. Solche "Diskussionen" dienen einmal dazu, den Arbeitern Sand in die Augen zu streuen, indem Theoretiker des Kleinbürgertums wie Robert Kurz von der Gruppe Krisis im Fernsehen zum besten geben dürfen, dass der Kampf bei Opel bestätigt haben soll, dass der Arbeiterkampf abgelöst worden sei durch ein klassenübergreifendes Ringen um das "Recht auf Faulheit". Sie dienen aber auch dazu, die herrschende Klasse insgesamt darauf einzustimmen, dass die Zeit (v.a. nach 1989), als es noch möglich war, die Realität des Klassenkampfes halbwegs glaubwürdig zu leugnen, sich langsam ihrem Ende zuneigt. Die sich vertiefende Spaltung der Gesellschaft in Reich und Arm, zwischen Kapital und Lohnarbeit, v.a. aber der Abwehrkampf der Betroffenen, hat den Prozess der Wiedererlangung der Klassenidentität des Proletariats eingeleitet. Dies ist wiederum eine der Hauptvoraussetzungen für einen mächtigeren und bewussteren Verteidigungskampf der Lohnabhängigen.
Opel: Ein Anzeichen eines allgemeineren Wiedererwachens des Arbeiterkampfes
Wie jeder bedeutende Arbeiterkampf ist der Streik in Bochum kein Blitz aus heiterem Himmel gewesen. Er ist einer der wichtigen Ausdrücke einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Solche Kämpfe sind immer Teil einer internationalen Reihe von Arbeiterkämpfen. Heute beginnt das Proletariat, sich gegen die neue, qualitative Verschärfung der kapitalistischen Wirtschaftskrise und der Angriffe auf seine Lebensbedingungen zu wehren. Diese Wiederbelebung der Verteidigungskämpfe äußerte sich zunächst im Frühling 2003 mit den Streiks und Demonstrationen der Bediensteten des Öffentlichen Dienstes in Frankreich und Österreich gegen die dortigen "Rentenreformen", fand eine Fortsetzung beispielsweise in Italien durch die Proteste gegen Rentenkürzungen, gegen Entlassungen z.B. bei Fiat, oder die Streiks im öffentlichen Verkehr; in Großbritannien durch die Feuerwehrleute und Postbeschäftigten im Winter 2003; in den USA im Einzelhandel gegen massive Einschnitte bei den Renten und in der Gesundheitsfürsorge. Diese und andere Kämpfe, sowohl in den etablierten Industrieländern als auch in Ländern wie Polen, Argentinien oder China, betrafen die Gesamtheit der Lebens- und Arbeitsbedingungen des Proletariats. Mehr und mehr werden die Arbeiter aller Länder mit der Verlängerung der Wochen-, Jahres- und Lebensarbeitszeit konfrontiert; mit einem verschärften Raubbau an der menschlichen Arbeitskraft, welcher einher geht mit dem Abbau der Gesundheitsfürsorge; mit der drastischen Reduzierung der Reallöhne; mit dem Absturz der Arbeitslosen und der Rentner in bitterste Armut.
Besonders charakteristisch für die jetzige Lage ist, dass die Frage der Arbeitslosigkeit eine zentrale Rolle spielt. Massenentlassungen und Werksschließungen häufen sich. Die Angriffe gegen die Arbeitslosen werden stets brutaler. Die offene Erpressung der Belegschaften durch die Drohung mit Schließung, "Outsourcing" und Produktionsverlagerungen, um Lohnsenkungen, Arbeitszeitverlängerungen und eine noch größere Flexibilität (sprich Maßlosigkeit) der Ausbeutung durchzusetzen, wird immer unverschämter. Dabei wird das Ausspielen der Belegschaften der verschiedenen Standorte gegeneinander in immer größerem Stil betrieben.
Diese wachsende Bedeutung der Arbeitslosigkeit hat einen ersten Niederschlag auf der Ebene des Kampfes gefunden. Am 2. Oktober 2004 demonstrierten in den Niederlanden und in Deutschland gleichzeitig 200.000 in Amsterdam und 45.000 Menschen in Berlin gegen die staatlichen Maßnahmen gegen die Erwerbslosen. Im September 2004 streikten und demonstrierten die Werftarbeiter von Puerto Real und San Fernando in Andalusien, Spanien, gegen Massenentlassungen.
Nicht weniger charakteristisch ist die nationale und internationale Gleichzeitigkeit der Angriffe, wie die Krise bei Opel und Karstadt im Oktober 2004 veranschaulichte.
Typisch für solche, sich ins Bewusstsein der gesamten Klasse einprägenden Arbeitskämpfe wie in Bochum ist aber auch, dass sie sozusagen angekündigt und vorbereitet werden durch andere, oft weniger spektakuläre Vorgeplänkel vor Ort. So gab es bereits vor vier Jahren eine spontane Arbeitsniederlegung bei Opel in Bochum als Antwort auf angedrohte Stellenstreichungen. Im Frühjahr 2004 kam es bei Ford in Köln ebenfalls zu einem spontanen Ausstand. Vor allem aber gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen dem jetzigen Streik in Bochum und den vor drei Monaten stattgefundenden Protesten bei Daimler-Chrysler. Die Mercedes-Arbeiter haben gewissermaßen die Klasse zum Kampf gerufen. Denn sie haben praktisch vorgelebt, dass man auch die Erpressungen der herrschenden Klasse nicht kampflos hinnehmen darf. Sie haben den Versuch der Ausspielung der Mercedesstandorte gegeneinander durch die Wiederbelebung der Klassensolidarität beantwortet. So gesehen haben die Opelaner in Bochum den Ehrenstab des mutigen Kampfes von den Mercedesbeschäftigten übernommen und weitergetragen.
Dieser direkte Zusammenhang zwischen Daimler und Opel, welchen die zum Aktionstag von Opel nach Bochum angereisten Arbeiter aus Stuttgart auch selbst ausgesprochen haben, erscheint uns wichtig. Dies um so mehr, als die verschiedenen Gruppen und Zirkel in Deutschland, welche sich für proletarische, "linkskommunistische" Positionen zu interessieren begonnen haben, und sich mehr oder weniger alle in die Intervention gegenüber den Montagsdemos stürzten, kaum Interesse am Kampf bei Mercedes gezeigt haben. Soviel wir wissen, haben sie sich weder der Erstellung einer Analyse dieser Bewegung gewidmet noch sind sie ihr gegenüber interveniert.
Wie der Kampf gespalten und sabotiert wurde
Dass die Arbeit nach sechs Tagen in Bochum wieder aufgenommen wurde, obwohl die Hauptforderung der Streikenden nicht erfüllt wurde, haben diverse "kritische Gewerkschaftler" mit dem Manöver der IG Metall- und Betriebsratsleitung während der Abstimmung vom 20. Oktober erklärt. Natürlich war die Formulierung der Alternative, worüber die Streikenden abzustimmen hatten - entweder Streikbruch und Verhandlungen oder Fortsetzung des Streiks ohne Verhandlungen - ein typisches Beispiel eines gewerkschaftlichen Manövers gegen die Arbeiter. Eine endlose Fortsetzung eines bereits isolierten Streiks wurde nämlich als einzige Alternative zum Streikabbruch hingestellt. Dabei wurden die entscheidenden Fragen ausgeblendet, nämlich: Erstens, wie kann man am wirksamsten den Forderungen der Arbeiter Nachdruck verleihen? Zweitens, wer soll verhandeln, die Gewerkschaften und der Betriebsrat oder die Vollversammlung bzw. die gewählten Delegierten der Arbeiter selbst?
