Die Beschleunigung des kapitalistischen Zerfalls wirft offen die Frage der Vernichtung der Menschheit auf

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Der Krieg in der Ukraine ist kein Donnerschlag aus blauem Himmel. Seine Verwüstungen finden zu einem Zeitpunkt statt, in dem sich katastrophale Phänomene häufen: Klimawandel, Umweltzerstörung, beschleunigte Verschärfung der Wirtschaftskrise, politische Erschütterungen, die sogar das älteste Land des Kapitalismus (Großbritannien) betreffen, Wiederkehr entsetzlicher Hungersnöte im großen Stil, Massenmigration von Menschen, die aus Kriegsgebieten, vor Massakern, Verfolgung oder Elend fliehen... Diese Kombination von Phänomenen, ihre Interdependenz und Wechselwirkung veranlasste die Internationale Kommunistische Strömung, das nachstehend veröffentlichte Dokument anzunehmen, das versucht, sie in einen größeren historischen Rahmen einzuordnen, indem es das ebenfalls sehr wichtige Ereignis des Aufkommens einer großen Streikbewegung berücksichtigt, die Großbritannien erschütterte und aus einer tiefen Unzufriedenheit resultierte: den "Sommer des Zorns".

1. Die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts werden zu einer der krisenhaftesten Zeiten in der Geschichte und haben bereits unbeschreibliche Katastrophen und Leid mit sich gebracht. Sie begannen mit der Covid-19-Pandemie (die immer noch andauert) und einem Krieg im Herzen Europas, in der Ukraine, der bereits seit über neun Monaten andauert und dessen Ausgang niemand vorhersehen kann. Der Kapitalismus ist in eine Phase schwerer Unruhen auf allen Ebenen eingetreten. Hinter dieser Anhäufung und Verflechtung von Katastrophen steht die drohende Vernichtung der Menschheit. Wie wir bereits in unseren Thesen zum Zerfall[1] betonen, ist der Kapitalismus "die erste [Gesellschaft], die das Überleben der Menschheit selbst bedroht, die erste, die die menschliche Spezies zerstören kann" (These 1).

2. Die Dekadenz des Kapitalismus ist kein homogener, gleichmäßiger Prozess: Er hat vielmehr eine Geschichte, die sich in mehreren Phasen ausdrückt. Die Phase des Zerfalls wurde in unseren Thesen zum Zerfall identifiziert, als "eine spezifische Phase, die letzte Phase seiner Geschichte, die Phase, in der der Zerfall zu einem, wenn nicht sogar dem entscheidenden Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung wird" (These 2). Es ist klar, dass wir, wenn das Proletariat nicht in der Lage wäre, den Kapitalismus zu stürzen, eine schreckliche Agonie erleben würden, die in die Vernichtung der Menschheit mündet.

3. Mit dem blitzartigen Ausbruch der Covid-Pandemie haben wir die Existenz von vier Merkmalen aufgezeigt, die für die Zerfallsphase typisch sind:

- Die zunehmende Schwere ihrer Auswirkungen. Die Pandemie verursachte 15 bis 20 Millionen Tote, eine allgemeine Lähmung der Wirtschaft für mehr als ein Jahr, den Zusammenbruch der nationalen Gesundheitssysteme, die Unfähigkeit der Staaten, sich international zu koordinieren, um das Virus zu bekämpfen und Impfstoffe herzustellen, wobei jeder Staat stattdessen in eine Politik des Jeder-für-sich versinkt. Diese Situation ist nicht nur Ausdruck der Unmöglichkeit des Systems, seinen vom Wettbewerb diktierten Gesetzen zu entkommen, sondern auch der Verschärfung von Rivalitäten, die zu inkompetenten Handlungen, Verirrung und Chaos der bürgerlichen Verwaltung geführt haben, und zwar selbst in den mächtigsten oder entwickeltesten Ländern der Welt.