Wir wollen aber zeigen, dass die "kritischen Gewerkschaftler" selbst an der Entstehung dieser falschen Alternative zwischen Nachgeben und langen, isolierten Streiks alles andere als unbeteiligt waren. Wir werden ferner zeigen, dass die Organisierung der Spaltung und der Niederlage des Kampfes schon längst vor dem 20. Oktober einsetzt hatte.
Als die Nachricht von den geplanten Entlassungen bei GM in Europa bekannt wurde, reagierten die Arbeiter aller Opelwerke mit Empörung und mit Arbeitsniederlegungen (die sog. Informationsveranstaltungen). Genau wie bei Mercedes im Sommer, wo gleichzeitig in Sindelfingen und in Bremen gestreikt wurde und damit unter Beweis gestellt wurde, dass die Belegschaften sich nicht gegeneinander ausspielen lassen wollten, haben zunächst die hauptsächlich betroffenen Werke Bochum und Rüsselsheim gemeinsam reagiert. Die IG Metall und der Betriebsrat haben in Bochum erst gar nicht versucht, den Kampfelan der Beschäftigten zu bremsen. Statt dessen haben sie zielstrebig und erfolgreich darauf hingearbeitet, dass in Rüsselsheim die Arbeit rasch wieder aufgenommen wurde. Das ist eine Tatsache, welche auch in den linksbürgerlichen Medien systematisch ausgeklammert wird. Sofern man überhaupt darauf eingeht, wird versucht, den Eindruck zu erwecken, dass diese Spaltung von den Arbeitern selbst, namentlich von denen in Rüsselsheim, ausgegangen sei.
Tatsache jedenfalls ist, dass die frühe Wiederaufnahme der Arbeit im Stammwerk bei Frankfurt von den Weiterstreikenden in Bochum als Entsolidarisierung empfunden wurde. Damit aber war der Spaltpilz, welchen die Bourgeoisie erfolglos gegenüber den Mercedesbeschäftigten durchzusetzen versuchte, im Falle von Opel bereits am zweiten Streiktag wirksam. Wie kam es dazu? Bereits einige Wochen vor der Bekanntgabe der 12.000 Stellenstreichungen in Europa hatte GM angekündigt, die Mittelklasseautos von Saab und Opel nur noch an einem Standort in Europa, entweder in Rüsselsheim oder in Trollhättan in Schweden bauen zu lassen und das andere Werk zu schließen. Als dann im Oktober der Sanierungsmasterplan-Europa aus dem Sack gelassen wurde, hieß es direkt, dass die Frage "Rüsselsheim oder Trollhättan?" im Rahmen eines Gesamtpakets mit verhandelt werden sollte. Bereits am ersten Streiktag machten Betriebsrat und IGM in Rüsselsheim unmissverständlich klar, dass sie keine weiteren gemeinsamen, solidarischen Aktionen mit den Bochumer Kollegen dulden würden, da dies nur dazu führen würde, dass der hessische Standort gegenüber dem schwedischen unterliegen würde. Hätten sich Gewerkschaften, Betriebsräte und SPD wirklich die Gemeinsamkeit der Interessen der verschiedenen Belegschaften zu Herzen genommen, wie sie es immer beteuerten, so hätten sie anlässlich des Aktionstags vom 19. Oktober nicht getrennte Demonstrationen an den verschiedenen Standorten, sondern eine gemeinsame Aktion organisieren können. Statt dessen haben sie die Bochumer und Rüsselsheimer stets auf Distanz zueinander gehalten, damit sie bloß nicht miteinander über die Gemeinsamkeit ihrer Interessen ins Gespräch kommen. Nicht mal eine kleine Delegation wurde von Rüsselsheim nach Bochum entsandt oder umgekehrt, um wenigstens eine Solidaritätsadresse zu überbringen. Statt dessen warnten die Betriebsräte in Rüsselsheim vor den "Hitzköpfen" im Revier, während ihre Gegenspieler in Bochum immer wieder sarkastische, indirekte Anspielungen über die "Solidarität" aus Rüsselsheim von sich gaben. Um das volle Ausmaß der gewerkschaftlichen Heuchelei bei diesem "europaweiten Solidaritätstag" zu erahnen, genügt es vielleicht, darauf hinzuweisen, wie die schwedischen Gewerkschaften auf einer Kundgebung einige Floskeln über die Solidarität mit den Opelanern daherfaselten, um anschließend triumphal zu verkünden, dass der schwedische Ministerpräsident Persson sich persönlich dafür einsetzen wolle, dass die Mittelklassewagen dort und nicht in Rüsselsheim gebaut werden.
Die Arbeiter vor falsche Alternativen gestellt
Und die Lage in Bochum, wo weitergestreikt wurde? Dort hielten sich die offiziellen Vertreter der IGM und des Betriebsrats in den ersten Tagen so sehr zurück, dass manche Medien behaupteten, sie hätten die Kontrolle der Lage verloren. Andere kritisierten, dass diese "Verantwortlichen" den gewerkschaftlichen Radikalen das Feld überlassen hätten. Wie wenig die Gewerkschaften in Wirklichkeit die Kontrolle verloren hatten, bewiesen sie nur wenige Tage später, als sie ziemlich mühelos für das Ende des Streiks sorgten. Doch, dass die Gewerkschaftsspitze in den ersten Tagen - und zwar absichtlich - den "Radikalen" das Feld überließ, entspricht weitestgehend den Tatsachen. Denn nachdem rasch klar wurde, dass die Bochumer mit ihrem Streik allein gelassen worden waren, plädierten diese Scheinradikalen als konsequenteste Vertreter der gewerkschaftlichen Ideologie für einen langen, ausharrenden Streik bis zum bitteren Ende. Als vor über einem Jahrhundert die kämpfenden Arbeiter zumeist nur Einzelkapitalisten gegenüberstanden, konnten sie tatsächlich oft auf eigene Faust durch langes Ausharren ihre Interessen durchsetzen. Doch seitdem aus Familienbetrieben Großunternehmen geworden sind, welche auf nationaler Ebene miteinander und mit dem Staat verschmolzen sind, müssen auch die Arbeiter als Klasse kämpfen, d.h. ihre Kämpfe ausdehnen und konzentrieren, um wirksamen Widerstand leisten zu können. Heute aber, wie bereits im 20. Jahrhundert, ist die gewerkschaftliche Ideologie des isolierten, voneinander getrennten Kampfes eine bürgerliche Sichtweise und Praxis geworden, ein Rezept für die Niederlage der Arbeiter. Mehr noch. Bei Opel in Bochum erwies es sich wieder einmal als ein Mittel der Spaltung der Streikenden. Denn während die Mehrheit der Arbeiter - die Sackgasse des isolierten Streiks bereits ahnend - für ein Ende des Kampfes stimmten, wollte eine kämpferische Minderheit in ihrer Verbitterung den Streik sozusagen ohne Rücksicht auf Verluste fortführen. Teilweise warfen sie der Mehrheit der Arbeiter sogar Verrat an der gemeinsamen Sache vor. So war die Spaltung da, nicht nur zwischen Bochum und Rüsselsheim, sondern auch innerhalb der Bochumer Belegschaft.
Später haben die Vertreter des "Streiks bis zum bitteren Ende" - z.B. die Anhänger der stalinistischen MLPD - behauptet, der Streik in Bochum hätte nur wenige Tage länger dauern müssen, um die Kapitalisten zum völligen Nachgeben zu zwingen. Dabei weisen sie auf die Anfälligkeit der Kapitalseite in Folge der modernen "just in time" Produktion hin. Dieses Argument klingt wenig überzeugend in Anbetracht der weltweit vorherrschenden Überproduktion und der Überkapazitäten, nicht zuletzt in der Automobilbranche. Darüber hinaus geht es um weit mehr als nur darum, die Produktion stillzulegen. Es geht darum, ein für die Arbeiterklasse günstiges Kräfteverhältnis durch den branchenübergreifenden Zusammenschluss herzustellen.
Die Entwicklung einer eigenständigen Klassenperspektive
Dennoch stimmt es, dass die Bourgeoisie es nach einer Woche eilig hatte, den Streik in Bochum zu beenden. Nicht jedoch, weil die Produktion von GM weltweit zusammenzubrechen drohte. Hier kommen wir zum entscheidenden Punkt. Der Streik in Bochum hat in der Tat die Bourgeoisie beeindruckt, die Verteidiger des Systems nervös gemacht. Nicht jedoch in erster Linie wegen möglicher Auswirkungen auf die Produktion, sondern wegen der möglichen Auswirkung dieses Kampfes auf die anderen Arbeiter, auf die Bewusstseinsentwicklung der Klasse insgesamt. Sie fürchteten nicht mal in erster Linie die Ausdehnung des unmittelbaren Kampfes auf andere Bereiche der Arbeiterklasse. Denn dafür war die Lage wahrscheinlich noch nicht reif, die allgemeine Kampfkraft und v.a. der Bewusstseinsstand der breiten Masse noch nicht entwickelt genug. Was sie am meisten nervös gemacht hat, war der Ausdruck der Kampfkraft der Arbeiter in einer Situation der immer größeren Gleichzeitigkeit der Angriffe auf alle Arbeiter. So kamen die massiven Angriffe bei Karstadt unmittelbar vor, bei Volkswagen kurz nach der Auseinandersetzung bei Opel. Was die Herrschenden fürchten, ist, dass die Klasse, angespornt durch Kämpfe wie in Bochum, langsam aber sicher erkennt, dass die Arbeiter der verschiedensten Konzerne, Branchen oder Regionen als Arbeiter gemeinsame Interessen haben und eine lebendige Solidarität des Kampfes benötigen.
Der Kampf bei Opel stellte die Arbeiter bereits vor größere Herausforderungen als der bei Mercedes. Denn bei Opel war das Erpressungspotenzial, welches gegen die Arbeiter aufgefahren wurde - bis hin zur möglichen Schließung ganzer Werke - um einiges bedrohlicher. Die Arbeiter beantworteten die Herausforderung, zumindest in Bochum, mit einer gesteigerten Kampfbereitschaft, aber noch nicht mit einer Weiterentwicklung auf der Ebene des Klassenbewusstseins. Das ist nicht verwunderlich. Denn das, womit die Klasse sich heute konfrontiert sieht, ist der immer deutlicher werdende Bankrott einer gesamten Gesellschaftsformation, nämlich des Kapitalismus. Dass das Proletariat viele Anläufe benötigen wird, bevor es die ganze Tragweite des Problems auch nur zu erfassen beginnt; dass es vor der Größe der gestellten Aufgabe immer wieder zurückschrecken wird, liegt auf der Hand. Es ist die Aufgabe der Revolutionäre heute, den Arbeitern bei diesem Ringen um eine Klassenperspektive beizustehen. Deshalb hat die IKS zum Aktionstag der Opelaner das auf der Nebenseite abgedruckte Flugblatt in Bochum und Rüsselsheim verteilt, welches sich nicht damit begnügt, das Proletariat zum Kampf aufzurufen, sondern dazu beitragen will, ein vertiefendes politisches Nachdenken anzuregen. 19.11.04
Der nachfolgende Artikel ist eine leicht gekürzte Fassung eines Flugsblatts, das die IKS während der Kämpfe bei Opel verteilt hat. (Vollständiges Flugblatt im PDF-Format siehe Archiv)
Wie kämpfen gegen Massenentlassungen? Wie kann man sich wirkungsvoll wehren, wenn der “eigene” Arbeitsplatz oder “Standort” nicht mehr als profitabel gilt? Verliert etwa die Waffe des Streiks dort an Wirksamkeit, wo der Kapitalist ohnehin daran denkt, das Werk zu schließen, oder wo ganze Firmen vor der Insolvenz stehen? Diese Fragen stellen sich heute ganz konkret nicht nur bei Opel, bei Karstadt oder VW, sondern überall dort, wo im Zuge der kapitalistischen Wirtschaftskrise Betriebe und Konzerne “saniert” oder gleich dichtgemacht werden. Und das geschieht heutzutage ziemlich überall. Nicht nur in Deutschland, sondern in Amerika und auch in China. Nicht nur in der Industrie, sondern auch in den Krankenhäusern oder in der öffentlichen Verwaltung.
Die Notwendigkeit des Kampfes – aber wie?
Noch Mitte der 80er Jahre gab es große Abwehrkämpfe gegen Massenentlassungen: bei Krupp Rheinhausen etwa oder der Kampf der britischen Bergarbeiter. Damals wurden ganze Industriebranchen wie die Montanindustrie oder der Schiffsbau demontiert.
Heute aber sind Arbeitslosigkeit und Betriebsschließungen allgegenwärtig. Dies hat zunächst zu einer weit verbreiteten Einschüchterung geführt. Stellenabbau wurde zumeist widerspruchslos hingenommen. Jedoch hat der Kampf bei Daimler-Chrysler in diesem Sommer Signalwirkung gehabt. Dort haben die Beschäftigten sich erstmals wieder gegenüber den Erpressungen der Firmenleitung spektakulär zur Wehr gesetzt. Durch die Solidaritätsaktionen v.a. im Werk Bremen mit den direkt Betroffenen in Sindelfingen haben sie gezeigt, dass sich die Arbeiter der verschiedenen Standorte nicht gegeneinander ausspielen lassen.
Und jetzt haben die Streikaktionen bei Opel v.a. in Bochum als eine erste Antwort auf angekündigte Stellenstreichungen erneut untermauert, dass wir auch Massenentlassungen nicht widerspruchslos hinnehmen dürfen.
Trotzdem muss die Frage nach den Möglichkeiten und der Zielsetzung des Kampfes unter solchen Bedingungen gestellt werden. Denn man weiß, dass der Kampf bei Daimler-Chrysler, ebenso wie damals bei Krupp oder der der britischen Bergarbeiter, jeweils in einer Niederlage endete. Und man erlebt immer wieder – so auch jetzt – wie die Gewerkschaften und die Betriebsräte - dort wo die Betroffenen sich wehren - ebenso dem Kampf das Wort reden, sogleich aber von vorn herein behaupten, dass es keine Alternative dazu gäbe, sich der Logik des Kapitals zu unterwerfen. Es gehe schließlich darum, sagen sie, das Schlimmste zu verhindern, die zur “Sanierung” des Konzerns unentbehrlichen Entlassungen möglichst “sozial” zu gestalten. So wurde der Abschluss bei Karstadt-Quelle, wo das direkte Streichen von 5.500 Stellen, das “Abstoßen” von 77 Warenhäusern, sowie horrende Reallohnkürzungen (“Sparvolumen” 760 Millionen bis 2007) vereinbart wurden, von ver.di als ein Sieg der Arbeiter gefeiert.