- Das Eindringen der Auswirkungen des Zerfalls auf wirtschaftlicher Ebene. Dieser Trend, der bereits auf dem 23. IKS-Kongress festgestellt wurde, hat sich voll bestätigt und stellt eine "Neuigkeit" dar, weil es der Bourgeoisie in den Kernländern seit den 1980er Jahren gelungen war, die Wirtschaft vor den hauptsächlichen Auswirkungen des Zerfalls zu schützen.[2]

- Die zunehmende Wechselwirkung ihrer Effekte, wodurch sich die Widersprüche des Kapitalismus auf einem nie zuvor erreichten Niveau verschärfen. In den dreißig Jahren zuvor gelang es der herrschenden Klasse nämlich mehr oder weniger (vor allem in den Kernländern), die Auswirkungen des Zerfalls zu isolieren oder zu begrenzen, wodurch es in der Regel möglich war, ihre Wechselwirkung untereinander zu vermeiden. Was stattdessen seit zwei Jahren klar zutage tritt, ist die Wechselwirkung und das Ineinandergreifen von kriegerischer Barbarei, einer phänomenalen ökologischen Krise, dem Chaos im politischen Apparat vieler der mächtigsten Bourgeoisien, der aktuellen Pandemie und der wachsenden Gefahr neuer Gesundheitskrisen, von Hungersnöten, der gigantischen Flucht von Millionen von Menschen, der Verbreitung der rückständigsten und irrationalsten Ideologien etc., all dies inmitten einer virulenten Verschärfung der Wirtschaftskrise, die ganze Bevölkerungsteile noch weiter schwächt, insbesondere eine Arbeiterklasse, die einer zunehmenden Verarmung und einer beschleunigten Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen (Arbeitslosigkeit, Unsicherheit, Schwierigkeiten, sich zu ernähren, eine Wohnung zu finden, usw.) ausgesetzt ist.

- Die zunehmende Präsenz ihrer Auswirkungen in den Kernländern. Während die Kernländer in den letzten dreißig Jahren vor den Auswirkungen des Zerfalls relativ geschützt waren, werden sie heute mit voller Wucht getroffen und, was noch schlimmer ist, neigen sie dazu, zu seinen größten Verbreitern zu werden, wie in den USA, wo man Anfang 2021 Zeuge des Versuchs von Anhängern des Populisten Trump wurde, das Kapitol zu stürmen, als handle es sich um eine gewöhnliche Bananenrepublik.

4. Das Jahr 2022 war ein leuchtendes Beispiel für diese vier Merkmale, durch:

- den Ausbruch des Krieges in der Ukraine;

- das Auftreten nie dagewesener Flüchtlingswellen;

- die Fortsetzung der Pandemie mit Gesundheitssystemen, die am Rande des Zusammenbruchs stehen;[3]

- einen zunehmenden Kontrollverlust der herrschenden Klasse über ihren politischen Apparat, der sich in der Krise in Großbritannien spektakulär manifestiert hat;

- eine Agrarkrise, die bei einer allgemeinen Überproduktion zu einer Verknappung vieler Nahrungsmittel führt, was seit über einem Jahrhundert der Dekadenz des Kapitalismus ein relativ neues Phänomen darstellt: "Kurzfristig greift der Klimawandel die Grundpfeiler der Ernährungssicherheit an. Steigende Temperaturen und extreme Klimaschwankungen drohen die Ernten zu gefährden; tatsächlich verkürzte sich im Jahr 2020 die Wachstumszeit der Kulturen im Winter und Frühjahr um 9,3 Tage für Mais, 1,7 Tage für Reis und 6 Tage für Weizen im Vergleich zum Zeitraum 1981 bis 2004";[4]

- erschreckende Hungersnöte, von denen immer mehr Länder betroffen sind.[5]