Seit mindestens zwei Jahrhunderten kämpfen Lohnarbeit und Kapital um Löhne und Arbeitsbedingungen, d.h. um den Grad der Ausbeutung der Lohnarbeit durch das Kapital. Hätten die Ausgebeuteten sich nicht immer, von Generation zu Generation, zur Wehr gesetzt, wären die Arbeiterinnen und Arbeiter von heute nicht viel mehr als willenlose Sklaven, welche man nach Belieben ausquetschen oder auch zu Tode arbeiten lassen kann. Doch neben dieser Frage des Grades der Ausbeutung, welche sich auch für die Sklaven oder die Leibeigenen in früheren Zeiten stellte, stellt sich in der modernen Wirtschaftsweise ein zweites Problem ein, welches nur dort aufkommt, wo Marktwirtschaft und Lohnarbeit vorherrschen. Diese Frage lautet: Was tun, wie sich wehren, wenn der Besitzer der Produktionsmittel nicht mehr gewinnbringend die Arbeitskraft des Arbeiters ausbeuten kann? Diese Frage haben sich während der gesamten Geschichte des Kapitalismus schon immer die Arbeitslosen stellen müssen. Aber heute, wo die chronische Überproduktionskrise auf dem Weltmarkt, wo der Bankrott der kapitalistischen Produktionsweise zunehmend sichtbar geworden ist, wird dies zu einer Überlebensfrage aller Lohnabhängigen.
Die Perspektive der Arbeiterklasse gegen die Perspektive des Kapitals
Die Unternehmer, die Politiker, aber auch die Gewerkschaften und die Betriebsräte – all diejenigen also, welche an der Führung des einzelnen Betriebes, Konzerns oder des Staatswesen beteiligt sind – betrachten die Arbeiter und Angestellten als Teil des jeweiligen Unternehmens, welche auf Gedeih und Verderb mit den Interessen des “Arbeitgebers” verbunden sind. Aus dieser Sicht ist es natürlich immer schädlich, wenn die “Mitarbeiter” sich gegen die Profitinteressen des Unternehmens stellen. Denn das Unternehmen ist nur da, um Gewinn zu erwirtschaften. Und aus dieser Logik folgt, wie der Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats von Opel, Klaus Franz, von vorn herein unmissverständlich klarstellte: “Wir wissen dass wir um betriebsbedingte Kündigungen nicht umhin kommen werden.” Das ist also die Logik des Kapitals. Aber es ist nicht die einzig mögliche Perspektive, von der aus man das Problem betrachten kann. Wenn man die Sache nicht mehr als das Problem von Opel oder von Karstadt, oder als das Problem des Standorts Deutschland, sondern als gesamtgesellschaftliches Problem auffasst, ergeben sich völlig andere Perspektiven. Wenn man die Welt nicht vom Standpunkt eines einzelnen Betriebes oder Konzerns betrachtet, sondern vom Standpunkt der Gesellschaft, vom Standpunkt des Wohls der Menschen, dann erscheinen die Betroffenen nicht mehr etwa als Opel-Angehörige oder Karstadt-Mitarbeiter, sondern als Angehörige einer Gesellschaftsklasse der Lohnarbeiter, welche die Hauptopfer der kapitalistischen Krise sind. Aus dieser Perspektive wird dann deutlich, dass die Verkäuferin bei Karstadt in Herne, der Montagearbeiter bei Opel in Bochum, aber auch der Erwerbslose aus Ostdeutschland oder der rechtlose, fast schon versklavte, illegale Bauarbeiter aus der Ukraine, ein gemeinsames Schicksal und gemeinsame Interessen – nicht mit ihren Ausbeutern, sondern miteinander – teilen.
Die Kapitalseite weiß, dass es diese andere Perspektive gibt. Gerade diese andere Perspektive fürchtet sie. Die Machthaber wissen: Solange die Arbeiter bei Opel das Problem nur aus der Perspektive von VW oder Opel betrachten, werden sie schon “zur Vernunft kommen.” Wenn die Arbeiter aber ihre eigene Perspektive entdecken, die Gemeinsamkeit ihrer Interessen erkennen, ergeben sich ganz andere Perspektiven des Kampfes.
Die Sichtweise der gesamten Gesellschaft einnehmen
Deshalb wollen uns die Vertreter des Kapitals stets einreden, dass die von ihrem Wirtschaftssystem verursachten Katastrophen das Ergebnis der “Versäumnisse” und der “Besonderheiten” des jeweiligen Konzerns oder des Standorts seien. So wird behauptet, die Probleme bei Karstadt seien das Ergebnis einer fehlerhaften Verkaufsstrategie. Opel hingegen soll es versäumt haben, dem Beispiel der Konkurrenten wie Daimler-Chrysler oder Toyota zu folgen, welche mit neuen, attraktiven, häufig dieselbetriebenen Motoren Erfolge erzielen. Außerdem soll die Tatsache, dass 10.000 der 12.000 in Europa von General Motors zum Abschuss freigegebenen Stellen auf Deutschland fallen, ein Denkzettel sein, den die amerikanischen Machthaber Deutschland wegen dessen Irakpolitik verpassen! Als ob deutsche Konzerne, wie eben Karstadt-Quelle, nicht ebenso gnadenlos Arbeitsplätze in Deutschland abbauen! Als ob Daimler-Chrysler nicht erst vor wenigen Monaten ebenfalls seinen Beschäftigten die Pistole auf die Brust gesetzt hatte! Die Wirklichkeit selbst straft diese Darstellung Lügen. (...) Als am “schwarzen Donnerstag”, dem 14. Oktober, bekannt gegeben wurde, dass insgesamt 15.500 Jobs bei Karstadt-Quelle und bei Opel in den nächsten drei Jahren vernichtet werden sollen, beeilten sich die “Verhandlungspartner”, die Politiker und die “Kommentatoren”, haarscharf zwischen diesen beiden Fällen zu unterscheiden. Eigentlich würde man erwarten, dass dort, wo auf die Beschäftigten zweier Großkonzerne genau das gleiche schlimme Schicksale wartet, die Ähnlichkeit der Lage und der Interessen der betroffenen Lohnabhängigen im Vordergrund stehen würde. Doch genau das Gegenteil geschieht. Nachdem die zuständige Verhandlungsführerin von Verdi, Wiethold, am Donnerstagnachmittag beinahe frohlockend die “Rettung” des Karstadtkonzerns bekannt gegeben hatte, wurde sofort von den Medien verbreitet: Da die Zukunft von Karstadt nun gesichert sei, bleibe Opel allein als Sorgenkind zurück. Während also die Belegschaften der Warenhauskette sich “beruhigt” wieder ihrer Arbeit widmen sollen, seien es lediglich die Leute bei Opel, die sich Sorgen um ihre Zukunft machen müssten.
Dabei unterscheiden sich die Situationen der Beschäftigten der beiden Firmen allein darin, dass das, was bei Karstadt-Quelle bereits traurige Gewissheit ist – Massenentlassungen, Teilschließungen, massivste Erpressung der gesamten Belegschaft – den Opelanern noch bevorsteht. Beide Belegschaften sollen Einschnitte mit einem Volumen von insgesamt 1,2 Milliarden Euro hinnehmen, sollen zum Teil um Brot und Arbeit gebracht werden, um die Profite (nicht die Arbeitsplätze!) zu retten.
Die Behauptung, die Lage der Karstadtbeschäftigten unterscheide sich grundlegend von der bei Opel, entbehrt jeder Grundlage. Für die Lohnabhängigen bei Karstadt jedenfalls ist gar nichts “gerettet” worden. Verdi spricht von einer “Sanierung, die den Namen verdient” und von einem “Erfolg der Arbeitnehmer”, weil eine “Arbeitsplatzgarantie” abgegeben worden ist, und weil der Tarifvertrag gerettet sei. So klingt es, wenn Niederlagen der Arbeiterklasse als Siege verkauft werden. Was haben Beschäftigungsgarantien, Tarifverträge und andere Versprechungen für einen Wert, wenn selbst Weltkonzerne um ihr Überleben kämpfen? In Wahrheit stecken die Opfer der “Sanierung” von Karstadt - nach wie vor - in genau derselben Lage wie die Arbeiter bei Opel, aber auch bei VW, Daimler-Chrysler, Siemens oder aber im öffentlichen Dienst.
Bei Karstadt-Quelle wurden die Verhandlungen auch deshalb so schnell “erfolgreich” beendet, weil bekannt war, dass am 14. Oktober General Motors seinen “Sanierungsplan” für Europa veröffentlichen wollte. Bisher gehörte es nämlich zu den ungeschriebenen Regeln der Herrschenden, niemals gleichzeitig mehrere große Bereiche der Arbeiterklasse massiv anzugreifen, um dem Gefühl der Arbeitersolidarität nicht ungewollten Vorschub zu leisten. Aber jetzt lässt die Verschärfung der Krise des Weltkapitalismus ein Nacheinander dieser Angriffe immer weniger zu. So kam es wenigstens darauf an dafür zu sorgen, dass an dem Tag, an dem die Hiobsbotschaft aus Detroit durchdrang, von einem “Erfolg” bei Karstadt gesprochen werden konnte.
Die Mittel des solidarischen Kampfes
Massenentlassungen, auch der Pleitegeier, bedeuten nicht, dass die Waffe des Streiks unbrauchbar wird. So waren die Arbeitsniederlegungen bei Mercedes und Opel ein wichtiges Signal, um die Opfer der kapitalistischen Krise zum Kampf aufzurufen.
Dennoch ist es leider schon so, dass in solch einer Lage der Streik als Mittel der Einschüchterung des Gegners viel von seiner Wirksamkeit verliert. Der Kampf der Arbeitslosen z.B. muss ohnehin ohne Streik auskommen. Aber auch dort, wo der Ausbeuter vor hat, sich der Dienste der von ihm Ausgebeuteten zu entledigen, büßt die Drohung mit Streik einen großen Teil ihres Schreckens ein.
Das Mittel, welches wir angesichts des jetzigen Standes der Angriffe des Kapitals benötigen, ist der Massenstreik aller Betroffenen. Eine solche Abwehraktion der gesamten Arbeiterklasse wäre imstande, den Lohnabhängigen das Selbstvertrauen zu geben, um der Arroganz der Herrschenden zu trotzen. Darüber hinaus können massive Mobilisierungen dazu beitragen, das gesellschaftliche Klima zu verändern, indem die Notwendigkeit erkannt wird, die Bedürfnisse der Menschen zur Leitlinie gesellschaftlichen Handels zu machen. Diese Infragestellung des Kapitalismus wiederum würde die Entschlossenheit der Beschäftigten und Erwerbslosen steigern, ihre Interessen jetzt schon zu verteidigen.
Natürlich sind solche massiven, gemeinsamen, solidarischen Aktionen heute noch nicht durchführbar. Das bedeutet aber keineswegs, dass man jetzt nichts unternehmen und nichts erreichen kann. Doch ist es notwendig zu erkennen, dass der Streik nicht die einzige Waffe des Klassenkampfes ist. Alles, was heute schon das Erkennen der Gemeinsamkeit der Interessen aller Lohnabhängige fördert, und alles, was die Tradition der Arbeitersolidarität wiederbelebt, erschreckt die herrschende Klasse, macht sie in ihren Angriffen weniger forsch und selbstsicher, steigert die Bereitschaft des Gegners, hier und da tatsächliche Zugeständnisse, zumindest vorübergehend, zu gewähren.
1987 öffneten die von Werksschließungen bedrohten Beschäftigten bei Krupp in Rheinhausen ihre täglichen Vollversammlungen für die Bevölkerung, für die Beschäftigten anderer Betriebe ebenso wie für die Arbeitslosen. Gerade heute ist es überhaupt nicht einzusehen, weshalb die Betroffenen bei Opel und Karstadt, bei ‚Spar‘ und bei Siemens, nicht zusammen kommen, um gemeinsam über ihre Lage zu diskutieren. Während des Massenstreiks 1980 in Polen versammelten sich die Arbeiter einer ganzen Stadt auf dem Gelände des jeweils größten Betriebs. Dort haben sie gemeinsame Forderungen aufgestellt und den Kampf in die eigene Hand genommen.
Bereits der Kampf bei Mercedes hat unter Beweis gestellt, was nun die Angriffe bei Opel oder Karstadt bestätigen – das große Gefühl der Solidarität der arbeitenden Bevölkerung mit den Betroffenen. Unter solchen Bedingungen bieten Demonstrationen in Städten an einem zentralen Ort, der Bevölkerung, vor allem Beschäftigten aus anderen Betrieben und Arbeitslosen die Möglichkeit dazu zu stoßen und sich zu solidarisieren.
Der Kampf bei Mercedes hat außerdem gezeigt, dass die Arbeiter mehr und mehr begreifen, dass sie angesichts von Massenentlassungen sich nicht zwischen verschiedenen Standorte ausspielen lassen dürfen. Auch die Kapitalseite hat nun eingesehen, dass man nicht mehr so plump wie im Sommer zwischen Bremen und Stuttgart versuchen darf, den Spaltpilz zu säen. (...) Als Hauptergebnis der Sitzung des Gesamtbetriebsrats von Opel am selben Abend wurde verkündet, das Zusammenhalten der Belegschaften sei nun vorrangig. Jedoch was bedeutet es, wenn Sozialdemokraten und Gewerkschafter von Solidarität sprechen? Da diese Institutionen Bestandteile und Verteidiger der kapitalistischen Gesellschaft sind, bedeutet “Zusammenhalt” in ihrem Munde höchstens, dass gegeneinander konkurrierende Standorte versuchen werden, Preisabsprachen zu treffen. So gab der Gesamtbetriebsratsvorsitzende bekannt, dass er auch mit den schwedischen Kollegen darüber sprechen wollte, welche Angebote die jeweiligen Werke für die neu zu bauenden Modelle machen wollen. Im Klartext: Die Betriebsräte, wie die Gewerkschaften, sind selbst Teil des kapitalistischen Konkurrenzkampfes, welche die Arbeiterklasse auflösen und ihre Klassensolidarität bekämpfen wollen.
Der gemeinsame Kampf der Arbeiter kann somit nur von den Arbeitern selbst in Gang gesetzt und geführt werden.
Die Notwendigkeit der politischen Infragestellung des Kapitalismus.
In Anbetracht der Tiefe der Krise des heutigen Kapitalismus müssen die Arbeiter schließlich ihre Scheu davor ablegen, sich mit politischen Fragen zu befassen. Damit meinen wir nicht die bürgerliche Politik, sondern dass die Arbeiter sich befassen den Problemen der gesamten Gesellschaft und der Frage der Macht.