Nun führt die Aggregation und Interaktion zerstörerischer Phänomene zu einem "Strudeleffekt", der jede seiner Teilwirkungen bündelt, katalysiert und vervielfacht, indem er noch verheerendere Verwüstungen verursacht. Einige WissenschaftlerInnen sehen dies mehr oder weniger deutlich vor sich, wie Marine Romanello vom University College London: "Unser Bericht für dieses Jahr zeigt, dass wir uns an einem kritischen Punkt befinden. Wir sehen, wie der Klimawandel die Gesundheit auf der ganzen Welt ernsthaft beeinträchtigt, während gleichzeitig die anhaltende globale Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen diese Gesundheitsschäden inmitten einer Vielzahl von globalen Krisen verschlimmert". Dieser "Strudeleffekt" stellt jedoch eine qualitative Veränderung dar, deren Folgen in der kommenden Zeit immer deutlicher zu Tage treten werden.

In diesem Zusammenhang muss die führende Rolle des Krieges als eine von den kapitalistischen Staaten gewollte und geplante Aktion hervorgehoben werden, die zum mächtigsten und schwerwiegendsten Faktor für Chaos und Zerstörung wurde. Tatsächlich bewirkt und beinhaltet der Krieg in der Ukraine einen Multiplikatoreffekt der Faktoren von Barbarei und Zerstörung:

- ein immer bestehendes Risiko der Bombardierung von Atomkraftwerken, wie es besonders um den Standort Saporischschja zu sehen ist;

- die Gefahr des Einsatzes von chemischen und nuklearen Waffen;

- die gewaltsame Eskalation des Militarismus mit seinen Auswirkungen auf die Umwelt und das Klima;

- die direkten Auswirkungen des Krieges auf die Energie- und Nahrungsmittelkrise.

In diesem Zusammenhang muss man die Ausweitung der Umweltkrise in ihrer ganzen Schwere verstehen, die auf ein bisher nicht gekanntes Niveau ansteigt:

- eine Hitzewelle im Sommer, die schlimmste seit 1961, mit der Aussicht, dass sich solche Hitzewellen dauerhaft etablieren werden;

- eine noch nie dagewesene Dürre, laut Experten die schlimmste seit 500 Jahren, die sogar Flüsse wie die Themse, den Rhein oder den Po, die normalerweise schnell fließen, in Mitleidenschaft zieht;

- verheerende Brände, ebenfalls die schlimmsten seit Jahrzehnten;

- unkontrollierbare Überschwemmungen wie in Pakistan, wo ein Drittel der Landesfläche betroffen war (ebenso wie in Thailand);

- ein drohender Kollaps der Eisschilde infolge des Abschmelzens von Gletschern, die eine Größe vergleichbar mit der Fläche Großbritanniens haben, mit katastrophalen Folgen.

Ein weiterer Umstand, der mit der Umweltkrise zusammenhängt und sie gleichzeitig verschärft, ist die marode Situation der Kernkraftwerke[6] vor dem Hintergrund der Energiekrise (als Folge der Wirtschaftskrise), aber auch als Folge des Krieges in der Ukraine. Hier besteht eindeutig die Gefahr beispielloser Katastrophen, die zu derjenigen hinzukommt, die sich aus der Bombardierung ukrainischer Kernkraftwerke ergibt.

Wir sind nicht die Einzigen, die den Ernst der Lage erkennen, und es ist sogar eine Persönlichkeit, die kaum ein Feind des Kapitalismus ist, die verkündet, dass "die Klimakrise uns umbringt. Damit wäre nicht nur die Frage der Gesundheit unseres Planeten beendet, sondern auch die der gesamten Bevölkerung durch die Luftverschmutzung...". (Antonio Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen, in einer Botschaft an die Generalversammlung im September 2022).