Die Massenentlassungen von heute konfrontieren uns mit der Realität dieser Gesellschaft, dass wir gar keine “Mitarbeiter” dieser oder jener Firma sind, sondern Ausbeutungsobjekte und Kostenfaktoren, welcher man sich nach Bedarf gnadenlos entledigt. Diese Angriffe machen deutlich, was es bedeutet, dass die Produktionsmittel gar nicht der Gesellschaft insgesamt gehören und gar nicht den Interessen der Gesellschaft dienen. Statt dessen gehören sie einer kleinen Minderheit. Vor allem sind sie blinden, immer zerstörerischer werdenden Gesetzen der Konkurrenz und des Marktes unterworfen, welche immer größere Teile der Menschheit ins Elend und unerträgliche Unsicherheit stürzen. Gesetze, welche die elementare menschliche Solidarität untergraben, ohne die es längerfristig gar keine Gesellschaft geben kann. Und die lohnabhängigen Arbeiter, die heute fast alles an Gütern und “Dienstleistungen” herstellen, was die Menschheit zum Leben braucht, beginnen langsam zu realisieren, dass sie unter dieser Gesellschaftsordnung nichts, aber gar nichts zu sagen haben.
Die Krise bei Karstadt oder Opel ist nicht das Ergebnis von Missmanagement, sondern Ausdruck einer jahrzehntelangen, chronischen, zerstörerischen Überproduktionskrise. Diese Krise bewirkt immer mehr das Schwinden der Massenkaufkraft der arbeitenden Bevölkerung. Dies wiederum trifft den Einzelhandel, den Automobilabsatz, kurzum, die gesamte Wirtschaft immer härter. Der verschärfte Konkurrenzkampf zwingt die Kapitalisten dazu, die Kosten zu senken, was die Massenkaufkraft nur weiter drosseln wird und die Krise weiter verschärft.
Innerhalb des Kapitalismus gibt es kein Entrinnen aus diesem Teufelskreis. 15.10.2004.
Die Ergebnisse der Präsidentenwahlen spiegeln die wachsenden Schwierigkeiten der amerikanischen herrschenden Klasse bei ihrer Fähigkeit, den Wahlzirkus zu manipulieren, wider. Diese Schwierigkeiten, die zum ersten Mal bei dem Debakel der Wahlen im Jahr 2000 auftauchten, traten dieses Jahr in zweierlei Hinsicht zum Vorschein. Erstens, die Bourgeoisie brauchte relativ lange, um sich darüber zu einigen, wie die politische Arbeitsteilung zwischen die Republikanern und den Demokraten ausgerichtet werden sollte - vielleicht zu lange. Die Tatsache, dass diese Einigung erst so spät in der Kampagne erzielt wurde, schwächte die Fähigkeit der Bourgeoisie, den Ausgang des Wahlergebnisses zu manipulieren. Zweitens, das Wachstum und der Zusammenhalt des christlichen, fundamentalistischen Flügels in Amerika, der wie jedes religiöse Eifern in der heutigen Zeit eine Reaktion auf das wachsende Chaos und die schwindende Hoffnung in die Zukunft darstellt, dem der gesellschaftliche Zerfall zugrunde liegt, brachte für die herrschende Klasse ernsthafte Schwierigkeiten mit sich. Dieser Teil der Wählerschaft erwies sich gegenüber der Medienmanipulation bei wesentlichen politischen Fragen der Wahlkampagne unzugänglich. Aufgrund der Zuspitzung des gesellschaftlichen Zerfalls steht auch die herrschende Klasse der USA, wie in anderen Nationen, beispielsweise Frankreich, vor wachsenden Schwierigkeiten bei der Steuerung des Wahlspektakels.
Wie wir früher in Internationalism (Zeitung der IKS in den USA) hervorgehoben haben, war Kerry als Kandidat kein Kriegsgegner. Er versprach lediglich, feinfühliger vorzugehen gegenüber der Frage, wie die USA Krieg führen, wie im Irak gewonnen, wie das amerikanische Militär aufgerüstet, vergrößert und die Waffensysteme modernisiert werden sollen. Das war kein politisches Programm einer Taube. Kerrys Programm deckt sich mit einer wachsenden Mehrheit innerhalb der Bourgeoisie, die das Ausmaß des Schlamassels im Irak erkennt. Die Weigerung der Bush-Administration, sich der Wirklichkeit zu stellen, untergrub ihre Glaubwürdigkeit und machte ein weiteres Verbleiben Bushs im Amt zunehmend unhaltbar. Aus der Perspektive der Bourgeoisie bot nur Kerry die Möglichkeit, die Bevölkerung zu überzeugen, weitere Kriege in der Zukunft zu akzeptieren.
Der Wahlzirkus
Die kapitalistische Propaganda, die mit jedem Wahlzirkus einhergeht, verbreitet immer die demokratischen Illusionen, den kapitalistischen politischen Schwindel, dass Freiheit für die Arbeiterklasse darin besteht, sich an der Wahl des jeweiligen Politikers, der an der Spitze der kapitalistischen Klassendiktatur stehen soll, beteiligen zu können. Diesmal war der Medienrummel überwältigend. Der Krieg im Irak, die nationale Sicherheit, Terrorismus, bürgerliche Freiheiten, chronische Arbeitslosigkeit, Gesundheitsversorgung, Sozialversicherung, Abtreibung, gleichgeschlechtliche Ehen, Umweltverschmutzung, wurden alle als brennende Wahlkampfthemen gehandelt, damit die Menschen wählen gehen.
Ungeachtet dieses Wahlspektakels ging es bei dieser Wahl, wie bei allen Wahlen im Zeitalter der kapitalistischen Dekadenz, nicht um das Aufeinanderprallen politischer Alternativen, die von verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie befürwortet wurden, sondern um Manipulationen und Verschleierungen. Sicherlich bestehen Differenzen innerhalb der Bourgeoisie, aber diese Streitigkeiten beschränken sich hauptsächlich auf taktische Fragen, wie man am besten eine gemeinsame strategische Herangehensweise im In- und Ausland umsetzen kann. Es lag von vorn herein fest, dass, wer immer der Sieger sein werde, die USA zu Hause eine Sparpolitik fortsetzen werden (womit die Arbeiterklasse die Hauptlast der Wirtschaftskrise aufgebürdet bekommt) und militärisches Eingreifen im Ausland (womit das Leben junger Männer und Frauen der Arbeiterklasse zum Schutz der amerikanischen imperialistischen Interessen geopfert wird). Der Stil, wie diese Politik umgesetzt wird, mag sich geringfügig unterscheiden, aber das Endergebnis - Sparpolitik und Krieg - wird das Gleiche sein.
Strategische, politische Erfordernisse für die Kapitalistenklasse
Auf der Ebene der politischen Strategie stand die herrschende Klasse dieses Jahr zwei politischen Haupterfordernissen gegenüber: Erstens, sie musste die Glaubwürdigkeit der demokratischen Ideologie, die bei dem Wahldebakel von 2000 einen schweren Schlag erlitten hatte, wiederbeleben und wiederherstellen. Zweitens, sie musste die kapitalistische politische Arbeitsteilung zwischen den größten politischen Parteien anpassen, um sicherzustellen, dass die formal an der Macht befindliche Mannschaft am besten dazu geeignet ist, die strategischen Erfordernisse zu erfüllen, die für die wirksame Verteidigung der Bedürfnisse der herrschenden Klasse in Zukunft notwendig sind.
Im Jahr 2000 wurde das Wahlergebnis erst nach 36 Tagen entschieden, nur nachdem eine kontroverse Entscheidung des obersten Gerichtshofs gefällt worden war. Dies wiederum untergrub das politische Vertrauen in den Gerichtshof und in die Bush-Administration. Zum ersten Mal gewann der Kandidat, welcher weniger Stimmen bekam, der aber aufgrund des Durcheinanders bei der Stimmenauszählung in Florida (der Staat, der von George Bushs Bruder regiert wird) eine Mehrheit der Wahlmänner hinter sich brachte. Dies erinnerte mehr an eine Bananenrepublik. Das Wahldebakel von 2000 spiegelte die Auswirkungen des gesellschaftlichen Zerfalls auf den Wahlprozess der herrschenden Klasse wider, wodurch es für die Bourgeoisie zunehmend schwieriger wird, ihr eigenes Wahlspektakel zu steuern.