5. Hintergrund dieser katastrophalen Entwicklung ist die erhebliche Verschärfung der Wirtschaftskrise, die sich seit 2019 entwickelt und die erstens durch die Pandemie und zweitens durch den Krieg nur noch verschärft wurde. Es zeichnet sich ab, dass diese Krise länger und tiefer sein wird als die Krise von 1929. Zunächst einmal, weil die Auswirkungen des Zerfalls auf die Wirtschaft dazu neigen, die Produktionsabläufe durcheinander zu bringen, was zu ständigen Engpässen und Blockaden in einer Situation wachsender Arbeitslosigkeit führt, die paradoxerweise mit einem Mangel an Arbeitskräften einhergeht. Sie drückt sich vor allem in einer entfesselten Inflation aus, die durch die verschiedenen aufeinanderfolgenden Rettungspakete, die von den Staaten angesichts der Pandemie und des Krieges hastig geschnürt wurden, durch eine Flucht nach vorn in die Verschuldung nur noch weiter angeheizt wurde. Die Zinserhöhungen der Zentralbanken, mit denen sie versuchen, die Inflation zu bremsen, könnten eine sehr heftige Rezession auslösen, die sowohl die Staaten als auch die Unternehmen in den Würgegriff nimmt. Es ist ein wahrer Tsunami des Elends, eine brutale Verarmung des Proletariats in den Kernländern, die nunmehr im Gange ist.

6. Infolgedessen befinden sich wichtige Länder in einer zunehmend gefährlichen Lage, was schwerwiegende Auswirkungen auf die gesamte Welt haben kann:

- In Russland wird es zwangsläufig zu großen Konvulsionen kommen. Es ist unwahrscheinlich, dass eine einfache Absetzung Putins ohne Blutvergießen und blutige Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Fraktionen der herrschenden Klasse ablaufen wird. Eine mögliche Fragmentierung von Teilen Russlands, dem größten Staat der Welt und einem der am stärksten bewaffneten Staaten, hätte unvorhersehbare Folgen für die ganze Welt.

- China wird zunehmend von den wiederholten Schlägen der Pandemie (und möglicherweise weiteren, die noch kommen werden), der Schwächung der Wirtschaft, wiederholten Umweltkatastrophen und dem enormen imperialistischen Druck der USA in Mitleidenschaft gezogen. Die wirtschaftliche und strategische Anstrengung, die die "Neuen Seidenstraßen" darstellen, kann die schwierige Lage des chinesischen Kapitalismus nur noch weiter verschärfen. Wie die Resolution zur internationalen Lage des 24. Kongresses der IKS betont: "China ist eine tickende Zeitbombe [...]. Die totalitäre Kontrolle über den gesamten Gesellschaftskörper, die repressive Verschärfung, die Xi Jinpings stalinistische Fraktion betreibt, sind kein Ausdruck von Stärke, sondern im Gegenteil eine Manifestation der Schwäche des Staates, dessen Zusammenhalt durch die Existenz zentrifugaler Kräfte in der Gesellschaft und bedeutender Cliquenkämpfe innerhalb der herrschenden Klasse gefährdet ist".
- Die Vereinigten Staaten selbst werden von den schwersten Konflikten innerhalb der herrschenden Klasse seit dem Zweiten Weltkrieg heimgesucht. "Das Ausmaß der Spaltungen innerhalb der herrschenden Klasse der USA wurde durch die umstrittenen Wahlen im November 2020 und vor allem durch die Erstürmung des Kapitols durch Trump-Anhänger am 6. Januar 2021, die von Trump und seiner Entourage angetrieben wurden, offengelegt. Dieses letzte Ereignis zeigt, dass die innere Spaltung, die die USA erschüttert, die gesamte Gesellschaft durchzieht. Obwohl Trump aus der Regierung verdrängt wurde, bleibt der Trumpismus eine mächtige, schwer bewaffnete Kraft, die sich sowohl auf der Straße als auch an den Wahlurnen ausdrückt".[7] Dies wurde erst kürzlich durch Bidens Zwischenwahlen bestätigt, bei denen die Spaltungen zwischen den beiden rivalisierenden Banden (Demokraten und Republikaner) noch nie so tief und verschärft waren. Ebenso wurden die Zerreißproben innerhalb der beiden Lager deutlich, während das Gewicht des Populismus und das der rückwärtsgewandtesten Ideologien zunimmt, die von der Ablehnung eines rationalen und kohärenten Denkens geprägt sind. Dies war ersichtlich anhand der Versuche, eine erneute Kandidatur Trumps zu verhindern. Aber das Gewicht des Populismus ist keineswegs eingedämmt worden, sondern hat sich nur tiefer und dauerhafter in der amerikanischen Gesellschaft wie auch im Rest der Welt verankert. Dies ist ein Indikator für den Grad der Verwesung der sozialen Beziehungen.

7. Die Verschlechterung der Weltlage in einem noch nie dagewesenen Ausmaß wird durch zwei sehr wichtige Faktoren noch verschärft, die mit der unzureichenden Kontrolle der kapitalistischen Staaten, insbesondere der mächtigsten, über die sozialen Beziehungen als Ganzes zusammenhängen:

- Wie wir im Zuge der Covid-19-Krise und sogar schon früher (auf unserem 23. Kongress 2019) festgestellt haben, ist die Fähigkeit der großen Staaten zur Zusammenarbeit, um die Auswirkungen der Wirtschaftskrise zu verzögern und abzuschwächen und die Folgen des Zerfalls auf die schwächeren Länder zu begrenzen oder abzuschieben, erheblich geschwächt worden, und der Trend geht nicht in Richtung einer "Rückkehr" der Politik der "internationalen Zusammenarbeit", sondern eher in die entgegengesetzte Richtung. Eine solche Schwierigkeit kann das globale Chaos nur noch verschlimmern.

- Andererseits kann man innerhalb der stärksten Bourgeoisien der Welt keineswegs erkennen, dass sich eine Politik herausbildet, die eine solch zerstörerische und schnelle Erosion auch nur teilweise oder zeitweise aufhalten könnte. Ohne die Reaktionsfähigkeit der herrschenden Klasse zu unterschätzen, ist zumindest im Moment nicht zu erkennen, dass eine Politik wie in den 1980er und 1990er Jahren eingeführt wird, die die schlimmsten Auswirkungen der Krise und des Zerfalls abmilderte und hinauszögerte.

8. Diese Entwicklung, auch wenn sie uns in ihrer Geschwindigkeit und ihrem Ausmaß überraschen mag, war in der Aktualisierung unserer Analyse des Zerfalls durch den 22. Kongress (Bericht über den Zerfall heute[8]) weitgehend vorhergesagt worden: Einerseits hatte der Bericht den Aufstieg des Populismus in den Kernländern klar als eine wichtige Manifestation des Kontrollverlusts der Bourgeoisie über ihren politischen Apparat anerkannt. Ebenso erwähnten wir darin als weitere Manifestation den Ausbruch von Flüchtlingswellen und die Abwanderung von Menschen in die Zentren des Kapitalismus und wiesen insbesondere auf die Umweltkatastrophe und ihr Ausmaß hin.

Gleichzeitig benannte der Bericht Probleme, die heute in den Medien nicht den ersten Platz einnehmen, sich aber stetig verschärft haben: Terrorismus, das Wohnungsproblem in den Kernländern, Hungersnöte und insbesondere "die Zerstörung der menschlichen Beziehungen, der Familienbande und des menschlichen Mitgefühls“, die sich „nur noch verschlimmert“ haben, „wie der Gebrauch von Antidepressiva, die Explosion von psychischem Druck und Stress am Arbeitsplatz und das Aufkommen neuer Berufe, die solche Menschen unterstützen’ sollen, belegen. Es gibt auch Hinweise auf echte Massaker wie das vom Sommer 2003 in Frankreich, wo 15.000 ältere Menschen während der Hitzewelle starben." Es ist anzumerken, dass die Pandemie diesen Trend erheblich und bis zum Äußersten verschärft hat und dass Selbstmorde und psychische Erkrankungen in diesem Zeitraum als "zweite Pandemie" betrachtet wurden.