Dieses Jahr musste die Bourgeoisie das Vertrauen in die Wahlen wiederherstellen. Dazu brauchte sie einen klaren Wahlsieger, um eine Wiederholung der Ärgernisse von vor vier Jahren zu vermeiden. Die Medien waren sehr erfolgreich bei ihrer Propaganda hinsichtlich der angeblichen Wichtigkeit der Stimmenabgabe eines jeden Wahlberechtigten. Schlussendlich beteiligten sich 120 Mio. Menschen, eine Rekordbeteiligung. Hätte Kerry den Staat Ohio für sich gewonnen, wäre er als Sieger der Gesamtwahlen hervorgegangen, womit die USA zum zweiten Mal einen Präsidenten an ihrer Spitze gehabt hätten, der stimmenmäßig unterlegen war (mit 3 Mio. Stimmen einen noch größeren Rückstand als Bush im Jahr 2000), was für die demokratische Ideologie verheerend gewesen wäre. Dies bewog Kerry, nicht darauf zu drängen, das durchaus anfechtbare, provisorische Wahlergebnis in Ohio überprüfen zu lassen, wofür genügend Gründe gesprochen hätten. Mit dieser Entscheidung handelte Kerry, aus der Sicht der Bourgeoisie, genauso verantwortlich wie seinerzeit Nixon, als dieser 1960 die Wahl Kennnedys nicht angefochten hatte, weil dies möglicherweise zu einer politischen Instabilität geführt hätte.
Die Anpassung der Arbeitsteilung
In Zeiten intensiven Klassenkampfes zieht es die Bourgeoisie oft vor, die Linke in der Opposition zu belassen. Heute jedoch besteht die Hauptsorge für die Bourgeoisie nicht darin, wie sie den Klassenkampf eindämmen kann, sondern vielmehr in der Verteidigung ihrer imperialistischen Interessen in einem dramatisch veränderten Umfeld nach dem Ende des Kalten Krieges. Während es eine allgemeine Übereinstimmung unter den herrschenden Fraktionen der amerikanischen Bourgeoisie hinsichtlich des strategischen Ziels gibt, die amerikanische Hegemonie aufrechtzuerhalten, und das Aufkommen eines neuen imperialistischen Rivalen zu verhindern, gibt es beträchtlichen Streit über die taktische Umsetzung dieser Strategie. Insbesondere hat sich dieser Streit im letzten Jahr um den Irak gedreht. Im Winter 2003 war die herrschende Klasse einig bei der Invasion des Iraks als einem Denkzettel gegenüber potenziellen Rivalen, als einer Verstärkung der direkten amerikanischen Präsenz in einer strategisch wichtigen Zone des imperialistischen Konkurrenzkampfes, und als eines Mittels, um Druck auf Europa auszuüben, in dem die USA immer mehr die Ölversorgung aus dem Mittleren Osten kontrollieren. Die Divergenzen innerhalb der US Bourgeoisie um den Irak tauchten erst nach dem kläglichen Scheitern der Besetzung des Iraks auf. Innerhalb der US Bourgeoisie gibt es drei Auffassungen zum Irak. 1.) Alles läuft gut, solange Amerika Durchhaltevermögen zeigt, diese wird von der Bush Administration vertreten. Sie scheint in vollkommenem Widerspruch zu der Wirklichkeit vor Ort zu stehen. 2.) Die Lage ist völlig verfahren, die USA sollten sich sofort zurückziehen. Diese extreme Position wird von wenigen Gruppierungen am linken und rechten Rand vertreten. 3.) Die Lage ist verfahren, und die USA müssen Schadensbegrenzung betreiben, um auf neue Herausforderungen reagieren zu können. Diese Position wird zunehmend von den stärksten Fraktionen vertreten. Das vollkommene Scheitern der Propagandarechtfertigungen durch die Bush Administration für den Irakkrieg macht die herrschende Klasse besorgt, nicht weil sie gelogen hat, sondern weil die Entblößung derselben es zunehmend schwieriger macht, die Zustimmung des Volkes für künftige militärische Abenteuer, insbesondere innerhalb der Arbeiterklasse, zu gewinnen. Bushs Unbeholfenheit verspielte das beträchtliche politische Kapital aus den Ereignissen des 11. September, welche der Bourgeoisie die Gelegenheit bot, den Patriotismus zur Manipulation der Bevölkerung einzusetzen.
Nachdem es ihr nicht gelungen ist, die politische Arbeitsteilung durch den Wahlzirkus neu auszurichten, wird die Bourgeoisie gezwungen sein zu versuchen, künftig aus einer schwierigen Lage das Beste zu machen. J. Grevin 05.11.2004
Aus Internationalism, Zeitung der IKS in den USA.
(Vollständiger Text auf unserer englischsprachigen Website).
Die Schweizer Bourgeoisie, vertreten durch die Gewerkschaften, kündigte während des Sommers einen heißen Herbst an. Grund waren die im Herbst anstehenden Lohnverhandlungen, worauf die Gewerkschaften frühzeitig die Werbetrommel für eine nationale Demonstration rührten.
Was ist aus dem heißen Herbst geworden? Und was bedeuten die Gründung der neuen Gewerkschaft Unia und die Mobilisierung gegen die Lohnverhandlungen für die Arbeiterklasse?
Heißer Herbst und Gründung der Unia
Die Gewerkschaften haben schon im Vorfeld, noch während der Sommerferien, einen heißen Herbst gegenüber den anstehenden Lohnverhandlungen angekündigt, nachdem mit Lohnkürzungen gedroht wurde.
In Basel wurde am 16. Oktober 2004 die neue interprofessionelle Gewerkschaft Unia mit rund 200'000 Mitgliedern gegründet. Sie ist ein Zusammenschluss der GBI (Gewerkschaft Bau & Industrie), dem SMUV (Schweizerischer Metall- und Uhren-Verband), dem VHTL (Verkauf, Handel, Transport und Lebensmittel), der 1996 gegründeten Dienstleistungsgewerkschaft unia und actions unia.
Schon im Vorfeld der Gründungsversammlung der neuen Unia rührten die Gewerkschaften, welche die neue Gewerkschaft bilden, wieder kräftig die Werbetrommel für den heißen Herbst, indem sie zur nationalen Demonstration vom 30. Oktober 04 in Bern aufriefen mit der Forderung: "Aufschwung für alle. Rauf mit unseren Löhnen!".
Die Gewerkschaften sagen, dass es mit der Schweizer Wirtschaft wieder aufwärts geht! Seit einem Jahr habe die Wirtschaftsleistung der Schweiz um 2 Prozent zugenommen. Die Banken würden Rekordgewinne machen, die Exporte würden anziehen und die Unternehmensprofite steigen. Demgegenüber seien die Reallöhne jedoch nur um 0.2 Prozent gestiegen.
Tatsache ist, dass die Straffung der Schweizer Wirtschaft weiter in vollem Gange ist. So wurde bei Alstom-Schweiz (tätig im Kraftwerkbau) der Stellenabbau von rund 650 Stellen und bei Swisscom (Telekommunikation) die Streichung von weiteren 390 Stellen angekündigt.
In weiteren Betrieben wie der Firma Esec in Cham ist ein Stellenabbau in Sicht.
Die Verfälschung der Krise durch die Gewerkschaften
Die nationale Kampagne und Mobilisierung der Arbeiter vom 30. Oktober 04 durch die Unia hatte zum Ziel, kurzfristig die Arbeiter von der Realität abzulenken, nämlich davon, dass die Wirtschaft in einer permanenten Überproduktionskrise steckt, wo sich die Lebensbedingungen der Arbeiter nur verschlechtern können.
Die sich verschärfende Krise äußert sich in der Schweiz darin, dass sie "über die letzten 30 Jahre hinweg von allen OECD-Staaten das geringste Wirtschaftswachstum und zwischen 1990 und 1999 eine dauerhafte Stagnation" verzeichnete (Politische Reformen für mehr Wachstum, in: NZZ vom 15./16.05.04).
Die Gewerkschaften, die die linke Fraktion der Bourgeoisie ausmachen, halten an ihrer gemäßigten neokeynesianischen Strategie fest. Sie geben vor, man könne die Löhne auf gleichem Niveau halten oder sogar erhöhen, um durch die Erhaltung, resp. die Erhöhung der Kaufkraft einen Aufschwung herbei zu zaubern und dadurch die Krise zu überwinden. Das ist Augenwischerei! Es wird uns weisgemacht, dass somit die Überproduktionskrise überwunden werden könnte. Das ist eine Verfälschung der Tatsachen!
Seit dem Ersten Weltkrieg befindet sich der Kapitalismus in einer Spirale, die man unterteilen kann in die Phasen von "Krise, Krieg, Wiederaufbau, Krise". Mit dem Ende der Aufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg befindet sich der Kapitalismus wieder in einer offenen Überproduktionskrise. Das hat zur Folge, dass immer weniger Menschen immer mehr produzieren.
Aber welche Strategie steckt hinter diesem Schein-Optimismus der Gewerkschaften? Die Strategie der Gewerkschaften mit dieser Kampagne ist, sich politisch aufzuwerten, um den Anschein zu wecken, sich sowohl in schlechten wie in guten Zeiten für die Arbeiter einzusetzen.
Das Hauptziel der Bourgeoisie ist die Demoralisierung der Arbeiter in Kämpfen, die das Proletariat nur verlieren kann. Die linken Teile der Bourgeoisie geben vor, dass ein Ausweg aus der Krise möglich sei. Man müsse nur die Löhne genügend erhöhen, dann würde auch wieder mehr gekauft. Dabei verschweigen sie aber, dass dies nach der kapitalistischen Logik zum Verlust der Konkurrenzfähigkeit des jeweiligen nationalen Kapitals führen würde. Die Gewerkschaften verlassen den Rahmen der bürgerlichen Nationalökonomie nicht und geben vor, dass es in diesem System eine Lösung gebe. Der Kapitalismus ist aber insgesamt in einer Sackgasse - es gibt keine Rettung für ihn, weder national noch international.
Unia: Was bedeutet die neue große Gewerkschaft?
Am 4. Oktober 2004 wurde mit großer Pressepräsenz die neue Gewerkschaft Unia gegründet. Die Gründung wurde als ein riesiges Medienspektakel inszeniert, die in beinahe allen bürgerlichen Medien ein zentrales Thema der letzten Monate war. Auf den Frontseiten lächelten uns die frischgebackenen, alten Gewerkschaftsfunktionäre entgegen.
Aber wieso dieses Medienspektakel? Das Ziel dieser neuen Gewerkschaft ist es, eine Organisation zu schaffen, die auch den tertiären Sektor umfasst. Mit der Verschärfung der Krise ergibt sich die Notwendigkeit für das Kapital, auch diesen Teil der Arbeiterklasse unter die Kontrolle der Gewerkschaften zu bringen.
Dies kann sie gut mit einer ehemaligen GBI, die den Ruf genießt, kämpferisch zu sein. Dies stimmt aber überhaupt nicht! Die GBI war eine Gewerkschaft, die viele Manöver gegen die Arbeiterklasse ausführte. Zum Beispiel die Abspaltung der Bauarbeiter von der restlichen Arbeiterklasse in der Rentenfrage. Obwohl das ganze Proletariat von den Rentenkürzungen betroffen ist, suggerierte die GBI, dass ein einzelner Sektor wie der Bausektor, Verbesserungen herausholen könne. Dass dieser so genannte Sieg eine Niederlage ist, haben wir ausführlich im Artikel, "Wie Niederlagen der Arbeiter als Siege verkauft werden" (Weltrevolution 124) dargelegt.
Diese Strategie der sektorialen Spaltung wird in der neuen Unia unter dem Deckmäntelchen einer vereinten Gewerkschaft weitergeführt.
Somit hat die Arbeiterklasse von der neuen Unia nichts zu erwarten, da ihre Kämpfe in der sich verschärfenden Krise weiterhin in sektoriale Sackgassen geführt werden.
Auf welche Fragen müssen wir Revolutionäre antworten?
Zuallererst müssen wir Revolutionäre klarstellen, dass es sich bei diesen Forderungen der Gewerkschaften um eine Verleugnung der wirklichen wirtschaftlichen Lage handelt. Es ist eine Lüge zu sagen, dass es ein bedeutendes Wirtschaftswachstum gibt. Und wenn man die oben beschriebene Situation der Schweizer Wirtschaft betrachtet, stehen diese Forderungen in einem Widerspruch zur tatsächlichen Situation.
Aber gehen wir nun davon aus, dass die Arbeiter tatenlos zusehen sollen? Nein! Wir Revolutionäre sagen nicht, dass das Proletariat alle Angriffe einfach hinnehmen soll.
Sie kann aber nur gegen die Angriffe auf ihre Lebensbedingungen kämpfen, wenn sie unabhängig von den Gewerkschaften kämpft. Insbesondere muss sie erkennen, dass interkategorielle Gewerkschaften wie die Unia die Aufgabe haben, die Arbeiterklasse in Kategorien aufgeteilt dem Klassenfeind auszuliefern. Die Gründung der Unia und die darauf folgende Mobilisierung für die nationale Demonstration sind ein Angriff und keine Stärkung des Proletariats. Viele Arbeiter sind zur Demonstration gegangen, in der Hoffnung in einer stärkeren Gewerkschaft dem Klassenfeind gegenüber aufzutreten. Dieser Ausdruck von Unmut und Wut gegenüber der Sparpolitik der Bourgeoisie muss die Schranken der Gewerkschaften überwinden. Erst dann wird die Arbeiterklasse ihren Kampf ausweiten können, um ein günstigeres Kräfteverhältnis herzustellen.
Pepe 12.11.2004
Links
[1] https://de.internationalism.org/tag/4/61/china
[2] https://de.internationalism.org/tag/2/25/dekadenz-des-kapitalismus
[3] https://de.internationalism.org/tag/11/151/nationale-lage-deutschland
[4] https://de.internationalism.org/tag/geographisch/deutschland
[5] https://de.internationalism.org/tag/3/49/politische-konomie
[6] https://de.internationalism.org/tag/2/29/proletarischer-kampf
[7] https://de.internationalism.org/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/internationale-kommunistische
[8] https://de.internationalism.org/tag/2/33/die-nationale-frage
[9] https://de.internationalism.org/tag/geographisch/vereinigte-staaten
[10] https://de.internationalism.org/tag/2/31/der-parlamentarische-zirkus
[11] https://de.internationalism.org/tag/nationale-situationen/nationale-lage-der-schweiz
[12] https://de.internationalism.org/tag/geographisch/schweiz
[13] https://de.internationalism.org/tag/2/30/die-gewerkschaftsfrage