9. Die Perspektive, die wir einnehmen, ergibt sich konsequent aus dem analytischen Rahmen, der in den "Thesen zum Zerfall" dreißig Jahre zuvor abgesteckt wurde:

- "Doch die Geschichte bleibt in solch einer Situation, in der die beiden fundamentalen – und antagonistischen – Klassen der Gesellschaft aufeinanderprallen, ohne ihre eigene Antwort durchsetzen zu können, nicht stehen. Noch weniger als in den anderen vorhergehenden Produktionsweisen ist im Kapitalismus eine Stagnation, ein ‚Einfrieren‘ des gesellschaftlichen Lebens möglich“ (These 4). In den letzten dreißig Jahren hat sich die Fäulnis nur vertieft und mündet heute in eine qualitative Verschärfung, die ihre zerstörerischen Folgen in einer nie zuvor gesehenen Weise manifestiert.

- „Tatsächlich kann sich keine Produktionsweise entwickeln, sich lebensfähig halten und den gesellschaftlichen Zusammenhalt sicherstellen, wenn sie nicht in der Lage ist, der von ihr dominierten Gesellschaft in ihrer Gesamtheit eine Perspektive anzubieten. Und dies trifft besonders auf den Kapitalismus als dynamischste Produktionsweise der Geschichte zu“ (These 5). Die heutige Situation ist die Fortsetzung von mehr als 50 Jahren, in denen sich die kapitalistische Krise unaufhaltsam verschärft hat, ohne dass die Bourgeoisie in der Lage gewesen wäre, eine Perspektive zu bieten, während das Proletariat bis jetzt nicht in der Lage ist, seine eigene voranzutreiben: die kommunistische Revolution. So treibt die Welt in eine Spirale der Barbarei und Zerstörung, in der die zentralen Länder, die eine ganze Zeit lang eine relativ bremsende Rolle für den Zerfall gespielt haben, nun zu einem verschärfenden Faktor für den Zerfall werden.

Weiter „führt dieser Zerfall  nicht zu einem früheren Gesellschaftstyp, zu einer früheren Phase im Leben des Kapitalismus zurück. Der Verlauf der Geschichte ist unumkehrbar: der Zerfall führt, wie sein Name sagt, zur Auflösung und Fäulnis der Gesellschaft, ins Nichts“  (These 11).

10. Angesichts dieser Situation warnen die "Zerfallsthesen" zwar davor, dass "heute die Zeit im Gegensatz zu den siebziger Jahren nicht mehr zugunsten der Arbeiterklasse arbeitet“ (These 16) und die Gefahr einer langsamen, aber letztlich unumkehrbaren Erosion der eigentlichen Grundlagen des Kommunismus besteht, stellen aber dennoch klar, dass "die historischen Möglichkeiten völlig offen“ bleiben (These 17).

Denn: "Trotz des Schlags, der der Bewußtwerdung des Proletariats durch den Zusammenbruch des Ostblocks verabreicht wurde, hat das Proletariat auf seinem Klassenterrain keine große Niederlage erlitten. In diesem Sinne bleibt sein Kampfgeist praktisch intakt. Aber darüber hinaus, und das ist das Element, das in letzter Instanz die Entwicklung der Weltlage bestimmt, bildet derselbe Faktor, der sich am Anfang der Entwicklung des Zerfalls befindet, den wesentlichen Ansporn für den Kampf und die Bewußtwerdung der Klasse, die eigentliche Bedingung für ihre Fähigkeit, dem ideologischen Gift der gesellschaftlichen Fäulnis zu widerstehen. [...] der Kampf gegen die direkten Auswirkungen der Krise [bildet] die Grundlage für die Entfaltung ihrer Stärke und ihrer Einheit als Klasse.(These 17) Und „die Wirtschaftskrise im Gegensatz zum gesellschaftlichen Zerfall, der hauptsächlich den Überbau betrifft, [ist] ein Phänomen [...], das direkt die Infrastruktur der Gesellschaft selbst ergreift, auf denen dieser Überbau ruht; daher stellt die Krise die ultimativen Ursachen der gesamten Barbarei bloß, unter der  die Gesellschaft leidet, und ermöglicht somit der Arbeiterklasse, sich der Notwendigkeit einer radikalen Umwälzung dieses Systems bewußt zu werden, ohne zu versuchen, einige Teilaspekte zu verbessern.“

"Die Wirtschaftskrise ist ein Phänomen, das direkt die Infrastruktur der Gesellschaft betrifft, auf der dieser Überbau beruht; in diesem Sinne legt sie die letzten Ursachen der gesamten Barbarei frei, die über die Gesellschaft hereinbricht, und ermöglicht so dem Proletariat, sich der Notwendigkeit eines radikalen Systemwechsels bewusst zu werden, ohne zu versuchen, einige Teilaspekte zu verbessern." (These 17)

Diese Perspektive beginnt sich tatsächlich abzuzeichnen: "Angesichts der Angriffe der Bourgeoisie zeigt die Arbeiterklasse in Großbritannien, dass sie wieder bereit ist, für ihre Würde zu kämpfen und die Opfer abzulehnen, die ihr das Kapital immer wieder auferlegt. Und wieder einmal spiegelt sie am deutlichsten die internationale Dynamik wider: Letzten Winter brachen in Spanien und den USA Streiks aus; diesen Sommer kam es auch in Deutschland und Belgien zu Arbeitsniederlegungen; für die kommenden Monate sagen alle Kommentatoren eine ‘explosive soziale Situation’ in Frankreich und Italien voraus. Es ist unmöglich vorherzusagen, wo und wann sich die Kampfbereitschaft in naher Zukunft wieder massiv manifestieren wird, aber eines ist sicher: Das Ausmaß der derzeitigen Mobilisierungen der Arbeiterklasse in Grossbritannien stellt eine wichtige historische Tatsache dar. Es ist vorbei mit der Passivität, mit der Unterwerfung. Die neue Generation von Arbeitern und Arbeiterinnen erwacht".[9]

Wir haben herausgearbeitet, dass die Kämpfe in Großbritannien einen Bruch gegenüber der bis dahin vorherrschenden Passivität und Desorientierung darstellten. Die Rückkehr der Kampfbereitschaft der Arbeiter als Reaktion auf die Krise kann zu einer Quelle der Bewusstseinsbildung werden, ebenso wie unser Eingreifen, das angesichts einer solchen Situation von entscheidender Bedeutung ist. Es ist offensichtlich, dass jede Beschleunigung des Zerfalls es schafft, den kämpferischen Bemühungen der Arbeiter einen Dämpfer zu versetzen: Die Bewegung in Frankreich 2019 erlitt einen Dämpfer beim Ausbruch der Pandemie. Das bedeutet eine nicht zu unterschätzende zusätzliche Schwierigkeit angesichts der Entwicklung der Kämpfe und der Wiedergewinnung des Vertrauens des Proletariats in sich selbst und in seine eigenen Kräfte. Dennoch gibt es keinen anderen Weg als den Kampf. Die Wiederaufnahme des Kampfes ist an sich schon ein erster Sieg. Das Weltproletariat in einem sehr quälenden Prozess mit vielen bitteren Niederlagen kann schließlich seine Identität als Klasse wiedererlangen und letztendlich in eine internationale Offensive gegen dieses sterbende System eintreten.

11. Die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts werden in diesem Zusammenhang also eine enorme Bedeutung für die historische Entwicklung haben. Sie werden mit noch größerer Deutlichkeit als in der Vergangenheit die im kapitalistischen Zerfall enthaltene Perspektive der Vernichtung der Menschheit aufzeigen. Am anderen Pol wird das Proletariat beginnen, erste Schritte zu unternehmen, wie sie in der Kampfbereitschaft der Streiks in Großbritannien zum Ausdruck kommen, um seine Lebensbedingungen gegen die zunehmenden Angriffe der jeweiligen Bourgeoisie und die Schläge der Weltwirtschaftskrise mit all ihren Auswirkungen zu verteidigen. Diese ersten Schritte werden oft zögerlich und voller Schwächen sein, aber sie sind unerlässlich, damit die Arbeiterklasse in der Lage ist, ihre historische Fähigkeit zur Durchsetzung ihrer kommunistischen Perspektive zu bekräftigen. So werden sich die beiden Pole der Perspektive im Großen und Ganzen in der Alternative: Zerstörung der Menschheit oder kommunistische Revolution gegenüberstehen, auch wenn die letztere Alternative noch in weiter Ferne liegt und mit enormen Hindernissen konfrontiert ist. Die Klärung dieses historischen Kontexts ist eine gewaltige, aber absolut notwendige und lebenswichtige Aufgabe für die revolutionären Organisationen des Proletariats. Sie verlangt von ihnen, dass sie die besten Verfechter und Verbreiter einer allgemeinen Perspektive sind. Sie ist auch ein entscheidender Test für ihre Fähigkeit, die Herausforderungen, die sich aus den verschiedenen Aspekten der gegenwärtigen Situation ergeben – Krieg, Krise, Klassenkampf, Umweltkrise, politische Krise usw. – zu analysieren und Antworten darauf zu geben.

IKS, 28. Oktober 2022

 

[1] Angenommen 1990, siehe Internationale Revue 13

[3] Insgesamt ist das Risiko für die menschliche Gesundheit, selbst in den «entwickelten Ländern», dramatisch gestiegen, während WissenschaftlerInnen auch vor weiteren Pandemien warnen. Eine Studie eines Teams des London University College, die in The Lancet veröffentlicht wurde, zeigt auf, wie die Klimakrise die Ausbreitung des Denguefiebers zwischen 2018 und 2021 um 12% ansteigen ließ und dass „die Anzahl Toter aufgrund von Hitzewellen zwischen 2017 und 2021 um 68% anstieg im Vergleich zu 2000 bis 2004“.

[4] The Lancet (2022). Es sei darauf hingewiesen, dass die enorme ökologische Verschlimmerung zwar nicht der einzige Faktor der Nahrungsmittelkrise ist, dass aber die Konzentration der Produktion auf sehr wenige Länder und die massiven Finanzspekulationen mit Weizen und anderen Grundnahrungsmitteln das Problem noch verschärfen.

[5] Der Internationale Währungsfonds anerkennt auf seine Weise die Realität der Lage: "Es ist wahrscheinlicher, dass sich das Wachstum weiter verlangsamt und die Inflation höher ausfällt als erwartet. Insgesamt sind die Risiken hoch und im Großen und Ganzen mit der Situation zu Beginn der Pandemie vergleichbar – eine noch nie dagewesene Kombination von Faktoren prägt die Aussichten, wobei die einzelnen Elemente in einer Weise zusammenwirken, die naturgemäß schwer vorherzusagen ist. Viele der oben beschriebenen Risiken sind im Wesentlichen eine Verschärfung der Kräfte, die bereits im Basisszenario vorhanden sind. Darüber hinaus kann die Verwirklichung kurzfristiger Risiken mittelfristige Risiken beschleunigen und die Lösung langfristiger Probleme erschweren".

[6] In Frankreich, das international ein Kernenergieriese ist, sind gegenwärtig 32 seiner 56 Atomreaktoren abgestellt.

[8] Vgl. Bericht über den Zerfall heute (Mai 2017), Internationale Revue 56

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Die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts