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Internationale Revue - 1990s

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Internationale Revue - 1990

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Internationale Revue Nr. 12

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Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks - Destabilisierung und Chaos

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Der Zusammenbruch des Ostblocks, dessen Zeuge wir gerade sind, stellt neben dem historischen Wiedererstarken der Arbeiterklasse Ende der 60er Jahre das wichtigste historische Ereignis seit dem letzten Weltkrieg dar. In der Tat ist durch die Ereignisse in der zweiten Hälfte des letzten Jahres die Konstellation der Welt, so wie sie jahrzehntelang bestanden hatte, zu Ende gegangen. Die „Thesen über die ökonomische und politische Krise der UdSSR und der osteuropäischen Länder", die im September 1989 verfaßt wurden (https://de.internationalism.org/thesenosteuropa [1]), liefern den Rahmen, um die Ursachen und die Implikationen der Ereignisse zu begreifen. Diese Analyse wurde im wesentlichen durch die Ereignisse der letzten Monate vollauf bestätigt. Daher ist es nicht notwendig, hier ausführlich darauf einzugehen, außer um die wichtigsten Ereignisse seit der Veröffentlichung der letzten Ausgabe unserer Revue zu berücksichtigen. Hingegen ist es für die Revolutionäre wichtig, die Folgen dieser neuen historischen Lage zu untersuchen. Dies wollen wir in folgendem Artikel tun.
Monatelang schien der Wunsch der Herrschenden in Anbetracht der Entwicklung der Lage in den osteuropäischen Ländern nach einer "friedlichen Demokratisierung" in Erfüllung zu gehen. Ende Dezember 1989 jedoch wurde die Perspektive mörderischer Zusammenstöße, die in den "Thesen" angekündigt worden waren, auf tragische Weise bestätigt. Die Blutbäder, die in Rumänien und Aserbaidschan stattgefunden haben, werden wahrscheinlich keine Ausnahme bleiben. Die "Demokratisierung" Rumäniens bildet das Ende einer Periode im Zusammenbruch des Stalinismus : das Verschwinden der "Volksdemokratien"(1). Gleichzeitig leitete sie eine neue Phase ein: die Phase der blutigen Wirren in diesem Teil der Welt, ganz besonders in dem (neben Albanien) einzigen europäischen Land, wo die stalinistische Partei noch ihre Macht erhalten hat: die UdSSR selbst. Allerdings bestätigen die Ereignisse der letzten Wochen den totalen Kontrollverlust durch die Behörden, selbst wenn Gorbatschow zur Zeit in der Lage zu sein scheint, seine Stellung an der Parteispitze aufrechtzuerhalten. Die russischen Panzer in Baku sind keinesfalls eine Demonstration der Stärke der UdSSR; sie sind im Gegenteil das Eingeständnis einer ungeheuren Schwäche. Gorbatschow hatte versprochen, daß der Staat nunmehr keine Truppen mehr gegen die Bevölkerung einsetzen werde. Das Blutbad im Kaukasus bedeutete das vollständige Scheitern seiner Politik der "Perestroika"‚ der Umstrukturierung. Denn was sich in dieser Region ereignete, war lediglich das Vorspiel zu weitaus größeren Erschütterungen, die die UdSSR durchschütteln und schließlich vernichtend schlagen sollten.


Die UdSSR versinkt im Chaos

Innerhalb weniger Monate hat dieses Land den imperialistischen Block verloren, den es bis letzten Sommer beherrscht hatte. Von nun an existiert kein "Ostblock" mehr; er ist auseinandergefallen, während die stalinistischen Regimes, die die "Volksdemokratien" regierten, wie Kartenhäuser in sich zusammenfielen. Doch es konnte nicht bei einem solchen Zusammenbruch bleiben: in dem Maße, wie die Hauptursache des Zerfalls dieses Blocks in dem vollständigen ökonomischen und politischen Bankrott seiner Hauptmacht aufgrund der unerbittlichen kapitalistischen Weltkrise liegt, ist es auch unvermeidbar, daß dieser Zusammenbruch in eben dieser herrschenden Vormacht am brutalsten zum Ausdruck kommt. Die Explosion des Nationalismus im Kaukasus, die bewaffneten Zusammenstöße zwischen Aseris und Armeniern, die Pogrome in Baku, all diese Erschütterungen, die zur massiven und blutigen Intervention der "Roten Armee" geführt haben, sind nur ein weiterer Schritt in den Zusammenbruch und Zerfall des Landes, das vor einem Jahr noch die zweitgrößte Supermacht der Erde war. Die offene Loslösung Aserbaidschans (wo selbst der lokale Oberste Sowjet sich gegen Moskau gewandt hat), aber auch Armeniens, wo bewaffnete Kräfte die Straßen beherrschen, die nichts mit den offiziellen Behörden zu tun haben wollen, ist lediglich ein Vorbote der Sezession der gesamten Regionen, die Rußland umgeben. Durch den Einsatz bewaffneter Kräfte hat der Kreml versucht, diesen Prozeß zu stoppen, der mit der "behutsamen" Sezession Litauens und den nationalistischen Manifestationen in der Ukraine Anfang Januar bereits die nächsten Etappen ankündigt. Aber solch eine Repression kann all das bestenfalls etwas hinausschieben. In Baku - ganz zu schweigen von den anderen Städten und auf dem Lande - haben die zentralen Behörden die Lage überhaupt nicht unter Kontrolle. Das nunmehr zu beobachtende Schweigen der Medien bedeutet keinesfalls, daß die Dinge "wieder ihren normalen Gang gehen". In der UdSSR wie im Westen ist "Glasnost" äußerst wählerisch bei dem, was sie der Öffentlichkeit preisgibt. Es geht darum, andere Nationalitätengruppen nicht zu ermutigen, dem Beispiel der Armenier und Aseris zu folgen. Und selbst wenn es den Panzern für den Augenblick gelungen ist, den nationalistischen Demonstrationen und Auswüchsen vorübergehend Einhalt zu gebieten, ist für Moskau überhaupt nichts gelöst. Bislang ließ sich nur ein Teil der Bevölkerung gegen die Bevormundung durch Rußland mobilisieren, aber die einrückenden Panzer und die Massaker haben sämtliche Aseris gegen die "Besatzer" zusammengeschweißt. Die Armenier sind nicht die einzigen, die um ihr Leben fürchten müssen: die russische Bevölkerung Aserbaidschans riskiert, den Preis für diese militärische Operation bezahlen. Darüberhinaus ist die Moskauer Zentralmacht nicht in der Lage, überall die gleiche Methode zur "Aufrechterhaltung der Ordnung" anzuwenden. Einerseits repräsentierenen die Aseris nur ein Zwanzigstel der gesamten nicht-russischen Bevölkerung in der UdSSR. Man fragt sich, mit welchen Mitteln der Kreml die 40 Millionen Ukrainer in die Knie zwingen will. Andererseits können die Behörden nicht einmal mit dem Gehorsam der "Roten" Armee rechnen. In dieser sind die Soldaten, die den verschiedenen Minderheiten angehören, welche ihre Unabhängigkeit fordern, immer weniger dazu bereit, sich töten zu lassen, um die russische Bevormundung über ihre Minderheiten zu garantieren. Überdies sträuben sich die Russen selbst mehr und mehr dagegen, diese Art von Arbeit auszuführen. Dies wurde durch die Demonstrationen wie die vom 19. Januar in Krasnodar im Süden Rußlands deutlich, deren Forderungen deutlich zeigten, daß die Bevölkerung nicht bereit ist, ein neues Afghanistan zu akzeptieren - Demonstrationen, welche die Behörden dazu zwangen, die einige Tage zuvor eingezogenen Reservisten wieder zu entlassen.
Das gleiche Phänomen, das vor einigen Monaten zum Auseinanderbrechen des alten russischen Blocks führte, setzt sich heute mit der Explosion seines Blockführers selbst fort. Wie die stalinistischen Regimes hielt sich der ganze Ostblock nur durch den Terror an der Macht, durch die bereits mehrfach ausgeführte Drohung eines militärischen Einsatzes, durch eine brutale militärische Repression. Sobald aber die UdSSR aufgrund ihres wirtschaftlichen Zusammenbruchs und der sich daraus ergebenden Lähmung ihres politischen und militärischen Apparates nicht mehr die Mittel für solch eine Repression zur Verfügung hatte, hat sich ihr Reich sofort aufgelöst. Doch diese Auflösung zieht die Auflösung der UdSSR selbst nach sich, da dieses Land auch aus einem Mosaik von verschiedenen Nationalitäten unter russischer Kontrolle zusammengesetzt ist. Der Nationalismus dieser Minderheiten, dessen offene Manifestationen nur durch die erbarmungslose stalinistische Repression verhindert worden war, dessen erzwungenes Schweigen und Unterdrückung ihn jedoch nur noch stärker machten, wurde mit der Gorbatschowschen "Perestroika" entfesselt, die von der Androhung von Gewalt Abstand nahm. Heute steht diese Repression wieder auf der Tagesordnung, aber nunmehr es ist zu spät, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Wie die wirtschaftliche Situation entzieht sich auch die politische Lage vollständig der Kontrolle Gorbatschows und seiner Partei. Das einzige, was seine "Perestroika" möglich gemacht hat, sind noch weniger Waren in den Regalen der Geschäfte, noch mehr Elend und darüber hinaus die Entfesselung der schlimmsten chauvinistischen und fremdenfeindlichen Ressentiments, von Pogromen und Massakern aller Art.
Und das ist nur der Anfang. Das Chaos, das gegenwärtig in der UdSSR herrscht, kann sich nur verschlimmern, denn das Regime, das dieses Land noch beherrscht, bietet ähnlich wie der Zustand der Wirtschaft keine Perspektive. Die "Perestroika", d.h. der Versuch, einen gelähmten Wirtschafts- und Politapparat schrittweise an die Weltwirtschaftskrise anzupassen, erweist sich mit jedem weiteren Tag als Bankrotterklärung. Auch die Rückkehr zu vergangenen Verhältnissen, die Wiederherstellung der vollständigen Zentralisierung des Wirtschaftsapparates und des stalinistischen oder Breschnewschen Terrors, den einige "konservative" Parteikreise anstreben mögen, würden nichts lösen. Diese Methoden sind längst gescheitert, und die "Perestroika" begann mit dem Eingeständnis dieses Scheiterns. Seitdem hat sich die Lage überall verschlechtert. Der immer noch starke Widerstand eines bürokratischen Apparates, der seine Machtbasis und Privilegien immer mehr dahinschwinden sieht, kann nur zu neuen Massakern führen, ohne daß dadurch allerdings das Chaos überwunden wird. Die Wiederherstellung der klassischen Formen kapitalistischer Herrschaft - Selbstverwaltung der Betriebe, Einführung von marktabhängigen Profitabilitätskriterien - stellt zwar die einzige "Perspekltive" dar, wird aber kurzfristig das Chaos in der Wirtschaft nur verstärken. Man kann gegenwärtig in Polen die Folgen solch einer Politik betrachten: 900 Prozent Inflation, unaufhaltsamer Anstieg der Arbeitslosigkeit und immer mehr brachliegende Unternehmen (im 4. Quartal 1989 fiel die Produktion von Lebensmitteln, die von der Industrie verarbeitet wurden, um 41 Prozent, von Textilien um 28 Prozent). In solch einem Kontext des Wirtschaftschaos gibt es für eine "schrittweise Demokratisierung" und eine politische Stabilität keinen Platz.
Gleichgültig, zu welcher Politik sich die leitenden Instanzen in der Kommunistischen Partei der UdSSR durchringen und wer auch immer letztendlich der Nachfolger Gorbatschows sein mag - das Resultat wird kaum anders lauten. Alle Zeichen in diesem Land stehen auf wachsende Erschütterungen, von denen jene der letzten Wochen nur ein Vorgeschmack sind: Hungersnöte, Massaker, bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Fraktionen der "Nomenklatura" und zwischen vom Nationalismus berauschten Bevölkerungsteilen. Auf dem Leichnam der kommunistischen Oktoberrevolution von 1917, dem Opfer  der internationalen Isolation, hatte der Stalinismus mit einer beispiellosenen Barbarei  seine Herrschaft errichtet. Heute befindet sich dieses todgeweihte System inmitten von Barbarei, Chaos, Blut und Dreck.
Die Lage in der UdSSR und den meisten osteuropäischen Ländern wird sich immer mehr den Verhältnissen in der sog. Dritten Welt angleichen. Die totale Barbarei, die diese Länder seit Jahrzehnten zu einer wahren Hölle hat werden lassen, der vollständige Zerfall des gesamten gesellschaftlichen Lebens, das Gesetz der bewaffneten Banden wie im Libanon z.B. werden immer weniger auf Regionen fernab vom Zentrum des Kapitalismus beschränkt sein. Von nun an ist der gesamte Weltteil, der bis dahin von der zweiten imperialistischen Weltmacht beherrscht wurde, von der "Libanonisierung" bedroht. Und all dies in Europa selbst, einige Hunderte Kilometer von den ältesten und größten Industriezentren der Welt entfernt.
Deshalb stellt der Zusammenbruch des imperialistischen Ostblocks nicht nur eine Umwälzung für die Länder dieses Teils der Erde und der  imperialistischen Konstellationen dar, wie sie aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen waren; sie birgt auch eine allgemeine Instabilität in sich, die alle Länder der Welt erfassen wird, auch die bislang stabilsten. In diesem Sinne ist es wichtig, daß die Revolutionäre in der Lage sind, das Ausmaß dieser Umwälzungen auszuloten und insbesondere den Rahmen ihrer Analyse zu aktualisieren, der bis zum letzten Sommer gültig war, als der letzte Internationale Kongreß der IKS stattgefunden hatte (siehe dazu INTERNATIONALE REVUE Nr. 11), der aber durch die Ereignisse in der zweiten Hälfte des letzten Jahres überholt ist. Was wir nun vorschlagen, ist, die drei "klassischen" Aspekte in der Analyse der internationalen Lage zu aufzuarbeiten:
- die Krise des Kapitalismus,
- die imperialistischen Konflikte,
- den Klassenkampf.

 

Die Krise des Kapitalismus

In diesem Punkt bleiben die Analysen des letzten Kongresses der IKS am aktuellsten. In der Tat hat die Entwicklung der Lage der Weltwirtschaft im Verlauf der letzten sechs Monate die Analyse des Kongresses über die Zuspitzung der Krise des Kapitalismus vollauf bestätigt. Die Illusionen, die die bürgerlichen "Experten" über das "Wachstum" und die "Überwindung der Krise" zu schüren versucht hatten - Illusionen, die sich auf die Zahlen von 1988 und Anfang 1989 aus den Hauptindustriezentren stützten - sind schon jetzt zunichte gemacht.
Was die Länder des ehemaligen Ostblocks angeht, so erlaubt "Glasnost" es ihnen, sich ein realistischeres Bild von ihrer wirklichen Lage zu verschaffen und damit das wahre Ausmaß des wirtschaftlichen Desasters zu erkennen. Die alten offiziellen Zahlen, die schon eine gewaltige Katastrophe abbildeten, reichten noch nicht vollständig an die Wahrheit heran. Die Wirtschaft dieser Länder ist ein riesiges Trümmerfeld. Die Landwirtschaft (in der viel mehr Menschen als im Westen beschäftigt sind) ist in den meisten Ländern absolut nicht fähig, die Bevölkerung zu ernähren. Die Industrie ist nicht nur in einem total anachronistischen und veralteten Zustand, sondern auch aufgrund der desolaten Lage des Transportwesens und der mangelnden Versorgung mit Ersatzteilen, verschlissener Maschinen usw. und vor allem aufgrund des mangelnden Einsatzes aller Beteiligten, von den Maschinenbedienungen bis zu den Fabrikdirektoren, außerstande zu funktionieren und völlig ins Stocken geraten. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg scheint die Wirtschaft, die Chruschtschows Worten Anfang der 60er Jahre zufolge die westlichen Länder einholen und überholen und die „Überlegenheit des 'Sozialismus' über den Kapitalismus beweisen" sollte, den Krieg gerade hinter sich zu haben. Und die Lage ist noch längst nicht dabei, sich zu bessern. Auch wenn das völlige Scheitern der stalinistischen Ökonomie, das in jüngster Zeit  offenkundig geworden ist, hinter dem Zusammenbuch des Ostblocks steht, hat dieser Kollaps noch nicht seine Talsohle erreicht, nichts weniger als das. Zumal sich die die Weltwirtschaftskrise jetzt nicht nur zuspitzt, sondern auch noch durch die Auswirkungen der Katastrophe in den osteuropäischen Ländern wiederum verschärft werden wird.
Tatsächlich ist es wichtig, den völligen Unfug aufzuzeigen (der von einigen Sektoren der Bourgeoisie, aber auch von bestimmten revolutionären Gruppen verbreitet wird), demzufolge die Öffnung der Wirtschaft der Länder Osteuropas gegenüber dem Weltmarkt eine "Sauerstofflasche" für die gesamte, kapitalistische Weltwirtschaft bilden könnte. Die Wirklichkeit sieht völlig anders aus.
Damit die Länder Osteuropas zu einer Verbesserung der Weltwirtschaft beitragen könnten, müßten sie in erster Linie einen wirklichen Markt bilden. Dabei fehlt es nicht an Bedürfnissen, genauso wenig wie in den unterentwickelten Ländern. Die Frage ist: womit können sie all das kaufen, was ihnen fehlt? Und da kann man die ganze Absurdität einer solchen Analyse ermessen. Diese Länder HABEN NICHTS, um ihre Anschaffungen zu bezahlen. Sie verfügen über absolut keine Finanzquellen: seit langem schon haben sie sich dem Los der am meist verschuldeten Länder angeschlossen (so betrugen die Außenhandelsschulden der ehemaligen "Volksdemokratien" 1989 ungefähr 100 Milliarden Dollar (2), d.h. eine Summe, die ungefähr der Verschuldung Brasiliens gleicht, dessen BSP und Bevölkerung vergleichbar sind). Um kaufen zu können, müssen sie verkaufen. Aber was können sie auf dem Weltmarkt verkaufen, wenn gerade der Hauptgrund des Zusammenbruchs der stalinistischen Regimes (innerhalb des Rahmens der Weltwirtschaftskrise) in der unzureichenden Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder auf dem Weltmarkt liegt?
Auf diesen Einwand antworten bestimmte Bereiche der Bourgeoisie, daß es eines neuen "Marshall-Plan" bedürfe, der es ermöglichen würde, das Wirtschaftspotential dieser Länder wieder zum Leben zu erwecken. Obgleich die Wirtschaft der osteuropäischen Länder Gemeinsamkeiten mit der Wirtschaft in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg aufweist, ist heute ein neuer "Marshall-Plan" vollkommen unmöglich. Dieser Plan (dessen Hauptbestimmung übrigens nicht per se der Wiederaufbau Europas war, sondern Letzteres vor der Gefahr bewahren sollte, von der UdSSR kontrolliert zu werden) konnte insofern ein Erfolg sein, als daß die gesamte Welt (mit Ausnahme der Vereinigten Staaten) wiederaufgebaut werden mußte. In dieser Epoche stellte sich nicht das Problem der allgemeinen Warenüberproduktion; und exakt das Ende dieses Wiederaufbaus West-Europas und Japans läutete die offene Krise ein, wie wir sie seit Mitte der 60er Jahre kennen. Daher stehen heute große Kapitalinvestitionen in den osteuropäischen Ländern zur Entwicklung ihres Wirtschaftspotentials, insbesondere des industriellen, nicht auf der Tagesordnung. Selbst wenn man davon ausginge, daß man ein solches Potential an Produktivkräften sanieren kann, würden die erzeugten Produkte den bereits gesättigten Weltmarkt nur weiter verstopfen. Mit den Ländern, die heute aus dem Stalinismus ausscheiden, verhält es sich wie mit den unterentwickelten Ländern: die ganze Politik der massiven Finanzspritzen im Verlauf der 70er und 80er Jahre haben erst zu der heute allseits bekannten katastrophalen Lage geführt (Schulden von 1.400 Mrd. Dollar und Volkswirtschaften, die noch verwüsteter sind als zuvor). Den osteuropäischen Ländern (deren Volkswirtschaften übrigens in vielerlei Hinsicht  jenen der unterentwickelten Länder ähneln) wird es nicht viel anders ergehen. Im übrigen täuschen sich die Finanziers der westlichen Großmächte nicht: sie drängeln sich nicht darum, Kapital in diese Länder zu stecken, wie in das gerade "entstalinisierte" Polen, das lauthals große Summen fordert (dieses Land benötigte in den nächsten drei Jahren mindestens zehn Milliarden Dollar), einschließlich ihres Vorzeige-"Arbeiters" und Nobelpreisträgers Lech Walesa. Und weil die verantwortlichen Finanziers alles andere als Menschenfreunde sind, wird es weder Kredite noch große Absätze der entwickeltsten Länder in den Ländern geben, die gerade die "Tugenden" des Liberalismus und der "Demokratie" entdeckt haben. Das einzige, was sie erwarten können, sind Kreditvergaben oder Nothilfen, um einen offenen finanziellen Bankrott und Hungersnöte zu vermeiden, die die Erschütterungen dieser Länder noch weiter verstärken würden. Und all das wird keineswegs eine "Sauerstoffzufuhr" für die Weltwirtschaft bilden.
Unter den Ländern des früheren Ostblocks ist die DDR sicherlich ein besonderer Fall. Dieses Land wird nämlich als solches nicht weiterbestehen. Ihre perspektivische Einverleibung durch die BRD ist, wenn auch widerwillig, nicht nur von den Großmächten akzeptiert worden, sondern selbst von ihrer eigenen Regierung. Dagegen wirft die wirtschaftliche Integration - die erste Etappe dieser "Wiedervereinigung", die als einziges Mittel übrig bleibt, um dem Massenexodus der Bevölkerung aus der DDR in die BRD ein Ende zu machen - große Probleme auf, sowohl für Westdeutschland als auch für die westlichen Partner. Die "Rettung" der DDR-Wirtschaft stellt aus finanzieller Sicht eine gewaltige Belastung dar. Wenn die Investitionen, die in diesem Teil Deutschlands sicherlich durchgeführt werden, einerseits einen vorübergehenden "Absatzmarkt" für einige Industriesektoren Westdeutschlands und anderer europäischer Länder darstellen können, so werden sie andererseits die allgemeine Verschuldung der kapitalistischen Wirtschaft verschärfen, während gleichzeitig die Übersättigung des Weltmerktes zunimmt. Deshalb hat die Ankündigung einer Währungsunion zwischen Westdeutschland und der DDR, die mehr von politischen als von ökonomischen Gesichtspunkten motiviert war (das Zögern des Bundesbankpräsidenten ist ein Beispiel dafür), keinen großen Enthusiasmus unter den westlichen Ländern hervorgerufen, ganz im Gegenteil. Für Westdeutschland ist die DDR auf Wirtschaftsebene ein vergiftetes Geschenk. Als Mitgift bringt die DDR nur eine heruntergekommene Industrie, eine abgetakelte Wirtschaft, einen Berg an Schulden und Wagenladungen voller Ost-Mark mit, die kaum soviel Wert sind wie das Papier, auf dem sie gedruckt wurden, die die BRD jedoch zu einem Höchstpreis wird aufkaufen muß, sobald die D-Mark zur gemeinsamen Währung der beiden Deutschlands wird. Die westdeutsche "Notenpresse" hat geschäftige Tage vor sich, die Inflation ebenfalls.
In der Tat kann die kapitalistische Ökonomie vom Zusammenbruch des Ostblocks keine Abschwächung ihrer Krise erwarten, sondern wachsende Probleme. Einerseits wird sich, wie wir gesehen haben, die Finanzkrise (der Berg an faulen Krediten) noch zuspitzen, andererseits bergen der bröckelnde Zusammenhalt des westlichen Blocks und sein letztliches Verschwinden (siehe unten) die Perspektive wachsender Kalamitäten der Weltwirtschaft in sich. Wie wir schon seit langem gezeigt haben, war einer der Hauptgründe für die Fähigkeit des Kapitalismus, das Tempo seines Zusammenbruchs zu verlangsamen, eine staatskapitalistische Politik auf der Ebene des gesamten westlichen Blocks (d.h. der dominanten Sphäre in der kapitalistischen Welt). Solch eine Politik setzt eine große Disziplin seitens der verschiedenen Länder voraus, aus denen sich der Block zusammensetzt. Diese Disziplin wurde hauptsächlich dank der Macht der Vereinigten Staaten über ihre Alliierten erreicht. Der militärische "Schutzschirm" der USA gegenüber der "sowjetischen Bedrohung" (sowie natürlich die vorherrschende Stellung ihrerselbst und ihrer Währung im internationalen Finanzsystem) wurde nur gewährt, wenn im Gegenzug die US-Ziele im Wirtschaftsbereich gewahrt wurden. Heute, mit dem Verschwinden der UdSSR als eine militärische Bedrohung für die Staaten des westlichen Blocks (insbesondere jene Westeuropas und Japans), haben die USA viel von ihrer Fähigkeit eingebüßt, Druck auf ihre "Alliierten" auszuüben; dies umso mehr, als die US-Ökonomie mit ihren enormen Defiziten und ihrem fortgesetzten Rückgang in der Wettbewerbsfähigkeit rapide an Boden gegenüber ihren Hauptkonkurrenten verliert. Dies wird die Tendenzen in den am besten funktionierenden Ökonomien, mit Deutschland und Japan an der Spitze, verstärken, sich von der Bevormundung durch die USA freizumachen, um ihr eigenes Spiel auf der weltwirtschaftlichen Bühne zu spielen; dies wiederum wird zu einer Zuspitzung von Handelskriegen und zu einer wachsenden allgemeinen Instabilität der kapitalistischen Ökonomie führen.
Schließlich muß man klar zum Ausdruck bringen, daß der Zusammenbruch des Ostblocks und die ökonomischen und politischen Erschütterungen seiner ehemaligen Mitglieder nicht die leiseste Verbesserung der Wirtschaftslage der kapitalistischen Gesellschaft ankündigen. Der ökonomische Bankrott der stalinistischen Regimes als Folge der allgemeinen Krise der Weltwirtschaft kündigt nur den Zusammenbruch auch der ökonomisch stärksten Sektoren  an.


Imperialistische Antagonismen

Die geopolitische Konstellation, die seit dem 2. Weltkrieg bestanden hatte, ist durch die Ereignisse in der zweiten Hälfte des letzten Jahres vollkommen infragegestellt worden. Heute gibt es keine zwei imperialistischen Blöcke mehr, die die Welt unter sich aufteilen.
Es liegt auf der Hand - selbst für die Teile der Bourgeoisie, die seit Jahren alarmiert sind wegen der Gefahr des "Reichs des Bösen" und seiner "beeindruckenden militärischen Stärke" -, daß der Ostblock nicht mehr existiert. Dies ist von einer ganzen Reihe von aktuellen Ereignissen bestätigt worden:
- die Unterstützung Gorbatschows durch die wichtigsten westlichen Führer (insbesondere Bush, Thatcher, Mitterand), häufig mit Lobeshymnen einhergehend ;
- die Resultate der verschiedenen Gipfeltreffen in jüngster Zeit ( Bush-Gorbatschow, Mitterand-Gorbatschow, Kohl-Gorbatschow usw.), die das Verschwinden der Antagonismen augenscheinlich machten, die vier Jahrzehnte lang Ost und West voneinander getrennt hatten;
- die Ankündigung der UdSSR, alle ihre im Ausland stationierten Truppen abzuziehen;
- die Kürzung der Rüstungsausgaben der USA, die jetzt ins Auge gefaßt wird;
- die gemeinsame Entscheidung, die Zahl der sowjetischen und amerikanischen Truppen in Mitteleuropa (hauptsächlich in den beiden Teilen Deutschlands) auf 195.000 Mann zu reduzieren , was faktisch einem Rückzug von 405.000 Soldaten der UdSSR und 90.000 auf Seiten der USA entspricht;
- die Haltung der wichtigsten westlichen Führer während der Ereignisse in Rumänien, die die UdSSR zu militärischem Eingreifen aufforderten, um die "demokratischen" Kräfte gegen den Widerstand der letzten Ceausescu-Getreuen zu unterstützen,
- die Unterstützung der Intervention russischer Panzer in Baku im Januar 1990 durch den Westen.
Zehn Jahre nach dem allgemeinen Aufschrei in den westlichen Ländern, als dieselben Panzer in Kabul einrückten, ist dieses unterschiedliche Verhalten geradezu bezeichnend für den völligen Umsturz der imperialistischen Ordnung des Planeten. Dies ist auch von der Ottawa-Konferenz  Anfang Februar (die von Kanada und der Tschechoslowakei gemeinsam geleitet wurde) zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt bestätigt worden, in deren Verlauf die UdSSR praktisch alle Forderungen des Westens akzeptiert hat.
Bedeutet dieses Verschwinden des Ostblocks nunmehr, daß die Welt von einem einzigen imperialistischen Block beherrscht wird, daß sie keinen imperialistischen Konfrontationen mehr unterworfen ist? Solch eine Hypothese wäre völlig fremd für den Marxismus.
So wurde auch die These des "Super-Imperialismus", die von Kautsky vor dem 1. Weltkrieg entwickelt wurde, von den Revolutionären (insbesondere Lenin) bekämpft als auch von den Tatsachen selbst widerlegt. Sie blieb genauso verlogen, als sie von den Stalinisten und Trotzkisten adaptiert wurde, um zu behaupten, daß der von der UdSSR beherrschte Block nicht imperialistisch sei. Auch der Untergang dieses Blocks ist keine Bestätigung dieser Art von Analyse: dieser Untergang trägt letztendlich den Niedergang den westlichen Blocks in sich. Darüberhinaus sind nicht nur die großen Supermächte an der Spitze der Blöcke imperialistisch, wie es die CWO behauptet. Im Zeitalter der Dekadenz des Kapitalismus sind ALLE Staaten imperialistisch und treffen ihre Vorkehrungen, um sich dieser Realität anzupassen: Kriegswirtschaft, Aufrüstung usw. Daher werden die zunehmenden Erschütterungen der Weltwirtschaft die Zwietracht zwischen den verschiedenen Staaten schüren, einschließlich und zunehmend auf der militärischen Ebene. Der Unterschied zur jetzt zu Ende gegangenen Epoche besteht darin, daß diese Konflikte und Antagonismen, die zuvor von den beiden großen imperialistischen Blöcken im Griff gehalten und ausgenutzt wurden, jetzt in den Vordergrund rücken werden. Das Verschwinden des russischen imperialistischen Gendarmen und damit auch der Gendarmenrolle des amerikanischen Imperialismus gegenüber seinen wichtigsten "Partnern" von einst öffnet Tür und Tor für eine ganzen Reihe von lokalen Rivalitäten. Diese Rivalitäten und Zusammenstöße können gegenwärtig nicht in einen Weltkrieg ausarten (selbst wenn das Proletariat nicht in der Lage wäre, sich dagegen zur Wehr zu setzen). Hingegen werden diese Konflikte aufgrund des Wegfalls der vom Block auferzwungenen Disziplin viel häufiger und gewalttätiger werden, insbesondere natürlich in den Regionen, wo das Proletariat am schwächsten ist.
Bislang hat im Zeitalter der Dekadenz solch eine Situation der "Verzettelung" der imperialistischen Antagonismen in Abwesenheit von Blöcken (oder von Schlüsselregionen), die die Welt unter sich aufgeteilt haben, nie lange angedauert. Das Verschwinden der imperialistischen Konstellation, die aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen war, trug die Tendenz zur Bildung zweier neuer Blöcke in sich. Heute steht dies jedoch noch nicht auf der Tagesordnung, weil:
- bestimmte Strukturen, die aus der vergangenen Konstellation hervorgegangen waren, noch fortbestehen (z.B. die formale Existenz der großen Militärbündnisse NATO und Warschauer Pakt mit den entsprechenden Rüstungsarsenalen),
- es noch keine Großmacht gibt, die sofort den Platz einnehmen könnte, den die UdSSR endgültig verloren hat, d.h. die eines Blockführers, der einem von den USA beherrschten Block die Stirn bieten könnte.
Um solch eine Rolle einzunehmen, wäre ein Land wie Deutschland insbesondere nach seiner Wiedervereinigung und aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke und seiner geographischen Lage der erste Anwärter. Deshalb gibt es schon jetzt ein gemeinsames Interesse zwischen den westlichen Ländern und der UdSSR, um den Wiedervereinigungsprozeß zu verlangsamen (oder zumindest zu versuchen, ihn zu kontrollieren). Auch wenn man eine beträchtliche Schwächung des Zusammenhalts des westlichen Blocks konstatieren muß, eine Schwächung, die nur zunehmen kann, sollte man sich davor hüten, vorschnell von der Bildung eines neuen, von Deutschland angeführten Blocks zu reden. Auf militärischer Ebene ist dieses Land weit davon entfernt, solch eine Rolle zu übernehmen. Aufgrund seiner Situation als "Verlierer" des Zweiten Weltkrieges ist die Stärke seiner Armee längst nicht auf dem Stand seiner wirtschaftlichen Stärke. Insbesondere ist die BRD bis heute nicht befugt, sich mit Atomwaffen auszustatten oder über die großen Atomwaffenarsenale zu verfügen, die sich auf ihrem Gebiet befinden und vollständig von der NATO kontrolliert werden. Darüberhinaus, und langfristig der wichtigste Aspekt, wird die Tendenz zur Aufteilung der Welt zwischen zwei neuen Blöcken durch das sich immer mehr zuspitzende und ausdehnende Phänomen des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft konterkariert oder gar irreparabel geschädigt, wie wir bereits hervorgehoben haben (siehe dazu INTERNATIONALE REVUE Nr. 11).
Dieses Phänomen, das sich während der 80er Jahre immer mehr ausgedehnt hat, hat seine Wurzeln in der Unfähigkeit der beiden Hauptklassen der Gesellschaft, ihre eigene historische Antwort auf die ausweglose Krise durchzusetzen, in die die kapitalistische Produktionsweise hineingetrieben wird. Zwar hat die Arbeiterklasse mit ihrer Weigerung, sich im Gegensatz zu den 30er Jahren hinter den bürgerlichen Fahnen mobilisieren zu lassen, bislang den Kapitalismus an dem Ausbruch eines dritten Weltkrieges gehindert, jedoch hat sie noch nicht die Kraft gefunden, ihre eigene Perspektive, die kommunistische Revolution, deutlich zu machen. Auch in einer solchen Lage, in der die Gesellschaft vorübergehend "blockiert" ist, in der jede Perspektive fehlt, während die kapitalistische Krise sich immer weiter zuspitzt, hält die Geschichte nicht inne. Ihr "Kurs" spiegelt sich in der zunehmenden Verfaulung des gesamten gesellschaftlichen Lebens wider, deren verschiedenen Erscheinungsweisen wir schon in dieser Revue analysiert haben: von der Drogenplage über die Umweltzerstörung, die Zunahme der sog. "Naturkatastrophen" oder der "Unfälle", das Aufblühen der Kriminalität, des Nihilismus und der Verzweiflung der Jugend ("No future") bis hin zur allgemeinen Korruption der Politiker. Einer der Ausdrücke dieses Zerfalls ist die wachsende Unfähigkeit der bürgerlichen Klasse, nicht nur die Wirtschaftslage zu kontrollieren, sondern auch die politische Lage. Diese Phänomen ist natürlich besonders weit verbreitet in den Ländern der Peripherie des Kapitalismus, die, weil sie zu spät ihre industrielle Entwicklung begonnen haben, als erste und am stärksten von der Krise des Systems betroffen sind. Heute bildet das ökonomische und politische Chaos, das sich in den osteuropäischen Ländern ausbreitet, der vollständige Verlust der Kontrolle der Lage durch die örtliche Bourgeoisie ein neues Merkmal dieses allgemeinen Phänomens. Und die stärkste Bourgeoisie, d.h. jene aus den entwickeltsten Ländern Europas und Nord-Amerikas, ist sich durchaus bewußt, daß auch sie vor dieser Art von Erschütterungen nicht gefeit ist. Deshalb unterstützt sie voll und ganz Gorbatschows Versuch, "die Ordnung in seinem Reich wiederherzustellen", selbst wenn das auf blutige Weise geschieht wie in Baku. Sie hat zuviel Angst, daß das Chaos, das sich gerade im Osten ausbreitet, auch im Westen Wurzeln faßt, so wie die radioaktiven Wolken Tschernobyls auch die Grenzen überquerten.
In dieser Hinsicht ist die Entwicklung der Lage in Deutschland aufschlußreich. Die unglaubliche Schnelligkeit, mit der sich dort die Ereignisse seit dem letzten Herbst abgespielt haben, beweisen keinesfalls, daß die Bourgeoisie von einem "Demokratisierungsrausch" erfaßt ist. In Wirklichkeit entzieht sich die Lage in der DDR jeglicher gezielten Politik der lokalen Bourgeoisie, aber auch immer mehr der westdeutschen wie auch der gesamten Weltbourgeoisie. Die Wiedervereinigung der beiden Deutschlands, die bis vor einigen Wochen keine der "Siegermächte" von 1945 wollte (noch vor drei Monaten faßte Gorbatschow die Wiedervereinigung "in einem Jahrhundert" ins Auge) aus Furcht, daß die Bildung eines hegemonialen "Großdeutschlands" in Europa seinen imperialistischen Appetit anregt, ist immer zwingender als einziges Mittel geboten, um das Chaos in der DDR zu bekämpfen, das seine Nachbarn anzustecken droht. Selbst die westdeutsche Bourgeoisie findet, daß die Dinge "zu schnell" gehen. Unter den jetzigen Bedingungen kann diese Wiedervereinigung, für die sie jahrzehntelang plädiert hatte, ihr nur Schwierigkeiten bringen. Doch je länger sie hinausgezögert wird, desto größer werden die Schwierigkeiten. Daß die westdeutsche Bourgeoisie, eine der solidesten der Welt, heute den Ereignissen hinterherläuft, sagt viel über den Zustand der ganzen bürgerlichen Klasse aus.
Vor einem solchen Hintergrund, dem Kontrollverlust der Weltbourgeoisie über die Lage, läßt sich nicht beurteilen, ob die dominanten Teile unter ihr heute in der Lage sind, die notwendige Organisierung und Disziplinierung für die Neubildung von militärischen Blöcken umzusetzen. Eine Bourgeoisie, die nicht mehr die Politik ihres eigenen Landes bestimmt, ist ziemlich schlecht gerüstet, um sich gegenüber anderen Bourgeoisien durchzusetzen (wie man am Zusammenbruch des Ostblocks sehen konnte, dessen Hauptursache die wirtschaftliche und politische Implosion seiner Führungsmacht war).
Daher ist es von großer Bedeutung, klarzustellen, daß, wenn die Lösung des Proletariats - die kommunistische Revolution - die einzige ist, die der Zerstörung der Menschheit (die die einzige "Lösung" ist, die die Bourgeoisie auf ihre Krise geben kann) trotzen kann, diese Zerstörung nicht zwangsläufig aus einem dritten Weltkrieg resultieren muß. Sie könnte gleichermaßen aus dem bis zum Äußersten getriebenen Zerfall resultieren (Umweltkatastrophen, Epidemien, Hungersnöte, die Entfesselung lokaler Kriege usw.).
Die historische Alternative "Sozialismus oder Barbarei", wie sie von den Marxisten herausgestellt worden war, wurde, nachdem sie im Verlauf des größten Teils dieses Jahrhunderts  die Gestalt des "Sozialismus oder imperialistischer Weltkrieg" angernommen hatte, im Verlaufe der letzten Jahrzehnte aufgrund der Entwicklung der Atomwaffen in der furchterregenden Form des "Sozialismus oder Zerstörung der Menschheit" präzisiert. Heute,  nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, bleibt diese Perspektive vollkommen gültig. Jedoch muß man aufzeigen, daß solch eine Zerstörung aus großen imperialistischen Kriegen ODER auch aus dem Zerfall der Gesellschaft hervorgehen kann.


Der Rückgang im Bewußtsein der Arbeiterklasse

Die „Thèses sur la crise économique et politique dans les pays de l'Est" (REVUE INTERNATIONALE, Nr. 60) stellen klar, daß der Zusammenbruch des Ostblocks und der Todeskampf des Stalinismus sich in einem Rückgang des Bewußtseins der Arbeiterklasse niederschlagen werden. Die Ursachen dieses Rückgangs werden in dem Artikel „Des difficultés accrues pour le prolétariat" untersucht. Man kann sie folgendermaßen zusammenfassen:
- in gleicher Weise wie das Auftauchen einer "unabhängigen" Gewerkschaft 1980 in Polen verleiht heute der Zusammenbruch des Ostblocks und die Agonie des Stalinismus  den demokratischen Illusionen nicht nur im Proletariat in den Ländern des Ostens, sondern gleichermaßen im Proletariat der westlichen Länder großen Auftrieb, allerdings in einem viel größeren Ausmaß in Anbetracht des Ausmaßes der gegenwärtigen Ereignisse;
- "die Tatsache, daß dieses historisch beispiellose Ereignis ohne Zutun der Arbeiterklasse stattgefunden hat, kann nur ein Gefühl der Machtlosigkeit innerhalb der Arbeiterklasse erzeugen" (ebenda);
- "in dem Maße, wie der Zusammenbruch des Ostblocks einer Periode des 'Kalten Kriegs' mit dem westlichen Block folgte, in dem Maße, wie Letzterer als der kampflose 'Sieger’ dieses ‚Krieges’ erscheint, wird dies in den westlichen Ländern und auch unter den Arbeitern ein Gefühl der Euphorie und des Vertrauens gegenüber ihren Regierungen erzeugen, (relativ gesehen) ähnlich dem, das die Arbeiter in den 'Siegerländern' nach den beiden Weltkriegen belastet hatte" (ebenda);
- die Auflösung des Ostblocks wird das Gewicht des Nationalismus in den Randrepubliken der Sowjetunion und den alten "Volksdemokratien", aber auch in einigen westlichen Ländern und insbesondere in einem solch wichtigen Land wie Deutschland aufgrund der Wiedervereinigung der beiden Teile dieses Landes steigern;
- "diese nationalistischen Mystifikationen werden auch die Arbeiter des Westens (...) durch den Mißkredit und die Entstellung beeinflussen, die in ihrem Bewußtsein die Idee des proletarischen Internationalismus erlitten hat (...) ein Begriff, der durch den Stalinismus und im gleichen Atemzug von allen bürgerlichen Kräften verfälscht wurde, die ihn mit der imperialistischen Vorherrschaft der UdSSR über ihren Block gleichgesetzt haben"(ebd.);
- "im Grunde (...) ist es die eigentliche Perspektive der kommunistischen Weltrevolution, die vom Zusammenbruch des Stalinismus in Mitleidenschaft gezogen wird (...); die Gleichsetzung von Kommunismus und Stalinismus erlaubte es der Bourgeoisie in den 1930er Jahren, die Arbeiterklasse für Letzteren einzuspannen, um ihre Niederlage endgültig zu besiegeln (...); in dem Moment, wo der Stalinismus in den Augen aller Arbeiter vollständig in Verruf geraten ist, dient die gleiche Lüge dazu, um sie von der Perspektive des Kommunismus abzubringen" (ebd.).
Man kann diese Elemente vervollständigen, indem man untersucht, was von den Überresten der stalinistischen Parteien der westlichen Länder übriggeblieben ist.
Der Zusammenbruch des Ostblocks impliziert letztendlich das Verschwinden der stalinistischen Parteien nicht nur in den Ländern, in denen sie den Staat lenkten, sondern auch dort, wo sie eine wichtige Funktion bei der Kontrolle der Arbeiterklasse ausübten. Entweder verwandeln sich diese Parteien von Grund auf - wie dies zur Zeit mit der italienischen KP geschieht -, indem sie vollständig ihre Besonderheiten aufgeben (ihren Namen eingeschlossen), oder sie werden auf den Zustand kleiner Sekten zurechtgestutzt (wie dies in den USA und in den meisten nordeuropäischen Ländern bereits der Fall ist). Nur noch die Ethnologen oder die Archäologen werden sich für sie interessieren, aber eine ernsthafte Rolle als Kontroll- und Sabotageorgane gegen die Arbeiterkämpfe werden sie nicht mehr spielen. Die Stellung, die sie in diesem Bereich bislang innehatten, wird von der Sozialdemokratie oder ihren linken Flügeln eingenommen werden. Deshalb wird die Arbeiterklasse im Verlauf ihrer Kämpfe immer weniger Gelegenheiten haben, mit den Stalinisten zusammenzustoßen, was den Einfluß der Lüge, die den Stalinismus mit dem Kommunismus gleichsetzt, nur begünstigen wird.


Die Perspektiven des Klassenkampfes

So schaffen der Zusammenbruch des Ostens und das Ableben des Stalinismus neue Bedingungen für die Bewußtwerdung des Proletariats. Heißt dies, daß diese Ereignisse auch zu einer deutlichen Abnahme der Klassenkämpfe führen werden? In diesem Punkt ist es notwendig in Erinnerung zu rufen, daß die "Thesen" von einem "Rückgang des Bewußtseins" sprechen und nicht von einem Rückgang der Kampfbereitschaft des Proletariats. Sie unterstreichen gar, daß "die pausenlosen und immer brutaleren Schläge, die der Kapitalismus den Arbeitern versetzt, sie dazu zwingt, den Kampf aufzunehmen"; es sei falsch, davon auszugehen, daß der Rückgang im Bewußtsein mit einem Rückgang der Kampfbereitschaft einhergeht. Wir haben schon des öfteren auf die Nicht-Identität zwischen Bewußtsein und Kampfbereitschaft hingewiesen. Es besteht also kein Grund, auf die allgemeine Frage als solche zurückkommen. In dem präzisen Fall der gegenwärtigen Lage muß man unterstreichen, daß der gegenwärtige Rückgang im Klassenbewußtsein nicht aus einer direkten Niederlage der Arbeiterklasse nach einem Kampf herrührt. Er ist vielmehr das Produkt von Ereignissen, die außerhalb ihrerselbst und  ihrer Kämpfe stattfinden und Verwirrung in ihren Reihen stiften. Deshalb ist es nicht die Demoralisierung, die momentan auf ihr lastet. Auch wenn ihr Bewußtsein in Mitleidenschaft gezogen ist, so ist ihre Kampfbereitschaft umgekehrt nicht grundlegend angegriffen. Und dieses Potential kann mit den immer brutaleren Angriffen, die entfesselt werden, jederzeit in Erscheinung treten. Man sollte also nicht überrascht sein über die absehbaren Ausbrüche dieser Kampfbereitschaft. Sie können weder als eine Infragestellung unserer Analyse des Rückgangs des Bewußtseins begriffen werden noch "vergessen" machen, daß es die  Verantwortung der Revolutionäre ist, in der Klasse zu intervenieren.
Zweitens wäre es falsch, eine Kontinuität in der Entwicklung der Kämpfe und des Bewußtseins des Proletariats zwischen der dem Zusammenbruch des Ostblocks vorangehenden Periode und der gegenwärtigen Periode herzustellen. In der vergangenen Periode hat die IKS die im proletarischen politischen Milieu vorherrschende Tendenz kritisiert, die Bedeutung der Kämpfe der Klasse und die von ihr vollzogenen Fortschritte in ihrer Bewußtwerdung zu unterschätzen. Auf den aktuellen Rückgang in der Bewußtwerdung hinzuweisen bedeutet keineswegs eine Infragestellung unserer Analysen der vergangenen Periode, insbesondere jener, die vom 8. Kongreß der IKS verabschiedet wurden (siehe INTERNATIONALE REVUE, Nr. 11).
Es trifft zu, daß das Jahr 1988 und die erste Hälfte des Jahres 1989 von einer Reihe von Schwierigkeiten bei der Entwicklung des Kampfes und des Klassenbewußtseins, insbesondere durch eine Rückkehr der Gewerkschaften in die vorderen Ränge gekennzeichnet waren. Dies war schon vor dem 8. Kongreß der IKS (im Sommer 1989) insbesondere in dem Editorial der INTERNATIONALEN REVUE, Nr. 58 (engl., franz., span. Ausgabe) festgestellt worden, das bemerkte, daß „es dieser Strategie (der Bourgeoisie) im Augenblick gelungen ist, die Arbeiterklasse zu desorientieren und ihr den Weg zur Vereinigung ihrer Kämpfe zu verbauen". An die Gegebenheiten der internationalen Lage anknüpfend, wies unsere Analyse auf die Grenzen dieser momentanen Schwierigkeiten hin. Tatsächlich lagen die Schwierigkeiten der Arbeiter 1988 und Anfang 1989 (obgleich sie größer waren) auf der gleichen Ebene wie die Schwierigkeiten, auf die die Arbeiter 1985 gestoßen waren (und auf die wir im 6. Kongreß der IKS eingegangen waren: siehe dazu die "Resolution über die internationale Lage", in INTERNATIONALE REVUE Nr. 44, engl., franz., span. Ausgabe). Sie schlossen keineswegs die Möglichkeit „des Auftauchens von neuen, massiven Kämpfen, einer immer größeren Entschlossenheit und einem höheren Bewußtsein des proletarischen Kampfes" (INTERNATIONALE REVUE, Nr. 58) aus, ähnlich wie der Rückgang von 1985 im darauffolgenden Jahr zu solch wichtigen und bedeutsamen Bewegungen führte wie im Frühjahr die massiven Streiks in Belgien oder der Eisenbahnerstreik in Frankreich. Dagegen befinden sich die Schwierigkeiten, auf die die Arbeiter heute stoßen, auf einer ganz anderen Ebene. Der Zusammenbruch des Ostblocks und des Stalinismus ist ein historisch einmaliges Ereignis, dessen Auswirkungen auf alle Aspekte der Weltlage selbst von großer Bedeutung sind. So kann dieses Ereignis in Hinblick auf seine Folgen für die Klasse nicht auf die gleiche Ebene gestellt werden wie dieses oder jenes Manöver der Bourgeoisie, wie man sie aus den letzten 20 Jahren kennt, einschließlich der Taktik, die Linke Ende der 70er Jahre in die Opposition zu schicken.
Heute ist dagegen eine ganz andere Epoche angebrochen, die sich von jener unterscheidet, die wir in den vergangenen zwanzig Jahren erlebt haben. Seit 1968 hat sich die allgemeine Klassenbewegung trotz einiger Momente der Verlangsamungen oder kurzer Rückzüge immer weiter in Richtung bewußterer Kämpfe entwickelt, hat sie sich insbesondere zunehmend vom Einfluß der Gewerkschaften befreit. Dagegen begünstigen die Umstände, unter denen der Ostblock zusammengebrochen ist, und die Tatsache, daß der Stalinismus nicht durch den Kampf der Klasse niedergestreckt wurde, sondern durch eine innere ökonomische und politische Implosion, die Entwicklung eines ideologischen Schleiers (unabhängig von den Medienkampagnen, die heute entfacht werden), einer Verwirrung in der Klasse, die beispiellos ist im Vergleich zu alldem, mit dem sie bisher konfrontiert war, einschließlich der Niederlage in Polen 1981.  Im Grunde muß man davon ausgehen, daß, selbst wenn der Zusammenbruch des Ostblocks zu einer Zeit stattgefunden hätte, in der sich die Kämpfe des Proletariats in vollem Aufschwung befanden (z.B. Ende 1983/Anfang 1984 oder 1986), dies überhaupt nichts an dem Ausmaß des Rückgangs geändert hätte, den dieses Ereignis in der Klasse bewirkt hat (selbst wenn dieser Rückgang eventuell erst mit Verzögerung seine volle Wirkung entfaltet hätte).
Besonders aus diesem Grund muß die Analyse, die von der IKS über die "Linke in der Opposition" erarbeitet hatte,  heute aktualisiert werden. Diese Taktik war seit dem Ende der 1970er Jahre und die 1980er Jahre hindurch für die Bourgeoisie angesichts der allgemeinen Dynamik der Klasse in Richtung immer entschlossenerer und bewußterer Kämpfe, ihrer wachsenden Ablehnung demokratischer Mystifikationen parlamentarischer und gewerkschaftlicher Art notwendig gewesen. Die in einigen Ländern (z.B. in Frankreich) aufgetretenen Schwierigkeiten, diese Karte auszuspielen, ändern nichts an der Tatsache, daß sie die zentrale Achse in der Strategie der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse bildete. Die rechten Regierungen in solch wichtigen Ländern wie den USA, Westdeutschland und  Großbritannien verdeutlichen dies. Dagegen zwingt der gegenwärtige Rückzug der Klasse die Bourgeoisie vorübergehend nicht mehr dazu, diese Strategie zu priorisieren. Das heißt nicht, daß in diesen Ländern die Linke zwangsläufig in die Regierung zurückkehrt. Wir haben mehrfach (siehe dazu INTERNATIONALE REVUE, Nr. 18, engl., franz., span. Ausgabe) aufgezeigt, daß solch eine Vorgehensweise nur in revolutionären Phasen oder im imperialistischen Krieg zwingend notwendig ist. Man darf hingegen nicht überrascht sein, wenn solch ein Ereignis eintritt, und vermuten, daß es sich um einen „Unfall" oder den Ausdruck einer „besonderen Schwäche" der herrschenden Klasse des jeweiligen Landes handelte. Der allgemeine Zerfall der Gesellschaft drückt sich für die herrschende Klasse in vermehrten Schwierigkeiten aus, ihr politisches Spiel zu kontrollieren, aber wir sind noch nicht an dem Punkt, wo die stärksten Bourgeoisien der Welt das gesellschaftliche Feld angesichts der Bedrohung durch das Proletariat vernachlässigen würden.
So präsentiert sich die Weltlage auf der Ebene des Klassenkampfes mit spürbar unterschiedlichen Merkmalen im Vergleich zur Zeit vor dem Zusammenbruch des Ostblocks. Jedoch läßt sich aus der Bedeutung des gegenwärtigen Rückgangs des Bewußtseins in der Klasse keine Infragestellung des historischen Kurses ableiten, wie er von der IKS seit mehr als zwanzig Jahren vertreten wird (obgleich man diesen Begriff wie oben gesehen präzisieren muß).
Erstens ist gegenwärtig ein Kurs zum Weltkrieg aufgrund des Nicht-Vorhandenseins von zwei imperialistischen Blöcken ausgeschlossen.
Zweitens ist es wichtig, auf die Grenzen des gegenwärtigen Rückzugs der Klasse hinweisen. Insbesondere wenn man den Charakter der demokratischen Mystifikationen, die sich heute im Proletariat verfestigen, mit den Mystifikationen vergleicht, die zur Zeit der "Befreiung" nach 1945 verbreitet waren, so muß man feststellen, daß sie auch durch die unterschiedlichen Situationen geprägt sind. Einerseits waren die Hauptindustrieländer und damit das Herz des Weltproletariats direkt im Zweiten Weltkrieg verwickelt. Daher lastete die demokratische Euphorie schwer auf das Proletariat. Jedoch handelt es sich bei den Sektoren des Proletariats, die heute im Fadenkreuz dieser Mystifikationen stehen, nämlich die Arbeiterklasse Osteuropas, um verhältnismäßig periphere Bereiche der Klasse. Das Proletariat im Westen ist wegen des "Ostwindes", der derzeit bläst, mit diesen Schwierigkeiten konfrontiert, und nicht weil es selbst im "Auge des Zyklons" steht. Andererseits hatten die demokratischen Verschleierungen nach dem Krieg einen mächtigen Auftrieb erhalten durch den "Wohlstand", der mit dem Wiederaufbau einherging. Zwei Jahrzehnte lang  konnte sich der Glaube an die "Demokratie" als "die beste aller Welten" auf eine reale Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse in den fortgeschrittenen Ländern und auf das Gefühl stützen, der Kapitalismus habe seine Widersprüche überwunden (ein Gefühl, das gar einige revolutionäre Gruppen penetriert hat). Die Lage heute dagegen ist eine ganz andere; eine Lage, in der das bürgerliche Geschwätz über die „Überlegenheit" des „demokratischen" Kapitalismus auf die eigenwillige Tatsache einer unüberwindbaren und immer tieferen Krise prallt.
Abgesehen davon darf man sich auch nicht durch Illusionen in Sicherheit wiegen und einschläfern lassen. Auch wenn der Weltkrieg gegenwärtig und vielleicht endgültig keine Bedrohung für das Überleben der Menschheit darstellt, kann diese Bedrohung, wie man gesehen hat,  aus dem Zerfall der Gesellschaft hervorgehen. Und dies umso mehr, als die Entfesselung des Weltkriegs das Bekenntnis des Proletariats zu den Idealen der Bourgeoisie erfordert - ein Phänomen, das gegenwärtig in keiner Weise für seine ausschlaggebenden Bataillone auf der Tagesordnung steht -, wohingegen der Zerfall solch ein Bekenntnis überhaupt nicht erforderlich macht, um die Menschheit zu zerstören. Allerdings stellt der Zerfall der Gesellschaft, streng genommen, keine "Antwort" der Bourgeoisie auf die offenen Weltwirtschaftskrise dar. In Wahrheit kann sich dieses Phänomen ausbreiten, eben weil die herrschende Klasse aufgrund der Nicht-Rekrutierung des Proletariats nicht in der Lage ist, IHRE spezifische Antwort auf diese Krise zu geben, den Weltkrieg und die Mobilisierung für ihn. Indem die Arbeiterklasse ihre Kämpfe weiterentwickelt (wie sie es seit Ende der 60er Jahre getan hat), indem sie sich nicht hinter den bürgerlichen Fahnen mobilisieren läßt, kann sie die Bourgeoisie daran hindern, den Weltkrieg zu entfesseln. Doch allein die Zerstörung des Kapitalismus macht es möglich, dem Zerfall dieser Gesellschaft ein Ende zu setzen. Genauso wenig, wie sie den wirtschaftlichen Zusammenbruch des Kapitalismus aufhalten können, können die Kämpfe des Proletariats den Zerfall dieses Systems bremsen.
Wenn man in diesem Sinne bislang davon ausgehen konnte, daß „die Zeit für das Proletariat arbeitet", daß die langsame Entwicklung der Klassenkämpfe es der Klasse und auch den revolutionären Organisationen ermöglichten, sich Erfahrungen wieder anzueignen, die die Konterrevolution unter sich begraben hatte, so ist diese Auffassung nunmehr hinfällig. Es geht für die Revolutionäre nicht darum, ungeduldig zu werden und "die Geschichte zum Handeln zu zwingen", sondern darum, sich des wachsenden Ernstes der Lage bewußt zu werden, wenn sie ihrer großen Verantwortung gerecht werden wollen.
Deshalb müssen sie, wenn ihre Interventionen unterstreichen sollen, daß die historische Situation immer noch auf Seiten des Proletariats ist und daß die Klasse durchaus in der Lage ist, durch ihren Kampf die Hindernisse zu überwinden, die die Bourgeoisie ihr in den Weg legt, gleichermaßen darauf hinweisen, was heute auf dem Spiel steht, um damit ihrer eigenen Verantwortung gerecht zu werden.
Für die Arbeiterklasse besteht die gegenwärtige Perspektive also in der Fortsetzung ihrer Kämpfe in Reaktion auf die wachsenden ökonomischen Angriffe. Diese Kämpfe werden eine ganze Zeitlang in einem schwierigen politischen und ideologischen Umfeld stattfinden. Dies trifft natürlich besonders auf die Arbeiter in den Ländern zu, in denen sich heute die „Demokratie" etabliert. In diesen Ländern findet sich die Arbeiterklasse in einer Lage der äußersten Schwäche wieder, wie die Ereignisse dort Tag für Tag erneut beweisen (die Unfähigkeit, auch nur die geringste unabhängige Klassenforderung in den verschiedenen „Volksbewegungen" aufzustellen, Einbindung in nationalistische Konflikte insbesondere in der UdSSR, Teilnahme an typisch fremdenfeindlichen Streiks gegen diese oder jene ethnische Minderheit wie neulich in Bulgarien). Diese Ereignisse liefern Beispiele dafür, wie eine Arbeiterklasse sich verhält, die bereit ist, sich in einem imperialistischen Krieg verheizen zu lassen.
Die Lage der Arbeiter im Westen sieht dagegen ganz anders aus. Dieses Proletariat ist weit entfernt davon, mit denselben Schwierigkeiten konfrontiert zu sein. Der Rückgang seines Bewußtseins wird sich insbesondere im Comeback der Gewerkschaften ausdrücken, deren Arbeit durch das Umsichgreifen demokratischer Mystifikationen und reformistischer Illusionen erleichtert wird: „Die Unternehmer können zahlen", "Aufteilung der Gewinne", "Gewinnbeteiligung am Wachstum" usw. - Mystifikationen, die die Identifizierung der Arbeiterinteressen mit den Interessen des nationalen Kapitals erleichtern.
Überdies werden die anhaltenden und sich verschärfenden Fäulniserscheinungen der Gesellschaft mehr noch als in den 80er Jahren ihre schädlichen Wirkungen auf das Klassenbewußtsein haben. Aufgrund der allgemeinen Stimmung der Hoffnungslosigkeit in der ganzen Gesellschaft, aufgrund des Zerfalls selbst der bürgerlichen Ideologie, deren faulige Ausdünstungen die Atmosphäre weiter verpesten werden, in der die Arbeiter leben, wird dieses Phänomen bis zur vor-revolutionären Periode eine zusätzliche Schwierigkeit für das Proletariat auf dem Weg zu seiner Bewußtwerdung sein.
Für das Proletariat gibt es keinen anderen Weg, als die klassenübergreifende Mobilisierung für den Kampf gegen einige spezifische Aspekte der im Sterben liegenden kapitalistischen Gesellschaft (die Ökologie zum Beispiel) zurückzuweisen. Das einzige Terrain, auf dem es sich im Moment als unabhängige Klasse mobilisieren kann (eine noch entscheidendere Frage angesichts der Flut von demokratischen Mystifikationen, die nur von „Bürgern" und vom "Volk" sprechen) ist jenes, auf dem seine spezifischen Interessen nicht mit den anderen Gesellschaftsschichten durcheinandergebracht werden und das alle anderen gesellschaftlichen Aspekte bestimmt: das ökonomische Terrain. Und genau in diesem Sinn stellt die Krise, wie wir es schon seit langem behauptet haben, den „besten Verbündeten des Proletariats" dar. Die Verschärfung der Krise wird das Proletariat zwingen, sich auf seinem Terrain zu sammeln, seine Kämpfe weiterzuentwickeln, die die Voraussetzung für die Überwindung der gegenwärtigen Hemmnisse seiner Bewußtseinsentwicklung sind, die ihm die Augen über die Lügen der "Überlegenheit" des Kapitalismus öffnen, die es dazu zwingen werden, seine Illusionen über die Möglichkeit für den Kapitalismus, die Krise zu überwinden, und damit über die Gewerkschaften und die linken Parteien zu verlieren, die die Arbeiter an die „nationalen Interessen" binden wollen, indem sie von „Gewinnbeteiligung" und anderem Quatsch reden.
Heute, wo die Arbeiterklasse sich der Nebelkerzen erwehren muss, mit denen die Bourgeoisie die Arbeiter momentan erfolgreich blendet, bleiben die Aussagen von Marx weiterhin gültig:
"Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird." (K. Marx/F. Engels, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, MEW, Band 2, S. 38, Hervorhebungen im Original)
Die Revolutionäre müssen mit allen Kräften an der Bewußtwerdung der Arbeiterklasse über dieses Ziel mitwirken, das ihr die Geschichte zugewiesen hat, damit sie die historische Notwendigkeit der Revolution verwirklicht, die noch nie so dringend war wie jetzt.

IKS, 10.2.1990

 

Fußnoten:

(*) Dieser Text stützt sich auf einen Bericht für ein internationales Treffen der IKS im Januar 1990.
(1) Der sehr schwache Widerstand nahezu aller ehemaligen Führer der "Volksdemokratien", der erst den "sanften Übergang" in diesen Ländern ermöglichte, sagt keinesfalls aus, daß diese Führer ähnlich wie der Apparat der stalinistischen Parteien freiwillig ihre Macht und ihre Privilegien geopfert haben. Tatsächlich spiegelt dieses Phänomen neben dem wirtschaftlichen Bankrott dieser Regimes auch ihre große politische Zerbrechlichkeit wider, deren Ausmaß weit größer ist als erwartet.
(2) Unter diesen Ländern stehen Polen und Ungarn an der Spitze mit jeweils 40,6 und 20,1 Milliarden Dollar Schulden, d.h. jeweils 63,4 und 64,6 Prozent ihres jährlichen Bruttosozialprodukts. Im Vergleich dazu erscheint Brasilien mit einem Schuldenanteil von "nur" 39,2 Prozent am BSP nachgerade als ein "Musterschüler".
 
Quell-URL: https://de.internationalism.org/ir12/1990_chaos [2]

Thesen zur ökonomischen und politischen Krise in der UdSSR und den osteuropäischen Ländern

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Die jüngsten Ereignisse in den Ländern unter stalinistischem Regime, die Konfrontationen in der Parteispitze und die Repression in China, die nationalistischen Ausbrüche und die Arbeiterkämpfe in der UdSSR, die Bildung einer Regierung in Polen, die von der Solidarnosc angeführt wird - all dies ist von beträchtlicher Bedeutung. Was sie enthüllen, ist die historische Krise, der Eintritt des Stalinismus in eine Zeit heftiger politischer Wirren. In diesem Sinne haben wir die Verantwortung, unsere Analyse über das Wesen dieser Regimes und ihrer Entwicklungsperspektiven zu bekräftigen, zu präzisieren und zu aktualisieren.


1. Die jüngsten Erschütterungen in den Ländern unter stalinistischem Regime können nicht außerhalb des allgemeinen Rahmens der Analyse verstanden werden, der für alle Länder der Welt gültig ist, nämlich die Dekadenz der kapitalistischen Produktionsweise und die unaufhaltsame Verschärfung der Krise. Jedoch muß jede ernsthafte Analyse der gegenwärtigen Lage dieser Länder die Besonderheiten ihrer Regimes berücksichtigen. Solch eine Untersuchung der Besonderheiten der osteuropäischen Länder wurde von der IKS schon mehrfach realisiert, namentlich anläßlich der Arbeiterkämpfe in Polen im Sommer 1980 und der Gründung der "unabhängigen" Gewerkschaft Solidarnosc.
So wurde der allgemeine Rahmen dieser Analyse im Dezember 1980 mit diesen Worten umrissen:
„Wie für alle Ostblockländer zeichnet sich die Lage in Polen aus:
a) durch die extreme Zuspitzung der Krise, die heute Millionen von Proletarier in ein fast schon an einer Hungersnot grenzendes Elend stürzt;
b) durch die extreme Unbeweglichkeit der gesellschaftlichen Strukturen, die praktisch keinen Raum für das Auftauchen von Oppositionskräften innerhalb der Bourgeoisie läßt, welche in der Lage sind, die Rolle eines Puffers zu spielen: in Rußland und auch in seinen Satelliten birgt jede Protestbewegung das Risiko in sich, die enorme Unzufriedenheit zu kristallisieren, die in einem Proletariat und in einer Bevölkerung herrscht, die seit Jahrzehnten der schlimmsten Konterrevolution ausgesetzt waren, welche in ihrem Umfang der gewaltigen Klassenbewegung entsprach, die sie niederzuschlagen hatte: die Revolution von 1917;
c) durch die große Bedeutung des Polizeiterrors als praktisch einziges Mittel zur Aufrechterhaltung der Ordnung."
(INTERNATIONALE REVUE, Nr. 24, eng., franz., span. Ausgabe)
Im Oktober 1981, zwei Monate vor der Ausrufung des "Kriegsrechts", als die Regierungskampagne gegen Solidarnosc verschärft wurde, kamen wir auf diese Frage zurück:
„...die Zusammenstöße zwischen Solidarnosc und der PVAP (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei) sind genauso wenig wie der Gegensatz zwischen Rechts und Links in den westlichen Ländern einzig und allein Theaterdonner. Im Westen ermöglicht jedoch der institutionelle Rahmen im allgemeinen, mit diesen Widerständen umzugehen, sodaß  sie nicht die Stabilität des Regimes gefährden und die Machtkämpfe in Schach gehalten sowie auf die geeignetste Weise gelöst werden, um dem proletarischen Gegner  entgegenzutreten. Wenn es nun in Polen der herrschenden Klasse mit vielen Improvisationen, aber dennoch vorübergehend mit Erfolg gelungen ist, Mechanismen dieser Art zu installieren, heißt das noch lange nicht, daß es sich um eine endgültige Formel handelt, die auch auf andere ’Bruderländer’ übertragbar wäre. Die gleichen Beleidigungen, die dazu dienen, einem gegnerischen Partner Glaubwürdigkeit zu verleihen, wenn dieser für die Aufrechterhaltung der Ordnung unersetzbar ist, können mit seiner Vernichtung einhergehen, sobald er nicht mehr nützlich ist (...) Indem sie zu einer Arbeitsteilung gezwungen wird, für die die osteuropäischen Bourgeoisien strukturell nicht geschaffen sind, haben die Arbeiterkämpfe in Polen einen lebenden Widerspruch hervorgerufen. Es ist noch zu früh, um zu sehen, wie er gelöst werden wird. Angesichts solch einer historisch neuartigen Lage (...) besteht die Aufgabe der Revolutionäre darin, demutsvoll mit den sich entfaltenden Ereignissen umzugehen.“ (INTERNATIONALE REVUE, Nr. 27, engl., franz., span. Ausgabe)
Schließlich hatte sich die IKS nach der Ausrufung des Kriegsrechts in Polen und der Illegalisierung Solidarnoscs im Juni 1983 veranlasst gesehen, dieses analytische Gerüst weiterzuentwickeln (INTERNATIONALE REVUE, Nr. 34, engl., franz., span. Ausgabe). Sicherlich muß das Gerüst noch vervollständigt werden, doch allein mit diesem Ansatz können wir verstehen, was in diesem Teil der Welt vor sich geht.

2. „Das offensichtlichste, bekannteste Merkmal der osteuropäischen Länder, auf dem übrigens der Mythos ihres ‚sozialistischen Charakters’ beruht, ist der extrem hohe Grad der Verstaatlichung ihrer Wirtschaft (...) Der Staatskapitalismus ist kein auf diese Länder beschränktes Phänomen. Er ist ein Phänomen, das den Überlebensbedingungen der kapitalistischen Produktionsweise in der Dekadenzperiode entspricht. Im Angesicht der Gefahren des Auseinanderbrechens einer Ökonomie und eines gesellschaftlichen Körpers, die wachsenden Widersprüchen ausgesetzt sind, im Angesicht einer Zuspitzung der imperialistischen und Handelsrivalitäten, die die allgemeine Sättigung der Märkte auslöst, kann nur eine ständige Verstärkung der Rolle des Staats in der Gesellschaft ein Mindestmaß an Zusammenhalt gewährleisten sowie die zunehmende Militarisierung sicherstellen. Zwar ist die Tendenz zum Staatskapitalismus also eine weltweite geschichtliche Gegebenheit, jedoch zieht sie nicht alle Länder gleichermaßen in Mitleidenschaft.“ (INTERNATIONALE REVUE, Nr. 34, engl., franz., span. Ausgabe)

3. In den fortgeschrittenen Ländern, wo es eine alte Industrie- und Finanzbourgeoisie gibt, äußert sich diese Tendenz im Allgemeinen in einer fortschreitenden Verflechtung zwischen "privaten" und verstaatlichten Sektoren. In solch einem System ist die "klassische" Bourgeoisie nicht ihres Kapitals verlustig gegangen; sie besitzt weiterhin ihre wesentlichen Privilegien. Der Einfluß des Staates tritt in diesem Fall nicht so sehr durch die Verstaatlichung der Produktionsmittel in Erscheinung, sondern durch den Einsatz einer ganzen Palette von haushaltspolitischen, finanziellen, geld- und ordnungspolitischen Instrumenten, die es ihm jederzeit erlauben, die entscheidenden Weichenstellungen auf wirtschaftlicher Ebene vorzunehmen, ohne dadurch die Marktmechanismen außer Kraft zu setzen.
Die Tendenz zum Staatskapitalismus "nimmt die extremste Form dort an, wo der Kapitalismus die größten Widersprüche erlebt, wo die klassische Bourgeoisie am schwächsten ist. In diesem Sinne ist die direkte Übernahme der Hauptproduktionsmittel durch den Staat, die den Ostblock (und zum Großteil auch die  'Dritte Welt') charakterisiert, in erster Linie eine Manifestation der Rückständigkeit und Zerbrechlichkeit ihrer Wirtschaft“ (ebenda).

4. “Es gibt eine enge Verbindung zwischen den Formen der ökonomischen Vorherrschaft der Bourgeoisie und den Formen ihrer politischen Vorherrschaft“ (ebenda):
- für ein entwickeltes Nationalkapital, das von verschiedenen Teilen der Bourgeoisie "privat"  vereinnahmt wird, ist die parlamentarische Demokratie der angemessenste politische Apparat;
- „der fast vollständigen Verstaatlichung der Produktionsmittel entspricht die totalitäre Macht einer Einheitspartei“ (1).
Jedoch ist das "Einheitsparteiensystem (...) nicht auf die osteuropäischen Länder oder auf die 'Dritte Welt' beschränkt. Es hat jahrzehntelang in westeuropäischen Ländern wie Italien, Spanien, Portugal geherrscht. Das bedeutsamste Beispiel ist freilich das Naziregime, das zwischen 1933 und 1945 das höchstentwickelte und mächtigste Land Europas lenkte. Tatsächlich umfaßt die historische Tendenz zum Staatskapitalismus nicht nur die ökonomische Seite. Sie äußert sich ebenfalls in einer wachsenden Konzentration der politischen Macht in den Händen einer Exekutive auf Kosten der klassischen Formen der bürgerlichen Demokratie, des Parlaments und des Wechselspiels zwischen den Parteien. Während in den entwickelten Ländern des 19. Jahrhunderts die politischen Parteien die Repräsentanten der bürgerlichen Gesellschaft in oder neben dem Staat waren, wandeln sie sich mit der Dekadenz des Kapitalismus in Repräsentanten des Staats in der bürgerlichen Gesellschaft um (das offensichtlichste Beispiel sind die alten Arbeiterparteien, die heute zur Aufgabe haben, die Arbeiterklasse hinter dem Staat zu scharen). Die totalitären Tendenzen des Staats äußern sich auch in den Ländern, in denen die formellen Mechanismen der Demokratie noch bestehen, in einer Tendenz zur Einheitspartei, die in den stärksten Erschütterungen der bürgerlichen Gesellschaft am konkretesten werden: ‚nationale Einheit’ während der imperialistischen Kriege, Zusammenschluß aller bürgerlichen Kräfte hinter den Linksparteien in den revolutionären Perioden...“

5. "Die Tendenz zur Einheitspartei erreicht in den höchstentwickelten Ländern selten ihren vollständigen Abschluß. Die USA, Großbritannien, die Niederlanden, Skandinavien haben nie solch eine Vollendung erlebt. Als dies in Frankreich unter dem Regime in Vichy der Fall war, lag dies im Kern an der Besetzung des Landes durch die deutsche Armee. Das einzige Beispiel in der Geschichte, in der diese Tendenz in einem hochentwickelten Land vollständig zum Tagen kam, ist Deutschland (aus Gründen, die die Kommunistische Linke seit langem untersucht hat) (...) Wenn in den anderen fortgeschrittenen Ländern die politischen Strukturen und traditionellen Parteien aufrechterhalten blieben, so deshalb, weil sie sich als ausreichend solide erwiesen haben wegen ihrer tiefen Verwurzelung, ihrer Erfahrungen, ihrer Verbindung mit der ökonomischen Sphäre, der Kraft der Mystifikationen, die sie in sich tragen, um die Stabilität und den Zusammenhalt des Nationalkapitals angsichts der Schwierigkeiten sicherzustellen, denen sie sich gegenübersehen (Krisen, Kriege, soziale Kämpfe)." (ebenda) Insbesondere machte der Zustand der Wirtschaft dieser Länder, die von der klassischen Bourgeoisie aufrechterhaltene Stärke die Ergreifung "radikaler" Maßnahmen zur Verstaatlichung des Kapitals weder erforderlich noch möglich, weil allein die sog. "totalitären" Strukturen und Parteien in der Lage sind, sie durchzuführen.

6. „Aber was in den höchstentwickelten Ländern nur die Ausnahme ist, ist in den rückständigen Ländern die Regel, wo es keine der Bedingungen gibt, die wir aufgezählt haben, und die am härtesten unter den Erschütterungen der kapitalistischen Dekadenz leiden.“ (ebenda)
So war in den alten Kolonien, die im Laufe des 20. Jahrhunderts die "Unabhängigkeit" erlangt hatten (insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg), die Bildung eines nationalen Kapitals zumeist durch und rund um den Staat verwirklicht worden, im Allgemeinen infolge der Abwesenheit einer einheimischen Bourgeoisie unter der Federführung einer in den europäischen Universitäten ausgebildeten Intelligentsia. Unter bestimmten Umständen gab es sogar eine enge Zusammenarbeit und ein Nebeneinander dieser neuen Staatsbourgeoisie mit den alten Resten der vorkapitalistischen Ausbeuterklassen.
„Unter den rückständigen Ländern nehmen die Länder Osteuropas einen besonderen Platz ein. Zu den direkt ökonomischen Faktoren, die das Gewicht des Staatskapitalismus erklären, kommen noch historische und geopolitische Faktoren hinzu: die Umstände der Bildung der UdSSR und ihres Reiches.“ (ebenda)

7. "Der kapitalistische Staat in der UdSSR entstand auf den Trümmern der proletarischen Revolution. Die schwache Bourgeoisie der zaristischen Epoche wurde durch die Revolution von 1917 (...) und durch die Niederlage der Weißen Armeen vollständig eliminiert. Deshalb übernahmen weder sie noch die traditionellen Parteien in Rußland selbst die Zügel in der unausweichlichen Konterrevolution, die aus der Niederlage der Weltrevolution resultierte. Diese Aufgabe wurde dem Staat übertragen, der nach der Revolution entstanden war und schnell die bolschewistische Partei absorbiert hatte (...) Daher hat sich die bürgerliche Klasse weder auf der Grundlage der alten Bourgeoisie (von einigen Ausnahmen und Individuen abgesehen) noch auf der Basis des Privateigentums an Produktionsmitteln rekonstituiert, sondern auf der Grundlage der Bürokratie des Einparteienstaats und des Staatseigentums an Produktionsmitteln. In der UdSSR hat also das Zusammenkommen verschiedener Faktoren - die Rückständigkeit des Landes, die panische Flucht der klassischen Bourgeoisie, die physische Niederschlagung der Arbeiterklasse (die Konterrevolution und der Terror, dem sie ausgesetzt war, spiegelten das Ausmaß ihres revolutionären Vormarsches wider) - zur universellen Tendenz des Staatskapitalismus in seiner extremsten Formen geführt: die nahezu vollständige Verstaatlichung der Wirtschaft, die totalitäre Diktatur der Einheitspartei. Weil er weder den verschiedenen Teilen der herrschenden Klasse disziplinieren noch auf deren Wirtschaftsinteressen Rücksicht nehmen mußte, ist er vollständig mit dem Staat verschmolzen. Der Staat konnte somit endgültig auf die klassischen politischen Formen der bürgerlichen Gesellschaft (Demokratie und Pluralismus) verzichten, selbst auf ihre Fiktion.“ (ebenda)

8. Dieselbe Brutalität, diese extreme Zentralisierung, mit der das Regime der UdSSR seine Macht über die Gesellschaft ausübt, findet sich in der Art und Weise wieder, in der diese Macht ihre Herrschaft über alle anderen Ländern ihres Blocks ausübt und wahrt. Die UdSSR gründete ihr Imperium allein auf Waffengewalt, sei es im Zweiten Weltkrieg (Einverleibung der baltischen Ländern und Mitteleuropas) oder in den verschiedenen "Unabhängigkeits"-Kriegen in der Nachkriegsperiode (wie z.B. im Falle Chinas oder Nordvietnams), oder auch durch militärische Staatsstreiche (z.B. Ägypten 1952, Äthiopien 1974, Afghanistan 1978). Ebenso stellt der Einsatz der Streitkräfte (z.B. Ungarn 1956, CSSR 1968, Afghanistan 1979) oder die Drohung solch eines militärischen Einsatzes praktisch die einzige Form der Aufrechterhaltung des Zusammenhalts ihres Blocks dar.

9. Wie die Gestalt ihres nationalen Kapitals und ihres politischen Regimes rührt auch diese Form imperialistischer Herrschaft grundsätzlich aus der wirtschaftlichen Schwäche der UdSSR (deren Wirtschaft rückständiger ist als die der meisten ihrer Vasallen).
„Als höchst entwickeltes Land ihres Blocks, als erste Wirtschafts- und Finanzmacht der Welt üben die USA ihre Herrschaft über die Hauptländer ihres Einflußbereiches, die ebenfalls entwickelte Länder sind, aus, ohne gleich beim geringsten Anlaß das Militär zu rufen. Auch haben es diese Länder nicht nötig, auf das Mittel der permanenten Repression zurückzugreifen, um ihre Stabilität zu sichern (...) Die herrschenden Teile der größten Bourgeoisien des Westens haben sich dem amerikanischen Bündnis ‚freiwillig’ angeschlossen: sie ziehen aus ihm wirtschaftliche, finanzielle, politische und militärische Vorteile (der amerikanische Schutzschirm gegen den russischen Imperialismus)." (ebenda) Dagegen wirkt sich die Zugehörigkeit eines nationalen Kapitals zum Ostblock im Allgemeinen für seine Volkswirtschaft katastrophal aus (besonders in Anbetracht der direkten Ausplünderung dieser Volkswirtschaft durch die UdSSR). "In diesem Sinn gibt es unter den größten Ländern des US-Blocks keinen ‚spontanen Hang’ dazu, sich dem anderen Block anzuschließen, wie dies beim anderen Block festgestellt werden kann (der Seitenwechsel Jugoslawiens 1948, Chinas Ende der 60er Jahre, die Versuche Ungarns 1956 und der CSSR 1968)." (ebenda) Die permanenten Zentrifugalkräfte im russischen Block liefern somit die Erklärung für die Brutalität seiner imperialistischen Herrschaft. Sie liefern ebenso die Erklärung für die Form der politischen Regimes, die diese Länder beherrschen.

10. „Die Macht und die Stabilität der USA ermöglicht es ihnen, sich allen möglichen Herrschaftsformen innerhalb ihres Blocks anzupassen: vom ‚kommunistischen’ Regime Chinas bis zum ganz ‚anti-kommunistischen’ Pinochet, von der türkischen Militärdiktatur zum sehr ’demokratischen’ England, von der 200 Jahre alten französischen Republik bis zur feudalen saudi-arabischen Monarchie, von Francos zum sozialdemokratischen Spanien.“ (ebenda) Dagegen ist "die Tatsache, daß die USSR ihre Kontrolle über ihr Reich nur durch Waffengewalt aufrechterhalten kann, ausschlaggebend dafür, daß in ihren Satelliten Regimes herrschen, die wie sie selbst ihre Kontrolle über die Gesellschaft nur durch die gleiche Waffengewalt ausüben können (Polizei und militärische Organismen)“ (ebenda). Darüber hinaus kann die UdSSR (wenn überhaupt!) nur von den stalinistischen Parteien ein Mindestmaß an Gefolgschaft erwarten, weil die Erlangung und Aufrechterhaltung der Macht dieser Parteien im Allgemeinen von der direkten Unterstützung der Roten Armee abhängen. „Während der amerikanische Block mit einer ‚Demokratisierung’ eines faschistischen oder Militärregimes 'umgehen' kann, wann immer es angebracht erscheint (Japan, Deutschland, Italien nach dem 2. Weltkrieg, Portugal, Griechenland, Spanien in den 70er Jahren), kann sich die UdSSR keiner  ‚Demokratisierung’ innerhalb ihres Blocks anpassen.“ (ebenda) Ein politischer Regimewechsel in einem ‚Satellitenland’ birgt für sie die direkte Gefahr in sich, daß es ins gegnerische Lager überwechselt.

11. Die Verstärkung des Staatskapitalismus ist ein permanentes und universelles Phänomen in der kapitalistischen Dekadenz. Diese Tendenz äußert sich jedoch nicht, wie wir gesehen haben, zwangsläufig in Gestalt einer vollständigen Verstaatlichung der Wirtschaft, der direkten Aneignung des Produktionsapparates durch den Staat. Unter bestimmten historischen Bedingungen bildet die vollständige Verstaatlichung den einzig möglichen Weg für das nationale Kapital oder das bestangebrachte Mittel für seine Verteidigung und seine Entwicklung. Dies trifft hauptsächlich auf die rückständigen Volkswirtschaften zu, aber in bestimmten Fällen (Wiederaufbauphasen z.B.) gilt dies gleichfalls für die entwickelten Volkswirtschaften wie die Großbritanniens oder Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese besondere Form des Staatskapitalismus birgt jedoch viele Nachteile für die Volkswirtschaft in sich.
In den rückständigsten Ländern ermöglicht und verursacht das Durcheinander von politischem und ökonomischem Apparat die Entfaltung einer völlig parasitären Bürokratie, deren einzige Sorge darin besteht, in die eigene Tasche zu wirtschaften, die Volkswirtschaft mit dem Ziel systematisch zu plündern, ungeheure Vermögen anzuhäufen: die Fälle Battistas, Marcos, Duvaliers, Mobutus sind gut bekannt, aber sie sind nicht die einzigen. Plünderungen, Korruption und Erpressungen sind allgemeine Phänomene in den unterentwickelten Ländern und wirken sich auf alle Ebenen des Staates und der Wirtschaft aus. Solche Verhältnisse sind freilich ein zusätzliches Handikap für diese Volkswirtschaften, die sie noch tiefer in den Abgrund stoßen.
In den fortgeschrittenen Ländern tendiert die Präsenz eines starken verstaatlichten Sektors gleichfalls dazu, zu einem Handikap für die Volkswirtschaft zu werden, je mehr sich die Weltkrise zuspitzt. In der Tat schränken die Art und Weise der Verwaltung der Betriebe in diesem Sektor, ihre Strukturen der Arbeits- und Arbeitskraftorganisation oft die Anpassungsfähigkeit an der notwendigen Steigerung der Konkurrenzfähigkeit ein. Die "Staatsdiener", die Beschäftigten des "öffentlichen Dienstes", haben zumeist Beschäftigungsgarantien und können sich sicher sein, daß ihr Unternehmen (der Staat selbst) nicht in Konkurs geht und und seine Tore schließt; selbst wenn die Beamtenschicht keinerlei Korruption begeht, ist sie nicht zwangsläufig am besten dafür geeignet, um sich den unerbittlichen Gesetzen des Marktes anzupassen. In der großen Welle von "Privatisierungen", die heute die meisten fortgeschrittenen Industrieländern des Westens betrifft, steckt folglich nicht nur ein Mittel, um das Ausmaß der Klassenkonflikte einzugrenzen, indem der Arbeitergeber Staat durch eine Vielzahl von Arbeitgebern ersetzt wird, sondern sie sind auch ein Mittel zur Verstärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Produktionsapparats.

12. In den Ländern mit einem stalinistischen Regime entwickelt sich das System der "Nomenklatura", in dem die ökonomischen Verantwortlichkeiten nahezu vollständig an die Stellung im Parteiapparat gebunden sind, in einem weitaus größeren Umfang zu einem Hindernis gegen eine Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit des Produktionsapparats. Während die "Mischwirtschaft" in den hochentwickelten westlichen Ländern die öffentlichen Unternehmen und gar die Verwaltungen zu einem Mindestmaß an Sorge für die Produktivität und Rentabilität zwingt, weist die Form des Staatskapitalismus in den Ostblockländern die Eigenschaft auf, die herrschende Klasse von jeglichem Verantwortungssinn zu befreien. Bei einer schlechten Geschäftsführung greifen die Gesetze des Marktes nicht mehr, und verwaltungsmäßige Kontrollen und Maßnahmen sind nicht mehr üblich, da der ganze Apparat, von oben bis unten, solch eine Unverantwortlichkeit an den Tag legt. Im Kern bedingt die Erhaltung der eigenen Privilegien die Unterwürfigkeit gegenüber der Hierarchie dieses Apparates oder gegenüber der einen oder anderen seiner Cliquen. Die Hauptsorge der meisten sowohl wirtschaftlichen wie politischen "Verantwortlichen" (meistens sind es eh die gleichen), besteht nicht darin, das Kapital gewinnbringend anzulegen, sondern ihre Stellung auszunutzen, um ohne die geringste Sorge um das Wohlergehen der Unternehmen oder der Volkswirtschaft in die eigene Tasche sowie in die ihrer Familien und Angehörigen zu wirtschaften. Eine solche Art von "Geschäftsführung" schließt freilich nicht eine unbarmherzige Ausbeutung der Arbeitskraft aus. Doch diese Unbarmherzigkeit bezieht sich im Allgemeinen nicht auf die Arbeitsnormen, die die Steigerung der Produktivität ermöglichen könnten. Sie äußert sich hauptsächlich auf der Ebene der elenden Lebensbedingungen der Arbeiter und der Brutalität, mit der man auf ihre Forderungen reagiert.
Letztlich kann man diese Art von Regime als das Reich der Arschkriecher charakterisieren, der kleinen inkompetenten und bösartigen Chefs, der zynischen, korrupten Beamten, der skrupellosen Mauschler und der Bullen. Diese Merkmale treten in der gesamten kapitalistischen Gesellschaft auf und werden sich mit dem zunehmenden Zerfall der Gesellschaft noch verstärken, aber wenn sie vollständig an die Stelle der technischen Kompetenz treten, der rationellen Ausbeutung der Arbeitskraft und anstelle des Bestrebens nach Wettbewerbsfähigkeit auf dem Markt, bedrohen sie die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft aufs Äußerste.
Unter diesen Umständen sind die Volkswirtschaften der ohnehin sehr rückständigen Länder besonders schlecht gerüstet, um der kapitalistischen Krise und der Zuspitzung der Konkurrenz zu trotzen.

13. Angesichts des totalen Scheiterns der Wirtschaft dieser Länder besteht der einzige Ausweg - nicht zur Wettbewerbsfähigkeit, sondern allein um den Kopf über Wasser zu halten -   in der Einführung von Mechanismen, die es ermöglichten, ihren Führern eine reale Verantwortlichkeit aufzuzwingen. Diese Mechanismen setzen eine "Liberalisierung" der Wirtschaft sowie die Schaffung eines wirklichen Binnenmarktes voraus, eine größere "Autonomie" der Unternehmen und die Entwicklung eines starken "privaten" Sektors. Dies ist übrigens das Programm der "Perestroika" wie auch das der Regierung Mazowieckis in Polen und Deng Xiaopings in China. Obgleich solch ein Programm immer unverzichtbarer wird, beinhaltet seine Umsetzung praktisch unüberwindbare Hindernisse.
Erstens setzt solch ein Programm die Einführung einer Politik der "ehrlichen Preispolitik" auf dem Markt voraus; was wiederum heißt, daß die üblichen und auch die wichtigsten Konsumgüter - die heute subventioniert sind - schwindelerregend teuer werden: die in Polen im August 1989 durchgeführten Preiserhöhungen von 500 Prozent lassen erahnen, was auf die Bevölkerung, insbesondere auf die Arbeiterklasse wartet. Die  vergangenen, aber auch die aktuellen Erfahrungen in Polen beweisen, daß eine solche Politik gewalttätige soziale Explosionen auslösen kann, die die Durchsetzung solch einer Politik gefährden.
Zweitens setzt dieses Programm die Schließung "unrentabler" Firmen (von denen es unzählige gibt) oder große Einschnitte in die Belegschaften voraus. Die Arbeitslosigkeit (die bisher eine Randerscheinung ist) wird massiv zunehmen, was eine neue Bedrohung für die gesellschaftliche Stabilität insofern darstellt, als die Vollbeschäftigung eine der wenigen Garantien war, über die die Arbeiter noch verfügten, und ein Mittel zur Kontrolle einer Arbeiterklasse bildete, die empört über ihre Lebensbedingungen sind. Mehr noch als in den westlichen Ländern kann die Massenarbeitslosigkeit durchaus soziale Sprengkraft erlangen.
Drittens stößt die "Autonomie" der Unternehmen auf den erbitterten Widerstand der gesamten Wirtschaftsbürokratie, deren offizieller Daseinsgrund die Planung, Organisation und Kontrolle der Aktivitäten des Produktionsapparates ist. Die erhebliche Ineffizienz, die sie bislang bewiesen hat, könnte einer gefährlichen Effizienz in der Sabotierung von "Reformen" Platz machen.

14. Schließlich wird das Auftreten einer Schicht von westlich geprägten "Managern", die in der Lage wären, das investierte Kapital profitbringend zu verwerten, neben der Staatsbourgeosie (die im politischen Machtapparat verankert sind) eine inakzeptable Konkurrenz für Letztere darstellen. Der prinzipiell parasitäre Charakter ihrer Existenz wird unweigerlich bloßgestellt werden, was wiederum nicht nur ihre Macht, sondern auch all ihre wirtschaftlichen Privilegien bedrohen würde. Was die Partei angeht, deren Daseinsgrund die Umsetzung und Leitung des "real existierenden Sozialismus" ist (der polnischen Verfassung zufolge ist die Partei die "Führungskraft der Gesellschaft bei dem Aufbau des Sozialismus"), so wird ihr ganzes Programm, ihre Identität selbst in Frage gestellt.
Das offenkundige Scheitern der "Perestroika" Gorbatschows, wie übrigens all der anderen früheren Reformen, die in die gleiche Richtung gingen, wirft ein besonders deutliches Schlaglicht auf diese Schwierigkeiten. Tatsächlich kann eine wirksame Umsetzung solcher "Reformen" nur zu einem offenen Konflikt zwischen den beiden Sektoren der Bourgeoisie führen, der Staatsbourgeoisie und der "liberalen" Bourgeoisie (obgleich Letztere aus einem Teil des Staatsapparates hervorgeht). Der brutale Abschluß dieses Konflikts, wie man ihn neulich in China erleben konnte, gibt uns eine Vorstellung von den Formen, die er in anderen Ländern mit stalinistischem Regime annehmen kann.

15. So wie es eine enge Verbindung zwischen der Form des Wirtschaftsapparates und der Struktur des politischen Apparates gibt, so schlägt sich die Reform des einen auch zwangsläufig auf den anderen nieder. Die Notwendigkeit einer "Liberalisierung" der Wirtschaft findet ihren Ausdruck im Auftauchen politischer Kräfte innerhalb oder außerhalb der Partei, die als Sprecher dieser Notwendigkeit auftreten. Dieses Phänomen wird starke Tendenzen zur Spaltung innerhalb der Partei (wie man erst neulich in Ungarn sehen konnte) sowie die Bildung von "unabhängigen" Parteigruppierungen auslösen, die sich mehr oder weniger explizit auf die Wiederherstellung klassischer Formen des Kapitalismus berufen, wie dies bei Solidarnosc (2) der Fall ist.
Eine solche Tendenz des Auftauchens etlicher politischer Gruppierungen mit unterschiedlichen Wirtschaftsprogrammen birgt in sich den Druck zugunsten einer gesetzlichen Anerkennung des "Mehrparteiensystems" und des "Vereinsrecht", "freier Wahlen", der "Pressefreiheit", kurzum:  der klassischen Merkmale der bürgerlichen Demokratie. Darüber hinaus kann eine gewisse Freiheit der Kritik, der "Aufruf an die Öffentlichkeit" ein Hebel sein, um die "konservativen" Bürokraten, die sich an ihrer Macht festklammern, "vom Sockel zu stürzen". Daher sind die "Reformer" auf wirtschaftlicher Ebene es auch auf politischer Ebene. Aus diesem Grund gehören "Perestroika" und "Glasnost" zusammen. Ferner kann heute die "Demokratisierung" und das Erscheinen von politischen "Oppositions"-Kräften unter bestimmten Bedingungen, wie in Polen 1980 und 1988 sowie in der UdSSR, eine Ablenkung und ein Mittel zur Kanalisierung angesichts des Ausbruchs der der Unzufriedenheit der Bevölkerung, inbesonders der Arbeiterklasse sein. Dieses letztgenannte Element bildet freilich ein zusätzliches Druckmittel zugunsten "politischer Reformen.

16. Doch so wie die "Wirtschaftsreform" eine praktisch unmögliche Aufgabe ist, so hat auch die politische Reform wenig Aussichten auf Erfolg. So stellt die tatsächliche Einführung des "Parteienpluralismus" und "freier Wahlen", die die logische Konsequenz eines "Demokratisierungsprozesses" sind, eine wahrhaftige Bedrohung für die an der Macht befindliche Partei dar. Wie man erst kürzlich in Polen und in einem gewissen Grad auch in der UdSSR gesehen hat, können solche Wahlen nur den völligen Mangel an Glaubwürdigkeit aufdecken, den großen Haß der Bevölkerung gegenüber der Partei. Es liegt also in der Logik solcher Wahlen, daß die Partei von ihnen nichts anderes als den Verlust ihrer Macht erwarten kann. Nun ist dies aber etwas, was die Partei im Gegensatz zu den "demokratischen" Parteien des Westens nicht hinnehmen will, weil:
- sie, wenn sie die Macht durch die Wahlen verlieren würde, diese im Gegensatz zu den anderen Parteien nie mittels der Wahlen zurückgewinnen könnte,
- der Verlust ihrer politischen Macht konkret die Enteignung der herrschenden Klasse bedeutet, da ihr Apparat die herrschende Klasse ist.
Während in den Länder mit einer "liberalen" oder "gemischten" Wirtschaft, in denen sich eine klassische Bourgeoisie, die direkte Besitzerin der Produktionsmittel, hält, der Wechsel der an der Macht befindlichen Parteien nur einen geringen Einfluß auf ihre Privilegien und ihre Stellung hat (es sei denn, eine stalinistische Partei übernimmt die Macht), bedeutet solch ein Ereignis in einem Ostblockland für die meisten der großen und kleinen Bürokraten den Verlust ihrer Privilegien, die Arbeitslosigkeit und selbst Verfolgungen seitens der Sieger. Die deutsche Bourgeoisie konnte mit dem Kaiser auskommen, mit der SPD an der Macht, mit den Konservativen, den totalitären Nazis, der "demokratischen" Bundesrepublik, ohne daß der Großteil ihrer Privilegien angetastet wurde. Dagegen würde ein Regimewechsel in der UDSSR das Verschwinden der Bourgeoisie in ihrer gegenwärtigen Gestalt wie auch der Partei bedeuten. Und während eine politische Partei Selbstmord begehen und ihre Auflösung verkünden kann, kann eine herrschende und privilegierte Klasse sich nicht selbst umbringen.

17. Deshalb können die Widerstände, die sich innerhalb des Apparates der stalinistischen Parteien in den osteuropäischen Ländern gegen die politischen Reformen regen, nicht auf die Furcht vor dem Verlust ihrer Jobs und Privilegien reduziert werden, von der die inkompetentesten Bürokraten erfaßt sind. Es ist die Partei als ein Körper, als soziales Ganzes und als herrschende Klasse, die so ihren Widerstand zum Ausdruck bringt.
Im übrigen bleibt, was wir bereits vor neun Jahren schrieben - „... jede Protestbewegung läuft Gefahr, die große Unzufriedenheit zu kristallisieren, die innerhalb eines Proletariats und einer Bevölkerung existiert, welche seit Jahrzehnten der gewalttätigsten Konterrevolution ausgesetzt waren“  -, auch heute gültig. In der Tat: wenn eines der Ziele der "demokratischen Reformen" es ist, als Sicherheitsventil für die enorme Wut zu dienen, die in der Bevölkerung herrscht, so bergen sie auch die Gefahr in sich, daß diese Wut sich in unkontrollierten Ausbrüchen Bahn bricht. Wenn die Unmutsbekundungen nicht sofort blutig niedergeschlagen und mit massiven Verhaftungswellen beantwortet werden, drohen sie sich immer offener und gewalttätiger  zu äußern. Und wenn der Druck im Kessel zu groß geworden ist, droht der Dampf, wenn er nicht mehr durch das Ventil entweichen kann, den Deckel zu sprengen.
In einem gewissen Grade sind die Streiks in der UdSSR vom Sommer 1989 eine Veranschaulichung dieses Phänomens. In einem anderen Kontext als der "Perestroika" hätte sich die Explosion des Kampfgeistes der Arbeiter nicht auf diese Art und so lange ausbreiten können. Das gleiche trifft auf die gegenwärtige Explosion von nationalistischen Bewegungen in diesem Land zu, die die Gefahr einer Politik der Demokratisierung verdeutlicht, welche die territoriale Integrität der zweitgrößten imperialistischen Weltmacht infrage stellt.

18. Da der praktisch einzige Faktor des Zusammenhalts des russischen Blocks die Armee ist, trägt in der Tat jede Politik, die diesen Faktor zurückdrängt, die Gefahr des Auseinanderbrechens des Blocks in sich. Schon jetzt bietet uns der Ostblock ein Bild des Zerfalls. So sind die gegenseitigen Beleidigungen zwischen der DDR und Ungarn, zwischen den "Reformern" und den "Konservativen" keineswegs nur Schall und Rauch. Sie spiegeln die reellen Diskrepanzen wider, die sich gerade zwischen den verschiedenen nationalen Bourgeoisien auftun. In dieser Region sind die zentrifugalen Tendenzen so stark, daß sie außer Kontrolle geraten, sobald sie die Gelegenheit haben. Und diese Gelegenheit wird heute genährt von der Furcht in den von den "Konservativen" angeführten Parteien, daß die Bewegung, die in der UdSSR begann und in Polen sowie in Ungarn weiter wuchs, sie kontaminieren und destabilisieren könnte.
Ein ähnliches Phänomen kann man in den Randrepubliken der UdSSR beobachten. Diese Regionen sind gewissermaßen Kolonien des zaristischen Rußlands oder gar des stalinistischen Rußlands (z.B. die nach dem deutsch-sowjetischen Pakt von 1939 annektierten baltischen Republiken). Aber im Gegensatz zu den anderen Großmächten hat Rußland nie eine Entkolonialisierung vollzogen, hätte es doch für Rußland den endgültigen Verlust seiner Kontrolle über diese Regionen bedeutet, von denen einige von großer wirtschaftlicher Bedeutung für die UdSSR sind. Die nationalistischen Bewegungen, die sich dort, begünstigt durch die Lockerung  der zentralen Kontrolle durch die russische Partei, heute entwickeln, mit einem halben Jahrhundert Verspätung im Vergleich den Bewegungen, die die englischen und französischen Imperien betroffen hatten - diese nationalistischen Bewegungen gehen einher mit einer Dynamik der Loslösung von Rußland.
Letztlich werden wir, wenn die Zentralmacht in Moskau nicht reagiert, nicht nur die Explosion des russischen Blocks erleben, sondern auch die Explosion seiner Vormacht. In einer solchen Dynamik würde die russische Bourgeoisie, die heute noch die zweitgrößte Weltmacht stellt, nur noch eine zweitrangige Stellung einnehmen, weitaus schwächer als Deutschland beispielsweise.

19. So hat die "Perestroika" wahrlich die Büchse der Pandora geöffnet, indem sie zunehmend unkontrollierbaren Situationen schafft, wie jene zum Beispiel, die in Polen mit der Bildung einer von Solidarnosc angeführten Regierung gerade eingeleitet wird. Die "zentristische" Politik Gorbatschows (wie Jelzin sie bezeichnet) ist in Wirklichkeit eine Gratwanderung, die Aufrechterhaltung eines instabilen Gleichgewichts zwischen zwei Tendenzen, deren Zusammenstoß unvermeidbar ist: der Tendenz, die die "Liberalisierung" konsequent zu Ende führen will, weil halbherzige Maßnahmen auf wirtschaftlicher und politischer Ebene nichts lösen, und der Tendenz, die dieser Bewegung entgegentritt aus Furcht, daß dies den Sturz der aktuellen Form der Bourgeoisie und gar der imperialistischen Macht Rußlands auslöst.
Da die herrschende Bourgeoisie gegenwärtig noch über die Kontrolle der Polizeikräfte und des Militärs verfügt (selbstverständlich auch in Polen), kann diese Konfrontation nur zu gewalttätigen Zusammenstößen führen, gar zu Blutbädern, wie jenes, das man in China erleben konnte. Und solche Zusammenstöße werden umso brutaler sein, weil sich in der UdSSR seit mehr als 50 Jahren und in den "Satelliten" seit mehr als 40 Jahren ein ungeheurer Haß in der Bevölkerung gegen die stalinistische Kamarilla angestaut hat, die zum Synonym für Terror, Massaker, Folter, Hungersnot und eine ungeheure zynische Arroganz geworden ist. Wenn die stalinistische Bürokratie in den Ländern, die sie bislang kontrolliert, die Macht verlieren sollte, würde sie zum Opfer wahrer Pogrome werden.

20. Aber unabhängig von der zukünftigen Entwicklung der Lage in den osteuropäischen Ländern bedeuten die gegenwärtigen Ereignisse die historische Krise, den endgültigen Zusammenbruch des Stalinismus, diesem monströsen Symbol der schlimmsten Konterrevolution, die das Proletariat je erlebt hat.
Diese Länder sind in einen Zeitraum beispielloser Instabilität, Erschütterungen und des Chaos eingetreten, deren Auswirkungen weit über ihre eigenen Grenzen hinaus wirken. Insbesondere wird der Zusammenbruch des russischen Blocks die Tür zu einer Destabilisierung des Systems der internationalen Beziehungen, der imperialistischen Konstellationen öffnen, wie sie aus dem Zweiten Weltkrieg nach dem Abkommen von Jalta hervorgegangen waren. Das heißt jedoch nicht, daß damit der historische Kurs zu Klassenkonfrontationen in irgendeine Weise infrage gestellt wird. In Wirklichkeit bildet der gegenwärtige Zusammenbruch des Ostblocks eine der Manifestationen des allgemeinen Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft, deren Ursprung gerade in dem Unvermögen der Bourgeoisie liegt, ihre eigenen Antwort auf die offene Weltwirtschaftskrise, den Weltkrieg, zu geben. In diesem Sinn  liegt mehr denn je der Schlüssel zu einer historischen Perspektive in den Händen des Proletariats.

21. Die gegenwärtigen Ereignisse in den Ostblockländern bestätigen erneut, daß diese Verantwortung des Weltproletariats hauptsächlich auf den Bataillonen der zentralen Länder und insbesondere Westeuropas lastet. Allerdings gibt es vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und politischen Erschütterungen, des Zusammenpralls zwischen Sektoren der Bourgeoisie, die auf die stalinistischen Regimes warten, die Gefahr, daß die Arbeiter dieser Länder sich von der einen oder anderen kapitalistischen Kraft einspannen und gar massakrieren lassen (wie dies 1936 in Spanien der Fall gewesen war), oder auch daß ihre Kämpfe auf ein solches Terrain umgelenkt werden. Trotz ihres massenhaften Charakters und ihres Kampfgeistes haben die Arbeiterkämpfe im Sommer 1989 in der UdSSR nicht den enormen politischen Rückstand wettgemacht, der auf dem Proletariat dieser Länder und des von ihr beherrschten Blocks lastet. Aufgrund der wirtschaftlichen Rückständigkeit des Kapitals selbst, aber auch und vor allem wegen der Gründlichkeit und Brutalität der Konterrevolution, die in diesem Teil der Welt stattgefunden hat, sind die Arbeiter noch besonders empfänglich für die Mystifikationen sowie für die demokratischen, gewerkschaftlichen und nationalistischen Fallen. So bilden die nationalistischen Explosionen der letzten Monate in der UdSSR, aber auch die Illusionen, die die jüngsten Kämpfe offenbarten, sowie das schwache Niveau des politischen Bewußtseins der Arbeiter in Polen ungeachtet der Bedeutung der Kämpfe, die dort seit 20 Jahren stattgefunden haben, eine weitere Veranschaulichung der Analyse der IKS über diese Frage (die Ablehnung der Theorie des "schwächsten Glieds"). In diesem Sinn wird die Bloßstellung der demokratischen und gewerkschaftlichen Mystifikationen durch den Kampf der Arbeiter im Westen besonders wegen des Ausmaßes der Illusionen, die die Arbeiter der osteuropäischen Ländern über den Westen haben, ein fundamentales Element in der Fähigkeit Letzterer bilden, um die Fallen zu umgehen, die die Bourgeoisie nicht versäumt hat aufzustellen, und sich nicht vom eigenen Klassenterain ablenken zu lassen.

22. Die Ereignisse, die heute die "sozialistischen" Länder erschüttern, die faktische Auflösung des russischen Blocks, das offensichtliche und endgültige Scheitern des Stalinismus auf ökonomischer, politischer und ideologischer Ebene stellen neben dem internationalen Wiederauftauchen des Proletariats Ende der 60er Jahre das bedeutendste historische Ereignis seit dem Zweiten Weltkrieg dar. Ein Ereignis von solcher Reichweite wird Auswirkungen auf das Bewußtsein der Arbeiter haben und hat bereits damit begonnen. Dies trifft umso mehr zu, als es sich um eine Ideologie und ein politisches System handelte, deren Repräsentanten seit mehr als einem halben Jahrhundert von allen Teilen der Bourgeoisie als "Sozialisten" und "Arbeiter" präsentiert wurden. Mit dem Stalinismus verschwindet auch das Symbol und die Speerspitze der schlimmsten Konterrevolution der Geschichte. Aber das heißt nicht, daß die Entwicklung des Bewußtseins des Weltproletariats dadurch erleichtert würde. Im Gegenteil, selbst in seinem Ableben erweist der Stalinismus der kapitalistischen Herrschaft noch einen letzten Dienst: auch in seinem Zerfall vergiftet sein Kadaver die Luft, die das Proletariat einatmet. Für die herrschenden Sektoren der Bourgeoisie bieten der Zusammenbruch der stalinistischen Ideologie und die "demokratischen","liberalen" und nationalistischen Bewegungen, die zur Zeit die osteuropäischen Länder erschüttern, eine Gelegenheit, um ihre irreführenden Kampagnen zu entfachen und noch zu intensivieren. Die systematische Gleichsetzung des Kommunismus mit dem Stalinismus, die tausendmal wiederholte und auch noch heute verbreitete Lüge, derzufolge die proletarische Revolution nur scheitern kann, wird nach dem Zusammenbruch des Stalinismus noch eine ganze Zeitlang ihre Spuren in den Rängen der Arbeiterklasse hinterlassen. Wir müssen daher mit einem zeitweiligen Rückgang im Bewußtsein  der Arbeiterklasse rechnen, dessen Manifestationen - besonders mit dem Comeback der Gewerkschaften - sich schon jetzt bemerkbar machen. Obgleich der Kapitalismus pausenlos und immer brutaler das Proletariat angreift und es damit zum Kampf zwingen wird, darf man in naher Zukunft nicht mit einer größeren Fähigkeit der Klasse rechnen, ihr Bewußtsein voranzutreiben. Insbesondere die reformistische Ideologie wird sehr stark auf den Kämpfen in der kommenden Periode lasten, wodurch die Aktionen der Gewerkschaften begünstigt werden.
In Anbetracht der historischen Bedeutung der Faktoren, die es determinieren, wird der gegenwärtige Rückzug des Proletariats - ungeachtet der Tatsache, daß er den historischen Kurs, die allgemeine Perspektive der Klassenkonfrontationen, nicht infragestellt - tiefgehender sein als der Rückzug, der 1981 mit der Niederlage in Polen einhergegangen war. Trotz allem kann man heute noch nicht seinen reellen Umfang und seine Dauer voraussehen. Insbesondere wird das Tempo des Zusammenbruchs des westlichen Kapitalismus - das gegenwärtig eine Beschleunigung mit der Perspektive einer neuen offenen Rezession erfährt - ein entscheidender Faktor in dem Moment sein, wenn das Proletariat seinen Marsch zu einem revolutionären Bewußtsein wiederaufnimmt. Indem es die Illusionen über die "Wiederbelebung" der Weltwirtschaft aus dem Weg räumt, indem es die Lügen bloßstellt, die den "liberalen" Kapitalismus als eine Lösung auf die Niederlage des sogenannten "Sozialismus" präsentieren, und indem es das historische Scheitern der gesamten kapitalistischen Produktionsweise, und nicht nur seines stalinistischen Alter ego, enthüllt,  wird die Zuspitzung der kapitalistischen Krise das Proletariat letztendlich, dazu drängen, sich erneut der Perspektive einer anderen Gesellschaft zuzuwenden und zunehmend seine Kämpfe dieser Perspektive zu verschreiben. Wie die IKS bereits nach der Niederlage in Polen 1981 geschrieben hatte, bleibt die kapitalistische Krise der Hauptverbündete der Arbeiterklasse.

IKS

5.Oktober 1989

(Erstveröffentlichung in Internationale Revue Nr. 12)
Quell-URL: https://de.internationalism.org/thesenosteuropa [1]

Geographisch: 

  • Russland, Kaukasus, Zentralasien [3]

Theorie und Praxis: 

  • Der Ostblock [4]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Stalinismus [5]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1980 - Massenstreik in Polen [6]

Historische Ereignisse: 

  • Zusammenbruch des Ostblocks [7]

Theoretische Fragen: 

  • Kommunismus [8]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Stalinismus, der Ostblock [9]

Kollaps des Stalinismus: Die Arbeiterklasse vor einer schwierigeren Lage

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Der Stalinismus war die Speerspitze der schlimmsten Konterrevolution, die die Arbeiterklasse während ihrer bisherigen Geschichte jemals hinnehmen mußte. Diese Konterrevolution machte insbesondere das größte Abschlachten aller Zeiten, den Zweiten Weltkrieg, und das Versinken der Gesellschaft in einer bis dahin nie in diesem Ausmaß gekannten Barbarei möglich. Nach dem wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch der sog. "sozialistischen" Länder, der faktischen Auflösung des von der UdSSR beherrschten imperialistischen Blocks liegt jetzt der Stalinismus selbst als politisch-ökonomische Organisationsform des Kapitals und als Ideologie im Sterben. Einer der größten Feinde der Arbeiterklasse verschwindet. Aber die Auflösung dieses Feindes macht das Leben der Arbeiterklasse und deren Aufgabe nicht leichter. Im Gegenteil: selbst während er im Sterben liegt, erweist der Stalinismus dem Kapitalismus noch einen letzten Dienst. Dies wollen wir anhand dieses Artikels aufzeigen.
In der ganzen Menschheitsgeschichte stellt der Stalinismus sicherlich die tragischste und verabscheuungswürdigste Erscheinung dar, die je existiert hat. Dies nicht nur, weil er die direkte Verantwortung für das Massaker an Dutzenden von Millionen von Menschen trägt, weil er jahrzehntelang einen erbarmungslosen Terror gegenüber nahezu einem Drittel der Menschheit ausgeübt hat, sondern auch und vor allem, weil er sich als der schlimmste Feind der kommunistischen Revolution erwiesen hat, d.h. der Voraussetzung für die Befreiung der menschlichen Art von den Ketten der Ausbeutung und der Unterdrückung im Namen genau dieser kommunistischen Revolution. Somit trägt er die Hauptschuld für die Zerstörung des Bewußtseins in der Weltarbeiterklasse während der schlimmsten Zeit der Konterrevolution in der Geschichte der Arbeiterklasse.


Die Rolle des Stalinismus in der Konterrevolution

Seit der Etablierung ihrer politischen Herrschaft über die Gesellschaft hat die Bourgeoisie im Proletariat stets ihren ärgsten Feind gesehen. Beispielsweise hat die kapitalistische Klasse im Verlauf der bürgerlichen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts, deren 200. Jahrestag gerade mit viel Pomp begangen wurde, sogleich den subversiven Charakter der Ideen eines Babeufs erkannt. Daher hat sie ihn auf das Schafott geschickt, obgleich seine Bewegung damals noch keine wirkliche Bedrohung für den kapitalistischen Staat (1) bilden konnte. Die ganze Geschichte der bürgerlichen Vorherrschaft ist durch fortwährende Massker an Arbeitern gekennzeichnet, mit dem Ziel, diese Vorherrschaft zu beschützen: Massaker an den Lyoner Seidenarbeitern 1831, der schlesischen Weber 1844, den Pariser Arbeitern im Juni 1848, den Kommunarden 1871, den Aufständischen 1905 im gesamten russischen Reich. Die Bourgeoisie war stets in der Lage, Handlanger in ihren politischen Formationen für diese Art von Arbeit zu finden. Aber als die proletarische Revolution auf der Tagesordnung der Geschichte stand, begnügte sie sich nicht mehr damit, an ihre Truppen zu appellieren, um ihre Macht zu schützen. Sie hat auf verräterische Parteien zurückgegriffen, auf Organisationen, die die Arbeiterklasse zuvor selbst in die Welt gesetzt hatte und die es übernommen haben, den traditionellen bürgerlichen Parteien unter die Arme zu greifen oder gar selbst an die Spitze der bürgerlichen Macht zu treten. Die besondere Rolle dieser neuen Rekruten der Bourgeoisie, ihre unverzichtbare und unersetzliche Funktion bestand in ihrer Fähigkeit, aufgrund ihrer Herkunft und ihres Rufs eine ideologische Kontrolle über die Arbeiterklasse auszuüben, um deren Bewußtwerdung zu untergraben und sie auf dem Terrain des Klassenfeindes zu mobilisieren. So bestand das besondere Verdienst der Sozialdemokratie als bürgerliche Partei, ihr größter Volltreffer nicht so sehr darin, direkt für das Massaker an den Arbeitern im Januar 1919 in Berlin verantwortlich zu sein (wo der Verteidigungsminister, der Sozialdemokrat Noske, seiner Verantwortung als "Bluthund", wie er sich selbst bezeichnete, vollauf gerecht wurde), sondern vielmehr in dem Part, den sie als Rekrutierungsoffizier des Ersten Weltkrieges und schließlich, angesichts der revolutionären Welle, die dem imperialistischen Holocaust ein Ende bereitete und ihm folgte, als treibende Kraft hinter den Mystifikationen der Arbeiterklasse, hinter der Spaltung und Zersplitterung ihrer Kräfte gespielt hatte. Tatsächlich hat erst der Verrat des opportunistischen Flügels, der die meisten Parteien der II. Internationale dominierte, sein Wechsel mit Sack und Pack ins Lager der Bourgeoisie die Mobilisierung der europäischen Arbeiterklasse im Namen der „Verteidigung der Zivilisation", der „nationalen Verteidigung", und die Entfesselung dieses Gemetzels erst möglich gemacht. Auch die Politik dieser Parteien, die sich weiterhin als "Sozialisten" ausgaben und deshalb noch über einen großen Einfluß innerhalb des Proletariats verfügten, hat eine wesentliche Rolle bei der Aufrechterhaltung der demokratischen und reformistischen Illusionen in den Reihen des Proletariats gespielt, die es schließlich entwaffnet und unmöglich gemacht haben, dem Beispiel der Arbeiter in Rußland im Oktober 1917 zu folgen.
Im Verlaufe dieser Periode hatten sich die Elemente und Fraktionen, die sich gegen diesen Verrat aufgelehnt und gegen heftigsten Widerstand die Fahne des Internationalismus und der proletarischen Revolution hochgehalten hatten, innerhalb der kommunistischen Parteien, den Sektionen der 3. Internationalen, zusammengeschlossen. Aber dieselben Parteien sollten in der folgenden Zeit eine ähnliche Rolle spielen wie die sozialistischen Parteien. Zermürbt vom Opportunismus, dem das Scheitern der Weltrevolution großzügig die Türen geöffnet hatte, wandelten sich treue Mitwirkende unter der Leitung einer "Internationalen", die zuvor diese Revolution tatkräftig angekurbelt hatte, immer mehr in schlichte Werkzeuge der Diplomatie des russischen Staates in seinem Streben nach Integration in die bürgerliche Welt um, folgten die kommunistischen Parteien denselben Weg wie ihre Vorgänger. So wie die sozialistischen Parteien wurden auch sie letztendlich vollständig in den politischen Apparat des nationalen Kapitals ihres jeweiligen Landes integriert. Doch nebenbei beteiligten sie sich an der Niederschlagung des letzten Aufbäumens der revolutionären Welle nach dem Krieg, wie in China 1927-28, und vor allem leisteten sie einen entscheidenden Beitrag zur Umwandlung der Niederlage der Weltrevolution in eine fürchterliche Konterrevolution.
Tatsächlich waren nach dieser Niederlage die Konterrevolution, die Demoralisierung und die Verstörtheit des Proletariats unvermeidbar. Doch die Form, die diese Konterrevolution in der UdSSR selbst annahm - es kam nicht zum Umsturz der Macht, die im Oktober 1917 entstanden war, sondern zu einer Degeneration dieser Macht und der Partei, die sie in den Händen hielt - verlieh ihr  eine unvergleichliche Dimension und Tiefe, die viel bedeutender waren, als wenn die Revolution unter den Schlägen der Weißen Armeen zusammengebrochen wäre. Die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU), die zuvor die unumstrittene Avantgarde des Weltproletariats in der Revolution von 1917 als auch bei der Gründung der Kommunistischen Internationale von 1919 gewesen war, hat sich nach ihrer Eingliederung in den post-revolutionären Staat und den damit entstehenden Konfusionen in einen Hauptagenten der Konterrevolution in der UdSSR verwandelt.(2) Doch dank des Nimbus ihrer vergangenen Großtaten weckte sie auch weiterhin Illusionen in der Mehrheit der anderen kommunistischen Parteien und ihrer Mitglieder wie auch in den großen Massen des Weltproletariats. Aufgrund dieses Prestiges, von dem die kommunistischen Parteien der anderen Länder einen Teil für sich vereinnahmten, wurde der ganze Verrat, der vom Stalinismus damals begangen wurde,  von diesen Militanten und Massen toleriert. Insbesondere haben die Preisgabe des proletarischen Internationalismus unter dem Deckmantel des „Aufbaus des Sozialismus in einem einzigen Land", die Identifizierung des „Sozialismus" mit dem Kapitalismus, der sich in der UdSSR in seinen barbarischsten Formen gebildet hatte, die Unterordnung der Kämpfe des Weltproletariats unter die Bedürfnisse der Verteidigung des „sozialistischen Vaterlands" und schließlich die Verteidigung der Demokratie gegen den Faschismus - haben all diese Lügen und Mystifikationen zum großen Teil das Vertrauen der Arbeitermassen mißbraucht, weil diese Lügen von den Parteien vermittelt wurden, die sich weiterhin als die "legitimen" Erben der Oktoberrevolution präsentierten, obgleich sie deren Mörder waren. Diese Lüge - die Identifikation des Stalinismus mit dem Kommunismus - ist wahrscheinlich die größte Lüge in der Geschichte und auf jeden Fall die widerlichste, wozu alle Sektoren der Weltbourgeoisie ihren Scherflein beigetragen haben (3). Sie hat es ermöglicht, daß die Konterrevolution das bekannte Ausmaß annahm und mehrere Generationen von Arbeitern lähmte sowie dem zweiten imperialistischen Gemetzel auslieferte, wodurch auch die kommunistischen Fraktionen, die gegen den Niedergang der Kommunistischen Internationalen und ihrer Parteien gekämpft hatten, eliminiert oder auf den Stand kleiner, vollständig isolierter Kerne reduziert wurden.
Besonders in den 30er Jahren übernahmen die stalinistischen Parteien einen Großteil der Arbeit, die darin bestand, die Wut und den Kampfgeist der von der Weltwirtschaftskrise betroffenen Arbeiter auf ein bürgerliches Terrain zu lenken. Diese Krise war mit ihrem Ausmaß und ihrer Intensität das unleugbare Zeichen für das historische Scheitern der kapitalistischen Produktionsweise und hätte als solche unter anderen Bedingungen der Hebel für eine neue revolutionäre Welle sein können. Aber die Mehrheit der Arbeiter, die sich einer solchen Perspektive zugewandt hätten, ist in den Fallen des Stalinismus, der vorgab, die Tradition der Weltrevolution zu repräsentieren, gefangen geblieben. Im Namen der Verteidigung des „sozialistischen Vaterlandes" und des Antifaschismus haben die stalinistischen Parteien systematisch die damaligen proletarischen Kämpfe jeglichen Inhalts entleert und sie in eine Unterstützung für die bürgerliche Demokratie umgewandelt, wenn sie nicht gar direkt den Vorbereitungen für den imperialistischen Krieg dienten. Dies war besonders in den Episoden der „Volksfront" in Frankreich und Spanien der Fall, wo der große Kampfgeist der Arbeiter durch den Antifaschismus, der "proletarisch" zu sein vorgab und hauptsächlich von den Stalinisten verbreitet wurde, auf Abwege geleitet und ausgelöscht wurde. Hier haben die stalinistischen Parteien bewiesen, daß sie auch außerhalb der Sowjetunion, wo sie seit Jahren schon die Rolle des Henkers spielten, mit ihrem sozialdemokratischen Meister als Mörder des Proletariats gleichzogen und ihn gar übertrafen (siehe insbesondere ihre Rolle bei der Niederschlagung des Aufstands des Proletariats von Barcelona im Mai 1937, in: „Blei, Maschinengewehre, Gefängnis..." in der INTERNATIONALEN REVUE Nr. 7, engl., franz., span. Ausgabe). In der Zahl der Opfer, für die er weltweit direkt verantwortlich ist, kommt der Stalinismus am Faschismus heran, dieser anderen Manifestation der Konterrevolution. Doch seine anti-proletarische Rolle war bei weitem noch größer gewesen, weil er diese Verbrechen im Namen der kommunistischen Revolution und des Proletariats beging, was in Letzterem einen Rückgang im Klassenbewußtsein ohnegleichen in der Geschichte auslöste.
Während am Ende des ersten imperialistischen Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegsperiode, als sich die Welle der Weltrevolution ausbreitete, der Einfluß der kommunistischen Parteien in direkter Proportion zur Kampfbereitschaft und vor allem zum Bewußtsein der gesamten Arbeiterklasse stand, verläuft die Entwicklung ihres Einflusses seit den 1930er Jahren umgekehrt proportional zum Bewußtsein der Klasse. Zur Zeit ihrer Gründung war es die Stärke der kommunistischen Parteien gewesen, in gewisser Hinsicht ein Gradmesser für die Macht der Revolution zu sein. Aber nachdem sie vom Stalinismus an die Bourgeoisie verkauft worden waren, spiegelte die Stärke der Parteien, die sich weiterhin "kommunistisch" nannten, nur das Ausmaß der Konterrevolution wider.
Aus diesem Grunde war der Stalinismus nie so stark wie direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Periode bildete auch den Höhepunkt der Konterrevolution. Insbesondere mit Hilfe der stalinistischen Parteien, derer die Bourgeoisie benötigte, um ein neues imperialistisches Gemetzel zu ermöglichen, und die die besten Rekruteure der Befreiungsbewegungen waren, führte dieses Gemetzel im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg nicht zu einer neuen revolutionären Bewegung des Proletariats. Die Besetzung eines Großteils Europas durch die "Rote Armee" (4) einerseits sowie die Beteiligung stalinistischer Parteien an Regierungen der "Befreiung" andererseits haben jegliche kämpferische Bestrebungen des Proletariats auf seinem eigenen Terrain durch den Terror oder die Mystifikationen zum Schweigen gebracht und in einen Zustand der Verwirrung gestürzt, die noch größer war als am Vorabend des Krieges. Weit entfernt davon, den Boden für die Arbeiterklasse zu bereiten (wie die Trotzkisten vorgaben, um ihre Beteiligung an der "Résistance" zu rechtfertigen), trieb der Sieg der Alliierten, zu dem der Stalinismus in großem Maße beigetragen hat, sie noch tiefer in die absolute Unterwerfung unter die bürgerliche Ideologie. Dieser Sieg, der als der Triumph der "Demokratie" und der "Zivilisation" über die faschistische Barbarei dargestellt wurde, gestattete es der Bourgeoisie, dem Image der demokratischen Illusionen und des Glaubens an einen "humanen" und "zilisierten" Kapitalismus neuen Glanz zu verleihen. So wurde die Nacht der Konterrevolution um Jahrzehnte verlängert.
Es ist übrigens keinesfalls Zufall, daß das Ende dieser Konterrevolution und die historische Wiederbelebung der Kämpfe der Klasse ab 1968 mit einer bedeutsamen Abschwächung des Einflusses des Stalinismus, des Gewichts der Illusionen über den Charakter der UDSSR und der antifaschistischen Mystifikationen im Weltproletariat in seiner Gesamtheit zusammenfällt. Dies wurde besonders in den beiden westlichen Ländern deutlich, wo die stärksten "kommunistischen" Parteien existierten und wo die wichtigsten Kämpfe dieser Wiederbelebung stattfanden: in Frankreich 1968 und in Italien 1969.


Wie die Bourgeoisie aus dem Zusammenbruch des Stalinismus Kapital schlägt

Diese Abschwächung des ideologischen Einflusses des Stalinismus auf die Arbeiterklasse resultiert zu einem Gutteil aus der Erkenntnis der Arbeiter, was wirklich hinter den Ländern steckt, die sich "sozialistisch" nennen. In den vom Stalinismus beherrschten Ländern haben die Arbeiter schnell feststellen können, daß der Stalinismus zu ihren schlimmsten Feinden zählt. Die Arbeiteraufstände in Ostdeutschland 1953, in Polen und in Ungarn 1956 und ihre blutige Niederschlagung haben den Beweis erbracht, daß die Arbeiter in diesen Ländern keine Illusionen über den Stalinismus hatten. Diese Ereignisse (wie auch die bewaffnete Intervention des Warschauer Paktes in der CSSR 1968) haben auch einer gewissen Anzahl von Arbeitern im Westen die Augen über den Charakter des Stalinismus geöffnet, aber noch nicht so stark wie die Arbeiterkämpfe von 1970, 1976 und 1980 in Polen.(5)
Ein anderes Element, das zum Verschleiß der stalinistischen Mystifikationen beigetragen hat, ist die Offenbarung des Scheiterns der "sozialistischen" Ökonomie durch diese Arbeiterkämpfe. Doch in dem Maße wie dieses Scheitern offenbar wurde und sich die stalinistischen Mystifikationen abschwächten, nutzte die westliche Bourgeoisie dies aus, um ihre Kampagnen über die "Überlegenheit des Kapitalismus über den Sozialismus" zu verbreiten. Auch die demokratischen und gewerkschaftlichen Illusionen, denen die Arbeiter Polens mit voller Wucht ausgesetzt waren, wurden besonders seit der Gründung der Gewerkschaft "Solidarnosc" 1980 weidlich ausgeschlachtet, um ihr Image unter den Arbeitern des Westens aufzuwerten. Vor allem die Stärkung dieser Illusionen, die durch die Repression vom Dezember 1981 und die Illegalisierung von "Solidarnosc" noch größer wurden, erlaubt es, die Konfusionen und den Rückzug der Arbeiterklasse Anfang der 1980er Jahre zu begreifen.
Das Wiederaufkommen einer neuen Welle massiver Kämpfe seit dem Herbst 1983 in den meisten entwickelten Industrieländern und insbesondere in Westeuropa, die Gleichzeitigkeit  dieser Kämpfe auf internationaler Ebene bewiesen, daß die Arbeiterklasse dabei war, sich von dem Gewicht der Illusionen und der Mystifikationen zu befreien, die sie in der vorhergehenden Phase gelähmt hatten. Insbesondere das Übergehen und gar die Ablehnung der Gewerkschaften, die vor allem im Eisenbahnerstreik in Frankreich Ende 1986 und in den Streiks im Erziehungswesen in Italien 1987 deutlich geworden waren, die Errichtung von Eingrenzungsstrukturen durch die Linken in diesen und einigen anderen Ländern, die sich als "nicht-gewerkschaftlich", als "Koordinationen" präsentierten, spiegelten ebenfalls die Schwächung gewerkschaftlicher Mystifikationen wider. Damit einher ging eine Schwächung der parlamentarischen Mystifikationen, die durch die Steigerung der Wahlverweigerung insbesondere in den Arbeitervierteln offensichtlich wurde. Aber heute ist es der Bourgeoisie dank des Zusammenbruchs der stalinistischen Regimes und der damit ausgelösten Medienkampagnen gelungen, diese Tendenz wieder umzukehren, die sich Mitte der 80er Jahre manifestiert hatte.
Wenn schon die Ereignisse in Polen 1980/81 - nicht die Arbeiterkämpfe natürlich, sondern die gewerkschaftlichen und demokratischen Fallen, die sich über sie schlossen (und die Repression, zu der diese Fallen führten) - den Herrschenden ermöglicht hatten, innerhalb des Proletariats der fortgeschritteneren Länder eine beträchtliche Desorientierung hervorzurufen, so kann der allgemeine und historische Untergang des Stalinismus, der sich heute abspielt, nur zu noch größeren Konfusionen führen.
Die heutigen Ereignisse spielen sich auf einer ganz anderen Ebene ab als die von Polen 1980. Hier steht nicht ein einziges Land im Mittelpunkt. Alle Länder eines imperialistischen Blocks sind heute betroffen, angefangen mit dem wichtigsten unter ihnen, der UdSSR. Die stalinistische Propaganda konnte die Kalamitäten des Regimes in Polen als das Ergebnis der "Fehler" Giereks darstellen. Heute denkt niemand, auch nicht die neuen Führer Polens, daran, die Verantwortung für die Schwierigkeiten ihres Regimes auf die Politik der Führer der letzten Jahre zurückzuführen. Laut vielen dieser Führer, insbesondere der ungarischen, sind die ökonomischen Strukturen und die politische Praxis, die die stalinistischen Regimes seit ihrer Geburt kennzeichen, irrsinnig. Solch ein Eingeständnis des Scheiterns durch diese Führer ist natürlich Wasser auf die Mühlen der Medienkampagnen der westlichen Bourgeoisie.
Der zweite Grund, weshalb die Bourgeoisie in der Lage ist, den Kollaps des Stalinismus und des von ihm beherrschten Blocks so wirksam auszunutzen, liegt in der Tatsache begründet, daß dieser Kollaps nicht das Ergebnis des Klassenkampfes, sondern eines völligen Scheiterns der Ökonomie dieser Länder ist.  Das Proletariat war in diesen grundlegenden Ereignissen, die zur Zeit in den osteuropäischen Ländern stattfindet, als Klasse, als Träger einer dem Kapitalismus entgegengesetzten Politik auf schmerzvolle Weise nicht anwesend. Insbesondere sind die Arbeiterstreiks, die im letzten Sommer in den Bergwerken der UdSSR stattgefunden haben, eher eine Ausnahme und enthüllen mit dem Gewicht der Mystifikationen, das auf sie drückt, die politische Schwäche des Proletariats dieser Länder. Sie waren hauptsächlich eine Folge des Zusammenbruchs des Stalinismus und kein aktiver Faktor in diesem Zusammenbruch. Im übrigen ging es bei den meisten Streiks, die in der letzten Zeit in der UdSSR stattgefunden haben, im Gegensatz zu den Bergarbeiterstreiks nicht um die Verteidigung von Arbeiterinteressen; sie fanden vielmehr auf einem nationalistischen  und damit bürgerlichen Terrain statt (baltische Republiken, Armenien, Aserbaidschan usw.). Auch in den zahllosen Massendemonstrationen, die zur Zeit die Länder Osteuropas, insbesondere die DDR, CSSR und Bulgarien, erschüttern und einige Regierungen zwingen, Säuberungen vorzunehmen, ist nicht einmal der Ansatz auch nur einer einzigen Arbeiterforderung zu sehen. Diese Demonstrationen sind vollständig von typisch und ausschließlich bürgerlichen, demokratischen Forderungen geprägt: „freie Wahlen", "Freiheit", "Rücktritt der KPs von der Macht" usw. Während die Auswirkungen der demokratischen Kampagnen, die während der Ereignisse in Polen 1980-81 stattfanden, etwas durch die Tatsache begrenzt wurden, daß diese Ereignisse ihren Ursprung im Klassenkampf hatten, kann die Abwesenheit eines signifikanten Klassenkampfes in den osteuropäischen Ländern nur die zerstörerischen Auswirkungen der gegenwärtigen Kampagnen der Bourgeoisie verstärken.
Auf einer allgemeineren Ebene, nämlich vor dem Hintergrund des  Zusammenbruchs eines ganzen imperialistischen Blocks, dessen Auswirkungen gewaltig sind, kann die Tatsache, daß dieses bedeutsame geschichtliche Ereignis unabhängig von der Arbeiterklasse stattgefunden hat, nur das Gefühl der Hilf- und Machtlosigkeit innerhalb der Arbeiterklasse verstärken, auch wenn, wie die in dieser Ausgabe veröffentlichten Thesen zeigen,  dieses Ereignis nur geschehen konnte aufgrund des Unvermögens der Bourgeoisie bis heute, die Arbeiterklasse für einen imperialistischen Holocaust zu mobilisieren. Es war der Klassenkampf, der 1917 den Zarismus und dann die Bourgeoisie in Rußland stürzte, danach dem Ersten Weltkrieg ein Ende bereitete und den Untergang des deutschen Kaiserreiches auslöste. Hauptsächlich aus diesem Grund konnte sich auf Weltebene die erste revolutionäre Welle ausbreiten. Demgegenüber bewirkte die Tatsache, daß der Klassenkampf nur ein zweitrangiger Faktor beim Zusammenbruch der "Achsenmächte" und bei der Beendigung des Zweiten Weltkriegs gewesen war, Lähmung und Konfusion in den Reihen des Proletariats nach Kriegsende. Heute, wo der Ostblock unter den Schlägen der Wirtschaftskrise zusammengebrochen ist und nicht unter den Schlägen des Klassenkampfes, verhält es sich nicht anders. Wenn sich die zweite Alternative durchgesetzt hätte, so hätte dies das Selbstvertrauen des Proletariats gestärkt und nicht - wie es heute der Fall ist - geschwächt. Weil der Zusammenbruch des Ostblocks einer Periode des "Kalten Krieges" mit dem westlichen Block folgte, an dessem Ende der Westen als kampfloser "Sieger" dieses "Krieges" erscheint, wird dies darüberhinaus in der Bevölkerung der westlichen Ländern und auch unter den Arbeitern ein Gefühl der Euphorie und des Vertrauens gegenüber ihren Regierungen auslösen, das (auch wenn in einem geringeren Umfang) den Gefühlen der Arbeiter in den Siegerländern nach den beiden Weltkriegen ähnelt, die eine der Ursachen für das Scheitern der revolutionären Welle nach dem Ersten Weltkrieg waren.
Solch eine für das Bewußtsein der Arbeiterklasse katastrophale Euphorie wird natürlich viel begrenzter sein aufgrund der Tatsache, daß die Welt heute nicht aus einem imperialistischen Gemetzel hervorgegangen ist. Jedoch werden die unheilvollen Konsequenzen aus der gegenwärtigen Lage noch durch die Euphorie der Bevölkerung in einer gewissen Anzahl von osteuropäischen Länder verstärkt, die auch auf den Westen ihre Auswirkungen haben werden. So haben nach der Öffnung der Berliner Mauer, das ein Symbol des stalinistischen Terrors par excellence gegen die Bevölkerung der von ihm beherrschten Länder war, die Presse und einige Politiker die Atmosphäre, die in dieser Stadt herrschte, mit der "Befreiung" 1945 verglichen. Dies ist kein Zufall: die Gefühle der Bevölkerung der DDR nach der Öffnung der Mauer waren vergleichbar mit dem Gefühl der Bevölkerung, die jahrelang die Besatzung und den Terror durch Nazi-Deutschland ertragen mußte. Aber wie uns die Geschichte gezeigt hat, gehören diese Gefühle und Emotionen zu den schlimmsten Hindernissen in der Bewußtseinsentwicklung des Proletariats. Darüberhinaus wird die von den Menschen in Osteuropa empfundene Freude über den Zusammenbruch des Stalinismus und vor allem die damit verbundene Verstärkung der demokratischen Illusionen sich stark niederschlagen, und hat sich bereits niedergeschlagen, auf das Proletariat des Westens und besonders auf das Proletariat Deutschlands, dessen Gewicht innerhalb der Weltproletariats im Hinblick auf die proletarische Revolution besonders groß ist. Ferner muß das Proletariat dieses Landes in der kommenden Periode dem Gewicht der nationalistischen Mystifikationen im Hinblick auf die Perspektive einer Wiedervereinigung Deutschlands entgegentreten, die - obgleich noch nicht unmittelbar auf der Tagesordnung - diese nur verstärken wird.
Diese nationalistischen Mystifikationen sind bereits sehr stark unter den Arbeitern der meisten osteuropäischen Länder. Sie existieren nicht nur in den verschiedenen Republiken der UdSSR. Sie lasten auch schwer auf den Arbeitern der "Volksdemokratien", insbesondere aufgrund der brutalen Art und Weise, mit der der "Große Bruder" seine imperialistische Herrschaft über sie ausübte. Die blutigen Interventionen der russischen Panzer in der DDR 1953, in Ungarn 1956 und in der CSSR 1968 sowie die regelrechte Ausplünderung, der die Volkswirtschaft dieser "Satelliten"-Länder ausgesetzt waren, haben diesen Mystifikationen neue Nahrung gegeben. Neben den demokratischen und gewerkschaftlichen Illusionen haben sie viel zur Verwirrung der Arbeiter in Polen 1980-81 beigetragen, was die Tür zur Niederschlagung im Dezember 1981 geöffnet hat. Mit dem Auseinanderbrechen des Ostblocks, das wir zur Zeit erleben, werden sie neuen Auftrieb erhalten und die Bewußtwerdung der Arbeiterklasse noch schwieriger gestalten. Diese nationalistischen Mystifikationen werden auch den Arbeitern des Westens zu schaffen machen, nicht zwangsläufig (abgesehen von Deutschland) durch eine Stärkung des Nationalismus in ihren Reihen, sondern durch die Diskreditierung und Entstellung, die in ihrem Bewußtsein die Idee des proletarischen Internationalismus erleidet. In der Tat ist dieser Begriff durch den Stalinismus und im gleichen Atemzug durch alle bürgerlichen Kräfte völlig verfälscht worden, die es mit der imperialistischen Herrschaft der UdSSR über ihren Block identifiziert haben. So wurde 1968 die Intervention der Panzer der Staaten des Warschauer Paktes in der CSSR im Namen des "proletarischen Internationalismus" durchgeführt. Der Zusammenbruch und die Ablehnung des "Internationalismus" stalinistischer Prägung durch die Bevölkerung der osteuropäischen Länder wird einen negativen Einfluß auf das Bewußtsein der Arbeiter des Westens ausüben, und dies umso mehr, als die westliche Bourgeoisie keine Gelegenheit verpassen wird, um dem wirklich proletarischen Internationalismus ihre "internationale Solidarität" entgegenzusetzen, die sie als eine Unterstützung der Volkswirtschaften der in Not geratenen osteuropäischen Länder (wenn es nicht direkt um Aufrufe für Almosen geht) oder der "demokratischen Forderungen" ihrer Bevölkerung versteht, wenn sie mit der brutalen Repression zusammenstößt (man erinnere sich an die Kampagnen über Polen 1981 oder erst kürzlich über China).
In der Tat gilt, und hier kommen wir zum Kern der Kampagnen, die die Bourgeoisie zur Zeit entfacht, ihr ultimatives und fundamentales Ziel der Perspektive der kommunistischen Weltrevolution, die vom Zusammenbruch des Stalinismus in Mitleidenschaft gezogen wird. Der Internationalismus ist nur ein Element dieser Perspektive. Die alte Leier, die die Medien bis zum Erbechen verbreiten: „Der Kommunismus ist tot, er ist gescheitert", faßt die fundamentale Botschaft zusammen, die die Bourgeois aller Länder den Arbeitern, die sie ausbeuten, indoktrinieren wollen. Und die Lüge, über die bereits in der Vergangenheit, in den schlimmsten Zeiten der Konterrevolution Einmütigkeit bestand unter allen bürgerlichen Kräften - die Identifizierung des Kommunismus mit dem Stalinismus -, wird heute mit derselben Einhelligkeit wieder aufgegriffen. Diese Gleichsetzung hat es der Bourgeoisie in den 30er Jahren gestattet, die Arbeiterklasse für den Stalinismus mobilisieren, um ihre Niederlage zu besiegeln. Heute, wo der Stalinismus in den Augen aller Arbeiter völlig in Verruf geraten ist, dient dieselbe Lüge dazu, sie von der Perspektive des Kommunismus abzubringen.
In den Ländern Osteuropas leidet die Arbeiterklasse schon seit langem unter einer solchen Konfusion: wenn hinter dem Begriff der "Diktatur des Proletariats" der Polizeiterror steckt, wenn "Arbeitermacht" zynische Machtausübung durch Bürokraten bedeutet, wenn "Sozialismus" brutale Ausbeutung, Elend, Mangel und Mißwirtschaft bezeichnet, wenn man in der Schule Zitate von Marx oder Lenin auswendig lernen muß, dann kann man sich von diesen Begriffen nur abwenden. Das heißt, man verwirft die eigentliche Grundlage der historischen Perspektive des Proletariats und weigert sich, die Grundlagentexte der Arbeiterbewegung zu studieren; ja, die Begriffe "Arbeiterbewegung" und "Arbeiterklasse" sind zu Obszönitäten geworden. Vor solch einem Hintergrund ist die Idee einer Revolution des Proletariats selbst vollkommen unglaubwürdig. „Was bringt es, noch einmal wie im Oktober 1917 anzufangen, wenn es schließlich doch nur in einer stalinistischen Barbarei endet?" Solcherlei sind die Gefühle, die heute praktisch unter allen Arbeitern der osteuropäischen Länder herrschen. Heute strebt die Bourgeoisie in den westlichen Ländern mit Hilfe des Niedergangs und der Agonie des Stalinismus an, eine ähnliche Verwirrung unter den Arbeitern des Westens zu stiften. Und der Bankrott des Stalinismus ist so offensichtlich und spektakulär, daß ihr dies zu einem guten Teil gelingt.
So werden all diese Ereignisse in den osteuropäischen Ländern, die ihren Widerhall auf der ganzen Welt finden, noch eine ganze Zeitlang auf negative Weise die Bewußtwerdung der Arbeiterklasse behindern. Kurzfristig wird die Öffnung des "Eisernen Vorhangs", der das Weltproletariat in zwei Teile spaltete, den Arbeitern des Ostens nicht erlauben, von den Erfahrungen ihrer Klassenbrüder in den westlichen Ländern zu profitieren, die diese in ihren Kämpfen angesichts der von der stärksten Bourgeoisie der Welt aufgestellten Fallen und Mystifikationen erlangt haben. Im Gegenteil: die unter den Arbeitern in Osteuropa besonders stark verbreiteten Illusionen über die Demokratie, ihr Glaube an die "Überlegenheit des Kapitalismus über den Sozialismus" werden sich über den Westen ergießen, wodurch die Errungenschaften der Erfahrungen des Proletariats in diesem Teil der Welt kurzfristig und vorübergehend beeinträchtigt werden. Daher wird die Agonie dieses Instruments par excellence der Konterrevolution, das der Stalinismus gewesen war, heute von der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse eingesetzt.


Die Perspektiven des Klassenkampfes

Der Zusammenbruch der stalinistischen Regimes, der im wesentlichen auf das völlige Versagen ihrer Wirtschaft zurückzuführen ist, kann vor dem Hintergrund einer weltweiten Vertiefung der kapitalistischen Wirtschaftskrise dieses Versagen nur verschlimmern. Für die Arbeiterklasse dieser Länder bedeutet dies beispiellose Angriffe und Elend, gar Hungersnöte. Eine solche Situation wird zwangsläufig Wutausbrüche provozieren. Doch der politische und ideologische Kontext ist dergestalt in den osteuropäischen Ländern, daß der Kampfgeist der Arbeiter eine ganze Zeitlang nicht zu einer echten Entwicklung des Bewußtseins führen wird. Das Chaos und die Erschütterungen, die sich im wirtschaftlichen und politischen Bereich verbreiten, die Barbarei und Fäulnis der gesamten kapitalistischen Gesellschaft, die hier auf konzentrierteste und karikativste Weise zum Ausdruck kommen, werden so lange nicht zur Erkenntnis über die Notwendigkeit eines Umsturzes dieses Systems führen, wie solch eine Erkenntnis nicht unter den entscheidenden Bataillonen des Proletariats der großen Arbeiterkonzentrationen des Westens, insbesondere in Westeuropa, herangereift ist.(6)
Wie wir gesehen haben, erfahren bis heute eben diese Sektoren des Weltproletariats mit voller Wucht die Kampagnen der Bourgeoisie und sind durch einen Rückgang ihres Bewußtseins betroffen. Das heißt nicht, daß sie nicht imstande sind, den Kampf gegen die ökonomischen Attacken des Kapitalismus, dessen Weltkrise unumkehrbar ist, aufzunehmen. Es bedeutet vielmehr, daß mehr noch als in den vergangenen Jahren diese Kämpfe eine gewisse Zeitlang von Organen zur Kontrolle der Arbeiterklasse, insbesondere den Gewerkschaften in Schach gehalten werden, wie man bereits in den letzten Kämpfen sehen konnte. Insbesondere die Gewerkschaften werden von der allgemeinen Verstärkung der demokratischen Illusionen profitieren. Sie werden zudem ein Terrain vorfinden, das mit der Verbreitung der reformistischen Ideologie, die auf eine Verstärkung der Illusionen über die  "Überlegenheit des Kapitalismus" über jede andere Gesellschaftsform hinausläuft, viel besser geeignet ist für ihre Manöver.
Doch das Proletariat von heute ist nicht dasselbe wie in den 30er Jahren. Es hat keine Niederlage hinter sich wie jene, die es nach der revolutionären Welle in der Nachkriegszeit des Ersten Weltkrieges erlitten hatte. Die weltweite Krise des Kapitalismus ist unauflösbar. Sie wird sich noch verschlimmern: nach dem Zusammenbruch der "Dritten Welt" Ende der 70er Jahre, nach der aktuellen Implosion der sog. "sozialistischen" Ökonomien steht als nächstes auf der Liste der Zusammenbruch der höchst entwickelten Länder, die sich bislang zum Teil hatte durchlavieren können, indem sie die schlimmsten Erschütterungen des Systems auf die Peripherie abgewälzt hatten. Die unvermeidliche Offenbarung des völligen Versagens nicht nur eines einzelnen Sektors des Kapitalismus, sondern der gesamten Produktionsweise wird die Grundlagen der Kampagnen der westlichen Bourgeoisie über die "Überlegenheit des Kapitalismus untergraben. Letztendlich wird die Entwicklung des Kampfgeistes der Arbeiter zu einer neuen Entwicklung ihres Bewußtseins führen, die jetzt durch den Zusammenbruch des Stalinismus unterbrochen und konterkariert wird. Es ist Sache der revolutionären Organisationen, zu dieser Entwicklung entschlossen beizutragen, nicht indem wir heute versuchen, die Arbeiter zu trösten, sondern indem wir offenlegen, daß es ungeachtet der Schwierigkeiten keinen anderen Weg  für die Arbeiterklasse gibt als den zur kommunistischen Revolution.

F.M. 25.11.89

 

 (1) Es ist aufschlußreich, daß die "revolutionäre" und "demokratische" französische Bourgeoisie nicht zögerte, die Erklärung der Menschenrechte zu verhöhnen, die sie selbst kurz zuvor verabschiedet hatte (und um die heute so viel Aufhebens gemacht wird), als sie jeglichen Zusammenschluß von Arbeitern untersagte (Gesetz Le Chapelier vom 14. Juni 1791). Dieses Gesetz wurde erst knapp ein Jahrhundert später (1884) abgeschafft.

(2) Die Degeneration und der Verrat gingen nicht ohne den Widerstand der Arbeiterklasse und der bolschewistischen Partei vonstatten. Insbesondere wurde ein Großteil der Militanten und fast alle Führer der Partei aus der Zeit des Oktober 1917 durch den Stalinismus ausgelöscht. Siehe dazu insbesondere „Der Niedergang der russischen Revolution", INTERNATIONALE REVUE, Nr. 2 und „Die Kommunistische Linke in Russland" in INTERNATIONALE REVUE, Nr. 8 + 9 (engl., franz., span. Ausgabe).

(3) In den späten 20er Jahren und die 30er Jahre hindurch hatte die demokratische Bourgeoisie des Westens bei weitem nicht dieselbe Abscheu gegenüber dem "barbarischen" und "totalitären" Stalinismus an den Tag gelegt, die erst mit dem "Kalten Krieg" aufkam und noch heute in diesen Kampagnen zur Schau gestellt wird. Insbesondere unterstützte sie Stalin vorbehaltlos bei dessen Verfolgungen der "Linksopposition" und ihres Hauptführers Trotzki. Für Letztgenannten wurde die Welt nach seiner Ausweisung aus der UdSSR 1928 zu einem „Planeten ohne Visa". Alle "Demokraten" der Welt, an erster Stelle die Sozialdemokraten, die in Deutschland, Großbritannien, Norwegen, Schweden, Belgien und in Frankreich die Regierun g bildeten, stellten erneut ihre widerwärtige Heuchelei unter Beweis, als sie ihre "tugendhaften Prinzipien" wie das "Asylrecht" fallenließen. Diese vornehme Welt hatte auch nichts an den Moskauer Schauprozessen auszusetzen, wo Stalin die alte Garde der bolschewistischen Partei liquidierte, indem er sie des "Hitler-Trotzkismus" bezichtigte. Diese Schöngeister haben gar gesagt, daß es „keinen Rauch ohne Feuer" gebe. (siehe dazu auch WELTREVOLUTION, Nr. 40)

(4) Ein zusätzlicher Beweis dafür, daß die Regimes, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Osteuropa an die Macht kamen (wie auch das heutige Regime in der UdSSR), nichts mit dem Regime zu tun haben, das in Rußland 1917 die Macht übernahm, liegt in der Rolle begründet, die der imperialistische Krieg bei ihrer Entstehung spielte. Der proletarische Charakter der Oktoberrevolution wird durch die Tatsache veranschaulicht, daß sie gegen den imperialistischen Krieg entstanden ist. Der anti-proletarische und kapitalistische Charakter der "Volksdemokratien" wird von der Tatsache demonstriert, daß sie dank des imperialistischen Kriegs konstituiert wurden.

(5) Dies ist sicherlich nicht der einzige Faktor, der uns erlaubt, den schwindenden Einfluß des Stalinismus in der Arbeiterklasse wie auch die Abschwächung der gesamten bürgerlichen Mystifikationen seit dem Ende des Weltkrieges und dem historischen Wiedererstarken der Arbeiterklasse Ende der 60er Jahre zu erklären. Außerdem spielte der Stalinismus in vielen Ländern (insbesondere in Nordeuropa) seit dem 2. Weltkrieg im Vergleich zur Sozialdemokratie nur noch eine zweitrangige Rolle bei der Kontrolle der Arbeiterklasse. Die Schwächung der antifaschistischen Mystifikationen aufgrund des Fehlens eines faschistischen Schreckgespenstes in den meisten Ländern sowie der schwindende Einfluß der Gewerkschaften (ob sozialdemokratische oder stalinistische) nach all ihrem Mitwirken in der Sabotierung der Kämpfe in den sechziger Jahren erlauben uns ebenfalls, den schwindenden Einfluß sowohl des Stalinismus auch der Sozialdemokratie auf das Proletariat zu erklären. Daher war Letztgenannte in der Lage, auf der historischen Bühne wiederaufzutreten, sobald die ersten Angriffe der offenen Krise losgingen.

    (6) Siehe unsere Analyse zu dieser Frage im Artikel „Das Proletariat Westeuropas im Zentrum der Generalisierung des Klassenkampfes", INTERNATIONALE REVUE, Nr. 31 (engl., franz., span. Ausgabe).

 

Quell-URL: https://de.internationalism.org/die-arbeiterklasse-vor-einer-schwieriger... [10]

Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen (Teil 3)

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Die Kontinuität der politischen Organisationen des Proletariats:
Der Klassencharakter der Sozialdemokratie


Die Dekadenz des Kapitalismus begreifen heißt auch, die Besonderheiten der Formen des proletarischen Kampfes in unserem Zeitraum und damit die Unterschiede zu anderen historischen Epochen zu erkennen. Durch das Verständnis dieser Unterschiede wird die Kontinuität deutlich, die sich durch die politischen Organisationen des Proletariats zieht.
Jene, die wie die Groupe Communiste Internationaliste (GCI) die Dekadenz des Kapitalismus ignorieren, ordnen "logischerweise" die Zweite Internationale (1889-1914) und die ihr angehörenden Parteien dem Lager der Bourgeoisie zu. Sie ignorieren somit diese reelle Kontinuität eines grundlegenden Elementes des Klassenbewußtseins.
Wenn wir diese Kontinuität vertreten, kommt es uns nicht darauf an, die Parteien heute zu glorifizieren, die die Zweite Internationale gebildet hatten. Noch weniger erachten wir ihre Praxis als für unsere Epoche gültig. Vor allem geht es uns nicht darum, sich auf das Erbe der reformistischen Fraktion zu berufen, die in den Sozialchauvinismus abglitt und mit dem Ausbruch des Krieges endgültig ins Lager der Bourgeoisie überwechselte. Worauf es uns ankommt, ist zu begreifen, daß die Zweite Internationale und die sie konstituierenden Parteien authentische Ausdrücke des Proletariats in einem Moment der Geschichte der Arbeiterbewegung waren.
Eines ihrer Verdienste, und nicht das geringste, bestand darin, den Klärungsprozeß abzuschließen, der in den letzten Jahren der Ersten Internationalen mit der Eliminierung der Anarchisten begonnen hatte, diesem ideologischen Ausdruck des Zerfallsprozesses der Kleinbourgeoisie und ihrer Proletarisierung, die von einigen Schichten der Handwerker sehr widerwillig akzeptiert worden war.
Die Zweite Internationale stellte sich von Anfang an auf die Grundlagen des Marxismus, den sie in ihr Programm aufnahm.
Es gibt zwei Arten, die Zweite Internationale und die sozialdemokratischen Parteien zu beurteilen: einmal mit der marxistischen, d.h. kritischen Methode, die sie in ihren historischen Zusammenhang einordnet. Die andere Methode ist die des Anarchismus, die ohne kohärente Methode und auf ahistorische Weise sich schlicht damit zufrieden gibt, ihre Existenz in der Arbeiterbewegung zu leugnen oder auszuradieren. Und dies aus gutem Grund!
Die erste Methode wurde stets von der kommunistischen Linke und auch von der IKS benutzt. Die zweite ist die der Unverantwortlichen, die mit einer "revolutionären" Phraseologie, die ebenso leer wie inkohärent ist, mehr schlecht als recht ihren eigenen Charakter und ihre halb-anarchistische Vorgehensweise verstecken wollen. Die GCI verfolgt die zweite Methode.


Ein apokalyptischer Nihilismus

"Vor mir das Chaos". Für jene, die glauben, es gebe keine Zukunft , "no future", erscheint die vergangene Geschichte als unnütz, absurd, widersprüchlich. So viele Bemühungen, soviel Zivilisation, soviel Wissen, nur um zur Perspektive einer hungernden, kranken, durch einen Atomkrieg bedrohten Menschheit zu gelangen. "Nach mir die Sintflut" ... "vor mir das Chaos".
Diese Art "Punk"-Ideologie, die heutzutage vom Kapitalismus in dieser Epoche der fortgeschrittenen Dekadenz hervorgebracht wird, dringt in unterschiedlichem Ausmaß in die gesamte Gesellschaft ein. Selbst die revolutionären Elemente, die eigentlich - per Definition - von der Existenz, wenn nicht gar  von dem unmittelbaren Bevorstehen einer revolutionären Zukunft der Gesellschaft überzeugt sind, erliegen manchmal, wenn sie nur ein geringes politisches Rüstzeug haben, dem Druck dieses "apokalyptischen Nihilismus", wo nichts aus der Vergangenheit mehr einen Sinn hat. Die Idee einer geschichtlichen "Entwicklung" an sich erscheint ihnen als albern. Und die Geschichte der Arbeiterbewegung, die Bemühungen von anderthalb Jahrhunderten von Generationen von organisierten Revolutionären, um den Kampf ihrer Klasse zu beschleunigen, anzuregen, zu befruchten - all das wird geringgeschätzt, ja, selbst als Mittel zur Konservierung, zur "Selbstregulierung" der existierenden Gesellschaftsordnung betrachtet. Diese Mode, die gelegentlich aufkommt, wird hauptsächlich von Elementen anarchistischer Provenienz oder solchen Elementen getragen, die sich in seine Richtung bewegen.
Seit einigen Jahren spielt die Groupe Communiste Internationaliste (GCI) [1] mehr und mehr diese Rolle. Die GCI ist eine Abspaltung von der IKS (1978), aber die Elemente, die die GCI gründeten, waren, bevor sie sich der IKS anschlossen, selbst aus dem Anarchismus gekommen. Nach einem vorübergehend Flirt mit dem Bordigismus unmittelbar nach dem Bruch mit der IKS hat sich die GCI in Richtung der Kindheitsträumereien einiger ihrer Hauptanstifter, den Anarchismus, zurückentwickelt, mit einigen verzweifelten ahistorischen Hirngespinsten über die ewige Revolte. Aber es handelt sich nicht um einen erklärten, offenen Anarchismus, der in der Lage wäre, zum Beispiel unmißverständlich zu sagen, daß Bakunin und Proudhon inhaltlich gegenüber den Marxisten der damaligen Zeit Recht hatten. Es handelt sich um einen verschämten Anarchismus, der seinen Namen nicht nennen will und seine Thesen mit Hilfe von Zitaten von Marx und Bordiga zu verteidigen sucht. Die GCI hat den "anarcho-bordigistischen Punk" erfunden.
Wie ein Heranwachsender, dem es noch schwer fällt, sich seiner Identität zu bestätigen und mit seinen Eltern zu brechen, geht die GCI davon aus, daß es vor ihr und ihrer Theorie nichts oder fast nichts auf der Welt gab. Lenin? "Seine Theorie vom Imperialismus", behauptet die GCI, "ist nur ein Versuch, den Nationalismus, den Krieg, den Reformismus (...) das Verschwinden des Proletariats als Subjekt der Geschichte in einer anderen Form (der anti-imperialistischen!) zu rechtfertigen" (1). Rosa Luxemburg? Die deutschen Spartakisten? ... "linke Sozialdemokraten". Und die Sozialdemokratie selbst im 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, an deren Gründung sich Marx und Engels beteiligt hatten, aus der nicht nur die Bolschewisten und Spartakisten hervorgegangen waren, sondern auch jene, die später die Kommunistische Linke der Dritten Internationalen (italienische, deutsche, holländische usw.) bildeten? Für die GCI war die Sozialdemokratie (sowie die Zweite Internationale, die sie gründete) "eine durch und durch bürgerliche Organisation". Alle jene, die in der Zweiten Internationalen und später in der Dritten gegen die Reformisten die Unvermeidbarkeit der Dekadenz des Kapitalismus vertraten? "Ob anti-imperialistisch oder luxemburgistisch, die Theorie der Dekadenz ist nichts anderes als eine bürgerliche Wissenschaft, die darauf abzielt, die Schwäche des Proletariats in seinem Kampf ideologisch für eine Welt ohne Werte zu rechtfertigen".
Vor der GCI, so scheint es, wenn man all die angeführten Zitate berücksichtigt, waren die einzigen Revolutionäre Marx und vielleicht Bordiga... obgleich man sich fragen muß, was - der Auffassung der GCI zufolge- denn so revolutionär an den Gründern von "durch und durch bürgerlichen Organisationen" war, wie im Falle von Marx und einem Element wie Bordiga, der erst 1921 mit der italienischen Sozialdemokratie brach!
In der Tat ist für die GCI das Anliegen Nonsens, Kenntnis darüber zu erlangen, welche Organisationen in der Vergangenheit proletarisch waren und worin ihre sukzessiven Beiträge zur kommunistischen Bewegung bestanden. Aus der Sicht der GCI ist die Inanspruchnahme einer politischen, historischen Kontinuität der Organisationen des Proletariats, wie es die kommunistischen Organisationen stets gemacht haben und wie wir es auch tun, ein Einlenken gegenüber einem "Familien"-Geist. Dies ist nur eine Facette ihrer chaotischen Vorstellung über die Geschichte, nur eine der Rosinen aus dem theoretischen Brei, der der GCI als Rahmen für ihre Intervention dienen soll. In den beiden vorhergehenden Artikeln (2), die sich der Analyse der Dekadenz des Kapitalismus und der Kritik der GCI daran widmeten, haben wir einerseits die anarchistische Belanglosigkeit, die sich mit ihrer Ablehnung der Analyse der Dekadenz des Kapitalismus und selbst der Idee einer historischen Evolution hinter dem marxistischen Gerede der GCI versteckt, und andererseits die  politischen Irrwege aufgezeigt, die eindeutig bürgerlichen Positionen - Unterstützung der stalinistischen Guerilla des Leuchtenden Pfads in Peru beispielsweise - , zu der diese Methode oder vielmehr das völlige Fehlen einer Methode führt. Es geht also in diesem Artikel darum, die andere Seite dieser unhistorischen Auffassung zu bekämpfen: die Ablehnung der Notwendigkeit einer jeden revolutionären Organisation, den Rahmen der geschichtlichen Kontinuität mit den kommunistischen Organisationen der Vergangenheit zu begreifen und sich in ihm einzuordnen.


Die Bedeutung der historischen Kontinuität in der kommunistischen Bewegung

In all unseren Veröffentlichungen schreiben wir: "Die IKS beruft sich auf die nacheinander vom Bund der Kommunisten, von der I., II. und II. Internationale sowie den linken Fraktionen, welche aus der letzteren hervorgegangen sind, erbrachten Errungenschaften, insbesondere die der deutschen, holländischen und italienischen Linken." Dies ruft in der GCI Übelkeit hervor.
"Die Kommunisten", schreibt die GCI, "kennen kein Problem der 'Vaterschaft'; die Bindung an eine revolutionäre 'Familie' ist eine Art, die Unpersönlichkeit des Programms zu leugnen. Der Faden der Geschichte, an dem die kommunistische Strömung entlangfließt, ist weniger eine Frage von 'Personen'  denn eine formelle Organisationsfrage; es ist eine praktische Frage, eine Praxis, die mal von diesem Individuum, mal von jener Organisation getragen wird. Lassen wir die senilen Dekadentisten auf der Suche nach ihren Papas über ihren Stammbaum gackern. Befassen wir uns mit der Revolution".
Besessen von den Problemen der "Revolte gegen den Vater", spricht die GCI nur vom "Faden der Geschichte", um daraus eine überirdische Abstraktion zu machen, bar jeder Realität und über "Personen" und "formelle Organisationen" schwebend. Sich die Erfahrung der Geschichte des Proletariats und damit die von ihren politischen Organisationen gezogenen Lehren anzueignen nennt die GCI eine "Suche nach dem Papa". "Befassen wir uns eher mit der Revolution" - setzen sie dem entgegen, aber diese Sätze sind hohle Formulierungen und inkonsequent, wenn man die Bemühungen und die Kontinuität in den Anstrengungen der Organisationen außer Acht läßt, die sich tatsächlich seit mehr als anderthalb Jahrhunderten "mit der Revolution befaßt" haben.
Man untersucht die Gegenwart nicht vom Standpunkt der Vergangenheit aus; man untersucht die Vergangenheit vom Standpunkt der gegenwärtigen und zukünftigen Bedürfnisse der Revolution aus. Doch ohne dieses Verständnis der Geschichte ist man unweigerlich machtlos gegenüber der Zukunft.
Der Kampf für die kommunistische Revolution hat nicht mit der GCI begonnen. Dieser Kampf hat eine lange Vorgeschichte. Und auch wenn sie vor allem von Niederlagen des Proletariats geprägt ist, hat sie jene, die heute wirklich zum revolutionären Kampf beitragen wollen, mit Lektionen, Errungenschaften versorgt, die kostbare und unverzichtbare Instrumente des Kampfes sind. Und es sind gerade die politischen Organisationen des Proletariats, die sich die ganze Geschichte hindurch bemüht haben, diese Lehren zu ziehen und zu formulieren. Dazu aufzurufen, "sich mit der Revolution zu befassen", ohne sich mit den proletarischen politischen Organisationen der Vergangenheit und der Kontinuität ihres Wirkens zu befassen - das ist die Scharlanterie einer mit heißer Nadel gestrickten Revolte. Das Proletariat ist eine historische Klasse, d.h. der Träger einer Zukunft auf historischer Ebene. Es ist eine Klasse, die im Gegensatz zu anderen unterdrückten Klassen, die im Verlauf der Entwicklung des Kapitalismus zerfallen, sich verstärkt, sich weiterentwickelt,  ihre Kräfte bündelt, wobei sie gleichzeitig über Generationen hinweg mittels Tausender von täglichen Widerstandskämpfen und einigen großen revolutionären Anläufen ein Bewußtsein davon entwickelt, was sie ist, was sie kann und was sie will. Die Aktivitäten der revolutionären Organisationen, ihre Debatten, ihre Umgruppierungen wie auch ihre Spaltungen sind ein integraler Bestandteil dieses historischen, seit Babeuf und bis zu seinem endgültigen Triumph ununterbrochenen Kampfes.
Nicht die Kontinuität begreifen, die diese Organisationen durch die ganze Geschichte verbindet, hieße, im Proletariat nur eine Klasse ohne Geschichte, ohne Bewußtsein zu sehen, die allerfalls zur Revolte fähig ist. Dies ist die Sicht der Bourgeoisie auf die Arbeiterklasse. Aber nicht die der Kommunisten! Die GCI sieht ein psychologisches Problem der "Vaterschaft" und "Familienanhänglichkeit"", obgleich es sich in Wirklichkeit um ein Mindestmaß an Bewußtsein handelt, das von einer Organisation verlangt werden kann, die vorgibt, die Rolle einer Avantgarde des Proletariats zu spielen.


Auf welche Kontinuität berufen wir uns?

Die GCI behauptet, sich auf eine Kontinuität der früheren kommunistischen Organisationen zu berufen hieße, die "Unpersönlichkeit des Programms" zu leugnen. Es liegt auf der Hand, daß das kommunistische Programm weder das Werk noch das Eigentum irgendeiner Person, irgendeines Genies ist. Der Marxismus trägt den Namen von Marx, weil damit die Tatsache anerkannt wird, daß er es gewesen war, der die Grundlagen einer wirklich kohärenten proletarischen Konzeption der Welt geschaffen hat. Doch diese Konzeption hörte nicht auf, sich durch den Klassenkampf und durch seine Organisationen seit seinen ersten Formulierungen weiterzuentwickeln. Marx selbst berief sich auf das Werk der Gleichen von Babeuf, die utopischen Sozialisten, die englischen Chartisten usw. und faßte seine Ideen als ein Produkt aus der Entwicklung des reellen Kampfes des Proletariats auf.
Aber so "unpersönlich" es auch sein mag, das kommunistische Programm ist dennoch das Werk menschlicher Wesen, die aus Fleisch und Blut bestehen, von Militanten, die sich in politischen Organisationen sammeln, und es gibt dennoch eine Kontinuität im Wirken dieser Organisationen. In Wahrheit geht es nicht darum zu wissen, ob es eine Kontinuität gibt oder nicht, sondern darum, um welche Kontinuität es sich handelt.
Die GCI gibt zu verstehen, daß die Inanspruchnahme einer Kontinuität der politischen Organisationen des Proletariats auf ein Einverständnis  mit allem, was irgendwer irgendwann in der Arbeiterbewegung geäußerte hatte, hinausläuft, und demonstriert so, daß sie nicht einmal begriffen hat, was sie zu kritisieren vorgibt.
Eine der Hauptbeschuldigungen der GCI gegen jene, die die Idee der kapitalistischen Dekadenz vertreten, lautet, daß letztere "auf diese Weise unkritisch die vergangene Geschichte und insbesondere den sozialdemokratischen Reformismus billigen, was im Handumdrehen damit gerechtfertigt wird, daß letzterer in der 'aufsteigenden Phase des Kapitalismus' stattgefunden habe".
In der bornierten Logik der GCI kann die Akzeptierung einer historischen Kontinuität nur "unkritische Billigung" bedeuten. In Wahrheit hat, was die Organisationen der Vergangenheit anbetrifft, die Geschichte es selbst übernommen, eine schonungslose Kritik zu üben.
Die Kontinuität zwischen den alten und neuen Organisationen wird nicht von irgendeiner Tenden bewahrt. Es war immer die Linke gewesen, die die Kontinuität zwischen den drei politischen, internationalen Hauptorganisationen des Proletariats gewährleistet hat.
Sie haben in Gestalt der marxistischen Strömung die Kontinuität zwischen der Ersten und Zweiten Internationalen gegen proudhonistische, bakunistische, blanquistische und andere korporatistische Strömungen gesichert. Es war ebenfalls die Linke, die, indem sie den Kampf gegen die reformistische Strömung und dann gegen die "Sozialpatrioten" aufnahm, während des Krieges mit der Gründung der Kommunistischen Internationalen die Kontinuität zwischen der Zweiten und Dritten Internationalen sicherstellte. Und es war wieder die Linke, die "Linkskommunisten", die sich die revolutionären Errungenschaften, welche von der sozialdemokratischen und stalinistischen Konterrevolution mit Füßen getreten worden waren, wieder aneignete und weiterentwickelte. Dies erklärt sich aus der schwierigen Existenz politischer Organisationen des Proletariats. Allein die Existenz einer authentischen politischen Organisation des Proletariats stellt einen ständigen Kampf gegen den Druck der herrschenden Klasse dar, einen Druck, der sich materiell - Mangel an finanziellen Quellen, polizeiliche Repression - aber auch und vor allem ideologisch auswirkt. Die vorherrschende Ideologie neigt immer dazu, die Ideologie der ökonomisch herrschenden Klasse zu sein. Die Kommunisten sind Menschen, und ihre Organisationen sind nicht auf wunderbare Weise umempfänglich gegen das Eindringen einer Ideologie, die das gesamte Gesellschaftsleben durchtränkt. Politische Organisationen enden oft, indem sie Verrat begehen und ins gegnerische Lager überlaufen. Allein die Fraktionen der Organisation, die die Stärke besaßen, sich nicht dem Druck der herrschenden Klasse zu fügen - die Linke -, waren imstande, sich den proletarischen Inhalt zu eigen zu machen, den diese Organisationen einst besaßen.
In diesem Sinne bedeutet die Reklamierung einer Kontinuität, die die politischen Organisationen des Proletariats überspannt, die Inanspruchnahme des Vermächtnisses der unterschiedlichen Linksfraktionen, die allein in der Lage waren, diese Kontinuität zu wahren. Sich zu den "sukzessiven Beiträgen des Kommunistischen Bundes, der Ersten, Zweiten und Dritten Internationalen zu bekennen heißt nicht, die Willichs und Schappers im Kommunistischen Bund, die Anarchisten in der Ersten Internationalen, die Reformisten in der Zweiten oder die degenerierten Bolschewiki in der Dritten Internationalen "auf unkritische Weise zu billigen". Im Gegenteil, es heißt, sich zur politischen Auseinandersetzung zu bekennen, die von den allgemeinhin minoritären Linken gegen diese Tendenzen geführt wurde.
Diese Auseinandersetzung wurde jedoch nicht irgendwo geführt. Sie fand statt innerhalb jener Organisationen, die die fortschrittlichsten Elemente der Arbeiterklasse um sich scharten; in proletarischen Organisationen, die trotz all ihrer Schwächen immer eine lebendige Herausforderung der etablierten Ordnung waren. Sie waren nicht die Verkörperung einer unveränderlichen, ewigen Wahrheit, die ein für allemal festgelegt ist - wie die Theorie der Invarianz von KOMMUNISTISCHES PROGRAMM vorgibt, die die GCI von den Bordigisten übernommen hat. Sie waren die konkrete "Avantgarde" des Proletariats als eine revolutionäre Klasse in einem gegebenen Moment der Geschichte und auf einer entsprechenden Entwicklungsstufe ihres Klassenbewußteins gewesen.
Durch Debatten zwischen den Tendenzen von Willich und Marx im Kommunistischen Bund, durch die Konfrontation zwischen Anarchisten und Marxisten in der Ersten Internationalen, zwischen den Reformisten und der internationalistischen Linken in der Zweiten, zwischen den degenerierten Bolschewiki und den Linkskommunisten in der Dritten Internationalen nahmen die ständigen Bemühungen der Arbeiterklasse, politische Waffen für ihren Kampf zu schmieden, erst konkrete Gestalt an. Einen Anspruch auf die politische Kontinuität mit den politischen Organisationen des Proletariats zu erheben bedeutet, sich in eine Reihe mit Tendenzen, die diese Kontinuität übernommen hatten, aber auch mit den Bemühungen an sich zu stellen, die diese Organisationen darstellten.


Der Klassencharakter der Sozialdemokratie an der Wende zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert

Die Hauptbeschuldigung der GCI lautet, die Idee einer Kontinuität mit politischen Organisationen des Proletariats führe dazu, die sozialdemokratischen Parteien und die II. Internationalen als proletarisch anzuerkennen. Für die GCI ist die Sozialdemokratie "im Kern bürgerlich".
Wie wir in den vorausgegangenen Artikeln gesehen haben, greift die GCI dabei die Vorstellung auf, derzufolge die kommunistische Revolution seit den Anfängen den Kapitalismus permanent auf der Tagesordnung gestanden habe: es gebe keine unterschiedlichen Perioden des Kapitalismus. Das proletarische Programm kann demnach auf die eine ewige Forderung reduziert werden: die sofortige Weltrevolution! Gewerkschaften, Parlamentarismus, der Kampf für Reformen seien nie proletarisch gewesen. Folglich konnten die sozialdemokratischen Parteien und die Zweite Internationale, die diese Kampfformen zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Aktivitäten gemacht hatten, nichts anderes sein als Instrumente der Bourgeoisie. Die Zweite Internationale zu Engels' Lebzeiten ist also dasselbe wie das Einvernehmen zwischen Mitterand und Felipe Gonzales. Da wir uns in zwei früheren Artikeln lang genug mit ihnen beschäftigt haben, werden wir nicht auf solche Fragen zurückkommen wie die Existenz zweier fundamentaler historischer Epochen im Leben des Kapitalismus oder die zentrale Stellung der Analyse der kapitalistischen Dekadenz im marxistischen Kontext (s. INTERNATIONALE REVUE, Nr. 10, 11). Auch werden wir nicht noch einmal die Frage der Unterschiede aufgreifen, die sich aus dem Epochenwechsel für die Praxis und die Kampfformen der Arbeiterbewegung ergeben.
Ausgehend von der historischen Kontinuität revolutionärer Organisationen wollen wir hier hervorheben, was, unbenommen ihrer den Kampfformen dieser Periode entsprechenden Schwächen und ihrer Degeneration, proletarisch an der Sozialdemokratie war und was sie beigetragen hatte, das revolutionäre Marxisten danach für sich in Anspruch nehmen sollten.
Wie sehen die Kriterien für die Bestimmung des Klassencharakters einer Organisation aus? Es lassen sich drei Hauptkritrerien nennen:
- ihr Programm, d.h. die Definition ihrer Ziele und ihrer Handlungsinstrumente insgesamt;
- die Praxis der Organisation im Klassenkampf;
- schließlich ihre Herkunft und ihre historische Dynamik.
Jedoch bekommen diese Kriterien erst einen Sinn, wenn man die fragliche Organisation zuallererst in die historischen Bedingungen ihrer Existenz einordnet. Und dies nicht nur, weil es unerläßlich ist, die objektiven historischen Bedingungen zu berücksichtigen, um zu bestimmen, wie die Formen und die Sofort-Forderungen des proletarischen Kampfes aussehen und aussehen könnten. Es ist auch unerläßlich, um präsent zu haben, welchen Grad an Bewußtsein die proletarische Klasse in einem gegebenen Moment erreicht hat, um den Bewußtseinsgrad einer bestimmten Organisation zu beurteilen.
Bewußtsein entwickelt sich historisch. Es reicht nicht aus, begriffen zu haben, daß das Proletariat zumindest ab der Mitte des 19. Jahrhunderts als eine politisch autonome Klasse existiert hat. Es ist ebenso notwendig zu begreifen, daß es seitdem nicht als Mumie, als ausgestopfter Dinosaurier überdauert hat. Sein Klassenbewußtsein, sein historisches Programm hat sich entfaltet, wurde mit jeder Erfahrung reicher und hat sich mit der Reifung der historischen Bedingungen weiterentwickelt. Um den Grad an Bewußtsein zu beurteilen, der sich im Programm einer proletarischen Organisation des 19. Jahrhunderts ausdrückt, wäre es absurd, den Maßstab eines Verständnisses anzulegen, das erst nach Jahrzehnten weiterer Erfahrungen möglich war.
Rufen wir uns schließlich kurz einige Elemente der historischen Bedingungen in Erinnerung, unter denen sich die sozialdemokratischen Parteien im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts und bis zum Ausbruch des Weltkrieges gebildet und existiert hatten, dem Augenblick, in dem die Zweite Internationale starb und eine Partei nach der anderen unter der Last des Verrats ihrer opportunistischen Führung auseinanderbrach.


Die Bedingungen des proletarischen Kampfes in der Epoche der Sozialdemokratie

In der starren und statischen Konzeption der GCI, in der der Kapitalismus seit seinen Anfängen "unveränderlich" geblieben ist, erscheint die Epoche Ende des 19. Jahrhunderts identisch mit der aktuellen Epoche. Auch ihre Beurteilung der Sozialdemokratie aus dieser Epoche beschränkt sich auf die Identifizierung derselben mit den heutigen sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien. In Wahrheit ist diese Art von kindischer Projektion, die davon ausgeht, daß mehr, als man selbst weiß, nicht existiert, nichts anderes als eine plumpe Negation der historischen Analyse. Die heutigen Generationen kennen eine Welt, die seit mehr als einem dreiviertel Jahrhundert die schlimmsten Manifestationen der Barbarei in der Geschichte der Menschheit erlebt hat: die Weltkriege. Wenn es keinen Krieg gab, brach eine Wirtschaftskrise über die Gesellschaft herein, mit Ausnahme zweier Perioden der "Prosperität", die sich auf den "Wiederaufbau" nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg gründeten. Hinzugefügt werden sollte auch das Aufkommen von lokalen Kriegen in Permanenz in den weniger entwickelten Regionen nach Ende des Zweiten Weltkrieges und die Ausrichtung der gesamten Weltwirtschaft auf im wesentlichen militärische und zerstörerische Ziele.
Der Apparat, der für die Erhaltung dieser dekadenten Ordnung verantwortlich zeichnet, hat seinen Griff auf die Gesellschaft pausenlos verstärkt; die Tendenz zum Staatskapitalismus in all seinen Formen äußert sich in allen Ländern immer mächtiger und allgegenwärtiger in allen Gesellschaftsbereichen und vor allen Dingen in den Klassenbeziehungen. In jedem Land ist der Staatsapparat mit einem ganzen Sortiment von Instrumenten ausgestattet, um die Arbeiterklasse zu kontrollieren, zu kanalisieren und zu atomisieren. Die Gewerkschaften und die Massenparteien sind Teil des Räderwerks in der staatlichen Maschinerie geworden. Das Proletariat kann nur sporadisch seine Existenz als Klasse unter Beweis stellen. Abgesehen von Momenten des sozialen Aufruhrs ist es als kollektiver Körper atomisiert, als ob es aus der zivilisierten Welt ausgestoßen ist.
Ganz anders der Kapitalismus im späten 19. Jahrhundert. Auf ökonomischer Ebene durchschritt die Bourgeoisie die längste und kraftvollste Prosperitätsperiode in ihrer Geschichte. Nach den zyklischen Wachstumskrisen, die das System ungefähr alle zehn Jahre zwischen 1825 und 1873 befielen, erlebte der Kapitalismus bis 1900 fast 30 Jahre eines ununterbrochenen Wohlstandes. Auf militärischer Ebene war die Periode geradezu ausnahmslos: es gab keine größeren Kriege. In dieser Zeit der verhältnismäßig friedlichen Prosperität, schwer vorstellbar für Menschen unserer Epoche, fand der proletarische Kampf in einem politischen Zusammenhang statt, der, obwohl er natürlich im Rahmen der kapitalistischen Ausbeutung und Unterdrückung blieb, nichtsdestotrotz sehr unterschiedliche Merkmale gegenüber dem 20. Jahrhundert aufwies.
Die Beziehungen zwischen Proletariern und Kapitalisten waren direkt und darüber hinaus zersprengt, weil die meisten Fabriken noch von beschränkter Größe waren. Der Staat griff in diesen Beziehungen nur bei offenen Konflikten ein, die "die öffentliche Ordnung zu gefährden" drohten. In der überwältigenden Mehrheit von Fällen waren Verhandlungen über Löhne und Arbeitsbedingungen eine Angelegenheit, die vom lokalen Kräfteverhältnis zwischen den Bossen (oft Familienunternehmen) und den Arbeitern abhing, die zumeist direkt aus dem Handwerk und der Landwirtschaft kamen. Der Staat hielt sich fern von diesen Verhandlungen.
Der Kapitalismus eroberte den Weltmarkt und verbreitete seine Formen der gesellschaftlichen Organisation in alle Winkel dieser Erde. Die Bourgeoisie brachte die Entwicklung der Produktivkräfte zur Explosion. Mit jedem Tag wurde sie reicher und profitierte sogar von der Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter. Arbeitskämpfe waren oft vom Erfolg gekrönt. Lange, unnachgiebige, selbst isolierte Streiks zwangen die Bosse, die - abgesehen von der Tatsache, daß sie in der Lage waren zu zahlen - den Arbeitern oft zersplittert gegenüberstanden. Die Arbeiter lernten, sich dauerhaft zu vereinen und zu organisieren (wie die Bosse übrigens auch). Ihre Kämpfe rangen der Bourgeoisie das Recht auf die Existenz von Arbeiterorganisationen - Gewerkschaften, politische Parteien, Kooperativen - ab. Das Proletariat bestätigte sich als eine soziale Kraft in der Gesellschaft, selbst außerhalb von Momenten des offenen Kampfes. Die Arbeiterklasse führte ein Leben für sich in der Gesellschaft: es gab die Gewerkschaften (die "Schulen des Kommunismus" waren), aber es gab auch Arbeitervereine, in denen man über Politik reden konnte, "Arbeiteruniversitäten", wo man den Marxismus, aber auch das Lesen und Schreiben erlernen konnte (Rosa Luxemburg und Pannekoek waren Lehrer in der deutschen Sozialdemokratie); es gab Arbeiterlieder und Arbeiterfeste, wo man sang, tanzte und sich über den Kommunismus unterhielt.
Das Proletariat erzwang das allgemeine Wahlrecht und setzte seine Vertretung durch eigene politische Organisationen im bürgerlichen Parlament durch - das Parlament war noch nicht vollständig vom Mystifikationszirkus durchtränkt; die reelle Macht befand sich noch nicht gänzlich in den Händen der Regierungssexekutive. Es gab echte Konfrontationen zwischen den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klassen, und dem Proletariat gelang es manchmal, diese Divergenzen  zwischen bürgerlichen Parteien für die Durchsetzung seiner eigenen Interessen zu nutzen. Die Lebensbedingungen der europäischen Arbeiterklasse erfuhren reelle Verbesserungen: Verkürzung der Arbeitszeit von zwölf bis vierzehn Stunden auf zehn; Verbot von Kinderarbeit und der schweren körperlichen Arbeit für Frauen; eine allgegenwärtige Steigerung des Lebensstandards; Hebung der allgemeinen Kultur. Inflation war unbekannt. Die Konsumgüterpreise fielen mit der Einführung neuer Produktionstechniken. Die Arbeitslosigkeit war auf das Minimum einer Reservearmee an Arbeitskräften reduziert, das ein expandierender Kapitalismus heranziehen konnte, um seine konstant wachsenden Bedürfnisse zu befriedigen. Ein junger beschäftigungsloser Arbeiter von heute mag Schwierigkeiten haben, sich dies vorzustellen, aber dies sollte für jede Organisation klar sein, die für sich in Anspruch nimmt, marxistisch zu sein.


Sozialdemokratie ist nicht gleich Reformismus

Die sozialdemokratischen Arbeiterparteien und "ihre" Gewerkschaften waren Produkt und Instrument der Kämpfe dieser Epoche. Im Gegensatz zu dem, was die GCI andeutet, waren die Gewerkschaft und der politische Kampf im Parlament in den 1870er Jahren keine "Erfindung" der Sozialdemokratie. Von den ersten Artikulationen des Proletariats als Klasse an, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hat sich der Kampf für das Bestehen von Gewerkschaften oder für das allgemeine Wahlrecht (insbesondere die Chartisten in England) in der Arbeiterklasse entwickelt. Die Sozialdemokratie entwickelte und organisierte lediglich eine Bewegung, die schon vor ihr existiert und sich unabhängig von ihr entwickelt hatte. Für das Proletariat war die Frage damals wie heute dieselbe: wie bekämpft man die Ausbeutung, in der man sich befindet? Und zu dieser Zeit waren der gewerkschaftlich und politisch-parlamentarische Kampf durchaus effektive Mittel des Widerstandes. Sie im Namen der "Revolution" abzulehnen hieße, eine ganz reelle Bewegung und den einzigen Weg zur Revolution, der zu dieser Zeit möglich war, zu ignorieren und abzulehnen. Die Arbeiterklasse mußte ihn benutzen, um ihre Ausbeutung zu begrenzen, aber auch um sich bewußt über sich selbst und ihre Existenz als autonome und vereinte Kraft zu werden.
"Die große sozialistische Bedeutung des gewerkschaftlichen und politischen Kampfes besteht darin, daß sie die Erkenntnis, das Bewußtsein der Arbeiterklasse sozialisieren."  (Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, Ges. Werke, Bd.1/1, S. 402)
Das war das "Minimalprogramm". Aber es war begleitet von einem "Maximalprogramm", das von der Klasse ausgeführt werden sollte, wenn sie einst fähig geworden ist, ihren Kampf gegen Ausbeutung bis zum Äußersten zu führen: die Revolution. Rosa Luxemburg drückte die Verknüpfung zwischen diesen beiden Programmen so aus:
"In der parteiüblichen Auffassung führt man das Proletariat durch den gewerkschaftlichen und politischen Kampf zu der Überzeugung von der Unmöglichkeit, seine Lage gründlich durch diesen Kampf aufzubessern, und von der Unvermeidlichkeit einer endgültigen Besitzergreifung der politischen Machtmittel." (ebenda, S. 401)
Dies war das Programm der Sozialdemokratie.
Im Gegensatz definierte sich der Reformismus durch seine Verneinung der Idee von der Notwendigkeit der Revolution. Er hielt allein den Kampf für Reformen innerhalb des Systems für sinnvoll. Und die Sozialdemokratie gründete sich im Widerspruch sowohl zu den Anarchisten - die glaubten, die Revolution sei zu jeder Zeit möglich - als auch zu den Pragmatikern und ihrem Reformismus, die annahmen, der Kapitalismus sei ewig. Hier ein Beispiel, wie die französische Arbeiterpartei ihr Wahlprogramm 1880 vorstellte:
"In Erwägung,
... daß die kollektive Aneignung nur von einer revolutionären Aktion der Klasse der Produzenten - dem Proletariat -, in einer selbständigen politischen Partei organisiert, ausgehen kann;
- daß eine solche Organisation mit allen Mitteln, über die das Proletariat verfügt, angestrebt werden muß, einschließlich des allgemeinen Wahlrechts, das so aus einem Instrument des Betrugs, das es bisher gewesen ist, in ein Instrument der Emanzipation umgewandelt wird,
haben die französischen sozialistischen Arbeiter, die sich auf wirtschaftlichem Gebiet die Rückkehr aller Produktionsmittel in Kollektiveigentum zum Ziel ihrer Anstrengungen gesetzt haben, als Mittel der Organisation und des Kampfes beschlossen, mit folgendem Minimalprogramm in die Wahlen zu gehen…"
(Einleitung zum Programm der französischen Arbeiterpartei, Mai 1880, erschienen in L'Egalité, Nr. 24, 30.6.1880, in: MEW, Bd. 19, S. 238)
Dieses Programm wurde von Karl Marx geschrieben.
Wie groß auch immer das Gewicht des Opportunismus gegenüber dem Reformismus innerhalb der sozialdemokratiscnen Parteien war, ihr Programm lehnte ihn ausdrücklich ab. Das Maximalprogramm der sozialdemokratischen Parteien war die Revolution; der gewerkschaftliche und parlamentarische Kampf war im wesentlichen das praktische Mittel, angepaßt an die Möglichkeiten und Forderungen der Epoche, um die Verwirklichung dieses Ziels vorzubereiten.


Die Errungenschaften der Zweiten Internationalen

Die Aneignung des Marxismus
Natürlich erkennt die GCI keinen Beitrag  all dieser "im Kern bürgerlichen" Organisationen für die Arbeiterbewegung an. "Zwischen der Sozialdemokratie und dem Kommunismus", so sagen sie, "gibt es dieselbe Klassengrenze wie zwischen Bourgeoisie und Proletariat."
Die Ablehnung der Sozialdemokratie und der Zweiten Internationalen des 19.Jahrhunderts ist nichts Neues. Die Anarchisten haben immer so verfahren. Was daran relativ neu ist, ist, dies zu tun und dabei Marx und Engels für sich zu reklamieren, aus Sorge um die elterliche Gewalt vielleicht...
Das Problem ist, daß die Aneignung marxistischer Konzeptionen und die ausdrückliche Ablehnung des Anarchismus zweifellos die Haupterrungenschaft der Zweiten Internationalen im Verhältnis zur Ersten Internationalen bildet. In der 1864 gegründeten Ersten Internationalen versammelten sich besonders in den Anfängen alle Arten von politischen Tendenzen: Mazzinisten, Proudhonisten, Bakunisten, Blanquisten, britische Gewerkschafter usw. Die Marxisten waren lediglich eine winzige Minderheit (das Gewicht der Persönlichkeit von Marx innerhalb des Generalrates sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen). Es gab nur einen Marxisten, Frankel, in der Pariser Kommune, und der war Ungar.
Im Gegensatz dazu fußte die Zweite Internationale mit Engels von Anfang an auf der Grundlage marxistischer Konzeptionen. Dies wurde ausdrücklich auf dem Erfurter Kongreß 1891 anerkannt.
In Deutschland wurde schon früh, 1869, in Eisenach die sozialdemokratische Partei von Wilhelm Liebknecht und August Bebel gegründet, nachdem sie sich von Lassalles Organisation (der Allgemeinen Arbeiter Assoziation der deutschen Arbeiter) gespalten hat. Nach der Wiedervereinigung beider Parteien 1875 befanden sich die Marxisten in der Mehrheit, aber das verabschiedete Programm war derart voll von Konzessionen an die Lassalleanischen Konzepte, daß Marx in einem Begleitbrief zu seiner berühmten "Kritik am Gothaer Programm" schrieb:
"Nach abgehaltnem Koalitionskongreß werden Engels und ich nämlich eine kurze Erklärung veröffentlichen, des Inhalts, daß wir besagtem Prinzipienprogramm durchaus fernstehn und nichts damit zu tun haben." Er fügte hinzu: "Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme." (Brief an W. Bracke, 5. 5. 1875, MEW 19, S. 13).
Fünfzehn Jahre später wurde sein Vertrauen in die reelle Bewegung durch die Aneignung marxistischer Konzeptionen durch die Zweite Internationale von ihrer Gründung an gerechtfertigt.
Dies war ein wesentlicher Beitrag zur Stärkung der Arbeiterbewegung.
Die GCI erinnert uns daran, daß Marx und Engels den Begriff "Sozialdemokratie" ablehnten, der in Wirklichkeit die Lassalleanischen Schwächen der deutschen Partei widerspiegle: "Man wird bemerken, daß in allen diesen Aufsätzen und namentlich in diesem letzteren ich mich durchweg nicht einen Sozialdemokraten nenne, sondern einen Kommunisten (...) Für Marx und mich war es daher rein unmöglich, zur Bezeichnung unseres speziellen Standpunkts einen Ausdruck von solcher Dehnbarkeit zu wählen." (Engels, Vorwort zur Broschüre "Internationales aus dem 'Volksstaat'", 3.1.1894, MEW Bd. 22, S. 417)
Die GCI "vergißt" jedoch zu erwähnen, daß die Marxisten daraus nicht den Schluß zogen, mit der Partei zu brechen, sondern daß sie sich damit abfanden und eine inhaltliche Auseinandersetzung führten. So präzisierte Engels: "Heute ist das anders, und so mag das Wort passieren, so unpassend es bleibt für eine Partei, deren ökonomisches Programm nicht bloß allgemein sozialistisch, sondern direkt kommunistisch, und deren politisches letztes Endziel die Überwindung des ganzen Staates, also auch der Demokratie ist." (ebenda, S. 402).
Die Aneignung der grundsätzlichen Konzepte des Marxismus durch die Internationale war kein Geschenk des Himmels, sondern eine Errungenschaft, die dank der fortschrittlichsten Elemente erzielt wurde.

Die Unterscheidung zwischen proletarischen Einheitsorganisationen und politischen Organisationen des Proletariats
Ein anderer wichtiger Beitrag der Zweiten Internationalen im Vergleich zur Ersten war die Unterscheidung zwischen zwei gesonderten Organisationsformen. Auf der einen Seite die Einheitsorganisationen, die die Proletarier auf der Grundlage ihrer Klassenzugehörigkeit um sich sammeln (Gewerkschaften und später die Sowjets bzw. Arbeiterräte); auf der anderen Seite die politischen Organisationen, die die Militanten auf der Basis einer präzisen, politischen Plattform um sich sammeln.
Besonders in ihren Anfängen sammelte die Erste Internationale sowohl Individuen als auch Kooperativen, Solidargemeinschaften, Gewerkschaften und politische Vereine um sich. Was bedeutete, daß sie als Organ nie wirklich ihren Aufgaben gerecht wurde, weder der Aufgabe klarer politischer Orientierung noch der Aufgabe der Vereinigung der Proletarier.
Es war daher ganz natürlich, daß die Anarchisten, die sowohl den Marxismus als auch die Notwendigkeit einer politischen Organisation ablehnen, die Zweite Internationale von Anbeginn bekämpften. Im übrigen: viele anarchistische Strömungen berufen sich auch heute noch auf die IAA (Internationale Arbeiter Assoziation).
Auch hier kommt nichts Neues von der GCI, sie bleibt unverändert... anarchistisch.

Warum und wie die Revolutionäre innerhalb der Zweiten Internationalen kämpften
Bedeutet dies, daß die Sozialdemokratie und die Zweite Internationale perfekte Verkörperungen einer Organisation der proletarischen Avantgarde waren? Natürlich nicht.
Der Gothaer Kongreß wurde vier Jahre nach der Niederschlagungung der Kommune abgehalten; die Zweite Internationale wurde nach fast 20 Jahren ununterbrochene kapitalistischer Prosperität gegründet, angestoßen von Streiks, die nicht von einer sich verschlimmernden Ausbeutung infolge einer Wirtschaftskrise ausgelöst wurden, sondern von eben jener Prosperität, die das Proletariat in eine Lage relativer Stärke versetzte. Der Abstand zwischen den zyklischen Krisen des Kapitalismus und der Fortschritt bei den Lebensbedingungen der Arbeiterklasse durch den gewerkschaftlichen und parlamentarischen Kampf erzeugten zwangsläufig Illusionen unter den Arbeitern und selbst in ihrer Avantgarde.
In der marxistischen Auffassung kann der Ausbruch der Revolution nur durch eine gewaltsame Wirtschaftskrise ausgelöst werden. Je länger die Periode der Prosperität anhielt, desto mehr schien die Wahrscheinlichkeit solch einer Krise zurückzuweichen. Auch der Erfolg des Kampfes für Reformen verlieh der reformistischen Idee Auftrieb, daß die Revolution unnütz und unmöglich sei. Die Tatsache, daß die Resultate des Kampfes im Kern von den herrschenden Kräfteverhältnissenwesentlich auf der Ebene des Nationalstaates abhingen und nicht vom internationalen Kräfteverhältnis - wie dies für den revolutionären Kampf der Fall ist -, beschränkte in steigendem Maße die Kampforganisation auf einen nationalen Rahmen, während internationalistische Konzeptionen und Aufgaben oft in den Hintergrund gedrängt oder auf unbestimmte Zeit vertagt wurden.
1898, sieben Jahre nach dem Erfurt Parteitag, stellte Bernstein in der Internationalen offen die marxistische Theorie von der Krise und der Unvermeidbarkeit des ökonomischen Zusammenbruchs des Kapitalismus (den auch die GCI leugnet) in Frage: nur der Kampf für Reformen sei lebensfähig. "Das Ziel ist nichts, die Bewegung ist alles".
Die parlamentarischen Fraktionen der Parteien haben sich häufig allzu leicht in den Netzen des bürgerlich-demokratischen Spiels verheddert, während die Gewerkschaftsführer dazu neigten, zu "verständnisvoll" gegenüber den Erfordernissen der kapitalistischen Nationalökonomie zu sein. Das Ausmaß der Auseinandersetzung, die Marx und Engels in der entstehenden Sozialdemokratie  gegen die Tendenzen geführt hatten, die versöhnlerisch gegenüber dem Reformismus waren, der Kampf Luxemburgs, Pannekoeks, Gorters, Lenins, Trotzkis in der degenerierenden Sozialdemokratie sind Beweis genug für das Gewicht, das diese Form der bürgerlichen Ideologie innerhalb der proletarischen Organisationen besaß... Doch das Gewicht des Reformismus in der Zweiten Internationalen macht letztere genausowenig zu einem bürgerlichen Organ, wie der proudhonistische Reformismus die IAA zu einem Instrument des Kapitals machte.
Die politischen Organisationen des Proletariats haben nie einen monolithischen Block identischer Konzeptionen gebildet. Überdies befanden sich die fortgeschrittensten Elemente häufig in der Minderheit - worauf wir an früherer Stelle hingewiesen hatten. Doch die Minderheiten, die von Marx und Engels bis hin zu den Linkskommunisten in den 1930er Jahren reichen, wußten, daß das Leben politischer Organisationen des Proletariats nicht nur vom Kampf gegen den Feind auf der Straße und an den Arbeitsstätten abhängt, sondern auch vom permanenten Kampf gegen den - stets präsenten - bürgerlichen Einfluß in diesen Organisationen.
Für die GCI war diese Art der Auseinandersetzung Unsinn, eine Hilfestellung für die Konterrevolution.
"Die Präsenz marxistischer Revolutionäre (Pannekoek, Gorter, Lenin...) in der II. Internationalen bedeutete nicht, daß letztere die Interessen des Proletariats vertraten (ob die 'unmittelbaren' oder die 'historischen'), sondern halfen - mangels einer Spaltung - mit, die ganzen konterrevolutionären Aktivitäten der Sozialdemokratie gutzuheißen."
Nur beiläufig sei bemerkt, daß hier Pannekoek, Gorter und Lenin - diese Linke einer Organisation, die durch eine 'Klassengrenze' vom Kommunismus getrennt ist - von der GCI in den Rang "marxistischer Revolutionäre" gehoben werden. Vielen Dank dafür. Aber indem sie das tut, gibt die GCI uns zu verstehen, daß Organisationen, deren "Klassencharakter im Kern bürgerlich" ist, einen linken Flügel besitzen können, der sich aus authentischen "revolutionären Marxisten" zusammensetzt... und das jahrzehntelang! Es handelt sich hier vermutlich um dieselbe "Dialektik", die die GCI zur Annahme führt, daß der linke Flügel des lateinamerikanischen Stalinismus (die Maoisten vom "Leuchtenden Pfad" in Peru) in diesen Ländern eine "einzigartige Struktur besitzt, die imstande ist, der stetig wachsenden Zahl an direkten Aktionen des Proletariats einen Zusammenhalt zu verschaffen".
Ob es unseren Punk-Dialektikern gefällt oder nicht, der maoistische Stalinismus Perus besitzt ebensowenig eine "Struktur, die imstande ist, einen Zusammenhalt zu verschaffen", wie die "marxistischen Revolutionäre" in der Zweiten Internationalen den "konterrevolutionäre Praktiken Rückendeckung verschafften".
Das Proletariat bereitet sich heute aufeine entscheidende Schlacht mit dem kapitalistischen System vor, dem es nicht gelingt, die offene Krise zu überwinden, von der es seit mittlerweile fast fünfundzwanzig Jahren, seit dem Ende der Wiederaufbauperiode Ende der 1960er Jahre, befallen ist.
Marx und Engels, Rosa und Lenin, Pannekoek und Gorter waren nicht wirre Schwachköpfe, die dachten, sie könnten als Militante für die Revolution kämpfen und bürgerliche Organisationen mit Leben erfüllen. Sie waren Revolutionäre, die im Gegensatz zu den Anarchisten - und zur GCI - um die konkreten Bedingungen des Arbeiterkampfes entsprechend der historischen Periode des Systems wußten.
Man mag kritisieren, daß Lenin spät sich das Ausmaß der opportunistischen Krankheit in der Zweiten Internationalen vergegenwärtigt hat; man mag Rosa Luxemburgs Unfähigkeit kritisieren, die organisatorische Arbeit der Fraktion in der Sozialdemokratie um die Jahrhundertwende wirklich zu leiten, aber man kann nicht den Klassencharakter des Kampfes, den sie führten, leugnen.
Wir sollten vielmehr die Klarheit von Rosa Luxemburg Ende des 19. Jahrhunderts, als sie schonungslos die in der Zweiten Internationalen entstehende revisionistische Strömung kritisierte, und die Fähigkeit der Bolschewiki begrüßen, sich als unabhängige Fraktion mit ihren eigenen Interventionsmitteln in der russischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei zu organisieren. Deshalb waren sie die Avantgarde des Proletariats in der revolutionären Kämpfe am Ende des Ersten Weltkriegs.
Glaubt die GCI tatsächlich, daß es Zufall ist, wenn jene, die sie gelegentlich "marxistische Revolutionäre" nennt, aus der Sozialdemokratie stammen und nicht aus dem Anarchismus oder aus anderen Strömungen? Es ist unmöglich, diese elementare Frage zu beantworten, ohne die Wichtigkeit der Kontinuität der politischen Organisationen des Proletariats zu verstehen. Und sie kann nicht begriffen werden, ohne die Analyse der kapitalistischen Dekadenz zu verstehen.
Die ganze Geschichte der Zweiten Internationalen kann nur dann als sinnloses Chaos erscheinen, wenn wir nicht im Kopf haben, daß sie in der Übergangsperiode zwischen der historischen Epoche des Aufstiegs des Kapitalismus und jener seiner Dekadenz existiert hatte.


Schlussfolgerung

Heute bereitet sich das Proletariat darauf vor, eine entscheidende Schlacht gegen einen Kapitalismus zu führen, der nicht länger imstande ist, der offenen Krise zu entkommen, die seit über zwanzig Jahren, seit dem Ende der Wiederaufbauperiode in den späten 1960er Jahren, andauert.
Es tritt relativ frei von den Mystifikationen in den Kampf, mit denen die stalinistische Konterrevolution es 40 Jahre lang beeinflußt hatte; in jenen Ländern mit einer alten Tradition der bürgerlichen Demokratie hat es viele seiner Illusionen über den gewerkschaftlichen und den parlamentarischen Kampf verloren, während es in den weniger entwickelten Ländern seine Illusionen über den anti-imperialistischen Nationalismus verloren hat.
Jedoch ist es den Proletariern, auch wenn sie sich von diesen Illusionen freigemacht haben, noch nicht gelungen, sich all die Lehren der Kämpfe der Vergangenheit wieder anzueignen.
Die Aufgabe der Kommunisten ist es nicht, die Arbeiterklasse zu organisieren - wie dies die Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert tat. Der Beitrag der Kommunisten zum Arbeiterkampf liegt wesentlich auf der Ebene der bewußten Praxis, der Praxis des Kampfes. Auf dieser Ebene tragen sie nicht soviel durch die Antworten bei, sondern durch die Art und Weise, wie sie die Probleme in Betracht ziehen und stellen. Es ist eine Weltanschauung und eine praktische Haltung, die stets die globalen und historischen Dimensionen jeder Frage, auf die der Kampf stößt, in den Vordergrund stellt.
Jene wie die GCI, die die historische Dimension des Arbeiterkampfes ignorieren, indem sie die unterschiedlichen Phasen der kapitalistischen Realität leugnen, indem sie die reelle Kontinuität der politischen Organisationen des Proletariats abstreiten, entwaffnen das Proletariat in einem Augenblick, wo es der Wiederaneignung seiner eigenen Weltanschauung besonders bedarf.
Es reicht nicht aus, "für Gewalt", "gegen die bürgerliche Demokratie" zu sein, um jederzeit Perspektiven im Klassenkampf zu entdecken und zu skizzieren. Weit gefehlt. Illusionen diesbezüglich zu pflegen ist gefährlich und kriminell.

RV

    1) Alle Zitate der GCI sind, soweit nicht anders angegeben, aus den Artikeln "Théories de la décadence, décadence de la théorie" entnommen, veröffentlicht in: LE COMMUNISTE, Nr. 23 und 25 (Nov. 1985 und 1986) und von uns übersetzt.
    2) Siehe INTERNATIONALE REVUE, Nr. 10 und 11
    3) In Wahrheit ist dies die alte Leier der Modernisten und "verschämten" Anarchisten, besonders seit 1968.
Quell-URL: https://de.internationalism.org/ir/12/1990_poldekadenz03 [11]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [12]

Die russische Erfahrung: Privateigentum und Gemeineigentum (Internationalisme, 1946)

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Einleitung


Den Artikel, den wir hier wiederveröffentlichen, wurde von der Gruppe "Kommunistische Linke Frankreichs" (GCF) in der Zeitschrift INTERNATIONALISME, Nr. 10 im Mai 1946, veröffentlicht. INTERNATIONALISME faßte sich als Fortsetzung von BILAN und OCTOBRE auf, die von der internationalen kommunistischen Linken vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs veröffentlicht worden waren. Doch INTERNATIONALISME ist keine simple Fortsetzung von BILAN; sie geht vielmehr über letztere hinaus.
Die russische Frage stand Anfang der 30er Jahre im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen und Diskussionen im politischen Milieu des Proletariats, und diese Debatte intensivierten sich noch während des Kriegs und in den ersten Nachkriegsjahren. Grob gesagt, schälten sich vier voneinander abweichende Analysen in diesen Debatten heraus:
1) Jene, die den proletarischen Charakter der Oktoberrevolution 1917 wie auch der bolschewistischen Partei leugneten und für die die russische Revolution lediglich eine bürgerliche Revolution war. Die Hauptvertreter dieser Analyse waren Gruppen, die sich auf die rätekommunistische Bewegung beriefen, insbesondere auf Pannekoek und die holländische Linke.
2) Am anderen Ende finden wir die Linksopposition Trotzkis, aus deren Sicht Rußland trotz der konterrevolutionären Politik des Stalinismus die Haupterrungenschaften der proletarischen Oktoberrevolution behütet: Enteignung der Bourgeoisie, Verstaatlichung und Planwirtschaft, Außenhandelsmonopol. Folglich bleibe das Regime in Rußland ein degenerierter Arbeiterstaat und müsse als solcher jedesmal verteidigt werden, wenn er in einen bewaffneten Konflikt mit anderen Mächten gerät. Es sei die Pflicht des russischen und des Weltproletariats, ihn bedingungslos zu verteidigen.
3) Eine dritte, gegen diese bedingungslose Verteidigung gerichtete Position stützte sich auf eine Analyse, derzufolge das Regime in Rußland, ähnlich wie sein Staat,  "weder kapitalistisch noch proletarisch" sei, sondern ein "kollektivistisches, bürokratisches Regime". Diese Analyse wollte eine Ergänzung zur marxistischen Alternative - kapitalistische Barbarei oder proletarische Revolution für eine sozialistische Gesellschaft - sein. Jetzt sollte ein dritter Weg hinzukommen, eine neue Gesellschaft, die vom Marxismus nicht vorhergesehen worden sei, die antikapitalistische, bürokratische Gesellschaft (1). Diese dritte Strömung fand ihre Anhänger in den Reihen der Trotzkisten vor und während des Krieges, die 1948 mit dem Trotzkismus brachen, um die Gruppe "Socialisme ou Barbarie" unter der Führung von Castoriadis alias "Chaulieu" (2) zu gründen.
4) Die italienische Faktion der internationalen kommunistischen Linken bekämpfte energisch die abwegige Theorie einer "dritten Alternative", die eine "Korrektur", eine "Erneuerung" des Marxismus zu liefern vorgab. Aber weil sie keine eigene zutreffende Analyse der Wirklichkeit des dekadenten Kapitalismus anbieten konnte, zog sie es vor, auf dem festen Boden der klassischen Formel zu verbleiben: Kapitalismus = Privateigentum; Einschränkung des Privateigentums = Marsch in den Sozialismus, was sich hinsichtlich des russischen Regimes in einer anderen Formel ausdrückte: Fortbestehen des degenerierten Arbeiterstaates mit einer konterrevolutionären Politik und Nicht-Verteidigung Rußlands im Kriegsfall.
Diese widersprüchliche, hybride Formel, die allen möglichen gefährlichen Konfusionen Tür und Tor öffnete, hatte schon am Vorabend des Krieges große Kritik innerhalb der italienischen Fraktion hervorgerufen, aber diese Kritik war durch eine noch dringendere Frage verdrängt worden, nämlich die Perspektive des Ausbruchs des allgemeinen imperialistischen Kriegs, die von der Führung der Fraktion abgestritten wurde (Vercesi-Tendenz).
Die Diskussion über den Klassencharakter des stalinistischen Rußlands wurde während des Krieges von der italienischen Fraktion wiederaufgegriffen, die sich 1940 in Südfrankreich rekonstituiert hatte (diese Rekonstitution fand ohne die Vercesi-Tendenz statt, die - im Namen der Theorie des Verschwindens der Arbeiterklasse als gesellschaftliche Kraft in diesem Krieg - jede Möglichkeit der Existenz und des Lebens einer revolutionären Organisation bestritt). Diese Diskussion hat schnell kategorisch alle Zweideutigkeiten und Scheinbeweise verworfen, die in der Position über den degenerierten Arbeiterstaates enthalten waren, welche von der Fraktion vor dem Krieg vertreten wurde, und sie hat dies mit ihrer Analyse des stalinistischen  Staates als Produkt des Staatskapitalismus klar dargelegt. (3)
Doch es war vor allem die GCF, die ab 1945 in ihrer Zeitschrift INTERNATIONALISME den Begriff des Staatskapitalismus in Rußland vertiefte und erweiterte, indem sie ihn in die globale Sichtweise einer allgemeinen Tendenz des Kapitalismus in seiner Dekadenzperiode integrierte.
Der Text, den wir nun wiederveröffentlichen, gehört zu den zahlreichen Texten von INTERNATIONALISME, die sich den Problemen des Staatskapitalismus widmeten. Der Artikel hat die Frage längst nicht erschöpfend behandelt, aber mit seiner Veröffentlichung wollen wir, neben seiner unbestrittenen Bedeutung, die Kontinuität und die Entwicklung der Ideenwelt und der Theorie in der Bewegung der internationalen kommunistischen Linke aufzeigen, auf die wir uns berufen.
INTERNATIONALISME machte endgültig Schluß mit dem "Mysterium" des stalinistischen Staates in Rußland, indem sie die allgemeine historische Tendenz zum Staatskapitalismus herausgestellte, dessen Bestandteil der stalinistische Staat war. Es zeigte ebenso die Besonderheiten des russischen Staatskapitalismus auf, die, weit entfernt davon, Ausdruck "eines Übergangs von der formellen Herrschaft zur reellen Herrschaft des Kapitalismus" zu sein, wie es dummerweise unsere Dissidenten von der EFIKS tun, ihre Ursachen in der Tatsache haben, daß sie aus dem Tiumph der stalinistischen Konterrevolution hervorgegangen waren, nachdem die Oktoberrevolution die alte bürgerliche Klasse vernichtet hatte.
Aber INTERNATIONALISME hatte nicht die Zeit, ihre Analyse des Staatskapitalismus weiter voranzutreiben und insbesondere die objektiven Grenzen dieser Tendenz aufzuzeigen. Obgleich INTERNATIONALISME schrieb: "Die ökonomische Tendenz zum Staatskapitalismus, die innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft nicht in einer Vergesellschaftung und Kollektivierung zum Abschluß gelangen kann, bleibt dennoch eine sehr reelle Tendenz..." (INTERNATIONALISME, Nr. 9), hat sie die Analyse der Gründe, der Grenzen nicht vorangetrieben, die diese Tendenz daran hindern, "zum Abchluß zu kommen". Es blieb der IKS vorbehalten, diese Frage innerhalb des von INTERNATIONALISME skizzierten Rahmens anzugehen.
Es ist an uns zu demonstrieren, daß der Staatskapitalismus, weit entfernt davon, die unüberwindbaren Widersprüche der Dekadenzperiode zu lösen, nur noch neue Widersprüche hinzufügt, neue Faktoren, die die Lage des Weltkapitalismus letztlich verschlechtern. Einer dieser Faktoren ist die Schaffung einer immer größeren Masse von unproduktiven und parasitären Schichten, einer Verantwortungslosigkeit von immer mehr Staatsbediensteten, deren Aufgabe es paradoxerweise ist, die Wirtschaft zu führen, zu orientieren und zu verwalten.
Der kürzliche Zusammenbruch des stalinistischen Blocks, die Vervielfachung von Korruptionsskandalen, die in allen Staatsapparaten weltweit herrschen, liefern den Beweis, daß die "Parasitisierung", um es mal so zu sagen, die ganze herrschende Klasse ergriffen hat. Es ist unbedingt notwendig, diese Forschungsarbeit fortzusetzen und die Tendenz zum Parasitismus, zur Verantwortungslosigkeit all dieser hohen Funktionäre zu verdeutlichen, eine Tendenz, die sich unter der Herrschaft des Staatskapitalismus beschleunigt.
MC

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Es gibt überhaupt keine Zweifel mehr: all die positiven Errungenschaften und noch mehr die negativen Lehren aus der ersten Erfahrung der proletarischen Revolution stellen die Grundlage der modernen Arbeiterbewegung dar. Solange die Bilanz dieser Erfahrung nicht gezogen wird, solange ihre Lehren nicht erhellt und assimiliert werden, werden die revolutionäre Avantgarde und die Arbeiterklasse dazu verurteilt sein, auf der Stelle zu treten.
Selbst indem man das Unmögliche für möglich hält, d.h. daß das Proletariat durch ein Zusammenspiel von glücklichen Umständen die Macht an sich reißt, könnte es diese unter diesen Bedingungen nicht halten. Innerhalb kürzester Zeit würde es die die Kontrolle über die Ereignisse verlieren, und die Revolution würde umgehend auf den Weg zurück zum Kapitalismus gebracht werden.
Die Revolutionäre können sich nicht damit zufrieden geben, nur zum heutigen Rußland Stellung zu beziehen. Das Problem, ob man Rußland verteidigt oder nicht, ist seit langem kein Gegenstand der Debatte mehr im Lager der Avantgarde.
Der imperialistische Krieg von 1939-45, in dem Rußland der ganzen Welt sein wahres Gesicht zeigte, das Gesicht einer äußerst blutrünstigen, räuberischen imperialistischen Macht zeigte, machte all die Verteidiger Rußlands - gleichgültig, in welchem Gewand sie sich präsentierten - zu Agenten, zu politischen Handlangern des imperialistischen russischen Staats im Proletariat, genauso wie der Krieg von 1914-18 den endgültigen Schulterschluß der sozialistischen Parteien mit den nationalen kapitalistischen Staaten enthüllt hatte.
Wir wollen in diesem Text auf diese Frage nicht mehr zurückkommen. Genauso wenig wollen wir hier auf den Charakter des russischen Staates zurückkommen, den die opportunistische Tendenz innerhalb der internationalen kommunistischen Linken noch als "proletarischen Charakter mit konterrevolutionärer Funktion", als "degenerierten Arbeiterstaat" darzustellen versucht. Wir meinen, daß sich dieser spitzfindige Scheinbeweis eines Gegensatzes erledigt hat, der angeblich zwischen dem proletarischen Charakter und der konterrevolutionären Funktion des russischen Staates existierte und der, statt auch nur den Ansatz einer Analyse und Erklärung der Entwicklungen in Rußland zu liefern, direkt zur Stärkung des Stalinismus, des kapitalistischen Staates Rußlands und des internationalen Kapitalismus führte. Man kann übrigens feststellen, daß seit der Veröffentlichung unserer Untersuchung und Polemik gegen diese Auffassung, die im BULLETIN INTERNATIONAL, Nr. 6, der italienischen Fraktion im Juni 1944 erschien, die Vertreter dieser Theorie es nicht mehr gewagt haben, offen weiterzubohren. Die kommunistische Linke Belgiens hat offiziell erklärt, daß sie diese Auffassung ablehnt. Die Internationale Kommunistische Partei (IKP) Italiens scheint noch nicht Stellung bezogen zu haben. Und obschon es keine offene, methodische Verteidigung dieser falschen Auffassung gibt, vermissen wir dennoch ihre ausdrückliche Ablehnung. Was erklärt, daß man in den Publikationen der IKP Italiens Begriffe wie "degenerierter Arbeiterstaat" liest, wenn sie vom kapitalistischen russischen Staat sprechen.
Es liegt auf der Hand, daß es sich nicht um eine Frage von Begriffen handelt, sondern um die substantielle Frage einer falschen Analyse der russischen Gesellschaft, um einen Mangel an theoretischer Präzision, auf den wir auch in anderen politischen und programmatischen Fragen stoßen.
Das Ziel unserer Untersuchung ist ausschließlich die Klärung der, wie uns scheint, Hauptlehren der russischen Erfahrung. Wir wollen keine Geschichte der Ereignisse schreiben, die sich in Rußland abgespielt haben, wie bedeutsam sie auch gewesen sein mögen. Solch eine Arbeit erfordert Anstrengungen, die unsere Kapazitäten überschreiten. Wir wollen nur jenen Teil dieser Erfahrung in Rußland betrachten, der über den Kontext einer einzelnen historischen Situation hinausgeht und Lehren für alle Länder und für die gesamte zukünftige gesellschaftliche Revolution beinhaltet. Damit wollen wir uns an der Untersuchung der grundlegenden Fragen beteiligen und unseren Beitrag zu diesen Fragen leisten, deren Lösung nur durch die Bemühungen aller revolutionären Gruppen mittels einer internationalen Diskussion erreicht werden kann.


 Privateigentum und Gemeineigentum

Das marxistische Konzept des Privateigentums an Produktionsmitteln als Grundlage der kapitalistischen Produktion und damit der kapitalistischen Gesellschaft schien eine andere Formel zu beinhalten: das Verschwinden des Privateigentums an Produktionsmitteln käme danach dem Verschwinden der kapitalistischen Gesellschaft gleich. Auch findet man in der gesamten marxistischen Literatur die Formel vom Verschwindens des Privateigentums an Produktionsmitteln als Synonym für den Sozialismus. Nun gibt es in der Entwicklung des Kapitalismus oder, genauer gesagt, des Kapitalismus in seiner dekadenten Phase eine mehr oder weniger markante Tendenz in allen Bereichen zur Einschränkung des Privateigentums an Produktionsmitteln, eine Tendenz hin zu ihrer Verstaatlichung.
Doch Verstaatlichungen sind kein Sozialismus, und wir wollen uns nicht damit aufhalten, dies zu beweisen. Was uns interessiert, ist die Tendenz selbst und ihre Bedeutung vom Standpunkt der Klasse aus betrachtet.
Wenn man davon ausgeht, daß das Privateigentum an Produktionsmitteln die Hauptgrundlage der kapitalistischen Gesellschaft ist, führt uns jede Konstatierung einer Tendenz zur Begrenzung dieses Privateigentums zu einem unüberwindbaren Widerspruch, nämlich: der Kapitalismus bedroht seine eigenen Grundlagen, er untergräbt seine eigene Basis.
Es wäre ganz sinnlos, hier mit Worten zu spielen und über die dem kapitalistischen Regime innewohnenden Widersprüche zu spekulieren.
Wenn man zum Beispiel von dem tödlichen Widerspruch des Kapitalismus spricht - nämlich daß dieser, um seine Produktion weiterzuentwickeln, neue Märkte erobern muß, daß er aber in dem Maße, wie er diese neuen Märkte erobert, sie in sein Produktionssystem integriert und somit den Markt zerstört, ohne den er nicht leben kann -, dann zeigt man einen reellen Widerspruch auf,  der aus der objektiven Entwicklung der kapitalistischen Produktion herrührt, unabhängig von seinem Willen und unlösbar für ihn. Das gleiche trifft zu, wenn man den imperialistischen Krieg und die Kriegswirtschaft nennt, in denen der Kapitalismus aufgrund seiner inneren Widersprüche seine Selbstzerstörung produziert.
Und so weiter bei all den Widersprüchen, in die sich die kapitalistische Gesellschaft verstrickt.
Mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln verhält es sich jedoch ganz anders, denn hier gibt es keine Kräfte, die den Kapitalismus zwingen, sich bewußt, wissentlich für die Bildung einer Struktur zu entscheiden, die eine Beeinträchtigung seines Charakters, seiner Essenz schlechthin darstellt.
Mit anderen Worten: indem man das Privateigentum an Produktionsmitteln zum Wesen des Kapitalismus erklärt, verkündigt man gleichzeitig, daß außerhalb dieses Privateigentums der Kapitalismus nicht bestehen kann. Gleichzeitig behauptet man, daß jegliche Veränderung im Sinne einer Limitierung dieses Privateigentums eine Einschränkung des Kapitalismus bedeuten würde und damit eine Veränderung im nicht-kapitalistischen, anti-kapitalistischen Sinne wäre. Noch einmal, es geht nicht um die Proportionen dieser Tendenz zur Einschränkung! Sich in quantitative Berechnungen zu flüchten, die beweisen sollen, daß es nicht um eine vernachlässigbare Größe handelt, hieße, der Frage aus dem Weg zu gehen. Jedenfalls wäre es falsch, denn es reicht nicht aus, das Ausmaß der tendenziellen Einschränkung in den totalitären Ländern und in Rußland zu benennen, wo alle Produktionsmittel verstaatlicht sind, um davon überzeugt zu sein. Es geht hier nicht um den Umfang, sondern um den Charakter dieser Tendenz schlechthin.
Wenn eine tendenzielle Liquidierung des Privateigentum wirklich eine antikapitalistische Tendenz bedeutet, kommt man zu einer stupenden Schlußfolgerung: weil diese Tendenz vom Staat gesteuert wird, wäre der kapitalistische Staat Makler seiner eigenen Zerstörung.
Und in der Tat enden all die "sozialistischen" Anhänger von Verstaatlichungen, der Kommandowirtschaft, all die Fabrizierer von "Plänen", die, auch wenn sie nicht bewußt den Kapitalismus stärken, dennoch Reformer in den Diensten des Kapitalismus sind, wie die Gruppen "Abondance" (etwa: Überfluß), CETES usw., in dieser Theorie des antikapitalistischen kapitalistischen Staates.
Die Trotzkisten, die nicht viel Verstand in ihrem Kopf haben, treten natürlich für diese Einschränkungen ein, denn alles, was gegen den kapitalistischen Charakter ist, ist zwangsläufig proletarisch. Vielleicht sind sie ein wenig skeptisch, aber sie meinen, es sei ein Verbrechen, auch nur die geringste Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen. Für sie stellen die Verstaatlichungen immerhin eine Schwächung des Privateigentums im Kapitalismus dar. Auch wenn sie nicht, wie die Stalinisten und die Sozialisten, sagen, daß Verstaatlichungen ein Stück Sozialismus innerhalb des Kapitalismus sind, sind sie dennoch davon überzeugt, daß sie "fortschrittlich" sind. Schlau wie sie sind, beabsichtigen sie, den kapitalistischen Staat dazu zu bringen, eine Arbeit zu verrichten, die andernfalls das Proletariat nach der Revolution erfüllen müsse. "Es bedeutet, daß es weniger für uns zu tun gibt", sagen sie und reiben sich die Hände, froh, den kapitalistischen Staat übers Ohr gehauen zu haben.
Aber: "Das ist Reformismus!", schreit der Linkskommunist von der Art Vercesis. Und als "Marxist" versucht er nicht das Phänomen zu erklären, sondern es ganz einfach zu leugnen und zu beweisen, daß es z.B. Verstaatlichungen nicht gibt, nicht geben kann, daß sie nur eine Erfindung, eine demagogische Lüge der Reformisten seien.
Warum diese auf den ersten Blick überraschende Entrüstung, dieses starrsinnige Leugnen? Weil  er mit den Reformisten einen gemeinsamen Ausgangspunkt hat, denn darauf fußt seine ganze Theorie des proletarischen Charakters der russischen Gesellschaft. Und weil sie den gleichen Maßstab für die Einschätzung des Klassencharakters der Wirtschaft haben, kann die Anerkennung solch einer Tendenz in den kapitalistischen Ländern für ihn nur die Anerkennung einer allmählichen Transformation des Kapitalismus in den Sozialismus bedeuten.
Dies ist nicht so, weil er am "marxistischen" Begriff des Privateigentums festhält, sondern vielmehr weil er auf die Umkehrung dieses Begriffes, auf seine Karikatur fixiert ist, d.h. daß das Fehlen von Privateigentum an Produktionsmitteln das Kriterium für den proletarischen Charakter des russischen Staates ist; so führt es ihn dazu, die Tendenz und die Möglichkeit der Einschränkung des Privateigentums an Produktionsmitteln in der kapitalistischen Gesellschaft leugnen. Anstatt die objektive und reelle Entwicklung des Kapitalismus und seine Tendenz zum Staatskapitalismus zu beobachten und seine Position zum Klassencharakter des russischen Staats zu korrigieren, zieht er es vor, an dem Begriff festzuhalten und seine Theorie über den proletarischen Charakter Rußlands zu retten, und sei es auf Kosten der Realität. Und weil der Widerspruch zwischen dem Begriff und der Wirklichkeit unüberwindbar ist, wird die Wirklichkeit schlicht geleugnet, und die Sache ist geritzt.
Eine dritte Tendenz versucht die Lösung in der Ablehnung des Marxismus zu finden. "Diese Doktrin", so behauptet sie, "war richtig, solange sie auf die kapitalistische Gesellschaft angewandt wurde, doch was Marx nicht vorhergesehen hatte und weshalb er 'überholt' ist, das ist die Tatsache, daß eine neue Klasse aufgetaucht ist, die die politische und wirtschaftliche Macht der Gesellschaft schrittweise und zum Teil friedlich (!) an sich reißt, auf Kosten des Kapitalismus und des Proletariats." Diese neue (?) Klasse wäre für die einen die Bürokratie, für die anderen die Technokratie und für dritte wiederum die "Synarchie".
Belassen wir es bei diesen Ausführungen und kehren zu unserem Thema zurück. Es ist unleugbar, daß es eine Tendenz gibt, die in Richtung einer Einschränkung des Privateigentums an Produktionsmitteln geht und die sich täglich in allen Ländern verstärkt. Diese Tendenz konkretisiert sich in der allgemeinen Entwicklung eines Staatskapitalismus, der die Hauptproduktionszweige und das Wirtschaftsleben des Landes verwaltet. Der Staatskapitalismus ist nicht das Vorrecht einer bestimmten Fraktion der Bourgeoisie oder einer einzelnen ideologischen Denkschule. Man sieht ihn sowohl im demokratischen Amerika wie auch in Hitlerdeutschland, im Labour-regierten England wie im "sowjetischen" Rußland sich ausbreiten.
Innerhalb des Rahmens dieser Untersuchung können wir die Analyse des Staatskapitalismus, der Bedingungen und historischen Ursachen, welche diese Form bestimmen, nicht in ihrer Gänze fortführen. Wir wollen nur anmerken, daß der Staatskapitalismus die der dekadenten Phase des Kapitalismus entsprechende Form ist, wie seinerzeit der Monopolkapitalismus der Phase der vollen Entwicklung des Kapitalismus entsprach. Eine weitere Bemerkung: ein charakteristisches Merkmal des Staatskapitalismus scheint uns seine Entwicklung zu sein, die stärker in direkter Verbindung steht zu den Auswirkungen der permanenten Wirtschaftskrise in den verschiedenen entwickelten kapitalistischen Ländern.
Der Staatskapitalismus stellt jedoch mitnichten eine Negation des Kapitalismus und noch weniger eine schrittweise Umwandlung zum Sozialismus dar, wie die Reformisten der verschiedenen Denkschulen behaupten.
Die Furcht, dem Reformismus anheimzufallen, wenn man die Tendenz zum Staatskapitalismus anerkennt, hängt mit dem Fehler zusammen, den man bei der Einschätzung des Klassencharakters des Kapitalismus begeht. Dieser definiert sich nicht durch das Privateigentum an Produktionsmitteln, das nur eine Form ist, die für eine gegebene Periode des Kapitalismus, den liberalen Kapitalismus, geeignet ist, sondern durch die Trennung der Produktionsmittel von den Produzenten.
Der Kapitalismus ist die Trennung zwischen der vergangenen, akkumulierten Arbeit, die sich in den Händen einer Klasse befindet, die die lebendige Arbeit einer anderen Klasse diktiert und ausbeutet. Es kommt nicht darauf an, wie die besitzende Klasse die Anteile unter ihren Mitgliedern verteilt. Im kapitalistischen Regime ändert sich diese Aufteilung ständig durch den Wirtschaftskampf oder durch die militärische Gewalt. Wie wichtig die Untersuchung der Funktionsweise dieser Aufteilung vom Standpunkt der politischen Ökonomie auch ist, sie spielt hier keine Rolle.
Unabhängig von den auftretenden Änderungen in den Beziehungen zwischen den verschiedenen Schichten der Bourgeoisie in der Kapitalistenklasse bleibt aus der Sicht des gesellschaftlichen Systems der Klassenbeziehungen das Verhältnis zwischen der besitzenden und produzierenden Klasse kapitalistisch.
Daß der während des Produktionsprozesses aus den Arbeitern herausgepreßte Mehrwert auf die eine oder andere Art verteilt wird, daß der Anteil, den das Finanz-, Handels- oder Industriekapital erhält, unterschiedlich groß ist, beeinflußt und ändert keinesfalls den eigentlichen Charakter des Mehrwerts. Für die kapitalistische Produktion ist es vollkommen unerheblich, ob es sich dabei um Privateigentum oder Gemeineigentum der Produktionsmittel handelt. Was den kapitalistischen Charakter der Produktion bestimmt, ist die Existenz von Kapital, das heißt, von akkumulierter Arbeit in den Händen der einen Klasse, die über die lebendige Arbeit der anderen Klasse gebietet, um Mehrwert zu produzieren. Der Kapitaltransfer aus privaten, individuellen Händen in die Hände des Staates bedeutet nicht eine Veränderung des Charakters des Kapitalismus in Richtung eines Nicht-Kapitalismus , sondern eine strikte Konzentration des Kapitals, welche die Ausbeutung der Arbeitskräfte rationaler, perfekter gestalten soll.
Worum es hier geht, ist nicht das marxistische Konzept, sondern ausschließlich sein beschränktes Verständnis, seine engstirnige und und formelle Lesart. Die Produktion nimmt nicht deshalb einen kapitalistischen Charakter an, weil es Privateigentum an Produktionsmitteln gibt. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln existierte in der Sklavengesellschaft wie auch im Feudalismus. Was den kapitalistischen Charakter der Produktion bestimmt, ist die Trennung der Produktionsmittel von ihren Produzenten, ihre Umwandlung in Erwerbsmittel und in Mittel zur Beherrschung der lebendigen Arbeit mit dem Ziel, sie Überschüsse, Mehrwert produzieren zu lassen, d.h. die Umwandlung der Produktionsmittel, die ihre Eigenschaft als einfache Werkzeuge im Produktionsprozeß verlieren, um zu Kapital zu werden und als solches zu existieren.
Die Form, in der das Kapital existiert, ob in privater oder konzentrierter Gestalt (Trust, Monopol oder verstaatlicht), bestimmt genausowenig seine Existenz wie die Größe des Mehrwerts oder die Formen, die er annehmen kann (Profit, Bodenrente). Die Formen sind nur die Manifestation der Existenz der Substanz und spiegeln dies nur unterschiedlich wider.
In der Epoche des liberalen Kapitalismus war die Form, in der das Kapital existierte, vor allem die des privaten Kapitals. Auch die Marxisten konnten sich ohne weiteres des Begriffs bedienen, der hauptsächlich diese Form darstellte, um seinen Inhalt auszudrücken und zu präsentieren.
Für die Propaganda gegenüber den Massen erwies sich dies sogar als Vorteil, um eine etwas abstrakte Idee in ein konkretes, lebendiges und leichter verständliches Bild zu übersetzen.
"Privateigentum der Produktionsmittel = Kapitalismus" und "Einschränkung des Privateigentums = Sozialismus" waren die gängigen Formulierungen, aber sie waren nur zum Teil wahr.
Der Nachteil wurde erst offenbar, als die Form sich zu verändern begann. Die Gewohnheit, den Inhalt durch die Form darzustellen, die in einem gegebenen Augenblick miteinander korrespondiert hatten, wurde in eine falsche Identifikation umgewandelt und führte zum Irrtum, den Inhalt durch die Form zu ersetzen. Wir finden diesen Irrtum in der russischen Revolution, wo er in seiner ganzen Vollständigkeit zum Ausdruck kam.
Der Sozialismus erfordert einen sehr hohen Entwicklungsgrad der Produktivkräfte, der nur im Gefolge größter Konzentration und Zentralisierung der Produktivkräfte denkbar ist.
Diese Konzentration kommt durch die Enteignung des Privateigentums an Produktionsmitteln zustande. Doch diese Enteignung ist wie die Konzentration der Produktivkräfte auf nationaler und selbst auf internationaler Ebene erst nach dem Triumph der proletarischen Revolution eine Bedingung für die Entwicklung in Richtung Sozialismus, aber selbst noch nicht Sozialismus.
 Die weitreichendsten Enteignungen können allenfalls für das Verschwinden der Kapitalisten als Individuen sorgen, die vom Mehrwert leben, aber damit ist noch nicht das Verschwinden der Mehrwertproduktion, d.h. des Kapitalismus, sichergestellt.
Diese Behauptung mag auf den ersten Blick als paradox erscheinen, aber eine aufmerksame Untersuchung der russischen Erfahrung wird diese Realität beweisen. Damit es Sozialismus oder auch nur eine Tendenz zum Sozialismus gibt, reicht es nicht aus, daß es Enteignungen gibt, sondern ist es notwendig, daß die Produktionsmittel aufhören, als Kapital zu funktionieren. Mit anderen Worten: das kapitalistische Produktionsprinzip an sich muß umgewälzt werden.
Das kapitalistische Prinzip der akkumulierten Arbeit, die die lebendige Arbeit im Hinblick auf die Mehrwertproduktion beherrscht, muß ersetzt werden durch das Prinzip der lebendigen Arbeit, die die akkumulierte Arbeit hinsichtlich der Konsumgüterproduktion für die Befriedigung der Bedürfnisse der Gesellschaft bestimmt.
Einzig und allein aus diesem Prinzip besteht der Sozialismus.
Der Fehler der russischen Revolution und der bolschewistischen Partei war gewesen, die Betonung auf die Bedingung zu legen, nämlich die Enteignung, die als solche noch keinen Sozialismus darstellt und auch kein entscheidender Faktor bei der Ausrichtung der Wirtschaft in sozialistischem Sinne ist, sowie das Prinzip einer sozialistischen Ökonomie an sich vernachlässigt und in den Hintergrund gerückt zu haben.
Nicht ist lehrreicher zu diesem Thema als die Lektüre der zahlreichen Reden und Schriften Lenins über die Notwendigkeit einer raschen Entwicklung der Industrie und der Produktion in Sowjetrußland. Aus Lenins Sicht ist die Entwicklung der Industrie identisch mit der Entwicklung des Sozialismus. Er verwendete häufig und fast undifferenziert die Begriffe "Staatskapitalismus" und "Staatssozialismus", ohne sie genau voneinander zu unterscheiden. Formulierungen wie "Kommunismus - das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung" und anderer dieser Art spiegeln nur die Konfusionen und das Tasten der Führer der Oktoberrevolution von 1917 in diesem Bereich wider.
Es ist sehr bezeichnend, daß Lenin die Aufmerksamkeit vor allem auf den Privatsektor und den kleinbäuerlichen Landbesitz gelenkt hat, die ihm zufolge eine Bedrohung für die Entwicklung der russischen Wirtschaft zum Kapitalismus darstellen konnten, und  die andere, viel präsentere und entscheidendere Gefahr, die von der verstaatlichten Industrie ausging, völlig vernachlässigt hat.
Die Geschichte hat Lenins Analyse über diesen Punkt vollständig widerlegt. Die Liquidierung des kleinbäuerlichen Eigentums in Rußland sollte nicht die Stärkung eines sozialistischen Sektors bedeuten, sondern führte dazu, daß ein staatlicher Sektor von der Stärkung des Staatskapitalismus profitierte.
Es steht fest, daß die Schwierigkeiten, auf die die russische Revolution durch ihre Isolierung und durch den Staat hinter ihrer Wirtschaft stieß, auf internationaler Ebene größtenteils hätten abgeschwächt werden können. Allein auf dieser Ebene ist die sozialistische Entwicklung der Gesellschaft und eines jeden Landes möglich. Genauso trifft es zu, daß selbst auf internationaler Ebene das grundlegende Problem nicht in der Enteignung, sondern im eigentlichen Produktionsprinzip liegt.
Nicht nur in den rückständigen Ländern, sondern selbst in den Ländern, in denen der Kapitalismus seine höchste Entwicklungsstufe erreicht hat, wird das Privateigentum in einigen Bereichen der Produktion eine Zeitlang überleben und nur langsam und schrittweise absorbiert werden.
Jedoch wird die Gefahr einer Rückkehr zum Kapitalismus nicht hauptsächlich aus diesen Bereichen kommen, denn die Gesellschaft in ihrer Evolution zum Sozialismus kann nicht zu einem Kapitalismus in seiner primitiven und von ihm selbst überwundenen Form zurückkehren.
Die große Gefahr einer Rückkehr zum Kapitalismus kommt hauptsächlich aus dem verstaatlichten Sektor, zumal sich der Kapitalismus in seiner unpersönlichen, sozusagen ätherischen Form befindet. Die Verstaatlichung kann dazu dienen, lange einen Prozeß gegen den Sozialismus zu kaschieren.
Das Proletariat wird diese Gefahr nur dann überwinden, wenn es die Gleichsetzung von Enteignung und Sozialismus ablehnt, wenn es zwischen der Verstaatlichung selbst mit dem Adjektiv "sozialistisch" und dem sozialistischen Wirtschaftsprinzip zu unterscheiden weiß.
Die russische Erfahrung zeigt und ruft uns in Erinnerung, daß es nicht die Kapitalisten sind, die den Kapitalismus erzeugen, sondern umgekehrt. Es ist der Kapitalismus, der die Kapitalisten hervorbringt. Die Kapitalisten können nicht außerhalb des Kapitalismus existieren; das Gegenteil ist der Fall.
Das kapitalistische Produktionsprinzip kann nach dem juristischen und selbst realen Verschwinden der Kapitalisten, die vom Mehrwert profitieren, weiter existieren. In diesem Fall wird der Mehrwert genau wie im Privatkapitalismus in den Produktionsprozeß zwecks Auspressens einer größeren Mehrwertmasse reinvestiert.
Kurzfristig erzeugt die Existenz von Mehrwert die Menschen, die die Klasse bilden, welche sich den Mehrwert aneignen wird. Die Funktion schafft sich ihr Organ. Gleichgültig, ob es sich um Parasiten, Bürokraten oder Techniker handelt, die sich an der Produktion beteiligen, ob der Mehrwert mehr oder weniger direkt oder indirekt mittels des Staates verteilt wird, ob in der Form hoher Gehälter oder leistungsgebundenen Dividenden oder als Staatsanleihen (wie es in Rußland der Fall ist), all dies ändert nichts an der grundlegenden Tatsache, daß es sich um eine neue kapitalistische Klasse handelt.
Der zentrale Punkt der kapitalistischen Produktion besteht in dem Unterschied zwischen dem Wert der Arbeitskraft, der durch die notwendige Arbeitszeit bestimmt wird, und der Arbeitskraft, die mehr als ihren eigenen Wert reproduziert. Dies drückt sich im Unterschied zwischen der für den Arbeiter notwendigen Arbeitszeit, um seine eigene Subsistenz zu reproduzieren und für die er bezahlt wird, sowie der Arbeitszeit aus, die er mehr arbeitet und für die er nicht bezahlt wird und die den Mehrwert bildet, den der Kapitalist an sich reißt. Es ist das Verhältnis zwischen der bezahlten und unbezahlten Arbeitszeit, das die sozialistische von der kapitalistischen Produktion unterscheidet.
Jede Gesellschaft benötigt einen wirtschaftlichen Reservefond, um die Fortsetzung ihrer Produktion und der erweiterten Produktion zu gewährleisten. Dieser Fond besteht aus unverzichtbarer Mehrarbeit. Andererseits ist ein gewisses Quantum an Mehrarbeit unverzichtbar, um für die Bedürfnisse von unproduktiven Mitgliedern der Gesellschaft aufzukommen. Die kapitalistische Gesellschaft neigt vor ihrem Verschwinden dazu, die - dank der unbarmherzigen Ausbeutung der Arbeiter - gewaltigen Massen von akkumulierter Arbeit zu zerstören.
Nach der Revolution wird das siegreiche Proletariat vor Ruinen und einer katastrophalen Wirtschaftslage stehen, dem Erbe der kapitalistischen Gesellschaft. Sie wird den wirtschaftlichen Reservefond neu aufbauen müssen.
Das heißt, daß der Teil der Mehrarbeit, den die Arbeiterklasse wird erbringen müssen, anfangs möglicherweise ebenso groß sein wird wie im Kapitalismus. Das sozialistische Wirtschaftsprinzip kann also hinsichtlich seiner unmittelbaren Umfangs nicht durch das Verhältnis zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit unterschieden werden. Allein die Tendenz der Kurve, die Tendenz zur Annäherung des Verhältnisses kann als Maßstab für die Wirtschaftsentwicklung dienen und das Barometer sein, das den Klassencharakter der Produktion anzeigen kann.
Das Proletariat und seine Klassenpartei werden daher sehr wachsam sein müssen. Die größten industriellen Errungenschaften würden (selbst dann, wenn der Anteil der Arbeiter am Wert absolut gesehen zwar größer, aber relativ gesehen geringer wäre) die Rückkehr zum kapitalistischen Produktionsprinzip bedeuten. All die subtilen Demonstrationen der Nicht-Existenz des Privatkapitalismus durch Verstaatlichung der Produktionsmittel können diese Wirklichkeit nicht verbergen.
Das Proletariat und seine Partei dürfen nicht diesen eigennützigen Spitzfindigkeiten anheimfallen,  die nur der Aufrechterhaltung der Ausbeutung der Arbeiter dienen, und müssen sofort einen unerbittlichen Kampf führen, um dieser Orientierung auf eine Rückkehr zur kapitalistischen Wirtschaft Einhalt zu gebieten und mit allen Mitteln die Wirtschaftspolitik der Arbeiterklasse hin zum Sozialismus durchzusetzen.
Abschließend wollen wir eine Passage von Marx zitieren, um unsere Gedanken hierzu zu verdeutlichen und zusammenzufassen:
"Der große Unterschied zwischen kapitalistischem und sozialistischem Prinzip der Produktion besteht in folgendem: ob die Arbeiter die Produktionsmittel als Kapital vor sich finden und darüber nur verfügen, um das Mehrprodukt und den Mehrwert zugunsten ihrer Ausbeuter zu erhöhen, oder ob sie anstatt durch diese Produktionsmittel beschäftigt zu sein, sie diese verwenden, um den Reichtum zu ihrem eigenen Nutzen zu produzieren.” (eigene Übersetzung, da keine Quellenangabe im franz. Originaltext)

Internationalisme (1946)

 

 Fußnoten:

(1) Unter den ersten Vertretern dieser Theorie befand sich Albert Treint, der 1932 zwei Broschüren mit dem Titel "Das russische Rätsel" veröffentlicht hatte, und der in dieser Frage mit der Gruppe gebrochen hatte, die unter dem Namen Bagnolet-Gruppe bekannt war. Albert Treint, vormals Generalsektretär der KPF, früherer Führer der linksoppositionellen Gruppe "Die Leninistische Einheit" 1927 und der Gruppe "Redressement Communiste" (etwa: Kommunistische Wiederbelebung) von 1928 bis 1931, hatte sich nach dem Bruch mit der Bagnolet-Gruppe wie viele andere in Richtung Sozialistische Partei, in die er 1935 eintrat, und der Résistance während des Krieges entwickelt. 1945 trat er nicht nur der Armee mit seinem Dienstgrad als Hauptmann bei, sondern er führte auch als Kommandant ein Besatzungsbataillon in Deutschland.
(2) Es ist dabei zu berücksichtigen, daß die Rätekommunisten der holländischen Linken und insbesondere Pannekoek persönlich die Hauptideen dieser brillanten Analyse einer dritten Alternative teilten (siehe die Korrespondenz Chaulieu-Pannekoek in 'Socialsme ou Barbarie').
(3) Die Ad hoc-Gründung der Internationalen Kommunistischen Partei in Italien 1945, die überstürzte Auflösung der Fraktion, das Wiederauftauchen Bordigas mit seinen Theorien der "Invarianz" des Marxismus, der "Doppelrevolution", der "Unterstützung der nationalen Befreiungen", der Unterscheidung nach "geographischen Zonen", der Proklamierung des "US-Imperialismus zum Hauptfeind" usw., usf. stellten einen klaren Rückschritt dieser neuen Partei in der Frage des Klassencharakters des stalinistischen Regimes und eine Ablehnung des Dekadenzbegriffs und seines politischen Ausdrucks: den Staatskapitalismus dar.

 

Theoretische Fragen: 

  • Kommunismus [8]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Stalinismus, der Ostblock [9]

Internationale Revue - 1991

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Internationale Revue 13

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Der Zerfall: die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus

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Der Zusammenbruch des imperialistischen Ostblocks hat bestätigt, daß der Kapitalismus in eine neue Phase seiner Dekadenzepoche eingetreten ist: in die allgemeine Zerfallsphase der Gesellschaft. Schon vor den Ereignissen in Osteuropa hat die IKS auf dieses historische Phänomen aufmerksam gemacht (siehe INTERNATIONALE REVUE, Nr. 11) Diese Ereignisse - der Eintritt der Welt in eine Periode der Instabilität von bisher unbekanntem Ausmaß - verpflichten die Revolutionäre, dieses Phänomen, seine Ursachen und Folgen mit größter Aufmerksamkeit zu analysieren und deutlich zu machen, was in dieser neuen historischen Lage auf dem Spiel steht.

1. In allen früheren Produktionsweisen gab es eine Epoche des Aufstiegs und des Niedergangs. Für den Marxismus entspricht die erste Epoche einem Zeitraum der völligen Kompatibilität der herrschenden Produktionsverhältnisse mit dem Entwicklungsstand der gesellschaftlichen Produktivkräfte, wohingegen die zweite Periode die Tatsache widerspiegelt, daß diese Produktionsverhältnisse zu eng geworden sind, um eine Weiterentwicklung zu ermöglichen. Im Gegensatz zu den irrigen Auffassungen der Bordigisten entgeht auch der Kapitalismus nicht diesem Gesetz. Seit Anfang des Jahrhunderts und insbesondere seit dem Ersten Weltkrieg haben die Revolutionäre aufgezeigt, daß diese Produktionsweise nun ihrerseits in das Stadium ihres Niedergangs eingetreten war. Jedoch wäre es falsch, sich mit der Behauptung  zufriedenzugeben, daß der Kapitalismus schlicht den Spuren der vorherigen Produktionsweisen folgt. Es ist gleichermaßen wichtig, die grundlegenden Unterschiede zwischen der kapitalistischen Dekadenz und der  Dekadenz früherer Gesellschaften herauszustellen. Dabei stellt sich der Niedergang des Kapitalismus, wie er sich seit Anfang dieses Jahrhunderts vor unseren Augen vollzieht, als die Dekadenzperiode par excellence (wenn man so sagen darf) dar. Verglichen mit der Dekadenz früherer Gesellschaften (der Sklavengesellschaft und dem Feudalismus), vollzieht sie sich auf einem anderen Niveau. Dies ist so, weil:

  • der Kapitalismus die erste Gesellschaft der Geschichte ist, die sich weltweit ausgedehnt und alle Erdteile ihren Gesetzen unterworfen hat. Deshalb drückt die Dekadenz dieser Produktionsweise der gesamten Menschheit ihren Stempel auf;
  • im Gegensatz zu den früheren Gesellschaften, als die neuen Produktionsverhältnisse, die den alten, überholten Produktionsverhältnissen folgen sollten, innerhalb der alten Gesellschaft heranreiften - was die Auswirkungen und das Ausmaß ihrer Dekadenz in gewisser Weise einschränkte -, die kommunistische Gesellschaft, die allein dem Kapitalismus folgen kann, sich nicht innerhalb desselben entwickeln kann; es gibt keine Möglichkeit irgendeiner Regeneration der Gesellschaft, wenn es zuvor nicht einen gewaltsamen Sturz der bürgerlichen Klasse und die Auslöschung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse gegeben hat;
  • die historische Wirtschaftskrise, in der die Dekadenz des Kapitalismus wurzelt, sich keineswegs aus einem Problem der Unterproduktion ergibt, wie dies in den früheren Gesellschaften der Fall war, sondern im Gegenteil aus einem Problem der Überproduktion resultiert, was (insbesondere infolge des gewaltigen Gegensatzes zwischen den ungeheuren Möglichkeiten der Produktivkräfte und dem furchtbaren Elend, das sich auf der Welt ausbreitet) zur Folge hat, daß die Barbarei, die mit der Dekadenz der ganzen Gesellschaft einhergeht, ein weitaus höheres Niveau erreicht als in der Vergangenheit;
  • das Phänomen der Aufblähung des Staates, das typisch ist für die Zeiträume des Niedergangs, in der Dekadenz des Kapitalismus mit der historischen Tendenz zum Staatskapitalismus seine vollendeste und extremste Form findet, die Form einer praktisch vollständigen Absorbierung der Gesellschaft durch das staaliche Monster;
  • selbst wenn die Dekadenzperioden der Vergangenheit durch kriegerische Konflikte gekennzeichnet waren, diese nicht vergleichbar mit dem Ausmaß der Weltkriege waren, die die kapitalistische Gesellschaft schon zweimal verwüstet haben.

Letztendlich kann der Unterschied in Ausmaß und Tiefe zwischen der kapitalistischen Dekadenz und der Dekadenz in der Vergangenheit nicht auf eine simple Frage der Quantität reduziert werden. Diese Quantität bildet eine neue und unterschiedliche Qualität ab. In der Tat ist die Dekadenz des Kapitalismus:
die Dekadenz der letzten Klassengesellschaft, der letzten Gesellschaft, die auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beruht und dem Mangel sowie den ökonomischen Einschränkungen unterworfen ist,
die erste Dekadenz, die das eigentliche Überleben der Menschheit bedroht und die menschliche Gattung vernichten könnte.

2. Alle in der Dekadenz befindlichen Gesellschaften wiesen Elemente des Zerfalls auf: Auflösung des Gesellschaftskörpers, Fäulnis ihrer wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Strukturen usw. Dasselbe trifft auf den Kapitalismus seit Anbruch seiner Dekadenzepoche zu. Doch so wie es angebracht ist, eine klare Unterscheidung zwischen der Dekadenz des Kapitalismus und der Dekadenz früherer Gesellschaften zu machen, so ist es auch unverzichtbar, den grundlegenden Unterschied zwischen den Zerfallselementen, die den Kapitalismus seit Anfang des Jahrhunderts erfaßt haben, und dem allgemeinen Zerfall herauszustellen, in den dieses System gegenwärtig versinkt und der sich noch verschlimmern wird. Neben dem streng quantitativen Aspekt erreicht das Phänomen des gesellschaftlichen Zerfalls heute solch ein Ausmaß und solch eine Tiefe, daß eine neue und einzigartige Qualität erlangt wird, die den Eintritt des Kapitalismus in eine besondere Phase, in die ultimative Phase seiner Geschichte manifestiert, eine Phase, in welcher der Zerfall ein, wenn nicht gar der entscheidende Entwicklungsfaktor der Gesellschaft sein wird.
Daher wäre es falsch, Dekadenz und Zerfall gleichzusetzen. Während eine Zerfallsphase außerhalb der Periode des Niedergangs unvorstellbar ist, ist die Existenz einer Dekadenz ohne Zerfallsphase durchaus vorstellbar.

3. So wie der Kapitalismus verschiedene Perioden in seiner historischen Verlauf kennt - Entstehung, Aufstieg, Niedergang -, so beinhaltete im Grunde jede dieser Perioden auch unterschiedliche und voneinander abgegrenzte Phasen. Beispielsweise umfaßte die Aufstiegsphase die nacheinanderfolgenden Phasen des Freihandels, der Aktiengesellschaften, der Monopole, des Finanzkapitals, der kolonialen Eroberungen, der Etablierung des Weltmarkts. Ähnlich hat auch die Dekadenzperiode ihre Geschichte: Imperialismus, Weltkriege, Staatskapitalismus, permanente Krise und heute der Zerfall. Es handelt sich dabei um verschiedene, aufeinanderfolgende  Manifestationen im Leben des Kapitalismus, mit jeweils typischen Charakteristiken, selbst wenn diese Ausdrücke vorher schon bestanden oder nach Anbruch einer neuen Phase weiterbestehen. So kann man auf einer allgemeineren Ebene feststellen, daß die Lohnarbeit zwar schon in der Sklavengesellschaft und im Feudalismus existierte (wie auch die Sklavenarbeit oder die Knechtschaft innerhalb des Kapitalismus aufrechterhalten blieb), daß aber nur der Kapitalismus diesem Ausbeutungsverhältnis einen vorherrschenden Platz in der Gesellschaft einräumt. Ähnlich konnte der  Imperialismus bereits in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus existieren. Jedoch nimmt er erst seit dem Eintritt des Kapitalismus in seine Dekadenzperiode eine maßgebliche Stellung in der Gesellschaft, in der Politik der Staaten und in den internationalen Beziehungenen ein, so daß er die erste Phase seiner Dekadenz besonders stark prägte. Daher setzten viele damalige Revolutionäre ihn mit der Dekadenz des Kapitalismus schlechthin gleich.
So stellt die Zerfallsphase der kapitalistischen Gesellschaft nicht einfach die chronologische Fortsetzung jener vom Staatskapitalismus und von der permanenten Krise gekennzeichneten Phasen dar. In dem Maße, wie die Widersprüche und Erscheinungsweisen der Dekadenz des Kapitalismus, die nacheinander die verschiedenen Momente dieser Dekadenz markieren, nicht mit der Zeit verschwinden, sondern sich aufrechterhalten und gar noch zuspitzen, erscheint die Zerfallsphase als das Ergebnis einer Anhäufung all dieser Charakteristiken eines im Sterben liegenden Systems, das ein dreiviertel Jahrhundert lang einer in Agonie befindlichen Produktionsweise vorstand, die von der Geschichte abgeurteilt worden war. Konkret: nicht nur, daß der imperialistische Charakter aller Staaten, die Drohung eines neuen Weltkriegs, die Absorption der Gesellschaft durch den staatlichen Moloch, die permanente kapitalistische Wirtschaftskrise in der Zerfallsphase fortbestehen, sie erreichen in Letzterer eine Synthese und einen ultimativen Abschluß. Die Zerfallsphase ist somit das Resultat:

  • der Verlängerung der Dekadenz (mit sieben Jahrzehnten Dauer länger als die "industrielle Revolution"), eines Systems, dessen eines Hauptmerkmal die außerordentliche Schnelligkeit  des Transformationsprozesses ist, zu der es die Gesellschaft zwingt (zehn Jahre Kapitalismus entsprechen einem Jahrhundert der Sklavengesellschaft);
  • der Häufung der Widersprüche, die diese Dekadenz entfesselt hat.

Sie bildet die letzte Etappe, auf die  sich die gewaltigen Erschütterungen zubewegen, die die Gesellschaft und die verschiedenen Klassen seit  Beginn des Jahrhunderts in Gestalt einer höllischen Spirale von Krise-Krieg-Wiederaufbau-neuer Krise erschüttern:

  • zwei imperialistische Gemetzel, die die meisten der größten Länder ausbluteten und die gesamte Menschheit mit einer beispiellosen Brutalität überzogen;
  • eine revolutionäre Welle, die die gesamte Weltbourgeoisie erzittern ließ und die zu einer Konterrevolution der schlimmsten (Faschismus und Stalinismus) und zynischsten (wie die "Demokratie" und Antifaschismus) Art führte;
  • periodische Rückkehr einer absoluten Verarmung, eines Elends der Arbeitermassen, das überwunden zu sein schien;
  • die Ausbreitung heftigster und mörderischster Hungersnöte in der Menschheitsgeschichte;
  • das Versinken der kapitalistischen Wirtschaft in eine neue offene Krise in den beiden vergangenen Jahrzehnten, ohne daß die Bourgeoisie aufgrund ihrer Unfähigkeit, die Arbeiterklasse für sich zu mobilisieren, ihre eigene Antwort (die natürlich keine Lösung darstellt)  durchsetzen konnte: den Weltkrieg.

4. Dieser letzte Punkt bildet gerade das neue, spezifische, bislang nicht dagewesene Element, das letztendlich den Eintritt des dekadenten Kapitalismus in eine neue Phase seiner Geschichte, die seines Zerfalls, bewirkt hat. Die offene Krise, die sich seit dem Ende der sechziger Jahre infolge des Endes des Nachkriegswiederaufbaus entwickelt hat, eröffnete abermals den Weg zur historischen Alternative: Weltkrieg oder flächendeckende Klassenkonfrontationen in Richtung proletarischer Revolution. Im Gegensatz zur offenen Krise der dreißiger Jahre breitet sich die gegenwärtige Krise zu einem Zeitpunkt aus, in dem die Arbeiterklasse keiner bleiernen Konterrevolution ausgesetzt ist. Die Arbeiterklasse hat mit ihrem historischen Wiederaufleben seit 1968 bewiesen, daß die Bourgeoisie keine freie Hand hat, um einen dritten Weltkrieg zu entfesseln. Gleichzeitig jedoch hat das Proletariat, das zwar zwar stark genug ist, um zu verhindern, daß solch ein Ereignis eintritt, noch nicht die Kraft gefunden, um den Kapitalismus zu stürzen, weil:

  • das Tempo der Krisenentwicklung viel langsamer ist als in der Vergangenheit,
  • es eine historische Verspätung in der Entwicklung seines Bewußtseins und seiner politischen Organisationen gibt, die aus dem organischen Bruch in der Kontinuität dieser Organisationen herrührt, einem Bruch, der selbst durch das Ausmaß und die Dauer der Konterrevolution ausgelöst worden war.

Doch die Geschichte bleibt in solch einer Situation, in der die beiden fundamentalen - und antagonistischen - Klassen der Gesellschaft aufeinanderprallen, ohne ihre eigene Antwort durchsetzen zu können, nicht stehen. Noch weniger als in den anderen vorhergehenden Produktionsweisen ist im Kapitalismus eine Stagnation, ein "Einfrieren" des gesellschaftlichen Lebens möglich. Während die Widersprüche des krisengeschüttelten Kapitalismus sich noch weiter zuspitzen, führen die Unfähigkeit der Bourgeoisie, der gesamten Gesellschaft  irgendeine Perspektive anzubieten, und die Unfähigkeit des Proletariats, die seinige offen zu behaupten, zum Phänomen des allgemeinen Zerfalls, zur Fäulnis der Gesellschaft bei lebendigem Leib.

5. Tatsächlich kann sich keine Produktionsweise entwickeln, sich lebensfähig halten und den gesellschaftlichen Zusammenhalt sicherstellen, wenn sie nicht in der Lage ist, der von ihr dominierten Gesellschaft in ihrer Gesamtheit eine Perspektive anzubieten. Und dies trifft besonders auf den Kapitalismus als dynamischste Produktionsweise der Geschichte zu. Als die kapitalistischen Produktionsverhältnisse den geeigneten Rahmen für die Entwicklung der Produktivkräfte bildeten, stimmte diese Perspektive mit dem historischen Fortschritt nicht nur der kapitalistischen Gesellschaft, sondern der gesamten Menschheit überein. Unter diesen Umständen konnte sich die gesamte Gesellschaft ungeachtet der Klassenantagonismen oder der Rivalitäten zwischen (insbesondere nationalen) Bereichen der herrschenden Klasse ohne die Gefahr einer größeren Erschütterung entwickeln. Als diese Produktionsverhältnisse zu Fesseln des Wachstums der Produktivkräfte wurden und sich in ein Hindernis der gesellschaftlichen Weiterentwicklung umwandelten, womit der Eintritt in die Dekadenzepoche eingeläutet wurde, mündete dies in die politischen und sozialen Wirren, wie wir sie seit einem dreiviertel Jahrhundert kennen. In solch einem Rahmen war die Art der Perspektive, die der Kapitalismus der Gesellschaft anbieten konnte, natürlich durch die spezifischen Grenzen, die die Dekadenz zog, eingeengt:

  • der "Burgfrieden", die Mobilisierung aller ökonomischen, politischen und militärischen Kräfte hinter dem Nationalstaat, zur "Verteidigung des Vaterlandes", der "Zivilisation" usw.;
  • die "Einheit aller Demokraten", aller "Verteidiger der Zivilisation" gegen die "bolschewistische Hydra und Barbarei";
  • die wirtschaftliche Mobilisierung für den Wiederaufbau nach den Kriegszerstörungen,
  • die ideologische, politische, wirtschaftliche und militärische Mobilisierung für die "Eroberung von Lebensraum" oder gegen die "faschistische Gefahr".

Keine dieser Perspektiven stellte freilich irgendeine "Lösung" für die Widersprüche des Kapitalismus dar. Sie alle hatten nur den Vorteil für die Bourgeoise, ein "realistisches" Ziel zu verfolgen: entweder das Überleben ihres Systems gegen die Bedrohung zu sichern, die vom Klassenfeind ausging, dem Proletariat, oder die direkte Vorbereitung bzw. die Entfesselung des Weltkrieges zu organisieren bzw. die Wiederbelebung der Wirtschaft nach einem solchen Weltkrieg zu einem guten Ende zu bringen. In einer historischen Lage dagegen, in der die Arbeiterklasse noch nicht in der Lage ist, sich unmittelbar im Kampf für ihre eigene Perspektive, für die einzige realistische, die kommunistische Revolution zu engagieren, in der aber auch die Bourgeoisie keine Perspektive anzubieten hat, noch nicht mal kurzfristig, kann die einstige Fähigkeit Letzterer, das Phänomen des Zerfalls  in der Dekadenzperiode einzuschränken und zu kontrollieren, nicht mehr helfen, sondern löst sich unter den wiederholten Schlägen der Krise in Luft auf. Deshalb stellt sich die jetzige Situation der offenen Krise völlig unterschiedlich gegenüber den früheren Krisen derselben Art, wie jene in den dreißiger Jahren, dar. Daß es in der Krise der dreißiger Jahre keine Zerfallsphase gegeben hat, ist nicht nur darauf zurückzuführen, daß die Krise damals nur zehn Jahre währte, während die jetzige Krise schon mehr als zwei Jahrzehnte andauert. Das Ausbleiben des Phänomens des Zerfalls in den dreißiger Jahre ist vor allem der Tatsache geschuldet, daß die Bourgeoisie angesichts der Krise freie Hand hatte, um eine Antwort vorzuschlagen. Zugegeben eine Antwort von unglaublicher Grausamkeit, eine selbstmörderische Antwort, die zur größten Katastrophe der Menschheit führte; eine Antwort, die die Bourgeoisie nicht freiwillig ausgesucht hat, war sie ihr doch durch die Zuspitzung der Krise aufgezwungen worden, aber eine Antwort, auf deren Basis sie vor, während und nach dem Krieg in Abwesenheit eines bedeutsamen Widerstands des Proletariats den politischen, ideologischen und Produktionsapparat der Gesellschaft organisieren konnte. Heute dagegen, wo die Arbeiterklasse  in den letzten beiden Jahrzehnten verhindert hat, daß eine Antwort dieser Art auf die Tagesordnung gesetzt wird, ist die Bourgeoisie nicht in der Lage, irgendetwas zu organisieren, um die verschiedenen Komponenten der Gesellschaft, die der herrschenden Klasse eingeschlossen, um ein gemeinsames Ziel zu scharen, außer des schrittweisen, aber hoffnungslosen Widerstandes gegen die fortschreitende Krise.

6. Auch wenn sich die Zerfallsphase als das Ergebnis, als die Synthese aller Widersprüche und Manifestationen der kapitalistischen Dekadenz darstellt:

  • ist sie ein voller Bestandteil des Zyklus von Krise-Krieg-Wiederaufbau-neue Krise;
  • frönt sie der kriegerischen und militaristischen Orgie, die für die Dekadenzperiode typisch ist und die seit zwei Jahrzehnten ein Faktor ersten Ranges in der Zuspitzung der offenen Krise ist;
  • resultiert sie aus der Fähigkeit der Bourgeoisie (die sie nach der Krise der dreißiger Jahre entwickelt hatte), insbesondere durch den Staatskapitalismus das Tempo der Krisenentwicklung auf der Ebene eines imperialistischen Blocks zu verlangsamen;
  • resultiert sie ebenfalls aus der Erfahrung derselben Klasse (die sie sich in den beiden Weltkriegen angeeignete), die es vermieden, sich ohne ausreichende politische Unterstützung durch das Proletariat in das Abenteuer der allgemeinen imperialistischen Konfrontation zu stürzen;
  • geht sie auf die Fähigkeit der Arbeiterklasse, heute die Fallen aus der Zeit der Konterrevolution zu umgehen, aber auch auf die politische Unreife zurück, die eine Hinterlassenschaft eben jener Konterrevolution ist.

Die Zerfallsphase wurde im Kern durch neue, beispiellose und unerwartete  historische Bedingungen bestimmt: die zeitweilige Sackgasse der Gesellschaft, ihre "Blockierung" aufgrund der gegenseitigen "Neutralisierung" der beiden Hauptklassen, die beide daran hindert, ihre entscheidende Antwort gegenüber der offenen Krise der kapitalistischen Wirtschaft durchzusetzen. Die Manifestationen dieses Zerfalls, ihre Entwicklungsbedingungen und Auswirkungen können nur verstanden werden, wenn dieser Faktor in den Vordergrund gestellt wird.

7. Wenn man sich die wesentlichen Merkmale des Zerfalls vor Augen führt, wie sie sich heute manifestieren, stellt man fest, daß ihr gemeinsamer Nenner das vollständige Fehlen einer Perspektive ist:

  • die Zunahme von Hungersnöten in den Ländern der "Dritten Welt" bei gleichzeitiger Zerstörung der Lebensmittellager und erzwungener Nicht-Bestellung des Landes;
  • die Umwandlung der "Dritten Welt" in ein gewaltiges Slum, in dem Hunderte von Millionen Menschen wie Ratten in der Kanalisation leben;
  • die Ausbreitung desselben Phänomens im Herzen der großen Städte der "fortgeschrittenen" Länder, in denen die Zahl der Obdachlosen und Mittellosen so stark ansteigt, daß die Lebenserwartung in einigen Stadtvierteln niedriger ist als in den rückständigen Ländern;
  • die "zufälligen" Katastrophen, deren Zahl sich in der letzten Zeit vervielfacht hat (Flugzeuge, die abstürzen, Züge und U-Bahnen, die zu Särgen werden, nicht nur in rückständigen Ländern wie Indien oder die UdSSR, sondern auch in den Zentren westlicher Städte wie Paris und London);
  • die immer zerstörerischeren Folgen von "Naturkatastrophen" auf menschlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene (Überschwemmungen, Hitzeperioden, Erdbeben, Stürme), angesichts derer die Menschen immer hilfloser erscheinen, während die Technik immer weiter fortschreitet und alle Mittel vorhanden sind, um sich vor solchen Katastrophen zu schützen (Deiche, Bewässerungssysteme, erdbebensichere und sturmfeste Gebäude), aber Betriebe, die in diesem Bereich tätig sind, geschlossen und deren Arbeiter entlassen werden;
  • die Umweltverschmutzung, die unglaubliche Ausmaße annimmt (ungenießbares Leitungswasser, tote Flüsse, Meere als Kloaken, verseuchte Luft in den Städten, zehntausend Quadratkilometer große Gebiete in der Ukraine, in Weißrußland etc. durch Radioaktivität verseucht) und die mit dem Verschwinden des tropischen Regenwaldes am Amazonas (die "Lunge der Erde") das Gleichgewicht des ganzen Planeten bedroht, der Treibhauseffekt und die Zerstörung der Ozonschicht.

All diese wirtschaftlichen und sozialen Katastrophen, die im allgemeinen zwar auf die Dekadenz zurückgehen, bilden mit ihrer Häufung und ihrem Ausmaß die Tatsache ab, daß dieses System sich in einer völlig ausweglosen Lage befindet und dem größten Teil der Weltbevölkerung keine Zukunft anzubieten hat, außer der Zunahme von unvorstellbarer Barbarei. Es ist ein System, dessen Wirtschaftspolitik, Forschungen und Investitionen systematisch auf Kosten der Zukunft der Menschheit und damit auch auf Kosten der Zukunft des Systems an sich verwirklicht werden.

8. Doch die Anzeichen eines völligen Fehlens gesellschaftlicher Perspektiven heute werden auf politischer und ideologischer Ebene noch deutlicher:

  • die unglaubliche Korruption, die im politischen Apparat wächst und gedeiht, die Wellen von Skandalen in den meisten Ländern, wie Japan (wo es immer schwieriger wird, den Regierungsapparat vom Gangstermilieu zu unterscheiden), Spanien (wo die rechte Hand des sozialistischen Regierungschefs heute direkt unter Verdacht steht), Belgien, Italien, Frankreich (wo die Parlamentarier eine Amnestie für sich selbst und ihre Schandtaten beschließen);
  • die Entwicklung des Terrorismus, der Geiselnahmen als Mittel der kriegerischen Auseinandersetzung  zwischen Staaten unter Verletzung von "Gesetzen", die der Kapitalismus einst verabschiedet hatte, um die Konflikte zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse zu "reglementieren";
  • der ununterbrochene Anstieg der Kriminalität, der Unsicherheit, der Gewalt in den Städten, von denen in wachsendem Maße die Kinder betroffen sind, die auch immer mehr zu Opfern der Prostitution werden;
  • die Ausbreitung des Nihilismus, der  Selbstmorde unter Jugendlichen, der Hoffnungslosigkeit (wie er durch das "No Future" der Riots in den westlichen Großstädten zum Ausdruck kommt), des Hasses und der Fremdenfeindlichkeit unter den "Skinheads" und "Hooligans", für die Sportveranstaltungen eine Gelegenheit sind, um sich auszutoben und Angst und Schrecken zu verbreiten;
  • die Flutwelle der Drogen, die heute zu einem Massenphänomen werden und stark zur Korruption im Staat und den Finanzorganismen beitragen, die kein Teil der Welt verschonen und besonders die Jugend erfassen, ein Phänomen, das immer weniger die Flucht in Trugbilder zum Ausdruck bringt und immer mehr den Wahnsinn und den Selbstmord widerspiegelt;
  • die Fülle an Sekten, das Wiederaufleben religiöser Geisteshaltungen auch in fortgeschrittenen Ländern, die Ablehnung eines vernunftgesteuerten, zusammenhängenden, konstruktiven  Denkens auch in Teilen einiger "wissenschaftlicher" Milieus, die in den Medien, besonders in Gestalt stumpfsinniger Werbung und verdummender Sendungen, einen immer größeren Platz einnehmen;
  • das Überhandnehmen von Gewalt- und Horrorszenen, von Blut und Massakern in eben dieser Medien, einschließlich der Kindersendungen und -magazine;
  • die Belanglosigkeit, die Käuflichkeit all der "künstlerischen" Produktionen, der Literatur, der Musik, der Malerei, der Architektur, die nur Angst, Verzweiflung, die Zersplitterung des Denkens, die Leere zum Ausdruck bringen;
  • das "Jeder für sich", die Atomisierung des Einzelnen, die Zerstörung der Familienbeziehungen, die Ausgrenzung der alten Menschen, die Zerstörung der Gefühle und ihre Ersetzung durch die Pornographie, der kommerzialisierte und in den Medien vermarktete Sport, die Massenversammlungen, in denen Jugendliche in kollektiver Hysterie Liedern lauschen und tanzen, ein trostloser Ersatz für eine Solidarität und soziale Bande, die heute völlig verloren gegangen sind.

All diese Merkmale der gesellschaftlichen Fäulnis haben heute ein in der Geschichte beispielloses Ausmaß angenommen und dringen in alle Poren der Gesellschaft ein, wobei sie nur eins zum Ausdruck bringen: nicht nur die Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch die Austilgung jeglichen Prinzips kollektiven Lebens innerhalb einer Gesellschaft, in der es selbst kurzfristig nicht die geringsten Perspektiven,  auch nicht die illusorischsten gibt.

9. Unter den Hauptkennzeichen des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft muß man die zunehmenden Schwierigkeiten der Bourgeoisie hervorheben, die Entwicklung der Lage auf politischer Ebene zu kontrollieren. An der Wurzel dieses Phänomens liegt natürlich der immer größere Kontrollverlust der herrschenden Klasse über ihren Wirtschaftsapparat, der die Infrastruktur der Gesellschaft bildet. Die historische Sackgasse, in der die kapitalistische Produktionsweise steckt, die aufeinanderfolgenden Mißerfolge der unterschiedlichen politischen Strategien der Bourgeoisie, die permanente Flucht in die allgemeine Verschuldung, mit Hilfe derer die Weltwirtschaft zu überleben versucht - all diese Elemente können sich nur auf den  politischen Apparat niederschlagen, der seinerseits nicht in der Lage ist, der Gesellschaft und insbesondere der Arbeiterklasse eine gewisse "Disziplin" und einen Zusammenhalt aufzuzwingen, die erforderlich sind, um alle Kräfte und Energien für den Weltkrieg zu mobilisieren, der einzigen historischen "Antwort", die die Bourgeoisie anzubieten hat. Die mangelnde Perspektive (außer der Flickschusterei, um die Wirtschaft zu stützen), in der sie sich als Klasse mobilisiert, und die Tatsache, daß die Arbeiterklasse noch keine Bedrohung für ihr Überleben darstellt, bewirkt in der herrschenden Klasse und insbesondere in ihrem politischen Apparat eine wachsende Tendenz zur Disziplinlosigkeit und zum Rette-wer-sich-kann. Dieses Phänomen erklärt den Zusammenbruch des Stalinismus und des gesamten imperialistischen Ostblocks. Dieser Zusammenbruch ist im wesentlichen eine der Konsequenzen aus der Weltkrise des Kapitalismus; wir sollten allerdings auch nicht versäumen, in unseren Analysen die Besonderheiten der stalinistischen Regimes zu berücksichtigen, die das Ergebnis der historischen Umstände ihres Entstehens waren (siehe: "Thesen zur ökonomischen und politischen Krise in der UdSSR und den osteuropäischen Ländern", INTERNATIONALE REVUE, Nr. 12). Jedoch kann  man diesen historisch beispiellosen Zustand des Zusammenbruchs eines ganzen imperialistischen Blocks von innen heraus, in Abwesenheit einer Revolution oder eines Weltkrieges, nur verstehen, wenn man dieses andere, noch nicht dagewesene Element in der Analyse berücksichtigt, das der Eintritt der Gesellschaft in eine Zerfallsphase bildet. Die extreme Zentralisierung und vollständige Verstaatlichung der Wirtschaft, die Verschmelzung zwischen wirtschaftlichem und politischem Apparat, die permanenten und großformatigen Tricksereien mit dem Wertgesetz, die Mobilisierung aller ökonomischen Ressourcen für den militärischen Bereich, all diese für die stalinistischen Regime typischen Merkmale waren zwar dem Kontext eines imperialistischen Krieges (dieses Regime ist gestärkt aus dem Zweiten Weltkrieg, als Sieger, hervorgegangen) angepaßt, aber sie stießen brutal und radikal auf ihre Grenzen, als die Bourgeoisie jahrelang mit der Zuspitzung der Wirtschaftskrise konfrontiert war, ohne diese wie in der Vergangenheit in eben diesen imperialistischen Krieg enden zu lassen. Insbesondere wäre diese Nach-mir-die-Sintflut-Haltung, die sich mangels Sanktionen durch den Markt weit verbreiten konnte (und die gerade die Re-Etablierung des Marktes abschaffen will), in Kriegszeiten nicht denkbar gewesen, weil die erste "Motivation" der Arbeiter wie auch der Verantwortlichen in der Wirtschaft die Gewehre hinter ihrem Rücken waren. Die allgemeinen Absetzbewegungen innerhalb des Staatsapparats, das Entgleiten der Kontrolle über die eigene politische Strategie wie in der UdSSR und ihren Satelliten heute sind in Wirklichkeit (aufgrund der Besonderheiten der stalinistischen Regimes) nur die Karikatur eines viel allgemeineren Phänomens, das die gesamte Weltbourgeoisie betrifft, ein Phänomen, das typisch für die Zerfallsphase ist.

10. Diese allgemeine Tendenz der Bourgeoisie, die Kontrolle über die Leitung ihrer Politik zu verlieren, ist ein wichtiger Faktor beim Zusammenbruch des Ostblocks, und er wird mit diesem Zusammenbruch noch stärker werden, aufgrund:

  • der Zuspitzung der Wirtschaftskrise, die aus Letzterem resultiert;
  • der Auflösung des westlichen Blocks infolge des Verschwindens des rivalisierenden Blocks;
  • der Schürung der einzelnen Rivalitäten, die das vorübergehende Zurückdrängen der Perspektive eines Weltkriegs zwischen verschiedenen Sektoren der Bourgeoisie (insbesondere zwischen nationalen Fraktionen, aber auch zwischen Cliquen innerhalb eines gleichen Nationalstaats) bewirkt.

Solch eine politische Destabilisierung der bürgerlichen Klasse, die beispielsweise durch die Sorge verdeutlicht wird, die sich ihre stabilsten Sektoren angesichts einer möglichen Ansteckung durch das Chaos machen, das sich in den Ländern des ehemaligen Ostblocks verbreitet, könnte unter Umständen dazu führen, daß sie ihre Fähigkeit einbüßt, die Welt in zwei imperialistische Blöcke aufzuteilen. Die Zuspitzung der Wirtschaftskrise führt zwangsläufig zur Verschärfung der imperialistischen, zwischenstaatlichen Rivalitäten. Deshalb hat sich die Ausbreitung und Zuspitzung der militärischen Spannungen zwischen diesen Staaten fest in die gegenwärtige Situation eingeprägt. Jedoch erfordert die Wiederherstellung einer wirtschaftlichen, politischen und militärischen Struktur, die diese unterschiedlichen Staaten zusammenfasst,  eine Disziplin seitens dieser Staaten, die durch das Phänomen des Zerfalls immer problematischer wird. Daher kann dieses Phänomen, das schon zum Teil für das Verschwinden des aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangenen Blocksystems verantwortlich ist, mit der Verhinderung des Aufbaus eines neuen Blocksystems nicht nur zum Rückzug (wie dies bereits heute der Fall ist), sondern sogar zum endgültigen Verschwinden der Perspektive des Weltkrieges führen.

11. Die Möglichkeit solch einer Änderung der allgemeinen Perspektive des Kapitalismus, die aus den erheblichen  Umwälzungen infolge des Zerfalls des Gesellschaftslebens resultiert, ändert jedoch nichts an der grundlegenden Perspektive, die dieses System der Menschheit anzubieten hat, falls die Arbeiterklasse sich als unfähig erweisen sollte, dieses System zu überwinden. Die Entwicklung des Kapitalismus (und besonders der Dekadenz) hat es ermöglicht, die historische Perspektive, die bereits von Marx und Engels in den allgemeinen Begriffen "Sozialismus oder Barbarei" formuliert worden war, in den Formeln zu präzisieren:

  • "Krieg oder Revolution", eine Formel, die von den Revolutionären vor dem Ersten Weltkrieg angenommen worden war und die eines der Gründungsprinzipien der Kommunistischen Internationalen war;
  • "kommunistische Revolution oder Zerstörung der Menschheit", eine Formel, die sich nach Ende des Zweiten Weltkrieges mit dem Aufkommen der Atomwaffen durchsetzte.

Auch heute, nach dem Verschwinden des Ostblocks, bleibt diese Schreckensvision vollkommen gültig. Aber es ist wichtig zu präzisieren, daß solch eine Zerstörung der Menschheit durch einen imperialistischen Weltkrieg oder durch den Zerfall der Gesellschaft erfolgen kann.
Dieser Zerfall darf nicht als ein Rückschritt der Gesellschaft betrachtet werden. Selbst wenn der Zerfall einige typischen Charakteristiken der Vergangenheit des Kapitalismus und insbesondere der aufsteigenden Phase dieser Produktionsweise wieder aufleben läßt, wie zum Beispiel:

  • das Fehlen einer Aufteilung der Welt in zwei imperialistische Blöcke,
  • die Tatsache, daß daher die Kämpfe zwischen Nationen (deren aktuelle Zuspitzung insbesondere in den ehemaligen Ostblockländern ein typischer Ausdruck dieses Zerfalls sind) nicht mehr als Momente einer Konfrontation zwischen diesen beiden Blöcken aufgefaßt werden können,

... führt dieser Zerfall  nicht zu einem früheren Gesellschaftstyp, zu einer früheren Phase im Leben des Kapitalismus zurück. Mit der kapitalistischen Gesellschaft verhält es sich wie mit einem Greis, von dem man sagt, er "fällt in die Kindheit zurück". Er verliert bestimmte Fähigkeiten und Eigenschaften, die er mit seiner Reifung erworben hatte, und nimmt wieder gewisse Züge der Kindheit an (Zerbechlichkeit, Abhängigkeit, Schwierigkeiten in der Urteilskraft), ohne jedoch zur Vitalität und Lebenskraft zurückzufinden, die typisch für dieses Lebensalter sind.  Heute ist die Menschheit dabei, eine Reihe ihrer Errungenschaften (wie z.B. die Beherrschung der Natur) zu verlieren, ohne jedoch die Fähigkeit zum Fortschritt und zur Eroberung zu erlangen, die besonders die aufsteigende Phase des Kapitalismus charakterisiert hat. Der Verlauf der Geschichte ist unumkehrbar: der Zerfall führt, wie sein Name sagt, zur Auflösung und Fäulnis der Gesellschaft, ins Nichts. Seiner eigenen Logik und seinen letzten Konsequenzen überlassen, führt er die Gesellschaft zum gleichen Ergebnis wie der Weltkrieg. Ob man brutal von einem thermonuklearen Bombenhagel in einem Weltkrieg ausgelöscht wird oder durch die Umweltverschmutzung, die Radioaktivität der Atomkraftwerke, den Hunger, die Epidemien und die Massaker der verschiedenen kriegerischen Konflikte (in denen auch Atomwaffen eingesetzt werden können) vernichtet wird, läuft letztendlich aufs gleiche hinaus. Der einzige Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Zerstörung besteht darin, daß die erste schneller ist, während die zweite langsamer ist, dafür aber umso mehr Leid verursacht.

12. Es ist von größter Bedeutung, daß sich die Arbeiterklasse und die Revolutionäre in ihren Reihen der tödlichen Bedrohung durch den Zerfall für die Gesellschaft bewußt sind. In einer Zeit, in der sich die pazifistischen Illusionen aufgrund der geringer Wahrscheinlichkeit eines Weltkriegs auszubreiten drohen, muß man mit aller Energie jegliche Tendenzen innerhalb der Arbeiterklasse bekämpfen, Trost zu suchen, die extreme Tragweite der Weltlage auszublenden. Insbesondere wäre es ebenso falsch wie gefährlich, davon auszugehen, daß der Zerfall, allein weil er Realität ist, notwendig sei, um in Richtung Revolution voranzuschreiten.
Man darf nicht Notwendigkeit und Realität miteinander verwechseln. Engels hat den Ausdruck Hegels "Alles, was vernünftig ist, ist  wirklich, und alles, was wirklich ist, ist vernünftig", heftig kritisiert und den zweiten Teil dieser Formel abgelehnt, indem er sich auf das Beispiel des Fortbestehens der Monarchie in Deutschland bezog, die reell war, aber keineswegs vernünftig (man könnte Engels' Argumentationsweise - und dies ist schon seit langem voll und ganz gültig - heute auf die Monarchien im Vereinigten Königreich, in den Niederlanden, in Belgien usw. anwenden). Wenn der Zerfall heute eine Tatsache, eine Wirklichkeit ist, so beweist dies keineswegs seine Notwendigkeit für die proletarische Revolution. Mit solch einer Vorgehensweise würde man die Oktoberrevolution von 1917 und die ganze revolutionäre Welle des Ersten Weltkrieges  infragestellen, die sich in Abwesenheit einer Zerfallsphase des Kapitalismus ereignet haben. Im Grunde findet die gebieterische Notwendigkeit, eine klare Unterscheidung zwischen der Dekadenz des Kapitalismus und dieser spezifischen und ultimativen Phase seiner Dekadenz, dem Zerfall, zu machen, unter anderem in der Frage von Realität und Notwendigkeit Anwendung: die Dekadenz des Kapitalismus war notwendig, damit das Proletariat in der Lage ist, den Kapitalismus zu stürzen. Dagegen ist das Auftreten des historischen Phänomens des Zerfalls, das Resultat der Verlängerung der Dekadenz infolge des Ausbleibens der proletarischen Revolution, keineswegs eine notwendige Etappe für das Proletariat auf dem Weg zu seiner Emanzipation.
Mit dieser Zerfallsphase verhält es sich wie mit dem imperialistischen Krieg. Der Krieg von 1914 war ein grundlegendes Ereignis, von dem die Arbeiterklasse und die Revolutionäre selbstverständlich (und wie!) Kenntnis nahmen, aber das heißt keineswegs, daß er eine notwendige Vorbedingung für die Revolution war. Nur die Bordigisten glauben und behaupten dies. Die IKS hat schon die Gelegenheit gehabt zu zeigen, daß der Krieg keinesfalls eine besonders günstige Bedingung für den Triumph der internationalen Revolution darstellt. Und wenn man an die Möglichkeit eines dritten Weltkriegs denkt, erledigt sich die Frage von selbst.

13. Man muß sich besonders klar über die Gefahr sein, die der Zerfall für die Fähigkeit des Proletariats darstellt, der Größe seiner historischen Aufgabe gerecht zu werden. So wie die Entfesselung des imperialistische Krieges im Herzen der "zivilisierten" Welt ein "Aderlaß (war), an dem die europäische Arbeiterbewegung zu verbluten droht (...) und die Aussichten des Sozialismus (...) unter den von der imperialistischen Barbarei aufgetürmten Trümmern" begrub, indem "die besten, intelligentesten, geschultesten Kräfte des internationalen Sozialismus (...), die Vordertruppen des gesamten Weltproletariats (...) dahingemäht" (aus: Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie) wurden, kann auch der Zerfall, der sich in den nächsten Jahren nur noch verschärfen kann, die besten Kräfte des Proletariats dahinmähen und die Perspektive des Kommunismus endgültig kompromittieren. Dies deshalb, weil die Vergiftung der Gesellschaft durch den verfaulenden Kapitalismus keinen Teil der Gesellschaft ausspart, keine Klasse verschont, auch nicht die Arbeiterklasse. Wenn die Abschwächung des Einflusses der bürgerlichen Ideologie mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine Niedergangsphase eine der Vorbedingungen der Revolution ist, dann stellt das Phänomen des Zerfalls dieser Ideologie ein Hindernis für die Bewußtwerdung der Arbeiterklasse dar.
Anfangs erfaßt der ideologische Zerfall hauptsächlich die Kapitalistenklasse selbst und damit auch die kleinbürgerlichen Schichten, die keine eigenständige Existenz haben. Man kann gar sagen, daß diese Schichten sich besonders stark mit diesem Zerfall identifizieren, weil ihre besondere Situation, ihre Zukunftslosigkeit,  zum Hauptgrund dieses ideologischen Zerfalls paßt: das Fehlen einer unmittelbaren Perspektive für die gesamte Gesellschaft. Nur das Proletariat trägt eine Perspektive für die Menschheit in sich, und deshalb gibt es in seinen Reihen den größten Widerstand gegen diesen Zerfall. Doch das Proletariat ist nicht immun gegen den Zerfall, insbesondere weil die Kleinbourgeoisie, mit der es sich auseinanderzusetzen hat, der Hauptträger dieses Zerfall ist. Die verschiedenen Elemente, die die Stärke des Proletariats ausmachen, stoßen direkt mit den verschiedenen Facetten dieses ideologischen Zerfalls zusammen:

  • Das kollektive Handeln und die Solidarität stoßen mit der Atomisierung, dem "Jeder für sich", dem "Frechheit zahlt sich aus" zusammen.
  • Das Bedürfnis nach Organisierung steht dem gesellschaftlichen Zerfall entgegen, der Zerstörung von Beziehungen, die erst ein gesellschaftliches Leben ermöglichen.
  • Die Zuversicht in die Zukunft und in die eigenen Kräfte wird ständig untergraben durch die allgemeine Hoffnungslosigkeit, die in der Gesellschaft durch den Nihilismus, durch die Ideologie des "No future" immer mehr überhand nimmt.
  • Das Bewußtsein, die Klarheit, die Kohärenz und Einheit im Denken, der Sinn für Theorie müssen sich mühsam ein Weg bahnen inmitten der Flucht in Trugbilder, der Drogen, Sekten, des Mystizismus, der Verweigerung des Nachdenkens und der Zerstörung des Denkens, die unsere Epoche charakterisieren.

14. Einer der erschwerenden Faktoren dieser Lage ist natürlich die Tatsache, daß ein bedeutender Teil der jungen Arbeitergenerationen voll von der Geißel der Arbeitslosigkeit getroffen wird, bevor er überhaupt die Gelegenheit hat, am Arbeitsplatz Erfahrungen mit einem kollektiven Leben der Klasse zu sammeln. Zwar ist die Arbeitslosigkeit, die direkt aus der Wirtschaftskrise resultiert, als solche kein Ausdruck des Zerfalls, aber sie kann in dieser besonderen Phase der Dekadenz zu Konsequenzen führen, die aus ihr ein singuläres Element im Zerfall machen. Auch wenn die Arbeitslosigkeit im allgemeinen dazu beitragen kann, die Unfähigkeit des Kapitalismus zu enthüllen, den Proletariern eine Zukunft anzubieten, so bildet sie heute auch einen mächtigen Faktor der "Verlumpung" einiger Teile der Klasse, insbesondere unter den jungen Arbeitern, wodurch die gegenwärtigen und zukünftigen politischen Fähigkeiten der Klasse geschwächt werden. Dies spiegelte sich in den ganzen achtziger Jahren wider, als es zu einem beträchtlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit bei gleichzeitigem Ausbleiben bedeutender Bewegungen und handfester Organisationsversuche  seitens der Arbeitslosen kam. Die Tatsache, daß in den dreißiger Jahren, inmitten der Konterrevolution, das Proletariat besonders in den Vereinigten Staaten diese Kampfformen praktizieren konnte, veranschaulicht gut das Gewicht der Probleme, die die Arbeitslosigkeit heute aufgrund des Zerfalls für die Bewußtwerdung des Proletariats darstellt.

15. Freilich manifestiert sich das Gewicht des Zerfalls als erschwerender Faktor in der Bewußtwerdung des Proletariats in den letzten Jahren nicht nur in der Frage der Arbeitslosigkeit. Selbst wenn man den Zusammenbruch des Ostblocks und die Agonie des Stalinismus (die ein Ausdruck des Zerfalls sind und einen deutlichen Rückgang des Bewußtseins hervorgerufen haben - siehe dazu INTERNATIONALE REVUE, Nr. 12) außer acht läßt, muß man erkennen, daß die Schwierigkeiten, von denen die Arbeiterklasse heimgesucht wird, um die Perspektive der Vereinigung ihrer Kämpfe in den Mittelpunkt zu rücken - trotz der Tatsache, daß diese Frage in der Dynamik ihres Kampfes gegen die immer frontaleren Angriffe des Kapitalismus enthalten ist -, zu einem großen Teil aus dem Druck herrühren, der vom Zerfall ausgeübt wird. Insbesondere das Zögern des Proletariats angesichts der Notwendigkeit, seine Kämpfe auf ein höheres Niveau zu heben, hat sich, obwohl dies bereits ein allgemeines Kennzeichen des Klassenkampfes war, als ihn Marx im 18. Brumaire analysierte, durch diese mangelnde Selbstvertrauen und Vertrauen in die Zukunft, die der Zerfall in der Klasse bewirkt, noch vergrößert. Auch die Ideologie des "Jeder für sich", besonders ausgeprägt in der aktuellen Periode, konnte die Wirkung der Fallen des Korporatismus, die die Herrschenden erfolgreich gegen die Kämpfe in den letzten Jahren angewandt haben, nur begünstigen.
So hat während der gesamten achtziger Jahre der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft eine Bremserrolle im Bewußtwerdungsprozeß der Arbeiterklasse gespielt. Neben den anderen, in der Vergangenheit bereits identifizierten Elementen, die zur Verlangsamung dieses Prozesses beitrugen, als da wären:

  • der langsame Rhythmus der Krise selbst;
  • die Schwäche der politischen Klassenorganisationen, die aus dem organischen Bruch zwischen den Organisationen der Vergangenheit und jenen Organisationen resultierte, die mit dem historischen Wiederaufleben des Klassenkampfes Ende der 60er Jahre aufgetaucht sind,

... ist es also wichtig, den Druck des Zerfalls mit zu berücksichtigen. Aber diese verschiedenen Elemente wirken nicht auf die gleiche Weise. Während der Zeitfaktor zur Verringerung des Gewichts der beiden erstgenannten Elemente beiträgt, erhöht er im Falle des letztgenannten Elements den Druck. Es ist also fundamental zu verstehen, daß je länger die Arbeiterklasse zögert, den Kapitalismus zu stürzen, desto größer die Gefahren und schädlichen Auswirkungen des Zerfalls werden.

16. In der Tat muß man verdeutlichen, daß heute die Zeit im Gegensatz zu den siebziger Jahren nicht mehr zugunsten der Arbeiterklasse arbeitet. Solange die Gefahr der Zerstörung der Gesellschaft nur durch den imperialistischen Krieg ausging, reichte die bloße Tatsache, daß die Kämpfe des Proletariats in der Lage waren, sich als entscheidende Barriere gegen eine solche "Lösung" zu behaupten, aus, um den Weg zu dieser Zerstörung zu versperren. Doch im Gegensatz zum imperialistischen Krieg, der für seine Entfesselung das Bekenntnis der Arbeiterklasse zu den Idealen der Bourgeoisie erfordert, benötigt der Zerfall keineswegs die Mobilisierung der Arbeiterklasse, um die Menschheit zu zerstören. So wie sie nicht dem wirtschaftlichen Zusammenbruch trotzen können, so sind die Kämpfe des Proletariats in diesem System auch nicht in der Lage, den Zerfall zu bremsen. Daher ist, selbst wenn die Gefahr, die der Zerfall für das Leben der Gesellschaft darstellt, viel langfristiger erscheint als jene, die von einem Weltkrieg ausgeht (falls die Bedingungen dafür existieren, was heute nicht der Fall ist), diese Gefahr umso heimtückischer. Um der Bedrohung ein Ende zu machen, die der Zerfall darstellt, reicht der Widerstand der Arbeiter gegen die Folgen der Krise nicht mehr aus: allein die kommunistische Revolution kann solch einer Gefahr beikommen. Auch kann das Proletariat in der Zukunft nicht darauf hoffen, die Schwächung, die der Zerfall in der Bourgeoisie selbst bewirkt, zu seinen Gunsten auszunutzen. In dieser Periode muß es sein Ziel sein, den schädlichen Auswirkungen des Zerfalls in seinen eigenen Reihen zu trotzen, indem es nur auf seine eigenen Kräfte zählt, auf seine Fähigkeit baut, sich kollektiv und solidarisch für die Verteidigung seiner Interessen als ausgebeutete Klasse einzusetzen (selbst wenn die Propaganda der Revolutionäre ständig die Gefahren des Zerfalls unterstreichen muß). Nur in der vorrevolutionären Periode, d.h. wenn das Proletariat zur Offensive übergegangen ist, wenn  es sich direkt und offen im Kampf für seine eigenen historische Perspektive engagiert, kann es bestimmte Effekte des Zerfalls, insbesondere den Zerfall der bürgerlichen Ideologie und der Kräfte der kapitalistischen Macht, als Hebel benutzen und gegen das Kapital wenden.

17. Die Offenlegung der großen Gefahren, die für die Arbeiterklasse und die ganze Menschheit vom historischen Phänomen des Zerfalls ausgehen, darf die Klasse und besonders ihre revolutionären Minderheiten nicht dazu veranlasssen, eine fatalistische Haltung ihm gegenüber einzunehmen. Heute bleiben die historischen Möglichkeiten völlig offen. Trotz des Schlags, der der Bewußtwerdung des Proletariats durch den Zusammenbruch des Ostblocks verabreicht wurde, hat das Proletariat auf seinem Klassenterrain keine große Niederlage erlitten. in diesem Sinne bleibt sein Kampfgeist praktisch intakt. Aber darüber hinaus, und das ist das Element, das in letzter Instanz die Entwicklung der Weltlage bestimmt, bildet derselbe Faktor, der sich am Anfang der Entwicklung des Zerfalls befindet, den wesentlichen Ansporn für den Kampf und die Bewußtwerdung der Klasse, die eigentliche Bedingung für ihre Fähigkeit, dem ideologischen Gift der gesellschaftlichen Fäulnis zu widerstehen. Denn auch wenn das Proletariat kein Terrain findet, um die Teilkämpfe gegen die Auswirkungen des Zerfalls zu vereinen, bildet sein Kampf gegen die direkten Auswirkungen der Krise die Grundlage für die Weiterentwicklung seiner Klassenstärke und Einheit.  Die Entfaltung der Krise ist Voraussetzung dafür, daß die Klasse in der Lage ist, dem ideologischen Gift der Fäulnis der Gesellschaft entgegenzutreten. Obwohl die Arbeiterklasse sich in den sog. Teilkämpfen gegen die Auswirkungen des Zerfalls nicht als Klasse zusammenschließen kann, bildet der Kampf gegen die direkten Auswirkungen der Krise dennoch die Grundlage für die Entfaltung ihrer Stärke und ihrer Einheit als Klasse. Dies ist so, weil:

  • die ökonmischen Attacken (Lohnsenkungen, Entlassungen, Verschärfung der Arbeitshetze, etc.) im Gegensatz zu den Auswirkungen des Zerfalls (z.B. die Umweltverschmutzung, die Drogensucht, die Unsicherheit usw.), die relativ unterschiedslos alle Gesellschaftsschichten erfassen und einen günstigen Nährboden für klassenübergreifende Kampagnen und Mystifikationen bilden (wie Ökologie, Anti-AKW-Bewegungen, antirassistische Mobilisierungen usw.), direkt aus der Krise herrühren, die ganz spezifisch das Proletariat (das heißt, die Mehrwert produzierende und auf diesem Terrain das Kapital konfrontierende Klasse) betrifft;
  • die Wirtschaftskrise im Gegensatz zum gesellschaftlichen Zerfall, der hauptsächlich den Überbau betrifft, ein Phänomen ist, das direkt die Infrastruktur der Gesellschaft selbst ergreift, auf denen dieser Überbau ruht; daher stellt die Krise die ultimativen Ursachen der gesamten Barbarei bloß, unter der  die Gesellschaft leidet, und ermöglicht somit der Arbeiterklasse, sich der Notwendigkeit einer radikalen Umwälzung dieses Systems bewußt zu werden, ohne zu versuchen, einige Teilaspekte zu verbessern.

Die Krise kann jedoch selbst nicht die Probleme und Schwierigkeiten lösen, auf die das Proletariat stößt und noch öfter stoßen wird. Nur...

  • das Bewußtsein darüber, was in der gegenwärtigen historischen Situation auf dem Spiel steht, und insbesondere ein Bewußtsein über die tödlichen Gefahren, die der Zerfall für die Menschheit mit sich bringt;
  • seine Entschlossenheit, seinen Kampf als Klasse fortzusetzen, ihn weiterzuentwickeln und zu vereinigen;
  • seine Fähigkeit, die vielfältigen Fallen zu umgehen, den die vom Zerfall selbst befallene Bourgeoisie nicht versäumen wird aufzustellen,

... wird es dem Proletariat ermöglichen, den Angriffen des Kapitalismus jeweils entgegenzutreten, um letztendlich in die Offensive überzugehen und dieses barbarische System niederzureißen.
Die Verantwortung der Revolutionäre besteht darin, aktiv zur Weiterentwicklung dieses Kampfes des Proletariats beizutragen.

Mai 1990

Erschienen in INTERNATIONALE REVUE, Nr. 13.
 

 

 

 
Quell-URL: https://de.internationalism.org/Zerfall/13 [13]

 

Theoretische Fragen: 

  • Zerfall [14]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [12]

Orientierungstext: Militarismus und Zerfall

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Mehrmals sah sich die IKS veranlaßt, auf die Bedeutung der Frage des Militarismus und des Krieges in der Dekadenzperiode (1) sowohl für das  Leben des Kapitalismus selbst wie auch aus der Sicht des Proletariats zu beharren. Aufgrund der vielen Ereignisse während des letzten Jahres, die alle von einer großen historischen Bedeutung sind (Zusammenbruch des Ostblocks, Golfkrieg), die die ganze Weltlage umgeworfen haben, und mit dem Eintritt des Kapitalismus in die letzte Phase seiner Dekadenz, die des Zerfalls (2), müssen sich die Revolutionäre in dieser wesentlichen Frage der Rolle des Militarismus in dieser neuen Weltlage völlige Klarheit verschaffen.


Der Marxismus - eine lebendige Theorie

1. Im Gegensatz zur bordigistischen Strömung hat die IKS nie den Marxismus als eine "invariante (unabänderliche) Doktrin" aufgefaßt, sondern als eine lebendige Gedankenwelt, für die jedes bedeutsame historische Ereignis eine Gelegenheit zur Bereicherung darstellt. Solche Ereignisse erlauben entweder eine Bestätigung des Rahmens und der zuvor entwickelten Analysen und stützen sie, oder sie zeigen auf, daß einige von ihnen überholt sind, was einen Denkprozeß erfordert, um das Anwendungsgebiet der bisher gültigen, nun aber veralteten Schemata zu erweitern oder gar ohne Umschweife neue zu erarbeiten, die der neuen Wirklichkeit Rechnung tragen. Die revolutionären Organisationen und Militanten tragen die besondere und fundamentale Verantwortung, dieses Bemühen um einen Denkprozeß mit Herzblut auszuführen und, wie unsere Ahnen Lenin, Luxemburg, die Italienische Fraktion der Internationalen Kommunistischen Linken (BILAN), die Kommunistische Linke Frankreichs usw., gleichzeitig vorsichtig und kühn vorwärtszuschreiten:

  • indem sie sich fest auf die Errungenschaften der marxistischen Grundlagen stützen,
  • indem sie die Wirklichkeit ohne Scheuklappen untersuchen und indem sie die Gedankenwelt "ohne Verbote und ohne Ächtung" (BILAN) zur Entfaltung verhelfen.

Angesichts solcher historischen Ereignisse ist es besonders wichtig, daß die Revolutionäre in der Lage sind, die veralteten von den nach wie vor gültigen Analysen unterscheiden, um eine doppelte Klippe zu umschiffen: entweder sich in seiner Verknöcherung einzuschließen oder "das Kind mit dem Bade auszuschütten". Konkret: es ist notwendig, das herauszuschälen, was in diesen Analysen essentiell, fundamental bleibt und seine Gültigkeit behält bei all den unterschiedlichen historischen Bedingungen, die zweitrangig und situationsbedingt sind, kurzum: unterscheiden können zwischen dem Wesentlichen einer Wirklichkeit und ihren unterschiedlichen, besonderen Erscheinungsweisen.

2. Seit einem Jahr hat es beträchtliche Umwälzungen auf der Welt gegeben, die das Aussehen der Welt, so wie sie sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelt hatte, sichtlich verändert haben. Die IKS hat sich emsig darum bemüht, diese Umwälzungen aufmerksam zu verfolgen:

  • um ihrer historischen Bedeutung Rechnung zu tragen,
  • um zu untersuchen, in welchem Maße sie den Rahmen der bis dahin gültigen Analyse bestätigen oder verwerfen.

So können diese historischen Ereignisse (die Agonie des Stalinismus, das Verschwinden des Ostblocks, die Auflösung des westlichen Blocks) - auch wenn sie in ihren Besonderheiten nicht von uns vorausgesehen wurden - voll in den Rahmen der Analyse und des Verständnisses der gegenwärtigen historischen Periode eingegliedert werden, der zuvor von der IKS erarbeitet worden war: die Phase des Zerfalls.
Das gleiche trifft auf den Krieg am Persischen Golf zu. Aber die Bedeutung dieser Ereignisse sowie die Konfusion, die sie in den Reihen der Revolutionäre stifteten, hat unserer Organisation die Verantwortung aufgezwungen, die Auswirkungen und den Widerhall der Merkmale der Zerfallsphase auf die Frage des Militarismus und des Kriegs zu verstehen und zu begreifen, wie sich diese Frage in der neuen historischen Periode stellt.


Der Militarismus im Zentrum der Dekadenz des Kapitalismus

3. Der Militarismus und der Krieg konstituieren ein fundamentales Element im Leben des Kapitalismus seit dem Eintritt dieses Systems in die Epoche seiner Dekadenz. Sobald der Weltmarkt am Anfang dieses Jahrhunderts vollständig gebildet und die Welt in koloniale Jagdgebiete und Handelszonen für die verschiedenen fortgeschrittenen kapitalistischen Nationen aufgeteilt war, konnte die Verschärfung der wirtschaftlichen Konkurrenz zwischen den Nationen nur zu einer Zuspitzung der militärischen Spannungen, zur Bildung immer imposanterer Waffenarsenale und zur wachsenden Unterordnung des gesamten wirtschaftlichen und sozialen Lebens unter die Imperative der militärischen Sphäre führen. In der Tat bilden der Militarismus und der imperialistische Krieg die zentralen Manifestationen des Eintritts des Kapitalismus in den Zeitraum seiner Dekadenz (und die Auslösung des Ersten Weltkriegs steht für den Beginn dieser Epoche), was so weit ging, daß für die damaligen Revolutionäre der Imperialismus und der dekadente Kapitalismus zu Synonymen wurden. Der Imperialismus war keine besondere Erscheinungsform des Kapitalismus, sondern seine Überlebensform in der neuen historischen Periode. Nicht der eine oder andere Staat war imperialistisch geworden, sondern alle Staaten, wie Rosa Luxemburg enthüllte. Wenn der Imperialismus, der Militarismus und der Krieg an diesem Punkt mit der Epoche der Dekadenz identifiziert werden konnten, dann deshalb, weil die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu einer Fessel für die Entwicklung der Produktivkräfte geworden sind: Der - auf der Ebene der globalen Ökonomie -völlig irrationale Charakter der Rüstungsausgaben und des Krieges spiegeln nur die Abartigkeit wider, den die Aufrechterhaltung dieser Produktionsverhältnisse bedeuten. Insbesondere die ständige und wachsende Selbstzerstörung des Kapitals, die zwangsläufig aus dieser Existenzweise hervorgeht, ist ein Symbol für die Agonie dieses Systems, das enthüllt, daß Letzteres von der Geschichte abgeurteilt ist.


Staatskapitalismus und imperialistische Blöcke

4. Konfrontiert mit einer Situation, in der der Krieg im gesellschaftlichen Leben allgegenwärtig ist, hat der Kapitalismus in seiner Dekadenz zwei Phänomene entwickelt, die die Hauptcharakteristiken dieser Epoche bilden: den Staatskapitalismus und die imperialistischen Blöcke. Der Staatskapitalismus, dessen erste bedeutsame Manifestation aus der Zeit des Ersten Weltkriegs datiert, antwortet auf das Bedürfnis eines jeden Landes, angesichts der Konfrontation mit den anderen Nationen ein Höchstmaß an Disziplin seitens der verschiedenen Teile der Gesellschaft anzustreben, die Zusammenstöße zwischen den Klassen, aber auch zwischen rivalisierenden Fraktionen der herrschenden Klasse so stark wie möglich zu reduzieren, um insbesondere das gesamte ökonomische Potential zu mobilisieren und zu kontrollieren. Gleichermaßen enstspricht die Formierung von imperialistischen Blöcken der Notwendigkeit, eine solche Disziplin auch den verschiedenen nationalen Bourgeoisien aufzuzwingen, um ihre wechselseitigen Antagonismen einzuhegen und sie für die Hauptkonfrontation, nämlich die zwischen den beiden militärischen Lagern, zusammenzuschließen. Und in dem Maße, wie der Kapitalismus in seine Dekadenz und in seiner historischen Krise versinkt, haben sich auch diese beiden Charakteristiken verschärft. Insbesondere der Staatskapitalismus spiegelt auf der Ebene eines ganzen imperialistischen Blocks, wie er sich nach dem Zweiten Weltkrieg entfaltet hat, die Zuspitzung dieser beiden Phänomene wider. Daher sind weder der Staatskapitalismus noch die imperialistischen Blöcke und auch nicht die Kombination beider Ausdruck irgendeiner "Befriedung" der Verhältnisse zwischen den unterschiedlichen Sektoren des Kapitals und noch weniger eine "Stärkung" beider Phänomene. Im Gegenteil, sie sind nur Mittel, die von der kapitalistischen Gesellschaft abgesondert wurden, um zu versuchen, der wachsenden Tendenz  ihrer Auflösung zu trotzen. (3)


Der Imperialismus in der Zerfallsphase des Kapitalismus

5. Der allgemeine Zerfall der Gesellschaft stellt die letzte Phase in der Epoche der Dekadenz des Kapitalismus dar. In diesem Sinne werden in dieser Phase die typischen Charakteristiken der Dekadenzperiode nicht hinfällig: die historische Krise der kapitalistischen Ökonomie, der Staatskapitalismus und auch die grundlegenden Phänomene wie der Militarismus und der Imperialismus. Mehr noch: in dem Maße, wie der Zerfall sich als der Höhepunkt der Widersprüche präsentiert, derer sich der Kapitalismus seit dem Beginn seiner Dekadenz in wachsendem Maße erwehren muß, spitzen sich auch die typischen Charakteristiken dieser Periode in der ultimativen Phase der Dekadenz zu:

  • infolge des unaufhaltsamen Versinkens des Kapitalismus in die Krise wird der Zerfall immer verheerender;
  • die Tendenz zum Staatskapitalismus wird damit keineswegs infrage gestellt, ganz im Gegenteil, es verschwinden nur einige seiner parasitärsten und absurdesten Formen wie der Stalinismus heute(4).

Das gleiche trifft auf den Militarismus und Imperialismus zu, wie man schon in den 80er Jahren feststellen konnte, als das Phänomen des Zerfalls in Erscheinung trat und sich verbreitete. Und auch die Tatsache, daß die Welt jetzt, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, nicht mehr in zwei Blöcke gespalten ist, ändert nichts an dieser Wirklichkeit. In der Tat befand sich nicht die Bildung zweier imperialistischer Blöcke am Ausgangspunkt des Militarismus und des Imperialismus. Das Gegenteil ist der Fall: die Bildung der Blöcke ist nur die äußerste Konsequenz (die in einem gegebenen Zeitpunkt die Ursachen selbst verschärfen kann), eine Manifestation (und sicher nicht die einzige) des Versinkens des dekadenten Kapitalismus im Militarismus und im Krieg. Auf gewisse Weise verhält es sich mit der Bildung von Blöcken gegenüber dem Imperialismus so wie mit dem Stalinismus gegenüber dem Staatskapitalismus. Genausowenig wie das Ende des Stalinismus die historische Tendenz des Staatskapitalismus infrage stellt, von dem er nur ein Ausdruck war, impliziert das gegenwärtige Verschwinden der Blöcke eine Verringerung oder gar Infragestellung des beherrschenden Einflusses des Imperialismus auf die Gesellschaft. Der fundamentale Unterschied liegt in der Tatsache, daß, wenn das Ende des Stalinismus der Eliminierung einer besonders absurden Form des Staatskapitalismus gleich kam, das Ende der Blöcke die Tür zu einer noch barbarischeren, absurderen, chaotischeren Form des Imperialismus öffnet.

6. Diese Analyse hatte die IKS bereits zur Zeit des Zusammenbruchs des Ostblocks erarbeitet:
„Im Zeitalter der Dekadenz des Kapitalismus sind alle Staaten imperialistisch und treffen Anordnungen, um sich dieser Realität anzupassen: Kriegswirtschaft, Rüstung usw. Daher wird die Zuspitzung der Erschütterungen der Weltwirtschaft die Spannungenzwischen den verschiedenen Staaten auf militärischer Ebene immer weiter  verschärfen. Im Unterschied zu der jetzt zu Ende gegangenen Epoche werden diese Spannungen und Antagonismen, die bisher von den beiden großen imperialistischen Blöcken im Griff gehalten und ausgenutzt wurden, jetzt in den Vordergrund rücken. Das Verschwinden des russischen imperialistischen Gendarmen und damit auch die Auflösung der Gendarmenrolle des amerikanischen Imperialismus gegenüber seinen 'Hauptpartnern' von gestern öffnet die Tür zur Entfesselung einer ganzen Reihe von lokalen Rivalitäten. Diese Rivalitäten und Zusammenstöße können gegenwärtig nicht in einem globalen Konflikt ausarten (selbst wenn das Proletariat nicht mehr in der Lage wäre, sich dagegen zur Wehr zu setzen). Jedoch werden infolge des Verschwindens der durch die Präsenz der Blöcke aufgezwungenen Disziplin diese Konflikte viel häufiger und gewalttätiger werden, insbesondere in den Regionen, wo die Arbeiterklasse am schwächsten ist." ("Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks: Destabilisierung und Chaos", INTERNATIONALE REVUE, Nr. 61, engl., franz., span. Ausgabe)
"Die Zuspitzung der  Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft wird zwangsläufig eine neue Verschärfung der inneren Widersprüche der bürgerlichen Klasse hervorrufen. Wie in der Vergangenheit werden sich diese Widersprüche auf der Ebene der kriegerischen Antagonismen manifestieren: im dekadenten Kapitalismus kann der Handelskrieg nur zu einer Flucht nach vorn in den Krieg der Waffen führen. In diesem Sinne muß man den pazifistischen Illusionen, die sich infolge der 'Verbesserung' der Beziehungen zwischen den USA und der UdSSR verbreiteten, entschlossen entgegentreten: auch wenn die militärischen Konfrontationen zwischen Staaten jetzt nicht mehr von den Großmächten manipuliert und ausgenutzt werden, sind sie nicht im Begriff zu verschwinden. Ganz im Gegenteil, wie die Vergangenheit zeigt, bilden der Militarismus und der Krieg die eigentliche Lebensform des dekadenten Kapitalismus, und die Vertiefung der Krise kann dies nur bestätigen. Was sich jedoch im Vergleich zur Vergangenheit ändert, ist die Tatsache, daß diese militärischen Gegensätze gegenwärtig nicht die Form einer Konfrontation zwischen zwei großen imperialistischen Blöcken annehmen..." (Resolution zur internationalen Lage, Juni 1990, INTERNATIONALE REVUE, Nr. 63, engl., franz., span. Ausgabe).
Diese Analyse wird durch den Krieg am Persischen Golf heute vollauf bestätigt.


Der Golfkrieg: die erste Manifestation der neuen Weltlage

7. Dieser Krieg stellt die erste Manifestation einer Situation dar, in der sich die Welt nach dem Zusammenbruch des Ostblocks befindet (daher ist sie heute von ungeheurer Bedeutung):

  • Sie dokumentiert mit dem "unkontrollierten" Abenteuer des Irak, der sich ein anderes Land einverleibte, das dem einstigen dominanten Block angehörte, das Verschwinden auch des westlichen Blocks.
  • Sie enthüllt die Zunahme der Tendenz (die typisch ist für die kapitalistische Dekadenz) unter allen Ländern, die bewaffneten Kräfte zu benutzen, um zu versuchen, sich aus dem immer unerträglicheren Würgegriff der Krise zu lösen.
  • Sie zeigt mit dem Aufmarsch der atemberaubenden militärischen Macht der USA und ihrer "Verbündeten" die Tatsache auf, daß  immer mehr allein diese Militärmacht in der Lage ist, ein Mindestmaß an Stabilität in einer Welt aufrechtzuerhalten, die von wachsendem Chaos bedroht ist.

So ist dieser Krieg nicht, wie der größte Teil des politischen Milieus des Proletariats behauptet, ein "Krieg um den Preis des Erdöls". Er kann nicht auf einen "Krieg um die Kontrolle des Mittleren Osten" reduziert werden, wie wichtig diese Region auch sein mag. Auch versucht die militärische Operation am Persischen Golf nicht nur das Chaos, das sich in der Dritten Welt entwickelt, einzuschränken. All diese Elemente spielen natürlich eine Rolle. Es stimmt, daß die Mehrheit der westlichen Länder an einem niedrigen Ölpreis interessiert ist (im Gegensatz zur UdSSR, die trotz ihrer geringen Mittel mit voller Kraft an den Aktionen gegen den Irak mitwirkt), doch mit den Mitteln, die dabei eingesetzt wurden (und die den Ölpreis weit über die Forderungen des Iraks haben anschnellen lassen) wird  solch eine Ölpreissenkung nicht bewirkt. Es stimmt auch, daß die Kontrolle der Erdölfelder für die USA von großem Interesse ist und ihre Position gegenüber den Handelsrivalen (Westeuropa und Japan) stärkt: warum aber unterstützen dann diese Rivalen die USA bei ihrem Vorgehen? Klar ist auch, daß die UdSSR an einer Stabilisierung der Region des Mittleren Ostens interessiert ist, da sie in unmittelbarer Nachbarschaft zu ihren ohnehin unruhigen zentralasiatischen und kaukasischen Republiken liegt. Doch das Chaos, das sich in der UdSSR ausbreitet, betrifft nicht nur dieses Land; die mitteleuropäischen Ländern und damit auch die westeuropäischen Länder sind besonders davon betroffen, was in der Zone des früheren Ostblocks passiert. Allgemeiner, wenn die fortgeschrittenen Länder sich mit dem Chaos befassen, das sich in bestimmten Regionen der "Dritten Welt" ausbreitet, dann deshalb, weil sie selbst wegen der neuen Weltlage heute durch dieses Chaos geschwächt werden.

8. In Wirklichkeit wird versucht, mit Hilfe der Operation "Wüstenschild" und der mit ihr verbundenen Aktionen das Chaos einzudämmen, das schon einen Großteil der Welt erfaßt und nunmehr direkt die großen, entwickelten Länder und ihre Beziehungen untereinander bedoht. In der Tat ist mit dem Ende der Aufteilung der Welt in zwei große imperialistische Blöcke ein wesentlicher Faktor verschwunden, der einen gewissen Zusammenhalt zwischen diesen Staaten aufrechterhalten hatte. Die für die neue Periode typische Tendenz ist das "Jeder für sich" und, unter Umständen, für die mächtigsten Staaten ihr Anspruch auf die Übernahme der "Führung" eines neuen Blocks. Aber gleichzeitig versucht die Bourgeoisie dieser Länder unter Berücksichtigung der Gefahren, die eine solche Situation mit sich bringt, gegenüber solch einer Tendenz zu reagieren. Mit der neuen Stufe im allgemeinen Chaos, den das irakische Abenteuer zum Ausdruck bringt (das hinter der Hand durch die "konziliante" Haltung der USA gegenüber dem Irak vor dem 2. August begünstigt wurde, mit dem Ziel, anschließend "ein Exempel zu statuieren"), hatte die "internationale Gemeinschaft" (die so von den Medien genannt wird und weit mehr als den alten Westblock umfaßt, seitdem auch die UdSSR mit von der Partie ist) keine andere Wahl, als sich hinter die Autorität der ersten Weltmacht und insbesondere ihre Militärmacht zu stellen, der einzigen, die in der Lage ist, an jedem Ort der Welt für Ordnung zu sorgen.
Der Krieg am Golf zeigt somit, daß es gegenüber der für die Zerfallsphase typischen Tendenz zum allgemeinen Chaos, die durch den Zusammenbruch des Ostblocks erheblich beschleunigt wurde,  für den Kapitalismus bei seinem Versuch, die verschiedenen Teile eines sich auflösenden Körpers zusammenzuhalten,  keinen anderen Ausweg gibt als die Auferlegung eines eisernen Korsetts, das die bewaffneten Kräfte bilden.(5) Deshalb sind die Mittel, die er einsetzt, um dieses immer blutigere Chaos einzudämmen, selbst ein beträchtlicher Faktor bei der Verschärfung der kriegerischen Barbarei, in die der Kapitalismus versinkt.


Keine Aussichten auf eine Bildung neuer Blöcke

9. Währung sich die Konstituierung von Blöcken historisch als die Konsequenz aus der Entwicklung des Militarismus und Imperialismus darstellt, bildet die Zuspitzung der beiden in der gegenwärtigen Phase im Leben des Kapitalismus paradoxeweise ein Haupthindernis bei der Bildung eines neuen Blocksystems, das an die Stelle der alten Blockkonstellation treten könnte. Die Geschichte (insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg) hat verdeutlicht, daß die Auflösung eines imperialistischen Blocks (z.B. den der "Achse") nicht nur die Auflösung des anderen Blocks nach sich zog (die "Alliierten"), sondern auch zur Ausbildung eines neuen "Paares" antagonistischer Blöcke (Ost und West) führte. Aus diesem Grund birgt auch die gegenwärtige Lage unter dem Druck der Krise und der Zuspitzung der imperialistischen Spannungen die Tendenz zur Bildung von zwei neuen imperialistischen Blöcken in sich. Doch daß die militärische Schlagkraft - wie der Golfkrieg bestätigte - solch ein maßgeblicher Faktor in den Bemühungen der fortgeschrittenen Länder geworden ist, das weltweite Chaos einzudämmen, bildet eine erhebliche Behinderung dieser Tendenz. Tatsächlich hat dieser Krieg die erdrückende Überlegenheit der US-Militärmacht (um es vorsichtig auszudrücken) gegenüber den anderen entwickelten Ländern vor Augen geführt (diese Machtdemonstration war im Grunde eines der Hauptziele dieses Landes): diese Militärmacht allein ist mindestens so groß wie die aller anderen Länder der Erde zusammengenommen. Und solch ein Ungleichgewicht kann nicht so schnell ausgeglichen werden; es gibt auf absehbare Zeit kein Land, das in der Lage wäre, den USA ein Rüstungspotential entgegenzusetzen, das ihm erlauben würde, die Stellung des Führers eines mit den USA rivalisierendes Blocks anzustreben. Und selbst auf längere Zeit ist die Liste der Kandidaten für eine solche Stellung äußerst begrenzt.

10. In Wirklichkeit ist es ausgeschlossen, daß beispielsweise der Führer des Blocks, der gerade zusammenbricht, die UdSSR, diese Stellung eines Tages zurückerobert. Tatsächlich stellt die Tatsache, daß dieses Land in der Vergangenheit solch eine Rolle spielen konnte, an sich schon eine Absurdität, einen Unfall der Geschichte dar. Aufgrund ihrer in jeder Hinsicht beträchtlichen Rückständigkeit (ökonomisch, aber auch politisch und kulturell) verfügte die UdSSR nicht über die Attribute, die es ihr erlaubten, ganz "natürlich" einen Block um sich herum zu bilden(6). Wenn sie dennoch einen solchen Rang erklommen hatte, dann dank der "Gnade" Hitlers, der sie 1941 in den Krieg zog, und der "Verbündeten", die sie auf Jalta dafür "belohnten", daß sie eine zweite Front gegen Deutschland bildete, und die ihren Tribut von 20 Millionen Toten, der von ihrer Bevölkerung bezahlt wurde, dadurch entschädigte, daß sie der UdSSR die mitteleuropäischen Länder überließen, die nach dem Zusammenbruch Deutschlands von russischen Truppen okkupiert worden waren(7). Gerade weil die UdSSR ihre Rolle als Blockführer nicht erfüllen konnte, war sie, um ihr Imperium zu erhalten, gezwungen gewesen, ihrem Produktivapparat eine Kriegswirtschaft aufzuzwingen, die diesen vollständig ruinierte. Abgesehen davon, daß er eine besonders aberwitzige Form des Staatskapitalismus bestrafte (der nicht einer "organischen" Entwicklung des Kapitals entsprang, sondern aus der Eliminierung der klassischen Bourgeoisie durch die Revolution von 1917 resultierte), war der spektakuläre Zusammenbruch des Ostblocks nichts anderes als der Ausdruck der Revanche der Geschichte an dieser ursprünglichen Absurdität. Aus diesen Gründen kann die UdSSR  trotz ihres gewaltigen Waffenarsenals nie mehr diese Hauptrolle auf der internationalen Bühne spielen. Dies umso weniger, als die Dynamik der Auflösung ihres äußeren Reiches sich ebenso in ihrem Innern fortsetzen wird und letztlich Rußland der Territorien berauben wird, die es im Laufe der letzten Jahrhunderte kolonisiert hatte. Weil Rußland versucht hatte, eine Rolle als Weltmacht zu spielen, was seine Kräfte überstieg, fällt es jetzt auf eine drittrangige Position zurück, die es zuletzt vor der Zeit Peters des Großen eingenommen hatte.
Die beiden einzigen potentiellen Aspiranten für die Blockführerschaft, Japan und Deutschland, können jedoch auf absehbarer Zeit solch eine Rolle nicht übernehmen. Japan kann trotz seiner Industriemacht und seiner ökonomischen Dynamik nie Ansprüche auf einen solchen Rang erheben, und zwar aufgrund seiner geographischen Lage weit abgelegen von der größten Industriekonzentration der Welt: Westeuropa. Was Deutschland angeht, dem einzigen Land, das möglicherweise wieder in die Rolle schlüpfen kann, die es schon in der Vergangenheit innehatte, so gestattet es seine gegenwärtige Militärmacht (es verfügt nicht einmal über Atomwaffen!) ihm nicht, auf absehbare Zeit den USA auf diesem Terrain entgegenzutreten. Und in dem gleichen Maße, wie der Kapitalismus in seiner Dekadenz versinken wird, ist es für einen Blockführer immer unerläßlicher, über erdrückende militärische Überlegenheit zu verfügen, um seinen Rang zu verteidigen.


Die Vereinigten Staaten: der einzige Weltpolizist

11. So konnte es zu Anfang der Dekadenzperiode und bis in die ersten Jahre des Zweiten Weltkriegs hinein eine gewisse "Parität" zwischen verschiedenen Partnern einer imperialistischen Koalition geben, obgleich es stets die Notwendigkeit eines Platzhirsches gab. Zum Beispiel existierte im Ersten Weltkrieg in Bezug auf die einsatzfähige militärische Schlagkraft keine grundlegende Disparität zwischen den drei "Siegern": Großbritannien, Frankreich und den USA. Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges jedoch hatte sich die Lage beträchtlich verändert, denn die "Sieger" gerieten nunmehr in eine enge Abhängigkeit von den USA, die eine erhebliche Überlegenheit gegenüber ihren "Verbündeten" ausübten. Diese verstärkte sich noch im Verlauf des gesamten "Kalten Krieges" (der jetzt zu Ende geht), als beide Blockführer, die USA und die UdSSR, durch die Kontrolle über die zerstörerischsten Atomwaffen über eine absolut erdrückende Überlegenheit gegenüber den anderen Ländern ihres Blocks verfügten. Eine solche Tendenz erklärt sich aus der Tatsache, daß mit dem Versinken des Kapitalismus in seiner Dekadenz:

  • die Herausforderungen und die Dimension der Konflikte zwischen den Blöcken immer globalere, allgemeinere  Ausmaße annehmen (je mehr Gangster kontrolliert werden müssen, desto stärker muß der "Gangsterboß" sein);
  • die Waffensysteme immer wahnwitzigere Investitionen erfordern (insbesondere können nur die ganz großen Länder die für den Aufbau von kompletten Atomwaffenarsenalen erforderlichen Ressourcen bereitstellen und ausreichende Mittel in die Entwicklung der komplizierter Waffensysteme stecken);
  • vor allem die zentrifugalen Tendenzen zwischen den Staaten, die aus der Zuspitzung der nationalen Gegensätze resultieren, sich nur weiter verstärken können.

Mit diesem letztgenannten Faktor verhält sich so wie mit dem Staatskapitalismus: je mehr sich die verschiedenen Fraktionen einer nationalen Bourgeoisie unter dem Druck der Krise und der damit angefachten Konkurrenz  zerfleischen, umso mehr muß sich der Staat verstärken, um seine Autorität über sie auszuüben. Und je mehr Schäden die historische Krise und ihre offene Form anrichtet, desto stärker muß ein Blockführer sein, um die Auflösungstendenzen der verschiedenen nationalen Fraktionen einzugrenzen und zu kontrollieren. Es liegt auf der Hand, daß sich in der letzten Phase der Dekadenz, im Zerfall, ein solches Phänomen nur noch ins Unermeßliche steigern kann.
Wegen all dieser Gründe und insbesondere aufgrund des letztgenannten ist die Bildung einer neuen imperialistischen Blockkonstellation nicht nur in den nächsten Jahren unmöglich, sondern wird möglicherweise nie mehr eintreten: entweder die proletarische Revolution oder die Zerstörung der Menschheit wird dem zuvorkommen. In der neuen historischen Epoche, in die wir eingetreten sind und die von den Ereignissen am Persischen Golf bestätigt wird, zeigt sich die Welt als ein riesiger Hexenkessel, in dem die Tendenz zum "Jeder für sich" voll zum Tragen kommt und in dem die zwischenstaatlichen Allianzen weit entfernt von jener Stabilität sind, die die Blöcke auszeichnen,  sondern von den Bedürfnissen des Moments diktiert sind. Eine Welt in tödlicher Unordnung, in blutigem Chaos, in dem der amerikanische Gendarm für ein Minimum an Ordnung durch den immer massiveren und brutaleren Einsatz seiner Militärmacht zu sorgen versucht.


Stehen wir vor einem "Super-Imperialismus"?

12. Die Tatsache, daß in der kommenden Zeit die Welt nicht mehr in imperialistische Blöcke gespalten ist, daß eine einzige Macht - die Vereinigten Staaten - die "Führung" der Welt innehat, bedeutet keinesfalls, daß die These vom "Super-Imperialismus" (oder "Ultra-Imperialismus"), wie sie von Kautsky während des Ersten Weltkriegs entwickelt wurde, heute richtig ist. Diese These war bereits vor dem Krieg von der opportunistischen Strömung, die sich in der Sozialdemokratie ausgebreitet hatte, erarbeitet worden. Sie hatte ihre Wurzel in der gradualistischen und reformistischen Auffassung, die davon ausging, daß die Widersprüche (zwischen Klassen und Nationen) innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft abgeschwächt und gar verschwinden würden. Die These Kautskys setzte voraus, daß die verschiedenen Sektoren des internationalen Finanzkapitals in der Lage seien, sich zu vereinigen, um eine stabile und friedliche Herrschaft über die ganze Welt zu etablieren. Diese These, die sich als "marxistisch" präsentierte, wurde freilich von allen Revolutionären bekämpft, insbesondere von Lenin (namentlich in "Der Imperialismus - das höchste Stadium des Kapitalismus"), der aufzeigte, daß ein Kapitalismus ohne Ausbeutung und Konkurrenz zwischen den verschiedenen Kapitalien kein Kapitalismus mehr ist. Es liegt auf der Hand, daß diese revolutionäre Position auch heute noch gültig ist.
Ebenfalls darf unsere Analyse nicht mit jener, die von Chaulieu (Castoriadis) entwickelt wurde, verwechselt werden, die zumindest den Vorteil hatte, ausdrücklich den "Marxismus" abzulehnen. In dieser Analyse bewegte sich die Welt auf ein "drittes System" zu, nicht auf ein System in Harmonie, die den Reformisten so teuer ist, sondern auf eines brutaler Erschütterungen. Jeder Weltkrieg führe zur Auslöschung einer Großmacht (der Zweite Weltkrieg habe Deutschland eliminiert). Der Dritte Weltkrieg werde nur einen einzigen Block übriglassen, der der Welt sein Regime aufzwinge, unter dem die Wirtschaftskrisen verschwänden und die kapitalistische Ausbeutung der Arbeitskraft durch eine Art Sklaventum ersetzt werde, in dem die "Herrschenden" über die "Beherrschten" regierten.
Die heutige Welt, so wie sie aus dem Zusammenbruch des Ostblocks hervorgegangen ist und wie sie sich angesichts des allgemeinen Zerfalls präsentiert, bleibt weiterhin durch und durch kapitalistisch. Eine unlösbare und sich immer mehr vertiefende  Wirtschaftskrise, eine immer unbarmherzigere Ausbeutung der Arbeitskraft, die Diktatur des Wertgesetzes, die Zuspitzung der Konkurrenz und der imperialistischen Antagonismen zwischen den Nationen, die ungezügelte Herrschaft des Militarismus, massive Zerstörungen und ein Massaker nach dem anderen: dies ist die einzig möglich Wirklichkeit. Und ihre einzige, ultimative Perspektive ist die Zerstörung der Menschheit.


Das Proletariat und der imperialistische Krieg

13. Mehr denn je zuvor wird die Frage des Kriegs eine zentrale Frage im Kapitalismus sein. Mehr als je zuvor ist sie eine grundlegende Frage für die Arbeiterklasse. Die Bedeutung dieser Frage ist freilich nichts Neues. Sie stand schon vor dem Ersten Weltkrieg im Mittelpunkt (wie die internationalen Kongresse von Stuttgart 1907 und von Basel 1912 beweisen). Sie wurde selbstverständlich im Verlauf des ersten imperialistischen Gemetzels noch maßgeblicher (wie der Kampf von Lenin, Rosa Luxemburg, Liebknecht genauso wie die Revolution in Rußland und Deutschland zeigte). Sie behielt ihre ganze Schärfe zwischen den beiden Weltkriegen, insbesondere während des Spanienkriegs, ganz zu schweigen von der Bedeutung, die sie im Verlauf des größten Holocausts dieses Jahrhunderts, zwischen 1939-45, offenbarte. Sie hat schließlich ihre ganze Bedeutung im Laufe der verschiedenen nationalen "Befreiungs"kriege nach 1945 bewahrt, in Momenten der Konfrontation zwischen den beiden imperialistischen Blöcke. Im Grunde war der Krieg seit dem Beginn des Jahrhunderts die entscheidendste Frage, mit der das Proletariat und seine revolutionären Minderheiten konfrontiert waren, weit vor den Fragen der Gewerkschaften und des Parlamentarismus z.B. Und dies konnte auch nicht anders sein, stellt doch der Krieg die konzentrierteste Form der Barbarei des dekadenten Kapitalismus dar, die seine Agonie und die Bedrohung, die er für das Überleben der Menschheit bildet, zum Ausdruck bringt.
In der gegenwärtigen Periode, in der noch mehr als in den vergangenen Jahrzehnten die kriegerische Barbarei (zum Leidwesen der Herren Bush und Mitterand mit ihren Prophezeiungen einer "neuen Friedensordnung") ein ständiger und allgegenwärtiger Faktor der Weltlage ist und die entwickelten Länder in wachsender Weise mit impliziert sind (in den Grenzen, die allein vom Proletariat dieser Länder festgelegt werden), ist die Frage des Krieges noch wichtiger für die Arbeiterklasse. Die IKS hat seit langem aufzeigt, daß im Gegensatz zur Vergangenheit die Entfaltung einer nächsten  revolutionären Welle nicht aus dem Krieg, sondern aus der Verschärfung der Wirtschaftskrise hervorgehen wird. Diese Analyse bleibt weiterhin vollkommen gültig: die Mobilisierungen der Arbeiter, Ausgangspunkt der großen Klassenkämpfe, werden sich aus der  Reaktion auf die ökonomischen Angriffe entwickeln. Ebenso wird auf der Ebene der Bewußtwerdung die Verschärfung der Krise ein grundlegender Faktor in der Offenlegung der historischen Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise sein. Doch auf eben dieser Ebene der Bewußtwerdung wird die Frage des Krieges wiederum eine vorrangige Rolle spielen:

  • indem die fundamentalen Konsequenzen dieser historischen Sackgasse aufgezeigt werden: die Zerstörung der Menschheit;
  • indem der Krieg die einzige objektive Konsequenz aus der Krise, der Dekadenz und dem Zerfall darstellt, den die Arbeiterklasse jetzt schon (im Gegensatz zu den anderen Manifestationen des Zerfalls) eingrenzen kann, weil sie sich in den zentralen Ländern gegenwärtig nicht hinter den nationalistischen Fahnen mobilisieren läßt.

Die Auswirkungen des Krieges auf das Klassenbewußtsein

14. Es stimmt, daß der Krieg viel einfacher als die Krise selbst und die ökonomischen Angriffe gegen die Arbeiterklasse genutzt werden kann:

  • er kann die Ausbreitung des Pazifismus begünstigen;
  • er kann ein Gefühl der Hilflosigkeit in den Reihen der Arbeiter bewirken und es der Bourgeoisie gestatten, ihre ökonomischen Angriffe auszuführen.

Dies ist übrigens bis jetzt mit dem Golfkrieg eingetroffen. Doch diese Art von Auswirkungen kann zeitlich nur begrenzt anhalten. Langfristig:

  • wird sich mit dem Andauern der kriegerischen Barbarei die ganze Nichtigkeit des pazifistischen Geredes offenbar werden,
  • wird es deutlich werden, daß die Arbeiterklasse das Hauptopfer dieser Barbarei ist, daß  sie es ist, die den Preis dafür als Kanonenfutter und mit einer erhöhten Ausbeutung bezahlt;
  • wird es angesichts immer massiverer und brutalerer ökonomischer Attacken zu einer Wiedererholung des Kampfgeistes kommen;
  • wird sich diese Tendenz dann in ihr Gegenteil verkehren.

Und es ist natürlich eine Aufgabe der Revolutionäre, bei dieser Bewußtwerdung an erster Stelle mitzuwirken: ihre Verantwortung wird immer entscheidender werden.

15. In der gegenwärtigen historischen Situation wird die Intervention der Kommunisten in der Klasse, abgesehen natürlich von der beträchtlichen Zuspitzung der Wirtschaftskrise und den damit verbundenen Angriffen gegen das gesamte Proletariat, bestimmt werden durch:

  • die fundamentale Bedeutung der Frage des Kriegs,
  • die entscheidende Rolle der Revolutionäre in der Bewußtwerdung der Klasse darüber, was heute auf dem Spiel  steht.

Es ist daher wichtig, daß diese Frage im Vordergrund der Propaganda der Revolutionäre steht. Und in Zeiten wie heute, in denen diese Frage unmittelbar im Mittelpunkt der internationalen Lage steht, ist es wichtig, daß sie die besondere Sensibilität der Arbeiter gegenüber diesem Thema nutzen, indem sie ihr Priorität verleihen und sich ihr mit ausgesuchter Hartnäckigkeit widmen.
Insbesondere haben die revolutionären Organisationen zur Aufgabe:

  • die Manöver der Gewerkschaften zu entblößen, die so tun, als ob sie zu ökonomischen Kämpfen aufriefen, um so besser die Kriegspolitik zu unterstützen (beispielsweise im Namen einer "gerechten Aufteilung" der Opfer zwischen Arbeitern und Bosse);
  • mit größter Heftigkeit die widerwärtige Heuchelei der Linken anzuprangern, die im Namen des "Internationalismus" und des "Kampfes gegen den Imperialismus" faktisch zur Unterstützung eines der imperialistischen Lager aufrufen;
  • die pazifistischen Kampagnen abzulehnen, die ein besonders gutes Mittel sind, um die Arbeiterklasse in ihrem Kampf gegen den Kapitalismus zu demobilisieren, indem sie auf die Ebene des Interklassismus gelockt wird;
  • die Tragweite dessen, was zur Zeit auf dem Spiel steht, aufzuzeigen, indem sie alle Auswirkungen der erheblichen Umwälzungen, die die Welt derzeit erlebt, und namentlich die Periode des Chaos begreifen, in die Welt eingetreten ist.

IKS, 4.10.1990   (überarbeitete Version)

 

Fußnoten:

(1) Siehe "Krieg, Militarismus und imperialistische Blöcke", in: INTERNATIONALE REVUE, Nr. 52 und 53, eng., franz., span. Ausgabe. Der erste Teil dieses Artikels wurde auch in WELTREVOLUTION, Zeitung der IKS in der BRD, veröffentlicht.
(2) Zur Analyse der IKS siehe: INTERNATIONALE REVUE, Nr. 11 und 13, deutsche Ausgabe)
(3) Man muß allerdings auf einen wesentlichen Unterschied zwischen Staatskapitalismus und imperialistische Blöcke hinweisen. Ersterer wird durch die Konflikte zwischen verschiedenen Fraktionen der kapitalistischen Klasse nicht in Frage gestellt (ausgenommen im Falle eines Bürgerkrieges, der für gewisse rückständige Zonen des Kapitalismus charakteristisch ist, aber nicht für seine fortgeschrittensten Sektoren): im allgemeinen gelingt es dem Staat als Repräsentant des gesamten nationalen Kapitals, den verschiedenen Komponenten des nationalen Kapitals seine Autorität aufzuzwingen. Die imperialistischen Blöcke dagegen haben nicht die gleichen Charakteristiken der Unverfallbarkeit. Erstens werden sie nur mit Blick auf den Weltkrieg gebildet: in einer Periode, in der der Weltkrieg nicht unmittelbar auf der Tagesordnung steht (wie in den zwanziger Jahren), können sie gar verschwinden. Zweitens gibt es für die Staaten keine endgültige "Vorherbestimmung" zu Gunsten des einen oder des anderen Blocks: die Blöcke entstehen entsprechend der Umstände, als eine Funktion ökonomischer, politischer, geographischer und militärischer Faktoren. So weist die Geschichte eine Vielzahl von Staaten auf, die ihre Blockzugehörigkeit nach der Änderung des einen oder anderen Faktors wechselten. Diese unterschiedliche Stabilität von Staatskapitalismus und Blöcke ist überhaupt nicht geheimnisvoll. Es entspricht der Tatsache, daß das höchste Niveau an Einheit, das die Bourgeoisie erreichen kann, die Nation ist, weil der Nationalstaat das klassische Instrument der Bourgeoisie zur Verteidigung ihrer Interessen ist (Aufrechterhaltung der "Ordnung", Großaufträge, Währungspolitik, Schutzzoll, etc.). Daher ist ein Bündnis in einem imperialistischen Block nie mehr als ein Konglomerat von fundamental gegensätzlichen, nationalen Interessen, ein Konglomerat, das dazu bestimmt ist, diese Interessen im internationalen Dschungel zu schützen. Wenn sie sich eher dem einen als dem anderen Block anschließt, dann verfolgt eine Bourgeoisie keine andere Sorge als die Garantie ihrer eigenen Interessen. Letzten Endes dürfen wir, wenn wir den Kapitalismus als ein globales Gebilde betrachten, nie außer acht lassen, daß er konkret in Gestalt rivalisierender und konkurrierender Kapitalien existiert.
(4) In Wirklichkeit ist es ja die kapitalistische Produktionsweise in ihrer Gesamtheit, die in ihrer Dekadenz und noch mehr in ihrer Zerfallsphase vom Standpunkt der Interessen der Menschheit aus eine Widersinnigkeit dar. Doch in dieser barbarischen Agonie des Kapitalismus rühren bestimmte Formen desselben, wie der Stalinismus, aus besonderen historischen Umständen her (wie wir später sehen werden), die Merkmale tragen, welche sie noch anfälliger machen und zum Verschwinden verurteilen, bevor das ganze System durch die proletarische Revolution oder durch die Vernichtung der Menschheit zerstört wird.
(5) So tendiert die Art und Weise, wie die "Ordnung" auf der Welt in dieser neuen Periode garantiert wird, immer mehr dazu, der Art und Weise zu ähneln, wie die UdSSR die Ordnung in ihrem alten Block aufrechterhielt: durch Terror und die Gewalt der Waffen. In der Zerfallsperiode und mit der Zuspitzung der wirtschaftlichen Erschütterungen des im Todeskampf liegenden Kapitals werden die barbarischsten und brutalsten Formen der internationalen Beziehungen zur Regel für jedes Land auf dieser Welt.
(6) In der Tat waren die Gründe hinter Rußlands Unfähigkeit, als Lokomotive für die Weltrevolution zu handeln (weshalb Revolutionäre wie Lenin und Trotzki die Revolution in Deutschland erwarteten, damit sie die russische Revolution anschieben könnte), die gleichen, die Rußland als Blockführer gänzlich ungeeignet machten.
(7) Ein anderer Grund, warum die westlichen Alliierten Rußland die freie Verfügungsgewalt über die osteuropäischen Länder überlassen hatten, besteht in der Tatsache, daß sie auf diese Macht setzten, um gegen das Proletariat in dieser Region für "Ordnung zu sorgen". Die Geschichte (Warschau insbesondere) hat bewiesen, daß dieses Vertrauen vollauf berechtigt war .

 

 

 

 

 

 

Ökologie: Der Kapitalismus vergiftet die Erde

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Es ist unübersehbar geworden, daß je länger sie fortdauert, die kapitalistische Zivilisation uns umso näher an eine ökologische Katastrophe planetarischen Ausmaßes bringen wird.

Die grundsätzlichen Tatsachen sind wohlbekannt und können einer wachsenden Zahl von sowohl populärwissenschaftlichen als auch Fachpublikationen entnommen werden, so daß wir sie hier nicht im Detail beschreiben werden. Eine simple Auflistung reicht aus, um das Ausmaß und die Größe der Gefahr zu demonstrieren: das zunehmende Panschen von Nahrungsmitteln mit Zusatzstoffen und die Nutztierkrankheiten; die Verseuchung der Trinkwasservorräte durch den schrankenlosen Gebrauch von Kunstdünger und durch die Entsorgung von Giftmüll; die Luftverschmutzung besonders in den Großstädten durch die kombinierten Auswirkungen von Industrieemissionen und Autoabgasen; die Gefahr radioaktiver Verseuchung durch Kernkraftwerke und Atommülldeponien, die überall in den Industrieländern und unter den ex-stalinistischen Regimes verbreitet sind - eine Bedrohung, die mit den Katastrophen in Windscale, Three Mile Island und vor allem in Tschernobyl bereits zur alptraumhaften Wirklichkeit geworden ist; die Vergiftung der Flüsse, Seen und Meere, die jahrzehntelang als Müllkippen der Welt genutzt wurden, was jetzt in einen Zusammenbruch der gesamten komplexen Nahrungskette und in eine Zerstörung von Organismen mündet, die eine wichtige Rolle bei der Regulierung des Weltklimas spielen; die sich beschleunigende Abholzung der Wälder dieser Welt, insbesondere der tropischen Regenwälder, was ebenfalls das Klima der Erde verändert, Bodenerosion verursacht und so seinseits zu weiterem Unheil wie die fortschreitende Wüstenbildung in Afrika und die Überschwemmungen in Bangladesh beiträgt.

Mehr noch, es ist mittlerweile offenkundig, daß die Quantität in eine neue Qualität umschlägt, da die Auswirkungen der Umweltverschmutzung sowohl globaler als auch unkalkulierbarer geworden sind. Sie sind insofern global, als jedes Land auf der Welt davon betroffen ist: nicht nur der hochindustrialisierte Westen, sondern auch die "unterentwickelte" Dritte Welt und die stalinistischen und ex-stalinistischen Regimes, die zu bankrott sind, um selbst die minimalsten Kontrollen aufzuwenden, die im Westen eingeführt worden sind. Ehemalige "sozialistische" Länder wie Polen, Ostdeutschland und Rumänien sind womöglich die vergiftesten auf der Welt; faktisch jede Stadt hat ihre eigenen Horrorgeschichten über örtliche Fabriken, die tödliche Gifte ausspucken und Krebs-, Lungen- und andere Krankheiten verursachen, über Flüsse, die sich in ein Flammenmeer verwandeln, wenn man ein brennendes Streichholz hineinwirft, und so weiter. Doch auch Drittwelt-Städte wie Mexiko-City oder Cubutao in Brasilien liegen nicht weit dahinter.

Es gibt eine weitere, noch fürchterlichere Bedeutung des Wortes "global" in diesem Zusammenhang; nämlich daß das ökologische Desaster jetzt fühlbar das eigentliche Lebenserhaltungssytem des Planeten bedroht. Das Ausdünnen der Ozonschicht, das hauptsächlich das Resultat der Emissionen von FCKW-Gasen zu sein scheint, ist ein klarer Ausdruck dafür, da die Ozonschicht das gesamte Leben auf der Erde vor der tödlichen ultra-violetten Strahlung schützt; es ist unmöglich, zum gegenwärtigen Stadium zu sagen, was die langfristigen Konsequenzen dieses Prozesses sein werden. Dasselbe trifft auf das Problem des Treibhauseffektes zu, der jetzt von einer wachsenden Zahl von wissenschaftlichen Kommissionen, zuletzt von der zwischenstaatlichen UN-Kommission über die Klimaveränderungen (IPCC) als eine wirkliche Bedrohung akzeptiert worden ist. Die IPCC und andere haben nicht nur vor massiven Überschwemmungen, Dürren und Hungersnöten gewarnt, die das Resultat sein könnten, falls es nicht zu einer bedeutsamen Drosselung des gegenwärtigen Niveaus an Treibhausgas-Emissionen, insbesondere des CO2-Ausstoßes, kommt; sie haben auch die Gefahr eines Rückkoppelungsprozesses hervorgehoben, in welchem jeder Aspekt der Umweltverschmutzung und -zerstörung auf die anderen einwirkt, um eine unumkehrbare Spirale von Katastrophen zu erzeugen.

Es ist ebenfalls offensichtlich, daß die Klasse, deren System dieses Schlamassel verursacht hat, nicht imstande ist, etwas dagegen zu unternehmen. Sicherlich, in den letzten paar Jahren sind nahezu alle führenden Leuchten der Bourgeoisie auf wundersame Weise zur guten Sache des Umweltschutzes konvertiert. Die Regale der Supermärkte sind voll von Waren, die preisen, wie frei sie von künstlichen Zusätzen sind; Kosmetika, Waschmittel und Windelmarken wetteifern miteinander, wie sehr sie die Ozonschicht , die Luft oder die Flüsse schätzen. Und die politischen Führer, von Thatcher bis Gorbatschow, sprechen immer mehr darüber, daß wir alle zusammenarbeiten müssen, um den bedrohten Planeten zu schützen.

Wie gewöhnlich kennt die Scheinheiligkeit dieser Klasse von Gangstern keine Grenzen. Die wirkliche Verpflichtung der Bourgeoisie zur Rettung des Planeten kann daran ermessen werden, was sie tatsächlich zu tun bereit ist. Zum Beispiel machte sie viel Aufhebens um die jüngste Ozon-Konferenz in London, wo die größten Länder der Welt, einschließlich der bis dahin widerspenstigen Drittwelt-Giganten wie Indien und China, darin übereinkamen, die Fluorkohlenwasserstoffe bis zum Jahr 2000 abzuschaffen. Aber dies bedeutet, daß weitere 20 Prozent der Ozonschicht im nächsten Jahrzehnt zerstört werden könnten; in dieser Periode würde ein Volumen von Ozon-dezimierenden Gasen freigesetzt werden, das die Hälfte des gesamten, seit der Erfindung des FCKW bisher freigesetzten Volumens darstellt.

Es ist noch schlimmer, wenn es um den Treibhaus-Effekt geht. Die US-Administration hat den Begriff "globale Erwärmung" aus all ihren offiziellen Verlautbarungen verbannt. Und die Länder, die auf dem Papier die Vorhersagen der UN-Kommission akzeptieren, haben sich gerade einmal dazu verpflichtet, nicht mehr zu tun, als den Ausstoß von Kohlendioxid auf seinem gegenwärtigen Stand zu stabilisieren. Und vor allem besitzen sie keine ernsthafte Strategie zur Verringerung der Abhängigkeit ihrer Ökonomie von fossilen Brennstoffen oder vom privaten Automobil, den Hauptverursachern des Treibhaus-Effektes. Nichts ist getan worden, um die Zerstörung der Regenwälder aufzuhalten, was sowohl zur Anhäufung von Treibhausgasen beiträgt als auch die Fähigkeit des Planeten vermindert, sie wieder zu absorbieren: der UN-eigene Tropenwald-Aktionsplan wird völlig von den Holzproduzenten dominiert. Abgesehen davon kann der Raubbau an den Regenwäldern durch Abholzung, Viehzucht und industrielle Interessen sowie durch hungernde, verzweifelt nach Land und Brennstoffen suchende Bauern nur aufgehalten werden, wenn die Dritte Welt umgehend von ihrer massiven Schuldenlast und Armut befreit werden würde. Doch so wie die Pläne zur Abwehr von Überschwemmungen und zur Vermeidung des Hungers aussehen, können die Bevölkerungen der am meisten bedrohten Länder wie Bangladesh dieselbe Art von "Hilfe" erwarten, wie sie auch den Einwohnern der Erdbebengebiete der Welt oder den Opfern der Dürre in Afrika zugutekam.

Die Antwort der Bourgeoisie auf all diese Probleme wirft ein Licht auf die Tatsache, daß gerade die Struktur ihres Systems sie der Fähigkeit beraubt, mit den ökologischen Problemen, die sie geschaffen hat, fertig zu werden. Globale ökologische Probleme bedürfen einer globalen Lösung. Aber trotz aller internationaler Konferenzen, trotz all des frommen Geredes über internationale Zusammenarbeit fußt der Kapitalismus uneingeschränkt auf der Konkurrenz zwischen nationalen Ökonomien. Seine Unfähigkeit, ein echtes Maß an globaler Kooperation zu erreichen, hat sich heute in der Tat noch verschlimmert, wo die alten Blockstrukturen zerfallen und das System in einen Krieg jeder gegen jeden abgleitet. Die Vertiefung der Weltwirtschaftskrise, die den russischen Block in die Knie zwang, wird die Konkurrenz und die nationalen Rivalitäten verschärfen; das wird heißen, jedes Unternehmen, jedes Land wird mit einer immer größeren Verantwortungslosigkeit im wahnwitzigen Kampf um das ökonomische Überleben handeln.

Welche kleinen Konzessionen den Umweltbelangen auch immer gemacht werden, der vorherrschende Trend geht dahin, Gesundheit, Sicherheit und Umweltkontrolle über den Jordan zu schicken. Das war bereits während des vergangenen Jahrzehnts der Fall gewesen, das einen markanten Anstieg in der Zahl der Industrie-, Verkehrs- und anderer Katastrophen verzeichnete, das Ergebnis einer rabiaten Kostensenkung aufgrund der Wirtschaftskrise. Da sich der Handelskrieg zwischen den Nationen aufheizt, wird alles nur noch viel schlimmer werden.

Mehr noch, dieses Gerangel wird die Gefahr lokaler, militärischer Konflikte in Regionen erhöhen, wo die Arbeiterklasse zu schwach ist, um sie zu verhindern. Jetzt, wo diese Konflikte nicht mehr in die Disziplin der alten imperialistischen Blöcke eingebunden sind, laufen sie viel eher Gefahr, die Schrecken einer chemischen oder gar nuklearen Kriegsführung auf "lokaler" Ebene zu entfesseln, wo Millionen massakriert werden und die Atmosphäre des Planeten noch mehr verseucht wird. Wer kann daran glauben, daß die Bourgeoisien der Welt, gefangen in einer wachsenden Spirale des Chaos und der Wirren, sich anschicken, harmonisch zusammenzuarbeiten, um sich mit den Gefahren für die Umwelt zu befassen? Im Gegenteil, die Resultate der ökologischen Widrigkeiten - schwindende Trinkwasservorräte, Überschwemmungen, Streit über Flüchtlinge usw. - werden die lokalen imperialistischen Spannungen weiter verschärfen. Die Bourgeoisie ist sich dessen bereits bewußt. Wie der ägyptische Außenminister Butros Ghali es kürzlich formulierte: "Der nächste Krieg in unserer Region wird um das Wasser gehen, nicht um die Politik".

In der gegenwärtigen Phase des fortschreitenden Zerfalls verliert die herrschende Klasse zunehmend die Kontrolle über ihr Gesellschaftssystem. Die Menschheit kann es sich nicht länger leisten, den Planeten ihren Händen zu überlassen. Die "ökologische Krise" ist ein weiterer Beweis dafür, daß der Kapitalismus zerstört werden muß, eher er die gesamte Welt in den Abgrund zerrt.

 

Ideologische Vergiftung

Aber während die Bourgeoisie unfähig ist, den Schaden, den sie am Planeten angerichtet hat, zu reparieren, zögert sie freilich nicht, die ökologischen Fragen zur Anfachung ihrer Mystifikationskampagnen zu benutzen, die die einzige Kraft in der Gesellschaft zur Zielscheibe haben, die etwas gegen das Problem unternehmen kann - das Weltproletariat.

Die ökologische Frage ist ideal in dieser Hinsicht, was auch der Grund dafür ist, daß die Bourgeoisie nur geringe Anstrengungen unternimmt, das Ausmaß des Problems zu verbergen (und selbst einer kleinen Übertreibung freien Lauf läßt, wenn es ihr paßt). Immer wieder wird uns erzählt, daß Probleme wie das Ozonloch oder die globale Erwärmung "uns alle betreffen", daß sie "keine Unterschiede machen" zwischen Rassen, Klassen und Ländern. Und es ist wahr, daß Umweltverschmutzung, wie andere Aspekte des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft (Drogensucht, Kriminalität usw.) alle Klassen der Gesellschaft betrifft (auch wenn üblichweise die am schlimmsten Ausgebeuteten und Unterdrückten am meisten darunter leiden). Gibt es also eine bessere Grundlage, um den Charakter des Proletariats zu verwässern, so daß es seine eigenen Klassenziele vergißt, und es in einer amorphen Masse zu ertränken, wo nicht mehr zwischen den Interessen der Arbeiter, Ladenbesitzer... oder gar der herrschenden Klasse selbst unterschieden wird? Das ständige ideologische Trommelfeuer in Sachen Umwelt vervollständigt auf diese Weise all die Kampagnen über Demokratie und "Volksmacht", die nach dem Fall des Ostblocks entfesselt worden waren.

Man beachte, wie sie die ökologischen Fragen verdrehen, um sie ihren Bedürfnissen anzupassen. Diese Probleme seien so schrecklich, so akut, sagen sie, jedenfalls wichtiger als eure egoistischen Kämpfe um höhere Löhne oder gegen Arbeitsplatzverlust. In der Tat: rühren die meisten dieser Probleme nicht daher, daß "wir" in den Industriestaaten "zuviel konsumieren"? Sollten wir nicht bereit sein, weniger Fleisch zu essen, weniger Energie zu verbrauchen, selbst die eine oder andere Fabrikschließung "zum Wohle des Planeten" zu akzeptieren? Ein besseres Alibi für die Opfer, die von der Krise der kapitalistischen Ökonomie gefordert werden, gibt es nicht.

Und dann gibt es da noch all die Argumente, die den Mythos der "Reformen" und des "realistischen Wandels" unterstützen. Natürlich müsse jetzt etwas unternommen werden, sagen sie. Sollten wir also nicht darauf achten, welcher Wahlkandidat die beste ökologische Politik anbietet, welche Partei das Beste für die Umwelt verspricht? Beweist die von Gorbatschow, Mitterand oder Bush ausgedrückte Sorge nicht, daß die Politiker tatsächlich auf öffentlichen Druck reagieren? Beweisen die Experimente in der Energieeinsparung, der Solarenergienutzung oder in der Windenergie, die von etlichen "aufgeklärten" Regierungen z.B. in Schweden oder den Niederlanden heute durchgeführt werden, nicht, daß der Wandel nur eine Frage des Willens und der Initiative auf seiten der Politiker ist, kombiniert mit dem Druck der Bürger von unten? Beweist die Umstellung auf umweltfreundliche Produkte nicht, daß die großen Konzerne wirklich vom "Verbraucherverhalten" beeinflußt werden können?

Und falls diese "hoffnungsvollen" und "positiven" ersten Ansätze nicht überzeugen, dann profitiert die Bourgeoisie immer noch von den Gefühlen der Hilflosigkeit und Verzweiflung, die sich nur verstärken können, wenn der isolierte Bürger aus dem Fenster schaut und sieht, wie eine ganze Welt vergiftet wird. Wenn man schon die Ausgebeuteten nicht dazu bringen kann, den Lügen zu glauben, dann stellt eine atomisierte und demoralisierte Arbeiterklasse wenigstens keine Gefahr für das System dar.

 

Die falschen Alternativen der "Grünen"

Im vergangenen Jahrzehnt ist jedoch eine neue politische Kraft auf der Bühne erschienen - eine, die behauptet, für einen radikalen Ansatz zu stehen, der den Umweltschutz über alle anderen Befindlichkeiten stellt: die Grünen. In Deutschland wurden sie zu einer Kraft, die zum nationalen politischen Leben zählt. In Osteuropa spielten ökologische Gruppen eine erhebliche Rolle in der  demokratischen Opposition, die für den zusammengebrochenen Stalinismus in die Bresche gesprungen ist. In den meisten Industriestaaten und selbst in der Dritten Welt sind grüne Parteien und Interessensgruppen entstanden.

Doch die Grünen sind ebenfalls Teil der verrottenden kapitalistischen Ordnung. Dies wird offensichtlich, wenn man die Grünen in Deutschland betrachtet: sie sind zu einer respektablen parlamentarischen Partei geworden, mit zahlreichen Sitzen im letzten Bundestag und etlichen verantwortungsvollen Posten in lokalen und Länderregierungen. Die offenkundige Integration der Grünen in die kapitalistische Normalität wurde einige Jahre zuvor durch den "außerparlamentarischen", anarchistischen Rebellen von 1968, Daniel Cohn-Bendit (erinnert sei an die Parole "Wahlen - eine Falle"), symbolisiert, der Abgeordneter des deutschen Parlaments wurde und gar seinen Wunsch nach einem Ministerposten ausdrückte. Im Bundestag engagieren sich die Grünen in all den schäbigen Manövern, die typisch sind für eine bürgerliche Partei - mal handeln sie als "Spielverderber", um die SPD in der Opposition zu halten, mal bilden sie ein Bündnis mit den Sozialdemokraten gegen die herrschende CDU.

Es trifft zu, daß die Grünen gespalten sind in einen "Realo-Flügel", der sich mit der Fokussierung auf die parlamentarische Arena zu zufriedengibt, und einen "Fundi-Flügel", der den Akzent auf radikalere, außerparlamentarische Aktionen legt. Und vieles von der Attraktivität der grünen Parteien und Interessensgruppierungen rührt daher, daß sie mit dem Mißtrauen der Bevölkerung gegenüber bürokratischen Zentralregierungen und parlamentarischer Korruption spielen. Als Alternativen bieten sie Kampagnen gegen lokale Beispiele der Umweltverschmutzung, spektakuläre Proteststunts jeder Art, auf die sich Greenpeace spezialisiert hat, Märsche und Demonstrationen an, während sie zur Dezentralisierung der politischen Macht und zu "Bürgerinitiativen" aufrufen. Aber keine dieser Aktivitäten begibt sich auch nur einen Zentimeter außerhalb der allgemeinen Kampagnen der Bourgeoisie. Im Gegenteil, sie helfen sicherzustellen, daß diese Kampagnen die eigentliche Basis der Gesellschaft durchdringen.

Die "radikalen" Grünen sind Verfechter der klassenübergreifenden Zusammenarbeit. Sie richten sich an das "verantwortungsbewußte Individuum", an die "örtliche Gemeinschaft", an das allgemeinhin Gute im Menschen. Die von ihnen initiierten Aktionen versuchen, alle Bürger, ungeachtet der Klassenherkunft, für den Kampf gegen die Umweltverschmutzung zu mobilisieren. Und wenn sie die Bürokratie und die Abgehobenheit der Zentralregierungen kritisieren, dann geschieht dies nur, um die Vision einer "lokalen Demokratie" in den Vordergrund zu schieben, die in ihrem Kern gleichermaßen bürgerlich ist.

Sie sind nicht weniger eifrig in ihrer Unterstützung der reformistischen Illusionen. Die von ihnen organisierten Aktionen haben ausnahmslos zum Ziel, Konzerne und Regierungen verantwortungsbewußter, sauberer, grüner zu machen. Nur ein Beispiel: ein Flugblatt der "Friends of the Earth", das erklärt, wie die Schulden der Dritten Welt zur Zerstörung der Regenwälder führen. Was ist nun die Antwort? Die großen westlichen Banken  "sollten die Schulden der ärmsten Länder der Welt annullieren und die Schulden der anderen Hauptschuldnerländer um mindestens die Hälfte reduzieren. Sie können sich dies heute leisten" ("Merzt die Schulden aus, nicht die Regenwälder"). Und wie werden die Banken davon überzeugt? "Die Banken werden sich solange nicht rühren, bis ihre Kunden ihnen zeigen, wie sehr sie diese Frage etwas angeht. Eure Schecks mit dem Zusatz 'Merzt die Schulden aus, nicht die Regenwälde' zu versehen und einen 'Schuldschein' aufzunehmen sind zwei wirkungsvolle Wege, um ihnen zu zeigen, was man empfindet" (ebenda).

Die Grünen laden uns also ein, an die Wirksamkeit der "Konsumentenmacht" und an die Möglichkeit eines Appells an die gute Seite der Geldsäcke zu glauben, die sich nichts dabei denken, wenn sie Millionen von Menschen durch die Umschichtung ihres Kapitals von einem Land in das andere zum Hungertod verurteilen. Genauso verhält es sich, wenn die Grünen ihr Bild einer möglichen Zukunft entwerfen: eine Welt, in der kleine, ökologisch tadellose Firmen sich nie in habgierige, kapitalistische Giganten verwandeln, eine pazifistische Version der Beziehungen unter den Nationen, kurzum: ein sanfter, fürsorglicher, unmöglicher Kapitalismus.

Aber halt. Es gibt Strömungen in der grünen Bewegung und in ihrem Umfeld, die behaupten, radikaler als diese zu sein, die tatsächlich den Kapitalismus kritisieren und gar von der Revolution sprechen. Einige von ihnen sind so radikal, daß sie behaupten, der Marxismus sei nichts anderes als die Kehrseite der kapitalistischen "Monstermaschine". Seht euch die Regimes im Osten an, sagen sie: sie sind das logische Resultat der marxistischen Anbetung "fortschrittlicher" Technologien oder Industrien. Angeregt von "Denkern" wie Baudrillard, können sie sogar in einer sehr komplizierten Sprache erklären, daß der Marxismus lediglich eine weitere produktivistische Ideologie sei (darin stimmen sie mit exkommunizierten Stalinisten wie Martin Jacques überein, der jüngst auf einer Konferenz der britischen KP äußerte, daß "man nicht der Tatsache aus dem Wege gehen kann, daß die marxistische Tradition in ihrem Kern produktivistisch ist (...) die Eroberung der Natur, die Produktivkräfte, die Verpflichtung zu ökonomischem Wachstum". Anarcho-Primitivlinge wie die Zeitung FIFTH ESTATE in Detroit verlangen nichts geringeres als die Ausmerzung der industriell-technologischen Gesellschaft und die Rückkehr zum primitiven Kommunismus. Die "Ökofundamentalisten" von Earth First!  gehen sogar noch weiter: für ihre Ideologen ist das Problem nicht allein die Industriegesellschaft oder die Zivilisation, sondern der Mensch selbst...

 

Marxismus gegen grüne Mystifikationen

Der Gedanke, daß ein abstraktes Wesen, "Mensch" genannt, für das gegenwärtige ökologische Unheil verantwortlich ist, beschränkt sich nicht auf ein paar esoterische grüne Ideologen; es ist tatsächlich ein weitverbreitetes Klischee herkömmlicher Weisheit. Aber in jedem Fall ist es eine Idee, die nur zur Verzweiflung führen kann: wenn Menschen das Problem sind, wie können dieselben dann eine Lösung finden? Es ist kein Zufall, daß einige der "Ökofundamentalisten" AIDS als notwendiges Mittel willkommen heißen, um die Welt von den menschlichen Exzessen zu befreien...

Die Position der Anarcho-Primitivlinge führt zu denselben trüben Schlußfolgerungen. "Gegen die Technologie" zu sein bedeutet auch, gegen die Menschheit zu sein; der Mensch schuf sich selbst durch die Arbeit, und "Arbeit beginnt mit der Herstellung von Werkzeugen" (Engels, "Der Anteil der Arbeiter an der Menschwerdung des Affen", Marx-Engels, Gesammelte Werke, Bd. 20, S. 452). Die Logik der anti-technologischen Position läuft auf den Versuch hinaus, zurück zu einer vormenschlichen Vergangenheit zu gelangen, als die Natur noch ungestört vom Getöse menschlicher Aktivitäten war: "Das Tier benutzt die äußere Natur bloß und bringt Änderung in ihr einfach durch seine Anwesenheit zustande; der Mensch macht sie durch seine Änderungen seinen Zwecken dienstbar, beherrscht sie. Und das ist der letzte, wesentliche Unterschied des Menschen von den übrigen Tieren, und es ist wieder die Arbeit, die diesen Unterschied bewirkt" (ebenda).

Aber selbst wenn die "Anti-Technologen" sich mit der Rückkehr zur Kulturstufe der Jäger und Sammler zufriedengäben, wäre das Resultat dasselbe, da die materiellen Bedingungen hierfür eine Weltbevölkerung von nicht mehr als einigen Millionen vorausetzen. Diese Bedingungen könnten nur durch eine massive "Aussonderung" menschlicher Wesen wiederhergestellt werden, etwas, was der Kapitalismus in seiner Todeskrämpfen bereits für uns vorbereitet. So werden die "radikalen" Ökologen - Produkte eines sich auflösenden Mittelstandes, der keine historische Zukunft besitzt und lediglich in eine idealisierte Vergangenheit zurückschauen kann - als Theoretiker und Apologeten des Abstiegs in die Barbarei herangezogen, auf dem wir uns schon längst befinden.

Indem er den Standpunkt der einzigen Klasse ausdrückt, die eine Zukunft heute besitzt, besteht der Marxismus entgegen dieser nihilistischen Ideologien darauf, daß der gegenwärtige ökologische Alptraum nicht auf eine vage und ahistorische Weise, mit beschwörenden Kategorien wie Mensch, Technologie oder Industrie erklärt werden kann. Der Mensch existiert nicht außerhalb der Geschichte, und die Technologie kann nicht von den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen sie entwickelt wurde, getrennt werden. Die Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur kann nur in ihren wirklichen historischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen begriffen werden.

Die Menschheit existiert auf diesem Planeten seit mindestens einigen hunderttausend Jahren - zumeist auf der Ebene des primitiven Kommunismus, einer Gesellschaft von Jägern und Sammlern, in der ein relativ stabiles Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur herrschte, eine Tatsache, die sich in vielen Mythen und Ritualen der primitiven Völker widerspiegelt. Die Auflösung dieses archaischen Kommunismus und der Aufstieg der Klassengesellschaft, ein qualitativer Schritt zur Entfremdung des Menschen vom Menschen, bewirkte ebenso eine Entfremdung zwischen Mensch und Natur. Die ersten Fälle einer ausgedehnten ökologischen Zerstörung fielen zusammen mit den frühen Stadtstaaten; es gibt tatsächlich Beweise dafür, daß der eigentliche Vorgang der Abholzung, der es Zivilisationen wie den Sumerern, Babyloniern, Singhalesen und anderen erlaubte, sich auf einer umfangreichen landwirtschaftlichen Basis zu entwickeln, auch eine beträchtliche Rolle in ihrem Zerfall und Verschwinden spielte.

Aber dies waren lokale, begrenzte Phänomene: vor dem Kapitalismus basierten alle Zivilisationen auf der "Naturalwirtschaft". Der Großteil der Produktion richtete sich noch nach dem unmittelbaren Verbrauch der Gebrauchswerte, selbst wenn im Gegensatz zur primitiven Gemeinschaft ein großer Teil von ihnen durch die ausbeutende Klasse angeeignet wurde. Der Kapitalismus ist dagegen ein System, in dem die ganze Produktion mit dem Markt, mit der erweiterten Reproduktion der Tauschwerte verzahnt ist; es ist eine gesellschaftliche Formation, die weitaus dynamischer als jedes vorherige System ist, und diese Dynamik zwang ihn unerbittlich zur Bildung einer Weltwirtschaft. Doch genau diese Dynamik und Globalität des Kapitals bedeutete, daß das Problem der ökologischen Zerstörung nun planetarische  Ausmaße angenommen hat. Denn es ist nicht der Marxismus, sondern der Kapitalismus, der "produktivistisch in seinem Kern" ist. Angetrieben von der Konkurrenz, von der anarchischen Rivalität kapitalistischer Einheiten, die um die Kontrolle des Marktes kämpfen, gehorcht er dem inneren Drang, sich bis an die äußersten, ihm auferlegten Grenzen auszuweiten, und in dieser gnadenlosen Jagd nach seiner eigenen Ausweitung kann er nicht innehalten, sei es aus Rücksicht auf die Gesundheit und das Wohlergeben seiner Produzenten oder auf die zukünftigen ökologischen Konsequenzen dessen, was und wie er produziert. Das Geheimnis der heutigen Umweltzerstörung kann nur in dem eigentlichen Geheimnis der kapitalistischen Produktion gefunden werden: "Akkumuliert, akkumuliert. Das ist Moses und die Propheten..." (Das Kapital, Bd. 1, "Verwandlung von Mehrwert in Kapital").

Das Problem hinter der ökologischen Katastrophe ist folglich nicht das einer abstrakten "Industriegesellschaft", wie so viele Ökologen verkünden: die bislang einzige Industriegesellschaft, die jemals existiert hat, ist der Kapitalismus. Dieser schließt natürlich die stalinistischen Regimes mit ein, die leibhaftige Karikaturen der kapitalistischen Unterordnung des Konsums unter die Akkumulation sind; jene, die den Marxismus der ökologischen Verwüstung im Osten bezichtigen, leihen bloß ihre Stimmen dem gegenwärtigen Gezeter der Herrschenden über das "Scheitern des Kommunismus", das auf den Zusammenbruch des östlichen imperialistischen Blocks folgte. Das Problem liegt nicht in dieser oder jener Form des Kapitalismus, sondern in den Kernmechanismen einer Gesellschaft, die nicht in bewußter Harmonie mit den Bedürfnissen des Menschen und mit dem, was Marx den "anorganischen Körper" des Menschen nannte, der Natur, sondern allein um des Profits willen wächst.

Das ökologische Problem hat jedoch auch ihre  besondere Geschichte innerhalb des Kapitalismus.

Schon in der aufsteigenden Periode hatten Marx und Engels viele Gelegenheiten, die Art und Weise anzuprangern, wie der Heißhunger des Kapitalismus nach Profit die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse vergiftete. Sie berücksichtigten selbst, daß "die Abschaffung der Trennung zwischen Stadt und Land" zu einem Bestandteil des kommunistischen Programms wurde (man stelle sich vor, was sie über die Megastädte des späten 20. Jahrhunderts gesagt hätten...).

Jedoch war es im wesentlichen der gegenwärtigen Epoche des Kapitalismus, der Epoche, die seit 1914 von den Marxisten als Dekadenz dieser Produktionsweise definiert wurde, überlassen, daß die rücksichtslose Zerstörung der Umwelt durch das Kapital eine andere Stufe und Qualität erreichte, während sie gleichzeitig jede historische Legitimation verlor. Dies ist die Epoche, die alle kapitalistischen Nationen dazu zwingt, miteinander auf einem gesättigten Weltmarkt zu konkurrieren; eine Epoche der ständigen Kriegswirtschaft also, mit einem unverhältnismäßigen Wachstum der Schwerindustrie; eine Epoche, die charakterisiert ist durch eine irrationale, verschwenderische Vervielfältigung von Industriekomplexen in jeder nationalen Einheit, durch das verzweifelte Ausplündern der natürlichen Rohstoffe durch eine jede Nation in ihrem Versuch, in der gnadenlosen Hetzjagd auf dem Weltmarkt zu überleben. Die sich aus alldem ergebenden Konsequenzen für die Umwelt sind jetzt kristallklar. Die Intensivierung der ökologischen Probleme kann anhand der verschiedenen Phasen der kapitalistischen Dekadenz abgelesen werden. Das Hauptwachstum der Kohlendioxid-Emissionen fand in diesem Jahrhundert statt, mit einem beträchtlichen Anstieg seit den 60er Jahren. FCKWs wurden erst in den 30er Jahren entdeckt und erst in den letzten Jahrzehnten intensiv genutzt. Der Aufstieg der "Megastädte" ist sehr stark ein Phänomen der dem Zweiten Weltkrieg folgenden Zeit, so wie auch die Entwicklung von Landwirtschaftsformen, die ökologisch nicht weniger schädlich sind als die meisten Formen der Industrie. Die fieberhafte Zerstörung der Regenwälder fand in derselben Zeit und besonders das letzte Jahrzehnt hindurch statt: die Rate hat sich seit 1979 wahrscheinlich verdoppelt.

Was wir heute sehen, ist der Gipfel eines Jahrzehnts planloser, verschwenderischer und irrationaler ökonomischer und militärischer Aktivitäten des dekadenten Kapitalismus; die qualitative Beschleunigung der ökologischen Krise im letzten Jahrzehnt fällt "wie zufällig" zusammen mit der Eröffnung der letzten Phase kapitalistischer Dekadenz - der Zerfallsphase. Damit meinen wir, daß nach 20 Jahren einer tiefen und sich ständig verschlimmernden Wirtschaftskrise, in der keine der politischen Hauptklassen fähig war, ihre historische Alternative - den Weltkrieg bzw. die Weltrevolution - durchzusetzen, die gesamte Gesellschaftsordnung im Begriff ist zu bersten und in eine unkontrollierte, abwärts gerichtete Spirale des Chaos und der Zerstörung zu versinken (siehe Artikel "Der Zerfall - die letzte Phase der kapitalistischen Dekadenz", in: INTERNATIONALE REVUE, Nr. 13).

Das kapitalistische System hat lange aufgehört, irgendeinen Fortschritt für die Menschheit zu repräsentieren. Die katastrophalen ökologischen Konsequenzen seines "Wachstums" seit 1945 sind eine weitere Demonstration, daß dieses Wachstum auf einer krankhaften, zerstörerischen Grundlage stattfindet, und stellen einen Schlag in das Gesicht all jener "Experten" dar - wobei sich bedauerlicherweise einige von ihnen in der politischen Bewegung des Proletariats befinden -, die auf dieses Wachstum hinweisen, um den marxistischen Begriff der Dekadenz des Kapitalismus in Frage zu stellen.

Dies bedeutet jedoch nicht, daß Marxisten - anders als der größere Teil der Bourgeoisie heute und all ihre kleinbürgerlichen Mitläufer - den Begriff des Fortschritts aufgeben oder den anti-technologischen Vorurteilen der radikalen Grünen Konzessionen machen.

Das marxistische Konzept vom Fortschritt war niemals dasselbe wie der einseitige, lineare Begriff der Bourgeoisie von einem stetigen Aufstieg aus der primitiven Dunkelheit und dem Aberglauben in das Licht der modernen Vernunft und Demokratie. Es ist eine dialektische Auffassung, die anerkennt, daß historische Fortschritte durch den Zusammenprall von Gegensätzen stattfinden, daß sie Katastrophen und selbst Rückschritte beinhalten, daß der Fortschritt der "Zivilisation" auch die Verfeinerung der Ausbeutung und die Verschlimmerung der Entfremdung unter den Menschen und zwischen Mensch und Natur bedeutete. Aber es erkennt ebenfalls an, daß die wachsende Fähigkeit des Menschen, die Natur durch die Entwicklung seiner Produktivkräfte umzuwandeln, die unbewußten Naturprozesse seiner eigenen, bewußten Kontrolle untertan zu machen, die einzige Basis für die Überwindung dieser Entfremdung und für das Erreichen einer höheren Form der Gemeinschaft als der beschränkte Kommunismus in der Vorzeit ist - eine weltweite, vereinigte Gemeinschaft, die nicht auf dem Mangel und dem Aufgehen des Individuums im Kollektiv basiert, sondern auf einem beispiellosen Grad an Überfluß, der "die materiellen Bedingungen für die vollständige, universelle Entwicklung des produktiven Vermögens des Individuums" (Marx, "Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie") schaffen wird. Indem er die materielle Grundlage für diese globale, menschliche Gemeinschaft schuf, stellte der Kapitalismus einen immensen Fortschritt gegenüber der Naturalwirtschaft dar, die ihm vorausging.

Heute ist die Vorstellung von der "Beherrschung" der Natur auf abscheuliche Weise von der Erfahrung des Kapitalismus verfälscht worden, der die Gesamtheit der Natur wie eine x-beliebige Ware, wie einen toten Gegenstand, als etwas außerhalb des Menschen Stehendes behandelt. Gegen diese Sichtweise - aber auch gegen die passive Naturanbetung, die bei vielen der heutigen Grünen vorherrscht - definierte Engels die kommunistische Position, als er schrieb:

"Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht - sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehen und daß unsere ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug zu allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können." (Engels, "Der Anteil der Arbeit...")  

In der Tat offenbart der Kapitalismus trotz all seiner sogenannten "Eroberungen" heute, daß seine Kontrolle über die Natur die "Kontrolle" des Zauberlehrlings ist, nicht die des Zauberers. Er hat das Fundament für eine bewußte Bändigung der Natur gelegt, aber ebendiese Wirkungsweise verwandelt all seine Errungenschaften in Katastrophen. Wie Marx es formulierte:

"In dem Maße, wie die Menschheit die Natur bezwingt, scheint der Mensch durch andre Menschen oder durch seine eigene Niedertracht unterjocht zu werden. Selbst das reine Licht der Wissenschaft scheint nur auf dem dunklen Hintergrund der Unwissenheit leuchten zu können. All unser Erfinden und unser ganzer Fortschritt scheinen darauf hinauszulaufen, daß sie materielle Kräfte mit geistigem Leben ausstatten und das menschliche Leben zu einer materiellen Kraft verdummen." (Rede auf der Jahresfeier des PEOPLE'S PAPER am 14.4. 1856 in London)

Heute hat dieser Widerspruch den Punkt erreicht, wo die Menschheit an einer historischen Wegscheide steht und die Wahl hat zwischen der bewußten Kontrolle über ihre eigenen gesellschaftlichen und Produktivkräfte, also einer "richtigen Anwendung" der Naturgesetze einerseits, und der Zerstörung durch die von ihr selbst in Bewegung gesetzten Kräfte andererseits. Mit anderen Worten, die Wahl zwischen Kommunismus oder Barbarei.

 

Nur die proletarische Revolution kann den Planeten retten

Wenn der Kommunismus die einzige Antwort auf die ökologische Krise ist, dann ist die einzige Kraft, die eine kommunistische Gesellschaft einführen kann, die Arbeiterklasse.

Wie andere Aspekte des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft wirft auch die Bedrohung der Umwelt ein Schlaglicht auf die Tatsache, daß je länger das Proletariat seine Revolution hinauszögert, desto größer die Gefahr der Erschöpfung und Untergrabung der revolutionären Klasse ist, die Gefahr, daß auf dem Weg zu Zerstörung und Chaos ein Punkt erreicht wird, an dem eine Umkehr nicht mehr möglich ist, an dem sowohl der Kampf für die Revolution als auch der Aufbau einer neuen Gesellschaft unmöglich wird. Somit wird ein Bewußtwerden über die Größe der gegenwärtigen ökologischen Probleme, sofern es die wachsende Dringlichkeit der kommunistischen Revolution unterstreicht, seinen Teil zum Übergang des proletarischen Kampfes von der defensiven, ökonomischen Ebene auf die Ebene einer bewußten und politischen Auseinandersetzung mit dem Kapital in seiner Gesamtheit beitragen. 

Doch wäre es ein Irrtum anzunehmen, daß die ökologische Frage per se ein Brennpunkt für die Mobilisierung des Proletariats auf seinem eigenen Klassenterrain sein kann. Obwohl gewisse begrenzte Aspekte des Problems (z.B. Gesundheit und Arbeitssicherheit) in authentische Klassenforderungen integriert werden können, erlaubt die Frage als solche dem Proletariat nicht, sich als gesonderte Gesellschaftskraft zu behaupten. In der Tat schafft sie, wie wir gesehen haben, einen idealen Vorwand für die klassenübergreifenden Kampagnen der Bourgeoisie. Die Arbeiter werden aktiv den vielfältigen Versuchen der Herrschenden und insbesondere ihrer grünen und linken Elemente trotzen müssen, die diese Frage als ein Mittel benutzen, um sie von ihrem eigenen Klassenboden zu zerren. Es bleibt nach wie vor gültig, daß vor allem durch den Kampf gegen die Auswirkungen der Wirtschaftskrise - gegen Lohnkürzungen, Arbeitslosigkeit, wachsende Verarmung auf allen Ebenen - die Arbeiter in die Lage versetzt werden, sich selbst als eine Kraft zu konstituieren, die imstande ist, der gesamten bürgerlichen Ordnung entgegenzutreten.

Die Arbeiterklasse wird nur dann fähig sein, mit der ökologischen Frage als Ganzes fertigzuwerden, wenn sie die politische Macht auf Weltebene erobert hat. Tatsächlich ist jetzt deutlich geworden, daß dies eine der dringendsten Aufgaben in der Übergangsperiode sein wird und in jedem Fall eng verknüpft ist mit anderen dringenden Problemen wie den Welthunger und dem Wiederaufbau der Landwirtschaft.

Dies ist nicht die Gelegenheit für eine detaillierte Diskussion über die Maßnahmen, die das Proletariat zu ergreifen hat, um sowohl das vom Kapitalismus hinterlassenen Schlamassel zu bereinigen als auch ein neues Verhältnis zwischen Mensch und Natur anzustreben. Wir wollen hier nur einen Punkt hervorheben: daß die Probleme, denen sich ein siegreiches Proletariat gegenübersieht, prinzipiell nicht technischer, sondern politischer und gesellschaftlicher Art sein werden.

Die existierende technische und industrielle Infrastruktur ist durch die Irrationalität der kapitalistischen Entwicklung in dieser Epoche zutiefst ruiniert, und zweifellos wird ein sehr beträchtlicher Teil von ihr abgeschafft werden müssen als Vorbedingung für den Bau einer Produktionsbasis, die nicht zu einer Bedrohung der natürlichen Umwelt wird. Auf der rein technischen Ebene sind jedoch schon eine Reihe von Alternativen entwickelt worden oder könnten weiterentwickelt werden, wenn ihnen genügend Ressourcen zugeteilt werden würden. Es ist beispielsweise schon jetzt möglich, durch ein System der Wärme-Kraft-Kopplung den Ausstoß von Kohlendioxid und anderen Schadstoffen in mit fossilen Brennstoffen betriebenen Kraftwerken beträchtlich zu drosseln, wobei ein Ausnutzungsgrad der produzierten Rückstände von fast 100 Prozent erreicht werden kann. Ebenso ist es bereits möglich, viele andere Energiequellen zu entwickeln: Sonnenenergie, Wind- und Wellenkraft, etc., die sowohl erneuerbar als auch faktisch frei von Rückständen sind; es gibt ebenfalls enorme Möglichkeiten, die im Prozeß der Kernfusion stecken, die viele der mit der Kernspaltung verbundenen Probleme vermeiden könnten.

Der Kapitalismus hat seine technischen Kapazitäten bereits so weit entwickelt, daß das Problem der Umweltverschmutzung gelöst werden könnte. Aber die Tatsache, daß das wahre Problem gesellschaftlicher Natur ist, wird von den vielen Beispielen untermauert, in denen die kurzfristigen wirtschaftlichen und militärischen Interessen des Kapitalismus ihm nicht erlaubt haben, umweltschonende Technologien zu entwickeln. Es ist zum Beispiel bekannt, daß die Erdöl- und Erdgaskonzerne sowie die Elektrizitätsgesellschaften der USA nach dem Zweiten Weltkrieg eine Kampagne initiierten, um die Entwicklung der Solarenergie abzuwürgen. Wir haben kürzlich gesehen, daß die britische Regierung an der Erstellung eines Gutachtens mitgearbeitet hat, an dessen Zahlen solange herumgedoktert wurde, bis der Beweis erbracht wurde, daß Atomenergie billiger sei als die Wellenkraftenergie; die Automobilindustrie hat sich lange einer Entwicklung zu weniger umweltbelastenden Transportformen in den Weg gestellt und so weiter.  

Aber die Frage reicht tiefer als die bewußte Politik dieser oder jener Regierung oder Industrie. Das Problem liegt, wie wir gesehen haben, in der grundlegenden Vorgehensweise der kapitalistischen Produktionsweise, und es kann nur gelöst werden, indem diese Produktionsweise an ihren Wurzeln angegriffen wird.

Das Kapital zerstört mutwillig die natürliche Umwelt, weil es akkumulieren muß, wenn es nicht sterben will; die einzige Antwort darauf lautet, ebendieses Prinzip der kapitalistischen Akkumulation zu unterdrücken und nicht für den Profit, sondern für die menschlichen Bedürfnisse zu produzieren. Das Kapital verwüstet die Ressourcen der Welt, weil es in konkurrierende nationale Einheiten gespalten ist, weil es grundlegend anarchisch ist und nicht mit Blick auf künftige Interessen produzieren kann; die einzige Antwort darauf ist die Abschaffung des Nationalstaats, die Vergemeinschaftung aller menschlichen und natürlichen Ressourcen der Erde und die Entwerfung eines, wie Bordiga es nannte, "Lebensplanes für die menschliche Art". Kurz, das Problem kann nur durch eine Arbeiterklasse gelöst werden, die sich der Notwendigkeit bewußt ist, die eigentliche Basis des gesellschaftlichen Lebens zu revolutionieren, und die die politischen Instrumente in der Hand hält, um den Übergang zur kommunistischen Gesellschaft durchzuführen. Organisiert in seinen Arbeiterräten auf Weltebene und all die unterdrückten Massen der Welt mit sich ziehend, kann und muß das internationale Proletariat die Schaffung einer Welt in Angriff nehmen, in der ein beispielloser materieller Überfluß nicht mit dem Wohlergehen der natürlichen Umwelt kollidiert; in der tatsächlich beide sich wechselseitig bedingen; eine Welt, in der die Menschheit, endlich befreit von der Vorherrschaft der Schufterei und Armut, angefangen kann, das Leben auf dem Planeten zu genießen.

Durch die Nebelbänke der Ausbeutung und Umweltvergiftung spähend, mit denen die kapitalistische Zivilisation die Erde in ein Leichentuch gehüllt hat, war dies zweifellos die Welt, die Marx erahnte, als er in seinen Manuskripten von 1844 vorhersah:

„Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur.“ (Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 1844).

CDW

(aus: INTERNATIONALE REVUE, Nr. 13, deutsche Ausgabe, überarbeitete Fassung).

Theoretische Fragen: 

  • Umwelt [15]

Internationale Revue - 1993

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Internationale Revue 14

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Wer kann die Welt verändern? Das Proletariat ist die revolutionäre Klasse (Teil 1)

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'Der Kommunismus ist tot! Der Kapitalismus hat gesiegt, weil er das einzige System ist, das wirklich funktionieren kann. Es ist nutzlos und gar gefährlich, von einer anderen Gesellschaft zu träumen!' Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der angeblich "kommunistischen" Regimes wurde von der herrschenden Klasse eine beispiellose Kampagne entfesselt. Gleichzeitig und in die gleiche Kerbe schlagend hat die Propaganda der Herrschenden ein weiteres Mal versucht, die Arbeiterklasse zu demoralisieren, indem sie ihr einzureden versuchte, daß sie keine gesellschaftliche Kraft mehr sei, daß sie nicht mehr zähle, ja nicht einmal mehr existiere. Und damit ihre Rechnung aufgeht, hat sie sich eifrig darum bemüht, die Bedeutung des Rückgangs in der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse aufzubauschen, der aus den Konfusionen resultierte, die die Umwälzungen der letzten Jahre in den Rängen der Arbeiter ausgelöst hatten. Das Wiedererstarken des Klassenkampfes, das sich bereits andeutet, wird solche Lügen in der Praxis widerlegen; doch die Bourgeoisie wird selbst im Verlaufe großer Arbeiterkämpfe nicht aufhören, uns die Idee einzutrichtern, daß diese Kämpfe keinesfalls die Überwindung des Kapitalismus und die Errichtung einer Gesellschaft anstreben können, die von all den Geißeln befreit ist, die dieses System der Menschheit aufzwingt. So bleibt heute entgegen all der Lügen der Herrschenden, aber auch gegen den Skeptizismus einiger Möchtegern-Revolutionäre die Bekräftigung des revolutionären Charakters des Proletariats in der Verantwortung der Kommunisten. Dies ist der Zweck dieses Artikels.

Ein Hauptthema in den Kampagnen, denen wir in den letzten Jahren ausgesetzt waren, war die "Widerlegung" des Marxismus. Letzterer sei, nach den Worten der von der Bourgeoisie gedungenen Ideologen, gescheitert. Seine praktische Umsetzung und sein Versagen in den osteuropäischen Ländern seien eine Veranschaulichung dieses Scheiterns. Wir haben immer wieder in unserer Revue aufgezeigt, daß der Stalinismus mit dem Kommunismus, so wie Marx und die gesamte Arbeiterbewegung ihn aufgefaßt hatten, nichts zu tun hat.(1) In Hinblick auf das revolutionäre Potential der Arbeiterklasse ist es die Aufgabe der Kommunisten, die marxistische Position in dieser Frage zu bekräftigen und in erster Linie daran zu erinnern, was der Marxismus unter einer revolutionären Klasse versteht.

 

Was ist eine revolutionäre Klasse nach marxistischem Verständnis?

"Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen" (2). So beginnt einer der wichtigsten Texte des Marxismus und der Arbeiterbewegung: "Das Kommunistische Manifest". Diese These ist keine Besonderheit des Marxismus (3), sondern eine der fundamentalen Grundlagen in der kommunistischen Theorie, die besagt, daß die Klassenkonfrontationen in der kapitalistischen Gesellschaft als ultimative Perspektive den Sturz der Bourgeoisie durch das Proletariat und die Machtausübung durch Letzteres  über die gesamte Gesellschaft zum Ziel haben - eine These, die freilich von den Vertretern des kapitalistischen Systems abgelehnt wird. Doch während die Bourgeoisie in der Aufstiegsperiode dieses Systems (natürlich unvollständig und mystifiziert) eine gewisse Zahl von gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten entdeckt hat (4), gibt es heute kaum Aussichten, daß sich dies wiederholt: die Bourgeoisie der kapitalistischen Dekadenz ist völlig unfähig geworden, solche Denker hervorzubringen. Für die Ideologen der herrschenden Klasse beschränkt sich die fundamentale Priorität ihrer gesamten gedanklichen Anstrengungen darauf zu beweisen, daß die marxistische Theorie falsch ist (auch wenn einige von ihnen sich auf den einen oder anderen Beitrag von Marx berufen). Und der Eckpfeiler ihrer "Theorien" ist die Behauptung, daß der Klassenkampf keine Rolle mehr in der Geschichte spiele, wenn nicht gar die schlichte Leugnung eines solchen Kampfes oder - schlimmer noch - der Existenz sozialer Klassen.

Nicht nur die erklärten Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft bringen solche Behauptungen vor. Einige "radikale Denker", die mit der Anfechtung der etablierten Ordnung Karriere gemacht haben, haben sich ihnen seit einigen Jahrzehnten angeschlossen. Der Guru der Gruppe SOCIALISME OU BARBARIE (und Inspirator der Gruppe SOLIDARITY in Großbritannien), Cornelius Castoriadis, hatte vor nahezu vierzig Jahren - zur gleichen Zeit, als er die Ablösung des Kapitalismus durch ein "drittes System", die "bürokratische Gesellschaft", vorhergesagt hatte - angekündigt, daß der Antagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, unweigerlich dem Antagonismus zwischen "Führern und Geführten" weichen werde.(5) In der jüngeren Geschichte haben andere "Denker", die ihre Sternstunde hatten, wie der Universitätsdozent Marcuse, behauptet, daß die Arbeiterklasse in die kapitalistische Gesellschaft "integriert" worden sei und daß die einzigen Kräfte, die diese Gesellschaft infrage stellen könnten, nunmehr von gesellschaftlichen Randgruppen wie den Schwarzen in den USA, den Studenten oder auch den Bauern der unterentwickelten Staaten verkörpert würden. So stellen die Theorien über das "Ende der Arbeiterklasse", die heute wieder aufzublühen beginnen, keine Neuigkeit dar: Eines der Merkmale im "Denken" dieser Klasse, eines, das ihre Senilität  gut zum Ausdruck bringt, ist die Unfähigkeit, auch nur eine neue Idee, so geringfügig sie auch sein mag, zu kreieren. Die einzige Sache, die sie zu verwirklichen imstande ist, ist, in den Mülleimern der Geschichte zu wühlen, um alte Klischees hervorzukramen, die dem heutigen Geschmack entsprechend überstrichen und als die "Entdeckung des Jahrhunderts" präsentiert werden.

Ein bevorzugtes Mittel, das die Bourgeoisie zur Verschleierung der Wirklichkeit der Klassengegensätze und selbst der Existenz von Gesellschaftsklassen benutzt, sind soziologische "Studien". Statistisch gestützt, "beweist" man, daß die wahren sozialen "Spaltungen" nichts mit Klassenunterschieden zu tun hätten, sondern auf Kriterien wie das Bildungsniveau, den Wohnort, die Altersstufe, die ethnische Herkunft, ja sogar die Religion (6) zurückzuführen seien. Als Beweis für diese Sorte von Behauptungen beeilt man sich beispielsweise auf die Tatsache zu verweisen, daß die Stimmabgabe eines "Bürgers" zugunsten der Rechten oder der Linken weniger von der wirtschaftlichen Situation als von anderen Kriterien abhänge. In den Neuenglandstaaten in den USA wählen die Schwarzen und Juden traditionell demokratisch, die praktizierenden Katholiken in Frankreich, die Elsässer und die Einwohner von Lyon wählen traditionell rechts. Man vermeidet jedoch, darauf hinzuweisen, daß die Mehrheit der amerikanischen Arbeiter nie wählt und daß die Kirchgänger unter den französischen Arbeitern in Streiks nicht zwangsläufig weniger kämpferisch sind. Im allgemeinen unterläßt es die "Soziologie" stets, ihre Behauptungen mit einer historischen Dimension zu versehen. So verschweigt man, daß dieselben russischen Arbeiter, die sich in die erste proletarische Revolution dieses Jahrhunderts, die von 1905, stürzten, am 9. Januar (der "rote Sonntag") mit einer Demonstration begannen, an deren Spitze ein Pope marschierte, und das Wohlwollen des Zaren ersuchten, damit er ihre Armut lindert.(7)

Wenn sich die "Experten" der Soziologie auf die Geschichte beziehen, dann, um zu behaupten, daß sich die Lage seit dem letzten Jahrhundert grundlegend geändert habe. Damals, meinen sie, seien der Marxismus und die Theorie des Klassenkampfes sinnvoll gewesen, da die Arbeits- und Lebensbedingungen der Industriearbeiter wirklich entsetzlich gewesen seien. Doch seitdem seien die Arbeiter "verbürgerlicht" und hätten Zugang zur "Konsumgesellschaft" erlangt, bis sie "ihre Identität verloren" hätten. Auch hätten die Bourgeois mit Zylinder und Goldkette bezahlten "Managern" Platz gemacht. All diese Überlegungen sollen die Tatsache verwischen, daß sich die Grundstrukturen der Gesellschaft in ihrem Kern nicht verändert haben. Tatsächlich sind die Bedingungen, die im vergangenen Jahrhundert der Arbeiterklasse ihren revolutionären Charakter verliehen haben, immer präsent. Die Tatsache, daß der Lebensstandard der Arbeiter heute über dem ihrer Klassenbrüder der vergangenen Generationen liegt, verändert keinesfalls ihre Stellung in den Produktionsverhältnissen, die die kapitalistische Gesellschaft dominieren. Die Gesellschaftsklassen bestehen nach wie vor, und die Kämpfe zwischen ihnen bilden stets den Hauptantrieb der historischen Entwicklung.

Es ist wirklich eine Ironie der Geschichte, daß die offiziellen Ideologien der Bourgeoisie einerseits vorgeben, daß die Klassen keine besondere Rolle mehr spielen (ja sogar nicht mehr existieren), und andererseits anerkennen, daß die ökonomische Lage der Welt die ausschlaggebende Frage ist, mit der die dieselbe Bourgeoisie konfrontiert ist.

In Wirklichkeit rührt die grundlegende Bedeutung der Klassen in der Gesellschaft aus dem herausragenden Platz her, den die wirtschaftlichen Aktivitäten der Menschen einnehmen. Eine der Grundaussagen des historischen Materialismus lautet, daß die Ökonomie letzten Endes alle anderen Bereiche der Gesellschaft, die juristischen Verhältnisse, die Regierungsformen, die Denkweisen, bestimmt. Diese materialistische Auffassung der Geschichte schlägt freilich eine Bresche in jene Philosophien, die die historischen Ereignisse mal als reine Zufallsergebnisse, mal als Ausdruck eines göttlichen Willens, mal als das simple Resultat der Leidenschaften oder des menschlichen Denkens betrachten. Doch wie Marx schon damals sagte, übernimmt die Krise die Aufgabe, die Dialektik in die Köpfe der Bourgeois zu treiben. Die heute offensichtliche Tatsache dieser Vorherrschaft der Ökonomie in der Gesellschaft ist entscheidend für die Bedeutung der Gesellschaftsklassen, eben weil sie im Gegensatz zu anderen soziologischen Kategorien von ihrer Stellung in den ökonomischen Verhältnissen bestimmt werden. Dies war seit der Existenz von Klassen stets der Fall gewesen, doch im Kapitalismus drückt sich diese Realität am deutlichsten aus.

In der Feudalgesellschaft beispielsweise war die soziale Differenzierung per Gesetz festgehalten. Es existierte ein fundamentaler juristischer Unterschied zwischen den Ausbeutern und den Ausgebeuteten: die Adligen besaßen offiziell, per Gesetz, einen privilegierten Status (Befreiung von der Steuerpflicht, Einziehung eines Tribut, der von ihren Leibeigenen gezahlt wurde, z.B.), während die ausgebeuteten Bauern an ihrer Scholle gefesselt waren und einen Teil ihres Einkommens an ihren Fronherrn abführen mußten (oder kostenlos auf seinem Land zu arbeiten hatten). In einer solchen Gesellschaft schien die Ausbeutung, weil sie leicht meßbar war (beispielsweise in Gestalt des von dem Leibeigenen abzuführenden Tributs), aus dem jeweiligen juristischen Status hervorzugehen. In der kapitalistischen Gesellschaft dagegen erlauben die Abschaffung der Privilegien, die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, die Gleichheit und die Freiheit, die ihre Verfassungen proklamieren, keine Ausbeutung und Differenzierung in Klassen mehr, die sich hinter den Unterschieden des juristischen Status verstecken. Es ist das Eigentum, oder Nicht-Eigentum, von Produktionsmitteln (8) und auch ihre Anwendung, das im wesentlichen den Platz des Einzelnen in der Gesellschaft und über seinen Zugang zu ihren Reichtümerin der Gesellschaft bestimmt, das heißt, die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Klasse und die Existenz von gemeinsamen Interessen mit den anderen Mitgliedern derselben Klasse. In groben Zügen bestimmt die Tatsache, Produktionsmittel zu besitzen und sie individuell in Bewegung zu setzen, die Zugehörigkeit zum Kleinbürgertum (Handwerker, Bauern, freiberuflich Tätige, etc.).(9) Die Tatsache, jeglicher Produktionsmittel beraubt und gezwungen zu sein, seine Arbeitskraft an jene zu verkaufen, die sie besitzen und die diesen Tausch nutzen, um sich einen Mehrwert anzueignen, bestimmt die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse. Schließlich gehören zur Bourgeoisie jene, die (im strikt juristischen oder globalen Sinn ihrer individuellen oder kollektiven Kontrolle) über die Produktionsmittel verfügen, welche die Arbeitskraft in Arbeit versetzt, und die von der Ausbeutung Letzterer durch die Aneignung des Mehrwerts leben, den diese erzeugen. Im Wesentlichen ist diese Differenzierung in Klassen heute genauso präsent, wie sie es im vergangenen Jahrhundert gewesen war. Auch die jeweiligen Interessen dieser unterschiedlichen Klassen und die Interessenskonflikte zwischen ihnen bleiben bestehen. Daher befinden sich die Antagonismen zwischen den Hauptbestandteilen der Gesellschaft, die dadurch bestimmt sind, was ihr Skelett bildet - die Ökonomie -, weiterhin im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens.

Abgesehen davon, drücken sich die Antagonismen zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, auch wenn sie einer der Hauptantriebe in der Geschichte der Gesellschaften sind, nicht identisch in jeder Gesellschaft aus. In der Feudalgesellschaft führten die oftmals unbarmherzigen und großangelegten Kämpfe zwischen den Leibeigenen und den Fürsten nie zu einem radikalen Sturz Letzterer. Der Klassengegensatz, der zum Sturz des Ancien Régime führte und die Privilegien des Adels abschaffte, war nicht jener, in dem sich der Adel und die Klasse, die er ausbeutet, die unterjochte Bauernschaft, gegenüberstanden, sondern die Konfrontation zwischen eben jenem Adel und einer anderen ausbeutenden Klasse, der Bourgeoisie (englische Revolution Mitte des 17. Jahrhunderts, französische Revolution Ende des 18. Jahrhunderts). Auch die Sklavenhaltergesellschaft des Römischen Imperiums wurde nicht durch die Sklavenklasse abgeschafft (ungeachtet der oft gewaltigen Kämpfe der Sklaven, wie z.B. der Aufstand von Spartakus und seinen Anhängern 73 v.Chr.), sondern durch den Adel, der über ein Jahrtausend lang den christlichen Westen beherrschen sollte.

In Wirklichkeit waren in den vergangenen Gesellschaften die revolutionären Klassen nie ausgebeutete Klassen, sondern neue ausbeutende Klassen. Und dies ist natürlich kein Zufall. Für den Marxismus unterscheiden sich die revolutionären Klassen (die er auch als "historische" Klassen bezeichnet) von den anderen Klassen der Gesellschaft darin, daß sie im Gegensatz zu Letzteren die Fähigkeit besitzen, die Führung der Gesellschaft zu übernehmen. Und solange die Entwicklung der Produktivkräfte noch unzureichend war, um einen Überfluß von Gütern für die gesamte Gesellschaft zu gewährleisten, solange die Gesellschaft mit der Aufrechterhaltung von ökonomischen Ungleichheiten und somit von Ausbeutungsverhältnissen behelligt wurde, war nur eine ausbeutende Klasse in der Lage, sich an die Spitze des gesellschaftlichen Körpers zu setzen. Ihre historische Rolle bestand darin, die Entstehung und Entwicklung der Produktionsverhältnisse, deren Träger sie war, zu begünstigen, um so die alten, überholten Produktionsverhältnisse zu verdrängen und die Widersprüche zu meistern, die unüberwindbar waren, solange diese Verhältnisse aufrechterhalten blieben.

So war die dekadente römische Sklavenhaltergesellschaft durch den Umstand, daß die Abhängigkeit bei der "Versorgung" mit Sklaven von neuen territorialen Eroberungen auf das wachsende Problem Roms stieß, die Grenzen seines immer aufgeblähteren Imperiums zu kontrollieren, und gleichzeitig durch die Unfähigkeit gekennzeichnet, die erforderliche Sorgfalt im Umgang mit neuen landwirtschaftlichen Techniken unter den Sklaven durchzusetzen. In solch einer Lage waren feudale Herrschaftsverhältnisse, in denen die Ausgebeuteten nicht mehr den gleichen Status hatten wie das Vieh (wie dies bei den Sklaven der Fall gewesen war) (10) und in der sie an einer größeren Produktivität des von ihnen bestellten Bodens stark interessiert waren, weil sie davon lebten, am besten geeignet, um die Gesellschaft aus ihrer Talsohle herauszuführen. Daher haben sich die neuen Verhältnisse insbesondere durch die Emanzipation der Sklaven verbreitet (was an bestimmten Orten durch das Erscheinen der "Barbaren" beschleunigt wurde, von denen einige bereits in einer Art von Feudalgesellschaft lebten).

Auch besteht der Marxismus (der mit dem KOMMUNISTISCHEN MANIFEST beginnt) auf der herausragenden revolutionären Rolle, die die Bourgeoisie im Laufe der Geschichte gespielt hatte. Diese Klasse, die innerhalb der Feudalgesellschaft entstanden war und sich verbreitet hatte, hatte einen Machtzuwachs gegenüber einem Adel und einer Monarchie erlebt, die sowohl bezüglich der Beschaffung aller möglichen Güter (Textilien, Möbel, Gewürze, Waffen) als auch hinsichtlich der Finanzierung ihrer Ausgaben immer mehr von ihr abhingen. Als mit dem Wegfall der Möglichkeiten der Urbarmachung und der Ausweitung des kultivierten Landes eine der Quellen der Dynamik der feudalen Produktionsverhältnissees versiegte, als mit der Bildung von Königreichen der Adel zusammen mit der Rolle des Beschützers des Volkes, die anfangs die Hauptaufgabe des Adels gewesen war, seinen Daseinsgrund verlor, wurde die Kontrolle der Gesellschaft durch diese Klasse zu einem Hemmnis für die gesellschaftliche Weiterentwicklung. Und dies wurde von der Tatsache verstärkt, daß diese Weiterentwicklung immer mehr vom Wachstum des Handels, der Banken und des Handwerks in den Städten abhing, die einen beträchtlichen Fortschritt der Produktivkräfte erlebten.

Indem sie sich an die Spitze der Gesellschaft stellte, zunächst im wirtschaftlichen, dann im politischen Bereich, befreite die Bourgeoisie die Gesellschaft aus den Fesseln,  die sie in die Krise gestürzt hatten; sie schuf die Voraussetzungen für das Wachstum des gewaltigsten Reichtums, den die menschliche Geschichte jemals erlebt hatte. Dabei ersetzte sie nur eine Form der Ausbeutung, die Leibeigenschaft, durch eine andere Form der Ausbeutung, die Lohnarbeit. Um dies zu erreichen, sah sie sich veranlaßt, in der Periode, die Marx die primitive Akkumulation nannte, barbarische Maßnahmen zu ergreifen, die denen der Sklavenhalter ebenbürtig waren, damit die Bauern gezwungen wurden, ihre Arbeitskraft in den Städten zu verkaufen (siehe dazu die eindrucksvollen Schilderungen im ersten Band des Kapitals). Und diese Barbarei kündigte selbst nur die Barbarei an, mit der das Kapital das Proletariat ausbeuten sollte (Kinderarbeit, Nachtarbeit für Frauen und Kinder, Arbeitstage von bis zu 18 Stunden, die "Arbeitshäuser" usw.), ehe es den Kämpfen der Arbeiter gelang, die Kapitalisten zu zwingen, die Brutalität ihrer Methoden zu mildern.

Seit ihrer Entstehung hat die Arbeiterklasse gegen die Ausbeutung aufbegehrt. Auch waren diese Revolten stets von Entwürfen begleitet, die auf die Umwälzung der Gesellschaft, auf die Abschaffung der Ungleichheiten, auf die gemeinsame Verfügung über die gesellschaftlichen Güter abzielten. Hier unterschied sie sich nicht grundlegend von den früheren ausgebeuteten Klassen, insbesondere nicht von den Leibeigenen, die sich selbst auch in manchen Revolten hinter einem Vorhaben der gesellschaftlichen Transformation zusammengeschlossen hatten. Dies traf insbesondere auf den Bauernkrieg im 16. Jahrhundert in Deutschland zu, wo die Ausgebeuteten Thomas Müntzer, der eine Art Kommunismus befürwortete, zu ihrem Sprachrohr machten.(11) Doch im Gegensatz zum Entwurf der gesellschaftlichen Transformation anderer ausgebeuteter Klassen ist jener des Proletariats keine schlichte, unrealisierbare Utopie. Der Traum von einer egalitären Gesellschaft ohne Herrschaft und Ausbeutung, den die Sklaven und Leibeigenen täumten, konnte nur ein schlichtes Trugbild sein, denn das Entwicklungsniveau der Produktivkräfte, das die Gesellschaft damals erlangt hatte, erlaubte keine Abschaffung der Ausbeutung. Dagegen ist das kommunistische  Projekt des Proletariats völlig realistisch, nicht nur weil der Kapitalismus die Grundlagen für eine solche Gesellschaft gelegt hat, sondern auch weil der Kommunismus das einzige Gesellschaftsprojekt ist, das die Menschheit aus der Barbarei retten kann, in der sie versinkt.

 

Warum das Proletariat heute die revolutionäre Klasse ist


Seitdem das Proletariat begonnen hatte, sein eigenes Gesellschaftsprojekt vorzubringen, hatte die Bourgeoisie nur Verachtung dafür übrig und betrachtete dies als die Hirngespinste eines Rufenden in der Wüste. Und wenn sie sich mal die Mühe macht, über diese schlichte Verachtung hinauszugehen, ist die einzige Sache, die sie sich vorstellen kann, die, daß es sich mit den Arbeitern genauso wie mit den früheren Ausgebeuteten verhält: alles, was sie können, ist, unmögliche Utopien zu träumen. Offensichtlich scheint die Geschichte der Bourgeoisie recht zu geben; ihre Philosophie kann man wie folgt zusammenfassen: 'Es hat immer Arme und Reiche gegeben, es wird sie immer geben. Die Armen können durch ihre Revolten gar nichts gewinnen. Man muß dafür sorgen, daß die Reichen keinen Mißbrauch mit ihrem Reichtums betreiben und sich darum kümmern, daß das Elend der Ärmsten gelindert wird'. Die Priester und die Damen der Wohltätigkeitsorganisationen haben sich zu Sprachrohren und Praktikern dieser "Philosophie" gemacht. Die Bourgeoisie weigert sich, einzusehen, daß ihr Wirtschafts- und Gesellschaftssystem genausowenig wie die vorhergehenden auf ewig hält und daß es wie die Sklavenhaltergesellschaft oder der Feudalismus dazu verurteilt ist, einer neuen Gesellschaftsform Platz zu machen. Und so wie die Charakteristiken des Kapitalismus die Lösung der Widersprüche ermöglicht hatte, die die Feudalgesellschaft niedergestreckt hatten (wie dies auch schon mit dem Feudalismus gegenüber der antiken Gesellschaft der Fall gewesen war), rühren die Merkmale jener Gesellschaft, die dazu berufen ist, die tödlichen Widersprüche zu lösen, die den Kapitalismus bedrängen, aus derselben Notwendigkeit her. Wenn man also von diesen Widersprüchen ausgeht, ist es möglich, die Merkmale der zukünftigen Gesellschaft zu definieren.

Natürlich können wir im Rahmen dieses Artikels nicht im Einzelnen auf die Widersprüche eingehen. Seit mehr als einem Jahrhundert hat sich der Marxismus damit systematisch befaßt, und auch unsere eigene Organisation hat ihnen zahlreiche Texte gewidmet (12). Doch wir wollen in groben Zügen die Ursprünge dieser Widersprüche umreißen. Sie wohnen den Hauptmerkmalen des kapitalistischen Systems inne: es ist eine Produktionsweise, die den Warentausch auf alle erzeugten Güter ausgeweitet hat, während in den früheren Gesellschaften nur ein Teil dieser Güter, oft ein sehr geringer, in Waren umgewandelt wurde. Diese Kolonisierung der Ökonomie durch die Ware hat im Kapitalismus auch die menschliche Arbeitskraft erfaßt, die von den Menschen bei ihren produktiven Tätigkeiten angewendet wird. Der Produktionsmittel beraubt, hat der Produzent, um zu überleben, keine andere Möglichkeit, als seine Arbeitskraft jenen verkaufen, die über diese Produktionsmittel verfügten - die kapitalistische Klasse -, während es in der Feudalgesellschaft beispielsweise, in der bereits eine Warenwirtschaft existierte, die Früchte seiner Arbeit waren, die der Handwerker oder der Bauer verkaufte. Und es ist ebendiese Verallgemeinerung der Waren, die die Wurzel der Widersprüche des Kapitalismus bildet: die Überproduktionskrise ist darauf zurückzuführen, daß das Ziel des Systems nicht in der Produktion von Gebrauchswerten besteht, sondern in der Produktion von Tauschwerten, die Käufer finden müssen. Aus der Unfähigkeit der Gesellschaft, die Gesamtheit der produzierten Waren zu kaufen (obwohl die tatsächlichen Bedürfnisse noch längst nicht befriedigt sind), rührt diese Kalamität her, die wirklich absurd erscheint: der Kapitalismus bricht zusammen, nicht weil er zu wenig, sondern weil er zuviel produziert.(13)

Das wichtigste Merkmal des Kommunismus wird also die Abschaffung der Ware, die Verbreitung der Produktion von Gebrauchswerten und nicht von Tauschwerten sein.

Darüber hinaus haben der Marxismus und insbesondere Rosa Luxemburg aufgezeigt, daß der Ursprung der Überproduktion aus der Notwendigkeit für das Kapital in seiner Gesamtheit herrührt, den Teil des erzeugten Werts, der dem aus den Proletariern herausgepreßten Mehrwert entspricht und der für die Akkumulation bestimmt ist, durch den Verkauf außerhalb seiner eigenen Sphäre zu realisieren. Aber in dem Maße, wie die außerkapitalistischen Regionen zusammenschrumpfen, nehmen die ökonomischen Erschütterungen immer katastrophalere Formen an.

So besteht der einzige Weg zur Überwindung der Widersprüche des Kapitalismus in der Abschaffung aller Warenformen und insbesondere der Ware Arbeitskraft, d.h. der Lohnarbeit.

Die Abschaffung des Warentauschs setzt voraus, daß auch dessen Grundlage, das Privateigentum, abgeschafft wird. Nur wenn die Reichtümer von der Gesellschaft kollektiv angeeignet werden, können Kauf und Verkauf dieser Reichtümer verschwinden (was es in embryonaler Gestalt bereits in der Urgemeinde gab). Eine solche kollektive Aneignung der von ihr produzierten Reichtümer und an erster Stelle der Produktionsmittel durch die Gesellschaft bedeutet, daß es nicht mehr möglich sein wird, daß ein Teil von ihr, eine soziale Klasse (auch in Gestalt einer Staatsbürokratie), über die Mittel verfügt, um einen anderen Teil auszubeuten. So kann die Abschaffung der Lohnarbeit nicht durch die Einführung einer neuen Ausbeutungsform, sondern allein durch die Abschaffung der Ausbeutung in all ihren Formen verwirklicht werden. Und im Gegensatz zur Vergangenheit darf die Art der Transformation, die heute die Menschheit retten kann, nicht wiederum zu neuen Ausbeutungsverhältnissen führen; der Kapitalismus selbst hat die materiellen Voraussetzungen für einen Überfluß geschaffen, der eine Überwindung der Ausbeutung ermöglicht. Dieser Umstand eines Überflusses deutet sich auch in der Existenz der Überproduktionskrisen an (wie das KOMMUNISTISCHE MANIFEST enthüllte).

Die Frage, vor der wir stehen, ist also: welche Kraft in der Gesellschaft ist in der Lage, diese Transformation durchzuführen, die das Privateigentum abschafft und jeglicher Form von Ausbeutung ein Ende bereitet?

Das erste Merkmal dieser Klasse besteht darin, ausgebeutet zu werden, denn nur eine ausgebeutete Klasse kann ein Interesse an der Abschaffung der Ausbeutung haben. Während in den Revolutionen der Vergangenheit die revolutionäre Klasse keinesfalls eine ausgebeutete Klasse sein konnte, weil die neuen Produktionsverhältnisse zwangsläufig neue Ausbeutungsverhältnisse waren, ist heute genau das Gegenteil der Fall. Seinerzeit hegten die utopischen Sozialisten (wie Fourier, Saint-Simon, Owen) (14) die Illusion, daß die Revolution von Elementen der Bourgeoisie in die Hand genommen werden könnte. Sie hofften, daß sich innerhalb der herrschenden Klasse aufgeklärte und vermögende Menschenfreunde finden, die die Überlegenheit des Kommunismus über den Kapitalismus erkennen und bereit sind, Projekte idealer Gemeinschaften zu finanzieren, deren Beispiel sich dann wie ein Lauffeuer verbreiten sollten. Da die Geschichte nicht von Individuen, sondern von Klassen gemacht wird, wurden diese Hoffnungen innerhalb weniger Jahrzehnte zunichtegemacht. Selbst wenn sich einige wenige Mitglieder der Bourgeoisie fanden, die sich den großmütigen Ideen der Utopisten anschlossen (15), hat sich die herrschende Klasse isgesamt freilich davon abgewandt, wenn sie diese Ideen nicht gar offen bekämpft hat, zielten diese doch darauf ab, die herrschende Klasse dazu zu bringen, als eine Klasse zu verschwinden.

Allerdings reicht die Tatsache, eine ausgebeutete Klasse zu sein, keineswegs aus, um eine revolutionäre Klasse zu sein. Es gibt zum Beispiel heute noch auf der Welt und insbesondere in den unterentwickelten Ländern eine Vielzahl von armen Bauern, die unter der Ausbeutung infolge der Aneignung der Früchte ihrer Arbeit durch die herrschende Klasse leiden, sei es direkt, sei es durch die Steuern oder durch die Zinsen, die sie an Banken oder Wucherer abführen müssen, bei denen sie verschuldet sind. Die Mystifikationen der Ideologien der Drittweltaktivisten, der Maoisten, Guevaristen usw. ruhen auf der oft unerträglichen Armut dieser Bauernschichten. Als diese Bauern dazu verleitet wurden, zu den Waffen zu greifen, taten sie dies nur als das Fußvolk dieser oder jener Cliquen der Bourgeoisie, die, sobald sie an der Macht waren, sich beeilten, die Ausbeutung noch weiter zu verschärfen, und dies oft in besonders grauenhafter Manier (siehe z.B. das Abenteuer der Roten Khmer in Kambodscha in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre). Der Rückzug  dieser Mystifikationen (die sowohl von den Stalinisten als auch von den Trotzkisten und einigen "radikalen Denkern" wie Marcuse verbreitet wurden) spiegelt schlicht das offenkundige Scheitern der "revolutionären Perspektive" wider, deren Träger angeblich  die arme Bauernschaft ist. Obgleich die Bauern auf die verschiedenste Art ausgebeutet werden und obwohl sie auch manchmal sehr gewaltsame Kämpfe führen, um ihrer Ausbeutung Grenzen zu setzen, können sie diesen Kämpfen nie die Abschaffung des Privateigentums zum Ziel setzen, da sie selbst kleine Eigentümer sind oder Letztere zum Nachbarn haben und ihnen nacheifern.(16)

Und wenn sich die Bauern kollektive Strukturen zulegen, um ihr Einkommen durch Verbesserungen in ihrer Produktivität oder durch den Verkauf ihrer Erzeugnisse aufzubessern, nimmt dies üblicherweise die Gestalt von Genossenschaften an, die weder das Privateigentum noch den Warentausch infragestellen.(17) Kurz und gut, die gesellschaftlichen Klassen und Schichten, die als Überreste der Vergangenheit auftreten (Bauern, Handwerker, Freiberufler usw.) (18) und nur fortbestehen, weil der Kapitalismus, unabhängig davon, daß er die Weltwirtschaft vollständig beherrscht, unfähig ist, alle Produzenten in Lohnarbeit umzuwandeln, können nicht Träger eines revolutionären Gesellschaftsprojektes sein. Ganz im Gegenteil, die einzige Perspektive, von der sie unter Umständen träumen können, ist die Rückkehr in ein mystisches "goldenes Zeitalter" der Vergangenheit: die Dynamik ihrer spezifischen Kämpfe kann nur reaktionär sein.

Da die Abschaffung der Ausbeutung im wesentlichen mit der Abschaffung der Lohnarbeit einhergeht, ist nur die Klasse, die dieser besonderen Form der Ausbeutung ausgesetzt ist, d.h. das Proletariat, imstande, ein revolutionäres Gesellschaftsprojekt zu tragen. Allein die Klasse, die in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen ausgebeutet wird, die das Produkt dieser Produktionsverhältnisse ist, ist imstande, sich eine Perspektive zuzulegen, um diese Verhältnisse zu überwinden.

Infolge der Entwicklung der Großindustrie, einer Vergesellschaftung des Produktionsprozesses, wie es sie noch nie in der Geschichte der Menschheit gegeben hat, kann das moderne Proletariat nicht von einer Rückkehr in die Vergangenheit träumen.(19) Während beispielsweise die Umverteilung oder die Aufteilung des Landes eine "realistische" Forderung der armen Bauern sein kann, wäre es absurd, wenn die Arbeiter, die auf assoziierte Weise Waren herstellen, dabei Einzelteile, Rohstoffe und Technologien aus der ganzen Welt einverleibend, fordern, ihre Firma in ihre Einzelteile zu zerlegen, um sie unter sich aufzuteilen. Selbst die Illusionen über die Selbstverwaltung, d.h. über den Betrieb als gemeinsames Eigentum aller Beschäftigten (was eine moderne Auffassung von Arbeitergenossenschaften darstellt), verliert an Einfluß. Nach zahlreichen, auch jüngsten Erfahrungen (wie die LIP-Werke in Frankreich Anfang der 70er Jahre), die im allgemeinen in einer Konfrontation zwischen der Gesamtheit der Arbeiter und jenen endeten, die zuvor zu Geschäftsführern berufen worden waren, ist sich die Mehrheit der Arbeiter sehr wohl bewußt, daß in Anbetracht der Notwendigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit des Unterehmens auf dem kapitalistischen Weltmarkt zu wahren, Selbstverwaltung nur Selbstausbeutung heißen kann. Wenn die Arbeiterklasse ihren historischen Kampf entwickelt, kann sie nur nach vorn blicken: nicht in Richtung einer Zerstückelung des kapitalistischen Eigentums und der kapitalistischen Produktion, sondern in Richtung einer Vollendung des Vergesekllschaftungsprozesses, den der Kapitalismus beträchtlich vorangetrieben hat, den er aber aufgrund seines Charakters nicht zum Abschluß bringen kann, selbst wenn er alle Produktionsmittel in den Händen des Staates (wie im Fall der stalinistischen Regimes) konzentriert.

Für die Erfüllung dieser Aufgabe besitzt das Proletariat ein beachtliches Potential.

Einerseits wird in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft der Hauptteil des gesellschaftlichen Reichtums durch die Arbeit der Arbeiterklasse hergestellt, auch wenn diese heute noch eine Minderheit in der Weltbevölkerung ist. In den Industriestaaten ist der Anteil des Nationalprodukts, der von den unabhängigen Erwerbstätigen (Bauern, Handwerker usw.) hergestellt wird, unerheblich. Dies ist selbst in den rückständigen Ländern der Fall, obgleich die Mehrheit der Bevölkerung von der Bearbeitung des Landes lebt (bzw. überlebt).

Andererseits hat das Kapital die Arbeiterklasse in gigantischen Produktionseinheiten konzentriert, die nichts mit jenen gemeinsam haben, die zu Lebzeiten Marx' existiert hatten. Auch sind diese Produktionseinheiten im allgemeinen mitten im Zentrum oder in der Nähe von immer  größeren Städten angesiedelt. Die Konzentration der Arbeiterklasse sowohl am Arbeitsplatz wie in den Wohnorten bietet eine Kraft ohnegleichen, sobald sie wirklich wirksam eingesetzt wird, d.h. insbesondere durch die Entwicklung ihres kollektiven Kampfes und ihrer Solidarität.

Schließlich besteht eine der Hauptstärken des Proletariats in seiner Fähigkeit, sein Bewußtsein weiterzuentwickeln. Alle Klassen und insbesondere die revolutionären Klassen haben auch eine Form des Bewußtseins gepflegt. Aber dieses konnte nur mystifizierend sein, entweder weil die angestrebte Gesellschaft nicht von Erfolg gekrönt werden konnte (wie der Bauernkrieg in Deutschland z.B.) oder weil die revolutionäre Klasse dazu gezwungen war, zu lügen und die Wirklichkeit gegenüber jenen zu maskieren, die sie mit sich reißen wollte, die sie aber weiter ausbeutete (wie in den bürgerlichen Revolutionen mit ihrem Schlachtruf "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit"). Da es als ausgebeutete Klasse und als Träger einer zukünftigen revolutionären Gesellschaft, die die Ausbeutung abschafft, weder gegenüber anderen Klassen noch gegenüber sich selbst die ultimativen Ziele seines Handelns verschleiern muß, kann das Proletariat im Laufe seines historischen Kampfes ein Bewußtsein entwickeln, das frei von allen Mystifikationen ist. So kann es sich auf ein solch hohes Niveau erheben, das vom Klassenfeind, die Bourgeoisie, niemals erreicht wurde. Und diese Fähigkeit zur Bewußtwerdung bildet neben seiner Organisierung als Klasse die ausschlaggebende Kraft des Proletariats.

oooOOOooo

Im zweiten Teil dieses Artikels werden wir sehen, wie das Proletariat trotz aller Kampagnen, die über seine "Integration" oder sein"Verschwinden" sprechen,  all seine grundlegenden Eigenschaften bewahrt, die es zur revolutionären Klasse in unserer Zeit machen.  


FM


1) Siehe insbesondere den Artikel "Die russische Erfahrung – Privateigentum und Gemeineigentum " in: INTERNATIONALE REVUE, Nr. 12, sowie unsere Artikelreihe: "Der Kommunismus ist keine schöne Idee, sondern eine materielle Notwendigkeit".

2) Marx und Engels präzisierten später, daß diese Aussage für die historischen Epochen gültig sind, die der Auflösung der Urgemeinde folgten, deren Existenz durch die enthnologische Forschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestätigt wurde, wie z.B. durch die Arbeiten Morgans über die nordamerikanischen Indianer.

3) Einige "Denker" der Bourgeoisie (wie im 19. Jahrhundert der französische Politiker Guizot, der unter der Herrschaft von Louis-Philippe Regierungschef war) gelangten ebenfalls zu dieser Aufassung.

4) Dies trifft auch auf die "klassischen" Nationalökonomen wie Smith und Ricardo zu, deren Arbeiten für die Entwicklung der marxistischen Theorie von besonderem Nutzen gewesen waren.

5) Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Cornelius Castoriadis, was ihm gebürt. Alle Voraussagen von Cornelius wurden von den Tatsachen widerlegt: hatte er nicht "vorausgesagt", daß der Kapitalismus nunmehr seine Wirtschaftskrisen überwunden habe (siehe namentlich seine Artikel über "Die Dynamik des Kapitalismus" Anfang der 60er in SOCIALISME OU BARBARIE)? Hatte er nicht 1981 der Welt angekündigt (siehe sein Buch Devant la guerre, auf dessen zweiten Teil, der für den Herbst 1981 angekündigt war, wir noch immer warten), daß die UdSSR endgültig den "Kalten Krieg" gewonnen habe ("massives Ungleichgewicht zugunsten Rußlands", "ein für die USA uneinholbarer Vorsprung")? Solche Äußerungen waren freilich willkommen in einer Zeit, als Reagan und die CIA uns alles Mögliche über das Reich des Bösen erzählten. Dies hinderte die Medien nicht daran, ihm um seine Expertenmeinung über die großen Ereignisse unserer Epoche zu bitten: trotz seiner Sammlung von Schnitzern blieb die Bourgeoisie ihm dankbar für seine Überzeugungen und seine durchschlagenden Argumente gegen den Marxismus; Überzeugungen, die die Wurzel all seiner chronischen Fehlschläge sind.

6) Es stimmt, daß in vielen Ländern diese Merkmale teilweise mit der Zugehörigkeit zu einer Klasse übereinstimmen. So rekrutiert in vielen Ländern der Dritten Welt, besonders in Afrika, die herrschende Klasse die meisten ihrer Mitglieder aus dieser oder jener ethnischen Gruppe: dies bedeutet jedoch nicht, daß alle Mitglieder dieser ethnischen Gruppe Ausbeuter sind, ganz im Gegenteil. Auch sind in den USA die WASP (White Anglo-Saxon Protestants) in der Bourgeoisie am proportional stärksten vertreten. Dies hat aber nicht die Existenz einer schwarzen Bourgeoisie verhindern können (Colin Powell, US-Generalstabschef, ist Schwarzer), auch nicht, daß es eine große Masse von "armen Weißen" gibt, die sich des Elend erwehren müssen.

7) "Herr! Wir Arbeiter (...) sind gekommen, Herr, um Wahrheit und Schutz bei Dir zu suchen (...) Befiehl und schwöre, daß Du (unsere hauptsächlichsten Bedürfnisse) erfüllest - und Du wirst Rußland glücklich und glorreich machen, wirst Deinen Namen unseren Herzen und den Herzen der Nachkommen einprägen." Dies waren einige Worte, die die Petition der Arbeiter an den Zaren von Rußland richtete. Aber wir sollten auch erwähnen, daß die Resolution bekräftigte: "Die Grenze der Geduld ist da; für uns ist jener furchtbare Augenblick gekommen, wo der Tod besser ist, als die Fortdauer unerträglichster Qualen (...) kehrst Du Dich nicht an unser Flehen - so werden wir hier sterben, auf diesem Platze, vor Deinem Palast." (aus: Die russiche Revolution 1905, Leo Trotzki, Erster Teil, Der Blutsonntag)

8) Dieses Eigentum nimmt nicht, wie aus der Entwicklung des Staatskapitalismus, besonders in seiner stalinistischen Version, ersichtlich wird, zwangsläufig die Form eines individuellen, persönlichen (und zum Beispiel per Erbe übertragbaren) Eigentums an. Dies zeigte die Entwicklung des Staatskapitalismus insbesondere in seiner stalinistischen Gestalt. Die Kapitalistenklasse "besitzt" die Produktionsmittel (in dem Sinn, daß sie über sie verfügt, sie kontrolliert und von ihnen profitiert) immer mehr im Kollektiv, auch wenn die Produktionsmittel verstaatlicht sind.

9) Das Kleinbürgertum ist keine homogene Klasse. Es gibt verschiedene Varianten, die nicht sämtlichst materielle Produktionsmittel besitzen. So gehören beispielsweise die Schauspieler, die Schriftsteller, die Rechtsanwälte dieser gesellschaftlichen Kategorie an, ohne jedoch über besondere Werkzeuge zu verfügen. Ihre Produktionsmittel" wohnen einem Wissen oder einem "Talent" inne, das sie in ihre Arbeit einbringen.

10) Der Leibeigene war kein simpler "Gegenstand" für den Lehnherrn. Mit seiner Scholle verbunden, wurde er mit ihr verkauft (worin er dem Sklaven gleicht). Doch am Anfang gab es einen "Vertrag" zwischen dem Leibeigenen und dem Lehnherrn: Letzterer, der Waffen besaß, sicherte ihm Schutz zu und erhielt als Gegenleistung vom Leibeigenen Arbeit, die dieser auf den Ländereien des Lehnherrn (die Fronarbeit) ableistete, oder einen Teil seiner Ernte.

11) Siehe Der Kommunismus - kein schönes Ideal, sondern eine materielle Notwendigkeit, "Vom Urkommunismus zum utopischen Sozialismus", in: https://de.internationalism.org/kommunismus2 [16].

12) Siehe besonders unsere Broschüre "Die Dekadenz des Kapitalismus".

13) Zu diesem Thema siehe in dem Artikel: Der Kommunismus - kein schönes Ideal, sondern eine materielle Notwendigkeit, in: https://de.internationalism.org/kommunismus2 [16], die Art und Weise, wie die Überproduktionskrise das Scheitern des Kapitalismus zum Ausdruck bringt.

14) Siehe zu diesem Thema Der Kommunismus - kein schönes Ideal, sondern eine materielle Notwendigkeit, in: https://de.internationalism.org/kommunismus2 [16].

15) Owen selbst war ursprünglich ein großer Textilfabrikbesitzer, der viele Versuche sowohl in Amerika als auch in Großbritannien unternommen hatte, um ideale Gemeinschaften aufzubauen, die alle an den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus zerschellten. Er leistete dennoch einen wichtigen Beitrag zur Entfaltung der Gewerkschaften. Die französischen Utopisten waren weniger erfolgreich mit ihren Unternehmungen. Jahrelang wartete Fourier vergeblich in seinem Büro auf einen Mäzen zur Finanzierung seiner idealen Stadt, und die Versuche seiner Schüler (besonders in den Vereinigten Staaten), "Phalansterien" zu errichten, endeten alle in einem wirtschaftlichen Fiasko. Was die Dktrin von Saint-Simon anbetrifft - wenn sie erfolgreich waren, dann als Credo für eine Reihe von Männern der Bourgeoisie, wie die Péreire-Brüder, Gründer einer Bank, oder Ferdinand Lesseps, dem Konstrukteur des Suezkanals.

16) Es gibt ein Agrarproletariat, dessen einziges Existenzmittel darin besteht, seine Arbeitskraft den Landbesitzern gegen Lohn zu verkaufen. Dieser Teil der Bauernschaft gehört zur Arbeiterklasse und wird im Moment der Revolution ihren Brückenkopf auf dem Lande bilden. Da er jedoch seine Ausbeutung als Folge von "Pech" erlebt, durch das ihm die Erbschaft eines Landstücks vorenthalten wurde oder ihm ein zu kleines Stück Land zugeteilt wurde, neigt der Landarbeiter, der oft nur Saisonarbeiter oder Knecht in einem Familienbetrieb ist, meistens dazu, vom Eigentumserwerb und von einer besseren Landaufteilung zu träumen. Nur der Kampf des städtischen Proletariats in einem fortgeschrittenen Stadium erlaubt es ihm,  sich von diese Trugbildern abzuwenden, indem ihm die Vergesellschaftung des Bodens zusammen mit den anderen Produktionsmittel geboten wird.

17) Das heißt nicht, daß in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus die Sammlung von kleinen Landeigentümern in Genossenschaften nicht einen Schritt in Richtung einer Vergesellschaftung des Landes bedeuten kann, insbesondere weil ihnen ermöglicht wird, den Individualismus zu überwinden, der aus ihren Arbeitsbedingungen resultiert.

18) Was auf die Bauern zutrifft, trifft noch mehr auf die Handwerker zu, deren Stellung in der Gesellschaft noch weitaus radikaler reduziert wurde als die der Bauern. Was die Freiberufler (private Ärzte, Rechtsanwälte usw.) angeht, so ermuntert deren Status und ihr Einkommen (auf die die Bourgeoisie oft voller Neid blickt)sie keineswegs dazu, die herrschende Ordnung in Frage zu stellen. Und was die Studenten betrifft, die noch keinen Platz in der Wirtschaft haben, so besteht ihr Schicksal darin, sich zwischen den verschiedenen Klassen aufzuspalten, je nach ihrer Qualifikation und Herkunft.

19) Mit Anbruch der Entwicklung der Arbeiterklasse richteten einige ihrer Teile, nachdem sie durch die Einführung neuer Maschinen arbeitslos geworden waren, ihre Revolte gegen die Maschinen selbst und zerstörten sie. Dieser Versuch, in die Vergangenheit zurückzukehren, war nur eine embryonale Form des Klassenkampfes, die schnell durch die wirtschaftliche und politische Entwicklung der Arbeiterklasse überwunden wurde.


Quell-URL: https://de.internationalism.org/arkl [17]

Theorie und Praxis: 

  • Die Russische Revolution [18]

Die Russische Revolution 1917 – die erste bewusste und massive Revolution der Geschichte

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Der Kampf der Arbeiterklasse und die kommunistische Revolution sind heute Begriffe, die viele heute als alte Kamellen abtun, deren Unrichtigkeit die historische Erfahrung gezeigt habe. Der Zusammenbruch der staatskapitalistischen Regimes in der UdSSR und im gesamten ehemaligen Ostblock im Wirbelsturm der Weltwirtschaftskrise bot all den Verleumdern der russischen Revolution von 1917 eine Gelegenheit, all die alten, jahrzehntelang kolportierten Lügen über dieses geschichtliche Ereignis erneut aufzuwärmen. Unter ihnen die Lüge, die die Machtergreifung durch die Arbeiterklasse in Rußland als einen vulgären Staatsstreich darstellte, als eine Manipulierung der rückständigen Massen des zaristischen Rußland durch die bolschewistische Partei. Wir sind schon in etlichen Texten auf den Charakter der Revolution und auf die kapitalistische Konterrevolution in Rußland eingegangen.(1) In dieser Reihe, die wir mit diesem Artikel einleiten, wollen wir einige grundlegende Aspekte in den Erfahrungen des Proletariats und der revolutionären Organisationen wieder aufgreifen und vertiefen. Wir wollen in dieser Ausgabe zunächst hervorheben, daß die Russische Revolution von 1917 vor allem das kollektive Werk der Arbeiterklasse im Rahmen einer internationalen Welle von Aufständen der Arbeiterklasse gegen den Krieg und das kapitalistische System war; eine Erfahrung, die trotz aller Beschränkungen voller Errungenschaften bleibt, um die Fähigkeit der Arbeiterklasse zu begreifen, ihr Schicksal als Klasse in die eigenen Hände zu nehmen. In weiteren Artikeln werden wir auf die Rolle der Bolschewiki in den Ereignissen und schließlich auf die Ursachen der Niederlage und des Triumphes der kapitalistischen Konterrevolution in Rußland zurückkommen.

„Die Russische Revolution von 1917 war vor allem dies: eine grandiose Tat der ausgebeuteten Massen, die versuchte, die bürgerliche Ordnung zu zerstören, die sie auf den Zustand von Lasttieren für die Wirtschaftsmaschinerie und von Kanonenfutter im Krieg zwischen den kapitalistischen Mächten reduziert hatte. Eine Tat, mit der es Millionen von Proletariern, indem sie all die anderen ausgebeuteten Gesellschaftsschichten hinter sich zogen, gelang, ihre Atomisierung zu überwinden, sich bewußt zu vereinigen und die Mittel zu geben, kollektiv als eine einzige Kraft zu handeln. Eine Tat, um ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, um mit dem Aufbau einer anderen Gesellschaft zu beginnen, einer Gesellschaft ohne Ausbeutung, ohne Kriege, ohne Nationen, ohne Elend: eine kommunistische Gesellschaft.“ (INTERNATIONALE REVUE, Nr. 51, "Vor 70 Jahren: die Russische Revolution", engl., franz., span. Ausgabe)

 

Die Russische Revolution: Speerspitze der internationalen Antikriegsbewegung des Proletariats

1914 stürzten Regierungs"vertreter", Könige, Politiker und Militärs, allesamt Vertreter eines Gesellschaftssystems, das in seine Dekadenzperiode eingetreten war, die Menschheit in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs: mehr als zwanzig Millionen Tote, Zerstörungen bislang ungekannten Ausmaßes, Lebensmittelrationierungen, Versorgungslücken und Hunger in der Etappe; Tod, die Grausamkeit der militärischen Disziplin, grenzenloses Leid an der Front. Ganz Europa versank in Chaos und Barbarei, in der Zerstörung von Industrien, Gebäuden, Kulturdenkmälern...

Nachdem es sich zunächst vom patriotischen Gift und "demokratischen" Schwindel der Regierungen, gestützt auf den Verrat der Mehrheit der sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften, hat verführen lassen, begann das internationale Proletariat Ende 1915 auf die Barbarei des Krieges zu reagieren. In Rußland, Deutschland, Österreich, etc. brachen Streiks, Hungerrevolten, Antikriegsdemonstrationen aus. An der Front kam es, vor allem in den russischen und deutschen Armeen, zu Meutereien, kollektiven Desertionen, Verbrüderungen zwischen den Soldaten beider Seiten.

An der Spitze der Bewegung standen die Internationalisten - die Bolschewiki, die Spartakisten, die gesamte Linke der Zweiten Internationalen, die seit seinem Ausbruch im August 1914 den Krieg kompromißlos als einen imperialistischen Raubkrieg, als Manifestation des Zusammenbruchs des Weltkapitalismus und Signal für das Proletariat angeprangert haben, seine historische Aufgabe zu erfüllen: die internationale sozialistische Revolution.

Die Avantgarde dieser internationalen Bewegung, die den Krieg beenden und die Möglichkeit der Weltrevolution öffnen sollte, bildeten die russischen Arbeiter, die Ende 1915 mit ökonomischen Streiks begannen, die brutal niedergeschlagen wurden. Doch die Bewegung wurde größer: den 9. Januar 1916, Jahrestag der Revolution von 1905, begingen die Arbeiter mit Massenstreiks. Das ganze Jahr hindurch brachen neue Streiks aus, begleitet von Versammlungen, Diskussionen, Forderungen und Konfrontationen mit der Polizei.

"Gegen Ende 1916 steigen die Preise sprunghaft. Zu Inflation und Transportzerrüttung gesellt sich direkter Warenmangel. Der Verbrauch der Bevölkerung vermindert sich zu dieser Zeit um mehr als die Hälfte. Die Kurve der Arbeiterbewegung steigt schroff nach oben. Mit dem Oktober tritt die Bewegung in Petrograd in das entscheidende Stadium ein und vereinigt alle Arten der Unzufriedenheit: Petrograd nimmt den Anlauf zur Februarrevolution. Eine Versammlungswelle rollte durch die Betriebe. Die Themen sind: Ernährung, Teuerung, Krieg, Regierung. Es werden bolschewistische Flugblätter verteilt. Politische Streiks beginnen. Nach dem Verlassen der Betriebe finden improvisierte Demonstrationen statt. Es werden Fälle von Verbrüderung einzelner Betriebe mit Soldaten beobachtet. Ein stürmischer Proteststreik entbrennt gegen das Gericht über die revolutionären Matrosen der baltischen Flotte (...) Die Proletarier fühlen, daß es keinen Rückzug mehr gibt. In jedem Betrieb entsteht ein aktiver Kern, am häufigsten um die Bolschewiki. Streiks und Meetings finden während der ersten Februarwochen ununterbrochen statt. Am 8. Februar wurden Polizisten im Putilowwerk mit einem Hagel von Eisenstücken und Schlackenöl empfangen (...) Am 19. sammelte sich vor den Lebensmittelgeschäften viel Volk, besonders Frauen, an, alle forderten Brot. Tags darauf wurden in einigen Stadtteilen Bäckerläden geplündert. Das war bereits das Wetterleuchten des Aufstands, der wenige Tage später ausbrach." (Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, ‚Proletariat und Bauernschaft’)

 

Eine Massenbewegung

Dies waren die aufeinanderfolgenden Etappen eines gesellschaftlichen Prozesses, den heute viele Arbeiter als eine Utopie betrachten: die Umwandlung der Arbeiter von einer atomisierten, apathischen, gespaltenen Masse zu einer vereinten Klasse, die als ein Körper handelte und so fähig war, einen revolutionären Kampf in Gang zu bringen, wie das in den fünf Tagen vom 22. bis zum 27. Februar 1917 deutlich wurde. "Die Arbeiter erschienen morgens in den Betrieben, gehen jedoch nicht an die Arbeit, sondern veranstalten Versammlungen und bilden Züge, die in das Stadtzentrum marschieren. Neue Stadtbezirke und neue Gruppen der Bevölkerung werden in die Bevölkerung einbezogen. Die Parole 'Brot' wird verdrängt und überdeckt von den Parolen 'Nieder mit dem Selbstherrschertum', 'Nieder mit dem Krieg'. Ununterbrochene Demonstrationen auf dem Newski-Prospekt. Die Masse will nicht mehr weichen, sie widersetzt sich mit optimistischer Wut, bleibt auf den Straßen auch nach den tödlichen Salven (...) 'Schieße nicht auf deine Brüder und Schwestern!', rufen die Arbeiter und Arbeiterinnen, und nicht nur das: 'Geh mit uns!'. So spielt sich auf den Straßen und Plätzen, an den Brücken, an den Toren der Kasernen ein ununterbrochener, bald dramatischer, bald unsichtbarer, aber immer verzweifelterer Kampf ab um die Seele des Soldaten (...) Die Arbeiter ergeben sich nicht, weichen nicht zurück, unter dem Hagel des Bleies wollen sie das Ihrige erringen. Arbeiterinnen, Frauen, Mütter, Schwestern, Geliebte sind mit ihnen. Das ist ja nun die Stunde, von der man so oft flüsternd in verborgenen Winkeln sprach: 'Ja, wenn doch alle gemeinsam...'." (Trotzki, ebenda, "Fünf Tage").

Die herrschenden Klassen wollten es nicht glauben; sie dachten, daß es sich um eine Revolte handelte, die mit einer harten Bestrafung aus der Welt geschafft werden könne. Als die terroristischen Aktionen der kleinen Elitekorps, die von den Militärs geschickt wurden, in einem totalen Fiasko endeten, wurde deutlich, wie tief die Bewegung verwurzelt war. "Die Revolution schien schutzlos gegenüber diesen Militärs zu sein, weil sie noch sehr chaotisch verlief (...) Aber dies war eine falsche Auffassung. Es war nur ein scheinbares Chaos. Darunter entfaltete sich eine unwiderstehliche Kristallisierung der Massen um neue Schwerpunkte." (Trotzki, ebd.)

Als die ersten Glieder der Kette gebrochen waren, wollten die Arbeiter nicht mehr klein beigeben, und um nicht im Dunkeln vorwärtszutappen, griffen sie die Erfahrung von 1905 wieder auf, indem sie die Sowjets schufen, die Einheitsorgane der gesamten im Kampf befindlichen Klasse. Die Sowjets wurden sofort von den Parteien der Menschewiki und Sozialrevolutionäre in Beschlag genommen, alte Arbeiterparteien, die mit ihrer Teilnahme am Krieg in das Lager der Bourgeoisie übergewechselt waren, und gestatteten die Bildung einer provisorischen Regierung, die sich aus "herausragenden Persönlichkeiten" Rußlands zu dieser Zeit zusammensetzte: Miljukow, Rodsianow, Kerenski.

Die Hauptobsession der Regierung war es, die Arbeiter zu überzeugen, daß sie zur "Normalität zurückkehren", von ihren "Träumen ablassen" und zu einer unterwürfigen, passiven und atomisierten Masse werden sollten, die die Bourgeoisie benötigte, um ihre Geschäfte aufrechtzuerhalten und den Krieg fortzusetzen. Die Arbeiter und Arbeiterinnen lenkten nicht ein. Sie wollten leben und eine neue Politik entwickeln: eine, die sie alle selbst praktizierten, indem sie den Kampf um ihre unmittelbaren Interessen mit dem Kampf um die allgemeinen Interessen verbanden. So forderten die Arbeiter - gegen das Beharren der Bourgeois, der Menschewiki und Sozialrevolutionäre, daß es wichtig sei, zu arbeiten und nicht zu fordern, schließlich habe man jetzt politische Freiheiten - den Achtstunden-Arbeitstag, um die "Freiheit" zu haben, sich zu versammeln, zu diskutieren, zu lesen, mit seinesgleichen zusammenzusein: "Indes wälzte nach dem Sturz der Selbstherrschaft eine Woge stürmischer Streiks heran. Es gab kein Werk und keine Fabrik, wo nicht sofort und mit einem Mal, ohne auf Zustimmung von oben zu warten, die anstehenden ökonomischen Forderungen - Erhöhung des Lohnes, Kürzung des Arbeitstags usw. - vorgetragen worden wären. Die ökonomischen Konflikte nahmen quantitativ mit jedem Tag zu und wurden im Rahmen des sich entfaltenden Kampfes immer umfassender." (A. Pankratowa, Die Fabrikkomitees in Rußland, S. 170)

Am 18. April veröffentlichte Miljukow, Minister der liberalen Kadetten in der Provisorischen Regierung, eine provokatorische Note, in der er die Verpflichtung Rußlands gegenüber den Alliierten bei der Fortsetzung des imperialistischen Krieges erneut bekräftigte. Die Arbeiter und Soldaten reagierten sofort: es gab spontane Demonstrationen, man hielt Massenversammlungen in den Arbeitervierteln, den Kasernen und Fabriken ab. „Die in der Stadt entstandene Erregung ging jedoch nicht in ihre Ufer zurück. Es versammelten sich die Massen. Meetings wurden abgehalten, an den Straßenkreuzungen gab es Diskussionen, in den Trams teilte man sich in Anhänger und Gegner Miljukows (...) Die Erregung war nicht auf Petrograd beschränkt, in Moskau ließen die Arbeiter ihre Maschinen stehen und die Arbeiter verließen die Kasernen, mit ihren tumultartigen Protesten zogen sie auf die Straße.“ (Trotzki, ebenda, S. 290)

Am 20. April erzwang eine riesige Demonstration Miljukows Rücktritt. Die Bourgeoisie mußte von ihren Kriegsplänen abrücken. Der Mai war von hektischen organisatorischen Aktivitäten geprägt. Es gab weniger Streiks und Demonstrationen, was keineswegs auf einen Rückfluß der Bewegung hindeutete, sondern im Gegenteil ihren Fortschritt und ihre Weiterentwicklung demonstrierte, denn die Arbeiter widmeten sich einem bis dahin wenig entwickelten Aspekt ihres Kampfes: ihren Massenorganisationen. Die Sowjets entstanden in den entferntesten Winkeln Rußlands, und gleichzeitig entstand eine Vielfalt von Massenorganen: Fabrikkomitees, Bauernsowjets, Bezirksssowjets, Soldatenkomitees. Durch und in sie sammelten sich die Massen, diskutierten, dachten und entschieden sie gemeinsam. Im Umgang mit ihnen wachten auch die am weitesten zurückgebliebenen Arbeitergruppierungen auf. “Die Dienstboten, die man gewohnt war, wie Tiere zu behandeln und mit einem Bettelpfennig zu entlohnen, begannen aufsässig zu werden. Ein Paar Schuhe kostete über 100 Rubel, und da die Löhne in der Regel nicht mehr als 35 Rubel im Monat betrugen, weigerten sich die Dienstboten, um Lebensmittel anzustehen und dabei ihr Schuhzeug zu verderben (...)  Die Droschkenkutscher hatten einen Verband, sie waren auch im Petrograder Sowjet vertreten.“ (J. Reed, 10 Tage, die die Welt erschütterten, Kap. I: "Hintergrund")

Die Arbeiter und Soldaten begannen der endlosen Versprechen der Provisorischen Regierung und ihrer menschewistischen und sozialrevolutionären Unterstützer überdrüssig zu werden. Sie sahen, daß die Versorgung sich immer schwieriger gestaltete, daß Arbeitslosigkeit und Hunger zunahmen. Sie sahen, daß alles, was ihnen in puncto Krieg und Landfrage angeboten wurden, hohle Phrasen waren. Sie hatten genug von der bürgerlichen Politik und begannen die letzten Konsequenzen ihrer eigenen Politik zu erahnen. Die Forderung "Alle Macht den Sowjets" verwandelte sich in ein Streben der breiten Arbeitermassen.(2)

Der Juni war ein Monat von intensiver politischer Agitation, die am 4. und 5. Juli in den bewaffneten Demonstrationen der Arbeiter und Soldaten von Petrograd kulminierte. „In den Vordergrund sind die Betriebe gerückt. Der Bewegung haben sich auch jene Fabriken angeschlossen, die gestern abseits gestanden. Wo die Leitung schwankt oder sich widersetzt, zwingt die Arbeiterjugend das wachdiensthabende Mitglied des Fabrikkomitees, zum Zeichen der Arbeitseinstellung die Fabriksirene heulen zu lassen (...) Es streikten sämtliche Betriebe, Meetings fanden statt. Man wählte Demonstrationsführer und Delegierte zur Überreichung der Forderungen an das Exekutivkomitee (...) Aus Kronstadt, aus Nowyj Peterhof, aus Krassnoje Selo, aus dem Fort Krassnaja Gorka, aus der gesamten näheren Peripherie, zu Wasser und zu Lande bewegen sich Matrosen und Soldaten mit Musikorchester, Gewehren, und was das Schlimmste ist, mit bolschewistischen Plakaten.“ (Trotzki, ebenda, "Die 'Julitage': Kulminationspunkt und Zertrümmerung").

Doch der Juli endete mit einem bitteren Fiasko für die Arbeiter. Die Situation war noch nicht reif für die Machtergreifung, da sich die Soldaten nicht völlig mit den Arbeitern solidarisierten; die Bauern waren voller Illusionen über die Sozialrevolutionäre, und die Bewegung in den Provinzen war im Verhältnis zur Hauptstadt zurückgeblieben.

In den folgenden beiden Monaten - August und September - gingen die Arbeiter, angespornt von ihrer Verbitterung über die Niederlage und durch die Repression der Bourgeoisie, dazu über, diese Hindernisse praktisch zu lösen, nicht durch einen ausgearbeiteten Plan, sondern durch ein "Meer von Initiativen", durch Kämpfe und Diskussionen in den Sowjets, die sich im Bewußtwerden der Klasse verwirklichten. Auf diese Weise verschmolzen die Aktionen der Arbeiter und Soldaten vollständig miteinander: „... kam das Phänomen der ‚Osmose‘ auf, insbesondere in Petrograd. Als die Agitation vom Wyborger Bezirk Besitz ergriff, gerieten die Regimenter der Hauptstadt in Aufruhr und umgekehrt. Für die Arbeiter und Soldaten wurde es zur Gewohnheit, auf die Straße zu gehen, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Die Straße gehörte ihnen. Keine Kraft, keine Macht hätte ihnen in diesem Moment untersagen können, ihre Forderungen zu vertreten oder aus voller Lunge ihre revolutionäre Hymnen zu singen.“ (G. Soria, Los 300 dias de la Revolucion Rusa, 4. Kap.: "Una era de crisis")

Nach der Niederlage im Juli glaubte die Bourgeoisie, dem Alptraum ein Ende bereiten zu können. Daher ließ sie im Rahmen der Aufgabenteilung zwischen Kerenskis "demokratischem" Block und dem offen reaktionären Block Kornilows, Oberbefehlshaber der russischen Armee, Letzteren einen Militärputsch organisieren, für den er die Regimenter der Kosaken, der Kaukasier, etc. hinter sich scharte, die der bürgerlichen Macht noch treu ergeben erschienen und die er gegen Petrograd zu mobilisieren versuchte.

Doch der Versuch scheiterte krachend. Die massive Reaktion von Arbeitern und Soldaten, straff organisiert vom Komitee zur Verteidigung der Revolution - das unter der Kontrolle des Petrograder Sowjets später in das revolutionäre Militärkomitee, Organ des Oktoberaufstands, umgewandelt wurde - bewirkte, daß die Truppen Kornilows entweder lahmgelegt wurden und sich ergaben oder desertierten, um sich den Arbeitern und Soldaten anzuschließen, wie es in der Mehrzahl der Fälle geschah.

„Die Verschwörung wurde von jenen Kreisen geleitet, die nicht gewohnt und außerstande waren, ohne die unteren Schichten etwas zu tun, ohne Arbeitskraft, ohne Kanonenfutter, ohne Offiziersburschen, Dienstboten, Schreiber, Chauffeure, Gepäckträger, Köchinnen, Waschfrauen, Weichensteller, Telegraphisten, Pferdeknechte, Kutscher. Indes, alle diese kleinen menschlichen Schrauben, diese unmerklichen, zahllosen, unentbehrlichen, standen auf der Seite der Sowjets und gegen Kornilow. Die Revolution war allgegenwärtig. Sie drang überall hin, die Verschwörung überziehend. Sie hatte überall ihr Auge, ihr Ohr, ihren Arm.
Das Ideal der militärischen Erziehung bestand darin, daß der Soldat hinter dem Rücken des Vorgesetzten so handele wie vor dessen Augen. Indes erfaßten die russischen Soldaten und Matrosen im Jahre 1917, während sie die offiziellen Befehle auch unter den Augen der Kommandatur unausgeführt ließen, gierig im Fluge die Befehle der Revolution und erfüllten sie noch häufiger aus eigener Initiative, ehe sie sie erreichten...
Es ging für sie nicht um die Verteidigung der Regierung, sondern um die Beschirmung der Revolution. Um so entschlossener und opfermutiger war ihr Kampf. Der Widerstand gegen die Meuterei erwuchs aus Schienen, Steinen, aus der Luft. Die Eisenbahner der Station Luga, wohin Krymow gekommen war, weigerten sich beharrlich, die Militärzüge abfahren zu lassen, mit dem Hinweis, es gäbe keine Lokomotiven. Die Kosakenstaffeln waren im Augenblick von bewaffneten Soldaten der 20.000 Mann starken Lugaer Garnison umringt: Ein kriegerischer Zusammenstoß fand nicht statt, doch etwas viel Gefährlicheres: ein Kontakt, eine Verbindung, ein gegenseitiges Durchdrungensein.“
(Trotzki, ebd., "Die Bourgeoisie mißt ihre Kräfte mit der Demokratie")

 

Eine bewußte Bewegung

Die Bourgeois betrachten Arbeiterrevolutionen als einen Akt des kollektiven Wahnsinn, als entsetzliches Chaos, das genauso entsetzlich ende. Die bürgerlicher Ideologie kann nicht zulassen, daß die Ausgebeuteten auf eigene Initiative handeln. Die kollektive Tat und Solidarität, die bewußte Tat der Mehrheit der Arbeiter sind Vorstellungen, die die Denkweise der Bourgeoisie als eine widernatürliche Utopie betrachtet (für die Bourgeoisie ist einzig der Krieg aller gegen alle und die Manipulation der großen Masse der Menschheit durch eine kleine Elite "natürlich").

„Blickt man auf die vergangenen Jahrhunderte, erscheint einem die Tatsache der Machtübernahme durch die Bourgeoisie hinlänglich gesetzmäßig: in allen früheren Revolutionen kämpften auf den Barrikaden Arbeiter, Handwerksgehilfen, zum Teil auch Studenten, Soldaten gingen zu ihnen über, die Macht aber nahm dann die solide Bourgeoisie an sich, die, unter Wahrung aller Vorsicht, den Barrikadenkampf von den Fenstern aus verfolgt hatte. Die Februarrevolution von 1917 jedoch unterscheidet sich von allen früheren Revolutionen durch einen unvergleichlich höheren Charakter und hohes politisches Niveau der revolutionären Klasse (...) demzufolge im Augenblick des Sieges ein neues revolutionäres Machtorgan erstand: der Sowjet, der sich auf die bewaffnete Gewalt der Massen stützte.“ (Trotzki, ebd., "Das Paradoxon der Februarrevolution")

Dieser völlig neue Charakter der Oktoberrevolution korrespondierte mit der Natur des Proletariats , das eine ausgebeutete und revolutionäre Klasse zugleich ist, die sich nur befreien kann, wenn sie gemeinsam und bewußt handelt.

Die Russische Revolution war nicht schlicht das passive Produkt von außerordentlichen objektiven Bedingungen. Sie war ebenso das Produkt einer Entwicklung des kollektiven Bewußtseins. Die Herausbildung von Lehren, von Denkprozessen, Schlachtrufen und Erinnerungen waren Teil einer Kontinuums der proletarischen Erfahrung, das die Pariser Kommune von 1871, die Revolution von 1905, die Kämpfe des Bundes der Kommunisten, der Ersten und Zweiten Internationalen, der Zimmerwalder Linken, der Spartakisten und der bolschewistischen Partei miteinander verband. Natürlich war die russische Revolution eine Antwort auf den Krieg, den Hunger und die Barbarei des todgeweihten Zarismus, aber sie war eine bewußte Antwort, geleitet von der historischen und globalen Kontinuität der proletarischen Bewegung.

Das äußerte sich konkret in den enormen Erfahrungen der russischen Arbeiter, die die großen Kämpfe von 1888, 1902, die Revolution von 1905 und die Schlachten von 1912-14 erlebt hatten und derem Schoß die bolschewistische Partei auf dem linken Flügel der Zweiten Internationale entsprungen war.

"... es war nicht die Masse an sich, sondern es war die Masse der Petrograder und der russischen Arbeiter im allgemeinen notwendig, die die Revolution von 1905 erlebt hatte und den Moskauer Dezemberaufstand von 1905 (...); es war notwendig, daß es in dieser Masse Arbeiter gegeben hat, die über die Erfahrung von 1905 nachgedacht, die konstitutionellen Illusionen der Liberalen und der Menschewiki kritisiert, die Perspektive der Revolution sich angeeignet, Dutzende Male das Problem der Armee überlegt...“ (Trotzki, ebenda, "Wer leitete den Februaraufstand?")

Mehr als 70 Jahre vor der Revolution von 1917 schrieben Marx und Engels, daß „also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Hals zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden“ (Deutsche Ideologie, MEW 3, Feuerbach, S. 70).

Die russische Revolution festigte diese Position: die Bewegung selbst brachte die Bedingungen für die Selbsterziehung der Massen mit sich:

„Eine Revolution lehrt und zwar schnell. Darin besteht ihre Kraft. Jede Woche brachte den Massen etwas Neues. Jeder zweite Monat schuf eine Epoche. Ende Februar - der Aufstand. Ende April - Auftreten bewaffneter Arbeiter und Soldaten in Petrograd! Anfang Juli - ein neues Auftreten in viel breiterem Maßstab und unter entschiedeneren Parolen. Ende August - der Kornilowsche Staatsstreichversuch, von den Massen zurückgeschlagen. Ende Oktober - Machteroberung durch die Bolschewiki. Unter diesen durch die Gesetzmäßigkeit ihrer Rhythmen verblüffenden Ereignissen vollzogen sich tiefe, molekulare Prozesse, die die verschiedenartigen Teile der Arbeiterklasse in ein politisches Ganzes verschmolzen.“ (Trotzki, ebenda, "Verschiebungen in den Massen")

„Ganz Rußland lernte lesen. Und es las - Politik, Ökonomie, Geschichte. Das Volk wollte WISSEN (...) Der Drang nach Wissen, solange unterdrückt, brach sich in der Revolution mit Ungestüm Bahn. Allein aus dem Smolny-Institut gingen in den ersten 6 Monaten täglich Tonnen, Wagenladungen Literatur ins Land. Rußland saugte den Lesestoff auf, unersättlich, wie heißer Sand das Wasser (...) Und dann das gesprochene Wort, neben dem Carlyles 'Flut der französischen Rede' wie ein armseliges Rinnsal anmutet: Vorlesungen, Debatten, Reden; in Theatern, Zirkussen, Schulen, Klubs, in den Sitzungen der Sowjets, der Gewerkschaften, in den Kasernen.. Versammlungen in den Schützengräben an der Front, auf den Dorfplätzen, in den Fabriken (...) Was für ein Anblick, die Arbeiter der Putilow-Werke, 40.000 Mann stark, herausströmen zu sehen, um die Sozialdemokraten zu hören, die Sozialrevolutionäre, die Anarchisten - wer immer etwas zu sagen hatte, so lange er reden wollte....In den Versammlungen wurde jeder Versuch, die Redezeit einzuschränken, abgelehnt. Jedermann hatte vollkommene Freiheit, auszusprechen, was er auf dem Herzen hatte..."  (J. Reed, ebd.).
Die "demokratische" Bourgeoisie spricht viel von der "Meinungsfreiheit", aber die Erfahrung zeigt uns, daß sie damit nur die Manipulationen, Theater und Gehirnwäsche meint: eine wirkliche Meinungsfreiheit kann das Proletariat nur durch seine eigenen revolutionären Taten erobern.

„In jeder Fabrik, in jeder Werkstatt, in jeder Kompanie, in jeder Teestube, im Lazarett, in der Etappe und sogar in dem entvölkerten Dorfe ging eine molekulare Arbeit des revolutionären Gedankens vor sich. Überall gab es Deuter der Ereignisse, hauptsächlich Arbeiter, die man ausfragte, was es Neues gäbe, und von denen man das nötige Wort erwartete (...) Ihr Klasseninstinkt war durch politisches Kriterium geschärft, und führten sie auch nicht immer ihre Ideen zu Ende, so arbeitete ihr Gedanke doch unablässig und beharrlich stets in der gleichen Richtung. Elemente der Kritik, der Initiative, der Selbstaufopferung durchdrangen die Masse und bildeten die innere, dem oberflächlichen Blick unerreichbare, aber nichtsdestoweniger entscheidende Mechanik der revolutionären Bewegung als eines bewußten Prozesses.“ (Trotzki, ebd., "Wer führte den Februaraufstand an?")

Dieses Nachdenken, diese Bewußtwerdung "legte all die materielle und moralische Ungerechtigkeit offen, die den Arbeitern angetan wird, die unmenschliche Ausbeutung, die miserablen Löhne, das System der feinspitzigen Bestrafungen und die Beleidigungen ihrer menschlichen Würde durch die Kapitalisten und die Bosse. Dieses Netzwerk ruinöser und schändlicher Bedingungen, unter denen sie die Arbeiter gefangenhalten, diese Hölle, die das tägliche Schicksal der Arbeiterklasse unter der Zwangsherrschaft des Kapitalismus ist“ (Rosa Luxemburg, In revolutionärer Stunde).

Aus demselben Grund stellte die russische Revolution eine ständige, untrennbare Einheit zwischen politischem und wirtschaftlichem Kampf dar: „Nach jeder schäumenden Welle der politischen Aktion bleibt ein befruchtender Niederschlag zurück, aus dem sofort tausendfältige Halme des ökonomischen Kampfes emporschießen. Und umgekehrt. Der unaufhörliche ökonomische Kriegszustand der Arbeit mit dem Kapital hält die Kampfenergie in allen politischen Pausen wach, er bildet sozusagen das ständige frische Reservoir der proletarischen Klassenkraft, aus dem der politische Kampf immer von neuem seine Macht hervorholt, und zugleich führt das unermüdliche ökonomische Bohren des Proletariats alle Augenblicke bald hier, bald dort zu einzelnen scharfen Konflikten, aus denen unversehens politische Konflikte auf großem Maßstab explodieren.“ (Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Bd. 2)

Diese Entwicklung des Bewußtseins führte die Arbeiter im Juni und Juli zur Überzeugung, daß sie ihre Energien nicht in tausend ökonomischen Teilkämpfen verschwenden und ihre Kämpfe auf den revolutionären politischen Kampf konzentrieren sollten. Dies hieß nicht, die Kämpfe um unmittelbare Forderungen zurückzuweisen, sondern im Gegenteil ihre politischen Konsequenzen aufzugreifen.
„Soldaten und Arbeiter glaubten, von der Entscheidung der Frage, wer weiter das Land regieren werde, die Bourgeoisie oder die eigenen Sowjets, hingen alle anderen Fragen ab: sowohl die des Arbeitslohns wie die des Brotpreises wie auch jene, ob man an der Front, unbekannt wofür, umzukommen habe.“ (Trotzki, ebenda, "Julitage: Vorbereitung und Beginn")

Die Entwicklung des Bewußtseins in der Arbeiterklasse erreichte mit dem Oktoberaufstand ihren Höhepunkt, dessen Atmosphäre Trotzki so großartig schilderte:

„Die Massen hatten das Bedürfnis, zusammenzuhalten, ein jeder wollte sich an den anderen überprüfen, und alle beobachteten immer aufmerksamer und gespannter, wie sich der gleiche Gedanke mit all seinen verschiedenen Schattierungen und Strichen in ihrem Bewußtsein wälzte. Endlose Mengen standen an Zirkussen und anderen großen Gebäuden herum, wo die populärsten Bolschewiki mit letzten Schlußfolgerungen und letzten Appellen auftraten (...) Doch unermeßlich wirksamer war in dieser letzten Periode vor der Umwälzung jene molekulare Agitation, die namenlose Arbeiter, Matrosen, Soldaten führten, Gesinnungsgenossen einzeln werbend, letzte Zweifel vernichtend, letzte Schwankungen überwindend. Die Monate fieberhaften politischen Lebens hatten zahlreiche untere Kader geschaffen, Hunderte und Tausende urwüchsiger Menschen erzogen, die gewohnt waren, die Politik von unten zu beobachten, nicht von oben (...) Die Masse duldete nun nicht mehr in ihrer Mitte Schwankende, Zweifelnde, Neutrale. Sie war bestrebt, alle zu erfassen, mitzureißen, zu überzeugen, zu gewinnen. Betriebe entsandten gemeinsam mit den Regimentern Delegierte an die Front. Die Schützengräben verbanden sich mit den Arbeitern und Bauern des benachbarten Hinterlandes. In den der Front nahegelegenen Städten fanden zahllose Meetings, Beratungen, Konferenzen statt, wo Soldaten und Matrosen ihre Handlungen in Übereinstimmung brachten mit denen der Arbeiter und Bauern.“ (Trotzki, ebd., "Austritt aus dem Vorparlament und Kampf um den Sowjetkongreß")
„Während die offizielle Gesellschaft, dieser ganze vielstöckige Überbau der herrschenden Kassen, Schichten, Gruppen, Parteien und Cliquen, tagein, tagaus in Trägheit und Automatismus lebte, sich die Zeit mit Resten abgenutzter Ideen vertrieb, taub gegen die unabwendbaren Forderungen der Entwicklung, sich von Gespenstervisionen blenden ließ und nichts voraussah, - vollzog sich in den Arbeitermassen ein selbständiger und tiefer Prozeß des Anwachsens nicht nur des Hasses gegen die Herrschenden, sondern auch der kritischen Erkenntnis von deren Ohnmacht, deren Anhäufung von Erfahrung und schöpferischer Einsicht, die mit dem revolutionären Aufstand und seinem Siege abschloß.“
(Trotzki, ebd., "Wer führte den Februaraufstand?")

 

Das Proletariat: die einzige revolutionäre Klasse

Während die bürgerliche Politik stets einer kleinen Minderheit zugute kommt, die die herrschende Klasse bildet, strebt die Politik des Proletariats keinen Sondervorteil, sondern das Wohlergehen der gesamten Menschheit an. "...die ausgebeutete und unterdrückte Klasse (das Proletariat) kann sich nicht mehr von der sie ausbeutenden und unterdrückenden Klasse (der Bourgeoisie) befreien, ohne zugleich die ganze Gesellschaft für immer von Ausbeutung, Unterdrückung und Klassenkämpfen zu befreien.“ (Engels, 1883, Vorwort zum Kommunistischen Manifest, MEW 4)

Der revolutionäre Kampf des Proletariats stellt die einzige Hoffnung auf die Befreiung aller ausgebeuteten Massen dar. Wie die Russische Revolution zeigte, konnten die Arbeiter die Soldaten (von denen die Mehrheit Bauern in Uniform waren) und die Landbevölkerung im allgemeinen für ihre Sache gewinnen. So bestätigte das Proletariat, daß die sozialistische Revolution nicht nur eine Antwort auf die Frage der Verteidigung seiner eigenen Interessen war, sondern auch der einzig mögliche Weg, dem Krieg und den gesellschaftlichen Verhältnissen der kapitalistischen Unterdrückung und der Ausbeutung im allgemeinen ein Ende zu bereiten.

Das Bestreben der Arbeiter, den anderen unterdrückten Klassen eine Perspektive zu geben, wurde von den Menschewiki und den Sozialrevolutionären geschickt manipuliert, die im Namen des Bündnisses zwischen Bauern und Soldaten versuchten, das Proletariat zu einem Verzicht auf seinen autonomen Klassenkampf und auf die sozialistische Revolution zu bewegen. Auf den ersten Blick erscheint dieser Gedanke überaus „logisch“: wenn wir andere Klassen für uns gewinnen wollen, ist es notwendig, daß wir uns mit unseren Forderungen zurückhalten, um den geringsten gemeinsamen Nenner zu finden, auf den wir uns einigen können.

Jedoch: „Die Mittelstände, der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann, der Handwerker, der Bauer, sie alle bekämpfen die Bourgeoisie, um ihre Existenz als Mittelstände vor dem Untergang zu sichern. Sie sind also nicht revolutionär, sondern konservativ. Noch mehr, sie sind reaktionär, sie suchen das Rad der Geschichte zurückzudrehen.“ (Kommunistische Manifest, MEW 4, S. 472)
In einem klassenübergreifenden Bündnis kann das Proletariat nur verlieren: es gewinnt die anderen unterdrückten Klassen nicht für sich, sondern treibt sie in die Arme des Kapitals und schwächt seine eigene Einheit sowie sein eigenes Bewußtsein auf entscheidende Weise. Es verteidigt nicht seine eigenen Forderungen, sondern verwässert und verleugnet sie. Es kommt auf dem Weg zum Sozialismus nicht voran, sondern bleibt im Sumpf des dekadenten Kapitalismus stecken und erstickt. Tatsächlich hilft es nicht einmal den Kleinbürgern oder den Bauern. Es trägt vielmehr dazu bei, diese auf dem Altar der Interessen des Kapitals zu opfern, weil "populäre" Forderungen ein Vorwand sind, den die Bourgeoisie benutzt, um ihre eigenen Interessen einzuschmuggeln. Im "Volk" werden nicht die Interessen der "arbeitenden Klassen" repräsentiert, sondern die ausbeuterischen, nationalen, imperialistischen Interessen der ganzen Bourgeoisie. „Das Bündnis zwischen Menschewiki und Sozialrevolutionären bedeutete unter diesen Umständen  nicht die Zusammenarbeit von Proletariat und Bauernschaft, sondern eine Koalition von Parteien, die zugunsten eines Blocks mit den besitzenden Klassen mit Proletariat und Bauernschaft gebrochen hatten.“ (Trotzki, ebd., "Das Exekutivkomitee")

Wenn das Proletariat die anderen nicht-ausbeutenden Schichten für seine Sache gewinnen will, muß es seine eigenen Forderungen, sein eigenes Dasein, seine Klassenautonomie noch klarer und lauter bekräftigen. Es muß die anderen nicht-ausbeutenden Schichten insofern gewinnen, als diese durchaus revolutionär sein können: „... sind sie revolutionär, so sind sie es im Hinblick auf den ihnen bevorstehenden Übergang ins Proletariat, so verteidigen sie nicht ihre gegenwärtigen, sondern ihre zukünftigen Interessen, so verlassen sie ihren eigenen Standpunkt, um sich auf den des Proletariats zu stellen.“ (Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 472).

Indem es seinen Kampf auf eine Beendigung des imperialistischen Krieges konzentrierte, indem es danach strebte, eine Perspektive für die Lösung der Agrarprobleme zu schaffen, indem es die Sowjets als Organisation für alle ausgebeuteten Klassen schuf und vor allem indem es dem Bankrott und dem Chaos der kapitalistischen Gesellschaft die Alternative einer neuen Gesellschaft entgegenstellte, nahm das Proletariat in Rußland den Platz der Vorhut aller ausgebeuteten Klassen ein. Es wußte, wie es ihnen eine Perspektive verschaffen konnte, um die herum sie sich vereinigen und wofür sie kämpfen konnten.

Das selbständige Auftreten des Proletariats isolierte es nicht gegenüber den anderen unterdrückten Schichten. Im Gegenteil, es erlaubte ihm, Letztere gegenüber dem bürgerlichen Staat zu isolieren. Angesichts der Auswirkungen der Kampagne der russischen Bourgeoisie über den "Egoismus" der Arbeiter mit ihrer Forderung nach dem Achtstunden-Arbeitstag auf die Soldaten "begriffen (die Arbeiter) die Gefahr und wandten sie geschickt ab. Es genügte ihnen, zu diesem Zwecke die Wahrheit zu erzählen, die Zahlen der Kriegsgewinne zu nennen, den Soldaten die Betriebe und Werkstätten mit ihrem Maschinenlärm, höllischen Flammen der Öfen zu zeigen - ihre ewige Front, an der sie ungezählte Opfer brachten. Auf Initiative der Arbeiter begannen regelmäßige Besuche der Betriebe durch Garnisonsteile, besonders jener Betriebe, die für die Landesverteidigung arbeiteten. Der Soldat sah und hörte, der Arbeiter zeigte und erklärte. Die Besuche endeten mit feierlichen Verbrüderungen.“ (Trotzki, ebenda, "Das Exekutivkomitee")

„Die Armee war unheilbar krank. Sie war noch dazu in der Lage, ein Wort bei der Revolution mitzureden, aber den Krieg fortführen, das konnte sie nicht mehr.“ (Trotzki, ebd., "Die Armee und der Krieg")

Die "unheilbare Krankheit" der Armee war das Produkt des autonomen Kampfes der Arbeiterklasse. Gleichermaßen entschlossen ging das Proletariat das Agrarproblem an, das der dekadente Kapitalismus  nicht zu lösen imstande war, ja sogar verschlimmerte: täglich strömten aus den Industriestädten Legionen von Agitatoren, Fabrikdelegationen und Sowjets aufs Land, um mit den Bauern zu diskutieren, um sie zum Kampf zu ermuntern, um die Landarbeiter und die armen Bauern zu organisieren. Die Sowjets und die Fabrikkomitees verfaßten zahlreiche Resolutionen, um ihre Solidarität mit den Bauern zu erklären, und schlugen konkrete Maßnahmen zur Lösung der Agrarfrage vor. "Die Petrograder Konferenz der Fabrikkomitees widmet ihre Aufmerksamkeit der Agrarfrage und arbeitet aufgrund eines Referats von Trotzki ein Manifest an die Bauern aus: das Proletariat fühlt sich nicht nur als besondere Klasse, sondern auch als Führer des Volkes.“ (Trotzki, ebd., "Austritt aus dem Vorparlament und Kampf um den Sowjetkongreß")

 

Die Sowjets

Während die bürgerliche Politik die Mehrheit als eine Masse betrachtet, die manipuliert werden muß, damit sie billigt, was von den staatlichen Behörden ausgebrütet wird, stellt sich die Arbeiterpolitik als das freie und bewußte Werk der großen Mehrheit der Arbeiter für ihre eigenen Interessen dar.

„Sowjets, Deputiertenräte oder Delegationen der Arbeiterversammlungen kamen spontan zum ersten Mal in Rußland im großen Massenstreik von 1905 auf. Sie gingen direkt aus Tausenden von Arbeiterversammlungen in den Fabriken und Arbeitervierteln hervor, die sich in der bedeutendsten Explosion in der Geschichte der Arbeiterbewegung vervielfacht hatten. Als ob sie den Kampf der Pariser Kommunarden von 1871 wieder aufgriffen und weiterführten, verallgemeinerten die russischen Arbeiter in der Praxis jene Organisationsform, die die Kommunarden nur andeuten konnten: souveräne Versammlungen, Zentralisierung durch gewählte und jederzeit abwählbare Delegierte.“ (REVOLUTION INTERNATIONALE, Zeitung der IKS in Frankreich, Nr. 190)

Seit dem Sturz des Zarismus durch das Proletariat bildeten sich in Petrograd, Moskau, Charkow, Helsingfors, in allen Industriestädten in Windeseile Sowjets von Arbeiterdelegierten, mit denen sich die Deputierten der Soldaten und später der Bauern vereinigten. Um die Sowjets bildeten das Proletariat und die ausgebeuteten Massen ein unendliches Netzwerk von Kampforganisationen, die auf den Versammlungen, der freien Diskussion und Entscheidung aller Ausgebeuteten basierten: Bezirkssowjets, Soldatenkomitees, Bauernkomitees... “Das Netzwerk von Arbeiter- und Soldräten, das ganz Rußland überzog, stellte das Rückgrad der Revolution dar. Dank ihrer Unterstützung breitete sich die Revolution wie ein Flächenbrand aus; immer wieder stießen die Reaktionen der Herrschenden auf ihren Widerstand.“  (O. Anweiler, Die Rätebewegung in Rußland 1905-1921, 3. Kapitel, 3. Teil).

Die bürgerliche "Demokratie" reduziert die "Teilnahme" der Massen auf die alle vier oder fünf Jahre stattfindende Wahl einer Person, die das Nötige für die herrschende Klasse tun wird; demgegenüber konstituieren die Sowjets die ständige und direkte Teilnahme der Arbeitermassen, die auf gigantischen Versammlungen gemeinsam diskutieren und über alle gesellschaftlich relevanten Fragen entscheiden. Die Delegierten werden gewählt und sind jederzeit abwählbar. Sie unterstützen den Kongreß mit festgelegten Mandaten.

Die bürgerliche "Demokratie" begreift diese "Teilnahme" im Sinne der Farce eines freien Individuums, das allein an der Wahlurne entscheidet. Im Grunde ist sie die Beweihräucherung der Atomisierung, des Individualismus, des Jeden-gegen-Jeden, ist sie die Camouflage der Klassenspaltung, was der ausbeutenden und in der Minderheit befindlichen Klasse zugute kommt. Die Sowjets dagegen stützen sich auf kollektive Diskussionen und Entschlüsse, in denen jeder die Tatkraft und die Stärke der Gesamtheit spüren kann und auf deren Grundlage jeder all seine Fähigkeiten entwickeln kann, was umgekehrt das Kollektiv verstärkt. Die Sowjets entstehen aus der autonomen Organisation der Arbeiterklasse, um von dieser Plattform aus für die Abschaffung der Klassen zu kämpfen.

Die Arbeiter, Soldaten und Bauern betrachteten die Sowjets als ihre Organisationen:

„Nicht nur die Arbeiter und Soldaten der großen Garnisone des Hinterlandes, sondern auch all das bunte Kleinvolk der Städte: Handwerker, Straßenverkäufer, kleine Beamte, Droschkenkutscher, Portiers, Hausangestellte aller Art mieden die provisorische Regierung mit deren Kanzleien und suchten eine nähere, zugänglichere Macht. In immer größrer Zahl kamen Bauernabgesandte ins Taurische Palais. Die Massen ergossen sich in den Sowjets wie in ein Triumphtor der Revolution. Alles, was außerhalb der Sowjets blieb, fiel von der Revolution gleichsam ab und schien einer anderen Welt zugehörig. So war es auch: außerhalb der Sowjets blieb die Welt der Besitzenden, in der sich jetzt alle Farben zu einem graurosa Schutzkolorit vermengten.“ (Trotzki, ebenda, "Die neue Macht")

Nichts konnte in Rußland ohne die Sowjets geschehen. Die Delegationen der Baltischen und Schwarzmeerflotte erklärten am 16. März, daß sie nur den Befehlen der Provisorischen Regierung Folge leisten würden, die im Einklang mit den Entscheidungen der Sowjets stünden. Das 172. Regiment drückte das noch schärfer aus: „Die Armee und die Bevölkerung sollten sich den Entscheidungen des Sowjets unterwerfen. Befehle der Regierung, die den Entscheidungen des Sowjets entgegenstehen, sollen nicht ausgeführt werden."  (ebd.)

Der Großkapitalist und Minister der Provisorischen Regierung, Gutschkow, erklärte: "... die Regierung verfügt leider über keine reale Macht, in den Händen des Sowjets sind Truppen, Eisenbahn, Post und Telegraph. Man kann geradezu sagen, die Provisorische Regierung existiert nur, solange der Sowjet es zulässt.“ (ebenda, S. 175)

Als eine Klasse, die die bewußte und revolutionäre Umwandlung der Welt anstrebt, benötigt die Arbeiterklasse ein Organ, das ihr erlaubt, all ihre Richtungen, all ihre Gedanken, all ihre Fähigkeiten zum Ausdruck zu bringen: ein äußerst dynamisches Organ, das jederzeit die Entwicklung und den Fortschritt der Massen kristallisiert; ein Organ, das nicht dem Bürokratismus und Konservatismus anheimfällt, das ihr erlaubt, alle Versuche zurückzuweisen und zu bekämpfen, der Mehrheit die Macht zu entreißen. Ein Arbeitsorgan, wo Angelegenheiten schnell und zügig, gleichzeitig aber auch kollektiv und bewußt entschieden werden, ein Organ, das allen erlaubt, sich an seiner Arbeit zu beteiligen.

„Sie wollten von keiner Theorie der Machtteilung etwas wissen und mischten sich in die Verwaltung der Armee ein, in Wirtschaftskonflikte, Ernährungs- und Transportfragen und sogar Gerichtsangelegenheiten. Unter dem Druck der Arbeiter dekretierten die Sowjets den 8-Stundentag, setzten übereifrige reaktionäre Administratoren ab, entließen die unerträglichsten Kommissare der Provisorischen Regierung, nahmen Verhaftungen und Hausdurchsuchungen vor, untersagten das Erscheinen feindlicher Zeitungen.“ (Trotzki, ebd., "Erste Koalition")

Wir haben gesehen, wie die Arbeiterklasse fähig war, sich selbst zu vereinigen, all ihre schöpferische Energie auszudrücken, in einer organisierten und bewußten Weise zu handeln und letzten Endes als eine revolutionäre Klasse in der Gesellschaft aufzutreten, deren Mission es ist, eine neue Gesellschaft ohne Klassen und ohne Staat aufzubauen. Aber dafür mußte die Arbeiterklasse die Macht der feindlichen Klasse, den bürgerlichen Staat, verkörpert durch die Provisorische Regierung, zerstören und ihre eigene Macht durchsetzen: die Macht der Sowjets.

Im zweiten Teil dieses Artikels wollen wir uns anschauen, wie die Arbeiterklasse sich gegen die Sabotage wehrte, die innerhalb der Sowjets von den alten, zur Bourgeoisie übergelaufenen sozialistischen Parteien begangen wurde - die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre -, wie sie die Sowjets von Kopf bis Fuß erneuerte, um sie für die Machtübernahme vorzubereiten. Und wir wollen die Rolle der bolschewistischen Partei und, als Höhepunkt, den Aufstand im Oktober 1917, betrachten.

Adalen

 

(1) In Kontinuität mit den Beiträgen diesen linkskommunistischen Strömungen, die uns vorausgingen (namentlich BILAN und INTERNATIONALISME), haben wir die Broschüre "Oktober 1917 - Beginn der Weltrevolution", die sich der Oktoberrevolution und den Gründen ihrer Degeneration gewidmet, und in der INTERNATIONALEN REVUE (engl., franz., span. Ausgabe) folgende Artikel veröffentlicht:
"Die Degeneration der Russischen Revolution" (Nr. 3),
"Lehren aus Kronstadt" (Nr. 3),
"Die kommunistische Linke in Rußland" (Nr. 9, 10);
"In Verteidigung des proletarischen Charakters der Oktoberrevolution" (Nr. 12, 13);
"Partei und Räte" (Nr. 17),
"Rußland 1917 und Spanien 1936" (Nr. 25),
"Polemik über 'Lenin als Philosoph'" (Nr. 25-31 oder auf Deutsch: https://de.internationalism.org/internationalerevue/politik-und-philosop... [19]),
Artikel, die sich mit der Anprangerung des kapitalistischen Charakters der stalinistischen Regimes befaßt (Nr. 11, 12, 23, 34),
die "Thesen über die wirtschaftliche und politische Krise der osteuropäischen Länder" (Nr. 60),
"Die russische Erfahrung: Privateigentum und Kollektiveigentum" (Nr. 61).

(2) Zwei Monate zuvor, im April, als Lenin  diesen Schlachtruf in seinen berühmten Thesen formulierte, wurde er auch von vielen in der bolschewistischen Partei als eine utopische Abstraktion abgelehnt.

(3) Wir haben im Rahmen dieses Artikels keinen Platz, um zu erörtern, ob die Lösung, die die Bolschewiki und die Sowjets in der Agrarfrage anboten - die Aufteilung des Bodens -, richtig war. Die Erfahrung bewies - wie Rosa Luxemburg sagte - das Gegenteil. Aber das sollte uns nicht vom Kernpunkt ablenken: daß das Proletariat und die Bolschewiki massiv auf eine Lösung drängten, die sich auf die Macht der Arbeiterklasse und den Kampf für die sozialistische Revolution stützte.

Quell-URL: https://de.internationalism.org/revue14/1993_russischerevolution [20]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1917 - Russische Revolution [21]

Theoretische Fragen: 

  • Arbeiterklasse [22]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarische Revolution [23]

Internationale Revue - 1994

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Internationale Revue 15

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Wer kann die Welt verändern? Das Proletariat ist die revolutionäre Klasse (Teil 2)

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Im ersten Teil dieses Artikels haben wir die Gründe aufgezeigt, weshalb das Proletariat die revolutionäre Klasse in der kapitali­stischen Gesellschaft ist. Wir haben gesehen, dass es die einzige Kraft ist, die fähig ist, eine neue Gesell­schaft zu kreieren, die sich der Ausbeutung entledigt hat und die in der Lage ist, die Bedürfnisse der Menschheit vollauf zu befriedigen und die "unlösbaren" Widersprüche aufzulösen, die die heutige Welt zu­grunderichten. Diese Fähigkeit des Proleta­riats, die der Marxismus schon im letzten Jahrhundert her­vorgehoben hatte, rührt nicht einfach aus dem Ausmaß des Elends und der Unterdrückung her, denen es tagtäg­lich ausgesetzt ist. Sie beruht noch weniger auf irgendeiner "göttlichen Einge­bung", die das Proletariat zum "Messias der heutigen Zeit" macht, so wie das ei­nige bürgerliche Ideologen dem Marxismus unter­stellen. Diese Fähigkeit beruht vielmehr auf den sehr konkreten und materiellen Bedingungen: die spezifische Stellung, die diese Klasse in den kapitalistischen Produktionsver­hältnissen einnimmt, ihren Status als kollektiver Produzent des Großteils der gesellschaftlichen Reichtümer und als ausgebeutete Klasse in­nerhalb derselben Produktionsver­hältnisse. Diese Stellung im Kapitalismus erlaubt es ihr nicht, im Gegensatz zu anderen ausgebeuteten Klassen und Schichten, die in der Gesellschaft überlebt haben (z.B. die Klein­bauern), auf eine Rückkehr in die Vergan­genheit zu hoffen. Sie ist im Gegenteil gezwungen, sich der Zu­kunft zuzuwenden, der Abschaffung der Lohnarbeit und dem Aufbau einer kommunisti­schen Gesellschaft.


Alle diese Elemente sind nichts Neues: sie sind alle Bestandteil des klassischen Erbgutes des Marxismus. Eines der hinterhäl­tigsten Mittel jedoch, mit denen die bürgerliche Ideologie die Arbeiterklasse von ihrem kom­munistischen Projekt abzubrin­gen versucht, ist, ihr einzure­den, dass sie dabei sei, ihrem Verschwinden entgegenzugehen, oder gar schon jetzt nicht mehr existiere. Die revolu­tionäre Perspektive habe Sinn gemacht, als die Industriearbeiter eine überwältigende Mehrheit der Lohnempfän­ger ausmachten. Doch mit der aktuellen Schrumpfung dieser Kategorie ver­schwinde auch eine solche Perspek­tive. Man muss übrigens festhalten, dass dieses Gerede nicht nur auf die weniger bewus­sten Arbei­ter einen Einfluss ausübt, sondern auch auf gewisse Gruppen, die sich auf den Kommu­nismus berufen. Dies ist ein zusätzlicher Grund, solch ein Geschwätz entschieden zu bekämpfen.

 

Das angebliche Verschwinden der Arbeiterklasse

Die bürgerlichen "Theorien" vom "Verschwinden des Proletariats" haben eine lange Vorgeschichte.  Jahrzehntelang stützten sie sich dabei auf die Tatsache, dass sich der Lebensstan­dard der Arbeiter in einem gewissen Maße verbes­sert habe. Die Möglichkeit für Letztere, Konsumgüter zu erwerben, die zuvor der Bourgeoisie oder dem Kleinbürgertum vorbehalten waren, veranschauliche deutlich das Verschwinden der proletarischen Bedingungen. Schon damals hatten solche "Theorien" weder Hand noch Fuß: Wenn das Automobil, der Fernseher oder Kühlschrank dank der Steige­rung der Pro­duktivität der menschlichen Ar­beit verhältnismäßig preiswert sind, bedeutet - abgesehen davon, dass diese Güter unverzichtbar sind für die Entwicklung der Lebenswelt der Arbeiter(1) - die Tatsa­che, sie zu besitzen, noch lange nicht, dass man sich vom Arbeiterdasein be­freien kann oder weniger ausgebeu­tet wird. In Wirklich­keit ist der Grad der Ausbeutung der Ar­beiterklasse nie bestimmt ge­wesen durch die Menge oder die Art der Konsumgüter, über die sie in einem gegebenen Mo­ment verfügen konnte. Marx und der Marxis­mus ha­ben auf diese Frage schon vor langer Zeit eine Antwort gegeben: Die Kauf­kraft der Lohnempfänger entspricht dem Wert ihrer Arbeitskraft, das heißt, der Menge der Güter, die für ihre Wiederherstellung notwen­dig ist. Wenn ein Kapitalist dem Arbeiter einen Lohn zahlt, ist es in seinem Interesse, dem Letzteren seine weitere Teilnahme am Produktionsprozess unter den bestmöglichen Bedingungen für die Profitabilität des Kapitals zu gestatten. Dies setzt voraus, dass der Arbeiter nicht nur über Lebensmittel (Nahrung, Kleidung, Wohnung) verfügt, sondern sich auch erholen und die notwendige Qualifikation erlangen kann, um die sich ständig wandelnden Produktionsmittel in Gang zu setzen.

Aus diesem Grund hat die Einführung von bezahltem Urlaub und seine Verlängerung, die man in den hochentwickelten Län­dern im Verlaufe des 20. Jahrhunderts fest­stellen konnte, nichts mit irgendeiner "Philantropie" der Bourgeoisie zu tun. Sie ist notwendig geworden durch die kolos­sale Steigerung der Arbeitsproduktivi­tät und somit der Intensität der Arbeit wie auch des urbanen Lebens in seiner Gesamtheit, die diese Periode kennzeichnete.  Auch das (relative) Verschwinden der Kinderarbeit und die Verlängerung der Schulzeit (wobei Letzteres auch ein Mittel zur Verschleierung der Arbeitslosigkeit geworden ist), die uns als weitere Manifestation der Fürsorglichkeit der herrschenden Klasse präsentiert werden, sind im Kern der Notwendigkeit für das Kapital geschuldet, über Ar­beitskräfte zu verfügen, die den Anforderungen einer Produktion entsprechen, deren Technologien sich pausenlos weiterentwickeln. Was übrigens die Lohn-"Erhöhungen" angeht, de­rer sich die Bourgeoisie vor al­lem seit dem Zweiten Weltkrieg rühmt, so muss man die Tatsache berücksichtigen, dass die Arbeiter heute länger für den Unterhalt ihrer Kinder aufkommen als in der Vergangen­heit. Als die Kinder noch mit zwölf oder noch weniger Jahren arbeiten gingen, lieferten sie ungefähr zehn Jahre lang ein Zubrot an ihre Familien an ab, ehe sie selbst einen Haushalt gründeten. Mit einer bis zum 18. Lebensjahr ausgedehnten Schulzeit verschwindet dieser Zuschuss fast gänzlich. Mit anderen Worten, die Lohn-"Erhöhungen" sind auch und zum größten Teil eines der Mittel, mit welchen der Kapi­talismus den Nachwuchs der Arbeitskräfte auf die Bedingungen der neuen Technologien vorbereitet.

Auch wenn der Kapitalismus der hochentwic­kelten Länder eine Zeitlang  Illusionen über die Reduzierung der Ausbeu­tung von Lohnabhängigen schüren konnte, war dies nichts anderes als äußerer Schein. Tatsächlich ist die Ausbeu­tungsquote, d.h. das Verhältnis zwischen dem vom Arbeiter produ­zierten Mehrwert und dem Lohn, den er er­hält(2), ständig gewachsen. Daher sprach schon Marx von ei­ner "relativen" Ver­armung der Arbeiterklasse als permanente Tendenz im Kapitalismus. In den "Wirtschaftswunderjahren", die von der Bourgeoisie so getauft wurden (den Jahren der relativen Prosperität des Kapitalismus, die mit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg korrespondierten) ver­stärkte sich die Ausbeutung der Ar­beiter kontinuierlich, auch wenn sich dies nicht in einem Sinken ihres Lebensniveaus ausdrückte. Abgesehen davon geht es heute nicht schlicht um die Frage der relativen Verarmung. Die "Verbesserungen" in den Einkommen der Arbeiter sind im Laufe der Zeit auf­gefressen worden,  und die absolute Verar­mung, de­ren endgültiges Verschwinden die Vorsänger der bürgerlichen Ökonomie angekündigt hatten, ist mit aller Macht in die "reichen" Ländern zurückgekehrt. Jetzt, wo die Politik aller nationalen Sektoren der Bourgeoisie angesichts der Krise darin besteht, zu harten Schlägen gegen den Le­bensstandard der Proletarier auszuholen, durch die Arbeitslosigkeit, die dra­stische Kürzung von Sozialleistungen und auch durch die Sen­kung der Nominallöhne, ist das Geschwätz über die "Konsumgesellschaft" und die "Verbürgerlichung" der Arbeiterklasse verstummt. Aus diesem Grunde hat das Gerede über das "Aussterben des Pro­letariats"  seine Argu­mente gewechselt und stützt sich mehr und mehr auf die Veränderungen, die unterschiedliche Fraktionen der Klasse betreffen, insbesondere der Rückgang der industriellen Arbeitskraft und der sinkende An­teil der "Handarbeiter" an der Gesamtarbeitskraft.

Solche Reden beruhen auf einer groben Ver­fälschung des Marxismus. Der Marxis­mus hat das Proletariat nie einfach mit dem industriellen oder "manuellen" Proletariat (dem "Blaumann") gleichge­setzt.  Es stimmt, dass zu Marx' Lebzeiten die größten Bataillone der Arbeiterklasse sogenannte "Handarbeiter" waren. Doch hat es hat im Prole­tariat schon immer Sektoren gegeben, die mit hochentwickelten Technologien arbeiteten, welche wichtige wissen­schaftliche Kenntnisse erforderten. Beispielsweise machten gewisse traditionelle Handwerke eine lange Lehrzeit der "Gesellen" erforderlich. Desgleichen Berufe wie Korrektoren in Drucke­reien, die über unverzichtbare Kenntnisse verfügen mussten und so "intellektuellen Ar­beitern" ähnelten. Dies hat nicht ver­hindert, dass diese Sektoren sich häufig in der Avantgarde der Arbeiterkämpfe wiederfanden. Im Grunde entspricht der Gegensatz zwischen den "Blaumann"- und den "Stehkragen"-Arbeitern einer Aufteilung, wie sie die Soziologen und ihre bürgerlichen Auftrag­geber gerne se­hen und die dazu be­stimmt ist, die Arbeiter zu spalten. Daher sind solche Ge­gensätze übrigens nichts Neues, denn die herr­schende Klasse hat schon lange begriffen, dass es in ihrem Interesse ist, viele Ange­stellte glauben zu machen, sie gehörten nicht der Arbeiterklasse an. In Wirk­lichkeit hängt die Zugehörigkeit zur Arbeiter­klasse nicht von soziologischen und noch we­niger von ideologischen Kriterien ab, d.h. von der Vorstellung, die sich dieser oder jener Ar­beiter oder gar ganze Kategorien der Arbeiter­klasse über ihr Leben machen. Es sind grundsätzlich ökonomische Kriterien, die eine solche Zugehörigkeit bestimmen.

 

Die Kriterien: Wer gehört der Arbeiterklasse an?

Grundsätzlich ist das Proletariat die spezifische ausgebeutete Klasse der kapitalistischen Produktionsverhält­nisse. Daraus leiten sich, wie wir schon im ersten Teil dieses Artikels gesehen haben, folgende Kriterien ab: "Die Tatsache, jeglicher Produktionsmittel beraubt und gezwungen zu sein, seine Arbeitskraft an jene zu verkaufen, die sie besitzen und die diesen Tausch nutzen, um sich einen Mehrwert anzueignen, bestimmt die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse." Es ist angesichts all der Verfälschun­gen, die über diese Frage verbreitet worden sind, notwendig, diese Kriterien zu präzisieren.

An erster Stelle ist zu bemerken, dass die Tat­sache, lohnabhängig zu sein, allein nicht ausreicht, um der Arbeiterklasse anzugehö­ren. Andernfalls wären die Bullen, die Pfaffen, die Generaldirek­toren großer Unternehmen (besonders der öffentlichen Betriebe) oder sogar die Minister Ausgebeutete und somit potentielle Kampfge­fährten derer, die sie unterdrücken, verdummen und sich für einen zehn- oder hundertfach niedrigeren Lohn  abrackern lassen.(3) Es ist also uner­lässlich, darauf hinzuweisen, dass es ein Merkmal der Arbeiterklasse ist, Mehr­wert zu produzieren. Dies bedeutet insbe­sondere zweierlei:

  • Das Gehalt eines Arbeiters übersteigt niemals ein bestimmtes Level; ein Einkommen darüber hinaus kann nur aus Mehrwert stammen, der anderen Arbeitern abgepresst wurde.(4)
  • Ein Proletarier ist ein reeller Produ­zent von Mehrwert und kein bezahlter Funktionär des Kapitals, der die Funktion hat, für die Durchsetzung der kapitalistischen Ordnung unter den Produzenten zu sorgen.

So mag es unter den Beschäftigten eines Betriebes Techniker (und gar Ingenieure) ge­ben,  deren Gehaltshöhe nicht weit entfernt ist vom Lohn eines Facharbeiters und die derselben Klasse angehören wie Letztere, wohingegen jene, deren Einkünfte viel mehr denen der Bosse gleichen, es nicht tun (selbst wenn sie keine Rolle bei der Einhegung der Arbeitskräfte spielen). Ebensowenig können in diesem Betrieb dieser oder jener "kleine Vorgesetzte" oder "Betriebssheriff", des­sen Lohn niedriger sein mag als der eines Technikers oder sogar eines Fachar­beiters, des­sen Rolle jedoch die eines "Kapos" im industri­ellen Straflager ist, als Teil des Pro­letariats ange­sehen werden.

Umgekehrt bedeutet die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse nicht zwangsläufig eine di­rekte und unmittelbare Beteiligung an der Mehr­wertproduktion. Der Lehrer, der den zukünftigen Produzenten ausbildet, die Kranken­schwester oder gar der nicht-selbständige Mediziner (der heute manchmal weniger verdient als ein Fachar­beiter), die die Arbeitskraft der Arbeiter "reparieren", gehören (auch wenn sie gleichzeitig Bullen, Pfaffen oder Gewerkschaftsfunktio­näre, ja so­gar Minister pflegen) zweifellos genauso der Arbeiterklasse an wie der Koch in einer Betriebskantine. Selbst­verständlich heißt das nicht, dass dies auch für Universitätsbonzen oder für die selbständigen Ärzte gilt. Es ist aber notwendig zu prä­zisieren, dass die Tatsache, dass die Mitglie­der der Lehrerschaft, eingeschlossen die GrundschullehrerInnen (deren wirtschaftliche Lage im allgemeinen nun wirklich nicht gerade glänzend ist), bewusst oder unbe­wusst, freiwillig oder unfreiwillig die bürgerlichen ideologischen Werte vermitteln, sie nicht von der ausgebeuteten und revolu­tionären Klasse ausschließt, ebenso wenig wie die Me­tallarbeiter, die Waffen produ­zieren.(5) Im Übrigen kann man feststellen, dass im Laufe der Geschichte der Arbeiter­bewegung die Lehrer (insbesondere die Grundschullehrer) eine beträchtliche Anzahl von Revolutionären gestellt haben. So wie auch die Arbeiter der Kriegswerften in Kronstadt Teil der Vorhut der Arbeiter­klasse in der Russischen Revolution 1917 waren.

Es ist gleichzeitig zu unterstreichen, dass die große Mehrheit der Angestellten ebenfalls der Arbeiterklasse angehört. Wenn wir den Fall ei­ner Verwaltung nehmen wie die Post, so würde niemand auf den Gedanken kom­men zu behaupten, dass die Mechaniker, die die Fahrzeuge der Post warten, und die Ange­stellten, die sie fahren, wie auch jene, die die Postsäcke umschlagen, nicht zum Proleta­riat gehörten. Davon ausgehend ist es nicht schwierig zu verstehen, dass ihre Kolle­gen, die die Briefe austragen oder an den Schaltern arbeiten, um Pakete zu frankieren oder Zahlungsanweisungen entgegenzuneh­men, sich in der gleichen Situa­tion befinden. Daher gehören die Bank- und Versi­cherungsangestellten, die kleinen Angestellten der Sozialversiche­rungskassen oder der Steuer­verwaltung, de­ren Status vollkommen gleich­wertig mit Ersteren ist, gleichermaßen zur Arbeiterklasse. Und man kann nicht einmal ins Feld führen, dass Letzte­re bessere Arbeitsbedingungen hätten als In­dustriearbeiter, als ein Schlosser oder ein Frä­ser beispielsweise. Den ganzen Tag hinter ei­nem Schalter oder vor einem Bild­schirm ei­nes Computers zu arbeiten ist nicht weniger mühsam, als eine Werkzeug­maschine zu bedienen, auch wenn man sich dort die Hände nicht schmutzig macht. Zu­dem wird einer der objektiven Faktoren, die hinter der Fähigkeit des Proletariats stecken, als Klasse zu kämpfen und den Kapitalismus zu stürzen, der assoziierte Charakter seiner Arbeit, durch die moder­nen Produktionsbedingungen überhaupt nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil, er wird immer ausgeprägter.

Ebenso erfordert das sich ständig hebende technologische Niveau der Produktion eine stei­gende Anzahl von, wie sie die Sozio­logen nennen, "Managern" (Techniker oder sogar Ingenieure), deren sozialer Status und Einkom­men überwiegend sich dem der Facharbeiter annähert. Es handelt sich hierbei keinesfalls um das Phä­nomen einer verschwindenden Arbeiterklasse zugun­sten der "Mittelschichten", sondern umgekehrt um ein Phänomen der Proletarisierung Letzterer.(6) Deshalb hat das Gerede über das "Verschwinden des Proletariats", das aus der steigenden Anzahl von Angestellten oder "Führungskräften" im Vergleich zur Anzahl der "Hand"-Arbeiter in der Industrie re­sultieren soll, keinen anderen Sinn, als zu versu­chen, die einen wie die anderen zu täuschen und zu demoralisieren. Ob die Urheber die­ser Reden daran glauben oder nicht, spielt überhaupt keine Rolle: Sie können der Bourgeoisie einen durchaus nützlichen Dienst auch als Hohlköpfe erweisen, die nicht einmal fä­hig sind, sich zu fragen, wer wohl den Kugelschreiber herge­stellt hat, mit dem sie ihren Blödsinn niederschreiben.

 

Die angebliche "Krise" der Arbeiterklasse

Um die Arbeiter zu demorali­sieren, setzt die Bourgeoisie nicht alles auf ein Pferd. Daher hat sie für jene, die nicht auf die Kampagnen über das "Verschwinden der Arbeiter­klasse" hereinfallen, die Idee in der Hinterhand, dass die Ar­beiterklasse "in der Krise" sei. Und eines der Argu­mente, das für den Beweis dieser Krise ent­scheidend sein soll, ist der Rückgang in den Mitgliederzahlen der Gewerkschaften im Verlaufe der letzten zwei Jahrzehnte. Im Rah­men dieses Artikels können wir nicht auf unsere Analyse zurückkommen, die den bürgerlichen Charakter des Gewerk­schaftswesens beweist. In der Tat liefert die tägliche Erfahrung der Arbeiterklasse, die systema­tische Sabotage ihrer Kämpfe durch die Or­ganisationen, die vorge­ben, sie zu "verteidigen", diesen Be­weis.(7) Und gerade diese Erfahrung der Arbeiter ist in erster Linie für ihre Ablehnung der Gewerkschaften verantwortlich. In diesem Sinn ist diese Ablehnung nicht ein "Beweis" irgendeiner Krise der Arbeiter­klasse, son­dern im Gegenteil und vor allem eine Manifestation einer in der Klasse ablaufenden Be­wusstwerdung. Eine Veranschauli­chung dieser Tatsache, nur eine von tausen­den, ist die Haltung der Ar­beiter in zwei großen Bewegun­gen, die in Frankreich im Ab­stand von 30 Jah­ren stattgefunden haben. Am Ende der Streiks im Mai/Juni 1936, in­mitten der tief­sten Konterrevolution, die auf die Welle der Weltrevolution nach dem Ersten Weltkrieg folgte, profitierten die Gewerk­schaften von einer beispiellosen Eintrittswelle. Dagegen war das Ende des General­streiks im Mai 1968, der das historische Wie­deraufleben des Klassenkampfes und den Ab­schluss jener konterrevolutio­nären Periode anzeigte,von zahlreichen Austritten aus den Gewerk­schaften, von Unmengen zerrissener  Mitgliederkar­ten gekennzeichnet.

Wenn jemand den Mitgliederschwund der Gewerkschaften als Beweis für die Schwierig­keiten der Arbeiterklasse darstellt, dann ist dies ein sicheres Anzeichen für seine Zugehö­rigkeit zum bürgerlichen Lager. Es ist genau dasselbe wie mit dem angeblich "sozialistischen" Charakter der stalinistischen Re­gimes. Die Geschichte hat, besonders mit dem Zweiten Weltkrieg, gezeigt, wie verheerend diese Lüge, die von allen Teilen der Bourgeoisie, von den Rechten, den Linken und den Linksextremisten (Stalinisten, Trotzkisten), verbreitet wurde, auf das Bewusst­sein der Arbei­ter ge­wirkt hat. In den letzten Jahren konnten wir erleben, wie der Zu­sammenbruch des Stalinismus als "Beweis" für den endgültigen Bankrott jeglicher kommunisti­schen Perspek­tive instrumentalisiert wurde. Die Lüge vom "proletarischen Cha­rakter der Gewerkschaf­ten" ist im Kern vergleichbar: Zuerst dient sie dazu, die Ar­beiter hinter den kapitalisti­schen Staat zu scha­ren;  dann ver­sucht man, aus ihnen ein Instru­ment zur Demoralisierung und Desorientierung der Arbeiter zu machen. Jedoch haben diese beiden Lügen unterschiedliche Auswirkungen: Da es nicht aus Arbeiterkämpfen resultierte, konnte das Scheitern der stalinistischen Regimes wirksam gegen das Proletariat benutzt werden; umgekehrt re­sultiert der Misskredit der Gewerkschaften aus eben den Arbeiterkämpfen, was den Ein­fluss als demo­ralisierenden Faktor stark ein­schränkt. Ge­nau deshalb hat die Bourgeoisie übrigens eine "Basis"-Gewerkschaftsbewegung ermutigt, die die Nachfolge der traditionellen Gewerkschaften antreten soll. Genau deshalb fördert sie Ideo­logen mit "radikaleren" Allüren, die die gleiche Art von Bot­schaft übermitteln sol­len.

So kam es, gefördert von der Presse (8), zu einem Aufblühen von Analysen, wie die von Alain Bihr, Doktor der Sozio­logie und unter anderem Autor eines Buches mit dem Titel "Du grand soir l'alternative: la crise du mouvement ouvrier européen" (etwa: Vom Tag der Wende zur Alternative: Die Krise der europäischen Arbeiterbewegung). An sich sind die Thesen dieses Herrn nicht sehr inter­essant. Der Umstand aber, dass sie seit einiger Zeit Einfluss in Milieus gewinnen, die sich auf die Kommunistische Linke beru­fen, von denen wiederum einige nicht davor zurückschrecken, seine "Analysen"(9) ("kritisch", versteht sich) zu übernehmen, veranlasst uns, die Gefahr, die diese darstel­len, zu entblößen.

Alain Bihr präsentiert sich als ein "wahrer" Vertreter der Arbeiterinteressen. Daher gibt er nicht vor, dass die Arbeiter­klasse da­bei sei, in der Versenkung zu verschwinden. Im Gegen­teil, er be­ginnt mit der Aussage: "...die Grenzen des Proletariats erstrecken sich heute weit über die traditionelle 'Arbeiterschaft' hin­aus." Dies tut er aber nur, um seine zen­trale Bot­schaft besser rüberzubringen: "Nun hat man aber im Verlaufe der letzten fünfzehn Jahre der Krise in Frankreich wie in den mei­sten westli­chen Ländern eine zuneh­mende Zersplitterung des Proletariats be­obachtet, die, weil sie des­sen Einheit in Frage stellt, darauf hinausläuft, es als ge­sellschaftliche Kraft zu lähmen."(10)

So ist das Hauptvorhaben unseres Autors, aufzuzeigen, dass das Proletariat "in der Krise ist", und dass verantwortlich für diese Situa­tion die Krise des Kapitalismus selbst sei, ein Grund, dem man natürlich die so­ziologischen Änderungen hinzufügen müsse, die die Zu­sammensetzung der Ar­beiterklasse erfahren habe: "Tatsächlich tendieren die laufenden Umwälzungen des Lohnverhältnisses mit ihren globalen Wir­kungen der Fragmentierung und der 'Entmassung' (demassification)  des Proletari­ats (....) dazu, die beiden proletarischen Erscheinungen aufzulösen, die ihm seine großen Ba­taillone während der fordistischen Ära geliefert haben: einerseits den ge­lernten Ar­beiter, den die gegenwär­tigen Transformatio­nen tiefgreifend umge­stalten, die alten Kategorien des mit dem Fordismus verknüpften Fachar­beiters, die tendenziell verschwinden, während neue Katego­rien von 'Gelernten'  in Verbin­dung mit den neuen au­tomatisierten Arbeits­prozessen erscheinen; andererseits der nicht-qualifi­zierte bzw. ange­lernte Arbeiter, die Speerspitze der proleta­rischen Offensive der 60er und 70er Jahre, der immer mehr durch den prekären Arbei­ter in diesen automati­sierten Arbeitsprozes­sen eliminiert und ersetzt wird".(11) Abgesehen von der schulmeisterlichen Sprache (die den Kleinbürgern, die sich für "Marxisten" halten, Vergnügen bereitet) tischt uns Bihr die glei­chen Klischees auf, die uns schon Generatio­nen von Soziologen zugemutet haben: Die Automati­sierung der Produktion sei verant­wortlich für die Schwächung des Proletariats (da er "Marxist" sein will, spricht er nicht vom "Verschwinden"), usw. Und er schlägt in dieselbe Kerbe, wenn er vor­gibt, dass der Rückgang der Mitgliederzahlen der Gewerkschaften auch ein Zei­chen der "Krise der Arbeiter­klasse" sei: "Alle Untersuchungen, die über die Entwicklung der Arbeitslosigkeit und die Pre­kärität erstellt wurden, zeigen, dass diese dazu neigen, die alten Spal­tungen und Ungleichheiten im Proletariat (...) zu reaktivieren und zu verstärken. Diese Zersplitterung in derart heterogene Strukturen hat fatale Auswirkungen auf die Or­ganisations- und Kampfbe­dingungen ge­habt. Das lässt sich zuerst ein­mal an den verschiedenen vergeblichen Ver­suchen besonders der Gewerkschaftsbewegung erkennen, die Präkarisier­ten und die Arbeitslosen zu organi­sieren..."(12) So setzt uns Bihr, getarnt hinter seinen radikaleren Phrasen, mit seinem angeblichen "Marxismus" den gleichen falschen Ramsch vor, mit dem uns alle Sektoren der Bourgeoisie bedienen: Die Gewerk­schaften seien heute noch "Organisationen der Ar­beiterbewegung".(13)

Dies ist die Art von "Spezialisten", von denen Leute wie GS und Pu­blikationen wie INTERNATIONALIST PERSPECTICE (IP), die seinen Schriften mit großer Symphathie begegnen, ihre Inspirationen beziehen. Sicher, Bihr, der trotz al­lem schlau ist, gibt, um seine Ware einzuschmuggeln, vor, das Proletariat könne trotz allem seine aktuellen Schwierig­keiten überwinden, indem es sich "neu zusammensetzt".  Aber die Art, wie er dies vorträgt, zielt eher darauf ab, vom Ge­genteil zu überzeugen. "Die Verände­rungen im Lohnabhängigkeitsverhältnis stellen die Ar­beiterbewegung also vor eine doppelte Her­ausforderung: Es zwingt sie gleichzeitig, sich einer neuen gesellschaftli­chen Basis anzupas­sen (an eine neue 'technische' und 'politische' Zusam­mensetzung der Klasse) und eine Synthese zu vollziehen zwischen hetero­genen Kategorien wie den 'neuen Fachkräf­ten' und den 'Präkarisierten', eine Synthese, die viel schwieriger zu realisieren ist als die zwischen Facharbeitern und an­gelernten Arbeitern in der fordisti­schen Periode".(14) "Die fakti­sche Schwächung des Proletariats und des Gefühls der Klassenzugehörigkeit kann so den Weg zur Neuzusammensetzung einer ideellen kollektiven Identität auf anderen Grundlagen ebnen."(15)

Nach Unmengen von Argumenten - mehrheitlich dazu bestimmt, um den Leser zu überzeugen, dass es schlecht um die Arbeiterklasse bestellt sei -, nachdem "aufgezeigt" wurde, dass die Ursachen dieser Krise in der Automatisierung sowie im Zusammenbre­chen der kapitalistischen Ökonomie sowie im Anstieg der Arbeitslosig­keit zu suchen seien - alles Phäno­mene, die sich nur ver­schlimmern können - schließt er ohne den geringsten Beweis mit der lapi­daren Behauptung: "Es wird besser ... viel­leicht! Aber es stellt eine sehr schwere Her­ausforderung dar". Wenn man das Geschwätz von Bihr heruntergeschluckt hat und immer noch glaubt, dass es für die Arbeiterklasse und ihren Kampf eine Zukunft gibt, kann man nur ein naiver und unverbesserlicher Optimist sein. Nicht schlecht, Dr. Bihr: Eure große Schlauheit hat die Einfaltspinsel an der Nase herumgeführt, die IP pu­blizieren und sich als die wahren Vertreter der kommunistischen Prinzipien aufspielen, welche die IKS über Bord ge­worfen haben soll.

Es stimmt, dass die Arbeiterklasse im Verlauf der letzten Jahre bei der Entwicklung ihrer Kämpfe und ihres Bewusstseins auf einige Schwierigkeiten gestoßen ist. Unsererseits haben wir - entgegen den Vorwürfen, die uns die Skeptiker vom Dienst anlasten (ob sie FECCI heißen - was angesichts ihrer Rolle, Verwirrung zu stiften, normal ist - oder "Battaglia Co­munista" - die dies weniger tut, weil sie eine Organisation des politischen Milieus des Proletariats ist) - nie gezögert, auf diese Schwierig­keiten hinzuweisen. Doch gleichzeitig haben wir, und dies ist das Mindeste was man von Revolutio­nären er­warten kann, auf der Basis einer Analyse des Ursprungs der Schwierigkeiten, auf die das Proletariat stößt, die Voraussetzungen dargelegt, die ihre Überwindung ermöglichen. Und wenn man einigermaßen ernsthaft die Entwicklung der Arbeiter­kämpfe im letzten Jahrzehnt untersucht, springt ins Auge, das die jet­zige Schwäche sich nicht mit der effektiven Verminderung der "traditionellen" Arbeiter, der "Blaukragen"-Arbeiter, erklären lässt. So gehören in den meisten Ländern die Arbeiter der Post oder der Telekom­munikation zu den kämpferischsten. Das Gleiche gilt für die Arbeiter und Arbeiterinnen des Gesundheits­wesens. In Ita­lien waren es 1987 die Arbeiter und Arbeiterinnen in den Schulen, die die wichtigsten Kämpfe aus­fochten. Und wir könnten weitere Beispiele aufführen, die die Tatsache veranschaulichen, dass sich weder das Proletariat selbst noch sein Kampfgeist allein auf die "Blaukragen", auf die "traditionellen" Arbeiter der Industrie be­schränkt. Daher sind unsere Analysen nicht auf die soziologischen Betrachtun­gen ausgerichtet, die gut sind für Akademiker oder Kleinbürger und weniger über die "Malaise" der Arbei­terklasse, aber dafür umso mehr über ihr eigenes Schlamassel aussagen.

 

Die reellen Schwierigkeiten der Arbeiterklasse und die Voraussetzungen zu ihrer Überwindung

Wir können im Rahmen dieses Artikels nicht auf sämtliche Analysen zurückkommen, die wir im Verlauf der letzten Jahre über die in­ternationale Situation erstellt ha­ben. Der Leser kann sie in praktisch allen Ausgaben unserer Revue während dieser Periode und insbeson­dere in den Thesen und Resolutionen unserer Organisation nach 1989 wiederfinden.(15) Die Schwierigkei­ten, die das Proletariat heute durchmacht, der Rückgang seiner Kampfbe­reitschaft und der Rückfluss seines Bewussts­eins (Schwierigkeiten, auf die sich einige stützen, um eine "Krise" der Arbeiterklasse zu diagnostizieren) sind der IKS nicht entgan­gen. Insbesondere haben wir hervorgeho­ben, dass die Arbeiterklasse die ganzen 80er Jahren hindurch mit dem wachsenden Gewicht des allgemeinen Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft konfrontiert war, der, indem er Verzweiflung, Atomisierung, das "Jeder für sich" begünstigte, der allgemeinen Perspektive des proletarischen Kampfes und der Klassensoli­darität harte Schläge versetzte, was insbesondere die ge­werkschaftlichen Manöver erleichterte, die  darauf abzielten, die Arbei­terkämpfe  in den Korporatismus einzusperren. Dennoch, und das ist ein Ausdruck der Vitalität des Klassenkampfes, ist es dem ständigen Gewicht des Zerfalls bis 1989 nicht gelungen, der Welle von Arbeiterkämpfen beizukommen, die 1983 in Bel­gien mit den Streiks im öffentlichen Dienst begannen. Ganz im Gegenteil erlebten wir in dieser Phase eine zuneh­mende Ten­denz, über den von den Gewerkschaften gesteckten Rahmen hinauszugehen, was Letztere dazu zwang, die Hauptrolle immer mehr den radikaleren "Basisgewerkschaften" zu überlassen, um ihre Sabotagearbeit weiterführen zu können.(16)

Diese Welle von proletarischen Kämpfen wurde jedoch durch die weltumspannenden Umwälzungen zum Versiegen gebracht, die in der zweiten Hälfte des Jahres 1989 folgten. Während einige (im allgemeinen dieselben, die Mitte der 80er Jahre keine Kämpfe gese­hen haben wollen) glaubten, dass der Zusammenbruch des Ostblockes 1989 (bis heute der wichtig­ste Ausdruck für den Zer­fall des Ka­pitalismus) die Bewusstwerdung der Arbeiter­klasse begünstigen werde, haben wir nicht gezögert, das Gegenteil zu verkünden.(17) In der Folgezeit, vor allem 1990-91 während der Krise und des Krieges am Golf, danach beim Putsch in Moskau, der auf den Zusammen­bruch der UdSSR folgte, haben wir aufge­zeigt, dass sich diese Ereignisse auf den Klassen­kampf, auf die Fähig­keit des Proletariats auswirken, sich den wachsenden Angriffen des in der Krise befindlichen Kapitalismus zu stellen.

Aus diesen Gründen sind uns die Schwierigkei­ten, die die Arbeiterklasse im Verlauf der letzten Zeit durchmacht, weder entgangen, noch ha­ben sie unsere Organisation überrascht. Trotzdem haben wir in der Analyse der Gründe (die nichts zu tun haben mit dem my­thischen Bedürfnis nach einer "Neuzusammenset­zung der Arbeiterklasse") gleichzeitig die Gründe hervorgehoben, warum die Arbeiterklasse die Mittel hat, diese Schwierigkeiten zu überwinden.

In diesem Zusammenhange ist es wichtig, auf ein Argument des Herrn Bihr zurückzukommen, mit dem er der Idee mehr Glaubwürdigkeit verleihen möchte, die Arbeiterklasse stecke in einer Krise: Die Krise und die Arbeitslosigkeit hät­ten "das Proletariat frag­mentiert", indem sie "die alten Spaltungen und Ungleichheiten verstärkt" habe. Um sein Vorha­ben darzustellen und "den Bogen zu überspannen", liefert uns Bihr einen ganzen Katalog die­ser "Fragmente": "die Arbeiter in stabilen und sicheren Beschäftigungsverhältnissen", "die von der Arbeit, ja  vom Ar­beitsmarkt Ausge­schlossenen", "die fließende Masse der pre­kären Arbeiter". Bei letzteren findet er Gefallen daran, zwischen Unterkategorien zu unterscheiden: "die Arbeiter der Subunternehmen",  "die Teilzeitbe­schäftigten", "die Zeitarbeiter", "die Umschüler, Auszubildenden und Schwarzarbei­ter".(18) Was der Herr Dok­tor Bihr uns als Argument vorträgt, ist nichts anderes als ein Schnappschuss, der gut zu seiner re­formistischen Sichtweise passt.(19) Es stimmt, dass die Angriffe der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse zunächst selektiv ausgeführt wurden, um das Ausmaß der Antwort der Arbeiter­klasse einzuschränken. Es stimmt weiter, dass die Arbeitslosigkeit, insbesondere die der Jungen, ein Faktor der Erpressung gegen einige Sektoren der Arbeiterklasse und, teilweise, der Passivität gewesen ist, der durch die zerstöre­rische Wirkung der Atmosphäre des gesellschaftlichen Zerfalls und des "Jeder für sich" verstärkt wird. Doch die Krise selbst und ihre unver­meidliche Verschär­fung sorgt dafür, dass die Bedingun­gen der verschie­denen Sektoren der Arbeiterklasse sich immer mehr aneinander angleichen. Insbe­sondere die "Spitzen"-Sektoren (Informatik, Telekommunikation etc.), die scheinbar der Krise entronnen waren, werden heute mit voller Wucht getroffen und schleudern ihre Arbeiter in dieselbe Lage wie die Arbeiter der Eisen- und Stahlindustrie und der Automobilbranche. Es sind heute die größten Unternehmen (wie IBM), die massenhaft ent­lassen. Gleichzeitig und entgegen der Tendenz des letzten Jahrzehnts nimmt die Arbeitslosig­keit der älteren Arbeiter, die schon eine kol­lektive Erfahrung der Arbeitens und des Kämpfens haben, schneller zu als die der Jungen, was den Faktor der Atomisierung einschränkt, den die Arbeitslosigkeit in der Vergangenheit darstellte.

So stellt, selbst wenn der Zerfall ein Handicap für die Entwicklung der Kämpfe und des Bewussts­eins in der Klasse bildet, das immer offen­sichtlichere und brutalere Scheitern der kapitalistischen Wirt­schaft und als Folge die Angriffe auf die Lebensbedin­gungen der Arbeiterklasse das bestimmende Element der aktuellen Situa­tion für die Wiederaufnahme der Kämpfe und für die Be­wusstwerdung dar. Offensichtlich kann man dies nicht verstehen, wenn man denkt - wie es die re­formistische Ideologie tut, die sich weigert, jegliche revolutionäre Perspektive in Betracht zu ziehen -, dass die kapitalistische Krise eine "Krise der Arbeiterklasse" auslöst. Aber noch einmal haben die Ereignisse selbst die Aufgabe übernommen, die Gültigkeit des Marxismus und die Nichtigkeit der Ausge­burten der Soziologen zu unterstreichen. Die gewaltigen Kämpfe des italienischen Pro­letariats im Herbst 1992 angesichts der gewaltsamen ökonomischen Angriffen ohnegleichen haben einmal mehr bewiesen, dass das Proletariat nicht tot ist, dass es nicht verschwunden ist und dass es nicht den Kampf aufgegeben hat, selbst wenn es, wie man erwarten konnte, die Schläge, die es in den letzten Jahren erlitten hat, noch nicht verarbeitet hat. Und diese Kämpfe werden kein Stroh­feuer bleiben. Sie kündigen nur (wie die Arbeiterkämpfe im Mai 1968 in Frankreich, die gerade einmal ein Vierteljahrhundert her sind) eine allgemeine Erneuerung der Kampfbereitschaft der Arbeiter an, eine Wiederaufnahme des Vorwärtsmarsches des Proletariats in Richtung einer Bewusstwerdung der Bedingungen und der Ziele seines historischen Kampfes für die Abschaf­fung des Kapitalismus. Zum Missfallen all de­rer, die ehrlich oder heuchlerisch über die "Krise der Arbeiter­klasse" und ihre "notwendige Neuzusam­mensetzung" lamentieren.

FM

(1) [20] Das Auto ist unverzichtbar, um zur Arbeit zu gelangen oder Einkäufe zu machen, denn die öffentlichen Verkehrsmittel sind unzureichend und die zurückzulegenden Distanzen immer größer. Auf einen Kühlschrank kann man nicht verzich­ten, da Nahrungsmittel zu günstigen Preisen oft nur in großen Mengen zu kaufen sind und man dies nicht täg­lich machen kann. Was den Fernse­her betrifft, der als das Symbol für den Eintritt in die "Konsumgesellschaft" dargestellt wird, findet man ihn, abgesehen von seiner Bedeutung als Instrument der Propaganda und Verdummung in den Händen der Bourgeoisie (als "Opium für das Volk" hat er vortrefflich die Reli­gion abgelöst), heute in vielen Behausungen in den Slums der Dritten Welt, was genug aussagt über den Wert­verlust eines solchen Artikels.

(2) [21] Marx bezeichnete als Mehrwertrate oder Aus­beutungsrate das Verhältnis zwischen M und V, bei dem M den Mehrwert in Arbeitswert (die Anzahl Stunden pro Arbeitstag, die sich der Ka­pitalist an­eignet) und V das variable Kapital darstellt, das heißt, den Lohn (die Anzahl Stunden, in denen ein Ar­beiter den Gegenwert seines Lohnes produziert). Dies ist ein Indiz, das erlaubt, den Grad der Ausbeutung in objektiven ökonomi­schen Begriffen und nicht subjektiv festzulegen.

(3) [22] Freilich richtet sich diese Behaup­tung gegen die Lügen der angeblichen "Arbeitervertreter" wie der Sozial­demokraten und Stali­nisten, die als Minister eine große Er­fahrung in der Repression und Mystifikation gegen­ die Arbeitern ha­ben. Wenn ein Arbeiter "seinen Stand verlässt", einen Posten bei den Gewerkschaften, im Stadtrat annimmt oder gar Bürgermeister, Abgeordneter oder Minister wird, dann hat er mit seiner ursprünglichen Klasse nichts mehr gemeinsam.

(4) [23] Es ist selbstverständlich sehr schwierig (wenn nicht sogar unmöglich), dieses Niveau zu bestimmen, da es in anderen Zeiten und Ländern variieren kann. Wichtige jedoch ist zu wissen, dass in jedem Land (oder einer Gemeinschaft von Ländern mit ähnlicher ökonomischer Entwicklung und Arbeitsproduktivität) eine solche Grenze exi­stiert, die zwischen dem Einkommen eines qualifizierten Arbeiters und einer Führungskraft liegt.

(5) [24] Hinsichtlich einer gründlicheren Analyse über pro­duktive und unproduktive Arbeit sei auf unsere Broschüre "Die Dekadenz des Kapitalismus" (S. 30ff) verwie­sen.

(6) [25] Es ist hingegen festzuhalten, dass gleichzeitig ein bestimmter Anteil des Führungspersonals mit steigenden Einkommen entlohnt wird, was zu sei­ner Integration in die herrschende Klasse führt.

(7) [26] Für die vertiefte Analyse des bürgerlichen Charakters der Gewerkschaften siehe unsere Broschüre "Die Gewerkschaften gegen die Arbeiter­klasse".

(8) [27] Zum Beispiel LE MONDE DIPLOMATIQUE, eine humanisti­sche französische Monatszeitung, die auf die Förderung eines Kapitalismus "mit menschlichem Ant­litz" spezialisiert ist, publiziert oft Artikel von Alain Bihr. So findet man in der Ausgabe vom März 1991 einen Text dieses Autors mit dem Titel "Regression des droits sociaux, affaiblissement des syndicats, le proletariat dans tous ses eclats" (etwa: Rückschritt in den Sozialrechten, Schwächung der Gewerkschaften - das Proletariat in voller Zersplitterung).

(9) [28] So kann man in der Nr. 22 von PERSPECTIVE INTERNATIONALISTE, dem Organ der "Externen (sic!) Fraktion der IKS", einen Beitrag von GS lesen (der, ohne dass sein Autor Mitglied der EFIKS wäre, im Wesentlichen ihre Zustimmung findet) mit dem Titel "La necessaire recomposition du proletariat" (etwa: Die notwendige Neuzusammenset­zung des Proletariats), einen Artikel, der aus­führlich aus dem bedeutendsten Buch von Bihr zitiert, um seine Behauptungen zu stützen.

(10) [29] LE MONDE DIPLOMATIQUE, März 1991.

(11) [30] "Du grand soir ..."

(12) [31] LE MONDE DIPLOMATIQUE, März 1991.

(13) [32] "Du grand soir ..."

(14) [33] LE MONDE DIPLOMATIQUE, März 1991

(15) [34] Siehe: INTERNATIONALE REVUE (engl., franz., span. Ausgabe) Nr. 60, 63, 67, 70 und in diese Ausgabe.

(16) [35] Offensichtlich konvertieren, wenn man, wie Dr. Bihr, die Gewerkschaften für Organe der Arbeiter­klasse und nicht der Bourgeoisie hält, die Fortschritte, die der Arbeiterkampf gemacht hat, zu Rückschritte. Es ist allerdings seltsam, dass Leute wie die Mitglieder der FECCI, die den bürgerlichen Charakter der Gewerkschaften aner­kennen, ihm in dieser Ein­schätzung folgen.

(17) [36] Siehe: "Zunahme der Schwierigkeiten für die Arbeiterklasse", in: INTERNATIONALE REVUE Nr. 11.

(18) [37] LE MONDE DIPLOMATIQUE, März 1991

(19) [38] Eine der bevorzugten Phrasen Alain Bihrs lautet: "Der Reformismus ist eine zu ernste Sache, um ihn den Reformisten zu überlassen". Wenn er sich zufällig für einen Revolutionär hält, legen wir Wert darauf, ihn hiermit über seinen Irrtum aufzuklären.


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Die russische Revolution- ein kollektives Werk der Arbeiterklasse

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Im ersten Teil dieses Artikels (siehe Inter­nationale Revue Nr. 14) haben wir gese­hen, dass die Russische Revo­lution im Ge­gensatz zu der Propa­ganda der Herr­schenden kein Staatsstreich war, son­dern die gi­gantischste und bewussteste Be­wegung der ausgebeuteten Massen in der Ge­schichte - die einen an Erfahrung, In­itiative und Kreativität reichen Schatz hin­terlassen hat. Ungeachtet der späteren Niederlage war es der klarste Beweis, dass die Arbeiterklasse die einzig revolutionäre Klasse in der Ge­sellschaft ist, und  als ein­zige dazu in der Lage,  die Menschheit vor der Katastrophe zu retten, in die der zer­fallende Kapitalis­mus uns treibt.

Die Ereignisse des Oktober 1917 hin­terliessen uns eine grundlegende Lehre: als herrschende Klasse wird die Bour­geoisie gegenüber dem revolutionären Kampf der arbeitenden Massen nicht die Hände in den Schoss legen. Sie wird im Gegenteil versu­chen, diesen mit allen möglichen Mitteln zu sabotie­ren. Neben Zuckerbrot und Peitsche benutzt sie eine sehr gefährliche Waffe: die Sabotage von Innen heraus, die von den Vertretern der Herrschenden in den Reihen der Arbeiter - die mit ei­nem radikalen Ge­wand bekleidet sind - betrieben wird. Da­mals waren es die ‚sozialistischen Par­teien’, heute sind es die linken und ‚extrem-linken’ Parteien und die Gewerk­schaften.

Diese Sabotage stellte die Hauptbe­drohung für die im Februar begonnene Revolution dar. Die Sabotage der So­wjets mittels der sozialverräterischen Parteien, wodurch der bürgerliche Staat sein Werkzeug in den So­wjets zum Einsatz bringen konnte. In die­sem 2. Artikel werden wir uns näher mit dieser Frage befassen und untersu­chen, wie die Arbeiterklasse damit mittels der Erneuerung der Sowjets und mit Hilfe der Bolschewisti­schen Partei und dem Aufstand fertig wurde.

DIE SOWJETS ERGRIFFEN DIE MACHT

Die Ereignisse des Oktober 1917 hinter­liessen uns eine grundlegende Lehre: die Bourgeoisie wird angesichts von revolu­tionären Kämpfen der Ar­beiterklasse nicht tatenlos zusehen. Im Gegenteil wird sie ver­suchen, den Kampf wo immer möglich zu sabotie­ren. Deshalb benutzt sie neben Zuc­kerbrot und Peitsche eine sehr gefähr­liche Waffe: Sabotage im Innern, ausge­führt durch bürgerliche Kräfte, die das Ge­wand der Arbeiterklasse an­legen und eine ra­dikale Sprache spre­chen, damals die ‚sozialistischen Par­teien’, heute tun dies die Parteien der ‚Linken’ und ‚Extremen Lin­ken’ so­wie die Gewerk­schaften.

Die Sabotage der Sowjets durch die sozial­verräterischen Parteien, die es dem Appa­rat des bürgerlichen Staates erlaubte, wei­ter Wi­derstand zu leisten, stellte die Hauptge­fahr der Revolution dar, die im Februar be­gonnen hatte. Wir wollen nun aufzeigen, wie das Proletariat dem Pro­blem begegnete durch die Erneuerung der Sowjets, durch die Bolschewi­stische Par­tei und durch den Aufstand.

DIE BOURGEOISIE SABOTIERTE DIE SOWJETS

Die Bourgeoisie stellte die Februarrevo­lution als eine Bewegung dar, die zur ‚Demokratie’ hinstrebte und durch die Ma­chenschaften der Bolschewisten ver­gewaltigt wurde. Diese Ver­schleierung be­ruhte auf der Gegenüberstellung der Er­eignisse des Februars und des Oktobers, wobei die Februarereignisse als ein echter ‚demokratischer’ Schritt, die des Okt­obers als ein ‚Staatsstreich gegen den Volkswil­len’ dar­gestellt wurden.

Diese Lüge zeigt die Wut der Bour­geoisie darüber, dass die Ereignisse zwischen Fe­bruar und Oktober sich nicht so abspiel­ten, wie sie sich das gewünscht hatte. Die Bour­geoisie dachte, dass die Massen nach dem Rücktritt des Zaren im Februar ruhig nach Hause zu­rückkehren und die Po­litik wieder der Bourgeoisie überlassen wür­den, ab und zu durch ‚demokratische Wahlen’ abgesi­chert. Das Proletariat aber schluckte den Köder nicht. Dagegen ent­faltete es eine ge­waltige Aktivität, wurde sich zu­nehmend seiner historischen Auf­gaben bewusst und ent­wickelte die not­wendigen Kampfmittel: die Sowjets. So entstand eine Situation der Dop­pelmacht: ‚entweder erobert die Bour­geoisie tatsächlich den alten Staatsap­parat und erneuert ihn für ihre eigenen Ziele, wo­bei die Sowjets verschwinden müssen oder die Sowjets werden zur Grundlage eines neuen Staates, wobei sie nicht nur den alten Ap­parat, son­dern auch die Herr­schaft jener Klas­sen, denen er gedient hat, liquidieren“ (Trotzki, Doppelherr­schaft S. 186).

Die herrschende Klasse setzte die  Men­schewiki und die Sozialrevolutio­näre  ein,  ehemalige Arbei­terparteien, und die mit dem Krieg ins bürgerliche Lager überge­wechselt wa­ren, die aber nun­mehr das Ziel verfoch­ten, die Sowjets zu zerstören und die Au­torität des bür­gerlichen Staates wiederher­zustellen. Zu Beginn der Februarre­volution ge­wannen diese Parteien ein grosses Ver­trauen in den Reihen der Ar­beiter, das sie einsetzten, um die Exekuti­vorgane der Sowjets zu kontrollie­ren und die Aktionen der Bour­geoisie zu verber­gen.

„Dort, wo sich kein Bourgeoisminister zei­gen konnte, um die Regierung zu rechtferti­gen vor den revolutionären Ar­beitern oder in den So­wjets, dort er­schien ein ‚sozialistischer’ Mini­ster, Skobelew, Zere­teli, Terschnow u.a. (richtiger, dorthin wurde er von der Bour­geoisie ge­schickt) und verrichtete gewissenhaft die Sache der Bour­geoisie, gab sich alle Mühe, die Regie­rung zu rechtfertigen, die Ka­pitalisten rein­zuwaschen, narrte das Volk mit der Wie­derholung von Verspre­chungen, Ver­sprechungen und Verspre­chungen, mit Ratschlägen, abzuwarten, abzu­warten und nochmals abzuwarten“ (Lenin, Die Lehren der Revolution, Aus­gew. Werke, Bd. 2, S. 236). Im Februar entwickelte sich eine für die Ar­beiterklasse sehr gefährliche Si­tuation. Sie kämpfte (mit den Bol­schewiki als Vor­hut), um den Krieg zu beenden, das Agrarpro­blem zu lösen und für die Ab­schaffung der kapitalisti­schen Ausbeu­tung. Um dies zu er­reichen, brachte sie die So­wjets hervor und das Ver­trauen seitens der Klasse in die So­wjets war rie­sengross. Aber die aus dem Proletariat her­vorgegangenen Sowjets wur­den von den men­schewistischen und sozialrevolu­tionären Dem­agogen ver­einnahmt, die zu diesem Zweck alle mögli­chen Sabotage­taktiken benutzten: Ununterbrochen versprachen sie Frie­den, während sie die Provisori­sche Regie­rung den Krieg fortführen liessen.

Am 27. März versuchte die Provisori­sche Re­gierung, die Dardanellenoffen­sive zu entfes­seln, deren Ziel die Er­oberung Konstantino­pels war. Am 18. April ratifi­zierte Miljukow, der Au­ssenminister, die be­rühmte Note über den Beitritt Russlands zur Entente (Frankreich und Grossbritan­nien). Im Mai unternahm Ke­renski eine Kampa­gne an der Front, um die Moral der Soldaten zu heben und um sie kampf­willig zu machen; eine Kampagne, die den tiefen Zynismus Kerenskis ver­deutlichte: ‚Ihr werdet mit den Spitzen Eurer Bajo­nette Frieden brin­gen’. Im Juni und Au­gust ver­suchten die Sozi­aldemokraten enger Zu­sammenarbeit mit den zaristi­schen Ge­nerälen die Arbeiter und Solda­ten in eine neue militä­rische Schlacht zu zie­hen.

Auf dieselbe Weise gingen sie mit den Men­schenrechten hausieren. Tatsäch­lich versuch­ten sie die brutale Militär­disziplin in der Ar­mee wieder herzu­stellen und die To­desstrafe wieder ein­zuführen. Auch ver­suchten sie, die Soldatenkomitees zu über­zeugen, die Offiziere nicht zu provo­zieren. Als beispielsweise der Petrograder Sowjet seinen berühmten “Befehl Nr. 1ä ver­öffentlichte, der die körperliche Be­strafung der Soldaten verbot und deren Würde und Rechte verteidigte, verbreitete das Exekutivko­mitee als Gegengift einen Ap­pell an die Soldaten, der unter dem Scheine der Verurteilung der Selbstjustiz gegen Offi­ziere Unterord­nung ge­genüber dem alten Komman­dobestand for­derte“ (Trotzki, Die Re­gierenden und der Krieg, S. 237). 

Endlos redeten sie über die ‚Lösung des Agrarproblems’, während sie die Macht der Grossgrundbesitzer unange­tastet lie­ssen und die Bauern­revolten niederschlu­gen.

Systematisch blockierten sie jede ge­ringste Anweisung im Agrarwesen - zum Beispiel diejenige, die die Land­übertragung been­det hätte. Stattdessen gaben sie das spon­tan von den Bauern besetzte Land an die Grossgrund­besitzer zurück. Strafexpedi­tionen wurden zur blutigen Niederschla­gung der Bauernrevolten gesandt, und die Vorar­beiter konnten wieder die Peit­sche gegen die Landarbeiter benutzen.

Sie blockierten die Einführung des 8-Stun­den-Tages und erlaubten den Besit­zern, die Fabri­ken zu schliessen. Den Bossen wurden erlaubt, die Produk­tion zu sabotieren mit dem Ziel, einerseits die Arbei­ter verhun­gern zu lassen und an­dererseits, sie zu zerstreuen und zu demo­ralisieren: „Die Kapitalisten nutzten die Struktur der mo­dernen kapitalistischen Produk­tion und deren enge Verbindung mit den nationalen und in­ternationalen Banken und anderen Organisa­tionen des vereinigten Kapitals (Syndikate, Trusts, verschiedene Fabrikantengesellschaf­ten usw.) und be­gannen, ein umfassendes, wohl­überlegtes System der ‚Sabotage’ aufzu­ziehen. Als Mittel wandten sie anfangs Ein­stellung der Arbeiter der Fabrikverwaltung, Des­organisation der Betriebe, Verstecken und Entfernen von Material, Brandstiftungen an... Die Kapitalisten legten sich bei der Wahl ihrer Methoden keinen Zwang auf“ (A.M. Pankra­tova, Fabrikräte in Russ­land, Moskau 1923/Frankfurt 1976, S. 179).

Sie entfesselten eine wilde Repression ge­gen den Kampf der Arbeiter.

„In Charkow akzeptierte eine Versamm­lung von 30.000 organisier­ten Bergar­beitern den Grundsatz der IWW (Industriearbeiter der Welt): 'Die arbei­tenden und die besitzenden Klassen haben nichts miteinander ge­mein'. Kosaken jagten die Bergarbei­ter auseinan­der; ei­nige wurden von den Bergwerksbesit­zern ausgesperrt, der Rest rief den General­streik aus. Der Minister für Handel und In­dustrie, Konowalow, gab seinem Ver­treter Orlow un­beschränkte Vollmacht, der Schwierigkeiten mit allen ihm gutdün­kenden Mitteln Herr zu werden. Die Berg­arbeiter hassten Orlow. Aber das Zentralexekutivko­mitee der Sowjets bestä­tigte nicht nur seine Ernennung, sondern lehnte auch die Forde­rung ab, die Kosa­ken aus dem Donezbecken zu­rückzurufen“ (J. Reed, S. 83).

Sie täuschten die Massen mit leeren Wor­ten über die revolutionäre Demo­kratie, wäh­rend sie die Mass­nahmen der Sowjets sabo­tierten.

Sie versuchten, die Sowjets aus dem In­nern heraus zu liquidieren, indem sie seine Resolu­tionen nicht verwirklich­ten oder Vollver­sammlungen aufscho­ben und alles den Ma­chenschaften der kleinen Komitees überliessen. Sie ver­suchten, die ausgebeute­ten Massen zu spalten: Bereits seit April hatten Men­schewiki und -Sozial­revolutionäre an die Provinz gegen Pe­trograd zu appel­lieren begonnen, an die Sol­daten ge­gen die Arbeiter, an die Ka­vallerie ge­gen die Maschinengewehrschüt­zen. Sie ga­ben den Kompanien privile­giertere Vertretun­gen in den Sowjets als den Fabriken; begün­stigten die kleinen, verein­zelten Betriebe ge­genüber den Me­tallgiganten. Verkörperungen des gestri­gen Tages suchten sie Schutz bei Rück­ständigkeiten jeglicher Art. Den Boden un­ter den Füssen verlierend, hetzten sie die Ar­rieregarde gegen die Avantgarde“ (Trotzki, „Julitage - Kulminationspunkt und Zertrüm­merung“, S. 451).  

Sie versuchten die Sowjets dazu zu brin­gen, die Macht an demokratische Or­gane zu übergeben: die Zemstvos - vom Zar einge­richtete lokale Organe; an die Moskauer demo­kratische Augustkonfe­renz, ein wahres Schlan­gennest, das repräsentative Kräfte wie den Adel, das Militär, die schwar­zen Hundert­schaften, die Kadetten usw. zu­sammenfasste.

Im September versuchten sie, die So­wjets kaltzustellen durch die Einberu­fung der Vor­demokratischen Konfe­renz, in der die Bour­geoisie und der Adel auf den aus­drücklichen Wunsch der Sozialverräter 683 Abgeordnete hatten im Vergleich zu 230 Sowjetabgeordne­ten. Kerenski ver­sprach dem amerikanischen Botschaf­ter: Wir wer­den die Sowjets eines natürlichen Todes sterben lassen. Der politi­sche Schwerpunkt wird sich zu­nehmend von den Sowjets zu den neuen demokratischen Or­ganen mit autono­mer Repräsentation ver­schieben.

Die Sowjets, die das Proletariat aufrie­fen, die Macht zu übernehmen, wur­den demokratisch mit Waffengewalt niederge­schlagen: Dazu kam die Spren­gung des So­wjets in Ka­luga. Die Bol­schewiki hatten dort die Mehrheit erlangt und einige politi­sche Gefan­gene frei­gesetzt. Die Stadtduma rief mit Zustim­mung des Regierungskom­missars Trup­pen aus Minsk herbei, die das Gebäude des Sowjets mit Artil­lerie beschos­sen. Die Bol­schewiki kapitulier­ten. Wäh­rend sie das Ge­bäude verliessen, wurden sie plötz­lich von Kosaken mit dem Ruf überfal­len: 'So werden wir es mit allen bol­schewistischen Sowjets ma­chen, die von Pe­trograd und Moskau nicht ausgenom­men“(J. Reed, S. 84). Die Arbeiter sahen, wie ihre Klassenor­gane untergraben wurden und eine Politik verfolg­t wurde, die gegen ihre Interessen gerichtet war. Wie oben aufgezeigt, riefen die politi­schen Krisen im April, Juni und haupt­sächlich im Juli entschiedene Taten hervor: Die Erneue­rung der Sowjets, um sie auf die Machtergrei­fung hin zu orien­tieren. Die Sowjets waren - wie Lenin sagte - Or­gane, die sich „auf die unmittelbare In­itiative der Volksmassen von unten“ (Lenin, Über die Doppelherrschaft) stütz­ten. Dies befähigte die Massen zu ei­ner schnellen Änderung in dem Augen­blick, wo sie er­kannten, dass sie nicht ihre Inter­essen vertraten. Von Mitte Au­gust an beschleu­nigte sich das Leben der So­wjets zu einem schwin­delerregenden Tempo. Tag und Nacht wurden ununterbrochen Ver­sammlungen abgehalten. Arbeiter und Solda­ten führten bewusste Diskussio­nen, verab­schiedeten Resolutionen, stimmten mehrmals täglich ab. In die­sem Klima ei­ner intensiven eigenstän­digen Aktivität der Massen in ver­schiedenen Sowjets (Helsingfors, im Ural, Kronstadt, Reval, im Baltikum usw.), wählten diese von den Bol­schewiki, den internationali­stischen Men­schewiki, linken Sozialrevolutio­nären, An­archisten gebildete revolutio­näre Mehr­heiten.

Am 31. August nahm der Petrograder So­wjet einen bolschewistischen Antrag an. Die Führer des Sowjets - die Men­schewiki und Sozialre­volutionäre - lehnten den An­trag ab. Am 9. Septem­ber wählten die So­wjets eine bolsche­wistische Mehr­heit. Moskau folgte unmittelbar und so setzte sich das im gan­zen Land fort. Die Massen wählten diejeni­gen Sowjets, die sie brauchten, um die Macht zu überneh­men und aus­zuführen.

DIE ROLLE DER BOLSCHEWISTI­SCHEN PARTEI

Im Kampf der Massen um die Kon­trolle ih­rer Organe gegen die Sabotage der Bour­geoisie spielten die Bolsche­wiki eine ent­scheidende Rolle. Das Zentrum der Aktivi­tät der Bol­schewiki war die Ent­wicklung der Sowjets:

„Die Konferenz wiederholt, dass es not­wendig ist, eine vielfältige Aktivität in den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendepu­tierten zu entwic­keln, die Anzahl der So­wjets zu erhöhen, ihre Macht zu festigen und die proletari­schen in­ternationalistischen Gruppen unserer Par­tei in den Sowjets zusammenzuschwei­ssen“ ( 7. Ge­samtrussische Konferenz der SDAPR , April 1917). 

Diese Aktivität war zentral für die Ent­wicklung des proletarischen Klassenbe­wusstseins, eine geduldige Arbeit in der Klä­rung des proletarischen Klassenbe­wusstseins und des Zusam­menhaltes zwi­schen den Arbei­tern der Städte und auf dem Lande“. (ebenda).

Dies hiess, Vertrauen zu haben einer­seits in die kritische und analytische Fähigkeit der Mas­sen: „Während aber die Agitation der Men­schewiki und der Sozialrevolutio­näre zerfah­renen, wi­dersprechenden, am häufig­sten aus­weichenden Charakter trug, zeich­nete sich die Agitation der Bolsche­wiki durch Überlegung und Konzentriert­heit aus. Die Versöhnler suchten durch Ge­schwätz sich der Schwierig­keiten zu entledigen, die Bolschewiki gingen die­sen entgegen. Dau­ernde Analyse der Situa­tion, Nachprüfung der Parolen an den Tatsa­chen, ernsthaftes Verhalten dem Gegner, so­gar dem wenig ernsten, gegen­über, ver­liehen der bolschewisti­schen Agitation be­sondere Stärke und Überzeu­gungskraft“ (Trotzki, Die Bol­schewiki und die Sowjets, S. 656).

Andererseits in die Fähigkeit zur Ein­heit und Selbstorganisation: „Glaubt nicht an Worte. Lasst euch nicht von Versprechun­gen ködern. Überschätzt eure Kräfte nicht. Or­ganisiert euch in jedem Be­trieb, in je­dem Regiment, in jeder Kompanie, in je­dem Häuser­block. Ar­beitet täglich und stündlich an der Organisa­tion, arbeitet daran selber, diese Arbeit darf man nie­mandem an­deren anvertrauen“ (Lenin, Einleitung zu den Re­solutionen der 7. Gesamt­russischen Konfe­renz der SDAPR, Bd. 2, S. 156).

Die Bolschewiki versuchten nicht, die Mas­sen, wie ein General seine Trup­pen anfüh­rend, einem vorgefassten Aktions­plan zu un­terwerfen. Sie ver­standen, dass die Revolu­tion die Arbeit der Massen in di­rekten Ak­tionen war, und dass sie durch diese direk­ten Aktio­nen ihre historische Aufgabe er­füllten:

„Die Hauptstärke Lenins war, dass er die in­nere Logik der Bewegung begriff und da­nach seine Politik richtete. Er zwang den Massen nicht seinen Plan auf. Er half den Massen, ih­ren eigenen Plan zu erken­nen und zu verwirk­lichen“ (Trotzki, Die Umbe­waffnung der Par­tei, S. 277).

Die Partei entwickelt keine Rolle als Vor­hut der Klasse, indem sie sagt: „Hier ist die Wahrheit, auf die Knie jetzt“. Im Ge­genteil wurde die Partei von all den Un­gewissheiten und Hin­dernissen erfasst, die der Klasse im Wege standen; und wie der Rest der Klasse - wenn auch auf andere Weise - war sie dem zerstörerischen Ein­fluss der bürgerli­chen Ideologie ausge­setzt. Sie war aber fä­hig, ihre Rolle als ein Mo­tor in der Ent­wicklung des Klas­senbewusstseins zu spie­len, weil sie durch eine Reihe politischer Debatten die Fehler und Unvollkommen­heiten ihrer alten Po­sitionen überwinden konnte und einen Kampf auf Le­ben und Tod mit den ge­fährlichen  opportuni­stischen Verirrungen führte, um diese auszu­löschen.

Vom Beginn des Monats März an hatte ein beträchtlicher Teil der Bolschewiki die Forde­rung nach der Wiederverei­nigung mit den so­zialistischen Parteien (Menschewiki und Sozi­alrevolutionären) gestellt. Sie brachten ein an­scheinend un­fehlbares Ar­gument auf, das in den ersten Augenblicken der generellen Be­geisterung und wegen des Mangels an Erfah­rung der Massen auf diese eine Wirkung hatte: Warum sollten sich die sozialistischen Parteien zu einer Zeit, wo sie Seite an Seite marschie­ren, nicht vereini­gen? Warum die Arbeiter mit 2 oder 3 ver­schiedenen Parteien verwirren, die alle be­haupten, das Proletariat und den So­zialismus zu repräsentieren?

Tatsächlich bedeutete dieses Argument eine ernsthafte Bedrohung für die Revo­lution: Die Partei, die von 1902 an gegen den Opportu­nismus und Re­formismus an­kämpfte, die von 1914 an am konsistente­sten und entschieden­sten die internationale Revolution gegen den 1. Weltkrieg ver­teidigte, lief Ge­fahr, sich im trüben Was­ser der Sozi­alverräter aufzulösen. Wie konnte das Proletariat mit seinen eigenen Kräften die Verwirrungen und Illusionen, an denen es litt, überwinden? Wie konnte es die Ma­növer und Fallen des Feindes bekämpfen? Wie konnte es den Kampf in der richtigen Richtung weiterführen ange­sichts der Schwan­kungen oder der Nie­derlage? Lenin und die Partei be­kämpften siegreich die falsche Ein­heit, die nur eine Einheit mit der Bour­geoisie bedeutet hätte.

Anfangs war die bolschewistische Partei eine kleine Minderheit. Viele Arbeiter hat­ten Illu­sionen über die Provisorische Regie­rung und betrach­teten diese als eine Er­scheinung, die aus den Sowjets hervor­gegangen war, ob­wohl sie in Wirklichkeit ihr schlimmster Feind war. Im März und April nahmen die führen­den bolschewisti­schen Organe in Russ­land eine versöhnle­rische Haltung gegen­über der Provi­sorischen Regierung ein, womit sie die Ar­beiter in eine offene Unterstützung für den imperialisti­schen Krieg führten. Eine von der Ba­sis der Partei ausgehende Be­wegung (das Vyborgkomitee) erhob sich gegen diese op­portunistische Abwei­chung. Diese Bewe­gung fand ihren klar­sten Ausdruck in Lenin und seinen Aprilthesen. Für Lenin war die Schlüs­selposition: „Keinerlei Unter­stützung der Pro­visorischen Regie­rung, Aufdec­kung der gan­zen Verlogen­heit aller ih­rer Ver­sprechungen, insbesondere hin­sichtlich des Verzichts auf Annexionen. Entlarvung der Provisorischen Regie­rung statt der unzulässigen, Illusionen erwecken­den 'Forderung', diese Re­gierung, die Regie­rung der Kapitali­sten, solle aufhören, imperiali­stisch zu sein“ (Lenin, Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärti­gen Re­volution, Bd 2, S. 40).

Gleichzeitig verwarf Lenin die Akti­vitäten der Menschewiki und der Sozialrevolutio­näre ge­gen die Sowjets: „Der 'Fehler' der genannten Führer liegt in ihrer klein­bürgerlichen Hal­tung, liegt darin, dass sie das Bewusst­sein der Arbeiter trüben, an­statt es zu klären, dass sie kleinbürgerliche Illu­sionen einflössen, statt sie zu zerstören, dass sie den Einfluss der Bour­geoisie auf die Mas­sen stärken, anstatt die Massen von diesem Einfluss zu be­freien“ (Lenin, Über die Doppel­herrschaft, Bd. 2, S. 46).

Gegenüber denjenigen, die diese Entblössung als wenig praktisch be­trachteten, er­widerte Lenin: „In Wirk­lichkeit ist es im höchsten Grade prak­tische revolutionäre Arbeit, denn man kann eine Revolution nicht vorwärtstrei­ben, die zum Stillstand ge­kommen, die in Redens­arten versandet ist, die 'auf der Stelle tritt' nicht etwa äu­sserer Hindernisse we­gen..sondern weil die Mas­sen in blinder Ver­trauensseligkeit be­fangen sind....

Nur durch den Kampf gegen diese blinde Vertrauensseligkeit (der aus­schliesslich mit geistigen Waffen, durch kameradschaftli­che Überzeugung, durch Hinweis auf die Erfah­rungen des Lebens geführt werden kann und darf) können wir uns von der grassierenden revolutionären Phrase be­freien und wirklich sowohl das Bewusst­sein des Proletariats als auch das Be­wusstsein der Massen sowie ihre kühne, ent­schlossene Initiative überall im Lande, die selbständige Verwirklichung, Ent­faltung und Festigung der Freiheiten, der De­mokratie, des Prinzips des Gemeinbe­sitzes des Volkes am ge­samten Boden vor­antreiben“ (Lenin, Die Aufgaben des Pro­letariats in unse­rer Revolution, Bd. 2, S. 57).

Die Verteidigung der geschichtlichen Erfah­rung der Arbeiterklasse, ihrer Klassenposi­tionen, bedeutet, dass man in vielen Situa­tionen in den Reihen der Ar­beiter in der Minderheit ist. Das kommt daher, weil „die Masse schwankt: zwi­schen dem Vertrauen zu ihren alten Her­ren, den Kapitali­sten, und der Er­bitterung über sie; zwischen dem Vertrauen zu der neuen Klasse, die allen Werktätigen den Weg in eine lichte Zukunft er­öffnet, zu der ein­zigen konsequent revolutio­nären Klasse, dem Proletariat, und der man­gelhaften Er­kenntnis seiner welthistori­schen Rolle“ (Lenin, Die Lehren der Krise, Bd. 2, S. 87).

Um diese Schwankungen zu überwin­den, „kommt es nicht auf die Zahl an, sondern auf den richtigen Ausdruck der Ideen und der Po­litik des wirklich revolutionären Proletariats“ (Lenin, Die Aufgaben des Proletariats in unse­rer Revolution, Bd. 2, S. 75)

Wie alle anderen proletarischen Par­teien wa­ren auch die Bolschewiki ein unzer­trennlicher Teil der Klassenbe­wegung. Bol­schewistische Militante waren am ak­tivsten in den Kämpfen, in den Sowjets, den Fabri­ken und Versamm­lungen. Die Julitage zeigten klar die nicht zu lösende Bindung und das Engagement der Bol­schewiki ge­genüber der Klasse.

Wie wir weiter oben gesehen haben, wurde die Situation gegen Ende Juni untragbar we­gen des Hungers, des Krieges und des Chaos. Die Situation wurde noch ver­schlimmert durch die ver­deckte Politik der Bourgeoisie und durch die Tatsache, dass das Zentralexekutiv­komitee, das noch im­mer in der Hand der So­zialverräter war, nichts anderes unter­nahm als die Sowjets zu sabotieren. Die Arbeiter und Soldaten, hauptsächlich die­jenigen in der Hauptstadt, begannen den Sozi­alverrätern zu miss­trauen. Ungeduld, Verzweiflung und Wut wurden in den Ar­beiterreihen stärker und stärker; es trieb sie zur unmittelbaren Mach­tergreifung. Jedoch waren die Bedin­gungen dazu zu dem Zeitpunkt noch nicht reif:

- die Arbeiter und Bauern in den Provin­zen waren noch nicht auf dem­selben poli­tischen Niveau wie ihre Brüder in der Hauptstadt;

- die Bauern hatten noch immer Ver­trauen in die Provisorische Regierung;

- unter den Arbeitern der Hauptstadt war die vorherrschende Meinung, nicht wirk­lich die Macht zu überneh­men, sondern eine Kraftan­strengung zu unternehmen, um die „sozialistischen Führer zu zwin­gen, die Macht zu übernehmen. Anders ausge­drückt: die 5. Kolonne der Bour­geoisie bit­ten, die Macht im Namen der Arbeiter zu überneh­men.

Unter diesen Bedingungen wäre der Be­ginn der entscheidenden Konfronta­tion mit der Bourgeoisie und ihren Hilfsshe­riffs ein Aben­teuer gewesen, das das Schicksal der Revolu­tion hätte ernsthaft gefährden kön­nen. Es wäre eine Aktion gewesen, die zu einer end­gültigen Nie­derlage geführt hätte.

Die Bolschewiki warnten vor solch ei­ner Ak­tion; aber als sie sahen, dass die Mas­sen ihre Warnungen nicht berücksichtig­ten und fortfuh­ren, stan­den sie nicht ab­seits und sagten: „Das ist euer Begräb­nis. Die Partei betei­ligte sich an den Ak­tionen und ver­suchte, die Katastro­phe ab­zuwenden und gleichzeitig den Arbei­tern die Mög­lichkeit zu geben, ein Maximum an Lehren daraus zu ziehen, um sie für den wirkli­chen Au­genblick des Auf­stands vorzube­reiten. Sie kämpfte mit all ihrer Kraft, um sicherzu­stellen, dass der Petro­grader So­wjet durch ernst­hafte Diskussio­nen und durch die Ein­setzung von ad­äquaten Füh­rern sich selbst so erneuerte, dass er in Überein­stimmung mit der politi­schen Orientie­rung der Massen kam.

Die Bewegung war jedoch erfolglos und er­litt eine Niederlage. Die Bour­geoisie und ihre menschewistischen und sozialre­volutionären Hampelmän­ner begannen eine brutale Repres­sion gegen die Arbeiter und hauptsächlich ge­gen die Bolschewiki. Das Proletariat hatte einen hohen Preis zu zah­len: Verhaftungen, Erschiessungen und Exil. Das Opfer jedoch half der Klasse, die Aus­wirkungen der Nie­derlage zu be­grenzen und die Frage des Auf­standes in bewussterer und or­ganisierter Weise, unter besseren Be­dingungen neu zu stellen.

Die Bindung der Partei zur Klasse er­laubte ihr, als die schlimmsten Augen­blick der Reak­tion der Bourgeoisie im August vor­über wa­ren, die Synthese von Partei und Klasse zu verwirkli­chen, die für den Tri­umph der Revo­lution Voraus­setzung war: äIn jenen Tagen der Fe­bruarumwälzung hatte sich die gesamte vorangegangene langjährige Arbeit der Bol­schewiki ge­zeigt, und die von der Partei erzo­genen fortge­schrittenen Arbei­ter hatten ihren Platz im Kampfe gefun­den; doch eine unmit­telbare Leitung sei­tens der Partei gab es noch nicht. In den Aprilereig­nissen enthüllten die Partei­parolen ihre dynamische Kraft, die Be­wegung jedoch entwickelte sich spontan. Im Juni offenbarte sich der rie­sige Einfluss der Partei, doch die Massen traten noch im Rah­men einer offiziell vom Gegner be­stimmten Demonstration auf. Und erst im Juli erscheint die bolsche­wistische Partei, nachdem sie den Druck der Massen erfah­ren hat, gegen alle übri­gen Parteien auf der Strasse und bestimmt nicht nur ihre Parolen, sondern auch durch ihre organi­satorische Leitung den grundlegen­den Charakter der Bewegung. Die Bedeu­tung einer geschlos­senen Avant­garde zeigt sich zum erstenmal in ihrer gan­zen Stärke während der Juli­tage, wo die Partei- um einen hohen Preis - das Proletariat vor Zerschmette­rung be­wahrt und die Zukunft der Revolution und ihre ei­gene Zukunft si­chert“ (Trotzki, Konnten  die Bolschewiki im Juli die Macht ergrei­fen?, S. 475).

DIE SOWJETS FÜHRTEN DEN AUF­STAND DURCH

Der Zustand der Doppelherrschaft, der die ganze Zeit von Februar bis zum Ok­tober be­stimmte, war eine instabile und gefährli­che Zeit. Da sie aufgrund der Un­fähigkeit der bei­den Klassen, sich jeweils durch­zusetzen, sich fortzu­setzen drohte, scha­dete sie hauptsäch­lich dem Proleta­riat: Während die Un­fähigkeit und das Chaos dieser Peri­ode den wachsenden Po­pularitätsverlust der herrschenden Klasse ver­deutlichte, er­schöpfte und vernebelte sie gleichzeitig die Arbeitermassen. Sie wurden in fruchtlose Kämpfe reingezo­gen, und all das führte zu einer Entfrem­dung, zu einem Verlust der Sympathien der Mit­telklassen gegenüber dem Proleta­riat. Diese Situation erforderte eine Klä­rung, eine Loslösung, sie machte den Aufstand zu einer zwingenden Lösung: „Entweder muss die Revolution sehr rasch  und ent­schlossen vorwärts­stürmen, mit ei­serner Hand alle Hin­dernisse niederwerfen und ihre Ziele immer weiter stecken, oder sie wird sehr bald hinter ihren schwächli­chen Ausgangspunkt zurückgeworfen und von der Konterrevolution erdrückt“ (Rosa Luxemburg, Zur russischen Re­volution, Bd. 4, S. 339).

Der Aufstand ist eine Kunst. Er muss in ei­nem bestimmten Augenblick in der Ent­faltung und Reifung der revo­lutionären Si­tuation ausge­führt wer­den; er darf we­der zu früh erfolgen, was zu einem Fehl­schlag füh­ren würde, noch zu spät, was heissen würde, eine Gelegenheit verpasst zu haben, was wiederum bedeuten würde, dass die re­volutionäre Bewegung zu ei­nem Opfer der Konterrevolution wer­den würde.

Anfang September versuchte die Bour­geoisie mit Hilfe von Kornilow einen Putsch - das Si­gnal für die letzte Offen­sive der Bourgeoisie, um die Sowjets zu besei­tigen und ihre Macht wieder voll­ständig herzu­stellen. Das Proleta­riat durchkreuzte in inten­siver und brei­ter Zusammenarbeit mit den Soldaten den Plan der Bourgeoisie und beschleunigte gleichzeitig die Zerset­zung der Armee: in zahlreichen Regi­mentern sprachen sich die Soldaten für die Abset­zung der Offiziere aus und für die Orga­nisierung von Solda­tenräten - kurzum, sie stellten sich auf die Seite der Revolu­tion.

Wie wir weiter oben gesehen haben, än­derte die Erneuerung der Sowjets ab Mitte August klar das Gleichgewicht der Kräfte zugunsten des Proletariats. Die Niederlage des Korni­lowputsches beschleunigte die­sen Prozess.

Ab Mitte September strömte eine Flut von Re­solutionen, die die Machtüber­nahme verlang­ten, in die lokalen und regionalen Sowjets (Kronstadt usw.). Der Sowjet­kongress der Nordregionen vom 11. bis 13. Oktober sprach sich offen für den Auf­stand aus. Der Mins­ker Regionalkon­gress der So­wjets ent­schied, den Aufstand zu unterstüt­zen und schickte Solda­ten, die der Revolu­tion loyal waren: „Am 12. gab die Ver­sammlung einer der re­volutionärsten Fabri­ken der Haupt­stadt (Stari-Parvyei­nen) auf die Hetze der bür­gerlichen Presse die Ant­wort: 'Wir erklä­ren kategorisch, dass wir auf die Strasse gehen werden, so­bald wir es für nötig er­achten sollten. Uns schreckt nicht der nahe bevorstehende Kampf, und wir glau­ben fest, dass wir aus ihm als Sieger her­vorgehen wer­den“ (Trotzki, Das militäri­sche Revolutions­komitee, S.769).

Am 17. Oktober beschloss der Petro­grader Soldatenrat: „Die Pe­trograder Gar­nison kennt nicht länger die Provisorische Regie­rung an. Un­sere Regie­rung ist der Petro­grader Sowjet. Wir werden nur die Befehle des Petrograder Sowjets, die er mittels des Militärisch-revolutionären Ko­mitees aus­gibt, ausführen“ (J. Reed).

Der Vyborger Distriktsowjet rief zu einer Demonstration zur Unterstützung der Resolu­tion auf, an der sich Matro­sen be­teiligten. Eine Moskauer liberale Zeitung - die von Trotzki zitiert wird - beschrieb die Atmo­sphäre in der Stadt folgenderma­ssen: „In den Arbeitervier­teln, in den Fa­briken Petrograds, Vevskis, Obujows und Puti­lows, hat die bolschewistische Agita­tion für den Aufstand ihren Höhepunkt er­reicht. Die Haltung der Arbeiter ist die, dass sie bereit sind, zu jedem Zeitpunkt los­zuschlagen“ .

Die Zunahme von Bauernrevolten im Septem­ber zeigte eine anderes Element der Heranrei­fung der notwendigen Bedin­gungen für den Aufstand: „Ein vollendeter Verrat an der Bauern­schaft. Die Nieder­werfung des Bauernauf­standes zu­lassen, obwohl wir beide haupt­städtischen So­wjets in Händen haben, heisst jedes Vertrauen der Bauern verlieren und verdienter­massen verlieren, heisst sich in den Au­gen der Bauern mit den Liber­dan und den anderen Schuften auf eine Stufe stellen“ (Lenin, Die Krise ist heran­gereift, Bd. 2, S. 439).

Aber die internationale Lage war der Schlüs­selfaktor für die Revolution. Lenin unterstrich dies in einem Brief an die Bol­schewistischen Genossen, die am Kongress der Sowjets des Nord­gebietes (vom 8.10.1917) teilnahmen:

„Unsere Revolution macht eine im höchsten Grade kritische Zeit durch. Diese Krise fällt zusammen mit der grossen Krise des Heran­reifens der soziali­stischen Welt­revolution und ih­rer Be­kämpfung durch den Weltimperialis­mus. Den verantwortli­chen Führern unserer Partei fällt eine giganti­sche Aufgabe zu, und wenn sie diese nicht erfüllen, so droht der völ­lige Zusammen­bruch der internationalisti­schen proletari­schen Be­wegung. In diesem Au­genblick be­deutet eine Verzögerung wahr­haftig den Tod“ (Brief an die Genossen Bol­schewiki, die am Kongress der Sowjets des Nordge­biets teilnehmen, Bd. 2, S. 496). In einem anderen Brief hob Lenin her­vor: „Die Bol­schewiki haben nicht das Recht, auf den Sowjetkongress  zu warten, sie müssen die Macht sofort ergreifen. Da­durch retten sie sowohl die Weltrevolution (denn andernfalls droht ein Pakt der Im­perialisten aller Län­der, die nach den Erschiessungen in Deutschland einander ent­gegenkommen werden, um sich gegen uns zu vereinigen) wie auch die russi­sche Re­volution (sonst kann die Welle echter An­archie stärker werden als wir) und das Le­ben von Hunderttau­senden im Felde“ (Brief an das ZK, das Moskauer Komitee, das Petro­grader Komitee.., Bd. 2, S. 491). Dieses Verständnis der internationalen Ver­antwortung des russischen Proleta­riats war nicht auf Lenin und die Bol­schewiki be­schränkt. Im Gegenteil: viele Teile der Arbei­terklasse begriffen sie.

- am 1. Mai 1917 „beteiligten sich in ganz Russland Kriegsgefangene an der Seite der Soldaten an den Märschen mit den glei­chen Fahnen, manchmal sangen sie die gleichen Lieder in ande­rer Stimmlage... der kadetti­sche Mini­ster Schingarew (verteidigte) den Be­fehl Gutschkows gegen die 'übermässige Nach­sicht' mit den Ge­fangenen... Der Mini­ster fand nicht die ge­ringste Zustimmung. Die Ver­sammlung sprach sich entschieden für die Erleichte­rung des Schicksals der Gefangenen aus“ (Trotzki, Die Regie­renden und der Krieg, S. 242).

„Ein Soldat sprach, von der rumäni­schen Front, abgemagert, voll beben­der Leiden­schaft: 'Genossen, wir hun­gern an der Front, wir frieren, wir sterben und wissen nicht wo­für. Ich bitte die amerikanischen Genossen, es in Amerika zu sagen, dass wir Russen unsere Revolution bis zum Tode vertei­digen werden. Wir werden al­les daran­setzen, unsere Feste zu halten, bis die Massen der ganzen Welt sich erhe­ben wer­den, um uns zu Hilfe zu eilen. Sagt den amerikanischen Arbeitern, dass sie aufste­hen mögen zum Kampfe für die soziale Revolu­tion“ (J. Reed, S. 68).

Die Kerenski Regierung beabsichtigte, die re­volutionärsten Regimenter von Petro­grad, Moskau, Vladimir, Reval usw. an die Front oder in entfernte Regionen zu schicken, um den Kampf unter ihre Kon­trolle zu bringen. Gleichzeitig begann die liberale und men­schewistische Presse eine Verleumdungskam­pagne gegen die Sol­daten. Sie wurden ange­klagt, selbstgefäl­lig zu sein und “ihr Leben nicht für das Vater­land geben zu wol­len“. Die Arbeiter der Hauptstadt ant­worteten unmittel­bar: zahlrei­che Fa­brikversammlungen unter­stützten die Soldaten, riefen „Alle Macht den So­wjets“ und verabschiedeten Reso­lutionen für die Bewaffnung der Ar­beiter.

In dieser Atmosphäre entschied der Petro­grader Sowjet am 9. Oktober, ein militäri­sches Revolutionskomitee zu bilden mit dem an­fänglichen Ziel, die Regierung zu kontrollie­ren. Bald wurde es jedoch in das Zentrum der Organisierung des Aufstan­des umge­wandelt. Es umfasste Abgesandte des Petrograder So­wjets, des Matrosen­sowjets, des finnischen Sowjets, der Ei­senbahnergewerkschaft, des Kon­gresses der Fabrikräte und der Roten Garde. „Die Roten Garden entstanden zum er­sten Mal in der Revolution von 1905 und er­schienen er­neut in den Märztagen 1917 auf dem Schau­platz, als eine Kraft ge­braucht wurde, um Ruhe und Ordnung in den Städten zu wah­ren. Sie waren bewaff­net, und je­der Ver­such der Provisorischen Regie­rung, sie zu entwaffnen, blieb mehr oder weniger er­folglos. In jeder grossen Krise der Revolution erschie­nen die Roten Garden auf der Strasse, unge­schult und undiszipliniert, aber von revolutio­närem Elan erfüllt“ (J. Reed, S. 27).

Bei der Gründung berief das militäri­sche Re­volutionskomitee (MRK) eine Konfe­renz der Regimentskomitees ein, wo am 18. Oktober offen die Frage des Auf­stands diskutiert wurde. Die Mehrheit der Komi­tees, ausge­nommen zwei, die dage­gen wa­ren und zwei, die sich für neutral erklärten (es gab 5 weiter Regimenter, die nicht mit der Konferenz über­einstimmten), sprach sich zugunsten des Auf­stands aus. Gleich­zeitig verabschie­dete die Konfe­renz eine Resolution zugun­sten der Be­waffnung der Arbeiter. Die Resolution wurde bereits ausgeführt: In Massen strömten Ar­beiter zu den Arsena­len und verlangten nach al­len Waffen. Als die Regierung die Aushän­digung der Waf­fen verbot, beschlossen die Arbei­ter und Angestellten der Peter-Paul-Fe­stung (einer reaktionären Bastion), sich selbst dem MRK zu Verfügung zu stellen und orga­nisierten gemeinsam mit anderen Arsena­len die Verteilung der Waffen an die Sol­daten.

Am 21. Oktober nahm die Konferenz der Re­gimentskomitees folgende Re­solution an:ä1. Die Garnison von Pe­trograd und Umgebung verspricht dem Militärischen Revolutionskomitee volle Unterstützung bei all seinen Schritten. 2. Die Garnison wen­det sich an die Kosaken: Wir laden euch zu unseren morgigen Versammlungen ein. Seid willkommen, Brüder-Kosaken!. 3. Der Allrussische Sowjetkongress muss die Macht in seine Hände nehmen. Die Garnison ver­spricht feierlich, alle ihre Kräfte dem Kon­gress zur Verfügung zu stellen. Verlasst euch auf uns bevoll­mächtigte Vertreter der Soldaten, Ar­beiter und Bauern. Wir alle sind auf unseren Posten, bereit zu siegen oder zu sterben“ (Trotzki, Bd 3, S. 785, Das militärische Revolutionskomitee).

Hier haben wir die charakteristischen Merkmale eines Arbeiterauf­stands: die kreative Initiative der Mas­sen, gerade­aus vor­wärts, direkt und eine bewun­derswerte Orga­nisationsfähigkeit, Dis­kussionen und Debatten, die Resolu­tionen hervorbrin­gen, die den Stand des Bewusstseins, das die Massen er­reichten, zusamm­enfassten; Ver­lass auf Überzeugun­gen, wie in dem Aufruf an die Kosaken, die Regierung zu verlas­sen oder das leidenschaft­lich ge­führte und dramati­sche Treffen der Sol­daten der Pe­ter-Paul-Festung, das am 23. Ok­tober statt­fand und wo entschieden wurde, den Be­fehlen von niemand an­ders zu folgen als denen des MRK. Diese Wesens­merkmale sind haupt­sächlich Aus­drücke einer Bewe­gung zur Emanzipa­tion der Menschheit; der direkten, leidenschaftlichen, kreativen In­itiative und Führung der aus­gebeuteten Massen.

Der Sowjettag am 22. Oktober, der vom Petrograder Sowjet ausgerufen wurde, be­schloss endgültig den Auf­stand: In allen Di­strikten und Fabriken fanden jeden Tag Ver­sammlungen  und Treffen statt, die überwälti­gend mit den Slogans „Nieder mit Kerenski“ und „Alle Macht den Sowjets“ übereinstimm­ten. Das war ein giganti­scher Akt, in dem sich Arbei­ter, Be­schäftigte, Soldaten, viele Kosa­ken, Frauen und Kin­der offen für den Auf­stand vereinigten.

Es ist nicht möglich, im Rahmen die­ses Arti­kels all die Einzelheiten wieder­zugeben (dazu empfehlen wir die Bü­cher von Trotzki und J. Reed). Was wir zeigen wollten, ist das mas­sive, of­fene und kol­lektive Wesen des Auf­stands.

„Der Aufstand wurde deshalb für einen be­stimmten Tag festgelegt, den 25. Oktober. Aber darauf hatte man sich nicht in ir­gendeiner geheimen Sitzung geeinigt, son­dern offen und öffentlich, und die Revolu­tion wurde genau am 25. Oktober sieg­reich durchgeführt (6. November), wie vorher beschlossen. In der Weltgeschichte hat es viele Revol­ten und Revolutionen ge­geben, aber hatte es jemals einen anderen Aufstand von einer unterdrückten Klasse gege­ben, der so offen und öffentlich für ein bestimmtes Datum festgelegt worden war und genau an dem vorgesehenen Datum dann auch siegreich durchge­führt wurde? Aus diesem und anderen Gründen ist die Oktoberrevolution  (‚Novemberrevolution’) einzigartig und ohne Vergleich in der Geschichte“ (Trotzki, Die Novemberrevolution 1919). Die Bolschewisten hatten seit Septem­ber klar die Frage des Aufstands in den Ar­beiter- und Soldatenversammlungen ge­stellt; sie nahmen die kämpferisch­sten und entschiedensten Posi­tionen im MRK und in den Roten Garden ein; sie rüttelten da, wo Zweifel waren oder wo Positionen für die Provisorische Regierung eingenom­men wurden. Dies wurde durch die Über­zeugung der Sol­daten erreicht: Trotzkis Ansprache war zentral, um die Soldaten der Peter-Paul-Festung zu gewinnen. Auch ent­blössten sie unermüdlich die Ma­növer, Vor­würfe und Fallen der Men­schewiki. Schliess­lich kämpften sie für die Einberu­fung des 2. Sowjetkongres­ses ge­gen die Sabotage der So­zialverräter.

Trotzdem waren es nicht die Bolsche­wiki al­lein, sondern das ganze Proleta­riat Pe­trograds, das den Aufstand ent­schied und ihn ausführte. Die Men­schewiki und Sozi­alrevolutionäre hat­ten ständig das Zu­sammenkommen des 2. Kongresses der Sowjets hinauszuzögern ver­sucht. Durch den Druck der Massen, das Be­harren der Bolschewki, das Verschicken von Tausen­den von Telegrammen seitens der örtli­chen So­wjets an entsprechende Stellen mit der Aufforderung der Abhaltung dieses Kongres­ses, das zu seiner Einberufung für den 25. Oktober führte. „Nach der Revo­lution vom 25. Oktober sprachen die Men­schewiki und vor allem Mar­tow viel von der Machtergreifung hin­ter dem Rücken der 'Sowjets' und der 'Arbeiter'. Man kann sich eine schamlosere Verdrehung der Tat­sachen kaum vorstellen. Als die Sowjets - in einer Sitzung - mehrheitlich beschlos­sen, den 2. Kongress für den 25. Ok­tober einzu­berufen, sagten die Men­schewiki 'ihr habt die Revolution be­schlossen'. Als wir im Petrograder Sowjets mit einer überwälti­genden Mehrheit beschlossen, die Zer­streuung der Regimenter weg von der Haupt­stadt nicht zuzulassen, sagten die Men­schewiki, 'das ist der Anfang der Re­volution“. Als wir im Petrograder Sowjet das militärische Revolutionskomitee schu­fen, meinten die Men­schewiki, 'dies ist das Organ des be­waffneten Aufstands'. Aber als der Aufstand, der zuvor von diesem Organ geplant, ausgearbeitet und 'erfunden' war, auch an jenem festgelegten Tag stattfand, riefen die gleichen Men­schewiki: 'eine Verschwörung hat eine Re­volution hinter dem Rücken der Ar­beiter  angezettelt“ (Trotzki, ebenda).

So schuf das Proletariat selbst die Kraft, das Mittel - die allgemeine Be­waffnung der Ar­beiter, die Bildung des MRK, der Auf­stand - damit der So­wjetkongress wirklich die Macht über­nehmen könnte. Hätte der Kongress der Sowjets entschie­den, die „Macht zu überneh­men“, ohne vorher diese Mass­nahmen durch­zuführen, wäre dies nur eine leere, inhaltslose Geste geblieben, die leicht durch die Feinde der Revo­lution hätte zerschlagen werden kön­nen. Es ist nicht möglich, den Auf­stand als eine isolierte, formale Hand­lung zu betrach­ten. Er muss als Teil ei­ner umfas­senden Dy­namik der ganzen Klasse gese­hen werden, konkret in ei­nem Prozess auf internationaler Ebene, auf der sich die Bedin­gungen für die Re­volution entwic­kelten. Aber auch in Russland, wo unzähl­bare örtliche So­wjets die Machter­greifung for­derten: die Sowjets von Petrograd, Mos­kau, Tula, im Ural, in Sibirien, in Ju­kow - führten sie den siegreichen Aufstand gemein­sam durch.

Der Sowjetkongress traf die endgültige Ent­scheidung, womit die Stärke der In­itiative des Proletariats in Petrograd voll bestätigt wurde: „Gestützt auf den Willen der gewalti­gen Mehr­heit der Arbeiter, Soldaten und Bau­ern, ge­stützt auf den in Petro­grad vollzo­genen sieg­reichen Aufstand der Ar­beiter und der Garni­son, nimmt der Kon­gress die Macht in seine Hände...Der Kon­gress beschliesst: Die ganze Macht geht al­lerorts an die Sowjets der Arbeiter-, Sol­daten- und Bauern­deputierten über, die eine wirkliche re­volutionäre Ordnung zu ge­währleisten haben“. (An die Arbeiter, Soldaten und Bau­ern!, Band 2, S. 525).

Adalen, aus Internationale Revue Nr. 72 (1993)

Wir haben die Fehler der Bolschewisti­schen Partei nie geleugnet, auch nicht ih­ren Niedergangsprozess, und wie sie zum Rückgrad der verhassten stalinistischen Diktatur wurde. Siehe dazu unsere Artikel in der Internationalen Revue sowie unser Sonderheft: „Die Kommunistische Linke in Russland“.

Theorie und Praxis: 

  • Die Russische Revolution [18]

Polemik mit Programma Comunista zum imperialistischen Krieg

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Die Verwerfung der Auffassung der De­kadenz führt zur Schwächung der Arbeiter­klasse gegenüber dem Krieg

In den Nummern 90, 91 und 92 der Zeit­schrift 'Programme Communiste', die von der 'Internationalen Kommunistischen Par­tei' (IKP) veröffentlicht wird, welche auch die Zeitungen 'Il Comunista' auf italienisch und 'Le Prolétaire' auf französisch heraus­gibt (1), gibt es eine lange Untersuchung über 'der im­perialistische Krieg im bürger­lichen Zyklus in der marxistischen Ana­lyse'. In dieser Untersu­chung werden die Auffas­sungen der IKP über diese für die Arbeiter­bewegung so wichtige Frage ent­faltet. Die grundlegenden politischen Posi­tionen der IKP zu dieser Frage sind eine klare Vertei­digung der proletarischen Prinzi­pien ge­genüber all den Lügen, die von den ver­schiedenen Vertretern der herrschenden Klasse verbreitet werden. Jedoch bleiben be­stimmte theoretische Entwicklungen, auf die sich diese Prinzi­pien stützen und die Voraus­sagen, die aus ihnen abgeleitet sind, hinter den Erforder­nissen der Grundsatzpo­sitionen zurück, womit sie diese eher schwächen als stär­ken. In diesem Artikel wollen wir die feh­lerhaften theoretischen Auffassungen kritisie­ren, damit die klarsten und fundier­testen Grundlagen für die Ver­teidigung des proleta­rischen Internationa­lismus ge­schaffen werden.

Im Gegensatz zu anderen Organisationen, die sich auch auf die kommunistische Linke beru­fen (insbesondere die verschie­denen IKP's, die zur bordigistischen Strö­mung ge­hören) hat die IKS immer eine klare Unter­scheidung zwi­schen den Grup­pierungen gemacht, die sich innerhalb des proletari­schen Lagers befinden und denje­nigen, die dem bürgerlichen Lager ange­hören, wie z.B. die verschiedenen trotz­kistischen Or­ganisationen. Es ist nicht möglich irgend­eine politische Debatte mit den Trotzki­sten zu führen. Die Verant­wortung der Revo­lutionäre besteht darin, diese Strömungen als ein Instrument der herrschenden Klasse zu entblößen, welches dazu dient, mittels 'radikaler' Worte das Proletariat von seinem Klassenterrain ab­zubringen, um es an die In­teressen des Kapitals zu binden. Dagegen ist die politi­sche Debatte zwischen den Organisa­tionen des proletarischen Lagers nicht nur eine Möglichkeit, sondern auch eine Ver­pflichtung. Dabei geht es nicht um einen einfachen Ideen­austausch, wie er in Uni­versitätsseminaren stattfindet, sondern um die Verteidigung klarer  politischer Po­sitionen. In dieser Hinsicht kann er auch die Gestalt einer lebhaften Polemik anneh­men, weil die Fragen von herausragen­der Be­deutung für die Bewegung der Klasse sind, weil jeder Kommunist weiß, daß ein kleiner theoretischer Fehler dramatische Kon­sequenzen für das Proletariat haben kann. Aber selbst in den Polemiken ist notwendig, das Richtige an den Positionen einer Organi­sation anzuerkennen.

EINE FESTE VERTEIDIGUNG DER KLASSENPOSITIONEN?

Die IKP beruft sich auf die Tradition der ita­lienischen kommunistischen Linken, d.h. eine der internationalen Strömungen, die während der Entartung der 3.Internationale in den 20er Jahren Klas­senpositionen weiter aufrechter­halten ha­ben. In dem Artikel von 'Programme Communiste' kann man fest­stellen, daß bei ei­ner ganzen Reihe von we­sentlichen Fra­gen diese Organisation die Positionen der italieni­schen Linken nicht aus den Augen verloren hat. Insbesondere gibt es in dem Artikel klare Darstellungen der Kommuni­sten gegenüber dem imperiali­stischen Krieg. Die Haltung der IKP kann nicht verglichen werden mit der Haltung der Pa­zifisten oder Anarchisten ge­genüber dem Krieg: "Der Marxismus verwirft die Leh­ren und abstrakten Aussagen, die die ab­lehnende Haltung gegenüber dem Krieg zu einem geschichtslosen Prinzip machen, und die die Kriege auf metaphysische Weise als das Absolut-Böse  darstellen. Unsere Einstel­lung stützt sich auf eine hi­storische und dia­lektische Analyse der kriegerischen Krisen in Verbindung mit der Entwicklung und dem Ab­sterben von Gesellschaftsfor­men. Wir unter­scheiden somit

a) die Kriege des bürgerlichen Fortschritts oder der Entwicklung in der Zeit von 1792-1871,

b) imperialistische Kriege, die durch das ge­genseitige Zusammenprallen der Natio­nen im hochentwickelten Kapitalismus entstan­den sind,

c) revolutionäre proletarische Kriege "Die allgemeine Orientierung besteht darin, die Kriege zu unterstützen, welche die allge­meine Entwicklung voranbringen und die Kriege ab­zulehnen, die die allgemeine Ent­wicklung ver­zögern. Deshalb sind wir für die Sabotage der imperialistischen Kriege, nicht weil sie schrecklicher oder abscheuli­cher wären als die vorhergehenden Kriege, sondern weil sie ein Hindernis für die Zu­kunft der Menschheit darstellen, weil die imperialistische Bour­geoisie und der Welt­kapitalismus keine fort­schrittliche Rolle mehr spielen, sondern im Gegenteil zu ei­nem Hindernis für die allge­meine gesell­schaftliche Entwicklung geworden sind. (PC Nr.90 S.22)" Die IKS stimmt mit diesen Aussagen überein, das deckt sich mit dem, was wir in unseren Publikationen dazu ge­sagt haben.

Auch ist die Entblößung des Pazifismus durch die IKP besonders klar und zutref­fend. "Der Kapitalismus ist kein Opfer des Krieges, der von diesem oder jenem Teufel hervorgerufen wird, die Kriege sind keine Überreste von barbarischen Zeiten, die noch nicht ganz aus­gemerzt sind...Der bür­gerliche Pazifismus muß notwendiger­weise in die Kriegstreiberei münden. Der idylli­sche Traum eines friedli­chen Kapita­lismus ist keineswegs unschuldig. Es han­delt sich um einen blutbefleckten Traum. Wenn man zugibt, daß Kapitalismus und Krieg ständig zusammengehören, muß man, wenn das Kriegsgeschrei ertönt, einge­stehen, daß et­was der Zivilisation ge­genüber Fremdes die friedliche humanitäre Entwick­lung des Ka­pitalismus bedroht, daß der Kapi­talismus sich also verteidigen müßte, d.h. auch mit Waffen, falls andre Mittel nicht aus­reichen, indem er die Men­schen, die guten Willens sind, und die Friedliebenden zusam­menbringt. Der Pa­zifismus vollzieht seine letzte Wendung und wird zum Kriegstreiber, zu einem aktiven Faktor und zu einem Haupt­element bei der direkten Mobilisie­rung für den Krieg. Hier handelt es sich um einen Zwangs­prozeß, der aus der internen Dynamik des Pa­zifismus selbst hervorgeht. Dieser neigt näm­lich seinem Wesen gemäß dazu, Kriegstreiber zu werden" (PC Nr.90 S.22). Aus dieser Analyse leitet die IKP eine richtige Orientie­rung gegenüber den an­geblichen Antikriegs­bewegungen ab, die gegenwärtig immer wie­der aufblühen. Wir sind natürlich mit der IKP einverstanden, was den Antimilitarismus der Arbeiter­klasse betrifft (wie z.B. der während des 1.Weltkrieges, der ja zur Revolution in Rußland und Deutschland geführt hat). Aber dieser Antimilitarismus der Arbeiter­klasse kann sich nicht entfalten, wenn er von den Mobilisierungen ausgeht, die von den bürger­lichen Kräften organisiert wer­den: "Gegenüber den gegenwärtigen Friedensbe­wegungen besteht unser positi­ver Vorschlag nicht in einer Intervention in Form von Propa­ganda oder einem Bekeh­rungseifer gegenüber den Mitgliedern der Arbeiterklasse, die vom Pazifismus gefan­gen genommen, von kleinbür­gerlichen Mo­bilisierungen vereinnahmt wur­den, um sie aus dessen Klauen herauszurei­ßen. Wir sa­gen insbesondere gegenüber die­sen verein­nahmten Leuten, daß der Antimilita­rismus sich nicht mittels der heutigen Frie­densmärsche verbreitet, sondern nur durch den unnachgiebigen Kampf zur Verteidi­gung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Pro­letarier mittels eines Bruches mit den Interes­sen des Unternehmens und der Volkswirt­schaft. Da die Verteidigung der Arbeitsdiszi­plin und der Volkswirtschaft die Disziplin in den Schützengräben und die Verteidigung des Vaterlandes vorbereiten, bedeutet das, daß die Verwerfung der Inter­essen der Unternehmen und der Volkswirt­schaft heute eine Grundlage für die Vorbe­reitung des Antimilitarismus und des Defä­tismus darstellen." (PC Nr.92 S. 61) Wie wir später aufzeigen werden, ist der De­fätismus heute kein Slogan mehr, der in der gegenwärtigen Situation oder der Zukunft an­gebracht wäre. Jedoch un­terstreichen wir die Richtigkeit der Heran­gehensweise der IKP.

Schließlich ist der Artikel von PC auch sehr klar bezüglich der Rolle der bürgerli­chen De­mokratie bei der Vorbereitung und Durchfüh­rung des imperialistischen Krieges: "In unse­ren zivilisierten Staaten herrscht der Kapita­lismus dank der Demo­kratie. Wenn der Kapi­talismus Kanonen und seine Generäle einsetzt, dann indem er sich auf die Mechanismen der Demokratie, auf deren hypnotische Riten stützt." (PC Nr.91 S.38) "Die Existenz eines demokra­tischen Regimes ermöglicht es dem Staat eine grö­ßere militärische Effizienz zu er­reichen, da dadurch  sowohl die Vorbe­reitung des Krieges gefördert als auch die Wider­standskraft während des Krieges ma­ximal ausgenutzt wird. Der Faschismus kann nur an das Nationalgefühl appellie­ren, das bis zu ei­ner rassistischen Hysterie getrieben wird, um die nationale Einheit zu befesti­gen. Die Demo­kratie dagegen kann sich auf eine Kraft stüt­zen, die noch stär­ker ist, um die gesamte Ge­sellschaft für den imperiali­stischen Krieg zu­sammenzuschweißen. Die Tatsache, daß der Krieg direkt aus dem Willen des Volkes her­vorgeht, welcher durch die Wahlen zum Aus­druck kommt und auf diese Weise dank der Mystifikation der  Wahlbefragungen der Krieg als Verteidi­gung der Interessen der Volksmas­sen, der arbeitenden Klassen insbesondere, er­scheint." (PC Nr.91 S.419) Wir haben diese langen Zitate aus Programme Communiste (wir hätten übri­gens auch andere bringen kön­nen, insbe­sondere zur historischen Verdeutli­chung der vorgetragenen Thesen) gebracht, weil sie genau unsere Positionen zu diesen Fra­gen widerspiegeln. Anstatt also mit unse­ren eigenen Worten unsere Prinzipien zum imperialistischen Krieg zu wiederholen, ist es nützlich die tiefgreifende Einheit und die ge­meinsame Auffassung in dieser Frage inner­halb der kommunistischen Lin­ken zu verdeut­lichen. Es handelt sich um unsere gemeinsa­men Auffassungen.

Aber genauso wie wir die Prinzipieneinheit unterstreichen müssen, ist es auch die Auf­gabe der Revolutionäre, die Inkonsequen­zen und die theoretischen Inkohärenzen der bordigisti­schen Strömung aufzuzeigen, die die Fähig­keit, als wirksamer Kompaß ge­genüber der Arbeiterklasse aufzutreten, stark untergraben. Und die erste dieser In­konsequenzen besteht in der Weigerung, die Dekadenz, den Nieder­gang der kapitalisti­schen Produktionsweise zur Kenntnis zu nehmen und anzuerkennen.

DIE NICHT-VORHANDENE DEKA­DENZ AUS BORDIGISTISCHER SICHT

Die Anerkennung, daß seit diesem Jahrhun­dert und insbesondere seit dem 1.Weltkrieg die kapitalistische Gesellschaft in ihre Nieder­gangsphase eingetreten ist, ist ein Eckpfeiler der Perspektive der kommunisti­schen Bewe­gung. Im 1. impe­rialistischen Weltkrieg stützten sich Revo­lutionäre wie Lenin bei der Verteidigung der Notwendig­keit, daß die Ar­beiterklasse die­sen Krieg verwerfen mußte, den imperialisti­schen Krieg in einen Bürger­krieg umwandeln sollte, auf die Analyse der Dekadenz. (Siehe insbesondere "Der Imperia­lismus, das höchste Stadium des Kapitalis­mus") Auch stand der Eintritt des Kapitalis­mus in seine Nieder­gangsphase im Mittelpunkt der politischen Po­sitionen der Komintern bei ih­rer Gründung im März 1919. Gerade weil der Kapitalismus zu ei­nem dekadenten Sy­stem geworden war, war es nicht mehr möglich in­nerhalb des Systems zu kämpfen, um Refor­men zu er­reichen, wie es die Par­teien der 2.Internationale befür­worteten, sondern die einzige historische Auf­gabe der Arbeiter­klasse bestand darin, für die Welt­revolution zu kämp­fen. Besonders auf die­sem theoretischen Fun­dament hat schließ­lich die internationale kommunistische Linke und insbesondere die Italienische Linke ihre politischen Positionen erarbei­ten können. Je­doch war es die Origina­lität Bor­digas und der Strömung, die er ins Le­ben gerufen hat, die Tatsache zu leugnen, daß der Kapitalismus in seine Niedergangs­stufe eingetreten war. Und dennoch ist die bordi­gistische Strömung und insbesondere die PCI dazu gezwun­gen, anzu­erkennen, daß sich etwas am An­fang dieses Jahrhunderts geändert hatte hinsichtlich des Wesens der Wirtschafts­krisen als auch hin­sichtlich des Wesens des Krieges.

Hinsichtlich des Wesens des Krieges spre­chen die Zitate, die wir oben gebracht ha­ben, für sich selber. Es gibt in der Tat einen grundle­genden Unterschied zwischen den Kriegen der kapitalistischen Staaten im letzten Jahrhundert und den Kriegen in die­sem Jahrhundert. Z.B. trennten 6 Jahr­zehnte die Napoleonischen Kriege gegen Preußen vom Deutsch-Französi­schen Krieg 1870/71, während nur 4 Jahr­zehnte zwi­schen 1870 und dem 1.Weltkrieg mit sei­nem Beginn 1914 lagen. Jedoch unterschei­det sich der 1.Weltkrieg, der Krieg zwi­schen Frankreich und Deutsch­land sehr von all den Kriegen vorher. So konnte Marx die deut­schen Arbeiter dazu aufrufen, sich am Krieg von 1870 zu be­teiligen (siehe das 1.Manifest des General­rates der AIT), wo­bei er sich gleichzeitig auf dem Klassenbo­den der Arbei­terklasse befand, während die deutschen Sozi­aldemokraten, die die deut­schen Arbeiter 1914 zur nationalen Vertei­digung aufrie­fen, sich voll auf dem Boden der Bürgerli­chen be­fanden. Genau das ha­ben die Re­volutionäre wie Lenin oder Luxemburg fest in der Zeit gegen die Na­tionalchauvinisten verteidigt, die vorgaben, sich auf die Positionen von Marx im Jahre 1870 zu stützen. Die Position Mar­xens von 1870 war 1913 nicht mehr gültig, denn der Krieg hatte sein Wesen geändert und diese Änderung selbst leitete sich aus einer grundlegenden Änderung des Lebens der ge­samten kapitalistischen Produktionsweise ab.

Programme Communiste sagt übrigens nichts anderes als das, wenn es behauptet, daß die imperialistischen Kriege "als Hürde für die hi­storische Zukunft der Menschheit wirken, weil die imperialisti­sche Bour­geoisie und der Welt­kapitalismus keine fort­schrittliche Rolle mehr spielen, sondern im Gegenteil zu einem Hin­dernis für die allge­meine Entwicklung der Ge­sellschaft gewor­den sind". Ein Zitat von Bor­diga aufgrei­fend meint die IKP: "Die imperia­listischen Welt­kriege beweisen, daß die Zer­fallskrise des Kapitalismus auf Grund der Öff­nung der Periode unver­meidbar ist, wo seine Aus­dehnung nicht zu einer Erhöhung, zu ei­ner Stärkung der Produktivkräfte führt, sondern die Akku­mulation von einer noch größeren Zerstö­rung abhängig macht. (PC Nr.90 S.25) Aber weil die IKP in den alten bordi­gistischen Dogmen verfangen ist, ist sie un­fähig, die logische Konsequenz vom Standpunkt des historischen Materialismus aus zu ziehen. Die Tatsache, daß der Welt­kapitalismus zu einem Hindernis für die all­gemeine Entwicklung der Gesellschaft ge­worden ist, bedeutet ganz ein­fach, daß diese Produktionsform in ihre Nie­dergangsphase eingetreten ist. Als Lenin oder Luxemburg 1914 diese Feststellung trafen, hatten sie diese Idee nicht einfach erfunden, sondern sie wandten nur gewis­senhaft die marxisti­sche Theorie auf das Verständnis der histo­rischen Tatsachen der damaligen Epoche an. Die IKP, wie alle anderen IKP's, wel­che der bordigistischen Strömung angehö­ren, be­ruft sich auf den Marxismus. Das ist eine gute Sache. Heute können nur die Or­ganisationen, die ihre programmatischen Positionen auf die Lehre des Marxismus stützen, behaupten, die revolutionäre Per­spektive des Proleta­riats zu vertreten. Aber leider beweist die IKP, daß sie diese Me­thode falsch verstan­den hat. Insbe­sondere verwendet die IKP gerne den Begriff dia­lektisch, aber sie zeigt uns genau wie der Unwissende, der durch die Verwendung von vielen gebil­deten Worten Eindruck schinden will, in Wirklichkeit nur, daß er nicht weiß, wovon er spricht.

Z.B. kann man von der IKP hinsichtlich des Wesens der Krisen folgendes lesen: "Die Zehnjahreskrisen des jungen Kapita­lismus hatten nur geringe Auswirkungen. Sie wa­ren mehr geprägt durch die Krisen des internatio­nalen Handels als durch die Kri­sen im Indu­striebereich. Sie erfaßten nicht die industriel­len Produktionsstruktu­ren. Es handelte sich um die Krisen der Arbeitslo­sigkeit, d.h. Fir­menschließungen, Zusam­menbruch von Indu­strien. Die mo­dernen Krisen dagegen sind Krisen, in denen das ganze System auseinan­derbricht, und wo später das System nach­her unter großen Schwierigkeiten seine unter­schiedlichen Strukturen wieder auf­bauen muß" (PC Nr.90 S.28). Dann folgt eine Reihe von Statistiken, die das große Ausmaß der Kri­sen im 20.Jahrhundert. belegen, und deren Ausmaß weit über das der Krisen im letzten Jahr­hundert hinaus­reicht. Weil die IKP nicht sieht, daß der Unterschied des Aus­maßes zwischen die­sen beiden Arten von Krisen nicht nur einen grundlegenden Un­terschied zwischen den Kri­sen selbst ans Tageslicht bringt, sondern die unterschied­liche Le­bensform des Systems selbst wider­spiegelt, verwirft die IKP ein Grundlagen­element des dialek­tischen Marxis­mus. Die Umwandlung der Quantität in Qua­lität. Für die IKP ist der Unterschied zwischen den beiden Krisen­formen ausschließlich ein quantitativer, und er betrifft nicht die grundle­genden Mecha­nismen der Krisen selber. Dies zeigt die IKP, wenn sie schreibt: "Im letzten Jahr­hundert gab es sechs Weltwirtschaftskri­sen 1836, 1848, 1856, 1883, 1886 und 1894. Die Zyklus­dauer dieser Krisen betrug Marx zufolge zehn Jahre. Diesem jugendlichen Rhythmus folgte in der Zeit von Anfang die­ses Jahr­hunderts bis zum Ausbruch des 2.Weltkriegs eine schnellere Reihenfolge von Krisen. 1901, 1908, 1914, 1920, 1929. Dem stark gewachsenen Kapitalis­mus ging eine Steige­rung der organischen Zusam­mensetzung des Kapitals ein­her...,was zu einer wachsen­den Akkumu­lationsrate führte. Aus dem Grunde fiel die Durchschnittsdauer dieses Zy­klus auf sie­ben Jahre" (PC Nr.90 S.27). Die­ses Re­chenbeispiel der Dauer des Zyklus be­weist, daß die IKP die wirtschaft­lichen Er­schütterungen des letzten Jahrhun­derts auf die gleiche Ebene stellt wie die dieses Jahrhun­derts, ohne jedoch zu begrei­fen, daß das We­sen der Zyklen selbst sich grundlegend geän­dert hat. Blind geworden durch die Gefolg­schaft gegenüber den heili­gen Worten Bordi­gas, sieht die IKP nicht den Aussagen Trotzkis zufolge, daß die Krisen des vorigen Jahrhun­derts ein nor­males Herzschlagen des Kapita­lismus wa­ren, während die Krisen des 20.Jahrhundert. das Rö­cheln des mit dem Tode ringenden Ka­pitalismus sind.

Die gleiche Blindheit legt die IKP an den Tag, wenn sie die Verbindung zwischen Krise und Krieg aufzuzeigen versucht. Sehr systematisch und sehr breit aus­schweifend, weil in Erman­gelung einer wirklichen theo­retischen Strenge (wir kommen später dar­auf zurück), versucht die IKP aufzuzeigen, daß in der gegenwär­tigen Phase die kapita­listische Krise notwendiger­weise zum Welt­krieg führt. Dies ist eine sehr lobenswerte Sorge, denn damit bemüht sich die IKP all die illusori­schen Reden der Pazifi­sten zu entblößen. Der IKP kommt es jedoch nicht in den Sinn zu fragen, ob die Tatsache, daß die Krisen des 19.Jahrhundertrh. nicht zu ei­nem Weltkrieg führten und auch nicht zu jeweils lokalen Kriegen, nicht auf einen grundlegen­den Unterschied gegenüber den Krisen im 20.Jahrhundert. zurückzuführen sind. Hier liefert uns die IKP einen sehr armseligen Marxismus. Hier geht es nicht nur um ein mangelndes Verständnis des Begriffes Dia­lektik, sondern es handelt sich um eine Weigerung oder zu­mindest um eine Unfä­higkeit tief zu untersu­chen und über eine Fixierung über eine offen­sichtliche Ähn­lichkeit hinauszugehen, die zwi­schen den Wirtschaftszyklen früher und heute be­steht, um die bestimmenden Hauptphäno­mene der kapitalistischen Pro­duktionsweise zu be­stimmen.

So erweist sich die IKP als unfähig, bei ei­ner so wesentlichen Frage wie dem imperialisti­schen Krieg zufriedenstellend die marxistische Theorie anzuwenden, um den grundlegenden Unterschied zwischen der aufsteigenden und der niedergehenden Phase des Kapitalismus aufzuzeigen. Und die traurige Verdeutlichung dieser Unfähig­keit zeigt sich dadurch, daß die IKP den Kriegen der jetzigen Periode eine ähnliche wirtschaftliche Rationalität zuzuord­nen ver­sucht, wie sie die Kriege im letzten Jahr­hundert haben konnten.

RATIONALITÄT UND IRRATIONALI­TÄT DES KRIEGES

In unserer Internationalen Revue haben wir zahlreiche Artikel zur Irrationalität des Kriegs in der Niedergangsphase des Kapi­talismus veröffentlicht.(5) Unsere Position ist keinesfalls eine Entdeckung unserer Organisa­tion. Sie stützt sich auf die grund­legenden Er­rungenschaften des Marxismus seit Anfang die­ses Jahrhunderts, besonders auf die Errungen­schaften, die Lenin und Rosa Luxemburg ent­wickelt haben. Diese Errungenschaften wur­den sehr klar 1945 von der Gauche Communi­ste de France in Auseinandersetzung mit der revisionisti­schen Theorie entfaltet, welche Vercesi am Vorabend des 2.Weltkriegs ent­wickelt hatte, und die  seine Organisation, die Ita­lienische Fraktion der kommunistischen Linken, zu einer vollständigen Lähmung zum Zeitpunkt des Ausbruchs des imperia­listischen Kon­fliktes geführt hatte.

"Zur Zeit des aufsteigenden Kapitalismus drückten ... die Kriege den aufsteigenden Weg der Gärung, Erweiterung und Ausdeh­nung des kapitalistischen Wirt­schaftssystems aus... Die Aufwendungen für jeden Krieg wurden durch die Eröff­nung neuer Ausdeh­nungsfelder gerechtfer­tigt, womit eine grö­ßere kapitalistische Produktion gewährlei­stet war. .. Der Krieg war unerläßlich für den Kapitalismus, um seine weitere Ent­wicklung zu einem Zeit­punkt zu gestatten, wo dies nur durch Ge­walt möglich war. Ebenso führt der Zu­sammenbruch der ka­pitalistischen Welt, der die Unmöglichkeit weiterer Entwick­lung verdeutlicht, zum im­perialistischen Krieg. Dieser wird dann der Ausdruck die­ses Zusammenbruchs. Der Krieg ermög­licht dann keine weitere Aus­dehnung der Produktion, sondern führt nur zur Zerstö­rung der Produktivkräfte und zum Aufhäu­fen einer Ruine nach der anderen" (aus: "Bericht zur Internatio­nalen Lage", Juli 1945, GCG, in International Review; Nr. 59).

Die Unterscheidung zwischen den Kriegen dieses Jahrhunderts und denen des vorigen Jahrhunderts wird auch von der IKP, wie wir oben gesehen haben, vorgenommen. Jedoch zieht die IKP daraus nicht die Kon­sequenzen, sondern, nachdem sie einen Schritt in die richtige Richtung gemacht hat, geht sie zwei Schritte zurück, indem sie eine wirtschaftliche Rationalität der Kriege dieses Jahrhun­derts sucht. Die IKP versucht diese Rationali­tät, "die grund­sätzliche Ver­deutlichung der öko­nomischen Faktoren, die die Staaten in den Krieg treiben," (PC Nr.92, S.54) in den Zita­ten von Marx zu finden, der schrieb, daß eine periodische Zerstörung von Kapital zu einer notwendigen Bedingung geworden ist... Aus dieser Sicht betrachtet sind all diese furchtbaren Greuel, die wir mit soviel Angst und Sorge erwarten, wahrscheinlich das einzige natürliche und notwendige Korrektiv eines exzessiven und übertriebenen Überflusses, die Kraft, mittels der das gegenwärtige Gesellschaftssystem sich von Zeit zu Zeit von einer ständig wachsenden überschüssigen Warenmasse befreit, die seine Existenz bedroht und somit die Rückkehr zu einer festen und gesunden Zustand ermöglicht.

Die Zerstörung des Kapitals, die Marx hier erwähnt, wird durch die zyklischen Krisen der damaligen Zeit hervorgerufen (nicht durch den Krieg). Gerade weil damals die Krisen der Herzschlag des kapitalistischen Systems waren (obgleich sie damals schon die historischen Grenzen aufzeigten). An vielen Stellen seiner Arbeiten zeigte Marx, daß die Art und Weise, wie der Kapitalis­mus seine Krisen überwindet, nicht nur in einer Entwertung des zeitweise überschüs­sigen Kapitals besteht, sondern auch und vor allem in der Eroberung neuer Märkte und insbesondere in Gebieten außerhalb der kapitalistischen Produktionsverhält­nisse.(6) Und da der Weltmarkt nicht als grenzenlos angesehen werden kann, weil die außerkapita­listischen Märkte nur ab­nehmen können, bis sie vollständig ver­schwinden, weil das Kapital den ganzen Erdball seinen Gesetzen unter­wirft, wird der Kapitalismus in immer stärke­re und katastrophalere Er­schütterungen ge­trieben. Diese Idee wurde viel systematischer von Rosa Luxemburg in ihrem Werk "Die Ak­kumulation des Kapi­tals" entwickelt, aber sie hat sie keines­wegs, wie einige Unwis­sende behaupten, erfunden. Diese Idee er­scheint üb­rigens auch zwischen den Zeilen in bestimm­ten Abschnitten des Textes der IKP. Aber wenn sie Rosa Luxemburg er­wähnt, tut sie das nicht, um sich auf ihre außergewöhnlichen theore­tischen Ausfüh­rungen zu stützen, die mit der größten Klarheit die Krisenmechanis­men des Ka­pitalismus erklä­ren, insbesondere warum die Gesetze des Systems es historisch schei­tern lassen, son­dern die IKP erwähnt Rosa Luxemburg nur, um sich auf die um­strittene Idee zu stützen, die in der 'Akkumulation des Kapitals' vor­handen ist. Es dreht sich hier um die These, derzu­folge der Militarismus ein Akkumula­tionsfeld sein könnte, der teilweise die öko­nomischen Wi­dersprüche des  Kapita­lismus erleichtert. (PC Nr.91, S.31-33) Gerade in diese Idee hatte sich Vercesi Ende der 30er Jahre verlaufen, woraus er die Schlußfolge­rung zog, daß die gewaltige Entwicklung der Rüstungsproduk­tion von 1933 an eine Wieder­ankurbelung der ka­pitalistischen Produktion ermöglichen würde, und damit die Perspektive eines Welt­kriegs immer weiter aufheben könnte. Wenn jedoch die IKP eine systemati­sche Erklärung des Kri­senmechanismus liefern will, um die vor­handene Beziehung zwi­schen der Krise und dem imperialistischen Krieg aufzuzeigen, entfaltet sie eine ein­seitige Auf­fassung, die sich hauptsächlich auf das Gesetz des tenden­ziellen Falls der Profitrate stützt: "Seitdem die bürgerliche Produktionsweise zur vorherr­schenden geworden ist, ist der Krieg auf de­terministische Art und Weise eng ver­bunden mit dem Gesetz, das Marx über die durch­schnittliche Profitrate erar­beitet hatte, welches die Tendenz des Kapi­talismus hin zur Endka­tastrophe ist." (PC Nr.90 S.23) Dem folgt eine Zusammenfas­sung, die PC aus Bor­diga, Dia­log mit Sta­lin, übernommen hat. Den Thesen Mar­xens zufolge bringt die ständige An­hebung des Wertes der Waren (aufgrund des stän­digen Fortschritts der Produktions­techniken) nämlich des Anteils, der den Ma­schinen und den Rohstoffen gegenüber dem Anteil der Lohnarbeit zugeordnet werden kann, eine historischen Tendenz des Falls der Profitrate mit sich, solange nur die Ar­beit des Arbeiters dazu in der Lage ist, Profit zu produzieren (mehr Wert zu produzieren als sie den Unternehmer kostet).

Wir müssen darauf hinweisen, daß die IKP  (und Bordiga, den PC aus­führlich in ihrer Analyse zitiert) die Frage der Märkte nicht außer acht läßt. Und die Tatsa­che, daß der imperialistische Krieg die Folge der Konkur­renz zwischen kapitalistischen Staa­ten ist.

"Die geometrische Progression der Produk­tion verlangt vom nationalen Kapi­tal zu ex­portieren, auf den äußeren Märk­ten ent­sprechende Absatzmöglichkeiten für seine Pro­duktion zu erobern. Und da jeder natio­nale Akkumulationspol den gleichen Regeln unter­worfen ist, ist der Krieg zwi­schen kapitalisti­schen Staaten unvermeid­lich. Von den Wirt­schafts- und Handels­kriegen, den Finanzkon­flikten, den Kämp­fen um Roh­stoffe und den politischen und diplomati­schen Zusammenstö­ßen, die dar­aus hervor­gehen, kommen wir schließlich zum offenen Krieg. Der latente Konflikt zwischen Staaten bricht zunächst in Gestalt militärischer Konflikte auf, die auf be­stimmte geographi­sche Zonen beschränkt sind, von örtlichen Kriegen, in denen die Groß­mächte nicht di­rekt aufeinanderpral­len, son­dern durch Stellvertreter; aber er mündet schließlich in einen generalisierten Krieg, d.h. den di­rekten Zusammenprall der großen staat­lichen Einheiten des Impe­rialismus, wobei sie alle gegeneinander getrieben werden aufgrund ihrer inneren Widersprüche. Und alle kleine­ren Staaten werden in diesen Konflikt mit hin­eingezogen, dessen Schlachtplatz sich not­wendigerweise auf den ganzen Planeten aus­dehnt. Akkumulation, Krisen, örtliche Kriege, Weltkrieg." (PC Nr.90 S.26)

Mit dieser Ana­lyse kann man einverstan­den sein, denn sie untermauert nur das, was die Marxisten seit dem 1.Weltkrieg behauptet ha­ben. Die Sache bekommt je­doch da einen Ha­ken, wo die Su­che nach äußeren Märk­ten von der IKP nur als eine Folge des ten­denziellen Falls der Pro­fitrate angesehen wird, während der Kapita­lismus als Ganzes ständig Märkte außerhalb sei­ner eigenen Produktionssphäre benötigt, wie es von Rosa Luxemburg unter Beweis ge­stellt wurde. Er benötigt diese näm­lich, um den Teil des Mehrwertes zu realisie­ren, der dazu dient, in einem späteren Zy­klus vom Ka­pital mit dem Ziel der Akku­mulation wieder investiert zu werden. Von dieser ein­seitigen Betrachtungsweise aus­gehend, ordnet PC dem imperialistischen Weltkrieg eine ge­naue öko­nomische Funk­tion zu. Es meint, es gäbe eine wirkliche Rationalität in der Funkti­onsweise des Ka­pitalismus:

unklar.....

"Die Krise hat ihren Ur­sprung in der Unmög­lichkeit der Fortsetzung der Akku­mulation. Dies äußert sich, wenn das Wachstum der Produktionsmasse es nicht mehr schafft, den Fall der Profitrate aus­zugleichen. Die Masse der gesamten Mehrar­beit reicht nicht mehr, dem vorge­schossenen Kapital Profit zu garan­tieren, und um die Be­dingungen für die Renta­bilität der Investitio­nen zu schaffen. Durch die Zerstörung des konstanten Kapitals (tote Ar­beit) in großem Maßstab spielt der Krieg eine wirt­schaftlich wesentliche Rolle: Dank der schrecklichen Zerstörungen des Produktions­apparates ermöglicht der Krieg eine gewaltige zukünftige Ausdeh­nung zur  Ersetzung der zerstörten Anal­gen, also eine paral­lele Ausdehnung des Profits, des ge­samten Mehr­wertes, d.h. der Mehrar­beit....Die Bedingun­gen für den Wiederauf­schwung des Akkumu­lationsprozesses sind somit herge­stellt. Der Wirtschaftskreislauf fängt von neuem an...Das weltweite kapita­listische System tritt veraltet in den Krieg ein, aber ver­jüngt sich in dem Blut­bad, durch das es eine neue Jugend erhält, ins­gesamt geht es daraus mit der Vitalität ei­nes kräftigen Neu­geborenen hervor." (PC Nr.90 S.24)

Die These von PC ist nicht neu. Sie wurde von Grossmann aufgebracht und syste­matisch in den 20er Jahren entwickelt, nach ihm wurde sie von Mattick, einem Theore­tiker der rätekommunistischen Be­wegung, wieder auf­gegriffen. Sie kann ganz einfach in den fol­genden Begriffen zusammengefaßt werden: Durch die Zer­störung des kon­stanten Kapitals läßt der Krieg die organi­sche Zusammenset­zung des Kapitals sinken und ermöglicht somit eine Erhöhung der Profitrate. Jedoch wurde nie bewiesen, daß während des Wiederauf­schwungs nach den Weltkriegen die organi­sche Zusammenset­zung des Ka­pitals niedriger war als vor dem jeweiligen Welt­krieg. Das Gegenteil ist meistens der Fall. Wenn wir z.B. den 2.Weltkrieg neh­men, ist es klar, daß in den vom Krieg zerstörten Ländern die durch­schnittliche Produktivität der Arbeit und damit das Verhältnis zwischen konstantem und vari­ablen Kapital sehr schnell, Anfang der 50er Jahre, das Niveau von 1939 er­reicht hatte. Tatsächlich waren die nach dem Krieg erbau­ten Produktionsanlagen sehr viel moder­ner als die durch den Krieg zer­störten Anla­gen. PC stellt dies übrigens selbst fest, denn es erklärt dies gerade als eine der Ursachen für den Nachkriegs­boom:

"Die Kriegswirt­schaft übermittelt dem Kapita­lismus u.a. sowohl den technischen und wissenschaftli­chen Fortschritt, der von der Rüstungsindu­strie erzielt wurde, als auch die Industrieanla­gen, welche für die Rüstungspro­duktion auf­gebaut wurden. Diese wurden in der Tat nicht alle durch die Bombardierungen zerstört -, und auch nicht wie im Falle Deutschlands durch die De­montage der Alli­ierten...Die großflä­chige Zerstörung von Aus­rüstungen, Anla­gen, Gebäuden, Transport­mitteln usw., der Zu­fluß von Produktions­mitteln auf ei­ner hohen Stufe der technologi­schen Zusam­mensetzung, die aus der Rü­stungsindustrie stammt,... all das legte die Grundlagen für das Wirtschaftswunder." (PC Nr.92 S.38)

Was die USA angeht, war die organische Zu­sammensetzung ihres Kapitals, da es keine Zerstörungen auf dem Boden der USA gege­ben hat, 1945 höher als die von 1939. Jedoch war die Wohlstandsphase, die mit der Wiederaufbauphase einherging, län­ger. Tatsächlich dau­erte sie bis Mitte der 60er Jahre, als der Zeit­punkt des Wieder­aufbaus der Produktionsan­lagen aus der Vorkriegs­zeit wieder erreicht war, wodurch das frü­here Niveau der organi­schen Zusam­mensetzung wieder­hergestellt war.(7)

Da wir schon sehr viele Texte als Kritik an den Auffassungen von Grossmann, Mattick verfaßt haben, auf die sich die IKP in der Tra­dition Bordigas stützt, wollen wir hier nicht weiter darauf eingehen. Jedoch ist es wichtig, die theoretischen Fehler überhaupt aufzuzei­gen, zu denen die Auffassungen Bor­digas, die die IKP jetzt wieder auf­greift, füh­ren.

DIE FEHLER DER AUFFASSUNG DER IKP

Die Hauptsorge der IKP ist vollkommen rich­tig: Die Unvermeidbarkeit des Krieges aufzu­zeigen, insbesondere will sie die Auf­fassung vom Superimperialismus, die insbe­sondere von Kautsky während des 1.Weltkrieges ent­wickelt wurde, verwer­fen. Dieser Auffassung  zufolge könnten sich nämlich die Großmächte einigen, um eine gemeinsame und friedliche Weltherr­schaft zu errichten. Diese Auffassung war natür­lich eine der Lügen der Pazifisten, die dar­auf abzielte, den Arbeitern einzutrich­tern, daß es möglich wäre, den Krieg zu Ende zu bringen, ohne den Kapitalismus zu zerstö­ren. Um dieser Auffassung entgegenzutre­ten, liefert die IKP das fol­gende Argument:

"Ein Superimperialismus ist unmöglich. Wenn aus außergewöhnlichen Gründen der Imperialis­mus es schaffen sollte, Konflikte zwi­schen den Staaten abzuschaffen, wür­den seine inneren Widersprüche ihn dazu zwin­gen, er­neut in na­tionale, miteinander kon­kurrierende Akkumu­lationspole auseinan­derzubrechen und damit in staat­liche Blöcke, die miteinander in Kon­flikt stehen. Die Notwendigkeit, gewaltige Mas­sen toter Arbeit zu zerstören, kann nicht al­lein durch Naturkatastrophen erfüllt werden. (PC Nr.90 S.26).

Kurzum die grundlegende Funktion der impe­rialistischen Blöcke oder der Tendenz hin zu ihrer Bildung besteht darin, Bedin­gungen zu schaffen für massive Zerstörun­gen. Wenn man diese Auffassung vertritt, versteht man jedoch nicht, warum die ka­pitalistischen Staaten sich gerade nicht unter­einander verständigen könnten, um  -wenn not­wendig-  solche Zer­störungen her­beizuführen, die eine Erhöhung der Pro­fitrate und der Pro­duktion wieder er­möglichen würden. Sie ver­fügen über ausrei­chende Mittel, um solche Zerstörun­gen her­beizuführen, wobei sie durchaus die Kontrolle über die Zerstörungen aufrechter­halten kön­nen und ihre jeweili­gen Interes­sen dabei am besten verteidi­gen. Was PC hier nicht berück­sichtigen will, ist, daß die Spaltung in impe­rialistische Blöcke das logi­sche Ergebnis der Konkurrenz zwischen den verschie­denen na­tionalen Teilen des Kapita­lismus ist. Es han­delt sich um eine Konkur­renz, die der We­senskern dieses Sy­stems sel­ber ist und die sich zuspitzt, wenn die Krise in ihrer ganzen Ge­walt zuschlägt. Deshalb rührt die Bildung von imperialisti­schen Blöcken keineswegs aus ei­ner Ten­denz, auch wenn sie noch unabge­schlossen ist, hin zur Vereinigung kapitalisti­scher Staa­ten, sondern sie ist das Er­gebnis der Not­wendigkeit der Bildung von Militärbünd­nissen, weil kein Staat allein in einen Krieg gegen alle anderen eintreten kann. Das Wich­tigste bei der Bildung von Blöcken ist nicht die Konvergenz von Inter­essen, die zwischen ver­schiedenen verbün­deten Staaten bestehen kön­nen, d.h.  eine Kon­vergenz, die infra­gegestellt werden kann, wie sie die Bündnis­wechsel während des 20.Jahrhunderts mehr­fach bewie­sen ha­ben. Wichtig ist vielmehr der grundle­gende Wi­derspruch zwischen den Blöcken, der der höchste Ausdruck der unüberwindba­ren Rivalitäten zwischen allen Nationalstaaten ist. Deshalb ist die Auffassung, es könnte einen Superimperialismus geben, logisch wi­dersinnig.

Weil die IKP schwache bzw. leicht widerleg­bare Argumente benutzt, fußt die Verwerfung der Auffassung vom Superim­perialismus bei der IKP auf schwachen Bei­nen. Dadurch wird der Kampf gegen die Lügen der herrschenden Klasse abge­schwächt. Dies wird offensichtlich anhand des nächsten Teils des Zitates. "Die Men­schenmassen und der Wille der Menschen müssen die Sachen ändern, die gegeneinan­der gerichtet sind, die einge­setzt werden, um ihre und andere Intelli­genzen zu ver­nichten." Hier können wir sehen, wie schwach die Argu­mentation der IKP ist. Of­fen gesagt: in Anbe­tracht all der Mittel, über die heute die kapitali­stischen Staaten verfügen, insbeson­dere die Atom­waffen, warum wäre da der Menschen­wille und vor allem die Menschen­massen un­abdingbar, um einen ausreichenden Grad der Zerstö­rung herbeizuführen, unter der Voraus­setzung, daß dies, wie die IKP meint, die wirt­schaftliche Funktion des impe­rialistischen Krieges wäre.

Schließlich bezahlt die bordigistische Strö­mung mit schwerwiegenden theoretischen und politischen Fehlern die Schwäche der Ana­lyse, auf die sich ihre Position zum imperiali­stischen Krieg und zu den Blöc­ken stützt. In­dem sie auf der einen Seite den Begriff des Su­perimperialismus zur Tür hinausjagen will, läßt sie mit dem Be­griff eines russisch-ame­rikanischen Kondomini­ums den Begriff des Superimpe­rialismus wieder zum Fenster her­ein. "Der 2.Weltkrieg hat ein Gleichge­wicht hervor­gebracht, das durch die Formel "russisch-amerikanisches Kondominium" rich­tig be­schrieben wird...Wenn bislang der Frie­den in den imperialistischen Metropolen re­giert hat, dann vor allem auf Grund der Vor­herrschaft der USA und der UdSSR." (PC Nr.91 S.47) "Tatsächlich spiegelte der kalte Krieg deutlich die Sicherheit der bei­den Sieger­mächte des Konfliktes des Welt­krieges und die Stabilität der in Jalta fest­gelegten Gleichge­wichte wider; dies ent­sprach den Bedürfnis­sen der ideologischen Mobilisie­rung und der Kontrolle der so­zialen Span­nungen, die inner­halb der Blöcke existier­ten. Der neue kalte Krieg, der an die Stelle der Entspannung in der zweiten Hälfte der 70er Jahre trat, spie­gelte das Erfordernis der Kontrolle der Wider­sprüche nicht (noch nicht) zwischen den Klas­sen wider, sondern der Wider­sprüche zwi­schen den Staaten, die immer mehr Schwie­rigkeiten hatten, die al­ten Bündnissysteme zu ertragen. Die russi­sche und amerikanische Reaktion auf den wach­senden Druck bestand darin, die poli­tische Aggressivität ihrer Ver­bündeten in die Richtung des feindlichen La­gers zu len­ken" (PC, Nr.92, S. 47)..

Kurzum der erste kalte Krieg hatte ihnen zu­folge eigentlich nur einen ideologischen Hin­tergrund: die Widersprüche zwischen den Klassen im Griff zu halten. Hier wird wirklich die Welt auf den Kopf gestellt: Wenn es nach dem 1.Weltkrieg in der Tat eine Ab­schwächung der imperialistischen Spannungen gab und gleichzeitig eine Ab­schwächung der Kriegs­wirtschaft, dann ge­schah dies deshalb, weil die Bourgeoisie sich hauptsächlich damit befassen mußte, der revolutionären Welle von Kämpfen, die 1917 angefangen hatte, entge­genzutreten. Sie mußte eine gemeinsame Front gegen die Gefahr aufbauen, die vom tödlichen Feind aller Teile der Bour­geoisie, nämlich dem Proletariat,  ausging. Während dagegen der 2.Weltkrieg sofort in die Entfaltung und Eskalation imperiali­stischer Widersprüche zwischen den bei­den Hauptsiegermächten mündete, wobei die Kriegswirtschaft auf ei­nem sehr ho­hen Niveau aufrechterhalten wurde. Hier liegt die Erklärung darin, daß die Gefahr, die von der Ar­beiterklasse aus­ging, welche von der Konter­revolution ge­schwächt wor­den war, vollstän­dig während des Krieges und unmittelbar nach dem Krieg aus der Welt geschafft wor­den war. Die Bour­geoisie hatte aus ihrer eige­nen hi­storischen Erfahrung ge­lernt. Folgt man der Auffas­sung von PC, war der Koreakrieg, der In­dochinakrieg und später auch der Viet­namkrieg, und lassen wir all die Kriege im Nahen/Mittleren Osten außer acht, wo sich Israel, das fest von den USA unter­stützt wurde, und die arabischen Staaten, die massiv Waffenlieferungen von der UdSSR be­kamen, aufeinanderprallten, und spre­chen wir nicht von den Dutzenden von Kriegen bis hin zum Krieg in Afghanistan 1980, die bis Ende der 80er Jahre dauer­ten, dann hatten all diese Kriege nichts mit ei­nem grundlegenden Wider­spruch zwi­schen den beiden großen imperiali­stischen Mon­stern zu tun, sondern waren nur ir­gendein Bluff, oder sie entsprachen nur einfachen ideologi­schen Kampagnen gegen die Arbeiter­klasse oder vielleicht sogar der Not­wendigkeit, daß jede der Supermächte in ih­rem Herrschaftsbereich ihre Vorherr­schaft aufrechterhalten wollte.

Darüber hinaus wird dieser Idee von PC selbst widersprochen, denn der Entspan­nung zwi­schen den beiden Blöcken am Ende der 50er bis Mitte der 70er Jahre schreibt PC die glei­che Funktion zu wie dem kalten Krieg. "Tatsächlich war die Entspannung nur die Antwort der beiden Supermächte auf die Bruchli­nien, die im­mer offensichtlicher in ih­ren Ein­flußbereichen auftraten. Die Entspan­nung be­deutete, daß Moskau und Washington starken Druck auf ihre Verbündeten aus­übten, um ihre zentri­fugalen Bestrebungen einzu­dämmen." (PC Nr.92 S.43)

Es stimmt, daß die Kommunisten nie das für bare Münze nehmen dürfen, was die Bourgeoisie und ihre Historiker sagen. Aber zu behaupten,  daß bei den meisten Kriegen (mehr als 100), die von 1945 bis Ende der 80er Jahre die Welt erschüttert haben, nicht die Großmächte ihre Finger im Spiel hatten, bedeutet die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen. Gleich­zeitig heißt das, das in Frage zu stellen, was die IKP selbst richtigerweise sagt: "Der latente Konflikt zwischen Staaten bricht zunächst auf in Gestalt von be­grenzten militärischen Konflikten, die zunächst auf bestimmte geo­graphische Ge­biete lokal begrenzt bleiben, in denen die Großmächte nicht direkt zu­sammenprallen, sondern deren Stellvertreter". Die IKP kann immer den Widerspruch zwischen dem, was sie erzählt, und der Wirklichkeit oder die Unterschiede zwischen ihren ver­schiedenen Argumenten durch die "Dialektik" erklären. Damit beweist sie aber vor allem, daß theoretische Strenge nicht gerade ihre Stärke ist, und daß sie manchmal einfach irgendetwas erzählt, was nicht gerade bedeutet, daß sie den Lügen der herrschenden Klasse wirksam entgegentre­ten kann und das Bewußtsein des Proletari­ats verstärkt.

Genau hierum geht es, und all das erreicht die Stufe einer Karikatur, wenn die IKP sich auf einen Artikel von Bordiga aus dem Jahre 1950 stützt, um die Lügen des Pazi­fismus zu bekämpfen. In diesem Arti­kel stellt die IKP die Entwicklung der Stahlpro­duktion als das Hauptindiz und gar als einen Faktor dar, der die Entwicklung des Kapi­talismus selber widerspiegelt. "Der Krieg im Zeitraum des Kapitalismus, d.h. die schrecklichste Art von Kriegen, ist eine Krise, die unausweichlich durch die Not­wendigkeit hervorgerufen wird, den herge­stellten Stahl zu verbrauchen und für das Monopolrecht auf die zusätzliche Stahlpro­duktion zu kämpfen" ("Seine Ma­jestät der Stahl", Battaglia Comunista Nr. 18, 1950).

Immer noch von dem Willen getrieben, dem Krieg eine 'rationale' Begründung zu ge­ben, gibt die IKP zu verstehen, daß der im­perialistische Krieg nicht nur etwas Gutes für den Kapitalismus sei, sondern auch für die gesamte Menschheit  und da­mit auch für die Arbeiterklasse. "Die Ver­längerung des bürgerlichen Friedens über die durch den ökonomischen Zyklus bestimmten Grenzen hinaus, könnte, selbst wenn dies mög­lich wäre, nur zu noch schlimmeren Situa­tionen führen als der Krieg uns schon bie­tet". Dem folgt ein Zitat aus einem Artikel Bordigas, der einen Preis wert ist!

"Hören wir auf anzunehmen, daß es an­statt der beiden Weltkriege den bürgerli­chen in­dustriellen Frieden gegeben hätte. In unge­fähr 35 Jahren ist die Stahlproduk­tion ca. 20 mal gestiegen. Diese Stahlpro­duktion wäre 20mal höher gewesen als die 70 Mio.t von 1915, sie würden also heute (d.h. 1950) 1.400 Mio. t betragen. Aber all dieser Stahl kann nicht gegessen, ver­braucht, nicht zerstört werden, sondern dient nur den Massakern der Völker. Die 2 Mrd. Men­schen wiegen ca. 140 Mio. Ton­nen. Sie würden innerhalb eines einzigen Jahres 10 mal mehr Stahl produzieren als ihr ei­genes Ge­wicht. Die Götter be­straften Midas, indem sie ihn in eine Masse Gold verwandelten - das Ka­pital würde die Menschen zu einer Masse Stahl, Erde, Wasser und Luft verwandeln, in der sie in einem Metallgefängnis lebten. Der bürgerliche Frieden bietet also noch bestia­lischere Perspektiven als der Krieg"

Hier befindet sich Bordiga schlechthin im Delirium, was diesem Revolutionär leider oft genug passierte. Aber anstatt sich ge­genüber diesen Ausführungen zu distanzie­ren, geht die IKP im Gegenteil noch weiter: "Vor allem wenn man davon ausgeht, daß der Boden, der in Stahlsärge umgewandelt worden wäre, ein Ort des Verfaulens wäre, wo überflüssige Waren und Menschen friedlich verfaulten. Seht ihr Pazifisten, was das Er­gebnis eurer "Rückkehr zur Vernunft" der Regierungen, ihre Hinwendung zur "Friedenskultur" bringen würde. Aber ge­nau deshalb handelt es sich nicht um Wahn­sinn, sondern um Vernunft - natürlich um die Vernunft der bürgerlichen Gesell­schaft, die alle Regierungen in den Krieg treibt - hin zum heilsamen und hygieni­schen Krieg" (PC, Nr. 92, S. 54).

Als Bordiga diese Zeilen schrieb, auf die sich die IKP beruft, verwarf er eine der grundlegenden Analysen des Marxismus. Der Kapitalismus produziert Waren. Und wer Waren sagt, spricht von der Möglich­keit ein Bedürfnis zu befriedigen, so per­vertiert dies auch sein mag, wie das Be­dürfnis nach Mordinstrumenten und Zerstö­rungsmitteln seitens der kapitalisti­schen Staaten. Wenn er Stahl in großen Mengen produziert, dann um zum großen Teil die Nachfrage des Staates nach Rü­stungsgütern zu befrie­digen. Aber diese Produktion kann nicht über die Nach­frage des Staates hinausge­hen: wenn die Stahlindustrie ihren Stahl nicht mehr an das Militär verkaufen kann, weil dies schon ausreichend Massen Stahl aufgekauft hat, werden die Stahlprodu­zenten ihre Produk­tion nicht lange fortset­zen können, bevor sie in Konkurs gehen, denn die Produktion fin­det keine Käufer mehr. Sie sind nicht wahn­sinnig. Bordiga jedoch ist schon ein wenig wahnsinnig, wenn er sich vorstellt, daß die Stahlpro­duktion endlos lange fortgesetzt werden könnte, ohne auf eine andere Grenze als die der Zerstörung durch den imperiali­stischen Krieg zu stoßen.

Es ist ein Glück für die IKP, daß das Lä­cherliche nicht tötet (und Bordiga ist ja auch nicht daran gestorben). Wahrschein­lich würden die Ausführungen der IKP und der dahinterstehenden sie inspirierenden Kraft auf ein großes Lachen in den Reihen der Arbeiter stoßen. Aber es ist deshalb umso bedauernswerter, daß die IKP solche Auf­fassungen vertritt. Indem sie sich auf stu­pide und lächerliche Argumente gegen den Pazifismus einläßt, stärkt sie nicht die Seite des Proletariats, sondern seines Geg­ners.

Die Sache hat jedoch auch eine gute Seite. Bei der Rechtfertigung der "Rationalität des Krieges" zerstört die IKP gleichzeitig die ganze Idee. Die IKP tritt nämlich für eine Per­spektive ein, bei der das Proleta­riat Gefahr läuft, gegenüber dem Krieg desorientiert, hilflos dazustehen, weil dadurch die Gefahr, wel­cher der Kapitalismus für die Menschheit bedeutet, unterschätzt wird. Dies wird deutlich in der folgenden Be­hauptung der IKP: "Daraus geht auch her­vor (aus dem Krieg als einem Ausdruck ei­ner "ökonomischen Vernunft"), daß der inter-imperialistische Kampf und der Zusammen­stoß zwischen rivalisierenden Mächten nie zur Zerstörung des Planeten führen kann, weil es sich nicht um exzes­sive imperialisti­sche Gier handelt, sondern um die Notwen­digkeit die Überproduktion zu überwinden. Wenn der Überschuß zer­stört ist, steht die Kriegsmaschinerie still, unabhängig von dem Zerstörungspotential der eingesetzten Waffen, denn gleichzeitig verschwinden auch die Kriegsursachen" (PC, Nr. 92, S. 55).

Wir werden in einem weiteren Artikel auf die dramatische Unterschätzung der impe­rialistischen Kriegsgefahr eingehen, zu der die IKP kommt, und insbesondere auf die politische Entwaffnung, die die politischen Aussagen dieser Organisation für die Ar­beiterklasse bedeuten.

FM,     aus International Review, Nr. 77, 2. Quartal 1994, Erstveröffentlichung auf deutsch in Internationale Revue Nr. 15, 1994

Jahresfeiern 1944:

  • 1961 reads

Noch nie wurde die Landung der Alliierten (D-Day, Decision-Day) am 6. Juni1944 mit soviel Aufwand und Medienspektakel wie in diesem Jahr gefeiert. Nochnie war der Sieg der Alliierten in Europa mit solch einer Gehirnwäsche in denMedien aufge­bauscht worden. Das Ziel besteht wieder einmal darin, dasimperialistische Wesen des Holocaustes des 2. Weltkriegs zu übertünchen, wiesie es übrigens schon mit dem 1. Weltkrieg taten. Nicht nur zieht dieBourgeoisie wieder das alte faschistische Schreckgespenst hervor. Sie mussviele Er­scheinungen der jetzigen zerfallenden ka­pitalistischen Gesellschaftselbst für ihre Propaganda einsetzen. In Deutschland wird jetzt nach demZusammenbruch des Ostens, nach der Wiedervereinigung viel Aufheben gemacht umdie Anhänger eines "Großdeutschlands" - das von Skin­heads undanderen Rechtsradikalen so laut gefor­dert wird. Der Mord an Türken undBrandanschläge gegen Ausländer werden mediengerecht so dargestellt, dass essich jeweils um "Feinde der Demokratie", Er­ben der "neuen brauenPest" handelt. Wenn Neo-Nazi-Schlägerbanden Auslän­der ver­prügeln, wirddas in den Medien so prä­sentiert: "Nazi-Banden jagen Ausländer in denStraßen von Magdeburg"... und wir sollen glauben, es sei alles wieder wiein den 30er Jahren unter Hitler. In Italien hat der Demagoge Berlusconi dieRegierungsge­schäfte übernommen und er­nannte drei Rechtsradikale als Minister.Kurz danach ließ der Stadtrat von Vicenza einen Marsch einiger Hundert Neonazismit Hakenkreuz-Fahnen zu. Plötzlich war­nen die Politiker vor einem neuen"Marsch auf Rom". Der wirkliche Marsch wurde von der bürgerli­chenLinken am 25. April organisiert. Die­ser Marsch zog nämlich trotz Regens ca.300.000 Menschen an, die sich unter der Fahne des Antifaschis­mus versammelten.Die propagandistische Trickkiste, so wie wir sie seit der Zeit nach dem 2.Weltkrieg kennen, wurde wieder ausgepackt.

In Frankreich warnen sowohl die Führer der KP als auch der SozialistischenPartei vor der faschistischen Gefahr, nachdem sie jahrelang den Führer derNationalen Front Le Pen als Schreckgespenst dargestellt ha­ben. Als ein DutzendWaffen-SS Vetera­nen die Strände der Normandie mit ihrem Besuch"beehrten", musste dies als ein Bei­spiel für die wachsende Bedrohungdurch die "Feinde der Demokratie" herhalten.

Die 50 Millionen Kriegstoten werden von den Medien, angefangen von CNN bishin zur kleinsten Lokalzeitung, als die Opfer aus­schließlich der Nazisdargestellt. In den meisten europäischen Staaten wird viel Aufheben gemacht umdie Aktionen von rechtsextremen Gruppen. Gerade rechtzei­tig bringt Hollywoodeinen Film raus über das Massaker an den Juden in Europa (Schindlers List). DerIdealismus der tap­feren GIs, die zu Tausenden an den Küsten der Normandie imNamen der Freiheit starben, wird hochgelobt.

Diese militärischen Feiern vermeiden sorg­fältigst die Verbrechen der"siegreichen Demokratien"[1]. Dabei reichen deren Ver­brechenaus, um die Führer dieser Staaten in die gleiche Gesellschaft einzuordnen wieHitler, Mussolini und Hirohito. Aber selbst dieses Denken ist eine Konzessionan die Personifizierung von "Kriegsverbrechen". Die Diktatoren warenalle nur "untergeordnete" Schergen, denn die herr­schende Klasse, dieBourgeoisie, ist als Klasse insgesamt der Hauptkriegsschul­dige. Als Goebbelserklärte, wenn man eine Lüge nur oft genug wiederhole, dann werde daraus eineWahrheit, zog sein zy­nisches Gegenstück, Churchill, nach und sagte: "InKriegszeiten ist die Wahrheit so kostbar, dass sie immer durch einen Berg von Lügengeschützt werden muss"[2].

Die meisten Rekruten zogen kaum mit Enthusiasmus in den Krieg, da dasTrauma des 1. Weltkriegs noch auf ihnen lastete, weil die Generation ihrer Vätergerade 20 Jahre zuvor im Krieg dezimiert worden war. Die große Flüchtlingsbewegungin Frankreich, der Terror, den der Nazi-Staat gegen die deutsche Bevölkerungausübte, die massiven Verschleppungen von ganzen Bevölkerungsteilen in denstaatskapitalisti­schen stalinistischen Regimen, all das wird heute in denZeitungsberichten verschwie­gen. All die angeblich "objektiven" Doku­mentationenund Artikel bringen immer nur einen Namen "Hitler"! Ähnlich wie imMittelalter, als die Pest als eine Strafe, von Gott geschickt, aufgefasstwurde. Im dekadenten Kapitalismus hat jetzt die herr­schende Klasse eine neueGeißel gefunden: die braune Pest. In der Geschichte haben die herrschendenKlassen immer ein neues Übel erfunden, um eine Interessensge­meinschaftzwischen den Unterdrückten und ihren Unterdrückern herbei zu schwören. DiePersonifizierung der Ereignisse um Diktatoren oder alliierte Generale ist nützlich,um die Tatsache zu übertünchen, dass sie nichts anderes als ausführende Or­ganeihrer jeweiligen Bourgeoisie waren. Namen werden in den Vordergrund ge­stellt,um dafür zu sorgen, dass die gesell­schaftlichen Klassen in Kriegszeiten ver­schwinden.In einem neuen Kreuzzug ge­gen das Böse soll jeder sich in diese Ein­heiteinreihen.

1933 - das Jahr der Machtübernahme durch Hitler, war ein Schlüsseljahr. Wiedie Revolutionäre um BILAN zeigten, nicht weil es eine "Niederlage derDemo­kratie" gegeben hätte, sondern weil es ein entscheidender Sieg derKonterrevolution war, vor allem in dem Land, wo die Ar­beiterklasse zuvor am stärkstengewesen war. Die Machtübernahme durch Hitler kann nicht nur allein durch denentwürdi­genden Versailler Vertrag erklärt werden, der Deutschland wegen derReparations­zahlungen auf die Knie zwang. Insbeson­dere weil die Arbeiterklasseals Gefahr für die herrschende Klasse von der Bühne der Geschichte verschwand.

In Russland fing der Staat an, Bolschewiki und revolutionäre Arbeiter imgroßen Maßstab zu massakrieren. All das geschah mit der schweigenden Zustimmungder westlichen Demokratien, die vorher schon die weißen Armeen aufgestellthatten, wel­che ab 1919 in Russland eingefallen waren, um die damaligeArbeitermacht zu be­kämpfen. In Deutschland hatte das sozial­demokratischeRegime der Weimarer Re­publik Hitlers Schergen den Platz überlas­sen nach derenSieg bei den republikani­schen Wahlen. Die "sozialistischen" Füh­rer,die für das Massaker an den deutschen Arbeitern verantwortlich waren - Scheide­mann,Noske usw. - gaben ihr Mandat demokratisch ab. Sie wurden während derdarauffolgenden 5 Jahre Nazi-Herrschaft nie wirklich bedrängt.

Die Kämpfe in Spanien und Frankreich während der 30er Jahre waren nur nochAusläuferstreiks in Anbetracht der Nie­derlage, die die Arbeiterklasseinternatio­nal erlitten hatte. Der Wahlsieg der Fa­schisten in Italien undDeutschland war nicht die Ursache dafür, sondern sie war das Ergebnis derNiederlage der Arbeiter­klasse auf ihrem eigenen Klassenterrain. Als sie denFaschismus hervorbrachte, er­fand die Bourgeoisie keine neue Art Re­gime,sondern einen Staatskapitalismus, wie er unter Roosevelts New Deal oder unterStalins Kapitalismus vorhanden war. In Kriegszeiten vereinigen sich die Frak­tionender Bourgeoisie ihrem Wesen nach auf na­tionaler Ebene, da sie die proletari­scheGe­fahr weltweit ausgeschaltet haben - und diese Vereinigung kann die Form derNazi- oder stalinistischen Parteien anneh­men.

Die "wachsende Gefahr" wurde in Kom­plizenschaft mit Stalin und derrussischen Bourgeoisie von den Vasallen der Kom­munistischen Partei des neuenrussischen Imperialismus organisiert. Es geschah un­ter dem Deckmantel derIdeologie der "Volksfront", die eine Desorientierung der Arbeiterbewirkte, nachdem sie sich für das Programm der nationalen Einheit und dieVorbereitungen für den imperialisti­schen Krieg einspannen lassen sollten.

Die französische KP zog 1935 die Natio­nalflagge, die Trikolore, hoch, alssie den Laval-Stalin-Pakt unterzeichnete, wodurch die Arbeiter ins Massakergetrieben wur­den: "Falls Hitler trotz alledem einen Krieg anfängt, sollteer wissen, dass er dem vereinten französischen Volk entgegentre­ten muss, mitden Kommunisten an vorder­ster Front, um die Sicherheit des Landes und dieFreiheit und Unabhängigkeit des Volkes zu verteidigen". Die KP brach inSpanien die letzten Streiks und ließ Arbei­ter mit Hilfe der GPU (StalinsGeheimpoli­zei) niederschießen, bevor Franco deren schmutzige Arbeit abschloss.Die stalinisti­schen Führer flüchteten dann nach Frankreich und Russland, genauwie de Gaulle und Thorez (Führer der KPF), als diese jeweils nach London undMoskau flüchteten.

DER WEG ZUM IMPERIALISTI­SCHEN KRIEG

Von 1918 bis 1935 hatte es weltweit viele Kriege gegeben, aber sie hattennoch nicht Europa erfasst. Oder es gab "Befriedungskriege" wie diedes französi­schen Imperialismus in Syrien, Marokko und Indochina. Revolutionärewie die Gruppe BILAN sahen die ersten Warnsi­gnale mit dem Krieg in Äthiopien,wo auch der britische Imperialismus und die Armee Mussolinis beteiligt waren.Es diente den Interessen der westlichen Verbündeten, als sie Faschismus mitKrieg identifizieren konnten. Die Schuld für den nächsten Weltkrieg konntesomit leicht dem Fa­schismus angelastet werden. Das faschisti­sche Schreckgespensterschien noch größer nach dem Sieg Francos 1939 in Spa­nien. Die Propaganda derAlliierten konn­te "mit Recht" auf die Hunderttausende Flüchtlinge,die Opfer des Franco-Regimes waren, weisen. Es folgte eine Zeit des"status quo", als ein "Friede ge­sucht" wurde, währendDeutschland das Rhein­land militärisch wieder besetzte und 1938 den"Anschluss" Österreichs betrieb. Der Münchner Konferenz vom 30.Sept.1938 folgte im Oktober des gleichen Jahres die Besetzung des tschechischenSudeten­landes. Die Tschechen waren noch nicht einmal zur Konferenz nach Münchenein­geladen worden, und als Deutschland im März 1939 die Tschechoslowakeiselber besetzte, rührten weder Frankreich noch England einen Finger. Daladierund Chamberlain wurden nach ihrer Rückkehr aus München enthusiastisch von denMas­sen begrüßt, die glaubten, "der Friede" sei gerettet. Tatsächlichspielten aber beide Seiten auf Zeitgewinn. Offizielle Historiker haben sichseitdem damit begnügt, die un­zureichende Bewaffnung Frankreichs und Großbritanniensals Erklärung anzuführen. Tatsächlich aber waren die Kriegsbünd­nisse nochnicht ganz fest gezurrt worden. Die deutsche Bourgeoisie spielte noch mit derHoffnung eines Bündnisses mit Frankreich und Großbritannien gegen Russland. Dasdeutsche Volk war ebenso wie die Menschen in Großbritannien und Frankreichhinters Licht geführt worden: "... Die Deutschen begrüßten auch Cham­berlainstürmisch, weil sie in ihm den Ret­ter vor dem Krieg sahen. Mehr Menschen kamenzu seiner Begrüßung als zu der von Mussolini... München war voll von UnionJacks (britische Fahne), die Massen außer sich vor Freude. Als Chamberlain nachEngland zum Flughafen Heston zurück­kehrte, wurde er wie ein Messias empfan­gen.In Paris wurde eine öffentliche Spen­densammlung eingeleitet, um dem briti­schenPremierminister ein Geschenk zu machen"[3].

1937 leitete Japan seine Besetzung Chinas ein, eroberte Peking und bedrohtedamit die US-Vorherrschaft im Pazifik. Am 24. August 1939 kam es mit demdeutsch-rus­sischen Pakt (Hitler-Stalin-Pakt) zum Pau­kenschlag. Hitler hattesomit freie Hand, Westeuropa anzugreifen. In der Zwischen­zeit fiel dieWehrmacht am 1. Sept. 1939 in Polen ein. Auch Russland marschierte in Polen ein.Zögerlich erklärten die französi­sche und britische Regierung Deutschland zweiTage später den Krieg. Die italieni­sche Armee eroberte Albanien. Ohne förmlicheKriegserklärung landete die Wehrmacht im April 1940 in Norwegen.

Die französische Armee begann die Saar-Offensive, aber sie kam nach dem Todvon Tausenden von Soldaten zum Stehen. Da­nach erklärte Stalin, der damit seineAn­hänger zum Narren hielt, welche erklärt hatten, der Hitler-Stalin-Pakt seiein Pakt mit dem Teufel, um Hitler vom Angriff gegen Westeuropa abzuhalten:"Nicht Deutschland hat Frankreich und Großbri­tannien angegriffen, sondernFrankreich und Großbritannien haben Deutschland angegriffen.... Nach dem Beginnder Feindseligkeiten machte Deutschland Frankreich und Großbritannien Frie­densangebote,und die Sowjetunion unter­stützte offen die deutschen Vorschläge. Die führendenPolitiker Frankreichs und Groß­britanniens verwarfen die deutschen Frie­densvorschlägeschroff und die Versu­che der Sowjetunion, den Krieg schnell zu beenden".

Niemand wollte gegenüber der Arbeiter­klasse die Verantwortung für die Auslösungdes Krieges übernehmen. Nach dem Krieg gab es plötzlich keine"Kriegsministerien" mehr sondern nur noch"Verteidigungsminister". Auch fällt auf, dass der Nazi-Staat starkdaran interes­siert war, als der "angegriffene Staat" zu erscheinen.Albert Speer bemerkt in seinen Memoiren die folgende Erklärung Hitlers:"Wir werden nicht den gleichen Fehler machen wie 1914. Wir müssen jetztunse­rem Feind die Schuld in die Schuhe schie­ben". Am Vorabend desKrieges mit Japan wiederholte Roosevelt die gleiche Aus­sage: "DieDemokratien dürfen nie als der Aggressor erscheinen".  9 Monate Ab­warten, mit Gewehr bei Fuß, bestäti­gendieses Zögern all der Kriegsteilneh­mer. Der Historiker Pierre Miquel stelltfest, dass Hitler den Angriff gegen den We­sten nicht weniger als 14-malaufgrund man­gelnder deutscher Vorbereitungen und schlechter Wetterbedingungenaufschob.

Am 22. Juni 1941 marschierte Deutschland in die Sowjetunion ein, wodurchder "brillante" Stratege Stalin völlig überrascht wurde. Am 8.Dezember, nachdem der ameri­kanische Imperialismus seine eigenen Sol­daten inPearl Harbour hatte umbringen lassen (die US-Geheimdienste hatte den ja­panischenAngriff vorhergesagt), erklärten die USA, und nachdem sie  sich als Opfer der japanischen Angriffedarstellten, Japan den Krieg. Schließlich erklärten dann Deutschland undItalien am 11. Dezember 1941 den USA den Krieg.

Einige Bemerkungen sind hier notwendig nach dem kurzen Überblick über den"diplomatischen Weg" zum Weltkrieg, nachdem die Arbeiterklasse zumSchwei­gen gebracht worden war. Die beiden lo­kalen Kriege (Äthiopien undSpanien) hat­ten schließlich die Faschisten nach Jahren der Medienpropaganda inEuropa als "Kriegstreiber" dargestellt. Die militäri­schen Aufmärscheund Paraden Hitlers und Mussolinis waren sicher besser orga­nisiert als diefranzösischen Feiern zum 14. Juli oder die amerikanischen und briti­schenNationalfeiern, aber sie waren nicht weniger absurd. Zwei weitere Kriege imHerzen Europas (Tschechoslowakei und Polen) führten zur schnellen Niederlageder mit ihnen verbündeten "Demokratien". Nachdem der Tschechoslowakei(und Spa­nien) keine Unterstützung gewährt wurde, zwang sich die"Verteidigung der Demo­kratie" und der bürgerlichen Freiheiten nachder Besetzung Polens durch die "totalitären Regime" Russlands undDeutschlands geradezu auf. Politisch-di­plomatische Manöver können sich überJahre hinziehen. Aber bewaffnete Kon­flikte können Auseinandersetzungen inner­halbkürzester Zeit durch Waffen regeln - zum Preis eines gewaltigen Abschlachtens.Der Krieg wurde erst wirklich nach einem Jahr zu einem Weltkrieg, nachdemDeutschland Großteile Europas erobert hatte. Mehr als 4 Jahre lang unternahmendie USA keinen entscheidenden Schlag ge­gen die Invasoren, womit die deutscheWehrmacht in Europa den Gendarmen spielen konnte. Die USA, die weit entferntvon Europa sind, waren anfänglich mehr um ihre Vorherrschaft wegen der japani­schenBedrohung im Pazifik besorgt. Der Weltkrieg dauerte länger als die vorheri­genlokalen Kriege, und dies kann nicht allein aufgrund der Stärke der Wehrmachterklärt werden oder der verschiedenen Wendungen der imperialistischen Diplo­matie.Es ist zum Beispiel gut bekannt, dass ein Teil der amerikanischen Bourgeoisieviel lieber mit der deutschen Bourgeoisie zusammengegangen wäre, anstatt sichmit dem "kommunistischen" Regime Stalins zusammenzuschließen. Genausohatte die deutsche Bourgeoisie vergeblich versucht, sich mit Frankreich undEngland gegen Stalin zusammenzuschließen. 1940 und 1941 erhielt die englischeBourgeoisie von Hitler Friedensangebote, bevor es zur Operation"Barbarossa", dem Feldzug ge­gen Russland, kam. Das Gleiche, als Mus­solinisArmee in Nordafrika eine Nieder­lage erlitt. Die britische Regierung zögerte umsomehr, da sie dazu neigte, alles zu tun, damit die beiden großen "totalitärenRe­gime" sich gegenseitig dezimierten. Aber es wäre ein Fehler hierstehenzubleiben und zu glauben, dass die Hauptkraft, die dem Kriegstreiben derBourgeoisie entge­gensteht, das Proletariat, einfach von der Bildflächeverschwunden wäre, nur weil die Herrschenden einen das Volk"vereinigenden" Krieg wollten.

Die Marxisten können nicht einfach ab­strakt den Krieg als solchenuntersuchen, unabhängig von der jeweiligen historischen Phase. Im 19.Jahrhundert, in der aufstei­genden Phase des Kapitalismus, war der Krieg einunabdingbares Mittel zur Eröff­nung neuer Entwicklungsmöglichkeiten. Kanonenwurden damals zur Eroberung neuer Märkte eingesetzt. Dies wurde von der GaucheCommuniste de France (GCF) im Jahre 1945 aufgezeigt. Sie war eine der wenigenGruppen, die während des Krieges dem proletarischen Internationa­lismus treugeblieben war. "In der Deka­denzphase, wo der Kapitalismus historischgesehen alle Entwicklungsmöglichkeiten ausgeschöpft hat, bietet der moderne,d.h. der imperialistische Krieg, der Ausdruck dieser Dekadenz ist, keineweitere Ent­wicklungsmöglichkeit der Produktion. Der Krieg führt nur zur Zerstörungder Pro­duktivkräfte und zum Aufhäufen einer Ruine nach der anderen... Je mehrdie Märkte schrumpfen, desto verbissener wird der Kampf um den Besitz anRohstoffen und die Kontrolle des Welt­marktes. Der wirtschaftliche Kampf zwi­schenverschie­denen kapitalistischen Gruppen spitzt sich mehr und mehr zu; er nimmtimmer mehr die Gestalt des Kampfes zwischen den Staaten an. Der auf die Spitzegetriebene ökonomische Kampf zwischen Staaten kann letzten Endes nur durchmilitärische Ge­walt gelöst werden. Der Krieg wird zum einzigen Mittel, mit demjedes nationale Kapital versucht, die Schwierigkeiten zu lösen, vor denen essteht. Dies geht nur auf Kosten der impe­rialistischen Rivalen"[4].

DIE NATIONALE EINHEIT WÄH­REND DESKRIEGES

Die bürgerlichen Historiker hängten die schnelle Niederlage der altenkontinentalen Großmacht Frankreich nicht besonders hoch an die Glocke. Nichtnur die klimati­schen Be­dingungen hatten den Angriff der Wehrmacht hinausgezögert.Der deut­sche Staatsapparat hatte Hitler nicht zufällig ge­wählt, denn diedeutsche Staatsführung, das waren keine Dummköpfe. Es wurden geheime diplomati­scheVerhandlungen ge­führt. Selbst mitten während des Krieges kann es zu einerUmkehr von alten Al­lianzen kommen. Darüberhinaus war sich die deut­scheBourgeoisie immer des­sen bewusst, dass ausge­hend von Erinnerungen an denAufstand der Arbei­ter und Soldaten 1918, die Ernährungsfrage von hochrangi­gerBedeutung ist. 1938 befand sich eine herr­schende Klasse in Deutschland an derMacht, welche das Erbe der 1. Weimarer Republik über­nommen hatte, die dank derNiederschla­gung der proletarischen Revo­lution von 1918/1919 entstanden war.Die Bataillone der SS waren aus den alten Freikorps zusammen­gestellt, die dieMas­saker an den aufständi­schen Arbeitern 1918/1919 übernom­men hat­ten. Wederder Aufstand der Kommune von Paris 1870, noch die Oktoberrevolution 1917, nochdie Kämpfe in Deutschland 1919 waren ver­gessen worden. Auch wenn sie politischgeschlagen war, blieb die Arbeiterklasse für die Bourgeoisie eine ge­fährlicheKlasse.

Der schnelle Sieg des deutschen Imperia­lismus in der Tschechoslowakei warein Ergebnis des Ner­venkriegs, des Bluffs, ge­schickter Manöver und vor allemder Spe­kulation um die Angst aller Regierun­gen wegen der Folgen ei­nesKrieges gewesen, falls dieser zu schnell ohne entsprechende Unterwerfung derArbei­terklasse ausge­dehnt worden wäre. Wäh­rend die französi­schen Generalenoch mit dem alten Konzept des Stellungskriegs von 1914 ver­bunden waren, hatteder deutsche Generalstab seine Kriegs­strategie "modernisiert" unddie Taktik des Blitz­krieges eingeführt. Nur lang­sam vorzurücken, ohne hartzuzu­schlagen, bedeutet aus dieser Blitzkriegs­sicht (während des Golfkriegeswurde dies wieder bestätigt) eine sichere Niederlage anzusteuern. Schlim­mernoch, denn je zer­brechlicher die Unter­stützung für den Krieg innerhalb derBevölke­rung ist, be­deutet jeder Zeitverschub, jedes Hinauszögern, dass diekriegsführenden Sol­daten selbst unter­einander über die Fronten hin­wegKontakt aufneh­men können und damit das Risiko von Erhebungen und sozialen Ex­plosionenanwächst. Im 20. Jahr­hundert ist die Arbeiterklasse zweifelsohne zum er­stenBa­taillon gegen den imperialistischen Krieg ge­worden. Hitler selbst meinte ge­genüberAlbert Speer, die "Industrie ist ein Faktor, der für die Ent­wicklung desKom­munismus günstig wirkt". Hitler ging auch davon aus, dass nach derEinführung von Zwangsarbeitsmaßnahmen in Frankreich im Jahre 1943 die Möglichkeitvon Ar­beitsniederlegungen und Streiks, wel­che die Produktion bremsen wür­den,ein Ri­siko sei, das man in Kriegszeiten einge­hen müsse. Die deutscheBourgeoisie hatte also so etwas wie einen bismarckschen Reflex. Denn Bis­marckwar während des Auf­stands der Pa­riser Ar­beiter in der Pariser Kommune gegendie französi­sche Bour­geoisie mit dieser Erfah­rung konfrontiert worden.Damals war der Vormarsch der deutschen Truppen blockiert worden. Die deutscheBour­geoisie fürchtete damals die Ausbreitung dieses Aufstandes un­ter dendeutschen Arbeitern und Sol­daten. 1918 hatten schließlich auch die deutschenAr­beiter und Soldaten, angespornt durch die Revolu­tion in Russland, durch dieEntfal­tung des Bürger­krieges gegen ihre eigene Bour­geoisie reagiert.

In Frankreich fand jedoch so etwas wie ein Ermü­dungskrieg nach demabrupten Ende der ersten deutschen Militäroffensive statt. Deutschland wolltesich vor allem einen Le­bensraum im Osten eröffnen und zog es sogar vor, sicheher mit den beiden westli­chen "demokratischen" Ländern zu verbün­den,an­statt einen Großteil seiner militärischen Ka­pazitäten für deren Beset­zungzu verschwen­den. Deutschland unter­stützte die Kriegspartei Lavals und Do­riots,die alte Pazifisten waren und sich zuvor auf den Sozialismus berufen hatten.Diese pro-faschisti­schen Fraktionen waren jedoch eine Minderheit, die für eindeutsch-französisches Bündnis eintrat. Die gesamte Bourgeoisie war sehr besorgtwegen der mangelnden Mobilisierung des französi­schen Prole­tariats für denKrieg. Die Arbei­terklasse war in Frankreich nicht mit Bajonet­ten undFlammenwer­fern nie­dergeworfen worden wie die Arbeiter­klasse in Deutschlandzwischen 1918-23.

Die deutsche Bourgeoisie musste also auch in Frankreich vorsichtigvorgehen, denn sie wusste, dass Frankreich sowohl militä­risch als auch gesell­schaftlichzerbrechlich war. Der Beweis war das langsame Aus­einanderfallen der französischenBour­geoisie zwischen auf der einen Seite den feigen Militärs und denPazifisten, die sich bald als Kolla­borateure mit dem Besat­zungsregimeherausstellten, und die für die Kontrolle der Arbeiter zu sorgen hat­ten.

Die Volksfront hatte entscheidend zur Aufrü­stung beigetragen und damitauch zur politi­schen Ent­waffnung der Arbeiter. Aber sie hatte es nicht ge­schafft,die natio­nale Einheit vollständig herzustel­len. Die Polizei hatte vieleStreiks zerschlagen und Hunderte militante Arbeiter verhaftet, die zwar nichtalle klare Vorstellungen davon hatten, wie sie sich dem Kriege entgegen­stellensollten, die aber trotz­dem gegen den Krieg waren. Der linke Flügel der französischenBourgeoisie hatte die Ar­beiter mit dem Schwindel der Volksfront be­ruhigt, diein die­ser Situation den Ar­beitern den "bezahlten Urlaub" zugestand,während die Arbeiter in diesem Urlaub für den Krieg selbst mobilisiert wurden.Der Einfluss der pa­zifistischen links-extremen Fraktionen des Ka­pitalsverhinderte gleich­zeitig, dass eine wahre Klassenalternative aufkam. In Ergänzungzur Sabo­tagearbeit der Stalinisten veröffentlichten die Anar­chisten, die inden Gewerkschaften noch über großen Einfluss verfügten, im Sep­tember 1939 einFlugblatt "Frieden so­fort!", das von einer Handvoll von Intel­lektuellenunterzeichnet war: "Keine Blu­men am Ge­wehr, keine Heldenlieder, keineHurra-Rufe an die Soldaten, die an die Front ziehen. Es wird behauptet, dassdies in allen kriegsfüh­renden Ländern so sei. Der Krieg wird vom ersten Tag anvon al­len Seiten - vor und hinter der Front ver­urteilt -. Schließen wirschnell den Frie­den".

Der "Frieden" kann aber nicht die Alter­native ge­genüber demKrieg im dekaden­ten Kapita­lismus sein. Solche Resolutionen dienen nur dazu,die Tendenz zu stärken, "Rette sich wer kann", m.a.W. dass indivi­duelleLösungen wie Flucht ins Ausland für die Bessergestellten angestrebt werden. DieVerwirrung in den Reihen der Arbei­ter nimmt damit nur zu, ihre Sorgen und ihrBestreben etwas zu tun, kön­nen nicht wirklich zum Ausdruck kommen, son­dernverfangen sich in den Reihen der lin­ken und extrem-linken Parteien und Gruppie­rungen,die diese wiederum dann auf ein anti­faschistisches Ter­rain ziehen, auf demangeb­lich ihre Interessen ver­teidigt wer­den.

Die französische Gesellschaft brach jedoch so stark auseinander, dass diedeutsche Armee kurz nach der ersten großen Bom­bardierung von Rotterdam (40.000Tote) am 10. Mai 1940 ohne auf großen Wider­stand zu stoßen die zerbrechlicheMaginot-Li­nie in Frankreich überschreiten konnte. Die Offi­ziere der fran­zösischenArmee flüchteten als erste und lie­ßen ihre Trup­pen zurück. Die niederländi­sche,belgi­sche, luxemburgische Bevölkerung wie des Nordens Frankreichs, Pariseingeschlossen, flüchtete in großen Scharen Richtung Süden und nach Mittel- undSüdfrankreich. So kam es zu einer der größten Massenfluchtbewe­gungen. Diese"mangelnde Widerstandsbereit­schaft" der Bevölke­rung wurde ihr spätervon den Ideologen des Ma­quis (unter denen viele wie Mitterand und die"sozialistischen" Führer Belgiens und Italiens erst von 1942 ihreWeste gewechselt haben) vorgewor­fen, um nach dem Krieg alle möglichen Erpres­sungsversuchezu unternehmen, damit die Arbeiter­klasse sich für den Wie­deraufbau opferte.

Der Blitzkrieg hinterließ jedoch mehr als 90.000 Tote und mehr als 120.000Ver­letzte auf französi­scher und 27.000 Tote auf deut­scher Seite. DieserBlitzkrieg brachte für mehr als 10 Millionen  Menschen unvorstellbare Lebens­bedingungen.1.5 Millionen Men­schen wurden als Gefangene nach Deutschland ver­frachtet. Na­türlichist das wenig im Vergleich zu den 50 Millionen Kriegstoten insgesamt.

In Europa litt dann die Zivilbevölkerung unter den schlimmsten Verlusten,die es jemals in Kriegszeiten gegeben hatte. Noch nie waren so viele Frauen undKinder im Krieg gefallen. Die Zahl der zivilen Op­fer überstieg zum er­sten Malin der Weltge­schichte die Zahl der toten Soldaten.

Mit einem nahezu bismarckschen Reflex ging die deutsche Bourgeoisie dazu über,Frankreich in zwei Teile zu spalten: eine be­setzte Zone, der Norden mit derHaupt­stadt, um direkt in Lauerstellung gegen­über England gehen zu können. Undeine "freie" Zone, der Süden, an deren Spitze der General Pe­tain,genannt der Tölpel, stand, und der ehemalige "Sozialist" Laval,Mitglied der ehrenwerten Interna­tionale. Dieser Staat der Kollaboration un­terstütztedie Deutschen bis es den Alliier­ten bei ihrem Vor­marsch gelang, den deut­schenImperialismus zu­rückzudrängen.

Die ständige Angst vor einer Erhebung der Arbeiter gegen den Krieg, auchwenn diese noch so schwach waren, war selbst bei denje­nigen zu spüren, die dieLinken als "antisozial" darstellen. Die Kollaborati­onszeitung"L’Oeuvre" spricht grob­schlächtig von der Notwendigkeit von Ge­werkschaften- diese sog. sozialen Errun­genschaften der Volksfront - die in den Dienst derBesatzer treten sollen. Sie schlugen damit mehr oder weniger die gleichen Töneein wie irgendeine linke oder trotzkistische Gruppierung: "Die Be­satzersind stark daran interessiert, dass es zu keinem Widerstand der Arbeiter kommt.Sie wol­len, dass die Arbeiter nicht den Kontakt verlieren, und dass sie ineine gut organisierte gesellschaftliche Bewegung integriert wer­den... DieDeutschen wün­schen, dass die Ar­beiter in Berufsorganisa­tionen eingegliedertwerden. Zu diesem Zweck müssen die notwen­digen Führungs­kräfte zur Verfügunggestellt werden, die das Vertrauen der Arbeiter genie­ßen... Und diese Führungskräftemüssen dann eine Auto­rität ausstrahlen und der Gefolg­schaft der Arbeitersicher sein"[5],(L’OEUVRE, 29.08.1940).

Ab dem Jahr 1941 fingen einige Mitglieder der französischenKollaborationsregierung an, sich über die Zeit nach der Besatzung Gedan­ken zumachen und die Frage der Aufrechter­haltung der gesell­schaftlichen Ordnung aufzu­werfen.Die Bourgeoisie um Petain und der im Exil befindliche De Gaulle, der als der Führerdes "freien Frankreichs" auftrat, nahmen dis­kret Kontakteuntereinander auf. Ihr Hauptan­liegen bestand darin, die gesellschaftliche undpolitische Ordnung beim Übergang zwischen den beiden Regierungsformenaufrechtzuer­halten. Die Ideologie der sehr schwachen Résistance-Bewe­gung, dievon der liberalen, in Großbritannien im Exil befindlichen  Fraktion und von den Stalini­sten der KPF inFrankreich verbreitet wurde, stieß an­fänglich auf große Schwie­rigkeiten, alses darum ging, die Ar­beiter für die nationale Union, für die "Befreiungdes Landes" zu mobilisieren. 1943 half die Bourgeoisie gegen ihren Willennach, die Rei­hen der "Terroristen" zu verstärken, indem sie eineneue Regelung einführte, der zufolge für jeden nach Deutschland ver­schicktenZwangsarbeiter ein Kriegsgefange­ner nach Frankreich zurück­kehren könnte. Abergrundsätzlich waren es die linken und extrem-linken Parteien, die es schafften,die Arbei­ter für die Résistance auf der Grundlage des Sieges der"Schlacht um Stalingrad" zu mobilisieren.

Änderungen der imperialistischen Bünd­nisse und die mögliche Reaktion desPro­letariats waren zu dieser Kriegszeit die Hauptfrage­stellungen der Bour­geoisie.Formell trat der Wendepunkt im Krieg 1942 ein, als die japani­sche Expansion imOsten zum Halten gekom­men war, und die Schlacht um El Alamein, die zurEntschei­dung über die Ölfelder führte, stattfand. Im gleichen Jahr fing dieSchlacht um Stalin­grad an, wo der stalinistische Staat dank der US-militärischenUnterstützung einen Sieg ver­zeichnen konnte (die USA lieferten Waffen undPanzer, die technisch höher ent­wickelt waren als die russischen Ge­räte). Ingeheimen Verhandlungen hatte Stalin sein Versprechen der Kriegserklä­rung anJapan als ein Faustpfand einge­bracht. Der Krieg hätte damals schnell zu Endegebracht werden kön­nen, insbeson­dere nachdem ein Teil der deut­schenBourgeoisie stark daran interessiert war, Hit­ler wie­der loszuwerden und ihn1944 zu ermorden ver­suchte. Die Alliierten ließen je­doch die Draht­zieher desAttentates ge­gen Hitler isoliert, wodurch der Nazi-Staat mit un­eingeschränkterGewalt gegen die Attentäter vorgehen konnte (Admiral Ca­naris Valky­rie Plan).

Aber die Reaktion des italienischen Proletari­ats musste nun berücksichtigtwer­den. Der Krieg musste noch zwei Jahre fortgeführt wer­den, bevor die be­stenKräfte des Proletariats abgeschlachtet wor­den waren, und um einen so überhastetenFriedensab­schluss wie den von 1918 zu vermeiden, der damals mit der Re­volutionauf seinen Fersen abgeschlossen worden war.

Nach der Erhebung des italienischen Proleta­riats trat 1943 ein Wendepunktim Krieg ein. Weltweit be­nutzte die Bour­geoisie die Isola­tion und die Nieder­lageder italienischen Ar­beiter dazu, der Résistance in den besetzten LändernAuftrieb zu verschaffen, um die Un­terstützung der Bevölkerung für den zu­künftigenkapitali­stischen Frieden zu errei­chen. Bis dahin bestanden die meisten Grup­pender Résistance hauptsächlich aus kleinen Minder­heitsgruppen vonnationalistischen Klein­bürgern, die terroristische Methoden be­nutzten. Dieanglo-amerikanische Bour­geoisie verherrlichte dann die Ideologie der Résistance.Sie erhielt Auftrieb nach dem Sieg in Sta­lingrad und nachdem die KPs sich inden meisten Ländern pro-westlich orientiert hatten. Die Arbeiter sa­hen keinengroßen Unterschied zwischen der Ausbeutung durch einen deut­schen und französi­schenUnternehmer. Sie hatten keinen Wunsch ge­zeigt, im Namen des englisch-französischenImpe­rialismus Po­len zu unterstützen und dabei ihr Leben zu lassen. Sie hattensich nicht für einen Krieg mo­bilisieren lassen, der nicht ihren Interessen ent­sprach.Sie jetzt für die "Verteidigung der Demo­kratie" einzuspan­nen,erforderte, dass sie von ihrem Klas­senstandpunkt aus dabei für sich einePerspek­tive erkennen müssten. Sta­lingrad als Wendepunkt des Krieges und die Mög­lichkeitder Herrschaft der Besatzungsar­meen ein Ende zu setzen, die"Freiheit" wie­derzuerlangen, selbst mit "eigenen Polizei­kräften",ließ die Hoffnungen der Arbeiter an­steigen, wobei gleichzeitig der"befreiende Kom­munismus" - verkörpert durch Stalin - sein Gift aus­stieß.Ohne diese Lüge wären die Arbeiter den be­waffneten Résistance-Bandenfeindselig gegenüber eingestellt geblieben, de­ren Handlungen die Gewalt desNazi-Terrors nur noch erhöhten. Ohne die Unter­stützung der Stalinisten undTrotzkisten hätte die Bour­geoisie in London und Washington keine Aus­sichtdarauf gehabt, die Arbeiter für den Krieg mo­bilisieren zu können. Im Gegensatzzum Krieg von 1914 ging es jetzt nicht darum, die Arbei­ter in Reih und Gliedzu zwingen, um sie zur Schlacht­bank zu führen, sondern ihre Un­terstützung auf"zivilem Boden" zu ge­winnen, sie in das Netz der Résistance ein­zugliedern,den Enthusiasmus nach dem Stalin­grad-Sieg auszunutzen.

In Italien und Frankreich schlossen sich viele Ar­beiter dem Maquis an,weil sie die Illusion hatten, somit wieder zum Klassen­kampf zu­rückfinden zu können.Die Stali­nisten und Trotzkisten stellten gar den Vergleich an mit der PariserKommune (denn damals erhoben sich die Arbeiter gegen ihre eigene Bour­geoisie -angeführt von dem neuen Thiers - Pétain - während die Deutschen seinerzeitFrankreich be­setzt hielten). Die Bevölkerung wurde seit dem Kriegsbeginnterrorisiert und musste sich somit hilflos gegenüber dem Krieg vorkommen. VieleArbeiter schlossen sich den Banden der Résistance an und wurden unter demEindruck in den Tod geschickt, dass sie für eine "sozialistische Be­freiung"Frankreichs oder Italiens kämpften. Mit anderen Worten: dass sie einen"neuen Bürgerkrieg gegen ihre eigene Bour­geoisie führten". Genausowie 1914 deutsche und französi­sche Arbeiter an die Front unter dem Vorwandgeschickt worden waren, dass Deutschland und Frankreich "den Sozia­lismusex­portierten". Die stalinistischen und trotzki­stischen Gruppen der Résistancesprachen bei dieser Er­pressung davon, dass die Arbeiter an "vordersterStelle beim Kampf für die Unab­hängigkeit der Völ­ker" zu stehen hätten.Dies traf insbesondere auf einen Schlüsselbereich der Wirtschaft zu, welcherdie Wirtschaft hätte lahmlegen können: die Eisen­bahnen.

Gleichzeitig wurde ohne das Wissen vieler Arbeiter ein Kampf um dieVorherrschaft in­nerhalb der rechten Fraktionen der Rési­stance darüber geführt,wie die alte kapita­listische Ordnung nach dem Krieg wieder­hergestellt werdenkönnte. Teams von ameri­kanischen Geheimagenten aus dem AMGOT (Allied Mi­litaryGovernment for the Occupied Territo­ries) waren nach Frankreich und Italien ge­schicktworden (dies war der Beginn der P2 Loge und der Kompli­zenschaft der italieni­schenund amerikanischen Bourgeoisie mit der Ma­fia). Sie sollten sicherstellen, dassdie Stali­nisten nicht zu viel Macht bekämen, um sich dem russischenImperialismus anzu­schließen. So wurde den Stalinisten immer deutlicher ihre ih­nenzu­geteilten Rolle auf­gezeigt. Dies wurde be­sonders in dem Be­reich klar, wosie wahre Ex­perten sind: der Sabotage von Arbeiter­kämpfen, der Ent­waffnungvon eher "utopisch" einge­stellten Résistancegruppen und der Nieder­schlagungder Ar­beiter, die ge­gen die Er­fordernisse des Wiederauf­baus protestier­ten.Sofort nach der "Befreiung" und als Beweis der Komplizenschaft allerBour­geoisien gegen das Proletariat rekrutierte die westliche herr­schendeKlasse - bei gleichzeiti­ger Verurteilung ei­niger Kriegs­verbrecher - um dasGesicht zu bewah­ren - eine Reihe von ehemaligen Nazi- und stalini­stischenFolterex­perten als nützliche Geheimagenten in den meisten europäi­schenHauptstädten. Die erste Aufgabe dieser neu Rekrutierten bestand na­türlichdarin, der russischen Seite entgegen­zutreten. Aber es ging auch darum, den"Kampf gegen den Kom­munismus" (Arbeiteraufstände) zu führen, um denWider­stand der Arbeiter selber auszuhöh­len, denn diese Gefahr bestand für dasKa­pital selbst noch nach den Schrecken des Krieges.

DIE MASSIVE ZERSTÖRUNG DES PROLETA­RIATS

Wir überlassen es den Bürgerlichen, über die Zahl der Toten in denjeweiligen Län­dern zu streiten[6]. Aber es gibt keinenZweifel, dass die russische Be­völkerung am meisten gelitten hat. Mehr als 20Millionen Tote an der europäi­schen Front. Diese Op­fer wurden bei den Fei­erlichkeitenanläss­lich des 50. Jahrestages der Landung der Alliierten in der Nor­mandienicht erwähnt. Heute beschuldigen russische Histo­riker weiterhin die USA, dieLandung in der Normandie herausgezögert zu haben, um die UdSSR in Anbetrachtdes heraufzie­henden kalten Krieges weiter auszubluten: "Die Lan­dung fandstatt, als das Schicksal Deutsch­lands schon durch die sowjetische Gegenoffen­sivean der Ostfront be­siegelt war"[7].

Am Ende der fetten Jahre des Wiederauf­baus fingen die bürgerlichenLiberalen mit ihrem hohen Priester Solschenizyn an, entrüstet über dieMillionen Toten in Stalins Gulags zu la­mentieren. Sie gaben vor zu vergessen, dassdie wirkliche Krö­nung der Konterre­volution nur mit der vollen Komplizenschaftdes We­stens im Krieg vollzogen worden war. Wir wis­sen, wie gnadenlos dieBourgeoisie nach einer Nie­derlage der Arbeiterklasse vorgeht (Zehntausende vonKommunarden wurden mit ihren Frauen und Kindern abge­schlachtet und nach derNiederlage von 1871 verschleppt). Die Art und Weise, wie der 2. Weltkriegdurchgeführt wurde, ließ der Bour­geoisie freien Spielraum, um dieArbeiterklasse noch mehr zu massakrieren, als sie es schon 1917 getan hatte.Die Rus­sen trugen das Gewicht des 4 Jahre dau­ernden Kriegs in Europa alleinauf ihren Schultern. Erst Anfang 1945 betra­ten die Amerika­ner deutschenBoden, wo­durch die Zahl ihrer eige­nen Toten gering ge­halten, und der sozialeFrieden in den USA auf­rechterhalten werden konnte. Die Millio­nen russischenOpfer verdeutlichten in der Tat ein tragisches Heldentum, denn ohne amerikani­scheMilitärhilfe wäre das rück­ständige stalini­stische Re­gime von dem in­dustrialisiertenDeutschland besiegt wor­den.

Nach solch einem Aderlass hatte es der russi­sche Staat nicht nötig,"eine demokra­tische Maske" zu zeigen, um seine Ord­nung auf­zuzwingen.Die Alli­ierten ließen die russi­schen Soldaten an Millionen Deut­schen Ver­geltungüben. Sie ließen Russland den Status einer "Siegermacht" einnehmen,denn die Er­fahrung seit 1914 bewies, dass solch ein Schritt dazu beitrug, densozialen Frieden aufrechtzu­erhalten. Die russische Regierung und ihr Diktatorließen der deutschen Armee ausrei­chend Spielraum, damit diese den Aufstand vonWarschau niederschlagen konnte. Ge­nauso wie sie Hunderttausende von Zivi­listenin Stalin­grad und Leningrad vor Hunger und Kälte umkommen ließen. Souvarinzufolge verheiz­ten sie Millionen Menschenleben in den Arbeitsla­gern.

Um den siegreichen imperialistischen Ap­petit Russ­lands zu befriedigen (dasstalini­stische Regime de­montierte zahlreiche Fa­briken in Osteuropa, wäh­rendder Westen von der Wie­deraufbauhilfe durch die USA profitierte), war esnotwendig, dass die Ar­beiterklasse daran gehindert wurde, nicht von der"Befreiung" der Bourgeoisie zu profitieren.

Eine intensive Propagandakampagne wurde sowohl im Westen als auch im"totalitären" Russland anläss­lich des Völ­kermords an den Judendurchgeführt, über den die Alliierten seit dem Beginn des Krieges im Bildegewesen waren. Wie ei­nige ernsthaftere Historiker an­erkannt ha­ben, liegt dieErklärung für diesen Völ­kermord nicht im Mittelalter, sondern ist im Rahmendes kalten Krieges zu finden. Das Mas­saker erreichte solche Ausmaße nach demBeginn des Krieges mit Russland. Das Problem der großen Massen von Ge­fangenenund Flüchtlingen musste von der deutschen Bour­geoisie "gelöst"werden. Der Nazi-Staat machte sich die größten Sorgen um die Ernäh­rung seinereigenen Truppen, auch wenn das bedeutete, dass ein Teil der Bevölkerung, der fürdie Kriegsaufwendungen eine Belastung war, früher in den Tod geschickt werdenmusste (Kugeln und Munition mussten für die rus­sische Front gehortet werden,insbeson­dere nachdem sich herausgestellt hatte, dass das Massenerschießenselbst für die Er­schießungskommandos einen demoralisieren­den Ef­fekt hatte).Auf der Bermuda-Konferenz 1943 be­schlossen die Alliierten nichts für die Judenzu un­ternehmen. Damit zogen sie es vor, dass die Juden eher ausgelöschtwurden, als dass die Alliierten sich um die gewaltige Flüchtlingsmasse kümmernwür­den, die ent­standen wäre, wenn die Nazis diese Massen von Judenausgewiesen hätten. Eine Reihe von Verhandlungen wurde mittels Rumänien undUngarn geführt. Alle stießen auf die höfliche Ab­lehnung Roosevelts. Der meistbekannte Vor­schlag, der heute hinter der humanitären Aktion ei­nes Schindlersverdeckt wurde, war der von Eich­mann an Vertreter der Alliierten. DerVorschlag lautete: Wir tauschen 100.000 Juden gegen 10.000 LKWs. Die Alliiertenlehnten diesen Tausch ab. Ein briti­scher Staatsrepräsentant sagte: "DerTransport von so vielen Menschen würde nur unseren Kriegs­bemühungenschaden"[8].

Der Völkermord an den Juden, die ethni­sche "Säuberung" durch dieNazis, war eine per­fekte Ausrede für die Barbarei, die von den siegreichenAlliierten ausgeübt wurde. Die Konzentrationslager wurden der Öffentlichkeitgeplant und medienge­recht inszeniert zugäng­lich gemacht. Die­ser Berg von Lügen,der dazu diente, von den Besiegten ein Bild des Teufels zu ma­len, sollte jedeInfragestel­lung der alliier­ten Terrorbombenangriffe unmöglich ma­chen. Diesealliierten Terrorangriffe ver­folgten nämlich das Ziel, die Arbeiter­klasse aufder ganzen Welt zum Schweigen zu brin­gen. Einige Zahlen verdeutlichen diesenHor­ror.

- Juli 1943, Hamburg, 50.000 Tote,

- 1944: Darmstadt, Königsberg, Heilbronn 24.000 Tote, Braunschweig 23.000Tote,

- 13-14. Februar 1945: Bombardierung Dres­dens, Folgen: ca. 250.000 Tote,

- innerhalb von 18 Monaten wurden 45 der 60 größten deutschen Städte zerstört,mehr als 650.000 Tote,

- März 1945: Bombardierung Tokios, 80.000 Tote,

- August 1945: Hiroshima und Nagasaki,

- in Frankreich wie woanders war die Arbei­terklasse die Hauptzielscheibe:Tau­sende wur­den in Le Havre und Marseille getötet, wäh­rend der Landung derAlliier­ten führten die Bombardierungen von Caen und anderen Städten neben den20.000 Toten unter den Soldaten zu hohen Opfern unter der Zivilbe­völkerung,

- 4 Monate, nachdem sich das deutsche Reich ergeben hatte, nachdem sichJapan praktisch auf den Knien befand, zerstörten die schlimm­sten Waffen allerZeiten Hi­roshima und Na­gasaki. Der Vorwand: amerikanisches Leben solltegerettet wer­den. Der Arbeiterklasse sollte für immer vor Augen geführt werden,dass die herr­schende Klasse eine "allmächtige Klasse" sei.

In einem weiteren Artikel werden wir die Re­aktionen der Arbeiterklasse währenddes Krieges behandeln, die von all den Hi­storikern verschwiegen werden. Dabeiwerden wir auch die Haltung, die Positio­nen und Aktivitäten der revolutionärenMinderheiten aufgreifen.

Damien

 (aus International Review, Nr. 78,3. Quartal 1994).

 

[1] siehe INTERNATIONALE REVUE Nr. 13, "DieMassaker und Verbrechen der großen Demokra­tien", 3. Quartal 1991,

[2] "The Secret War", A.C.Brown,

[3] 34-39: L`Avant-guerre, Michel Ragon, Ed. De­noel, 1968

[4] Bericht zur internationalen Situation, 14.07.1945

[5] L`Oeuvre, 29.8.1940

[6] siehe Internationale Revue, Manifest des9. Kon­gresses der IKS

[7] Le Figaro, 6.6.1944

[8] Siehe "Die Geschichte Joel Brands" vonAlex Weissberg. Ein halbes Jahrhundert später ver­hält sich der Kapitalismusgegenüber dem Flücht­lingsproblem noch immer gleich: "Aus ökonomi­schenund politischen Gründen (jeder Flüchtling ko­stet $ 7.000) will Washing­tonnicht, dass die Quota der Juden auf Kosten der Flüchtlinge aus Latein­amerika,Asien und Afrika steigt, die mit keiner Un­terstützung rech­nen können undvielleicht mehr "verfolgt" sind (Le Monde, 4.10.1989, "Diesowjeti­schen Juden wären am meisten von Einwanderungs­beschränkungenbetroffen“). Das Europa Maastrichts steht dem in nichts nach: "aus eu­ropäischerSicht sind die meisten Asylbewerber keine wirklichen Asylanten, sondern Wirt­schaftsflüchtlinge,die man auf einem schon ge­sättigten Arbeitsmarkt nicht auf­nehmen kann"(Libération, 9.10.1989).

Das ist derdekadente Kapitalismus. Da er die Ent­faltung der Produktivkräfte fesselt, musser in Kriegs- und Friedenszeiten einen Großteil der Men­schen eines langsamenTods sterben lassen. Die Heuchelei in Anbetracht der "ethnischen Säuberun­gen"auf dem Balkan und des Mordes an über 1 Millionen Einwohnern Ruandas innerhalbweniger Wo­chen zeigen die "wahren Fähigkei­ten" des Kapita­lismusauf. Indem sie die Massa­ker geschehen las­sen, genauso wie sie damals denGenozid an den Juden zugelassen haben, tun die westlichen Demo­kratien so, alsob sie damit nichts zu tun hätten; in Wirklichkeit aber sind sie nicht nurKomplizen, sondern heute sind sie noch stärker als im Fall der Juden direktbeteiligt.

Theoretische Fragen: 

  • Imperialismus [63]

Das Verständnis der Dekadenz - Polemik

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In den beiden vorhergehenden Artikeln haben wir aufgezeigt, daß alle Produkti­onsweisen von einem aufsteigenden und einem deka­denten Zy­klus be­stimmt werden (International Review, Nr.55), und daß wir uns heute inmitten der ka­pitalistischen De­kadenz be­finden (Internationale Review, Nr.54). Der vorliegende Artikel will aus­führlich die  Ele­mente darstellen, die es dem Kapitalismus er­möglichten, in seiner Nieder­gangsphase weiterzule­ben. Insbe­sondere hat der Artikel das Ziel, eine Grundlage dafür zu schaf­fen,  die Wachs­tumsraten in der Zeit nach 1945 (die höchsten in der Ge­schichte des Ka­pitalismus) verstehen zu können. Vor al­lem wollen wir aufzeigen, daß dieser vor­übergehende Auf­schwung ein `gedoptes' Wachstum war,  ist, daß es nichts anderes ist als der verzwei­felte Kampf eines Sy­stems in seinem Todesringen. Die Mittel, die dafür benutzt wur­den, um dies zu er­reichen (massive Verschul­dungen, Staatsinterventio­nismus, wachsende Rü­stungsproduktion, unproduk­tive Aus­gaben, etc.) sind erschöpft. Dadurch wird der Weg zu einer nie gekannten Krise eröffnet.

 

1.  Der fundamentale Widerspruch des Kapi­talismus

 

"Im Prozesse der Produktion aber ist das entschei­dende: In wel­chem Verhältnisse stehen die Arbeiten­den zu ihren Produkti­onsmitteln?" (Luxemburg Werke Bd.5, S.644) Im Kapitalis­mus sind die Ar­beiter durch das Lohnverhältnis mit den Produkti­onsmitteln verbunden. Das ist das fundamentale ge­sellschaftliche Produktionsverhält­nis, welches dem Kapitalis­mus seine Dynamik ver­leiht, wie auch seine un­überwindbaren Widersprüche enthält (1). Es ist ein dynamisches Ver­hältnis in dem Sinne, daß das Sy­stem, an­gestachelt von der Tendenz der fallenden Profitrate und ihrer Anglei­chung durch die Wert- und Konkurrenzgesetze, fort­während wach­sen, akkumulieren, expan­dieren und die Lohnaus­beutung bis an die Grenzen treiben muß. Es ist ein wider­sprüchliches Ver­hältnis in dem Sinne, daß der eigentliche Me­chanismus zur Pro­duktion von Mehrwert mehr Werte produ­ziert, als er zu verteilen imstande ist, Mehrwerte, die aus der Differenz zwi­schen dem Produktionswert der pro­duzierten Ware und dem Wert der Ware Arbeits­kraft, den Löh­nen, stammen. Indem die Lohnarbeit sich verallge­meinert, schränkt der Kapitalismus selbst seine Ab­satzmöglichkeiten ein und ist ständig ge­zwungen, Käufer außerhalb seiner Sphäre von Kapital und Ar­beit zu suchen.

 

"....je mehr sie [die kapitalistische Pro­duktion] sich entwickelt, um so mehr ge­zwungen ist, auf großer Stufenleiter zu produzieren, die mit der immediate de­mand [unmittelbaren Nachfrage] nichts zu tun hat, sondern von einer beständigen Erweiterung des Weltmarkts abhängt...Er [Ricardo] übersieht, daß die Ware in Geld ver­wandelt werden muß. Die de­mand [Nachfrage] der Arbeiter ge­nügt nicht, da der Profit ja grade dadurch herkommt, daß die de­mand der Arbei­ter kleiner als der Wert ihres Produkts, und um so größer ist, je relativ kleiner diese de­mand. Die demand der capi­talists untereinander ge­nügt ebensowenig...." (MEW 26.2, S.469) "...Wird endlich gesagt, daß die Kapitali­sten ja nur selbst unter sich ihre Waren auszutauschen und aufzuessen haben,  so wird der ganze Cha­rakter der kapitalisti­schen Produktion vergessen und verges­sen, daß es sich um die Verwertung des Kapitals han­delt...." (MEW 25, S.269f) "....Das bloße  Verhältnis von Lohnarbei­ter und Kapitalist schließt ein:

 

1. daß der größte Teil der Produzenten (die Arbei­ter) Nichtkonsu­menten (Nichtkäufer) eines sehr großen Teils ihres Produkts sind, nämlich der Ar­beitsmittel  und des Arbeitsmaterials;

 

2. daß der größte Teil der Produzenten, die Arbei­ter, nur ein Äquivalent für ihr Produkt konsumieren können, solang sie mehr als dies Äquivalent - die surplus va­lue [den Mehrwert] oder das surplus pro­duce [Mehrprodukt] - pro­duzieren, um in­nerhalb der Schranken ihres Be­dürfnisses Konsumenten oder Käufer sein zu kön­nen." (MEW26.2, S.520) "Die Überproduk­tion speziell hat das allgemeine Produk­tionsgesetz des Kapitals zur Bedin­gung, zu produ­zieren im Maß der Produk­tivkräfte (d.h. der Mög­lichkeit, mit gege­bener Masse Kapital größtmögliche Masse Arbeit auszubeu­ten) ohne Rücksicht auf die vorhandenen Schranken des Markts oder der zah­lungsfähigen Bedürf­nisse...." (dito, S.535)

 

Marx zeigte einerseits deutlich die unvermeidli­che Jagd des Kapi­talismus nach Erhöhung der Mehr­wertmenge auf, um den Fall der Profitrate aus­zugleichen (Dynamik), und er wies anderer­seits auf das dem gegenüberstehende Hindernis hin: den Ausbruch von Krisen, die dem schrumpfenden Markt, auf dem die Pro­dukte ver­kauft werden kön­nen (Widerspruch), ge­schuldet sind, lange be­vor der an dem Fall der Profitrate ge­knüpfte Mangel an Mehrwert auf­tritt:

 

"Aber in dem selben Maße, worin seine Pro­duktion sich ausge­dehnt hat, hat sich das Be­dürfnis des Ab­satzes für ihn ausge­dehnt. Die mächtigeren und kostspielige­ren Produktions­mittel, die er ins Leben ge­rufen, befähigen ihn zwar, seine Ware wohlfeiler zu ver­kaufen, sie zwingen ihn aber zugleich, mehr Waren zu ver­kaufen, einen ungleich größeren Markt für seine Waren zu erobern..." (Marx,  Lohnarbeit und Kapital, MEW6) "Sie [die Krisen] werden häu­figer und immer heftiger schon deswegen, weil in demselben Maße, worin die Produktenmasse, also das Bedürfnis nach ausge­dehnten Märkten  wächst, der Weltmarkt immer mehr sich zusam­menzieht, im­mer weniger neue Märkte zur Ex­ploitation übrig­bleiben, ja jede vorher­gehende Krise einen bisher uneroberten oder vom Han­del nur oberflächlich ausge­beuteten Markt dem Welthandel unterwor­fen hat." (dito)

 

Diese Analyse wurde von Rosa Luxem­burg syste­matisiert und vollständiger ent­wickelt, die zur Schlußfolgerung gelangte, daß das Wachs­tum des Kapitalismus von der kontinuierlichen Erobe­rung vor-kapi­talistischer Märkte abhängt, da die Gesamt­heit des vom globalen Kapital pro­duzierten Mehr­werts seinem eigentlichen Charakter entsprechend nicht in rein kapitalisti­schen Bereichen re­alisiert werden kann. Die Er­schöpfung der Märkte, die den Be­dürfnissen der Akkumulation entsprechen, werde das System in seine dekadente Phase stürzen:

 

"Durch diesen Prozeß bereitet das Kapital aber in zweifacher Weise seinen Unter­gang vor. In­dem es einerseits durch seine Aus­dehnung auf Kosten aller nichtkapitali­stischen Produktions­formen auf den Mo­ment lossteuert, wo die ge­samte Mensch­heit in der Tat lediglich aus Ka­pitalisten und Lohnproleta­riern besteht und wo eben deshalb weitere Ausdeh­nung, also zugleich Akkumulation, unmöglich wird. Zugleich ver­schärft es, im Maße wie diese Ten­denz sich durchsetzt, die Klassengegensätze, die interna­tionale wirtschaftliche und politi­sche Anarchie der­art, daß es, lange bevor die letzte Konse­quenz der ökonomischen Entwicklung - die ab­solute, ungeteilte Herrschaft der kapitalistischen Produktion in der Welt - erreicht ist, die Rebel­lion des internationalen Proletariats gegen das Be­stehen der Kapitalsherr­schaft herbeiführen muß.... Der heutige Imperialis­mus.... ist das letzte Stadium in seinem hi­storischen Prozeß: die Periode der verschärften und generali­sierten weltweiten Konkurrenz zwi­schen den kapita­listischen Staa­ten um die letzten Überreste an nicht­kapitalistischen Gebieten auf dem Plane­ten." (Luxemburg Werke Bd.5, S.430f)

 

Abgesehen von ihrer Analyse der unzertrennli­chen Einheit der kapitalisti­schen Produktions­verhältnisse und des Im­perialismus, die auf­zeigt, daß das System nicht überleben kann, ohne sich auszu­weiten, und daß es daher impe­rialistisch an sich sei, liegt der Hauptbeitrag von Rosa Luxemburg in der Schaffung von analyti­schen Werkzeugen zum Verständnis da­für be­gründet, wie, wann und warum das Sy­stem in seine Dekadenzperiode eintrat. Rosa beantwor­tete diese Fragen mit dem Ausbruch des I.Weltkrieges 1914-18, in­dem sie erkannte, daß der weltweite in­ter-imperialisti­sche Konflikt die Periode eröff­nete, in der der Kapitalismus zu ei­ner Fes­sel der Wei­terentwicklung der Produk­tivkräfte wird: "Die Not­wendigkeit des Sozialis­mus ist völlig gegeben, so­bald die Herr­schaft der Bourgeoisie den histori­schen Fortschritt nicht mehr be­fördert, und zu einer Fessel und Gefahr für die weitere Entwick­lung der Gesell­schaft wird. Was die kapitalistische Ordnung be­trifft, ist ge­nau das, was der gegenwärtige Krieg zeigt."

 

Wie auch immer die mannigfaltigen `ökonomischen' Erklärungen waren, diese Analyse wurde von der gesamten revolu­tionären Be­wegung geteilt.

 

Ein klares Verständnis dieses unlösbaren Wider­spruchs im Kapital verschafft uns einen Ansatz­punkt zum Verständnis dafür, wie das System in seiner Dekadenz bisher überlebt hat. Die Ge­schichte der kapitali­stischen ™konomie seit 1914 ist die Ge­schichte der Ent­wicklung von Linde­rungsmitteln gegen die Engpässe, die von der Ungleichheit des Weltmarkts geschaf­fen wur­den. Nur mit solch ei­nem Ver­ständnis können wir die zeitweilige 'Leistunsfähigkeit' des Ka­pitalismus (wie die Wachstumsraten nach 1945) auf ihre ei­gentliche Größe zurechtstutzen. Die Kri­tiker unseres Stand­punktes (s. International Review Nr.54 und 55) sind von den Zah­len die­ser Wachstumsraten geblendet, was sie blind gegenüber deren NA­TUR macht. Sie entfernen sich somit von der marxisti­schen Me­thode, die darauf abzielt, die wirkliche Natur der Dinge hervorzukeh­ren, die versteckt hinter ihrer Exi­stenz liegt. Diese wirkliche Natur ist es, die wir hier aufzuzeigen beabsichtigen (2).

 

2.  Wenn die Realisierung des Mehr­werts wichtiger wird als seine Produk­tion

 

Während der aufsteigenden Periode über­traf die Nachfrage im all­gemeinen das An­gebot; der Preis der Waren wurde von den höchsten Produktionsko­sten bestimmt, je­nen nämlich der am we­nigsten entwickel­ten Bereiche und Län­der. So war es mög­lich, daß letztere Profite er­zielten, die eine reale Akkumulation erlaubten, wohingegen die entwickelt­sten Länder in der Lage wa­ren, Super­profite zu re­alisieren. In der Dekadenz ist das Gegenteil der Fall: Ins­gesamt ist das Angebot größer als die Nach­frage, und die Preise werden von den niedrigsten Produkti­onskosten bestimmt. Eine Folge davon ist, daß die Bereiche und Länder mit den höchsten Pro­duktionskosten gezwungen sind, zu einem verrin­gerten Profit oder gar mit Verlust zu ver­kaufen oder sich dem Wertgesetz zu entziehen, um zu überleben (s. unten). Dies senkt  ihre Akkumulationsrate auf ein äußerst niedriges Ni­veau. Auch die bür­gerlichen ™konomen haben in ihrer eige­nen Sprache (jene des Verkaufs- und des Kostpreises) diese Um­kehrung bemerkt: "Wir werden von der heutigen Umkehrung des Ver­hältnisses zwischen Kostpreis und Verkaufs­preis heimgesucht.... Langfristig wird der Kost­preis seine Rolle behalten.... Aber während es früher   so war, daß der Verkaufspreis immer über dem Kostenpreis gehalten werden konnte, erscheint er heute übli­cherweise dem Marktpreis untergeord­net. Unter die­sen Umständen, in denen nicht mehr die Produk­tion, sondern der Ver­kauf das wesentliche ist, in denen die Kon­kurrenz immer härter wird, wählen die Betriebe den Ver­kaufspreis zum Ausgangs­punkt, um sich dann schrittweise dem Kostpreis anzunä­hern.... Um zu verkaufen, neigen die Betriebe heute dazu, zualler­erst den Markt und damit den Ver­kaufspreis zu be­rücksichtigen..... Dies ist so schla­gend, daß wir es heute des öfteren mit dem Parado­xon zu tun haben, daß es immer weniger der Kost­preis ist, der den Ver­kaufspreis be­stimmt, sondern immer häufi­ger das Gegenteil der Fall ist. Das Pro­blem ist: entwe­der die Pro­duktion aufzuge­ben oder unterhalb des Markt­preises zu produ­zieren" (J.Fourastier und B.Bazil, Pourquoi les prix bais­sent).

 

Ein spektakuläres Anzeichen dieses Phä­nomens tritt in den wild durcheinanderge­würfelten Pro­portionen der Verteilung und Ver­marktung in den endgültigen Kosten des Produkts auf. Diese Funktionen wer­den vom Handelskapital aus­geübt, das sich seinen Anteil bei der allgegen­wärtigen Verteilung des Mehrwerts nimmt, so daß seine Ausgaben in die Produktions­kosten eingehen. In der aufsteigenden Phase trug auch das Handelskapital, solange es die Steigerung der Mehrwertmenge und der jährlichen Pro­fitrate durch die Verkürzung des Waren- und Kapitalum­laufs sicherte, zum allgemeinen Preis­verfall bei, der diese Periode kennzeichnete (s. Graphik 4). In der dekadenten Phase änderte sich seine Rolle. Da die Produktivkräfte an die Gren­zen des Marktes stoßen, be­steht die Rolle des Handelskapitals nicht darin, die Mehrwert­mengen zu steigern, sondern vielmehr ihre Re­alisierung zu si­chern. Dies wird durch die kon­krete Realität des Kapitalismus ausgedrückt: ei­nerseits durch das Anwachsen der Zahl jener Leute, die in der Verteilung beschäftigt sind, und im all­gemeinen durch den zahlenmäßigen Rückgang der Mehrwertproduzenten im Ver­hältnis zu anderen Ar­beitern; anderer­seits durch das Anwach­sen der Ge­winnspanne des Han­delskapitals am end­gültigen Mehr­wert. Es wird geschätzt, daß in den wichtig­sten kapitalisti­schen Ländern die Verteilungskosten heute zwi­schen 50 und 70% der Warenpreise betra­gen. Inve­stitionen in die parasitären Bereiche des Handelskapitals (Marketing, Sponsoring, Lobbyis­mus, etc.) erhalten ein wachsendes Ge­wicht im Verhältnis zu Investitionen in die Pro­duktion von Mehrwert. Dies führt letztlich zu einer Zerstö­rung des produkti­ven Kapitals, was die wachsende para­sitäre Na­tur des System ent­hüllt.

 

 

 

2.1.  Kredit

 

"Das Kreditwesen beschleunigt daher die mate­rielle Entwicklung der Produktivkräfte und die Herstel­lung des Weltmarkts, die als materielle Grundlagen der neuen Pro­duktionsform bis auf einen gewissen Hö­hergrad herzustellen, die hi­storische Auf­gabe der ka­pitalistischen Produkti­onsweise ist. Gleichzeitig beschleunigt der Kre­dit die gewaltsamen Ausbrüche dieses Wider­spruches, die Kri­sen, und damit die Ele­mente der Auflösung der alten Produktions­weise." (MEW25, S.457)

 

In  der aufsteigenden Phase war der Kredit ein mächtiges Mittel zur Beschleunigung der Entwick­lung des Kapitalismus, indem er den Kreislauf der Kapitalakkumulation verkürzte. Der Kredit, der einen Fort­schritt bei der Reali­sierung einer Ware darstellte, konnte seinen Kreislauf vervoll­ständigen dank der Möglich­keit, neue au­ßerkapitalistische Märkte zu durch­dringen. In der Dekadenz ist dieses Resultat immer weniger möglich; der Kredit wird somit zu einem Linderungsmittel gegen die wach­sende Unfähigkeit des Ka­pitals, die Ge­samtheit des produzierten Mehrwertes zu realisieren. Die Akku­mulation, die durch den Kredit zeitweise ermöglicht wird, ent­wickelt lediglich einen Ab­szeß, der un­vermeidlicherweise zu einem allge­meinen imperiali­stischen Krieg führt.

 

Der Kredit hat nie eine zahlungsfähige Nach­frage für sich gebil­det, und dies gilt noch weni­ger in der Dekadenz - im Ge­gensatz zu dem, was uns Com­munisme ou Civilisation (CoC) er­zählt: "Der Kredit ist nunmehr in den Kreis je­ner Ursachen auf­gerückt, die es dem Kapital erlauben zu akkumulieren; man kann genauso­gut sa­gen, daß die kapitalistische Klasse in der Lage ist, dank einer zahlungsfähigen Nachfrage, die aus der kapitalistischen Klasse her­rührt, den Mehrwert zu realisie­ren. Auch wenn die­ses Ar­gument nicht in dem Pamphlet der IKS über die Dekadenz des Ka­pitalismus auftaucht, ist es mittler­weile Teil der Aufnahmekriterien dieser Sekte geworden. Sie stimmt nun zu, was sie zu­vor un­nachgiebig abgestritten hatte: die Mög­lichkeit der Realisierung des für die Akkumula­tion bestimmten Mehrwerts." (CoC, Nr.22) (3). Der Kredit dient zur Förderung der Realisierung von Mehrwert und er­möglicht so eine beschleu­nigte Voll­endung des ge­samten Kreislaufes ka­pitalistischer Reproduktion. Marx zufolge ent­hält dieser Kreislauf - wie so oft verges­sen wird - sowohl die Produk­tion als auch die Realisie­rung der produzierten Waren. Was die auf­steigende Phase des Kapitalis­mus von seiner deka­denten unter­scheidet, das sind die Bedin­gungen, unter denen der Kredit wirkt. Die weltweite Sätti­gung der Märkte verlangsamt die Wiedererlan­gung des investierten Kapitals in steigendem Maße und macht sie zunehmend unmög­lich. Daher befindet sich das Kapital auf einem wachsenden Schulden­berg, der im­mer astronomischere Ausmaße an­nimmt. Der Kredit macht es also möglich, die Fik­tion von einer Ausweitung der Akkumula­tion auf­rechtzuerhalten und den endgülti­gen Tag der Ab­rechnung hinauszuschie­ben, an dem das Ka­pital die Zeche zahlen muß. Da es zu einer an­deren Hand­lungsweise unfähig ist, treibt das Kapital unerbittlich Handelskrie­gen und schließlich dem inter-imperiali­stischen Krieg entge­gen. Der Krieg ist die einzige `Lösung' für die Überproduktionskrisen in der De­kadenz (s. dazu International Review, Nr.54). Die Zah­len der Tabelle 1 und der Graphik 1 veran­schaulichen dieses Phä­nomen.

 

Konkret zeigen die Zahlen der Tab.1, daß die USA Schulden in Höhe des zweiein­halbfachen jährlichen Bruttosozialproduk­tes (BSP), Deutschland in Höhe des einfa­chen jährlichen BSP ange­häuft haben. Sollten diese Schulden jemals zurückbe­zahlt wer­den, müßten die Ar­beiter dieser Länder zweieinhalb Jahre bzw. ein Jahr  umsonst arbeiten. Diese Zahlen zeigen auch, daß die Schul­den schneller wachsen als das BSP, was ein Anzeichen dafür ist, daß seit eini­ger Zeit  die wirtschaftli­che Entwicklung immer mehr durch Kredite stattfin­det.

 

Diese beiden Beispiele sind keine Aus­nahme, son­dern veran­schaulichen die weltweite Ver­schuldung  des Kapitalismus. Zwar sind Kalku­lationen vor al­lem ange­sichts des Mangels an vertrau­enswürdigen Statistiken äußerst gewagt, aber man kann anneh­men, daß die Schulden zwischen dem anderthalb bis zweifachen welt­weiten BSP be­tragen. Zwischen 1974 und 1984 wuchsen die weltweiten Schulden um un­gefähr 11 %, während die Wachs­tumsrate des welt­weiten BSP ungefähr um 3,5 % zunahm!

 

Nachfolge Zahlen illustrieren die Wachs­tums- und Schul­denentwicklung, wie sie in den meisten Ländern zu beobachten ist. Die Schulden wach­sen er­sichtlich schneller als die Industrieproduktion. Während frü­her das Wachstum in steigendem Maße vom Kredit abhängig war (1958-74: Pro­duktion 6,01%, Kredite 13,26%), hängt heute schon die bloße Fortsetzung der Sta­gnation von Krediten ab (1974-81: Produk­tion 0,15%, Kre­dite 14,08%).

 

Entwicklung der Verschuldung im Kapitalismus

 

Öffentliche und private Verschuldung 

 

Verschuldung der Haus­halte

 

 

 

                BRD    USA                                 USA

 

 

 

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Seit Beginn der Krise wurde jede wirt­schaftliche Er­holung von ständig größeren Kreditmassen getra­gen. Die Konjunktur 1975-79 wurde von Krediten stimuliert, die der   `Dritten Welt' und den soge­nannten `sozialistischen' Ländern gewährt worden wa­ren. Jene von 1983 wurde von einem Wachstum in der Schulden­aufnahme von Seiten der amerikani­schen Behörden getra­gen (hauptsächlich im Inter­esse der Rüstungs­ausgaben). Die CoC ver­steht die­sen Prozeß in keiner Weise und unter­schätzt völlig die Aus­weitung des Kredites als die Überlebens­weise des Kapitalis­mus in der Dekadenz.

 

 

 

2.2  Außerkapitalistische Märkte

 

Wir haben bereits gesehen (s. International Re­view, Nr.54), daß die Dekadenz des Kapitalis­mus nicht durch das Verschwin­den der außer­kapitalistischen Märkte cha­rakterisiert wird, sondern durch ihre Un­verhältnismäßigkeit ge­genüber den Be­dürfnissen ei­ner ex­pandierenden Akku­mulation des Kapitalismus. Das heißt, daß die außerkapitalistischen Märkte nicht mehr aus­reichen, um die Ge­samtheit des vom Kapitalis­mus produzierten und für die Reinvestie­rung vorgesehenen Mehrwerts zu realisieren. Ange­spornt von einer im­mer begrenzteren Akkumulati­onsbasis, ver­sucht der dekadente Kapitalismus, das Betätigungsfeld, das von den Überresten dieser Märkte gebildet wird, so ef­fektiv wie mög­lich aus­zubeuten, und zwar auf dreierlei Weise.

 

Erstens durch eine beschleunigte und ge­plante Ein­gliederung der verbliebenen Be­reiche merkantilisti­scher Wirtschaft inner­halb der ent­wickelten Länder.

 

 

 

Anteil der aktiven Bauernbevölkerung an der gesamten beschäftigen Bevölkerung

 

Grande-Bretagne: GB, Allemagen: BRD, Espagne: Spanien

 

 

 

Grafik wird noch eingestellt

 

 

 

 

 

 

 

Obige Grafik zeigt, daß in einigen Ländern die Integra­tion der mer­kantilen Bauernwirt­schaft in die kapita­listischen gesellschaftli­chen Produkti­onsverhältnisse bereits mit 1914 vollendet war, wohinge­gen sie in an­deren Ländern (Frankreich, Spanien, Ja­pan, etc.) erst während der Dekadenz und beschleunigt nach 1914 statt­fand.

 

Bis zum 2.Weltkrieg wuchs die Produkti­vität in der Landwirtschaft langsamer als in der Indu­strie, was die Folge einer lang­sameren Ent­wicklung in der Ar­beitsteilung war, entspre­chend u.a. dem immer noch großen Gewicht der Bodenrente, die einen Teil des für die Me­chanisierung benötigten Kapitals ab­zweigte. Nach dem 2.Weltkrieg wuchs die Ar­beitsproduktivität in der Landwirtschaft schnel­ler als in der Indu­strie. Dies nahm die Form ei­ner Politik an, die alle möglichen Mittel be­nutzte, um die Sub­sistenzwirtschaft der klein­bäuerlichen Familien zu ruinieren, die noch immer an die merkantile Klein­produktion ge­bunden waren, und um sie in ein rein kapitali­stisches Geschäft umzuwandeln. Soweit der Prozeß der Industrialisierung der Landwirt­schaft.

 

Angespornt von der Suche nach neuen Märkten, ist die Periode der Dekadenz ge­kennzeichnet durch eine verbesserte Aus­beutung der verblie­benen außerka­pitalistischen Märkte.

 

Einerseits erleichterten verbesserte Tech­niken, ver­besserte Kom­munikationsmittel und fallende Trans­portkosten die Penetra­tion - sowohl in In­halt und Umfang - und Zerstörung der merkan­tilistischen ™kono­mie in der außerkapitalisti­schen Sphäre.

 

Andererseits entlastete die sich entfaltende Poli­tik der `Dekolonialisierung' die Me­tropolen von einer kostenträchtigen Bürde und erlaubte ih­nen, den Um­satz ihres Ka­pitals zu verbes­sern und ihren Absatz in den alten Kolonien zu stei­gern (der durch die Überausbeutung der einge­borenen Be­völkerung be­zahlt wurde). Ein großer Teil dieses Absatzes be­stand aus Waffen, das erste und absolute Bedürfnis für den Auf­bau einer lokalen Staats­macht.

 

Der Rahmen, in dem sich der Kapitalismus während seiner auf­steigenden Periode ent­wickelt hatte, er­möglichte die Vereinheitli­chung der Produktionsbe­dingungen (technische und soziale Bedin­gungen, die durchschnittliche Arbeitspro­duktivität, etc.). Im Ge­gensatz dazu hat die De­kadenz die Ungleichheiten in der Ent­wicklung zwischen den entwickelten und unterentwickel­ten Län­dern gesteigert (s. Internatio­nal Review, Nr.23 und 54).

 

Während in der Aufstiegsperiode die Pro­fite, die den Kolonien entzogen worden waren (Verkauf, Anleihen, Investitionen), größer wa­ren als jene, die aus dem unglei­chen Austausch resultierten (4), fin­det in der Dekadenz das Ge­genteil statt. Die Ent­wicklung der Austausch­verhältnisse über einen lan­gen Zeitraum zeigt diese Tendenz auf. Seit dem zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts ha­ben sie sich deutlich zu­ungunsten der sog. `Dritten Welt' ver­schlechtert.

 

 

 

2.3  Staatskapitalismus

 

Wir haben bereits gesehen (s. International Re­view, Nr.54), daß die Entwicklung des Staats­kapitalismus eng mit der kapitalisti­schen Deka­denz verknüpft ist. (5) Der Staatskapitalismus ist eine weltweite Poli­tik, die dem System in jedem seiner Berei­che des sozia­len, politischen und wirt­schaftlichen Lebens aufge­zwungen wird. Der Staatskapitalismus hilft, die un­überwindbaren Wider­sprüche des Kapita­lismus ab­zuschwächen: auf der gesell­schaftlichen Ebene durch eine bessere Kontrolle einer Ar­beiterklasse, welche mittlerweile entwickelt ge­nug ist, um eine reale Gefahr für die Bour­geoisie zu sein; auf der politischen Ebene durch die Be­herrschung der wachsenden Span­nungen zwischen den bürgerlichen Fraktionen; auf der ökonomischen Ebene durch die Be­sänftigung der sich häufenden explosiven Wider­sprüche. Auf dieser letztgenannten Ebene, die uns hier angeht, interveniert der Staat mit einer Reihe von Mecha­nismen:

 

 

 

2.3.1  Das Umgehen des Wertgesetzes

 

Wir haben gesehen, daß in der Dekadenz ein immer wichtigerer Anteil der Produk­tion der strikten Be­stimmung des Wertge­setzes entflieht (International Review, Nr.54). Zweck dieses Prozesses ist es, Ak­tivitäten, die ansonsten an dem gnadenlo­sen Verdikt des Wertgesetzes scheitern würden, am Leben zu erhalten. Dem Ka­pitalismus gelingt es so für eine Weile, aber nur für eine Weile, dem eisernen Geset­zen des Marktes zu entgehen.

 

Permanente Inflation ist eines der Mittel, um letzte­ren zu begeg­nen. Sie ist zudem ein typi­sches Phä­nomen einer dekadenten Produktions­weise (6).

 

 

 

Entwicklung der Großhandels­preise in fünf entwickel­ten Ländern von 1750 bis 1950-70

 

Statistik wird noch eingestellt

 

 

 

 

 

Entwicklung der Einzelhandelspreise in Frankreich von 1820 - 1982

 

 

 

Einzelhandelspreise in Frankreich

 

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Nachdem sie ein Jahrhundert lang stabil geblieben waren, explodierten die Preise nach dem 1. Weltkrieg, vor allem nach dem 2. Weltkrieg. Zwischen 1914-1982 stiegen sie um das Tausendfache an. Quelle INSEE

 

 

 

Wenn eine periodische Senkung und Neuord­nung der Preise zum Wertaus­tausch (Produktionspreis) durch das An­schwellen der Kredite und der Inflation künstlich verhindert wird, dann kann eine ganze Reihe von Betrie­ben, deren Ar­beitsproduktivität unter­halb des Durch­schnitts ihrer Branche gefallen ist, nichts­destotrotz der Entwertung  ihres Kapitals und dem Bankrott entkommen. Auf lange Sicht je­doch kann dies nur das Ungleich­gewicht zwi­schen den Produktionska­pazitäten und der zah­lungsfähigen Nach­frage stei­gern. Die Krise wird verzögert, nur um später noch stärker zurück­zukehren. In der Ge­schichte der ent­wickelten Länder er­schien die Infla­tion zum ersten Mal, als der Staat rüstungs- und kriegsgebundene Ausgaben machte. Später kam noch die Entwick­lung des Kre­dits und der unpro­duktiven Ausgaben zu den Waffen­ausgaben hinzu und wirkte als  Hauptursache der Inflation.

 

Die Bourgeoisie hat eine ganze Reihe antizykli­scher Maßnahmen ergriffen. Aus­gerüstet mit der Erfah­rung der Krise von 1929, die durch den Isolationis­mus be­trächtlich erschwert wor­den war, hat sich die herrschende Klasse von ihrem verblie­benen Irrglau­ben über den Frei­handel, wie vor 1914, losgesagt. Die 30er Jahre und erst recht die Periode nach 1945, mit dem Höhepunkt des Keynesianismus, wa­ren durch eine Serie konzertierter staatskapitalisti­scher Maßnahmen gekenn­zeichnet. Es ist schlech­terdings unmöglich, hier auf alle von ihnen ein­zugehen, aber sie alle hatten dasselbe Ziel: die Kontrolle über die Schwankungen in der ™ko­nomie zu erlangen und die Nachfrage künstlich zu stützen.

 

Der Grad der Staatsinterventionen in der Wirt­schaft ist gewach­sen. Dieser Punkt wurde be­reits in  vor­herigen Ausgaben von In­ternational Review breit abgehan­delt; hier wollen wir uns nur mit ei­nem Ge­sichtspunkt befassen, mit ei­nem Aspekt, der bisher le­diglich angedeutet worden war: die staatli­chen Eingriffe im gesell­schaftlichen Bereich und ihre Auswirkun­gen auf die Wirtschaft.

 

Während der Aufstiegsphase des Kapita­lismus wa­ren steigende Löhne, die Redu­zierung der Arbeits­zeit und verbesserte Arbeits­bedingungen "Konzessionen, dem Kapital abgerungen durch einen erbitterten Kampf.... Das Englische Ge­setz über den Zehnstunden­arbeitstag war in der Tat das Ergebnis eines langwierigen Kampfes zwi­schen der Kapitalistenklasse und der Arbei­terklasse." (Marx, Das Kapital). In der Deka­denz stellten die Zuge­ständnisse der Bourgeoisie an die Arbeiterklasse wäh­rend der revolutio­nären Er­hebungen 1918-23 zum ersten Mal Maßnahmen dar, die dazu dienten, eine soziale Bewegung, de­ren Ziel nicht mehr war, dauer­hafte Re­formen innerhalb des System zu er­langen, sondern die Macht zu ergrei­fen, zu besänf­tigen (8-Stunden-Arbeitstag, allgemei­nes Wahlrecht, Sozialversicherung, etc.) und zu kontrol­lieren (Tarifverträge, Gewerkschafts­rechte, Betriebsräte, etc.). Gerade die letztge­nannten Maß­nahmen, die eigentlich nur eine Begleiterscheinung des Kampfes waren, werfen ein Schlaglicht auf die Tatsache, daß in der ka­pitalistischen Dekadenz der Staat mit Hilfe der Gewerkschaften soziale Maßnah­men organisiert, kon­trolliert und plant, um die pro­letarische Bedro­hung abzuwenden. Dies wird unter­strichen durch das An­schwellen der staatlichen Aus­gaben, die dem sozialen Bereich gewidmet werden (indirekte Löhne, die der Gesamtlohn­menge entzo­gen wer­den).

 

 

 

Staatliche Sozialausgaben (Anteil am BSP)

 

 

 

              BRD    Frank.   GB    USA

 

 

 

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In Frankreich ergriff der Staat in einer Pe­riode des sozialen Frie­dens eine ganze Reihe von Maßnah­men: Krankenversiche­rung ab 1928-30, unentgeltli­che Erziehung ab 1930, Kindergeld ab 1932. In Deutsch­land wurde die Krankenver­sicherung auf Büroange­stellte und Landarbeiter ausge­weitet, ab 1927 wurde den Arbeits­losen eine finanzielle Hilfe gewährt. Das gegenwär­tige System der sozialen Si­cherheit in den ent­wickelten Ländern wurde wäh­rend und gleich nach dem 2.Weltkrieg (7) entwor­fen, diskutiert und ge­plant: in Frankreich 1946, in Deutsch­land 1954-57 (Montangesetz 1951), etc.

 

Alle diese Maßnahmen zielten zuvorderst auf eine bessere soziale und politische Kontrolle über die Arbeiterklasse und auf die Stei­gerung ihrer Abhän­gigkeit von Staat und Gewerkschaf­ten (indirekte Löhne) ab. Aber auf der ökono­mischen Ebene hat­ten sie einen zweiten Effekt: Sie verminderten die Schwankungen in der Nachfrage des Sektors II (Konsumgüter), wo die Überproduktion zuerst auf­tritt.

 

Die Einrichtung von Einkommenshilfen, automati­schen Lohnerhö­hungen (8) und die Entwicklung von sogenannten Verbraucherkre­diten sind alle Teil des­selben Mechanismus.

 

 

 

2.4  Waffen, Krieg, Wiederaufbau

 

In der Periode der kapitalistischen Deka­denz besit­zen Kriege und Rüstungspro­duktion kei­nerlei Funk­tion mehr in der ka­pitalistischen Gesamtentwick­lung. Sie sind weder Akkumula­tionsfelder des Ka­pitals noch ein Moment in der politischen Verein­heitlichung der Bourgeoisie (wie in Deutschland nach dem Deutsch-franzö­sischen Krieg von 1871: siehe dazu Internatio­nal Review, No.51, 52, 53).

 

Kriege sind der höchste Ausdruck der Krise und Dekadenz des Kapitalismus. A Contre Courant (ACC) weigert sich, dies einzu­sehen. Für diese `Gruppe' besitzen Kriege, mit Blick auf die Zerstö­rungen, die sie anrichten und die die wachsende Hef­tigkeit der Krisen in einem sich konstant wei­terentwickelnden Kapitalis­mus aus­drücken, eine ökonomische Funktion bei der Entwertung  von Ka­pital. Kriege in der auf­steigenden und in der deka­denten Peri­ode des Ka­pitalismus würden daher kei­nerlei qualitative Unter­schiede aufweisen. "Auf die­ser Ebene möchten wir selbst der Idee eines Welt­krieges eine Perspektive verschaffen.... Alle Kriege im Kapitalismus haben somit einen im wesentlichen inter­nationalen In­halt.... Was sich geändert hat, ist nicht der unver­änderte glo­bale In­halt des Krieges (ob dies nun die Deka­dentisten mögen oder nicht), sondern sein Um­fang und seine Tiefe, die noch welt­weiter und kata­strophaler sind" (A Contre Cou­rant, Nr.1). ACC führt zwei Beispiele an, um ihre These zu stützen: die Periode der Napoleonischen Kriege (1795-1815) und die, im Vergleich zum 2. Weltkrieg, noch lokale Natur (sic!) des 1. Welt­krieges. Diese bei­den Beispiele beweisen überhaupt nichts.

 

 

 

Graphik 5.  Entwicklung der Einzelhan­delspreise in Frankreich 1820-1982

 

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Nachdem sie ein Jahrhundert lang stabil geblie­ben waren, explo­dierten nach dem 1. Weltkrieg die Preise in Frankreich noch stär­ker als nach dem Zweiten; sie sind zwischen 1914 und 1982 um das 1000-fa­che gestiegen.

 

Quelle: INSEE

 

 

 

Während in der aufsteigenden Periode die Ten­denz der Preise ins­gesamt stabil blieb oder fiel, hat sich in der Dekadenz die Tendenz in ihr Gegenteil ver­kehrt. 1914 fing die Phase der permanenten In­flation an.

 

Die Napoleonischen Kriege wurden am Wende­punkt zwischen zwei Produktions­weisen ausge­fochten; sie sind tatsächlich die letzten Kriege des Ancien Ré­gime ( Dekadenz des Feudalis­mus) gewesen und können nicht in einem Atem­zug mit den charakteri­stischen Kriegen des Ka­pitalismus ge­nannt werden. Obwohl Na­poleons Wirtschaftsmaß­nahmen die Ent­wicklung des Kapitalismus ermutig­ten, en­gagierte er sich auf politischer Ebene, in be­ster Tradition des An­cien Régime, in ei­nem militäri­schen Feldzug. Die Bour­geoisie hegte keine Zweifel darüber; nach­dem sie ihn eine Zeitlang unterstützt hatte, stürzte sie ihn, weil sie seine Feldzüge zu teuer fand und seine Kontinentalblockade eine Be­hinderung ih­rer Entwicklung dar­stellte. Auch das zweite aufgeführte Bei­spiel erfordert entwe­der eine außerordent­liche Phantasie oder eine nicht minder au­ßergewöhnliche Ignoranz. Es geht nicht um einen Ver­gleich zwi­schen dem 1. und dem 2. Weltkrieg, sondern um den Ver­gleich beider mit den Kriegen des vergan­genen Jahrhunderts - ein Vergleich, den die ACC mit Bedacht nicht anstellt. Wür­den sie ihn nämlich anstellen, wäre die Schluß­folgerung so deutlich, daß niemand sie übersehen kann.

 

Nach der Tollheit des Ancien Régime wurde der Krieg den Be­dürfnissen des Ka­pitalismus nach Welteroberung  angepaßt (wie wir in einiger Aus­führlichkeit in der International Review, Nr.54, er­klärt ha­ben), nur um einst wieder zu­rückzukehren, die Irratio­nalität des dekadenten kapitalisti­schen Sy­stems zu vervollständi­gen. Ange­sichts der sich ver­tiefenden Widersprüche des Kapitals war der 2.Weltkrieg unvermeidli­cherweise weitergehend und zer­störerischer als der 1., aber beider Haupt­kennzeichen sind iden­tisch und den Kriegen des letzten Jahrhun­derts entge­gengesetzt.

 

Was die Erklärung der ökonomischen Funktion des Krieges mit der Kapitalent­wertung (Anstieg der Pro­fitrate - MW / KK + VK - dank der  Zerstörung von konstantem Kapital) (VK= va­riables Ka­pital, KK= Konstantes Kapital) an­geht, so bricht sie nach ge­nauer Prüfung zu­sammen. Erstens, weil der Krieg auch Ar­beiter (VK) auslöscht, und zweitens, weil sich der An­stieg der organi­schen Zusam­mensetzung des Kapitals auch während des Krieges fortsetzt. Das zeitweise Wachstum der Profitrate in der un­mittelbaren Nach­kriegsperiode entspricht ei­nerseits der Niederlage und der Überausbeutung der Arbei­terklasse und andererseits dem An­stieg des relativen Mehrwerts infolge der Entwick­lung der Arbeitspro­duktivität.

 

Am Ende des Krieges sieht sich der Kapitalis­mus immer noch der Notwendig­keit gegenüber, die Ge­samtheit seiner Pro­duktion zu verkaufen. Was sich jedoch ge­ändert hat, ist erstens der zeitweise Rück­gang der für die Reinvestition bestimmten Mehr­wertmenge, die realisiert wer­den muß (entsprechend der durch den Krieg ver­ursachten Zerstörungen), und zweitens die Schrumpfung  des Marktes durch die Eliminie­rung von Konkur­renten (die USA schnappten sich die meisten Kolo­nialmärkte der eu­ropäischen Metropolen).

 

Was die Waffenproduktion anbetrifft, so ist sie pri­mär von der Notwendigkeit des Überlebens in einer Umgebung inter-impe­rialistischer Kon­kurrenz moti­viert, gleich, wieviel sie kostet. Erst danach spielt sie auch eine ökonomische Rolle. Obwohl auf der Ebene des globalen Ka­pitals die Waf­fenproduktion für eine Verzeh­rung von Kapital sorgt, ohne der Bilanz am Ende des Pro­duktionszyklus etwas hinzu­zufügen, erlaubt sie dem Kapital, seine Widersprü­che sowohl in Raum als auch in Zeit auszubreiten. In der Zeit, weil die Waffenpro­duktion zeitweise die Fiktion ei­ner kontinuierli­chen Akkumulation am Le­ben erhält, und im Raum, weil das Kapital durch das ständige Ent­fachen von lokalen Kriegen und durch den Ver­kauf eines großen Teils der produ­zierten Waf­fen an die `Dritte Welt' einen Transfer von Wer­ten der letztge­nannten an die entwickelte­ren Länder betreibt.(9)

 

 

 

3.  Die Erschöpfung der Linderungsmit­tel

 

Von den von uns oben geschilderten Maßnah­men, die bereits nach der Krise von 1929 teil­weise in die Praxis umgesetzt wurden (New Deal, Volksfront, DeMan-Plan, etc.), um den Schritt in die Todes­zone der fundamentalen Wi­dersprüche des Kapitalismus hinaus­zuzögern, wurde schon in der Nachkriegspe­riode bis zum Ende der 60er Jahre ausgiebig Ge­brauch ge­macht. Heute sind sie er­schöpft, und die Ge­schichte der letzten 20 Jahre ist die Ge­schichte ihrer wachsenden Unwirksamkeit.

 

Das Streben nach militärischem Wachstum bleibt eine Notwendig­keit (weil es seiner­seits von den wachsenden imperialistischen Bedürf­nissen voran­getrieben wird), aber es verschafft nicht einmal mehr zeitweise Er­leichterung von den wirtschaftli­chen Pro­blemen. Die massiven Kosten der Waffen­produktion erschöpfen nun direkt das pro­duktive Kapital. Aus diesem Grunde ver­langsamt sich heute ihr Wachstum (außer in den USA, wo die Rüstungs­ausgaben in der Periode von 1976-80 um 2.3% und in der Periode von 1980-86 um 4.6% wuch­sen) und fällt der Anteil der `Dritten Welt' an Rüstungsaus­gaben, selbst wenn die mi­litärischen Ausgaben im­mer mehr ver­steckt werden, insbe­sondere unter dem Titel der `Forschung'. Nichtsdestotrotz setzt sich der Anstieg der Mi­litärausgaben in jedem Jahr fort (um 3.2% von 1980-85), und zwar mit einer schnelleren Rate als das globale BSP (2.4%).

 

Der massive Gebrauch von Krediten hat den Punkt erreicht, wo er ernste finanzielle Beben provoziert (z.B. Oktober 1987). Der Kapitalis­mus hat keine andere Wahl mehr, als auf des Messers Schneide zwi­schen der Gefahr eines Rückfalls in die Hyperin­flation (die Kredite ge­raten außer Kontrolle) und der Rezession (entsprechend dem Ansteigen des Zins­satzes, was die Kreditauf­nahme verringert) zu wan­deln. Mit der Verallgemeinerung der ka­pitalistischen Produktionsweise wird die Produktion in stei­gendem Maße vom Markt getrennt; die Reali­sierung des Wa­renwerts und damit des Mehr­werts wird immer komplizierter. Es wird immer schwieriger für den`Produzenten' zu wis­sen, ob seine Waren Ab­satz, einen `Endverbraucher' finden.. Er weitet seine Produktion ohne jegli­che Rücksicht auf die Fähig­keit des Marktes aus, seine Produkte aufzu­nehmen. Kredite, die den Ausbruch der Krise auf­schieben, erschwe­ren nur das Gleichgewicht im Sy­stem, was be­deutet, daß, wenn die Krise einmal ausbricht, dies um so gewalt­tätiger geschieht.

 

Der Kapitalismus ist immer weniger im­stande, eine solche infla­tionistische Politik aufrechtzu­erhalten, die die Wirtschaftsak­tivitäten auf künstliche Weise unterstützt. Solch eine Politik setzt hohe Zinssätze voraus (denn wenn die In­flation erst ein­mal redu­ziert worden ist, gibt es kein großes Interesse am Geldverleihen mehr). Hohe Zinssätze beinhalten je­doch eine hohe Profitrate in der realen Ökonomie (es ist ein all­gemeines Gesetz, daß die Zins­sätze niedriger sein müssen als die durch­schnittliche Pro­fitrate). Dies aber ist immer weniger möglich, da die Krise der Über­produktion und der Absatzman­gel die Pro­fitabilität des investierten Kapitals senkt, so daß nicht mehr eine Profitrate erreicht werden kann, die ausreicht, um die Bank­zinsen zu zahlen. Dieses Di­lemma konkre­tisierte sich im Oktober 1987 in Gestalt der Börsen­panik.

 

Alle außerkapitalistischen Märkte sind un­ter ei­nem immensen Druck überausgebeu­tet worden und völ­lig außerstande, für einen Ausweg zu sorgen.

 

Heute hat die Entwicklung der unprodukti­ven Berei­che einen Punkt erreicht, wo eine inflatio­nistische Politik die Dinge eher ver­schlimmert als lindert. Die Zeit ist daher gekom­men, um die Aus­gaben für den Überbau zu reduzie­ren.

 

Schon die Linderungsmittel, die seit 1948 be­nutzt worden sind, standen auf keinem gesun­den Funda­ment, ihre heutige Er­schöpfung je­doch bildet eine ökonomische Todeszone von unvor­hergesehenem Aus­maß. Heute besteht die einzig mögliche Politik in einem Frontalangriff auf die Ar­beiterklasse, einen Angriff, der von jeder Regierung mit Hingabe aus­geführt wird, ob rechts oder links, Ost oder West. Den­noch verschafft diese Austerität, dank de­rer die Ar­beiterklasse täglich im Namen der `Wettbewerbsfähigkeit' eines jeden nationalen Ka­pitals teuer für die Krise zahlt, keine `Lösung' der allgegenwärtigen Krise; im Ge­genteil, sie verringert die zahlungsfähige Nach­frage nur noch weiter.

 

4.  Schlußfolgerungen

 

Wir haben die verschiedenen Elemente, die das Überleben des Kapitalismus erklä­ren, nicht von ei­nem akademischen Stand­punkt aus, sondern als Mi­litante betrachtet. Was uns beschäftigt, ist, die Be­dingungen für die Entwicklung des Klassenkampfes besser zu verstehen, indem wir ihn in dem einzig gültigen und kohärenten Rahmen plazieren - der Dekadenz des Kapita­lismus -, indem wir uns mit den verschiedenen Maßnahmen auseinandersetzen , die vom Staatskapitalismus eingeführt wurden, und in­dem wir die Eindringlich­keit und die Ge­fahren der gegenwärtigen Lage an­erkennen, die auf die Er­schöpfung der Linderungs­mittel des Kapita­lismus gegen die Krise zurückzu­führen sind (s. Internatio­nal Review, Nr.23, 26, 27, 31).

 

Marx wartete nicht bis er das `Kapital' ge­schrieben hatte, ehe er sich dem Klassen­kampf anschloß. Rosa Luxemburg und Lenin warteten nicht auf die Bestä­tigung der ökonomischen Analyse des Imperialis­mus, ehe sie für die Not­wendigkeit der Gründung einer neuen Interna­tionale eintraten, ehe sie den Krieg durch die Re­volution bekämpften, etc. Denn hinter ih­ren Meinungsverschie­denheiten (Lenin er­klärte den Imperialismus mit der fallenden Pro­fitrate und dem Monopolkapitalismus, Luxemburg mit der Sätti­gung der Märkte) verbarg sich eine profunde Übereinstim­mung in allen Haupt­fragen des Klassen­kampfes und besonders in der Aner­kennung des hi­storischen Bankrotts der kapita­listischen Produkti­onsweise, der die sozialisti­sche Revolution auf die Tages­ordnung setzte: "Aus allem, was über das ökonomische Wesen des Impe­rialismus ge­sagt wurde, geht hervor, daß er charakte­risiert wer­den muß als Übergangskapitalis­mus oder, richtiger, als ster­bender Kapi­talismus.... Parasitismus und Fäul­nis kennzeichnen das höchste Stadium des Ka­pitalismus, den Imperialismus...." (Ausgewählte Werke Bd.2, LW22, S.768) "Der Im­perialismus ist der Vorabend der sozialen Revolu­tion des Proletariats. Das hat sich seit 1917 im Welt­maßstab bestä­tigt." (dito S.653)"

 

Wenn diese beiden großen Marxisten we­gen ih­rer ökonomischen Analysen so hef­tig angegrif­fen wur­den, dann nicht wegen der ökonomi­schen Analysen als solche, sondern wegen ihrer politi­schen Positio­nen. Gleichermaßen verber­gen sich hinter dem ge­genwärtigen Angriff auf die IKS in bezug auf die ökonomischen Fragen eine Verweigerung der mili­tanten Verantwor­tung, eine rä­tekommunistische Auffassung von der Rolle der Revolutionäre, eine Nicht-Aner­kennung des gegenwärtigen hi­storischen Kurses hin zu Klassenkonfron­tationen und ein Man­gel an Überzeugung vom historischen Bankrott der kapitalisti­schen Produktionsweise.

 

 

 

C.Mcl.

 

(aus International Review, Nr. 56, 1. Quartal 1989)

 

 

 

(Es handelt sich um den 6. Teil einer Polemik zur Frage der De­kadenz. Einige Teile sind in der Internationalen Revue Nr. 10,11 auf deutsch und die anderen Teile auf engl./franz./span. erhält­lich)

 

 

 

 

 

Fußnoten:

 

1) Deshalb war sich Marx stets sehr klar über die Tatsache, daß, um über den Ka­pitalismus hinaus zur Schaffung des Sozia­lismus zu schreiten, die Ab­schaffung der Lohnarbeit Vor­bedingung ist: "Statt des konservativen Mottos: `Ein gerechter Ta­gelohn für ein gerechtes Ta­gewerk!', sollte sie [die Sozial­demokratie] auf ihr Banner  die revolutionäre Lo­sung schreiben: `Nieder mit dem Lohnsystem!'." (MEW16, S.152)

 

 

 

2)  Wir nehmen hier nicht für uns in An­spruch, eine detaillierte Erklärung der ökonomischen Mechanis­men und Ge­schichte des Kapitalismus seit 1914 zu lie­fern, sondern wollen lediglich die Haupte­lemente herausstellen, die ihm er­laubt ha­ben zu überleben, indem wir uns auf die Mittel konzen­trieren, die er benutzt hat, um den Tag der Abrechnung seiner fun­damentalen Wi­dersprüche zu umgehen.

 

 

 

3)  An dieser Stelle sollten wir hervorhe­ben, daß von einigen `legitimen', wenn auch akade­mischen Fragen abgesehen, dieses Pamphlet nichts an­deres ist als eine Reihe von Entstellun­gen, die auf dem Grundsatz basie­ren: `Derjenige, der sei­nen Hund töten will, be­hauptet zunächst, er habe die Tollwut'.

 

 

 

4)  Das Wertgesetz regelt den Austausch auf der Ba­sis des gleichen Arbeitsauf­wands. Aber in­nerhalb des nationalen Rahmens kapitalistischer gesell­schaftlicher Produktionsverhältnisse und unter dem ge­gebenen An­stieg der nationalen Unter­schiede in den Produktionsbedingungen in der Dekadenz (Arbeitsproduktivität und -inten­sität, organische Zu­sammensetzung des Kapi­tals, Löhne, Mehrwertra­ten, etc.) findet die Ega­lisierung der Profitraten, die den Produkti­onspreis bilden, wesentlich im natio­nalen Rah­men statt. Es existieren so­mit verschie­dene Preise für die­selbe Ware in verschiedenen Län­dern. Dies bedeutet, daß im internationa­len Handel das Tages­werk einer entwickelteren Na­tion gegen jenes einer weniger entwickelten Na­tion oder eines Niedrig-Lohn-Landes ausge­tauscht wird.... Länder, die Fertigprodukte ex­portieren, können ihre Waren über den Produk­tionspreis verkaufen, wobei er im­mer noch un­terhalb des Pro­duktionspreises des importieren­den Landes bleibt. Erstere realisieren somit durch den Werttransfer einen Superprofit. Zum Beispiel: 1974 ko­stete ein Doppelzentner (100 Kilo) US-Weizen vier Stundenlöhne eines Ar­beiters in den USA, aber 16 Stunden in Frankreich, was einer höheren Arbeitsprodukti­vität in den USA ent­sprach. Die amerikanische Agrarindu­strie konnte also ihren Weizen in Frankreich oberhalb des Pro­duktionspreises (4 Stun­den) verkaufen und blieb immer noch kon­kurrenzfähiger als der französische Wei­zen (16 Stunden) - was den beeindrucken­den Schutz ihres landwirtschaftlichen Marktes durch die EU und die unaufhörli­chen Streitereien über diese Frage erklärt.

 

 

 

5)  Für die EFICC trifft dies nicht mehr zu. Die Entwicklung des Staatskapitalis­mus wird mit dem Übergang von der for­malen zur realen Herrschaft des Kapitals erklärt. Wenn dies der Fall wäre, müßten wir rein statistisch eine kon­tinuierliche Weiterentwicklung des staatlichen Anteils in der Wirtschaft beobachten können, da dieser Übergang sich über eine lange Peri­ode erstreckte, und darüber hinaus müßten wir sei­nen Anfang bis in die aufstei­gende Periode zu­rückverfolgen können. Dies ist er­sichtlich nicht der Fall. Die Statistiken, die wir ver­öffentlichten, zeigen einen deutlichen Bruch im Jahr 1914. Während der aufsteigenden Phase war der Staatsan­teil in der Wirtschaft konstant klein (er schwankte um 12% herum), doch wäh­rend der De­kadenz wuchs er soweit, daß er heute im Durch­schnitt über 50% des BSP be­trägt. Dies bekräftigt unsere These der untrenn­baren Verbindung zwi­schen der Dekadenz und der Entwick­lung des Staats­kapitalismus und ent­kräftet kategorisch jene der EFICC.

 

 

 

6)  Nach dieser Artikelserie kann nur je­mand, der so blind wie unsere Kritiker ist, den klaren Bruch in der kapitalistischen Existenzweise überse­hen, der vom Ersten Weltkrieg dargestellt wird. All die lang­fristigen stati­stischen Aufstel­lungen, die wir in die­sem Artikel veröffentlicht haben, demonstrieren die­sen Bruch: Weltindu­strieproduktion, Welthandel, Preise, Staatsinter­ventionen, Austauschverhältnis und Bewaff­nung. Allein die Analyse der Dekadenz und ihre Erklärung mit der weltweiten Sättigung des Marktes machen diesen Bruch nachvollziehbar.

 

 

 

7)  Auf Wunsch der britischen Regierung stellte der liberale Abgeordnete Sir William Beveridge einen Bericht zusam­men, der, 1942 veröffent­licht, als Ba­sis des Sozialversicherungssystems in Großbritan­nien diente, aber auch die Sozialversicherungssys­teme in allen entwic­kelten Ländern inspi­rierte. Vor­rang hatte, gegen einen direkt vom Lohn abgezoge­nen Beitrag, die Si­cherung einer finanziellen Unter­stützung im Falle "sozialer Risiken" (Krankheit, Un­fall, Tod, Alter, Arbeitslo­sigkeit, Mutterschaft, etc.).

 

 

 

8)  Ebenfalls während des Zweiten Welt­krieges plante die niederländische Bour­geoisie mit den Ge­werkschaften eine pro­gressive Lohnsteige­rung in Verbindung mit, auch wenn sie darunter blieb, der Produktivitätssteige­rung.

 

 

 

9)  CoC mag es, wenn 2 plus 2 gleich 4 sind; wenn ihnen gesagt wird, daß eine 4 auch durch die Sub­trahierung der 2 von der 6 rauskommt, sehen sie darin einen Widerspruch. Daher kommt die CoC auf  "die IKS und ihre wider­sprüchlichen Betrach­tungen über die Aufrüstung (zurück). Während ei­nerseits die Aufrü­stung für den Absatz der Produk­tion in ei­nem Ausmaß sorge, daß beispielsweise die Wirtschaftskon­junktur nach der Krise von 1929 al­lein auf die Rüstungsindustrie zu­rückzuführen sei, lernen wir ande­rerseits, daß die Waffenproduktion keine Lösung der Krisen sei und daß Rüstungsaus­gaben daher eine unglaubliche Ver­schwendung von Kapital für die Entwicklung der Pro­duktivkräfte dar­stellen, daß die Rü­stungsproduktion auf die Minus­seite des allge­genwärtigen Gleichgewichts angesie­delt werden sollte." (CoC, Nr.22)  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [12]

Internationale Revue - 1995

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Internationale Revue 16

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11. Kongress der IKS: Der Kampf zur Verteidigung und zum Aufbau der Organisation

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Im April hat die IKS ihren 11. Internationalen Kongreß abgehalten. Da die kommunistischen Organisationen ein Teil des Proletariats, ein historisches Erzeugnis desselben sowie ein lebendiger Bestandteil und aktiver Faktor des Kampfes der Arbeiterklasse für ihre Befreiung sind, ist ihr Kongreß als höchstes Organ von herausragender Bedeutung für das Proletariat. Deshalb ist es die Aufgabe der Kommunisten, von diesem wesentlichen Moment des Lebens ihrer Organisation zu berichten.

Mehrere Tage lang haben Delegationen aus 12 Ländern1kg/16#_edn1" name="_ednref1">[i], in denen mehr als anderthalb Milliarden Menschen und vor allem die größten Arbeiterkonzentrationen der Welt leben (Westeuropa und Nordamerika), debattiert, Lehren gezogen, Orientierungen zu den Hauptfragen eingeschlagen, vor denen heute unsere Organisation steht. Auf der Tagesordnung des Kongresses standen hauptsächlich zwei Punkte: die Aktivitäten und die Funktionsweise unserer Organisation, die internationale Situation1kg/16#_edn2" name="_ednref2">[ii]. Die Aktivitäten und Funktionsweise der IKS haben uns in den Sitzungen am meisten beschäftigt und die leidenschaftlichsten Debatten hervorgerufen. Der Grund: die IKS stand vor großen organisatorischen Schwierigkeiten, die eine besonders starke Mobilisierung aller Sektionen und aller Mitglieder erforderlich machten.

Die Organisationsprobleme in der Geschichte der Arbeiterbewegung...

Die historische Erfahrung der revolutionären Organisationen des Proletariats zeigt, daß die Fragen der Funktionsweise eigenständige politische Fragen sind, die die größte Aufmerksamkeit erfordern. Wenn man beispielsweise die Erfahrung der ersten internationalen Organisation des Proletariats, die IAA (Internationale Arbeiterassoziation) sowie des 2.Kongresses der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAPR) von 1903 untersucht, kann man feststellen, daß die Debatten und Resolutionen über die Organisation im Mittelpunkt ihres Wirkens standen.

Die Erfahrung der 1.Internationale

Die I. Internationale wurde im September 1864 aufgrund der Initiative von französischen und englischen Arbeitern in London gegründet. Von Anfang an arbeitete sie zentralisiert mit einem Zentralrat an ihrer Spitze, der nach dem Genfer Kongreß von 1867 als der ‘Generalrat’ bekannt wurde. Marx sollte im Generalrat eine führende Rolle spielen, da er die Aufgabe übernahm, bedeutende Grundlagentexte zu schreiben wie beispielsweise die Inauguraladresse, ihre Statuten und die Adresse des Generalrates zur  Pariser Kommune (Bürgerkrieg in Frankreich, Mai 1871). Die Internationale Arbeiterassoziation (IAA) oder die Internationale, wie die Arbeiter sie nannten, wurde schnell zu einer Macht in den fortgeschrittenen Ländern (insbesondere in Westeuropa). Bis zur Pariser Kommune 1871 umfaßte sie eine wachsende Anzahl von Arbeitern und wurde zu einem führenden Faktor bei der Entwicklung der beiden Hauptwaffen des Proletariats: seine Organisation und sein Bewußtsein. Deshalb war die Internationale zunehmend erbitterten Angriffen seitens der Bourgeoisie ausgesetzt: Verleumdungen in der Presse, Eindringen in ihre Reihen von Informationen, Verfolgung ihrer Mitglieder usw.. Aber die IAA war durch die Angriffe einiger ihrer Mitglieder der größten Gefahr ausgesetzt, die sich gegen die Funktionsweise der Internationale selber richteten. Schon als die IAA gegründet wurde, wurden die provisorischen Funktionsregeln von der Pariser Sektion übersetzt; diese waren stark von den föderalistischen Auffassungen Proudhons beeinflußt worden, wodurch der zentralisierte Charakter der Internationale beträchtlich geschwächt wurde. Aber die gefährlichsten Angriffe sollten erst später stattfinden, als die Kräfte der ‘Allianz der sozialistischen Demokratie’, die von Bakunin gegründet worden war, in die Internationale eintreten wollte. Die ‘Allianz der Demokratie’ sollte in einigen Sektionen der Internationale fruchtbaren Nährboden aufgrund deren Schwächen finden, die wiederum das Ergebnis der Schwäche des Proletariats zu einem Zeitpunkt war, da das Proletariat selbst noch nicht die Schwächen der vorherigen Stufe überwunden hatte.’Die erste Phase in dem Kampfe des Proletariats gegen die Bourgeoisie ist durch die Sektenbewegung bezeichnet. Diese ist berechtigt zu einer Zeit, in der das Proletariat sich noch nicht hinreichend entwickelt hat, um als Klasse zu handeln. Vereinzelte Denker unterwerfen die sozialen Gegensätze einer Kritik und geben zugleich eine phantastische Lösung derselben, welche die Masse der Arbeiter nur anzunehmen, zu verbreiten und praktisch ins Werk zu setzen braucht. Es liegt schon in der Natur dieser durch die Initiative Einzelner gebildeten Sekten, daß sie sich jeder wirklichen Tätigkeit, der Politik, den Streiks, den Gewerksgenossenschaften, mit einem Wort, jeder Gesamtbewegung gegenüber fremd und abgeschlossen verhalten. Die Masse des Proletariats bleibt stets ihrer Propaganda gegenüber gleichgültig, ja selbst feindlich. (...) Die Sekten, im Anfange Hebel der Bewegung, werden ein Hindernis, sowie diese sie überholt; sie werden dann reaktionär; (...) Kurz, sie stellen die Kindheit der Proletarierbewegung dar, wie die Astrologie und Alchimie die Kindheit der Wissenschaft. Damit die Gründung der Internationalen zur Möglichkeit wurde, mußte das Proletariat diese Entwicklungsstufe überschritten haben’ (MEW Bd. 18, S. 32 ff, ‘Die angeblichen Spaltungen in der Internationale’).

Im Gegensatz zu den Sekten ist die Internationale eine wirkliche, militante Organisation der Arbeiterklasse eines jeden Landes, zusammengeschmiedet in ihrem gemeinsamen Kampf gegen die Kapitalisten, Grundbesitzer und deren Klassenmacht, die sich im Staat zusammengefaßt haben. Die Statuten der Internationale erkannten   deshalb nur einige Arbeitervereine an, die jeweils das gleiche Ziel verfolgten und alle das gleiche Programm vertraten, das sich darauf beschränkt, die Hauptzüge der proletarischen Bewegung zu umreißen. Die theoretische Ausarbeitung soll dem Anstoß überlassen werden, der durch die Erfordernisse des Klassenkampfes ausgeht. Dies geschieht durch den Austausch der Ideen in den Sektionen, wobei alle sozialistischen Auffassungen in ihren Publikationen und Kongressen akzeptiert werden.

‘Wie in jeder neuen historischen Phase die alten Irrtümer für einen Augenblick von neuem auftauchen, um bald danach wieder zu verschwinden, so hat auch die Internationale in ihrem Schoße sektiererische Sektionen entstehen sehen...’ (MEW 18, S. 34, ‘Die angeblichen Spaltungen in der Internationale’)

Diese Schwäche wurde am deutlichsten in den rückständigsten Teilen des europäischen Proletariats, die gerade aus der Bauernschaft und den Handwerkergruppen hervorgegangen waren. Bakunin, der 1868 nach dem Zusammenbruch der ‘Ligue de la Paix et de la Liberté’ (Friedens- und Freiheitsliga) (die bürgerliche Republikaner zusammenfaßte und an deren Spitze er stand), benutzte diese Schwäche, um zu versuchen, die Internationale seinen anarchistischen Auffassungen zu unterwerfen und sie unter seine Kontrolle zu bringen. Die Allianz der sozialistischen Demokratie wurde dabei für ihn ein Mittel zum Zweck; er hatte sie als eine Minderheit in der Friedens- und Freiheitsliga gegründet. Die Allianz war sowohl eine öffentliche als auch eine Geheimgesellschaft, die beabsichtigte, eine Internationale innerhalb der Internationale zu gründen. Ihre geheime Struktur und Geheimabsprachen unter ihren Mitgliedern sollten Bakunins Einfluß auf möglichst viele Sektionen der IAA sicherstellen, insbesondere in den Sektionen, in denen die anarchistischen Auffassungen auf das stärkste Echo stießen. Die Existenz von verschiedenen Gedankenströmungen innerhalb der Internationale stellte als solches noch kein Problem dar1kg/16#_edn3" name="_ednref3">[iii]. Dagegen sollte die Aktivität der Allianz, die darauf abzielte, die offizielle Struktur der Internationale zu ersetzen, zur Desorganisierung beitragen und die Existenz der Internationale selbst bedrohen. Die Allianz versuchte zum ersten Mal die Kontrolle der Internationale im Sept. 1869 auf ihrem Baseler Kongreß zu übernehmen. Mit diesem Ziel vor Augen unterstützten vor allem Bakunin und James Guillaume eine Resolution, die die Macht des Generalrates stärken sollte. Weil sie jedoch bei diesem Versuch scheiterten, begann die Allianz (die selbst geheime Statuten entwickelt hatte, welche sich auf eine extreme Zentralisierung stützten1kg/16#_edn4" name="_ednref4">[iv], eine Kampagne ‘gegen die Diktatur des Generalrates’, die darauf abzielte, daß der Generalrat zu einem ‘statistischen’ und ‘Korrespondenzbüro’ werden sollte, wie es die Allianz wollte, oder wie Marx sagte, zu einem einfachen Briefkasten werden sollte. Gegen das Prinzip der Zentralisierung als ein Ausdruck der internationalen Einheit des Proletariats trat die Allianz für den Föderalismus ein, die vollständige ‘Selbständigkeit der Sektionen’ und den nicht bindenden Charakter der Entscheidungen der Kongresse. Tatsächlich wollte die Allianz in den Sektionen, wo sie die Kontrolle hatte, immer das tun, was ihr am liebsten war. Dadurch sollte die  vollständige Desorganisierung der IAA ermöglicht werden. Vor dieser Gefahr stand 1872 der Haager Kongreß, der die Frage der Allianz auf der Grundlage eines Berichtes einer Untersuchungskommission diskutieren sollte. Schließlich wurde der Ausschluß Bakunins und James Guillaumes, des Führers der Föderation Jura beschlossen, die voll unter der Kontrolle der Allianz steckte. Dieser Kongreß war der Höhepunkt der IAA (es war der einzige Kongreß, an dem sich Marx direkt beteiligte, wodurch wir ablesen können, für wie wichtig er diesen Kongreß hielt). Aber er stand auch unter dem Vorzeichen der erdrückenden Niederlage der Pariser Kommune und der Demoralisierung, die diese innerhalb der Arbeiterklasse hervorgerufen hatte. Marx und Engels waren sich all dessen bewußt. Deshalb schlugen sie neben den Maßnahmen, die darauf abzielten, die IAA nicht in die Hände der Allianz geraten zu lassen, vor, daß der Generalrat nach New York verlagert werden sollten, weit entfernt also von den Konflikten, die die Internationale spalteten. Das sollte auch ein Mittel sein, damit die Internationale eines natürlichen Todes sterben sollte (was durch die Konferenz von Philadelphia 1876 bestätigt wurde), ohne daß ihr Prestige durch das Treiben Bakunins geschädigt wurde. Bakunins Anhänger und die Anarchisten haben diese Legende später immer weiter verbreitet, daß Marx und der Generalrat Bakunin und Guillaume aufgrund deren unterschiedlicher Auffassungen zur Frage des Staates ausgeschlossen hätten1kg/16#_edn5" name="_ednref5">[v]. Oder sie stellten den Konflikt dar als einen Zusammenprall zwischen den Persönlichkeiten Marxens und Bakunins. Kurzum, Marx wurde vorgeworfen, eine Divergenz bei generellen theoretischen Fragen mit administrativen Maßnahmen aus der Welt geschafft zu haben. Aber nichts widerspricht mehr der Wahrheit als das.

Der Haager Kongreß ergriff keine Maßnahmen gegen die Mitglieder der spanischen Sektion, die Bakunins Ideen teilten und Mitglieder der Allianz gewesen waren, aber erklärten, dies nicht mehr zu sein.

Auch setzte sich die ‘antiautoritäre’ IAA, die nach dem Haager Kongreß aus den Föderationen zusammengesetzt war, welche die Kongreßbeschlüsse nicht akzeptieren wollten, nicht nur aus Anarchisten zusammen, da ihnen auch deutsche Lassalleaner beigetreten waren, die große Anhänger des ‘Staatssozialismus’ waren, wie Marx es nannte. Tatsächlich fand der wirkliche Kampf in der IAA zwischen denjenigen statt, die für die Einheit der Arbeiterbewegung eintraten - und damit den bindenden Charakter der Kongreßbeschlüsse- und denjenigen, die forderten, daß sie all das tun könnten, was immer ihnen in den Sinn kam, daß jeder für sich handeln könnte und die Kongresse einfach als eine Versammlung aufgefaßt werden könnten, wo jeder seinen Standpunkt austauschen könnte, ohne daß aber verbindliche Beschlüsse gefaßt würden. Mit dieser informellen Organisationsweise wollte die Allianz versuchen, insgeheim eine wirkliche Bündelung der Föderationen vorzunehmen, wie es die Korrespondenz Bakunins ausdrücklich zum Ausdruck brachte. Die Durchsetzung dieser  ‘antiautoritären’ Auffassungen innerhalb der Internationale wäre das sicherste Mittel gewesen, sie zum Opfer der Intrigen und der versteckten und unkontrollierten Machtallianz werden zu lassen. Mit anderen Worten, sie den Abenteurern zu überlassen, die die Allianz beherrschten.

Die Lehren der russischen Sozialdemokratie

Der 2. Kongreß der SDAPR 1903 war auch der Ort einer ähnlichen Auseinandersetzung zwischen Anhängern einer proletarischen und denen einer kleinbürgerlichen Auffassung zur Organisation. Es gab Ähnlichkeiten zwischen der Lage der Arbeiterbewegung zur Zeit der I. Internationale und der Bewegung in Rußland um die Jahrhundertwende. In beiden Fällen steckte die Arbeiterbewegung noch in ihren Kinderschuhen, und das Hinterherhinken der russischen Arbeiterbewegung war vor allem zurückzuführen auf die späte russische Industrialisierung. Das Ziel der IAA bestand darin, eine vereinte Organisation aufzubauen,  die verschiedenen Arbeitervereinigungen, die die Entwicklung der Arbeiterklasse hervorgebracht hatte, zusammenzufassen. Ähnlich bestand das Ziel des 2. Kongresses der SDAPR  darin, die verschiedenen Zirkel und Gruppen der Sozialdemokratie, die sich in Rußland sowie im Exil entfaltet hatten, zusammenzuführen. Nach der Auflösung des Zentralkomitees, das auf dem 1. Kongreß der SDAPR  1897 gebildet worden war, gab es fast keine förmlichen Beziehungen mehr zwischen diesen verschiedenen Formationen. Auf dem 2. Kongreß gab es deshalb seinerzeit in der IAA einen Zusammenprall zwischen den Auffassungen zur Organisationsfrage, die die Vergangenheit der Bewegung zum Ausdruck brachten (welche von den Menschewiki - der Minderheit - vertreten wurden) und einer Auffassung, die den Bedürfnissen der neuen Situation entsprach (Bolschewiki - der Mehrheit). ‘Unter dem Namen der ‘Minderheit’ haben sich die unterschiedlichsten Leute in der Partei zusammengeschlossen, die von dem Wunsch - ob bewußt oder nicht - getragen werden, die Zirkelbeziehungen aufrechtzuerhalten, d.h. die vorherige Organisationsform der Partei. Einige bedeutende Mitglieder der einflußreichsten alten Zirkel, die die organisatorischen Verhaltensregeln nicht einhalten wollen, welche die Partei einführen muß, neigen dazu, die allgemeinen Interessen der Partei und die Interessen von Zirkeln, die in der Zirkelphase zusammenfallen können, mechanisch durcheinanderzubringen’ (Lenin, Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück).

Wie später deutlich werden sollte, war die Herangehensweise der Menschewiki (in der Revolution von 1905 und mehr noch in der Revolution von 1917, als die Menschewiki auf die Seite der Bourgeoisie wechselten) bestimmt worden durch das Eindringen bürgerlicher und kleinbürgerlicher Ideologie innerhalb der russischen Sozialdemokratie. Insbesondere wie Lenin feststellte, bestand der Großteil der Opposition (d.h. der Menschewiki) aus den Intellektuellen in der Partei, die somit zum Träger der kleinbürgerlichen Auffassungen hinsichtlich Organisationsfragen wurden. Diese Leute revoltieren gegen die Organisationsprinzipien und erheben den spontanen Anarchismus zu einem Prinzip des Kampfes, fordern ‘Toleranz’ usw. Es gibt in der Tat viele Ähnlichkeiten zwischen dem Verhalten der Menschewiki und der Anarchisten in der IAA (Lenin sprach mehrmals von dem ‘aristokratischen’ Anarchismus der Menschewiki). Wie die Anarchisten nach dem Haager Kongreß weigerten sich die Menschewiki die Entscheidungen des 2. Kongresses der SDAPR  anzuerkennen und sie anzuwenden. Sie erklärten, daß der Kongreß keine Gottheit und deshalb die Beschlüsse nicht ‘unantastbar’ seien. Genauso wie die Bakunisten gegen das Prinzip der Zentralisierung und der Diktatur des Generalrates zu Felde zogen, nachdem sie ihn nicht unter ihre Kontrolle hatten bringen können, bestand einer der Gründe dafür, daß die Menschewiki die Zentralisierung nach dem Kongreß verwarfen, darin, daß einige ihrer Mitglieder aus dem Zentralorgan, welches vom Kongreß gewählt worden war, entfernt worden waren. Es gibt

viele Parallelen bei der Art und Weise, wie die Menschewiki gegen die ‘persönliche Diktatur Lenins und seine eiserne Faust’ eine Kampagne betrieben, und der Art und Weise, wie Bakunin Marx ‘der Diktatur gegen den Generalrat’ beschuldigte.

‘Betrachte ich das Verhalten der Martowleute nach dem Parteitag (...) so kann ich nur sagen, daß das ein irrsinniger, eines Parteimitglieds unwürdiger Versuch ist, die Partei zu sprengen... und weshalb? Nur weil man unzufrieden ist mit der Zusammensetzung der Zentralstellen, denn objektiv war das die einzige Frage, in der wir uns trennten, die subjektiven Urteile aber (wie Kränkung, Beleidigung, Hinauswurf, Beseitigung, Verunglimpfung etc. etc.) sind die Frucht gekränkter Eigenliebe und krankhafter Phantasie. Diese krankhafte Phantasie und diese gekränkte Eigenliebe führen geradewegs zu schändlichen Klatschereien, nämlich dazu, daß man, ohne die Tätigkeit der neuen Zentralstellen kennengelernt und ohne sie gesehen zu haben, Gerüchte verbreitet über ihre ‘Arbeitsunfähigkeit’, über die ‘eiserne Hand’ eines Iwan Iwanowitsch, die ‘Faust’ eines Iwan Nikiforowitsch usw.... Die russische Sozialdemokratie muß den letzten schwierigen Übergang vollziehen vom Zirkelwesen zum Parteiprinzip, vom Spießertum zur Erkenntnis der revolutionären Pflicht, vom Handeln auf Grund von Klatschereien und Zirkeleinflüssen zur Disziplin’ (Lenin, Schilderung des 2. Parteitags der SDAPR, Bd 7, S. 20).

In Anbetracht der Beispiele der IAA und des. 2. Kongresses der SDAPR  wird die Wichtigkeit der Fragen der Funktionsweise der revolutionären Organisationen deutlich. Tatsächlich brachten diese Entscheidungen die erste grundlegende Abtrennung zwischen der proletarischen Strömung auf der einen Seite und der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Strömung auf der anderen Seite. Dahinter steckte kein Zufall. Diese Abtrennung ist im Gegenteil gerade auf die Tatsache zurückzuführen, daß einer der Hauptwege, über den die dem Proletariat fremde Ideologie in dieses durch die Frage der Funktionsweise eindringt.

Die Geschichte der Arbeiterbewegung liefert uns viele Beispiele dafür. Wir haben hier z.T. aus Platzgründen nur diese beiden letzten Fälle aufgegriffen, aber auch weil es verblüffende Ähnlichkeiten gibt zwischen der Art und Weise, wie die IAA, die SDAPR  und die IKS gegründet wurden.

...und die Geschichte der IKS

Die IKS hat sich schon mehrmals mit dieser Art Fragen befassen müssen. Das war beispielsweise während unseres Gründungskongresses im Jan. 1975 der Fall, als wir uns mit der internationalen Zentralisierung  befaßten (siehe dazu ‘Bericht zur Organisationsfrage unserer Strömung’ in International Review). Ein Jahr später sind wir wieder auf unserem ersten Kongreß bei der Diskussion der Statuten darauf zurückgekommen (siehe den Artikel ‘Die Statuten der revolutionären Organisation des Proletariats’ in International Review Nr. 5). Schließlich hat die IKS im Jan. 1982 speziell eine Außerordentliche Konferenz zu dieser Frage nach der Krise von 1981 einberufen1kg/16#_edn6" name="_ednref6">[vi]. Gegenüber der Arbeiterklasse und dem proletarischen politischen Milieu haben wir unsere Schwierigkeiten Anfang der 80er Jahre nicht verheimlicht. In der Resolution des 5. Kongresses schrieben wir in der International Review Nr. 35 : ‘Seit ihrem 4. Kongreß (1981) hat die IKS in der schwersten Krise seit ihrem Bestehen gesteckt. Diese Krise hat abgesehen von der ‘Affäre Chenier’ (4) die Organisation zutiefst erschüttert; wir sind knapp am Auseinanderbrechen vorbeigeschlittert, als Folge daraus sind direkt oder indirekt ca. 40 Mitglieder ausgetreten, die Hälfte unserer territorialen Sektion in England hat uns verlassen. Diese Krise hatte eine Vernebelung, eine Desorientierung hervorgebracht, wie es zuvor in der IKS noch nie vorgekommen war.  Diese Krise erforderte zu ihrer Überwindung den Einsatz außergewöhnlicher Mittel: die Einberufung einer Internationalen Außerordentlichen Konferenz, die Diskussion und Verabschiedung von Grundsatzorientierungstexten zur Funktion und Funktionsweise der revolutionären Organisation, die Verabschiedung neuer Statuten’.

Solch eine Haltung der Transparenz gegenüber den Schwierigkeiten unserer Organisation war überhaupt kein Ausdruck irgendeines ‘Exhibitionismus’. Die Erfahrung kommunistischer Organisationen ist ein tiefgreifender Bestandteil der Erfahrung der Arbeiterklasse. Deshalb hat ein großer Revolutionär wie Lenin ein ganzes Buch ‘Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück’ darauf verwendet, die politischen Lehren des 2. Kongresses der SDAPR zu ziehen. Indem wir von unserem Organisationsleben berichten, übernimmt die IKS nur ihre Verantwortung gegenüber der Arbeiterklasse.

Wenn eine revolutionäre Organisation ihre Probleme und internen Diskussionen bekanntmacht, stürzen sich natürlich alle Gegner darauf, um die Organisation zu verleumden. Dies ist natürlich insbesondere mit der IKS der Fall. Natürlich werden wir kein Lob in der bürgerlichen Presse ernten aufgrund der Schwierigkeiten,  mit denen unsere Organisation jetzt kämpft. Die IKS ist noch zu klein - sowohl was Größe und Einfluß innerhalb der Arbeiterklasse angeht, so daß die Bourgeoisie noch kein Interesse daran hat, von uns zu sprechen und uns diskreditieren will. Die Bourgeoisie zieht es vor, eine Mauer des Schweigens aufzubauen um unsere Positionen und die Existenz revolutionärer Organisationen überhaupt. Deshalb sind die Verleumdung und die Sabotage unserer Intervention das Steckenpferd einer ganzen Reihe von Gruppen und parasitären Elementen, deren Funktion darin besteht, diejenigen abzuschrecken, die sich auf Klassenpositionen zubewegen, damit in ihnen ein Gefühl der Abscheu gegenüber der Mitarbeit an der Entwicklung des proletarischen Milieus entsteht.

Alle kommunistischen Gruppen  sind zur Zielscheibe von Angriffen der Parasiten geworden. Aber insbesondere die IKS ist stark davon betroffen gewesen, weil wir heute die größte Gruppe im proletarischen Milieu sind. Innerhalb der parasitären Bewegung gibt es heute voll entwickelte Gruppen wie die Gruppe Groupe Communiste Internationaliste (GCI) und ihre Abspaltung (wie ‘Gegen den Strom’), die jetzt aufgelöste Communist Bulletin Group (CBG) (aus Großbritannien ) und die Abspaltung der ehemaligen ‘Externen Fraktion der IKS’,  die alle aus  Abspaltungen von der IKS hervorgingen. Aber das Parasitentum ist nicht auf solche Gruppen beschränkt. Es wird auch von unorganisierten Elementen getragen, die sich von Zeit zu Zeit zu Diskussionen treffen und deren Hauptsorge darin besteht, alles mögliche Gerede über unsere Organisation in Umlauf zu bringen. Zu diesen Leuten gehören oft ehemalige Mitglieder der IKS, die sich dem Druck der kleinbürgerlichen Ideologie ergeben und sich als unfähig erwiesen haben, ihr Engagement in der Organisation aufrechtzuhalten, oder die darüber frustriert sind, daß die Organisation ihnen nicht die  ‘Anerkennung’ liefert, die sie meinten, zu ‘verdienten’. Oder sie hielten es nicht aus, sich der Kritik der Organisation zu stellen. Zu diesen Leuten gehören auch ehemalige Sympathisanten der Organisation, die wir nicht integrieren wollten, weil sie nicht über ausreichend Klarheit verfügten, oder ihre militante Sorge über Bord warfen, sobald sie spürten, daß ihre ‘Individualität innerhalb des kollektiven Rahmens verloren ginge. Dies trifft beispielsweise auf die Gruppe Colectivo Alptraum in Mexiko zu sowie  auf Kamunist Kranti in Indien. Es handelt sich jeweils um Elemente, deren Frustration über ihren eigenen Mangel an Mut, ihre Schlaffheit und ihre Unfähigkeit zu einer systematischen Feindschaft gegenüber unserer Organisation geworden ist. Offensichtlich sind diese Leute völlig unfähig, irgend etwas Konstruktives aufzubauen. Dagegen sind sie sehr wirksam, wenn es darum geht, ihr Gerede zu verbreiten und das mit Schutz zu besudeln, das zu zerstören und diskreditieren, was die Organisation dabei ist aufzubauen. Aber das Treiben der Parasiten wird die IKS nicht davon abhalten, gegenüber dem gesamten proletarischen Milieu unsere Erfahrungen kundzutun. In dem Vorwort zu ‘Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte rückwärts’ schrieb Lenin: ‘Sie (unsere Gegner) feixen und sind schadenfroh über unsere Streitigkeiten; sie werden sich natürlich bemühen, einzelne Stellen aus meiner Broschüre, die den Mängeln und Unzulänglichkeiten unserer Partei gewidmet ist, für ihre Zwecke aus dem Zusammenhang zu reißen. Die russischen Sozialdemokraten haben bereits genügend im Kugelregen der Schlachten gestanden, um sich durch diese Nadelstiche nicht beirren zu lassen, um dessenungeachtet ihre Arbeit der Selbstkritik und rücksichtslosen Enthüllung der eigenen Mängel fortzusetzen, die durch das Wachstum der Arbeiterbewegung unbedingt und unvermeidlich ihre Überwindung finden werden. Die Herren Gegner aber mögen versuchen, uns ein Bild der wahren Sachlage in ihren ‘Parteien’ zu zeigen, das auch nur im entferntesten dem Bild ähnelt, das die Protokolle unseres zweiten Parteitags bieten’ (Mai 1904).

Genau mit diesem gleichen Geist wollen wir unseren Lesern einige Hauptauszüge aus der Resolution des 11.Kongresses bekannt machen. Dies ist kein Zeichen der Schwäche der IKS sondern legt Zeugnis ab von  unserer Stärke.

Die Probleme der IKS in der letzten Zeit

‘Der 11. Kongreß der IKS unterstreicht deutlich: die IKS befand sich in einer latenten Krise, die tiefgreifender war als die Krise Anfang der 80er Jahre. Wenn die Wurzeln dieser Krise nicht identifiziert worden wären, hätte die Gefahr der Zerstörung der Organisation bestanden.’ (Aktivitätsresolution, Punkt 1).

‘Die Ursachen der Krise, die die Organisation zu ersticken drohten, sind vielfältig, aber man kann einige Hauptfaktoren aufzählen:

- die Tatsache, daß die Außerordentliche Konferenz vom Jan. 1982, die uns aus der Krise von 1981 helfen sollte, nicht bis auf den Grund der Dinge gegangen ist,  die Schwächen der IKS nicht tiefgreifend genug angepackt hat;

- mehr noch, die Tatsache, daß die IKS die Errungenschaften dieser Konferenz selber nicht ausreichend genug verarbeitet hat...

- der gewachsene zerstörerische Einfluß des Zerfalls des Kapitalismus innerhalb der Arbeiterklasse und in den Reihen der kommunistischen Organisationen.

Deshalb bestand die einzige Art und Weise, wie die IKS wirksam der tödlichen Gefahr entgegentreten konnte, die uns bedrohte, :

-in der Identifizierung des Ausmaßes dieser Gefahr ...

- in der Mobilisierung der gesamten IKS, der Militanten, der Sektionen und der Zentralorgane um die Priorität der Verteidigung der Organisation,.

- in der Wiederaneignung der Errungenschaften der Konferenz von 1982,

-in der Vertiefung dieser Errungenschaften auf der Grundlage des Rahmens, den dieser uns bot (Punkt 2).

Der Kampf für die Wiederaufrichtung der IKS fing im Herbst 1993 durch die Diskussion eines Orientierungstextes in der ganzen Organisation an. Dieser Orientierungstext erinnerte und aktualisierte die Lehren von 1982, wobei wir uns besonders mit den historischen Ursprüngen unserer Schwächen befaßten. Im Mittelpunkt unserer Vorgehensweise standen die folgenden Bestrebungen: die Wiederaneignung der Errungenschaften unserer eigenen Organisation und der gesamten Arbeiterbewegung, die Kontinuität mit der Arbeiterbewegung und insbesondere der Kampf gegen das Eindringen  bürgerlicher und kleinbürgerlicher Ideologie, die der Arbeiterklasse fremd und feindlich sind.

‘Der Rahmen für das Begreifen des Ursprungs der Schwächen ist eingebettet in den vom Marxismus geführten historischen Kampf gegen den Einfluß der kleinbürgerlichen Ideologie, der in den Organisationen des Proletariats zu spüren ist. Insbesondere bezieht er den Kampf  der IAA gegen das Treiben Bakunins und seiner Anhänger ein, wie auch das Wirken Lenins und der Bolschewiki gegen die opportunistischen und anarchisierenden Auffassungen der Menschewiki auf dem 2. Kongreß der SDAPR und der Zeit danach. Insbesondere ging es darum, daß die Organisation in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten genau wie die Bolschewiki von 1903 an den Kampf gegen den Zirkelgeist und für den Aufbau des Parteigeistes stellt. Diese Priorität des Kampfes war durch das Wesen der Schwächen selber gegeben, die auf der IKS lasteten, weil die IKS aus Zirkeln hervorgegangen ist, die in der Phase  des historischen Wiedererstarkens der Arbeiterklasse Ende der 60er Jahre entstanden waren. Diese Zirkel waren seinerzeit stark geprägt durch das Gewicht der alles anfechtenden, alles in Frage stellenden  individualistischen  Haltung, kurzum anarchisierender Auffassungen, die besonders von den Studentenrevolten gezeichnet waren, und die mit dem Wiedererstarken der Arbeiterklasse einhergingen und diese dann negativ beeinflußten. Deshalb war die Feststellung des Vorhandenseins eines starken Zirkelgeistes in unserer Anfangsphase ein Teil unserer allgemeinen Analyse, die wir seit langem erarbeitet hatten, und die die Wurzeln unserer Schwächen auf den organischen Bruch der kommunistischen Organisationen zurückführte, welcher durch die Konterrevolution seit dem Ende der 20 Jahre entstanden war. Diese Feststellung erlaubte uns jedoch einen Schritt weiterzugehen als die früheren Ergebnisse und tiefer an die Wurzeln unserer Schwächen heranzukommen. Dadurch haben wir besser das Phänomen verstanden, das wir früher schon aufgedeckt aber unzureichend angepackt hatten, nämlich die Bildung von Clans innerhalb der Organisation. Diese Clans waren tatsächlich das Ergebnis des grassierenden Zirkelgeistes, der sich länger am Leben hielt als die Phase, in der die Zirkel eine unvermeidbare Etappe bei der Neugründung der kommunistischen Avantgarde gewesen waren. Dadurch wurden die Zirkel wiederum zu einem aktiven Faktor und massiven Stützpfeiler des Zirkelgeistes innerhalb der Organisation’ (Punkt 4).

Hier bezieht sich die Resolution auf einen Punkt des Orientierungstextes vom Herbst 1993, der die folgende Frage behandelt:

‘Eine große ständige Gefahr für die Organisation, die ihre Einheit infragestellt und zu ihrer Zerstörung führen kann, ist die Bildung von ‘Clans’ - auch wenn das nicht absichtlich oder bewußt geschieht. Bei einer Clan-Dynamik wird das Handelns nicht bestimmt  durch eine wirkliche politische Übereinstimmung sondern durch Freundschaftsbeziehungen, Treue, der Konvergenz besonderer ‘persönlicher’ Interessen oder geteilter Frustrationen. Da solch eine Dynamik sich nicht auf eine wirklich politische Konvergenz stützt, kommt es oft zum Erscheinen von ‘Gurus’, ‘Anführern von Cliquen’, die die Einheit des Clans sicherstellen und die ihre Macht stützen entweder auf ein besonderes Charisma (welches gar die politischen Fähigkeiten und das Urteilsvermögen anderer Militanter ersticken können) oder auf die Tatsache, daß sie als ‘Opfer’ einer bestimmten Politik der Organisation dargestellt werden oder als solche auftreten. Wenn solch eine Dynamik in Erscheinung tritt, werden das Verhalten oder die Entscheidungen der Clanmitglieder oder Sympathisanten eines Clans nicht mehr bestimmt durch eine bewußte Entscheidung, die auf den allgemeinen Interessen der Organisation fußt, sondern wo die Sichtweise und die Interessen des Clans überwiegen, und die dazu neigen, sich als im Widerspruch mit dem Rest der Organisation zu sehen’.

Diese Analyse stützte sich auf die Erfahrung der Arbeiterbewegung (z.B. die Haltung der alten Redakteure der Iskra, auf die Gruppe um Martov, welcher aus Unzufriedenheit mit den Entscheidungen des 2. Kongresses der SDAPR die menschewistische Fraktion gebildet hatte), aber auch auf Erfahrungen in der IKS. Wir können hier nicht in Einzelheiten gehen, aber hervorheben, daß die ‘Tendenzen’, die es in der IKS gegeben hat (die Tendenz, die 1978 die Groupe Communiste Internationaliste (GCI) schuf, 1981 die ‘Tendenz Chenier’1kg/16#_edn7" name="_ednref7">[vii], die ‘Tendenz’, die auf dem 6. Kongreß der IKS austrat, um die ‘Externe Fraktion der IKS’ -EFIKS- zu bilden), viel eher auf eine jeweilige Clandynamik zurückzuführen waren als auf eine wirkliche Tendenz, die sich auf eine alternative positive Orientierung stützten. Die Haupttriebkraft dieser ‘Tendenzen’ wurden nicht aufgrund von Divergenzen ihrer Mitglieder mit den Orientierungen der Organisation gebildet (diese Divergenzen waren sehr vielschichtig, wie es der spätere Werdegang der jeweiligen Tendenzen aufzeigte), sondern eher durch einen Zusammenschluß der Unzufriedenen und der Frustrierten mit den Zentralorganen und die persönliche Gefolgschaft gegenüber den Elementen, die sich als ‘Verfolgte’ oder als unzureichend ‘anerkannt’ ansahen.

Die Wiederaufrichtung der IKS

Während die Existenz von Clans in der Organisation nicht mehr den gleichen spektakulären Charakter wie in der Vergangenheit hatte, nagte deren Existenz jedoch ständig und dramatisch am Organisationsnetz. Insbesondere hat die gesamte IKS (und direkt beteiligte Genossen haben das ebenfalls so geschildert) aufgedeckt, daß sie mit einem Clan konfrontiert war, der an zentraler Stelle der Organisation saß und der ‘eine Vielzahl der gefährlichen Merkmale in sich konzentrierte und bündelte, mit denen die Organisation zu kämpfen hatte und deren gemeinsamer Nenner der Anarchismus war...’(Aktivitätsresolution Punkt 5).

Deshalb ‘haben wir nach Begreifen des Phänomens der Clans und ihrer besonders zerstörerischen Rolle eine Reihe von schlechten Funktionsweisen aufdecken können, unter denen die meisten territorialen Sektionen litten... Wir haben dadurch ebenfalls die Ursachen für das Abhandenkommen des ‘Geistes der Umgruppierung’ erkannt, den der 10. Kongreß in seinem Aktivitätsbericht aufgezeigt hatte, und der in den Gründerjahren der IKS vorhanden gewesen war...’ (Punkt 5).

Nach mehreren Tagen sehr lebhafter Debatte mit einer tiefgreifenden Beteiligung aller Delegationen und mit einer großen Einheit hat der 11. Kongreß der IKS die folgenden Schlußfolgerungen ziehen können:

‘...der Kongreß stellt den globalen Erfolg des von der IKS seit Herbst 1993 begonnenen Kampfes fest.... Die manchmal spektakuläre Genesung der von den organisatorischen Schwierigkeiten seit 1993 betroffenen Sektionen...., die von zahlreichen Teilen der IKS eingebrachten Vertiefungen..., all diese Tatsachen bestätigen die uneingeschränkte Gültigkeit des begonnenen Kampfes, seiner Methode, seiner theoretischen Grundlagen wie auch seiner konkreten Aspekte... Der Kongreß unterstreicht insbesondere die Vertiefung beim Begreifen einer Reihe von Fragen, vor denen wir standen und mit denen sich die Organisationen der Klasse auseinanderzusetzen haben: ein vertieftes Verständnis des Kampfes von Marx und des Generalrates der I. Internationale gegen die Allianz, des Kampfes von Lenin und der Bolschewiki gegen die Menschewiki, des Phänomens des politischen Abenteuertums in der Arbeiterbewegung (verkörpert vor allem von Gestalten wie Bakunin und Lassalle), das von deklassierten Elementen getragen wird, und die nicht unbedingt im Dienst des kapitalistischen Staates stehen, aber dennoch gefährlicher sind als die von ihm infiltrierten Agenten’ (Punkt 10).

Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse stellt der 11. Kongreß fest, daß die IKS heute wesentlich stärker ist als zur Zeit des 10. Kongresses, und daß wir besser gerüstet sind, um unsere Verantwortung in den zukünftigen Kämpfen der Klasse zu übernehmen, obgleich die Organisation natürlich noch in einer ‘Genesungsphase’ steckt’.

Die Feststellung des positiven Ausgangs dieses von uns seit dem Herbst 1993 geführten Kampfes hat jedoch kein Gefühl der Euphorie auf dem Kongreß aufkommen lassen. Die IKS hat mittlerweile gelernt, sich vor Überschwenglichkeiten zu hüten, die eher ein Zeichen des Eindringens der kleinbürgerlichen Ungeduld in die Reihen der Kommunisten sind als ein proletarisches Verhalten. Der von den kommunistischen Organisationen und Militanten geführte Kampf ist langwierig, der viel Geduld erfordert, oft unscheinbar ist, und der wirkliche Enthusiasmus, den wir alle als Militante haben müssen, darf nicht gemessen werden an euphorischen Höhenflügen, sondern an der Fähigkeit, allen Höhen und Tiefen zu widerstehen, dem schädlichen Druck der Ideologie der Feindesklasse standzuhalten. Deshalb hat uns der erfolgreich geführte Kampf keinesfalls triumphalistisch werden lassen.

‘Das heißt nicht, daß der von uns geführte Kampf jetzt aufhören müsse... Die IKS muß ihn jederzeit mit der größten Wachsamkeit fortsetzen, mit der Entschlossenheit, jede Schwäche aufzudecken und sie ohne zu zögern anpacken... Tatsächlich zeigt uns die Geschichte der Arbeiterbewegung und auch die der IKS, wie die jetzt abgeschlossene Debatte einleuchtend verdeutlicht hat, daß der Kampf für die Verteidigung der Organisation ein ständiger, pausenloser Kampf ist. Insbesondere muß sich die IKS vor Augen halten, daß der von den Bolschewiki geführte Kampf gegen den Zirkelgeist für die Einführung des Parteigeistes Jahre gedauert hat. Das gleiche trifft für unsere Organisation zu, die jede Demoralisierung überwinden und jedem Gefühl der Hilflosigkeit infolge der Dauer des Kampfes entgegentreten muß’ (Punkt 13).

Bevor wir diesen Teil zur Organisationsfrage abschließen, wollen wir hervorheben, daß die Debatte, die die Organisation 18 Monate lang geführt hat, zu keiner Abspaltung führte (im Gegensatz zur Entwicklung auf dem 6. Kongreß z.B. oder 1981). Das ist darauf zurückzuführen, daß es in der Organisation von Anfang an eine Übereinstimmung gab zur theoretischen Grundlage für das Begreifen der Schwierigkeiten, auf die wir gestoßen sind. Weil es bei diesem Rahmen keine Divergenz gab, war es möglich, die Herausbildung einer ‘Tendenz’ oder gar einer ‘Minderheit’ zu verhindern, die ihre eigenen Besonderheiten theoretisch verankert hätte. Ein großer Teil dieser Diskussionen drehte sich um die Frage der täglichen Funktionsweise der IKS, mit einer ständigen Sorge, diese Konkretisierungen mit der Erfahrung der Arbeiterbewegung zu verbinden. Die Tatsache, daß es keine Abspaltungen gegeben hat, ist ein Zeugnis der Stärke der IKS, unserer größeren Reife, der Entschlossenheit der Mehrheit unserer Mitglieder, den Kampf für die Verteidigung der Organisation fortzusetzen und das organisatorische Gewebe zu erneuern, den Zirkelgeist zu überwinden und all die anarchistischen Auffassungen über Bord zu schmeißen, die die Organisation als eine Summe von Individuen oder als kleine Gruppen, die sich auf Affinität stützen, betrachten.

Die Perspektiven der internationalen Situation

Die kommunistische Organisation besteht natürlich nicht nur für sich selbst.

Sie ist kein Zuschauer sondern handelt in den Kämpfen der Arbeiterklasse, und die Verteidigung der Organisation dient gerade dazu, daß sie ihre Rolle im Klassenkampf übernehmen kann. Mit diesem Ziel vor Augen hat sich der Kongreß in einem Teil der Debatte mit der Analyse der internationalen Lage befaßt. Mehrere Berichte zu dieser Frage wurden diskutiert und verabschiedet sowie eine Resolution, die unsere Analyse zusammenfaßt und in dieser Internationalen Revue veröffentlicht ist.

Deshalb werden wir uns hier nicht ausführlicher mit diesem Aspekt unseres Kongresses befassen. Wir wollen hier nur kurz den dritten Aspekt (Entwicklung der Wirtschaftskrise, imperialistische Konflikte und das Kräfteverhältnis) der internationalen Situation aufgreifen. Diese Resolution unterstreicht, daß ‘mehr als je zuvor der Kampf des Proletariats die einzige Hoffnung für die Zukunft der Menschheit darstellt’ (Punkt 14).

Jedoch unterstreicht der Kongreß, was die IKS seit dem Herbst 1989 schon herausgestellt hatte: ‘Diese Kämpfe, die Ende der 60er Jahre wieder kräftig entbrannt waren, beendeten die furchtbarste Konterrevolution, die Arbeiterklasse durchlebt hatte. Jedoch ist nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime,  der damit eingeleiteten ideologischen Kampagne und den darauffolgenden Ereignissen (Golfkrieg, Krieg auf dem Balkan usw.) ein Rückfluß des Kampfes eingetreten’ (ebenda). Deshalb ‘entwickelt sich der Arbeiterkampf heute nicht geradlinig, sondern mit Fort- und Rückschritten, in einer auf- und abwärts Bewegung’ (ebenda).

Die Bourgeoisie versteht jedoch sehr wohl, daß die Zuspitzung der Angriffe gegen die Arbeiterklasse nur neue und bewußtere Kämpfe hervorbringen wird. Sie bereitet sich darauf vor, indem sie eine Reihe von gewerkschaftlichen Manövern anzettelt, und indem einige ihrer Vertreter die Initiative ergriffen haben, ‘Beweihräucherungsreden’ auf die ‘Revolution’ , den ‘Kommunismus’ und den ‘Marxismus’ zu halten. Deshalb ist es ‘die Aufgabe der Revolutionäre in ihrer Intervention, so deutlich und energisch wie möglich die tückischen Manöver der Gewerkschaften zu entblößen wie auch die angeblich ‘revolutionären Reden’ der Sprachrohre der Herrschenden. Sie müssen die wirkliche Perspektive der proletarischen Revolution und des Kommunismus als einzig möglichen Ausweg aufzeigen, der die Menschheit retten kann und durch die Arbeiterkämpfe erst möglich wird’ (Punkt 17).

Nachdem die IKS ihre Kräfte wieder zusammengefügt und gesammelt hat, sind wir nach dem 11. Kongreß erneut bereit, diese Verantwortung zu übernehmen.



1kg/16#_ednref1" name="_edn1">[i] Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Indien, Italien, Mexiko, Niederlande, Schweden, Spanien, USA, Venezuela.

1kg/16#_ednref2" name="_edn2">[ii] Eine Analyse des proletarischen politischen Milieus, das ein ständiges Anliegen ist,  stand ebenfalls auf der Tagesordnung. Aus Zeitgründen haben wir diesen Punkt fallenlassen müssen, aber das heißt nicht, daß wir unsere Aufmerksamkeit gegenüber dem Milieu vernachlässigen wollten. Im Gegenteil: indem wir unsere eigenen organisatorischen Schwierigkeiten überwunden haben, können wir einen besseren Beitrag zur Entwicklung des gesamten proletarischen Milieus leisten.

1kg/16#_ednref3" name="_edn3">[iii] ‘Da die Bedingungen für die Arbeitersektionen in jedem Lande und für die Arbeiterklasse in den verschiedenen Ländern sowie auch ihre gegenwärtigen Entwicklungsstufen sehr verschieden sind, so folgt daraus notwendig, daß ihre theoretischen Ansichten, welche die reelle Bewegung widerspiegeln ebenso verschieden sind.

Die Gemeinsamkeit der Aktion, welche die Internationale Arbeiterassoziation ins Leben ruft, der durch die Organe der verschiedenen nationalen Sektionen erleichterte Ideenaustausch und die unmittelbare Debatte auf den allgemeinen Kongressen werden indes nicht verfehlen, nach und nach ein gemeinsames theoretisches Programm zu schaffen’ (MEW 16, S. 348, ‘Der Generalrat der IAA an das Zentralbüro der Allianz der sozialistischen Demokratie’, 9.3.1869).

Die Allianz wollte zunächst mit ihren eigenen Statuten beitragen, wobei vorgesehen war, daß sie eine internationale Struktur haben würde, die sich mit der der IAA decken würde (mit einem Generalrat  und Kongreß, die getrennt von denen der IAA durchzuführen wären). Der Generalrat verwarf diesen Antrag; er unterstrich, daß die Statuten der Allianz im Gegensatz standen zu denen der IAA. Er hob hervor, daß er bereit war, die Sektionen der Allianz aufzunehmen, falls die Allianz ihre internationale Struktur aufgab. Die Allianz akzeptierte diese Bedingungen, aber hielt dennoch ihre geheimen Statuten verborgen aufrecht.

1kg/16#_ednref4" name="_edn4">[iv] In einem Aufruf ‘An die Offiziere der russischen Armee’ lobt Bakunin die Vorteile einer geheimen Organisation, deren ‘Stärke in der Disziplin liegt, in leidenschaftlicher Aufopferung und Selbstverleugnung der Mitglieder und in blindem Gehorsam gegenüber der Zentrale, die alles weiß und die niemand kennt’.

1kg/16#_ednref5" name="_edn5">[v] Die Anarchisten treten ein für die sofortige Abschaffung des Staates direkt nach der Revolution. Dies weicht der Frage aus: der Marxismus hat gezeigt, daß der Staat überleben wird, obgleich offensichtlich in einer anderen Form als im kapitalistischen Staat, bis zum vollständigen Verschwinden der gesellschaftlichen Klassen.

1kg/16#_ednref6" name="_edn6">[vi] Siehe dazu die Artikel ‘Die Krise des revolutionären Milieus’, ‘Bericht zur Struktur und Funktionsweise der revolutionären Organisation’, ‘Vorstellung des 5. Kongresses der IKS’ in unserer Internationalen Revue.

1kg/16#_ednref7" name="_edn7">[vii] Chenier, der unsere Wachsamkeit ausgenutzt hatte, war 1978 Mitglied der IKS in Frankreich geworden. Von 1980 hatte er Unterwanderungsarbeit mit dem Ziel der Zerstörung unserer Organisation betrieben. Zu diesem Zwecke hatte er sehr clever sowohl unsere mangelnde organisatorische Wachsamkeit wie auch die Spannungen, die es damals in unserer Sektion in Großbritannien gab, ausgeschlachtet. Diese Lage hatte zur Bildung von zwei entgegengesetzten Clans in dieser Sektion geführt, mit der Folge der Blockierung der Arbeit und dem Austritt der Hälfte der Mitglieder in dieser Sektion sowie Austritten in anderen Sektionen. Chenier war im Sept. 1981 aus der IKS ausgeschlossen worden, und wir hatten damals in unserer Presse ein Kommuniqué mit einer Warnung vor ihm an das proletarische politische Milieu veröffentlicht, da es sich um ein ‘undurchsichtiges und verdächtiges’ Element handelt. Kurz danach begann Chenier eine Karriere in den Gewerkschaften, der Sozialistischen Partei und dem Staatsapparat, für den er wahrscheinlich schon seit langem arbeitete.

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Organisation [64]

11. Kongress: Resolution zur internationalen Situation

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1) Das Begreifen des historisch zeitlich begrenzten Charakters der kapitalistischen Produktionsform, der Unüberwindbarkeit der Krise des Systems ist für die Kommunisten die felsenfeste Grundlage, auf der wir die revolutionäre Perspektive des Kampfes der Arbeiterklasse aufbauen. Deshalb stellen alle Versuche, so wie sie heute die Bourgeoisie und ihre Fürsprecher betreiben, zu verbreiten, die Weltwirtschaft sei dabei, ‘die Krise zu überwinden’, oder daß einige ‘Schwellenländer’  anstelle der alten, am Boden liegenden Wirtschaftsbereiche treten könnten, einen klaren Angriff gegen das Bewußtsein der Arbeiterklasse dar.

Das Scheitern der kapitalistischen Weltwirtschaft

2) Die offiziellen Reden über ‘den Wiederaufschwung’ machen ein großes Aufheben über die Entwicklung der Industrieproduktion oder das Ansteigen der Profite der Unternehmen. Während es in der Tat in den angelsächsischen Ländern solch eine Entwicklung gegeben hat, müssen wir sofort die Grundlagen dieser Entwicklung aufzeigen:

- wenn Firmen jetzt wieder davon reden, daß sie erneut Profite machen, insbesondere große Firmen, dann weil sie vor allem Geld bei Spekulationsgeschäften verdient haben. Dem steht ein erneutes Anschwellen der öffentlichen Verschuldung gegenüber sowie ein Absägen der ‘toten Äste’ in vielen Firmen, d.h. ein Überbordwerfen der am wenigsten produktiven Bereiche;

- der Fortschritt der industriellen Produktion ist zum Großteil auf eine bedeutsame Steigerung der Arbeitsproduktivität zurückzuführen, hinter der der massive Einsatz von Automation und Informatik steckt.

Deshalb besteht eine der Haupteigenschaften dieses ‘Wiederaufschwungs’ darin, daß er keine neuen Arbeitsplätze schafft oder die Arbeitslosigkeit in bedeutendem Maße zurückdrängt. Prekäre Arbeit hat sich weiter ausgedehnt, denn das Kapital achtet ständig darauf, wann immer notwendig, überflüssige Arbeitskräfte auf die Straße schmeißen zu können.

3) Während die Arbeitslosigkeit vor allem einen Angriff gegen die Arbeiterklasse und einen brutalen Faktor der Entfaltung der Armut und des Ausschlusses aus der Gesellschaft darstellt, legt die Arbeitslosigkeit auch das Scheitern des Kapitalismus bloß. Das Kapital lebt von der Ausbeutung der lebendigen Arbeit: dazu gehört ebenso die Brachlegung ganzer Industriebereiche, und daß  immer größere Teile der Arbeiterklasse arbeitslos werden. All das stellt eine Selbstverstümmelung des Kapitals dar. Es zeigt das endgültige Scheitern der kapitalistischen Produktionsweise auf, dessen historische Funktion gerade darin bestand, die Lohnarbeit weltweit auszudehnen. Dieser Bankrott des Kapitalismus äußert sich auch durch die dramatische Verschuldung der Staaten, die in den letzten Jahren erneut angestiegen ist: zwischen 1989 und 1994 ist die öffentliche Verschuldung von 53% auf 65% des BIP der USA, von 57% auf 73% in Europa angestiegen, in Belgien erreicht sie gar 142%. Tatsächlich sind die kapitalistischen Staaten zahlungsunfähig geworden. Wenn sie den gleichen Gesetzen unterworfen wären wie die Privatkapitalisten, hätten sie schon längst Pleite anmelden müssen. Diese Situation spiegelt nur die Tatsache wider, daß der Staatskapitalismus die Reaktion des Systems auf dessen Sackgasse darstellt; aber diese Antwort ist keinesfalls eine Lösung und sie kann auch nicht ewig von Bestand sein.

4) Die oft zweistelligen Wachstumsraten der berühmten ‘Schwellenländer’ widerlegen keinesfalls das allgemeine Scheitern der Weltwirtschaft. Diese Wachstumszahlen sind auf einen großen Kapitalstrom infolge unglaublich billiger Lohnkosten zurückzuführen, was die Bourgeoisie beschämt ‘Verlagerung’ von Produktionsstätten nennt. Das bedeutet, daß diese wirtschaftliche Entwicklung die Produktion der am meisten fortgeschrittenen Länder nur negativ beeinflussen kann; und so werden sich diese Staaten wiederum gegen die ‘unfairen Handelspraktiken der Schwellenländer’ wehren. Darüber hinaus steckt hinter den spektakulären Leistungen oft ein Verfall ganzer Wirtschaftsbereiche dieser Länder: hinter dem ‘Wirtschaftswunder’ Chinas stecken mehr als 250 Mio. Arbeitslose im Jahre 2.000. Der neulich aufgetretene Finanzkrach bei einem anderen Modellfall, ‘Mexiko’, dessen Währung mehr als die Hälfte ihres Wertes von heute auf morgen verlor, und eine dringende Finanzspritze von nahezu 50 Mrd. Dollar an Sofortkrediten erforderlich machte (bei weitem die größte ‘Rettungsoperation’ in der Geschichte des Kapitalismus), faßt die Wirklichkeit des Wunders zusammen, das sich hinter vielen ‘Schwellenländern’ der 3. Welt verbirgt. Die ‘Schwellenländer’ sind nicht der neue Hoffnungsträger der Weltwirtschaft. Sie sind nur der, wenn auch zerbrechliche und verrückte Ausdruck eines wahnsinnigen Systems. Diese Wirklichkeit wird durch die Lage in Osteuropa nicht widerlegt, denn Osteuropa sollte ja unter dem Glanz des Liberalismus aufblühen. Während einige Länder (wie Polen) es bislang geschafft haben, das Schlimmste zu verhindern, ist das Chaos, das sich in Rußland breitgemacht hat (die Produktion ist um mehr als 30% in den letzten beiden Jahren gefallen, mehr als 2.000% Inflation in der gleichen Zeit), ein Beweis dafür, wie sehr die Reden, die seit 1989 gehalten wurden, nur Lügen waren. Die Lage in der russischen Wirtschaft ist dermaßen katastrophal, daß die Mafia, die einen großen Teil des Räderwerks kontrolliert, nicht als Parasit auftritt, wie in vielen westeuropäischen Ländern, sondern als ein Stützpfeiler, der ein Mindestmaß an Stabilität mit einbringt.

5) Schließlich führt der potentielle Bankrott des Kapitalismus, die Tatsache, daß er nicht endlos lange leben kann, indem er ständig nur Wechsel auf die Zukunft ausstellt, und die allgemeine und endgültige Sättigung der Märkte durch eine Flucht in die Verschuldung zu umgehen versucht, zu immer größeren Bedrohungen für das gesamte internationale Finanzsystem. Die durch den Bankrott der britischen Barings Bank hervorgerufene Aufregung, als sich ein ‘golden boy’ in der Währungsakrobatik verspekuliert hatte, sowie die Angst, die nach der Ankündigung der Krise des mexikanischen Pesos folgte, die in keinem Verhältnis zum Gewicht der mexikanischen Wirtschaft in der Weltwirtschaft stand, sind unleugbare Indizien der wirklichen Angst, von der die herrschende Klasse gepackt wird in Anbetracht der Perspektive einer ‘wirklich weltweiten Katastrophe’ ihrer Finanzen - wie es der Direktor des Internationalen Währungsfonds formulierte. Aber dieser Finanzkrach ist nichts anderes als eine Bloßlegung der Katastrophe der gesamten kapitalistischen Produktionsform selber, die die ganze Welt in immer tiefergreifende Erschütterungen in der Geschichte reinreißt.

Zuspitzung des weltweiten Chaos und der imperialistischen Zusammenstösse

6) Die Bühne, auf der diese Erschütterungen am deutlichsten zum Ausdruck kamen, sind die imperialistischen Zusammenstöße. Es sind noch keine 5 Jahre seit dem Zusammenbruch des Ostblocks vergangen, seit den Versprechungen einer ‘neuen Weltordnung’, die von den Führern der größten westlichen Industriestaaten abgegeben worden, und schon ist das Chaos in den Beziehungen zwischen den Staaten so offensichtlich geworden. Obgleich sie sich auf der Androhung einer furchtbaren Konfrontation zwischen den Atommächten stützte, und obgleich ihre beiden Supermächte ständig durch Stellvertreterkriege aufeinanderprallten, enthielt die ‘Ordnung von Jalta’ dennoch ein gewisses Element von ‘Ordnung’. Weil die Möglichkeit eines neuen Weltkrieges nicht gegeben war, da die Arbeiterklasse in den zentralen Ländern nicht mobilisiert werden konnte, mußten die beiden Weltgendarmen die imperialistischen Zusammenstöße innerhalb eines ‘akzeptablen’ Rahmens beschränken. Sie mußten insbesondere vermeiden, daß das Chaos und Zerstörung in den fortgeschrittenen Ländern zu starke Ausmaße annahm, vor allem in Europa, dem Schauplatz zweier Weltkriege. Diese Rahmenbedingungen sind jetzt zusammengebrochen. Mit den blutigen Zusammenstößen im ehemaligen Jugoslawien ist Europa nicht mehr ein ‘unangetastetes Gebiet. Gleichzeitig haben diese Konfrontationen gezeigt, wie schwierig es ist, ein neues ‘Gleichgewicht’, eine neue ‘Weltordnung’ als Nachfolge des Jalta-Abkommens zu errichten.

7) Während der Zusammenbruch des Ostblocks zum Großteil unvorhersehbar war, traf das nicht zu auf das Verschwinden des westlichen rivalisierenden Blocks. Man brauchte nichts vom Marxismus zu verstehen (und Kautskys Theorie des ‘Superimperialismus’ zu folgen, die von den Revolutionären im 1. Weltkrieg widerlegt wurde), um zu erkennen, daß ein einziger Block nicht allein bestehen konnte. Alle Bourgeoisien sind grundsätzlich untereinander Rivalen. Man kann dies deutlich im Handel sehen, wo ‘der Krieg eines jeden gegen jeden’ vorherrscht. Diplomatische und militärische Allianzen sind nichts anderes als eine Verdeutlichung der Tatsache, daß die Bourgeoisie keine Möglichkeit hat, ihre strategischen Interessen alleine gegen andere durchzusetzen. Der gemeinsame Gegner ist das einzige bindende Element solcher Allianzen und keinesfalls die ‘Freundschaft zwischen den Völkern’. Wir können heute sehen, wie unverbindlich und unehrlich solche Formeln sind, da die Feinde von gestern (wie beispielsweise Rußland und die USA) plötzlich zu einer neuen ‘Freundschaft’ gefunden haben und jahrzehntelange ‘Freundschaften’ (wie zwischen Deutschland und den USA) werden jetzt durch Streit untereinander abgelöst.

Während die Ereignisse von 1989 das Ende der Spaltung der Welt als ein Ergebnis des 2. Weltkrieges mit sich brachten, wodurch Rußland endgültig nicht mehr Lage ist, einen imperialistischen Block zu führen, haben die Ereignisse seit 1989 die Tendenz hervorgebracht, daß sich neue imperialistische Konstellationen entwickeln. Während seine Wirtschaftsmacht und seine geographische Stellung Deutschland dazu auserwählt, als einziges Land die Nachfolge Rußlands anzutreten, die Rolle eines möglichen zukünftigen Blockgegners gegen die USA  zu übernehmen, sind die militärischen Voraussetzungen, die Deutschland solch eine Ambition durchzusetzen erlaubten, bei weitem noch nicht erfüllt. Und weil es noch keine neuen imperialistischen Bündnisse gibt, die an die Stelle der 1989 zerstörten Bündnisse treten könnten, wird die Welt aufgrund der noch nie erreichten Tragweite und Tiefe der Wirtschaftskrise, welche die militärischen Spannungen nach dem Motto ‘jeder für sich’ anschwellen läßt, von einem Chaos erschüttert, das den allgemeinen Zerfall der kapitalistischen Produktionsweise noch mehr zuspitzt.

8) Die Lage, die durch das Ende der beiden Blöcke des ‘kalten Krieges’ entstanden ist, wird somit durch zwei widersprüchliche Tendenzen geprägt:

- auf der einen Seite Chaos, Instabilität bei den Allianzen zwischen den Staaten,

- auf der anderen Seite gibt es den Prozeß des Aufbaus von zwei neuen Blöcken. Diese ergänzen sich jedoch gegenseitig, da die zweite Tendenz die erste nur zuspitzen kann. Die Erfahrung aus den letzten 3 Jahren verdeutlicht dies:

* die Krise und der Golfkrieg 1990-91, die von den USA ausgelöst wurde, waren ein Teil eines Versuches des US-Gendarmen, seine Vorherrschaft über die ehemaligen Verbündeten aus der Zeit des kalten Krieges aufrechtzuerhalten. Diese Vorherrschaft wird ständig von den früheren Verbündeten infragegestellt, nachdem die sowjetische Bedrohung nicht mehr besteht.

* der Krieg im ehemaligen Jugoslawien ist das direkte Ergebnis der neuen deutschen Ambitionen. Deutschland war der Drahtzieher der Loslösung Sloweniens und Kroatiens von Jugoslawien, wodurch das Pulverfaß auf dem Balkan in Brand geriet.

*die Fortsetzung dieses Krieges sät Zwietracht im deutsch-französischen Verhältnis, das die gemeinsame Führung der Europäischen Union übernommen hatte (die der erste Eckpfeiler für den Aufbau eines potentiellen neuen imperialistischen Blockes darstellt), und diese Zwietracht entsteht auch im englisch-amerikanischen Verhältnis, das das älteste und treueste Bündnis ist, das es in diesem Jahrhundert gegeben hat.

9) Mehr noch als das Hickhack zwischen dem französischen Hahn und dem deutschen Adler zeigt die gegenwärtige mangelnde ‘Treue’ zwischen England und Uncle Sam den Grad an Chaos auf, von dem heute die internationalen Beziehungen geprägt werden. Während die britische Bourgeoisie nach 1989 sich anfangs als  treueste Verbündete der amerikanischen Bourgeoisie erwies, insbesondere während des Golfkriegs, waren es die sehr mageren Vorteile, die aus dieser Treue entstanden, sowie die Verteidigung ihrer spezifischen Interessen am Mittelmeer und auf dem Balkan, wo sie eine pro-serbische Politik verfolgte, die sie dazu führten, sich von dem amerikanischen Verbündeten beträchtlich zu entfernen. Seitdem hat die britische Bourgeoisie systematisch die Politik der USA, Bosnien zu unterstützen, sabotiert. Dank dieser Politik hat es die britische Bourgeoisie geschafft, eine solide taktische Allianz mit der französischen Bourgeoisie zu errichten, mit dem Ziel, die Unstimmigkeiten zwischen dem deutsch-französischen Tandem weiter zu vertiefen. Die französische Bourgeoisie steht dieser Vorgehensweise positiv gegenüber, weil die wachsende Macht Deutschlands sie beunruhigt. Diese neue Situation wird zunehmend durch eine Intensivierung der militärischen Zusammenarbeit zwischen der britischen und französischen Bourgeoisie verdeutlicht, z.B. die vorgesehene Aufstellung gemeinsamer Luftwaffenkampfverbände und vor allem mit dem Abkommen, eine gemeine inter-afrikanische Interventionstruppe aufzubauen, die ‘in Afrika den Frieden bewahren und Krisen vermeiden’ soll. Damit hat Großbritannien eine spektakuläre Wende in seiner Haltung nach der Unterstützung der Politik der USA in Ruanda vollzogen, die darauf abzielte, den französischen Einfluß in diesem Land zu reduzieren.

10) Diese Entwicklung der Haltung Großbritanniens gegenüber seinem Verbündeten, dessen Unzufriedenheit besonders stark am 17. März 1995 zum Ausdruck gebracht wurde, als Clinton den Führer der Sinn Fein Gerry Adams empfing, ist eines der bemerkenswertesten Ereignisse in der letzten Zeit. Dies offenbart das Ausmaß der Niederlage, die die USA durch den Gang der Dinge im ehemaligen Jugoslawien haben hinnehmen müssen, wo die direkte Besetzung des Terrains durch die britische und französische Armee in Gestalt der UNPROFOR stark dazu beigetragen hat, daß die Versuche der USA, in der Region mit Hilfe des bosnischen Verbündeten Fuß zu fassen, vereitelt wurden.

Es fällt auf, daß die erste Weltmacht auf immer mehr Schwierigkeiten stößt, ihre Rolle als weltweiter Gendarm wahrzunehmen. Diese Rolle wird immer weniger von den anderen Bourgeoisien unterstützt; die Lage ist nicht mehr wie früher, als die von der Sowjetunion ausgehende Bedrohung sie zwang, sich den Befehlen Washingtons zu unterwerfen. Es gibt gegenwärtig eine ernsthafte Schwächung, gar eine Krise der amerikanischen Führung, die überall auf der Welt zu sehen ist, und von dem der erbärmliche Abzug der GI’s aus Somalia zwei Jahre nach ihrem in den Medien groß herausgeputzten Einmarsch ein entsprechendes Bild liefert. Die Führungskrise der USA liefert die Erklärung dafür, weshalb andere Mächte in den US-amerikanischen Hinterhof nach Lateinamerika vorgestoßen sind:

- der Versuch der spanischen und französischen Bourgeoisie, einen ‘demokratischen Übergang’ in Kuba mit Castro zu fördern und nicht ohne ihn, wie Uncle Sam es gerne hätte.

- die Annäherung der peruanischen Bourgeoisie an Japan, die durch die Wiederwahl Fujimoris bestätigt wurde.

- die Unterstützung der Bewegung der zapatistischen Guerilla in Mexiko, durch die europäische Bourgeoisie, insbesondere seitens der Kirche.

11) Diese ernsthafte Schwächung der amerikanischen Führung kommt durch die Tatsache zum Vorschein, daß die vorherrschende Tendenz gegenwärtig nicht die einer neuen Blockbildung ist, sondern  ‘jeder kämpft für sich’. Für die erste Weltmacht, mit einer überwältigenden militärischen Überlegenheit ausgestattet, ist es viel schwerer, die durch allgemeine Instabilität geprägte Lage zu beherrschen, wo es überall nur zerbrechliche Allianzen gibt, als zu einer Zeit, wo es eine obligatorische Disziplin seitens der Staaten gab, in Anbetracht der Bedrohung durch große imperialistische Mächte und die Gefahr einer atomaren Vernichtung. In solch einer Situation der Instabilität ist es für jedes Land einfacher, für Unruhe zu sorgen und dem Gegner Ärger zu bereiten, die Bündnisse zu untergraben, die es bedrohen, als selbst solide Bündnisse aufzubauen und für Stabilität im eigenen Herrschaftsgebiet zu sorgen. Solch eine Situation fördert natürlich die Machenschaften zweitrangiger Mächte, daß es immer einfacher ist, Unruhe zu stiften als für Stabilität zu sorgen. Dies wird noch durch die Tatsache verstärkt, daß die kapitalistische Gesellschaft  immer mehr zerfällt. Deshalb werden die USA noch viel stärker diese Politik betreiben müssen. So können wir zum Beispiel die US-amerikanische Unterstützung für die neulich von der Türkei durchgeführte Offensive gegen die kurdischen Nationalisten im Nordirak erklären. Diese Offensive wurde vom traditionellen Verbündeten der Türkei, Deutschland, als eine Provokation aufgefaßt und verurteilt. Dabei handelt es sich nicht um ein ‘Ende des Bündnisses’ zwischen Deutschland und der Türkei, sondern um einen (großen) Knüppel, der diesem Bündnis in die Beine geworfen wurde und wodurch die Bedeutung der Türkei für die zwei imperialistischen Paten deutlich wurde. Diese Situation kommt auch dadurch zum Vorschein, daß die USA in einem Land wie Algerien zum Beispiel die gleichen Waffen einsetzen wie Ghaddafi oder Khomeini: Unterstützung des Terrorismus und der islamischen Fundamentalisten.  Jedoch gibt es bei der jeweiligen Praxis der Destabilisierung der Positionen der anderen durch die USA und die Rivalen keine Gleichheit. Während die US-Diplomatie es sich leisten kann, in den innenpolitischen Auseinandersetzungen in Ländern wie Italien einzugreifen (Unterstützung Berlusconis), Spanien (der GAL-Skandal wurde von den USA eingefädelt), Belgien (die Augusta-Affäre) oder Großbritannien (die Opposition gegen Major seitens der ‘Euroskeptiker’), trifft das Gegenteil nicht zu. So können die Probleme, die innerhalb der US-Bourgeoisie aufgrund des diplomatischen Scheiterns oder in den internen Debatten um umstrittene strategische Entscheidungen (z.B. um ihr Bündnis mit Rußland) auftauchen, nicht auf die gleiche Ebene gestellt werden wie die politischen Erschütterungen, die in anderen Ländern auftreten. So waren z.B. die Unstimmigkeiten anläßlich des Einsatzes von US-Truppen in Haiti hauptsächlich das Ergebnis einer Arbeitsteilung zwischen bürgerlichen Flügeln und nicht wirkliche Spaltungen innerhalb der US-Bourgeoisie.

12) Trotz ihrer gewaltigen militärischen Überlegenheit und der Tatsache, daß dieser Vorteil nicht mehr im gleichen Maße zum Einsatz kommen kann wie früher, trotz der Tatsache, daß aufgrund der Haushaltsdefizite die USA gezwungen waren, ihre Militärausgaben zu reduzieren, haben die USA die Modernisierung ihrer Rüstung nicht aufgegeben. Es werden immer neue, noch ausgefeiltere Waffensysteme entwickelt. Insbesondere wird das ‘Star Wars’ Projekt fortgesetzt. Der Einsatz oder die Androhung von schlichter Gewalt ist jetzt das Hauptmittel der USA, um die Durchsetzung ihrer Autorität sicherzustellen (obgleich sie nicht zögern, die wirtschaftliche Waffe einzusetzen, Druck auf internationale Institutionen wie die Welthandelsorganisation, Handelssanktionen usw.). Die Tatsache, daß diese Waffe sich als machtlos erwiesen hat, oder gar als Faktor herausgestellt hat, der das Chaos erhöht, wie nach dem Golfkrieg und den Ereignissen in Somalia deutlich wurde, kann nur die unüberwindbare Krise der kapitalistischen Welt bestätigen. Die Aufrüstung von Ländern wie China und Japan, die zur Zeit stattfindet, und die als Rivale der USA in Südostasien und im Pazifik auftreten, können die USA nur dazu treiben, ihre Waffen noch mehr weiterzuentwickeln und sie einzusetzen.

13) Das blutige Chaos bei den imperialistischen Beziehungen, das die Weltlage prägt, ist besonders stark entfaltet in den peripheren Ländern, aber das Beispiel des früheren Jugoslawien, das nur einige Hundert Kilometer von den großen Industriezentren Europas entfernt liegt, zeigt, daß dieses Chaos sich auch dem Zentrum Europas immer mehr nähert. Den Zehntausenden Toten in _Algerien während der letzten Jahre, der Million Toten in Ruanda müssen wir die Hunderttausenden Toten in Kroatien und Bosnien hinzufügen. Tatsächlich gibt es jetzt Dutzende von blutigen Zusammenstößen in Afrika, Asien und Lateinamerika. Sie alle sind Teil dieses unbeschreiblichen Chaos, das die verfaulende kapitalistische Welt hervorbringt. So bringt die mehr oder weniger allgemeine Komplizenschaft gegenüber den Massakern in Tschetschenien, die dort von der russischen Armee verübt wurden, welche verzweifelt versucht, das Auseinanderbrechen Rußlands nach dem Auseinanderbrechen der alten UdSSR zu verhindern, die Angst der herrschenden Klasse vor dem wachsenden Chaos und zum Ausdruck. Wir müssen es deutlich sagen: nur der Sturz des Kapitalismus durch die Arbeiterklasse kann verhindern, daß dieses wachsende Chaos zur Zerstörung der Menschheit führt.

Die Perspektive des Wiedererstarkens des Klassenkampfes

14) Mehr als je zuvor stellt der Kampf des Proletariats die einzige Hoffnung für die Zukunft der Menschheit dar. Diese Kämpfe, die Ende der 60er Jahre mit großer Wucht ausgebrochen waren und die schrecklichste Konterrevolution, unter der die Arbeiterklasse zu leiden gehabt hatte, beendeten, sind in einen umfangreichen Rückfluß nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime, den damit verbundenen ideologischen Kampagnen und Ereignissen (Golfkrieg, Balkankrieg usw.) eingetreten. Der massive Rückfluß war auf zwei Ebenen deutlich zu spüren: auf der Ebene der Kampfbereitschaft und des Klassenbewußtseins, ohne daß dies jedoch gleichzeitig - wie die IKS schon damals hervorhob - den historischen Kurs hin zu Klassenzusammenstößen umgeschmissen hat. Die in den letzten Jahren vom Proletariat geführten Kämpfe haben dies bestätigt. Sie haben insbesondere seit 1992 die Fähigkeit des Proletariats unter Beweis gestellt, den Weg des Klassenkampfes wieder einzuschlagen, womit bestätigt wurde, daß der historische Kurs nicht umgekehrt wurde. Diese Kämpfe haben jedoch auch die großen Schwierigkeiten der Klasse aufgrund der Tiefe und des Ausmaßes des Rückflusses aufgezeigt. Die Arbeiterkämpfe entwickeln sich mit Fort- und Rückschritten in einer auf- und ab Bewegung.

15) Die massiven Kämpfe in Italien im Herbst 1992, 1993 in Deutschland und viele andere Beispiele haben das brachliegende Kampfpotential deutlich werden lassen, das in der Arbeiterklasse heranreift. Seitdem hat man diese Kampfbereitschaft langsam aufbrechen sehen, wiederum mit langen Ruhepausen, aber sie ist seitdem nicht verschwunden. Die massiven Mobilisierungen im Herbst 1994 in Italien, die Reihe von Streiks im öffentlichen Dienst im Frühjahr 1995 in Frankreich sind unter vielen anderen Belegen ein Ausdruck dieser Kampfbereitschaft. Aber man muß sofort darauf hinweisen, daß die Tendenz hin zur Infragestellung der Gewerkschaften, die 1992 in Italien zu sehen gewesen war, seitdem nicht bestätigt wurde; im Gegenteil: die Massendemonstration 1994 in Rom war ein Meisterwerk gewerkschaftlicher Kontrolle gewesen. Die Tendenz zur spontanen Vereinigung, die (zwar noch auf embryonale Weise) erst in Ansätzen im Herbst 1993 an der Ruhr in Deutschland zu sehen war, ist seitdem auch großen gewerkschaftlichen Manövern gewichen, wie der ‘Streik’ im Metallbereich Anfang 1995 bewies, der voll von der Bourgeoisie kontrolliert wurde. Die neulich in Frankreich stattgefundenen Streiks, die tatsächlich gewerkschaftliche Aktionstage sind, waren ein Erfolg für die Gewerkschaften.

16) Neben der Tiefe des Rückflusses seit 1989 sind die Schwierigkeiten, vor denen die Arbeiterklasse steht, um auf ihrem Boden voranzuschreiten, zurückzuführen auf eine Reihe von zusätzlichen Hindernissen, die die Feindesklasse aufgestellt und geschickt ausgenützt hat. Diese Schwierigkeiten müssen im Zusammenhang mit den negativen Auswirkungen der Phase des Zerfalls des Kapitalismus auf das Bewußtsein gesehen werden, wodurch das Selbstvertrauen der Arbeiter und auch die  Perspektive ihrer Kämpfe angekratzt wird. Die Massenarbeitslosigkeit, mittlerweile zu einem ständigen Phänomen geworden, zeigt zwar unleugbar den Bankrott des Kapitalismus auf, aber sie bringt auch eine starke Demoralisierung, eine starke Hoffnungslosigkeit unter vielen Arbeitern mit sich, von denen viele ins Abseits gedrängt werden und gar ins Lumpenproletariat überwechseln. Die Arbeitslosigkeit ist ebenfalls ein Mittel zur Erpressung und Unterdrückung durch die Bourgeoisie gegenüber den Arbeitern, die noch eine Beschäftigung haben. Das Gerede vom ‘Aufschwung’ und die wenigen positiven Ergebnisse (gemessen am Profit und Wachstum) in den Industriestaaten werden ausgeschlachtet, um den Gewerkschaften mit ihren Reden Gehör zu verschaffen, die sagen: ‘Die Arbeitgeber können zahlen, sie haben das Geld!’. Dieses Gerede ist deshalb so gefährlich, weil es die reformistischen Illusionen der Arbeiter verstärkt, und die Arbeiter damit um so anfälliger werden gegenüber den gewerkschaftlichen Kontrollversuchen. Auch steckt dahinter die Idee, ‘wenn die Bosse nicht zahlen können’, lohnt es sich nicht zu kämpfen, was wiederum ein zusätzlicher Spaltungsfaktor ist (neben der Spaltung zwischen Arbeitslosen und Beschäftigten) zwischen den Beschäftigten, die in Branchen arbeiten, die von der Krise unterschiedlich erfaßt sind.

17) Diese Hindernisse haben die verstärkte Kontrolle der Gewerkschaften über die Kampfbereitschaft und deren Kanalisierung in von ihnen vollständig kontrollierten ‘Aktionen’ ermöglicht. Aber die gegenwärtigen Manöver der Gewerkschaften sind auch und vor allem ein vorbeugendes Mittel: sie müssen ihre Kontrolle über die Arbeiter ausdehnen, bevor diese ihre Kampfbereitschaft noch stärker entfalten, denn diese Kampfbereitschaft wird aufgrund der immer härteren Angriffe der Krise noch zunehmen. Auch müssen wir den veränderten Ton in den Reden einiger Teile der herrschenden Klasse sehen. Während in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch des Ostens die Kampagne mit dem Thema ‘der Kommunismus ist tot’ und ‘die Revolution ist unmöglich’ vorherrschte, hört man heute teilweise wieder ‘Lobreden’ auf den ‘Marxismus’, die ‘Revolution’, den ‘Kommunismus’ von den Vertretern der extremen politischen Linken natürlich aber auch von anderen Kreisen. Es handelt sich auch deshalb um eine vorbeugende Maßnahme seitens der Bourgeoisie, die dazu dient, die Diskussionen und das Nachdenken in der Klasse abzuwürgen, obgleich in Anbetracht des immer offener werdenden Scheiterns der kapitalistischen Produktionsform dieses Nachdenken immer mehr zunehmen wird. Die Revolutionäre müssen in ihren Interventionen  die heimtückischen Manöver der Gewerkschaften wie auch die angeblich ‘revolutionären’ Reden entblößen. Sie müssen die wirkliche Perspektive der proletarischen Revolution und des Kommunismus aufzeigen als den einzigen Ausweg zur Rettung der Menschheit und als Endergebnis der Arbeiterkämpfe.

IKS, April 1995.

 

Theoretische Fragen: 

  • Arbeiterklasse [22]

20 JAHRE INTERNATIONALE KOMMUNISTISCHE STRÖMUNG

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20 JAHRE INTERNATIONALE KOMMUNISTISCHE STRÖMUNG

 

Die Internationale Kommunistische Strömung wurde vor 20 Jahren, im Januar 1975, gegründet. Dies ist für eine internationale proletarische Organisation eine beträchtlich lange Dauer, wenn man bedenkt, dass die drei Internationalen, die Internationale Arbeiterassoziation 12 Jahre (1864-1876), die Sozialistische Internationale 25 Jahre (1889-1914) und die Kommunistische Internationale 9 Jahre (1919-1928) bestanden. Natürlich sagen wir nicht, dass unsere Organisation eine vergleichbare Rolle wie die drei Arbeiterinternationalen hat. Trotzdem gehört unsere 20jährige Erfahrung ganz zur Erfahrung der Arbeiterklasse und ist genauso deren Ergebnis wie die drei Internationalen und die anderen Organisationen, die heute proletarische Positionen verteidigen. In diesem Sinne ist es unsere Aufgabe  - und dieser Jahrestag gibt uns die Gelegenheit dazu -  unserer Klasse einige Lehren zu vermitteln, die wir aus diesem zwei Jahrzehnte dauernden Kampf gezogen haben.

 

Vergleicht man die IKS mit den Organisationen, welche die Geschichte der Arbeiterbewegung hervorgebracht hat, im besonderen mit den drei Internationalen, dann sticht uns sofort folgendes ins Auge: Während diese Organisationen Millionen, ja gar Dutzende von Millionen von Arbeitern organisierten oder beeinflussten, so ist die IKS weltweit nur bei einer geringen Minderheit in der Arbeiterklasse überhaupt bekannt. Diese Situation, welche heute auch das Los all der anderen revolutionären Organisationen ist, sollte uns eigentlich zu Bescheidenheit veranlassen. Trotzdem ist dies für uns mitnichten ein Grund, unsere Arbeit zu unterschätzen oder uns entmutigen zu lassen. Die geschichtliche Erfahrung des Proletariats in den letzten 150 Jahren, seit es als aktive Klasse auf die Bühne der sozialen Auseinandersetzungen getreten ist, zeigt uns, dass die Perioden, in denen die revolutionären Positionen einen wirklichen Einfluss in der Arbeiterklasse ausüben konnten, relativ beschränkt waren. Und es ist übrigens genau diese Realität, auf die sich die bürgerlichen Ideologen berufen, um zu behaupten, die proletarische Revolution sei eine reine Utopie, da die Mehrheit der Arbeiter nicht glaube, dass eine Revolution notwendig und möglich sei. Aber dieses Phänomen des oft Lange Zeit geringfügigen Einflusses revolutionärer Positionen im Proletariat, welches seit der Existenz von Arbeiter-Massenparteien immer vorhanden war, wie am Ende des letzten und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, verstärkte sich nach der Niederlage der revolutionären Welle, welche auf den Ersten Weltkrieg folgte.

 

Nachdem die Arbeiterklasse die Bourgeoisie weltweit hatte erzittern lassen, rächte sich diese, indem sie die Arbeiter der längsten und gründlichsten je in ihrer Geschichte erlittenen Konterrevolution unterwarf. Und es waren genau die Organisationen, die sich die Arbeiterklasse für ihren Kampf gegeben hatte, die Gewerkschaften sowie die sozialistischen und kommunistischen Parteien, welche die Speerspitze der Konterrevolution bildeten, als sie ins Lager der Bourgeoisie überwechselten. Die sozialistischen Parteien hatten sich schon vorher mehrheitlich in den Dienst der Bourgeoisie gestellt, riefen die Arbeiter während des Krieges zur "nationalen Einheit" auf und beteiligten sich gar in verschiedenen Ländern an den Regierungen, welche die imperialistische Schlächterei eröffneten. Als sich dann die revolutionäre Welle in der Folge der Oktoberrevolution 1917 in Russland entfaltete, machten sich dieselben Parteien zu Henkersknechten der Bourgeoisie: so zum Beispiel mit der entschlossenen Sabotage der Kampfbewegung 1920 in Italien oder 1919 in Deutschland mit den Massakern an Arbeitern und Revolutionären als "Bluthunde" im Dienst der herrschenden Klasse. Später gingen die Kommunistischen Parteien, die sich formiert um jene Fraktionen der sozialdemokratischen Parteien, die sich weigerten die imperialistischen Kriegsbemühungen zu unterstützen, und die die Führung in der revolutionären Welle übernahmen und sich in der Kommunistischen Internationalen zusammentaten. Durch die Niederlage der Weltrevolution und die Degenerierung der Revolution in Russland mitgerissen, wechselten sie ins bürgerliche Lager, wo sie während der 30er Jahre im Namen des Antifaschismus und der "Verteidigung des sozialistischen Vaterlandes" zu den erfolgreichsten Anwerbern für den Zweiten Weltkrieg wurden. Nachdem sie schon die Hauptrolle bei der Bildung von "Widerstandsbewegungen" gegen die deutschen und japanischen Besatzungsarmeen gespielt hatten, führten sie ihr schmutziges Handwerk mittels einer eisernen Kontrolle über die Arbeiter in der Wiederaufbauperiode der ruinierten kapitalistischen Wirtschaft fort.

 

Während dieser ganzen Periode nahm der Einfluss, den die "sozialistischen" und "kommunistischen" Parteien in der Arbeiterklasse hatten, die Form eines ideologischen Gefängnisses an, welches das Bewusstsein der Arbeiter erstickte. Sie trieben die Arbeiter in den Chauvinismus, raubten ihnen darüber hinaus jegliche Perspektive zur Überwindung des Kapitalismus, vernebelten diese Perspektive mit der Stärkung der demokratischen Bourgeoisie oder mit der Lüge, dass die kapitalistischen Staaten des Ostblocks die Verkörperung des "Sozialismus" seien. Während dieser "Mitternacht des Jahrhunderts" befanden sich die wirklich kommunistischen Kräfte, die aus der Kommunistischen Internationale ausgeschlossen worden waren, in einer enormen Isolation, wenn sie nicht schon vorher durch stalinistische oder faschistische Agenten der Konterrevolution ausgerottet worden waren. Die Handvoll Genossen, die dem Schiffbruch der Kommunistischen Internationale entgehen konnten, leisteten eine unabdingbare Verteidigungsarbeit der kommunistischen Prinzipien, um damit das zukünftige Wiedererwachen des Proletariates in der Geschichte vorzubereiten. Viele dieser Genossen liessen dabei ihr Leben oder gaben erschöpft auf, als ihre Organisationen, die Fraktionen und Gruppen der kommunistischen Linken, verschwanden oder wurden durch Sklerose handlungsunfähig.

 

Die schreckliche Konterrevolution, welche die Arbeiterklasse nach ihren mächtigen Kämpfen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg niederschlug, dauerte 40 Jahre. Doch als die letzten Flammen des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg erloschen und der Kapitalismus von neuem mit einer offenen ökonomischen Krise konfrontiert war, erhob das Proletariat das Haupt. Mai 68 in Frankreich, der "schleichende Mai" 1969 in Italien, die Kämpfe der polnischen Arbeiter im Winter 1970 und eine ganze Serie von Kämpfen in Europa und auf anderen Kontinenten bedeuteten das Ende der Konterrevolution. Und der beste Beweis für diesen grundlegenden Wechsel des historischen Kurses war das Auftauchen und Heranwachsen von Gruppen in verschiedenen Teilen der Welt, die sich, zwar oft in einer konfusen Art und Weise, in der Tradition und auf den Positionen der Kommunistischen Linken sahen. Die IKS wurde 1975 als eine Umgruppierung einiger solcher Gruppen gegründet, welche durch die historische Wiederbelebung der Arbeiterklasse entstanden waren. Die Tatsache, dass sich die IKS seit damals nicht nur behaupten, sondern auf das Doppelte an territorialen Sektionen vergrössern konnte, ist der beste Beleg für das historische Wiedererwachen des Proletariats, das beste Indiz dafür, dass die Arbeiterklasse nicht geschlagen, und der historische Kurs offen ist für Klassenkonfrontationen. Dies ist die erste Lehre, die es aus 20 Jahren IKS zu ziehen gilt, entgegen der von vielen Gruppierungen der Kommunistischen Linken aufgestellten Behauptung, die Arbeiterklasse habe die Konterrevolution noch nicht überwunden.

 

In der "Internationalen Revue", Nr.40, (engl., franz., span., auf deutsch siehe Internationale Revue Nr.9) haben wir aus Anlass des zehnjährigen Bestehens der IKS schon einige Lehren aus unserer Erfahrung in dieser ersten Periode gezogen. Wir wiederholen sie hier in kurzen Worten, um gewisse Schlussfolgerungen, die wir aus der darauf folgenden Zeit gezogen haben, zu unterstreichen. Doch bevor wir hier eine solche Bilanz ziehen, müssen wir kurz auf die Geschichte der IKS zurückkommen. Für Leser, die den vor zehn Jahren veröffentlichten Artikel nicht kennen, drucken wir hier lange Teile davon, die genau diese Geschichte beschreiben, wieder ab.

 

Das Entstehen eines internationalen Umgruppierungspols

Die "Vorgeschichte" der IKS

"Der erste organisierte Ausdruck unserer Strömung entstand 1964 in Venezuela. Er bestand aus einem kleinen Kern sehr junger Elemente, die anfingen, sich durch Diskussionen mit einem älteren Genossen (es handelt sich um den Genossen Marc, von dem wir später noch sprechen werden) auf Klassenpositionen hinzubewegen. Dieser ältere Genosse besass eine umfangreiche militante Erfahrung aus seiner Tätigkeit in der Kommunistischen Internationale, in den Linkskommunistischen Fraktionen, die am Ende der 20er Jahre aus der Komintern ausgeschlossen worden waren, insbesondere in der Fraktion der Linken der Kommunistischen Partei Italiens. Auch war er Mitglied der Kommunistischen Linke Frankreichs gewesen, die sich 1952 auflöste. Von Anfang an stützte sich diese kleine Gruppe in Venezuela, die zwischen 1964 und 1968 ein Dutzend Nummern der Revue "Internacionalismo" veröffentlichte, auf eine politische Kontinuität mit den Positionen der Kommunistischen Linken und insbesondere der Kommunistischen Linke Frankreichs. Dies kam vor allem durch eine klare Verwerfung der Unterstützung der sogenannten "nationalen Befreiungskämpfe" zum Ausdruck, deren Mythos in diesem lateinamerikanischen Land sehr stark auf Elementen lastete, die sich den Klassenpositionen zu nähern versuchten. Ebenso spiegelte sich dies in einer Öffnungshaltung und Kontaktaufnahme mit anderen kommunistischen Gruppen wieder, eine Eigenschaft, die schon die Internationale Kommunistische Linke vor dem 2. Weltkrieg und auch später die Fraktion der Kommunistischen Linke in Frankreich ausgezeichnet hatte. So versuchte die Gruppe "Internacionalismo" mit der amerikanischen Gruppe "News and Letters" Kontakte und Diskussionen zu entwickeln......, das Gleiche geschah in Europa mit einer Reihe von Gruppen, die Klassenpositionen verteidigten (...) Nach der Abreise mehrerer dieser Elemente nach Frankreich in den Jahren 1967 und 1968 unterbrach diese Gruppe einige Jahre lang ihre Veröffentlichungen, bevor "Internacionalismo" (Neue Serie) 1974 wieder erschien und 1975 zu einem der konstituierenden Bestandteile der IKS wurde.

 

Der zweite organisierte Ausdruck dieser Strömung erschien in Frankreich mit dem Schwung des Generalstreiks vom Mai 1968, der das historische Wiedererstarken des Weltproletariats nach mehr als 40 Jahren Konterrevolution verdeutlichte. In Toulouse entwickelte sich ein kleiner Kern um einen Militanten, der Mitglied von Internacionalismo gewesen war. Dieser Kern nahm aktiv an den lebendigen Diskussionen im Frühjahr 1968 teil, verabschiedete eine "Prinzipienerklärung" im Juni 1968 und veröffentlichte die erste Nummer der "Revue Révolution" Internationale am Ende des gleichen Jahres. Diese Gruppe setzte sofort die Politik "Internacionalismo's" fort, Kontakte und Diskussionen mit den anderen Gruppen des proletarischen Milieus sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene zu suchen (...) Von 1970 an wurden engere Kontakte geknüpft zu zwei Gruppen, die sich trotz des allgemeinen Zerfalls der rätekommunistischen Gruppen, die nach dem Mai 68 entstanden waren, über Wasser hielten: die "Organisation Conseilliste de Clermont-Ferrand" und "Cahiers du Communisme du Conseil" (Marseille). Versuche, mit dem GLAT ("Groupe de Liaison pour l'Action des Travailleures") zu diskutieren, waren fehlgeschlagen, weil diese Gruppe sich immer mehr vom Marxismus entfernte. Dagegen erwies sich die Diskussion mit den beiden erwähnten Gruppen als viel fruchtbarer; nach einer Reihe von Treffen, wo auf systematische Weise die Grundsatzpositionen der Kommunistischen Linke diskutiert wurden, wurde eine Vereinigung dieser Gruppen beschlossen. So entstand eine neue Gruppe aus Révolution Internationale, "Organisation Conseilliste de Clermont-Ferrand" und "Cahiers du Communisme de Conseil" um eine Plattform, welche auf präzisere und detailliertere Weise die Prinzipienerklärung von "Révolution International"e aus dem Jahr 1968 wieder aufgriff. Diese Gruppe veröffentlichte die "Révolution Internationale (Neue Serie)", das "Bulletin d'Etude et de Discussion" und spielte die treibende Kraft bei der Kontaktarbeit und den internationalen Diskussionen in Europa bis zur Gründung der IKS zweieinhalb Jahre später.

 

Auf dem amerikanischen Kontinent hatten die zwischen "Internacionalismo" und "News and Letters" angefangenen Diskussionen ihre Früchte getragen, denn 1970 wurde in New York eine Gruppe auf der Grundlage eines Orientierungstextes gegründet, der die gleichen Grundsatzpositionen wie "Internacionalismo" und "Révolution Internationale" vertrat. Diese Gruppe fing an, "Internationalism" zu veröffentlichen und schlug die gleiche Orientierung bei den Diskussionen mit anderen politischen Gruppen ein. So wurde der Kontakt und die Diskussionen mit Root and Branch aus Boston (eine von rätekommunistischen Ideen inspirierte Gruppe um Paul Mattick) aufrechterhalten, die sich aber nachher als Fehlschlag erwiesen, weil diese Gruppe den Weg zu einem marxologischen Zirkel einschlug. So schickte "Internationalism" 1972 an ca. 20 Gruppen einen Vorschlag, eine internationale Korrespondenz aufzubauen. Darin hiess es:

 

"(...) Nach dem Erwachen der Arbeiterklasse entstanden und entfalteten sich revolutionäre Gruppen, die eine internationale kommunistische Perspektive vertreten. Jedoch wurden die Kontakte und die Korrespondenz zwischen den Gruppen leider vernachlässigt und dem Zufall überlassen. Deshalb schlägt "Internationalism" im Hinblick auf einen regelmässigen und erweiterten Kontakt eine fortlaufende Korrespondenz zwischen Gruppen vor, die eine internationale kommunistische Perspektive vertreten..."

 

In seiner positiven Antwort präzisierte Révolution Internationale : "Wie Ihr stimmen wir darin überein, dass es notwendig ist, dass die Aktivitäten und das Leben unserer Gruppen ebenso solch einen internationalen Charakter haben wie die gegenwärtigen Kämpfe der Arbeiter selber. Deshalb haben wir direkten oder brieflichen Kontakt mit vielen europäischen Gruppen aufgenommen, denen wir direkt Euren Vorschlag geschickt haben (...) Wir meinen, Eure Initiative wird es ermöglichen, den Kreis dieser Kontakte zu erweitern und zumindest sicherstellen, dass wir unsere jeweiligen Positionen besser kennen und verstehen lernen. Wir sind auch der Ansicht, dass die Perspektive einer möglichst internationalen Konferenz die logische Folge des Aufbaus dieser ständigen politischen Korrespondenz ist (...)"

 

In seiner Anwort unterstrich also "Révolution Internationale" die Notwendigkeit, auf die Abhaltung von internationalen Konferenzen der Gruppen der Kommunistischen Linke hinzuarbeiten. Dieser Vorschlag stellt eine Kontinuität der wiederholten Vorschläge von 1968, 69, 71 dar, die an die "Partito Comunista Internazionalista" (Battaglia) gerichtet worden waren, um solche Konferenzen zu organisieren. Damals stellte diese Organisation die beteutendste und ernsthafteste Organisation im Lager der Kommunistischen Linke dar (neben PCI-Programma Comunista, die sich mit ihrer "ausgezeichneten Isolierung" zufrieden gab). Aber diese Vorschläge waren trotz der offenen und brüderlichen Einstellung von Battaglia jedesmal abgelehnt worden...

 

Schliesslich führte die Initiative von "Internationalism" und der Vorschlag von "Révolution Internationale"(R.I.) 1973 und 74 zu einer Reihe von Treffen und Konferenzen in England und Frankreich, in denen eine Klärung und ein Loslösungsprozess stattfand, wobei die englische Gruppe "World Revolution" (die aus einer Spaltung von "Solidarity-London" hervorgegangen war) sich auf die Positionen von R.I. und "Internationalism" hinbewegte und die erste Nummer ihrer Zeitung im Mai 1974 veröffentlichte. Diese Klärung und Herausbildung einer Trennungslinie legten die Grundlagen für die Bildung der IKS im Januar 1975. Während dieser Zeit hatte R.I. ihre Kontakte und Diskussionsarbeit auf internationaler Ebene weitergeführt, nicht nur mit den organisierten Gruppen, sondern auch mit isolierten Lesern unserer Presse und Sympathisanten unserer Organisation. Diese Arbeit hatte die Gründung kleiner Kerne in Spanien und Italien auf der Grundlage dieser gleichen Positionen ermöglicht. Diese Kerne fingen 1974 mit der Veröffentlichung von "Accion Proletaria" und "Rivoluzione Internazionale" an.

 

So waren bei der Konferenz im Januar 1975 "Internacionalismo", "Révolution Internationale", "Internationalism", "World Revolution", "Accion Proletaria" und "Rivoluzione Internazionale" anwesend; sie alle teilten die politischen Orientierungen, die 1964 von "Internacionalismo" entwickelt worden waren. Anwesend waren ebenfalls "Revolutionary Perspectives" (die an den Konferenzen von 1973-74 teilgenommen hatten), die "Revolutionary Workers Group" aus Chicago (mit der R.I.- Internationalism 1974 Diskussionen angefangen hatten) und "Pour une Intervention Communiste" (die die Revue "Jeune Taupe" (Junger Maulwurf) veröffentlichte und aus Genossen bestand, die 1973 R.I. verlassen hatten...). Die Gruppe "Workers Voice", die aktiv an den vorherigen Diskussionskonferenzen teilgenommen hatte, hatte die Einladung zu dieser Konferenz verworfen, weil sie nunmehr davon ausging, dass "R.I.", "World Revolution" usw. bürgerliche Gruppen seien (!) aufgrund der Mehrheitsposition der Genossen dieser Organisationen (...) zur Frage des Staates in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus. Diese Frage stand übrigens auf der Tagesordnung der Januarkonferenz von 1975... Jedoch wurde sie letztlich nicht debattiert, da die Konferenz es vorzog, soviel Zeit und Aufmerksamkeit wie möglich zum damaligen Zeitpunkt wichtigeren Fragen zu widmen: die Analyse der internationalen Situation; die Aufgaben der Revolutionäre; die Organisierung der internationalen Strömung.

 

Schliesslich beschlossen die sechs Gruppen, deren Plattformen auf den gleichen Orientierungen fussten, sich zu einer einzigen internationalen Organisation mit einem internationalen Zentralorgan zu vereinigen und eine Vierteljahreszeitschrift in drei Sprachen - englisch, französich, spanisch- zu veröffentlichen (...)Damit wurde das "Bulletin d'Etudes et de Discussion" von" Révolution Internationale" abgelöst. Die IKS war gegründet. Wie wir in der Einleitung zur ersten Nummer der Révue Internationale schrieben: "Ein grosser Schritt ist soeben vollzogen worden". In der Tat war die Gründung der IKS das Ergebnis einer langen und umfangreichen Kontakt- und Diskussionsarbeit, in der die Positionen der verschiedenen Gruppen diskutiert wurden, welche durch den Wiederaufschwung des Klassenkampfes hervorgebracht worden waren... Aber vor allem schaffte sie die Grundlage für eine noch grössere Arbeit."

 

Die ersten zehn Jahre der IKS: Die Festigung eines internationalen Umgruppierungspoles

"Diese Arbeit haben die Leser unserer Internationalen Revue sowie unserer territorialen Presse seit nunmehr 10 Jahren verfolgen können. All das bestätigt, was wir in der Einleitung zur ersten Revue schrieben: "Viele denken, die Gründung der IKS und die Herausgabe der Internationalen Revue seien eine überstürzte Handlung. Aber man kennt uns genug, um zu wissen, dass wir nichts mit den aktivistischen Schwätzern zu tun haben, deren Aktivitäten nur auf einem vorübergehenden und hochtrabenden Voluntarismus fussen." (1) "(...) Während ihres nunmehr zehnjährigen Bestehens ist die IKS natürlich auf viele Schwierigkeiten gestossen, musste viele Schwächen überwinden, von denen die meisten mit dem Bruch der organischen Kontinuität mit den kommunistischen Organisationen der Vergangenheit, dem Verschwinden oder dem Zerfall der Fraktionen der Linken, die aus der Komintern während deren Degenereszenz hervorgingen, zusammenhängen. Sie musste ebenfalls den gefährlichen Einfluss bekämpfen, der aus dem Zerfall und aus der Revolte in den Schichten der kleinbürgerlichen Intellektuellen herrührt, und der vor allem nach 1968 infolge der Studentenbewegung sehr stark war. Diese Schwierigkeiten und Schwächen sind zum Beispiel durch einige Spaltungen zum Ausdruck gekommen - von denen wir in unserer Presse berichtet haben - sowie durch einige wichtige Umwälzungen wie die von 1981, die ja das ganze revolutionäre Milieu erfassten, und die u.a. zum Verlust der Hälfte der Sektion in Grossbritannien führte. In Anbetracht unserer Schwierigkeiten im Jahre 1981 haben wir eine ausserordentliche Konferenz im Januar 1982 abgehalten, um unsere programmatischen Grundlagen zu bestätigen und zu präzisieren, insbesondere hinsichtlich der Funktion und der Struktur der revolutionären Organisation. Ebenso sind einige Ziele, die wir uns gesteckt hatten, nicht erreicht worden. So blieb die Verbreitung unserer Presse hinter unseren Erwartungen zurück. (...)"

 

"Wenn man jedoch eine globale Bilanz der letzten zehn Jahre zieht, ist diese eindeutig positiv. Insbesondere dann, wenn man sie mit denen anderer kommunistischer Organisationen vergleicht, die 1968 existierten oder danach ins Leben gerufen wurden. So sind die Gruppen der rätekommunistischen Strömung - selbst die, die sich bemüht hatten, sich gegenüber der internationalen Arbeit zu öffnen, wie ICO - entweder verschwunden oder in Lethargie verfallen: GLAT, ICO, die "Situationistische Internationale", der "Spartacusbond", "Root and Branch", PIC, die rätekommunistischen Gruppen in Skandinavien, die Liste ist lang (und nicht vollständig...) Die Organisationen, die sich mit der Italienischen Linken verbunden fühlen, und die sich alle zur "Partei" erklärt haben, sind entweder nicht aus ihrem Provinzialismus herausgekommen, oder sie haben haben sich aufgelöst oder sind linksextreme Gruppen geworden wie "Programme Communiste" ("Kommunistisches Programm" in der BRD (2) oder sie versuchen heute noch das nachzuahmen, was die IKS schon vor zehn Jahren tat, wie das bei der CWO und bei Battaglia Comunista (mit dem BIPR) der Fall ist. Nach dem kartenhausmässigen Zusammenbruch der sogenannten "Internationalen Kommunistischen Partei" , nach dem Scheitern von "Fomento Obrero Revolutionario" (FOR) in den USA (Focus), ist heute die IKS die einzige Organisation, die auch international besteht."

 

"Seit unserer Gründung im Jahre 1975 haben wir nicht nur unsere damals schon bestehenden Sektionen verstärkt, sondern auch neue gegründet. Die Fortsetzung der Arbeit mit den Kontakten und dieDiskussionen auf internationaler Ebene, die Bemühungen um die Umgruppierungsarbeit der Revolutionäre haben die Gründung neuer Sektionen der IKS ermöglicht:

 

- 1975, Gründung der Sektion der IKS in Belgien, die in zwei Sprachen (französisch und flämisch) eine Zeitschrift veröffentlicht, dann die Zeitung" Internationalisme", die die Lücke schliesst, welche nach dem Krieg durch das Verschwinden der belgischen Fraktion der Internationalen Kommunistischen Linke entstanden war.

 

- 1977, Gründung des Kerns in den Niederlanden, der die Veröffentlichung der Zeitung "Wereld Revolutie" in Angriff nimmt. In einem Land mit starker rätekommunistischer Tradition ist dies von besonderer Bedeutung.

 

- 1978, Gründung der Sektion in der BRD, Beginn der Herausgabe der "Internationalen Revue" auf deutsch und im nachfolgenden Jahr der territorialen Zeitung "Weltrevolution". In Anbetracht der Rolle des Proletariats in Deutschland in der Vergangenheit und in der Zukunft ist die Gründung einer kommunistischen Organisation dort ausserordentlich wichtig.

 

- 1980, Gründung der Sektion in Schweden, die die Zeitung "Internationell Revolution" herausbringt (...)."

 

"Wenn wir den Gegensatz zwischen dem relativen Erfolg unserer Aktivitäten und dem Scheitern der anderen Organisationen hervorheben, wollen wir damit unterstreichen, dass unsere Orientierungen während der letzten 20 Jahre (seit 1964) unserer Arbeit der Umgruppierung der Revolutionäre, des Aufbaus einer kommunistischen Organisation, sich als richtig herausgestellt haben. Und diese Orientierungen müssen wir aus unserer Verantwortung heraus gegenüber dem gesamten Milieu vertreten und uns dafür einsetzen (...)."

 

Die grundlegenden Lehren der ersten zehn Jahre

"Die Grundlagen, auf welchen unsere Strömung schon vor ihrer formellen Gründung ihre Umgruppierungsarbeit vorantrieb, sind nicht neu. Sie haben in der Vergangenheit schon immer die Stützpfeiler dieser Arbeit dargestellt. Wir können sie folgendermassen zusammenfassen:

 

- die Notwendigkeit, die revolutionäre Aktivität an die historischen Errungenschaften der Klasse anzuknüpfen, an die Erfahrung vorangegangener kommunistischer Organisationen, und so die gegenwärtige Organisation als ein Verbindungsglied in der Kette vergangener und zukünftiger Organe der Klasse zu sehen;

 

- die Notwendigkeit, kommunistische Positionen und Analysen nicht als ein totes Dogma anzusehen, sondern als ein lebendiges Programm, welches ständig bereichert und vertieft wird;

 

- die Notwendigkeit, mit einer klaren und soliden Auffassung über die revolutionäre Organisation bewaffnet zu sein, über ihre Struktur und ihre Funktion innerhalb der Klasse."

 

Diese Lehren, die wir vor zehn Jahren zogen (die in der Internationalen Revue, Nr.40, (engl., franz., span.) weiter ausgeführt sind und zu deren Lektüre wir unsere Leser auffordern) bleiben heute genauso gültig, und unsere Organisation hat ständig darauf achtgegeben, sie in die Praxis umzusetzen. Während es in den ersten zehn Jahren die Hauptaufgabe war, einen internationalen Umgruppierungspol revolutionärer Kräfte zu bilden, so lag die Hauptverantwortung in der darauffolgenden Periode darin, einer Reihe von Zerreissproben zu widerstehen ("Feuerproben" in einem gewissen Sinne), welche insbesondere aus Erschütterungen auf internationaler Ebene herrührten.

 

Die Feuerprobe

Auf dem sechsten Kongress der IKS im November 1985, nur einige Monate nach unserem zehnjährigen Bestehen, sagten wir:

 

"Zu Beginn der Achtzigerjahre bezeichnete die IKS diese als die "Jahre der Wahrheit", Jahre, in denen sich in brutalster Form enthüllt, was für die ganze Gesellschaft auf dem Spiel steht. In der Mitte des Jahrzehnts hat die Entwicklung der internationalen Situation diese Analyse nun voll bestätigt:

 

- durch eine erneute Zuspitzung der Krise der Weltwirtschaft, welche sich seit Anfang der Achtzigerjahre durch eine seit den Dreissigerjahren in dieser Tiefe nicht mehr dagewesene Rezession bemerkbar macht;

 

- durch eine Intensivierung der Spannungen zwischen den imperialistischen Blöcken in diesen Jahren, die sich durch beträchtliche Erhöhungen der militärischen Ausgaben sowie durch lautstarke Kriegskampagnen, angeführt von Reagan, dem Chef des stärkeren Blockes, ausdrückten;

 

- durch die Wiederaufnahme des Klassenkampfes während der zweiten Hälfte des Jahres 1983, nach dem momentanen Rückfluss zwischen 1981 und 1983 am Vorabend und nach der Repression gegen die Arbeiter in Polen. Eine Wiederaufnahme, die sich vor allem durch eine in der Vergangenheit noch nie dagewesene Gleichzeitigkeit der Kämpfe auszeichnete, im besonderen in den wichtigen Zentren des Kapitalismus und der Arbeiterklasse Westeuropas." (Resolution über die internationale Situation, Internationale Revue Nr. 44, engl., franz., span.).

 

Dieser Rahmen blieb bis Ende der Achtzigerjahre bestehen, auch wenn die Bourgeoisie alles daran setzte, den "Wiederaufschwung" zwischen 1983 und 1990, der in Wirklichkeit auf der Verschuldung der Nummer eins unter den Weltmächten, den USA, basierte, als das "definitive Ende" der Krise darzustellen. Doch die Tatsachen sind hartnäckig, wie Lenin sagte, und seit Beginn der Neunzigerjahre haben die kapitalistischen Mogeleien zum Ausbruch einer offenen Rezession geführt, die länger und brutaler ist als die vorangegangenen und welche die Euphorie der Bourgeoisie in eine tiefe Depression verwandelt hat.

 

Die Welle von Arbeiterkämpfen, die 1983 begann, dauerte, mit Phasen des Rückflusses und Phasen grösserer Intensität, bis 1989 an, was die Bourgeoisie dazu zwang, verschiedene Formen von Basisgewerkschaften (wie z.B. die "Coordinations" in Frankreich) ins Leben zu rufen, um einen Ersatz für die immer stärker diskreditierten offiziellen Gewerkschaften zu finden.

 

Ein Aspekt dieses generellen Rahmens wurde 1989 in dramatischer Weise aktuell: die imperialistischen Konflikte. Nicht, dass die marxistische Theorie sich durch die "Überwindung" solcher Konflikte als überholt erwiesen hätte, nein, sondern dass einer der Hauptkriegstreiber, der Ostblock, auf dramatische Art zusammenbrach. Was wir als die "Jahre der Wahrheit" bezeichnet hatten, erwiesen sich alsfatal für dieses anormale Regime, aufgebaut auf den Ruinen der Revolution von 1917, und für den ganzen Block, den es dominierte. Ein historisches Ereignis von solchem Umfang, das die ganze Weltkarte umkrempelte und eine neue, in der Geschichte der imperialistischen Konflikte noch nie dagewesene Situation schuf. Diese Konflikte sind nicht verschwunden, aber sie haben bis dahin unbekannte Formen angenommen und die Revolutionäre haben die Verantwortung, diese zu analysieren und zu verstehen.

 

Gleichzeitig brachten die Umwälzungen in den Ländern, die sich als "sozialistisch" ausgegeben hatten, einen schweren Rückschlag im Bewusstsein und der Kampfkraft der internationalen Arbeiterklasse mit sich, die nun mit dem schwersten Rückfluss seit ihrem historischen Wiedererwachen Ende der Sechzigerjahre konfrontiert war.

 

Somit hat die internationale Situation in den letzten zehn Jahren die IKS dazu gezwungen, zu folgenden Herausforderungen Position zu beziehen:

 

- ein aktiver Faktor in den Klassenkämpfen sein, die sich zwischen 1983 und 1989 entfalteten;

 

- die Natur der Ereignisse von 1989 verstehen sowie deren Konsequenzen auf dem Gebiet der imperialistischen Konflikte und auf der Ebene des Klassenkampfes.

 

- und mehr generell, die Entwicklung eines Rahmens, um die Periode des Kapitalismus zu verstehen, wovon der Zusammenbruch des Ostblocks der erste grosse Ausdruck war.

 

Ein aktiver Faktor im Klassenkampf sein

Nach dem sechsten Kongress der Sektion in Frankreich (der grössten IKS-Sektion) 1984 setzte der sechste Kongress der IKS diese Anliegen primär auf die Tagesordnung. Die Bemühungen jedoch, die unsere internationale Organisation seit mehreren Monaten unternahm, um ihre Verantwortung gegenüber der Klasse voll wahrzunehmen, stiessen seit Beginn des Jahres 1984 auf hartnäckigen Widerstand in unseren eigenen Reihen, auf Auffassungen, welche die Funktion der Organisation der Revolutionäre als aktiven Faktor im proletarischen Kampf unterschätzten. Die IKS erkannte diese Auffassungen als Resultat eines zentristischen Abgleitens hin zum Rätismus. Dies war zu einem guten Teil Produkt der historischen Bedingungen zur Gründungszeit der IKS, da unter den Gruppen und Elementen, die sich daran beteiligt hatten, ein starkes Misstrauen gegenüber allem, was nur irgendwie nach Stalinismus aussah, herrschte. Wie der Rätismus tendierten diese Elemente dazu, Lenins Organisationsauffasungen und selbst die Idee der proletarischen Partei mit dem Stalinismus gleichzusetzen. Während der Siebzigerjahre hatte die IKS Kritiken gegenüber den rätistischen Konzeptionen formuliert, welche aber nicht tiefgreifend genug waren, und so lasteten diese Auffassungen noch auf Teilen der Organisation. Als Ende 1983 der Kampf gegen die Spuren des Rätismus begann, weigerte sich eine Anzahl Genossen, die Existenz ihrer rätistischen Schwächen zu erkennen und bezichtigten die IKS mit viel Phantasie einer "Hexenjagd". Um dem Problem, das sich tatsächlich stellte, nämlich ihrem Zentrismus hin zu rätistischen Auffassungen, auszuweichen, machten sie nun die "Entdeckung", dass der Zentrismus in der dekadenten Periode des Kapitalismus gar nicht mehr existieren könne. (3) Zu diesem politischen Unverständnis der Genossen, die meisten waren Intellektuelle und unwillens Kritik zu akzeptieren, gesellte sich noch ein verletzter Stolz sowie eine "Solidarität" gegenüber ihren auch "zu unrecht angegriffenen" Freunden. Dies war in einem gewissen Sinne eine "Wiederholung" des zweiten Kongresses der SDAPR (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands), wie wir es schon im Artikel in der Internationalen Revue Nr. 45 herausstrichen, wo der Zentrismus in der Frage der Organisation und das Gewicht des Zirkelgeists, bei dem persönliche Affinitäten eine grössere Rolle spielen als politische Verbindungen, die Menschewiki zur Abspaltung führte. Die "Tendenz", welche sich zu Beginn des Jahres 1985 bildete, sollte denselben Weg gehen und trennte sich zur Zeit des sechsten Kongresses der IKS von ihr ab, um eine eigene Organisation zu gründen; die "Externe Fraktion der IKS" (EFIKS). Dennoch gibt es einen gewichtigen Unterschied zwischen der menschewistischen Fraktion und der EFIKS. Die Menschewiki waren als ein Zusammenschluss der opportunistischsten Teile der russischen Sozialdemokratie gross geworden, um schliesslich im Lager der Bourgeoisie zu enden, die EFIKS aber begnügte sich damit, die Rolle eines Parasiten zu spielen, und widmete ihre Energien hauptsächlich der Diskreditierung kommunistischer Positionen und Organisationen, ohne fähig zu sein, etwas aufzubauen. Zum Schluss verwarf die EFIKS die Plattform der IKS, obwohl sie zum Zeitpunkt ihrer Gründung die Verteidigung dieser Plattform als ihre Hauptaufgabe erklärt hatte, da die IKS, nach ihren Worten, dabei war zu"degenerieren" und sich anschickte, ihre eigene Plattform zu verraten.

 

Zur gleichen Zeit, als die IKS diesen Kampf im Innern gegen die rätistischen Tendenzen führte, nahm sie aktiv an den Kämpfen der Arbeiterklasse teil, wie aus unserer Presse in dieser Zeit deutlich hervorgeht. Trotz ihrer geringen Kräften war unsere Organisation in den verschiedenen Kämpfen präsent. Wir verbreiteten dort nicht nur unsere Presse und Flugblätter, sondern nahmen jedesmal, wenn es möglich war, auch an den Versammlungen der Arbeiter teil, um einerseits die Notwendigkeit der Ausbreitung der Kämpfe aufzuzeigen, sowie die Arbeiter aufzufordern, die Kontrolle ihrer Kämpfe in die eigenen Hände zu nehmen, ausserhalb jeglicher gewerkschaftlicher Formen, seien es nun "offizielle" Gewerkschaften oder "Basis"- Gewerkschaften. So hatte die Intervention und Präsenz unserer Genossen in den COBAS (Basiskomitees) 1987 während der Streiks an den Schulen in Italien einen nicht zu unterschätzenden Einfluss, bevor diese Organe, mit dem Rückfluss der Bewegung, vom Basisgewerkschaftsgeist wiedererobert wurden.

 

Einer der deutlichsten Beweise, dass unsere Positionen unter den Arbeitern an Einfluss gewannen, war die Tatsache, dass die IKS der "Hauptfeind" einiger linken Gruppierungen geworden war. Besonders in Frankreich war dies der Fall, wo während des Eisenbahnerstreiks Ende 1986 und der Streiks in den Krankenhäusern im Herbst 1988 die trotzkistische Gruppe "Lutte Ouvrière" ihre "Muskelmänner" mobilisierte, um unsere Genossen an der Intervention in den Vollversammlungen, welche durch die "Coordinations" einberufen wurden, zu hindern. Gleichzeitig nahmen IKS-Genossen aktiv an verschiedenen Kampfkomitees teil - und nicht selten hatten gerade sie die Initiative dazu ergriffen; diese Komitees waren Zusammenschlüsse von Arbeitern, die das Bedürfnis hatten, sich ausserhalb der Gewerkschaften zu versammeln, um den Kampf vorwärtszutreiben.

 

Sicherlich geht es hier nicht darum, den Einfluss, den die Revolutionäre und unsere Organisation im speziellen in den Arbeiterkämpfen zwischen 1983 und 1989 hatten, zu überzeichnen. Diese Bewegung blieb im grossen und ganzen eine Gefangene der Gewerkschaften, und dort, wo die offiziellen Gewerkschaften allzusehr diskreditiert waren, übernahmen die verschiedenen Varianten von "Basis"-Gewerkschaften ihre Rolle. Unser Einfluss blieb sehr lokal, da unsere Kräfte immer noch sehr gering sind. Doch eine Lehre müssen wir aus dieser Erfahrung ziehen: Wenn sich Kämpfe entwickeln, finden Revolutionäre, dort wo sie präsent sind, deshalb ein Echo, weil die Positionen, die sie verteidigen, und die Perspektiven, die sie aufzeigen, eben gerade Antworten auf die Fragen sind, die sich die Arbeiter stellen. Und dies ist auch der Grund, weshalb Revolutionäre ihre Positionen nicht verbergen sollen oder auch nicht die geringste Konzession an die Illusionen machen dürfen, die oft auf dem Bewusstsein der Arbeiter lasten, besonders was die Rolle der Gewerkschaften angeht. Dies ist eine wichtige Lehre für alle revolutionären Gruppen, die, konfrontiert mit Arbeiterkämpfen, oft gelähmt sind, da diese Kämpfe die Frage der Überwindung des Kapitalismus noch nicht auf die Tagesordnung setzen. So fühlen sie sich, um "Gehör zu finden", gezwungen, in den basisgewerkschaftlichen Strukturen zu arbeiten, was diesen kapitalistischen Organen in den Augen der Arbeiter wieder Glaubwürdigkeit verleiht.

 

Das Wesen der Ereignisse von 1989 verstehen

So wie es zur Verantwortung der Revolutionäre gehört, in Zeiten von Arbeiterkämpfen "auf dem Posten" zu stehen, kommt ihnen auch die Aufgabe zu, in jedem Moment fähig zu sein, der Gesamtheit der Arbeiterklasse einen klaren Rahmen für die Analyse der Ereignisse zu geben, die sich in der Welt zutragen.

 

Diese Aufgabe betrifft in erster Linie das Verständnis der wirtschaftlichen Widersprüche des kapitalistischen Systems: Die revolutionären Gruppen, die den unauflöslichen Charakter der Krise nicht aufzuzeigen vermochten, in die dieses System getaucht ist, und dadurch gezeigt haben, dass sie den Marxismus nicht verstanden haben, auf den sie sich aber beziehen, haben der Arbeiterklasse keinen Nutzen gebracht. Das ist beispielsweise der Fall gewesen bei einer Gruppe wie dem "Fomento Obrero Revolucionario", die sich sogar geweigert hat, zu anerkennen, dass es eine Krise gibt. Sie hat ihre Augen auf die besonderen Charakteristika der Krise von 1929 fixiert und dabei die offensichtliche Tatsache der gegenwärtigen Krise jahrelang abgestritten ... bis die Gruppe selber verschwunden ist.

 

Zu den Aufgaben der Revolutionäre gehört auch, dass sie in der Lage sind, die einzelnen Schritte in der Bewegung der Klasse einzuschätzen, die Momente des Vorwärtsschreitens wie auch des Rückzugs zu erkennen. Diese Analyse ist eine Voraussetzung für die richtige Intervention, die sie unter den Arbeitern führen, denn ihre Verantwortung besteht darin, die Bewegung möglichst voranzutreiben, wenn sie vorwärtsschreitet, insbesondere zur Ausweitung aufzurufen. Umgekehrt bedeutet der Aufruf zum Kampf in Momenten des Rückzugs die sichere Niederlage: Die Arbeiter müssen sich dann in der Isolierung schlagen; in diesem Moment zur Ausweitung aufzurufen, trägt zur Ausweitung der Niederlage bei. Es ist im übrigen oft gerade dieser Moment, in dem die Gewerkschaften ihrerseits zur Ausweitung des Kampfes aufrufen.

 

Schliesslich stellen auch die Beobachtung und das Verständnis der verschiedenen imperialistischen Konflikte eine grosse Verantwortung für die Kommunisten dar. Ein Fehler in diesem Bereich kann dramatische Folgen haben. So meinte Ende der 30er Jahre die Mehrheit der Italienischen Kommunistischen Fraktion mit ihrer treibenden Kraft Vercesi an der Spitze, dass die verschiedenen Kriege der Epoche, namentlich der Spanienkrieg, keineswegs einen verallgemeinerten Konflikt einläuteten. Der Ausbruch des Weltkriegs im September 1939 liess die Fraktion in vollständiger Ratlosigkeit zurück. Sie benötigte zwei Jahre, bis sie sich in Südfrankreich neu zusammenfinden und die militante Arbeit wieder aufnehmen konnte.

 

Was die heutige Zeit betrifft, so ist es von grösster Wichtigkeit gewesen, klar das Wesen der Ereignisse im Sommer und Herbst 1989 in den Ländern des Ostblocks zu verstehen. Was die IKS betrifft hat sie Anstrengungen unternommen, um zu verstehen, was sich von der Zeit an ereignete als Solidarnosc mitten im Sommer an die Macht kam, zu einer Jahreszeit, in der solche Ereignisse normalerweise 'in Ferien' sind. (4) Die IKS stellte sich auf den Standpunkt, dass das, was in Polen geschah, darauf hindeutete, dass alle stalinistischen Systeme in Europa in eine äusserst schwere Krise eintreten, die sich qualitativ von den vorangegangenen unterscheidet: "Die Perspektive für die Gesamtheit der stalinistischen Regimes ist ... überhaupt nicht diejenige einer "friedlichen Demokratisierung" noch diejenige einer "Wiederbelebung" der Wirtschaft. Mit der Vertiefung der weltweiten Krise des Kapitalismus sind diese Länder in eine Phase der Erschütterungen eingetreten, die in ihrer Dimension nicht vergleichbar sind mit denjenigen der Vergangenheit, obwohl es da nicht an heftigen Erschütterungen fehlte." (Revue Internationale (frz./engl./span.), Nr. 59, "Convulsions capitalistes et luttes ouvrières") Dieser Gedanke ist ausgeführt in den "Thesen zur ökonomischen und politischen Krise in der Sowjetunion und den osteuropäischen Ländern", die am 15. September 1989 geschrieben (fast 2 Monate vor dem Fall der Berliner Mauer) und Anfang Oktober durch die IKS angenommen worden sind. In diesen Thesen kann man lesen (vgl. Internationale Revue, Nr. 12):

 

"... In dem Masse, wie der praktisch einzige Faktor des Zusammenhalts des russischen Blocks die Armee ist, birgt jede Politik des Zurückdrängens der Armee die Gefahr des Aufbrechens des Blocks in sich. Jetzt schon sieht man wachsende Auflösungserscheinungen des Ostblocks. ... In dieser Region sind die zentrifugalen Tendenzen so stark, dass sie durchdrehen, sobald man ihnen freien Lauf lässt. (...)

 

Ein ähnliches Phänomen kann man in den Randrepubliken der UdSSR beobachten. ... Die nationalistischen Bewegungen, die aufgrund des nachlassenden Drucks der zentralen Kontrolle der russischen Partei Auftrieb erhalten, entfalten sich dort jetzt ... Sie beinhalten eine Dynamik der Loslösung von Russland." (Punkt 18)

 

"... unabhängig von der zukünftigen Entwicklung der Lage in den osteuropäischen Ländern decken die gegenwärtigen Ereignisse die historische Krise, den endgültigen Zusammenbruch des Stalinismus auf ... Diese Länder sind jetzt in einem Zeitraum der bislang nie dagewesenen Instabilität, Erschütterungen, grosser Beben, des Chaos eingetreten, deren Auswirkungen weit über ihre eigenen Grenzen hinaus wirken werden. Insbesondere wird der Zusammenbruch des russischen Blocks eine Destabilisierung des Systems der internationalen Beziehungen, der imperialistischen Bündnisse mit sich bringen, die das Ergebnis des 2. Weltkriegs nach dem Abkommen von Jalta waren." (Punkt 20).

 

Einige Monate später (im Januar 1990) findet dieser Gedanke folgende Präzisierung:

 

"Die geopolitische Landschaft, die seit dem 2. Weltkrieg bestanden hatte, ist nunmehr durch die Ereignisse in der 2. Hälfte des Jahres 1989 vollkommen in Frage gestellt worden. Heute gibt es keine zwei imperialistischen Blöcke mehr, die die Welt unter sich aufgeteilt haben. Es liegt auf der Hand (...): Der Ostblock existiert nicht mehr. (...)

 

Bedeutet dieses Verschwinden des Ostblocks nunmehr, dass die Welt von einem einzigen imperialistischen Block regiert wird oder dass es im Kapitalismus keine imperialistischen Zusammenstösse mehr geben wird? Solche Auffassungen stehen im Gegensatz zu denen des Marxismus. (...) Der Zusammenbruch dieses Blockes kann heute solchen Analysen keineswegs zu neuer Glaubwürdigkeit verhelfen: dieser Zusammenbruch führt mit der Zeit zum Zusammenbruch auch des westlichen Blocks. (...)

 

Das Verschwinden des russischen imperialistischen Gendarmen und damit auch die Auflösung der Gendarmenrolle des amerikanischen Imperialismus gegenüber seinen 'Hauptpartnern' von früher öffnet die Tür für das Aufbrechen einer ganzen Reihe von lokalen Rivalitäten. Diese Rivalitäten und Zusammenstösse können gegenwärtig nicht in einen Weltkrieg ausarten (...) Weil die vom Block aufgezwungene Disziplin nicht mehr gegeben ist, werden diese Konflikte dagegen häufiger und gewalttätiger werden, insbesondere in den Gegenden, wo die Arbeiterklasse am schwächsten ist.

 

(...) Die Auflösung der imperialistischen Konstellation, welche aus dem 2. Weltkrieg hervorgegangen war, bringt gleichzeitig die Tendenz zur Bildung von zwei neuen Blöcken mit sich. Heute steht dies jedoch noch nicht auf der Tagesordnung ..." (Revue Internationale, Nr. 61, "Après l'effondrement du bloc de l'Est, déstabilisation et chaos" - deutsch in Internationale Revue, Nr. 12, "Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks: Destabilisierung und Chaos").

 

Die Ereignisse seitdem, insbesondere die Krise und der Krieg am Golf 1990/91, haben unsere Analyse bestätigt. Heute beweist die Gesamtheit der internationalen Lage, insbesondere das, was sich in Ex-Jugoslawien zuträgt, mehr als zur Genüge, dass jeder imperialistische Block vollständig verschwunden ist. Zugleich versuchen gewisse Länder in Europa, namentlich Frankreich und Deutschland, angestrengt, die Bildung eines neuen Blocks voranzutreiben, der auf der Europäischen Union beruht und der amerikanischen Macht die Stirn bieten könnte.

 

Was die Entwicklung des Klassenkampfes betrifft, sind die "Thesen" vom Sommer 1989 ebenfalls bestätigt worden:

 

"Selbst bei seinem Tod erweist der Stalinismus der kapitalistischen Herrschaft noch einen letzten Dienst: Bei seinem Zerfall vergiftet sein Körper weiterhin noch die Luft, die das Proletariat atmen muss. ... Deshalb kann man mit einem vorübergehenden Rückgang des Bewusstseins der Arbeiterklasse rechnen ... Insbesondere die reformistische Ideologie wird noch sehr stark auf den Kämpfen in der nächsten Zeit lasten, wodurch die Aktionen der Gewerkschaften begünstigt werden.

 

Aufgrund der geschichtlichen Bedeutung der genannten Faktoren wird der gegenwärtige Rückfluss des Klassenkampfes - ungeachtet der Tatsache, dass er den historischen Kurs, die allgemeine Perspektive breiterer Zusammenstösse zwischen den Klassen, nicht infragestellt - weiterreichend sein als der Rückfluss, der die Niederlage von 1981 in Polen begleitet hatte." (Punkt 22)

 

Auch in dieser Hinsicht haben die letzten fünf Jahre völlig unsere Prognose bestätigt. Seit 1989 sind wir Zeugen des grössten Rückzugs der Arbeiterklasse seit ihrem historischen Wiedererscheinen Ende der 60er Jahre geworden. Das ist eine Situation, auf die die Revolutionäre vorbereitet sein mussten, um ihre Intervention anpassen zu können und v.a. nicht "das Kind mit dem Bade auszuschütten", indem sie etwa davon ausgehen, dass der lange Rückzug die Fähigkeit des Proletariats, seine Kämpfe gegen den Kapitalismus zu führen und zu entwickeln, definitiv in Frage stelle. Insbesondere durften die Zeichen des Wiedererstarkens der Kampfbereitschaft, v.a. im Herbst 1992 in Italien und im Herbst 1993 in Deutschland (vgl. Revue Internationale, Nr. 72 und Nr. 75), weder überschätzt (man muss die Tiefe des proletarischen Rückzugs im Auge behalten) noch unterschätzt werden. Sie kündigen die unvermeidbare Wiederaufnahme der Kämpfe und der Entwicklung des Klassenbewusstseins in allen industrialisierten Ländern an.

 

Der Marxismus ist eine wissenschaftliche Methode. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften kann er aber die Gültigkeit seiner Thesen nicht überprüfen, indem er sie dem Experiment im Labor unterwirft, genauere Messgeräte beizieht. Sein "Labor" ist die gesellschaftliche Wirklichkeit, und er beweist seine Gültigkeit durch die Fähigkeit, die Entwicklung dieser Wirklichkeit vorauszusehen. So ist die Tatsache, dass die IKS fähig gewesen ist, seit dem Auftauchen der ersten Symptome des Zusammenbruchs des Ostens die wichtigsten Ereignisse vorauszusehen, die die Welt in den nächsten 5 Jahren erschüttern sollten, nicht einer besonderen Begabung, im Kaffeesatz zu lesen oder die Sternbilder zu interpretieren, zuzuschreiben. Sie ist ganz einfach ein Beweis für ihre Verbundenheit mit der marxistischen Methode, und dieser ist deshalb die Richtigkeit unserer Voraussagen geschuldet.

 

Doch die Berufung auf den Marxismus befähigt andererseits nicht automatisch zu seiner erfolgreichen Anwendung. Unsere Fähigkeit, schnell die Veränderungen der internationalen Situation zu begreifen, beruhte auf der Anwendung der Methode, die wir von "Bilan" übernommen hatten. Schon vor zehn Jahren unterstrichen wir eine der Hauptlehren unserer eigenen Erfahrung: die Notwendigkeit, sich strikt an die Errungenschaften der Vergangenheit zu halten, die Notwendigkeit, die kommunistischen Positionen und Analysen nicht als ein totes Dogma, sondern als ein lebendiges Programm zu betrachten.

 

So beginnen die Thesen von 1989 in den ersten zehn Punkten zum besseren Verständnis der Charakteristika der Länder des Ostblocks damit, den Rahmen, den sich unsere Organisation zu Beginn der 80er Jahre nach den Ereignissen in Polen gegeben hatte, in Erinnerung zu rufen. Aufgrund dieser Analyse waren wir in der Lage, nachzuweisen, dass es mit den stalinistischen Regimes in Europa und mit dem Ostblock zu Ende war. Und auf der Grundlage einer noch älteren Erkenntnis der Arbeiterbewegung (wie namentlich Lenin gegen Kautsky bewiesen hatte) - dass nämlich die Existenz eines imperialistischen Blockes allein nicht möglich ist - haben wir vorausgesagt, dass der Zusammenbruch des Ostblocks die Tür aufstösst zur Auflösung auch des westlichen Blocks.

 

Um die Ereignisse zu verstehen, mussten wir das Schema, das während mehr als vierzig Jahren gegolten hatte, in Frage stellen: die Aufteilung der Welt zwischen dem von den USA angeführten westlichen Block und dem Ostblock unter der Führung der UdSSR. Wir mussten ebenfalls fähig sein zu erkennen, dass dieses Land, das seit Peter dem Grossen nach und nach aufgebaut worden war, den Zusammenbruch seines Reiches selber nicht überleben würde. Noch einmal: Die Fähigkeit zur Infragestellung der vergangenen Schemata ist nicht unser besonderes Verdienst. Diese Methode haben nicht wir erfunden. Sie ist uns gelehrt worden durch die lebendige Erfahrung der Arbeiterbewegung und v.a. durch ihre Hauptkämpfer: Marx, Engels, Rosa Luxemburg, Lenin ...

 

Schliesslich musste das Verständnis der Umwälzungen Ende der 80er Jahre in eine allgemeine Analyse der gegenwärtigen Phase der kapitalistischen Dekadenz eingeordnet werden.

 

Der Rahmen zum Verständnis der gegenwärtigen Phase des Kapitalismus

Diese Arbeit hatten wir 1986 begonnen, als wir feststellten und darauf hinwiesen, dass wir in eine neue Phase der kapitalistischen Dekadenz eingetreten waren, nämlich diejenige des Zerfalls des Systems. Diese Analyse ist zu Beginn des Jahres 1989 mit folgenden Worten präzisiert worden:

 

"Bislang haben sich die Klassenkämpfe seit den letzten 20 Jahren auf allen Kontinenten stark entwickelt und den dekadenten Kapitalismus daran gehindert, seine Antwort auf die Sackgasse seiner Wirtschaft durchzusetzen: die Auflösung der höchsten Stufe seiner Barbarei, einen neuen Weltkrieg. Dennoch ist die Arbeiterklasse noch nicht in der Lage, durch revolutionäre Kämpfe ihre eigene Perspektive durchzusetzen, und auch kann sie noch nicht dem Rest der Menschheit diese Zukunft verdeutlichen, die sie in sich trägt.

 

Gerade diese gegenwärtige Pattsituation, wo im Augenblick weder die bürgerliche noch die proletarische Alternative sich offen durchsetzen können, liegt an der Wurzel dieses Phänomens des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft und erklärt das besondere Ausmass und die Schärfe der Barbarei der Dekadenz dieses Systems. Und je mehr sich die Wirtschaftskrise zuspitzt, desto stärker wird auch dieser Fäulnisprozess zunehmen." (Internationale Revue, Nr. 11, "Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft")

 

Sobald sich der Zusammenbruch des Ostblocks ankündigte, ordneten wir ein solches Ereignis natürlich in den Rahmen des Zerfalls ein:

 

"Tatsächlich stellt der gegenwärtige Zusammenbruch des Ostblocks eine Erscheinungsweise des allgemeinen Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft dar, deren Ursprung gerade im Unvermögen der Bourgeoisie liegt, ihre eigene Antwort auf die offene Krise der Weltwirtschaft, den Weltkrieg, aufzuzwingen." (Internationale Revue, Nr. 12, "Thesen ...", Punkt 20)

 

Ebenso haben wir im Januar 1990 auf die Auswirkungen hingewiesen, die dieser Zerfall und die neue Konstellation auf der imperialistischen Bühne für das Proletariat mit sich bringen:

 

"Auf solch einem Hintergrund des Verlustes der Kontrolle über die Lage durch die Weltbourgeoisie ist es ungewiss, ob die stärksten Teile unter ihr heute dazu in der Lage sind, die Organisierung und notwendige Disziplin für die Bildung von militärischen Blöcken aufzubringen. ... Deshalb muss man heute unbedingt aufzeigen: Während die Lösung der Arbeiterklasse - die kommunistische Revolution - als einzige dazu in der Lage ist, sich der Zerstörung der Menschheit entgegenzusetzen (dies ist die einzige "Antwort" des Kapitals auf die Krise),braucht diese Zerstörung nicht notwendigerweise durch einen 3. Weltkrieg geschehen. Sie könnte ebenso durch den fortgesetzten, bis in sein Extrem getriebenen Zerfall erfolgen (ökologische Katastrophen, Epidemien, Hungersnöte, fortgesetzte lokale Kriege usw.). ...

 

(...) die Fortsetzung und Zuspitzung all der Verfallserscheinungen der Gesellschaft (werden) mehr noch als während der 80er Jahre ihre schädlichen Wirkungen auf das Klassenbewusstsein haben. Aufgrund der allgemeinen Stimmung der Hoffnungslosigkeit in der ganzen Gesellschaft, aufgrund des Zerfalls der bürgerlichen Ideologie selbst, deren Auswüchse die Atmosphäre noch mehr verpesten werden, in der die Arbeiter leben, wird die Arbeiterklasse bis zur Phase vor der Revolution auf zusätzliche Schwierigkeiten bei ihrem Weg zur Bewusstwerdung stossen." (Internationale Revue, Nr. 12, "Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks: Destabilisierung und Chaos")

 

So ermöglicht uns unsere Analyse über den Zerfall, die äusserste Ernsthaftigkeit dessen aufzuzeigen, was auf dem Spiel steht in der gegenwärtigen geschichtlichen Situation. Insbesondere führt sie uns dazu, zu unterstreichen, dass der Weg des Proletariats zur kommunistischen Revolution viel schwieriger sein wird, als dies die Revolutionäre in der Vergangenheit haben voraussehen können. Hier gilt es auch noch eine andere Lehre aus den Erfahrungen der IKS in den letzten zehn Jahren zu ziehen, die sich mit einer Sorge trifft, die Marx in der Mitte des letzten Jahrhunderts beschäftigte: Die Revolutionäre haben nicht die Aufgabe, die Arbeiterklasse zu trösten, sondern im Gegenteil die absolute Notwendigkeit ihres historischen Kampfes wie auch dessen Schwierigkeiten zu unterstreichen. Nur mit einem klaren Bewusstsein über diese Schwierigkeit ist das Proletariat (und damit auch die Revolutionäre) in der Lage, sich angesichts der Hindernisse, auf die es stossen wird, nicht entmutigen zu lassen und die Kraft und die klare Sicht zu finden, um sie zu überwinden bis zur Beseitigung der Ausbeutungsgesellschaft. (6)

 

Bei der Bilanz der letzten zehn Jahre der IKS können wir zwei sehr wichtige Tatsachen unseres organisatorischen Lebens nicht übergehen.

 

Die erste Tatsache ist sehr positiv. Es handelt sich um die Ausbreitung der territorialen Präsenz der IKS im Jahre 1989 mit der Gründung eines Kerns in Indien, der "Communist Internationalist" auf Hindi publiziert, und einer neuen Sektion in Mexiko, einem Land von grösster Wichtigkeit auf dem amerikanischen Kontinent; diese Sektion publiziert "Revolución Mundial".

 

Die zweite Tatsache ist eine traurige: Es ist der Tod unseres Genossen Marc am 20. Dezember 1990. Wir werden hier nicht auf die entscheidende Rolle zurückkommen, die er bei der Gründung der IKS und vorher im Kampf der kommunistischen Fraktionen in den Zeiten der finstersten Konterrevolution gespielt hat. Die "Revue Internationale" (Nr. 65 und 66) hat diesem Thema einen langen Artikel gewidmet. Sagen wir einfach, dass für uns, abgesehen von der 'Feuerprobe', die die Erschütterungen des Weltkapitalismus seit 1989 für die IKS ebenso wie für die Gesamtheit des revolutionären Milieus dargestellt haben, der Verlust unseres Genossen eine weitere 'Feuerprobe' gewesen ist. Viele Gruppen der kommunistischen Linken haben das Verschwinden ihres Hauptinitiators nicht überlebt. Das war zum Beispiel der Fall beim "Fomento Obrero Revolucionario". Und im übrigen haben uns gewisse 'Freunde' mit 'Besorgnis' vorausgesagt, dass die IKS Marc nicht überleben werde. Dennoch ist die IKS noch da und hat ihren Kurs trotz allen Stürmen halten können.

 

Auch hier schreiben wir uns kein besonderes Verdienst zu: Die revolutionäre Organisation existiert nicht dank einem bestimmten Genossen, so wertvoll er auch sein mag. Sie ist ein historisches Produkt des Proletariats, und wenn ihr Überleben von einem einzelnen Genossen abhängt, bedeutet dies, dass sie die Verantwortung, die ihr die Klasse gegeben hat, nicht richtig wahrgenommen und dass dieser Militante selber in einer gewissen Hinsicht versagt hat. Wenn es der IKS gelungen ist, diese Proben mit Erfolg zu bestehen, so v.a. wegen ihrer dauernden Sorge um die Anknüpfung an die Erfahrung der vorausgegangenen kommunistischen Organisationen, die Erfahrung, dass ihre Rolle in einem langfristigen Kampf besteht und nicht auf unmittelbare 'Erfolge' ausgerichtet sein soll. Seit dem letzten Jahrhundert ist diese Sichtweise diejenige der klarsten und standfestesten revolutionären Militanten gewesen: Wir beziehen uns auf diese Geschichte, und es war zu einem grossen Teil Marc, der uns dies lehrte. Er zeigte uns auch durch sein Beispiel, was militante Hingabe heisst, ohne die eine revolutionäre Organisation nicht überleben kann.

 

"Seinen grossen Stolz hat er nicht darin gesehen, dass er einen ausserordentlichen Beitrag geleistet hat, sondern in der Tatsache, dass er bis zum Schluss mit seiner ganzen Seele dem Kampf des Proletariats treu geblieben ist. Und dies ist auch eine wertvolle Lehre gewesen für die neuen Generationen von Militanten, die nicht die Möglichkeit gehabt haben, die enorme Hingabe der früheren Generationen an die revolutionäre Sache kennenzulernen. V.a. in dieser Hinsicht wollen wir auf der Höhe des Kampfes sein, den wir, wenn auch ohne seine wachsame, klare, warme und leidenschaftliche Präsenz, entschlossen sind weiterzuführen." ("Marc", Revue Internationale, Nr. 66 - frz./engl./span.)

 

FM

 

Auch zwanzig Jahre nach der Gründung der IKS führen wir diesen Kampf weiter.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Antwort an das IBRP (1995)

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Das Wesen des imperialistischen Krieges

 

Das IBRP hat in seiner ‘International Communist Review’ Nr. 13 auf unsere Polemik ‘Die Auffassung des IBRP zur Dekadenz des Kapitalismus’, die in der Internationalen Revue der IKS Nr. 79  engl.Ausgabe erschienen war, geantwortet. In dieser Antwort stellt das IBRP deutlich seine Positionen dar. Somit liefert ihr Artikel einen Beitrag zur notwendigen Debatte, die zwischen den Organisationen der kommunistischen Linken geführt werden muß, welche eine entscheidende Verantwortung in dem Kampf für die Gründung der kommunistischen Partei des Proletariats tragen.

Die Debatte zwischen dem IBRP und der IKS findet innerhalb des Rahmens der kommunistischen Linken statt:

- es handelt sich um keine akademische oder abstrakte Debatte, sondern um eine militante Polemik, um klare Positionen zu entwickeln, bei denen es keine Zweideutigkeiten oder Konzessionen gegenüber der bürgerlichen Ideologie gibt, insbesondere hinsichtlich Fragen wie das Wesen der imperialistischen Kriege und der materiellen Grundlagen der Notwendigkeit der kommunistischen Revolution,

- es handelt sich um eine Debatte zwischen Anhängern der Analyse der Dekadenz des Kapitalismus. Seit dem Anfang des Jahrhunderts ist das System in eine ausweglose Krise hineingeraten, die eine wachsende Bedrohung der Auslöschung der Menschheit  und der Zerstörung des Planeten mit sich bringt.

Innerhalb dieses Rahmens besteht der Artikel des IBRP auf der Auffassung des imperialistischen Krieges als ein Mittel der Entwertung des Kapitals und der Erneuerung des Akkumulationszyklus. Diese Position wird mit einer Erklärung der historischen Krise des Kapitalismus gerechtfertigt, die sich stützt auf das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate. Diese beiden Fragen sind Gegenstand unserer Antwort auf den Artikel des IBRP ( ([1]).

Was uns mit dem IBRP verbindet

In einer Polemik zwischen Revolutionären und insbesondere wegen des militanten Charakters müssen wir von dem ausgehen, was uns verbindet, um innerhalb dieses globalen Rahmens zu behandeln, was uns trennt. Dies ist die Methode, die die IKS immer in Anlehnung an Marx, Lenin, Bilan usw. angewendet hat, und die wir auch in unserer Polemik mit der IKP (Programma ([2]) benutzten, als wir die gleiche Frage behandelten, die wir jetzt in unserer Antwort an das IBRP aufgreifen. Es ist uns wichtig, dies zu unterstreichen, weil erstens die Polemiken unter den Revolutionären nicht immer den Kampf um die Klärung und die Umgruppierung mit der Perspektive der Bildung der Partei des Weltproletariats als einen roten Faden haben. Zweitens weil das, was zwischen der IKS und dem IBRP an Gemeinsamkeiten vorhanden ist, wichtiger ist als das uns Trennende, ohne dabei die Bedeutung und die Konsequenzen der Divergenzen hinsichtlich des Begreifens des imperialistischen Wesens des Krieges zu leugnen oder abzuschwächen:

1) Aus der Sicht des IBRP gibt es bei imperialistischen Kriegen keine objektiven Grenzen, sondern es handelt sich um totale Kriege, deren Konsequenzen bei weitem die Folgen der Kriege in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus[i] übersteigen.

2) Die imperialistischen Kriege bündeln die wirtschaftlichen und politischen Faktoren in einem unauflösbaren Ganzen zusammen.

3) Das IBRP verwirft die Idee, daß der Militarismus und die Rüstungsproduktion als ein Mittel der ‘Akkumulation des Kapitals  (3) fungieren könnte.

4) Als ein Ausdruck der Dekadenz des Kapitalismus beinhalten die imperialistischen Kriege die wachsende Bedrohung der Zerstörung der Menschheit.

5) Im heutigen Kapitalismus gibt es starke Tendenzen hin zu Chaos und Zerfall, obgleich, wie wir später sehen werden, das IBRP diesen Tendenzen nicht die gleiche Bedeutung beimißt wie die IKS.

Diese Elemente der Übereinstimmung spiegeln die gemeinsame Fähigkeit wider, die imperialistischen Kriege als den Gipfel der historischen Krise des Kapitalismus zu entblößen und zu bekämpfen und die Arbeiterklasse dazu aufzurufen, nicht zwischen zwei imperialistischen Wölfen zu wählen. Des weiteren die Fähigkeit, die Weltrevolution als die einzige Lösung für die Überwindung der blutigen Sackgasse aufzuzeigen, in die der Kapitalismus die Menschheit geführt hat, womit wir das pazifistische Opium bekämpfen und die kapitalistischen Lügen verwerfen, denen zufolge ‘wir jetzt dabei sind, die Krise zu überwinden’.

Diese Elemente, die der Ausdruck der gemeinsamen Tradition der Kommunistischen Linken sind, machen es notwendig und möglich, daß gegenüber Ereignissen von großer Tragweite wie der Krieg am Golf oder im ehemaligen Jugoslawien sich die Gruppen der Kommunistischen Linken gemeinsam äußern, die gegenüber der Arbeiterklasse die vereinigte Stimme der Revolutionäre zum Ausdruck bringen. Zu diesem Zweck schlugen wir innerhalb des Rahmens der Internationalen Konferenzen von 1977-80 eine gemeinsame Erklärung gegen den Afghanistankrieg vor, und wir beklagten, daß weder Battaglia Comunista noch die CWO (die kurze Zeit später das gegenwärtige Internationale Büro der Revolutionären Partei - IBRP gründeten)  dieser Initiative nicht zugestimmt hatten. Diese Initiativen sind keineswegs ein Vorschlag für einen vorübergehenden und opportunistischen Zusammenschluß, sondern Instrumente des Kampfes für die Abgrenzung und Klärung der Positionen innerhalb der Kommunistischen Linke, da sie einen konkreten und militanten Rahmen (das Engagement für die Arbeiterklasse gegenüber wichtigen Situationen der historischen Entwicklung darstellen) innerhalb dessen die Divergenzen ernsthaft diskutiert werden können. Dies war die Methode Marxens und Lenins: obwohl es in Zimmerwald viel größere Divergenzen gab als die gegenwärtig existierenden zwischen der IKS und dem IBRP war Lenin bereit, dem Manifest von Zimmerwald zuzustimmen. Gleichzeitig gab es zum Zeitpunkt der Gründung der Kommunistischen Internationale unter den Gründerparteien schwergewichtige Divergenzen nicht nur hinsichtlich der Analyse des imperialistischen Krieges sondern auch hinsichtlich Fragen wie die Ausnutzung des Parlamentes und der Gewerkschaften. Jedoch hinderte sie dies nicht daran, sich zusammenzuschließen und für die Revolution in den weltweiten revolutionären Kämpfen einzutreten. Dieser gemeinsame Kampf war kein [ii]Rahmen, um die Divergenzen zum Schweigen zu bringen, sondern im Gegenteil die militante Plattform, auf der nicht akademisch oder je nach sektiererischen Gelüsten diskutiert,  sondern diese ernsthaft aufgegriffen werden konnten.

Die Funktion des imperialistischen Krieges

Die Divergenzen zwischen dem IBRP und der IKS betreffen nicht die allgemeinen Ursachen des imperialistischen Krieges. Wir vertreten beide das gemeinsame Erbe der kommunistischen Linke und betrachten den imperialistischen Krieg als einen Ausdruck der historischen Krise des Kapitalismus. Die Divergenz taucht jedoch dann auf, wenn es darum geht, die Rolle des imperialistischen Krieges innerhalb des dekadenten Kapitalismus zu analysieren. Das IBRP meint, daß der imperialistische Krieg eine ökonomische Funktion erfüllt: er würde eine massive Entwertung des Kapitals erlauben, und somit die Möglichkeit eröffnen, daß der Kapitalismus in einen neuen Zyklus der Akkumulation eintritt. Dieses Einschätzung erscheint ganz logisch: denn gab es nicht vor dem Weltkrieg eine Weltwirtschaftskrise wie beispielsweise die von 1929? Da sie eine Überproduktionskrise von Menschen und Waren ist, ist da der imperialistische Krieg keine ‘Lösung’ mittels der Zerstörung im großen Maßstab von Arbeitern und Maschinen? Beginnt nicht von neuem der Wiederaufbau und wird damit nicht die Krise überwunden? Jedoch ist diese Einschätzung, die auf den ersten Blick so einleuchtend und kohärent erscheint, zutiefst oberflächlich. Sie greift einen Teil des Problems auf (in der Tat hat der dekadente Kapitalismus durch einen höllischen Zyklus von Krise-Krieg-Wiederaufbau - neuer Krise überlebt. Aber diese Einschätzung geht nicht auf den Kern des Problems ein. Der Krieg ist viel mehr als ein einfaches Mittel der Wiederherstellung des Zyklus der kapitalistischen Akkumulation. Und andererseits wird dieser Zyklus zutiefst deformiert, entartet und ist sehr weit davon entfernt, der klassische Zyklus der aufsteigenden Phase zu sein.

Diese oberflächliche Betrachtungsweise des imperialistischen Krieges hat schwerwiegende Auswirkungen für die militante Arbeit, die das IBRP nicht erkennt. Wenn der Krieg  in der Tat den Mechanismus der kapitalistischen Akkumulation wiederherstellt, sagt man damit tatsächlich, daß der Kapitalismus immer wieder durch den schmerzhaften und brutalen Prozeß des Kriegs immer wieder aus der Krise herauskommen könnte. Diese Auffassung wird ja im Grunde auch von der herrschenden Klasse vertreten: der Krieg sei eine schreckliche Angelegenheit, die keiner Regierung gefalle, aber er sei immerhin ein unvermeidbares Mittel, welches einen neuen Zeitraum von Frieden und Wohlstand eröffnet. Das IBRP entblößt solche Lügen, ist sich aber nicht bewußt, daß diese Entblößung durch seine Theorie des Krieges als ‘Mittel der Entwertung des Kapitals’ geschwächt wird. Um die gefährlichen Konsequenzen dieser Position zu begreifen, müßte das IBRP diese Erklärung der IKP (Programma) untersuchen:

‘Die Krise hat ihren Ursprung in der Unmöglichkeit der Fortsetzung der Akkumulation. Dies äußert sich, wenn das Wachstum der Produktionsmasse es nicht mehr schafft, den Fall der Profitrate auszugleichen. Die Masse der gesamten Mehrarbeit reicht nicht mehr, dem vorgeschossenen Kapital Profit zu garantieren, und um die Bedingungen für die Rentabilität der Investitionen zu schaffen. Durch die Zerstörung des konstanten Kapitals (tote Arbeit) in großem Maßstab spielt der Krieg eine wirtschaftlich wesentliche Rolle. Dank der schrecklichen Zerstörungen des Produktionsapparates ermöglicht der Krieg eine gewaltige zukünftige Ausdehnung zur Ersetzung der zerstörten Anlagen, also eine parallele Ausdehnung des Profits, des gesamten Mehrwerts, d.h. der Mehrarbeit... Die Bedingungen für den Wiederaufschwung sind somit hergestellt. Der Wirtschaftskreislauf fängt von neuem an... Das weltweite kapitalistische System tritt veraltet in den Krieg ein, aber verjüngt sich in dem Blutbad, durch das es eine neue Jugend erhält, insgesamt geht es daraus mit der Vitalität eines kräftigen Neugeborenen hervor’ (Programme Communiste, Nr. 90, S. 24- aus Internationale Revue Nr. 15, S. 13).

Zu behaupten, daß der Kapitalismus wieder seine Jugend zurückgewinnen kann, wenn es einen Weltkrieg gegeben hat, beinhaltet sehr klare revisionistische Folgen. Der Weltkrieg würde dadurch die Notwendigkeit der proletarischen Revolution nicht auf die Tagesordnung stellen, sondern den Wiederaufbau des Kapitalismus, der wieder zu seiner Anfangsphase zurückkehrt. Damit wird die Analyse der 3. Internationale verworfen, die eindeutig  in den ‘Richtlinien der Komintern’ von der ‘Epoche der Auflösung des Kapitalismus, seiner inneren Zersetzung’ sprach. ‘Die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats’. Dies bedeutet einfach und klar mit einer grundlegenden Position des Marxismus zu brechen. Der Kapitalismus ist kein ewig bestehendes System, sondern eine Produktionsform, deren historischen Grenzen diesem System einen Zeitraum der Dekadenz aufzwingen, in dem  die kommunistische Revolution auf der Tagesordnung steht. Wir zitierten und kritisierten in unserer Polemik zum Thema ‘Die Auffassung vom Krieg und der Dekadenz der IKP’ in der Internationalen Revue Nr. 15 & 78. Von dem IBRP wird dies außer Acht gelassen. Ja, in seiner Antwort scheint das IBRP Programma zu verteidigen, wenn das Büro behauptet:

‘Die Debatte der IKS mit den Bordigisten konzentriert sich auf den scheinbaren Standpunkt der Bordigisten, daß es keinen mechanischen kausalen Zusammenhang zwischen Krieg und dem Akkumulationszyklus gibt. Wir sagen ‘scheinbar’, denn die IKS zitiert wie üblich keine Textstelle um zu beweisen, daß die Bordigisten die Geschichte so schematisch auffassen. Wir neigen sogar noch viel weniger dazu, die Behauptung hinsichtlich von Programma Comunista zu akzeptieren, wenn wir sehen, wie sie unsere Auffassung interpretieren’ (ihre Antwort in ‘Die materiellen Grundlagen des imperialistischen Kriegs’, International Communist Review, Nr. 13, S. 29).

Das Zitat, das wir in der Internationalen Revue Nr. 15 brachten, spricht für sich selbst und belegt, daß es bei der Position der IKP (Programma) etwas mehr als nur ‘schematisches’ gibt. Wenn das Büro die Frage vermeidet und über unsere ‘schlechten Interpretationen’ jammert, dann geschieht das, weil  - auch wenn das Büro es nicht wagt, die verrückten Aussagen der IKP zu wiederholen - seine Zweideutigkeiten zu den gleichen Schlußfolgerungen führen: ‘Wir behaupten, daß die ökonomische Funktion des Weltkrieges, d.h. dessen Folgen für den Kapitalismus darin besteht, Kapital als ein notwendiger Auftakt für einen neuen Zyklus der Akkumulation zu entwerten’. (International Communist Review Nr. 13).

Diese Auffassung von der ‘ökonomischen Funktion des imperialistischen Krieges’ stammt von Bukarin. In seinem Buch ‘Imperialismus und Weltwirtschaft’, das er 1915 schrieb, und einen Beitrag zu Fragen wie Staatskapitalismus und der nationalen Befreiung lieferte, hatte sich jedoch ein wichtiger Fehler eingeschlichen, da er die imperialistischen Kriege als ein Instrument der kapitalistischen Entwicklung betrachtete. ‘Kann der Krieg somit den allgemeinen Gang der Entwicklung des Weltkapitals nicht aufhalten, drückt er im Gegenteil die maximale Ausdehnung des Zentralisationsprozesses aus... In seinen wirtschaftlichen Auswirkungen erinnert der Krieg in vielem an die industriellen Krisen, wobei er sich natürlich von diesen durch die größere Intensität der Erschütterungen und Verwüstungen unterscheidet’ (S. 166, Kapitel: Der Krieg und die wirtschaftliche Entwicklung).

Der imperialistische Krieg ist kein Mittel der Entwertung des Kapitals, sondern ein Ausdruck des historischen Prozesses der Zerstörung, der Sterilisierung der Produktionsmittel und des Lebens, die ein Merkmal des dekadenten Kapitalismus sind.

Zerstörung und Sterilisierung des Kapitals sind aber nicht gleichbedeutend mit Entwertung des Kapitals. In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus gab es periodische, zyklische Krisen, die zu Perioden der Entwertung des Kapitals führten. Diese Bewegung wurde von Marx aufgezeigt:

‘Gleichzeitig mit dem Fall der Profitrate wächst die Masse der Kapitale, und geht Hand in Hand mit ihr eine Entwertung des vorhandnen Kapitals, welche diesen Fall aufhält und der Akkumulation von Kapitalwert einen beschleunigenden Antrieb gibt... Die periodische Entwertung des vorhandnen Kapitals, die ein der kapitalistischen Produktionsweise immanentes Mittel ist, den Fall der Profitrate aufzuhalten und die Akkumulation von Kapitalwert durch Bildung von Neukapital zu beschleunigen, stört die gegebnen Verhältnisse, worin sich der Zirkulations- und Reproduktionsprozeß des Kapitals vollzieht, und ist daher begleitet von plötzlichen Stockungen und Krisen des Produktionsprozesses’ (Das Kapital, 3. Band, III. Abschnitt, Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate, 15.Kapitel, Entfaltung der inneren Widersprüche, II. Konflikt zwischen Ausdehnung der Produktion und Verwertung S. 259).

Aufgrund seines ihm eigenen Wesens bringt der Kapitalismus ständig sowohl in der aufsteigenden Phase wie in der Dekadenz eine Überproduktion hervor, und auf diesem Hintergrund sind diese blutigen Zeiträume für das Kapital notwendig, um mit größerer Kraft seine normale Produktions- und Zirkulationsbewegung der Waren wieder in Gang zu bringen.

In der aufsteigenden Phase führte jede Stufe der Entwertung des Kapitals zu einer Expansion auf höherer Stufenleiter der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Dies war möglich, weil der Kapitalismus in neue vorkapitalistische Gebiete vorstoßen konnte, die er in seine Produktionsverhältnisse eingliedern konnte, indem er sie den Verhältnissen der Lohnarbeit und der Warenwirtschaft unterwarf. Aus diesem Grund waren ‘die Krisen des 19. Jahrhunderts, welche Marx analysierte, damals noch Wachstumskrisen. Es handelte sich um Krisen, aus denen das Kapital gestärkt hervorging.... Nach jeder Krise gab es immer noch neue Märkte für die kapitalistischen Länder zu erobern (8).

In der dekadenten Phase des Kapitalismus setzen sich die Entwertungskrisen des Kapitals fort und werden mehr oder weniger zu chronischen Krisen (9). Jedoch zu diesem, dem Kapitalismus immanenten und seinem innersten Wesen entsprechenden Merkmal tritt noch eine andere Eigenschaft in der Phase der Dekadenz hinzu, die sich sozusagen aufzwingt, sie sozusagen überlagert und ein Ergebnis der schwerwiegenden Zuspitzung der Widersprüche der kapitalistischen Dekadenz ist: die Tendenz zur Zerstörung und Sterilisierung des Kapitals.

Diese Tendenz wird hervorgebracht durch die historische Sackgasse, in die der dekadente Kapitalismus geraten ist, und diese Phase kennzeichnet: ‘Was ist der imperialistische Weltkrieg? Es handelt sich um den Kampf mit Gewalt, den die verschiedenen kapitalistischen Gruppen führen müssen, nicht um neue Märkte zu erobern, und neue Rohstoffquellen zu erschließen, sondern um schon vorhandene unter sich aufzuteilen. Bei dieser Aufteilung gewinnen die einen auf Kosten der anderen. Der Krieg hat seine Wurzeln in der allgemeinen und ständigen Wirtschaftskrise, die grassiert und aufzeigt, daß das kapitalistische System auf das Ende seiner historischen Entwicklungsmöglichkeiten gestoßen ist’ (Der Renegat Vercesi, Mai 1944, in ‘Internationales Bulletin der Italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken Nr. 5). ‘Der dekadente Kapitalismus ist in der Phase, in der die Produktion nur unter der Voraussetzung weitergeführt werden kann, wenn sie die materielle Form von Produkten und Produktionsmitteln annimmt,  die kein Wachstum und  eine Erweiterung der Produktion mit sich bringen, sondern ihre Eindämmung und Zerstörung (ebenda).

In der Dekadenz hat sich das Wesen des Kapitalismus überhaupt nicht geändert. Der Kapitalismus bleibt weiterhin ein System der Ausbeutung, und er leidet auch noch in einem viel größeren Maße unter der Tendenz zur Entwertung des Kapitals - die gar zu einer ständigen Tendenz wird. Das Wesen der Dekadenz ist jedoch die historische Sackgasse des Systems, die diese starke Tendenz hin zu Zerstörung und Chaos hervorgebracht hat. ‘ Wenn es keine revolutionäre Klasse gibt,  die die historischen Möglichkeiten in sich trägt, um den Aufbau eines Wirtschaftssystems zu bewerkstelligen, das den historischen Notwendigkeiten entspricht, gerät die Gesellschaft und die Zivilisation in eine Sackgasse, wo der Zusammenbruch und die ständige Auflösung, das Auseinanderbrechen unvermeidbar sind. Marx zeigte das Beispiel einer ähnlichen historischen Sackgasse:  die  römischen und griechischen Zivilisationen der Antike. Engels wandte diese These auf die bürgerliche Gesellschaft an und kam zu der Schlußfolgerung, wenn das Proletariat unfähig wäre, dieses Problem zu lösen,  würden die Widersprüche, die in der Gesellschaft vorhanden sind, zu keinem anderen Ergebnis führen als zur Barbarei’(ebenda).

Die Position der Kommunistischen Internationale zum imperialistischen Krieg

Das IBRP will sich über die IKS lächerlich machen, wenn wir diesen Wesenszug des dekadenten Kapitalismus hervorheben: ‘Aus der Sicht der IKS reduziert sich alles auf Chaos und Zerfall, und damit brauchen wir uns nicht länger den Kopf darüber zerbrechen, eine detaillierte Untersuchung der Lage anzufertigen. Dies ist der Schlüssel ihrer Position’ (10). Wir werden auf diese Frage zurückkommen. An dieser Stelle möchten wir jedoch betonen, daß diese Beschuldigung der Vereinfachung, die der Meinung des IBRP nichts anderes als eine Verwerfung des Marxismus als eine Untersuchungsmethode der Wirklichkeit beinhaltet, ebenfalls an den 1. Kongress der Komintern, an Lenin, Rosa Luxemburg gerichtet werden muss.

Das Ziel dieses Artikels ist nicht, die Grenzen und Schwächen der Position der Komintern aufzuzeigen, wenn wir uns nicht vorher auf die klaren Aussagen dieser Position stützen. In den Grundsatztexten der Komintern gibt es klare Hinweise darauf, daß die Idee vom Krieg als eine Lösung der Wirtschaftskrise verworfen wird, wie auch die Auffassung, daß es einen Kapitalismus gäbe, der nach dem Krieg ‘wieder normal’ funktionierte, genau wie in den Akkumulationszyklen während der aufsteigenden Phase.

‘Die ‘Friedenspolitik’ der Entente enthüllt hier endgültig vor dem internationalen Proletariat das Wesen des Ententeimperialismus und des Imperialismus im allgemeinen. Gleichzeitig beweist sie, daß die imperialistischen Regierungen unfähig sind, einen ‘gerechten und dauernden’ Frieden zu schließen, und daß das Finanzkapital nicht imstande ist, die zerstörte Volkswirtschaft wiederherzustellen. Die weitere Herrschaft des Finanzkapitals würde entweder zur völligen Vernichtung der zivilisierten Gesellschaft oder zu einer Steigerung der Ausbeutung, der Versklavung, der politischen Reaktion, der Rüstungspolitik und schließlich zu neuen vernichtenden Kriegen führen’ (Die Kommunistische Internationale, 1919, Nr. 1, S. 51) Thesen über die internationale Lage und die Politik der Entente, angenommen auf dem 1. Kongreß der Komintern am 6.3. 1919).

Die Komintern hob deutlich hervor, daß das Kapital die zerstörte Wirtschaft nicht wiederherstellen kann, d.h. daß es nach dem Kriege keinen ‘normalen, gesunden’ Akkumulationszyklus herbeiführen kann, und daß das Kapital sich keine neue Jugend verschaffen kann, wie die IKP meint. Aber mehr noch: eine Rückkehr zu solch einer Wiederherstellung würde zutiefst geprägt und deformiert sein durch die Entwicklung der Rüstungsindustrie, einer reaktionären Politik und der Verschärfung der Ausbeutung. In dem Manifest des 1. Kongresses erklärt  die Komintern: ‘Die Verteilung der Rohstoffe, die Ausnutzung des Petroleums von Baku oder Rumänien, der Donezkohle, des ukrainischen Getreides, das Schicksal der deutschen Lokomotiven, Eisenbahnwagen, Automobile, die Versorgung des hungernden Europas mit Blut und Fleisch - all diese Grundfragen des wirtschaftlichen Lebens der Welt werden nicht durch den freien Wettbewerb, nicht durch Kombination nationaler und internationaler Trusts und Konsortien geregelt, sondern durch direkte Anwendung von militärischer Gewalt im Interesse ihrer weiteren Erhaltung. Hat die völlige Unterordnung der Staatsmacht unter die Gewalt des Finanzkapitals die Menschheit zur imperialistischen Schlachtbank geführt, so hat das Finanzkapital durch diese Massenabschlachtung nicht nur den Staat, sondern auch sich selbst vollends militarisiert und ist nicht mehr fähig, seine wesentlichen ökonomischen Funktionen anders als mittels Blut und Eisen zu erfüllen’ (Manifest an das Proletariat der ganzen Welt, angenommen auf dem 1. Kongreß der Komintern am 6.3.1919).

Die Perspektive, die die Komintern aufzeigt, ist die einer ‘Militarisierung der Wirtschaft’, und alle marxistischen Analysen fassen dies als einen Beweis für die Zuspitzung der kapitalistischen Widersprüche auf und nicht als deren Linderung und Abschwächung, egal wie stark sie zeitlich begrenzt sein mag. Das IBRP verwirft den Militarismus als ein Akkumulationsinstrument. Die Komintern betont ebenfalls, daß die Weltwirtschaft nicht mehr zu der Zeit des Liberalismus und auch nicht mehr zu den Trusts zurückkehren könnte. Schließlich wird hervorgehoben, daß der Kapitalismus nicht ‘mehr fähig ist, seine wesentlichen ökonomischen Funktionen anders als mittels Blut und Eisen zu erfüllen. Dies kann nur folgendermaßen verstanden werden. Nach dem Krieg kann der Mechanismus der Akkumulation nicht mehr normal funktionieren. Um dies zu tun, benötigt, er vielmehr Blut und Eisen. Die Komintern zeigte dann auch, daß die Perspektive in der Zeit nach dem Krieg vielmehr die einer Zuspitzung der Kriege war. ‘Die Opportunisten, die vor dem Weltkriege die Arbeiter zur Mäßigkeit im Namen des allmählichen Übergangs zum Sozialismus aufforderten, die während des Krieges Klassendemut im Namen des Burgfriedens und der Vaterlandsverteidigung verlangten, fordern wiederum vom Proletariat Selbstverleugnung zur Überwindung der entsetzlichen Folgen des Krieges. Fände diese Predigt bei den Arbeitermassen Gehör, so würde die kapitalistische Entwicklung auf den Knochen mehrerer Generationen in neuer, noch konzentrierterer und ungeheuerlicherer Form ihre Wiederaufrichtung feiern mit der Aussicht eines neuen, unausbleiblichen Weltkrieges’ (Manifest, ebenda,).

Es war eine historische Tragödie, daß die Komintern nicht dazu in der Lage war, diesen klaren Rahmen der Analyse weiter auszubauen, und daß sie in ihrer Niedergangsphase dieser Analyse widersprüchliche Aussagen insofern entgegensetzte, als sie die Auffassung entwickelte, daß der Kapitalismus wieder zu seiner Normalität zurückkehrte, und daß die Analyse des Niedergangs und der Barbarei des Systems nur mehr rhetorische Erklärungen waren. Die Aufgabe der Kommunistischen Linken besteht jedoch darin, die allgemeine Aussage, die die Komintern machte, zu vertiefen und voranzutreiben. Aus den oben erwähnten Zitaten geht hervor, daß die Schlußfolgerung nicht eine Orientierung war, wo der Kapitalismus in einen konstanten Zyklus von Akkumulation - Krise - Krieg - Entwertung - neue Akkumulation eingetreten ist, sondern in eine zutiefst geänderte Weltwirtschaft, die nicht dazu in der Lage ist, zu den Bedingungen der normalen Akkumulation zurückzukehren, sondern neuen Erschütterungen und Zerstörungen unterworfen ist.

Die Irrationalität des imperialistischen Krieges

Daß die Analyse der Kommunistischen Internationale (und damit die Position von Rosa Luxemburg und Lenin) unterschätzt wird, wird klar, wenn das IBRP unseren Begriff der Irrationalität des Krieges verwirft. ‘Aber der Artikel der IKS lenkt vom Thema ab durch den nächsten Kommentar, denn dies würde bedeuten, daß wir damit übereinstimmten, daß es ‘eine ökonomische Rationalität hinter dem Phänomen Weltkrieg’ gibt. Dies hieße, daß wir die Zerstörung von Werten als ein Ziel des Kapitalismus auffaßten, d.h. dies wäre die direkte Kriegsursache. Aber Ursachen sind nicht das gleich wie die Konsequenzen. Die herrschende Klasse der imperialistischen Staaten zieht aber nicht bewußt in den Krieg, um Kapital zu entwerten’ (15).

In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus wurden die zyklischen Krisen nicht bewußt durch die herrschende Klasse hervorgerufen. Jedoch besaßen die zyklischen Krisen eine ‘ökonomische Rationalität’: sie erlaubten eine Entwertung des Kapitals, und infolgedessen einen Neuanfang der kapitalistischen Akkumulation auf einer neuen Ebene. Das IBRP meint, daß die Weltkriege der kapitalistischen Dekadenz eine Rolle der Entwertung des Kapitals und der Erneuerung der Akkumulation spielen. Das heißt, es schreibt den Kriegen eine ökonomische Rationalität der gleichen Art zu wie die zyklischen Krisen in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus.

Hier liegt genau der zentrale Fehler, und wie wir schon gegenüber der CWO vor 16 Jahren sagten, als wir in einem Artikel ‘Ökonomische Theorie und Kampf für den Sozialismus’ schrieben: ‘Wir können sehen, daß der Fehler Bukarins von der CWO in ihrer Analyse  wiederholt wird. Der CWO zufolge führt jede Krise  (durch den Krieg) zu einer Entwertung des konstanten Kapitals, wodurch die Profitrate gesteigert wird und der Zyklus von Wiederaufbau - Boom - Krise und Krieg erneut wiederholt werden kann’ (zitiert aus der Zeitung der CWO - Revolutionary Perspectives, Nr. 6, S. 18, Die Akkumulation der Widersprüche). Daher faßt die CWO die Krisen im dekadenten Kapitalismus in wirtschaftlichen Begriffen als die zyklischen Krisen des aufsteigenden Kapitalismus auf einer höheren Ebene auf’ (International Review, Nr. 16, S. 15). 

Das IBRP sieht den Unterschied zwischen aufsteigender und Niedergangsphase ausschließlich in dem Umfang und dem Ausmaß der periodischen Unterbrechungen des Akkumulationszyklus.

‘Die Kriegsursachen sind auf die Bemühungen der Bourgeoisie zurückzuführen, diese Kapitalwerte gegen die Rivalen zu verteidigen. Im aufsteigenden Kapitalismus spielten sich diese Rivalitäten hauptsächlich auf ökonomischer Ebene ab und zwischen rivalisierenden Betrieben. Diejenigen, die einen höheren Grad an Kapitalkonzentration durchsetzen konnten (die Tendenz des Kapitals zu Zentralisierung und Monopolbildung) waren dadurch in die Lage versetzt,... ihre Gegner in die Enge zu treiben. Diese Rivalitäten führten auch zu einer Überakkumulation von Kapital, die die Krisen im 10-Jahresrhythmus im 19. Jahrhunderten mit sich brachten. Die schwächeren Betriebe brachen zusammen, oder sie wurden von den stärkeren Rivalen übernommen. Das Kapital wurde in jeder Krise entwertet und eine neue Runde Akkumulation konnte beginnen, aber jedes Mal stiegen Konzentration und Zentralisierung des Kapitals... In der Epoche des Monopolkapitalismus jedoch hat die Konzentration die Ebene des Nationalstaates erreicht. Das Ökonomische und Politische sind jetzt eng miteinander in der imperialistischen oder dekadenten Stufe des Kapitalismus verwoben... In dieser Epoche ist für die Verteidigung der Kapitalwerte die Intervention des Staates selber erforderlich; damit werden die Rivalitäten zwischen den imperialistischen Mächten verschärft’ (S. 29-30). Infolgedessen ‘haben imperialistische Kriege nicht solch beschränkten Ziele (wie in der aufsteigenden Phase). Sobald die Bourgeoisie diese Kriege anfängt, gibt es nur einen Kampf um Zerstörung, Auslöschung, bis eine Nation oder ein Block von Nationen militärisch und wirtschaftlich zerstört ist. Die Folgen des Krieges sind dann, daß Kapital nicht nur physisch zerstört wurde, sondern daß es auch eine massive Entwertung von bestehendem Kapital gegeben hat’ (ebenda).

Geht man dieser Analyse auf den Grund, findet man einen starken Ökonomismus, der den Krieg nur als ein unmittelbares und mechanisches Ergebnis der wirtschaftlichen Entwicklung auffaßt. In unserem Artikel in der Internationalen Revue Nr. 15 & 79 haben wir aufgezeigt, daß der Krieg eine globale ökonomische Wurzel hat (die historische Krise des Kapitalismus), daß man daraus nicht ableiten kann, daß jeder Krieg aus einem direkten ökonomischen Grund geführt werde. Das IBRP wollte hinter dem Golfkrieg eine ökonomische Erklärung suchen und argumentierte auf vulgäre ökonomistische Art und Weise, daß es sich um einen Krieg um die Erdölfelder handelte. Der Balkankrieg wird auch durch den Appetit seitens der Großmächte nach irgendwelchen Märkten erklärt (19). Es stimmt allerdings, daß unter dem Druck unserer Kritik und den empirischen Beweisen das IBRP diese Analyse korrigiert hat, aber es hat noch nicht geschafft, diesen vulgären Ökonomismus infragezustellen, demzufolge der Krieg eine unmittelbare und ökonomische ökonomische Wurzel habe (20).

Das IBRP verwechselt wirtschaftliche Konkurrenz  und imperialistische Rivalität, die nicht notwendigerweise gleich sind. Die imperialistische Rivalität hat als Hintergrund eine wirtschaftliche Situation mit einer allgemeinen Sättigung des Weltmarktes, aber das heißt nicht, daß man  als direkten Ursprung die reine Handelskonkurrenz nennen kann. Ihr Ursprung ist wirtschaftlich, strategisch und militärisch und darin bündeln sich politische und geschichtliche Faktoren.

In der aufsteigenden Phase hatten die Kriege (der nationalen oder kolonialen Befreiung) zwar ein globales ökonomisches Ziel (die Bildung von neuen Nationen oder die Ausdehnung des Kapitalismus mittels der Bildung von Kolonien), dennoch entstanden sie nicht direkt aus ökonomischer Konkurrenz. Der französisch-preußische Krieg beispielsweise hatte dynastische und strategische Wurzeln, aber er hatte keine unüberwindbare Wirtschaftskrise zum Hintergrund und auch keine besondere ökonomische Rivalität zwischen den beiden Kontrahenten. Das IBRP versteht diesen Punkt bis zu einem gewissen Punkt, wenn es schreibt:

‘Während es in den post-napoleanischen Kriegen im 19. Jahrhundert großes Elend und Gewalt gab (wie die IKS richtigerweise erkennt), lag der wirkliche Unterschied darin, daß für spezifische Ziele gekämpft wurde, die ermöglichten, schnelle und durch Verhandlungen erzielte Lösungen durchzusetzen. Die Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts hatte noch die programmatische Aufgabe der Zerstörung der Überreste der alten Produktionsweise und der Schaffung wirklicher Nationen (21). Darüber hinaus sieht das IBRP wohl den Unterschied zur dekadenten Phase: ‘Die Kosten der größeren kapitalistischen Entwicklung der Produktivkräfte waren nicht länger unvermeidbar. Ja, diese Kosten haben solche Ausmaße erreicht, daß sie drohen, das zivilisierte Leben sowohl kurzfristig (Umweltzerstörung, Hungersnöte, Völkermord) als auch langfristig (Weltkriege) zu zerstören’ (S. 31).

Die Feststellungen des IBRP sind richtig, und wir teilen sie voll und ganz, aber wir möchten eine einfache Frage stellen: was bedeutet es, daß die Kriege der Dekadenz ‘totale Ziele’ haben, und daß der Aufwand für die Aufrechterhaltung des Kapitalismus schon soweit entwickelt ist, daß dies bis zur Zerstörung der Menschheit geht? Gab es solche Situationen der Erschütterungen und der Zerstörung, die das IBRP als qualitativ unterschiedlich von denen der aufsteigenden Phase betrachtet, in einer wirtschaftlichen Situation der normalen und ‘gesunden’
Reproduktion der Akkumulation des Kapitals in der aufsteigenden Phase?

Die tödliche Krankheit des dekadenten Kapitalismus sieht das IBRP nur in den Zeiten der Weltkriege, aber nicht in den scheinbar ‘normalen’ Zeiten, d.h. in den Zeiten, wo es dem IBRP zufolge eine Entwicklung des Zyklus der Akkumulation des Kapitals gibt. Dies führt das IBRP zu einem gefährlichen Zwiespalt: einerseits meinen sie, gebe es Zeiten der Entwicklung des normalen Zykluses der Kapitalakkumulation, wo es wirkliches wirtschaftliches Wachstum gibt, das ‘technologische Revolutionen’ hervorbringt und ein Anwachsen der Arbeiterklasse. In diesen Zeiten des vollen Funktionierens des Akkumluationszykluses scheint der Kapitalismus zu seinen Ursprüngen zurückzukehren, sein Wachstum scheint wieder Zahlen  wie in seiner Jugendzeit zu erzielen (das IBRP wagt dies nicht zu sagen, aber die IKP (Programa) behauptet dies offen). Auf der anderen Seite gibt es die Zeit der Weltkriege, wo die Barbarei des dekadenten Kapitalismus in all ihrer Brutalität und Gewalt deutlich ans Tageslicht tritt.

Dieser Zwiespalt erinnert stark an die Position von Kautsky und seiner These vom ‘Superimperialismus’. Einerseits erkannte Kautsky, daß der Kapitalismus nach dem 1. Weltkrieg in eine Phase eingetreten war, in der es große Katastrophen und Erschütterungen geben könnte, aber er behauptete gleichzeitig, daß es eine ‘objektive’ Tendenz zur höchsten Konzentration des Kapitalismus hin zu einem imperialistischen Trust gäbe, wodurch der Kapitalismus friedlich werden könnte.

In dem Vorwort zu dem eingangs zitierten Buch von Bukarin (Weltwirtschaft und Imperialismus) legte Lenin diesen zentristischen Widerspruch Kautskys bloß:

‘Kautsky hatte das Versprechen gegeben, Marxist zu sein in der herannahenden akuten Katastrophenepoche, die er in seinem 1909 beschriebenen Werk über diese Epoche mit aller Bestimmtheit hatte prophezeien und positiv ins Auge fassen müssen. Heute, da bereits absolut feststeht, daß diese Epoche angebrochen ist, gibt Kautsky abermals nur das Versprechen, in einer zukünftigen, - wer weiß, ob überhaupt realisierbaren - Epoche des Ultraimperialismus Marxist zu sein! Kurz und gut - Versprechungen, soviel ihr wollt: in einer anderen Epoche Marxist zu sein, aber nur nicht heute, nur nicht unter den gegenwärtigen Bedingungen, nur nicht zu dieser Stunde’ (Lenin, Dez. 1915, S. 10)

Wir wollen damit nicht behaupten, daß das gleiche mit dem IBRP passiert. Sie halten stark fest an der Analyse der Dekadenz, wenn sie von den Kriegszeiten sprechen, während sie in den Zeiten der Akkumulation mit einer Analyse aufwarten, die Konzessionen an die bürgerlichen Lügen vom ‘Wachstum’ und ‘Wohlstand’ dieses Systems macht.

Die Unterschätzung der Tragweite des Prozesses des Zerfalls des Kapitalismus

Diese Tendenz, die marxistische Analyse der Dekadenz nur hinsichtlich der Zeit der Weltkriege zu verteidigen, erklärt die Schwierigkeit des IBRP, die gegenwärtige historische Phase des Kapitalismus zu begreifen:

‘ Seit ihrer Gründung vor 20 Jahren hat die IKS ein konsistentes Verhalten: sie hat alle Versuche abgelehnt zu untersuchen, wie die Kapitalisten bislang mit der Krise umgegangen sind. Die IKS scheint zu meinen, daß jeder Versuch, die besonderen historischen Aspekte der jetzigen Krise zu analysieren, gleich bedeutet zu sagen, daß der Kapitalismus die Krise überwunden hat. Dies ist aber nicht der Fall. Die Marxisten müssen jetzt begreifen, warum die gegenwärtige Krise die Dauer der großen Depression von 1873-1896 übertrifft. Während diese große Krise zu einer Zeit auftrat, als der Kapitalismus in seine Monopolphase eintrat, und während diese Krise noch durch eine ökonomische Entwertung überwindbar war, bedroht die heutige Krise die Menschheit mit einer viel größeren Katastrophe’ (Antwort des IBRP S. 34).

Das IBRP scheint sicher zu sein, behaupten zu können, die IKS habe auf eine Untersuchung der gegenwärtigen Krise verzichtet. Das IBRP kann sich davon überzeugen, wenn es die Artikel liest, die wir regelmäßig in jeder Nummer unserer Internationalen Revue veröffentlichen, wobei wir die Krise in all ihren Aspekten untersuchen. Aus unserer Sicht ist die 1967 wieder offen aufgebrochene Krise eine chronische und ständige Krise des Kapitalismus in seiner Niedergangsphase. Sie stellt eine große, immer weniger kontrollierbare  Fessel für den kapitalistischen Akkumulationsprozeß dar.  Die ‘spezifischen Aspekte’ der gegenwärtigen Krise sind zurückzuführen auf die verschiedenen Versuche des Kapitals, mittels der verstärkten Staatsintervention, die Flucht in die Verschuldung und die monetären und kommerziellen Manipulationen zu versuchen, eine unkontrollierbare Explosion ihrer zutiefst verwurzelten Krise zu verhindern. Gleichzeitig wird das Scheitern dieser Lösungen und der entgegengesetzten Wirkungen deutlich, wie sie alle die unheilbare Krankheit des Kapitalismus nur noch verschlimmern.

Das IBRP stellt als ‘große Aufgabe’ der Marxisten die Erklärung der langen Dauer der Krise dar. Es überrascht uns nicht, daß das IBRP sich über die lange Dauer dieser Krise wundert, weil die Genossen des IBRP  das grundlegende Problem nicht verstehen. Es gibt zur Zeit nämlich nicht das Ende eines Akkumulationszyklus, sondern eine historische Situation der Sackgasse, eine blockierte Lage, wo die Akkumulationsmechanismen zutiefst umgewälzt werden. Es handelt sich um eine Situation, in der der Kapitalismus seine wesentlichen ökonomischen Funktionen - wie die Komintern sagte - nur noch durch Eisen und Blut aufrechterhalten kann.

Das Kernproblem des IBRP bringt sie wieder einmal dazu, sich ironisch über unsere Position zur gegenwärtigen historischen Situation des Chaos und des Zerfalls des Kapitalismus zu äußern. ‘Während wir damit einverstanden sein können, daß es Tendenzen zum Zerfall und zum Chaos gibt (seitdem der Akkumulatinoszyklus seit  20 Jahren zu Ende gegangen ist, ist es schwierig sich vorzustellen, wie es anders sein könnte), kann dies jedoch kein Anlaß sein, dies als Slogan zu verwenden, um eine konkrete Analyse der gegenwärtigen Ereignisse zu umgehen’ (24).

Wie man sieht, befaßt sich das IBRP lieber mit unserer angeblichen ‘Vereinfachung’, eine Art ‘intellektueller Faulheit’, die sich in radikale Parolen flüchtet über den Ernst der Lage und das Chaos im Kapitalismus, damit man keine konkrete Untersuchung der Wirklichkeit vornimmt.

Die Sorge des IBRP ist richtig. Marxisten müssen sich und werden sich damit befassen müssen (dies ist eine unserer Aufgaben im Kampf der Arbeiterklasse), die Ereignisse in ihren Einzelheiten zu untersuchen anstatt rhetorische Verallgemeinerungen zu produzieren im Stile eines Longuets, der dies mit seinem ‘orthodoxen Marxismus’ in Frankreich betrieb, oder allgemeinen anarchistischen Aussagen zu verfallen, die vielen passen, aber in entscheidenden Augenblicken zu opportunistischen Abweichungen, wenn nicht gar zu offenem Verrat führen.

 

Aber um eine konkrete Untersuchung der Ereignisse anzufertigen, ist es notwendig, einen klaren globalen Rahmen zu haben - und da stößt das IBRP auf Schwierigkeiten. Da es den Ernst der Lage und die Tragweite der Erschütterungen, der Widersprüche des Kapitalismus in den ‘normalen’ Zeiten der Phase des Zyklus der Akkumulation nicht versteht, begreift es auch nicht den Prozeß des Zerfalls und des Chaos im Weltkapitalismus, und warum sich dieser Prozeß seit 1989 seit dem Zusammenbruch des Ostblocks beschleunigt hat.

Das IBRP sollte sich an den jämmerlichen Unfug erinnern, den sie sagten, als die stalinistischen Regime zusammenbrachen. Sie spekulierten damals über die neu entstandenen ‘phantastischen Märkte’, die diese Ruinen dem Westen bieten würden und glaubten, daß dadurch eine Abschwächung der kapitalistischen Krise möglich sein werde. Seitdem hat das IBRP in Anbetracht der empirischen Beweise und aufgrund unserer Kritik seine Position hierzu geändert. Dies ist sehr gut und zeigt sein Verantwortungsbewußtsein und Ernsthaftigkeit gegenüber der Arbeiterklasse. Aber das IBRP muß dennoch zum Kern des Problems vorstoßen: warum solche Fehltritte? Warum mußte das IBRP erst seine Einschätzung nach Erkenntnis der Ereignisse selber ändern? Welche Avantgarde ist das, die erst durch den Lauf der Ereignisse dazu gebracht wird, ihre Position zu ändern, anstatt diese Ereignisse vorherzusehen? Das IBRP sollte aufmerksam die Texte lesen, in denen wir die allgemeine Entwicklung des Kapitalismus und seines Zerfalls aufzeigen (25). Dann könnte das IBRP sehen, daß wir keine ’Vereinfachungen’ betreiben, sondern daß es eine Langsamkeit und Inkohärenz bei der Analyse des IBRP gibt.

Diese Probleme werden erneut ersichtlich bei der folgenden Spekulation des IBRP: ‘Wenn ein weiterer Beweis des Idealismus der IKS erforderlich wäre, ihre letzte Beschuldigung gegen das Büro ist, daß wir keine ‘einheitliche und globale Auffassung vom Krieg’ haben, wodurch eine ‘Blindheit und Unverantwortung’ (sic) entsteht und wir ‘nicht begreifen, daß der nächste Krieg nichts anders als die vollständige Zerstörung des Planeten’ bedeuten würde. Die IKS mag recht haben, obgleich wir gerne die wissenschaftliche Grundlage gesehen hätten, auf die sie sich bei dieser Aussage stützt. Wir unsererseits haben immer gesagt, daß der nächste Krieg ‘die Fortsetzung der Existenz der Menschheit’ infragestellt. Aber es gibt keine Sicherheit darüber, daß alles ausgelöscht werden wird. Der nächste imperialistische Krieg mag tatsächlich zur endgültigen Zerstörung der Menschheit führen. Es gibt Massenvernichtungswaffen, die in bisherigen Kriegen noch nicht zum Einsatz kamen (z.B. biologische und chemische Waffen), und es gibt keine Garantie, daß ein nukleares Holocaust das nächste Mal den ganzen Planeten treffen würde. Tatsächlich sehen die gegenwärtigen Kriegsvorbereitungen der imperialistischen Mächte den Abbau von Massenvernichtungsmitteln vor, während sog. konventionelle Waffen weiter entwickelt werden. Selbst die Bourgeoisie begreift, daß ein zerstörter Planet für niemanden etwas wert ist (selbst wenn die Kräfte, die zum Krieg führen und das Wesen des Krieges letzten Endes außer ihrer Kontrolle sind)’ (S. 35-36).

Das IBRP sollte ein wenig aus der Geschichte lernen. Im 1. Weltkrieg benutzten alle Räuber diese zerstörerischen Kräfte, wobei sie gleichzeitig immer mörderischere Waffensysteme entwickelten. Nachdem Deutschland im 2. Weltkrieg schon besiegt war, beschloß man die Flächenbombardierungen von Dresden und anderen Städten, wobei Brandbomben und Streubomben zum Einsatz kamen, und die USA warfen die Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki, nachdem Japan schon besiegt war. Seitdem übertrafen die Bombardierungen von Hanoi 1971 an einem Abend all die Bombenangriffe, die 1945 auf Deutschland geflogen worden waren. Die Flächenbombardierungen von Bagdad im Jahre 1991 übertrafen dann wiederum den traurigen Rekord von Hanoi. Im gleichen Golfkrieg wurden dann neue chemische und atomare konventionelle Waffen an US-amerikanischen Soldaten von den USA ausprobiert. Es ist mittlerweile bekannt geworden, daß die USA in den 50er Jahren an der eigenen Bevölkerung Experimente mit bakteriologischen Waffen vornahmen. In Anbetracht dieser Massen an Beweisen zeigt das IBRP, das diese Informationen in jeder bürgerlichen Publikation finden kann, eine Unehrlichkeit und Ignoranz, wenn es über den Grad der Kontrolle der Bourgeoisie über ihre Waffensysteme spekuliert, über deren ‘Interesse’, ein vollständiges Holocaust zu vermeiden. Selbtmörderisch träumt das IBRP davon, daß ‘weniger zerstörerische Waffen eingesetzt würden’, obgleich die letzten 80 Jahre zeigen, daß genau das Gegenteil der Fall ist.

Bei dieser sinnlosen Spekulation begreift das IBRP nicht nur nicht die Theorie, sondern verschließt die Augen vor der niederschmetternden und unleugbaren Beweiskraft der Tatsachen. Es muß das schwerwiegende und revisionistische Wesen dieser stupiden Illusionen der machtlosen Kleinbürger begreifen, die sich wie an einem Strohhalm an der Idee festhalten, daß ‘gar die Bourgeoisie begreift, daß ein zerstörter Planet niemandem nützt’.

Das IBRP muß seinen Zentrismus überwinden, seine Schwankungen zwischen einer kohärenten Position zum Krieg und zur Dekadenz des Kapitalismus und seinen spekulativen Theoretisierungen, die wir kritisiert haben, vom Krieg als ein Mittel der Entwertung des Kapitals und der Erneuerung des Akkumulationszykluses. Diese Fehler bewirken, daß das IBRP selbst nicht seine eigene Analyse ernst nimmt und sie als ein kohärentes Instrument einsetzt. So schreibt das IBRP: ’die Kräfte, die zum Krieg führen und das Wesen des Krieges stehen letztendlich außerhalb der Kontrolle der Bourgeoisie’.

Für das IBRP ist dieser Satz ein rein rhetorischer Einschub. Aber wenn das Büro wirklich der Methode und der Arbeit der Kommunistischen Linke treu sein und die geschichtliche Wirklichkeit begreifen will, müßte dieser Satz als Kompaß bei der Analyse wirken, Achse ihres Denkens sein, um konkret die Tatsachen und die historischen Tendenzen des heutigen Kapitalismus zu begreifen.

Adalen   27.05.95


[1]In seiner Antwort geht das IBRP auch auf andere Fragen ein wie eine besondere Auffassung zum Staatskapitalismus, die wir hier nicht behandeln.

[2]Siehe Internationale Revue Nr. 15 ‘Die Verwerfung der Auffassung der Dekadenz führt zur Schwächung der Arbeiterklasse gegenüber dem Krieg.


[i][i]In seiner Antwort geht das IBRP auch auf andere Fragen ein wie eine besondere Auffassung zum Staatskapitalismus, die wir hier nicht behandeln.

[i]Siehe Internationale Revue Nr. 15 ‘Die Verwerfung der Auffassung der Dekadenz führt zur Schwächung der Arbeiterklasse gegenüber dem Krieg.

[ii]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Internationales Büro für die Revolutionäre Partei [65]

Jahresfeiern 1944: 50 Jahre imperialistischer Lügen (2. Teil)

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Im ersten Teil dieses Artikels haben wir den verabscheuungswürdigen Charakter der Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag der Landung der Alliierten im Jahr 1944 dargestellt. Die Landung bedeutete keinerlei soziale Befreiung für das Proletariat, sondern ein zugespitztes Massaker während des letzten Kriegsjahres sowie Elend und Terror in den Jahren des Wiederaufbaus. Die Gesamtheit des in sich zerstrittenen Kapitals war verantwortlich für den Krieg, der nach einer Neuaufteilung der Welt unter den grossen Mächten beendet wurde. Wie wir bei mehreren Gelegenheiten in dieser Revue aufgezeigt haben, ist die Arbeiterklasse im Gegensatz zum 1. Weltkrieg nicht auf der gesellschaftlichen Bühne erschienen. Die Arbeiter aller Länder sind vom kapitalistischen Terror gelähmt geblieben. Aber wenn auch die Arbeiterklasse sich nicht auf die Höhe ihrer historischen Fähigkeiten schwingen konnte, um die Bourgeoisie zu bekämpfen, so bedeutet dies keineswegs, dass sie verschwunden wäre oder dass sie ihre Kampfkraft vollständig verloren hätte. Ebensowenig sind die revolutionären Minderheiten vollständig gelähmt geblieben.

Die Arbeiterklasse ist die einzige Kraft, die fähig ist, sich der Entfesselung der imperialistischen Barbarei zu widersetzen, wie sie es in unbestreitbarer Weise im Ersten Weltkrieg bewiesen hat. Die herrschende Klasse hat sich nicht in den Krieg geworfen, bevor sie die Bedingungen der Zerstückelung und Lähmung der internationalen Arbeiterklasse geschaffen hatte, und die demokratische Bourgeoisie von heute kann hochtrabend von ihrer Befreiung reden. Ihre Vorgänger hatten mit Vorsicht alle Massnahmen ergriffen, um vor, während und nach dem Krieg zu vermeiden, dass das Proletariat erneut das barbarische System in seinen Grundfesten erschütterte, wie es dies 1917 in Russland und 1918 in Deutschland getan hatte. Die sich gegen den Krieg entwickelnde revolutionäre Welle zeigte auf, dass die Bourgeoisie keineswegs eine allmächtige Klasse ist, denn der Kampf der Arbeitermassen, der in den Aufstand mündet, ist eine soziale Bombe, die tausendmal lähmender ist als die von den Nazis entwickelte und unter den demokratischen und stalinistischen Regimes vollendete Atombombe. Der ganze Ablauf des Zweiten Weltkriegs zeigt, wenn man sich einmal von der ideologischen Bearbeitung über die einzelnen militärischen Schlachten gegen das "Uebel" Hitler gelöst hat, dass die Arbeiterklasse eine der zentralen Sorgen der Bourgeoisie in den sich feindlich gegenüberstehenden Lagern war. Dies bedeutet keineswegs, dass die Arbeiterklasse darbei gewesen wäre, die bestehende Ordnung wie zwanzig Jahre davor zu bedrohen, jedoch dass sie eine Hauptsorge der Bourgeoisie insofern war, als sie die Reichtümer der Gesellschaft produziert und deshalb nicht vollständig liquidiert werden durfte. Man musste ihr Bewusstsein und selbst den Gedanken über ihre Existenz als soziale Klasse, deren Interessen der "Nation" entgegenstehen, zerstören. Den Arbeitern musste der Gedanke daran, dass sie als vereinte Klasse dazu befähigt sind, den Kurs der Geschichte zu ändern, ausgetrieben werden.

Wir wollen hier kurz in Erinnerung rufen, dass bei jeder Drohung des Proletariats, sich zusammenzuschliessen und als Klasse zu behaupten, die Heilige Allianz der Imperialisten sich über die Frontlinien hinweg bildete. Die nationalsozialistische, demokratische oder stalinistische Bourgeoisie hat jeweils unausgesprochen, oft ohne Koordination untereinander reagiert, um die kapitalistische Ordnung aufrechtzuerhalten und die Immunkräfte des reaktionären Gesellschaftssystems werden spontan moblisiert. Das Proletariat muss ein halbes Jahrhundert später aus dieser langen Niederlage, aus der Fähigkeit der dekadenten Bourgeoisie zur Verteidigung ihrer Schreckensherrschaft seine Lehren ziehen.

1. Die Vorkriegszeit

Der Krieg von 1939 bis 1945 war nur möglich, weil das Proletariat in den dreissiger Jahren nicht mehr genügend Kraft hatte, den weltweiten Konflikt zu verhindern. Es hatte das Bewusstsein über seine Klassenidentität verloren. Dies war das Ergebnis von drei Etappen in der Eindämmung der proletarischen Drohung:

- Die Erschöpfung der grossen revolutionären Welle nach 1917, abgeschlossen durch den Sieg des Stalinismus und die von der Komintern angenommene Theorie des "Sozialismus in einem Land".

- Die Liquidierung der sozialen Erhebungen im entscheidenden Zentrum, wo sich die Frage nach der Alternative Kapitalismus oder Sozialismus stellte: Diese Aufgabe hatte in Deutschland die Sozialdemokratie erfüllt; der Nationalsozialismus vollendete deren Arbeit mit der Ausübung eines bis dahin beispiellosen Terrors.

- Die totale Verwirrung der Arbeiterbewegung in den demokratischen Ländern unter der Maske der "Freiheit angesichts des Faschismus", mit der Ideologie der Volksfronten, die dazu diente, die Arbeiter der Industrieländer auf weitaus subtilere Art und Weise zu lähmen als mit der "Vaterlandsverteidigung" von 1914.

In Europa war die Losung der Volksfront nichts anderes als die Vorwegnahme der nationalen Front der KPs sowie anderer linker Parteien während des Krieges. Den Arbeitern der entwickelten Länder wurde die Wahl zwischen Faschismus und Antifaschismus gelassen. Die beiden spiegelbildlichen Ideologien unterwarfen die Arbeiterklasse der Verteidigung des nationalen Interesses, d.h. des Imperialismus ihrer jeweiligen Bourgeoisie. In den dreissiger Jahren waren die deutschen Arbeiter nicht die Opfer des Vertrages von Versailles, wie ihnen ihre Regierungen ständig einredeten, sondern sie waren Opfer derselben Krise, die auch ihre Klassenbrüder der ganzen Welt betraf. Die Arbeiter Westeuropas und der Vereinigten Staaten waren ebensowenig Opfer Hitlers, dem angeblich einzigen Kriegsverursacher, sondern vielmehr ihrer eigenen demokratischen Bourgeoisien, die darauf bedacht waren, ihre eigenen imperialistischen Interessen zu verteidigen. 1936 waren die Mystifikationen der Verteidigung der Demokratie und des Antifaschismus derart stark, dass sie die Arbeiter dazu trieben, Stellung  zwischen den rivalisierenden Fraktionen der Bourgeoisie zu beziehen: zwischen Faschismus/Antifaschismus, Rechts/Links, Franco/Republik. In den meisten europäischen Ländern waren es linke Regierungen oder linke Oppositionsparteien mit der ideologischen Unterstützung des stalinistischen Russland, die die Ideologie der Volksfront hervorbrachten. Die Volksfront diente dazu, die Arbeiter mit dieser neuen Version der Allianz von feindlichen Klassen zur Duldung von ungeheuren Opfern zu bringen.

Der Krieg in Spanien war mit der Konfrontation der verschiedenen Imperialismen, die sich um die Fraktionen der spanischen Bourgeoisie scharten, die Generalprobe für den Weltkrieg. Er war hauptsächlich das Labor zur Erprobung der Volksfronten und erlaubte die Konkretisierung und Bestimmung des Feindes, nämlich des Faschismus, gegen den die Arbeiter Westeuropas hinter der Bourgeoisie mobilisiert wurden. Hunderttausende von massakrierten spanischen Arbeitern sollten ein Beweis der Notwendigkeit des demokratischen Krieges sein, ein besserer Beweis als die Ermordung eines Thronfolgers in Sarajewo zwanzig Jahre zuvor.

Die Bourgeoisie konnte den Krieg nur mit einer Täuschung der Arbeiter führen. Es musste ihnen eingebleut werden, dass dies auch ihr Krieg war:

"Die Bourgeoisie erreichte mit der Zwischenschaltung seiner Agenten in der Arbeiterklasse das Ende des Klassenkampfes, oder genauer gesagt die Zerstörung der Macht der Arbeiterklasse, die Zerstörung ihres Bewusstseins, die Irreleitung ihrer Kämpfe. Der Inhalt ihres Kampfes wurde vom revolutionären Anspruch entleert, sie wurde auf dem Terrain des Nationalismus und Reformismus festgenagelt. Dieses Terrain ist die letzte und entscheidende Bedingung zur Auslösung des imperialistischen Krieges.". Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_edn1" name="_ednref1">[i]

Tatsächlich zog die Bourgeoisie aus der Tatsache, dass aus dem Ersten Weltkrieg eine revolutionäre Welle hervorgegangen war, ihre Lehren: Bevor sie sich in den Zweiten Weltkrieg warf, besiegte sie die Arbeiterklasse vollständig und unterwarf sie in einem Ausmass, wie es die Zeit vor der Auslösung des "Grossen Krieges" nicht gesehen hatte.

Insbesondere muss man in bezug auf die politische Avantgarde des Proletariats festhalten, dass in dieser der Opportunismus viel offensichtlicher als 1914 schon einige Jahre vor Ausbruch des Konflikts triumphiert und so die Arbeiterparteien in Agenten des bürgerlichen Staates verwandelt hatte. 1914 hatten in der Mehrheit der Länder noch revolutionäre Strömungen innerhalb der Parteien der Zweiten Internationale bestanden. Die russischen Bolschewiki beispielsweise oder die deutschen Spartakisten waren Teile der sozialdemokratischen Parteien und führten den Kampf innerhalb dieser Parteien. Als der Krieg ausbrach, stand nicht die gesamte Sozialdemokratie hinter der bürgerlichen Ordnung: Es zeigten sich noch immer proletarische Regungen, die den Internationalismus hochhielten. Dies zeigte sich insbesondere an den Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal. Dagegen endeten die Parteien der Dritten Internationale im Laufe der dreissiger Jahre auf dem bürgerlichen Terrain, also schon einige Jahre vor Ausbruch des Weltkrieges, für den sie denn auch die Arbeiter rekrutieren sollten. Und sie profitierten schliesslich gar von der Verstärkung durch die trotzkistischen Organisationen, die zu dieser Zeit völlig ins bürgerliche Lager übergingen, weil sie sich dem einen imperialistischen Lager im Kampf gegen das andere angeschlossen hatten (im Namen der Verteidigung der UdSSR, des Antifaschismus und anderer mörderischer Aufgaben). Der Ausbruch des Krieges sowie die extreme Isolation der revolutionären Minderheiten schliesslich bestätigten die Schwere der Niederlage, die das Proletariat erlitten hatte.

Da die Arbeiter wegen des Verrats der Parteien, die in ihrem Namen sprachen, sowie wegen des Fehlens einer kommunistischen Avantgarde politisch atomisiert waren, reagierten sie auf den Kriegsbeginn mit allgemeiner Auflösung.

2. Während des Krieges

Wie anlässlich des Ersten Weltkrieges brauchte es auch dieses Mal wenigstens zwei oder drei Jahre, bevor die geschlagene Arbeiterklasse ihr Kampfterrain wiederfinden konnte. Trotz der schrecklichen Bedingungen des Weltkrieges und insbesondere des Terrors, der nun herrschte, zeigte sich die Arbeiterklasse imstande, ihr Terrain wiederzufinden. Die Tatsache jedoch, dass die Arbeiterklasse vor dem Krieg eine schwere Niederlage erlitten hatte, führte dazu, dass die Mehrzahl ihrer Kämpfe keine derartige Tiefe aufwies, u m mittelfristig den Weg zur Revolution zu weisen, oder auch nur die Bourgeoisie ernsthaft zu beunruhigen. Die meisten Bewegungen waren zerstreut und abgeschnitten von den Lehren der früheren Kämpfe. Auch fehlte noch die tiefgründige Reflexion über die Ursachen der Niederlage in der internationalen revolutionären Welle, die 1917 in Russland ausgebrochen war.

Unter den schlechtesten Bedingungen zeigten sich die Arbeiter trotzdem in den meisten kriegführenden Ländern als fähig, das Haupt zu erheben. Aber die Zensur und die hämmernde Propaganda des Radios waren allgegenwärtig, wenn es überhaupt noch eine Presse gab. Die Arbeiter tendierten in den bombardierten Fabriken, in den Gefangenenlagern und in den Quartieren dazu, ihre klassischen Protestmethoden wiederzufinden. In Frankreich beispielsweise zählte man seit der zweiten Hälfte des Jahres 1941 Dutzende von Lohnforderungs- und Arbeitszeitverkürzungs-Kämpfen. Die Arbeiter tendierten dazu, jeglicher Beteiligung am Krieg den Rücken zu kehren (obwohl das Land zur Hälfte besetzt war): "...das Klassengefühl blieb stärker als jegliche nationale Verpflichtung.". Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_edn2" name="_ednref2">[ii] Der Streik der Minenarbeiter von Pas-de-Calais ist in dieser Hinsicht bedeutsam. Sie machten einzig die französischen Fabrikbesitzer für die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen verantwortlich und hörten nicht auf die stalinistischen Ordnungsrufe zugunsten des patriotischen Kampfes. Die Beschreibung dieses Streiks ist ergreifend:

"Der Streik vom 7. in Dourges brach aus wie die Streiks in allen Gruben, seit sie bestehen. Unzufriedenheit herrschte. Man hatte genug von den schlechten Arbeitsbedingungen. Die Arbeiter haben ebensowenig wie 1941, 1936 oder 1902 in den Gesetzen nachgeschlagen. Sie haben sich nicht  darum gekümmert, ob es eine Kompagnie von Infanteristen gab, ob eine Volksfrontregierung an der Macht war oder Nationalsozialisten bereit standen, sie zu deportieren. Sie haben sich selbst zusammengesetzt und ihre Probleme besprochen. Sie schrien: 'Es lebe der Streik.'  Und sie haben mit beklommener Stimme gesungen, mit Tränen in den Augen, mit den Tränen der Freude und des Erfolgs.". Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_edn3" name="_ednref3">[iii]

Die Bewegung breitete sich während mehrerer Tage auf 70 000 Minenarbeiter aus und liess die deutschen Soldaten vorerst machtlos. Erst dann wurde die Bewegung brutal niedergeschlagen.. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_edn4" name="_ednref4">[iv]

Das Jahr 1942 brachte weitere Arbeiterkämpfe, einige von ihnen mit Strassenkundgebungen. Die Einführung der "Relève" ("Ablösung" - Zwangsarbeit in Deutschland), zog sogar Streiks mit Besetzungen nach sich, bevor sie die PCF und die Trotzkisten in nationale Bahnen lenken konnten. Dennoch muss man festhalten, dass diese Streiks und Kundgebungen auf die ökonomische Ebene, gegen die Rationierung der Lebensmittel, begrenzt waren. Der Monat Januar war in Borinage, Belgien, von einer Reihe von Streiks und Protestbewegungen in den Kohlegruben gekennzeichnet. Im Juni brach in der staatlichen Fabrik Herstal ein Streik aus und Hausfrauen versammelten sich zu Kundgebungen vor dem Rathaus von Lüttich. Angesichts der Ankündigung der obligatorischen Deportation von Tausenden von Arbeitern im Winter 1942 begannen in Lüttich nochmals 10. 000 Arbeiter zu streiken. Diesem Streik schlossen sich weitere 20.000 Arbeiter an. Zur gleichen Zeit gab es in einer grossen Flugzeugfabrik einen Streik von italienischen Arbeitern. Anfangs 1943 streikten in Essen ausländische Arbeiter.

Das Proletariat konnte seine Kämpfe nicht wie in Russland 1917 zu einem frontalen Kampf gegen den Krieg ausdehnen. So blieben die Forderungskämpfe, die sich nicht verallgemeinerten, einzig ein Protest gegen die Arbeitgeber und die als Streikbrecher fungierenden Gewerkschaften. Dies erlaubte eine effektivere Fortführung des Krieges durch die Regierungen, weil die Bourgeoisie Lohnzugeständnisse machte (in den USA und in Grossbritannien beispielsweise). Hier ist die Gefahr der nationalistischen Ideologie der Befreiung anzusiedeln. Schon vor der Einführung der obligatorischen Arbeit in Frankreich (die gesegnetes Brot für die Union Nationale im Jahr 1942/43 darstellte) verfügte die Bourgeoisie Grossbritanniens mit der Kommunistischen Partei über eine fanatische Anhängerin der obligatorischen Arbeitszeit. Die KP wurde nach dem Angriff Deutschlands auf Russland Mitte 1941 hysterisch. Von da an war es in Uebereinstimmung mit den Trotzkisten in den Gewerkschaften nicht mehr angesagt zu streiken, sondern die Produktion mit dem Ziel zu entwickeln, die Kriegsanstrengungen zu Gunsten der russischen imperialistischen Bastion zu unterstützen.. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_edn5" name="_ednref5">[v]

Wie man anhand der sich ausbreitenden Streiks in England erkennen kann, wirkte die Weiterführung des Krieges trotz der enormen Schwäche des Proletariates gegen die Bourgeoisie. Bei Kriegsausbruch hatte es einen drastischen Rückgang von Streiks gegeben, doch ab 1941 bis zum Jahre 1944 brachen dann wieder in zunehmendem Masse Kämpfe aus, eine Entwicklung die erst nach dem "Sieg" erneut stark zurückging.

In ihren Feststellungen über die damalige Zeit während des Krieges anerkannte die Kommunistische Linke Frankreichs die Wichtigkeit dieser Streiks und unterstützte sie auch nach ihren Möglichkeiten. Sie war jedoch dadurch "nicht geblendet, da die Bedeutung und Reichweite dieser Kämpfe immer noch sehr begrenzt war.". Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_edn6" name="_ednref6">[vi] Angesichts all dieser aufgrund der herrschenden militärischen Zensur relativ verstreuten und isolierten Arbeiterkämpfe, unternahm die internationale Bourgeoisie, sowohl die deutsche als auch die alliierte Seite, alles, um ihre Radikalisierung zu vermeiden. Oft geschah dies durch unbedeutende ökonomische Zugeständnisse, aber immer auch mittels der Gewerkschaften, welche, trotz unterschiedlicher Formen, ein Instrument des bürgerlichen Staates waren und es weiterhin blieben. Die sozialen Verhältnisse konnten in einer Kriegszeit, während der die Inflation ständig anstieg, nicht lange friedlich bleiben.

Der Ernst der damaligen Situation lässt uns verstehen, weshalb die revolutionären Minderheiten dazu neigten, mehr an die Möglichkeit einer Revolution zu glauben, als dies aufgrund des realen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen tatsächlich möglich gewesen wäre. Ganz Europa "lebte von Kohlrüben" und nur Arbeiter, die fähig waren, fünfzehn bis zwanzig Überstunden wöchentlich zu arbeiten, konnten sich Lebensmittel kaufen, deren Preise sich in drei Jahren alle vervielfacht hatten. In dieser von Entbehrung und Hass - ein Hass angesichts all der Machtlosigkeit gegenüber den Internierungen und Deportationen - geprägten Zeit führte der Kampf von nahezu zwei Millionen italienischen Arbeitern, der im März 1943 ausbrach und mehrere Monate dauerte, der internationalen Bourgeoisie mehr noch als die in verschiedenen Ländern ausgebrochenen Streiks vor Augen, dass es nun Zeit war, die Lüge der "Befreiung" vorzubereiten: Die "Befreiung" sei der einzig mögliche Ausweg aus dem Krieg. Wir dürfen die Möglichkeiten dieser damaligen Kampfbewegung in der Arbeiterklasse nicht überschätzen. Doch müssen wir klar sehen, dass angesichts der autonomen, sich auf ihrem Klassenterrain befindenden Aktion der Arbeiterklasse in Italien, die italienische Bourgeoisie sofort Massnahmen ergriff und die gesamte Weltbourgeoisie, die damit ihre Wachsamkeit aus der Vorkriegsperiode nur bestätigte, sie darin kräftig unterstützte.   

Ende März traten in Turin 50 000 Arbeiter in den Streik und forderten, ohne sich darum zu scheren, wie Mussolini darüber dachte, eine Entschädigung für die ertragenen Bombardierungen sowie die Erhöhung  der Lebensmittelrationen. Der schnelle Erfolg dieses Kampfes ermunterte in ganz Norditalien zu einer Klassenaktion gegen die Nachtarbeit, welche durch die Beleuchtung der Arbeitsplätze eine grosse Gefahr von Bombardierungen beinhaltete. Diese Bewegung triumphierte im Handumdrehen. Die gemachten Zugeständnisse vermochten die Arbeiterklasse nicht zum Schweigen zu bringen, und es brach, begleitet von Antikriegs-Demonstrationen, eine ganze Reihe neuer Streiks aus. Die italienische Bourgeoisie bekam Angst und änderte ihren Kurs abrupt innerhalb von 24 Stunden, doch die alliierte Bourgeoisie war auf der Hut und besetzte im Herbst 1943 Süditalien. Es wurde nun versucht, dieses Wiedererwachen des Proletariates mittels der "nationalen Einheit" auf einer royalistisch-demokratischen Grundlage zu ersticken. Victor-Emmanuel kroch, verbündet mit alten faschistischen Halunken wie Grandi und Ciano, die nun zum Antifaschismus übergewechselt waren, wieder aus seinem Versteck hervor, um Mussolini zu verhaften. Trotzdem gingen die Massendemonstrationen weiter, begannen sich auf Turin, Mailand und Bologna auszubreiten, und unter Eisenbahnarbeitern brachen umfangreiche Streiks aus. Die provisorische Badoglio-Regierung flüchtete wegen des Ausmasses dieser Bewegung nach Sizilien mit der Absicht, Mussolini, der von Hitler wieder befreit worden war, zusammen mit den Nazis und in stillschweigendem Einverständnis Churchills, die Arbeiter niederschlagen zu lassen. Schonungslos warf das deutsche Militär nun Bomben auf die Arbeiterstädte. Churchill, der offen gesagt hatte, dass man "die Italiener in ihrem eigenen Saft schmoren lassen solle", erklärte, er werde nur mit einer ordentlichen Regierung Verhandlungen führen. Die Arbeiterklasse trat hier klar als Befreier auf (natürlich nur solange sie auf ihrem eigenen Terrain forwärtsschreiten konnte), und um dies zu stoppen und die Fäden wieder in die eigenen Hände zu bekommen, wechselten die angelsächsischen Alliierten nun ihre Taktik. Nachdem die schreckliche Repression gegen die Arbeiter vollendet war und die bürgerlichen Partisanenbanden an Einfluss gewannen, rückten die Alliierten weiter von Süden her vor, um den Norden zu "befreien" und die Regierung Badoglios an die Macht zu bringen.. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_edn7" name="_ednref7">[vii] Der Bourgeoisie gelang es, die geschlagenen italienischen Arbeiter bis zum Kriegsende mit der Ideologie der nationalen Einheit aufs bürgerliche Terrain zu ziehen, wobei die stalinistischen Milizen und die Mafia die Sache fest im Griff hatten, wie sie das in Frankreich schon mittels des Kampfes gegen den Arbeitszwang geschafft hatte.

Diese beeindruckende Bewegung, welche im März 1943 begonnen hatte, war weder ein Unfall noch eine Rarität inmitten des globalen Holocausts. Wie wir bereits festgestellt haben, gab es während des Jahres 1943 eine ganze Welle der schüchternen Wiederaufnahme von Arbeiterkämpfen auf internationaler Ebene, über die es offensichtlich aber sehr wenige Informationen gibt. Nur um einige Beispiele zu nennen: Ein Streik in den Coqueril-Werken von Lüttich; 3.500 Arbeiter im Kampf in den Flugzeugwerken von Clyde und Streiks unter Minenarbeitern in der Nähe von Doncaster in England (Mai 43); ein Streik von ausländischen Arbeitern in einem Messerschmitt Betrieb in Deutschland; Streik bei AEG, einer wichtigen Fabrik in der Nähe Berlins, wo holländische Arbeiter, im Kampf gegen das schlechte Essen in den Kantinen, belgische, französische und selbst deutsche Arbeiter mit in den Kampf ziehen konnten; Streiks und Demonstrationen von Hausfrauen in Athen; 2.000 Arbeiter traten im Dezember 1943 in Schottland in den Streik......usw.   

Der Massenstreik blieb auf Italien beschränkt und wurde von der Partisanen-Widerstandsbewegung ihres Klassencharakters beraubt. Dass diese Bewegung in einem Massaker endete, ist auch auf die Situation der Arbeiterklasse inmitten eines Krieges zurückzuführen: Das Proletariat liess sich vom Nationalismus einlullen und durch die Kriegsschlächtereien stark dezimieren. Es ist in solchen Situationen eine bewährte Taktik der Bourgeoisie, nach Aktionen der Arbeiter Terrorwellen auszulösen. Sie hatte den Krieg noch nicht beendet und wollte sich mindestens bis dahin die Hände freihalten, im speziellen auch auf Schauplätzen ausserhalb Europas.

In Osteuropa, wo ebenfalls die Gefahr von Erhebungen der Arbeiterklasse drohte, auch wenn diese keine revolutionäre Perspektive hatten, wandte die Bourgeoisie die vorbeugende Politik der "verbrannten Erde" an.    

Während des Sommers 1944 wurden die Arbeiter Warschaus von der polnischen Sozialdemokratie, welche ihren Hauptsitz in London hatte, kontrolliert. Sie beteiligten sich am Aufstand, der von der Résistance angezettelt worden war, als sie erfuhren, dass die Rote Armee in die Aussenbezirke der Stadt auf der anderen Seite der Weichsel eingedrungen war. Mit stillschweigender Zustimmung der Alliierten und wegen der absichtlichen Passivität der Stalinisten konnte nun der deutsche Staat seine Rolle als Polizist und Schlächter vollenden, brachte dabei zehntausende von Arbeitern um und legte die Stadt in Schutt und Asche. Acht Tage später glich Warschau einem Friedhof. Desgleichen in Budapest, wo die Rote Armee solche Massaker auch zuliess und nach ihrem Einzug in die Stadt nur noch eine Totengräberrolle hatte.

Die "Befreier"- Bourgeoisie der westlichen Mächte wollte ihrerseits in den Verliererländern kein Risiko sozialer Explosionen gegen den Krieg eingehen. Um dies zu verhindern, griff sie zu grauenhaften Bombardierungen deutscher Städte. Bombenabwürfe, die praktisch keine militärische Logik enthielten, sondern vor allem die Arbeiterviertel auszulöschen versuchten (Im Februar 1945 gab es in Dresden nahezu 150.000 Tote, fast doppelt soviel wie in Hiroshima). Das Ziel war es, soviele Arbeiter wie möglich auszurotten und die Überlebenden dermassen zu terrorisieren, dass sie auf keinen Fall wieder revolutionäre Kämpfe führen konnten wie zwischen 1918 und 1923. Gleichfalls gab sich die "demokratische" Bourgeoisie die Mittel, um systematisch die Gebiete zu besetzen und zu kontrollieren, aus denen sich die Nazis zurückgezogen hatten. Es kam für sie auch überhaupt nicht in Frage, das besiegte Deutschland selbst eine Nachfolgeregierung nach den Nazis aufstellen zu lassen, und so wurden denn auch alle Verhandlungs- und Waffenstillstandsangebote von deutschen Gegnern Hitlers rundweg abgelehnt. Im besiegten Deutschland der Bildung einer neuen Regierung einfach tatenlos zuzusehen, hätte Figuren wie Churchill, Roosevelt und Stalin nicht mehr ruhig schlafen lassen, da dies natürlich eine grosse Gefahr in sich barg. Gleich wie 1918 wäre ein besiegter deutscher Staat gegenüber einer gegen Massenmorde und die ganze Misere revoltierenden Arbeiterklasse sowie auch gegenüber den Soldaten der aufgelösten Armee sehr schwach gewesen. Die alliierten Armeen übernahmen deshalb auf unbestimmte Zeit selbst die Kontrolle über ganz Deutschland (blieben dort schliesslich, wenn auch aus anderen Gründen, bis 1994) und bereiteten so den Boden für eine der grössten Lügen dieses Jahrhunderts: Die "Kollektivschuld" der deutschen Bevölkerung.   

3. Hin zur "Befreiung"  

Während der letzten Kriegsmonate brach in Deutschland eine Reihe von Meutereien, Desertionen und Streiks aus, doch in dieser ganzen Hölle von Bombardierungen erübrigte sich eine demokratische Strohpuppe wie Badoglio in Italien. Die deutsche Arbeiterklasse wurde terrorisiert und von den alliierten Armeen und dem ins Land eindringenden russischen Militär in die  Zange genommen. Entlang der Rückzugsrouten der geschlagenen deutschen Armeen waren Deserteure aufgehängt worden, um die Soldaten abzuschrecken. Es bestand tatsächlich auch die Gefahr einer sehr instabilen Lage, hätte die Bourgeoisie nicht sofort damit begonnen, sich auf die Zeit nach dem Krieg vorzubereiten. Ihre brutale Repression hatte Erfolg, und der soziale Friede wurde durch die Besetzung und Aufteilung Deutschlands gewährleistet. Auch wenn es durchaus richtig war, sich über die Reaktionen des deutschen Proletariates zu freuen, überschätzten unsere Genossen zu dieser Zeit den Widerstand, mit dem die Bourgeoisie damals konfrontiert war:

"Wenn die Soldaten sich weigern, weiter zu kämpfen, und an verschiedenen Orten fast Bürgerkrieg führen, wenn die Matrosen ihre Waffen gegen den Krieg erheben, wenn Hausfrauen, der "Volkssturm" und die Gefangenen die unsichere Situation in Deutschland noch verstärken, dann zerfällt auch der beste Militär- und Polizeiapparat, und die Revolte wird eine reelle Perspektive. Von Rundstedt greift nun die Politik Eberts aus dem Jahre 1918 wieder auf und versucht mittels eines Friedens, den Bürgerkrieg zu verhindern. Die Alliierten ihrerseits haben die revolutionäre Drohung der 1943 in Italien ausgebrochenen Ereignisse erkannt. Der jetzige Friede bedeutet, einer über ganz Europa hereinbrechenden Krise gegenüberzustehen, ohne die Waffen, um diese Widersprüche zu überdecken, in der Hand zu haben. Widersprüche, welche durch den Klassenkampf gelöst werden. Die Anforderungen des Krieges, die braune Pest und die Kasernen können nicht länger als ein Vorwand dienen, um die krankhaft aufgeblasene Industrie aufrecht zu erhalten oder um die Arbeiterklasse im gegenwärtigen Zustand der Sklaverei und Hungersnot zu halten. Was die Bourgeoisie fürchtet, das ist die künftige Rückkehr der deutschen Soldaten in ihre zerstörten Städte und die damit unvermeidliche Wiederholung der Revolution von 1918. Die Verrückten sind bereit für heroische Aufgaben: Das Zerstören, Töten, Aushungern, Vernichten der deutschen Arbeiterklasse. Wir haben die braune Pest längst überwunden, doch sind wir noch weiter weg von den Friedensversprechungen der Kapitalisten. Die Demokratie hat bewiesen, dass sie fähiger ist, die bürgerlichen Interessen zu verteidigen als der Faschismus.". Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_edn8" name="_ednref8">[viii]             

In den besiegten Ländern wie Deutschland war das amerikanische und russische Militär dauernd präsent, um ja nie irgendwo in den eroberten Städten ein "Niemandsland" entstehen zu lassen und um sofort jegliche Regung proletarischen Widerstands ersticken zu können. In den Siegerländern dagegen breitete sich ein unglaublicher Chauvinismus aus, der noch viel schlimmer war als zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Wie die kleine Minderheit von Revolutionären vermutet hatte, fürchtete sich die demokratische Bourgeoisie nun angesichts der vielen Freudensbekundungen, ihre Helme wegschmeissender demoblisierter deutscher Soldaten, wie man es in alten Filmen sehen kann, und beschloss, sie in Frankreich und England zu internieren. Teile der aufgelösten deutschen Armee wurden in der Fremde zurückbehalten. 400. 000 kriegsgefangene Soldaten wurden nach England gebracht und dort für einige Jahre über das Kriegsende hinaus interniert, um zu verhindern, dass sie eine Revolution anstiften könnten, wie dies einst ihre Väter taten, als sie in ihr Land und das ganze Elend der Nachkriegsjahre zurückkehrten.. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_edn9" name="_ednref9">[ix]

Die Mehrheit der revolutionären Gruppierungen nahm diese Ereignisse enthusiastisch auf, noch mit dem Bild der siegreichen Revolution in Russland vor Augen, bei welcher der Widerstand des Proletariates gegen den Krieg eine zündende Rolle gespielt hatte. Doch die Geschichte wiederholt sich selten auf dieselbe Weise. Es existierten nicht mehr die gleichen Bedingungen wie 1917, da die Bourgeoisie ihre Lehren aus den damaligen Ereignissen gezogen hatte.

Doch auch die klarsten Teile der revolutionären Minderheiten brauchten nach der herausragenden Bewegung innerhalb der italienischen Arbeiterklasse 1943 fast zwei Jahre, um diese Niederlage des Proletariates auf internationaler Ebene, mit dem Ziel zu bilanzieren, die drastischen Bedingungen des Weltkrieges erneut für eine Orientierung hin zur Revolution auszunutzen. Die Bourgeoisie jedoch behielt weiterhin die Initiative und profitierte in dieser Situation von der Abwesenheit revolutionärer Parteien.     

    

"Bereichert durch die Erfahrung des Ersten Weltkrieges und wesentlich besser auf die drohende Möglichkeit einer revolutionären Erhebung vorbereitet, reagierte der internationale Kapitalismus einheitlich und mit einer ausserordentlichen Geschicklichkeit und Vorsicht gegenüber einem seiner Avantgarde beraubten Proletariat. Ab 1943 wandelte sich der Krieg in einen Bürgerkrieg. Wenn wir dies feststellen, dann heisst das nicht, dass die innerimperialistischen Gegensätze verschwunden wären oder während der Fortführung des Krieges auf die Seite gelegt werden könnten. Diese Gegensätze bleiben weiter bestehen und werden sich nur verschärfen können. Dies jedoch in einem geringeren Masse als bisher, und sie werden, verglichen mit der Gefahr, welche die drohende revolutionäre Explosion für die kapitalistische Welt darstellt, einen zweitrangigen Charakter erhalten. Die revolutionäre Drohung wird das Zentrum der Sorge und Unruhe in den zwei kapitalistischen Blöcken sein, und es ist genau diese Furcht, welche die Richtung, die Strategie und praktische Ausführung der militärischen Operationen bestimmen wird.(...) Im ersten imperialistischen Weltkrieg behielt das Proletariat, einmal auf den Kurs hin zur Revolution eingetreten, die Initiative in seinen Händen, und zwang die Bourgeoisie, den Krieg zu beenden. Im Gegensatz dazu behielt der Kapitalismus in diesem Krieg seit dem ersten revolutionären Signal 1943 in Italien die Initiative und führte einen unerbittlichen Bürgerkrieg gegen das Proletariat, verhinderte mit Gewalt jede Sammlung der proletarischen Kraft und beendete den Krieg nicht, auch wenn Deutschland nach dem Abtreten der Hitler-Regierung wiederholt um einen Waffenstillstand bat. Stattdessen versicherten sie sich mit einer monströsen Schlächterei und einem vorbeugenden, schonungslosen Massaker gegen jegliche nach Revolution riechende Regung im deutschen Proletariat.(...) Die Revolten der Arbeiter und Soldaten, welche in einigen Städten die Faschisten in die Knie zwangen, drängten die Alliierten dazu, ihren Vormarsch zu beschleunigen und diesen Ausrottungskrieg schneller als vorgesehen zu beenden.". Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_edn10" name="_ednref10">[x]       

Die Praxis der revolutionären Minderheiten

Wir haben gesehen, dass der Krieg nur ausbrechen konnte, weil der Degenerierungsprozess der 3. Internationale und der Übertritt der Kommunistischen Parteien ins bürgerliche Lager abgeschlossen war. Die revolutionären Minderheiten, die den Aufstieg des Stalinismus und des Faschismus vom Klassenstandpunkt aus bekämpft hatten, waren alle besiegt worden, ausgeschlossen in den demokratischen Ländern, eliminiert und deportiert in Russland und Deutschland. Von der weltweiten Einheit, die die Internationalen in jeder Epoche dargestellt hatten, blieben nur noch Bruchstücke, Fraktionen, verstreute Minderheiten, die oft keine Verbindung untereinander hatten. Die Bewegung der Linksopposition um Trotzki, die eine Strömung des Kampfes gegen die Degenerierung der Revolution in Russland dargestellt hatte, verstrickte sich mehr und mehr in opportunistische Positionen zur Volksfront (Möglichkeit eines Bündnisses mit den Parteien der bürgerlichen Linken) und in deren Fortsetzung, dem Antifaschismus. Als Trotzki am Anfang des zweiten Welt-Holocausts starb, wie Jaurès ermordet (weil er in den Augen der Weltbourgeoisie die proletarische Gefahr repräsentierte, noch mehr als der grosse Tribun der 2. Internationale), unterschieden sich seine Anhänger kaum von den Sozialchauvinisten zu Beginn des Jahrhunderts, denn sie nahmen Partei für ein imperialistisches Lager: dasjenige Russlands und dasjenige der Résistance.

Die meisten Minderheiten, die ohnehin nur dünne Strohhalme in der allgemeinen Ratlosigkeit des Proletariats waren, lösten sich im Krieg auf. Nur die Italienische Fraktion um die Zeitschrift Bilan hatte schon seit den 30er Jahren angekündigt, dass die Arbeiterbewegung in eine Periode der Niederlagen eingetreten war, die zum Krieg führen musste. . Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_edn11" name="_ednref11">11

Dass die Genossen in den Untergrund abtauchen mussten, zog zunächst eine Verzettelung und einen Verlust der wertvollen, jahrelang aufgebauten Kontakte nach sich. In Italien existierte keine organisierte Gruppe mehr. In Frankreich gruppierten sich erst 1942, mitten im imperialistischen Krieg, wieder Militante zusammen, die in der nach Frankreich geflüchteten Italienischen Fraktion gekämpft und gegenüber dem Opportunismus der trotzkistischen Organisationen politische Klassenpositionen abgesteckt hatten. Sie nannten sich Französischer Kern der Kommunistischen Linken. Diese mutigen Militanten gaben eine Prinzipienerklärung heraus, die die "Verteidigung der UdSSR" klar ablehnte:

"Der sowjetische Staat, ein Werkzeug der internationalen Bourgeoisie, übt eine konterrevolutionäre Funktion aus. Die Verteidigung der UdSSR im Namen dessen, was von den Errungenschaften des Oktobers übrig bleibe, muss abgelehnt und ersetzt werden durch den kompromisslosen Kampf gegen die stalinistischen Agenten der herrschenden Klasse (...). Die Demokratie und der Faschismus sind zwei Aspekte der Diktatur der Bourgeoisie, die den wirtschaftlichen und politischen Bedürfnissen der herrschenden Klasse in den gegebenen Zeiten entsprechen. Folglich darf die Arbeiterklasse, die ihre eigene Diktatur errichten muss, nachdem sie den kapitalistischen Staat zerschlagen hat, nicht für die eine oder andere dieser Formen Partei ergreifen."

Kontakte wurden wieder geknüpft zu Elementen der revolutionären Strömung in Belgien, Holland und mit österreichischen Revolutionären, die nach Frankreich geflüchtet waren. Unter den sehr gefährlichen Bedingungen der illegalen Arbeit wurden von Marseille aus sehr wichtige Debatten geführt über die Ursachen des neuen Misserfolgs der Arbeiterbewegung, über die neue Absteckung der Klassengrenzen. Diese revolutionäre Minderheit setzte die Intervention gegen den kapitalistischen Krieg, für die Befreiung des Proletariats fort. Ihr Kampf war die Weiterführung desjenigen der 3. Internationale in ihren Anfängen. Andere Gruppen, die ebenfalls die Verteidigung der UdSSR und jede Art von Chauvinismus ablehnten, kamen mehr oder weniger klar aus dem trotzkistischen Schoss: die spanische Gruppe von Munis, die österreichischen Revolutionären Kommunisten Deutschlands und holländische rätistische Gruppen. Ihre Flugblätter gegen den Krieg, die sie heimlich verteilten, auf die Sitzbänke in den Zügen legten, wurden durch die Bourgeoisie der "Résistance", von den Stalinisten bis zu den Demokraten, als "hitler-trotzkistisch" verunglimpft. Diejenigen, die sie verteilten, riskierten, auf der Stelle erschossen zu werden.

In Italien gruppierten sich die verstreuten Elemente der kommunistischen Linken nach der starken Kampfbewegung von 1943 neu um Onorato Damen und schliesslich um die mythische Figur von Amadeo Bordiga, einer Persönlichkeit der Linken sowohl in der 2. als auch der 3. Internationale. Sie gründeten im Juli 1943 die Internationalistische Kommunistische Partei; sie glaubten wie die meisten Revolutionäre an einen bevorstehenden Aufstand der Arbeiterklasse, mussten aber die bürgerliche "Befreiung" erleben und zeigten trotz ihres Mutes grosse Schwierigkeiten, gegenüber den Arbeitern, die sich von den Sirenengesängen der Bourgeoisie verlocken liessen, klare Positionen zu verteidigen.. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_edn12" name="_ednref12">12 Sie erwiesen sich als unfähig, der Umgruppierung der Revoutionäre auf Weltebene den Vorrang zu geben, und mussten nach dem Krieg feststellen, dass sie eine verschwindend kleine Minderheit geblieben waren. Insbesondere lehnten sie jede ernsthafte Arbeit zusammen mit dem französischen Kern ab, der sich von nun an Kommunistische Linke Frankreichs (Gauche Communiste de France) nannte.. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_edn13" name="_ednref13">13

Trotz ihrer mutigen Haltung konnten die revolutionären Gruppen, die Klassenpositionen vertraten und während des 2. Weltkrieges internationalistisch blieben, den Lauf der Dinge nicht beeinflussen angesichts der schrecklichen Niederlage, die das Proletariat erlitten hatte, und der Fähigkeit der Bourgeoisie, ihm systematisch zuvorzukommen und die Entwicklung jeder wirklich bedrohlichen Klassenbewegung zu verhindern. Aber ihr Beitrag zum historischen Kampf des Proletariats erschöpfte sich nicht darin. Er bestand vor allem in einer Reflexion, die es erlaubte, die Lehren aus den schwerwiegenden Ereignissen der Epoche zu ziehen, eine Reflexion, die es bis heute fortzusetzen gilt.

Welche Lehren für die Revolutionäre

Wenn wir die marxistische Tradition respektieren, die diese Gruppen aufrechterhielten, müssen wir fähig sein, ihre kritische Methode weiterzuführen, ihre Fehler selber genau unter die Lupe zu nehmen. Nur so bleiben wir ihrem Kampf treu. Während die Kommunistische Linke Frankreichs es verstand, ihre fehlerhafte Einschätzung über die Möglichkeit einer Umkehr des Kurses von der Niederlage zum Weltkrieg zu korrigieren, ohne allerdings alle Konsequenzen aus dem Umstand zu ziehen, dass der Weltkrieg nicht mehr günstige Voraussetzungen für die Revolution schafft, hielten die anderen Gruppen, v.a. diejenigen in Italien, an der schematischen Sichtweise des "revolutionären Defätismus" fest.

Als die italienischen Revolutionäre auf voluntaristische und abenteuerliche Weise um Bordiga und Damen, die Persönlichkeiten der Komintern, eine Partei gründeten, gaben sie sich nicht wahrhaftig die Mittel, um die "Prinzipien zu restaurieren", geschweige denn die wirklichen Lehren aus der erlebten Geschichte zu ziehen. Diese Internationalistische Kommunistische Partei erlitt nicht nur Schiffbruch - indem sie rasch auf die Dimension einer Sekte zusammenschmolz -, sondern verwarf die Methode der marxistischen Analyse zugunsten eines unfruchtbaren Dogmatismus, der nur die Schemata der Vergangenheit, insbesondere in der Frage des Krieges, wiederholte. Die IKP beharrte auf der "Befreiung" und glaubte an den Beginn einer revolutionären Welle, in dem sie Lenin parodierte: "Die Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg beginnt nach dem Ende des Krieges".. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_edn14" name="_ednref14">14 Sie griff die Analyse von Lenin wieder auf, wonach jedes Proletariat "die Niederlage seiner eigenen Bourgeoisie" als Sprungbrett zur Revolution herbeiwünschen müsse. Diese Position war schon zu Lenins Zeiten falsch, da sie zum Schluss führt, dass die Arbeiter der Siegernationen über dieses Sprungbrett nicht verfügen. Diese Theorie wieder aufzugreifen, die den Erfolg der Revolution vom Misserfolg der eigenen Bourgeoisie abhängen lässt, bedeutet, von einem abstrakten Automatismus auszugehen. Schon in der ersten revolutionären Welle führte der Krieg, nachdem er zuerst ein wichtiger Keim bei der Mobilisierung des Proletariats gewesen war, zu einer Spaltung desselben in die Arbeiter der besiegten Länder einerseits, die am kämpferischsten und klarsten waren, und diejenigen der siegreichen Länder andererseits, bei denen es der Bourgeoisie gelang, ihren Kampf und ihre Bewusstseinsreifung unter der Euphorie des "Sieges" zu ersticken. Darüber hinaus zeigte die Erfahrung von 1917/18, dass die Bourgeoisie gegenüber einer revolutionären Bewegung, die sich aus dem Weltkrieg entwickelt, immer einen Trumpf in der Hand hat. Sie liess es sich denn auch nicht nehmen, diese Karte im November 1918 zu spielen, als die Revolution in Deutschland ausbrach: den Krieg zu beenden, d.h. die Haupttriebkraft für die Aktion und die Bewusstseinsreifung des Proletariats zu beseitigen.

Unsere Genossen der Kommunistischen Linken täuschten sich, als sie ausgehend vom Beispiel der russischen Revolution die für das Proletariat lähmenden Folgen des imperialistischen Weltkrieges unterschätzten. Der Zweite Weltkrieg lieferte die Grundlage für eine bessere Analyse dieser entscheidenden Frage. Heute die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, bedeutet, den wirklichen Prozess hin zu Zusammenstössen der Klassen zu behindern, und zwar insofern, als die Betreffenden sich als unfähig erweisen, die marxistische Methode zu bereichern, da es ihnen unmöglich ist, die notwendige Führung des Proletariats zu übernehmen, wie es leider diejenigen beweisen, die vorgeben, die einzigen Nachfolger der Italienischen Kommunistischen Linken zu sein.. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_edn15" name="_ednref15">15

Die Frage des Krieges war immer eine der wichtigsten in der Arbeiterbewegung. Gleich wie die Ausbeutung und die Angriffe im Gefolge der wirtschaftlichen Krise bleibt der imperialistische Krieg ein gewichtiger Faktor bei der Bewusstwerdung über die Notwendigkeit der Revolution. Es ist offensichtlich, dass die andauernden Kriege in der dekadenten Phase des Kapitalismus ein ausgezeichneter Ansatzpunkt für die Reflexion sein müssen. Heute, nachdem der Zusammenbruch des Ostblocks, des Teufels, die Möglichkeit eines Weltkrieges für einen Augenblick beiseite geschoben hat, darf diese Reflexion nicht aufhören. Die Kriege, die wir an den Grenzen Europas beobachten, sind da, um das Proletariat daran zu erinnern, dass "diejenigen, die den Krieg vergessen, ihn eines Tages erfahren werden".. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_edn16" name="_ednref16">16 Dem Proletariat obliegt die grosse Verantwortung dafür, sich gegen diese sich im Zerfall befindliche Gesellschaft zu erheben. Die Perspektive einer anderen Gesellschaft unter der Kontrolle des Proletariats hängt notwendigerweise von der Reifung des Bewusstseins ab: Es muss auf seinem gesellschaftlichen Terrain kämpfen und dort seine Macht entfalten. Der zunehmende Kampf des Proletariats steht im Gegensatz zum Staat und deshalb auch im Gegensatz zu den militärischen Zielen der Bourgeoisie.

Trotz den Lobgesängen über die 1989 eingerichtete neue Weltordnung, darf sich die Arbeiterklasse keinen Illusionen darüber hingeben, dasdie nächsten Kriege lange auf sich warten lassen. Diesen Untergang würde uns die Bourgeoisie unvermeidlich bereiten; sei es als Folge eines dritten Weltkrieges im Fall, dass sich ein neues System von imperialistischen Blöcken bildet, sei es als ein Prozess des Verfaulens der Gesellschaft, begleitet von Hungersnöten, Epidemien und einer Vervielfachung der kriegerischen Konflikte, in denen die heute auf die ganze Welt verbreiteten Atomwaffen wieder eingesetzt würden.

Die Alternative lautet also nach wie vor: kommunistische Revolution oder Zerstörung der Menschheit. Vereint und entschlossen kann das Proletariat die Minderheit, die die Fäden zieht, entwaffnen und selbst die Atombomben entschärfen. So müssen wir unnachgiebig das bürgerliche, pazifistische Argument bekämpfen, wonach eine so moderne Technik von nun an jede proletarische Revolution verunmögliche. Die Technik wird durch die Menschen gemacht, sie gehorcht einer bestimmten Politik. Die Führung der imperialistischen Politik bleibt eng gebunden an die Unterwerfung der Arbeiterklasse, was uns die Entwicklung des zweiten Weltkrieges gezeigt hat. Nun nach dem historischen Wiedererwachen des Proletariats Ende der 60er Jahre steht alles gleichzeitig auf dem Spiel, auch wenn das Proletariat daraus noch nicht alle Lehren gezogen hat. Da, wo der Krieg nicht wütet, vertieft sich die wirtschaftliche Krise immer mehr, verzehnfacht das Elend und offenbart den Bankrott des Kapitalismus.

Die revolutionären Minderheiten müssen deshalb die früheren Erfahrungen genau untersuchen. Es war "Mitternacht des Jahrhunderts" im Herzen des grössten Verbrechens, das die Menschheit je gesehen hatte, aber es wäre noch verbrecherischer, daran zu glauben, dass die Menschheit die Gefahr der totalen Zerstörung gebannt hätte. Die gegenwärtigen Kriege zu denunzieren, genügt nicht, die revolutionären Minderheiten müssen fähig sein, die Machenschaften der imperialistischen Politik der Weltbourgeoisie zu analysieren, nicht um vorzugeben, es mit einem Militarismus aufzunehmen, der die Welt heute in unzähligen Kriegen verwüstet, sondern um dem Proletariat zu zeigen, dass der Kampf vielmehr im Hinterland als an der Front geführt wird.

Den allgegenwärtigen imperialistischen Krieg bekämpfen, sich gegen die Angriffe der bürgerlichen Wirtschaftskrise wehren, bedeutet, eine Reihe von Kämpfen und Erfahrungen zu entwickeln, die zur Phase des revolutionären Bürgerkriegs führen werden, dorthin, wo sich die Bourgeoisie im Frieden wähnt. Eine lange Periode von Klassenkämpfen ist noch notwendig, nichts wird einfach sein.

Das Proletariat hat keine Wahl. Der Kapitalismus führt die Menschheit unweigerlich in den Untergang, wenn sich das Proletariat erneut als unfähig erweist, ihn zu zerstören.

Damien



. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_ednref1" name="_edn1">[i] Bericht der Konferenz der Gauche Communiste de France im Juli 1945 über die internationale Situation, in: Revue Internationale, Nr. 59.

. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_ednref2" name="_edn2">[ii]Grégoire Madjarian, Conflits, pouvoirs et société à la Libération, weiter ist auch die Arbeit von Stéphane Courtois, Le PCF dans la guerre, interessant.

. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_ednref3" name="_edn3">[iii] Erinnerungen von Auguste Lecoeur, ehemalige rechte Hand des französischen Stalinistenchefs Thorez, nach dem Krieg ausgeschlossen und dadurch freier in der Beschreibung der Kämpfe als zur Zeit, da er mit den anderen über die Notwendigkeit des nationalen Kampfes log.

. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_ednref4" name="_edn4">[iv] Die Bewegung war verfrüht und isoliert ausgebrochen, sie konnte keine derartige Resonanz wie die massiven Kämpfe der italienischen Arbeiter 1943 finden. Man muss dennoch den Unterschied zwischen der ängstlichen Besetzung durch die deutschen Soldaten (die Offiziere wagten niemals, in die Minen hinabzusteigen) und der durch die PCF ausgeübten Diktatur über die Minenarbeiter bei der Befreiung erkennen. Eine Fernsehsendung des dritten französischen Kanals im Monat August 94 zeigte verblüffende Enthüllungen einiger Minenarbeiter, die die Produktionsschlacht überlebt hatten. Valets von der gaullistischen Regierung und die stalinistischen Minister forderten eine beträchtliche Anstrengung, sodass es ein richtiges Blutbad wurde ... und dies in der Nachkriegszeit. Tausende ihrer Kumpel waren an Staublunge gestorben. Dies war auf die zunehmende Mechanisierung und Ausbeutung zurückzuführen. Die Arbeiter wurden also weder Opfer der Deutschen noch des Kampfes gegen die Deutschen, sondern der Anordnungen für den nationalen Wiederaufbau des stalinistischen Ministers Thorez. Dieser zögerte nicht zu sagen: "Wenn die Minenarbeiter an der Arbeit sterben, so ersetzen sie ihre Frauen." Es war also nicht nur im totalitären Russland so, dass die Lebenserwartung von sehr kurzer Dauer war.

 . Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_ednref5" name="_edn5">[v]Mark Shipway, Anti-Parliamentary Communism: The Movement for Workers' Councils 1917-45.

. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_ednref6" name="_edn6">[vi] "Rapport sur la situation internationale", Juli 1945,(in R.I. Nr.59)

. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_ednref7" name="_edn7">[vii] In der "Revue International" Nr.75 (engl./franz./span.) sind wir genauer auf diese Ereignisse 1943 in Italien eingegangen.

. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_ednref8" name="_edn8">[viii] "La Paix" in "L'Etincelle" Nr.5, Mai 1945, Organ der Gauche Communiste de France. 

. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_ednref9" name="_edn9">[ix] "La rééducation des prisonniers allemands en Angleterre, de 1945 à 1948", Henry Faulk, Chatto & Windus, London 1977.

. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_ednref10" name="_edn10">[x] Auszüge aus dem "Rapport sur la situation internationale", Gauche Communiste de France, Juli 1945, wiederveröffentlicht in der "Revue Internationale", Nr.59, 1989.

. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_ednref11" name="_edn11">11 Es ist hier nicht der Ort, um im Detail auf die Debatten in der Italienischen Fraktion oder die Meinungsverschiedenheiten zwischen den verschiedenen Gruppen einzugehen, aber die Geschichte der Kommunistischen Linken Italiens steht unseren Lesern zur Verfügung

. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_ednref12" name="_edn12">12 Vgl. die Artikel in der engl./frz./span. Ausgabe der Internationale Revue: "Les ambiguïtés de Battaglia Comunista sur la question des 'partisans'", Revue internationale Nr. 8, Dez. 1976, "Le PCI à ses origines: tel qu'il prétend être, tel qu'il est", Revue Internationale Nr. 32, 1. Quartal 1983 und "A propos des origines du PCI", Revue internationale Nr. 34, 3. Quartal 1983.

. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_ednref13" name="_edn13">13 Zur Geschichte dieser Gruppen vgl. Die Italienische Kommunistische Linke und die Revue internationale (engl./frz./span.) Nr. 34, 35, 38, 39, 64, 65, 66.

. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_ednref14" name="_edn14">14 Zitiert in Internationalisme Nr. 36, 1948, reprint in der Revue Internationale Nr. 36, 1. Quartal 1984.

. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_ednref15" name="_edn15">15 Zur Zeit des Golfkrieges haben wir gezeigt, welch schlechten Gebrauch vom "revolutionären Defätismus" die Strömungen machen können, die sich auf die Italienische Linke beziehen und aufrufen zur "Verbrüderung zwischen irakischen und westlichen Soldaten" (vgl. unseren Artikel "Le milieu politique prolétarien face à la guerre du Golfe" in der engl./franz./span. Revue internationale Nr. 64, 1. Quartal 1991). In einer Region und unter Bedingungen, wo das das Proletariat äusserst schwach ist, kommt es anarchistischem Voluntarismus gleich, solche Parolen in den Luft zu lassen, die bestenfalls individuelle Desertionen im Wert steigern können. Diese Genossen sollten sich fragen, warum die Bourgeoisie in der Lage ist, lokale Kriege zu führen, ohne durch das Proletariat gestört zu werden, und warum sie umgekehrt nicht in der Lage ist, einen Krieg im Herzen der Metropole zu beginnen. Im schlimmeren Fall dienen diese Parolen, die gerne von allen Sekten der bürgerlichen Linken aufgegriffen werden, als Feigenblatt für die Unterstützung des Imperialismus der kleinen Länder, die durch die grossen unterdrückt werden. So titelte der Prolétaire in seiner Nr. 427 scheinheilig: "Impérialisme français hors d'Afrique et du Rwanda!" ("Französischer Imperialismus raus aus Afrika und Ruanda!") und meinte dies als Parole. Dass der französische Imperialismus ein Schlächter ist in seinem Widerstand gegen die Fusstritte, mit denen ihm der amerikanische Imperialismus in den Rücken fällt, und dass er dabei die schwerste Verantwortung für das Massaker an den 500.000 Menschenleben in Ruanda trägt, das anzuprangern sind wir die ersten. Aber wir hätten Hemmungen die Parole aufzugreifen, die sich der amerikanische Imperialismus zu eigen gemacht hat! Eine solche Parole hat für die IKP sicher einen sehr "defätistischen" Unterton - und dann? Der französische Imperialismus ist in der Tat in Ruanda "défait" (hier angeschlagen), aber hat das das Klassenbewusstsein der Arbeiter in Frankreich auch nur einen Schritt vorangebracht?

. Weltkrieg, Krieg, Jahrestag#_ednref16" name="_edn16">16 Albert Camus

Historische Ereignisse: 

  • Zweiter Weltkrieg [66]

Russische Revolution -Die Isolierung ist der Tod der Revolution

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In der "INTERNATIONALEN REVUE" Nr.14 und 15 veröffentlichten wir die ersten zwei Artikel dieser Serie. Wir zeigten darin auf, dass die proletarische Revolution 1917 das Resultat der bewussten und massiven Aktion der Arbeiter war. Ebenso war sie das Ergebnis ihres Kampfes gegen die Organisationen der Bourgeoisie (Menschewiki, Sozialrevolutionäre), welche das Proletariat zu sabotieren versuchten und die Arbeiter im 1.Weltkrieg für die Verteidigung der imperialistischen Interessen Russlands einspannen wollten. Wir haben auch aufgezeigt, wie die Bolschewiki in diesem gewaltigen Entwicklungsprozess des Klassenbewusstseins und der Kampfkraft klar eine Vorreiterrolle spielten. Sie waren der Kristallisationspunkt dieser immensen revolutionären Energie, die den bürgerlichen Staat im Aufstand vom 24. und 25. Oktober 1917 zerstörte. Der Stalinismus war nicht die Fortsetzung dieses reissenden Stromes befreiender Energie, sondern das Gegenteil: die brutale Erwürgung allen Lebens im Proletariat; die Konterrevolution (1).

Angesichts der Degenerierung, welche durch den Stalinismus verkörpert wird, glauben viele Arbeiter den von der herrschenden Klasse verbreiteten Lügen, die behaupten, dass die Russische Revolution ‘von innen her verfaulte’ und die Bolschewiki die russischen Arbeiter missbraucht hätten, um an die Macht zu gelangen (2). Eine solche Darstellung der Oktoberrevolution, wie sie die Bourgeoisie verbreitet, widerspiegelt lediglich ihre eigene Vorstellung der Politik: Lügen und Massenmanipulation. Wie auch immer, der Kurs zur Oktoberrevolution wurde von geschichtlichen Gesetzmässigkeiten gesteuert und nicht durch die machiavellistische Politik der Bourgeoisie. "Die Russische Revolution hat hier nur die Grundlehre jeder grossen Revolution bestätigt, deren Lebensgesetz lautet: Entweder muss sie sehr rasch und entschlossen vorwärtsstürmen, mit eiserner Hand alle Hindernisse niederwerfen und ihre Ziele immer weiter stecken, oder sie wird sehr bald hinter ihren schwächlichen Ausgangspunkt zurückgeworfen und von der Konterrevolution erdrückt." (Rosa Luxemburg, "Zur Russischen Revolution", Ges. Werke, Bd.4, Seite 339).

Die gewaltige Fülle an Erfahrungen, die in der Zeit von Februar bis Oktober 1917 gemacht wurden, zeigt den Arbeitern, dass die Zerstörung des bürgerlichen Staatsapparates möglich ist. Doch die tragische Degenerierung der Russischen Revolution führt uns eine andere, genau so wichtige Lehre vor Augen: Die proletarische Revolution kann nur dann siegreich sein, wenn sie sich über den ganzen Planeten ausbreitet.

Die russische Revolution hat mit ihrer ganzen Kraft für die Ausbreitung auf andere Länder gekämpft

"Die Revolution Russlands war in ihren Schicksalen völlig von den internationalen Ereignissen abhängig. Dass die Bolschewiki ihre Politik gänzlich auf die Weltrevolution des Proletariats stellten, ist gerade das glänzendste Zeugnis ihres politischen Weitblicks und ihrer grundsätzlichen Treue, des kühnen Wurfs ihrer Politik." (Rosa Luxemburg, "Zur Russischen Revolution", Ges. Werke, Bd.4, Seite 334).  

Tatsächlich waren die Bolschewiki die Vorhut der ganzen revolutionären Arbeiterbewegung, als sie 1914 bei Ausbruch des 1.Weltkrieges, der ein klares Zeichen für den Beginn der dekadenten Periode des Kapitalismus war, erklärten, dass die einzige Alternative gegenüber dem Weltkrieg nur die Weltrevolution sei. Mit dieser standhaft internationalistischen Orientierung sahen Lenin und die Bolschewiki in der Russischen Revolution nichts anderes als "den ersten Schritt der proletarischen Revolution, die unvermeidliche Konsequenz aus dem Krieg". Für das russische Proletariat hing der Ausgang der Revolution in erster Linie von den Erhebungen der Arbeiter anderer Länder, allen voran in den europäischen Staaten, ab.

Doch die Russische Revolution überliess ihr Schicksal nicht passiv der Entwicklung im Proletariat der übrigen Staaten. Sie unternahm trotz allen Schwierigkeiten, mit der sie in Russland konfrontiert war, permanent den Versuch, die Revolution auszuweiten. Der aus der Revolution hervorgegangene Staat wurde denn auch als ein erster Schritt hin zur internationalen Sowjet-Republik gesehen, welche sich nicht durch die künstlichen Grenzen der kapitalistischen Nationen, sondern die Klassengrenzen definiert. So wurde zum Beispiel gegenüber Kriegsgefangenen systematische Propaganda betrieben, mit der Absicht, diese zur Unterstützung der internationalen Revolution aufzufordern. Kriegsgefangenen gab man die Möglichkeit, Sowjetbürger zu werden (3). Ein Resultat dieser Propaganda war die "Sozialdemokratische Organisation russischer Kriegsgefangener". Sie rief die Arbeiter Deutschlands, Österreichs, der Türkei und anderer Länder dazu auf, sich zu erheben, und so dem Krieg ein Ende zu setzen, und die Revolution auszubreiten.

Deutschland war der Dreh- und Angelpunkt für die Ausbreitung der Revolution und deshalb wurde gerade zur Unterstützung des deutschen Proletariates die ganze Energie der Revolution eingesetzt. Als im April 1918 eine Russische Botschaft in Berlin eingerichtet war, wurde sie sofort in ein ‘Hauptquartier’ der Deutschen Revolution umgewandelt. Der russische Botschafter Joffe kaufte von deutschen Beamten geheime Informationen und gab sie deutschen Revolutionären weiter, in der Absicht, die imperialistische Politik der deutschen Regierung zu entlarven. Joffe kaufte auch Waffen für die revolutionären Arbeiter in Deutschland und liess tonnenweise Propagandaschriften in der Botschaft drucken. Regelmässig nachts trafen sich dort auch heimlich deutsche Revolutionäre, um die Voraussetzungen der Revolution zu diskutieren und den Aufstand vorzubereiten.

Es war diese Klarheit über die absolute Vordringlichkeit der Weltrevolution, die das russische Proletariat trotz des Hungers, den es erleiden musste, dazu brachte, den Arbeitern in Deutschland drei vollbeladene Züge mit Weizen als Unterstützung zu schicken.

Es ist lehrreich zu hören, wie die Stimmung in Russland während der ersten Periode der Deutschen Revolution war. Sie gipfelte in einer beeindruckenden Demonstration der Arbeiter vor dem Kreml: "Zehntausende von Arbeitern fielen in einen wilden Begeisterungssturm. Noch nie zuvor hatte ich so etwas gesehen. Bis spät in den Abend hinein zogen Arbeiter und Soldaten der Roten Armee vorbei. Die Weltrevolution war endlich da. Die Massen spürten ihren eisernen Schritt. Unsere Isolation ist gebrochen! (Radek, zitiert in E.H. Carr:"The Bolshevik Revolution", Bd.3, Seite 104). Ein anderer Beitrag zur Unterstützung der Weltrevolution war der leider etwas verspätete 1.Kongress der Kommunistischen Internationalen, der im März 1919 in Moskau stattfand. Die Internationale verstand, dass "es unsere Aufgabe ist, die revolutionären Erfahrungen der Arbeiterklasse zu verbreiten, so die Kräfte aller wirklich revolutionären Parteien zu stärken, und damit die Arbeiterklasse vom hemmenden Einfluss des Opportunismus und Sozialpatriotismus zu säubern. Damit werden wir den Sieg der kommunistischen Revolution erleichtern und vorantreiben." ("Manifest der Komintern an die Arbeiter der ganzen Welt").

Nachdem jedoch das Proletariat in Berlin, Wien, Budapest und München massakriert worden war, begann die Kommunistische Internationale (K.I.) gegenüber dem Parlamentarismus, dem gewerkschaftlichen Kampf  und den "nationalen Befreiungskämpfen" Konzessionen zu machen, welche in den sog. "21 Aufnahmebedingungen" festgehalten wurden. Gleichfalls wurde nun die Position der Ausbreitung der Revolution mittels des "Revolutionären Krieges" aufgestellt, eine Position, welche die Bolschewiki zur Zeit des Vertrages von Brest-Litowsk 1918 klar verworfen hatten. (4) Ein weiterer Schritt, der die Degenerierung der K.I. anzeigte, war die Propagierung der unheiligen "Einheitsfront"-Parole im Dezember 1920. Sie basierte auf der Überzeugung, dass die Bedingungen für die Revolution in Europa nicht mehr gegeben seien.

Die fatalistische Logik geht ähnlich wie die bürgerliche Philosophie davon aus, dass ‘eine Sache nur so sein kann wie die Wurzeln, von denen sie herrührt’. So wird uns die Kommunistische Internationale, gleich wie alle anderen grossen Errungenschaften der Arbeiterklasse, als ein von Beginn an von den "machiavellistischen" Bolschewiki geplantes Manöver dargestellt, als ein Werkzeug zur Verteidigung des russischen kapitalistischen Staates. Doch dies ist wie gesagt nur die Logik der Bourgeoisie. Für das Proletariat ist im Gegensatz dazu die Degeneration der Russischen Revolution und der Kommunistischen Internationalen ein Resultat der Niederlage der Arbeiterklasse nach langem Kampf gegen die grausame Reaktion des Weltkapitals. Wenn diese Degeneration nur eine "Frage der Zeit" gewesen wäre, wie uns das die Bourgeoisie heute einzureden versucht, weshalb schloss sich dann das Weltkapital zusammen mit dem Ziel, die Russische Revolution niederzuwerfen?

Die Belagerung der russischen Revolution durch den Kapitalismus

Zwischen 1917 und 1923, also bis zur vollständigen Niederlage der weltrevolutionären Welle, vereinigte sich das Kapital in einem internationalen Feldzug unter der Parole "Nieder mit dem Bolschewismus!". Der deutsche Imperialismus, die zaristischen Generale und die westlichen Demokratien der Entente, die sich nur einige Monate vorher noch in der ersten grossen imperialistischen Schlächterei gegenübergestanden hatten, beteiligten sich alle am Kreuzzug gegen die Russische Revolution. Dies ist die klare Bestätigung einer wichtigen Lehre für die Arbeiterbewegung: Wenn die Arbeiterklasse den Kapitalismus in seiner Existenz bedroht, ist die Ausbeuterklasse fähig, ihre Streitigkeiten beiseite zu legen, um die Revolution zu unterdrücken.

Der deutsche Imperialismus

Das erste Hindernis, auf welches die Russische Revolution stiess und welches ihre Ausbreitung verhinderte, war die Belagerung durch die Armeen des deutschen Kaisers. Wenn einerseits die Revolution in Russland und die gesamte damalige revolutionäre Welle eine Antwort des Proletariates auf den 1. Weltkrieg war, so schuf andererseits der Krieg, wie es Rosa Luxemburg treffend ausdrückte, "die schwierigsten und abnormalsten Bedingungen" für eine Ausbreitung der Revolution.

Ein schneller Friedensschluss, eine Beendigung des Krieges, war eine absolute Notwendigkeit und hatte demnach auch absoluten Vorrang in der Revolution. Am 19. November 1917 begannen die Friedensgespräche von Brest-Litowsk. Sie wurden jede Nacht über das Radio ausgestrahlt, nicht nur für die Arbeiterklasse in Deutschland, sondern auch für die Kriegsgefangenen und die Arbeiter in anderen Ländern. Dies bedeutete jedoch keinesfalls, dass die Bolschewiki in Brest-Litowsk Vertrauen in irgendwelche "friedlichen" Absichten des deutschen Imperialismus hatten: "Wir verheimlichen vor niemandem, dass wir den heutigen kapitalistischen Regierungen keinen demokratischen Frieden zutrauen. Einzig und allein der revolutionäre Kampf der arbeitenden Massen gegen ihre Regierungen kann Europa in die Nähe eines solchen Friedens bringen. Doch ein wirklicher Frieden kann nur durch eine siegreiche proletarische Revolution in allen kapitalistischen Ländern erreicht werden (Trotzki, zitiert in E.H.Carr, Bd.3, Seite 41).

Zu Beginn des Jahres 1918 traf die Nachricht von Streiks und Meutereien in Deutschland, Österreich und Ungarn (5) ein, welche die Bolschewiki dazu ermunterten, die Friedensverhandlungen in die Länge zu ziehen. Doch die Niederschlagung dieser Aufstände brachte Lenin -  wieder einmal in der Minderheitsposition innerhalb der Bolschewiki - dazu, die unbedingte Notwendigkeit einer schnellstmöglichen Unterzeichnung dieser Friedensverträge zu verteidigen. Die Ausbreitung der Revolution, für die die Bolschewiki unerschrocken kämpften, darf nicht mit der Losung des "Revolutionären Krieges", welche von den "Linkskommunisten" aufgestellt wurde, verwechselt werden (6). Diese Ausbreitung hing alleine von der Reifung und dem Erfolg der Revolution in Deutschland ab: "Es ist vollkommen statthaft, dass unter solchen Vorzeichen die Möglichkeit der Niederlage und der Verlust der Sowjetmacht nicht nur als "passend", sondern als absolut notwendig zu akzeptieren wären. Dennoch ist es klar, dass diese Vorzeichen nicht existieren. Die Deutsche Revolution reift heran, sie ist aber noch nicht deutlich ausgebrochen. Es ist offensichtlich, dass wir diesen Reifungsprozess nicht unterstützen, sondern blockieren würden, wenn wir den Verlust der Sowjetmacht einfach hinnehmen würden. Dies würde nur der Reaktion in Deutschland in die Hände spielen, der sozialistischen Bewegung Deutschlands Schwierigkeiten aufbürden, und wir würden damit die sozialistische Bewegung in den proletarischen und halbproletarischen Massen aufspalten. Eine Bewegung, die den Sozialismus bis jetzt noch nicht durchgesetzt hat, und die durch die Niederlage Sowjetrusslands eingeschüchtert würde, so wie damals die Niederlage der Pariser Kommune 1871 die englischen Arbeiter entmutigt hat. (Lenin)

 Lenin beschrieb damit das Dilemma, in dem sich eine proletarische Bastion befindet, in der die Arbeiterklasse die Macht übernommen hat, aber solange isoliert bleibt, bis die Revolution sich durch siegreiche Aufstände in anderen Ländern ausbreitet. Was tun? Aufgeben oder verhandeln? Kapitulieren angesichts der feindlichen militärischen Übermacht, um so die proletarische Bastion aufrechterhalten und damit die Weltrevolution zu unterstützen?

Rosa Luxemburg, die mit den Verhandlungen von Brest-Litowsk nicht einverstanden war, zeigte mit erstaunlicher Klarheit auf, dass alleine der Kampf des deutschen Proletariates diesen Widerspruch im Sinne der Revolution hätte lösen können: "Die ganze Rechnung des russischen Friedenskampfes beruhte nämlich auf der stillschweigenden Voraussetzung, dass die Revolution in Russland das Signal zur revolutionären Erhebung des Proletariats im Westen: in Frankreich, England und Italien, vor allem aber in Deutschland, werden sollte. In diesem Falle allein, dann aber unzweifelhaft, wäre die Russische Revolution der Anfang zum allgemeinen Frieden geworden. Dies blieb bis jetzt aus. Die Russische Revolution ist, abgesehen von einigen tapferen Anstrengungen des italienischen Proletariats (Generalstreik am 22.August in Turin), von den Proletariern aller Länder im Stich gelassen worden. Die Klassenpolitik des Proletariats, von Hause aus und in ihrem Kernwesen international, wie sie ist, kann aber nur international verwirklicht werden (Rosa Luxemburg, "Die geschichtliche Verantwortung", Ges.Werke, Bd.4, Seite 377).

Überraschenderweise verstärkte das Oberkommando der deutschen Streitkräfte am 18. Februar 1918 die militärische Offensive. (Lenin bezeichnete dies als:"Schnelle, unberechenbare Bocksprünge dieses wilden Ungeheuers“). Innerhalb weniger Wochen standen die deutschen Armeen vor den Toren Petrograds, und die russische Regierung musste nun wohl oder übel einen Frieden zu schlechteren Bedingungen akzeptieren. Deutschland besetzte die ehemaligen baltischen Provinzen, den grössten Teil Weissrusslands (Region um Minsk), die gesamte Ukraine und den nördlichen Kaukasus. Später kam noch die Eroberung der Krim und des Trans-Kaukasus dazu (ausgenommen Baku und Turkestan), was ein klarer Bruch der Verträge von Brest-Litowsk war.  

Wie die Italienische Kommunistische Linke (7) vertreten wir nicht die Auffassung, dass der Gewaltfrieden von Brest-Litowsk einen Rückschritt für die Revolution bedeutete, sondern dass er durch diesen Widerspruch zwischen Verteidigung der proletarischen Bastion und Ausbreitung der Revolution aufgezwungen wurde. Die Lösung dieses Problems lag weder am Verhandlungstisch noch an der militärischen Front, sondern in der Antwort des Weltproletariates. Im April 1922, als die Bourgeoisie die weltrevolutionäre Welle schon fast gänzlich niedergeschlagen hatte und die russische Regierung die Aussenpolitik der kapitalistischen Staaten durch den Vertrag von Rapallo akzeptierte, hatte ihre Politik nichts mehr Gemeinsames mit dem Frieden von Brest-Litowsk oder der revolutionären Politik des Proletariates. Weder der Form nach, Rapallo 1922 war ein Geheimvertrag, noch im Inhalt, da dieser Vertrag militärische Hilfeleistungen Russlands an die deutsche Regierung beinhaltete. Als die Kommunistische Internationale, schon voll im Degenerationsprozess begriffen, im Oktober 1923 das deutsche Proletariat zu verzweifelten Aktionen aufrief, wurden die Arbeiter in Deutschland mit Waffen massakriert, welche die russische Regierung an Deutschland verkauft hatte.

Die Zermürbungsstrategie der westlichen ‘Demokratien’

Die verbündeten Staaten der Entente, die ‘fortschrittlichen’ westlichen ‘Demokratien’, liessen sich in ihrer Absicht, die Russische Revolution zu ersticken, kein Mittel entgehen. England und Frankreich installierten in der Ukraine, Finnland, den baltischen Staaten und in Bessarabien Regimes, welche die konterrevolutionären Weissen Truppen unterstützten. Doch damit nicht genug; sie entschlossen sich, direkt in Russland einzufallen. Japanische Truppen gingen am 3.April in Wladiwostok an Land und kurz darauf schlossen sich ihnen auch französische, britische und amerikanische Truppenverbände an. "Vom Beginn der Novemberrevolution an haben die Ententemächte sich auf die Seite der gegenrevolutionären Parteien und Regierungen Russlands gestellt. Mit Hilfe der bürgerlichen Gegenrevolutionäre haben sie Sibirien, den Ural, die Küsten des europäischen Russlands, den Kaukasus und einen Teil von Turkestan annektiert. Aus den annektierten Gebieten entwenden sie Rohstoffe (Holz, Naphtha, Manganerze u.a.). Mit Hilfe der besoldeten tschechoslowakischen Banden haben sie den Goldvorrat des russischen Reiches geraubt. Unter Leitung des englischen Diplomaten Lockhart bereiteten englische und französische Spione die Sprengung der Brücken, Zerstörung der Eisenbahnen vor und versuchten, die Versorgung mit Lebensmitteln zu verhindern. Die Entente unterstützte die reaktionären Generäle Denikin, Koltschak und Krasnow, die in Rostow, Jusowka, Noworossijsk, Omsk usw. Tausende von Arbeitern und Bauern gehängt und erschossen haben, mit Geld, Waffen und militärischer Hilfe." ( "Thesen über die internationale Lage und die Politik der Entente", 1. Kongress der K.I., 6.März 1919).

Seit Beginn des Jahres 1919, also genau zur Zeit des Ausbruchs der Revolution in Deutschland, war Russland total isoliert und mit der grössten je von den westlichen ‘Demokratien’ gestarteten Truppenoffensive konfrontiert. Dazu kamen noch die Weissen Armeen. Die Bolschewiki unternahmen gegenüber den feindlichen Truppen, die von den Kapitalisten zur Niederschlagung der Revolution gesandt worden waren, Aufrufe zum proletarischen Internationalismus, revolutionäre Propaganda: "Ihr werdet nicht gegen eure Feinde kämpfen, sondern gegen Arbeiter wie ihr selbst. Wir fragen euch: Wollt ihr uns niedermetzeln? Seid euren Klassengenossen treu und verweigert dieses schmutzige Handwerk für eure Herren." (Aus einem Flugblatt an britische und amerikanische Truppen in Archangelsk, in: E.H.Carr "The Bolshevik Revolution").

Erneut hatten die Aufrufe der Bolschewiki (in Zeitschriften wie "The Call" auf englisch oder "La Laterne" auf französisch) einen Einfluss auf die zur Niederschlagung der Revolution eingesetzten Truppen. "Am 1.März 1919 brach unter französischen Truppen eine Meuterei aus. Einige Tage zuvor hatte eine britische Infanterieabteilung ihre Verlegung an die Front verweigert, und kurz darauf verweigerte auch eine amerikanische Kompanie eine Zeitlang ihre Rückkehr an die Frontlinien.“ (E.H.Carr). Im April 1919 mussten französische Truppen und die Flotte abgezogen werden, weil die Hinrichtung von Jeanne Labourbe, einer militanten Kommunistin, die Propagandamaterial verbreitet hatte, das zur Verbrüderung zwischen französischen und russischen Truppen aufrief, grosse Entrüstung unter den Soldaten hervorrief. Ebenso mussten britische und italienische Truppen zurückgezogen werden, weil in England und Italien Arbeiter gegen die Entsendung von Truppen und gegen Waffenlieferungen an die konterrevolutionären Armeen demonstrierten. Aufgrund dieser Ereignisse sahen sich die westlichen ‘Demokratien’ gezwungen, ihre Taktik zu ändern und setzten von nun an vor allem die Truppen der auf den Ruinen des alten russischen Imperiums gebildeten Nationen als Schutzwall gegen die Ausbreitung der Revolution ein. Im April 1919 besetzten polnische Truppen Teile von Weissrussland und Litauen. Im April 1920 besetzten sie Kiew in der Ukraine, und schlussendlich kontrollierte ab Mai/Juni 1920 die polnische Regierung, unterstützt vom weissen General Denikin, fast die gesamte Ukraine. Enver Pascha, der Führer der jungen türkischen ‘antifeudalen’ Revolution wurde der Anführer einer Revolte gegen die Sowjets im Oktober 1921 in Turkestan.

Die reaktionären Kräfte in Russland

Unmittelbar nach dem Aufstand im Oktober 1917 und der Machtübernahme durch die Sowjets in ganz Russland begannen die Reste der Bourgeoisie, der Armee und der reaktionären Offizierskaste, alle ihre Kräfte hinter der Flagge der provisorischen Regierung zusammenzurotten (merkwürdigerweise genau dieselbe Flagge, unter der Jelzin in den Kreml einzog). So entstand die erste Weisse Armee unter dem Kommando Kaledins, dem Führer der Donkosaken. Das immense Chaos und die Armut, in der das isolierte Russland versank, die Selbstauflösung der letzten Überreste der zaristischen Armee, die nur dürftige Bewaffnung der revolutionären Sowjets, die Sabotage durch den deutschen Imperialismus und die westlichen Demokratien, unterstützt von den Weissen Armeen, all dies führte gradlinig in Richtung Bürgerkrieg. Bis Mitte des Jahres 1918 war das Gebiet, in welchem die Sowjets die Kontrolle behalten konnten, auf das ehemalige feudale Fürstentum Moskau reduziert worden, und die Revolution war darüber hinaus noch mit der Revolte der "Tschechischen Legion" und der antibolschewistischen Regierung in Samara (8), welche die Verbindungslinien zu Sibirien abschnitt, konfrontiert. Dazu kamen noch die Kosaken Krasnows (ein in den ersten Tagen der Revolution in Pulkow besiegter General, der später von den Bolschewiki freigelassen worden war), Denikins Armeen im Süden, Kaledin im Dongebiet, Koltschak im Osten und Yudenitsch im Norden. Alles in allem blutige Orgien des Terrors, der Massaker, Ermordungen und Greueltaten, die von den ‘Demokratien’ bejubelt wurden und durch die ‘Sozialisten’, welche in Deutschland, Österreich und Ungarn Arbeiteraufstände niederschlugen, Rückendeckung fanden.

Die bürgerliche Geschichtsschreibung stellt die Grausamkeiten dieses Bürgerkrieges als "etwas in allen Kriegen Vorhandenes", als eine Folge der "menschlichen Bestialität" dar. Doch der grausame Bürgerkrieg, der drei Jahre wütete, und der zusammen mit den Epidemien und Hungersnöten, welche durch die Wirtschaftsblockaden hervorgerufen wurden, mehr als sieben Millionen Tote forderte, war der Bevölkerung Russlands durch den Weltkapitalismus aufgezwungen worden.

Den Offensiven der westlichen imperialistischen Staaten und der Weissen Truppen fügten sich Sabotageakte und konterrevolutionäre Verschwörungen der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums an. Im Juli 1918 zettelte Savinkow (9) mit der Unterstützung des französischen Botschafters Noulens in Yaroslaw eine Meuterei an, die zwei Wochen lang eine wahre Rache und Terrorwelle gegen alles, was nach Proletariat oder revolutionärem Bolschewismus roch, auslöste.

Gleichfalls im Juli, nur einige Tage nach der Landung französischer und britischer Truppen in Murmansk, versuchten die linken Sozialrevolutionäre einen Staatsstreich zu organisieren. Der deutsche Botschafter Mirbach wurde ermordet, mit der Absicht einen militärischen Zusammenstoss mit Deutschland zu provozieren. Lenin bezeichnete dies "als einen weiteren hinterhältigen Schlag der Kleinbourgeoisie", denn das Letzte, was die Revolution in dieser Situation noch brauchte, war ein erneuter offener Krieg mit Deutschland!

Die Revolution kämpfte buchstäblich ums Überleben. Sich zu behaupten hing vollends vom Erfolg der Revolution in Europa ab und forderte nicht nur auf ökonomischer Ebene wie schon beschrieben, sondern auch politisch endlose Opfer. In diesem Artikel wollen wir nicht auf Fragen wie den Repressionsapparat oder die reguläre Rote Armee (10) eingehen, Fragen, auf welche die Russische Revolution fast endlose Lehren erteilt hat. Dennoch ist es wichtig, hier hervorzuheben, dass der Prozess von einer revolutionären Gewalt hin zu offenem Terror, die Unterordnung der Arbeitermilizen unter eine hierarchische Armee, oder die wachsende Autonomie des Staatsapparates gegenüber der Kontrolle durch die Arbeiterräte hauptsächlich das Ergebnis der Isolierung der Revolution waren. Sie waren das Resultat eines zunehmend ungünstigen Kräfteverhältnisses zwischen Bourgeoisie und Proletariat auf internationaler Ebene, welches die Niederlage dieser nur in einem Land ‘siegreichen’ Revolution endgültig besiegelte.

Es gibt absolut keine logische Entwicklung von der im November 1917 gegründeten Tscheka (welche damals nur knapp 120 Mann zählte und nicht einmal Autos besass, um damit Verhaftungen vornehmen zu können) hin zum monströsen politischen Apparat der GPU, welche von Stalin gegen die Bolschewiki eingesetzt wurde. Diese Entwicklung war das direkte Resultat der tiefgreifenden Degeneration der Revolution aufgrund ihrer Niederlage. So gab es auch keine vorhersehbare Kontinuität zwischen den Roten Garden, welche die militärischen Einheitsorgane waren und durch die Arbeiterräte kontrolliert wurden, und der regulären Armee, welche im April 1919 die obligatorische Wehrpflicht, die Kasernendisziplin und militärische Grussregeln wieder einführte. Im August 1920 zählte die Rote Armee schon 315000 "Militärspezialisten", Überreste aus der alten zaristischen Armee. Diese Degenerierung war das Resultat aus dem Kampf zwischen einer proletarischen Bastion, welche unbedingt die Unterstützung der internationalen Revolution brauchte, und der fürchterlichen weltweiten Konterrevolution, die mit jeder Niederlage, die sie dem Proletariat zufügte, ein immer grösseres Übergewicht erhielt.

Die ökonomische Erstickung

Unter dem Druck der Isolierung, der permanenten Blockade durch das Weltkapital, der Sabotage im Lande selbst und unabhängig von allen Illusionen, welche die Bolschewiki über die Möglichkeiten der Einführung einer neuen Logik in der Wirtschaft hatten, war die Realität zwischen 1918 und 1921 genau die, welche Lenin als "belagerte Festung" beschrieb. Russland war eine proletarische Bastion, welche versuchte, unter den schlechtesten Bedingungen und mit der Hoffnung auf die Ausbreitung der Revolution durchzuhalten.

Wir haben schon in verschiedenen Nummern der "Internationalen Revue" (auf engl., franz., span.) versucht aufzuzeigen, dass in Russland nie eine sozialistische Gesellschaft existiert hat, da als erster Schritt dazu die Machtergreifung des Proletariats im weltweiten Rahmen erforderlich ist. Die Wirtschaftspolitik, die innerhalb einer isolierten "revolutionären Bastion" betrieben werden konnte, war deshalb notwendigerweise durch die Herrschaft des Kapitals auf Weltebene diktiert. Die Idee des "Sozialismus in einem Lande" ist von den Revolutionären immer als eine ideologische Maske der stalinistischen Konterrevolution verworfen worden.

Was wir in diesem Artikel herausstreichen wollen, ist einerseits die Tatsache, dass die schreckliche Armut, unter der das revolutionäre Russland litt, nicht ein Ergebnis des Sozialismus war und andererseits die Unmöglichkeit, diese Misere zu beseitigen, solange die Revolution isoliert bleibt. Der Unterschied zwischen diesen beiden Aspekten ist folgender: Die Bourgeoisie versucht mit der Behauptung, die Armut sei ein direktes Ergebnis der Revolution gewesen, zu erreichen, dass die Arbeiter daraus die Lehre ziehen: "Es ist besser auf die Revolution zu verzichten um überleben zu können". Aber auf der anderen Seite ist es für uns dennoch absolut unabdingbar, in jeder Situation, vom Streik in der kleinsten Fabrik bis hin zur Revolution, die ein ganzes Land erfasst, darauf hinzuweisen, dass, "wenn sich die Kämpfe nicht ausbreiten und die Revolution isoliert bleibt, der Kapitalismus nicht überwunden werden kann".

Die Russische Revolution brach als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg aus und war deshalb auch geprägt vom ökonomischen Chaos, den Rationalisierungen und der Unterordnung der Produktion unter die Bedürfnisse des Krieges. Ihre Isolation brachte zusätzlich noch die Last des Bürgerkrieges und der militärischen Interventionen der westlichen ‘Demokratien’ mit sich. Dieselben, welche sich in Versailles unter der Parole "Leben und leben lassen" eine humanitäre Maske aufgesetzt hatten, zögerten keinen Moment lang, vom März 1918 bis Anfang 1919 (einige Monate vor der definitiven Niederlage von Wrangels Weisser Armee) gegen Russland eine einschneidende ökonomische Blockade zu verhängen, welche selbst die Unterbindung der Solidaritätslieferungen von Arbeitern und Arbeiterinnen anderer Länder an ihre Klassenbrüder in Russland beinhaltete. Die Bevölkerung litt stark unter all den Entbehrungen, die sie zu ertragen hatte. Ein Beispiel ist der Mangel an Heiz- und Brennmaterial. Die winterliche Kälte übersäte Russland buchstäblich mit Leichen. Der Zugang zur Kohle aus der Ukraine war bis 1920 abgeschnitten und die Ölquellen in Baku und im Kaukasus waren aufgrund der Belagerung durch das Weltkapital zwischen Sommer 1918 und Ende 1919 in den Händen Englands. Insgesamt standen in den russischen Städten in dieser Zeit lediglich 10% des vor dem Ersten Weltkrieg erhältlichen Brennmaterials zur Verfügung.

Bittere Hungersnöte herrschten in den Städten. Brot und Zucker waren seit Beginn des imperialistischen Krieges rationiert worden. Während des Bürgerkrieges erreichten diese Rationierungen aufgrund der ökonomischen Blockaden und der Sabotage der Bauern, welche einen Teil ihrer Ernte verbargen, um sie später auf dem Schwarzen Markt teuer zu verkaufen, unmenschliche Ausmasse. Als im August 1918 die Warenbestände in den städtischen Läden aufgebraucht waren, wurde die Zuteilung unterschiedlicher Rationen eingeführt:

 - Die Arbeiter und Arbeiterinnen der Schwerindustrie erhielten die grössten Rationen, welche lediglich 1200 bis ca.1900 Kalorien pro Tag ausmachten und somit nur etwa 25% ihres tatsächlichen täglichen Bedarfs enthielten. Diese Rationen wurden während des Bürgerkrieges auf die Familien von Angehörigen der Roten Armee ausgeweitet.

 - Die kleinste Ration, welche nur etwa 1/4 des Nährwertes der Obengenannten enthielt, wurde der übriggebliebenen Bourgeoisie zugeteilt.

 - Die restlichen Arbeiter erhielten die "mittlere Ration" die etwa dreimal mehr Kalorien als die kleine Ration enthielt.

Trotzki beschrieb die Bevölkerung Petrograds, welche im Oktober 1919 die Attacken der Weissen Armee unter General Yudenitsch vor den Toren der Stadt abzuwehren hatte, als eine Armee von Gespenstern: "Die Arbeiter Petrograds waren in einem erbärmlichen Zustand; ihre Gesichter waren grau vor Unterernährung; ihre Kleider waren Lumpen; ihre Schuhe, welche oft gar keine Sohlen mehr hatten, durchlöchert." (Trotzki, "Mein Leben").

Obwohl der Bürgerkrieg im Januar 1921 beendet war, betrug die Schwarzbrotration für Arbeiter in Betrieben mit laufender Produktion nur 800 Gramm und für Teilzeitarbeiter 600 Gramm. Die Ration für Arbeiter mit der "B-Karte" (Arbeitslose) musste bis auf 200 Gramm Schwarzbrot reduziert werden. Hering, der in der Vergangenheit oft geholfen hatte, Nahrungsmittelengpässe zu überwinden, war nicht erhältlich. Kartoffeln waren meist gefroren, wenn sie mit den Zügen, welche in einem katastrophalen Zustand waren, in den Städten eintrafen (es war nur noch ca. 20% des Vorkriegsbestandes an Wagen und Lokomotiven vorhanden). Anfang Sommer 1921 begann in den östlichen Provinzen und der Wolgaregion eine schreckliche Dürre. Während dieser Zeit waren zwischen 22 und 27 Millionen Menschen in Not, litten unter Hunger, Kälte, Typhus, Diphtherie oder Grippe (11), wie der Sowjetkongress festhielt. Zu dieser miserablen Versorgung kam noch die Spekulation hinzu. Um die offiziellen Rationen zu verbessern, war es notwendig, auf dem Schwarzmarkt, der "Sujarewka", einzukaufen (benannt nach dem Sujarewski-Platz in Moskau, wo dieser Schwarzhandel halb legal stattfand). Nur rund die Hälfte des Korns, welches in die Städte geliefert wurde, kam vom Lebensmittelversorgungs-Kommissariat, die andere Hälfte vom Schwarzmarkt, jedoch zum zehnfachen Preis der normalen Lieferungen. Es existierte noch eine andere Form von Schwarzmarkt: Der illegale Transport von Fertigwaren aufs Land, wo sie bei den Bauern gegen Lebensmittel ausgetauscht wurden. Die Revolution brachte bald eine neue Figur, die "Taschenmänner", hervor, welche auf klapprigen Güterzügen Salz, Streichhölzer, manchmal Schuhe oder mit Öl gefüllte Flaschen in die Dörfer brachten, um sie dort gegen einige Kilogramm Kartoffeln oder Mehl zu tauschen. Im September 1918 anerkannte die Regierung den Schwarzmarkt aus taktischen Gründen als offiziell und limitierte ihn auf 1.5 Pfund (ca. 25 Kilogramm) für Weizen. Von da an wurden die "Taschenmänner", welche weiterhin Wuchergeschäfte trieben, "Eineinhalb-Pfund Männer" genannt. Als dann auch Fabriken begannen, mit den von ihnen produzierten Gütern Tauschhandel zu treiben, machte dies die Arbeiter selbst oft zu solchen "Taschenmännern", da sie in den Dörfern Gürtel, Riemen, Werkzeuge usw. Gegen Lebensmittel eintauschten.

Auch die Arbeitsbedingungen hatten sich durch die gewaltige Misere, die Isolation der Revolution und den Bürgerkrieg sehr verschlimmert. Damit wurden sämtliche Forderungen der Arbeiter und die von der Regierung eingeführten Arbeitsschutzmassnahmen zur Wahrung der Interessen der Arbeiter übergangen: "Vier Tage nach der Revolution war ein Dekret erlassen worden, das die Prinzipien des 8-Stunden Tages und der 48-Stunden Woche enthielt. Es wurden darin klare Grenzen über die Arbeit von Frauen und Jugendlichen erlassen sowie die Einstellung von Kindern unter 14 Jahren verboten. Ein Jahr später musste die "Narkomtrud" (das Volkskommissariat der Arbeit) den obligatorischen Charakter dieses Dekrets zurücknehmen. Solche Verbote hatten in dieser Notstandszeit während des Bürgerkrieges, wo Arbeitskräfte überall fehlten, sowieso nur eine geringe Wirkung." (E.H. Carr, Bd.2). Derselbe Lenin, welcher den Taylorismus, die Theoretisierung der Fliessbandarbeit, als "die Versklavung des Menschen unter die Maschine" angeklagt hatte, musste der Notwendigkeit, die Produktion zu steigern, nachgeben. Er unterstützte die Einführung "Kommunistischer Samstage", für welche die Arbeiter kaum Lebensmittel erhielten und unbezahlt waren, da diese Samstage als eine Unterstützung der Revolution angesehen wurden. Im Bewusstsein, dass die Revolution in Europa nahe bevorstand, waren die kämpferischsten und bewusstesten Teile der russischen Arbeiterklasse bereit, die proletarische Bastion mit dieser Perspektive um jeden Preis zu verteidigen. Ihrer Sowjets, Arbeiterversammlungen und ihres Kampfes gegen die kapitalistische Unterjochung beraubt, waren die Arbeiter in Russland nun zunehmend den brutalsten Formen kapitalistischer Ausbeutung ausgeliefert.

Trotzdem, oder eben gerade als Resultat dieser Überausbeutung produzierten die russischen Fabriken weniger. Die Gründe des Produktivitätsrückgangs lagen in einer unterernährten Arbeiterklasse und dem Chaos in der russischen Ökonomie. Noch 1923, drei Jahre nach der Beendigung des Bürgerkrieges, verfügte die russische Industrie lediglich über 30% ihrer Kapazität von 1912. Nur in der Kleinindustrie betrug die Arbeitsproduktivität 57% derjenigen von 1913. Diese Kleinindustrie, welche vor allem 1919 errichtet wurde, war zum grossen Teil ländlich (die Produktion umfasste vor allem Werkzeuge, Seile und Möbel für den lokalen bäuerlichen Markt), und die darin Beschäftigten arbeiteten, was die Arbeitsstunden anging, unter Bedingungen, wie sie in der Landwirtschaft üblich waren. Aufgrund der schrecklichen Lebensbedingungen in den Städten, wie wir sie oben bereits beschrieben haben, wanderte ein grosser Teil der Arbeiter in ländliche Gebiete aus und wurde dort in die Kleinindustrie integriert. Selbst in grossen Fabriken Beschäftigte verliessen die Städte, um auf dem Land von den in kleinen Werkstätten hergestellten Sachen, die an die Bauern verkauft wurden, einige Bissen zu erhalten. 1920 waren insgesamt 2.2 Millionen Arbeiter in der Industrie beschäftigt, von denen lediglich 1.4 Millionen in Betrieben mit mehr als 30 Arbeitern angestellt waren.

Mit der Einführung der NEP (Neue Ökonomische Politik) 1921 wurden staatliche Betriebe im Wettbewerb mit "privaten" russischen Kapitalisten, welche in kürzester Zeit ausländische Investoren hatten, konfrontiert, und aufgrund dessen, so wie in jeder kapitalistischen Wirtschaft, musste der "staatliche Boss" laufend viel billiger produzieren (12). Mit der Demobilisierung der Armee nach dem Bürgerkrieg und der Einführung der NEP entstand eine grosse Arbeitslosigkeit. Bei den Eisenbahnen zum Beispiel wurde mehr als die Hälfte der Angestellten entlassen und die Arbeitslosigkeit stieg ab 1921 schnell an. 1923 gab es in Russland bereits eine Million registrierte Arbeitslose.

Die Bauernfrage

Rund 80% der Bevölkerung Russlands waren Bauern. Der Sowjetkongress hatte während des Aufstandes das "Landdekret" erlassen, welches auf das Bedürfnis von Millionen von Bauern nach einem eigenen Stück Land, mit dem sie sich selbst ernähren konnten, einging. Auf der anderen Seite ordnete es die Abschaffung der Grossgrundbesitzer an, welche nicht nur für die Bauern eine Geissel waren, sondern vor allem auch ein Teil der Konterrevolution. Welche Massnahmen auch immer ergriffen wurden, sie konnten keinen echten Beitrag zur Bildung grosser Arbeitervereinigungen leisten, mit denen die Landarbeiter wenigstens ein Minimum an Kontrolle hätten ausüben können. Ganz im Gegenteil, trotz all den Versuchen wie "Landarbeiterkomitees", Kolchosen (kollektive Höfe), Sowchosen (Höfe in Staatsbesitz, auch "Sozialistische Getreidefabriken" genannt, denn ihre Aufgabe war die Versorgung des Stadtproletariates mit Getreide), was sich ausbreitete, war die Kleinbauernwirtschaft mit lächerlich kleinen Höfen, von denen sich die Bauern kaum ernähren konnten. 1917 waren 58% aller Bauernhöfe kleiner als 5 Hektar, 1920 waren schon 86% des kultivierbaren Landes in solche Kleinbetriebe aufgeteilt, und solche Betriebe konnten den Hunger in den Städten natürlich keinesfalls lindern. Die Zwangsmassnahmen, mit denen die Bolschewiki versuchten, Lebensmittel für das Proletariat und die Soldaten der Roten Armee einzutreiben, führten nicht nur bezüglich der kläglichen Mengen, die eingesammelt werden konnten, zu einem Fiasko, sondern sie trieben eine grosse Zahl von Bauern in die feindlichen Weissen Armeen oder in die bewaffneten Banden, welche, wie zum Beispiel die anarchistische Machno-Bewegung in der Ukraine, oft gegen die Weissen Armeen und die Bolschewiki gleichzeitig Krieg führten.

Ab Sommer 1918 versuchte der russische Staat die mittleren Bauern zu unterstützen, um so bessere Erträge zu erzielen. Im ersten Jahr nach der Revolution hatte das Versorgungs-Kommissariat nur knapp 780 000 Tonnen Korn einsammeln können. Zwischen August 1918 und August 1919 betrug diese Menge schon 2 Millionen Tonnen. Doch die Bauern mit mittelgrossen Betrieben waren nicht zu einer Zusammenarbeit geneigt: "Der Mittelbauer produziert mehr Lebensmittel als er selber braucht und wird durch seine Überschüsse an Korn zum Ausbeuter der hungernden Arbeiter. Hier liegt unsere vordringlichste Aufgabe und der grundlegende Widerspruch. Der Bauer als Geschundener, als Mann, der von seiner mühseligen Arbeit lebt und das Joch des Kapitalismus spürt, ein solcher Bauer steht auf der Seite des Arbeiters. Doch der Bauer als Eigentümer, der seine Überschüsse an Korn besitzt, ist gewöhnt, diese als sein Eigentum anzusehen, welches er frei verkaufen kann. (Lenin, zitiert in E.H.Carr Bd.2).

Auch in dieser Frage konnten die Bolschewiki keine andere Politik verfolgen als die, welche durch das ungünstige Kräfteverhältnis zwischen der proletarischen Revolution und der Herrschaft des Kapitalismus diktiert wurde. Die Lösung dieses Berges von Widersprüchen lag weder in den Händen des russischen Staates, noch lag sie im Verhältnis zwischen Proletariat und Bauernschaft in Russland. Die Lösung lag einzig und alleine in den Händen des internationalen Proletariates: "Auf dem 9.Parteitag im März 1919, auf dem die Politik der Versöhnung mit dem Mittelbauern proklamiert wurde, unterstrich Lenin einen wunden Punkt in der kollektiven Landwirtschaft. Der Mittelbauer würde nur über die kommunistische Gesellschaftsordnung gewonnen werden,"nur wenn wir die ökonomischen Bedingungen, in denen er lebt, verbessern und erleichtern können“. Doch genau dort war der springende Punkt: "Wenn wir ihnen morgen 100 000 erstklassige Traktoren geben könnten, sie mit Mechanikern und Benzin unterstützen könnten, und ihr wisst genau, dass dies im Moment reine Phantasie ist, dann würde der Mittelbauer sagen: "Ich bin für das Kollektiv (also für den Kommunismus)". Aber um dies zu verwirklichen, müssen wir erst die internationale Bourgeoisie besiegen, um sie dann zwingen zu können, uns die Traktoren zu geben. "Den Sozialismus in Russland zu errichten, war ohne kollektive Landwirtschaft unmöglich; die Landwirtschaft zu kollektivieren, war ohne Traktoren unmöglich; Traktoren zu erhalten, war ohne die internationale proletarische Revolution unmöglich." (E.H. Carr, Bd.2, Seite 169). Weder während der Periode des "Kriegskommunismus" noch während der Zeit der NEP konnte die russische Wirtschaft je als sozialistisch bezeichnet werden. Vielmehr war sie geprägt vom erstickenden Druck, der aufgrund der isolierten Situation Russlands auf ihr lastete.

"Wir müssen davon ausgehen, dass, wenn die europäische Arbeiterklasse die Macht vorher ergriffen hätte, wir unser rückständiges Land hätten umwandeln können - ökonomisch sowie kulturell. Wir hätten dies mit technischer und organisatorischer Unterstützung tun können, was uns erlaubt hätte, unseren Kriegskommunismus teilweise oder gänzlich zu korrigieren oder umzugestalten und uns in Richtung einer wirklich sozialistischen Gesellschaft geführt hätte. (Lenin, "Die NEP und die Revolution").     

Die Niederlage der revolutionären Kampfwelle des Weltproletariates führte schlussendlich auch zum Untergang der proletarischen Bastion in Russland, und mit dem Tod der Revolution entstand eine neue Bourgeoisie in Russland:

"Die neue Bourgeoisie entstand durch die Degenerierung der Revolution von innen und nicht aus Überresten der alten herrschenden Klasse des Zarismus, welche 1917 vom Proletariat eliminiert worden war. Diese neue Bourgeoisie bildete sich auf der Grundlage der parasitären Bürokratie des Staatsapparates, der unter Stalin immer mehr mit der bolschewistischen Partei identisch wurde. Die Bürokratie dieses Partei-Staates eliminierte Ende 1920 alle Teile der Gesellschaft, welche fähig gewesen wären, eine neue Privatbourgeoisie hervorzubringen (Spekulanten und Landbesitzer der NEP) und mit denen sie vorher verbündet gewesen war. So gelang es ihr, die Kontrolle über die Wirtschaft zu erhalten. (aus unserer Broschüre "Stalinism and democracy: two faces of capitalist terror").

Die Entmachtung der Arbeiterräte

Die Isolierung der Revolution brachte nicht nur Hunger und Krieg, sondern gleichfalls einen stetigen Verlust der Hauptwaffe, des Herzstücks der Revolution: Die Massenaktion und das Bewusstsein der Arbeiterklasse, welche sich zwischen Februar und Oktober 1917 so enorm ausgebreitet und vertieft hatten. (Siehe dazu unseren Artikel in der "Internationalen Revue" Nr.71, engl., franz., span.). Ende 1918 betrug die Zahl der in Petrograd lebenden Arbeiter nur noch 50% derjenigen von Ende 1916, und bis Herbst 1920, dem Ende des Bürgerkrieges, hatte die Geburtsstätte der Revolution 58% ihrer Bevölkerung verloren. Moskau, die neue Hauptstadt, war zu 45% und die restlichen Provinzhauptstädte zu 33% entvölkert worden. Die Mehrheit dieser Arbeiter war in ländliche Gebiete gezogen, wo die Lebensbedingungen etwas weniger hart waren, und eine beträchtliche Zahl war in die Rote Armee eingetreten oder im Staatsdienst beschäftigt. "Als die Lage an der Front schlecht stand, wandten wir uns an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei und an den Vorstand des Zentralrates der Gewerkschaften. Diese beiden Quellen schickten nun erstrangige Arbeiter an die Front, die sich dort eine Rote Armee nach ihrem eigenen Bilde schufen" (Trotzki, zitiert in E.H.Carr, Bd.2, Seite 206).

Immer wenn die Rote Armee, welche hauptsächlich aus Bauern bestand, Niederlagen erlitten hatte, oder wenn sich Desertionen häuften, wurden ganze Brigaden von entschlossensten und bewusstesten Arbeitern rekrutiert, um eine Vorhut bei militärischen Operationen zu spielen oder als "Schutzwall" gegen die Desertionen der Bauernsoldaten zu wirken. Sie mussten aber auch dauernd Sabotageakte unterdrücken und die chaotische Versorgungslage organisieren. Die Bolschewiki bezogen sich in solchen Situationen auf den Ausspruch Lenins: "Was wir hier brauchen, ist proletarische Energie!" Doch diese "proletarische Energie" wurde so aus den Zentren des Landes entfernt, dort wo sie geboren war und sich Arbeiterräte und Sowjets entwickelt hatten. Sie wurde immer mehr in den Dienst des Staates und in die parasitäre Bürokratie integriert, welche das Organ der Konterrevolution werden sollte (13). Die tragische Folge davon war eine zunehmende Schwächung, eine Ausblutung der Sowjets:

"Da es die wichtigste Aufgabe der Regierung war, angesichts des Feindes den Widerstand zu organisieren und wir verpflichtet waren, alle Angriffe zurückzuschlagen, wurde die Kontrolle fast ausschliesslich durch Befehle ausgeübt. So nahm die Diktatur des Proletariats fast natürlich die Form einer proletarisch-militärischen Diktatur an. Somit verschwanden auch die offenen Organe der Sowjetmacht, die Räteversammlungen, fast vollständig und die Kontrolle wurde direkt durch die Exekutivkomitees ausgeübt, die auf drei bis fünf Personen beschränkte Organe waren. Speziell in den Regionen nahe der Front wurden die "offiziellen" Machtorgane, die durch die Arbeiter gewählt worden waren, durch lokale "Revolutionäre Komitees" ersetzt, welche anstatt die Probleme der Diskussion in den Massenversammlungen vorzulegen, sie auf ihre eigene Initiative hin zu lösen versuchten" (Trotzki, "Die Permanente Revolution").

Dieser Verlust einer gemeinsamen Reflexion und Diskussion war nicht nur in den Versammlungen und den lokalen Sowjets, sondern auch in den Fabrikräten zu spüren. Ab 1918 fand der landesweite Sowjetkongress, der eigentlich alle drei Monate vorgesehen war, nur noch einmal pro Jahr statt, und selbst das Zentralkomitee der Sowjets war nicht mehr in der Lage, gemeinsame Diskussionen zu führen oder Entscheidungen zu fällen. Als der Abgeordnete des "Bundes" (Jüdische Kommunistische Partei) auf dem 7. Sowjetkongress im Dezember 1919 fragte, was das Zentrale Exekutivkomitee mache, antwortete Trotzki: "Das ZEKKI ist an der Front".

 Schlussendlich lagen die Entscheidungen und das ganze politische Leben in den Händen der bolschewistischen Partei, wie Kamenjew es auf dem 9. Parteikongress der Bolschewiki ausdrückte: "Wir verwalten Russland, und es ist unmöglich, es anders als durch die Kommunisten zu verwalten" (Hervorhebung durch uns).

Wir sind derselben Meinung wie Rosa Luxemburg, die in ihrem Text "Zur Russischen Revolution" folgende Kritik formulierte: "Dank dem offenen und unmittelbaren Kampf um die Regierungsgewalt........" Hier widerlegt Trotzki sich selbst und seine eigenen Parteifreunde aufs treffendste. Eben weil dies zutrifft, haben sie durch Erdrückung des öffentlichen Lebens die Quelle der politischen Erfahrung und das Steigen der Entwicklung verstopft. Oder aber müsste man annehmen, dass Erfahrung und Entwicklung bis zur Machtergreifung der Bolschewiki nötig war, den höchsten Grad erreicht hatte und von nun an überflüssig wurde. In Wirklichkeit umgekehrt! Gerade die riesigen Aufgaben, an die die Bolschewiki mit Mut und Entschlossenheit herantraten, erforderten die intensivste politische Schulung der Massen und Sammlung der Erfahrung" (Ges.Werke, Bd.4, Seite 359).

Die Italienische Kommunistische Linke drückte sich im selben Sinne aus, als sie die Gründe für die Niederlage der Russischen Revolution untersuchte: "Marx und Engels, und vor allem Lenin, haben immer die Notwendigkeit hervorgehoben, dem Staat das proletarische Gegengift entgegenzuhalten, welches als einziges die nahende Degenerierung aufhalten kann. Die Russische Revolution, weit entfernt von der Einsicht über die Aufrechterhaltung und Lebendigkeit der proletarischen Klassenorgane, integrierte sie in den Staatsapparat und verschlang damit ihre eigene Substanz." (Bilan, Nr.28).

Es half wenig, das Gewicht der Arbeiterklasse im Staat durch Gesetze aufrechterhalten zu wollen (1 Delegierter auf 25 000 Arbeiter, während auf 125 000 Bauern ebenfalls ein Delegierter kam), wenn das Problem gerade in der Aufsaugung dieser Arbeiter durch den konservativen Staatsapparat lag. Und als die proletarische Revolution in Europa definitiv niedergeschlagen war, konnte nichts, nicht einmal die eiserne Kontrolle der bolschewistischen Partei über die Gesellschaft, verhindern, dass der auf Weltebene sowie in Russland dominierende Kapitalismus die Kontrolle über den Staat ausübte und ihn in die direkt entgegengesetzte Richtung führte, als die Kommunisten es versucht hatten:

"Das Steuer entgleitet den Händen: Scheinbar sitzt ein Mensch da, der den Wagen lenkt, aber der Wagen fährt nicht dorthin, wohin er in lenkt, sondern dorthin, wohin ein anderer ihn lenkt - jemand, der illegal ist, der gesetzwidrig handelt, der von Gott weiss woher kommt, Spekulanten oder Privatkapitalisten, oder die einen und die anderen zugleich - , jedenfalls fährt der Wagen nicht ganz so und sehr häufig ganz und gar nicht so, wie derjenige, der am Steuer des Wagens sitzt, sich einbildet." (Lenin, 11.Parteitag der KPR(B), 27.3.1922, Werke Bd.33, Seite 266).

"Die Bolschewiki fürchteten, die Konterrevolution komme vor allem von den Weissen Armeen und anderen direkten Instrumenten der Bourgeoisie, und sie verteidigten deshalb die Revolution gegenüber diesen Gefahren. Sie fürchteten die Rückkehr des Privateigentums durch das Fortdauern der Kleinproduktion und vor allem durch die Bauernschaft. Doch die wirkliche Gefahr der Konterrevolution kam nicht von den Kulaken, nicht von den auf schreckliche Weise in Kronstadt massakrierten Arbeitern, nicht von den Verschwörungen der "Weissen", wie es die Bolschewiki fürchteten. Der Weg der Konterrevolution führte über die Leichen der 1919 in Deutschland massakrierten Arbeiter und über den bürokratischen Apparat, der sich als angeblicher "Halbstaat" des Proletariats ausgab, und in dem sich die Konterrevolution am deutlichsten ausdrückte." (Einführung zur Broschüre der IKS "Die Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus", engl., franz., span.).

Die Lösung für die Situation, welche im Oktoberaufstand 1917 ihren Anfang genommen hatte, lag, wie es Rosa Luxemburg ausdrückte, nicht in Russland selbst: "In Russland konnte das Problem nur gestellt werden. Es konnte nicht in Russland gelöst werden, es kann nur international gelöst werden." Der Schlüssel dazu lag in den Händen der internationalen Arbeiterklasse. Und im gleichen Masse wie die weltrevolutionäre Welle, die auf den Ersten Weltkrieg folgte, niedergeschlagen wurde, häuften sich in Russland die Widersprüche und die verzweifelte Suche nach Lösungen. Doch keine dieser scheinbaren Lösungen vermochte den Gordischen Knoten zu zerschlagen und die Revolution auszubreiten.

"Die fatale Lage jedoch, in der sich die Bolschewiki heute befinden, ist mitsamt den meisten ihrer Fehler selbst eine Folge der grundsätzlichen Unlösbarkeit des Problems, vor das sie durch das internationale, in erster Linie durch das deutsche Proletariat gestellt worden sind. Die proletarische Diktatur und sozialistische Umwälzung in einem einzelnen Lande durchführen, das von starrer imperialistischer Herrschaft umgeben und vom blutigsten Weltkriege der menschlichen Geschichte umtobt ist, das ist eine Quadratur des Zirkels. Jede sozialistische Partei müsste an dieser Aufgabe scheitern und zugrunde gehen - ob sie den Willen zum Sieg und den Glauben an den internationalen Sozialismus oder aber den Selbstverzicht zum Leitstern ihrer Politik macht." (Rosa Luxemburg, "Die russische Tragödie", Ges. Werke Nr.4, Seite 391).

Die Russische Revolution ist die wichtigste Erfahrung in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Die zukünftigen revolutionären Kämpfe des Proletariats dürfen keine Mühe scheuen, sich all die Lehren daraus anzueignen. Und zweifellos ist die erste davon die Bestätigung des alten marxistischen Schlachtrufes: "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!". Dies ist nicht eine "schöne Idee", sondern die notwendige Bedingung für den Sieg der kommunistischen Revolution. Die internationale Isolierung ist der Tod der Revolution.

Etsoem, aus "International Review", Nr. 75, 4.Quartal 1993

(auf deutsch veröffentlicht in Internationale Revue Nr.16,1995) 

(1) Siehe dazu unsere Broschüre "Communism is not dead, but its worst enemy, Stalinism".

(2) Aufgrund der schweren Enttäuschung, die sich durch die Niederlage der Russischen Revolution unter den Kommunisten ausgebreitet hatte, entstanden Theorien wie der Rätismus, welche in der Russischen Revolution eine bürgerliche Revolution sahen und die Bolschewiki als eine bürgerliche Partei bezeichneten. Auch der Bordigismus schreibt der Russischen Revolution einen Doppelcharakter zu (auf der einen Seite bürgerlich, auf der anderen proletarisch). Siehe dazu unsere Kritiken in der "Internationalen Revue" (deutsch) Nr.5 und 6: "Oktober 1917: Anfang der Proletarischen Revolution".

(3) Die erste Sowjet-Verfassung erteilte das Bürgerrecht "allen Ausländern, welche sich innerhalb des Territoriums der Vereinigten Sowjetrepubliken aufhalten, vorausgesetzt, dass sie zur Arbeiterklasse gehören oder Bauern sind, welche nicht die Arbeit anderer ausbeuten".

(4) Die Sitzungen des 2. Kongresses der Kommunistischen Internationalen wurden vor einer Landkarte durchgeführt, auf der die Gebietsgewinne der Roten Armee während ihres Gegenangriffs auf Polen im Sommer 1920 eingezeichnet waren. Bekanntlich drängte dieser militärische Einfall das polnische Proletariat dazu, sich mit der eigenen Bourgeoisie zu verbünden und endete in der Niederlage der Roten Armee vor den Toren Warschaus.

(5) Im Januar 1918 brach in Berlin ein Streik aus, an dem sich ca. eine halbe Million Arbeiter beteiligten und der sich sofort auf Hamburg, Kiel und das Ruhrgebiet ausweitete. Während dieses Streiks wurden die ersten Arbeiterräte in Deutschland gebildet. Zur selben Zeit fanden in Wien und Budapest Arbeiteraufstände statt, und selbst die Mehrheit der bürgerlichen Journalisten bezeichnete sie als eine Reaktion auf die Russische Revolution und vor allem auf die Verhandlungen von Brest-Litowsk.

(6) Siehe unsere Broschüre „Die russische Revolution“: „Die kommunistische Linke in Russland“

(7) Siehe ‘Internationale Revue’ (deutsch) Nr.5 und6 und den Artikel ‘Die kommunistische Linke in Russland’ in unserer Broschüre ‘Die russische Revolution’. Sowie unsere Broschüre "Die Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus", in der wir anhand der russischen Erfahrung die Frage von Verhandlungen zwischen proletarischen Bastionen und kapitalistischen Regierungen untersuchen.

(8) Diese Regierung kontrollierte das ganze Gebiet der mittleren und unteren Wolga. Im Oktober 1918 fand ein Aufstand von zirka 400 000 "Wolgadeutschen" statt, die in diesem Gebiet eine Arbeiterkommune ausriefen. Die sogenannte "Tschechische Legion" waren tschechische Kriegsgefangene, welche von der russischen Regierung die Erlaubnis erhalten hatten, Russland via Wladiwostok zu verlassen. Während ihrer Reise meuterten 60 000 dieser 200.000 Soldaten und bildeten bewaffnete Banden, welche Plünderungen und Terror verübten. Es muss aber auch angefügt werden, dass rund 12.000 Soldaten dieser "Tschechischen Legion" in die Rote Armee eintraten.

(9) Dieser ehemalige Sozialrevolutionär wirkte im September 1917 als geheimer Verbindungsmann zwischen Kerenski und Kornilow. Im Januar 1918 organisierte er einen Mordanschlag auf Lenin. Er war ebenfalls der Vertreter der "Weissen" in Paris, wo er nicht nur mit den Geheimdiensten der Alliierten in Kontakt stand, sondern auch mit Ministern und Generälen, von denen er als Belohnung für seine "Dienste für die Demokratie" die Führung über Sabotagekommandos, die sog. "Grünen", erhielt.  

(10) Siehe ‘Internationale Revue’ (deutsch) Nr.5 und6 ‘Oktober 1917’ und die Artikel ‘Der Niedergang der russischen Revolution’ und ‘Die kommunistische Linke in Russland’ in unserer Broschüre ‘Die russische Revolution’.

(11) Diese Typhusepidemien waren dermassen verbreitet und brachen nicht ab, so dass Lenin erklärte: "Entweder wird die Revolution diese Laus (die den Typhuserreger verbreitet) vernichten, oder dann wird die Laus die Revolution zerstören".

(12) Die NEP war nicht, wie viele Genossen der Kommunistischen Linken in Russland dachten, die Rückkehr des Kapitalismus, da in Russland nie eine sozialistische Ökonomie existiert hatte. Wir haben unsere Position zu dieser Frage in der "International Review" No.2 "Answer to Workers Voice" und in dem Artikel „Die kommunistische Linke in Russland“ in unserer Broschüre  ‘Die russische Revolution’ dargelegt.

(13) Unsere Position zur Rolle des Staates in der Übergangsperiode und zum Verhältnis der Arbeiterräte zu diesem Übergangsstaat, basierend auf den Erfahrungen der Russischen Revolution, sind nachzulesen in unserer Broschüre "Die Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus" und in der "International Review" Nr. 8, 11, 15 und 18. Zur Auffassung, dass die Partei im Namen der Arbeiterklasse die Macht ergreift, siehe unsere Kritik in "International Review" Nr. 23, 34 und 3

Theorie und Praxis: 

  • Die Russische Revolution [18]

Internationale Revue - 1996

  • 3450 reads
  

Internationale Revue 17

  • 2542 reads

Deutsche Revolution Teil I

  • 2968 reads
[67]

Als im Aug. 1914 der 1. Weltkrieg ausgelöst wurde, der mehr als 20 Mio. Opfer hinterließ, da war für alle Beteiligten klar, welche entscheidende Rolle damals die Gewerkschaften und vor allem die deutsche Sozialdemokratie gespielt hatten.

Im Reichstag hatte die SPD einstimmig den Kriegskrediten zugestimmt. Gleichzeitig hatten die Gewerkschaften einen Burgfrieden ausgerufen, der jegliche Streiks verbot und ausschlaggebend dafür war,  alle Kräfte für den Krieg einzuspannen.

Die Zustimmung der SPD-Fraktion zu den Kriegskrediten rechtfertigte die Sozialdemokratie damit: “Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich. Wir fühlen uns dabei im Einklang mit der Internationale, die das Recht jedes Volkes auf nationale Selbständigkeit und Selbstverteidigung jederzeit anerkannt hat, wie wir auch in Übereinstimmung mit ihr jeden Eroberungskrieg verurteilen (…). von diesen Grundsätzen geleitet, bewilligen wir die geforderten Kriegskredite”. “Vaterland in Gefahr”, “nationale Verteidigung”, “Volkskrieg um Existenz”, “Kultur und Freiheit” - das waren die Stichworte, die von der parlamentarischen Vertretung der SPD gegeben wurden

Das war der erste große Verrat einer Arbeiterpartei gewesen. Als ausgebeutete Klasse ist die Arbeiterklasse eine internationale Klasse. Deshalb ist der Internationalismus für die Arbeiterklasse der grundlegendste Bestandteil der Positionen  aller ihrer Organisationen - und der Verrat desselben führt diese Organisationen  unvermeidlich ins gegnerische Lager, in das des Kapitals.

Während das Kapital in Deutschland den Krieg nie ausgelöst hätte, wenn es nicht auf die Gewerkschaften und die SPD-Führung als sichere Stützen hätte rechnen können, und für das Kapital deren Verrat somit nicht als Überraschung kam,  sorgte dieser Verrat jedoch in den Reihen der Arbeiterbewegung selbst für einen großen Schock. Selbst Lenin wollte am Anfang nicht glauben, dass die SPD in Deutschland den Kriegskrediten zugestimmt hatte. Er hielt die ersten Nachrichten für eine Manipulation zur Spaltung der Arbeiterbewegung.(1)

Denn da die imperialistischen Spannungen seit Jahren zugenommen hatten, war die 2. Internationale schon sehr früh gegen diese  Kriegsvorbereitungen auf die Bühne getreten. 1907 auf dem Stuttgarter Kongress, 1912 auf dem Basler Kongress und gar bis in die letzten Juli-Tage des Jahres 1914 hinein hatte sie gegen die Kriegspropaganda mobilisiert - auch wenn dies gegen den erbitterten Widerstand des damals schon starken rechten Flügels geschah.

“Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht der Sozialdemokratie, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.” (schon 1907 angenommen, 1912 bestätigt).

“Gefahr ist im Verzuge, der Weltkrieg droht! Die herrschenden Klassen, die Euch im Frieden knebeln, verachten, ausnutzen, wollen Euch als Kanonenfutter mißbrauchen. Überall muss den Gewalthabern in die Ohren klingen: Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Hoch die internationale Völkerverbrüderung!” (Aufruf des Vorstands der SPD am 25. Juli 1914, d.h. 10 Tage vor dem Votum für den Krieg am 4.8.1914).

Als die Sozialdemokratischen Abgeordneten dem Krieg zustimmten, taten sie das als Repräsentanten der größten Arbeiterpartei in Europa, deren Einfluss weit über Deutschland hinausging und als Partei, die vor dem Krieg in jahrzehntelanger Aufbauarbeit errichtet worden war   - selbst unter den ungünstigsten Bedingungen des Sozialistengesetzes, als sie verboten war. Die SPD hatte Dutzende von Wochen-, Tageszeitungen in ihren Händen. Schon 1899 hatte die SPD über 73 Zeitungen mit einer Gesamtauflage von 400.000 Exemplaren, 49 Zeitungen erschienen täglich. Schon um 1900 hatte sie über 100.000 Mitglieder, 1914 ca. eine Million.

So stand die revolutionäre Bewegung nach dem Verrat der Führung der SPD vor der Grundsatzfrage: sollte man es zulassen, dass diese Arbeiterorganisation  mit Mann und Maus ins Feindeslager überwechselt?

Aber nicht nur die SPD-Führung in Deutschland hatte verraten. In Belgien wurde der Vorsitzende der Internationale, Vandervelde, Minister, Jules Guesde, Führer der sozialistischen Partei in Frankreich wurde auch Minister. Die sozialistische Partei in Frankreich stimmte auch einstimmig für den Krieg. In England, wo es keine Wehrpflicht gab, übernahm die Labour-Partei die Organisierung der Rekrutierung. Auch wenn die österreichische SP formell nicht für den Krieg stimmen musste, rührte sie die Werbetrommel für ihn. In Schweden, Norwegen, der Schweiz, den Niederlanden bewilligten die SP-Führer jeweils die Kredite. In Polen rief die SP im galizisch-schlesischen Teil zur Unterstützung für den Krieg, in Russisch-Polen aber dagegen auf. In Russland gab es ein geteiltes Bild: ehemalige Führer der dortigen Arbeiterbewegung wie Plechanow, der Führer der russischen Anarchisten Kropotkin, eine Handvoll Mitglieder der Bolschewistischen Partei in der französischen Emigration riefen zur Verteidigung vor dem preußisch-deutschen  Militarismus auf. In Russland gab die sozialdemokratische Dumafraktion eine Erklärung gegen den Krieg. Sie war die erste offizielle Antikriegserklärung einer Parlamentsfraktion in einem großen kriegführenden Land. Die Sozialistische Partei Italiens nahm von Anfang an eine ablehnende Stellung gegen den Krieg ein. Im Dez. 1914 schloss die Partei eine Gruppe von Renegaten unter der Führung von Benito Mussolini aus, die auf  die Seite der ententefreundlichen Bourgeoisie getreten war und die Teilnahme Italiens am Weltkrieg propagierten. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei in Bulgarien  (Tesnyaks) verteidigte ebenfalls einen konsequenten internationalistischen Standpunkt. Die wenigen serbischen sozialdemokratischen Abgeordneten stimmten gegen den Krieg.

Die Internationale, der Stolz der Arbeiterklasse, war in den Flammen des Weltkrieges zerfallen. Die deutsche SPD war ein “stinkender Leichnam” geworden. Die Internationale löste sich, wie Rosa Luxemburg meinte, “in einen Haufen wildgewordener nationalistischer Bestien auf, die sich gegenseitig zur höheren Ehre der bürgerlichen Rechtsordnung und Moral zerfleischten.” Nur wenige Gruppen in Deutschland die “Internationale”, “Lichtstrahlen”, die Bremer Linke, Trotzkis Gruppe, Martow, Teile französischer Syndikalisten, die Gruppe Tribune (Gorter, Pannekoek) in Holland sowie die Bolschewiki verfochten einen resolut internationalistischen Standpunkt.

 

Gleichzeitig mit diesem entscheidenden Verrat der Mehrzahl der Parteien der II. Internationale wurde die Arbeiterklasse zur Zielscheibe eines ideologischen Angriffs, in dem ihr eine fatale Dosis nationalistisches Gift injiziert wurde.  Im August 1914 hatten sich nicht nur große Teile des Kleinbürgertums für die Expansionspläne Deutschlands einspannen lassen, sondern auch Bereiche der Arbeiterklasse waren dem  Nationalismus aufgesessen. Die bürgerliche Propaganda verbreitete die Hoffnung, “in einigen Wochen, spätestens Weihnachten” sei der Krieg vorbei, das ganze Gespenst beendet und man sei wieder zu Hause.

Nach der Auslösung des Krieges zog sich die Minderheit der Revolutionäre, die den Prinzipien des proletarischen Internationalismus treu geblieben war, nicht resigniert zurück und sie gab auch nicht in Anbetracht der besonders ungünstigen Bedingungen den Kampf auf.

Die Revolutionäre und ihr Kampf gegen den Krieg

Während große Teile der Arbeiterklasse noch nationalistisch benebelt waren, versammelten sich noch am Abend des 4. August führende Vertreter der Linken der Sozialdemokratie in Rosa Luxemburgs Wohnung (K. und H. Duncker, Hugo Eberlein, Julian Marchlewski, F. Mehring, E. Meyer, W. Pieck). Auch wenn ihre Zahl an diesem Abend verschwindend gering war, sollte ihr Wirken während der nächsten 4 Jahre von ungeheurer Ausstrahlung sein.

Auf der Tagesordnung des Treffens stand:  Wie sieht das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit, wie innerhalb der SPD aus, welche Ziele muss der Widerstand gegen den Verrat der Parteiführung verfolgen, welche Perspektiven stehen an, wie müssen wir kämpfen?

Auch wenn die Situation momentan bedrückenden und niederschlagenden war, war das für die Revolutionäre kein Anlaß zu resignieren. Ihre Haltung war: wir dürfen die Organisation jetzt nicht über Bord schmeißen, sondern müssen entschlossen in der Organisation um ihre proletarischen Prinzipien kämpfen.

In der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion hatte es vor der offiziellen Abstimmung eine interne gegeben, in der 78 Abgeordnete für, 14 gegen die Kriegskredite gestimmt hatten. Aus Fraktionszwang hatten sich die 14 Abgeordneten, auch Liebknecht, dem Mehrheitsvotum gebeugt - und den Krediten zugestimmt. Diese Tatsache wurde von der SPD-Führung geheim gehalten.

Vor Ort sah es in der Partei noch uneinheitlicher aus. Aus vielen Ortsvereinen wurden sofort Proteste gegen den Vorstand laut. Am 6. August sprach die überwältigende Mehrheit der Ortsversammlung in Stuttgart der Reichstagsfraktion das Misstrauen aus. Dort gelang es den Linken gar, die Rechten aus der Partei zu schließen und die örtliche Zeitung an sich zu reißen. In Hamburg sammelten Laufenberg und Wolfheim die Opposition um sich, in Bremen trat die Bremer-Bürger-Zeitung um Knief entschlossen gegen den Krieg auf, der Braunschweiger Volksfreund, das Gothaer Volksblatt, “der Kampf” in Duisburg, Zeitungen in Nürnberg, Halle, Leipzig und Berlin protestierten ebenfalls und spiegelten die Ablehnung großer Teile der Parteibasis wider. Auf einer Versammlung in Stuttgart am 21. Sept. 1914 wurde Kritik am Verhalten Liebknechts geübt. Dieser sprach dann selbst von einem verheerenden Fehler, aus Fraktionsdisziplin so gehandelt zu haben. Da aber von Kriegsbeginn alle Zeitungen unter Zensur gestellt wurden, wurden die Proteststimmen sofort abgewürgt. Die SPD-Opposition stützte sich daher auf die Möglichkeit, im Ausland ihre Stimme zum Ausdruck zu bringen. Der “Berner Tagwacht” sollte zum Sprachrohr der SPD-Linken werden, auch in der Zeitschrift ‘Lichtstrahlen’, die von Borchardt herausgegeben wurde und von Sept. 1913 bis April 1916 erschien, konnten die Internationalisten ihre Position zum Ausdruck bringen.

Ein Überblick über die Lage innerhalb der SPD zeigte: auch wenn die Führung verraten hatte, nicht die ganze Organisation hatte sich für den Krieg einspannen lassen. Deshalb war die Perspektive klar: Um die Organisation zu verteidigen, um sie  nicht den Verrätern zu überlassen, musste für deren Rausschmiss gesorgt,  für klare Trennung von ihnen eintreten werden.

Bei dem Treffen in Rosa Luxemburgs Wohnung kam auch die Frage auf,  ob man nicht aus Protest, aus Abscheu vor dem Verrat aus der Partei austreten sollte? Einstimmig wurde diese Idee verworfen, denn man durfte den Verrätern nicht das Feld überlassen, die Organisation  sozusagen als Geschenk in den Dienst der herrschenden Klasse stellen.  Man konnte nicht einfach die Partei verlassen, die unter größten Anstrengungen aufgebaut worden, so wie Ratten das sinkende Schiff verlassen. Deshalb bedeutete damals die Verteidigung der Organisation nicht Austritt sondern für deren Rückeroberung eintreten.

Niemand dachte daran die Organisation zu verlassen. Das Kräfteverhältnis zwang die Minderheit nicht dazu, auch ging es jetzt noch nicht darum, eine neue, eigenständige Organisation außerhalb der SPD zu aufzubauen, erst einmal musste um die Organisation gekämpft werden, Rosa Luxemburg und ihre Genossen gehörten damit zu den konsequentesten Verteidigern der Notwendigkeit der Organisation.

Tatsache ist, lange bevor die Arbeiterklasse anfing, aus der nationalistischen Betäubung zu erwachen, hatten die Internationalisten längst den Kampf aufgenommen. Als Avantgarde warteten sie nicht auf die Reaktionen der Klasse insgesamt, sondern sie waren ihrer Klasse voraus. Während das nationalistische Gift in der Arbeiterklasse noch wirkte, die Klasse damals sowohl ideologisch wie auch physisch dem Maschinengewehrfeuer des imperialistischen Krieges ausgeliefert war, hatten die Revolutionäre selbst schon - unter den schwierigsten Bedingungen der Illegalität - das imperialistische Wesen des Krieges selber enttarnt. Auch hier - bei ihrer Arbeit gegen den Krieg - sind die Revolutionäre nicht in Wartestellung auf die ganze Klasse gegangen, um auf die Bewusstwerdung größerer Teile der Klasse zu harren. Und - wir werden ausführlich darauf zurückkommen - die Internationalisten erkannten ihre Verantwortung als Revolutionäre, als Mitglieder einer politischen Organisation - die sie sofort verteidigten. Es war noch keine Nacht vergangen, da hatten die Revolutionäre sich schon um die späteren Spartakisten versammelt, um die Verteidigung der Organisation in die Hand zu nehmen - und faktisch die Grundlagen für den Bruch mit den Verrätern zu legen. Soweit zum angeblichen Spontaneismus der Spartakisten und Rosa Luxemburg.

Sofort traten die Revolutionäre in Kontakt mit den Internationalisten in den anderen Ländern. Liebknecht wurde deshalb als prominentester Vertreter ins Ausland geschickt. In Belgien und Holland nahm er Kontakt auf mit der dortigen sozialistischen Partei.

Und auf zwei Ebenen wurde der Widerstand gegen den Krieg  vorangetrieben. Einmal auf der Ebene des Parlamentes, wo die Spartakisten die Parlamentstribüne noch ausnutzen sollten. Andererseits - viel wichtiger - durch die Entfaltung des Widerstandes vor Ort in der Partei selbst und im direkten Kontakt mit der Arbeiterklasse. So sollte in Deutschland selbst  Liebknecht bald zum Fanal des Widerstandes werden.

Innerhalb des Parlamentes gelang es Liebknecht,  immer mehr Abgeordnete auf seine Seite zu ziehen. Zwar überwog am Anfang noch Angst und Zögern, am 22. Okt. 1914 verließen 5 SPD-Abgeordnete aus Protest den Saal, am 2. Dez. 1914 stimmte Liebknecht als einziger öffentlich gegen die Kriegskredite, im März 1915 verließen ca. 30 Abgeordnete bei der Abstimmung den Saal, und ein Jahr später  - am 19. August 1915 stimmten schon 36 Abgeordnete gegen die Kredite. Der wirkliche Schwerpunkt lag jedoch bei den Aktivitäten der Arbeiterklasse selber - zum einen an der Basis der Arbeiterparteien - zum anderen in den Massenaktionen der Arbeiter in den Fabriken und auf der Straße.

Unmittelbar nach der Auslösung des Krieges hatten die Revolutionäre energisch und klar gegen das imperialistische Wesen des Krieges Stellung bezogen (2). Im April wurde die erste und einzige Nummer der “Internationale” mit 9.000 Exemplaren gedruckt, von denen allein am ersten Abend 5.000 Exemplare abgesetzt wurden.(daher der Name der Gruppe “Die Internationale”).  Ab den Wintermonaten 1914/15 wurden die ersten illegalen Flugblätter gegen den Krieg verteilt, am berühmtesten wurde “Der Feind steht im eigenen Land”.

In vielen Versammlungen vor Ort zirkulierte das Material gegen den Krieg. Allein die Tatsache, dass Liebknecht seine Zustimmung verweigert hatte, dies öffentlich bekannt wurde, ließ ihn schnell zum bekanntesten Kriegsgegner in Deutschland und später auch in den Nachbarländern werden. Die Texte wurden als “höchst gefährlich” von den bürgerlichen Sicherheitskräften eingestuft. In einigen Ortsversammlungen denunzierten die örtlichen Parteiführer diejenigen Mitglieder, die Material gegen den Krieg verteilten. Oft genug wurden sie kurz danach verhaftet! Die SPD war bis ins Innerste gespalten!

Hugo Eberlein berichtete später auf dem Gründungsparteitag der KPD am 31.Dez. 1918, dass eine Verbindung mit ca. 300 Städten bestand.  Um die ständig anwachsende Gefahr des Widerstands in den Reihen der SPD zu bannen, beschloss der Parteivorstand im Jan. 1915 gemeinsam mit der militärischen Führung, Liebknecht sollte mundtot gemacht werden, indem er zum Militär eingezogen wurde. Damit erhielt er Redeverbot, durfte nicht auf Versammlungen auftreten. Am 18. Feb. 1915 wurde Rosa Luxemburg inhaftiert bis Feb. 1916.  Mit Ausnahme einiger Monate zwischen Feb. und Juli 1916 hielt sie das Regime bis zum 8. Nov. 1918 im Gefängnis. Im Sept. 1915 wurden Ernst Meyer, Hugo Eberlein, später der 70jährige Mehring, und viele andere verhaftet. Aber selbst unter diesen schwierigsten Bedingungen betrieben sie ihre Arbeit gegen den Krieg weiter und unternahmen alles, um das Organisationsnetz weiter aufzubauen.

Mittlerweile hatte die Wirklichkeit des Krieges auch immer mehr Arbeiter aus ihrem nationalistischen Getaumel zurückgeholt. Denn die deutsche Offensive in Frankreich war schnell  ins Stocken geraten und ein langer Stellungskrieg hatte angefangen. Allein bis Ende 1914 waren schon 800.000 Soldaten gefallen. Die Stellungskriege in Belgien und Frankreich kosteten im Frühjahr 1915 Hunderttausende Tote. Allein an einem Tag starben 60.000 Soldaten an der Somme. An der Front kehrte schnell Ernüchterung ein, vor allem aber an der “Front zu Hause” wurde die Arbeiterklasse ins Elend gestürzt. Frauen wurden in die Kriegsproduktion gezerrt, Nahrungsmittel wurden horrend teuer und später rationiert. Am 18. März 1915 kam es zur ersten Frauendemo gegen den Krieg. Vom 15.-18. Okt. wurden blutige Zusammenstöße von Anti-Kriegsdemonstranten mit Polizei in Chemnitz gemeldet, am 30. Nov. 1915 demonstrierten ca. 10-15.000 gegen den Krieg in Berlin. Auch in anderen Ländern kam Bewegung in die Arbeiterklasse. In Österreich brachen zahlreiche ‘wilde’ Streiks gegen den Willen der Gewerkschaften aus. In England streikten 250.000 Bergarbeiter in Südwales, in Schottland streikten Maschinenbauer im Clydetal, in Frankreich gab es Streiks im Textilbereich.

 Die Arbeiterklasse hatte angefangen, langsam aus der nationalistischen Benebelung zu erwachen und wieder ihre Interessen als Ausgebeutete zu manifestieren. Der Burgfrieden geriet allmählich ins Wanken.

 

Die Revolutionäre international

Mit der Auslösung des 1. Weltkriegs und dem Verrat verschiedener Parteien der 2. Internationale war eine Epoche zu Ende gegangen. Die Internationale war damit gestorben, denn einige ihrer Mitgliedsparteien vertraten nicht mehr eine internationalistische Richtung, sondern waren auf die Seite der jeweiligen nationalen Bourgeoisie übergewechselt. Eine Internationale, aus verschiedenen nationalen Mitgliederparteien zusammengesetzt, verrät als solche nicht; sie stirbt dann, verliert ihre Rolle für die Arbeiterklasse,  kann als solche nicht mehr aufgerichtet werden.

Aber der Krieg hatte zu einer Polarisierung  innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung geführt: Auf der einen Seite die Parteien, die Verrat betrieben hatten, auf der anderen Seite die revolutionäre Linke, die konsequent und unnachgiebig revolutionäre Positionen vertrat, aber anfänglich nur eine kleine Minderheit bildete.

Dazwischen trieb eine zentristische Strömung, die zwischen den Verrätern und den Internationalisten schwankte und ständig zögerte, klar und unzweideutig Stellung zu beziehen und  keinen klaren Bruch mit den Sozialpatrioten herbeiführen wollte.Innerhalb Deutschlands selbst war die Opposition gegen den Krieg ebenfalls sehr früh in mehrere Gruppierungen gespalten:

- auf der einen Seite die Zögernden, von denen die meisten der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion angehörten; Haase, Ledebour, waren einige bekannte Namen.

- die Gruppe um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, DIE INTERNATIONALE, die ab 1916 den Namen “Spartakusgruppe” annahm,

- die Gruppen um die “Bremer Linke” (Bremer Bürgerzeitung, die ab Juli 1916 erschien), mit Knief, K. Radek an ihrer Spitze, die Gruppe um Borchardt (Lichtstrahlen), dann in verschiedenen Städten (Hamburg: Wolfheim, Lauffenberg), Dresden: Rühle. Ab Ende 1915 firmierten die Bremer Linken und Borchardt unter dem Namen Internationale Sozialisten Deutschland (ISD).

Nach einer ersten Phase der Desorientierung und unterbrochener Kontakte konnten ab Frühjahr die Internationale Sozialistische Frauenkonferenz vom 26. bis 28. März, die Internationale Sozialistische Jugendkonferenz  vom 5. bis 7. April 1915 jeweils in Bern abgehalten werden. Und nach mehrmaligem Verschieben konnten sich vom 5. bis 8. Sept. 1915 in Zimmerwald (in der Nähe von Bern) 37 Delegierte aus 12 europäischen Ländern treffen. Die zahlenmäßig stärkste Delegation war die deutsche, ihr gehörten 10 Vertreter an, die 3 oppositionelle Gruppen repräsentierten: die Zentristen,  die Gruppe “Internationale” (E. Meyer, B. Thalheimer), von den ISD (Internationale Sozialisten Deutschlands) Julian Borchardt. Während die zentristischen Kräfte nur für die Beendigung des Krieges - ohne Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse - eintraten, stellten die Linken den Zusammenhang zwischen Krieg und Revolution in den Mittelpunkt. Die Zimmerwalder Konferenz endete nach heftigen Diskussionen mit der Annahme eines Manifestes, in dem die Arbeiter aller Länder aufgefordert wurden, durch unversöhnlichen proletarischen Klassenkampf für die Befreiung der Arbeiterklasse, für die Ziele des Sozialismus einzutreten. Dagegen hatten die Zentristen sich gegen die Betonung des organisatorischen Bruch mit dem Sozialchauvinismus gestellt und die Forderung nach dem Sturz der eigenen imperialistischen Regierung verhindert. Das Zimmerwalder Manifest sollte dennoch eine große internationale Ausstrahlung auf die Arbeiter und Soldaten haben. Auch wenn es ein Kompromiss war, der von den linken Kräften selbst kritisiert wurde, da die Zentristen noch zu stark vor klaren Stellungnahmen  zurückweichen konnten, war es ein Schritt hin zum Zusammenschluss der revolutionären Kräfte.

In einem früheren Artikel der International Review (Nr. 44)  haben wir die Schwächen gerade der Gruppe “Internationale” kritisiert, die anfänglich noch zögerlich war, die Notwendigkeit des Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg anzuerkennen.

Das Kräfteverhältnis gerät ins Wanken

Während die Klasse insgesamt langsam anfing, aus dem Taumel des Nationalismus zu erwachen, hatten die Revolutionäre ihren Zusammenschluss vorangetrieben.  Ihre Intervention stieß auf ein immer größeres Echo.

Am 1. Mai 1916 demonstrierten ca. 10.000 Teilnehmer gegen den Krieg. Liebknecht ergriff das Wort  und rief: “Nieder mit dem Krieg, nieder mit der Regierung”. Daraufhin wurde er verhaftet, was eine Protestwelle auslösen sollte. Das mutige Auftreten K. Liebknechts diente als Ansporn und Orientierung. Die Entschlossenheit der Revolutionäre- gegen den sozialpatriotischen Strom zu schwimmen und die proletarischen Prinzipien weiter zu verteidigen, trieb sie nicht in eine größere Isolierung, sondern wirkte als Aufforderung für den Rest der Klasse, selbst in den Kampf zu treten.

Im Mai 1916 traten Bergleute im Kreis Beuthen für Lohnerhöhungen in den Streik. In Leipzig, Braunschweig, Koblenz kam es zu Demonstrationen hungernder Arbeiter und Kundgebungen gegen Lebensmittelwucher. Über Leipzig wurde der Belagerungszustand verhängt. Aber die Aktionen der Revolutionäre,  die Tatsache, dass trotz Zensur und Versammlungsverboten sich die Nachricht vom zunehmenden Widerstand gegen den Krieg immer mehr ausbreitete, sollte der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse insgesamt weiter Auftrieb geben.

Am 27. Juni 1916 demonstrierten 25.000 Arbeiter in Berlin gegen die Verhaftung Liebknechts. Einen Tag später kam es zum ersten politischen Massenstreik gegen die Verhaftung Liebknechts, ca 55.000 Arbeiter streikten. In Braunschweig, Bremen, Leipzig und vielen anderen Städten kam es auch zu Solidaritätskundgebungen und Hungerdemonstrationen. In nahezu einem Dutzend Städten versammelten sich Arbeiter. Wir haben hier eine Verdeutlichung des Verhältnisses zwischen den Revolutionären und der Arbeiterklasse. Die Revolutionäre stehen nicht außerhalb der Arbeiterklasse oder irgendwie über ihr, sondern sind nur der entschlossenste, klarste und in politischen Organisationen zusammengefasste Teil. Ihre Ausstrahlung hängt aber selbst von der ‘Empfangsbereitschaft’ der Arbeiterklasse insgesamt ab. Wenn die organisierte Anhängerschaft der Spartakusbewegung noch klein war, so folgten doch schon Hunderttausende ihren Losungen. Sie war Träger der Massenstimmung geworden. Der Burgfrieden hatte seine bändige Kraft verloren. Das Erwachen begann.

Das Kapital selbst versuchte die Revolutionäre von der Arbeiterklasse zu isolieren, denn gerade in dieser Phase löste es eine Repressionswelle aus. Viele Mitglieder des Spartakusbundes wurden in ‘Schutzhaft’, genommen. So Rosa Luxemburg, nahezu die ganze Zentrale des Spartakusbundes wurde in der zweiten Hälfte 1916 verhaftet. Viele Spartakisten wurden, nachdem sie in Sitzungen der SPD Flugblätter verteilt hatten, von den SPD-Funktionären denunziert; die Polizeizellen waren gefüllt mit Spartakisten.

Die Schlachten an der Westfront (Verdun) hinterließen immer mehr Opfer, gleichzeitig verlangte das Kapital in den Fabriken den an der ‘Heimatfront’ kämpfenden Arbeitern immer mehr ab. Ein Krieg kann nur geführt werden, wenn die Arbeiterklasse bereit ist,  ihr ganzes Leben für das Kapital zu opfern. Und hier stieß das Kapital auf einen immer stärkeren Widerstand.

Die Proteste gegen den Hunger rissen nicht mehr ab (die Bevölkerung erhielt nur ein Drittel ihres Kalorienbedarfs!) . Im Herbst 1916 gab es nahezu jeden Tag in einer größeren Stadt Proteste und Demos - im Sept. in Kiel, im Nov. in Dresden, im Jan. 1917 die Bergarbeiter im Ruhrgebiet. Das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit begann sich hier langsam zu wenden.

Auch innerhalb der SPD selbst geriet die sozialpatriotische Führung immer mehr in Bedrängnis. Auch wenn sie noch durch enge Zusammenarbeit mit der Polizei jeweils oppositionelle Arbeiter durch das Militär verschleppen ließ, auch wenn sie durch Manipulationen bei Abstimmungen innerhalb der Partei die Mehrheitsverhältnisse zu ihren Gunsten aufrechterhalten konnte, der wachsende Widerstand gegen ihre Haltung war nicht mehr kleinzukriegen. Die SPD-Führung geriet immer mehr in die Minderheit. Ab Herbst 1916 beschlossen immer mehr Ortsvereine eine Beitragssperre für den Vorstand. Die Opposition strebte zu diesem Zeitpunkt nach dem Zusammenschluss ihrer Kräfte, um den Vorstand auszuhebeln und die Partei wieder in ihre Hände zu bekommen.

Der SPD-Vorstand sah klar, wie sich dieses  Kräfteverhältnis zu seinen Ungunsten entwickelte. Nachdem sich die Opposition am 7. Januar 1917 auf einer Reichskonferenz getroffen hatte,  beschloss der Vorstand den Ausschluss aller Oppositionellen.  Die Spaltung war vollzogen. Der organisatorische Bruch war da! Die internationalistischen Aktivitäten und das politische Leben der Arbeiterklasse konnte sich nicht mehr innerhalb der SPD entwickeln, sondern nunmehr nur noch außerhalb. Das proletarische  Leben innerhalb der SPD war ausgelöscht, nachdem die revolutionären Minderheiten ausgeschlossen worden waren. Eine Arbeit innerhalb der SPD war nicht mehr möglich, die Revolutionäre mussten sich außerhalb organisieren. (3)

Die Opposition stand nunmehr vor der Frage, welche Organisation neu errichten? An dieser Stelle sei nur gesagt, dass zu diesem Zeitpunkt, im Frühjahr 1917, die verschiedenen Strömungen innerhalb des linken Lagers in Deutschland verschiedene Richtungen einschlugen.

Wie die Organisationsarbeit zum damaligen Zeitpunkt einzuschätzen war, werden wir in einem nächsten Artikel näher aufgreifen.

Die russische Revolution - Auftakt der revolutionären Welle

Gleichzeitig hatte international der Druck der Arbeiterklasse gegen den Krieg einen entscheidenden Durchbruch erzielt. Im Februar (März westeuropäischer Zeitrechnung) hatten in Russland die Arbeiter und Soldaten bei ihrem Kampf gegen den Krieg wie schon 1905 Arbeiter- und Soldatenräte errichtet. Der Zar wurde gestürzt. Eine revolutionäre Entwicklung hatte in Russland eingesetzt, die sehr schnell ein Echo in den Nachbarländern, ja auf der ganzen Welt finden sollte. Dies ließ in den Reihen der Arbeiter Hoffnung aufkommen.

Die weitere Entwicklung der Kämpfe kann nur verstanden werden im Lichte der Revolution in Russland. Denn die Tatsache, dass die Arbeiterklasse in einem Land den Herrscher gestürzt hatte, anfing, an den kapitalistischen Grundmauern zu rütteln,  wirkte wie ein Leuchtstern, auf den die Arbeiterklasse in der ganzen Welt zu blicken begann. Nicht nur in den Nachbarländern, sondern weltweit. Die Kämpfe der Arbeiterklasse in Russland sollten vor allem eine große Ausstrahlung in Deutschland haben.

Im Ruhrgebiet kam es vom 16. bis 22. Februar  1917 zu einer Streikwelle. Weitere Massenaktionen gab es in zahlreichen anderen deutschen Städten.  Es sollte keine Woche mehr ohne größere Widerstandsaktionen mit Forderungen nach Lohnerhöhungen und besserer Lebensmittelversorgung vergehen. In nahezu allen Großstädten wurde von Lebensmittelunruhen berichtet. Als im April eine erneute Kürzung der Lebensmittelrationen angekündigt wurde, schwappte die Wut der Arbeiterklasse über. Ab dem 16. April kam es zu einer großen Welle von Massenstreiks in Berlin, Leipzig, Magdeburg, Hannover, Braunschweig, Dresden.  Das Militär, führende bürgerliche Politiker, Gewerkschaftsführer und die SPD-Führer Ebert und Scheidemann berieten gemeinsam, wie sie der Streikbewegung Herr werden können.

In mehr als 300 Betrieben streikten ca. 300.000 Arbeiter. In den Straßen bildeten sich Demonstrationszüge. Es war nach den Streiks gegen die Verhaftung Liebknechts im Juli 1916 der zweite große Massenstreik.  “Unzählige Versammlungen fanden in Lokalen und unter freiem Himmel statt, es wurden Reden gehalten und Beschlüsse gefasst. So ist im Nu der Belagerungszustand durchbrochen worden und zerflossen in nichts, sobald die Masse sich rührte und entschlossen von der Straße Besitz ergriff.” (Aus Spartakusbriefe, April 1917).

Die Arbeiterklasse in Deutschland trat damit in die Fußstapfen ihrer Klassenbrüder in Russland, die in einem gewaltigen Massenkampf dem Kapital entgegentraten.

Sie kämpften genau mit den Mitteln, die Rosa Luxemburg in ihrer Schrift “Massenstreik”  nach den Kämpfen 1905 geschrieben hatte: Massenversammlungen, Demonstrationen, Kundgebungen, Diskussionen und gemeinsame Beschlüsse in den Betrieben, Vollversammlungen bis hin zur Bildung von Arbeiterräten.

Nachdem die Gewerkschaften ab 1914 in den Staat integriert worden warten, dienten sie nunmehr als Bollwerk gegen die Abwehrkämpfe der Arbeiter. Sie sabotierten den Kampf der Arbeiter mit allen Mitteln. Die Arbeiter mussten sich selber organisieren, sich selbst aktivieren, sich selbst zusammenschließen. Keine vorher aufgebaute Organisation nahm ihnen diese Arbeit ab. Und die Arbeiterklasse in Deutschland, dem höchst entwickelten Industrieland der damaligen Zeit, zeigte ihre Fähigkeit, sich selbst zu organisieren. Entgegen dem Gerede, das uns heute noch unaufhörlich präsentiert wird, ist die Arbeiterklasse sehr wohl dazu fähig, massenhaft in den Kampf zu treten. Dazu konnte sie ihren Kampf nicht mehr in gewerkschaftlichen Bahnen führen, wo in den verschiedenen, voneinander getrennten  Berufszweigen jeweils um Reformen gerungen wurde. Die Arbeiterklasse schloss sich  über alle Berufsgruppen, Fabrikzweige hinweg zusammen und trat ein für Forderungen, die alle Arbeiter vereinigten: Brot und Frieden, die Freilassung ihrer revolutionären Kräfte. Überall erscholl der Ruf nach der Freilassung K. Liebknechts.

Die Kämpfe konnten vorher nicht mehr sorgfältig, generalstabsmäßig vorbereitet werden, wie im vorigen Jahrhundert. Aufgabe einer politischen Organisation war es, eine politische Führungsrolle in diesen Kämpfen zu spielen, und nicht die Klasse zu organisieren.

Bei dieser Streikwelle waren die Arbeiter zum ersten Mal voll mit den Gewerkschaften zusammengeprallt. Während die Gewerkschaften im vorigen Jahrhundert von den Arbeitern selbst geschaffen worden waren, während sie zu Kriegsbeginn schon als Stützpfeiler für das Kapital in den Fabriken dienten, sollten sie nunmehr eine Hürde für den Kampf der Arbeiter selber werden. Die Arbeiter in Deutschland machten als erste die Erfahrung, dass sie nunmehr in den Kampf nur gegen den Widerstand der Gewerkschaften treten konnten.


Die Auswirkungen der begonnenen Revolution in Russland griffen vor allem auch auf die Reihen der Soldaten über. Nach dem Beginn der russischen Revolution debattierten die Soldatenmassen mit größter Erregtheit das Geschehen, an der Ostfront häuften sich Verbrüderungen zwischen russischen und deutschen Soldaten. Im Sommer 1917 kam es dann im Juli zu den ersten Meutereien in der deutschen Flotte. Zwar konnte auch hier noch eine blutige Repression die ersten Flammen wieder ersticken, aber die Ausdehnung und Intensivierung des revolutionären Elans ließ sich langfristig nicht mehr aufhalten. Die Spartakusanhänger und Angehörige der Bremer Linksradikalen hatten einen großen Einfluss auf Matrosen

Auch in den Industriestädten rumorte der Widerstand weiter:  Vom Ruhrgebiet über Mitteldeutschland, Berlin und Küste, überall war die Klasse dabei, dem Kapital die Stirn zu zeigen. Am 16. Juli erließen die Arbeiter in Leipzig einen Aufruf, dass sich die Arbeiter in  anderer Städte ihnen anschließen sollten.

Die Intervention der Revolutionäre

Die Spartakisten standen bei diesen Bewegungen an vorderster Stelle. Vom Frühjahr 1917 an hatten sie die Bedeutung der Entwicklung in Russland erkannt. Sie waren die Kräfte, die die Brücke zur Arbeiterklasse in Russland schlagen, die die Perspektive des internationalen Ausdehnung der revolutionären Kämpfe in Russland aufzeigten wollten. In ihren Schriften, in Flugblättern, in Redebeiträgen, in den Betrieben - immer wieder traten sie gegen die schwankenden, zögernden, vor klaren Stellungnahmen sich drückenden Zentristen an und trugen zum Begreifen der neuen Lage bei. Immer wieder entblößten sie den Verrat der Sozialpatrioten und zeigten den Weg auf, wie die Arbeiterklasse zu ihrem Klassenterrain zurückfinden konnte.

Die Spartakisten pochten unaufhaltsam darauf:

- wenn die Arbeiterklasse ein ausreichend großes Kräfteverhältnis entwickeln könnte, würde sie den Krieg zu Ende bringen und den Sturz der Kapitalistenklasse herbeiführen können,

- dazu war es aber notwendig, die revolutionäre Flamme, die die Arbeiterklasse in Russland angezündet hatte, weiterzutragen. An entscheidender Stelle stand die Arbeiterklasse in Deutschland!

 “In Russland haben Arbeiter und Bauern... die alte zarische Regierung gestürzt und die Leitung ihrer Geschicke selbst in die Hand genommen. Streiks und Arbeitseinstellungen von gleicher Zähigkeit und Geschlossenheit bringen uns in der gegenwärtigen Zeit nicht nur kleine Erfolge, sondern das Ende des Völkermordens, bringen den Sturz der deutschen Regierung und der  ..... Die Arbeiterklasse war nie mächtiger als jetzt im Krieg, wenn sie geschlossen, solidarisch handelnd und kämpfend sich betätigt, die herrschende Klasse nie sterbliche .r.... Nur die deutsche Revolution kann allen Völkern den heißersehnten Frieden und die Freiheit bringen. Die siegreiche russische Revolution im Bunde mit der siegreichen deutschen Revolution sind unbesiegbar. Von dem Tage an, wo unter den revolutionären Schlägen des Proletariats die deutsche Regierung samt dem deutschen Militarismus zusammenbricht, beginnt ein neues Zeitalter: ein Zeitalter, in dem Kriege, kapitalistische Ausbeutung und Bedrückung für immer verschwinden müssen.” (Flugblatt der Spartakisten, April 1917,

“Die Herrschaft der Reaktion und der imperialistischen Klassen in Deutschland gilt es zu brechen, wenn wir dem Völkermord ein Ende machen wollen... Nur durch Massenkampf, durch Massenauflehnung, durch Massenstreiks, die das ganze wirtschaftliche Getriebe und die gesamte Kriegsindustrie zum Stillstand bringen, nur durch Revolution und die Erringung der Volksrepublik in Deutschland durch die Arbeiterklasse kann dem Völkermord ein Ziel gesetzt und der allgemeine Frieden herbeigeführt werden. Und nur so kann auch die russische Revolution gerettet werden.”

“Die internationale Katastrophe vermag nur das internationale Proletariat zu bändigen. Den imperialistischen Weltkrieg kann nur eine proletarische Weltrevolution liquidieren.” (Spartakus Nr. 6, Aug. 1917)

Die Linksradikalen waren sich ihrer Verantwortung bewusst und sahen was auf dem Spiel stand, wenn die Revolution in Russland isoliert bleiben sollte: “ ..... das Schicksal der russischen Revolution: sie kann lediglich als Prolog der europäischen Revolution des Proletariats ihr Ziel erreichen. Werden hingegen die europäischen, die deutschen Arbeiter dem spannenden Schauspiel weiter wohlwollend zuschauen und nur die Zaungäste spielen, dann darf die russische Sowjetherrschaft nichts anderes gewärtigen (erwarten) als das Geschick der Pariser Kommune [sprich die blutige Niederschlagung].” (Spartacus, Jan. 1918)Deshalb musste gerade das Proletariat in Deutschland, das an der Schlüsselstelle zur Ausdehnung der Revolution stand, seine historische Rolle wahrnehmen. “Das deutsche Proletariat ist der treueste, zuverlässigste Verbündete der russischen und internationalen proletarischen Revolution.” (Lenin)

Überprüfen wir die Intervention der Spartakisten inhaltlich, können wir erkennen, dass sie klar, internationalistisch war  und die richtige Orientierung für den Kampf der Arbeiter gab: Sturz der Regierung, die Perspektive: ein weltweiter Umsturz der kapitalistischen Gesellschaft, Bloßlegung der Sabotagetaktiken der Kräfte der Bourgeoisie.

Die Ausdehnung der Revolution auf die Zentren des Kapitalismus lebenswichtig

Während die Bewegung der Arbeiterklasse in Russland vom Februar 1917 gegen den Krieg gerichtet war, war die Arbeiterklasse in Russland selber zu schwach gewesen, den Krieg zu Ende zu bringen. Dazu ist es nötig, dass die Arbeiterklasse in den Industriehochburgen selber auf den Plan tritt. Die Arbeiter in Russland waren sich dieser Notwendigkeit bewusst, und unmittelbar nachdem sie im Okt. 1917 die Macht übernommen hatten,  sandten sie sofort einen Appell an die Arbeiterklasse in den kriegführenden Ländern mit dem Aufruf:

“Die Arbeiter- und Bauernregierung, die durch die Revolution vom 24/25. Oktober geschaffen wurde und sich auf die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten stützt, schlägt allen kriegführenden Völkern und ihren Regierungen vor, sofort Verhandlungen über einen gerechten demokratischen Frieden aufzunehmen.” (26. Nov. 1917).

Die Weltbourgeoisie war sich jedoch der Gefahr, die für ihre Klassenherrschaft von dieser Lage ausging, voll bewusst. Sie wollte deshalb alles unternehmen, um die in Russland angezündete Flamme zu erlöschen. Deshalb setzte die deutsche Bourgeoisie ihre Kriegsoffensive gegen Russland fort, nachdem sie im Jan. 1918 den Friedensabschluss von Brest-Litowsk unterzeichnet hatte.

Die Spartakisten hatten gegenüber diesen Friedensverhandlungen in einem Flugblatt “Die Stunde der Entscheidung” im Dez. 1917 gewarnt: “Auch für das deutsche Proletariat schlägt nunmehr die Stunde der Entscheidung! Seid auf der Hut! Denn gerade durch diese Verhandlungen beabsichtigt die deutsche Regierung, dem Volke Sand in die Augen zu streuen, das Elend und den Jammer des Völkermordens noch zu verlängern und zu verschärfen.. Die Regierung und die deutschen Imperialisten verfolgen nur durch neue Mittel ihre alten Ziele. Unter dem Deckmantel des Selbstbestimmungsrechts der Nationen sollen aus den besetzten russischen Provinzen Zwergstaaten geschaffen werden, damit sie - zu einer Scheinexistenz verdammt und von den deutschen ‘Befreiern’ wirtschaftlich wie politisch abhängig - später bei der ersten günstigen Gelegenheit , von ihnen regelrecht verspeist werden können.” 

Es dauerte jedoch noch ein weiteres Jahr, bis die Arbeiterklasse in Industriezentren selbst stark genug war, um den imperialistischen, mörderischen Arm der jeweiligen Bourgeoisie zurückzuhalten. Aber die Ausstrahlung der siegreichen Revolution in Russland auf der einen Seite sowie die Intensivierung des Krieges durch die Imperialisten auf der anderen Seite führten jedoch nur zur einer noch größeren Entschlossenheit der Arbeiterklasse, den Krieg zu Ende zu bringen.

 Die revolutionäre Flamme griff langsam auf andere Länder über.

* In Finnland wurde im Jan. 1918 ein Arbeiterkomitee gegründet, das die Machtergreifung vorbereitete. Die Kämpfe in Finnland wurden dann im März militärisch niedergeschlagen. Das deutsche Militär mobilisierte alleine über 15.000 Soldaten. Bilanz der massakrierten Arbeiter: mehr als 25.000.

* Am 15. Jan. 1918 begann in Wiener Neustadt ein politischer Massenstreik, der sich über fast alle Teile der Habsburger Monarchie ausbreitete. In Brünn, Budapest, Graz, Prag, Wien und in anderen Städten kam es zu gewaltigen Demos für Frieden. Ein Arbeiterrat wurde gebildet, der die Aktionen der Arbeiterklasse bündelte. Am 1. Februar 1918 erhoben sich die Matrosen der österreichisch-ungarischen Flotte im Kriegshafen Cattaro gegen die Weiterführung des Krieges und verbrüderten sich mit den streikenden Arsenalarbeitern.

Zur gleichen Zeit fanden Streiks in England, Frankreich und Holland statt (siehe dazu Artikel in International Revue Nr. 80).

Die Januarkämpfe: Die SPD Speerspitze der Bourgeoisie gegen die Arbeiter

Nachdem die deutsche Regierung die Offensive gegen die junge revolutionäre Arbeitermacht in Russland fortsetzen wollte, kochte die Wut in den Reihen der Arbeiter in Deutschland über. Am 28. Januar traten in Berlin 400.000 Arbeiter in den Streik. Vor allem Rüstungsbetriebe wurden bestreikt. Am 29. Jan. erhöhte sich die Zahl der Streikenden gar auf 500.000. Die Bewegung pflanzte sich in andere Städte in Deutschland fort: In München erließ eine Streikversammlung folgenden Aufruf: “Die streikenden Arbeiter Münchens entbieten ihre brüderliche Grüße den belgischen, französischen, englischen, italienischen, russischen, amerikanischen Arbeitern. Wir fühlen uns eins mit Euch in dem Entschluss, dem Weltkrieg sofort ein Ende zu bereiten... Wir wollen gemeinsam den Weltfrieden erzwingen (..) Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!” (zitiert von R. Müller, S. 148)

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In dieser größten Massenbewegung im Krieg bildeten die Arbeiter in Berlin einen Arbeiterrat. Ein Flugblatt der Spartakisten rief dazu folgendermaßen auf:

“Wir müssen eine freigewählte Vertretung nach russischem und österreichischem Muster schaffen mit der Aufgabe, diesen und die weiteren Kämpfe zu leiten. Jeder Betrieb wählt pro 1000 Beschäftigten je einen Vertrauensmann.” Insgesamt kamen über 1.800 Delegierte zusammen.

Die Belegschaften wurden von den Spartakisten dazu aufgerufen, dass die “Gewerkschaftsführer, Regierungssozialisten und andere ‘Durchhalter’ unter keinen Umständen in die Vertretungen gewählt werden ..... Diese Handlanger und freiwilligen Agenten der Regierung, diese Todfeinde des Massenstreiks haben unter den kämpfenden Arbeitern nichts zu suchen (…) während des Massenstreiks im April 1917 haben sie in heimtückischer Weise der Streikbewegung das Genick gebrochen, indem sie die Unklarheit der Masse ausnutzten und den Kampf auf falsche Bahnen lenkten ..... von diesen Wölfen im Schafspelz droht der Bewegung eine viel schlimmere Gefahr als von der königlich-preußischen und anderweitigen Polizei.”.  Im Mittelpunkt der Forderungen standen: Frieden, Zuziehung von Arbeitervertretern aller Länder zu den Friedensverhandlungen ..... Die Versammlung der Arbeiterräte rief dazu auf: “Wir richten an die Proletarier Deutschlands wie der anderen kriegführenden Länder insgesamt die dringende Aufforderung, wie schon die Arbeitskollegen in Österreich-Ungarn erfolgreich uns vorangegangen sind, so nunmehr gleichfalls in Massenstreiks einzutreten, denn erst der gemeinsame internationale Klassenkampf schafft uns endgültig Frieden, Freiheit und Brot.”  Ein weiteres Flugblatt der Spartakisten betonte: “Wir müssen mit der Reaktion ‘russisch’ reden.”  Es rief dazu auf, gemeinsam Demonstrationen auf der Straße durchzuführen.

Nachdem sich ca. 1 Mio. Arbeiter der Bewegung angeschlossen hatten,  schlug die herrschende Klasse eine Taktik ein, die sie sie später immer wieder gegen die Arbeiterklasse einsetzte. Sie schaffte es, drei Vertreter der SPD in den Aktionsausschuß / Streikleitung zu schicken, die ihre ganze Kraft für den Abbruch der Streiks einsetzten. Sie waren die Saboteure von Innen. Ebert gab unumwunden zu: “Ich bin mit der bestimmten Absicht in die Streikleitung eingetreten, den Streik zum schnellen Abschluss zu bringen und eine Schädigung des Landes zu verhüten’. ‘Es war ja schließlich die Pflicht der Arbeiter daheim, ihre Brüder und Väter an der Front zu stützen und ihnen das Beste an Waffen zu liefern, was es gibt. Die Arbeiter Frankreichs und Englands verlieren auch nicht eine Arbeitsstunde, um ihren Brüdern an der Front zu helfen. Der Sieg ist selbstverständlich der Wunsch jedes Deutschen.” (Ebert, 31.Jan.1918) Die Arbeiter sollten ihre Illusionen über die SPD und ihre Führer noch teuer zu zahlen haben.

Nachdem die SPD die Arbeiter seit 1914 für den Krieg mobilisiert hatte, trat sie jetzt mit aller Kraft  den Streiks entgegen. Das zeigt die Klarheit und den Überlebensinstinkt der herrschenden Klasse, wie bewusst sie sich war über die Gefährlichkeit der Arbeiterklasse. Die Spartakisten hatten die tödliche Gefahr, die von der Sozialdemokratie ausging erkannt, und warnten die Arbeiter vor ihnen. Aber selbst die heimtückischen Methoden der Sozialdemokratie reichten nicht.

Denn gleichzeitig musste die herrschende Klasse direkt mit dem Militär brutal gegen die Streikenden vorgehen. Ein Dutzend Arbeiter wurden erschossen, mehrere Zehntausend Streikende zwangsrekrutiert... obgleich diese Zwangsrekrutierten in den darauffolgenden Monaten in der Armee agitierten und zu deren Destabilisierung beitrugen. Die Streiks wurden dann am 3. Februar abgebrochen.

Wir sehen hier, dass die Arbeiterklasse in Deutschland genau die gleichen Kampfmittel einsetzte, Massenstreik, gewählte und abwählbare Delegierte, massives Zusammenkommen auf der Straße... Dies sind seitdem die ‘klassischen’ Waffen der Arbeiterklasse.

Die Spartakisten gaben auch dieser Bewegung die richtige Ausrichtung, hatten aber selbst noch keinen ausschlaggebenden Einfluss. “Unter den Delegierten waren eine Menge unserer Leute gewesen, nur waren sie zersplittert, hatten keinen Aktionsplan und verschwanden in der Menge.” (Barthel, S. 591) Mit entscheidend war aber die Sabotagearbeit der Sozialdemokratie:

Diese Schwäche der Revolutionäre und die Sabotagearbeit der Sozialdemokratie waren die entscheidenden Faktoren für die Beendigung der Bewegung zum damaligen Zeitpunkt.

“Wenn wir nicht in das Streikkomitee hineingegangen wären (…)  dann wäre der Krieg und alles andere meiner festen Überzeugung nach schon im Januar erledigt gewesen (…) Es bestand die Gefahr des totalen Zusammenbruchs und des Eintritts russischer Zustände. Durch unser Wirken wurde der Streik bald beendet und alles in geregelte Bahnen gelenkt.” (Scheidemann)

Wir können sehen, dass die Bewegung in Deutschland auf einen viel stärkeren Widerstand stoßen sollte als in Russland. Die Kapitalistenklasse hatte schon die Lehren gezogen, um gegenüber der Arbeiterklasse in Deutschland wie anderswo mit allen Mitteln vorzugehen.

Hier schon bewies die SPD, wie sie Fußangeln aufstellen konnte, und der Bewegung die Spitze brach. In den später folgenden Kämpfen sollte sich dies als noch verheerender erweisen. Die Januar-Niederlage der Arbeiterklasse gab dem Kapital wiederum die Möglichkeit, seinen Krieg noch einige Monate fortzusetzen. Im Laufe des Jahres 1918 sollte das Militär weitere Offensiven einleiten. Sie kosteten allein in Deutschland 1918 550.000 Tote und nahezu 1 Mio. Verwundete.

Nach der Niederlage der Arbeiter im Jan. 1918 war die Kampfbereitschaft trotzdem aber ungebrochen geblieben -und gerade unter dem Druck der sich weiter verschlechternden militärischen Lage desertierten immer mehr Soldaten, die Front fing an zu bröckeln. Ab dem Sommer 1918 nahm die Streikbereitschaft in den Betrieben wieder zu. Das Militär musste offen eingestehen, dass die Fronten sich nicht mehr halten lassen könnten. Es drängte auf einen Waffenstillstand.

Und die herrschende Klasse hatte eine entscheidende Lehre aus Russland gezogen. Während im April 1917 die deutsche Bourgeoisie noch Lenin im verplombten Zug durch Deutschland rollen ließ, in der Hoffnung, die russischen Revolutionäre würden dort für Chaos sorgen und damit die deutschen imperialistischen Ziele erleichtern (dass dann später im Okt. 1917 eine proletarische Revolution entstand, hatten die deutschen Militärs nicht erwartet), musste jetzt eine revolutionäre Entwicklung wie in Russland vermieden werden.

Die SPD wurde in eine neugebildete Regierung mit einbezogen, sie sollte als Puffer dienen. “Wenn wir jetzt unter allen Umstände unsere Mitarbeit verweigern, dann wäre mit der sehr ernsten Gefahr zu rechnen, ..... dass dann die Bewegung über uns hinweggeht und ein bolschewistisches Regime vorübergehend auch bei uns Platz greifen würde.” (G. Noske, 23.09.1918.

In den Fabriken brodelte es,  immer wieder brachen an verschiedenen Orten Streiks aus. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Massenstreikbewegung das ganze Land erfassen würde. Die aufsteigende Kampfbereitschaft lieferte dann den Nährboden für die Reaktion der Soldaten selber. Denn als das Militärs im Okt. eine neuen Flottenoffensive befahl, kam es zu  Meutereien. Die Matrosen von Kiel und anderen Ostseehäfen weigerten sich auszulaufen. Am 3. Nov. erhob sich eine Welle von Protesten und Streiks gegen den Krieg. Überall wurden Arbeiter- und Soldatenräte gegründet. Innerhalb einer Woche war ganz Deutschland von einer Welle von Arbeiter- und Soldatenräte ‘überrollt’.

Während in Russland die Fortsetzung des Krieges unter der Kerenski-Regierung nach Februar 1917 den entscheidenden Anstoß für den Arbeiterkampf geliefert, dass die Arbeiter im Okt. 1917 selber die Macht ergriffen und den Krieg beenden wollte, setzte die herrschende Klasse in Deutschland, die besser gerüstet war als die russische, alles daran, ihre Macht zu verteidigen.

Am 11. Nov., d.h. eine Woche nach der rapiden Ausdehnung der Arbeiterkämpfe, dem Entstehen von Arbeiter- und Soldatenräten,  wurde der Waffenstillstand vereinbart. In Deutschland beging die Bourgeoisie also nicht den Fehler, den Krieg ‘koste was es wolle’ gegen die Welle von Arbeiterkämpfen fortzusetzen. Mit der Beendigung des Krieges versuchte sie der Bewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen, damit es nicht zu einer Ausdehnung der Revolution kam. Darüber hinaus schickte sie ihr stärkstes Geschütz ins Feld: die SPD - mit den Gewerkschaften an ihrer Seite.

“Der Regierungssozialismus stellt sich mit seinem jetzigen Eintritt in die Regierung als Retter des Kapitalismus der kommenden proletarischen Revolution in den Weg. Die proletarische Revolution wird über seine Leiche hinwegschreiten.” (Spartakus-Brief Okt. 1918)

Ende Dezember schrieb Rosa Luxemburg: “In allen früheren Revolutionen traten die Kämpfer mit offenem Visier in die Schranken: Klasse gegen Klasse, Programm gegen Programm, Schild gegen Schild... In der heutigen Revolution treten die Schutztruppen der alten Ordnung nicht unter eigenen Schildern und Wappen der herrschenden Klassen, sondern unter der Fahne einer ‘sozialdemokratischen Partei’ in die Schranken. Es ist eine sozialistische Partei, es ist das ureigenste Geschöpf der Arbeiterbewegung und des Klassenkampfes, das sich in das wuchtigste Instrument der bürgerlichen Gegenrevolution verwandelt hat.” (Rosa Luxemburg, Ein Pyrrhussieg, 21.Dez.1918.

Wir werden in einem nächsten Artikel auf die konterrevolutionäre Rolle der SPD und die weitere Entwicklung der Kämpfe eingehen.

Die Beendigung des Krieges nur möglich durch das Wirken der Revolutionäre

Die Arbeiterklasse in Deutschland hätte nie diese Kraft entfalten können ohne die systematische Hilfe und Intervention der Revolutionäre in ihren Reihen. Der Übergang vom Rausch des Hurrapatriotismus in großen Teilen der Arbeiterklasse 1914  bis hin zur Erhebung im Nov. 1918 , und zur erfolgreichen Beendigung des Krieges war nur dank der Arbeit der Revolutionäre möglich. Nicht der Pazifismus, sondern die revolutionäre Erhebung der Arbeiterklasse hatte den Krieg zu Ende gebracht.

Wenn die Revolutionäre nicht von Anfang an den Verrat der Sozialpatrioten mutig zur Sprache gebracht hätten, wenn sie nicht laut und deutlich in den Versammlungen, Fabriken, auf den Straßen ihre Stimme erhoben hätten, wenn sie nicht entschlossen die Saboteure des Klassenkampfes bloßgestellt hätten, wäre der Widerstand der Arbeiterklasse ohne  Bezugspunkt geblieben.

 Wenn wir zurückblicken und Bilanz ziehen hinsichtlich der Arbeit der Revolutionäre, können wir viele Lehren für heute ziehen.Zunächst ließen sich Handvoll Revolutionäre im August 1914 nicht einschüchtern oder durch ihre geringe Zahl deprimieren. Sie behielten das Vertrauen in ihre Klasse und traten resolut weiter für die Prinzipien der Arbeiterklasse ein und intervenierten entschlossen ungeachtet der großen Schwierigkeiten, um das Kräfteverhältnis zum Kippen zu bringen. In den Ortsvereinen, an der Basis selber wie auch in anderen Ländern gruppierten die Revolutionäre schnell ihre Kräfte - ohne aufgrund der momentanen Niederlage der Arbeiterklasse ihre eigene Rolle zu verwerfen. Indem sie der Arbeiterklasse eine politische Orientierung anboten, indem sie eine richtige politische Analyse des Imperialismus, der Klassenverhältnisse lieferten, indem sie die richtige Perspektive aufzeigten, dienten sie als politischer Kompaß.

Die konsequente Verteidigung der Organisation, um die SPD nicht kampflos den Verrätern zu überlassen, wie auch der Aufbau einer neuen Organisation, auf den wir in der nächsten Nummer eingehen wollen, waren ebenso zentraler Bestandteil dieses Kampfes. Die Revolutionäre sind von Anfang für den Internationalismus und den internationalen Zusammenschluss der Revolutionäre zunächst (Zimmerwald & Kienthal) und der Klasse insgesamt (Zusammenschluss der Kämpfe) eingetreten.

Indem sie erkannten, dass der imperialistische Krieg nicht durch pazifistische Mittel, sondern nur durch Klassenkrieg, Bürgerkrieg beendet werden könnten, dass also der Sturz der Kapitalsherrschaft notwendig war, um die Welt von der Barbarei zu befreien, traten sie konkret für die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft ein.

Diese politische Arbeit wäre nicht möglich gewesen, ohne die theoretische und programmatische Klärung vor dem Krieg. Ihr Kampf war eine Fortsetzung der Positionen der Linken innerhalb der II. Internationale gewesen, an deren Spitze Rosa Luxemburg und Lenin standen.

 Wir können sehen, auch wenn die Zahl der Revolutionäre und ihr Einfluss am Anfang des Krieges noch gering waren (für die führenden Köpfe reichte anfangs noch der Platz  Rosa Luxemburgs Wohnung, oder die Delegierten von Zimmerwald paßten in 3 Taxen), sollte ihre Arbeit ausschlaggebend werden. Auch wenn ihre Presse am Anfang noch in geringer Auflage zirkulierte, waren ihre inhaltlichen Aussagen und Orientierungen für die Arbeiterklasse unerläßlich und lieferten die Keime für die später aufgehende Saat. 

All das muss uns die Augen für die Wichtigkeit der Arbeit der Revolutionäre öffnen. 1914 brauchte die Arbeiterklasse 4 Jahre, um sich aus ihrer Niederlage zu erholen und gegen den Krieg zu erheben. Heute zerfleischt sich die Arbeiterklasse in den Industriezentren nicht in einem Krieg, sondern muss sich gegen die Folterkammer der Krise zur Wehr setzen. Es dauert länger, bis die Arbeiterklasse ihre Kraft sammelt, um das System zu überwinden - aber genauso wie sie damals den Krieg nie hätte zu Ende bringen können, wenn nicht die Revolutionäre in ihrer Mitte entschlossen und klar gekämpft hätten, hängt sie heute noch mehr von der Intervention der Revolutionäre ab.

Wir werden dies in weiteren Artikeln verdeutlichen.                                           Dv.

 

Fußnoten:

(1) “Aber nein, das ist eine Lüge! Das haben sie gefälscht, die Herren Imperialisten! Der ‘echte’ Vorwärts ist wahrscheinlich beschlagnahmt!” so Sinowjew über Lenin)

 (2) Pannekoek schrieb “Der große europäische Krieg und Sozialismus”, F. Mehring: “Vom Wesen des Krieges”,  Lenin “Der Zusammenbruch der II. Internationale”, “ Sozialismus und Krieg”,  “Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie im europäischen Krieg”, C. Zetkin und K. Duncker “Thesen zum Krieg”, Rosa Luxemburg “Junius-Broschüre/Die Krise der Sozialdemokratie”,  Liebknecht “Der Hauptfeind steht im eigenen Land”

(3) bis 1917 war der Mitgliederstand der SPD von einer Million 1914: auf ca. 200.000 geschrumpft.

 

 

Theorie und Praxis: 

  • Deutsche Revolution [68]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • Mai 1968 in Frankreich [69]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Zweite Internationale [70]

Theoretische Fragen: 

  • Krieg [71]

Die I. Internationale und der Kampf gegen das Sektierertum

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Neben dem Kampf der Bolschewiki gegen die Menschewiki zu Beginn dieses Jahrhunderts war die Auseinandersetzung zwischen dem Marxismus und dem Anarchismus in der I. Internationale wahrscheinlich das berühmteste Beispiel der Verteidigung der proletarischen Organisationsprinzipien in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Für die Revolutionäre von heute, die von der lebendigen Organisationsgeschichte ihrer eigenen Klasse infolge der mehr als 50 jährigen stalinistischen Konterrevolution abgeschnitten sind, ist es wesentlich, sich die Lehren dieser Erfahrung wieder anzueignen. Der erste Artikel wird sich auf die Vorgeschichte dieser Auseinandersetzung konzentrieren und aufzeigen, wie Bakunin das Konzept entwickelte, die Führung der Arbeiterbewegung mittels einer geheimen Organisation zu übernehmen und unter seine eigene persönliche Kontrolle zu bringen. Wir werden aufzeigen, wie diese Auffassung notwendigerweise dazu führte, daß Bakunin von der herrschenden Klasse mit dem Ziel der Zerstörung der Internationale manipuliert werden konnte. Dabei werden wir die grundlegend arbeiterfeindlichen Wurzeln dieser Auffassung gerade was die Organisationsfrage bloßlegen.

Die geschichtliche Bedeutung des Kampfes des Marxismus gegen den Organisationsanarchismus

Die I. Internationale ist in den Geschichtsbücher eingegangen vor allem wegen des Kampfes zwischen Marx und Bakunin, welcher auf dem Haager Kongreß 1872 mit dem Ausschluß Bakunins und seiner rechten Hand Guillaume seinen vorläufigen Abschluß fand. Was aber die bürgerlichen Historiker als einen Kampf zwischen Persönlichkeiten, und die Anarchisten als einen Kampf zwischen "autoritären" und "freiheitlichen" Auffassungen des Sozialismus darstellen, war in Wirklichkeit ein Kampf der gesamten Internationale gegen diejenigen, welche ihre Statuten mit Füßen traten. Bakunin und Guillaume wurden in Den Haag ausgeschlossen, weil sie innerhalb der Internationale eine geheime "Bruderschaft" aufgebaut hatten, eine Organisation innerhalb der Organisation, mit ihren eigenen Strukturen und Statuten. Diese Organisation, die sogenannte "Allianz der sozialistischen Demokratie" existierte und handelte im verborgenen und zwar mit dem Ziel, die Kontrolle der Internationale aus den Händen ihrer Mitglieder zu reißen, um deren Kontrolle Bakunin zu übertragen.

 

Ein Todeskampf zwischen verschiedenen Organisationsauffassungen

Der Kampf, der in der Internationale ausgetragen wurde, war also nicht einer zwischen "Autorität und Freiheit", sondern zwischen zwei völlig entgegengesetzten, ja sich feindlich gegenüberstehenden Organisationsprinzipien.

1) Auf der einen Seite die Auffassung, die am entschlossensten von Marx und Engels, aber insgesamt vom Generalrat und von der großen Mehrheit der Mitglieder vertreten wurde, daß eine proletarische Organisation nicht von der Willkür einzelner, von der Gnade "führender Genossen" abhängen darf, sondern nach festgelegten, von allen unterstützten und für alle verbindlichen Regeln, genannt Statuten, funktionieren muß. Diese Statuten müssen den einheitlichen, zentralisierten, kollektiven Charakter einer solchen Organisation garantieren, für eine offene, disziplinierte, alle Mitglieder einbeziehende Form der politischen Debatte und der politischen Entscheidungsprozesse sorgen. Wer mit Entscheidungen der Organisation, oder mit Punkten der Statuten, nicht mehr einverstanden ist, hat nicht nur die Möglichkeit, sondern die Pflicht, seine Kritik offen vor der gesamten Organisation innerhalb des dafür vorgesehenen Rahmens vorzutragen. Diese Organisationsauffassungen, welche die Internationale Arbeiterassoziation(IAA) entwickelte, entsprachen dem kollektiven, einheitlichen, revolutionären Charakter des Proletariats.

2) Auf der anderen Seite vertrat Bakunin die elitäre, kleinbürgerliche Auffassung des "genialen Führers", dessen außerordentliche politische Klarheit und Entschlossenheit der eigentliche Garant der revolutionären "Leidenschaft" und Ausrichtung ist. Dieser Führer sieht sich dann "moralisch berechtigt", hinter dem Rücken der Organisation seine Anhänger zu sammeln und zu organisieren, damit er an die "Schaltstellen" der Organisation gelangen und seine "historische Mission" erfüllen kann. Da die Mitgliedschaft insgesamt zu dumm sei, um den Bedarf an solch revolutionärem Messias zu erkennen, muß man sie dazu bringen, das zu tun, was gut für sie ist, auch ohne sie in Kenntnis davon zu setzen, ja auch gegen ihren Willen. Die Statuten, die souveränen Entscheidungen von Kongressen oder gewählten Gremien, sind vielleicht gut für die Anderen, aber sie stehen der Elite im Wege.

Dies war die Auffassung Bakunins. Bevor er der IAA betrat, erklärte er seinen Anhängern, weshalb die Internationale keine revolutionäre Organisation sei. Die Proudhonisten seien reformistisch geworden, die Blanquisten alt, die Deutschen wie der von ihnen angeblich beherrschte Generalrat "autoritätsgläubig". Auffallend ist die Art und Weise, wie Bakunin die Internationale als die Summe ihrer Teile betrachtet. Vor allem mangelte es laut Bakunin an "revolutionärem Willen". Dafür wollte die Allianz sorgen, indem sie Programm und Statuten der Internationale mit Füßen trat und ihre Mitglieder hinters Licht führte.

Für Bakunin zählten die Organisationen, welche das Proletariat hervorbrachte, welche in jahrelanger, mühevoller Arbeit aufgebaut wurden, nichts. Die konspirativen Sekten, die er selber schuf und beherrschte, waren ihm dagegen alles. Nicht die Klassenorganisation interessierte ihn, sondern sein persönlicher Status und sein Ansehen, seine anarchistische "Freiheit" - was man heute "Selbstverwirklichung" nennt. Für Bakunin und seinesgleichen war die Arbeiterbewegung nichts als ein Vehikel, um die eigenen individuellen, individualistischen Pläne zu realisieren.

 

Ohne revolutionäre Organisation keine revolutionäre Arbeiterbewegung

Marx und Engels hingegen wußten, was der Organisationsaufbau für das Proletariat bedeutet. Während die Geschichtsbücher die Geschichte so darstellen, daß der Konflikt zwischen Marx und Bakunin ein allgemeinpolitischer war, zeigt die wirkliche Geschichte der Internationale vor allem einen Kampf um die Organisation. Für die bürgerlichen Historiker eine eher langweilig erscheinende Angelegenheit. Für uns hingegen etwas sehr lehrreiches, aufregend Wichtiges. Was Marx uns zeigt, ist, daß es ohne proletarische Organisation keine revolutionäre Klassenbewegung oder Theorie geben kann.

Und tatsächlich: der Gedanke, daß organisatorische Festigkeit, Entwicklung und Wachstum die Voraussetzungen sind für die programmatische Entfaltung der Arbeiterbewegung, liegt der gesamten politischen Tätigkeit von Marx und Engels zugrunde (1). Die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus wußten nur zu gut, daß das proletarische Klassenbewußtsein nicht das Ergebnis von Individuen sein kann, sondern eines kollektiven, organisierten Rahmens bedarf. Deshalb ist der Aufbau der revolutionären Organisation eine der wichtigsten, wenn auch eine der schwierigsten Aufgaben des revolutionären Proletariats.

 

Der Kampf um die Statuten

Nirgends haben Marx und Engels entschiedener und fruchtbarer für dieses Verständnis gekämpft als in den Reihen der 1. Internationale. 1864 gegründet, entstand die Internationale zu einer Zeit, als die organisierte Arbeiterbewegung noch weitgehend beherrscht wurde durch kleinbürgerliche bzw. reformistische Ideologien und Sekten. Die Internationale Arbeiterassoziation (IAA) war zunächst einmal eine Umgruppierung dieser Elemente. Vorherrschend waren die opportunistischen englischen Gewerkschaftsvertreter, der kleinbürgerlich-reformistische Proudhonismus der romanischen Länder, der konspiratorische Blanquismus und in Deutschland die Sekte unter Lassalle. Obwohl die verschiedensten Programme und Weltanschauungen aufeinander stießen, standen die Revolutionäre damals unter dem enormen Druck der Arbeiterklasse, die nach internationaler Einheit drängte, sich zusammenschließen wollte. Bei den ersten Treffen der IAA in London wußte kaum jemand, wie dieser Zusammenschluß vonstatten gehen sollte. In dieser Situation setzen sich die wirklich proletarischen Elemente, mit Marx an der Spitze, dafür ein, die programmatische Klärung zwischen den verschiedenen Gruppierungen erst einmal zu vertagen. Die jahrelange politische Erfahrung der Revolutionäre und die internationale Kampfwelle der gesamten Klasse sollten eingesetzt werden, um zunächst eine einheitliche Organisation zu schmieden. Der internationalen Einheit dieser Organisation, verkörpert durch die Zentralorgane, insbesondere den Generalrat, und durch die Statuten, welche von allen Mitgliedern akzeptiert werden mußten, würden die Internationale in die Lage versetzen, nach und nach die programmatischen Divergenzen auszuräumen und zu einer einheitlichen Auffassung zu gelangen. Der Umgruppierung im großen Maßstab konnte gelingen, solange der internationale Klassenkampf im Aufschwung begriffen war.

Der entscheidende Beitrag des Marxismus bei der Gründung der 1. Internationale lag somit eindeutig auf der Ebene der Organisationsfrage. Die verschiedenen bei dem Gründungstreffen anwesenden Sekten waren nicht in der Lage, den Wille zum internationalen Zusammenschluß, welchen vor allem die englischen und französischen Arbeiter gefordert hatten, zu konkretisieren. Die bürgerliche Atto di fratellanza, die Anhänger Mazzinis, wollten die konspiratorischen Statuten einer Geheimsekte durchsetzen. Die "Inauguraladresse" sowie die Statuten, welche Marx dann im Auftrag der Organisationskomitee vorlegte, verteidigten den proletarischen und einheitlichen Charakter der Organisation, und legten die unerläßliche Grundlage für die weitere Klärungsarbeit. Wenn die Internationale in der Folge sehr weit gehen konnte bei der Überwindung utopischer, kleinbürgerlicher, sektiererischer und konspiratorischer Vorstellungen, dann in erster Linie, weil ihre verschiedenen Strömungen sich mehr oder weniger diszipliniert an die gemeinsamen Regeln hielten.

Unter diesen Strömungen war das Besondere bei den Bakunisten, daß sie sich nicht an die Statuten halten wollten. Deshalb war es die bakunistische Allianz, welche es beinahe schaffte, die erste internationale Partei des Proletariats zu vernichten. Der Kampf gegen die Allianz ist in die Geschichte eingegangen als die große Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Anarchismus. Und das war es auch. Aber im Mittelpunkt des Kampfes standen nicht allgemein-programmatische Fragen wie etwa das Verhältnis zum Staat, sondern Organisationsprinzipien.

Die Proudhonisten z.B. teilten viele der anarchistischen Auffassungen Bakunins. Sie traten aber für die Klärung ihrer Auffassungen nach den Regeln der Organisation ein. Auch sie glaubten daran, daß Organisationsstatuten von allen Mitgliedern ohne Ausnahme eingehalten werden müßten. Deshalb waren insbesondere die belgischen "Kollektivisten" in der Lage, sich in wichtigen Fragen dem Marxismus anzunähern. Ihr bekanntester Sprecher, De Paepe, war ein prinzipieller Gegner der von Bakunin für nötig gehaltenen geheimen Organisation.

 

Bakunins geheime Bruderschaft

Und gerade dieser Frage stand im Mittelpunkt des Kampfes der Internationale gegen Bakunin. Es ist eine auch von anarchistischen Historikern anerkannte Tatsache, daß Bakunin, der 1869 der IAA beitrat, eine geheime Bruderschaft zur Verfügung stand, mit der er die Kontrolle über die Internationale an sich reißen wollte.

"Wir haben es hier mit einer Gesellschaft zu tun, welche unter der Maske des extremen Anarchismus ihre Angriffe nicht gegen die bestehenden Regierungen richtet, sondern gegen die Revolutionäre, welche sich nicht ihrer Orthodoxie und ihrer Leitung unterwerfen. Von der Minderheit eines Bourgeois-Kongresses gegründet, schleicht sie sich in die Reihen der internationalen Organisationen der Arbeiterklasse ein, versucht zuerst, sich ihrer Leitung zu bemächtigen, und arbeitet auf ihre Desorganisation hin, sobald sie diesen Plan scheitern sieht. In schamlosester Weise sucht sie ihr sektiererisches Programm und ihre beschränkten Ideen dem umfassenden Programm, den großen Anstrebungen unserer Assoziation unterzuschieben; sie organisiert in den öffentlichen Sektionen der Internationalen ihre geheime Sektiönchen, welche, derselben Parolen gehorchend, durch vorher abgekartetes gemeinsames Vorgehen in vielen Fällen zur Herrschaft über jene gelangen; sie greift öffentlich in ihren Blättern alle Elemente an, welche sich weigern, sich ihrer Herrschaft zu fügen; sie provoziert den offenen Krieg - das sind ihre eignen Worte - in unseren Reihen."

Das sind die Worte des Berichtes "Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiterassoziation", welchen Marx und Engels im Auftrag des Haager Kongresses von 1872 verfaßten (MEW Bd.18, S.333).

Bakunins Kampf gegen die Internationale war sowohl das Produkt der spezifisch historischen Situation der damaligen Zeit, als auch von allgemeinen, auch heute noch existierenden Faktoren. Was seinen Aktivitäten zugrunde lag, war die Infiltration des kleinbürgerlichen Individualismus und Fraktionalismus, welcher unfähig ist, sich dem Willen und der Disziplin der Organisation unterzuordnen. Hinzu kam die konspiratorische Haltung des deklassierten Boheme, der ohne Manöver und Komplotte zugunsten der eigenen persönlichen Ziele nicht auskommen kann. Die Arbeiterbewegung ist schon immer mit solchen Verhaltensweisen konfrontiert worden, da die Organisation sich nicht ganz von dem Einfluß der anderen Klassen der Gesellschaft abschirmen kann. Andererseits nahmen Bakunins Komplotte die konkrete historische Form der Geheimorganisation an, welche auch zur eigenen Vergangenheit der damaligen Arbeiterbewegung gehörte. Wir werden die konkrete Geschichte Bakunins untersuchen müssen, um auch das Allgemeingültige, für uns heute Wichtige begreifen zu können.

 

Der Bakuninismus gegen den Bruch des Proletariats mit dem kleinbürgerlichen Sektierertum.

Die Gründung der Internationale, die das Ende der Konterrevolution nach 1849 bedeutete, rief die heftigste (und Marxens Aussage zufolge gar übertriebene) Reaktion der Angst und des Hasses unter der herrschenden Klasse hervor: unter den Überresten der feudalen Aristokratie und vor allem unter der Bourgeoisie als dem direkten und historischen Gegner des Proletariats. Mit Hilfe von Spionen und agents provocateurs sollte die Internationale infiltriert werden. Koordinierte, oft hysterische Verleumdungskampagnen wurden in der Presse gegen sie inszeniert. Bei ihren Aktivitäten wurde sie wo immer möglich bedrängt und von der Polizei unterdrückt. Mitglieder wurden vor Gericht gezerrt und ins Gefängnis gesteckt. Erst nach der Niederlage der Pariser Kommune 1871 machte sich in den Reihen der Internationale Verwirrung breit.

Was die Bourgeoisie am meisten beunruhigte, war abgesehen von der internationalen Vereinigung ihres Klassenfeindes, die Tatsache, daß der Marxismus sich ausbreitete und daß die Arbeiterbewegung die sektiererischen Formen der geheimen Organisierung aufgab und eine Massenbewegung wurde. Die Bourgeoisie fühlte sich viel sicherer, solange die revolutionäre Arbeiterbewegung die Form von geschlossenen, sektiererischen, geheimen Gruppierungen trug, in deren Mittelpunkt eine einzige Führerfigur stand, und die irgendein utopisches Schema verfocht oder einen Verschwörungsplan verfolgte, im großen und ganzen aber vollständig von der Arbeiterklasse insgesamt isoliert war. Diese Sekten konnten viel einfacher beobachtet, infiltriert, mißbraucht und manipuliert werden als eine Massenorganisation, deren Hauptstärke und Sicherheit in ihrer Verankerung in der Arbeiterklasse als ganzes lag. Für die Bourgeoisie stellte vor allem die Perspektive einer revolutionären sozialistischen Aktivität gegenüber der Arbeiterklasse insgesamt eine Gefahr für ihre Klassenherrschaft dar, denn die utopischen und verschwörerischen Sekten der Vergangenheit konnten nie diese Gefahr für sie bedeuten. Die Verbindung zwischen Sozialismus und Klassenkampf, zwischen Kommunistischen Manifest und großen Streikbewegungen, zwischen politischen und ökonomischen Aspekten des Klassenkampfes des Proletariats - darüber verlor die Bourgeoisie von 1864 an manch schlaflose Nacht. Und dies liefert die Erklärung für die unglaubliche Brutalität, mit der die Bourgeoisie die Arbeiter der Pariser Kommune abschlachtete und das Ausmaß der internationalen Solidarität aller Teile der ausbeutenden Klassen mit diesem Massaker.

So stand als eines der Hauptthemen der bürgerlichen Propaganda gegen die Internationale die Beschuldigung im Vordergrund, daß hinter der Internationale tatsächlich eine mächtige geheime Organisation stecke, die verschwörerisch auf den Sturz der bestehenden Ordnung hinarbeite. Hinter dieser Propaganda, die auch ein zusätzlicher Vorwand für Unterdrückungsmaßnahmen waren, verbarg sich vor allem der Versuch der Bourgeoisie, die Arbeiter davon zu überzeugen, daß die Bourgeoisie noch am meisten die geheimen Verschwörer fürchtete und nicht so sehr die Massenbewegung. Die Ausbeuter unternahmen alles, um die verschiedenen, noch aktiven Sekten und Verschwörergruppen dazu zu ermuntern, weiter auf Kosten des Marxismus und der Massenbewegung tätig zu bleiben. In Deutschland ermunterte Bismarck die Sekte um Lassalle bei deren Widerstand gegen die Streiks der Arbeiter und gegen die marxistischen Traditionen des Bund der Kommunisten. In Frankreich versuchte die Presse, aber auch die agents provocateurs, das ständig vorhandene Mißtrauen der Verschwörergruppe um Blanqui gegen die Massenaktivitäten der Internationale anzustacheln. In den romanischen und slawisch-sprachigen Ländern wurde eine hysterische Pressekampagne gegen die angebliche „deutsche Vorherrschaft" in der Internationale durch die „autoritären, staatshörigen Marxisten" angezettelt. Aber vor allem die Anhänger Bakunins fühlten sich durch diese Propaganda ermuntert. Vor 1864 hatte Bakunin zumindest zum Teil gegen seinen Willen die Überlegenheit des Marxismus über seine eigenen kleinbürgerlichen putschistischen Auffassungen des revolutionären Sozialismus zugegeben. Seit dem Entstehen der Internationale und damit auch seit dem politischen Angriff der Bourgeoisie dagegen fühlte sich Bakunin in seinem Mißtrauen gegenüber dem Marxismus und der proletarischen Bewegung bestätigt und bekräftigt. In Italien, wohin er den Schwerpunkt seiner Aktivitäten verlegte, priesen die verschiedenen Geheimgesellschaften, die Carbonari, Mazzini, Camorra usw., die angefangen hatten die Internationale und ihren Einfluß auf der Halbinsel zu bekämpfen, Bakunin als den „wahren" Revolutionär. Es gab öffentliche Erklärungen, daß Bakunin die Führung der europäischen Revolution übernehmen sollte. Bakunins Panslawismus wurde als ein natürlicher Verbündeter Italiens in dessen Kampf gegen die österreichischen Besatzungskräfte begrüßt. Demgegenüber wurde betont, daß Marx die Vereinigung Deutschlands als wichtiger für die Entwicklung der Revolution in Europa betrachtete als die Vereinigung Italiens. Sowohl die italienische wie auch die aufgeklärteren Teile der schweizerischen Behörden fingen wohlwollend an, die Anwesenheit Bakunins zu dulden, der zuvor das Opfer der brutalsten europaweiten staatlichen Unterdrückung gewesen war.

 

Die Organisationsdebatten zur Frage der Konspiration

Michael Bakunin, Sohn verarmter russischer Adlige, brach mit seinem Milieu und seiner Klasse vor allem aufgrund seines großen Drangs nach persönlicher Freiheit, welche damals weder beim Militär, in der Staatsbürokratie noch auf einem ländlichen Adelsgut erreichbar war. Bereits dieses Motiv zeigt auf, wie fern seine politische Laufbahn von dem disziplinierten, kollektiven Klassencharakter der Arbeiterklasse entfernt lag. Damals gab es in Rußland auch so gut wie kein Proletariat.

Als Bakunin Anfang der 40er Jahre als politischer Flüchtling in Westeuropa eintraf, mit einer Geschichte der politischen Konspiration bereits hinter sich, waren die Auseinandersetzungen innerhalb der Arbeiterbewegung über organisatorische Fragen bereits voll im Gange. Vor allem in Frankreich.

Damals war die revolutionäre Arbeiterbewegung hauptsächlich in der Form von Geheimgesellschaften organisiert. Diese Form entstand nicht nur weil die Arbeiterorganisationen verboten waren, sondern weil das Proletariat, noch zahlenmäßig unterentwickelt war und kaum vom kleinbürgerlichen Handwerk getrennt, noch nicht seinen eigenen Weg gefunden hatte. Wie Marx über die Lage in Frankreich schrieb:

"Es ist bekannt, wie bis 1830 die liberalen Bourgeois an der Spitze der Verschwörungen gegen die Restauration standen. Nach der Julirevolution trat die republikanische Bourgeoisie an ihre Stelle; das Proletariat, schon unter der Restauration zum Konspirieren erzogen, trat in dem Maße in den Vordergrund, worin die republikanischen Bourgeoisie durch die vergeblichen Straßenkämpfe von den

Diese Konspirationen umfaßten natürlich nie die große Masse des Pariser Proletariats."

Die proletarischen Elemente beschränkten sich aber nicht auf diese entscheidende Absonderung von der Bourgeoisie. Sie begannen praktisch, die Vorherrschaft der Konspiration und der Konspirateure in Frage zu stellen.

"In demselben Maß, wie das Pariser Proletariat selbst als Partei in den Vordergrund trat, verloren diese Konspirateurs an leitendem Einfluß, wurden sie zersprengt, fanden sie eine gefährliche Konkurrenz in proletarischen geheimen Gesellschaften, die nicht die unmittelbare Insurrektion, sondern die Organisation und Entwicklung des Proletariats zum Zweck hatten. Schon die Insurrektion von 1839 hatte einen entschieden proletarischen und kommunistischen Charakter. Nach ihr aber traten die Spaltungen ein, über die die alten Konspirateure so viel klagen; Spaltungen, die aus dem Bedürfnis der Arbeiter hervorgingen, sich über ihre Klasseninteressen zu verständigen, und die sich teils in den alten Verschwörungen selbst, teils in neuen propagandistischen Verbindungen äußerten. Die kommunistische Agitation, die Cabet bald nach 1839 mit Macht begann, die Streitfragen, die sich innerhalb der kommunistischen Partei erhoben, wuchsen den Konspirateuren bald über den Kopf. Chénu wie De la Hodde geben zu, daß die Kommunisten zur Zeit der Februarrevolution bei weitem die stärkste Fraktion des revolutionären Proletariats gewesen seien. Die Konspirateure, um ihren Einfluß auf die Arbeiter und damit ihr Gegengewicht gegen die habits noirs (Befrackten) nicht zu verlieren, mußten dieser Bewegung folgen und sozialistische oder kommunistische Ideen adoptieren." (Marx, Rezensionen, ebenda, MEW Bd., S.275)

Der vorläufige Abschluß dieses Prozesses bildete der Bund der Kommunisten, welcher nicht nur das Kommunistische Manifest annahm, sondern auch die ersten proletarischen Statuten einer von aller Konspiration befreiten Klassenpartei.

"Der Bund der Kommunisten war daher keine konspiratorische Gesellschaft, sondern eine Gesellschaft, die die Organisation der proletarischen Partei im Geheimen bewerkstelligte, weil das deutsche Proletariat igni et aqua von Schrift, Rede und Assoziation öffentlich interdiziert ist. Wenn eine solche Gesellschaft konspiriert, so geschieht es nur in dem Sinne, wie Dampf und Elektrizität gegen den Status quo konspirieren."

Diese Frage war es auch, welche zur Abspaltung der Fraktion Willich-Schapper führte.

"Von dem Bund der Kommunisten sonderte sich daher eine Fraktion ab oder wurde eine Fraktion abgesondert, wie man will, die, wenn auch nicht wirkliche Konspiration, doch den Schein der Konspiration und daher direkt Allianz mit den demokratischen Tageshelden verlangte - die Fraktion Willich-Schapper

Was diese Leute am Bunde unzufrieden machte, war dasselbe, was auch Bakunin damals von der Arbeiterbewegung fernhielt.

"Es versteht sich, daß eine solche geheime Gesellschaft, welche die Bildung nicht der Regierungs-, sondern der Oppositionspartei der Zukunft bezweckt, wenig Reiz bieten konnte für Individuen, die einerseits ihre persönliche Unbedeutendheit unter dem Theatermantel von Konspirationen aufspreizen, andererseits ihren bornierten Ehrgeiz am Tage der nächsten Revolution befriedigen, vor allem aber augenblicklich wichtig scheinen, an der Beute der Demagogie teilnehmen und von den demokratischen Marktschreiern bewillkommt sein wollen

 

Nach der Niederlage der europäischen Revolution von 1848-49 zeigte der Bund ein letztes Mal, wie weit er sich vom Sektenwesen entfernt hatte. Er versuchte, aus einer Umgruppierung mit den Chartisten in England und den Blanquisten in Frankreich eine neue internationale Organisation zu gründen: die Société Universelle des Communistes Révolutionaires. Solch eine Organisation sollte Statuten haben, die von allen Mitgliedern international respektiert würden, die Spaltung zwischen einer geheimen Führung und der Basis, die man als eine manipulierbare Masse auffaßte, sollte abgeschafft werden. Dieses Projekt wie der Bund selbst scheiterten aber an dem internationalem Rückzug des Proletariats nach der Niederlage der Revolution von 1848. Deshalb konnte der Kampf gegen das Sektenwesen erst mehr als ein Jahrzehnt später, mit den Aufkommen einer neuen proletarischen Kampfwelle und mit der Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation vorangetrieben werden.

 

." (ebenda).
." (Ebenda).
(Marx, Enthüllungen über den Kommunisten-Prozess in Köln, MEW Bd.8, S.461).
Konspirationen zurückgeschreckt wurden. Die Société des saisons, mit der Barbès und Blanqui die Emeute von 1839 machten, war schon ausschließlich proletarisch, und ebenso waren es die nach der Niederlage gebildeten nouvelles saisons (...) (Rezensionen aus der ‘Neue Rheinische Zeitung Politisch-ökonomische Revue’, MEW Bd.7 S.273).

Erste Prinzipien einer proletarischen Organisation

Zu dem Zeitpunkt, als Bakunin aus Sibirien nach Westeuropa Anfang der 60er Jahre zurückkehrte, waren die ersten Hauptlehren des Kampfes des Proletariats um die Organisation schon gezogen worden und standen jedem zur Verfügung, der sie sich aneignen wollte. Diese Lehren waren im Laufe von Jahren harter Erfahrungen erarbeitet worden, während derer die Arbeiter ständig als Kanonenfutter von der Bourgeoisie und dem Kleinbürgertum in deren eigenem Kampf gegen den Feudalismus benutzt worden waren. Während dieses Kampfes hatten sich die proletarischen revolutionären Elemente von der Bourgeoisie nicht nur politisch, sondern auch organisatorisch getrennt und Organisationsprinzipien gemäß ihrem Klassenwesen entwickelt. Die neuen Statuten definierten die Organisation als einen vereinten, kollektiven und bewußten Organismus. Die Trennung zwischen der Basis, die aus Arbeitern zusammengesetzt war, die sich über das wirkliche politische Leben der Organisation nicht im Klaren waren, und einer Führung, die aus professionellen Verschwörern zusammengesetzt war, galt als überwunden. Die neuen Prinzipien einer strengen Zentralisierung, die Organisierung der illegalen Arbeit eingeschlossen, schloß die Möglichkeit einer geheimen Organisation innerhalb der Organisation oder an ihrer Spitze aus. Während das Kleinbürgertum und vor allem die radikalisierten deklassierten Elemente die Notwendigkeit einer geheimen Funktionsweise eines Teils der Organisation im Verhältnis zum ganzen als ein Mittel des Schutzes vor dem Klassenfeind gerechtfertigt hatten, bewies die neue Erfahrung des Proletariats, daß genau diese verschwörerische Elite zur Infiltration des Klassenfeindes führte, insbesondere der Infiltration der politischen Polizei in die Reihen der Arbeiterklasse. Vor allem der Bund der Kommunisten zeigte auf, daß organisatorische Transparenz und Festigkeit der beste Schutz gegen Zerstörung durch den Staat sind.

Über die Verschwörer von Paris vor der Revolution von 1848 entwarf Marx ein Bild, welches ebenso gut auf Bakunin passen konnte. Hier kommt auch die Kritik an dem kleinbürgerlichen Sektenwesen klar zum Ausdruck, welches nicht nur der Polizei, sondern dem Einfluß der deklassierten Boheme Tür und Tor öffnet.

"Ihre schwankende, im einzelnen mehr vom Zufall als von ihrer Tätigkeit abhängige Existenz, ihr regelloses Leben, dessen einzig fixe Stationen die Kneipen der marchands de vin sind - die Rendezvoushäuser der Verschwornen - ihre unvermeidlichen Bekanntschaften mit allerlei zweideutigen Leuten rangieren sie in jenem Lebenskreis, den man in Paris le boheme nennt. Diese demokratischen Bohemiens proletarischen Ursprungs - es gibt auch eine demokratische Boheme bürgerlichen Ursprungs, die demokratischen Bummler und piliers d'estaminet (Kneipenstammgäste) - sind also entweder Arbeiter, die ihre Arbeit aufgegeben haben und dadurch dissolut geworden sind, oder Subjekte, die aus dem Lumpenproletariat hervorgehn und alle dissoluten Gewohnheiten dieser Klasse in ihre neue Existenz übertragen. Man begreift, wie unter diesen Umständen fast in jeden Konspirationsprozeß ein paar repris de justice (Vorbestrafte) sich verwickelt finden.." (ebenda, S.273). Es versteht sich von selbst daß solche Leute "aufs tiefste die mehr theoretische Aufklärung der Arbeiter über ihre Klasseninteressen" verachten. (s. 272).

Das ganze Leben dieser Verschwörer von Profession trägt den ausgeprägtesten Charakter der Boheme. Unteroffiziere der Verschwörung, ziehen sie von marchand de vin zu marchand de vin, fühlen den Arbeitern den Puls, suchen ihre Leute heraus, kajolieren sie in die Verschwörung hinein und lassen entweder die Gesellschaftskasse oder den neuen Freund die Kosten der dabei unvermeidlichen Konsumption von Litres trage (...)

(...) jeden Augenblick kann er auf die Barrikade gerufen werden und dort fallen, auf jedem Schritt und Tritt legt ihm die Polizei Schlingen, die ihn ins Gefängnis oder gar auf die Galeeren bringen können. Solche Gefahren machen eben den Reiz des Handwerks aus; je größer die Unsicherheit, desto mehr beeilt sich der Verschwörer, den Genuß des Moments festzuhalten. Zugleich macht ihn die Gewohnheit der Gefahr im höchsten Grade gleichgültig gegen Leben und Freiheit

"Der Hauptcharakterzug im Leben der Konspirateurs ist ihr Kampf mit der Polizei, zu der sie gerade dasselbe Verhältnis haben wie die Diebe und die Prostituierte. Die Polizei toleriert die Verschwörungen, und zwar nicht bloß als ein notwendiges Übel. Sie toleriert sie als leicht zu überwachende Zentre (...) Die Verschwörer behalten unaufhörlich Fühlung mit der Polizei, sie kommen jeden Augenblick in Kollision mit ihr; sie jagen auf die Mouchards (Spitzeln) wie die Mouchards auf sie jagen. Die Spionage ist eine ihrer Hauptbeschäftigungen. Kein Wunder daher, daß der kleine Sprung von handwerksmäßigen Verschwörer zum bezahlten Polizeispion, erleichtert durch das Elend und das Gefängnis, durch Drohungen und Versprechungen, sich so häufig macht." (

Dies waren die Grundlagen der Statuten der IAA - und als die Bourgeoisie sich dessen bewußt wurde, wurde klar, daß dies ihr Angst einjagen sollte und daß sie sich offen zu Bakunin bekannte.

 

Ebenda. S.274)

Die Politik der Verschwörung

 

Bakunin in Italien

Um zu begreifen, wie Bakunin von der herrschenden Klasse gegen die Internationale manipuliert werden konnte, müssen wir kurz auf seinen persönlichen Werdegang wie auf die Lage in Italien nach 1864 eingehen. Anarchistische Historiker loben das ‘große revolutionäre Wirken’ Bakunins in Italien, wo er eine Reihe von geheimen Sekten gründete und bei verschiedenen Verschwörungen mitmachte, um Einfluß zu gewinnen. Diese anarchistischen Historiker meinen im Allgemeinen, daß Italien Bakunin auf das Podest des ‘Papstes des revolutionären Europas’ stellte. Aber da sie es sorgfältig vermeiden, irgendwelche Einzelheiten der Wirklichkeit dieses Milieus aufzudecken, bleibt uns diese Aufgabe nicht erspart.

Bakunin hatte innerhalb des sozialistischen Lager einen Ruf für sich erworben durch seine Teilnahme an der Revolution von 1848-49, als er militärischer Anführer in Dresden war. Eingekerkert, nach Rußland ausgeliefert und endlich nach Sibirien verbannt, erreichte Bakunin Europa erst wieder 1861, nachdem er aus dem Lager in Sibirien entflohen war. In London angekommen, begab er sich zu Herzen, dem bekannten russischen liberalen Revolutionsführer. Dort begann er sofort, unabhängig von Herzen, die politischen Emigration um seine eigene Person zu scharen. Es war ein Kreis von Slawen, welchen Bakunin mit einem anarchistisch verbrämten Panslawismus an sich band. Sowohl von der englischen als von der kommunistischen Arbeiterbewegung, vor allem von dem deutschen Arbeiterbildungsverein in London blieb er hingegen fern. Aber aus Ermangelung eines günstigen Konspirationsterrain brach er 1864 (die Gründung der Internationale in London hing schon in der Luft) nach Italien auf, auf der Suche nach Verbündeten für seine reaktionäre "panslawische Revolution" und seine Geheimbündeleien.

"In Italien fand er eine Menge politischer Geheimbünde; er fand hier eine deklassierte Intelligenz, die allemal bereit war, sich in allerlei Verschwörungen einzulassen, eine bäuerliche Masse, die stets am Abgrunde des Hungertodes schwebte, und endlich ein wenig bewegliches Lumpenproletariat, zumal in den Lazzaroni von Neapel, wohin er bald von Florenz übergesiedelt war, um dort mehrere Jahre zu leben. Diese Klassen erschienen ihm als die eigentlichen Triebkraft der Revolution." (Franz Mehring, Karl Marx: Geschichte seines Lebens, S. 411, 412).

Bakunin flüchtete von den Arbeitern Westeuropas zu den Deklassierten Italiens.

 

Die Geheimgesellschaften als Mittel der Revolte

In der Zeit der Reaktion nach der Niederlage Napoleons, als die Heilige Allianz unter der Führung Metternichs das Prinzip der bewaffneten Intervention der Großmächte gegen jeglichen Umsturzversuch in Europa verfolgte, sahen sich die von der Macht ausgeschlossenen Klassen der Gesellschaft gezwungen, sich in Geheimgesellschaften zu organisieren. Dies galt nicht nur für die Arbeiterschaft, das Kleinbürgertum und die Bauernschaft, sondern auch für Teile der liberalen Bourgeoisie und selbst für unzufriedene Aristokraten. Fast alle diese Konspirationen ab 1820, ob die Dekabristen in Rußland oder die Carbonari in Italien, organisierten sich nach dem Muster der im 17. Jahrhundert zuerst in England entstandenen Freimaurer, deren Ziele eine "internationale Bruderschaft" und der Widerstand gegen die katholische Kirche europäische Aufklärer wie Diderot und Voltaire, Lessing, Goethe und Puschkin anzog. Aber wie vieles im ‘Jahrhundert der Aufklärung’ besaß die Freimaurerei, wie z.B. auch die ‘aufgeklärten Despoten’ Katharina, Friedrich der Große oder Maria Theresia, einen zutiefst reaktionären Kern in Form ihrer mystischen Ideologie, ihres elitären Aufbaus nach verschiedenen Graden der "Einweihung" sowie ihre Lichtscheuheit, ihren Hang zur Konspiration und Manipulation. In Italien, damals das Mekka der nicht proletarischen, noch hemmungslos manövrierenden und konspirierenden Geheimbünde, wucherten schon seit den 20er und 30er Jahren die Guelfen, Federati, die Adelfen, die Carbonari. Der berühmteste von ihnen, die Carbonari, war eine vom katholischen Mystizismus geprägte, terroristische Geheimorganisation, welche Struktur und "Symbolik" der Freimaurerei übernahm.

Als Bakunin 1864 nach Italien kam, standen die Carbonari aber bereits im Schatten der Konspiration Mazzinis. Der Mazzinismus stellte einen Fortschritt gegenüber den Carbonari dar, weil er für eine einheitliche, zentralisierte italienische Republik kämpfte. Mazzini wühlte nicht nur im Untergrund, sondern agitierte auch gegenüber der Bevölkerung. Nach 1848 wurden sogar Arbeitersektionen gegründet. Mazzini stellte auch organisatorisch einen Fortschritt dar, indem er das System der Carbonari aufhob, demzufolge die Basismitglieder blind, unwissend die Befehle der geheimen Führung ausführen müssen, wobei jede Weigerung mit dem Tod bestraft wurde. Aber sobald die Internationale als eine proletarische Kraft entstand, die unabhängig von seiner Kontrolle war, begann er gegen sie zu kämpfen, da sie eine Bedrohung für seine eigene nationalistische Bewegung darstellte.

Als Bakunin in Neapel eintraf, nahm er sofort den Kampf gegen Mazzini auf - aber von Standpunkt der Carbonari, dessen Methoden er verteidigte.

Bakunin stürzte sich in dieses undurchsichtige Milieu, um eine eigene Gruppe zu schaffen und um die Führung der konspiratorischen Bewegung an sich zu reißen. Er gründete die Allianz der sozialen Demokratie, und als leitenden Kern den Geheimbund Fraternité Internationale, einen "Orden disziplinierter Revolutionäre".

 

Ein von der Reaktion manipuliertes Milieu

Noch viel mehr als in Rußland fand der deklassierte revolutionäre Aristokrat Bakunin in Italien, speziell in Neapel, ein geeignetes Terrain. Hier reifte sein Organisationskonzept zur vollen Blüte. Es war der undurchsichtige Sumpf, aus dem ein Fülle antiproletarischer Organisationen hervorging. Diese Gruppierungen von ruinierten, oft verkommenen Aristokraten, deklassierten Jugendlichen oder manchmal gar reinen Kriminellen erschien in seinen Augen revolutionärer als das Proletariat. Dazu gehörte die Camorra, welche Bakunins romantischer Vision des revolutionären Banditentums entsprach. Die Vorherrschaft des aus einer Häftlingsorganisation sich entwickelnden Geheimbunds der Camorra über Neapel wurde nach der Amnestie von 1860 quasi offiziell. Zur selben Zeit infiltrierte in Sizilien der bewaffnete Arm der enteigneten Landaristokratie Mazzinis lokale Ge-heimorganisationen, und nannte sich fortan "Mafia" nach den Buchstaben ihrer Kampfparole "Mazzini autorizza furti, incendi, avvelenamenti" (Mazzini erlaubt uns zu stehlen, zu brandschatzen und zu vergiften). Bakunin vermochte weder diese Leute zu entblößen noch sich von ihnen zu distanzieren.

Auch die direkte staatliche Manipulation fehlte nicht in diesen Milieu. Wir können sicher davon ausgehen, daß diese Manipulation auch eine Rolle spielte bei der Art und Weise, wie das Milieu in Italien Bakunin als eine wahre revolutionäre Alternative gegenüber der ‘deutschen Diktatur von Marx’ pries. Diese Propaganda deckte sich in der Tat mit der Propaganda, die von den Polizeiorganen Lous-Napoléons in Frankreich verbreitet wurde.

Wie Engels uns mitteilt, wurden die Carbonari wie viele ähnliche Gruppen vom russischen und von anderen Geheimdiensten manipuliert und infiltriert (siehe Engels, Die auswärtige Politik des russischen Zarentums, MEW Bd.22). Diese staatliche Infiltration verstärkte sich vor allem nach der Niederlage der europaweiten Revolution von 1848. Der französische Diktator, der Abenteurer Louis Napoleon - der nach der Niederlage der Revolution zur Speerspitze der nachfolgenden Konterrevolution wurde - verbündete sich mit der Regierung Palmerston in London, vor allem aber mit Rußland, um das europäische Proletariat niederzuhalten. Ab 1864 war die Geheimpolizei Louis Napoleon vor allem im Einsatz, um die Internationale Arbeiterassoziation zu zerstören. Zu ihren Agenten gehörte "Herr Vogt", ein Mitarbeiter Lassalles, der Karl Marx in der Öffentlichkeit als den Anführer einer Erpresserbande diffamierte.

Aber der Schwerpunkt Louis Napoleons Geheimdiplomatie lag in Italien, wo Frankreich die nationale Bewegung zu seinen eigenen Zwecke benutzte. 1859 wiesen auch Marx und Engels darauf hin, daß das französische Staatsoberhaupt selbst ein ehemaliges Mitglied der Carbonari war. (Die Geldpolitik in Europa; Die Position Louis-Napoleons; in MEW Bd.13).

Bakunin, der bis zum Halse in diesem Sumpf steckte, glaubte natürlich, daß er diese Kloake für seine eigenen revolutionären Zwecke manipulieren könnte. Bis heute wissen wir nicht im Einzelnen, mit welchen ‘Elementen’ er ‘konspirierte’. Aber es gibt einige Hinweise. So verfaßte er 1865 seine "Freimaurermanuskripte". "Eine Schrift, welche Bakunins Ideen der italienischen Freimaurerei nahebringen wollte", wie der anarchistische Historiker Max Nettlau mitteilt.

"Das Freimaurermanuskript nimmt auf den berüchtigten Syllabus, die päpstliche Verdammung des menschlichen Denkens vom Dezember 1864 Bezug, und Bakunin mochte an die dadurch gesteigerte Empörung gegen das Papsttum anknüpfen, um auch die Freimaurerei oder ihren entwicklungsfähigen Teil weiter vorwärts zu treiben; er beginnt damit: um wieder ein lebender und nützlicher Körper zu werden, muß die Freimaurerei ernstlich den Dienst der Menschheit wieder aufnehmen." (Nettlau, Geschichte des Anarchismus. Bd.2. S.48,49.)

Nettlau versucht sogar mit Zitatvergleichen stolz nachzuweisen, daß Bakunin die damaligen Gedanken der Freimaurerei beeinflußt hat. Es fragt sich nur, wer wen beeinflußt hat? Fest steht, daß Bakunin um diese Zeit die reaktionäre, mystische, geheimbündlerische Ideologie der Freimaurer aufnahm. Ein Weltbild, welches Engels bereits Ende der 40 Jahre hinsichtlich Karl Heinzen treffend geschildert hatte:

"Er sieht die kommunistischen Schriftsteller für Propheten, Priester oder Pfaffen an, die eine geheime Weisheit für sich besitzen, sie aber den Ungebildeten vorenthalten, um sie am Gängelbande zu leiten. (..).als hätten die literarischen Repräsentanten des Kommunismus ein Interesse daran, die Arbeiter im unklaren zu halten, als benutzten sie sie bloß, wie die Illuminaten auch im vorigen Jahrhundert das Volk benutzen wollten."

Hier liegt auch der Schlüssel zum bakuninschen Mysterium, weshalb auch in der künftigen anarchistischen Gesellschaft ohne Staat und Autorität trotzdem laut Bakunin die Geheimgesellschaft noch benötigt wird.

Marx und Engels, ohne damals an Bakunin gedacht zu haben, haben es gegenüber dem früheren englischen Pseudosozialisten und Philosophen Carlyle so ausgedrückt:

"Der historisch erzeugte Klassenunterschied wird so zu einem natürlichen Unterschied

 

, den man selbst als einen Teil des ewigen Naturgesetzes anerkennen und verehren muß, indem man sich vor den Edlen und Weisen der Natur beugt: Kultus des Genius. Die ganze Anschauung des historischen Entwicklungsprozesses verflacht sich zur platten Trivialität der Illuminaten- und Freimaurerweisheit des vorigen Jahrhunderts. (...) Damit kommt natürlich die alte Frage, wer denn eigentlich herrschen soll, die mit hochwichtiger Seichtigkeit des breitesten diskutiert und endlich dahin beantwortet wird, daß die Edlen, Weisen und Wissenden herrschen sollen." (Rezensionen aus der Neuen Rheinischen Zeitung, MEW Bd.7, S.261.)
(Engels, Die Kommunisten und Karl Heinzen, MEW Bd.4., S.321.

Bakunin ‘entdeckt’ die Internationale

Von Anfang an hat die europäische Bourgeoisie den italienischen Sumpf der Geheimgesellschaften gegen die Internationale einzusetzen versucht. Schon bei der Gründung 1864 in London wollten die Anhänger Mazzinis ihre sektiererischen Statuten durchsetzen und damit die Kontrolle über die Arbeiterassoziation an sich reißen. Der Vertreter Mazzinis bei dieser Aktion, Major Wolff, wurde später als Polizeispitzel entlarvt. Nachdem dieser Versuch scheiterte, rief die Bourgeoisie die Friedens- und Freiheitsliga ins Leben, und lockte damit Bakunin ins Spinnennetz der Untergrabungsfront gegen die Internationale.

 

Bakunin hatte "die Revolution" in Italien erwartet. Während er im Sumpf des ruinierten Adels, der deklassierten Jugend und des städtischen Lumpenproletariats manövrierte, war die Internationale Arbeiterassoziation ohne sein Zutun zur führenden revolutionären Macht der Welt aufgestiegen. Bakunin erkannte, daß er bei seinem Versuch, Europas revolutionärer Papst zu werden, auf das falsche Pferd gesetzt hatte. Zu dieser Zeit wurde 1867 die bürgerliche Friedens- und Freiheitsliga, ganz offensichtlich gegen die Internationale gegründet. Bakunin schloß sich mit seiner "Bruderschaft" dieser Liga mit dem Ziel an, "die Liga mit der Fraternité in sich als revolutionär inspirierende Kraft der Internationale anzuschließen" (Nettlau, ebenda, S.100).

Mit diesem Schritt wurde Bakunin folgerichtig, aber ohne es zu merken zur Speerspitze der Versuche der herrschenden Klassen, die Internationale zu vernichten.

 

Die Friedens- und Freiheitsliga

Die Liga, ursprünglich ein Idee des italienischen nationalistischen Guerillaführers Garibaldi und des französischen Schriftstellers Victor Hugo, wurde insbesondere von der Schweizer Bourgeoisie gegründet und von Teilen der italienischen Geheimgesellschaften unterstützt. Ihre pazifistische Abrüstungspropaganda und ihre Forderung nach den "Vereinigten Staaten Europas" zielten in Wirklichkeit darauf ab, die 1. Internationale zu spalten und zu schwächen. Zu einer Zeit, als Europa gespalten war zwischen einem sich kapitalistisch entwickelnden Westteil und einem feudalen, unter der Knute Rußlands stehenden Ostteil, war die Forderung nach Abrüstung in den Ländern Westeuropas ein beliebtes Thema der russischen Geheimdiplomatie. Die Internationale wie die gesamte Arbeiterbewegung hatten sich von Anfang an die Forderung nach Wiederherstellung eines demokratischen Polen als ein Bollwerk gegen Rußland, damals der Hort der europäischen Reaktion, zu Eigen gemacht. Die Liga prangerte nun diese Politik als "militaristisch" an, während Bakunins Panslawismus als eine wahrlich revolutionäre, gegen alle Militaristen gleichermaßen gerichtete Politik hingestellt wurde. Somit stärkte die Bourgeoisie den Bakuninisten gegen die Internationale den Rücken.

"Die Allianz der sozialistischen Demokratie ist durchaus von Bourgeois-Herkunft. Sie ist nicht von der Internationalen ausgegangen; sie ist ein Sprößling der Friedens- und Freiheitsliga, einer totgeborenen Gesellschaft von Bourgeois-Republikanern. Die Internationale war schon fest begründet, als Michael Bakunin sich in den Kopf setzte, eine Rolle als Emanzipator des Proletariats zu spielen. Sie konnte ihm nur das allen Mitgliedern gemeinsame Feld der Tätigkeit bieten. Und in ihr etwas zu gelten, hätte er sich zuerst durch beständige und aufopfernde Arbeit die Sporen verdienen müssen; er glaubte bessere Aussichten und einen leichteren Weg auf Seiten der Bourgeois der Liga zu finden."

Der von Bakunin unterbreitete Vorschlag eines Bündnisses der Liga mit der IAA wurde vom Brüsseler Kongreß der Internationale verworfen. Bereits hier zeichnete sich auch ab, daß die erdrückende Mehrheit der IAA es auch ablehnte, die Unterstützung Polens gegen die russische Reaktion aufzugeben. Damit blieb Bakunin nichts anders übrig, als in die Internationale zu gehen, um sie von innen her aufzuwühlen. Diese Orientierung wurde von der Führung der Liga unterstützt, innerhalb der er schon die Grundlagen dazu gelegt hatte.

"Die von Bakunin geträumte Allianz zwischen Bourgeois und Arbeitern sollte sich nicht auf eine öffentliche Allianz beschränken. Die geheimen Statuten der Allianz (...) enthalten Anzeichen, daß Bakunin im Schoße der Liga selbst den Grund zu einer geheimen Gesellschaft gelegt, der die Herrschaft über jene zufallen sollte. Nicht nur sind die Namen der leitenden Gruppen identisch mit denen der Liga, (...) sondern es wird auch in den geheimen Statuten erklärt, daß die Gründungsmitglieder der Allianz zum größten Teil ehemalige Mitglieder des Kongresses zu Bern seien." (Ein Komplott ..., ebenda, S.337.)

Wer die Politik der Liga kennt, muß davon ausgehen, daß man von Anfang an darauf aus war, Bakunin gegen die Internationale zu benutzen. Auch die Tatsache, daß mehrere Aktivisten in der Umgebung Bakunins wie der Liga später als Polizeiagenten entlarvt wurde, spricht dafür. Denn nichts konnte die Internationale mehr gefährden als ihre Zersetzung von innen durch Elemente, die selber keine Agenten des Staates waren, und ein gewisses Ansehen in der Arbeiterbewegung genossen, die aber ihre persönlichen Ziele verfolgten auf Kosten der Bewegung.

Auch wenn Bakunin der Konterrevolution auf diese Weise nicht dienen wollte, trug er und seinesgleichen die volle Verantwortung dafür, indem sie sich in die Nähe der reaktionärsten und undurchsichtigsten Teile der Herrschenden begaben.

Zwar war sich die Arbeiterinternationale schon über die Gefahren einer solchen Unterwanderung bewußt. So hat z.B. die Londoner Delegiertenkonferenz folgende Resolution angenommen:

"In den Ländern, wo die regelmäßige Organisation der Internationalen infolge von Regierungseinmischung augenblicklich unausführbar ist, kann die Assoziation, resp. ihre lokalen Sektionen, sich unter irgendwelchen

"In Frankreich und Italien, wo eine derartige politische Lage besteht, daß das Versammlungsrecht eine strafbare Handlung ist, werden die Menschen sehr stark dazu neigen, sich in geheime Gesellschaften hineinziehen zu lassen, deren Resultat immer negativ ist. Im übrigen steht dieser Organisationstyp im Widerspruch zu der Entwicklung der proletarischen Bewegung, weil diese Gesellschaften, statt die Arbeiter zu erziehen, sie autoritären und mystischen Gesetzen unterwerfen, die ihre Selbständigkeit behindern und ihr Bewußtsein in eine falsche Richtung lenken."

Dennoch: trotz dieser Wachsamkeit gelang es Bakunins Allianz, in die Internationale einzudringen. Im zweiten Artikel werden wir den Kampf innerhalb ihrer Reihen schildern und den unterschiedlichen Konzepte der Organisation und der militanten Arbeit, die zwischen der proletarischen Partei und der kleinbürgerlichen Sekte bestehen, auf den Grund gehen.

Kr

(1)

andern Benennungen rekonstituieren. Alle eigentlich sogenannten geheimen Gesellschaften sind und bleiben jedoch förmlich ausgeschlossen." (MEW, Bd.17, S.422)
Marx, der diese Resolution einbrachte, sagte zur Begründung.
(Ein Komplott gegen die IAA - Bericht über das Treiben Bakunins, MEW Bd.18, S.335).Der Ausgangspunkt für die Bildung einer revolutionären Organisation ist die Übereinstimmung mit einem politischen Programm. Nichts liegt dem Marxismus ferner und der Arbeiterbewegung allgemein als eine Umgruppierung ohne programmatische Prinzipien. Im Gegensatz zur bordigistischen Auffassung wird das proletarische Programm jedoch nicht ein für allemal aufgestellt. Im Gegenteil: es wird weiter entwickelt, bereichert und seine Fehler werden korrigiert durch die lebendige Erfahrung der Klasse. Als die IAA gegründet wurde, dies geschah in der Anfangsphase der Arbeiterbewegung, beschränkten sich die wesentlichen Elemente ihres Programms - die die Zugehörigkeit einer Organisation zum proletarischen Lager festlegten - auf einige allgemeine Prinzipien, die in der Einleitung zu den Statuten der Internationale aufgeführt sind. Bakunin und seine Anhänger stellten diese Prinzipien nicht infrage. Ihr Angriff gegen die IAA richtete sich im Wesentlichen gegen die Statuten der IAA selber, d.h. gegen die von der IAA festgelegte Funktionsweise. Das bedeutet aber nicht, daß Programm und Statuten voneinander getrennt werden können. Die Statuten bringen die wesentlichen Prinzipien der Arbeiterklasse zum Ausdruck und konkretisieren sie; sie sind daher integraler Bestandteil dieses Programms der Arbeiterklasse.

Der zweite Artikel wird dann näher auf den Kampf eingehen, der innerhalb der Internationale selber stattfand, wobei wir den fundamentalen Gegensatz hinsichtlich der Auffassung zur Funktionsweise und der militanten Arbeit aufdecken, der zwischen dem marxistisch proletarischen und dem anarchistisch Standpunkt der Kleinbürger und Deklassierten besteht.

 

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Erste Internationale [72]

Theoretische Fragen: 

  • Arbeiterklasse [22]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Organisation [64]

Hiroshima und Nagasaki: Die Lügen der Bourgeoisie

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Letztes Jahr, am fünfzigsten Jahrestag des Atombombenabwurfes über Hiroshima und Nagasaki, sprengte die herrschende Klasse das bisheri­ge Mass an Zynismus und Lügen. Dieser Höhepunkt an Barbarei wurde nicht von einem Diktator oder einem blutrünstigen Verrückten, sondern von der "tugendhaften Demokratie" Amerikas durchgeführt. Um dieses monströse Verbrechen zu rechtfertigen, hatte die herrschende Klasse weltweit die ehemalige schamlose Lüge wieder aufgetischt, nach welcher die Atombomben nur deshalb eingesetzt worden seien, um das Leiden, welches durch einen weiteren Krieg mit Japan entstanden wäre, abzukürzen und zu verhindern. Die amerikanische Bourgeoisie ging mit ihrem Zynismus sogar soweit, eine Briefmarke mit der Aufschrift: "Atombomben beschleunigten das Ende des Krieges. August 1945" herausgeben zu wollen. Auch wenn in Japan dieser Jahrestag eine willkommene Gelegenheit war, die wachsende Opposition gegen die ehemalige amerikanische Schirmherrschaft zu unterstreichen, leistete der amerikanische Premierminister ebenfalls seinen Beitrag, indem er den Abwurf der Atombomben als Notwendigkeit für Frieden und Demokratie bezeichnete und sich gleichzeitig erstmals für die von Japan während des Zweiten Weltkrieges begangenen Kriegsverbrechen ent­schuldigte. Sieger und Verlierer fanden sich zu dieser widerlichen Kampagne zusammen, um eines der grössten Verbrechen der Geschich­te zu rechtfertigen.

 

Die Berechtigung Hiroshimas und Nagasakis: Eine grosse Verlogenheit

Im ganzen forderten die zwei im August 1945 über Japan abgeworfenen Atombom­ben 552 000 Opfer. Viele starben in den 50er und 60er Jahren an Lungen- und Schilddrüsenkrebs; und bis heute fordert die Wirkung der Radioaktivität ihre Opfer: In Hiroshima und Nagasaki gibt es zehnmal mehr Leukämiefälle als im übrigen Japan. Um ein solches Verbrechen zu legitimieren und um auf den berechtigten Schock eine Antwort zu geben, der durch die katastro­phalen Auswirkungen der Bomben verur­sacht wurde, setzten Truman, der US-­Präsident, der diesen nuklearen Holocaust angeordnet hatte, und sein Busenfreund Churchill eine durch und durch zynische Lüge in die Welt: Der Einsatz der Atombom­ben hätte eine Million Menschenleben ge­rettet, die durch die Invasion der amerikani­schen Truppen gefordert worden wären. Trotz der grausamen Auswirkungen seien die Bomben, welche Hiroshima und Nagasa­ki zerstört hätten, Bomben für den Frieden gewesen! Diese besonders widerliche Be­hauptung wurde jedoch in zahllosen, von der Bourgeoisie selbst herausgegebenen Geschichtsstudien, widerlegt.

 

Wenn wir Japans militärische Situation zur Zeit der Kapitulation Deutschlands näher unter die Lupe nehmen, so sehen wir, dass dieses Land so gut wie reif war für eine Niederlage. Seine Luftwaffe, diese so wich­tige Waffe im Zweiten Weltkrieg, war geschrumpft auf eine Handvoll Kampfflug­zeuge; geflogen von jugendlichen Piloten, deren Unerfahrenheit durch Fanatismus er­setzt war. Ebenso war die Kriegs- und Handelsflotte praktisch ausgeschaltet. Die Flugzeugabwehr wies so viele Lücken auf, daß die amerikanischen B29-Bomber im Frühling 1945 Tausende von nahezu verlust­freien Angriffen starten konnten, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Chur­chill selber hielt dies in Band 12 seiner Kriegserinnerungen fest.

 

Eine 1989 in der "New York Times" veröffentlichte Studie, die vom US-Geheim­dienst 1945 gemacht worden war, zeigte, daß "der japanische Kaiser, einsehend, da,%3 sein Land in der Niederlage steckte, am 20. Juni 1945 entschied, alle Kampfhandlungen zu beenden und vom 11. Juli an Friedensver­handlungen in Gang zu setzen mit dem Ziel, die kriegerischen Auseinandersetzungen zu beenden " (Le Monde Diplomatique, August 1990).

 

Truman war über diese Situation bestens orientiert. Dennoch, benachrichtigt vom Er­folg des ersten Atombombentests in der Wüste von New Mexico im Juli 1945 ( 1 ), entschied er während der Potsdamer Konfe­renz, welche zwischen ihm, Churchill und Stalin stattfand, (2) die Atombombe gegen japanische Städte einzusetzen. Dieser Ent­scheid hatte nichts zu tun mit dem Wunsch, den Krieg mit Japan zu beenden, wie in einem Gespräch zwischen Leo Szilard, einem der Väter der Bombe, und J. Byrnes, dem US-Staatssekretär für Kriegswesen, zugegeben wurde. Als Szilard Bedenken äußerte bezüglich den Gefahren, die der Atombombeneinsatz mit sich bringe, ant­wortete Byrnes, daß "Truman nicht verlang­te, die Bombe einzusetzen, um den Krieg zu gewinnen, sondern seine Idee war, durch ihren Besitz und Einsatz RuJ3land kontrol­lierbar zu machen ". (Le Monde Diplomatique, August 1990).

 

Noch weitere Argumente gefällig? Lassen wir einen der wichtigsten amerikanischen Militärführer für sich selbst sprechen. Für den Generalstabschef Admiral Leahy waren die Japaner "so gut wie geschlagen und zur Kapitulation bereit. Der Einsatz einer solch barbarischen Waffe leistet keinen Beitrag zum Sieg in unserem Krieg gegen Japan. " (Le Monde Diplomatique, August 1990). Derselben Meinung war auch Eisenhower. Die Behauptung, der Einsatz der Atombom­be hätte Japan in die Knie gezwungen und dem Abschlachten ein Ende gesetzt, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Diese Lüge wurde verbreitet, um den Bedürfnissen der bürgerlichen Kriegspropaganda gerecht zu werden; eine der Leistungen der riesigen Gehirnwaschkampagne, welche nötig war, um das größte Massaker der Menschheitsgeschichte, den von 1939 bis 1945 dauernden Weltkrieg, zu rechtfertigen, sowie den Kalten Krieg ideologisch vorzu­bereiten.

 

Was auch immer die Zögerungen einzelner Mitglieder der herrschenden Klasse ange­sichts dieser Massenvernichtungswaffe zu bedeuten hatten, betonen wir, dass Trumans Entscheid alles andere war als der eines wahnsinnigen oder isolierten Individuums. Im Gegenteil, er' ist Ausdruck einer unerbitt­lichen Logik; der Logik des Imperialismus. Tod und Zerstörung der Menschheit ist die einzige Überlebensmöglichkeit der Bour­geoisie und ihres Ausbeutungssystems, wel­ches unumkehrbar dekadent ist.

 

Das wirkliche Ziel der Bomben von Hiroshima und Nagasaki

Im Gegensatz zu all den Lügen, welche seit 1945 über den angeblichen Sieg der Demo­kratie und des Friedens in die Welt gesetzt wurden, war der Zweite Weltkrieg dann zu Ende, als die imperialistische Neuaufteilung der Welt erfolgt war. Enthielt der Vertrag von Versailles den Keim eines neuen Krie­ges in sich, so enthielt auch Jalta den Gegensatz zwischen den zwei Hauptsiegern des Zweiten Weltkrieges, den USA und seinem russischen Gegner Durch den Zwei­ten Weltkrieg von einer ökonomisch schwa­chen Macht zu einer Weltmacht aufgestie­gen, musste die Sowjetunion Amerika nun im weltweiten imperialistischen Konkur­renzkampf herausfordern. Im Frühling 1945 benötigte die UdSSR ihre ganze militärische Kraft, um einen Block in Osteuropa auf die Beine zu stellen. Jalta diente nur dazu, das existierende Kräfteverhältnis zwischen den mächtigsten imperialistischen Haien, wel­che aus der grössten Schlächterei der Geschichte hervorgingen, zu sanktionieren. Die Situation, welche durch ein Kräftegleichgewicht geschaffen worden war, wurde nun durch ein anderes wieder über den Haufen geworfen. Im Sommer 1945 war das wahre Problem, vor dem die USA stand, nicht, wie es uns in den Schulbüchern eingetrichtert wird, Japan sobald als möglich zur Kapitula­tion zu zwingen, sondern, wie man dem imperialistischen Feldzug des "grossen rus­sischen Verbündeten" begegnen konnte.

 

Winston Churchill, der große wirkliche Führer der Allüerten im Zweiten Weltkrieg, hatte schnell begriffen, daß eine neue Front am Entstehen war, warnte die Amerikaner davor und forderte sie auf, dagegen anzutre­ten. Er schrieb in seinen Erinnerungen: "Je näher das Ende des von einer Koalition geführten Krieges, desto vorrangiger wer­den die politischen Aspekte. Vor allem sollten sie in Washington weiter sehen (... ) Die Vernichtung der deutschen Militär macht hat eine radikale Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Rußland und den westlichen Demokratien mit sich ge­bracht. Sie haben vergessen, daß der ge­meinsame Feind Deutschland das einzige war, was sie einte. " Er schloß daraus, daß "Sowjetrußland eine tödliche Gefahr für die freie Welt geworden war und es nötig war, ohne zu zögern eine neue Front zu bilden, um seinen Vormarsch zu stoppen, und daß diese Front so weit wie möglich im Fernen Osten gebildet werden musste" (Erinnerun­gen, Bd. 12, Mai 1945). Es könnte nicht klarer sein. Churchill analysierte sehr klar, daß ein neuer Krieg im Anzug war, noch bevor der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Im Frühling 1945 tat Churchill alles, um dem Vormarsch der russischen Armeen nach Europa (Polen, Tschechoslowakei, Jugosla­wien) zu begegnen. Verbissen versuchte er Truman von seiner neuen Einschätzung zu überzeugen. Letzterer übernahm nach eini­gem Zögern (3) Churchills These, daß "die sowjetische Bedrohung den Feind Nazi­deutschland ersetzt hat" (Erinnerungen, Bd. 12, Mai 1945). Die vollständige und ein­stimmige Unterstützung, die die Regierung Churchill Trumans Entscheid, japanische Städte mit Atombomben zu vernichten, gab, ist somit ohne weiteres zu verstehen. Am 22. Juli 1945 schrieb Churchill: "Mit der Bombe haben wir einen guten Trumpf in der Hand um das Gleichgewicht mit den Russen wiederherzustellen. Der Besitz dieser Bombe und die Möglichkeit ihres Einsatzes wird das diplomatische Gleichgewicht, das seit der Niederlage Deutschlands aus den Fugen geraten ist, völlig ändern. "

 

Daß dies Tote und ein unsägliches Leid über Hunderttausende von Menschen bringen würde, ließ diesen "Verteidiger der freien Welt" und "Retter der Demokratie" völlig kalt. Als Churchill die Nachricht von der Bombardierung Hiroshimas erfuhr, jauchzte er vor Freude, und Lord Allenbrooke, einer von seinen Beratern, schrieb: "Churchill war von Enthusiasmus erfüllt und sah sich so gut wie fähig, alle Industrie- und Bevölkerungs­zentren Rußlands auszulöschen."("Le Mon­de Diplomatique", Aug. 1990). Soviel zähl­ten bei diesem Verteidiger der Zivilisation und der Menschenrechte Menschenleben, und dies nach fünf Jahren Schlächterei, die 50 Millionen Tote gekostet hatte!

 

Der über Japan hereingebrochene atomare Holocaust im August 1945, dieser furchtba­re Ausdruck der absoluten Barbarei des Krieges im dekadenten Kapitalismus, war von den "reinen" amerikanischen Demokra­ten nicht bestimmt, um das Leiden zu begrenzen, das durch eine Weiterführung des Krieges mit Japan verursacht worden wäre. Es war eine Botschaft des Terrors an die UdSSR, um diese zu veranlassen, auf ihre imperialistischen Ambitionen zu ver­zichten und die Bedingungen der "Pax americana" hinzunehmen. Konkret um die UdSSR, welche nach Yalta, gemäss den Abmachnungen, Japan sofort den Krieg erklärt hatte, zu warnen und zu zeigen, dass es ausser Frage stand, sich, wie im Falle Deutschlands, an der Besetzung Japans zu beteiligen. Um ihrer Botschaft Nachdruck zu verleihen, warf die USA eine zweite Bombe über Nagasaki ab. Nagasaki war eine Stadt von geringer militärischer Bedeu­tung, dafür aber das wichtigste Arbeiter zentrum Japans. Dies war mit ein Grund, weshalb Truman den Vorschlag einiger seiner Berater zurückwies, die Bombe über

 

einem dünn besiedelten Gebiet abzuwerfen, was Japan genauso zur Kapitulation zwingen würde. Nein, in der mörderischen Logik des Imperialismus bedurfte es der Zerstörung zweier Städte, um Stalin einzuschütern und die vormals verbündete Sowjetunion zu zwingen, ihre imperialistischen Appetite zu zügeln.

 

Die Lehren dieser grauenhaften Ereignisse

Welche Lehren kann die Arbeiterklasse aus dieser Tragödie und deren Ausschlachtung durch die Bourgeoisie ziehen?

 

Zuallererst sind solche Massaker der entfesselten kapitalistischen Barbarei nicht unvermeidbar für die Menschheit. Die wissenschaftliche Vorbereitung solcher Blutbäder war nur möglich, weil das Proletariat weltweit niedergeschlagen war durch die schrecklichste Konterrevolution seiner gan­zen Geschichte. Gebrochen durch den stali­nistischen und faschistischen Terror sowie vollständig verwirrt durch die monströse Lüge, daß Stalinismus und Kommunismus dasselbe seien, vermochte die Arbeiterklas­se ihrer, von den Stalinisten aktiv und unersetzbar unterstützten Mobilisierung für die tödliche Falle der Verteidigung der Demokratie keinen Widerstand entgegenzu­setzen. Sie konnte keine andere Rolle spielen als die des Kanonenfutters, das der Bourgeoisie wehrlos, auf Gedeih und Ver­derb, ausgesetzt war. Heute, was auch immer die Schwierigkeiten des Proletariats, sein Bewußtsein zu vertiefen, zu bedeuten haben, ist die Situation grundsätzlich an­ders. In den großen Arbeiterzentren herrscht keine Einigkeit mit den Ausbeutern, son­dern entwickelt sich eher das Klima des Kampfes gegen sie. Im Gegensatz zu der von der Bourgeoisie endlos wiederholten Lüge, daß der zweite imperialistische Weltkrieg ein Krieg zwischen zwei verschiedenen "Systemen", dem faschistischen und demo­kratischen, gewesen sei, waren seine 50 Millionen Tote Opfer des kapitalistischen Systems als Ganzes. Barbarei und Verbre­chen gegen die Menschheit praktizierte nicht nur der Faschismus. Unsere wunderbaren "Alliierten", die sich als "Verteidiger der Zivilisation" priesen, plünderten und mas­sakrierten unter der Fahne der "Demokra­tie", und an ihren Händen klebt genauso viel Blut wie an denen der Achsenmächte. Der entfesselte nukleare Holocaust war beson­ders abscheulich, aber nur eines der vielen Verbrechen, die unsere "reinen Ritter der Demokratie" während des ganzen Krieges begingen.(4)

 

Der Schrecken Hiroshimas eröffnete auch eine neue Periode des verstärkten Abstiegs des Kapitalismus in seiner Dekadenz. Der permanente Krieg wurde zum Alltagsleben des Kapitalismus. Der Versailler Vertrag hatte den nächsten Weltkrieg angekündigt, und die auf Hiroshima und Nagasaki abge­worfenen Atombomben kennzeichneten nun den Beginn des "Kalten Krieges" zwischen den USA und der UdSSR, welcher für mehr als vierzig Jahre das Blutbad in alle Ecken der Welt ausdehnte. Dies deshalb, weil es, im Gegensatz zu 1918 und den Jahren danach, 1945 keine Entwaffnung gab, son­dern im Gegenteil ein riesiges Wettrüsten unter allen Siegern des Zweiten Weltkrieges begann (die UdSSR trieb sich 1949 auch Atombomben auf). Unter diesen Bedingun­gen war die ganze Wirtschaft unter dem Diktat des Staatskapitalismus in seinen verschiedenen Formen dem Krieg unterge­ordnet. Im Gegensatz zur Periode nach dem Ersten Weltkrieg war der Staatskapitalis­mus in alle Poren der Gesellschaft einge­drungen und hatte seine totalitäre Herr­schaft auf alles ausgedehnt. Nur der Staat kann die, besonders für den Ausbau des nuklearen Waffenarsenals notwendigen, gi­gantischen Ressourcen mobilisieren. Das Manhattan-Projekt war nur der Anfang einer langen und grausigen Serie, welche zum größten und wahnwitzigsten Aufrüsten der Geschichte führte.

 

 

Weit davon entfernt, eine Zeit des Friedens anzukündigen, eröffnete das Jahr 1945 eine neue Periode der Barbarei, noch verschlim­mert durch die beständige Gefahr der atomaren Vernichtung des gesamten Plane­ten. Wenn Hiroshima und Nagasaki immer noch nicht aus dem Gedächtnis der Mensch­heit ausgelöscht sind, dann nur deshalb, weil dies der direkteste und augenfälligste Ausdruck davon ist, wie der dekadente Kapitalismus das Überleben der Mensch­heit in Frage stellt.

 

Dieses schreckliche Damoklesschwert, wel­ches da über der Menschheit hängt, über­trägt eine enorme Verantwortung an das Proletariat, die einzige Kraft, die fähig ist, der militärischen Barbarei des Kapitals einen Riegel zu schieben. Obwohl die Bedrohung durch die Atombombe mit dem Zusammenbruch des amerikanischen und russischen Blocks vorübergehend ge­schwunden ist, ist diese Verantwortung nur noch gewachsen, und das Proletariat darf in seiner Wachsamkeit keinen Augenblick nachlassen. In der Tat war der Krieg noch nie so allgegenwärtig wie heute, von Afrika über die Gebiete der Ex-Sowjetunion bis zum Blutbad in Ex-Jugoslawien, welches den Krieg zum erstenmal seit 1945 nach Europa brachte.(5)

 

Und wir brauchen nur auf den Entschluß der Bourgeoisie, die Bomben vom August 1945 zu rechtfertigen, zu schauen, um die Erklä­rung Clintons zu verstehen: "Wenn es nötig wäre, die Atombombe einzusetzen, wir wür­den es wieder tun " ("Liberation", 11. April 1995).

 

Damit drückt er nur die Meinung seiner ganzen Klasse aus. Hinter den scheinheili­gen Worten über die Gefahren atomaren Wettrüstens tut in Wirklichkeit jeder Staat alles, um sich entweder ein Atomwaffen­arsenal zu ergeiern oder das schon bestehen­de auszubauen. Mehr noch: Die Forschung hat sich das Ziel gesetzt, nukleare Waffen zu verkleinern, dadurch ihren Einsatz zu er­leichtern und zu vervielfachen. Oder, wie "Libération" schreibt: "Die Studien westli­cher Generalstäbe beruhen auf der Antwort `des Vernünftigen an den Wahnsinnigen' und lassen die Idee eines taktischen, begrenzten Einsatzes von Atomwaffen wieder aufleben. Nach Hiroshima wurde ihr Einsatz tabu. Aber nach dem Kalten Krieg begann dieses Tabu seine Gültigkeit zu verlieren" ("Libération": 5. August 1995).

 

Der Horror der nuklearen Kriegsführung ist nicht etwas, das der Vergangenheit ange­hört. Im Gegenteil: Es ist, jedoch nur wenn das Prolatariat es zulässt, die Zukunft, wel­che der zerfallende Kapitalismus für die Menschheit bereithält. Zerfall bedeutet nicht Eindämmung der Allgegenwärtigkeit des Krieges. Das Chaos und das Gesetz des "Jeder gegen Jeden" machen diese Gefahr im Gegenteil nur noch unkontrollierbarer. Die imperialistischen Großmächte heizen das Chaos nur noch an, um ihre schmutzigen Interessen zu verteidigen. Wir können sicher sein, daß, wenn die Arbeiterklasse es nicht schafft, dieser verbrecherischen Tätigkeit Einhalt zu gebieten, die Herrschenden nicht zögern werden, all ihre ihnen zur Verfügung stehenden Waffen einzusetzen, von gewöhn­lichen, konventionellen Bomben, wie sie im Golfkrieg flächenmäßig eingesetzt wurden, bis zu chemischen und nuklearen Waffen. Der kapitalistische Zerfall hat nur eine Perspektive anzubieten: Die stückweise Zerstörung dieses Planeten und seiner Be­wohner. Das Proletariat darf keinen Fuß­breit nachgeben, weder dem Sirenengesang des Pazifismus noch der Verteidigung der bürgerlichen Demokratie, in deren Namen Hiroshima und Nagasaki ausgelöscht wur­den. Im Gegenteil: Es muß auf seinem eigenen Klassenterrain bleiben; auf dem Terrain des Kampfes gegen dieses System des Todes und der Zerstörung, des Kapita­lismus. Aus den Horrorspektakeln, aus den vergangenen und gegenwärtigen Greueln, welche die Medien heute bis ins Detail ausschlachten und mit Bildern von Kriegen schmücken, darf die Arbeiterklasse kein Gefühl der Machtlosigkeit schöpfen. Denn genau dies will die Bourgeoisie mit solchem Kriegsrummel in den Medien: Das Proletari­at terrorisieren, ihm die Idee vermitteln, es sei dagegen machtlos; als könne nur der kapitalistische Staat mit seinen enormen Zerstörungsmitteln und seiner Mächtigkeit den Frieden herbeiführen, mit denselben Mitteln, wie auch Kriege ausgelöst werden! Die Arbeiterklasse muss diese durch den Kapitalismus ausgelöste Barbarei zum Anstoss nehmen, um in seinen Klassenkämp­fen das Bewusstsein zu entwickeln und seinen Willen zur Überwindung des Kapita­lismus zu stärken.

 

Julien, 24.8.95

 

( 1 ) Um die Atombombe zu entwickeln, mobilisierte der amerikanische Staat sämtliche seiner wissen­schaftlichen Ressourcen und stellte diese dem Militär zur Verfügung. Zwei Milliarden Dollar wurden ins Manhattan-Projekt gesteckt, bewilligt durch den gro­ßen "Menschenfreund" Roosevelt. Alle Universitäten leisteten ihre Beiträge dazu. Direkt oder indirekt waren alle Physiker in dieses Geschäft verwickelt, von Einstein bis Oppenheimer, einschließlich sechs Nobelpreisträger. Die gigantische Ausschöpfung aller wissenschaftlichen Ressourcen für den Krieg war ein Ausdruck der kapitalistischen Dekadenz. Der Staats­kapitalismus, entweder unverhüllt oder unter einer demokratischen Maske, unterwirft und militarisiert die ganze Wissenschaft. Unter der Herrschaft des Kapitals lebt und entwickelt sich die Wissenschaft nur durch und für den Krieg. Diese Entwicklung hörte seit 1945 nicht auf, sich zu verschärfen, im Gegenteil.

 

(2) Das Hauptziel dieses Treffens, das Churchill initiierte, war, Stalins UdSSR klarzumachen, daß sie ihre imperialistischen Appetite zu zügeln habe und daß es Grenzen gäbe, die sie nicht überschreiten dürfe.

 

(3) Den ganzen Frühling 1945 hindurch regte sich Churchill auf, daß die Amerikaner sich angesichts der

 

Einnahme Osteuropas durch die russische Ar<nee so "gutmütig" zeigten. Dieses Zögern von seiten der US-­Regierung, sich auf eine Konfrontation mit den imperialistischen Ambitionen der Sowjetunion einzu­lassen, hat ihre Gründe in der damals noch verhältnis­mäßigen Unerfahrenheit als Weltsupermacht, deren Rolle die US-Bourgeoisie jetzt spielen konnte - eine Erfahrung, die die englische Bourgeoisie bereits hatte. Aber es war auch der Ausdruck der nicht besonders freundlichen Gefühle seitens ihres amerikanischen Verbündeten. Die Tatsache, daß England geschwächt aus dem Krieg hervorging und daß seine Machtstellung in Europa durch den russischen Bären bedroht wurde, konnte die britische Bourgeoisie Onkel Sams Diktat gegenüber gefügiger machen, der sich seinem "engsten Freund" ohne zu zögern aufzwang. Dies ist ein weiteres Beispiel der "einigen und harmonischen" Beziehungen der imperialistischen Hyänen untereinander.

 

Internationale Revue Nr.17

 

Imperialistische Konflikte: Das unaufhaltsame Voranschreiten des Chaos und Militarismus

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Wie die orchestrierten Manöver gegen die Arbeiterklasse im Dez. 1995 in Frankreich und gegen die Arbeiterklasse in ganz Westeuropa zeigten, schafft es die Bourgeoisie als herrschende Klasse, sich international zusammenzuschließen, um gegen die Arbeiterklasse anzugehen. Auf der Ebene der imperialistischen Beziehungen sieht es jedoch ganz anders aus, denn hier herrscht das Gesetz des Dschungels. Die ‘Sieger des Friedens’, die im Laufe des Jahres 1995 von den Medien gefeiert wurden, sind nichts als finstere Lügen. In Wirklichkeit handelt es sich nur um Episoden im Todeskampf zwischen den imperialistischen Großmächten, die sich entweder offen oder verdeckt bekämpfen, wenn diese unter der Maske der ‘IFOR’ wie im ehemaligen Jugoslawien auftreten. Diese Endphase der Dekadenz des kapitalistischen Systems, der Zerfall, wird vor allem auf imperialistischer Ebene geprägt durch die Tendenz des Jeder-für-sich; ein Krieg, wo jeder gegen jeden kämpft. Diese Tendenz ist seit dem Ende des Golfkriegs so vorherrschend geworden, daß sie diese andere, dem Imperialismus in der dekadenten Phase innewohnende Tendenz, die Tendenz zur Bildung neuer imperialistischer Blöcke überlagert.

Deshalb sehen wir:

- eine Zuspitzung der typischen Erscheinungen der historischen Krise der kapitalistischen Produktionsform - der Militarismus, der systematische Einsatz offener Gewalt um gegen die imperialistischen Rivalen anzukämpfen und der tägliche Horror des Krieges, der immer größeren Teilen der Bevölkerung aufgezwungen wird, die hilflose Opfer dieses tödlichen Gemetzels des Imperialismus sind. Während die USA als militärische Großmacht bereit stehen, um ihre Vorherrschaft zu verteidigen und deshalb rücksichtslos Gewalt einsetzen, handeln die anderen ‘großen Demokratien’ - Großbritannien, Frankreich und- was von historischer Bedeutung ist - Deutschland - nicht weniger entschlossenen - und - auch wenn ihren beschränkten Mitteln gehorchend - mit der gleichen Entschlossenheit[i] [73];

- eine wachsende Infragestellung der Führungsrolle der ersten weltweiten Supermacht durch die meisten ihrer ehemaligen Verbündeten und Anhänger,

- eine Infragestellung oder eine Schwächung der solidesten und ältesten imperialistischen Bündnisse - wie der historische Bruch beweist, der zwischen dem britisch-amerikanischen Bündnis eingetreten ist sowie die klare Abkühlung der Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland;

- die Unfähigkeit der Europäischen Union, einen alternativen Pol gegenüber der US-amerikanischen Supermacht zu bilden, wie die verschiedenen Spaltungen zwischen europäischen Staaten hinsichtlich des Krieges vor ihrer Tür auf dem Balkan verdeutlichen.

Ausgehend von diesem Rahmen können wir die Entwicklung der imperialistischen Beziehungen verstehen, die im Vergleich zur Zeit der beiden imperialistischen Blöcke  viel komplexer und instabiler gewordenen sind, und bei denen wir folgende Charakteristiken hervorheben können:

- der Ursprung und der Erfolg der US-amerikanischen Gegenoffensive mit dem Epizentrum ehemaliges Jugoslawien,

- die Grenzen dieser Gegenoffensive selber, die gesetzt werden durch den anhaltenden Willen Großbritanniens, sein Bündnis mit dem amerikanischen Paten infragezustellen,

- die französisch-britische Annäherung wie das gleichzeitige Abrücken Frankreichs von seinem deutschen Verbündeten.

Der Erfolg der Konteroffensive der USA

 In der Resolution zur internationalen Situation, die wir auf unserem 11. Kongreß verabschiedeten (siehe Internationale Revue Nr. 16), hoben wir hervor: ‘Dies offenbart das Ausmaß der Niederlage, die die USA durch den Gang der Dinge im ehemaligen Jugoslawien haben hinnehmen müssen, wo die direkte Besetzung des Terrains durch die britische und französische Armee in Gestalt der UNRPOFOR stark dazu beigetragen hat, daß die Versuche der USA, in der Region mit Hilfe des bosnischen Verbündeten Fuß zu fassen, vereitelt wurden. Es fällt auf, daß die erste Weltmacht auf immer mehr Schwierigkeiten stößt, ihre Rolle als weltweiter Gendarm wahrzunehmen. Diese Rolle wird immer weniger von den anderen Bourgeoisien unterstützt; die Lage ist nicht mehr wie früher, als die von der Sowjetunion ausgehende Bedrohung sie zwang, sich den Befehlen Washingtons zu unterwerfen. Es gibt gegenwärtig eine ernsthafte Schwächung, gar eine Krise der amerikanischen Führung, die überall auf der Welt zu sehen ist’. Wir erklärten diese weitreichende Abschwächung der Führungsrolle der USA damit, daß ‘die vorherrschende Tendenz gegenwärtig nicht die einer neuen Blockbildung ist, sondern ‘jeder kämpft für sich’.

Im Frühjahr 1995 war die Lage in der Tat beherrscht durch  die Schwächung der ersten Weltmacht, aber sie hat sich seitdem deutlich geändert, nachdem die Clinton-Regierung eine heftige Konteroffensive durchgeführt hat. Als die USA die Rolle des einfachen Herausforderers im ehemaligen Jugoslawien übernehmen mußten, nachdem von dem französisch-britischen Tandem die ‘FRR’ (schnelle Eingreiftruppe) aufgestellt worden war, sowie nachdem ihre ältester und treuester Gehilfe Großbritannien sie verraten hatte, wurde die US-Position in Europa ernsthaft geschwächt. Dadurch wurde ein Gegenschlag seitens der USA erforderlich, der der Schwächung ihrer Führungsrolle entgegentreten würde. Bei dieser mit Elan durchgeführten Gegenoffensive stützten sich die USA hauptsächlich auf zwei Trumpfkarten. Einmal ihre militärische Trumpfkarte, die es ihnen möglich macht, schnell ihre Truppen umfangreich zu mobilisieren, so daß kein Rivale sich Hoffnung darauf machen kann, ihnen auf dieser Ebene entgegenzutreten. So stellten die USA die Truppen der IFOR auf, die die UNPROFOR-Truppen verdrängten, wobei sie aber ihre großen logistischen Fähigkeiten mit ins Spiel brachten: Transportmittel der US-Armee, große Schiffsverbände mit umfangreicher militärischer Feuerkraft und Beobachtungssatelliten. Diese Demonstration der Stärke zwang die Europäer dazu, das Dayton-Abkommen zu unterzeichnen. Dann ausgehend von dieser militärischen Stärke setzte Clinton voll auf die Ausnutzung der imperialistischen Rivalitäten zwischen den europäischen Großmächten, die ihre Karten im ehemaligen Jugoslawien im Spiel haben, indem insbesondere geschickt der Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgenutzt wurde, der den traditionellen Interessensgegensatz zwischen Großbritannien und Deutschland noch verschärfte[ii] [73].

Die direkte Anwesenheit starker amerikanischer Truppenverbände im ehemaligen Jugoslawien und im Mittelmeer insgesamt bedeutete einen herben Tiefschlag für die beiden Staaten, die am stärksten die US-Führungsrolle herausgefordert hatten: Frankreich und Großbritannien. Zudem beide Staaten einen besonderen Status im Mittelmeer für sich beanspruchen, und sie seit dem Beginn des Jugoslawienkriegs alles getan hatten, um eine US-Intervention dort zu verhindern, da sie ihre Position im Mittelmeer abschwächen würde.

Seit dem Dayton-Abkommen und der Ankunft der IFOR-Truppen sind die USA im ehemaligen Jugoslawien eindeutig als die dominierende Macht aufgetreten. Auf Milosevic haben sie mit einem gewissen Erfolg Druck ausgeübt, damit dieser die engen Verbindungen zu seinen Beschützern Frankreich und England lockert. Dazu haben die USA Zuckerbrot und Peitsche eingesetzt. Ihren bosnischen ‘Schützling’ haben sie fest im Griff, wenn dieser die geringsten Anzeichen von Unabhängigkeit zeigt, was deutlich wurde, als die USA in den Medien gewisse Verbindungen zwischen Bosnien und dem Iran groß zur Schau stellten. Sie haben zusätzliche Trümpfe für die Zukunft auf die Seite gelegt, indem sie eine Annäherung an Zagreb vollzogen haben, da Kroatien die einzige Kraft ist, die sich wirksam Serbien entgegenstellen kann. Und bislang haben sie es verstanden, die großen Spannungen zu ihren Gunsten zu verwenden, die in dem von ihnen geschaffenen Gebilde, der kroatisch-muslimischen Föderation in Mostar herrschen. Offensichtlich haben sie es zugelassen, wenn nicht gar gefördert, als die kroatischen Nationalisten den deutschen EU-Verwalter Mostars angriffen, worauf dieser abreiste und durch einen amerikanischen Vermittler ersetzt wurde, der sowohl von den kroatischen wie auch von den muslimischen Fraktionen verlangt wurde. Indem sie gute Beziehungen zu Kroatien aufbauten, stellen sie sich vor allem gegen Deutschland, das der große Verbündete Kroatiens bleibt. Geschickt nutzen sie damit die im deutsch-französischen Bündnis aufgekommenen Spaltungen hinsichtlich Ex-Jugoslawien aus und verstärken sie. Indem die USA eine taktische und zeitlich begrenzte Allianz mit Bonn im ehemaligen Jugoslawien eingingen, hoffen sie das Treiben Deutschlands, das ihr gefährlichster imperialistischer Rivale bleibt, besser kontrollieren zu können, denn ihre massive militärische Präsenz vor Ort schränkt den Spielraum des deutschen Imperialismus ein.

Somit beherrscht die amerikanische Bourgeoisie drei Monate nach dem Aufbau der IFOR-Truppen die Lage ziemlich gut; sie hat die Steine aus dem Weg räumen können, die Frankreich und Großbritannien den USA in den Weg gelegt hatten. Von einem Epizentrum der Herausforderung der US-Vorherrschaft ist das ehemalige Jugoslawien zu einem Hebel für die Verteidigung der Führungsrolle der USA in Europa und im Mittelmeer geworden, d.h. in dem zentralen Teil des imperialistischen Schlachtfeldes. So wird die US-Präsenz in Ungarn eine Bedrohung darstellen für den traditionellen Einfluß des deutschen Imperialismus in Osteuropa. Es ist sicher kein Zufall, daß die Spannungen zwischen Bonn und Prag anläßlich der Sudetenfrage von den USA ausgenutzt werden, um eindeutig Position für Tschechien zu beziehen. Auch in einem Land wie Rumänien, ein traditioneller Verbündeter Frankreichs, werden die Auswirkungen des Einzugs der US-Truppen zu spüren sein.

Die Stärkeposition der USA, die sie im ehemaligen Jugoslawien haben aufbauen können, wurde schnell ersichtlich während der Spannungen in der Ägäis zwischen Griechenland und der Türkei. Washingtons Stimme war sehr schnell zu hören; sehr schnell haben die beiden Streithähne sich den Anordnungen Washingtons gebeugt, auch wenn der Streit weiterschwelt. Aber abgesehen von der Warnung an diese beiden Länder haben die USA die Ereignisse vor allem ausgenutzt, um die Machtlosigkeit der Europäischen Union gegenüber den Spannungen herauszustreichen, die direkt in ihrem Raum festzustellen sind, wodurch sie zur Schau stellen konnten, wer der wirkliche Herr im Mittelmeer ist. Dadurch wurde der Außenminister Englands sehr irritiert.

Aber während Europa der Hauptstreitpunkt für die Verteidigung der Vorherrschaft der USA darstellt, treten die USA weltweit für die Verteidigung ihrer Vorherrschaft ein. Der Mittlere Osten ist in dieser Hinsicht ein Gebiet, wo die USA bevorzugt manövrieren können. Trotz des von Frankreich initiierten Barcelona-Gipfels und seiner Versuche, wieder verstärkt Zugang zu finden zur Bühne im Mittleren Osten, trotz des Erfolgs für Frankreich, den die Wahl Zerouals in Algerien darstellte und trotz der Fußangeln, die Deutschland und Großbritannien in seinen Jagdgründen ausgelegt haben, haben die USA ihren Druck erhöht und wichtige Punkte im letzten Jahr erzielt. Indem sie die israelisch-palästinensischen Verhandlungen vorantrieben, deren Krönung der triumphale Wahlsieg Arafats in den palästinensischen Gebieten war, und indem sie die Dynamik ausnutzen, die durch den Mord an Rabin entstanden ist, um die Verhandlungen zwischen Syrien und Israel zu beschleunigen, verstärkt die erste Weltmacht ihre Kontrolle über diese Region - wobei das alles unter der Maske ‘pax americana’  geschieht und Druckmittel eingesetzt werden wie gegen den Iran, der sich immer noch gegen die US-Vorherrschaft im Mittleren Osten wehrt[iii] [73].

Nach einer vorübergehenden Teilberuhigung der Lage in Algerien nach der Wahl des finsteren Zeroual, ist dieser Flügel der algerischen Bourgeoisie, der mit dem französischen Imperialismus verbunden ist, wieder von neuem mit Attentaten konfrontiert, hinter denen sicherlich - verdeckt durch die ‘Islamisten’- die Hand der USA steckt.

Die USA und die Tendenz des jeder für sich

Die heftige Gegenoffensive der amerikanischen Bourgeoisie hat das imperialistische Kräfteverhältnis geändert, aber gleichzeitig wurde dieses nicht in seinem Innern geändert. Die USA haben beweisen können, daß sie die einzige weltweite Supermacht bleiben, und daß sie  nicht zögern, ihren gewaltigen Militärapparat überall dort einzusetzen, wo ihre Führungsrolle bedroht ist, womit jeder imperialistische Rivale Gefahr läuft, von der amerikanischen Reaktion getroffen zu werden. Auf dieser Ebene ist der Erfolg der USA vollständig und ihre Botschaft war überall zu hören. Aber trotz dieser Punktesiege für die USA haben diese  es jedoch nicht geschafft, das Phänomen auszulöschen, das diesen Einsatz letztendlich wirklich erforderlich macht: die  in den imperialistischen Beziehungen vorherrschende Tendenz, daß jeder für sich kämpft. Diese Tendenz wurde zeitweilig gebremst, aber keinesfalls zerschlagen; im Gegenteil sie beherrscht weiterhin die imperialistische Bühne, wird sie doch ständig vorangetrieben durch den Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft. Sie bleibt die vorherrschende Tendenz und zwingt jeden imperialistischen Rivalen der USA, diese offen oder listig und versteckt herauszufordern, obgleich es keinesfalls ein Gleichgewicht der Kräfte zwischen den USA und den Herausforderern gibt. Der Zerfall und das damit einhergehende Aufblühen des Militarismus, wo jeder gegen jeden kämpft, treiben dieses typische Merkmal des dekadenten imperialistischen Kapitalismus, die Irrationalität des Krieges auf die Spitze. Auf dieses Hindernis prallen die USA immer wieder, und weil sie der ‘Gendarm der Welt bleiben’ wollen, stoßen sie dabei auf immer mehr Schwierigkeiten.

Nachdem der Spielraum von Frankreich, Großbritannien und auch Deutschland im ehemaligen Jugoslawien stark eingeschränkt worden ist, werden diese versuchen, an anderer Stelle die US-amerikanische Führung anzukratzen und zu schwächen. Der französische Imperialismus ist besonders aktiv. Fast vollständig aus dem Mittleren Osten verjagt, versucht er nun mit allen Mitteln, in dieser strategisch höchst wichtigen Region erneut Fuß zu fassen. Sei es durch Intensivierung der Kontakte mit dem Irak, wo Frankreich Vermittlungsbemühungen zwischen dem Irak und der UNO in die Hand genommen hat und Krokodilstränen vergießt über die schrecklichen Folgen für die Bevölkerung des von den USA dem Irak aufgezwungenen Embargos, oder durch den verstärkten Einfluß im Jemen und in Quatar. Oder durch eine Vermittlerrolle zwischen Israel und Syrien sowie das Angebot der Stationierung von Truppen im Libanon, oder durch seine Machenschaften im Maghreb, wo er gegenüber Marokko und Tunesien sehr aktiv bleibt, gleichzeitig verteidigt er seine traditionelle Einflußsphäre in Schwarzafrika. 

Nachdem es nun Hilfe von seinem britischen Komplizen bekommt - dem es aus Dank zugestanden hat, daß Kamerun in das Commonwealth integriert wird - was vor Jahren noch undenkbar gewesen wäre - agiert Frankreich in Schwarzafrika von der Elfenbeinküste über Niger (wo es neulich den Staatsstreich unterstützt hat) bis Ruanda. Zynisch nutzt es die Flüchtlinge Ruandas aus, die dort von den USA vertrieben worden waren, und die nun in Flüchtlingslager in Zaire hausen, um das pro-amerikanische Regime in Ruanda zu destabilisieren.

Aber die beiden bedeutendsten Zeichen  der Entschlossenheit der französischen Bourgeoisie, um jeden Preis dem alles plattwalzenden Druck der USA zu widerstehen, war die neulich stattgefundene Reise Chiracs in die USA und der Beschluß einer radikalen Umwandlung der französischen Armee. Bei dem Treffen mit Clinton zollte Chirac der neuen imperialistischen Konstellation, die durch die amerikanische Demonstration der Stärke zustande gekommen war, Anerkennung. Trotzdem war es für ihn kein Gang nach Canossa. Denn der französische Präsident hat dort offen seinen Willen bekundet, daß der französische Imperialismus weiter eigenmächtig zu handeln beabsichtigt, als er die europäische Verteidigung lobte. Von der Erkenntnis ausgehend, daß es sehr schwer ist, sich offen der US-Vorherrschaft entgegenzustellen, hat die Chirac-Regierung eine neue, wirksamere Strategie eingeleitet.  Frankreich spielt jetzt die Rolle des Trojanischen Pferdes. Dies ist die Erklärung für den fast vollständigen Wiederbeitritt Frankreichs zur NATO. Von nun an  will Frankreich von innen her ‘die US-Ordnung’ untergraben. Der Beschluß der Schaffung einer Berufsarmee von 60.000 Mann mit weltweiten Einsatzmöglichkeiten ist weiterer Bestandteil dieser neuen Strategie und spiegelt die feste Entschlossenheit der französischen Bourgeoisie wieder, ihre Interessen auch gegenüber dem US-Gendarm zu verteidigen. Wir müssen hier einen wichtigen Punkt hervorheben: bei der Umsetzung dieser Taktik des Trojanischen Pferdes wie bei der Neuorganisierung seines Militärs zeigt Frankreich, daß es von Großbritannien gelernt hat. Großbritannien verfügt über lange Erfahrung bei dieser Strategie der ‘Verdrehung’. So verfolgte der britische Beitritt zum Gemeinsamen Markt das Hauptziel, diese Struktur von Innen her zu untergraben. Ebenso hat die britische Berufsarmee ihre Wirksamkeit unter Beweis gestellt, als sie mit geringeren Truppenzahlen während des Golfkriegs wie auch im ehemaligen Jugoslawien mehr Soldaten in Gang setzen konnte als Frankreich. Hinter dem lautstarken Aktivismus Chiracs verbirgt sich deshalb auf imperialistischer Ebene oft hinter den Kulissen britischer Einfluß. Die relativen Erfolge der französischen Bourgeoisie auf imperialistischer Bühne sind ohne Zweifel stark auf britische Ratschläge zurückzuführen, denn die britische Bourgeoisie ist weltweit die erfahrenste und hat diese in die enge Zusammenarbeit, die es seit kurzem mit Frankreich gibt, mit einfließen lassen.

Der Bruch der ältesten imperialistischen Allianz in diesem Jahrhundert, die zwischen England und den USA, zeigt das ganze Ausmaß der Tendenz des Jeder-für-sich sowie die Grenzen der amerikanischen Demonstration der Stärke. Trotz des gewaltigen Drucks, den die US-Bourgeoisie wegen des Verrates des ‘heimtückischen Englands’ ausübt, um England wieder willfähriger zu machen gegenüber dem alten Verbündeten und Blockführer, betreibt Großbritannien weiter die Politik des Abrückens von Washington, wie das wachsende Zusammenrücken mit Frankreich verdeutlicht, obgleich das Bündnis mit Frankreich auch gegen Deutschland gerichtet ist. Diese Politik wird nicht vollständig von der ganzen britischen Bourgeoisie geteilt, aber die Fraktion um Thatcher - die für die Aufrechterhaltung des Bündnisses mit den USA eintritt - bleibt im Augenblick nur eine Minderheit, und Major kann sich in dieser Hinsicht auf die volle Rückendeckung der Labour-Partei stützen. Dieser Bruch zwischen London und Washington wirft ein Licht auf die veränderte Lage, wie sie zur Zeit des Golfkrieges vorherrschte, als Großbritannien ein treuer Verbündeter Uncle Sams war. Dieses Ausreißen des ältesten und treuesten Verbündeten ist ein schmerzhafter Dorn im Fuß der ersten Weltmacht, die solch eine schwerwiegende Infragestellung ihrer Vorherrschaft nicht dulden kann. Deshalb benutzt Clinton die alte Irlandfrage, um den Verräter zur Rückkehr in die eigenen Reihen zu bewegen. Ende 1995 zögerte Clinton bei seiner triumphalen Reise  nach Irland nicht, die älteste Demokratie der Welt als eine ‘Bananenrepublik’ zu behandeln, als er offen und unverblümt Stellung für die irischen Nationalisten bezog und London einen amerikanischen Vermittler (Senator G. Mitchell) aufzwang. Nachdem der von ihm vorgeschlagene Plan von der britischen Regierung verworfen wurde, ist Washington zum nächsten Schritt übergegangen und hat die Waffe des Terrorismus eingesetzt, als die IRA wieder Attentate verübte. Die IRA ist mittlerweile zur rechten Hand der USA für die Durchsetzung deren Belange auf britischem Boden  geworden. Dies zeigt wie entschlossen die amerikanische Bourgeoisie ist, vor keinem Mittel zurückzuschrecken, um ihrem alten Gehilfen eins auszuwischen. Aber der Einsatz der Waffe des Terrorismus legt gleichzeitig das ganze Ausmaß des Grabens bloß, der mittlerweile zwischen den ehemaligen Verbündeten besteht und das unglaubliche Chaos, das heute in den imperialistischen Beziehungen zwischen den Mitgliedern des ehemaligen westlichen Blocks hinter der Fassade der ‘unzerbrechlichen Freundschaft’ zwischen den großen Demokratien auf beiden Seiten des Atlantiks vorherrscht. Im Augenblick sieht es so aus, daß der Druck des ehemaligen Blockführers nur den Widerstand des britischen Imperialismus verstärkt hat, auch wenn die USA noch nicht alle Mittel eingesetzt haben und alles unternehmen werden, um das Blatt wieder zu wenden.

Die Entwicklung des Jeder-für-sich, gegen die der US-Gendarm überall stößt, ist in der jüngsten Zeit in Asien in eine neue spektakuläre Stufe eingetreten; man kann gar sagen, daß die USA vor einer neuen Front stehen. So ist Japan ein immer weniger unterwürfiger Alliierter, denn nachdem es jetzt von der Zwangsjacke der Militärblöcke befreit ist, strebt es danach, einen imperialistischen Rang einzunehmen, der seiner Wirtschaftsmacht mehr entspricht; deshalb Japans Forderung nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat der UNO.

Die Demos gegen die US-amerikanische Präsenz auf Okinawa, die Ernennung eines neuen japanischen Premierministers, der für seine anti-amerikanischen Bestrebungen und seine nationalistische Haltung bekannt ist, zeigen, daß Japan die US-Vorherrschaft immer weniger hinnehmen und seine eigenen imperialistischen Ambitionen durchsetzen will. Die Folge wird die Destabilisierung einer Region sein, wo viele Souveränitätskonflikte latent sind, wie z. B. der zwischen Südkorea und Japan um die Insel Tokdo. Aber die neue Aggressivität Chinas gegenüber Taiwan zeigt am deutlichsten die Entwicklung der Spannungen in diesem Teil der Welt. Abgesehen von innenpolitischen Motiven der chinesischen Bourgeoisie, die vor dem Problem der delikaten Nachfolgeregelung nach dem Tod von Deng Tsiao Ping steht,  zeigt diese Haltung des chinesischen Imperialismus vor allem auf, daß er jetzt bereit ist, seinen ehemaligen Blockführer, die USA herauszufordern, um seine eigenen imperialistischen Ansprüche zu stellen. So hat China deutlich die vielen Warnungen Washingtons in den Wind geschlagen und damit die Verbindungen mit den USA gelockert, wodurch diese gezwungen wurden, erneut ihre Muskel spielen zu lassen, indem sie eine Armada in die Meerenge von Formosa schickten. Auf dem Hintergrund der Zuspitzung der imperialistischen Spannungen und der offenen Infragestellung der Vorherrschaft der USA in Asien, muß man die Annäherung zwischen Paris und Beijing nach der Reise des französischen Verteidigungsministers und der Einladung an Li Peng sehen, sowie die Abhaltung des ersten europäisch-asiatischen Gipfels in Thailand Anfang März. Während es natürlich ökonomische Gründe für solch einen Gipfel gibt, versucht die Europäische Union vor allem in die Jagdgründe Uncle Sams vorzudringen und einen dritten Pol im Dreieck Europa-Asien-Amerika aufzubauen, unabhängig von den tiefgreifenden Spaltungen, die es innerhalb der EU selber gibt.

Ungeachtet der entschlossenen Betonung ihrer Vorherrschaft stoßen die USA immer wieder auf die Tendenz des Jeder-für-sich. Dadurch wird die Führungsrolle der USA bedroht, wodurch die USA gezwungen sind, immer mehr zur offenen Gewalt zu greifen, womit der Gendarm selber zu einer Haupttriebfeder der Verbreitung des Chaos wird, das er ursprünglich bekämpfen wollte. Dieses Chaos, das durch den weltweiten Zerfall des Kapitalismus hervorgerufen wird, wird auf der ganzen Welt noch mehr zerstörerisch und mörderisch wirken.

Die deutsch-französische Allianz auf dem Prüfstand

Nicht nur die Vormachtstellung der USA wird herausgefordert, auch die Tendenz zur Bildung neuer imperialistischer Blöcke wird durch den Kampf des Jeder-für-sich behindert. Dies wird anhand starken Turbulenzen der deutsch-französischen Allianz deutlich.

Der Marxismus hat immer hervorgehoben, daß ein zwischenstaatliches imperialistisches Bündnis nichts mit einer Liebesheirat zu tun hat oder mit einer wirklichen Freundschaft zwischen Völkern. Das einzige Leitmotiv eines solchen Bündnisses, den jedes Mitglied unter allen Umständen für sich durchsetzen will, ist soviel wie möglich Nutzen aus solch einem Bündnis zu ziehen. All das trifft voll auf den ‘europäischen Motor’ zu, den das deutsch-französische Paar sein wollte und liefert die Erklärung dafür, daß vor allem Frankreich von Deutschland abrückt. In der Tat wurde das Bündnis zwischen beiden Staaten nie auf beiden Seiten des Rheins mit den gleichen Augen gesehen.

Deutschland hat als führende wirtschaftliche Großmacht ein Interesse an einem militärischen Bündnis mit der europäischen Nuklearmacht Frankreich, da es selbst noch militärisch gehandikapt ist. Ein Bündnis mit England als Militärmacht ist trotz dessen Bruch mit den USA ausgeschlossen, da es Erzfeind Deutschlands ist. In der Vergangenheit hat England immer gegen die deutsche Vorherrschaft in Europa angekämpft, und die Wiedervereinigung und das damit gewachsene Gewicht des deutschen Imperialismus in Europa haben seine Entschlossenheit nur gestärkt, sich jeder deutschen Führung auf dem Kontinent entgegenzustellen.

Während Frankreich gezögert hat, Widerstand gegen den deutschen Imperialismus zu zeigen, denn beispielsweise neigten in den 30er Jahre einige Fraktionen der französischen Bourgeoisie dazu, ein Bündnis mit Berlin einzugehen, hat sich Großbritannien jeder imperialistischen Konstellation entgegengestellt, in der Deutschland führend war. Angesichts dieses historischen Interessensgegensatzes hat die deutsche Bourgeoisie keine andere Wahl in Westeuropa, und sie fühlt sich um so wohler im Bündnis mit Frankreich, da sie gegenüber diesem in einer Stärkeposition steht. Deshalb übt Deutschland auf Frankreich Druck aus, damit es an seiner Seite bleibt.

Für die französische Bourgeoisie sehen die Dinge anders aus, denn für sie war ein Bündnis mit Deutschland vor allem ein Versuch der Kontrolle Deutschlands, in der Hoffnung damit an der Führungsrolle in Europa teilzuhaben.  Deutschlands Vorstöße auf dem Balkan sowie sein allgemeines Erstarken haben die Mehrheit der französischen Bourgeoisie eines Besseren belehrt, denn sie sieht nun das Gespenst eines ‘Großdeutschland’ aufziehen, das durch die Erinnerung an drei verlorene Kriege gegenüber einem zu mächtigen deutschen Gegner genährt wird.

In einer gewissen Weise fühlt sich die französische Bourgeoisie ausgetrickst, und deshalb hat sie die Bindungen zu Deutschland gelockert, denn die Schwächen Frankreichs als historisch absteigende Macht wurden dadurch verstärkt. Solange Großbritannien den USA treu blieb, war der Spielraum des französischen Imperialismus sehr begrenzt, denn er mußte die deutsche Expansion eindämmen und versuchen ihn innerhalb des Bündnisses zu binden.

Das Vordrängen Deutschlands im ehemaligen Jugoslawien über die kroatischen Häfen hin zum Mittelmeer hat die von Mitterand verfolgte Politik gegenüber Deutschland scheitern lassen, und sobald Großbritannien die privilegierten Beziehung zu Washington aufgebrochen hat, hat die französische Bourgeoisie diese Gelegenheit ausgenutzt, um klar von Deutschland abzurücken. Die Annäherung an London, die von Balladur eingeleitet und von Chirac noch ausgebaut wurde, hat im französischen Imperialismus die Hoffnung aufkommen lassen, wirksamer die deutsche Expansion eindämmen und gleichzeitig stärker dem US-Gendarmen Widerstand leisten zu können. Aber während diese neue Version der ‘Entente Cordiale’ (herzliches Bündnis) der Bund der Kleinen gegen die beiden Großen (USA und Deutschland) ist, darf man sie nicht unterschätzen. Auf militärischer Ebene handelt es sich auf konventioneller und mehr noch auf nuklearer Ebene um eine bedeutende Macht. Auf politischer Ebene ebenso; die große Erfahrung der englischen Bourgeoisie - Erbschaft ihrer früheren jahrelangen Weltherrschaft wird die Möglichkeiten der beiden zweitrangigen Gangster vergrößern, ihre Haut sowohl gegenüber Washington wie gegenüber Bonn so teuer wie möglich zu verkaufen. Auch wenn man jetzt noch kein Urteil fällen kann über die Dauer dieses neuen imperialistischen Bündnis am Ärmelkanal, das jetzt schon dem starken Druck der USA und Deutschlands ausgesetzt ist, gibt es eine Reihe von Faktoren, die zugunsten einer gewissen Dauer und Solidität der französisch-britischen Annäherung wirken. Beide Staaten sind historisch absteigende ehemalige große Kolonialmächte, die beide von der Supermacht USA und der europäischen Großmacht Deutschland bedroht werden, was  bei ihnen gemeinsame Interessen schafft. Deshalb arbeiten Frankreich und Großbritannien in Afrika aber auch im Mittleren Osten stärker zusammen, während sie bis vor kurzem noch Rivalen waren, ganz abgesehen von ihrer exemplarischen Abstimmung im ehemaligen Jugoslawien. Aber der Faktor, der der französisch-britischen Achse am meisten Stabilität verleiht, ist der, daß beide etwa gleich starke Staaten sind, sowohl wirtschaftlich wie auch militärisch, weshalb keiner von ihnen zu fürchten braucht, von dem anderen geschluckt zu werden, was von großer Bedeutung ist im Verhältnis der imperialistischen Haie untereinander.

Diese wachsende enge Abstimmung zwischen Frankreich und Großbritannien kann nur zu einer bedeutsamen Schwächung des Bündnisses zwischen Frankreich und Deutschland führen. Während diese Abschwächung teilweise auch den USA zugunsten kommt, indem die Perspektive eines von Deutschland beherrschten Blocks in weite Ferne rückt, richtet sie sich gegen die Interessen Deutschlands. Während die radikale Umorientierung der Armee und der französischen Rüstungsindustrie, die von Chirac beschlossen wurde, die Fähigkeit der französischen Bourgeoisie widerspiegelt, die Lehren aus dem Golfkrieg und aus den Tiefschlägen des Jugoslawienkrieges zu ziehen, um sich auf die neue Situation der Verteidigung der weltweiten imperialistischen Bedürfnisse einzustellen, richtet sich diese Umorientierung auch direkt gegen Deutschland.

- Trotz der Erklärungen von Chirac, derzufolge alles in enger Absprache mit Bonn geschehe, wurde die deutsche Bourgeoisie vor vollendete Tatsachen gestellt; Frankreich hat seine Beschlüsse Deutschland nur mitgeteilt und zu verstehen gegeben, daß sie unwiderruflich seien;

- Es handelt sich sehr wohl um eine tiefgreifende Umorientierung der französischen imperialistischen Politik. Das hat auch der deutsche Verteidigungsminister verstanden, als er erklärte ‘im Gegensatz zu Deutschland setzt  Frankreich seine Prioritäten außerhalb des Zentrums von Europa’[iv] [73].

- Durch die Aufstellung einer Berufsarmee und die Ausrichtung auf den Aufbau von weltweit einsetzbaren Kräften bringt Frankreich zum Ausdruck, daß es gegenüber Deutschland eigenständig handeln will und bessere Bedingungen für eine gemeinsame Intervention mit Frankreich sucht. Während die Bundeswehr eine Wehrpflichtarmee ist, wird die französische Armee nunmehr nach dem englischen Modell ausgerichtet und stützt sich auf Berufssoldaten.

- Schließlich wird das Eurokorps, das bislang das klassische Symbol der deutsch-französischen Allianz war, durch diese Umorganisierung direkt bedroht. Der Verteidigungssprecher der innerhalb der französischen Bourgeoisie vorherrschenden Gruppe des RPR hat dann auch schon die Auflösung des Eurokorps gefordert.

All das zeigt die Entschlossenheit der französischen Bourgeoisie, sich von Deutschland zu lösen, aber man darf die zwischen England und den USA eingetretene Scheidung nicht auf die gleiche Stufe stellen wie die deutliche Schwächung des Bündnisses zwischen Frankreich und Deutschland. Zunächst wird Deutschland gegenüber dem rebellischen Verbündeten Frankreich nicht tatenlos bleiben. Es verfügt über wichtige Mittel, um auf Frankreich Druck auszuüben, sei es nur durch die Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Staaten, denn Deutschland kann seine Wirtschaftsstärke in die Waagschale werfen. Aber hauptsächlich die Lage Frankreichs selber wird es für Frankreich außerordentlich schwer machen, einen vollständigen Bruch mit Deutschland zu vollziehen. Der französische Imperialismus wird von Deutschland und den USA in die Klemme genommen und dem Druck der beiden ausgesetzt. Als mittlere Großmacht ist er trotz der Hilfe, die er durch das Bündnis mit London erfährt, dazu gezwungen, sich vorübergehend auf eine der beiden Großmächte zu stützen, um besser dem Druck der anderen Großmacht zu widerstehen - er muß also auf mehreren Ebenen handeln. Auf dem Hintergrund des wachsenden Chaos, das durch den Zerfall hervorgerufen wird, wird dieses Vorgehen auf zwei oder drei Ebenen, um ein Bündnis mit einem Feind oder Rivalen einzugehen, um dem anderen besser zu widerstehen, immer häufiger zu sehen sein. Deshalb haben Frankreich und Deutschland bestimmte imperialistische Verbindungen weiter aufrechterhalten. So unterstützen sich manchmal die beiden Haie im Mittleren Osten, um gemeinsam in die Jagdgründe der USA vorzudringen; auch in Asien findet phasenweise das gleiche statt. Auch wurde ein gemeinsames Projekt von militärischen Aufklärungssatelliten Helios unterzeichnet, das zum Ziel hat, die Vorherrschaft der USA in diesem für den modernen Krieg so wichtigen Bereich zu brechen (Clinton hat das klar erkannt, als er den Direktor der CIA nach Bonn schickte, um den Abschluß dieses Abkommens zu verhindern). Das gleiche trifft für den gemeinsamen Bau von Raketen zu. Während das Interesse Deutschlands an der Fortsetzung der Zusammenarbeit im Bereich der fortgeschrittenen Technologie offensichtlich ist, kommt dies auch französischen Interessen entgegen. Denn Frankreich weiß, daß es nicht mehr allein für die immer teureren Projekte aufkommen kann, und während sich die Zusammenarbeit mit England aktiv weiterentwickelt, bleibt diese dennoch im Augenblick wegen der engen Abhängigkeit Großbritanniens von den USA noch beschränkt, insbesondere im nuklearen Bereich. Darüber hinaus nimmt in diesem Bereich Frankreich gegenüber Deutschland eine Stärkeposition ein. Bei dem Satellitenprojekt hat es Deutschland erpreßt: wenn Bonn sich weigern würde dabei mitzumachen, würde die Hubschrauberproduktion eingestellt, die Aktivitäten in der Gruppe Eurocopter beendet.

Je mehr das kapitalistische System zerfällt, desto größer wird das Chaos bei den imperialistischen Beziehungen; die solidesten und ältesten Allianzen werden untergraben, der Krieg des Jeder gegen Jeden angeheizt. Der Rückgriff auf nackte Gewalt seitens der größten Weltmacht erweist sich nicht nur als hilflos, um dieses Chaos einzudämmen, sondern wird zu einem dieses Chaos beschleunigend Faktor. Die einzigen Gewinner dieser höllischen Spirale sind der Militarismus und der Krieg, die wie ein Moloch immer mehr Opfer fordern, um ihren Appetit zu stillen. Sechs Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, als angeblich eine ‘Ära des Friedens’ anbrechen sollte, bleibt die einzige Alternative mehr als je zuvor die, welche von der Kommunistischen Internationale auf ihrem Gründungskongreß 1919 aufgezeigt wurde: Sozialismus oder Barbarei.        RN 10.03.96

 

 



[i] [73] Der Rückgang der Rüstungsausgaben, der eine ‘Friedensdividende’ hätte hervorrufen sollen, stellt keine wirkliche Abrüstung dar wie in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg, sondern ist im Gegenteil nichts anderes als eine gigantische Neuorientierung der Militärapparate auf dem Hintergrund der neuen imperialistischen Konstellation, die durch die unglaubliche Entwicklung des Jeder-für-sich entstanden ist. 

[ii] [73] Die USA haben nicht gezögert, sich mittels Kroatien taktisch auf Deutschland zu stützen.  

[iii] [73] Ungeachtet dessen, wer die Auftraggeber waren, nützt die Reihe mörderischer Attentate in Israel den Rivalen der USA. Die USA  haben auch sofort auf Iran als den Schuldigen gezeigt und die europäischen Staaten dazu aufgerufen, mit ‘diesem terroristischen Staat’ alle Verbindungen abzubrechen. Die USA, die die Waffe des Terrors sonst genauso  skrupellos einsetzen und die selbst Drahtzieher der Terroranschläge von Algerien, London und Paris waren, hindert sie natürlich nicht daran, solche Aufrufe zu machen. Der Terrorismus, früher die klassische Waffe der Schwachen, wird heute mehr und mehr von den Großmächten selber eingesetzt. Ein typisches Beispiel des Aufblühens des Militarismus und Chaos. 

[iv] [73] Hinsichtlich des angestrebten zukünftigen Europas hat sich Frankreich klar von der von  Deutschland vertretenen föderalistischen Auffassung abgrenzt, und nähert sich der Auffassung von Großbritannien.

 

Theoretische Fragen: 

  • Imperialismus [63]

Klassenkampf: Das Wiedererstarken der Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse

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Jeden Tag wird die Barbarei deutlicher, in der der Kapitalismus versinkt

‘Mehr als je zuvor stellt der Kampf des Proletariats die einzige Hoffnung für die Zukunft der Menschheit dar. Diese Kämpfe, die Ende der 60er Jahre mit großer Wucht ausgebrochen waren und die schrecklichste Konterrevolution, unter der die Arbeiterklasse zu leiden gehabt hatte, beendeten, sind in einen umfangreichen Rückfluß nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime, den damit verbundenen ideologischen Kampagnen und Ereignissen (Golfkrieg, Balkankrieg usw.) eingetreten. Der massive Rückfluß war auf zwei Ebenen deutlich zu spüren: auf der Ebene der Kampfbereitschaft und des Klassenbewußtseins, ohne daß dies jedoch gleichzeitig - wie die IKS schon damals hervorhob - den historischen Kurs hin zu Klassenzusammenstößen umgeschmissen hat. Die in den letzten Jahren vom Proletariat geführten Kämpfe haben dies bestätigt. Sie haben insbesondere seit 1992 die Fähigkeit des Proletariats unter Beweis gestellt, den Weg des Klassenkampfes wieder einzuschlagen, womit bestätigt wurde, daß der historische Kurs nicht umgekehrt wurde. Diese Kämpfe haben jedoch auch die großen Schwierigkeiten der Klasse aufgrund der Tiefe und des Ausmaßes des Rückflusses aufgezeigt. Die Arbeiterkämpfe entwickeln sich mit Fort- und Rückschritten in einer auf- und ab Bewegung’. (Resolution zur Internationalen Situation,11. Kongreß der IKS, Frühjahr 1995, Internationale Revue Nr. 16, S. 8).

Die Streiks und Demonstrationen der Arbeiter, die Ende 1995 Frankreich erschütterten, haben dies erneut verdeutlicht: die Fähigkeit des Proletariats, den Weg des Klassenkampfes weiter einzuschlagen, aber auch die gewaltigen Schwierigkeiten der Arbeiterklasse auf diesem Weg sind deutlich geworden. In der letzten Ausgabe der International Review Nr. 84 (engl./franz./ span. Quartalsausgabe) haben wir schon eine erste Einschätzung der Bewegung geliefert:

‘ Tatsächlich ist die Arbeiterklasse in Frankreich zur Zielscheibe eines großen Manövers geworden, wo das Bewußtsein und die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse angeschlagen werden sollen. Dieses Manöver richtet sich auch gegen die Arbeiterklasse der anderen Ländern, damit sie die falschen Lehren aus den Ereignissen in Frankreich ziehen...

Diesen Angriffen des Kapitals gegenüber dürfen die Arbeiter nicht passiv bleiben. Sie müssen sich im Kampf wehren. Aber um zu verhindern, daß die Arbeiterklasse den Kampf mit ihren eigenen Waffen  aufnimmt, hat die Bourgeoisie die Initiative ergriffen und die Arbeiter dazu gedrängt, vorzeitig und verfrüht in den Kampf zu treten, wobei die Gewerkschaften eine vollständige Kontrolle über die Kämpfe ausüben. Die Bourgeoisie hat den Arbeitern nicht die Zeit gelassen, sich gemäß ihres eigenen Rhythmus und mit ihren eigenen Mitteln zu organisieren...

Die in Streikbewegung in Frankreich zeigt zwar eine tiefgreifende Unzufriedenheit in der Arbeiterklasse auf, sie ist aber vor allem das Ergebnis eines großen Manövers der Bourgeoisie, das darauf abzielt, den Arbeitern eine massive Niederlage beizufügen und vor allem eine tiefgreifende Desorientierung zu bewirken’ (Internationale Revue Nr. 84, ‘Hinter den Gewerkschaften zu kämpfen führt in die Niederlage’).

Die Wichtigkeit der Ereignisse in Frankreich Ende 1995

Die Tatsache, daß die Streikbewegung Ende 1995 in Frankreich im wesentlichen das Ergebnis eines Manövers der Bourgeoisie ist, darf deren Bedeutung jedoch nicht schmälern und auch nicht zu der Schlußfolgerung verleiten, daß die Arbeiterklasse nur eine Schafherde wäre, die von der herrschenden Klasse umhergetrieben werden könnte. Insbesondere widerlegen diese Ereignisse all die Theorien vom ‘Verschwinden’ der Arbeiterklasse sowie anderer Varianten dieser Art, die vom ‘Ende der Arbeiterkämpfe’ sprechen (dies ist die ‘linke’ Version der Theorien) oder von der ‘Neuzusammensetzung’ der Arbeiterklasse, wodurch die Kampffähigkeit untergraben wäre (Internationale Revue Nr. 14 & 15).

Das wirkliche Potential der Arbeiterklasse in der jetzigen Zeit wird deutlich durch das Ausmaß der Streiks und Demonstrationen im Nov.-Dez. 1995: Hunderttausende Streikende, mehrere Millionen Demonstranten. Aber man darf es nicht bei dieser Feststellung belassen. Denn letztendlich gab es auch in den 30er Jahren Bewegungen mit einem zahlenmäßig großen Ausmaß wie die Streiks im Mai-Juni 1936 in Frankreich oder der Arbeiteraufstand in Spanien gegen den faschistischen Staatsstreich am 18. Juli 1936. Was die Bewegung heute grundsätzlich von den früheren unterscheidet, ist daß die Bewegung in den 30er Jahren ein Teil einer langen Reihe von Niederlagen der Arbeiterklasse nach der revolutionären Welle  waren, die während des 1. Weltkriegs entstanden war. Diese Niederlagen hatten die Arbeiterklasse in die tiefste Konterrevolution ihrer Geschichte gestürzt. Auf diesem Hintergrund der physischen und vor allem politischen Niederlagen des Proletariats konnten die Ausdrucke an Kampfbereitschaft leicht von der herrschenden Klasse auf das Terrain des Antifaschismus abgeleitet werden, d.h. auf das Terrain der Vorbereitung des zweiten imperialistischen weltweiten Abschlachtens. Wir gehen hier nicht näher auf unsere Analyse des historischen Kurses ein, da wir in unserer Internationalen Revue Nr. 5 ausführlich unsere Auffassung dazu dargestellt haben, aber wir wollen hier klar unterstreichen, daß wir heute nicht in der gleichen Situation stecken wie in den 30er Jahren. Die gegenwärtigen Mobilisierungen der Arbeiterklasse sind keineswegs ein Augenblick der Vorbereitungen des imperialistischen Krieges, sondern können nur verstanden werden als ein Teil der Perspektive der entscheidenden Klassenzusammenstöße gegen den Kapitalismus, der keine Ausweg aus der Krise weiß.

Aber die herausragende Bedeutung der Bewegung in Frankreich ist nicht so sehr auf die Streiks und die Demos selber zurückzuführen, sondern auf das Ausmaß des Manövers der Bourgeoisie, das tatsächlich dahinter steckte.

Oft kann man das wirkliche Kräfteverhältnis zwischen den Klassen messen, wenn man untersucht, wie die Bourgeoisie gegenüber der Arbeiterklasse handelt. Die herrschende Klasse verfügt über eine Reihe von Mitteln zur Einschätzung dieses Kräfteverhältnisses: Meinungsumfragen, Polizeiuntersuchungen (in Frankreich z.B. hat der Verfassungsschutz, d.h. die politische Partei, zur Aufgabe, in den entsprechenden Bevölkerungsgruppen die Temperatur zu messen, insbesondere in den Reihen der Arbeiterklasse). Aber das wichtigste Instrument ist der Gewerkschaftsapparat, der noch viel wirksamer ist als die Soziologen der Meinungsforschungsinstitute oder die Polizisten. Seine Funktion besteht darin, für die Überwachung und Kontrolle der Ausgebeuteten im Dienste des Kapitals zu sorgen. Dabei verfügen sie über mehr als 80 Jahre Erfahrung, sind besonders wachsam gegenüber allen Regungen in der Klasse, spüren den Willen und Fähigkeit der Arbeiter zum kämpfen gegen die Bourgeoisie. Dieser Gewerkschaftsapparat hat zur Aufgabe, die Führer der Bourgeoisie und die Regierung über die Gefahrengrad des Klassenkampfes auf dem laufenden zu halten. Zu diesem Zweck dienen die regelmäßigen Treffen zwischen Gewerkschaftsführern und Firmenchefs und Regierung: sich abzustimmen, um gemeinsam die beste Strategie der Bourgeoisie für deren Angriffe gegen die Arbeiterklasse mit der höchsten Wirkung auszuarbeiten. Der Umfang und die Spitzfindigkeit der gegen die Arbeiterklasse organisierten Manöver alleine schon reichen aus, um aufzuzeigen, in welchem Maße der Klassenkampf, die Perspektive von gewaltigen Reaktionen der Arbeiter, heute die zentrale Sorge der Bourgeoisie darstellen.

Die Manöver der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse

In unserem Artikel zu den Streiks in der Internationalen Revue Nr. 84 (engl./franz./span. Quartalsausgabe) haben wir im Einzelnen die verschiedenen Aspekte der Manöver beschrieben  und wie alle Teile der herrschenden Klasse daran mitgewirkt haben, von dem rechten bis zum extrem-linken Flügel. Wir wollen hier nur die Haupteigenschaften in Erinnerung rufen:

- seit dem Sommer 1995 eine ganze Lawine von Angriffen aller Art (von brutalen Steuererhöhungen bis zu einer Teilabschaffung der Pensionierungsregelungen im öffentlichen Dienst, Blockierung der Löhne im öffentlichen Dienst, alles das gekrönt durch einen ‘Reformplan’ der Sozialversicherung, der ‘Juppé-Plan’ sollte die Sozialversicherungsbeiträge erhöhen und die Erstattungen im Krankheitsfall reduzieren,

- eine wahre Provokation gegen die Eisenbahner durch einen zwischen dem Staat und den Eisenbahnen SNCF ausgeheckten Plan, wodurch das Pensionsalter um 7 Jahre gestreckt und Tausende von Arbeitsplätze gestrichen werden sollten;

- die Eisenbahner sollten als ‘Beispiel’ eingesetzt werden, dem die anderen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes folgen sollten: im Gegensatz zu ihrer üblichen Praxis der Isolierung der Kämpfe, treten die Gewerkschaften emsig für deren Ausdehnung ein und schaffen es, zahlreiche Arbeiter zum Eintritt in den Streik zu bewegen, insbesondere im Verkehrswesen, bei der Post, im Bereich Strom und Gas, in den Schulen und bei den Finanzämtern,

- permanente Berichterstattung über die Streiks in den Medien; sie werden als positiv dargestellt; es werden sog. Intellektuelle gezeigt, die Erklärungen zugunsten dieses ‘Erwachens der Gesellschaft gegen das Einheitsdenken’ abgeben,

- der extrem-linke Flügel des Kapitals leistet einen wichtigen Beitrag zum Manöver, sie unterstützen die Haltung der Gewerkschaften, denen sie nur vorwerfen, nicht früher so gehandelt zu haben;

- eine unnachgiebige Haltung in einer ersten Phase seitens der Regierung, die mit Hochmut die Aufrufe der Gewerkschaften zu Verhandlungen ablehnt; die Arroganz und der Dünkel des Premierministers Juppé, ein unsympathischer  und unpopulärer Mensch, liefert Nahrung für die ‘kämpferischen’ und radikalen Reden der Gewerkschaften,

- dann nach drei Wochen Streik Nachgeben der Gewerkschaften bei den Eisenbahnen und Fallenlassen der Pensionierungspläne bei den Beamten; die Gewerkschaften reden von Sieg und dem ‘Rückzug’ der Regierung; trotz des Widerstands einiger ‘Hartnäckiger’ nehmen die Eisenbahner wieder die Arbeit auf, und läuten das Ende der Streiks in den anderen Bereichen ein.

Insgesamt hat die Bourgeoisie einen Sieg errungen, da sie die wesentlichen Angriffe durchgesetzt hat, die gegen alle Arbeiter gerichtet sind, wie Steuererhöhung und Reform der Sozialversicherung wie auch Lohnstop der staatlichen Beschäftigten. Aber der größte Sieg der Bourgeoisie ist ein politischer: die Arbeiter, die drei Wochen lang gestreikt haben, sind nicht bereit, erneut in solch eine Streikbewegung zu treten, wenn es neue Angriffe hageln wird. Darüber hinaus haben diese Streiks und Demonstrationen vor allem dazu gedient, daß die Gewerkschaften ihr Image wesentlich verbessern. Während den Gewerkschaften in Frankreich früher der Ruf anhaftete, für die Zerstreuung der Streiks verantwortlich zu sein, nutzlose Aktionstage durchzuführen und Spaltung zu betreiben, sind sie (hauptsächlich die beiden großen Gewerkschaften CGT, die von Stalinisten angeführt wird, und FO, die von Anhängern der Sozialistischen Partei kontrolliert wird)   während der ganzen Bewegung aufgetreten als diejenigen, ohne die die ganze Bewegung nie zustande gekommen wäre, ohne die es keine massive Demonstration gegeben hätte und ohne die die Regierung ‘nie nachgegeben’ hätte. Wie wir in unserer vorherigen Ausgabe der International Revue Nr. 84 schrieben. ‘Diese Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften war für die Bourgeoisie ein grundlegendes Ziel, eine unabdingbare Vorbedingung für die Durchführung der zukünftigen Angriffe, die noch brutaler als die heutigen sein werden. Nur wenn die Gewerkschaften über eine größere Glaubwürdigkeit als heute verfügen, kann die Bourgeoisie hoffen, daß die Abwehrkämpfe der Arbeiter, die gegen diese Angriffe entstehen werden, von den Gewerkschaften sabotiert werden’.

Die große Bedeutung, die die herrschende Klasse der Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften zuordnet, trat nach dem Ende der Bewegung deutlich zutage. Insbesondere in der Presse war große die Rede vom ‘Come back’ der Gewerkschaften. In einem der vertraulichen Mitteilungsblätter der Bourgeoisie, in denen einigermaßen ‘offen’ gesprochen wird, kann man dazu lesen: ‘Eines der klarsten Zeichen dieser Rückkehr der Gewerkschaften ist das Verschwinden der Koordinationen. Man hatte sie als ein Ausdruck der Tatsache verstanden, daß die Gewerkschaften die Arbeiter nicht mehr ausreichend vertreten. Daß diese Koordinationen diesmal nicht wieder in Erscheinung getreten sind, zeigt wie stark die Gewerkschaften sich bemüht haben, ‘in Kontakt mit den Arbeitern bleiben’ und eine Gewerkschaftsarbeit zu betreiben, die eine echten Einfluß in den Reihen der Arbeiter ermöglicht (Enteprise et Personnel, ‘Le conflit social de fin 1995 et ses conséquences probables’). Und dieses Mitteilungsblatt zitiert mit Freuden eine Erklärung des Chefs einer Privatfirma, der mit Erleichterung meinte: ‘Jetzt haben wir endlich wieder starke Gewerkschaften’.

 

Was das revolutionäre Milieu nicht versteht

Wenn man feststellt, daß die Bewegung Ende 1995 in Frankreich vor allem ein sorgfältig vorbereitetes Manöver war, das von allen Teilen der herrschenden Klasse geplant und umgesetzt wurde, heißt das nicht, daß man die Fähigkeiten der Arbeiterklasse, dem Kapital in großen Klassenkämpfen entgegenzutreten, verwirft; im Gegenteil. Gerade indem man erkennt, welche gewaltigen Mittel die herrschende Klasse zum Einsatz bringt, um vorbeugend gegenüber zukünftigen Kämpfen des Proletariats zu handeln, kann man ableiten, wie stark die herrschende Klasse wegen dieser Perspektive  besorgt ist.  Aber dazu ist es notwendig, die von der Bourgeoisie inszenierten Manöver zu erkennen. Während die Arbeitermassen es nicht geschafft haben, dieses Manöver zu durchschauen, denn es war sehr geschickt aufgezogen worden,  sind aber auch diejenigen getäuscht worden, deren Hauptverantwortung es ist, all die Angriffe gegen die Ausgebeuteten, die die Ausbeuter im Schilde führen, zu entblößen: die kommunistischen Organisationen. So schrieben die Genossen von Battaglia Comunista (BC) in ihrer Dezember-Ausgabe ihrer Zeitung: ‘Die Gewerkschaften sind von der entschlossenen Reaktion der Arbeiter gegen die Regierungspläne auf dem falschen Fuß erwischt worden’.

Hier handelt es sich um keine überstürzte Einschätzung von BC, die auf unzureichende Informationen zurückzuführen wäre, denn in der Jan. Nummer ihrer Zeitung schreibt BC erneut:

‘ Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes haben sich spontan gegen den Juppé-Plan mobilisiert. Und wir erinnern daran, daß die ersten Demonstrationen der Arbeiter auf dem Boden der unmittelbaren Verteidigung der Klasseninteressen stattfanden, wobei die Gewerkschaften überrascht wurden. Damit wurde erneut bewiesen, wenn das Proletariat sich in Bewegung setzt, um sich gegen die Angriffe der Bourgeoisie zu verteidigen,  tut es dies  immer außerhalb und gegen den Widerstand der Gewerkschaften. Erst in einer zweiten Stufe sind die französischen Gewerkschaften, vor allem Force Ouvrière und die CGT auf den fahrenden Zug aufgesprungen und haben so versucht, ihre Glaubwürdigkeit in den Augen der Arbeiter wiederzuerlangen. Aber die scheinbar radikale Haltung von Force Ouvrière und anderer Gewerkschaften verdeckte die ‘kleinbürgerlichen Interessen’ der Gewerkschaftsbürokratie, die man nur begreifen kann, wenn man das französische Sozialversicherungssystem kennt (wo die Gewerkschaften, insbesondere Force Ouvrière zu den Mittelverwaltern gehören, was gerade vom Juppé-Plan infragestellt wird).

Dies ist ungefähr die gleiche These, die man bei der Schwesterorganisation von BC im IBPR findet, nämlich bei der CWO. In ihrer Zeitschrift ‘Revolutionary Perspectives’ Nr. 1, 3. Serie, schreiben die Genossen: ‘Die Gewerkschaften, insbesondere FO, die CGT und die CFDT[i] [74] stellten sich diesen Änderungen entgegen. Das hätte einen Schlag gegen die Privilegien der Gewerkschaftsführer bedeutet. Aber alle haben zu irgendeinem Zeitpunkt entweder wohlwollend auf den Dialog mit der Regierung reagiert oder die Notwendigkeit neuer Steuern akzeptiert. Erst als die Wut der Arbeiter gegen die Ankündigung einer neuen Steuer deutlich wurde, haben die Gewerkschaften angefangen, sich mehr bedroht zu fühlen durch die Arbeiter als durch den Verlust der Kontrolle bei Finanzfragen.’

Bei der Analyse der beiden Gruppen des IBPR betont man vor allem, daß die Gewerkschaften die ‘kleinbürgerlichen Interessen’ und Privilegien zu verteidigen suchten, indem sie zur Mobilisierung gegen den Juppé-Plan und zum Schutz der Sozialversicherung aufriefen. Auch wenn die Gewerkschaftsführer sehr empfindlich sind bei ihren Privilegien, führt diese Einschätzung ihrer Haltung dazu, die Wirklichkeit verzerrt darzustellen. Das ist so, wenn man die altbekannten Streitigkeiten zwischen den Gewerkschaftszentralen nur als ein Ausdruck ihrer gegenseitigen Konkurrenz auffaßt und die eigentliche Erklärung verkennt: diese Streitigkeiten sind ein klassisches Spaltungsmittel der Arbeiterklasse. Die ‘kleinbürgerlichen Interessen’ der Gewerkschaften können nur auf dem Hintergrund der eigentlichen Rolle der Gewerkschaften in der Gesellschaft verstanden werden: sie sind die Feuerwehr zum Schutz der kapitalistischen Gesellschaft; die Polizei des bürgerlichen Staates, die in den Reihen der Arbeiter handelt. Und wenn sie auf ihre ‘kleinbürgerlichen Interessen’ verzichten müssen, um diese Rolle zu erfüllen, dann zögern sie nicht das zu tun, denn sie wissen genau, was ihre Verantwortung bei der Verteidigung der Interessen des Kapitals gegen die Arbeiterklasse ist. Als sie Ende 1995 die Bewegung einfädelten, wußten die Gewerkschaften genau, daß diese Manöver es Juppé ermöglichen würden, seinen Plan durchzusetzen, der ihnen gewisse finanzielle Vorrechte wegnehmen würde; aber sie waren bereit gewesen, auf diese Vorrechte zu verzichten im Namen der übergeordneten Interessen der kapitalistischen Gesellschaft. Für die Gewerkschaften ist es günstiger den Glauben zu verbreiten, sie würden nur auf die Erfüllung ihrer eigenen Interessen aus sein (sie können sich immer hinter dem Argument verstecken, daß ihre eigene Kraft die der Arbeiterklasse stärkt), anstatt sich als das zu entblößen, was sie wirklich sind: ein zentrales Räderwerk der bürgerlichen Ordnung.

Während unsere Genossen des IBPR keine Zweifel lassen an dem kapitalistischen Wesen der Gewerkschaften, unterschätzen sie gewaltig das Ausmaß der Solidarität, das es zwischen herrschender Klasse und Gewerkschaften gibt, und insbesondere ihre Fähigkeit, mit der Regierung und den Unternehmern Manöver zu inszenieren, die die Arbeiter in Fallen locken sollen.

Sowohl die CWO als auch BC (zwar mit Nuancen)[ii] [75]  vertritt die Meinung, daß die Gewerkschaften überrascht waren, gar die Kontrolle verloren hatten infolge der Eigeninitiative der Arbeiter. Aber nichts ist falscher als das. Wenn es ein Beispiel dafür gibt, daß die Gewerkschaften während der letzten 10 Jahre eine gesellschaftliche Bewegung vollständig vorhergesehen und kontrolliert haben, dann die vom Ende des Jahres 1995. Sie haben diese Bewegung gar systematisch angezettelt, mit der Komplizenschaft der Regierung, wie oben dargestellt. Und der beste Beweis, daß die Bourgeoisie und die Gewerkschaften die Kontrolle nicht verloren hatten und keineswegs überrascht waren, ist die Aufmerksamkeit der Medien, die die Bourgeoisie in den anderen Ländern sofort entfaltet hat. Seit langem schon und insbesondere seit den großen Streiks in Belgien im Herbst 1983, als die Arbeiterklasse die Demoralisierung und Desorientierung nach der Niederlage der Arbeiter in Polen 1981 überwunden hatte, hat es sich die Bourgeoisie zur Pflicht gemacht, auf internationaler Ebene ein vollständiges Black-out der Arbeiterkämpfe zu organisieren. Wenn die Kämpfe einem geplanten Manöver der Bourgeoisie entsprechen,  wie in Deutschland im Frühjahr 1992, tritt an die Stelle des Black-out eine wahre Flut von Informationen. Damals schon verfolgten die Streiks im öffentlichen Dienst, insbesondere im Transportwesen, das Ziel, ‘die Gewerkschaften, welche alle diese Aktionen systematisch organisiert hatten, die Arbeiter aber in der größten Passivität hielten, als die wirklichen Verteidiger gegen das Kapital’ darzustellen (International Review, Nr. 70, Gegenüber dem Chaos und den Massakern kann nur die Arbeiterklasse eine Antwort liefern). Mit der Bewegung in Frankreich Ende 1995 legt die Bourgeoisie eine Art ‘Neuauflage’ dessen auf, was die Bourgeoisie dreieinhalb Jahre zuvor schon in Deutschland inszeniert hatte. Die intensive Bombardierung in den Medien (selbst in Japan wurde täglich über die Streiks berichtet, jeden Tag flimmerten die Streiks und Demos über den Bildschirm) zeigt nicht nur, daß die Bourgeoisie und ihre Gewerkschaften die Bewegung von Anfang bis Ende vollständig kontrollierten; nicht nur war diese Bewegung von diesen vorhergesehen und geplant gewesen, sondern auch auf internationaler Ebene hatte die Bourgeoisie dieses Manöver inszeniert, um das Bewußtsein der Arbeiter in den am meisten fortgeschrittenen Ländern zu trüben.

Den besten Beweis liefert die Art und Weise, wie die belgische Bourgeoisie nach den Bewegungen in Frankreich manövriert hat:

- während die Medien anläßlich der Ereignisse in Frankreich von einem ‘neuen Mai 68’ sprechen, initiierten die Gewerkschaften Ende Nov. 1995 genau wie in Frankreich Bewegungen gegen die Angriffe im öffentlichen Dienst und insbesondere gegen die Reform der Sozialversicherung;

- die Bourgeoisie organisierte eine echte Provokation, als sie Angriffe von einem bis dahin nie gekannten Ausmaß bei den Eisenbahnen (SNCB) und bei Sabena ankündigte; wie in Frankreich traten die Gewerkschaften sofort an die Spitze der Mobilisierung in diesen beiden Bereichen, die gleich als exemplarisch dargestellt werden; die belgischen Eisenbahner werden dazu aufgerufen, in die Fußstapfen ihrer französischen Kollegen zu treten;

- die Bourgeoisie täuscht einen Rückzug vor, was natürlich als ein Sieg der gewerkschaftlichen Mobilisierung dargestellt wird, und was den Erfolg einer großen Demonstration des ganzen öffentlichen Dienstes am 13. Dez. ermöglicht. Diese Demo wurde komplett von den Gewerkschaften kontrolliert. Auf der Demo war auch eine Delegation französischer Eisenbahner der CGT anwesend. Die Tageszeitung De Morgen schrieb am 14. Dez.: ‘Wie in Frankreich, oder fast so’.

- zwei Tage später neue Provokation seitens der Regierung und der Arbeitgeber bei den Eisenbahnen (SNCB) und bei Sabena, wo die Geschäftsleitung die Aufrechterhaltung der getroffenen Maßnahmen ankündigt: die Gewerkschaften rufen zu ‘harten’ Kämpfen auf (es gab Zusammenstöße mit der Polizei am Flughafen, der von Streikenden blockiert wurde) und sie versuchen das Manöver auf andere Teile des öffentlichen Dienstes auszudehnen sowie auf den Privatbereich, wo Gewerkschaftsdelegationen ihre ‘Solidarität mit den Beschäftigten von Sabena erklärten’  und behaupten, daß ‘ihr Kampf ein gesellschaftliches Labor für alle Arbeiter darstellt’;

- Anfang Januar schließlich täuschen die Arbeitgeber erneut vor, nachzugeben, als sie unter dem Druck der Bewegung den  Beginn des ‘gesellschaftlichen Dialogs’ bei der SNCB wie bei Sabena ankündigen -, wie in Frankreich endete die Bewegung mit einem Sieg und einer Aufwertung der Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften.

Ehrlich, Genossen des IBPR, glaubt ihr tatsächlich, daß diese bemerkenswerten Parallelen zwischen den Ereignissen in Frankreich und in Belgien nur auf den Faktor Zufall zurückzuführen sind, daß die Bourgeoisie und ihre Gewerkschaften auf internationaler Ebene nichts ausgeheckt hatten?

Tatsächlich zeigen die Analyse der CWO und von BC eine dramatische Unterschätzung des kapitalistischen Klassenfeindes, seiner Fähigkeit, die Initiative zu ergreifen, wenn er sich dessen im klaren ist, daß die immer härteren Angriffen gegen die Arbeiterklasse notwendigerweise umfassende Reaktionen hervorrufen werden, in denen die Gewerkschaften ihr Gewicht in die Waagschale werfen müssen, um die bürgerliche Ordnung zu verteidigen. Die von diesen Organisationen eingenommene Position hinterläßt den Eindruck einer unglaublichen Naivität, einer gefährlichen Anfälligkeit gegenüber den von der Bourgeoisie aufgestellten Fallen.

Wir haben vorher schon mehrfach auf diese Naivität insbesondere bei BC hingewiesen. Als der Ostblock zusammenbrach, war diese Organisation in die Falle der bürgerlichen Kampagnen hinsichtlich der vielversprechenden Perspektiven gelaufen, die dieser Zusammenbruch für die Weltwirtschaft mit sich bringen würde[iii] [76]. Ebenso war BC voll der Lüge von einem angeblich ‘Aufstand’ in Rumänien aufgesessen (tatsächlich gab es einen Staatsstreich, der die Ablösung Ceaucescus durch Funktionäre des alten Staatsapparates um Ion Ilescu ermöglichte). Damals schämte sich BC nicht davor zu schreiben: ‘Rumänien ist das ist erste Land unter den Industriestaaten, wo die Wirtschaftskrise einen echten und wirklichen Volksaufstand hervorgebracht hat, und dessen Ergebnis der Umsturz der an der Macht befindlichen Regierung war... In Rumänien waren alle  objektiven und fast alle subjektiven Bedingungen für die Umwandlung des Aufstands in eine echte und wirkliche gesellschaftliche Revolution vorhanden’. Genossen von Battaglia Comunista, wenn man solchen Unfug schreibt, muß man daraus die Lehren ziehen. Insbesondere sollte man gegenüber den Reden der Bourgeoisie mißtrauischer sein. Wenn man sich in die Fallen locken läßt, die die Bourgeoisie aufstellt, wie kann man dann von sich behaupten, die Avantgarde der Arbeiterklasse zu sein?

Die Notwendigkeit eines Rahmens der historischen Analyse

In Wirklichkeit sind die von BC begangenen Fehler (genauso wie die der CWO, die 1981 die Arbeiter in Polen zur ‘Revolution jetzt’ aufrief) nicht einfach zurückzuführen auf psychologische oder intellektuelle Eigenschaften, auf die Naivität ihrer Mitglieder. In diesen Organisationen gibt es erfahrene Mitglieder mit ausreichender Intelligenz. Die wirkliche Ursache der wiederholten Fehler dieser Organisationen ist, daß sie sich systematisch geweigert haben, den einzigen Rahmen zu akzeptieren, innerhalb dessen man die Entwicklung des Arbeiterkampfes verstehen kann, nämlich den Rahmen des historischen Kurses hin zu Klassenzusammenstößen, die seit Ende der 60er Jahre nach dem Abschluß der Wiederaufbauperiode eingetreten sind. Wir haben wiederholt diesen schwerwiegenden Fehler von BC aufgezeigt, den die CWO mittlerweile auch begeht[iv] [77]. BC stellt die Existenz eines historischen Kurses selber infrage: ‘

‘Wenn wir von einem historischen Kurs sprechen, meinen wir damit eine historische Periode, eine globale und vorherrschende Tendenz des Lebens in der Gesellschaft, die nur durch Hauptereignisse in Frage gestellt werden kann... Aus Battaglias Sicht wiederum, handelt es sich um eine Perspektive, die jederzeit in Frage gestellt werden kann. D.h. in beiden Richtungen, weil man nicht ausschließen kann, daß innerhalb eines Kurses zum Krieg ein ‘revolutionärer Bruch’ eintritt....

‘Hier gleicht die Auffassung von Battaglia ebenfalls einem Sammelsurium: jeder kann beim Begriff des historischen Kurses alles hineinstecken was er will. Es wird von der Möglichkeit der Revolution in einem Kurs hin zum Krieg gesprochen, wie vom Weltkrieg im Kurs hin zu verstärkten Klassenauseinandersetzungen. So kommt jeder auf seine Rechnung: 1981 rief die Communist Workers Organisation die Arbeiter in Polen zur Revolution auf, während man gleichzeitig behauptete, das Weltproletariat habe noch nicht die Konterrevolution überwunden.  Schließlich verschwindet der Begriff des Kurses vollkommen. Und das ist genau der Punkt: wo Battaglia landet: jede Auffassung einer historischen Perspektive über Bord zu schmeißen’. (in Weltrevolution Nr.34). 

Der Immediatismus hilft uns zu begreifen, warum 1987-88 die Gruppen des IBPR gegenüber den Arbeiterkämpfen zwischen einem totalen Skeptizismus und einem großen Enthusiasmus hin- und herschwanken: die Kämpfe in den Schulen, die 1987 in Italien stattfanden, wurden zunächst von BC auf die gleiche Ebene gestellt wie die der Piloten und der Beschäftigten im Justizwesen, um dann schließlich als ‘neue und interessante Phase des Klassenkampfes in Italien) dargestellt zu werden. Gleichzeitig schwankte die CWO gegenüber den Kämpfen in Großbritannien.[v] [78]

Der gleiche Immediatismus ließ BC im Jan. 1996 behaupten,  ‘der Streik der französischen Arbeiter stellt abgesehen von der opportunistischen Haltung (sic) der Gewerkschaften eine sehr wichtige Episode für die Wiederaufnahme des Klassenkampfes dar’. Was aus der Sicht von BC bei diesem Kampf vor allem fehlte, damit eine Niederlage vermieden würde, war eine proletarische Partei. Wenn die Partei, die in der Tat gegründet werden muß, damit das Proletariat die Revolution durchführen kann, sich auf die gleiche immediatistische Vorgehensweise stützen müßte, die BC noch nicht abgelegt hat, müßte man allerdings Angst um den Ausgang der Revolution haben.

Aber nur indem der Immediatismus resolut verworfen wird, ständig die gegenwärtigen Klassenkämpfe in ihren historischen Kontext eingegliedert werden, kann man sie begreifen und eine wirkliche Rolle der Avantgarde der Klasse übernehmen.

Dieser Rahmen ist natürlich der des historischen Kurses; aus Platzgründen können wir hier nicht weiter darauf eingehen. Dieser Rahmen ist ausschlaggebend für die Entwicklung der Ereignisse seit dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime Ende der 80er Jahre; zu Anfang des Artikels wurde er kurz angeschnitten. Seit Ende des Sommers 1989, d.h. zwei Monate bevor die Mauer in Berlin fiel, hat die IKS diesen neuen Rahmen weiter ausgearbeitet, der die Entwicklung des Klassenkampfes zu begreifen hilft:

‘Deshalb kann man mit einem vorübergehenden Rückgang des Bewußtseins der Arbeiterklasse rechnen... Obgleich der Kapitalismus verstärkt Angriffe gegen das Kapital richten und es damit zum Kampf zwingen wird, darf man in naher Zukunft nicht mit einer größeren Fähigkeit der Arbeiterklasse rechnen, ihr Bewußtsein voranzutreiben. Insbesondere die reformistische Ideologie wird noch sehr stark auf den Kämpfen in der nächsten Zeit lasten, wodurch die Aktionen der Gewerkschaften begünstigt werden’ (Internationale Revue Nr. 12, Thesen zur ökonomischen und politischen Krise in der SU und den osteuropäischen Ländern, Sept. 1989, S. 14, Pkt 22)

Später hat die IKS die neuen Elemente von großer Bedeutung, die danach eingetreten sind, in diesen Rahmen aufgenommen

Solch eine Kampagne (über den ‘Tod des Kommunismus’ und den ‘Triumph des Kapitalismus’)  hat eine nicht zu vernachlässigende Wirkung auf die Arbeiter gehabt und deren Kampfbereitschaft und Bewußtsein beeinträchtigt. Während diese Kampfbereitschaft im Frühjahr 1990 wieder leicht anstieg, insbesondere nach den Angriffen infolge des Beginns einer offenen Rezession, wurde sie durch die Krise und den Golfkrieg wieder zurückgeworfen. Diese tragischen Ereignisse haben die Lüge von der ‘neuen Weltordnung’ widerlegt, welche die Bourgeoisie nach der Auflösung des Ostblocks  angekündigt hatte, der als der Hauptverantwortliche für die militärischen Spannungen dargestellt wurde(...) Aber gleichzeitig hat die große Mehrheit der Arbeiterklasse in den fortgeschrittenen Ländern nach neuen bürgerlichen Lügenkampagnen gegenüber diesem Krieg mit einem Gefühl der tiefgreifenden Hilflosigkeit reagiert, was wiederum zur Abschwächung der Kämpfe führte. Der Putsch in Moskau im Sommer 1991 und die dadurch ausgelöste Destabilisierung sowie der Krieg in Jugoslawien haben dieses Gefühl der Hilflosigkeit zusätzlich verstärkt. Das Auseinanderbrechen der UdSSR sowie die kriegerische Barbarei in Jugoslawien spiegeln den Grad des Zerfalls wieder, den die kapitalistische Gesellschaft heute erreicht hat. Aber mittels der durch die Medien großen Lügenkampagnen hat es die Bourgeoisie geschafft, die wirklichen Ursachen dieser Ereignisse zu verbergen, um all das erneut als ‘den Tod des Kommunismus’ darzustellen, oder es zu einer Frage ‘des Selbstbestimmungsrechts der Völker’ zu machen, d.h. alles Themen, gegenüber denen die Arbeiter keine andere Alternative haben als passive Beobachter zu bleiben und durch die ‘Weisheit’ der Regierungen beeindruckt zu sein’ (‘Nur die Arbeiterklasse kann die Menschheit aus der Barbarei führen, International Review Nr. 68).  

Aufgrund der Tatsache, daß der Jugoslawienkrieg  wegen seines Horrors, seiner Dauer und der Tatsache, daß er in geographischer Nähe der großen Proletarierkonzentrationen Westeuropas stattfand,  liefert er wesentliche Elemente für eine Erklärung der Schwierigkeiten des Proletariats in der gegenwärtigen Phase. Dieser Krieg bündelt (obgleich auf einem niedrigeren Niveau) sowohl die durch den Zusammenbruch des Ostens angerichteten Schäden in sich, nämlich eine tiefgreifende Verwirrung und Illusionen unter den Arbeitern, als auch die Reaktionen auf den Golfkrieg, als ein weitreichendes Gefühl der Hilflosigkeit aufkam, ohne daß gleichzeitig wie beim Golfkrieg die Verbrechen und die Barbarei der ‘großen Demokratie’ bloßgestellt wurden. Der Jugoslawienkrieg verdeutlicht, wie der Zerfall des Kapitalismus, von dem er einer der spektakulärsten Ausdrücke ist, ein großes Hindernis für die Entwicklung der Klassenkämpfe und des Bewußtseins der Arbeiterklasse darstellt.

Weil die Gewerkschaften  die klassische Waffe der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse sind, muß ein anderer Aspekt hervorgehoben werden, den wir schon im Sept. 1989 in unseren Thesen unterstrichen: Insbesondere die reformistische Ideologie wird noch sehr stark auf den Kämpfen in der nächsten Zeit lasten, wodurch die Aktionen der Gewerkschaften begünstigt werden’. Dies ging aus der Tatsache hervor, daß die Arbeiter nicht etwa noch Illusionen über ein ‘sozialistisches Paradies’ im Osten gehabt hätten, sondern weil die Existenz einer Gesellschaftsform, die als ‘nicht-kapitalistisch’ dargestellt wurde, die Schlußfolgerung zuzulassen schien, daß es etwas anderes als den Kapitalismus geben könnte. Das Ende dieser Regime wurde als das ‘Ende der Geschichte’ dargestellt (dieser Begriff wurde von den ‘Denkern’ der Bourgeoisie gewählt). Da das Haupttätigkeitsfeld der Gewerkschaften und der gewerkschaftlichen Aktivität die Anpassung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse innerhalb des Kapitalismus ist, konnten die Ereignisse von 1989, die zudem noch verstärkt wurden durch all die Angriffe gegen die Arbeiter seitdem, nur dazu führen, daß die Gewerkschaften seitdem wieder stärker in Szene getreten sind. Diese ‘Rückkehr’ und Stärkung  der Gewerkschaften wurde von der Bourgeoisie während der Kämpfe Ende 1995 gefeiert.

Die Aufpolierung der Gewerkschaften fand aber nicht sofort statt. Während der 80er Jahre hatten die Gewerkschaften soviel an Glaubwürdigkeit verloren, nachdem sie ständig die Arbeiterkämpfe sabotiert hatten, daß es schwierig war, so schnell wieder als ‘unnachgiebiger Verteidiger’ der Arbeiterklasse aufzutreten. Mehrere Etappen wurden bei diesem Aufpolieren durchlaufen, während derer sie sich immer mehr als das unabdingbare Instrument der Arbeiterkämpfe aufgespielt haben. Die Lage in Deutschland liefert ein gutes Beispiel dafür, denn nach den großen Manövern der Gewerkschaften im Frühjahr 1992 im öffentlichen Dienst, gab es noch im Herbst 1993 im Ruhrgebiet Raum für spontane Kämpfe außerhalb der gewerkschaftlichen Order, bevor Anfang 1995 im Metallbereich die Streiks den Gewerkschaften verhalfen, ihr Ansehen aufzupolieren. Aber am aufschlußreichsten ist die Entwicklung in Italien. Im Herbst 1992 gerieten die Gewerkschaftszentralen in die Schußlinie der Wut der Arbeiter, die sich explosiv gegen den Amato-Plan entladen hatte. Ein Jahr später war das Land aber von ‘Koordinationen der Fabrikräte’, d.h. Strukturen der Basisgewerkschafter durchzogen, die hinter den großen ‘Mobilisierungen’ und den Demonstrationen der Arbeiterklasse streckten.  Schließlich war die Riesendemonstration vom Frühjahr 1994 von Rom, die zahlenmäßig die größte seit dem 2. Weltkrieg war, ein Meisterwerk gewerkschaftlicher Kontrolle.

Dieses Wiedererstarken der Gewerkschaften wurde erleichtert und ermöglicht durch das Fortbestehen der gewerkschaftlichen Ideologie, deren Hauptstützpfeiler die ‘Basisgewerkschaften’ oder die ‘kämpferischen’ Gewerkschaften sind. Diese Kräfte waren es, die z.B. in Italien die offiziellen Gewerkschaften ‘infragegestellt’ haben (zu den Demonstrationen schleppten sie Tomaten und Wurfgeschosse mit an, die auf die Gewerkschaftsführer geschmissen werden sollten), bevor sie es 1994 ermöglichten, daß die Gewerkschaften wieder dank der ‘Mobilisierungen von 1993 verstärkt auftrumpfen konnten. In den zukünftigen Kämpfen müssen wir davon ausgehen, nachdem die offiziellen Gewerkschaften aufgrund ihrer unabdingbaren Sabotagearbeit erneut ihre Glaubwürdigkeit verloren haben werden, wird die Arbeiterklasse noch gegen die gewerkschaftliche Ideologie ankämpfen müssen, die am vehementesten von den Basisgewerkschaftern verteidigt werden wird, die so ausgezeichnet zugunsten ihrer großen Brüder während der letzten Jahre gearbeitet haben.

Die Arbeiterklasse hat also noch ein langes Stück Weg vor sich. Aber die auftauchenden Schwierigkeiten dürfen uns nicht demoralisieren, insbesondere die am meisten fortgeschrittenen Elemente nicht. Die Bourgeoisie ihrerseits weiß genau, welches Potential noch in der Arbeiterklasse steckt. Aus diesem Grunde organisiert sie Manöver wie die Ende 1995. Auf einem Treffen in Davos in diesem Winter, auf dem traditionell die ca. 2.000 wichtigsten ‘Entscheidungsträger’ aus dem Bereich Wirtschaft und Politik zusammenkommen (an diesem Treffen nahm auch Blondel, der Führer der französischen Gewerkschaft Force Ouvrière teil) betrachteten sie deshalb die Entwicklung der sozialen Lage mit Sorge. So waren neben anderen Reden folgende Aussagen zu hören: ‘Wir müssen unter den Beschäftigten Vertrauen schaffen und eine Zusammenarbeit herbeiführen zwischen den Unternehmen, damit die Kommunen, die Städte und die Regionen von der internationalen Verflechtung der Weltwirtschaft profitieren. Denn sonst wird es erneut zu gesellschaftlichen Bewegungen und Protesten kommen, wie sie es seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr gegeben hat[vi] [79]).

Wie die Revolutionäre immer aufgezeigt haben und die Bourgeoisie selber bestätigt, ist die Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft der beste Verbündete des Proletariats. Die Krise wird die Arbeiterklasse zwingen, die Augen zu öffnen und die Sackgasse des Kapitalismus aufzeigen und den Willen entstehen lassen, den Kapitalismus zu zerstören, auch wenn alle Teile der herrschenden Klasse eine Vielzahl von Hindernissen für die Arbeiterklasse auf diesem Weg errichten.          F. 12.03.96

 



[i] [80] Dies ist falsch, denn die CFDT, eine sozialdemokratische Gewerkschaft mit christlichem Ursprung, stimmte dem Plan Juppés zu.  

[ii] [81] Die CWO schreibt weniger optimistisch als BC: ‘Die Bourgeoisie hat soviel Vertrauen darin, daß sie die Wut der Arbeiter kontrollieren kann, daß die Pariser Börse eine Hausse hat’. Man kann hinzufügen, daß während der ganzen Bewegung der französische Franc seinen Wert halten konnte. Das sind zwei Beweise, daß die Bourgeoisie mit dem Verlauf dieser Bewegung sehr zufrieden war. Aus gutem Grund.

[iii] [82]Siehe unseren Artikel in der International Review Nr. 61 ‘Der Wind aus dem Osten und die Reaktion der Revolutionäre’

[iv] [83]Siehe unsere Artikel ‘Antwort an Battaglia Comunista zum historischen Kurs’ und ‘Die Verwirrungen der kommunistischen Gruppen hinsichtlich der gegenwärtigen Lage: Die Unterschätzung des Klassenkampfes’, in International Review Nr. 50 & 54, 

[v] [84] ‘Herauskristallisierungen im proletarischen politischen Milieu und Schwankungen des IBRP’, in International Review Nr. 55,  

[vi] [85] Rosabeth Moss Kanter, ehemaliger Direktor von Harvard Business Review, in Le Monde Diplomatique, März 1996.

 

Aktuelles und Laufendes: 

  • Arbeiterkampf [86]

Theorien der historischen Krise des Kapitalismus

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Das Internationale Büro für die Revolutionäre Partei (IBRP) hat in der International Communist Review Nr.13 auf unsere Polemik ''Die Auffassung des IBRP zur Dekadenz im Kapitalismus'' geantwortet, die in unserer International Review Nr.79 erschienen war. In der International Review Nr.82 veröffentlichten wir den ersten Teil dieses Artikels, der die negativen Auswirkungen der Auffassung des IBPR über den imperialistischen Krieg als ein Mittel der Kapitalentwertung und der Erneuerung von Akkumulationszyklen aufzeigte. In diesem zweiten Teil werden wir daran gehen, die ökonomische Theorie zu analysieren, die diese Auffassung stützt: die Theorie des tendenziellen Falls der Profitrate.

 

Die Erklärung der historischen Krise des Kapitalismus in der marxistischen Bewegung

Schon die Klassiker der bürgerlichen Ökonomen (Smith, Ricardo etc.) haben sich auf die Grundlage zweier Dogmen gestellt:

1. Der Arbeiter ist ein freier Bürger, der seine Arbeitskraft im Austausch für einen Lohn verkauft. Der Lohn ist sein Anteil am gesellschaftlichen Einkommen, aus dem auch der Profit des Arbeitgebers bezahlt wird.

2. Der Kapitalismus ist ein ewig bestehendes System. Seine Krisen sind temporärer und konjunktureller Natur, bedingt durch die Disproportion zwischen den verschiedenen Produktionszweigen, durch ein Ungleichgewicht in der Verteilung oder durch schlechtes Management. Nichtsdestotrotz gibt es langfristig kein Problem bei der Realisierung der Waren, die Produktion findet immer einen Markt, indem das Gleichgewicht zwischen Angebot (Produktion) und Nachfrage (Konsum) gefördert wird.

Marx hat bis an sein Lebensende diese Dogmen der bürgerlichen Ökonomen bekämpft. Er zeigte auf, daß der Kapitalismus kein unendliches System ist: ''Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um’ (Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie). Die Periode der historischen Krise, der unumkehrbaren Dekadenz des Kapitalismus wurde mit dem Ersten Weltkrieg eröffnet. Das Überleben des Kapitalismus nach dem gescheiterten Versuch der Weltrevolution durch das Proletariat zwischen 1917 - 23 hat der Menschheit Ströme von Blut (hunderte Millionen Tote in den imperialistischen Kriegen zwischen 1914 - 68), Schweiß (eine brutale Steigerung der Ausbeutung der Arbeiterklasse) und Tränen (der Schrecken der Arbeitslosigkeit, alle möglichen Formen der Barbarei, die Entmenschlichung der sozialen Beziehungen) gekostet.

Jedoch wird diese fundamentale Analyse, die gemeinsame Tradition der kommunistischen Linken, im gegenwärtigen revolutionären Milieu nicht mehr in derselben Weise dargelegt: Es existieren zwei Theorien zur Erklärung der Dekadenz des Kapitalismus, die Theorie der tendenziellen Falls der Profitrate und jene, die ''Markttheorie'' genannt wird und im wesentlichen auf dem Werk von Rosa Luxemburg basiert.

Das IBRP hält sich an die erste Theorie, während wir die zweite vorziehen.

[1] Um eine Polemik über beide Theorien fruchtbar zu gestalten, ist es notwendig, sie auf die Grundlage eines Verständnisses der Entwicklung dieser Debatte in der marxistischen Bewegung zu stellen.

Marx lebte in einer Periode des kapitalistischen Aufstiegs. Obwohl sich die Frage der historischen Krise des Systems nicht so dramatisch stellte wie heute, war er in der Lage, in seinen periodischen zyklischen Krisen einen Ausdruck  seiner Widersprüche und eine Ankündigung von Erschütterungen zu erblicken, die in den Ruin führen würden: ''Marx hob zwei fundamentale Widersprüche im Prozeß der kapitalistischen Akkumulation hervor: zwei Widersprüche, die den zyklischen Krisen des Wachstums zugrunde lagen, durch die der Kapitalismus im 19.Jahrhundert schritt, und die, in einem gegebenen Moment, die kommunistische Revolution auf die Tagesordnung ruft. Diese beiden Widersprüche sind der tendenzielle Fall der Profitrate aufgrund der Unvermeidlichkeit einer immer höheren organischen Zusammensetzung des Kapitals und das Problem der Überproduktion, die angeborene Krankheit des Kapitals, mehr zu produzieren, als der Markt aufnehmen kann''  (''Marxismus und Krisentheorie'', International Review Nr.13).

 

Daraus können wir ersehen, daß ''Marx, auch wenn er einen Rahmen entwickelte, in dem diese beiden Phänomene eng miteinander verknüpft sind, niemals seine Untersuchung des Kapitalismus vervollständigte, so daß in verschiedenen Schriften mal das eine, mal das andere als die mehr oder weniger vorherrschende Ursache der Krise unterstrichen wurde.... Der unfertige Charakter dieses entscheidenden Bereichs im Marxschen Denken wurde, wie wir gesagt haben, nicht allein durch die persönliche Unfähigkeit von Marx bestimmt, das Kapital zu beenden, sondern auch durch die Beschränkungen der historischen Periode, in der er lebte'' (ebenda, S.27).

 

Ende des letzten Jahrhunderts begannen sich die Bedingungen des Kapitalismus zu ändern: Der Imperialismus als eine Politik des Raubes und der Konfrontation zwischen den Mächten entfaltete sich in Riesenschritten. Andererseits wies der Kapitalismus wachsende Krankheitsanzeichen auf (Inflation, gesteigerte Ausbeutung), die in großem Gegensatz zu jenem Wachstum und Wohlstand standen, welche in den 90er Jahren des 19.Jahrhunderts ununterbrochen geherrscht hatten. In diesem Zusammenhang erschien innerhalb der II.Internationalen eine opportunistische Strömung, die die marxistische These vom Zusammenbruch des Kapitalismus in Frage stellte und einen allmählichen Übergang zum Sozialismus mittels stufenweiser Reformen in Aussicht stellte, welche ''diese Widersprüche vermindern'' würden. Die Theoretiker dieser Strömung konzentrierten ihre Geschütze genau auf den zweiten der von Marx hervorgehobenen Widersprüche: die Tendenz zur Überproduktion. So sagte Bernstein: ''Marx widerspricht sich, wenn er meint, daß die Wurzeln der Krise die Grenzen der Massenkaufkraft sind''[2] (Bernstein: Theoretischer Sozialismus und sozialdemokratische Praxis).

 

1902 griff Tugan-Baranowski, ein russischer Revisionist, die Marxsche Theorie der Krise des Kapitalismus an, indem er leugnete, daß es ein Marktproblem geben könne und aufzeigte, daß die Krise den ''Disproportionalitäten'' zwischen verschiedenen Sektoren zuzuschreiben sei.

Tugan-Baranowski ging sogar noch weiter als seine revisionistischen deutschen Kompagnons (Bernstein, Schmidt, Vollmar, etc.). Er griff auf die Dogmen der bürgerlichen Ökonomen zurück, konkret, er kehrte zu den (offen von Marx kritisierten) Ideen von Say[3] zurück, die auf der These basierten, daß ''der Kapitalismus kein Problem mit der Realisierung hat, das über zeitweilige Störungen hinausgeht''. Es folgte in der II. Internationale von seiten Kautskys, der sich damals noch in den Reihen der Revolution befand, eine sehr entschiedene Antwort: ''Die Kapitalisten und die von ihnen ausgebeuteten Arbeiter bieten einen mit der Zunahme des Reichstums der ersteren und der Zahl der letzteren zwar stets wachsenden, aber nicht so rasch wie die Akkumulation des Kapitals und die Produktivität der Arbeit wachsenden und für sich allein nicht ausreichenden Markt für die von der kapitalistischen Großindustrie geschaffenen Konsummittel. Diese muß einen zusätzlichen Markt außerhalb ihres Bereiches in den noch nicht kapitalistisch produzierenden Berufen und Nationen suchen.... dieser zusätzliche Markt besitzt bei weitem nicht die Elastizität und Ausdehnungsfähigkeit des kapitalistischen Produktionsprozesses.... Dies in kurzen Zügen die, soweit wir sehen, von den 'orthodoxen' Marxisten allgemein angenommene, von Marx begründete Krisentheorie'' (zitiert von Rosa Luxemburg in ihrem Buch Die Akkumulation des Kapitals und Antikritik; die Unterstreichungen stammen von Rosa Luxemburg).

Als Rosa Luxemburg ihr Buch Die Akkumulation des Kapitals veröffentlichte, verschärfte sich diese Auseinandersetzung jedoch. In diesem Buch versuchte Rosa Luxemburg das schwindelerregende Wachstum des Imperialismus und die sich steigernde tiefe Krise des Kapitalismus zu erklären. Sie zeigte in dem Buch auf, daß der Kapitalismus sich historisch durch die Ausweitung seiner auf Lohnarbeit fußenden Produktionsverhältnisse auf nichtkapitalistische Gebiete und Bereiche entwickelte, daß er seine historischen Grenzen dann erreicht hat, wenn er den gesamten Planeten umfaßt, und daß er schon damals daran scheiterte, neue Territorien zu finden, die für die Expansion notwendig waren, die das Wachstum der Arbeitsproduktivität und der organischen Zusammensetzung des Kapitals verlangte: ''So breitet sich der Kapitalismus dank der Wechselwirkung mit nichtkapitalistischen Gesellschaftskreisen und Ländern immer mehr aus, indem er auf ihre Kosten akkumuliert, aber sie zugleich Schritt für Schritt zernagt und verdrängt, um an ihre Stelle selbst zu treten. Je mehr kapitalistische Länder aber an dieser Jagd nach Akkumulationsgebieten teilnehmen und je spärlicher die nichtkapitalistischen Gebiete werden, die der Weltexpansion noch offenstehen, um so erbitterter wird der Konkurrenzkampf des Kapitals um jene Akkumulationsgebiete, um so mehr verwandeln sich seine Streifzüge auf der Weltbühne in eine Kette ökonomischer und politischer Katastrophen: Weltkrisen, Kriege, Revolutionen'' (Rosa Luxemburg: Antikritik).

Rosa Luxemburgs Kritiker stritten ab, daß der Kapitalismus ein Realisierungsproblem hat, das heißt, sie vergaßen den Widerspruch des Systems, den Marx nachdrücklich gegen die bürgerlichen Ökonomen verteidigte und der die Basis der ''von Marx gegründeten Krisentheorie'' bildete, wie Kautsky einige Jahre zuvor gegen den Revisionisten Tugan-Baranowski in Erinnerung gerufen hatte.

Die Kritiker Rosa Luxemburgs stellten sich selbst als die ''orthodoxen und bedingungslosen'' Verteidiger von Marx und insbesondere seiner Schemata der erweiterten Reproduktion dar, die im Band 2 des Kapital dargelegt sind. Das heißt, sie erklärten den Rest des Marxschen Denkens für null und nichtig, indem sie eine einzelne Passage aus seinem Werk überbetonten.[4] Ihre Argumente waren sehr verschiedenartig: Eckstein sagte, daß es kein Problem der Realisierung gebe, weil Marx in dem Schema der erweiterten Reproduktion ''perfekt'' erklärt habe, daß es keinen Teil in der Produktion gebe, der nicht bezahlt werden könne. Hilferding belebte die Theorie der ''Disproportionalität zwischen den Sektoren'' wider, als er sagte, daß die Krise der Anarchie der Produktion geschuldet sei und daß die Tendenz zur Konzentration des Kapitalismus diese Anarchie und somit auch die Krise vermindere. Bauer sagte schließlich, daß Rosa Luxemburg auf ein tatsächliches Problem aufmerksam gemacht habe, das aber im Kapitalismus gelöst werden könne: durch die Akkumulation, die dem Bevölkerungswachstum folge.

Während dieser Periode stellte der Herausgeber einer lokalen sozialistischen Zeitung die Theorie des tendenziellen Falls der Profitrate jener von Rosa Luxemburg entgegen, womit ''der etwas nebelhafte Trost eines kleinen 'Sachverständigen' aus der 'Dresdner Volkszeitung' übrig (bleibt), der nach gründlicher Vernichtung meines Buches erklärt, der Kapitalismus werde schließlich 'an dem Fall der Profitrate' zugrunde gehen. Wie sich der gute Mann eigentlich das Ding vorstellt, ob so, daß an einem gewissen Punkte die Kapitalistenklasse, vor Verzweiflung ob der Niedrigkeit der Profitrate, sich insgesamt aufhängt, oder ob sie etwa erklärt, bei solchen lumpigen Geschäften verlohne sich die Plackerei nicht mehr, worauf sie die Schlüssel selbst dem Proletariat abliefert ? Wie dem sei, der Trost wird leider durch einen einzigen Satz von Marx in Dunst aufgelöst, nämlich durch den Hinweis, daß 'für große Kapitale der Fall der Profitrate durch Masse aufgewogen' werde. Es hat also mit dem Untergang des Kapitalismus am Fall der Profitrate noch gute Wege, so etwa bis zum Erlöschen der Sonne'' (Rosa Luxemburg: Anti-Kritik, Gesammelte Werke, Bd.5, S.446, Fußnote).

Lenin und die Bolschewiki nahmen an dieser Auseinandersetzung nicht teil[5] Sicherlich hat Lenin die populistische Markttheorie bekämpft, eine Theorie der Unter-Konsumption, die mit den Irrtümern Sismondis fortfährt. Jedoch hat Lenin nie das Problem des Marktes verleugnet: In seiner Analyse des Imperialismus hat er zwar das Hauptaugenmerk auf Hilferdings Theorie der Konzentration im Finanzkapital gelegt,[6] aber auch nicht übersehen, daß dies unter dem Druck eines gesättigten Weltmarktes stattfand. So betonte er in Der Imperialismus - die höchste Stufe des Kapitalismus in seiner Entgegnung auf Kautsky, daß ''für den Imperialismus... gerade das Bestreben charakteristisch (ist), nicht nur agrarische Gebiete, sondern sogar höchgst entwickelte Industriegebiete zu annektieren (...), denn erstens zwingt die abgeschlossene Aufteilung der Erde, bei einer Neuaufteilung die Hand nach jedem beliebigen Land auszustrecken...''.

In der Degenerationsphase der 3.Internationale griff Bucharin in seinem Buch Imperialismus und die Akkumulation des Kapitals die These von Rosa Luxemburg an, indem er eine Theorie entwickelte, die dem Triumph des Stalinismus Tür und Tor öffnete: die Theorie der ''Stabilisierung'' des Kapitalismus (was die revisionistische These voraussetzte, daß die Krise überwunden werden kann) und der ''Notwendigkeit'' einer längeren Koexistenz der UdSSR mit dem kapitalistischen System. Bucharins grundsätzliche Kritik an Rosa Luxemburg war, daß sie sich darauf beschränkt habe, dem marktbezogenen Widerspruch einen privilegierten Platz einzuräumen und all die anderen, unter ihnen die Theorie des tendenziellen Falls der Profitrate, zu übersehen.[7]

Ende der 20er und zu Beginn der 30er Jahre ''griff Paul Mattick von den amerikanischen Rätekommunisten Henry Grossmanns Kritik an Luxemburg und die Behauptung auf, daß die permanente Krise des Kapitalismus ausbreche, wenn die organische Zusammensetzung des Kapitals einen solchen Umfang erreicht habe, daß es immer weniger Mehrwert gibt, um den Akkumulationsprozeß anzuheizen. Diese Grundidee wird, auch wenn in zahlreichen Punkten überarbeitet, heute von revolutionären Gruppen wie die CWO, Battaglia Comunista und einige der in Skandinavien entstandenen Gruppen vertreten.'' (''Marxism and Crisis Theory'' in International Review Nr.13, S.28)

Die Krisentheorie basiert nicht ausschließlich auf der Tendenz der fallenden Profitrate

Es muß Klarheit darüber bestehen, daß der Widerspruch, an dem der Kapitalismus in Bezug auf die Realisierung des Mehrwerts krankt, eine fundamentale Rolle in der marxistischen Krisentheorie spielt und daß die revisionistischen Tendenzen diese These mit besonderer Heftigkeit attackierten. Das IBRP behauptet das Gegenteil. So erzählt es uns in seiner Antwort, daß ''für Marx die Quelle aller wirklichen Krisen innerhalb des kapitalistischen Systems liegt, innerhalb der Beziehung zwischen Kapitalisten und Arbeitern. Er bezeichnete dies gelegentlich als eine Krise, die von der begrenzten Fähigkeit der Arbeiter geschaffen wurde, das Produkt ihrer eigenen Arbeitskraft zu konsumieren.... Er fuhr fort hinzuzufügen, daß dies nicht aufgrund der Überproduktion an sich so sei.... Und Marx fährt fort zu erklären, daß die Krise aus der fallenden Profitrate entsteht.... Die Krise entwertet Kapital und erlaubt den Beginn eines neuen Akkumulationszyklus' '' (The IBRP's response, S. 32).

Es hieße, Marxens Denken zu deformieren, wenn man sagt, daß die historische Krise des Kapitals allein mit der Theorie der Tendenz der fallendenden Profitrate zu erklären ist. Aus drei Gründen:

1.  Marx legte das Gewicht auf zwei Widersprüche:

*  Er stellte fest, daß die kapitalistische Produktion zwei Seiten hat, die eigentliche Produktion und ihre Realisierung. Einfach gesagt, bedeutet der der Ausbeutung innewohnende Profit weder für den einzelnen Kapitalisten noch für den Kapitalismus in seiner Ganzheit irgendetwas, wenn die Waren, die sie produzieren,. nicht verkauft werden: ''Die gesamte Warenmasse, das Gesamtprodukt, sowohl der Teil, der das konstante und variable Kapital ersetzt, wie der den Mehrwert darstellt, muß verkauft werden. Geschieht das nicht oder nur zum Teil oder nur zu Preisen, die unter den Produktionspreisen stehn, so ist der Arbeiter zwar exploitiert, aber seine Exploitation realisiert sich nicht als solche für den Kapitalisten'' (Das Kapital, Bd.3, S.254, MEW; unsere Hervorhebung).

*  Er demonstrierte die lebenswichtige Bedeutung des Marktes in der Entwicklung des Kapitalismus: ''Der Markt muß daher beständig ausgedehnt werden, so daß seine Zusammenhänge und die sie regelnden Bedingungen immer mehr die Gestalt eines von den Produzenten unabhängigen Naturgesetzes annehmen.... Der innere Widerspruch sucht sich auszugleichen durch Ausdehnung des äußeren Feldes der Produktion'' (ebenda, S.255; unsere Hervorhebung). Weiter fragt er: ''Wie könnte es sonst an Nachfrage für dieselben Waren fehlen, deren die Masse des Volks ermangelt, und wie wäre es möglich, diese Nachfrage im Ausland suchen zu müssen, auf fernern Märkten, um den Arbeitern zu Hause das Durchschnittsmaß der notwendigen Lebensmittel zahlen zu können ? Weil nur in diesem spezifischen, kapitalistischen Zusammenhang das überschüssige Produkt eine Form erhält, worin sein Inhaber es nur dann der Konsumtion zur Verfügung stellen kann, sobald es sich für ihn in Kapital rückverwandelt'' (ebenda, S. 267, unsere Hervorhebung).

*  Er verurteilte ohne Zögern Says These, wonach es kein Realisierungsproblem im Kapitalismus gab: „Die von Ricardo adoptierte (eigentlich James Mill gehörige) Ansicht des faden Say (worauf wir bei der Besprechung des Jammermenschen zurückkommen), daß keine Überproduktion möglich oder wenigstens no general glut of the market, beruht auf dem Satz daß Produkte gegen Produkte ausgetauscht werden oder wie Mill es hatte, auf dem `metaphysischen Gleichgewicht der Verkäufer und Käufer, was weiter entwickelt wurde zu der nur durch die Produktion selbst bestimmte Nachfrage oder auch der Identität von demand und offer.“ (K. Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26.2, S. 493)

*  Er bestand darauf, daß die permanente Überproduktion die historischen Grenzen des Kapitalismus ausdrückten: „Ist daher zugegeben, daß der Markt sich erweitern muß, soll keine Überproduktion stattfinden, so ist auch zugegeben, daß Überproduktion stattfinden kann, denn es ist dann möglich, da Markt und Produktion zwei gegeneinander gleichgültige [Momente sind], daß die Er­weiterung des einen der Erweiterung der andren nicht entspricht, daß die Schranken des Markts sich nicht rasch genug für die Produktion ausdehnen oder daß neue Märkte - neue Ausdehnungen des Markts - von der Produk­tion rasch überholt werden können, so daß der erweiterte Markt nun ebenso­sehr als eine Schranke erscheint wie früher der engere.“ (K. Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26.2, S. 525).

2.  Marx stellte all die Gründe fest, die der Tendenz der fallenden Profitrate entgegenwirken: Im Kapitel XIV in Bd.3 vom Kapital analysierte er sechs Faktoren, die dieser Tendenz entgegenwirken: intensivere Ausbeutung der Arbeit, die Reduzierung der Löhne unter ihren Wert, die Verminderung der Kosten des konstanten Kapitals, der relative Bevölkerungsüberschuß, Außenhandel, das Wachstum des Aktienkapitals.

*  Er sah die Tendenz der fallenden Profitrate als ein Ausdruck der konstanten Produktivitätssteigerung der Arbeit an, als eine Tendenz, die der Kapitalismus bis zu einem in früheren Produktionsweisen nie gekannten Grad entwickelte: ''Diese (Tendenz) erzeugt mit der fortschreitenden relativen Abnahme des variablen Kapitals gegen das konstante eine steigend höhere organische Zusammensetzung des Gesamtkapitals, deren unmittelbare Folge ist, daß die Rate des Mehrwerts bei gleichbleibendem und selbst bei steigendem Exploitationsgrad der Arbeit sich in einer beständig sinkenden allgemeinen Profitrate ausdrückt.... Die progressive Tendenz der allgemeinen Profitrate zum Sinken ist also nur ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümlicher Ausdruck für die fortschreitende Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit.'' (Das Kapital, Bd.3, S.223, MEW; Hervorhebungen im Original).[8]

*  Marx machte klar, daß dies kein absolutes Gesetz ist, sondern eine Tendenz, die eine ganze Reihe entgegenwirkender Kräfte enthielt (wie oben gezeigt), die von ihr hervorgerufen wurden: ''Und so hat sich denn im allgemeinen gezeigt, daß dieselben Ursachen, die das Fallen der allgemeinen Profitrate hervorbringen, Gegenwirkungen hervorrufen, die diesen Fall hemmen, verlangsamen und teilweise paralysieren. Sie heben das Gesetz nicht auf, schwächen aber seine Wirkung ab. Ohne das wäre das Fallen der allgemeinen Profitrate unbegreiflich, sondern umgekehrt die relative Langsamkeit dieses Falls. So wirkt das Gesetz nur als Tendenz, dessen Wirkung nur unter bestimmten Umständen und im Verlauf langer Perioden schlagend hervortritt'' (ebenda, S.249)).

*  Gegenüber der Tendenz der fallenden Profitrate setzte er die ursprüngliche Bedeutung des ''Außenhandels'' und vor allem die ständige Suche nach neuen Märkten: ''Derselbe auswärtige Handel... entwickelt im Inland die kapitalistische Produktionsweise, und damit die Abnahme des variablen Kapitals gegenüber dem konstanten, und produziert auf der andern Seite Überproduktion mit Bezug auf das Ausland, hat daher auch wieder im weitern Verlauf die entgegengesetzte Wirkung.'' (ebenda, S.249).

3.  Schließlich sah Marx, im Gegensatz zu dem, was die Genossen denken, in der Entwertung des Kapitals nicht das einzige Mittel, das der Kapitalismus für die Überwindung der Krise hat; er bestand ebenfalls auf das andere Mittel: die Eroberung neuer Märkte: ''Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen ? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte.'' (Das Kommunistische Manifest). ''Die kapitalistische Produktion als eine vorübergehende ökonomische Phase ist voll innerer Widersprüche, die sich in dem Maße entfalten und sichtbar werden, in dem sie sich selbst entfaltet. Die Tendenz, ihren eigenen Markt zu schaffen und zugleich zu zerstören, ist einer dieser Widersprüche. Ein anderer liegt in der ausweglosen Situation, zu der sie führt und die in einem Land ohne auswärtigen Markt, wie Rußland, eher eintritt als in Ländern, die auf dem freien Weltmarkt mehr oder weniger konkurrenzfähig sind. Diese letztgenannten Länder finden in einer solchen scheinbar ausweglosen Lage eine Lösung in der Ausdehnung des Handels durch gewaltsame Erschließung neuer Märkte. Aber auch da steht man vor einem cul-de-sac (Sackgasse). Nehmen Sie England. Der letzte neue Markt, dessen Erschließung dem englischen Handel eine zeitweilige Wiederbelebung bringen könnte, ist China’ (Engels an Nikolai Franzewitsch Danielson, 22. Sept. 1892, MEW 38, S. 470).

Das Problem der Akkumulation

Die Genossen geben uns jedoch noch ein anderes ''gewichtiges'' Argument: ''Wie wir zuvor hervorgehoben haben, erklärt diese Theorie (sie beziehen sich auf jene von Rosa Luxemburg) das Kapital für unsinnig, denn Marx führte seine Analyse unter der Annahme eines geschlossenen kapitalistischen Systems aus, das bereits frei von 'dritten Käufern' ist (und dennoch fand er einen Krisenmechanismus)'' (The IBRP's response, S.33).

Es ist ganz richtig, daß Marx hervorgehoben hat, daß ''die Hereinziehung des auswärtigen Handels bei Analyse des jährlich reproduzierten Produktenwerts... also nur verwirren (kann), ohne irgendein neues Moment, sei es des Problems, sei es seiner Lösung zu liefern'' (Das Kapital, Bd.2, S.466). Es ist richtig, daß Marx, im letzten Kapitel von Bd.2, bei dem Versuch, die Mechanismen der erweiterten Reproduktion des Kapitalismus zu verstehen, sagt, daß es notwendig ist, ''äußere Elemente'' wegzulassen, daß es notwendig ist, davon auszugehen, daß es nur Kapitalisten und Arbeiter gibt, und auf dieser Basis erarbeitete er das Schema der erweiterten Reproduktion des Kapitals. Diese berühmten Schemata haben als revisionistische ''Bibel'' gedient, um ''zu demonstrieren'', daß ''die Marxschen Darlegungen im zweiten Band des 'Kapitals'... eine ausreichende und erschöpfende Erklärung der Akkumulation (seien), dort sei eben durch die Schemata klipp und klar nachgewiesen, daß das Kapital ausgezeichnet wachsen, die Produktion sich ausdehnen könne, wenn in der Welt keine andere als die kapitalistische existierte; sie sei für sich selbst Absatzmarkt, und nur meine totale Unfähigkeit, das Abc der Marxschen Schemata zu begreifen, konnte mich dazu verleiten, hier ein Problem zu erblicken !'' (Rosa Luxemburg: Antikritik, Gesammelte Werke, Bd.5, S.433).

Es ist absurd vorzugeben, daß die Erklärung der Krise des Kapitalismus innerhalb der berühmten Schemata der Reproduktion enthalten ist. Im Mittelpunkt von Rosa Luxemburgs Kritik steht exakt die sich darauf stützende Behauptung: ''Die Realisierung des Mehrwerts zu Zwecken der Akkumulation ist also in einer Gesellschaft, die nur aus Arbeitern und Kapitalisten besteht, eine unlösbare Aufgabe'' (Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals, Gesammelte Werke, Bd.5, S.299). Von diesem Ausgangspunkt aus demonstriert sie ihre Inkonsequenz: ''Für wen produzieren die Kapitalisten, wenn und soweit sie nicht selbst konsumieren, sondern 'entsagen', d.h. akkumulieren ? Noch weniger kann die Erhaltung einer immer größeren Armee von Arbeitern der Zweck der ununterbrochenen Kapitalakkumulation sein. Die Konsumtion der Arbeiter ist kapitalistisch eine Folge der Akkumulation, niemals ihr Zweck und ihre Voraussetzung, wenn anders die Grundlagen der kapitalistischen Produktion nicht auf den Kopf gestellt werden sollen. Und jedenfalls können die Arbeiter stets nur den Teil des Produkts konsumieren, der dem variablen Kapital entspricht, kein  Jota darüber hinaus. Wer realisiert also den beständig wachsenden Mehrwert ? Das Schema antwortet: die Kapitalisten selbst und nur sie. Und was fangen sie mit ihrem wachsenden Mehrwert an ? Das Schema antwortet: Sie gebrauchen ihn, um ihre Produktion immer mehr zu erweitern. Diese Kapitalisten sind also Fanatiker der Produktionserweiterung um der Produktionserweiterung willen. Sie lassen immer neue Maschinen bauen, um damit immer wieder neue Maschinen zu bauen. Was wir aber auf diese Weise bekommen, ist nicht eine Kapitalakkumulation, sondern eine wachsende Produktion von Produktionsmitteln ohne jeden Zweck, und es gehört die Tugan-Baranowskische Kühnheit und Freude an Paradoxen dazu, um anzunehmen, dieses unermüdliche Karussell im leeren Luftraum könne ein treues theoretisches Spiegelbild der kapitalistischen Wirklichkeit und eine wirkliche Konsequenz der Marxschen Lehre sein.'' (ebenda, S.284/285)).

Daher schließt sie daraus, daß ''Marx seine allgemeine Auffassung von dem charakteristischen Gang der kapitalistischen Akkumulation in seinem ganzen Werke, namentlich im dritten Bande, sehr ausführlich und deutlich niedergelegt (hat). Und man braucht sich nur in diese Auffassung hineindenken, um das Unzulängliche des Schemas am Schluß des zweiten Bandes ohne Mühe einzusehen. Prüft man das Schema der erweiterten Reproduktion gerade vom Standpunkte der Marxschen Theorie, so muß man finden, daß es sich mit ihr in mehreren Hinsichten im Widerspruch befindet.'' (ebenda, S.285)).

Während seiner historischen Entwicklung war der Kapitalismus von einem ihn umgebenden vorkapitalistischen Milieu abhängig, zu dem er ein Verhältnis unterhielt. Dieses umfaßte drei untrennbare Elemente: den Handel (die Aneignung von Rohstoffen und der Austausch von Manufakturwaren), die Zerstörung sozialer Formen (die Vernichtung der natürlichen Subsistenzwirtschaft, die Trennung der Bauern und Handwerker von ihren Arbeitsmitteln) und die Integration in die kapitalistische Produktion (die Entwicklung von Lohnarbeit und all der kapitalistischen Institutionen).

Dieses Verhältnis von Handel-Zerstörung-Integration erstreckte sich über den gesamten Prozeß der Bildung des kapitalistischen Systems (im 16.-18.Jahrhundert), seines Gipfels (im 19.Jahrhundert) und seiner Dekadenz (im 20.Jahrhundert) und bildete eine vitale Notwendigkeit für die Gesamtheit der Produktionsbeziehungen: ''Der Akkumulationsprozeß des Kapitals ist durch alle seine Wertbeziehungen und Sachbeziehungen: konstantes Kapital, variables Kapital, variables Kapital und Mehrwert an nichtkapitalistische Produktionsformen gebunden. Letztere bilden das gegebene historische Milieu jenes Prozesses. Die Kapitalakkumulation kann so wenig unter der Voraussetzung der ausschließlichen und absoluten Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise dargestellt werden, daß sie vielmehr ohne das nichtkapitalistische Milieu in jeder Hinsicht undenkbar ist.'' (ebenda, S.314)).

Für Battaglia Comunista ist dieser historische Prozeß, der sich auf der Ebene des Weltmarktes entfaltet, nichts anderes als die Widerspiegelung eines viel tieferen Prozesses: ''Auch wenn wir mit dem Markt und mit den Widersprüchen, die dort auftreten (Produktion-Verteilung, Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage), beginnen mögen, müssen wir letztendlich doch zu den Mechanismen zurückkehren, die die Akkumulation beherrschen, um zu einer korrekteren Sichtweise des Problems zu gelangen. Als eine Einheit von Produktion und Verteilung erfordert das Kapital, daß wir berücksichtigen, was auf dem Markt infolge der Heranreifung von Widersprüchen passiert, die am Anfang, und nicht am Ende der Produktionsverhältnisse stehen. Es ist der ökonomische Zyklus und die Notwendigkeit für die Verwertbarkeit des Kapitals, die den Markt bedingt. Nur wenn wir von den widersprüchlichen Gesetzen ausgehen, die den Akkumulationsprozeß beherrschen, ist es möglich, die 'Marktgesetze' zu erklären.''  (2.Konferenz von Gruppen der kommunistischen Linken, Band 1 der Vorbereitungstexte, S.10)

Die Realisierung des Mehrwerts, dieser famose ''Salto mortale der Ware'', wie Marx es nannte, bildet die ''Oberfläche'' des Phänomens, den ''Resonanzkörper'' der Widersprüche der Akkumulation. Diese Sichtweise mit ihrem Anschein von ''Tiefgründigkeit'' enthält nichts anderes als profunden Idealismus: Die ''Marktgesetze'' sind das ''äußere'' Resultat der ''inneren'' Gesetze des Akkumulationsprozesses. Das ist nicht die Sicht von Marx, für dem die beiden Momente der kapitalistischen Produktion (Produktion und Realisierung) nicht die Widerspiegelung des einen durch den anderen sind, sondern zwei unzertrennliche Teile der globalen Einheit, die die historische Evolution des Kapitalismus darstellen: ''.... Zitat ....'' (Marx: Ein Beitrag zur Kritik der politischen Ökonomie, Kapitel 2).

Jeder Versuch, die Produktion von der Realisierung zu trennen, erschwert das Verständnis der historischen Bewegung des Kapitalismus, die zu seinem Gipfel (die Bildung des Weltmarktes) und zu seiner historischen Krise (die chronische Sättigung des Weltmarktes) führt: ‘In dem Maße endlich, wie die Kapitalisten durch die oben geschilderte Bewegung gezwungen werden, schon vorhandene riesenhafte Produktionsmittel auf größerer Stufenleiter auszubeuten... nehmen mit einem Wort die Krisen zu. Sie werden häufiger und heftiger schon deswegen, weil in demselben Maß, worin die Produktenmasse, also das Bedürfnis nach ausgedehnten Märkten wächst, der Weltmarkt immer mehr sich zusammenzieht, immer weniger Märkte zur Exploitation übrigbleiben, da jede vorhergehende Krise einen bisher uneroberten oder vom Handel nur oberflächlich ausgebeuteten Markt dem Welthandel unterworfen hat’ (Lohnarbeit und Kapital, MEW 6, S. 423,).

Als Lenin die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland studierte, benutzte er dieselbe Methode: 'Wichtig ist, daß der Kapitalismus nicht bestehen und sich nicht entwickeln kann ohne ständige Erweiterung seiner Herrschaftssphäre, ohne Kolonisation neuer Länder und Einbeziehung nichtkapitalistischer alter Länder in den Strudel der Weltwirtschaft. Und diese Eigenschaft des Kapitalismus machte und macht sich in Rußland nach der Reform mit größer Kraft geltend’ (Lenin: Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, Gesammelte Werke, Bd.3, S. 615, 8. Kapitel, V.).

Die historischen Grenzen des Kapitalismus

Die Genossen vom IBRP denken jedoch, daß Rosa Luxemburg darauf beharrt habe, nach ''äußeren'' Ursachen der Krise des Kapitalismus zu schauen: ''Anfänglich unterstützte Luxemburg die Idee, daß die Ursache der Krise in den Wertverhältnissen zu suchen ist, die der kapitalistischen Produktionsweise selbst innewohnen.... Aber in der Auseinandersetzung mit dem Revisionismus innerhalb der deutschen Sozialdemokratie schien sie 1913 dazu verleitet worden sein, nach einer anderen ökonomischen Theorie Ausschau zu halten, um der revisionistischen Behauptung entgegenzutreten, daß das Gesetz der Tendenz der fallenden Profitrate nicht mehr gültig sei. In Die Akkumulation des Kapitals zog sie die Schlußfolgerung, daß es 'einen Makel in Marxens Analyse' gab, und sie beschloß, daß die Ursache der kapitalistischen Krise außerhalb der kapitalistischen Beziehungen liegt.'' (The IBRP's response, S.33)

Die Revisionisten schleuderten Rosa Luxemburg die Beschuldigung ins Gesicht, daß sie ein Problem aufstellt, das nicht existiert, denn nach ihnen hatten Marxens Schemata der erweiterten Reproduktion ''demonstriert'', daß aller Mehrwert innerhalb des Kapitalismus realisiert wird. Die Genossen vom IBRP berufen sich nicht auf diese Schemata, aber ihre Methode läuft auf dasselbe hinaus: Für sie hat Marx mit seinen Schemata der Akkumulationszyklen die Lösung gegeben. Das Kapital fährt mit Produktion und Entwicklung fort, bis die Profitrate fällt und die Produktion gehemmt wird, was dann die Tendenz zu einer ''objektiven'' Eigenlösung durch massive Kapitalentwertung hervorbringt. Nach dieser Wertminderung hat sich die Profitrate erholt, und der Prozeß beginnt aufs neue und so weiter. Es ist richtig, daß die Genossen einräumen, daß diese Evolution historisch viel komplizierter ist, entsprechend dem Wachstum in der organischen Zusammensetzung des Kapitals und der Tendenz zu Konzentration und Zentralisierung des Kapitals: daß dieser Konzentrationsprozeß im 20.Jahrhundert bedeutet, daß die notwendige Kapitalentwertung sich nicht auf strikt ökonomische Mittel (Schließung von Fabriken und Entlassung von Arbeitern) beschränken kann, sondern die enorme Zerstörung durch einen Weltkrieg erfordert (s. den ersten Teil dieses Artikels).

Diese Erklärung ist in der Mehrheit der Fälle eine Beschreibung der konjunkturellen Bewegungen des Kapitalismus, aber sie erlaubt nicht das Verständnis der globalen historischen Bewegung des Kapitalismus. Sie versorgt uns mit einem unzuverlässigen Thermometer (wir haben, Marx gemäß, die entgegenstrebenden Ursachen des Gesetzes erklärt) für die Wendungen und Fortschritte des Kapitalismus, aber es versetzt uns nicht einmal ansatzweise in die Lage, den Grund, die tiefe Ursache der Krankheit zu verstehen. Unter der zusätzlichen Bürde der Dekadenz (s. unsere Artikel in der International Review Nr.79 und 82) wurde die Akkumulation weitgehend blockiert, und ihre Mechanismen (also einschließlich der Tendenz der fallenden Profitrate) wurden durch massive Staatsinterventionen verändert und pervertiert.

Die Genossen erinnern uns daran, daß nach Marx die Ursachen der Krise dem Kapitalismus innewohnen.

Was wollen die Genossen mehr als die dem Kapitalismus ''innewohnende'', zwingende Notwendigkeit einer ständigen Ausweitung der Produktion über die Grenzen des Marktes hinaus ? Das Ziel des Kapitalismus ist nicht die Befriedigung von Konsumbedürfnissen (ungleich dem Feudalismus, dessen Ziel dem Konsum der Edelleute und Priester galt). Er ist auch kein System der einfachen Warenproduktion (solche Methoden konnten im Altertum und bis zu einem gewissen Punkt im 14. und 15.Jahrhundert beobachtet werden). Sein Produktionsziel ist ein stetig steigender Mehrwert, der aus den auf der Lohnarbeit fußenden Wertverhältnissen stammt. Dies erfordert, daß er sich permanent auf der Suche nach neuen Märkten befindet. Warum ? Um ein Regime des einfachen Warenaustausches zu etablieren ? Um des Raubes und der Sklavenhaltung willen ? Nein, obwohl diese Methoden die Entwicklung des Kapitalismus begleitet haben, bilden sie nicht das innere Wesen, das in der Notwendigkeit einer steigenden Ausweitung seiner auf der Lohnarbeit basierenden Produktionsverhältnisse ruht: ''Traurigerweise kann das Kapital kein Geschäft mit seinen nichtkapitalistischen Kunden betreiben, ohne sie zu ruinieren. Ob es ihnen Konsum- oder Produktionsgüter verkauft, es zerstört das prekäre Gleichgewicht einer jeden vorkapitalistischen (und daher weniger produktiven) Ökonomie. Die Einführung von billiger Kleidung, der Bau von Eisenbahnen, die Errichtung einer Fabrik reicht aus, um die gesamte vorkapitalistische Wirtschaftsorganisation zu zerstören. Das Kapital mag seine vorkapitalistischen Kunden so, wie Oger Kinder 'mag': Es frißt sie auf. Die Arbeiter einer vorkapitalistischen Wirtschaft, die das 'Pech' haben, es mit den Kapitalisten zu tun zu bekommen, erkennen früher oder später, daß sie bestenfalls proletarisiert oder schlimmstenfalls - und dies ist seit dem Abgleiten des Kapitalismus in die Dekadenz immer häufiger der Fall - zu Elend und Bankrott verdammt sind.'' (Kritik an Bucharin, Teil 2, International Review Nr.30)

In der aufsteigenden Periode, im 19.Jahrhundert, schien dieses Realisierungsproblem zweitrangig zu sein, da der Kapitalismus ständig neue vorkapitalistische Gebiete fand, die er in sein Netzwerk integrierte und denen er folglich seine Waren verkaufte. Im 20.Jahrhundert jedoch, als die nichtkapitalistischen Territorien im Verhältnis zu den Expansionsbedürfnissen in wachsendem Maße an Bedeutung verloren, erhielt das Realisierungsproblem eine entscheidende Bedeutung. Daher sagen wir, daß Rosa Luxemburgs Theorie ‘eine Er­klärung für die historisch konkreten Be­dingungen liefert, die den Beginn der permanen­ten Systemkrise bestimmen: Je mehr der Kapitalismus die verbliebenen nicht-kapi­talistischen Wirtschaftsbereiche in sich selbst eingegliedert hat, je mehr er die Welt nach seinem Bild geformt hat, desto weniger konstant kann er seine Märkte ausweiten und neue Auswege für die Re­alisierung jenes Teils des Mehrwerts fin­den, der weder von den Kapitalisten noch vom Proletariat realisiert werden kann. Die Unfähigkeit des Systems, weiter in alter Manier zu expandieren, bewirkte die neue Epoche des Imperialismus und der in­terimperialistischen Kriege, die das Ende der fortschrittlichen historischen Mission des Kapitalismus bedeuteten und die Menschheit mit dem Rückfall in die Bar­barei bedrohten' ((''Der Kommunismus ist nicht eine schöne Idee, sondern eine materielle Notwendigkeit'', Teil 7).

Wir streiten nicht die Tendenz der fallenden Profitrate ab, wir betrachten sie als ein Teil der historischen Evolution des Kapitalismus. Diese ist beeinflußt von einer ganzen Reihe von Widersprüchen: den Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und dem privaten Charakter der Aneignung, zwischen der unaufhörlichen Steigerung der Arbeitsproduktivität und dem fallenden Anteil der lebenden Arbeit, die bereits erwähnte Tendenz der fallenden Profitrate.... Jedoch konnten diese Widersprüche nur solange eine Stimulans für die Entwicklung des Kapitalismus sein, wie er die Möglichkeit hatte, sein Produktionssystem auf Weltebene auszudehnen. Als der Kapitalismus seine historischen Grenzen erreichte, verkehrten sich diese stimulierenden Widersprüche in schwere Ketten, in Faktoren, die die Schwierigkeiten und Konvulsionen des Systems verschärften.

 Produktionssteigerung in der Dekadenz des Kapitalismus

Die Genossen vom IBRP erheben einen wirklich verblüffenden Einwand: ''Wenn die Märkte bereits 1913 gesättigt wurden, wenn alle vorkapitalistischen Auswege erschöpft sind, können neue nicht neu geschaffen werden (abgesehen von einem Trip zum Mars). Wenn aber der Kapitalismus über die Wachstumsebene des vorherigen Zyklus' hinausgeht, wie geht das mit der Theorie von Luxemburg zusammen ?'' (The IBRP's response, S.33)

Während unser polemische Artikel in der International Review Nr.79 die Natur und Zusammensetzung der ''ökonomischen Wachstums'' nach dem 2.Weltkrieg klar gemacht hat, kritisieren uns die Genossen in ihrer Antwort, indem sie sagen, daß es ein ''wirkliches ökonomisches Wachstum des Kapitalismus in der Dekadenz'' gegeben hat, und angesichts unser Verteidigung der Positionen von Rosa Luxemburg fahren sie fort: ''Wir haben bereits gesehen, wie die IKS das Dilemma löst - durch die empirische Leugnung, daß es ein wirkliches Wachstum gegeben hat.'' (ebenda, S.33)

Wir können hier nicht die Analyse der Natur des ''Wachstums'' seit 1945 wiederholen. Wir laden die Genossen dazu ein, den Artikel ''Understanding the decadence of capitalism (part VI)'' in der International Review Nr.56 (auf deutsch in Internationale Revue Nr. 15) zu lesen, der klarstellt, daß bezüglich der ''Wachstumsraten in der 1945 folgenden Periode (die höchste in der Geschichte des Kapitalismus)... wir aufzeigen werden, daß dieser zeitweilige Aufschwung das Produkt eines gedopten Wachstums ist, das nichts anderes ist als der verzweifelte Kampf eines Systems in seinem Todeskampf. Die Mittel, die benutzt wurden, um dies zu erreichen (massive Verschuldung, Staatsintervention, wachsende Rüstungsproduktion, unproduktive Ausgaben, etc.) sind ausgewrungen, womit der Weg zu einer beispiellosen Krise eröffnet ist.'' Womit wir uns befassen wollen, ist etwas grundsätzlich Marxistisches: das quantitative Wachstum der Produktion bedeutet nicht notwendigerweise eine Entwicklung des Kapitalismus.

Das chronische endlose Problem, das der Kapitalismus in der Dekadenz hat, ist die Abwesenheit von neuen Märkten, die erforderlich geworden sind durch die Produktionssteigerungen, die auf das konstante Wachstum in der Arbeitsproduktivität und in der organischen Zusammensetzung zurückzuführen sind. Dieses konstante Wachstum erschwert das Problem der bereits steigenden Überproduktion von akkumulierter Arbeit (konstantes Kapital) im Verhältnis zur lebenden Arbeit (variables Kapital, die Lebensmittel der Arbeiter) noch mehr.

Die gesamte Überlebensgeschichte des Kapitalismus im 20.Jahrhundert nach der Niederlage der revolutionären Welle 1917-23 ist das verzweifelte Bemühen, das Wertgesetz durch Schulden, Hyperinflation von unproduktiven Kosten und die monströse Entwicklung der Rüstung zu manipulieren, um die Folgen der chronischen Abwesenheit neuer Märkte zu lindern. Und die Geschichte zeigt, daß diese Bemühungen nichts anderes bewirkt haben, als die Probleme zu verschlimmern und die Tendenzen des dekadenten Kapitalismus zur Selbstzerstörung zu schüren: Die Verschlimmerung der chronischen Krise des Kapitalismus verstärkt die permanenten Tendenzen zum imperialistischen Krieg, zur allgemeinen Zerstörung (s. den ersten Teil dieses Artikels in der International Review Nr.82).

In Wahrheit illustriert dieses ''fabelhafte'' Produktionswachstum, das die Genossen so sehr blendet, den unüberwindlichen Widerspruch, den der Kapitalismus mit seiner Tendenz der unbegrenzten Entwicklung der Produktion über die Absorptionsfähigkeit des Marktes hinaus erzwingt. Diese Zahlen untergraben die Theorien von Rosa Luxemburg ganz und gar nicht, sondern bestätigen sie völlig. Wenn wir das unkontrollierte und galoppierende Wachstum der Schulden betrachten, das ohne jeden Vergleich in der menschlichen Geschichte steht, wenn wir die Existenz der strukturellen und permanenten Inflation betrachten, wenn wir sehen, daß seit der Abschaffung des Goldstandards der Kapitalismus unbekümmert jede garantierte Deckung des Geldes eliminierte (gegenwärtig erfaßt Fort Knox lediglich 3 % der Dollar, die in den Vereinigten Staaten zirkulieren), wenn man die massive Intervention durch den Staat erkennt, um das ökonomische Gefüge abzustützen (und dies seit mehr als 50 Jahren), so muß jeder annähernd ernsthafte Marxist dieses ''fabelhafte Wachstum'' als ein Bluff in Abrede stellen und die Schlußfolgerung ziehen, daß es sich hier um eine Frage von gedopten und betrügerischen Wachstum handelt.

Statt sich diese Realität zu vergegenwärtigen, ziehen die Genossen es vor, über die ''neuen Realitäten'' des Kapitalismus zu spekulieren. So unterbreiten sie in ihrer Antwort folgendes: ''Die Umstrukturierung (und, wir müssen es leider sagen, das Wachstum) der Arbeiterklasse, die Tendenz der kapitalistischen Staaten, durch das Volumen des Welthandels und den Kapitalbetrag, der von den Weltfinanzinstitutionen kontrolliert wird (der heute mindestens viermal so groß ist wie das Budget aller Staaten zusammengenommen), ökonomisch zu verkümmern, hat eine weitere Ausweitung der Weltwirtschaft aus Bucharins und Luxemburgs Tagen in eine globalisierte Ökonomie produziert.'' (The IBRP's response, S.35)

Da gibt es 820 Millionen Arbeitslose in der Welt (Zahlen von der IAO, Dezember 1994), aber die Genossen sprechen von einem Wachstum der Arbeiterklasse ! Da gibt es ein irreversibles Wachstum der Zeitarbeit, aber die Genossen sehen wie moderne Don Qixotes die Windmühlen des ''Wachstums'' und der ''Wiederherstellung'' der Arbeiterklasse ! Da gerät der Kapitalismus immer näher an eine Finanzkrise von unkalkulierbarem Ausmaß, aber die Genossen spekulieren fröhlich über die ''globale Ökonomie'' und über das ''Kapital, das von den Finanzinstitutionen kontrolliert wird''. Noch einmal, in ihren Träumen sehen sie ihre heimliche Liebe in der ''Weltwirtschaft'', deren prosaische Wirklichkeit in den verzweifelten Bemühungen dieser - ''immer kindlicheren'' - Staaten besteht, den Grad der Spekulationen zu kontrollieren, die exakt von der Sättigung des Marktes provoziert werden; diese Giganten, die vom ''durch die Finanzinstitutionen kontrollierten Kapital'' konstituiert wurden, sind Luftballons, die durch eine Spekulation gewaltig aufgebläht sind, welche eine Katastrophe für die Weltwirtschaft auslösen könnte.

Die Genossen kündigen an: ''All das oben Erwähnte muß einer rigorosen marxistischen Analyse unterzogen werden, deren Entwicklung Zeit bedarf.'' (The IBRP's Response, S.35) Ist es für die militante Arbeit der kommunistischen Linken nicht sinnvoller, wenn die Genossen ihre Zeit der Erklärung des Phänomens widmen, das die Paralyse und tödliche Krankheit der Akkumulation in der ganzen kapitalistischen Dekadenz hindurch demonstriert ? Marx sagte, der Fehler liege nicht in der Antwort, sondern in der Frage selbst. Solche Fragen wie die der ''globalen Ökonomie'' und der ''Wiederherstellung der Arbeiterklasse'' zu stellen, heißt, in den Treibsand des Revisionismus zu versinken, wohingegen es ''andere Fragen'' gibt wie die der Natur der Massenarbeitslosigkeit oder die der Schuldenlast, die die grundsätzlichen Probleme beim Verständnis der kapitalistischen Dekadenz zu konfrontieren helfen.

Militante Schlußfolgerungen

Im ersten Teil dieses Artikels betonten wir, was uns verband mit den Genossen des IBRP: die unnachgiebige Verteidigung der marxistischen Position zur Dekadenz des Kapitalismus, das Fundament der Notwendigkeit der kommunistischen Revolution. Es ist grundlegend, diese Position bis zu Ende zu vertreten, in ihrem Zusammenhang zu verstehen und ihre Folgen anzunehmen. Wie wir in ''Marxism and Crisis Theory'' (International Review Nr.13) erklärt haben, ist es möglich, die Position zur Dekadenz des Kapitalismus zu vertreten, ohne unsere auf Rosa Luxemburgs Analyse basierende Theorie völlig zu teilen[9]. Jedoch birgt solch eine Haltung die Gefahr in sich, diese Position nicht kohärent einzuhalten, ''sie mit Leim zusammenzuhalten''. Der militante Zweck unserer Polemik geht genau darum: Die Inkonsequenzen und Verwirrungen der Genossen führen sie dazu, die Klassenposition zur Dekadenz des Kapitalismus zu schwächen.

Mit der ihr eigenen sektiererischen Ablehnung der These Rosa Luxemburgs (und Marx') über die Frage der Märkte öffnet die Analyse der Genossen den revisionistischen Ideen Tugan-Baranowskis u.a. die Tür: ''Akkumulationszyklen wohnen dem Kapitalismus inne, und sie erklären, warum in verschiedenen Momenten die kapitalistische Produktion und das kapitalistische Wachstum größer oder kleiner als in den vorhergehenden Perioden ist.'' (The IBRP's Response, S.31) Damit übernehmen sie eine alte Behauptung, die von Battaglia Comunista während der Internationalen Konferenz der Gruppen der Kommunistischen Linken aufgestellt wurde: ''Der Markt ist keine außerhalb des kapitalistischen Produktionssystems existierende physische Einheit, die auf die Produktionsbremse tritt, sobald sie abgefüllt ist; im Gegenteil, er ist eine ökonomische Realität innerhalb des Systems und nicht außerhalb davon, er weitet sich aus und zieht sich zusammen entsprechend dem widersprüchlichen Kurs des Akkumulationsprozesses.'' (2.Konferenz der Gruppen der kommunistischen Linken, Vorbereitungstexte, S.13)

Begreifen die Genossen nicht, daß sie mit dieser ''Methode'' in die Welt von Say eintreten, wo außerhalb von kunjunkturellen Disproportionalitäten ''alles, was produziert wird, konsumiert wird, und alles, was konsumiert wird, auch produziert wird'' ? Verstehen die Genossen nicht, daß sie mit dieser Analyse auf den phänomenalen ''Beweis'' zurückgreifen, daß der Markt ''sich gemäß dem Akkumulationsrhytmus ausweitet oder zusammenzieht'', was absolut nichts über die historische Evolution der kapitalistischen Akkumulation aussagt ? Sehen die Genossen nicht, daß sie denselben Irrtümern anheimfallen, die Marx kritisierte: ''.... Zitat ....'' (Marx: Ein Beitrag zur Kritik der politischen Ökonomie)

Die Tatsache, daß die Genossen die Tür zu den revisionistischen Theorien nur angelehnt haben, erklärt ihren Hang, sich selbst in sterilen und absurden Spekulationen über die ''Rekonstruktion der Arbeiterklasse'' oder die ''globale Ökonomie'' zu verlieren. Sie sollten sich auch ihrer Neigung bewußt sein, die sie dazu veranlaßt, von den Sirenenklängen der Bourgeoisie angezogen zu werden: Zunächst gab es die ''technologische Revolution''. Dann die fabelhaften Märkte des Ostens, später gab es das ''Geschäft'' mit dem Krieg in Jugoslawien. Sicherlich, die Genossen korrigierten unter dem Gewicht der Kritik der IKS und der überwältigenden Offenkundigkeit der Tatsachen diese Absurditäten. Dies demonstriert ihre Verantwortung und ihre feste Verbundenheit mit der kommunistischen Linken. Aber werden die Genossen mit uns darin übereinstimmen, daß diese Irrtümer aufzeigen, daß ihre Position über die Dekadenz des Kapitalismus nicht konsequent genug ist, daß diese ein Flickwerk ist und daß sie (die Genossen) sich auf eine festere Grundlage stellen müssen?

Die Genossen pflichten den revisionistischen Widersachern von Rosa Luxemburg bei, indem sie sich weigern, das Problem der Realisierung ernst zu nehmen, aber sie distanzieren sich radikal von ihnen, indem sie deren Vision einer Tendenz zur Linderung der Gegensätze des Kapitalismus ablehnen. Im Gegenteil, und mit vollem Recht, sehen die Genossen, daß jede Krisenphase im Akkumulationszyklus eine noch größere und tiefere Verschärfung der Widersprüche des Kapitalismus bedeutet. Das Problem liegt genau in jenen Perioden begraben, in denen, nach ihnen, die kapitalistische Akkumulation sich völlig erholt. Angesichts dieser Perioden, dabei nur die Tendenz der fallenden Profitrate anerkennend und den Blick auf die chronische Sättigung des Marktes verweigernd, vergessen oder bagatellisieren die Genossen die revolutionäre Position über die Dekadenz des Kapitalismus.

Adalen 16.6.95

[1] Wir haben unsere Position in zahlreichen Artikeln in unserer Internationalen Revue entwickelt: Wir wollen hier auf ''Marxism and Crisis Theory'' (Nr.13), ''Economic Theories and the Struggle for Socialism'' (Nr.16), ''Crisis Theory from Marx to the CI'' (Nr.22), ''Critique of Bukharin'' (Nr.29 & 30), Teil 7 der Reihe ''Communism is not a nice idea but a material necessity'' (Nr.76) hinweisen. Die Genossen haben in ihrer Antwort gesagt, daß die IKS die Kritik ihrer Positionen nicht, wie im Artikel ''Marxism and Crisis Theory'' angekündigt, fortgesetzt habe. Die bloße Aufzählung dieser Artikelliste macht klar, daß dies falsch ist.

[2]Rodbertus war Mitte des letzten Jahrhunderts ein bürgerlicher Sozialist, der das ''Gesetz'' des sich verringernden Lohnanteils formulierte. Ihm zufolge hing die Krise des Kapitalismus mit diesem Gesetz zusammen, und dementsprechend schlug er die Intervention des Staates vor, um die Löhne als Mittel gegen die Krise anzuheben. Die Revisionisten in der 2.Internationale beschuldigten Marx, sich auf die These von Rodbertus eingelassen zu haben, nannten ihnen einen ''Unterkonsumptionisten'' und wiederholten später dieselbe Beschuldigung gegenüber Rosa Luxemburg.

Heute sind viele Gewerkschaftler und auch bestimmte linksbürgerliche Strömungen uneingestandene Nachfolger von Rodbertus, indem sie behaupten, daß der Kapitalismus vorrangig an der Verbesserung des Arbeiterlebens interessiert sei, als ein Mittel, die Krise zu überwinden.

[3]Say war zu Beginn des 19.Jahrhunderts ein bürgerlicher Ökonom, der in seiner Verteidigung  des Kapitalismus darauf beharrte, daß es kein Marktproblem gebe, da ihm zufolge ''die Produktion ihren eigenen Markt schafft''. Solch eine Theorie ist das Äquivalent zu der Idee, daß der Kapitalismus ein unendliches System ohne jegliche Möglichkeit einer Krise ist, die über zeitweilige Erschütterungen hinausgeht, welche von ''schlechtem Management'' oder durch ''Disproportionen zwischen verschiedenen Produktionsbereichen'' provoziert werden. Wir sehen also, daß die gegenwärtigen Botschaften der Bourgeoisie über die ''Wiedergesundung'' nichts Neues sind

[4] Diese Technik des Opportunismus wurde vor langem vom Stalinismus, von der Sozialdemokratie und anderen Kräften der Linken des Kapitals (besonders von den Linksextremen) angenommen, die sich unverfroren dieser oder jener Zeilen von Lenin, Marx, etc. bedienen, um sie auf Positionen zu übertragen, die nichts mit ihnen zu tun haben.

[5] Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, daß in dieser von Rosa Luxemburgs Buch ausgelösten Polemik Pannekoek, der in jener Epoche weder ein Opportunist noch ein Revisionist war, sondern sich im Gegenteil auf dem linken Flügel der 2.Internationale befand, gegen Rosa Luxemburgs These war.

[6] Wir haben oftmals erklärt, daß Lenin, im Angesicht des Problems des Ersten Weltkriegs und besonders in seinem Buch Der Imperialismus - die höchste Stufe des Kapitalismus, richtigerweise die revolutionäre Position über die historische Krise des Kapitalismus (die er die Krise der Auflösung und des Parasitentums des Kapitals nannte) und über die Notwendigkeit einer Revolution durch das Weltproletariat verteidigte. Jedoch unterstützte er Hilferdings irrige Theorien über das Finanzkapital und die ''Kapitalkonzentration'', was besonders in den Händen seiner Epigonen die Kraft und Kohärenz seiner Position zum Imperialismus schwächte. Siehe dazu unsere Kritik in der International Review Nr.19, ''Über den Imperialismus''.

[7] zur Kritik an Bucharin siehe: International Review Nr. 29 & 30, ''To go beyond capitalism: Abolish the wage system'';

[8]Im Kapital, Band 3, weist Marx darauf hin, daß ''wird endlich gesagt, daß die Kapitalisten ja selbst nur unter sich ihre Waren auszutauschen und aufzuessen haben, so wird der ganze Charakter der kapitalistischen Produktion vergessen und vergessen, daß es sich um die Verwertung des Kapitals handelt, nicht um seinen Verzehr’ (Das Kapital, 3. Band, III. Abschnitt, 15. Kapitel, Überfluß an Kapital bei Überfluß an Bevölkerung,  S. 268)

[9] Die Plattform der IKS sagt, daß Genossen die Krisenerklärung vertreten können, welche auf der Tendenz der fallenden Profitrate beruht.

Aktuelles und Laufendes: 

  • Krisentheorie [87]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Internationales Büro für die Revolutionäre Partei [65]

Theoretische Fragen: 

  • Imperialismus [63]

Internationale Revue 18

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Deutsche Revolution Teil II: Der Beginn der Revolution

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Im letzten Artikel haben wir aufgezeigt, dass der Widerstand der Arbeiterklasse gegen den Krieg immer stärker wurde. Anfang 1917 - nach zweieinhalb Jahren Krieg, hatte die Arbeiterklasse international ein Kräftever­hältnis entwickeln können, wodurch die herr­schende Klasse immer mehr unter Druck geriet. Im Februar 1917 erhoben sich die Arbeiter in Russland gegen den Krieg und stürzten den Zar. Um aber den Krieg zu been­den, hatten sie im Oktober 1917 die bürgerli­che Regierung absetzen und die Macht ergrei­fen müssen. Russland hatte gezeigt: die Herbeiführung des Friedens war nicht möglich ohne den Sfürz der herrschenden Klasse. Die siegreiche Machtübernahme sollte eine ge­waltige Ausstrahlung auf die Arbeiter in den anderen Ländern haben. Zum ersten Mal in der Geschichte hatte es die Arbeiterklasse in einem Land geschafft, die Macht an sich zu reissen. Dies sollte ein Fanal für die Arbeiter in den anderen Ländern, vor allem in Öster­reich, Ungarn, ganz Mitteleuropa, hauptsäch­lich aber in Deutschland sein.

Auch in Deutschland hatten die Arbeiter nach anfänglichem Hurrapatriotismus zuneh­mend gegen den Krieg angekämpft. Ange­spornt durch die revolutionäre Entwicklung in Russland war nach mehreren vorausgegange­nen Kämpfen im April 1917 ein Massenstreik entbrannt. Im Januar 1918 stürzten sich ca. I Mio. Arbeiter in eine neue Streikbewegung, gründeten einen Arbeiterrat in Berlin. Unter dem Einfluss der Ereignisse in Russland zer­bröckelte im Sommer 1918 die Kampfbereit­schaft an den Fronten immer mehr. In den Fabriken brodelte es, auf den Strassen sammel­ten sich immer mehr Arbeiter, um den Wider­stand gegen den Krieg zu intensivieren. Die herrschende Klasse in Deutschland spürte die Ausstrahlung der russischen Revolution und wollte - um ihre eigene Haut zu retten - unbedingt ein Bollwerk gegen die Ausdehnung der Revolution errichten.

Aus der Entwicklung in Russland "schlau" geworden, zwang das Militär den Kaiser Ende September 1918 zum Abdanken und setzte eine neue Regierung ein. Aber die Kampfbe­reitschaft der Arbeiterklasse blieb weiter im Auftrieb. Es gärte weiterhin unaufhörlich.

Am 28. Oktober begann in Österreich, in den tschechischen und slowakischen Gebieten sowie in Budapest eine Welle von Streiks, die jeweils zum Sfürz der Monarchie führten. Überall entstanden wie in Russland Arbeiter­- und Soldatenräte.

Die herrschende Klasse aber auch die Re­volutionäre bereiteten sich jetzt auch in Deutschland auf eine entscheidende Phase der Auseinandersetzungen vor....

Die Revolutionäre bereiten den Aufstand vor

Auch wenn nahezu die gesamte Führungs­spitze der Spartakisten (Liebknecht, Luxem­burg, Jogiches) im Gefängnis sass, auch wenn durch einen Polizeischlag die illegale Drucke­rei der Partei für eine kurze Zeit lahmgelegt wurde, bereiteten die Revolutionäre um die Gruppe der Spartakisten weiter den Aufstand vor.

Anfang im Oktober hielten die Spartaki­sten mit den Linksradikalen aus Bremen und anderen Städten eine Konferenz ab.

Auf dieser Konferenz wurde der Beginn der offenen revolutionären Auseinanderset­zungen signalisiert und folgender Aufruf beschlossen, der in Deutschland wie an der Front in zahlreichen Exemplaren verbreitet wurde. Seine Hauptideen waren:

Die Soldaten haben begonnen, ihr Joch abzuwerfen, die Armee zerbricht, aber diese erste Regung der Revolution findet schon die Konterrevolution auf ihrem Posten. Indem sie scheinbare "demokratische" Rechte einräumt, versucht die Konterrevolution, da die Ge­waltmittel versagen, die Bewegung einzu­dämmen. Parlamentarisierung und ein neues Wahlrecht sollen das Proletariat dazu bewe­gen, weiter seine Lage zu erdulden.

"In der Diskussion über die internationale Lage wurde der Tatsache Ausdruck gegeben, dass die Bewegung in Deutschland eine we­sentliche moralische Unterstützung durch die russische Revolution gefunden hat. Es wurde beschlossen, den Genossen in Russland den Ausdruck des Dankes, der Solidarität und brüderlicher Sympathie zu übermitteln mit dem Versprechen, diese Solidarität nicht durch Worte, sondern durch Aktionen, ent­sprechend dem russischen Vorbild, zu bestäti­gen

"Die spontanen Meuterungen unter den Soldaten gilt es mit allen Mitteln zu unterstüt­zen, zum bewaffneten Aufstand überzuleiten, den bewaffneten Aufstand zum Kampf um die ganze Macht für die Arbeiter und Soldaten auszuweiten und durch Massenstreiks der Arbeiter für uns siegreich zu machen. Das ist die Arbeit der allernächsten Tage und Wo­chen."

Vom Anfang dieser revolutionären Aus­einandersetzungen an können wir feststellen, dass die Spartakisten sofort die politischen Manöver der herrschenden Klasse durch­schauten, den trügerischen Charakter der bürgerlichen Demokratie blosslegten und die erforderlichen Schritte zum Vorantreiben der Bewegung ohne Verzögerung erkannt hatten: den Aufstand vorbereiten und die Arbeiter­klasse in Russland nicht nur mit Worten, son­dern auch mit Taten unterstützen. Sie hatten verstanden: die Solidarität der Arbeiterklasse in dieser neuen Situation konnte sich nicht auf Worte beschränken, sondern die Arbeiter müssen selber in den Kampf treten. Diese Lehre zieht sich seitdem wie ein roter Faden durch die Erfahrung der Arbeiterkämpfe!

Aber die Bourgeoisie stand Gewehr bei Fuss. Sie hatte den Kaiser abgesetzt und ihn durch einen neuen Prinzen, Max von Baden, am 3. Oktober ersetzt. Und die SPD war schon im Oktober 1918 an der Regierung beteiligt.

Die SPD, die im vorigen Jahrhundert von der Arbeiterklasse selbst gegründet worden war, deren Führung 1914 verraten hatte, die die Internationalisten um die Spartakisten und die Linksradikalen sowie auch die Zentristen herausgeschmissen hatte, und seitdem kein proletarisches Leben mehr in sich barg, die jetzt schon seit Kriegsbeginn die imperialisti­sche Politik unterstützte, sollte nun auch im revolutionären Ansfürm des Proletariats gegen das kapitalistische Gebilde gegen die revolu­tionäre Erhebung der Arbeiterklasse antreten.

Zum ersten Mal konnte das Kapital eine frühere, mittlerweile in das Lager des Kapitals übergewechselte "linke" Partei an die Regie­rung holen - um in dieser revolutionären Situation den kapitalistischen Staat gegen die Arbeiterklasse zu schützen. Während sich viele Arbeiter dadurch Sand in die Augen streuen lassen sollten, erkannten die Revolu­tionäre sofort die neue Rolle der Sozialdemo­kratie. Rosa Luxemburg schrieb: "Der Regie­rungssozialismus stellt sich mit seinem jetzi­gen Eintritt in die Regierung als Retter des Kapitalismus der kommenden proletarischen Revolution in den Weg" (Oktober 1918).

Seit Januar 1918, als der erste Arbeiterrat in den Massenstreiks in Berlin entstanden war, trafen sich regelmässig geheim revolutio­näre Obleute und führende Spartakisten. Die revolutionären Obleute standen der USPD sehr nahe. Auf dem Hintergrund der weiter ansteigenden Kampfbereitschaft, der zusam­menbröckelnden Front, dem Drang der Arbei­ter nach Taten fingen sie Ende Oktober nach der oben erwähnten Konferenz der Revolutio­näre an, in einem Aktionsausschuss konkrete Pläne für einen Aufstand zu erörtern.

Am 23. Oktober war Liebknecht aus dem Gefängnis entlassen worden. Mehr als 20.000 Arbeiter begrüssten ihn bei seiner Ankunft in Berlin.

Nachdem die Regierung auf Drängen der SPD die Angehörigen der russischen Bot­schaft aus Berlin ausgewiesen hatte und von den Revolutionären Versammlungen anlässlich der russischen Revolution organisiert werden sollten, diskutierte der Aktionsausschuss über die Lage. Liebknecht drängte auf einen Gene­ralstreik, auf Massendemonstrationen, die sich anschliessend bewaffnen sollten. In einer Sitzung der revolutionären Obleute am 2. November schlug Liebknecht den 5 Novem­ber vor, die Parolen sollten sein: „sofortiger Frieden und Aufhebung des Belagerungszu­standes, Deutschland sozialistische Republik, Bildung einer Regierung der Arbeiter- und Soldatenräte“ (Drabkin S. 104).

Die revolutionären Obleute, die meinten, die Lage sei noch nicht reif, plädierten für weiteres Abwarten. Unterdessen warteten die Mitglieder der USPD in den Städten auf weitere Instruktionen, denn man wollte nicht vor Berlin losschlagen. Die Nachricht über einen bevorstehenden Aufstand wurde jedoch bis in andere Städte des Reichs verbreitet. Dies sollte die Ereignisse in Kiel fordern.

Als am 3. November in Kiel die Flotte zu weiteren Gefechten auslaufen sollte, erhoben sich die Matrosen und meuterten. Sofort wurden Soldatenräte gegründet, denen im gleichen Atemzug die Gründung von Arbei­terräten folgte. Die Führung des Militärs erwog, Kiel zu bombardieren. Aber nachdem sie erkannt hatte, dass die Meuterei sich nicht mehr gewaltsam unterdrücken liess, schickten sie ihr trojanisches Pferd - den SPD-Führer Noske. Er schaffte es nach seiner Ankunft in Kiel, sich in den Arbeiterrat einzuschmuggeln.

Aber gleichzeitig hatten die Kieler Arbei­ter- und Soldatenräte ein Signal gesetzt. Sie bildeten massive Delegationen von Arbeitern und Soldaten, die sich in andere Städte bega­ben. Riesige Delegationen wurden nach Ham­burg, Bremen, Flensburg, ins Ruhrgebiet, gar bis nach Köln geschickt, die dort vor Ver­sammlungen der Arbeiter sprachen und zur Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten aufriefen. So zogen Tausende von Arbeiter und Matrosen von den norddeutschen Städten auch nach Berlin und in andere Städte in die Provinz. Dort wurden viele von ihnen zu­nächst von regierungstreuen Soldaten verhaf­tet (über 1300 alleine am 6. Nov in Berlin), in Kasernen gesteckt - von wo sie allerdings ihre Agitation fortsetzten.

Innerhalb von einer Woche waren in den Grossstädten Deutschlands überall Arbeiter­- und Soldatenräte gegründet worden.

Die Arbeiter hatten die Ausdehnung ihrer Bewegung selber in die Hände genommen. Nicht Gewerkschaften oder parlamentarischen Vertretern hatten sie ihr Schicksal überlassen, sondern sie hatten ihren Kampf selbst in die Hand genommen. Nicht mehr nach Branchen, isoliert voneinander, kämpften die Arbeiter, mit jeweils branchenspezifischen Forderun­gen, sondern die Arbeiter einer ganzen Stadt schlossen sich zusammen und steilten ge­meinsame Forderungen auf. Sie handelten selbst und suchten den Anschluss an die Arbei­ter der anderen Städte![1]

Weniger als 2 Jahre später als ihre Klas­senbrüder in Russland stellten die Arbeiter in Deutschland ihre Fähigkeit unter Beweis, ihren Kampf selbst in die Hand zu nehmen.

Bis zum 8. November wurden in nahezu allen Städten - mit Ausnahme Berlins - Arbei­ter- und Soldatenräte (AIS-Räte) errichtet.

Am 8. November meldeten SPD Vertrauensleute:

"Die revolutionäre Bewegung sei nicht mehr aufzuhalten, wenn die SPD sich der Bewegung entgegenstellen wollte, würde sie einfach überrannt ".

Nachdem die ersten Nachrichten aus Kiel am 4. November in Berlin eintrafen, schlug Liebknecht im VoIlzugsausschuss den Aufstand für den 8. November vor. Es war klar, während die Bewegung sich mittlerweile spontan im ganzen Land ausgedehnt hat erforderte der Aufstand in Berlin, dem Sie der Regierung, ein zielgerichtetes, planmässiges, die ganze Kraft bündelndes Vorgehen der Arbeiterklasse. Der Vollzugsrat zögerte weiter. Erst nachdem zwei Mitglieder des Vollzugsrates, die im Besitz der Aufstandpläne waren, am 8. November verhaftet worden wurden, entschloss man sich, am nächsten Tag loszuschlagen. Die Spartakisten erliessen am 8. November 1918 folgenden Aufruf:

"Jetzt, da die Stunde des Handelns gekommen ist, darf es kein Zurück mehr geben. Die gleichen "Sozialisten", die 4 Jahre lang der Regierung Zuhälterdienste geleistet haben, setzen alles daran, um Euren Kampf zu schwächen, um die Bewegung abzuwiegeln.

Arbeiter und Soldaten! Was Euren Genossen und Kameraden in Kiel, Hamburg, Bremen, Lübeck, Rostock, Flensburg, Hannover, Magdeburg, Braunschweig, München und Stuttgart gelungen ist: Das muss auch Euch gelingen. Denn von dem was Ihr erringt, von der Zähigkeit und dem Erfolge Eures Kampfes, hängt auch der Sieg Eurer dortigen Brüder ab, hängt der Erfolg des Proletariats der ganzen Welt ab. Soldaten! Handelt wie Eure Kameraden von der Flotte, vereinigt Euch mit Euren Brüdern im Arbeitskittel. Lasst Euch nicht gegen Eure Brüder gebrauchen, folgt nicht den Befehlen der Offiziere, schiesst nicht auf die Freiheitskämpfer. Arbeiter und Soldaten! Die nächsten Ziele Eures Kampfes müssen sein:

1. Befreiung aller zivilen und militärischen Gefangenen.

2. Aufhebung aller Einzelstaaten und Beseitigung aller Dynastien

3. Wahl von Arbeiter- und Soldatenräten, Wahl von Delegierten hierzu in allen Fabri­ken und Truppenteilen.

4. Sofortige Aufnahme der Beziehungen mit den übrigen deutschen Arbeiter- und Solda­tenräten.

5. Übernahme der Regierung durch die Beauftragten der Arbeiter- und Soldatenräte.

6. Sofortige Verbindung mit dem internationalen Proletariat, insbesondere mit der russischen Arbeiterrepublik.

Hoch die sozialistische Republik!

Er lebe die Internationale!

Die Gruppe Internationale (Spartakus gruppe) (8. November).

Die Ereignisse des 9. November

In den Morgenstunden des 9. November begann in Berlin der revolutionäre Aufstand.

"Arbeiter, Soldaten, Genossen!

Die Entscheidungsstunde ist da! Es gilt der historischen Aufgabe gerecht zu werden….

Wir fordern nicht Abdankung einer Person, sondern Republik!

Die sozialistische Republik mit all ihren Konsequenzen. Auf zum Kampf für Frieden, Freiheit und Brot.

Heraus aus den Betrieben! Heraus aus den Kasernen! Reicht Euch die Hände! Es lebe die sozialistische Republik."

(Flugblatt der Spartakisten)

Hunderttausende Arbeiter folgten den Auf­rufen der Spartakusgrupppe und des Vollzugsausschusses, legten die Arbeit nieder und strömten in riesigen Demonstrationszügen in das Zentrum der Stadt. An der Spitze mar­schierten bewaffnete Arbeitergruppen. Die grosse Mehrheit der Truppen schloss sich den demonstrierenden Arbeitern an, verbrüderten sich mit ihnen. Am Mittag war Berlin in den Händen der revolutionären Arbeiter und Soldaten. Wichtige Punkte wurden von den Arbeitern besetzt. Eine Kolonne demonstrie­render Arbeiter und Soldaten zog vor das Schloss. Dort sprach Liebknecht:

"Die Herrschaft des Kapitalismus, der Europa in ein Leichenfeld verwandelt hat, ist gebrochen…. Wenn auch das Alte niedergeris­sen ist, dürfen wir doch nicht glauben, dass unsere Aufgabe getan sei. Wir müssen alle Kräfte anspannen, um die Regierung der Arbeiter und Soldaten aufzubauen…. Wir reichen (den Arbeitern der anderen Länder) die Hände und rufen sie zur Vollendung der Weltrevolution auf….“

"Ich proklamiere die freie sozialistische Republik Deutschland".

(Liebknecht am 9. November).

Liebknecht warnte die Arbeiter davor, bei dem Erreichten stehenzubleiben, er rief sie zur Übernahme der Macht auf und zum inter­nationalen Zusammenschluss der Arbeiterklas­se.

Am 9. November hatte das alte Regime das Schlachtfeld ohne Anwendung von Ge­walt geräumt. Allerdings geschah das nicht, weil es vor Blutvergiessen zurückscheute - es hatte schliesslich Millionen Menschenleben· auf dem Gewissen, sondern weil ihm die Revolution die Soldaten genommen hatte, die auf das Volk schiessen konnten. Ähnlich wie Russland im Februar 1917, als sich die Soldaten auf die Seite der kämpfenden Arbei­ter schlugen, sollte auch in Berlin die Reakti­on der Soldaten im Kräfteverhältnis ein wich­tiger Faktor sein. Aber erst indem sich die Arbeiter selbst organisierten, aus den Fabri­ken rauszogen und "die Strasse besetzten", sich massiv zusammenschlossen, konnte der "Knoten" der Soldaten gelöst werden. Sie liessen sich von den Arbeitern überzeugen, anstecken, um sich dann mit ihnen zu verbrü­dern. Das zeigt die führende Rolle der Arbei­terklasse auf!

Am Nachmittag des 9. Novembers kamen Tausende Delegierte im Zirkus Busch zusam­men. R. Müller, ein führendes Mitglied der revolutionären Obleute rief dazu auf, dass "am 10. November in allen Betrieben und Trup­penteilen Berlins die Wahl der Arbeiter- und Soldatenräte durchgeführt werden sollte. Die gewählten Räte sollten sich um 17.00 h im Zirkus Busch versammeln, um die provisori­sche Regierung zu wählen. Je 1000 Arbeiter und Arbeiterinnen hatten ein Mitglied des Arbeiterrates zu wählen, ebenso alle Solda­ten je Bataillon ein Mitglied des Soldatenra­tes. Kleinere Betriebe (unter 500 Beschäftig­te) wählten je einen Delegierten. Die Ver­sammlung bestand auf Berufung der Machtorgane durch eine Räteversammlung " (Antrag R. Müller)

Die Arbeiterklasse hatte die ersten Schritte unternommen, um eine Doppelmacht aufzu­bauen. Würden sie soweit kommen können wie ihre russischen Klassenbrüder? Die Spartakisten bestanden darauf, dass der Druck und die Initiative aus den örtlichen Räten verstärkt werden müsse. Die lebendige De­mokratie der Arbeiterklasse, aktive Selbstbe­teiligung der Arbeiter, Vollversammlung in den Fabriken, Ernennung von Delegierten, die vor diesen Vollversammlungen verantwortlich und von ihnen abwählbar waren! Das sollte die Praxis der Arbeiterklasse sein.

Revolutionäre Arbeiter und Soldaten be­setzten am Abend des 9. November die Druc­kerei des "Berliner-Lokal-Anzeigers" und druckten die erste Nummer der "Rote Fahne". Diese erste Nummer warnte: „Es gibt keine Gemeinschaft mit denen, die euch vier Jahre verraten haben. Nieder mit dem Kapitalismus und seinen Agenten! Es lebe die Revolution. Es lebe die Internationale.“

Die Arbeiter griffen nach der Macht – die Kräfte der Bourgeoisie standen Gewehr bei Fuss

Der 1. Berliner Arbeiter- und Soldatenrat (genannt Vollzugsausschuss) verstand sich schnell als Organ der Macht. In seiner ersten Bekanntmachung vom 11. November hatte er sich als oberste Kontrollinstanz aller Kom­munal-, Landes-, Reichs- und Militärbehör­den konstituiert.

Aber die herrschende Klasse überlässt na­türlich der Arbeiterklasse nicht freiwillig und ohne erbittertsten Widerstand das Feld.

Denn während Liebknecht vor dem Schloss die sozialistische Republik verkündet hatte, hatte gleichzeitig Prinz Max von Baden abge­dankt; er übertrug die Regierungsgeschäfte an Ebert, den er zum Reichskanzler ernannte. Die SPD proklamierte "die freie deutsche Republik".

Während die SPD offiziell die Regie­rungsgeschäfte übernahm und sofort zu "Ruhe und Ordnung" aufrief, "freie Wahlen" an­kündigte, hatte sie gespürt, dass sie am besten der Bewegung entgegentreten könnte, indem sie sie von innen her untergraben sollte.

Sie proklamierte einen eigenen Arbeiter- ­und Soldatenrat, der nur aus SPD Funktionären bestand und von niemanden eine Legitimation besass.

Nachdem dieser sich als NS-Rat ausgab, behauptete die SPD dann, dass die Bewegung, die schon längst in Gang gekommen war, von der SPD und der USPD gemeinschaftlich geleitet wurde.

Diese Taktik, die Bewegung einzukreisen und von Innen her zu zerstören, ist seitdem immer wieder von den Linken mit ihren selbsternannten Räten, selbsternannten Streikkomitees, Koordinationen usw. ange­wandt worden. Die Sozialdemokratie und ihre späteren Nachfolger, die linkskapitalistischen Gruppierungen der sogenannten extremen Linken sind mittlerweile darauf spezialisiert, sich sofort an die Spitze einer Bewegung zu stellen, so zu tun, als seien sie deren Vertreter. Während sie so im Vollzugsrat selber den Wind aus den Segeln nehmen wollten, griffen sie die Arbeiterklasse jedoch auch von der Regierung aus an, an deren Spitze sie sich schnell stellten. Die SPD verkündete, sie werde eine gemeinsame Regierung mit der USPD bilden. Die USPD willigte in die Re­gierungsbildung mit der SPD ein, wogegen die Spartakisten sie ablehnten. Zu diesem Zeitpunkt waren die Spartakisten noch Mit­glieder der USPD. In den Augen der meisten Arbeiter war der Unterschied zwischen USPD und Spartakisten hier verwischt. Die Sparta­kisten hatten jedoch eine klare Haltung zur Regierungsbildung. Sie hatten die Falle gero­chen! Man setzt sich nicht mit dem Klassen­feind in ein Boot. Das beste Mittel, um Illu­sionen der Arbeiter über eine linkskapitalisti­sche Partei zu bekämpfen, ist nicht, wie seitdem immer wieder die Trotzkisten und andere linke Gruppierungen behaupten, sie erst an die Regierung zu bringen, um ihr dort den Schleier der Lügen abzuziehen. Um das Bewusstsein voranzubringen, ist die schärfste Abgrenzung erforderlich und nichts anderes.

Am Abend des 9. November liessen sich die SPD und die USPD-Führung als Volksbeauf­tragte, als vom Vollzugsrat getragene Regie­rung proklamieren.

Die SPD hatte ihre ganze Cleverness ge­zeigt. Sowohl von der Regierungsbank aus wie auch im Namen des Vollzugsrates konnte sie gegen die Arbeiter vorgehen. Ebert war Reichskanzler wie auch Volksbeauftragter (d.h. vom Vollzugsrat gewählt), konnte so den Anschein erwecken, auf Seite der Revolution zu stehen. Dass er das Vertrauen des Kapitals besass, stand fest; aber mit soviel Cleverness das Vertrauen des Vollzugsrates erschlichen zu haben, zeigt, wie betrügerisch die linken Kräfte des Kapitals vorgehen können. Schauen wir an, wie geschickt, die SPD auf der Versammlung des Berliner NS-Rates am 10. November vorging. Ca 3000 Men­schen waren anwesend, es gab keine Kontrol­le der Mandate, die Soldatenvertreter waren in der Mehrheit. Ebert sprach als erster. Der "alte Bruderstreit" sei beendet, SPD und USPD hätten eine gemeinsame Regierung gebildet, jetzt ginge es darum, „gemeinsam den Aufbau der Wirtschaft auf den Grundsät­zen des Sozialismus vorzunehmen. Es lebe die Einigkeit der deutschen Arbeiterklasse und der deutschen Soldaten“. Im Namen der USPD sprach Haase von der "Einheit“. „Wir wollen die Errungenschaften der grossen sozialistischen Revolution befestigen…. Die Regierung wird eine sozialistische sein.

"Die bis vorgestern noch gegen die Revo­lution gearbeitet haben. sind nun nicht mehr dagegen" (E. Barth, 10. November 1918).

"Es soll alles getan werden, damit sich die Konterrevolution nicht erhebe.“

Während die SPD schon alle Register zog, um die Arbeiter zu täuschen, trug die USPD das Ihre zur Deckung dieses Manövers bei. Die Spartakisten hatten die Gefahren erkannt:

Liebknecht sprach auf dieser Versammlung:

"Ich muss Wasser in den Wein Eurer Be­geisterung schütten. Die Gegenrevolution ist bereits auf dem Marsche, sie ist bereits in Aktion…. Ich sage Euch: Feinde ringsum!

(er nennt die konterrevolutionären Absich­ten der Sozialdemokratie.) Ich weiss, wie unangenehm Ihnen diese Störung ist, aber wenn Sie mich erschiessen, ich werde das aussprechen, was ich für notwendig halte"

Die Spartakisten warnten vor den Feinden und bestanden auf der Notwendigkeit des Sfürzes des Systems. Nicht Auswechslung von Personen sei angesagt, sondern Überwin­dung des Systems selber.

Während die SPD und in deren Schlepp­tau die USPD so taten, als ob es mit der Auswechslung der Führer, mit dem Einset­zen einer neuen Regierung getan sei, nur um die alten Machtstrukfüren, um das System intakt zu lassen, riefen die Revolu­tionäre zur Fortführung des Kampfes auf.

Auch hier lieferte die SPD eine Lehrstunde für die Vorgehensweise der Verteidiger des Kapitals. Diese Vorgehensweise haben sie immer wieder praktiziert, sie lenken die Wut auf Führerpersönlichkeiten, um das System unangetastet zu lassen.[2]

Die SPD trommelte auf die Arbeiter in ih­rer Zeitung "Vorwärts" ein. Am 10. November schrieb er unter dem Titel: "Einigkeit: Kein Bruderkampf“

"Der gestrige Tag (9. November) hat in der Arbeiterschaft das Gefühl für die Not­wendigkeit innerer Einheit hoch emporlodern lassen. Aus fast allen Städten, aus ganzen Ländern, aus ganzen Bundesstaaten hören wir, dass alte Partei und Unabhängige sich am Tage der Revolution wieder zusammengefun­den und zu der alten geschlossenen Partei geeint haben.... Das Versöhnungswerk darf nicht an einigen Verbitterten scheitern, deren Charakter nicht stark genug ist, um alten Groll überwinden und vergessen zu können. Soll nun der Welt nach solchem herrlichen Triumph (über das alte Regime) das Schau­spiel der Selbstzerfleischung der Arbeiter­schaft in sinnlosem Bruderkampf geboten werden?" (Vorwärts, 10.11.1918).

Die zwei Waffen des Kapitals: Politische Sabotage

Die SPD brachte ein ganzes Arsenal von Waffen gegen die Arbeiterklasse ins Feld. Neben dem Ruf nach "Einheit" spritzte sie vor allem das Gift der bürgerlichen Demokra­tie. Die Einführung des "allgemeinen, glei­chen, direkten und geheimen Wahlrechts aller erwachsenen Männer und Frauen wurde als die wichtigste politische Errungenschaft der Revolution und zugleich als das Mittel dar­gestellt, die kapitalistische Gesellschaftsord­nung nach dem Willen des Volkes in planmässiger Arbeit zur sozialistischen umzuwan­deln". Mit der Ausrufung der Republik, da­durch, dass SPD-Minister an der Macht seien, sei das Ziel, der Republik erreicht, und mit der Abdankung des Kaisers und der Ernen­nung Eberts zum Reichskanzler sei "der freie Volksstaat" da. Dabei war in Deutschland nur ein Anachronismus (an der Staatsspitze hatte noch ein Kaiser gestanden, obwohl die politi­sche Herrschaft längst in den Händen der bürgerlichen Klasse lag) beiseite geschafft worden. An der Staatsspitze stand jetzt kein Monarch mehr, sondern ein "Bürgerlicher".

Der Ruf nach "demokratischen Wahlen" war direkt gegen die Arbeiterräte gerichtet. Die SPD bombardierte die Arbeiter mit einer verlogenen Propaganda: "Wer Brot will, muss den Frieden wollen. Wer den Frieden will, muss die Konstituante wollen, die freigewählte Vertretung des ganzen deutschen Volkes. Wer die Konstituante verhindert oder hinauszö­gert, bringt sie um Frieden, Freiheit und Brot, raubt ihnen die unmittelbaren Früchte des Revolutionssieges, ist ein Konterrevolutionär.

Die Sozialisierung wird und muss kom­men... durch den Willen des arbeitenden Volkes, das grundsätzlich die Wirtschaft beseitigen will, die vom Streben des einzelnen nach Profit bewegt wird. Aber sie wird tau­sendmalleichter durchzusetzen sein, wenn die Konstituante sie beschliesst, als wenn die Diktatur irgendeines Revolutionsausschusses sie verordnet ...

Der Schrei nach der Konstituante ist der Schrei nach dem aufbauenden, schaffenden Sozialismus, nach jenem Sozialismus, der den Volkswohlstand mehrt, Volksglück und Volks­freiheit erhöht und für den allein sich zu kämpfen lohnt.

Die deutsche Einheit erfordert die Natio­nalversammlung. Nur unter ihrem Schutz kann sich die neue deutsche Kulfür entfalten, die stets unser Ziel und der Kern unseres nationalen Wollens gewesen ist.

Die Errungenschaften der Revolution sind im Willen des ganzen Volkes so fest verankert, dass nur Angsthasen vor der Konterrevolution Alpdrücken bekommen könnten." (Flugblatt der SPD)

Wenn wir hier so ausführlich die SPD zi­tieren, dann damit man ein wirkliches Bild von der Spitzfindigkeit und Verschlagenheit der Linken bekommt.

Wir haben hier ein seitdem klassisches Merkmal des Klassenkampfes in den hochindustrialisierten Ländern. Wenn die Arbeiterklasse ihre Kraft und ihren Zusammenschluss anstrebt, sind es immer wieder die Kräfte der Linken gewesen, die mit cleverster Demago­gie auftreten, vorgeben, im Namen der Arbei­ter zu handeln, die die Kämpfe von innen her zu sabotieren versuchen und die Bewegung daran hindern, einen entscheidenden Schritt voranzugehen. Es stand hier der revolutionä­ren Arbeiterklasse in Deutschland ein un­gleich stärkerer Gegner gegenüber als den Arbeitern in Russland. Mit einer radikalen Sprache bezichtigte die SPD im Namen der Revolution die Spartakisten als Konterrevolutionäre. Um die Arbeiterklasse zu täuschen sind die Linken gezwungen, eine radikale Sprache zu sprechen und sich an die Spitze der Bewegung zu stellen. Gleichzeitig war damals schon deutlich, wie stark die SPD in den Staat integriert war, dass sie nicht als ausserhalb des Staates stehende Partei gegen die Arbeiter vorging, sondern gar von dessen Spitze aus.

Die ersten Tage revolutionärer Auseinandersetzungen zeigten damals schon ein allgemeines Merkmal des Klassenkampfes in den hochindustrialisierten Ländern auf. Eine mit allen Wassern gewaschene Bourgeoisie prallte mit einer starken Arbeiterklasse zusammen. Es war eine Illusion zu glauben, der Arbeiterklasse könnte der Sieg leicht in die Hände fallen.

Wie wir später sehen werden, traten als zweiter Stützpfeiler des Kapitals die Gewerkschaften auf, die sofort nach Ausbruch der Bewegung eine Arbeitsgemeinschaft mit den Unternehmern eingingen. Nachdem sie in Krieg die Produktion für den Krieg organisiert hatten, sollten sie nun mit der SPD die Niederschlagung der Bewegung eintreten. Einige Konzessionen wie unter anderem der 8-Stunden- Tag wurden gemacht, um durch das Zugestehen von ökonomischen Verbesserungen die Arbeiter von einer weiteren Radikalisierung abzuhalten.

Aber selbst die politische Sabotage, die Untergrabung des Bewusstseins der Arbeiter durch die SPD reichte nicht aus, denn gleichzeitig schlug die SPD in Absprache mit den Militärs eine militärische Vorgehensweise ein.

….Repression

Der Oberbefehlshaber des Militärs, Gene­ral Groener, der im Krieg tagtäglich mit SPD und Gewerkschaften zusammenarbeitete, denn er war für Rüstungsvorhaben verantwortlich, erklärte:

"Wir haben uns verbündet zum Kampf gegen den Bolschewismus. An eine Wiederein­führung der Monarchie war nicht zu denken…. Ich habe dem Feldmarschall den Rat gege­ben, nicht mit der Waffe die Revolution zu bekämpfen, weil zu befürchten sei, dass bei der Verfassung der Truppen eine solche Bekämp­fung scheitern würde. Ich habe ihm vorge­schlagen, die Oberste Heeresleitung möge sich mit der SPD verbünden, da es zurzeit keine Partei gebe, die Einfluss genug habe im Volke. besonders bei den Massen, um eine Regierungsgewalt mit der Obersten Heereslei­tung wieder herzustellen. Die Rechtsparteien waren vollkommen verschwunden, mit den äussersten Radikalen zusammenzugehen, war ausgeschlossen. Zunächst handelte es sich darum, in Berlin den Arbeiter- und Soldaten­räten die Gewalt zu entreissen. Zu diesem Zwecke wurde ein Unternehmen geplant. 10 Divisionen sollten in Berlin einmarschieren. Ebert war damit einverstanden…. Wir haben ein Programm ausgearbeitet, das nach dem Einmarsch eine Säuberung Berlins und die Entwaffnung der Spartakisten vorsah. Das war auch mit Ebert besprochen, dem ich dafür besonders dankbar bin wegen seiner absoluten Vaterlandsliebe…. Dieses Bündnis war geschlossen gegen die Gefahr der Bol­schewiken und gegen das Rätesystem" (Groener, Oktober, November 1925, Zeugen­aussage). Zu diesem Zweck telefonierte Groener täglich abends mit Ebert und seinen Konsor­ten auf geheimen Leitungen zwischen 23.00 und 1.00 Uhr nachts und traf Absprachen.

Im Gegensatz zu Russland, wo die Macht im Oktober in die Hände der Arbeiter nahezu unblutig fiel, schickte sich die Bourgeoisie in Deutschland sofort an, neben der politischen Sabotage einen Bürgerkrieg auszulösen. Vom ersten Tag an traf sie alle Vorbereitungen für eine militärische Niederschlagung.

Die Intervention der Revolutionäre

Für die Einschätzung der Intervention der Revolutionäre müssen wir jeweils ihre Fähig­keit überprüfen, die Bewegung der Klasse, das Kräfteverhältnis, das "Erreichte", die weiteren Perspektiven richtig einzuschätzen.

Was sagten die Spartakisten?

„Die Revolution hat begonnen. Nicht Ju­bel über das Vollbrachte, nicht Triumph über den niedergeworfenen Feind ist am Platz, sondern strengste Selbstkritik und eiserne Zusammenhaltung der Energie, um das be­gonnene Werk weiterzuführen. Denn das Vollbrachte ist gering, und der Feind ist NICHT niedergeworfen. Was ist erreicht? Die Monarchie ist hinweggefegt, die oberste Regierungsgewalt ist in die Hände von Arbei­ter- und Soldatenvertretern übergegangen. Aber die Monarchie war nie der eigentliche Feind, sie war nur Fassade, sie war das Aushängeschild des Imperialismus.... Die Abschaffung der Kapitalherrschaft, die Verwirklichung der sozialistischen Gesell­schaftsordnung dies und nichts Geringeres war das geschichtliche Thema der gegenwärti­gen Revolution. Ein gewaltiges Werk, das nicht im Handumdrehen durch ein paar De­krete von oben herab vollbracht, das nur durch die eigene bewusste Aktion der Masse der Arbeitenden in Stadt und Land ins Leben gerufen, das nur durch höchste geistige Reife und unerschöpflichen Idealismus der Volks­massen durch alle Stürme glücklich in den Hafen gebracht werden kann.

Die ganze Macht in die Hände der arbeitenden Masse, in die Hände der Arbei­ter- und Soldatenräte, Sicherung des Revolu­tionswerkes vor seinen lauernden Feinden: dies die Richtlinie für alle Massnahmen der revolutionären Regierung ••• Ausbau und Wiederwahl der lokalen Arbeiter- und Soldatenräte, damit die erste chaotische und impulsive Geste ihrer Entste­hung durch bewussten Prozess der Selbstver­ständigung über Ziele, Aufgaben und Wege der Revolution ersetzt wird;

••• ständige Tagung dieser Vertretungen der Masse und Übertragung der eigentlichen politischen Macht aus dem kleinen Komitee des Vollzugsrates in die breitere Basis des Arbeiter- und Soldatenrats;

••• schleunigste Einberufung des Reichsparlamentes der Arbeiter und Soldaten, um die Proletarier ganz Deutschlands als Klasse, als kompakte politische Macht zu konstituieren und hinter das Werk der Revo­lution als ihre Schutzwehr und ihre Stosskraft zu stellen;

••• unverzügliche Organisierung nicht der „Bauern", sondern der ländlichen Proletarier und Kleinbauern, die als Schicht bisher noch ausserhalb der Revolution stehen;

••• Bildung einer proletarischen Roten Garde zum ständigen Schutz der Revolution und Heranbildung der Arbeitermiliz, um das gesamte Proletariat zur jeder Zeit bereiten Wacht zu gestalten;

••• Verdrängung der übernommenen Orga­ne des absolutistischen militärischen Polizei­staates von der Verwaltung, Justiz und Armee,

••• sofortige Einberufung des Arbeiter-­Weltkongresses nach Deutschland, um den sozialistischen und internationalen Charakter der Revolution scharf und klar hervorzukeh­ren, denn in der Internationale, in der Weltre­volution des Proletariats allein ist die Zukunft der deutschen Revolution verankert" (Rote Fahne, 18. November 1918).

Zerstörung der Machtposition der Gegen­revolution, Aufbau und Festigung der prole­tarischen Macht - das waren die beiden Auf­gaben, die die Spartakisten mit bemerkens­werter Klarheit in den Vordergrund stellten.

"Das Fazit der ersten Woche der Revolu­tion heisst: Im Staate der Hohenzollern hat sich im wesentlich nichts verändert, die Arbei­ter- und Soldatenregierung fungiert als Stell­vertreterin der imperialistischen Regierung, die bankrott geworden ist. All ihr Tun und Lassen ist von der Furcht vor der Arbeiter­masse getragen….

Der reaktionäre Staat der zivilisierten Welt wird nicht in 24 Stunden zum revolutionären Volksstaat. Soldaten, die gestern in Finnland, Russland, der Ukraine, im Baltikum als Gen­darmen der Reaktion revolutionäre Proletari­er mordeten, und Arbeiter, die dies ruhig geschehen liessen, sind nicht in 24 Stunden zu zielklaren Trägern des Sozialismus gewor­den."

(Rote Fahne, 18. November 1918)

Die Einschätzung der Spartakisten, dass es sich nicht um eine bürgerliche Revolution, sondern um die bürgerliche Konterrevolution handelte, die da auf dem Vormarsch war, ihre Fähigkeit, die Lage mit Überblick, Weitblick einzuschätzen, ist ein schlagender Beweis für die Notwendigkeit revolutionärer Organisa­tionen.

Die Arbeiterräte – Speerspitze der Revolution….

Wie weiter oben beschrieben, waren in den ersten Novembertagen überall in den Gross­städten Arbeiter- und Soldatenräte entstanden.

Auch wenn die Räte "plötzlich" auftauchten, kam ihr Entstehen für die Revolutionäre alles andere als unerwartet. In Russland waren sie ebenfalls in den revolutionären Kämpfen aufgetaucht, genauso wie in Österreich­-Ungarn. Denn die Arbeiterräte sind, wie es die Kommunistische Internationale im März 1919 durch die Stimme Lenins ausdrückte: "die praktische Form, die das Proletariat in den Stand setzt, seine Herrschaft zu verwirkli­chen. Diese Form ist das Sowjetsystem mit der Diktatur des Proletariats. Diktatur des Proletariats! Das war bisher Latein für die Massen. Mit der Ausbreitung des Sowjetsy­stems in der ganzen Welt ist dieses Latein in alle modernen Sprachen übersetzt worden: die praktische Form der Diktatur ist durch die Arbeitermassen gefunden…."

Das Entstehen von Arbeiterräten spiegelt den Willen der Arbeiterklasse wider, ihr Schicksal selber in die Hand zu nehmen.

Als solches können die Arbeiterräte erst entstehen, wenn in der Klasse insgesamt eine Massenaktivität und tiefgreifende Bewusstseinsentwicklung in Gang gekommen ist. Die Arbeiterräte sind insofern nur die Speerspitze einer allumfassenden Bewegung der Klasse, und sie stehen und fallen mit der Gesamtak­tivität der Klasse. Wenn die Aktivität der Arbeiterklasse in den Betrieben nachlässt, wenn die Kampfbereitschaft insgesamt ab­flaut, wenn das Bewusstsein der Klasse zu­rückweicht, haben auch die Arbeiterräte keine Überlebenschance.

Sie sind das Mittel, die Kämpfe der Klasse zu zentralisieren und stellen den Hebel dar, mit dem die Arbeiterklasse ihren Kampf zur Zerschlagung des bürgerlichen Staats führt.

In vielen Städten ergriffen die Arbeiterräte entschlossen Massnahmen, um die Staatsge­walt unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Arbeiter versuchten vom ersten Tag der Exi­stenz der Arbeiterräte an, den bürgerlichen Staatsapparat lahmzulegen und ihre eigenen Entscheidungen an Stelle der bürgerlichen Regierung zu treffen und durchzuführen. Es war der Beginn einer Doppelherrschaft, genau wie in Russland nach der Februarrevolution 1917. Diese Entwicklung gab es überall, aber in Berlin, wo die Regierung des Kapitals sass, kam sie am deutlichsten zum Vorschein.

….und die Sabotage der Bourgeoisie

Weil die Arbeiterräte der Dreh- und An­gelpunkt der Zentralisierung der Arbeiter­kämpfe sind, weil in ihnen die Initiative der Massen zusammenfliesst, ist es für die Arbei­terklasse lebenswichtig, die Kontrolle über die Arbeiterräte zu behalten.

In Deutschland sollte die Kapitalisten klasse ein trojanisches Pferd - die SPD - gegen die Arbeiterräte einsetzen. Die SPD war bis 1914 eine Arbeiterpartei gewesen, aber jetzt be­kämpfte sie die Räte von Innen und versuchte sie von ihren wirklichen Zielen abzulenken ­all das geschah "im Namen der Arbeiterklasse".

Schon bei der Zusammensetzung der Räte wandte sie alle Tricks an, um ihre Delegierte in die Räte zu bekommen. Der Vollzugsrat war anfänglich aus jeweils 6 Vertretern der SPD und USPD sowie 12 Soldatenvertretern zusammengesetzt. Jedoch hatte es die SPD in Berlin geschafft, unter dem Vorwand der notwendigen Stimmenparität und der Einig­keit der Arbeiterklasse eine gleichgrosse An­zahl von Vertretern in den Vollzugsrat zu schleusen. So entstand die gleichmässige Verteilung der Mandate zwischen USPD und SPD - ohne durch irgendeine Versammlung in der Form legitimiert zu sein. Mit der Taktik des Parteienproporzes erhielt die SPD in vielen Räten mehr Stimmen als es der tat­sächlichen Gewichtung entsprach. In der Provinz sah es nicht viel anders aus. In etwa 40 Grossstädten standen fast 30 Arbeiter- und Soldatenräte unter dem behemchenden Einfluss der SPD- und USPD-Führer. Nur in den Städten, wo die Spartakisten einen grösseren Einfluss hatten, konnten die Arbeiterräte eine radikale Richtung einschlagen.

Was die Aufgaben der Arbeiterräte angeht, versuchte die SPD ihnen die Spitze zu bre­chen. Während die Räte von ihrem Wesen her danach streben, als Gegenpol zum bürgerli­chen Staatsapparat zu wirken, diesen zu zer­schlagen, versuchte die SPD, die Räte dem bürgerlichen Staatsapparat unterzuordnen. Einmal dadurch, dass die Räte sich nur als Übergangsorgan bis zur Einberufung der bürgerlichen Nationalversammlung auffassen sollten, dann indem sich die Räte für alle Volksschichten öffnen sollten. Die SPD in­szenierte in vielen Städten sog. "Wohlfahrtsausschüsse", in der alle Teile der Bevölkerung, vom kleinen Geschäftsmann, Bauern bis zum Arbeiter "gleichberechtigt" integriert wurden. Dadurch sollte das Entste­hen von Arbeiterräten, die dem bürgerlichen Staat entgegenwirken, vereitelt werden.

Während die Spartakisten von Anfang an auf die Bildung von Roten Garden drängten, um so die Massnahmen der Arbeiterräte not­falls mit Waffengewalt durchzusetzen, torpe­dierte die SPD dies in den Soldatenräten mit dem Vorwand, dass "damit ein Misstrauen gegenüber den Soldaten zum Ausdruck kä­me".

Im Berliner Vollzugsrat wie auch in allen anderen Räten kam es ständig zu heftigen Auseinandersetzungen über die zu treffenden Massnahmen. Zwar kann man nicht davon ausgehen, dass die gewählten Vertreter alle über ausreichend Klarheit und Entschlossen­heit zu allen Fragen verfügten, aber die SPD unternahm alles, sowohl aus dem Innern der Räte selbst wie auch von "offizieller Regie­rungsseite" aus, um die Autorität der Räte und die getroffenen Entscheidungen zu unterlau­fen. Einige Beispiele:

- Ordnete der Vollzugsrat etwas an, erliess der Rat der Volksbeauftragten (von der SPD geführt) entsprechende Gegenmassnahmen.

- Der Vollzugsrat besass nie ein eigene Presse, er musste bei der bürgerlichen Presse um Platz für die Veröffentlichung seiner Beschlüsse betteln. Daran hatten die SPD­-Vertreter kräftig mitgewirkt.

- Als im November und Dezember Streiks in Berliner Betrieben ausbrachen, sprach sich der Vollzugsrat unter dem Einfluss der SPD gegen diese Streiks aus, obwohl sie gerade die Stärke der Arbeiterklasse zum Ausdruck bringen konnten und die Fehlentscheidungen des Vollzugsrats selbst hätten korrigieren können.

- Schliesslich drohte die SPD von Regie­rungsseite aus, die Alliierten würden in Deutschland militärisch einmarschieren, um eine Bolschewisierung Deutschlands zu ver­hindern. Und wenn die Arbeiter- und Solda­tenräte zu weit gingen, würden keine Le­bensmittel von den USA an die hungernde Bevölkerung geliefert.

Von direkter Einschüchterung von Aussen, Sabotage vom Innern her, Entartung des Wesens der Räte selber bis zu physischen Angriffen gegen die Räte - die SPD liess keine Mittel aus.

Von Anfang an aber versuchte die SPD die Räte von der Basis in den Betrieben selbst abzukoppeln.

Die Räte setzen sich zusammen aus Dele­gierten. Diese Delegierten sind von den Voll­versammlungen in den Betrieben zu wählen. Sie müssen sich gegenüber ihnen verantwor­ten - denn wenn die Arbeiter in den jeweiligen Vollversammlungen nicht mehr selber ent­scheiden können, die Räte sich von der Ak­tivität "der Basis" lösen, dann wird ihnen selber die Luft ausgehen - und sie werden selber zum Opfer der Konteroffensive der Bourgeoisie. Deshalb drängte die SPD z.B. sofort auf die Zusammensetzung gemäss Par­teienproporz - anstatt auf der Verantwortbar­keit und Rechenschaftspflicht der Delegierten gegenüber ihren jeweiligen Vollversammlun­gen in den Betrieben. Die Rechenschaft ge­genüber den sie wählenden Versammlungen ist kein förmliches Prinzip der Arbeiterdemo­kratie, sondern der Hebel, mit der die Arbei­terklasse von der kleinsten Zelle aus ihren Kampf selber mitsteuern und lenken kann. Die Erfahrung in Russland hatte schon gezeigt, wie elementar die Aktivität in den Fabriken, die Aktivität der Fabrikkomitees war. Wenn sich die Arbeiterräte nicht gegenüber den Vollversammlungen verantworten müssen, sich von ihnen loslösen, müssen die Arbeiter in den Betrieben neue Delegierte wählen, ihren Druck erhöhen, ihren Kampf "von unten" intensivieren.

Schon in Russland hatte Lenin erkannt:

"Um kontrollieren zu können, muss man die Macht haben. wenn ich aber diese Grundbedingung durch die Kontrolle verdec­ke, dann sage ich die Unwahrheit und arbeite den Kapitalisten und Imperialisten in die Hände ... Ohne Macht ist die Kontrolle eine kleinbürgerliche Phrase, die den Gang und die Entwicklung der Revolution hemmt" (Lenin, Aprilkonferenz, Referat zur politi­schen Lage, 7. Mai, Werke Bd. 24, S. 220).

Während in Russland in den ersten Wochen nach Februar die Räte, die sich auf die bewaffneten Arbeiter und Soldaten stützte über reale Macht verfügten, besass sie der Berliner Vollzugsrat nicht. Rosa Luxemburg stellte zu Recht fest:

"Der Vollzugsrat der vereinigten Räte Russlands ist - mag man gegen ihn schreiben was man will - freilich ein ander Ding als der Berliner Vollzugsrat. Jener ist Haupt und Hirn einer gewaltigen revolutionär proletarischen Organisation, dieser das 5. Rad am Wagen einer kryptokapitalistischen Regierungsclique, jener ist die unerschöpfliche Quelle proletarischer Allmacht, dieser kraft und orientierungslos, jener ist der lebendige Geist der Revolution und dieser ihr Sakrophag" (Rosa Luxemburg" 12. Dezember 1918).

Der Reichsrätekongress:

Am 23. November rief der Berliner Vollzugsrat zur Abhaltung eines Reichsrätekongresses in Berlin für den 16. Dezember auf. Weil die Bewegung in den Fabriken jedoch noch nicht wirklich voll zu pulsieren angefangen hatte, sollte dieser Versuch der Zusammenballung der Kräfte der Arbeiterklasse in Wirklichkeit zu einem Hebel gegen sie werden. Die SPD setzte durch, dass in den einzelnen Gebieten des Reiches auf je 200.000 Einwohner ein „Arbeiterdelegierter", auf jede 100.000 Soldaten jedoch ein Soldatenvertreter gewählt werden sollte, wodurch die Soldatenvertreter ein übergrosses Gewicht einnehmen konnten. Anstatt die Aktivität der Klasse in den Fabriken entsprechend widerzuspiegeln - lief die Taktik der SPD darauf hinaus den Reichsrätekongress von der Initiative der Klasse abzuschotten.

Den Saboteuren des Klassenkampfes zu folge sollten als "Arbeiterdelegierte" nur "Hand- und Kopfarbeiter" zugelassen werden. Nachdem alle Gewerkschafts- und SPD Parteifunktionäre plötzlich mit ihre "Berufsangabe" auftraten, blieben die Vertreter des Spartakusbundes Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ausgeschlossen. Wir können sehen, während die bürgerlichen Kräfte mit dem Einsatz aller möglichen Tricks immer Zugang zu finden suchen, werden die Revolutionäre, die als solche offen auftreten, an Reden gehindert.

Als der Rätekongress am 16. Dezember zusammentrat, verwarf er zuvor eine Beteiligung russischer Delegierter.

"Bei der Vollversammlung handelt es sich aber nicht um die Beratung internationaler, sonderlich lediglich um deutsche Angelegenheiten, bei deren Beratung natürlich Ausländer nicht mitreden können ... Es handelt sich bei der Delegation um nichts anderes als um bolschewistische Diktaturvertreter" (so rechtfertige der Vorwärts das SPD-Blatt an 11. Dezember 1918 die Entscheidung). Indem dieser Beschluss durchgesetzt wurde, verwarf die SPD sofort den grundlegendsten Charak­ter der Arbeiterräte: dass sie ein Ausdruck der weltweiten proletarischen Revolution sind, die in Russland begonnen hatte. Um die Sabotage des Kongresses fortzu­setzen, brachte die SPD den Kongress dazu, die Nationalversammlung für den 19. Januar 1919 einzuberufen.

Die Spartakisten, die die Gefahren erkannt hatten, riefen zu einer Grossdemo vor dem Kongress auf. Mehr als 250.000 demonstrier­ten unter der Losung: "Für die Arbeiter- und Soldatenräte, gegen die Nationalversamm­lung"!

Während der Kongress dabei war, den In­teressen der Arbeiterklasse entgegenzuarbei­ten, sprach Liebknecht vor der Kongresshalle. "Wir verlangen von dem Kongress, dass er die volle politische Macht zwecks Durchführung des Sozialismus in die Hand nimmt und die Macht nicht einer Nationalversammlung überträgt, die nicht ein Organ der Revolution sein würde. Wir fordern von dem Rätekongress, dass er die Hand nach unseren russi­schen Brüdern ausstreckt und die Delegierten der Russen herüberruft. Wir wollen die Weltrevolution und die Vereinigung der Prole­tarier aller Länder unter Arbeiter- und Solda­tenräten". (17. Dezember 1918).

D.h. die Revolutionäre erkannten die Not­wendigkeit der Mobilisierung der Massen selber Druck ausüben auf die Delegierten, Initiative der Versammlungen in den Betrie­ben, die Selbständigkeit der Räte gegen die bürgerliche Nationalversammlung verteidi­gen, die Verbrüderung mit der internationalen Arbeiterklasse herbeiführen. Aber auch nach der Massendemo verwarf der Kongress wei­terhin die Beteiligung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts - unter dem Vorwand, sie seien keine Arbeiter - während unterdessen die Bourgeoisie ihre Leute in den Kongress eingeschleust hatte. Auf dem Kongress stellten sich die SPD-Vertreter schützend vor die· Armee, um sie vor weiterem Zerfall durch die Soldatenräte zu bewahren.

Der Kongress beschloss alsbald, keine Ar­beiter- und Soldatendelegationen mehr zu empfangen, um sich dem Druck der Arbeiter nicht mehr zu beugen.

Zum Abschluss verbreitete der Kongress noch eine Rauchwolke, indem er über erste Sozialisierungsmassnahmen palaverte, obwohl die Arbeiter noch nicht einmal die Macht ergriffen hatten. "Sozialpolitische Massnah­men in einzelnen Betrieben durchzuführen ist eine Illusion, solange die Bourgeoisie die politische Macht in den Händen hat. Mit diesem Gerede soll vom Endkampf abgelenkt werden" (IKD, Der Kommunist). Die zentrale Frage, Entwaffnung der Konterrevolution, Sturz der bürgerlichen Regierung, wurde dadurch beiseite gedrängt.

Was hätten die Revolutionäre gegen solch eine Entwicklung tun sollen? Otto Rühle, mittlerweile zum ausgesprochenen Rätekom­munist geworden, hatte am 16. Dezember in Dresden gegenüber dem örtlichen Arbeiter- ­und Soldatenrat das Handtuch geschmissen, als dort starke sozialdemokratische Kräfte die Überhand hatten. Die Spartakisten dagegen überliessen nicht dem Feind das Feld. Nach der Verurteilung der Ergebnisse die­ses Reichsrätekongresses, pochten sie auf die Initiative der Arbeiter. "Der Rätekongress hat seine Vollmachten überschritten, hat das Mandat verraten, das ihm von den Arbeiter­- und Soldatenräten eingehändigt war, hat den Boden aufgehoben, auf dem seine Existenz und seine Autorität fusste. Die Arbeiter- und Soldatenräte werden nunmehr mit verzehn­fachter Energie ihre Macht ausbauen und ihr Daseinsrecht…. zu verteidigen haben. Sie werden das gegenrevolutionäre Werk ihrer ungetreuen Vertrauensmänner für null und nichtig erklären…." (Rosa Luxemburg, 20. Dezember 1918).

Das Lebenselixier der Revolution – Die Massenaktivität

Die Orientierung der Spartakisten bestand dann auch darin, die Masseninitiative vor Ort zu intensivieren. Diese Ausrichtung haben die Spartakisten auf dem Gründungskongress der KPD, der nur 10 Tage nach dem Ende des Reichsrätekongresses stattfand, hervorgeho­ben. Wir werden in einem nächsten Artikel näher darauf eingehen.

Die Spartakisten hatten verstanden: Der Puls der Revolution schlägt in den Räten; die proletarische Revolution ist erste Revolution, die von der grossen Mehrheit der Bevölke­rung, von der ausgebeuteten Klasse gemacht wird. Im Gegensatz zu den bürgerlichen Re­volutionen, die von Minderheiten durchgeführt werden konnten, kann die proletarische nur siegreich sein, wenn sie ständig gespeist, ständig vorangetrieben wird durch die Quelle der Aktivität der ganzen Arbeiterklasse. Die Räte und ihre Delegierte sind kein vom Rest der Klasse isolierter Teil, der sich von diesem abschotten und isolieren muss, oder die den Rest der Klasse in Passivität hält. Nein - die Revolution kann nur vorankommen durch die bewusste, wachsame, aktive und kritische Selbstbeteiligung der Klasse.

Für die Arbeiterklasse hiess dies, dass eine neue Stufe im Kampf eintreten musste, wo der Druck aus den Betrieben verstärkt werden musste. Die verstärkte Agitation der Kommu­nisten in den lokalen A/S-Räten stand für sie als oberste Priorität an. Sie folgten damit der gleichen Politik, wie sie Lenin schon im April 1917, als in Russland eine ähnliche Situation vorhanden war:

"Aufklärung darüber, dass die Sowjets der Arbeiterdeputierten die einzig mögliche Form der revolutionären Regierung sind und dass daher unsere Aufgabe, solange sich diese Regierung von der Bourgeoisie beeinflussen lässt, nur in geduldiger, systematischer, be­harrlicher, besonders den praktischen Be­dürfnissen der Massen angepasster Aufklä­rung über die Fehler ihrer Taktik bestehen kann. Solange wir in der Minderheit sind, besteht unsere Arbeit in der Kritik und Klar­stellung der Fehler, wobei wir gleichzeitig die Notwendigkeit des Übergangs der gesamten Staatsmacht an die Sowjets der Arbeiterdeputierten propagieren, damit die Massen sich durch die Erfahrung von ihren Irrtümern befreien" (Lenin, Aprilthesen, 4. These, April 1917. Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution) ..

Wir können aber die Dynamik in den Rä­ten nicht wirklich verstehen, wenn wir nicht die Rolle der Soldaten näher beleuchten.

Die revolutionäre Bewegung der Arbei­terklasse war vorangetrieben worden durch den Kampf gegen den Krieg. Dabei hatte der Widerstand der Arbeiter "zu Hause" die Sol­daten "an der Front" infiziert (der Anteil der Arbeiter unter den Soldaten war in Deutsch­land viel grösser als in Russland). Die Meute­reien der Soldaten wie die Erhebungen der Arbeiter hatten schliesslich die Bourgeoisie gezwungen, den Krieg zu beenden. Solange der Krieg dauerte, waren die kriegsmüden Soldaten die besten Verbündeten der Arbeiter. Dank dieses wachsenden Widerstandes ent­stand auch ein günstiges Kräfteverhältnis an der Front "zu Hause". Wie Liebknecht schrieb, destabilisierte das die Armee. Sobald der Krieg jedoch von der Bourgeoisie beendet worden war, kam es zu einer Spaltung inner­halb der Soldaten selbst. "Die Masse der Soldaten ist revolutionär gegen den Milita­rismus, gegen den Krieg und die offenkundi­gen Repräsentanten des Imperialismus; im Verhältnis zum Sozialismus ist sie noch zwiespältig, schwankend, unausgegoren. (Liebknecht, 19. November 1918).

Solange der Krieg fortdauerte und die Truppen noch mobilisiert blieben, hatten sich an vielen Orten Soldatenräte gebildet "Die Soldatenräte sind der Ausdruck einer aus allen Klassen der Gesellschaft zusammenge­setzten Masse, in der zwar das Proletariat bei weitem überwiegt, aber keineswegs das ziel­bewusste, klassenkampfbereite Proletariat; sie sind oft geradewegs von oben herab, durch das Eingreifen der Offiziere, auch hochfeuda­ler Kreise gebildet, die so in schlauer Anpas­sung ihren Einfluss auf die Soldaten zu be­wahren suchten und sich zu ihren Vertretern haben wählen lassen." (Liebknecht, November 1918).

Die Armee als solches ist natürlich ein klassisches Instrument, kontrolliert und diri­giert von dem Staat ergebenen Offizieren. In einer revolutionären Situation jedoch, wo es unter Tausenden von Arbeitern in Uniform brodelt, wo die alten hierarchischen Strukturen nicht mehr respektiert werden und Arbei­ter in Uniform gemeinsam Beschlüsse fassen, kann dies eine Armee zum Auseinanderbrechen, zur Spaltung bringen, insbesondere wenn die Soldaten bewaffnet sind. Dazu muss die Arbeiterklasse aber einen ausreichend starken Bezugspol darstellen - auf den sich die Arbeiter in Uniform zubewegen und mit ihnen verbrüdern können. Während des Krie­ges gab es diese Dynamik.

Deshalb beendete die Bourgeoisie den Krieg, um eine weitere Radikalisierung der Arbeiter in Uniform zu verhindern.

Aufgrund dieses Schrittes hatte es die herrschende Klasse geschafft, die Arbeiter "zu beruhigen" und sie von der Revolution "abzuschotten", während die Bewegung der Arbeiterklasse noch nicht stark genug war, um die Soldaten stärker auf die Seite der Arbeiter zu ziehen. Dadurch konnten die Manipulationen der Bourgeoisie in den Reihen der Solda­ten umso besser wirken.

Das Gewicht der Soldaten war bedeutsam während der aufsteigenden Phase der Bewe­gung - und es trug entscheidend zur Beendi­gung des Krieges bei. Aber ihre Rolle änderte sich, als die Bourgeoisie ihre Gegenoffensive begann.

Die Aufgabe kann nur international gelöst werden

Während die Kapitalisten sich im Krieg vier Jahre lang bekämpft, Millionen von Toten als Kanonenfutter geopfert hatten, war das Kapital sofort nach dem Ausbruch der Revo­lution in Russland und vor allem, als das Proletariat in Deutschland zum Sturmlauf ansetzte, bereit, sich zusammenzuschließen. Die Spartakisten hatten von Anfang an ver­standen, welche Gefahr aus der Isolierung der Arbeiterklasse in Russland und Deutschland entstehen würde.

Am 25. November richteten sie folgenden Aufruf:

„An die Proletarier aller Länder"

….die Stunde der Abrechnung mit der kapita­listischen Herrschaft hat geschlagen. Dies große Werk aber kann das deutsche Proleta­riat allein nicht vollbringen. es kann nur kämpfen und siegen. indem es die Solidarität der Proletarier der ganzen Welt anruft. Ge­nossen der kriegsführenden Länder, wir ken­nen Eure Lage. Wohl wissen wir, dass Eure Regierungen nun, da sie den Sieg errungen haben, manche Volksschichten durch den äußeren Glanz des Sieges blenden…. Eure siegreichen Kapitalisten stehen bereit. unsere Revolution, die sie wie die eigene fürchten. blutig zu unterdrücken. Ihr selbst seid durch den "Sieg" nicht freier, Ihr seid nur noch versklavter geworden. Gelingt es Euren herr­schenden Klassen, die proletarische Revoluti­on in Deutschland wie in Russland abzuwür­gen, dann werden sie sich mit doppelter Wucht gegen Euch wenden…. Deutschland ist schwanger mit der sozialen Revolution. aber den Sozialismus kann nur das Weltproletariat verwirklichen." (Spartakusbund, 25. Novem­ber 1918, in Rosa Luxemburg, Ges. Werke, Bd. 4, S. 418).

Während die SPD alles daran setzte, die Arbeiter in Deutschland von Russland abzu­koppeln, setzten sich die Revolutionäre mit aller Kraft für den Zusammenschluss der Arbeiterklasse ein.

Dabei waren sich die Spartakisten bewusst:

„Jetzt herrscht bei den Völkern der Entente begreiflicherweise ein mächtiger Siegestau­mel. und die Freude über die Zertrümmerung des deutschen Militarismus, über die Befreiung Belgiens und Frankreich ist so laut, dass wir ein revolutionäres Echo von Seiten der Arbeiterschaft unser bisherigen Feinde in diesem Augenblick nicht erwarten" (Liebknecht, 23. Dezember 1918).

Sie wussten, dass die Revolution eine ge­fährliche Spaltung in den Reihen der Arbeiter hinterlassen hatte. Und die Verteidiger des Kapitals, die SPD, gingen jetzt daran, die Arbeiterklasse in Deutschland gegen die Arbeiter anderer Länder auszuspielen. Dro­hung mit ausländischen Interventionen, all dies hat die herrschende Klasse seitdem mehrfach praktiziert.

Die Bourgeoisie hatte die Lehren aus Russland gezogen

Nachdem die Bourgeoisie und die Militärs unter Führung der SPD am 11. November aus Angst, die Arbeiterklasse könnte sich weiter radikalisieren und den "russischen Weg ein­schlagen", den Waffenstillstand geschlossen hatten, der Krieg damit zu Ende gebracht war, war eine neue Situation eingetreten.

Wie R. Müller, ein führendes Mitglied der Obleute meinte;

„Die ganze Kriegspolitik mit ihren Wir­kungen auf die Lage der Arbeiter, der Burg­frieden mit der Bourgeoisie, alles was die Arbeiter bis aufs Blut gereizt hatte, war ver­gessen" (R. Müller, S. 35).

Die Bourgeoisie hatte die Lehren aus Russland gezogen. Hätte die Bourgeoisie in Russland beispielsweise im März, April 1917 den Krieg beendet, wäre die Revolution im Oktober auch nicht möglich, auf jeden Fall viel schwerer gewesen. Der Krieg lässt sich zwar abstellen, um einer Bewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Auch hier stand die Arbeiterklasse in Deutschland vor einer anderen Situation als ihre Klassenbrüder in Russland.

„Man kann nicht erwarten, wenn man auf dem Boden historischer Entwicklung steht, dass man in dem Deutschland, das das furcht­bare Bild des 4. August und der vier Jahre darauf geboten hat. plötzlich am 9. November 1918 eine großartige. klassen- und zielbewuss­te Revolution erlebt; und was wir am 9. No­vember erlebt haben. War u drei vierteln mehr Zusammenbruch des bestehenden Im­perialismus als Sieg eines neuen Prinzips. Es war einfach der Moment gekommen. wo der Imperialismus wie ein Koloss auf tönernen Füssen, innerlich morsch, zusammenbrechen musste. und was darauf folgte, war eine mehr oder weniger chaotische, planlose. sehr we­nig bewusste Bewegung, in der das einigende Band und das bleibende, das rettende Prinzip nur in der Losung zusammengefasst war: die Bildung der Arbeiter- und Soldatenräte…. Es waren eben die ersten Kinderschritte der Revolution, die noch Gewaltiges zu leisten hat und einen weiten Weg zu gehen hat, um her­anzuwachsen zur völligen Verwirklichung ihrer ersten Losung." (Rosa Luxemburg, Gründungsparteitag KPD)

Deswegen konnte man nicht den Anfang der Bewegung mit dem Ende verwechseln, denn

„Kein Proletariat der Welt, auch nicht, deutsche. kann die Spuren einer jahrtausendelangen Knechtung von heute auf morgen beseitigen. Sowenig die politische hat die geistige Verfassung des Proletariats am ERSTEN Tag der Revolution ihren höchsten Stand. Erst die Kämpfe der Revolution werden in jedem Sinne das Proletariat zur vollen Reife erheben. (Rosa Luxemburg, 3. Dezember 1918).

Die Laster der Vergangenheit

Den Spartakisten hatten recht zu sagen dass die Ursachen dieser großen Schwierigkeiten in den Lastern der Vergangenheit lagen. Denn das Vertrauen, das viele noch in die Politik der SPD hatten, war ein gefährliches Überbleibsel. Viele hielten zu einem guten Teil die Kriegspolitik der SPD für eine vorübergehende Verirrung. Sie hielten den ganzen Krieg für eine schändliche Mache der eben gestürzten Regierungsclique. Sie erinnerten sich an die einigermaßen erträgliche Lage vor dem Kriege und hofften, über das gegenwärtige Elend bald wieder und endgültig hinweg zu sein. Gegen neue Kriege schienen ihnen die Versprechungen Wilsons, der angekündigte Völkerbund, die Demokratie Sicherheit zu bieten, die demokratische Republik schien ihnen nicht als Bourgeoisie-Republik, sondern tatsächlich als der Boden, auf dem der Sozialismus sprießen könnte. Kurz um: der Druck der demokratischen Illusionen die mangelnde Erfahrung im Zusammenprallen mit den Saboteuren der SPD und der Gewerk­schaften waren ausschlaggebend: „In allen früheren Revolutionen traten Kämpfer mit offenem Visier in die Schranken: Klasse ge­gen Klasse, Programm gegen Programm, Schild gegen Schild…. Es waren (früher) stets Anhänger des gestürzten oder bedrohten Systems, die im Namen und zur Rettung dieses Systems gegenrevolutionäre Maßnahmen ergriffen…. In der heutigen Revolution treten die Schutztruppen der alten Ordnung nicht unter eigenen Schildern und Wappen der herrschenden Klasse, sondern unter der Fahne einer sozialdemokratischen Partei in die Schranken…. Die bürgerliche Klassen­herrschaft kämpft heute ihren letzten weltgeschichtlichen Kampf unter fremder Flagge, unter der Flagge der Revolution selbst. Es ist eine sozialistische Partei. es ist das ureigenste Geschöpf der Arbeiterbewegung und des Klassenkampfes. das sich in das wuchtigste Instrument der bürgerlichen Gegenrevolution verwandelt hat. Kern, Tendenz, Politik, Psy­chologie, Methoden - alles ist gut kapitali­stisch. Nur Schilder, Apparat und Phraseolo­gie sind vom Sozialismus übriggeblieben." (Rosa Luxemburg, 21. Dezember 1918).

Eine deutlichere Entblößung des Charak­ters der Konterrevolution in Gestalt der SPD konnte nicht formuliert werden.

Deshalb zeigten die Spartakisten die nächste, jetzt erforderliche Etappe auf:

„Der Umschlag der vorwiegend soldati­schen Revolution des 9. November in eine ausgesprochene Arbeiterrevolution, der ober­flächlichen, rein politischen Umwälzung in den langatmigen Prozess der wirtschaftlichen Generalauseinandersetzung zwischen Arbeit und Kapital erfordert von der revolutionären Arbeiterklasse einen ganz anderen Grad der politischen Reife, Schulung, Zähigkeit, als wie sie der ersten anfänglichen Phase genügten" (Rosa Luxemburg. 3. Januar 1919),

Zwar war die Bewegung Anfang Novem­ber nicht nur eine "Soldatenrevolution" gewe­sen, denn ohne die Arbeiter in den Fabriken hätten die Soldaten sich nie soweit radikali­sieren können. Die Spartakisten sahen die Perspektive eines wirklichen Schrittes voran, als in der zweiten Novemberhälfte und im Dezember im Ruhrgebiet und in Oberschlesi­en eine Welle von Streiks ausbrach. Das bedeutete eine Aktivierung der Arbeiterklasse in den Fabriken selbst, ein Zurückdrängen des Gewichtes der Soldaten. Denn nach dem Ende des Krieges kam es zum wirtschaftlichen Zusammenbruch und zu einer noch größeren Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiter. Im Ruhrgebiet legten viele Bergar­beiter die Arbeit nieder. Um ihre Forderungen durchzusetzen, zogen sie oft zu den anderen Bergwerken, damit mehr Bergleute sich ihnen anschlossen und sie ein größeres Gewicht hatten. Bald klangen die Streiks etwas ab, bald entfalteten sie sich mit neuer Kraft.

„In der heutigen Revolution sind die eben ausgebrochenen Streiks…. der erste Anfang einer Generalauseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit, sie läuten den Beginn des gewaltigen direkten Klassenkampfes ein, dessen Ausgang kein anderer sein kann als die Beseitigung des Lohnverhältnisses und Einführung der sozialistischen Wirtschaft. Sie lösen die lebendige soziale Kraft der gegen­wärtigen Revolution aus: die revolutionäre Klassenenergie der proletarischen Massen. Sie eröffnen die Periode der unmittelbaren Aktivität der breitesten Massen."

Deshalb betonte Rosa. Luxemburg zu­recht:

„Nach der ersten Phase der Revolution, der des vorwiegend politischen Kampfes, kommt eine Phase des verstärkten, gesteiger­ten, in der Hauptsache ökonomischen Kamp­fes....

In der kommenden Phase der Revolution werden sich die Streiks nicht nur immer mehr ausdehnen, sondern sie werden im Mittel­punkt, im entscheidenden Punkt der Revoluti­on stehen, zurückdrängend die rein politi­schen Fragen." (R. L., Gründungsparteitag der KPD).

Nachdem der Krieg durch die Bourgeoisie unter dem Druck der Arbeiter beendet, die Bourgeoisie eine politische Offensive einge­leitet, die ersten Versuche der Arbeiterklasse nach der Macht zu greifen abgewehrt worden waren, musste die Bewegung in eine neue Stufe eintreten. Entweder würde die Arbei­terklasse neue Schubkraft durch die Initiative der Arbeiter in den Fabriken entwickeln können, den "Umschlag in eine ausgespro­chene Arbeiterrevolution" schaffen, oder aber die Bourgeoisie würde ihre Offensive fortset­zen können.

Wir werden im nächsten Artikel auf die Frage des Aufstands, die grundlegenden Konzeptionen der Arbeiterrevolution und welche Rolle die Revolutionäre darin zu spielen haben und tatsächlich spielten, eingehen. DV


[1] In Köln war die revolutionäre Bewegung besonders stark. Innerhalb von 24 Stunden hatten am 9. November allein 45.000 Soldaten den Mili­taristen den Gehorsam verweigert und waren "auseinandergelaufen". Schon am 7. November waren revolutionäre Matrosen aus Kiel auf dem Weg nach Köln. Der spätere Bundeskanzler Ade­nauer, damals Bürgennt;ister von Köln, und die Führung der SPD trafen sofort Maßnahmen, um die "Lage zu beruhigen".

[2] Seitdem geht das Kapital immer mit der gleichen Taktik vor: 1980, als Polen von einem Massenstreik der Arbeiter erfasst wurde, wechselte das Kapital auch die Regierung aus. Die Liste der Beispiele ist endlos lange. Personen austauschen, um die Kapitalherrschaft nicht anzutasten

Theorie und Praxis: 

  • Deutsche Revolution [68]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1919 - Deutsche Revolution [88]

Polemik mit Battaglia Comunista: Hinter der „Globalisierung" der Wirtschaft verbirgt sich die Krise des Kapitalismus

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Politiker, Ökonomen sowie die Medien versuchen mit den absurdesten Theorien den Bankrott des kapitalistischen Systems zu verschleiern und die unaufhörlichen Angriffe auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse zu rechtfertigen.

Vor 25 Jahren erklärte Nixon, ein amerikanischer Präsident der konservativsten Sorte, der ganzen Welt: "Wir sind alle Keynesianer". Damals, angesichts der Vertiefung der Krise, präsentierte die Bourgeoisie die "staatliche Intervention" und die Entwicklung eines "Sozial- und Wohlfahrtsstaates" als magische Lösung für alle Probleme. Und im Namen dieser Politik wurden der Arbeiterklasse große Opfer abgerungen, denn nur so werde je das "Ende des Tunnels" erreicht werden.

Während der 80er Jahre, konfrontiert mit dem wirtschaftlichen Niedergang, wechselte die Bourgeoisie ihre Taktik. Nun war der Staat schuld an allem Übel und die neue Losung, das Heilmittel für alle Probleme, lautete: "weniger Staat". Dies waren die bitteren Jahre der "Reaganomics", welche seit den 30er Jahren die größte weltweite Welle von Entlassungen bedeuteten; Entlassungen, die wohlgemerkt vom Staat organisiert worden waren.

Heute hat sich die Krise des Kapitalismus derart verschärft, dass ausnahmslos alle Industriestaaten die Liquidierung der minimalsten sozialen Garantien auf die Tagesordnung setzen (Arbeitslosengelder, Renten, Krankenkassen- und Schulgelder; sogar Entlassungs­entschädigungen, Garantie des vollen Arbeitstages oder die Sozialversicherung), Garantien welche die Arbeiter unter der ideolo­gischen Maske des "Wohlfahrtsstaates" zugesprochen bekommen hatten. Diese erbarmungslosen Angriffe, dieser qualitative Sprung in der Tendenz zur schon von Karl Marx beschriebenen absoluten Verarmung der Arbeiterklasse, wird heute mit einer neuen Ideologie rechtfertigt, der "Globalisierung der Weltwirtschaft".

Die Diener des Kapitals haben den Mond entdeckt! Mit 150 Jahren Verspätung verkau­fen sie, als sei es die "größte Neuigkeit des Jahrhunderts" dasselbe, was schon Engels in den 1847 geschriebenen Grundsätzen des Kommunismus feststellte: "Es ist dahin ge­kommen, dass eine neue Maschine, die heute in England erfunden wird, binnen einem Jahre Millionen von Arbeitern in China außer Brot setzt. Auf diese weise hat die große Industrie alle Völker der Erde miteinander in Verbindung gesetzt, alle kleinen Lokalmärkte zum Weltmarkt zusammengeworfen, überall die Zivilisation und den Fortschritt vorberei­tet und es dahin gebracht, dass alles, was in den zivilisierten Ländern geschieht, auf alle anderen Länder zurückwirken muss. "

Der Kapitalismus musste sich auf die ganze Welt ausdehnen, musste sein ausbeuterisches Lohnsystem in jedem Winkel des Planeten einrichten. Die Integration aller bedeutenden Gebiete der Erde in den Weltmarkt gegen Ende des letzten Jahrhunderts und die Schwierigkeit, neue zu finden, welche den immer größer werdenden Hunger der kapita­listischen Expansion stillen konnten, kenn­zeichneten die Dekadenz der bürgerlichen Ordnung, wie es die Revolutionäre schon seit 80 Jahren aufzeigen.

In diesem Rahmen der permanenten Sätti­gung des Weltmarktes ist das 20. Jahrhundert Zeuge einer noch nie dagewesenen Verschär­fung der Konkurrenz unter den verschiedenen nationalen Kapitalien. Angesichts des immer zunehmenden Bedürfnisses der Realisierung des Mehrwertes werden die Märkte immer kleiner. Dies bedeutet für jedes nationale Kapital zweierlei: Zum einen den Zwang, seine eigenen Produkte mit einem größtmög­lichen Maß an Mitteln (Geldpolitik, Gesetzen, usw.) gegenüber den Konkurrenten zu be­schützen und zum anderen, eben gerade diese Konkurrenten dazu zu bewegen, ihre Tore für seine Produkte zu öffnen (Handelsabkommen, bilaterale Verträge, usw.).

Wenn bürgerliche Ökonomen von "Globalisierung" sprechen, täuschen sie damit vor, der Kapitalismus lasse sich bewusst und einheitlich auf der Basis der Gesetze des Weltmarktes verwalten. Doch genau das Gegenteil ist der Fall: die Wirklichkeit des Weltmarktes bildet ihre eigenen Gesetze, dies jedoch in einem Rahmen, der durch den ver­zweifelten Versuch jedes nationalen Kapitals geprägt ist, diesen Gesetzen zu entrinnen und die Last auf die anderen abzuwälzen. Der heutige, "globalisierte" Weltmarkt stellt keineswegs eine Grundlage für Fortschritt, Einheit dar, sondern im Gegenteil; für Anar­chie und Zerfall. Die Tendenz im dekadenten Kapitalismus ist das Auseinanderbrechen des Weltmarktes, ausgelöst durch die zentrifuga­len Kräfte der nationalen Ökonomien, deren krankhaft aufgeblähte Staatsapparate mit allen Mitteln (auch militärischen) versuchen, das der Arbeiterklasse abgepresste Produkt gegen die Angriffe der Konkurrenz zu verteidigen. Während im letzten Jahrhundert die Konkur­renz zwischen Nationen zur Bildung und Vereinheitlichung des Weltmarktes führte, bedeutet heute im 20. Jahrhundert die organi­sierte Konkurrenz zwischen allen National­ Staaten genau das Gegenteil: Zerfall und Zersetzung des Weltmarktes.

Und genau aus diesem Grund kann "Globalisierung" einzig und allein mit Gewalt erwirkt werden. In den Jahren nach Yalta profitierten die USA und Russland von, ­Vorteilen der Blockdisziplin und installierte streng strukturierte Wirtschaftsorganisationen um den Welthandel (natürlich zu ihren Vortei­len!) zu kontrollieren: GATT, IWF, EG, COMECON im Ostblock, usw. Diese Organi­sationen, Ausdruck der militärischen und ökonomischen Stärke der jeweiligen Blockführer, waren aber nie wirklich fähig, die Tendenz hin zum Anarchismus zu überwinden und einen harmonischen und einheitlichen Weltmarkt zu schaffen. Die Auflösung der zwei großen imperialistischen Blöcke nach 1989[1] hat die Konkurrenz und das Chaos auf dem Weltmarkt noch beträchtlich be­schleunigt.

Wird die "Globalisierung" diese Tendenz aufhalten können? Laut den Predigern der "Globalisierung" hat der Teil des Weltmark­tes, welcher "schon vereinheitlicht" ist, eine "heilsame Ausstrahlung" auf die gesamte Ökonomie und wird in Zukunft die Krise überwinden und den "nationalen Egoismus" über Bord werfen lassen. Wenn wir aber all die Vorschläge überprüfen, welche die Ökonomen unter" Globalisierung" verstehen, so stellen wir fest, dass nicht einer ermöglicht, das Chaos und die sich verschärfende Krise zu "überwinden". Mit "Transaktionen über Internet" zu beginnen, bedeutet ein enormes Risiko von Zahlungsunfähigkeit, das bereits heute schon sehr hoch ist, in Kauf zu nehmen, was die ganze unerträgliche Schuldenlast nur zusätzlich erhöht. Wie wir bereits 1995 über die" Globalisierung" des Finanz- und Geld­marktes schrieben: "Eine Finanzkrise ist unvermeidlich. In gewisser Hinsicht ist sie bereits eingetreten. Selbst von einem kapita­listischen Standpunkt aus ist eine starke "Entleerung" des "Spekulationsballons " unentbehrlich. ( .. ) Heute hat der Spekulati­onsballon, und allem voran die Staatsver­schuldung, unerhört zugenommen. Unter diesen Umständen ist es unmöglich vorauszu­sagen, wo genau die Spannung diese Ballons endet. Doch auf jeden Fall wird es eine mas­sive Zerstörung von fiktivem Kapital bedeu­ten, was ganze Teile des Weltkapitals ruinie­ren wird. "[2]

Was heutzutage an "Globalisierung" tat­sächlich vorhanden ist, unterscheidet sich krass von dem, was uns an Propaganda dar­über vorgespielt wird. Es ist eine Antwort auf die zwei dringendsten Probleme mit welchen der heutige Staat in der kapitalistischen' Krise konfrontiert ist:

- die Senkung der Produktionskosten;

- die Zerstörung der protektionistischen

Hindernisse, damit die wettbewerbsfähigsten Kapitalismen die immer reduzierteren Märkte noch ausschöpfen können.

Was die Senkung der Produktionskosten betrifft, schrieben wir bereits: "Die Verschär­fung der Konkurrenz unter den Kapitalisten, welche durch die Überproduktionskrise und das Schwinden von zahlungsfähigen Märkten nur verschlimmert wird, zwingt sie in einem zügellosen Tempo zur permanenten Moderni­sierung des Produktionsprozesses, zur Erset­zen von Menschen durch Maschinen, um die Produktionskosten zu senken. Derselbe Wett­lauf zwingt sie zur Verlagerung eines Teils der Produktion in Länder, in welchen die Arbeits­kraft billiger ist (China und Südostasien als aktuelle Beispiele)."[3]

Dieser zweite Aspekt der Senkung der Produktionskosten (die Verlegung von Teilen der Produktion in Länder mit tieferen Löh­nen) hat sich in den 70er Jahren beschleunigt. Wir sehen heute, wie die "demokratischen" Kapitalisten wieder gute Geschäfte mit dem stalinistischen Regime in China machen, um zu Spottpreisen Disketten, Turnschuhe, Com­puterhardware usw. zu produzieren. Das Aufblühen der berühmten "asiatischen Dra­chen" basiert lediglich auf der Tatsache, dass die Produktion von Computern, Stahl, Elek­tronikgeräten usw. in diese "Billiglohn ­Paradiese " verlegt wurde. Der von den Schlägen der Krise geplagte Kapitalismus ist gezwungen; bis aufs Äußerste von den unterschiedlichen Lohnkosten zu profitieren: "Die absoluten Lohnkosten (inklusive Steuern) in der Industrie der verschiedenen, sich entwickelnden Länder, welche Waren herstellen und exportieren sowie auch Dienstleistungen erbringen, variieren zwischen 3% (Madagaskar, Vietnam) und 40% des Durch­schnitts der reichsten Länder Europas. In China betragen sie zwischen 5 und 16%, in Indien zirka 5%. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks entstand heute vor den Toren der Europäischen Union ein Reservoir an Arbeitskraft, dessen Lohnkosten 5% (Rumänien) oder 20% (Polen und Ungarn), verglichen mit denjenigen in Deutschland, nicht überschreitet. "[4]

Das ist der erste Aspekt dieser "Globalisierung". Seine Folgen sind eine weltweite Senkung des durchschnittlichen Einkommens in der ganzen Welt, sowie auch Massenentlassungen in den großen Industrie­zentren, ohne dass diese vernichteten Arbeits­plätze in den neugeschaffenen hochautomati­sierten Betrieben durch die Entstehung neuer Arbeitsplätze wieder kompensiert werden können. Weit davon entfernt, die chronische Krankheit des Kapitalismus (die Sättigung der Märkte) heilen zu können, hat die "Globalisierung" die Situation durch eine Reduktion der Nachfrage in den großen In­dustrieländern nur verschärft ohne die gleich­zeitige Möglichkeit, sie durch ein Anwachsen der Konsumption in den "aufblühenden" Ländern auszugleichen.[5]

Was die Überwindung der Zollhindernisse betrifft, hat der Druck der "großen" Staaten zur Folge, dass Länder wie Indien, Mexico oder Brasilien ihre Einfuhrzölle bis hin zu einer beträchtlichen Verschuldung senken. Dieselben Methoden wurden in den 70er Jahren angewandt und rührten zur katastrophalen Krise im Jahre 1982. Mit solchen Methoden dem Kapitalismus eine Erleichte­rung verschaffen zu können ist eine absolute Illusion: "... der neulich aufgetretene Finanzkrach bei einem anderen "Modellfall", Mexi­co, dessen Währung mehr als die Hälfte von heute auf morgen verlor, und eine dringende Finanzspritze von nahezu 50 Mrd. Dollar an Sofortkrediten erforderlich machte (bei wei­tem die größte "Rettungsoperation " in der Geschichte des Kapitalismus), fasst die Wirk­lichkeit des Wunders zusammen, das sich hinter vielen" Schwellenländern" der 3. Welt verbirgt."[6]

Als Resultat der" Globalisierung" können wir heute keine Verminderung des Protektio­nismus oder staatlicher Interventionen in den Handel feststellen, sondern ganz im Gegenteil eine Verstärkung der traditionellen Methoden durch neuere:

- Derselbe Clinton, welcher 1995 Japan zur Öffnung seiner Grenzen für amerikanische Produkte zwingen konnte, der dauernd seine "Verbündeten" zum "freien Welthandel" auffordert, lieferte mit der Erhöhung der Einfuhrzölle für Flugzeuge, Stahl und Land­wirtschaftsprodukte und Beschränkungen für den Kauf von ausländischen Produkten durch den Staat seit seiner Wahl wohl das deutlich­ste Beispiel für diese Politik.

- Die berühmte Uruguay-Runde, welche zur Ersetzung des alten GATT durch eine neue Welthandelsorganisation führte, enthielt nichts als eine absolut illusionäre Vereinba­rung: die Abschaffung der Zölle in 10 indu­striellen Sektoren und die Reduktion um 30% in 8 weiteren Sektoren, dies alles verteilt auf zehn Jahre!

- Ein deutliches Beispiel des Neoprotek­tionismus sind die Ökologie-, Gesundheits­-, oder Wohlfahrtsnormen; die hochindu­strialisierten Länder errichten für ihre Kon­kurrenten ungeheure Tarife:"in der neuen Welthandelsorganisation kämpfen Industriekreise, Gewerkschaften und Grüne dafür, dass die kollektiven Güter, die die Umwelt, der soziale Wohlstand etc. mit den dazugehörigen Normen nicht durch den Markt, sondern durch die nationale Staatsgewalt, welche auf diesem Gebiet keine anderen Kräfte dulden kann, festlegt werden.“[7]

Die Bildung von "Handelszonen" (EU, Abkommen in Südostasien, Nordamerikani­sche Freihandelszone, usw.) widersprechen dieser Tendenz keinesfalls, da sie lediglich ein Mittel für einzelne Gruppen kapitalistischer Länder sind, sich im Kampf gegen ihre stärk­sten Rivalen Schutzzonen einzurichten. Die USA reagierte auf die EU mit ihrer Freihan­delszone, während Japan, mit beidem kon­frontiert, sich als Initiator einer Einheit unter den asiatischen "Drachen" betätigte. Diese "regionalen Handelspartnerschaften " versu­chen sich vor der Konkurrenz zu schützen, während sie selbst eigentliche Schlangennester darstellen, in denen sich die Handelskonflikte zwischen den Partnern tagtäglich verschärfen. Es genügt vollends, sich das erbauliche Spektakel der" harmonischen" EU vor Augen zu führen, welche dauernd von den Streitereien der 15 Mitgliederstaaten geschüt­telt wird.

Machen wir uns nichts vor! Die abwei­chendsten Tendenzen, welche den Zerfall des Weltmarktes anzeigen, beweisen es dauernd:

"Heutzutage hat die Unsicherheit im Geldsek­tor international solche Masse angenommen, dass wir das Wiederaufblühen der anarchi­stischsten Formen des Handels beobachten können. In anderen Worten: den direkten Handel von Waren, ohne Geld als Zwi­schenglied zu benutzen." (8) [8]Eine andere Waffe, welche kapitalistische Staaten, und wohlverstanden: die reichsten, zur Hand haben, ist die Entwertung des Geldes, welche es' erlaubt, die eigenen Waren billiger zu verkaufen und die der Konkurrenten zu ver­teuern. Alle Versuche, die Ausbreitung und Verallgemeinerung dieser Praktiken zu verhindern, endeten in einem Fiasko, wie der Kollaps des europäischen Währungssystems deutlich zeigt.

Die „Globalisierung“, ein ideologischer Angriff gegen die Arbeiterklasse

Es wird immer deutlicher, dass die "Globalisierung" nichts anderes als ein ideo­logischer Schleier ist, mit dem versucht wird, den Zusammenbruch des Kapitalismus in einer generalisierten Krise und das anwach­sende Chaos, in dem der Weltmarkt versinkt, zu verschleiern.

Nichtsdestotrotz       gebärdet        sich    die "Globalisierung" sehr ehrgeizig. Es wird nicht weniger als die Überwindung oder gar die „Zerstörung" (nach den Worten der kühnsten "Globalisten") des Nationalstaates verspro­chen. Einer der bekanntesten Geschäftsgurus, der Japaner Kenichi Ohmae beispielsweise predigt folgendes: "…. in wenigen Worten, in wirklichen ökonomischen Begriffen ausge­drückt, haben die Nationalstaaten ihre Rolle als bedeutende Einheit in der Teilnahme am heutigen freien, grenzenlosen Weltmarkt verloren."[9] Des weiteren betitelt er Natio­nalstaaten als einen "brutalen Filter" und verspricht uns ein Paradies der "globalen" Wirtschaft: "In demselben Masse, wie die Zahl von Personen ansteigt, welche den bru­talen, die verschiedenen Gebiete der Weltwirtschaft nach altem Gewohnheitsrecht abtrennenden Filter durchbrechen, verschiebt sich die Macht über die ökonomischen Aktivi­täten unvermeidlich aus den Händen der zentralen Regierungen der Nationalstaaten in die Hände der grenzenlosen Geflechte von unzähligen, individuellen und auf dem Markt basierenden Entscheidungen."[10]

Das Proletariat ist die einzige Klasse, die überhaupt fähig ist, einen Kampf gegen den Nationalstaat zu führen. Wie wir jedoch sehen, kennt die Verlogenheit der bürgerli­chen Ideologie keine Grenzen: sie präsentie­ren sich hier als die großen Vorreiter des "Kampfes gegen die nationalen Interessen". Als ein Höhepunkt dieser überschwänglichen Lügen, nannten zwei Autoren desselben Schlages, Alexander King und Bertrand Schneider, ihr Buch sogar "Die erste weltwei­te Revolution".

Ihre gefährliche Rolle jedoch spielt diese antinationale "Angst" im Rahmen der ideo­logischen Offensive der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse. Ein Teil dieser Offensive besteht darin, das Proletariat in die Falle einer falschen Entscheidung zu locken:

- Auf der einen Seite unterstreichen die politischen Kräfte, welche offensiv die "Globalisierung" vertreten (in Europa sind dies die Anhänger von Maastricht), die Not­wendigkeit," den rückschrittlichen nationalen Egoismus zu überwinden", sich in die" weltweite Einheit" zu integrieren, um so die Krise zu überwinden.

- Auf der andern Seite versuchen die lin­ken Parteien (vor allem wenn sie in der Op­position sind) und die Gewerkschaften, die Verteidigung der Interessen der Arbeiter, welche angeblich durch "nationalverräterische" Regierungen attackiert wür­den, an das Interesse des Nationalstaates zu binden.

Die Anhänger der "Globalisierung“, die angeblichen Totengräber der nationalen Inter­essen, wettern gegen die "sozialen Mindestgarantien" gegen die Sozialhilfe, Entlas­sungsentschädigungen, Arbeitslosen- und Pensionsgelder, Stipendien, Wohnungsunter­stützung, Arbeitsbestimmungen welche die Länge des Arbeitstages festlegen, Arbeitstem­pobeschränkungen, Verbot der Kinderarbeit usw. All dies stellen sie dar als "schreckliche" Fesseln des Nationalstaates, der Gefangener sei von dieser heimlichen Lobby, die die Interessen der Arbeiter vertrete.

Wenn man den verlogenen Schleier von "Überwindung der Krise" oder "Internationalität des Individuums auf einem freien Markt" lüftet, sehen wir mit aller Klar­heit den wirklichen Inhalt der "Globalisierung". Es ist nichts anderes als das neue Alibi für die Angriffe, zu welchen jeder Nationalstaat in der heutigen Krise gezwungen ist: das Streichen der "sozialen Mindestgarantien", aller Sozialleistungen und Arbeitsgarantien, die durch die Krise untrag­bar geworden sind.

Und genau hier kommt der andere Trumpf des ideologischen Angriffs der Bourgeoisie ins Spiel, welcher durch die Gewerkschaften und die Linken verkörpert wird. In den letzten fünfzig Jahren waren diese "sozialen Min­destgarantien" das Aushängeschild des sog. Wohlfahrtsstaates, der sozialen Fassade des Staatskapitalismus. Der "Sozialstaat" wurde den Arbeitern als Fähigkeit des Kapitalismus, die Ausbeutung lindern zu können, darge­stellt, als der konkrete "Beweis", dass inner­halb des Nationalstaates Klassenversöhnung und die Verschmelzung von Klasseninteressen möglich seien.

Die Gewerkschaften und die Linken (vor allem wenn sie in der Opposition sind) prä­sentieren sich als die größten Verteidiger des "Sozialstaates". Sie behaupten, dass sich der wahre Konflikt zwischen den "nationalen Interessen", welche die Beibehaltung gewis­ser "sozialer Mindestgarantien" ermöglichen würden, und dem "verräterischen Globalis­mus" abspielt. Dies war einer der Hauptaspekte im Manöver der französischen Bourgeoisie während der Streiks im Herbst 95. Die Bewegung wurde als eine Demon­stration gegen Maastricht dargestellt, als ein allgemeiner Ausdruck der Bevölkerung gegen die mühsamen Forderungen der Maastrichter "Abkommen". Und es waren genau die Gewerkschaften, welche diese "Bewegung" so in eine Sackgasse führten.

Die Widersprüche von Battaglia Comunista bezüglich der Globalisierung

Die Aufgabe der Gruppen der Kommunistischen Linken (aus der die zukünftige prole­tarische Weltpartei hervorgehen wird) besteht darin, dieses ideologische Gift kompromisslos zu denunzieren. Angesichts dieser neuen Attacken darf die Arbeiterklasse nicht zwi­schen dem "nationalen Interesse" und der "Globalisierung" wählen. Ihre Forderungen liegen nicht in der Verteidigung des Wohl­fahrtsstaates, sondern in der unnachgiebigen Verteidigung ihrer Klasseninteressen. Die Perspektive ihres Kampfes liegt nicht im falschen Dilemma zwischen "Sozialpatriotismus" und "Globalisierung", sondern in der Zerstörung des Staatskapita­lismus in allen Nationen.

Battaglia Comunista (BC) hat die Frage der "Globalisierung" wiederholt aufgegrif­fen und ihr in Prometeo, ihrer theoretischen, halbjährlich erscheinenden Revue, mehrere Artikel gewidmet. Wir wollen unterstreichen, dass BC mit großer Entschlossenheit eine Reihe von Positionen der Kommunistischen Linken verteidigt:

- BC denunziert die "Globalisierung" kompromisslos als einen mächtigen Angriff gegen die Arbeiterklasse und bemerkt, dass ihre Grundlage "in der progressiven Verar­mung des Weltproletariats und in der Ent­wicklung der gewalttätigsten Form der Ü­berausbeutung"[11] liegt;

- BC verwirft die Anschauung, dass die "Globalisierung" eine Überwindung der Widersprüche des Kapitalismus darstelle: "Es ist wichtig zu unterstreichen, dass die kürzlich eingetretenen Veränderungen der Weltwirt­schaft gänzlich im Rahmen des Prozesses von Konzentration und Zentralisation zu sehen sind. Sie sind gewiss Ausdruck einer neuen Stufe, jedoch keinesfalls der Überwindung der dem Kapitalakkumulationsprozess innewoh­nenden Widersprüche"[12];

- BC anerkennt die Tatsache, dass die Re­strukturierung und die "technologischen Innovationen", die der Kapitalismus in den 80er und 90er Jahren erfuhr, keinesfalls eine Ausweitung des Weltmarktes darstellten: „(..) entgegen den Hoffnungen hat die auf der Einführung neuer, die Arbeitskraft ersetzen­der Technologien basierende Restrukturie­rung keine neuen kompensatorischen produk­tiven Aktivitäten geschaffen, sondern im Gegenteil den "circulus vitiosus" unterbro­chen, der die mächtige Entwicklung der Weltwirtschaft in der ersten Phase des mono­polistischen Kapitalismus prägte. Erstmals zogen die zusätzlichen Investitionen an eine Erhöhung sowohl eine absolute als auch eine relative Reduktion der in der produktiven Sphäre angewendeten Arbeitskraft nach sich"[13];

- BC verwirft jegliche Illusion, die darauf abzielt, die "Globalisierung" als eine har­monische und ordentliche Form der globalen Produktion anzusehen und bekräftigt ohne die geringste Zweideutigkeit, dass "wir dem Pa­radox eines Systems beiwohnen, das mittels der Monopole ein Maximum an Rationalität realisieren will, jedoch lediglich die extremste Irrationalität hervorbringt: Alle gegen alle, jedes Kapital gegen alle anderen Kapitale, jedes Kapital gegen jedes "[14];

- BC erinnert daran, dass "der Zusammen­bruch (des Kapitalismus) nicht das mathema­tische Resultat der wirtschaftlichen Wider­sprüche darstellt, sondern das Werk der Ar­beiterklasse, die das Bewusstsein erlangt hat, dass diese nicht die beste aller Welten sei"[15]. Wir unterstützen diese Positionen, und ausgehend von dieser Übereinstimmung wollen wir einige Verwirrungen und Wider­sprüche, an denen BC unseres Erachtens leidet, bekämpfen. Diese Polemik ist gewiss nicht ein Spaß, sie hat ein klares militantes Ziel: Angesichts der Verschärfung der Krise ist es lebensnotwendig, Theorien wie diejeni­gen der "Globalisierung" zu denunzieren, deren Ziel die Vernebelung des Bewusstseins darüber ist, dass der Kapitalismus heute die "schlechteste aller möglichen Welten" ist und konsequenterweise auf der ganzen Welt zer­stört werden muss.

Uns überrascht zuallererst, dass BC denkt, dass "dank dem Fortschritt in der Mikroelek­tronik einerseits und auf dem Gebiet der Telekommunikation andererseits in der Or­ganisation des Produktionszyklus die Welt sich nun tatsächlich vereinigt hat."[16] Die Genossen sind hier von den von der Bour­geoisie ständig wiederholten Eseleien über das "vereinigende Wunder" der Telekommu­nikation und des Internet eingenommen und vergessen dabei folgendes: "Und wenn die Internationalisierung der kapitalistischen "Interessen nur die eine Seite der Internatio­nalisierung des Wirtschaftslebens zum Aus­druck bringt, so ist notwendig, auch ihre andere Seite zu betrachten. Das heißt jenen Prozess der Nationalisierung der kapitalisti­schen Interessen, der die Anarchie der kapi­talistischen Konkurrenz im Rahmen der Weltwirtschaft am schroffsten zum Ausdruck bringt, der zu den größten Erschütterungen und Katastrophen, zur größten Verschwen­dung der menschlichen Energie führt, und der das Problem der Errichtung neuer Formen des gesellschaftlichen Lebens mit dem größ­ten Nachdruck auf die Tagesordnung stellt"[17].

Eine andere schwäche der Analyse von BC liegt in der befremdlichen Entdeckung, gemäß der "der ehemalige Präsident der Ver­einigten Staaten, Nixon, als er die historische Entscheidung traf, die Vereinbarungen von Bretton Woods fallen zu lassen und die Nicht-Konvertibilität des Dollars zu erklären, weit davon entfernt war, sich vorzustellen, dass er den Weg für einen der gigantischsten Trans­formationsprozesse der kapitalistischen Pro­duktionsweise frei machte. Es öffnete sich also eine Periode tiefgreifender Veränderun­gen, die in weniger als 20 Jahren die Bezie­hungen der imperialistischen Herrschaft zu den außerordentlichsten Konsequenzen zwang."[18]

Man darf nicht als Grund analysieren (die berühmte Entscheidung über die Nicht­ Konvertibilität des Dollar von 1971), was lediglich eine Auswirkung der Zuspitzung der kapitalistischen Krise war und was keinesfalls auch nur die geringste Veränderung "in den Beziehungen der imperialistischen Herr­schaft" nach sich zog. Die ökonomische Betrachtungsweise von BC, die wir bereits wiederholt kritisiert haben, treibt sie dazu, einem Ereignis Wirkungen zuzuschreiben, das keinerlei Konsequenz in der Konfrontation der damals bestehenden imperialistischen Blöcke nach sich zog.

Dagegen ist die Hauptgefahr, dass BC der bürgerlichen Mystifikation die Tür öffnet, wonach sich der gegenwärtige Kapitalismus am "ändern und transformieren" sei. Schon in der Vergangenheit wies BC die Tendenz auf, sich von jeder "wichtigen Transformati­on", die die Bourgeoisie in die Diskussion geworfen hatte, aus der Fassung bringen zu lassen. Battaglia Comunista ließ sich bereits von "Neuheiten" der "technologischen Revolution" verführen, später vom Trugbild der durch die "Befreiung" der Ostblockländer geöffneten Märkte. Heute halten sie gewisse Mystifikationen über die "Globalisierung" für klingende Münze: "Der Schritt zur Zen­tralisierung des Einsatzes der wirtschaftlichen Variablen auf kontinentaler Ebene oder in Währungszonen bringt als Sachzwang eine unterschiedliche Verteilung des Kapitals auf die verschiedenen Produktionssektoren und damit auch den Finanzsektor mit sich. Nicht nur die kleinen und mittleren Unternehmen, sondern ebenso die Gruppen von bedeutender Dimension riskieren, marginalisiert oder von anderen mit allen Konsequenzen absorbiert zu werden. Für viele Länder birgt dies die Gefahr des Auseinanderbrechens der nationa­len Einheit in sich, wie uns dies die Ereignisse in Jugoslawien oder im ehemaligen sowjeti­schen Block aufzeigten. Die Kräfteverhältnis­se zwischen den verschiedenen Fraktionen der Weltbourgeoisie werden tiefgreifende Veränderungen erfahren und zunehmende Spannungen und Konflikte nach sich ziehen. Dies wird auch den Globalisierungsprozess erschüttern, vielleicht verlangsamen oder gar blockieren."[19]

Wir entdecken mit Bestürzung, dass sie die imperialistischen Spannungen, den Zusam­menbruch von Nationen, den Konflikt in Jugoslawien nicht durch die Dekadenz und den Zerfall des Kapitalismus, die Verschär­fung der historischen Krise des Systems, erklären, sondern dass sie Phänomene des "Globalisierungsprozesses" seien! BC gleitet hier von der Analyse der Kommunistischen Linken (Dekadenz und historische Krise des Kapitalismus) in das mystische Gefasel der Bourgeoisie über die" Globalisierung" ab.

Es ist essentiell, dass die Gruppen der Kommunistischen Linken die Augen vor diesen Mystifikationen nicht verschließen und entschlossen die revolutionäre Position ver­teidigen, die unterstreicht, dass in der Deka­denz und konkreter in der Periode der offenen Krise seit Ende der 60er Jahre, die verschie­denen Versuche des Kapitalismus zur Brem­sung des eigenen Zusammenbruches keine reale Veränderung gebracht haben, sondern lediglich und ausschließlich eine Verschär­fung und Beschleunigung der Krise[20]. In unserer Antwort auf das IBRP in der Revue Internationale Nr. 82 zeigen wir klar, dass es nicht darum geht, diese Versuche zu ignorie­ren, sondern darum, sie im Rahmen der Posi­tionen der Kommunistischen Linken zu ana­lysieren.

"Globalisierung" und Nationalstaat

Am schwerwiegendsten zeigen sich die Konsequenzen aus den Widersprüchen von BC bezüglich der Rolle der Nationalstaaten. BC denkt, dass die berühmte "Globalisierung" die Rolle der Nationalstaa­ten tiefgreifend verändern und schwächen würde. Sie behaupten sicherlich nicht nach dem Vorbild des Samurai Kenichi Ohmae, dass der Nationalstaat Blei an den Flügeln habe. Auch anerkennen sie mehrere Punkte, die wir teilen:

- Der Nationalstaat behält seinen Klassen­charakter;

- Der Nationalstaat ist ein aktiver Faktor in den Veränderungen des gegenwärtigen Kapi­talismus;

- Der Nationalstaat steckt nicht in der Krise.

Dagegen sagt BC: "…Einer der gewiss in­teressantesten Aspekte der Globalisierung der Wirtschaft ist mit der transnationalen Inte­gration der großen industriellen und finan­ziellen Konzentrationen gegeben, die rein durch ihre Dimension und ihre Macht die Nationalstaaten bei weitem überbieten."[21]

Was man von diesen "interessanten Aspekten" ableiten kann, ist, dass im Kapita­lismus dem Nationalstaat übergeordnete Einheiten existieren würden, die berühmten "transnationalen" Monopole. Dies wiederum bedeutet die Verteidigung einer revisionisti­schen These, die das marxistische Prinzip verneint, dass die höchste Einheit des Kapita­lismus der Staat sei. Der Kapitalismus kann niemals wirklich den Rahmen des Nationalstaates überwinden, noch weniger kann er internationalistisch sein. Sein "Internationalismus" beschränkt sich, wie wir das gesehen haben, auf die Beherrschung rivalisierender Nationen oder die Eroberung eines möglichst großen Anteils am Weltmarkt.

Im Editorial des Prometeo Nr. 9 bestätigt sich diese Revision des Marxismus: „Die produktiven und/oder finanziellen multinatio­nalen Unternehmen überwinden durch ihre Macht und ihre ökonomischen Interessen die verschiedenen staatlichen Formationen. Die Tatsache, dass die Zentralbanken der ver­schiedenen Staaten unfähig sind. auf die täglichen spekulativen Angriffe einer Hand­voll Finanzunternehmen zu reagieren oder ihnen Paroli zu bieten, spricht Bände über die Veränderung der zwischenstaatlichen Bezie­hungen."

Muss man daran erinnern, dass gerade die­se armen machtlosen Staaten genau diejenigen sind, die die Finanzkolosse besitzen (oder wenigstens strikt kontrollieren)? Ist es not­wendig, BC zu enthüllen, dass sich diese "Handvoll Monster" aus "respektablen" Bank- und Sparinstitutionen zusammensetzen, deren Verantwortliche direkt oder indirekt von ihren entsprechenden Nationalstaaten be­stimmt werden?

BC beißt nicht nur am Haken dieser an­geblichen Opposition zwischen Staaten und Multinationalen an, sondern geht noch viel weiter und entdeckt dass "aus diesen Gründen stets größere Kapitale ... Kolosse hervorge­bracht haben, die die ganze Weltwirtschaft kontrollieren. Es genügt, daran zu denken, dass die Big Three von den 30er bis in die 70er Jahre Automobilunternehmen waren (General Motors, Chrysler und Ford), und dass es heute drei ebenfalls amerikanische Finanzunternehmen sind: Fidelity Invest­ments, Vanguard Group, Capital Research & Management. Die in diesen Finanzgesell­schaften angehäufte Macht ist immens und geht weit über diejenige des Staates hinaus. Ja, die Staaten haben in den letzten zehn Jahren jegliche Kontrollmöglichkeit über die Weltwirtschaft verloren."[22]

Erinnern wir uns, dass in den 70er Jahren der Mythos der berühmten transnationalen Petrolunternehmen sehr in Mode war. Die Linken wollten uns damals ständig eintrich­tern, dass das Kapital nun "transnational" sei, und dass deshalb die "große Forderung" der Arbeiter die Verteidigung der nationalen Interessen sein solle.

Gewiss verwirft BC diese Mystifikation, kommt aber ihrer "theoretischen" Begrün­dung entgegen, da sie den Anschein erwec­ken, dass die Staaten die Kontrolle über die Weltwirtschaft zugunsten "dieser heimatlosen Mammute" verloren hätten.

Die Multinationalen sind Instrumente ihrer Nationalstaaten. IBM, General Motors, Exxon usw. sind durch verschiedene Stränge mit dem amerikanischen Staat verbunden: ein wichti­ger Anteil ihrer Produktion (40% für IBM) wird direkt von ihm aufgekauft, was sich direkt oder indirekt in der Nomination der Direktoren zeigt[23]. Eine Kopie von jedem neuen Informatikprodukt muss obligatorisch beim Pentagon abgeliefert werden.

Unglaublicher weise schluckt BC die Lüge der weltweiten Supermacht dieser drei Inve­stitionsfonds! Erstens verfugen die Investiti­onsfonds über keine reale Autonomie, sie sind lediglich Instrumente der Banken, der Spar­kassen oder Staatsinstitutionen wie den Ge­werkschaften, den Pensionskassen usw. Ihr direkter oder indirekter Chef ist ihr Nationalstaat. Zweitens sind sie einer strikten Regle­mentierung seitens des Staates unterworfen:

Er bestimmt den prozentualen Anteil, den sie in Aktien, Obligationen, im Ausland usw. anlegen dürfen.

"Globalisierung" und Staatskapitalismus

Dies führt uns zu einer grundlegenden Frage, nämlich nach derjenigen des Staats­kapitalismus. Ein prägender Zug des dekaden­ten Kapitalismus liegt in der Konzentration des nationalen Kapitals in den Händen des Staates. Er wird das Zentrum, um das herum jedes nationale Kapital seinen Kampf organisiert, einerseits gegen die Arbeiterklasse andererseits gegen die anderen nationalen Kapitale.

Die Staaten sind nicht Instrumente der Unternehmen, so groß sie auch sein mögen; genau das Gegenteil zeigt sich im dekadenten Kapitalismus: Die großen Monopole wie bspw. die Banken unterwerfen sich dem Dik­tat des Staates und gehorchen seinen Direkti­ven. Die Existenz von supranationalen Mächten, die sich über mehrere Staaten span­nen und ihnen auch die Politik diktieren, ist unmöglich. Genau im Gegenteil werden die Multinationalen von ihren entsprechenden Staaten dazu genutzt, die eigenen wirtschaftli­chen und imperialistischen Interessen zu verfolgen.

Wir wollen keinesfalls behaupten, dass die Großunternehmen wie Ford oder Exxon le­diglich einfache Marionetten ihrer Staaten seien. Natürlich verteidigen sie ihre eigenen Partikularinteressen und treten manchmal in Gegensatz zu ihrem Nationalstaat. Eine wirk­liche Fusion zwischen Privatkapital und Staat verwirklichte sich im Staatskapitalismus östlicher Prägung, so dass sie gesamthaft gesehen jenseits auftauchender Konflikte und Widersprüche in Kohärenz zur Verteidigung des nationalen Interesses und der totalitären Führung des Staates handelten.

BC wirft ein, dass es schwierig sei zu be­stimmen, zu welchem Staat Shell gehöre, dies sei aber auch bei anderen multinationalen Unternehmen mit einem vielfältigen Aktiona­riat der Fall. Darüber hinaus, dass es sich hier um außergewöhnliche Beispiele handelt, die keineswegs die Realität des Kapitalismus wiedergeben, muss man hier anfügen, dass die Eigentumstitel keineswegs den wirklichen Besitzer eines Unternehmens bestimmen. Im Staatskapitalismus dirigiert und bestimmt der Staat die Funktionsweise der Unternehmen, selbst wenn er keine einzige Aktie hält. Er bestimmt die Preise, die kollektiven Überein­kommen, die Exportquoten, die Produktions­quoten usw. Er bestimmt die Verkäufe des Unternehmens, da er in der Mehrzahl der produktiven Unternehmen der Hauptabneh­mer ist. Über die Fiskal-, Monetär- und Kre­ditpolitik bestimmt er klar die Entwicklung des "freien Marktes". BC berücksichtigt diese grundlegenden Aspekte der revolutionären Analyse der Dekadenz nicht. Sie ziehen es vor, einem Teilaspekt der Anstrengung zum Verständnis der ganzen Tragweite des Impe­rialismus von Lenin und den Revolutionären seiner Zeit die Treue zu halten: der Theorie von Lenin über das Finanzkapital, die er von Hilferding aufgenommen hatte. In seinem Werk über den Imperialismus sieht Lenin klar die Periode der Dekadenz eintreten, die die Notwendigkeit der proletarischen Revolution auf die Tagesordnung stellt. Jedoch verbindet er diese Epoche mit der Entwicklung des Finanzkapitals als parasitärem Monster, das aus dem Prozess der Kapitalkonzentration hervorgeht.

" ... viele Gesichtspunkte in Lenins Defini­tion des Imperialismus (sind) heute nicht mehr gültig (..) und (waren) es selbst zu der Zeit nicht (..), als er sie erarbeitete. So eröff­nete jene Periode, in der das Kapital durch­aus als von einer Oligarchie des "Finanzkapitals" und von den " inter­nationalen monopolistischen Kapitalisten ver­bänden " beherrscht angesehen werden konnte, schon den Weg zu einer neuen Phase während des Ersten Weltkrieges - die Periode des Staatskapitalismus, der ständigen Kriegswirtschaft. In der Epoche chronischer interimperialistischer Rivalitäten auf dem Weltmarkt neigt das gesamte nationale Kapi­tal dazu, sich um den Staatsapparat zu scha­ren, der jede einzelne Kapitalfraktion diszi­pliniert und den Bedürfnissen des militärisch ökonomischen Überlebens unterordnet."[24]

Was bei Lenin lediglich ein Fehler im schwierigen Verstehen des Imperialismus war, das wird in den Händen von BC ein gefährli­cher Fehltritt. Erstens verschließt die Theorie der "Konzentration in supranationalen Monopolen" die Türe zum Verständnis der Marxistischen Position, dass sich das nationale Kapital in den Händen des Staates konzen­triert und sich die Tendenz zum Staatskapita­lismus durchsetzt. Dieser Tendenz kann sich keine Fraktion der Bourgeoisie entziehen, gleich welche internationalen Verbindungen sie besitzen. Zweitens öffnet diese Theorie Kautskys "Superimperialismus " die Tür. Es ist überraschend, dass BC diese Theorie ledig­lich von Seiten der Unmöglichkeit, die Anar­chie der kapitalistischen Produktionsweise zu überwinden, kritisiert, ohne jedoch das we­sentliche anzugreifen: nämlich die illusorische Möglichkeit des Kapitals, sich über die Gren­zen hinweg zu vereinigen. Und diese Schwie­rigkeit leitet sich aus der Tatsache ab, dass Battaglia Comunista, auch wenn sie richti­gerweise die extreme These der "Fusion der Nationen" verwerfen, dennoch fälschlicher­weise die Existenz von supranationalen Einheiten behaupten. Drittens entwickelt BC Spekulationen, wonach fiir den Staat die "Globalisierung" zweierlei Dimensionen aufweise: einerseits den Dienst im Interesse der Multinationalen, andererseits diejenige im nationalen Interesse, die ihm auch unterge­ordnet ist: "Es schält sich immer offensichtli­cher ein Staat heraus, dessen Intervention sich in der Wirtschaft auf zwei Ebenen zeigt: Einerseits offeriert er dem supranationalen Zentrum die zentralisierte Führung der Geldmenge und die Bestimmung der makroökonomischen Variablen in der entspre­chenden Währungszone, andererseits kon­trolliert er die Vereinbarkeit der letzteren mit den nationalen Variablen."[25] BC stellt die Welt auf den Kopf! Die einfache Beobachtung der Entwicklung der Europäischen Union zeigt genau das Gegenteil: Der Nationalstaat vertritt die Interessen des nationalen Kapitals und ist keinesfalls eine Art "Delegation" der "europäischen" Interessen, so wie es die Zweideutigkeiten von BC vermuten lassen. Indem sie die Theorie der Spekulation mit den "transnationalen" Interessen verbinden, ziehen sie völlig unglaubliche Schlussfolge­rungen: Die imperialistischen Konflikte seien nicht in einen generalisierten imperialisti­schen Krieg ausgeartet, weil „(...) sich nach dem Verschwinden der Blockkonfrontation durch die Implosion des Ostblocks keine Grundlagen für eine strategische Konfronta­tion klar und präzise herausgebildet hat. Die strategischen Interessen der großen und wirklichen Wirtschaftszentren haben sich bis jetzt noch nicht in strategischen Konfrontationen übersetzt, da sie nun grenzüberschrei­tend handeln.“[26]

Dies ist eine sehr schwerwiegende Verwir­rung. Der imperialistische Krieg wäre nun keine Konfrontation zwischen bis zu den Zähnen bewaffneten nationalen Kapitalen (wie ihn Lenin definierte), sondern das Er­gebnis von Konfrontationen zwischen trans­nationalen Gruppen, die die Nationalstaaten benutzen würden. Diese wären nicht mehr das Zentrum und die Verantwortlichen des Krieges, sondern einfache Marionetten der trans­nationalen Monster. Glücklicherweise zieht BC nicht alle Folgerungen aus dieser Verir­rung. Glücklicherweise deshalb, weil sie dies zur Behauptung führen könnte, dass der Klas­senkampf gegen den imperialistischen Krieg nicht mehr gegen die Nationalstaaten gerichtet sei, sondern auf die Befreiung letzterer von den transnationalen Interessen. In anderen Worten käme man so zu ganz vulgären My­stifikationen der Linken. BC muss kohärent sein mit den Positionen der Kommunistischen Linken. Sie müssen ihre Spekulationen  über die Monopole und die Finanzmonster einer systematischen Kritik unterziehen. BC muss Verirrungen wie diejenige, dass „eine neue Ära, charakterisiert durch die Diktatur der Finanzmärkte. ankündige" (Prometeo Nr. 9), an der Wurzel ausrotten. Diese Schwächen lassen bürgerliche Mystifikationen wie diejenige der „Globalisierung" ebenso wie diejenige der angeblichen Opposition zwi­schen nationalem und transnationalen Inter­essen eindringen.

Dies kann Battaglia Comunista zur Ver­teidigung gewisser Thesen und Mystifikatio­nen der herrschenden Klasse führen und so zur Schwächung des Bewusstseins und des Klassenkampfes. Dies ist gewiss nicht die Rolle, die eine revolutionäre Organisation spielen sollte. Adalen 5.6.1996


[1] Siehe: ,,L'impossible "uniti de l'europe" in der Internationalen Revue Nr.73 (engl./franz./span.) 1993. Ein Artikel, in dem wir die Verschärfung der Konkurrenz und der Anarchie auf dem Weltmarkt unterstreichen.

[2] "Tourmente ftnanciere: la folie? ", Interna­tionale Revue Nr.81 (engl./franz./span.) 1995.

[3] "Le cynisme de la bourgeoisie decadente", Internationale Revue Nr. 78 (engl./franz./span.) 1994.

[4] Weltjahrbuch 1996, "Umsiedlung, Beschäfti­gung und Ungleichheit".

[5] "Das bedeutet, dass diese wirtschaftliche Entwicklung die Produktion der am meistenfortge­schrittenen Länder nur negativ beeinflussen kann; und so werden sich diese Staaten wiederum gegen die "wifairen Handelspraktiken der Schwellenlän­der" wehren." " Resolution zur internationalen Situation", Internationale Revue Nr. 16 (deutsch) 1995.

[6] Ebenda

[7] Welt jahrbuch 1996, "Die Veränderungen durch die Welthandelsorganisation':

[8] "Une economie rongee par la dicompositi­on", Internationale Revue Nr. 75 (engl./franz./span.) 1993.

[9] K. Ohmae, "Le diploiement des economies regionales".

[10] ebenda

[11] Prometeo Nr. 9, "Das Kapital gegen das Kapital".

[12] ebenda

[13] ebenda

[14] ebenda

[15] ebenda

[16] ebenda

[17] Bucharin, „Imperialismus und Weltwirtschaft“

[18] Prometeo Nr. 9, "Das Kapital gegen das . Kapital“

[19] Prometeo Nr. 10, "Zwei Seiten des Staates: Globalisierung und Staatswirtschaft"

[20] Die betrübliche Inkohärenz von Battaglia Comnnista tritt deutlich hervor, wenn sie schreiben, dass (…) „der Kapitalismus in Wirklichkeit immer das selbe bleibt, und nichts anderes tut, als sich im Interesse der Selbsterhaltung entlang der durch den tendenziellen Fall der Profitrate diktierten Linien zu reorganisieren." Prometeo Nr. 9.

[21] Prometeo Nr. 10, "Zwei Seiten des Staates: Globalisierung und Staatswirtschaft"

[22] ebenda

[23] Viele amerikanische Politiker rücken, nach­dem sie Posten im Senat oder in der Staatsverwal­tung besetzt haben, auch in die Führungsspitze der großen multinationalen Konzeren vor. Dasselbe kann auch in Europa beobachtet werden.

[24] "Über den Imperialismus", Internationale Revue Nr. 19 (engl./franz./span.) 1979.

[25] Prometeo Nr. 10, "Zwei Seiten des Staates: Globalisierung und Staatswirtschaft ".

[26] Prometeo Nr. 9, "Das Kapital gegen das Kapital".

Internationale Revue - 1997

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Internationale Revue 19

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12. Kongress der IKS: Resolution zur internationalen Lage

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1) Die weit verbreiteten Lügen, die, als die stalinistischen Regime Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre zusammenbrachen, vom ‘endgültigen Scheitern des Marxismus’ sprachen, sind nicht neu. Genau vor einem Jahrhundert mußte der linke Flügel der II. Internationale mit Rosa Luxemburg an seiner Spitze gegen die revisionistischen Auffassungen ankämpfen, die behaupteten, daß Marx sich vollkommen geirrt hatte, als er angekündigte, der Kapitalismus sei zum Scheitern verurteilt. In den nachfolgenden Jahrzehnten boten der 1. Weltkrieg und dann die große Depression der 30er Jahre nach dem kurzen Zeitraum des Wiederaufbaus der Bourgeoisie wenig Raum, um diese Botschaft zu verbreiten. Auf der anderen Seite ermöglichten die beiden Jahrzehnte ‘Wohlstand’ nach dem 2. Weltkrieg ein neues Aufblühen von ‘Theorien’, die ‘ein für allemal’ den Marxismus begruben und seine Vorhersage, daß der Kapitalismus zusammenbrechen werde. Diese Theorien waren auch in verschiedenen ‘radikalen’ Kreisen weit verbreitet. Mit dem Aufbrechen der offenen Krise Ende der 60er Jahre verstummten diese Lieder der Selbstbeweihräucherung dann, aber die langsame Entwicklung der Krise, die von Phasen des ‘Aufschwungs’ unterbrochen wurde, wie der des britischen und amerikanischen Kapitalismus zum gegenwärtigen Zeitpunkt, hat es der bürgerlichen Propaganda ermöglicht, gegenüber der großen Mehrheit von Arbeitern die Wirklichkeit und das Ausmaß der Sackgasse zu verbergen, in die die kapitalistische Produktionsform heute geraten ist. Deshalb ist es so wichtig für Revolutionäre, für Marxisten, ständig all die bürgerlichen Lügen über die Fähigkeit des Kapitalismus zu entblößen, derzufolge dieser ‘die Krise überwinden’ könne; insbesondere müssen all die ‘Argumente’ entlarvt werden, die diese ‘Fähigkeit’ des Kapitalismus angeblich unter Beweis stellen.

2) In Anbetracht der Unleugbarkeit der Krise fingen die ‘Experten’ Mitte der 70er Jahre an, alle möglichen Erklärungen aufzutischen, die die Bourgeoisie dank der rosigen Aussichten ihres Systems beruhigen sollten. Unfähig, sich ihren endgültigen Untergang vorzustellen, mußte die herrschende Klasse nicht nur ihre Ausgebeuteten mystifizieren, sondern sie brauchte diese Verschleierungen auch für sich selber, um die wachsenden Schwierigkeiten der Weltwirtschaft zu erklären, indem man auf einzelne Ursachen zeigte, und somit der Erklärung der wirklichen Ursachen aus dem Weg ging. Eine Erklärung nach der anderen wurde vorgeschoben:

- die ‘Ölkrise’, die dem Yom Kippur Krieg von 1973 folgte (diese Erklärung ‘vergißt’, daß die offene Krise 6 Jahre zuvor angefangen hatte, und daß die Ölpreise nur eine Verschlimmerung beschleunigten, die schon in den Rezessionen von 1967 und 71 aufgetreten war);

- die Exzesse der neo-keynesianischen Politik, die seit Kriegsende praktiziert worden war und zur galoppierenden Inflation geführt hatte. Die Schlußfolgerung lautete: wir brauchen ‘weniger Staat’;

- die Exzesse der ‘Reagonomics’ in den 80er Jahren, die eine bis dahin noch nie dagewesene Erhöhung der Arbeitslosigkeit in den Industriezentren mit sich brachte.

Im Grunde mußte sich die Bourgeoisie an der Idee festklammern, daß es einen Ausweg gab, und daß mit einem besseren Management die Weltwirtschaft wieder zu den Blütephasen des Nachkriegsbooms zurückkehren könnte. Es ging einfach darum, das verloren gegangene Geheimnis des ‘Wohlstands’ wieder zu finden.

3)  Lange Zeit sollten die wirtschaftlichen Leistungen Deutschlands und Japans zum Zeitpunkt, als andere Länder schon im Dreck steckten, diese Fähigkeit des Kapitalismus, die Krise zu überwinden, verdeutlichen: ‘Wenn jedes Land so tugendhaft wäre wie die beiden Verlierer des 2. Weltkriegs, würde wieder alles in Ordnung kommen’ - so lautete das Glaubensbekenntnis vieler kapitalistischer Prediger. Heute gehören auch Japan und Deutschland zu den ‘Kranken’. Nachdem es sehr schwierig ist, zu den früheren alten fabelhaften Wachstumsraten zurückzukehren, ist Japan vor kurzem neben Brasilien und Mexiko in die Kategorie D des Indexes der wegen Anhäufung von Schulden von Staat, Firmen und Privathaushalten am meisten gefährdeten Staaten eingestuft worden (seine Gesamtverschuldung übersteigt die Produktion von zweieinhalb Jahren Wirtschaftstätigkeit). Was Deutschland betrifft, verzeichnet es heute die höchste Arbeitslosenrate in der EU und ist gegenwärtig nicht dazu in der Lage, die Maastrichter Kriterien zur Einführung der Einheitswährung zu erfüllen. Schließlich ist es offensichtlich geworden, daß die angebliche ‘Tugend’ dieser Länder in der Vergangenheit einfach die kopflose Flucht in die Verschuldung verdeckt, die den Kapitalismus schon seit Jahrzehnten geprägt hat. Tatsächlich sind die gegenwärtigen Schwierigkeiten dieser beiden Länder, die sich in den 70er und 80er Jahren in ‘bester Verfassung’ befanden, eine Verdeutlichung, daß es dem Kapitalismus unmöglich ist, endlos lange seine eigenen Gesetze auszuhebeln. Darauf hatte der Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg beruht; und dies hatte ihm bislang auch ermöglicht, einen ähnlichen Zusammenbruch wie den der 30er Jahre zu vermeiden: nämlich der systematische Einsatz des Kredits.

4) Zur Zeit, als sie die revisionistischen ‘Theorien’ entlarvte, war Rosa Luxemburg schon dazu gezwungen, deren Auffassung zu zerstören, derzufolge der Kredit es dem Kapitalismus ermöglichen würde, seine Krisen zu überwinden. Während der Kredit zweifelsohne ein Ansporn für die Entwicklung dieses Systems war, sowohl aus dem  Blickwinkel der Zirkulation als auch der Konzentration des Kapitals, vermochte der Kredit nie einen wirklichen Markt als Boden der kapitalistischen Expansion zu ersetzen. Geld für die Zukunft zu borgen, erlaubt die Produktion und den Kauf von Gütern zu beschleunigen, aber früher oder später muß dieses Geld zurückbezahlt werden. Und diese Rückzahlung ist nur möglich, wenn ein Austausch auf dem Markt stattfindet - was aber nicht automatisch durch die Produktion geschieht, wie Marx systematisch gegen die bürgerlichen Ökonomen bewiesen hat. Schlußendlich vergrößert der Kredit - weit davon entfernt, die Krise des Kapitalismus zu überwinden, nur deren Ausmaß und ihre Schwere, wie Rosa Luxemburg in ihrer marxistischen Analyse herausstellte. Heute bleiben die Thesen der marxistischen Linken gegen die Revisionisten aus der Zeit der Jahrhundertwende grundlegend gültig. Der Kredit kann heute genausowenig einen zahlungsfähigen Markt schaffen. Aber in Anbetracht der endgültigen Sättigung der Märkte (wogegen im letzten Jahrhundert noch die Möglichkeit der Eroberung neuer Märkte bestand), ist der Kredit zu einer unabdingbaren Bedingung für das Aufsaugen von Gütern geworden und ersetzt somit den wirklichen Markt.

5) Diese Realität trat schon nach dem 2. Weltkrieg deutlich zum Vorschein, als der Marshall-Plan es den USA nicht nur ermöglichte, zur Bildung des amerikanischen Blocks beizutragen, sondern auch einen Absatzmarkt für ihre Industrie zu schaffen. Der Wiederaufbau der europäischen und japanischen Wirtschaft hatte diese in den 60er Jahren zu Rivalen der US-Wirtschaft werden lassen, womit die Rückkehr der offenen Krise des Weltkapitalismus eingeläutet wurde. Seitdem hat es die Weltwirtschaft vor allem mittels des Kredits, der Politik wachsender Verschuldung, geschafft, eine brutale Depression wie die der 30er Jahre zu vermeiden. So wurde die Rezession von 1974 dank der gigantischen Schulden, die die 3. Welt angehäuft hatte, bis Anfang der 80er Jahre herausgeschoben, womit die Schuldenkrise Anfang der 80er Jahre eingeleitet wurde, die mit dem Ausbruch einer neuen Rezession zusammenfiel, die sich als noch verheerender erweisen sollte als die von 1974. Diese neue weltweite Rezession wurde wiederum nur überwunden durch das schwindelerregende Handelsdefizit der USA, deren wachsenden Auslandsschulden mit denen der 3. Welt wetteiferten. Parallel dazu explodierten die Haushaltsdefizite der Industriezentren, die zwar eine gewisse Belebung der Nachfrage bewirkten, aber die Staaten in einen wirklichen Bankrott trieben (diese Staatsschulden liegen je nach Land zwischen 50 und 130% der Jahresproduktion). Darüber hinaus ist eine offene Rezession, die als negative Wachstumsrate der Produktion eines Landes definiert wird, keinesfalls der einzige Indikator des Ausmaßes der Krise. In nahezu allen Ländern ist das jährliche staatliche Haushaltsdefizit (das der Kommunen nicht mit einbezogen) höher als der Anstieg der Produktion. Das bedeutet, wenn der Haushalt ausgeglichen wäre (was der einzige Weg zur Stabilisierung der akkumulierten Staatsschulden wäre), würden all diese Länder in eine offene Rezession eintreten. Der größte Teil dieser Verschuldung wird natürlich nicht zurückbezahlt. Mit dieser Verschuldung verbunden sind periodische, immer stärker werdende Finanzkrachs, die für die Weltwirtschaft wahre Beben bedeuten (1980, 1989) und die mehr als je zuvor auf der Tagesordnung stehen.

6) Wenn wir diese Tatsachen in Erinnerung rufen, kann man die Realität hinter diesen Reden über die gegenwärtige ‘gesunde’ Wirtschaft in den USA und Großbritannien durchschauen, die als Gegenpol zu den schwachen Leistungen ihrer Konkurrenten dargestellt werden. Zunächst müssen wir die relative Beschränktheit dieser ‘Erfolge’ betonen. So ist der bedeutende Rückgang der Arbeitslosenrate in Großbritannien in einem großen Maße - selbst gemäß dem Eingeständnis der Bank von England - auf die Tatsache zurückzuführen, daß die Arbeitslosen aus der Statistik gestrichen wurden, die die Suche nach einem Job aufgegeben haben (die Kriterien für die Festlegung der Arbeitslosenzahl sind seit 1979 33 mal geändert worden). Diese Erfolge sind zu einem großen Teil auf die Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder zurückzuführen, was wiederum sehr stark von der Schwäche ihrer Währungen abhängt. Das Pfund Sterling aus der europäischen Währungsschlange zu nehmen, hat sich bislang als guter Schachzug erwiesen. Mit anderen Worten: Dieser Erfolg fußt auf der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der anderen Länder. Diese Tatsache wurde zum Teil durch die weltweite Synchronisierung der Phasen von Rezession und ‘Aufschwung’ versteckt: Die relative Verbesserung findet nicht statt dank der Verbesserung der Lage der ‘Partner’, sondern grundsätzlich durch die Verschlechterung deren Lage, denn ‘Partner’ sind im wesentlichen Konkurrenten. Mit dem Verschwinden des amerikanischen Blocks nach dem Zusammenbruch seines russischen Rivalen Ende der 80er Jahre, ist die vorherige Abstimmung der Wirtschaftspolitik (z.B. durch die G7 Gipfel, was durchaus ein nicht zu vernachlässigender Faktor bei der Verlangsamung der Krise war)  ersetzt worden durch eine zunehmend verzweifelte Tendenz des ‘Jeder für sich’. In solch einer Lage hat die führende Weltmacht das Privileg, ihre Diktate im Handelsbereich zugunsten ihrer eigenen Volkswirtschaft den anderen aufzuzwingen. Dies liefert zu einem beträchtlichen Ausmaß die Gründe für den gegenwärtigen ‘Erfolg’ des amerikanischen Kapitals.

Aber die gegenwärtigen Leistungen der britischen und amerikanischen Wirtschaft zeigen nicht nur keine mögliche Verbesserung der Weltwirtschaft insgesamt auf, sondern diese Entwicklung selber wird nicht lange anhalten. Als Teilnehmer am Weltmarkt, der seine völlige Sättigung nicht überwinden kann, wird die Wirtschaft dieser Länder unvermeidlich auf diese Sättigung stoßen. Vor allem ist es keinem dieser Länder gelungen, das Problem der allgemeinen Verschuldung zu überwinden (auch wenn die Haushaltsdefizite der USA in der letzten Zeit leicht zurückgegangen sind). Der beste Beweis dafür liegt in der Furcht der wichtigsten Wirtschaftsbehörden (wie des Chefs der US-Bundesbank), daß das gegenwärtige ‘Wachstum’ zu einer ‘Überhitzung’ der Wirtschaft und einer Rückkehr der Inflation führen wird. Tatsächlich verbirgt sich hinter dieser Furcht vor einer Überhitzung die Erkenntnis, daß das heutige ‘Wachstum’ sich auf ungeheure Schulden stützt, die unvermeidbar zu einem katastrophalen Ausschlag des Pendels führen werden. Die äußerst zerbrechliche Grundlage des gegenwärtigen Erfolgs der amerikanischen Wirtschaft wurde wieder durch die Panik an der Wall Street und anderen Börsenplätzen der Welt deutlich, als die Fed Ende März 97 eine geringfügige Erhöhung der Leitzinsen ankündigte.

7) Unter den Lügen, die von der herrschenden Klasse landauf landab verbreitet werden, um den Glauben an die Überlebensfähigkeit des Systems zu stärken, nehmen die  südostasiatischen Länder, die ‘Drachen’ (Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur) und ‘Tiger’ (Thailand, Indonesien und Malaysia) einen besonderen Platz ein, denn deren Wachstumsraten (manchmal gar zweistellig) erregen den Neid der westlichen Bourgeoisie. Deren Beispiel sollen uns vor Augen halten, daß der Kapitalismus sowohl die rückständigen Länder entwickeln und  den Rückfall in die Stagnation vermeiden kann. Aber das ‘Wirtschaftswunder’ der Mehrzahl dieser Länder (insbesondere Südkoreas und Taiwans) ist keineswegs zufällig. Es ist die Konsequenz einer dem Marshall-Plan ähnlichen Maßnahme, die von den USA während des Kalten Krieges mit dem Zweck entworfen wurde, das Vordrängen des russischen Blockes in dieser Region aufzuhalten (massive Kapitalspritzen gar bis zur Höhe von 15% des BSP, direktes Eingreifen in die Volkswirtschaft der Länder, insbesondere indem man sich auf den Militärapparat stützte, um die fast gar nicht vorhandene nationale Bourgeoisie zu ersetzen und den Widerstand des Finanzsektors zu überwinden usw.). Als solche können diese Beispiele keineswegs auf die ganze 3. Welt übertragen werden, denn der Großteil der 3. Welt rutscht weiter ab in eine unvorstellbare Katastrophe. Darüber hinaus haben die Schulden der meisten dieser Staaten - sowohl die Auslandsschulden als auch die Staatsverschuldung - so gewaltige Ausmaße erreicht, daß sie den gleichen Gefahren ausgesetzt sind wie alle anderen Staaten. Während die sehr niedrigen Arbeitskosten in diesen Ländern sehr attraktiv für viele westliche Unternehmen sind, liefert die Tatsache, daß sie jetzt auch zu Wirtschaftsrivalen der fortgeschrittenen Länder werden, sie auch dem Risiko aus, daß die Letztgenannten Handelsschranken gegen deren Exporte errichten. Obgleich sie bislang eine Ausnahme darstellten, wie ihr großer japanischer Nachbar auch, können diese Länder nicht endlos lange den Widersprüchen der Weltwirtschaft entfliehen, welche die anderen ‘Erfolgsgeschichten’ zu einem Schreckgespenst haben werden lassen wie im Falle Mexikos. Aus all diesen Gründen ergreifen die internationalen Experten und die Finanzinstitutionen - während sie gleichzeitig Lobesreden auf sie halten - jetzt schon Maßnahmen, um die Finanzrisiken, die diese Länder darstellen, einzuschränken. Und die Maßnahmen mit dem Ziel, die Arbeitskräfte zu mehr ‘Flexibilität’ zu zwingen, wie der Hintergrund der neulich in Korea stattgefundenen Streiks zeigt, beweisen, daß sich die nationale Bourgeoisie selber am deutlichsten darüber bewußt ist, daß das beste Stück Kuchen schon gegessen wurde. Wie die Zeitung ‘The Guardian’ am 16.10.96 schrieb: ‘Die Frage ist, welcher Tiger am ersten zusammenbrechen wird’.

8) Der Fall Chinas, das von einigen als die kommende Weltmacht des nächsten Jahrhunderts gepriesen wird, ist auch keine Ausnahme von der Regel. Die Bourgeoisie dieses Landes hat bislang einen erfolgreichen Übergang hin zu den klassischen Formen des Kapitalismus vollzogen, im Gegensatz zu Osteuropa, das, von einigen Ausnahmen abgesehen, total im Dreck steckt, womit dem ganzen Gerede über die ‘gewaltigen Aussichten’ dieser Länder nach dem Zusammenbruch des Stalinismus der Boden entzogen wird. China bleibt jedoch nach wie vor von einer gewaltigen Unterentwicklung geprägt, wobei der Großteil der Wirtschaft wie in allen stalinistischen Regimen unter dem Gewicht der Bürokratie und der Rüstungslasten erstickt. Die Behörden selber haben zugegeben, daß der staatliche Bereich überall defizitär arbeitet und daß unzähligen Arbeitern die Löhne noch nicht ausgezahlt wurden. Und auch wenn der private Bereich dynamischer ist, kann damit das Gewicht des Staatssektors nicht überwunden werden, und er bleibt ohnehin besonders abhängig von den Schwankungen des Weltmarktes. Schließlich kann die ‘eindrucksvolle Dynamik’ der chinesischen Wirtschaft die Tatsache nicht verdecken, daß selbst bei Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Wachstumsraten gegen Ende des Jahrhunderts ca. 250 Millionen Arbeitslose vorhanden sein werden.

9) Egal aus welchem Blickwinkel man schaut, solange man den Lobliedern der Anhänger der kapitalistischen Produktionsform widersteht und sich auf die Lehren des Marxismus verläßt, kann die Perspektive der Weltwirtschaft nur die einer wachsenden Katastrophe sein. Der sogenannte ‘Erfolg’ bestimmter Länder zum jetzigen Zeitpunkt (der angelsächsischen und südostasiatischen Länder) stellt keineswegs die Zukunftsperspektive des Kapitalismus insgesamt dar. Es handelt sich nur um eine optische Illusion, die die Katastrophe nicht mehr lange verbergen kann. Ebenso ist das ganze Gerede von ‘Globalisierung’, die angeblich einen Zeitraum des freien, expandierenden Handels öffnet, nichts anderes als ein Schutzschild, um die in diesem Maße nicht dagewesene Zuspitzung des Handelskrieges zu übertünchen. Auf diesem Hintergrund stellen Handelsblöcke wie die Europäische Union genauso eine Festung gegen die Konkurrenz anderer Länder dar. So wird die Weltwirtschaft, die gefährlich und unsicher auf einem Schuldenberg gratwandert, der nie zurückbezahlt werden wird, mehr und mehr den Erschütterungen des ‘Jeder für sich’ ausgesetzt sein, das ein ständiges Merkmal des Kapitalismus war, aber in der Phase des Zerfalls eine neue Stufe erreicht hat. Revolutionäre Marxisten können die genaue Form oder den Rhythmus des wachsenden Zusammenbruches der kapitalistischen Produktionsform nicht vorhersagen. Aber es gehört zu ihrer Aufgabe, zu verkünden und aufzuzeigen, daß das System in eine ausweglose Sackgasse geraten ist, und all die Lügen und Mythen des ‘Lichtes am Ende des Tunnels’ zu entblößen.

10) Mehr noch als in der Wirtschaft hat das dem Zerfall eigene Chaos Auswirkungen auf die politischen Beziehungen zwischen den Staaten. Zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs des Ostblocks, der zur Auflösung der Allianzen führte, die aus dem 2. Weltkrieg hervorgegangen waren, schrieb die IKS:

- daß diese Lage die Bildung neuer Blöcke auf die Tagesordnung setzte, auch wenn dies noch nicht sofort möglich würde, wobei einer der Blöcke von den USA, der andere von Deutschland angeführt würde;

- daß die neue Lage sofort zu einer Reihe von offenen Zusammenstößen führen würde, die zuvor durch das  Abkommen von Jalta in einem für die beiden Gendarmen der Welt ‘annehmbaren’ Rahmen gehalten werden konnten.

Die Tendenz zur Führung eines neuen Blocks um Deutschland hat nach der Wiedervereinigung dieses Landes anfänglich bedeutsame Schritte zurücklegen können. Aber dann hat die Tendenz des ‘Jeder für sich’ ziemlich schnell Überhand genommen im Verhältnis zur Tendenz der Bildung von festen Bündnissen, die als Grundlage zukünftiger imperialistischer Blöcke dienen könnten, wodurch wiederum die militärischen Zusammenstöße zugenommen haben. Das bedeutendste Beispiel war Jugoslawien, dessen Auseinanderbrechen durch antagonistische imperialistische Interessen der großen europäischen Staaten Deutschland, Großbritannien und Frankreich begünstigt wurde. Die Zusammenstöße im ehemaligen Jugoslawien haben einen Graben zwischen den beiden großen Verbündeten der europäischen Gemeinschaft, Deutschland und Frankreich aufgerissen, und zu einer spektakulären Annäherung zwischen Frankreich und Großbritannien sowie dem Ende der Allianz zwischen Großbritannien und den USA geführt, die im 20. Jahrhundert am stabilsten gewesen war und am längsten gedauert hatte. Seitdem ist diese Tendenz des ‘Jeder für sich’, des Chaos in den Beziehungen zwischen den Staaten mit seiner Reihe von zeitlich begrenzten und kurzweiligen Bündnissen nicht in Frage gestellt worden, sondern genau das Gegenteil ist eingetreten.

11) So sind in der letzten Zeit eine Reihe von wichtigen Änderungen der Bündnisse eingetreten, die sich zuvor gebildet hatten:

- tiefgreifende Aufweichung der Beziehungen zwischen Frankreich und Großbritannien, die besonders verdeutlicht wird durch die ausgebliebene Unterstützung der Forderung Frankreichs nach der Wiederwahl Boutros-Ghalis an der Spitze der UNO oder der Übernahme des Kommandopostens der Südflanke der NATO im Mittelmeer durch einen Europäer;

- der neuen Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland, deren Konkretisierung durch die Unterstützung Deutschlands der Forderungen Frankreichs zu erkennen war;

- die Konflikte zwischen den USA und Großbritannien wurden auf Eis gelegt, wobei Großbritannien unter anderem die Forderungen der USA bei diesen beiden Fragen unterstützte.

Eines der Merkmale dieser Entwicklung der Bündnisse hängt mit der Tatsache zusammen, daß nur die USA und Deutschland langfristig eine kohärente Politik entwickeln können. Dabei verteidigen die USA ihre Führungsrolle, Deutschland kämpft um die Ausdehnung seiner eigenen Führung in einem Teil der Welt. Die anderen Mächte müssen sich darauf beschränken, eine mehr punktuelle Politik zu verfolgen, die zum Großteil danach strebt, der von den beiden erstgenannten Mächten praktizierten Politik gegenzusteuern. Seitdem die Teilung der Welt in zwei Blöcke aufgehoben ist, wird die Autorität der ersten Großmacht der Welt ständig durch ihre ehemaligen Verbündeten herausgefordert.

12) Der spektakulärste Ausdruck dieser Führungskrise des Weltpolizisten ist der Bruch des historischen Bündnisses mit Großbritannien gewesen, den Großbritannien 1994 vollzogen hat. Auch die lange Machtlosigkeit der USA bis zum Sommer 1995 auf einem Hauptschauplatz der imperialistischen Zusammenstöße, im ehemalige Jugoslawien, hat dies verdeutlicht. Und im September 96 wurde  dann  nahezu einhellig die Bombardierung des Irak durch 44 Marschflugkörper verworfen, während es die USA 1990-91 noch geschafft hatten, von den gleichen Ländern für die Operation Wüstensturm Unterstützung zu erhalten. Insbesondere die entschlossene Ablehnung dieser Bombardierung durch Ägypten und Saudi-Arabien hebt sich deutlich ab von der totalen Unterstützung dieser Staaten der Region für Onkel Sam während des Golfkriegs. Als weitere Beispiele dieser Herausforderung der US-Führungsrolle wollen wir herausgreifen:

- den Proteststurm gegen das Helms-Burton-Gesetz, das die Verschärfung des Embargos gegen Kuba beabsichtigt; der kubanische Führer wurde anschließend mit großem diplomatischen Zeremoniell zum ersten Mal im Vatikan empfangen;

- die Regierungsübernahme der Rechten in Israel, die gegen den Willen der USA geschah; seitdem hat die rechte Regierung alles unternommen, um den Friedensprozeß mit den Palästinensern zu sabotieren, der einer der größten Erfolge der US-Diplomatie war;

- auf einer allgemeinen Ebene der Verlust der alleinigen Kontrolle in dieser entscheidenden Region, dem Nahen Osten. Die Aufwertung Frankreichs verdeutlicht dies, denn Frankreich hat sich als zweite Kraft bei der Lösung des Konfliktes zwischen Israel und dem Libanon Ende 1995 aufgedrängt. Der Erfolg Frankreichs in der Region wurde durch den herzlichen Empfang Chiracs durch Saudi-Arabien im Oktober 1996 bestätigt.

- die Einladung an mehrere europäische Staatschefs (unter ihnen Chirac, der mehrfach zur Unabhängigkeit von den USA aufgerufen hat)          durch eine Reihe südamerikanischer Staaten, womit das Ende der grenzenlosen Kontrolle dieses Subkontinents durch die USA deutlich wird.

13) Wie der 12. Kongreß der Sektion der IKS in Frankreich schon vor einem Jahr feststellte, haben die USA in der letzten Zeit eine massive Gegenoffensive gestartet. Dies hat ein verstärktes Auftreten der USA im ehemaligen Jugoslawien vom Sommer 1995 ermöglicht. Dabei traten die USA im Rahmen des IFOR-Mandates auf, das die UNPROFOR ablösen sollte, welche jahrelang das Instrument des Übergewichtes des französisch-britischen Tandems gewesen war. Der größte Beweis des US-amerikanischen Erfolgs war die Unterzeichnung des Dayton-Abkommens zur Regelung des Bosnien-Konfliktes in den USA. Seitdem haben die USA ihre Offensive fortsetzen können. Vor allem haben sie dem Land, das sie am offensten herausgefordert hat, Frankreich, einen Schlag in dem Gebiet versetzen können, das Frankreich bislang als seinen ‘Hinterhof’ bezeichnen konnte - Afrika. Nach dem Zurückdrängen des französischen Einflusses in Ruanda entgleitet jetzt vor allem der Hauptstützpfeiler Frankreichs auf dem Kontinent, Zaire, seiner Kontrolle. Das Regime Mobutus zerfällt immer mehr unter den Auswirkungen der ‘Rebellion’ Kabilas, der massiv von Ruanda und Uganda, d.h. von den USA, unterstützt wird. Damit erhält Frankreich von den USA eine besonders harte Bestrafung. Die USA wollen somit exemplarisch gegenüber allen anderen Ländern handeln, die genauso wie Frankreich ständig die USA herausfordern möchten. Und diese Bestrafung soll die anderen Schläge ergänzen, die die USA in der letzten Zeit Frankreich nach der Ernennung des Nachfolgers von Boutros-Ghali und bei der Besetzung des NATO Oberbefehlshabers der Südflanke haben versetzen können.

14) Zum Großteil gerade weil die britische Bourgeoisie die Risiken erkannte hatte, die für sie entstehen, wenn sie die abenteuerliche Politik Frankreichs unterstützt (das sich immer wieder Ziele setzt, die seine wirklichen Möglichkeiten übersteigen), hat sie sich in der letzten Zeit gegenüber der französischen Bourgeoisie abgegrenzt. Diese Entwicklung wurde von den USA und Deutschland stark gefördert, denn sie konnten der von Frankreich und Großbritannien bei der Jugoslawienfrage eingegangenen Allianz nicht mit Wohlwollen begegnen. So hattten die amerikanischen Bombardierungen Iraks im September 96 den großen Vorteil, daß zwischen Frankreich und Großbritannien ein Keil getrieben wurde, da Frankreich Saddam Hussein nach besten Kräften unterstützt hatte, während Großbritannien genauso wie die USA auf den Umsturz dieses Regimes zielte. Deutschland hat ebenso alles unternommen, um die französisch-britische Solidarität bei Fragen, die Deutschland schaden, zu untergraben, wie bei der Frage der Europäischen Union und der Einheitswährung (im Dezember 96 fanden allein dazu drei deutsch-französische Gipfel statt). Auf dem Hintergrund dieses Rahmens muß man die jüngste Entwicklung der Bündnisse in der letzten Zeit einschätzen. Die Haltung Deutschlands und vor allem die der USA bestätigt das, was wir auf unserem letzten Kongreß sagten. ‘In solch einer Situation der Instabilität ist es für jedes Land einfacher, für Unruhe zu sorgen und dem Gegner Ärger zu bereiten, die Bündnisse zu untergraben, die es bedrohen, als selbst solide Bündnisse aufzubauen und für Stabilität im eigenen Herrschaftsgebiet zu sorgen.’ (Resolution zur internationalen Situation, Punkt 11, April 1995) Jedoch muß man auch die wichtigen Unterschiede sowohl hinsichtlich der Methode als auch hinsichtlich der Ergebnisse der Politik dieser beiden Mächte berücksichtigen.

15) Das Ergebnis der internationalen Politik Deutschlands begrenzt sich bei weitem nicht darauf, Frankreich von Großbritannien loszureißen und zu versuchen durchzusetzen, daß Frankreich das früher eingegangene Bündnis wieder erneuert. Dies konnte man anhand der militärischen Vereinbarungen in der letzten Zeit sowohl vor Ort in Bosnien feststellen (eine gemeinsame deutsch-französische Brigade wurde aufgestellt), als auch durch das Abkommen über militärische Zusammenarbeit (am 9. Dezember 96 wurde ein Abkommen über ein ‘gemeinsames Konzept im Bereich der Sicherheit und Verteidigung’ unterzeichnet). In Wirklichkeit können wir ein sehr starkes Vordrängen des deutschen Imperialismus beobachten, das sich konkret ausdrückt durch:

- die Tatsache, daß innerhalb der neuen Allianz zwischen Frankreich und Deutschland, Deutschland eine wesentlich günstigere Stellung gegenüber Frankreich einnimmt im Vergleich zur Zeit 1990-94 (Frankreich wurde zu einem guten Teil dazu gezwungen, sich wieder seiner alten Liebe zuzuwenden, nachdem sich Großbritannien von ihm abgewendet hat);

- eine Ausdehnung seines traditionellen Einflußgebietes in Richtung Osteuropa und insbesondere durch die Errichtung eines Bündnisses mit Polen;

- eine Verstärkung seines Einflusses in der Türkei (dessen neue, von dem Islamisten Erbakan geführte Regierung eher pro-deutsch eingestellt ist als die vorherige Regierung), und die ihm als Brückenkopf Richtung Kaukasus (wo sie nationalistische, gegen Rußland gerichtete Bewegungen unterstützt) und Iran dient, mit dem die Türkei eine Reihe wichtiger Abkommen unterzeichnet hat;

- die Entsendung von Kampfeinheiten außerhalb der Landesgrenzen, ein Novum seit dem 2. Weltkrieg, gerade in die besonders kritische Balkanregion mit der Stationierung von Kampfeinheiten in Bosnien im Rahmen des IFOR-Mandates (deshalb erklärte der deutsche Verteidigungsminister, daß ‘Deutschland in der neuen Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen wird’).

Darüber hinaus hat Deutschland mit Frankreich an seiner Seite diplomatische Vorstöße gegenüber Rußland unternommen, dessen erster Kreditgeber es ist. Auch hat Rußland keine entscheidenden Vorteile aus seinem Bündnis mit den USA gezogen.

16) So richtet sich Deutschland in seiner Rolle als imperialistischer Hauptrivale der USA ein. Man muß jedoch hinzufügen, daß Deutschland es bislang geschafft hat, seine Bauern vorzuschieben, ohne sich der Repression des amerikanischen Mastodons aussetzen zu müssen. Insbesondere hat Deutschland es systematisch vermieden, die USA so offen herauszufordern, wie es Frankreich tut. Die Politik des deutschen Adlers (der es bislang vermocht hat, seine Krallen zu verstecken) erweist sich letztendlich wirksamer als die des gallischen Hahns. Dies ist die Folge sowohl der Beschränkungen, die ihm sein Verliererstatus nach dem 2. Weltkrieg weiter auferlegt, (obgleich seine gegenwärtige Politik darauf abzielt, diesen Status zu überwinden), als auch der Sicherheit der einzigen Macht, die eventuell die Möglichkeit besitzt, langfristig die Führung eines neuen imperialistischen Blocks zu übernehmen. Aber dies ist auch auf die Tatsache zurückzuführen, daß Deutschland bislang seine Positionen hat ausbauen können, ohne seine militärische Stärke direkt einzusetzen (obgleich es seinen Verbündeten Kroatien in dessen Krieg gegen Serbien umfangreich unterstützt hat). Aber der historische Schritt, den die Entsendung von Kampfverbänden nach Bosnien darstellt, hat nicht nur ein Tabu gebrochen, sondern zeigt die Richtung auf, die es mehr und mehr einschlagen muß, um seinen Rang zu verteidigen. So wird der deutsche Imperialismus langfristig nicht nur durch Stellvertreter (wie im Falle Kroatiens und in einem geringerem Maße im Kaukasus) seinen Beitrag zu den blutigen Konflikten und den Massakern leisten, in denen die Welt heute versinkt, sondern er wird vermehrt direkt daran beteiligt sein.

17) Hinsichtlich der internationalen Politik der USA ist der Aufmarsch von Truppen nicht nur seit langem Bestandteil ihrer Methoden, sondern er ist heute das Hauptinstrument der Verteidigung ihrer imperialistischen Interessen, wie die IKS seit 1990 aufgezeigt hat, selbst bevor der Golfkrieg schon ausgelöst war. Gegenüber einer Welt, die von der Dynamik des ‘Jeder für sich’ beherrscht wird, und wo insbesondere die früheren Vasallen des amerikanischen Gendarms danach streben, sich so weit möglich aus der erdrückenden Vorherrschaft dieses Gendarmen zu befreien, die sie wegen der Bedrohung durch den gegnerischen Block ertragen mußten, besteht für die USA das einzige Mittel zur Aufrechterhaltung ihrer Autorität darin, sich auf das Instrument zu stützen, bei dem sie gegenüber allen andern Staaten eine haushohe Überlegenheit besitzen: die militärische Gewalt. Aber aufgrund dieses Einsatzes geraten die USA selber in einen Widerspruch:

- einerseits, falls sie auf den Einsatz oder die Zurschaustellung ihrer militärischen Überlegenheit verzichten, kann das die anderen, sie herausfordernden Staaten nur ermuntern, noch weiter vorzudrängen bei dieser Herausforderung;

- andererseits, falls sie diese rohe Gewalt anwenden, und selbst und vor allem wenn sie es dank dieses Mittels schaffen, die imperialistischen Appetite ihrer Gegner vorübergehend zurückzudrängen, werden diese aber danach streben, die erstbeste Gelegenheit zu ergreifen, um sich zu revanchieren und wieder versuchen, aus der US-Vorherrschaft auszubrechen. 

Wenn die USA diese militärische Überlegenheit als Trumpfkarte ins Spiel bringen, bewirken sie das Gegenteil - je nachdem ob die Welt in Blöcke geteilt ist wie vor 1989, oder wenn die Blöcke nicht mehr bestehen. Als die Blöcke noch bestanden, neigte das Zur-Schau-Stellen dieser Überlegenheit dazu, das Vertrauen der Vasallen gegenüber ihrem Führer zu verstärken, da er die Fähigkeit besaß, sie wirkungsvoll zu verteidigen; deshalb stellt diese Karte dann einen Faktor des Zusammenhaltes um die USA dar. Wenn die Blöcke nicht mehr bestehen, bewirken die Demonstrationen der Stärke der einzig übrig gebliebenen Supermacht im Gegenteil nur, daß die Dynamik des ‘Jeder für sich’ nur noch verstärkt wird, solange es keine Macht gibt, die mit ihr auf dieser Ebene konkurrieren kann. Deshalb kann man die Erfolge der gegenwärtigen Konteroffensive der USA keinesfalls als endgültig ansehen oder als Überwindung ihrer Führungskrise. Die rohe Gewalt, die Manöver zur Destabilisierung ihrer Konkurrenten (wie heute in Zaire) mit all den tragischen Folgen werden deshalb weiter von den USA zum Einsatz kommen, und sie werden im Gegenteil das blutige Chaos, in das der Kapitalismus versinkt, noch weiter verschärfen.

18) Bislang hat dieses Chaos den Fernen Osten und Südostasien noch relativ verschont. Aber man muß die Anhäufung der explosiven Zündsätze erkennen, die sich dort vollzieht:

- Intensivierung der Aufrüstung der beiden Hauptmächte  China und Japan;

- das Bestreben Japans, sich so weit wie möglich aus der Kontrolle durch die USA, die eine Erbschaft des 2. Weltkriegs ist, zu entwinden;

- eine offenere Politik der Herausforderung durch China (China spielt gewissermaßen die gleiche Rolle wie Frankreich im Westen, während Japans Diplomatie viel mehr der Deutschlands ähnelt);

- die Gefahr der politischen Destabilisierung Chinas (insbesondere nach dem Tod Dengs);

- das Gären einer Reihe von ‘Reibungspunkten’ zwischen Staaten (Taiwan und China, die beiden koreanischen Staaten, Vietnam und China, Indien und Pakistan usw.).

Genausowenig wie sie im Bereich der Wirtschaft den Erschütterungen wird ausweichen können, kann diese Region den imperialistischen Erschütterungen ausweichen, die heute die Welt erfassen und zum weltweiten Chaos beitragen, in das heute die kapitalistische Gesellschaft versinkt.

19) Dieses generalisierte Chaos mit der Flut  von blutigen Konflikten, Massakern, Hungersnöten und allgemeiner der Zerfall, der in alle Bereiche der Gesellschaft eindringt und sie langfristig zu zerstören droht, wird hauptsächlich durch die Tatsache verstärkt, daß die kapitalistische Wirtschaft in einer völlig ausweglosen Sackgasse steckt. Aber diese Sackgasse und die mit ihr verbundenen, immer heftiger werdenden ständigen Angriffe, die sie notwendigerweise gegen die allen gesellschaftlichen Reichtum produzierende Klasse, das Proletariat, führt, liefert somit auch die Bedingungen für ein Zurückschlagen seitens des Proletariats und die Perspektive der Entwicklung revolutionärer Kämpfe. Seit dem Ende der 60er Jahre hat das Weltproletariat bewiesen, daß es nicht bereit ist, die kapitalistischen Angriffe passiv hinzunehmen, und die Kämpfe, die es seit den ersten Erschütterungen der Krise geliefert hat, haben bewiesen, daß es die furchtbare Konterrevolution überwunden hat, welche sich nach der Welle von revolutionären Kämpfen von 1917-23 gegen es gerichtet hatte. Aber die Arbeiterklasse hat ihre Kämpfe nicht kontinuierlich weiter entwickelt, sondern sie stieß dabei jeweils auf Hindernisse, es gab Fortschritte und Rückflüsse. So gab es zwischen 1968 und 1989 drei aufeinanderfolgende Kampfeswellen (1968-74, 1978-81, 1983-89), während denen die Arbeitermassen trotz Niederlagen, Zögerungen, Rückschritten eine wachsende Erfahrung angehäuft haben, durch die sie immer mehr die gewerkschaftliche Umklammerung verworfen haben. Aber dieses schrittweise Voranschreiten der Arbeiterklasse hin zu einer Bewußtwerdung der Ziele und Mittel ihres Kampfes wurde brutal Ende der 80er Jahre unterbrochen.

‘Diese Kämpfe, die Ende der 60er Jahre mit großer Wucht ausgebrochen waren und die schrecklichste Konterrevolution, unter der die Arbeiterklasse zu leiden gehabt hatte, beendeten, sind in einen umfangreichen Rückfluß nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime, den damit verbundenen ideologischen Kampagnen und Ereignissen (Golfkrieg, Balkankrieg usw.) getreten. Der massive Rückfluß war auf zwei Ebenen zu spüren: auf der Ebene der Kampfbereitschaft und des Klassenbewußtseins, ohne daß dies jedoch gleichzeitig, wie die IKS schon damals hervorhob - den historischen Kurs zu Klassenzusammenstößen umgeschmissen hat’ (Resolution zur Internationalen Situation, Punkt 14, April 1995).

20) Vom Herbst 1992, d.h. von den großen Mobilisierungen der Arbeiter in Italien, an hat die Arbeiterklasse wieder zum Weg des Kampfes zurückgefunden. Aber auf diesem Weg stößt die Arbeiterklasse auf viele Fallen und Schwierigkeiten. Als die stalinistischen Regime im Herbst 1989 zusammenbrachen, kündigte die IKS bereits an, daß dieses Ereignis einen Rückfluss des Bewußtseins bewirken würde, während sie gleichzeitig präzisierte, daß ‘die reformistische Ideologie noch ein sehr großes Gewicht in den zukünftigen Kämpfen haben wird, wodurch der Spielraum der Gewerkschaften größer werden wird’ (Thesen über die wirtschaftliche und politische Krise in der UdSSR und in Osteuropa, Internationale Revue Nr. 12). In der Tat ist es in der letzten Zeit zu einer Verstärkung der Gewerkschaften gekommen, die auf eine geschickte Strategie aller Kräfte der Bourgeoisie zurückzuführen ist. Dies Strategie strebt zunächst danach, die Verwirrung auszunützen, welche in der Arbeiterklasse durch die Ereignisse von 1989-91 entstanden ist, um das Ansehen der  Gewerkschaftsapparate  so stark wie möglich wieder aufzumöbeln, deren Glaubwürdigkeit während der 80er Jahre in vielen Ländern angekratzt worden war. Am einleuchtendsten wurde diese politische Offensive der Bourgeoisie durch das Manöver der verschiedenen Teile der Bourgeoisie im Herbst 1995 in Frankreich vorgeführt. Dank einer klug ausgetüftelten Arbeitsteilung zwischen der Rechten an der Regierung, die auf besonders provokative Weise eine Reihe von Angriffen gegen den Lebensstandard der Arbeiterklasse einleitete, und den Gewerkschaften, die sich als die besten Verteidiger der Arbeiter aufspielten, wobei sie selber für proletarische Kampfmethoden eintraten - Ausdehnung über Branchengrenzen hinweg und Leitung der Bewegung durch Vollversammlungen -  hat die gesamte bürgerliche Klasse dem gesamten Gewerkschaftsapparat zu neuem Ansehen wie seit langem nicht mehr verholfen. Wie sehr dieses Manöver international und systematisch geplant war, konnte man anhand des gewaltigen Medienrummels um die Streiks Ende 1995 erkennen, der in allen Ländern veranstaltet wurde, während es gegenüber den meisten Massenbewegungen in den 80er Jahren ein vollständiges Black-out gegeben hatte. Dies wurde weiterhin bestätigt durch das Manöver in Belgien, das zur gleichen Zeit stattfand und eine Wiederauflage des Manövers in Frankreich war. Die Streiks in Frankreich im Herbst 1995 wurden ebenfalls während des Manövers im Frühjahr 1996 in Deutschland in den Mittelpunkt gestellt, das seinen Höhepunkt fand in der Großdemonstration in Bonn im Juni 1996. Während die Gewerkschaften als Verhandlungsexperten und Spezialisten der Abstimmung mit den Unternehmen gehandelt wurden, sollte anhand dieses Manövers den Gewerkschaften ein viel kämpferisches Bild verliehen werden, damit sie zukünftig besser die sozialen Kämpfe kontrollieren können, die aufgrund der bislang noch nie so starken ökonomischen Angriffe gegen die Arbeiterklasse unvermeidlich entstehen werden. So bestätigte sich die Analyse der IKS, die wir auf unserem 11. Kongreß erstellt hatten: ‘Aber die gegenwärtigen Manöver der Gewerkschaften sind auch und vor allem ein vorbeugendes Mittel: sie müssen ihre Kontrolle über die Arbeiter ausdehnen, bevor diese ihre Kampfbereitschaft noch stärker entfalten, denn diese Kampfbereitschaft wird aufgrund der immer härteren Angriffe der Krise noch zunehmen’ (Resolution zur Internationalen Situation, Punkt 17).

Und das Ergebnis dieser Manöver verstärkte die Verwirrung, die die Ereignisse von 1989-91 hervorgerufen hatten, aufgrund derer wir auf dem 12. Kongreß unserer Sektion in Frankreich die Einschätzung entwickelten, daß ’in den wichtigsten Ländern des Kapitalismus die Arbeiterklasse auf eine Stufe zurückgeworfen wird, die mit den 70er Jahren hinsichtlich ihres Verhältnis zu den Gewerkschaften und den gewerkschaftlichen Kampfmethoden vergleichbar ist: eine Situation, in der die Arbeiterklasse global gesehen unter den Gewerkschaften kämpfte, ihren Anweisungen und Parolen folgte und sich ihnen schließlich unterwarf. So hat die Bourgeoisie es geschafft, die in den 80er Jahren erworbenen Lehren, die die Arbeiter nach den wiederholten Erfahrungen der Konfrontation mit den Gewerkschaften gewonnen hatten, vorübergehend auszulöschen’. (Resolution zur internationalen Situation, Pkt. 12).

21) Die politische Offensive der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse beschränkt sich bei weitem nicht auf die Verstärkung der Glaubwürdigkeit der Gewerkschaftsapparate. Die herrschende Klasse nutzt die verschiedenen Ausdrücke des Zerfalls der Gesellschaft (ansteigender Fremdenhaß, Konflikte zwischen bürgerlichen Cliquen usw.) aus, um sie gegen die Arbeiterklasse einzusetzen. So wurden in verschiedenen Ländern Europas Kampagnen zur Ablenkung der Arbeiter eingeleitet, um ihre Wut und ihre Kampfbereitschaft auf eine Ebene zu lenken, die mit der Arbeiterklasse absolut nichts zu tun haben:

- Ausnutzung der Fremdenfeindlichkeit der Extremen Rechte (Le Pen in Frankreich, Haider in Österreich), um Kampagnen gegen die ‘faschistische Gefahr’ durchzuführen;

- in Spanien wurden Kampagnen gegen den ETA-Terrorismus gestartet, in denen die Arbeiter aufgerufen wurden, sich mit den Firmenchefs zu solidarisieren;

- Abrechnungen zwischen Teilen des  Sicherheitsapparate (Polizei) und Justiz wurden ausgenutzt, um Kampagnen für einen ‘sauberen Staat & Justiz’ einzuleiten - dies geschah in Ländern wie Italien (Operation ‘saubere Hände’) und besonders in Belgien (Dutroux-Affäre).

Belgien war in der letzten Zeit eine Art ‘Labor’, um die ganze Bandbreite an Verschleierungen gegen die Arbeiterklasse durch die Bourgeoisie auszutesten. Die Bourgeoisie hat dort:

- die Manöver der französischen Bourgeoisie vom Herbst 95 neu aufgelegt;

- dann ein ähnliches Manöver wie die deutsche Bourgeoisie vom Frühjahr 96 durchgeführt;

- vom Sommer 96 an die Dutroux-Affäre in den Vordergrund gestellt, die passenderweise zum ‘richtigen Zeitpunkt aufgedeckt’ wurde (obgleich der Justiz viele Tatsachen schon längst bekannt waren), um mittels eines bislang nie dagewesenen Medienrummels eine wahre Psychose in den Arbeiterfamilien hervorzurufen, während es gleichzeitig eine Reihe von Angriffen gegen die Arbeiter hagelte; dadurch sollte die Wut der Arbeiter auf das klassenneutrale Terrain einer ‘Justiz im Dienste des Volkes’ abgeleitet wurden, wie insbesondere beim ‘weißen Marsch’ am 20. Oktober;

- mit dem ‘bunten Marsch’ vom 2. Februar 97, der anläßlich der Betriebsschließung des Stahlwerkes von Forges de Clabecq veranstaltet wurde, wurde die den Klassengraben verschleiernde Kampagne einer ‘Justiz im Dienst des Volkes’ und einer ‘Wirtschaft im Dienst der Bürger’ erneut aufgelegt; eine weitere Verstärkung erfolgte durch die Medienaufmachung um die ‘kämpferischen Basis-Gewerkschaften’ und den in den Medien sehr wirksam auftretenden D’Orazio;

- eine neue Schicht demokratischer Lügen wurde dann nach der Ankündigung der Werksstilllegung Renaults in Vilvoorde (die Gerichte verurteilten diese Werksschließung) aufgetragen, während gleichzeitig die Trommel für ein ‘soziales Europa’ im Gegensatz zu einem ‘Europa der Kapitalisten’ gerührt wurde.

Die gewaltige internationale Medienaufmachung all dieser Manöver liefert erneut einen Beweis dafür, daß sie nicht nur zu internen Zwecken bestimmt waren, sondern Teil eines von der Bourgeoisie aller Länder abgestimmten Plans waren. Die herrschende Klasse ist sich dessen bewußt, daß ihre wachsenden Angriffe gegen die Arbeiterklasse große Widerstandskämpfe derselben hervorrufen werden; deshalb will sie zu einem Zeitpunkt vorbeugend handeln, wo die Kampfbereitschaft noch in einer frühen Entwicklungsstufe steckt und wo die Folgen des Zusammenbruchs der angeblich ‘sozialistischen’ Regime noch unter den Arbeitern zu spüren sind, um ‘das Pulver naß zu machen’ und die Bandbreite gewerkschaftlicher und demokratischer Illusionen so stark wie möglich auszudehnen.

22) Die unleugbare Verwirrung, in der heute die Arbeiterklasse steckt, hat der Bourgeoisie einen größeren Spielraum eröffnet, um ihre internen politischen Auseinandersetzungen auszutragen. Wie die IKS Anfang 1990 schrieb: ‘Deshalb muß man heute die Analyse der IKS aktualisieren, die wir zur Strategie der ‘Linken in der Opposition’ gemacht hatten. Seit Ende der 70er Jahre und während der 80er Jahre war es für die Bourgeoisie notwendig geworden, diese Karte aufgrund der allgemeinen Dynamik der Klasse hin zu immer mehr entschlossenen und bewußten Klassenkämpfen, zu einer deutlicheren Verwerfung der demokratischen, parlamentarischen und gewerkschaftlichen Verschleierungen, einzusetzen. Die in einigen Ländern (z.B. in Frankreich) aufgetretenen Schwierigkeiten, um diese Karte unter den besten Bedingungen zu spielen, ändert nichts an der Tatsache, daß sie die zentrale Achse der Strategie der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse war. Die rechten Regierungen in so wichtigen Ländern wie den USA, BRD und GB verdeutlichen dies. Dagegen zwingt der gegenwärtige Rückzug der Klasse die Bourgeoisie vorübergehend nicht mehr dazu, diese Strategie prioritär einzusetzen. Das heißt nicht, daß in diesen Ländern unbedingt die Linke wieder die Regierungsgeschäfte übernehmen wird. Wir haben mehrfach... aufgezeigt, daß solch eine Vorgehensweise nur in revolutionären Phasen oder im imperialistischen Krieg zwingend notwendig ist. Man darf dagegen nicht überrascht sein, wenn solch ein Ereignis eintritt, oder vermuten, daß es sich um einen ‘Unfall’ oder den Ausdruck einer ‘besonderen Schwäche’ der herrschenden Klasse des jeweiligen Landes handeln würde’ (Internationale Revue Nr. 12, S. 7, 10.2.1990).

Deshalb konnte die italienische Bourgeoisie zum Großteil aus internationalen politischen Gründen im Frühjahr 1996 eine Mitte-Links-Regierung einsetzen, in der die alte „Kommunistische“ Partei (PDS) dominiert und die eine Zeitlang von der extrem-linken Partei ‘Rifondazione Comunista’ unterstützt wurde. Deshalb darf der Sieg der Labour-Partei in Großbritannien im Mai 97 nicht als ein Faktor angesehen werden, der der Bourgeoisie dieses Landes Schwierigkeiten bereiten würde (die übrigens Sorge dafür getragen hat, die organische Verbindung zwischen Gewerkschaften und Labour Partei zu beenden, um es den Gewerkschaften zu ermöglichen, sich falls nötig, der Regierung entgegenzustellen). Es ist wichtig hervorzuheben, daß die herrschende Klasse nicht mehr die Themen aus den 70er Jahren auflegt, als die ‘Alternative der Linken’ mit ihren ‘Sozialprogrammen’ und Verstaatlichungen dazu dienten, den Schwung der Arbeiterkämpfe zu bremsen, der 1968 eingesetzt hatte, und Unzufriedenheit und Kampfbereitschaft in die Sackgasse der Wahlen gelenkt worden waren. Wenn Linksparteien (deren Wirtschaftsprogramm sich übrigens immer weniger von dem der Rechten unterscheidet) die Regierung übernehmen sollten, wird dies hauptsächlich auf die Schwierigkeiten der Rechten zurückzuführen sein, und nicht auf die Mobilisierung der Arbeiter, die durch die Entwicklung der Krise die Illusionen über einen ‘gesunden Kapitalismus’ verloren haben, während diese in den 70er Jahren noch bestanden.

23) Auf diesem Hintergrund muß man auch einen deutlichen Unterschied zwischen den ideologischen Kampagnen von heute und denen der 30er Jahre gegen die Arbeiterklasse herausheben. Bei diesen beiden Arten von Kampagnen gibt es einen gemeinsamen Punkt: Sie drehen sich alle um das Thema der ‘Verteidigung der Demokratie’. Aber die Kampagnen der 30er Jahre

- fanden auf einem Hintergrund der historischen Niederlage der Arbeiterklasse, des ungeteilten Sieges der Konterrevolution statt;

- verfolgten das Ziel des Einspannens der Arbeiter für den heraufziehenden Weltkrieg;

- stützten sich auf einen ‘Daseinsgrund’, die faschistischen Regime in Italien, Deutschland und Spanien, die tatsächlich vorhanden waren, wodurch diese Kampagnen dauerhaft, gezielt und massiv durchgeführt werden konnten.

Die gegenwärtigen Kampagnen dagegen

- finden auf dem Hintergrund statt, wo die Arbeiterklasse die Konterrevolution überwunden und keine entscheidende Niederlage eingesteckt hat, die den historischen Kurs hin zu Klassenzusammenstößen infragestellt;

- verfolgen das Ziel, den Kurs wachsender  Kampfbereitschaft und wachsenden Bewußtseins in der Arbeiterklasse zu untergraben,

- verfügen nicht über eine einzige Zielscheibe, sondern müssen sehr zerstreute Themen in den Mittelpunkt stellen, die oft von besonderen Anlässen abhängig sind (Terrorismus, ‘faschistische Gefahr’, Netz von Kinderschändern, Korruption der Justiz, usw.), wodurch ihre Tragweite international und zeitlich begrenzt wird.

Während die Kampagnen Ende der 30er Jahre die Arbeitermassen dauerhaft um  sich mobilisieren konnten, zeichnen sich die heutigen Kampagnen dadurch aus,

- daß sie es entweder schaffen, die Arbeiter massiv auf die Straße zu bringen (wie beim ‘weißen Marsch’ in Brüssel am 20. Oktober 1996), aber dies gelingt dann nur für eine kurze Dauer (deshalb hat die belgische Bourgeoisie danach sofort andere Manöver eingeleitet);

- daß sie ständig betrieben werden (wie bei der Kampagne gegen den ‘Front National’ in Frankreich), aber sie schaffen es nicht, dafür die Arbeiter einzuspannen, dienen somit hauptsächlich der Ablenkung.

Deswegen darf man jedoch die Gefahr, die von diesen Kampagnen ausgeht, nicht unterschätzen, denn die Auswirkungen des allgemeinen und wachsenden Zerfalls der bürgerlichen Gesellschaft können ihnen ständig neuen Nährstoff liefern. Nur ein entscheidender Fortschritt des Bewußtseins in der Arbeiterklasse wird es dieser ermöglichen, diese Art Verschleierungen zu enthüllen. Und dieser Fortschritt wird nur durch eine massive Entfaltung von Arbeiterkämpfen zustande kommen, die, wie sie es Mitte der 80er Jahre schon angefangen hatten zu tun, die wichtigsten Instrumente der Bourgeoisie in den Reihen der Arbeiter, die Gewerkschaften und den gewerkschaftlichen Kampf infragestellen.

24) Diese Infragestellung, mit der eine direkte Kontrolle der Kämpfe durch die Arbeiter und ihre Ausdehnung durch Vollversammlungen und gewählten und abwählbaren Streikkomitees einhergeht, muß notwendigerweise einen ganzen Prozeß der Konfrontation mit der Sabotagearbeit der Gewerkschaften durchlaufen. Diese Prozeß wird notwendigerweise in der Zukunft stattfinden, weil die Kampfbereitschaft als Reaktion auf die immer heftigeren Angriffe des Kapitalismus weiter ansteigt. Heute schon macht es die Entwicklung der Kampfbereitschaft der Bourgeoisie in Anbetracht der Gefahr eines Ausbrechens aus der gewerkschaftlichen Kontrolle unmöglich, die großen Manöver wie in Frankreich 1995-96 zu wiederholen, die auf eine umfangreiche Verstärkung der Gewerkschaften abzielten. Den Gewerkschaften ist es bislang jedoch gelungen, eine größere Entblößung zu vermeiden, auch wenn sie in der letzten Zeit angefangen haben, häufiger ihre ‘klassischen’ Methoden der Spaltung zwischen staatlichen und privat Beschäftigten (wie beispielsweise während der Demonstration am 11. Dezember 1996 in Spanien) und den Berufsegoismus einzusetzen. Das spektakulärste Beispiel dieser Taktik sind die Streiks, die nach der Ankündigung der Stilllegung des Renault-Werkes Vilvoorde ausgelöst wurden, als die Gewerkschaften aus verschiedenen Ländern mit Renault-Werken eine ‘europaweite’ Mobilisierung der Renault-Beschäftigten einleiteten. Aber die Tatsache, daß dieses lumpige Manöver der Gewerkschaften über die Bühne gehen konnte, ohne aufgedeckt zu werden, und daß sie es gar schafften, mit seiner Hilfe ihr Prestige noch ein wenig zu verbessern, wobei sie gleichzeitig weiter die Rolle eines ‘sozialen Europas’ verschleierten, beweist, daß wir heute in einer Schlüsselphase stecken zwischen der Verstärkung der Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften und ihrer immer größeren Entblößung, wo sie immer mehr in Verruf geraten. Eines der Merkmale dieser Phase besteht darin, daß man angefangen hat, die Themen der ‘kämpferischen Gewerkschaften’ aufzutischen, denen zufolge die ‘Basis’ dazu in der Lage wäre, die Gewerkschaftsführung zu zwingen, sich zu radikalisieren (so das Beispiel von Forges de Clabecq, des Hafenarbeiterstreiks in Großbritannien oder der Bergarbeiter letzten März in Deutschland).

25) So muß die Arbeiterklasse noch einen langen Weg hin zu ihrer Befreiung zurücklegen, und die Bourgeoisie wird ihn systematisch durch alle möglichen Fallen untergraben, wie in der letzten Zeit deutlich wurde. Der Umfang der Manöver der Bourgeoisie beweist, daß sie sich der Gefahren bewußt ist, die die gegenwärtige Lage des Weltkapitalismus in sich birgt. Während Engels schrieb, daß die Arbeiterklasse ihren Kampf auf drei Ebenen führt, der ökonomischen, politischen und ideologischen, belegt die gegenwärtige Strategie der Bourgeoisie, die auch gegen die revolutionären Organisationen gerichtet ist (siehe die Kampagne gegen den angeblichen ‘Negationismus’ der Kommunistischen Linken), daß die Bourgeoisie sich dessen voll bewußt ist. Es ist die Aufgabe der Revolutionäre, die von der herrschenden Klasse und all ihren Organen, insbesondere den Gewerkschaften, aufgestellten Fallen nicht nur systematisch aufzuspüren und zu entblößen, sondern sie müssen auch gegen all die Verfälschungen während der letzten Zeit die wirkliche Perspektive der kommunistischen Revolution als Endziel der gegenwärtigen Kämpfe des Proletariats hervorheben. Nur wenn die kommunistische Minderheit ihre Rolle voll erfüllt, kann die Arbeiterklasse ihre Kräfte und ihr Bewußtsein zur Erreichung dieses Ziels entfalten.

 

Aktuelles und Laufendes: 

  • Arbeiterkampf [86]

1917: Die Russische Revolution - Die „Aprilthesen” – Leitlinien der proletarischen Revolution

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Nichts macht eine herrschende Klasse rasender als eine Erhebung der Ausgebeuteten. Die Revolten der Sklaven im Römischen Reich, der Bauern unter dem Feudalismus sind immer mit einer unübertroffenen Grausamkeit niedergeschlagen worden. Doch der Aufstand der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus ist ein noch größerer Affront gegen die herrschende Klasse dieses Systems, da er auf seiner Fahne klar die Inschrift einer neuen Gesellschaft trägt, einer kommunistischen Gesellschaft, die tatsächlich einer historischen Möglichkeit und Notwendigkeit entspricht. Deshalb kann sich die Kapitalistenklasse nicht damit zufrieden geben, die revolutionären Versuche der Arbeiterklasse zu unterdrücken, sie im Blut zu ertränken, auch wenn die kapitalistische Konterrevolution bestimmt die blutigste in der ganzen Geschichte ist. Sie muß darüber hinaus die Idee ins Lächerliche ziehen, daß die Arbeiterklasse die Trägerin einer neuen gesellschaftlichen Ordnung ist, sie muß die totale Bedeutungslosigkeit der kommunistischen Perspektive propagieren. Zu diesem Zweck braucht sie ein ganzes Arsenal von Lügen und Verfälschungen parallel zum realen, gegenständlichen Waffenarsenal. Aus diesem Grund brauchte das Kapital auch während dem größten Teil des 20. Jahrhunderts die Aufrechterhaltung der größten Lüge der Geschichte: die Lüge, daß der Stalinismus Kommunismus sei.

Der Zusammenbruch des Ostblocks 1989 und der UdSSR zwei Jahre später hat, obwohl er der Bourgeoisie das lebendige "Beispiel" dieser Lüge wegnahm, diese gewaltig verstärkt, indem die herrschende Klasse nun eine riesige Kampagne über den offensichtlichen Mißerfolg des Kommunismus, des Marxismus und sogar über das Veralten der Idee des Klassenkampfs selber startete. Die für das Bewußtsein des Weltproletariats zutiefst zerstörerischen Auswirkungen dieser Kampagne sind verschiedentlich in den Spalten dieser Internationalen Revue untersucht worden, so daß wir hier diesen Punkt nicht weiter entwickeln. Auch wenn der Einfluß dieser Kampagnen im Laufe der letzten Jahre abgenommen hat – v.a. wegen der Versprechungen der Bourgeoisie über die "Neue Weltordnung" des Friedens und des Wohlstands, die angeblich den Tod des Stalinismus ablösen sollten, sich aber nur als Unsinn entpuppt haben –, ist es wichtig zu unterstreichen, daß sie für den ideologischen Kontrollapparat der Bourgeoisie so zentral sind, daß diese keine Gelegenheit versäumt, ihr neues Leben und neuen Einfluß zu verleihen. Wir sind nun in das Jahr des 80. Jubiläums der Russischen Revolution eingetreten, und zweifellos werden wir neue Lügen über diesen Gegenstand hören. Und eines ist sicher: Der Haß und die Verachtung der Bourgeoisie für die proletarische Revolution, die 1917 in Rußland begonnen hat, ihre Anstrengungen, die Erinnerungen an sie in Form und Inhalt zu entstellen, werden v.a. die politischen Organisation zum Ziel haben, die den Geist der großen Aufstandsbewegung verkörpert hat, die bolschewistische Partei. Das darf uns nicht überraschen: Seit der Zeit des Bundes der Kommunisten und der I. Internationale war die Bourgeoisie immer bereit, der Mehrheit der armen Arbeiter "zu verzeihen", daß sie durch die Komplotte und Machenschaften der revolutionären Minderheiten übers Ohr gehauen worden waren, während sie diese unabänderlich als Verkörperung des Bösen sieht. Und für das Kapital war keine dieser Organisationen so schlimm wie die Bolschewiki; diese haben es geschafft, die einfachen Arbeiter länger und nachhaltiger "irrezuführen" als irgendeine andere revolutionäre Partei in der Geschichte.

Es ist hier nicht der Ort, um alle Bücher, Artikel und Dokumente zu behandeln, die in letzter Zeit dem Thema der Russischen Revolution gewidmet worden sind. Es genügt festzuhalten, daß diejenigen, die am meisten Publizität erhalten – z.B. "The Unknown Lenin: from the Soviet Archives" (Der unbekannte Lenin: aus den sowjetischen Archiven) und "Der wahre Lenin" des früheren Archivars des KGB Volkogonow, der behauptet, Zugang zu den unzugänglichsten Dossiers seit 1917 gehabt zu haben – ein sehr genau umschriebenes Ziel haben: zu zeigen, daß Lenin und die Bolschewiki eine Horde von fanatischen Machtgierigen waren, die alles daran gesetzt haben, die demokratischen Errungenschaften der Februarrevolution 1917 rückgängig zu machen und Rußland sowie die Welt in eines der schrecklichsten Experimente der Geschichte zu stürzen. Selbstverständlich "beweisen" diese Herren mit einer minutiösen und detaillierten Aufmerksamkeit, wie der stalinistische Terror nichts anderes war, als die Fortsetzung und Vollendung des leninistischen Terrors. Der Untertitel der deutschen Ausgabe der Arbeit von Volkogonow über Lenin, "Utopie und Terror", faßt die Methode der Bourgeoisie sehr gut zusammen: die Idee, daß die Revolution gerade deshalb im Terror untergegangen ist, weil sie versucht hat, ein utopisches Ideal zu erreichen, nämlich den Kommunismus, der wahrhaftig ein Gegensatz zur menschlichen Natur sei. Ein wichtiges Element in diesem antibolschewistischen Unterfangen ist die Idee, daß der Bolschewismus mit seinem ganzen Diskurs über den Marxismus und die Weltrevolution v.a. ein Ausdruck der Rückständigkeit Rußlands gewesen sei. Diese Leier ist alles andere als neu: Sie war ein Lieblingsthema des "Renegaten Kautsky" nach dem Oktoberaufstand. Aber sie hat später eine beträchtliche akademische Würde angenommen. Eine der besten Studien über die Anführer der Russischen Revolution – "Three who made a revolution" (Drei, die eine Revolution machten) von Betram Wolfe –, die in den 50er Jahren geschrieben wurde, baut diese Idee mit einem besonderen Augenmerk auf Lenin aus. Aus dieser Sicht schuldet der Standpunkt Lenins über die proletarische politische Organisation als einem zahlenmäßig "beschränkten", aus überzeugten Revolutionären zusammengesetzten Körper, mehr den konspiratorischen und geheimen Auffassungen der "Narodniki" und Bakunins als Marx. Solche Historiker stellen diese Auffassungen oft den "ausgeklügelteren", "europäischeren" und "demokratischeren" der Menschewiki gegenüber. Und selbstverständlich wird uns weiter erklärt, daß, da die Form der revolutionären Organisation eng an die Form der Revolution selber gebunden ist, die demokratische menschewistische Organisation uns ein demokratisches Rußland beschert hätte, während die diktatorische bolschewistische Form, ein diktatorisches Rußland zum Resultat hatte.

Es sind nicht nur die offiziellen Sprecher der Bourgeoisie, die solche Ideen kolportieren. Vielmehr werden diese Ideen, leicht anders verpackt, auch durch Anarchisten jeder Art verkauft, die hinsichtlich der Russischen Revolution Spezialisten der Methode sind: "Wir haben es euch schon immer gesagt". "Wir wußten von Anfang an, daß der Bolschewismus schlecht ist und mit Tränen enden würde – all diese Diskurse über die Partei, den Übergangsstaat und die Diktatur des Proletariats konnten nur dahin führen." Aber der Anarchismus hat die Gewohnheit, sich andauernd zu erneuern, und er kann auch viel subtiler auftreten. Ein gutes Beispiel dafür ist die Argumentation, die eine parasitäre Sorte des Anarchismus, die sich (u.a.) "London Psychogeographical Association" nennt, in Umlauf setzt. Die LPA hat sich warmherzig dem Argument der IKS angeschlossen, wonach der Bakunismus mit seinem ganzen Gerede von Freiheit und Gleichheit, seiner Kritik des marxistischen "Autoritarismus" im Grunde genommen auf zutiefst hierarchischen und sogar esoterischen Sichtweisen beruhte, die eng verbunden waren mit der Freimaurerei. Doch für die LPA ist dies nur die Vorspeise. Im Hauptgang tischt sie auf, daß die bolschewistische Organisationsauffassung die wahre Fortsetzung des Bakunismus und somit der Freimaurerei sei. Der Kreis schließt sich: Die "Kommunisten" der LPA käuen die Reste der Professoren des Kalten Krieges wieder.

Was mit all diesen Verleumdungen des Bolschewismus ins Spiel gebracht wird, ist beträchtlich, und man kann darauf nicht im Rahmen eines einzigen Artikels antworten. Eine kritische Einschätzung der "leninistischen" Organisationsauffassung zu liefern z.B., das Vorurteil zu widerlegen, nach dem sie nichts anderes als eine neue Version des Narodnikitums oder des Bakunismus sei, würde allein eine ganze Artikelserie erfordern. Das Ziel des vorliegenden Artikels ist ein anderes. Es geht darum, eine spezielle Phase der Ereignisse der Russischen Revolution zu untersuchen: die Aprilthesen, die Lenin bei seiner Rückkehr nach Rußland 1917 verteidigte. Dies nicht nur deshalb, weil das fast auf den Monat genaue Jubiläum eine gute Gelegenheit dazu bietet, sondern v.a. darum, weil dieses kurze und präzise Dokument einen vorzüglichen Ausgangspunkt darstellt, um alle Lügen über die bolschewistische Partei zu widerlegen und um das wesentliche über sie nachzuweisen: Diese Partei war nicht das Produkt der russischen Barbarei, eines entstellten Anarchoterrorismus oder eines absoluten Machthungers der Anführer. Der Bolschewismus war v.a. das Produkt des Weltproletariats; unauflöslich verknüpft mit der gesamten marxistischen Tradition, war er nicht der Keim einer neuen Ausbeutungs- oder Unterdrückungsform, sondern die Avantgarde einer Bewegung, die dazu bestimmt war, jeder Ausbeutung und jede Unterdrückung zu beseitigen.

 

Vom Februar zum April

Gegen Ende Februar 1917 traten die Petrograder Arbeiter in Massenstreiks gegen die unerträglichen, durch den imperialistischen Krieg aufgezwungenen Lebensbedingungen. Die Losungen der Bewegung wurden schnell politisch, die Arbeiter verlangten die Beendigung des Krieges und den Umsturz der Autokratie. In wenigen Tagen weitete sich der Streik in andere Städte, große und kleine, aus, und als sich die Arbeiter bewaffneten und mit den Soldaten verbrüderten, wurde der Massenstreik zum Aufstand.

Die Arbeiter erinnerten sich an die Erfahrung von 1905 und zentralisierten den Kampf mit dem Mittel der Sowjets der Arbeiterdeputierten, die durch die Fabrikversammlungen gewählt und jederzeit abwählbar waren. Im Gegensatz zu 1905 begannen die Soldaten und Bauern dem Beispiel in breitem Maßstab zu folgen. Die herrschende Klasse erkannte, daß die Tage der Autokratie gezählt waren, und entledigte sich selbst des Zars; sie rief die Liberalen und die "linken" Parteien, v.a. die diejenigen Elemente, die einst proletarisch gewesen und mit der Unterstützung des Krieges ins bürgerliche Lager übergetreten waren, dazu auf, eine Provisorische Regierung mit dem offen erklärten Ziel zu bilden, Rußland hin zu einem parlamentarisch-demokratischen System zu führen. Effektiv entstand eine Situation der Doppelmacht, da die Arbeiter und Soldaten nur den Sowjets wirklich trauten und die bürgerliche Provisorische Regierung noch nicht in einer genügend starken Lage war, um sie zu ignorieren, geschweige denn, um sie zu beseitigen. Aber diese grundsätzliche Trennungslinie zwischen den Klassen wurde teilweise durch einen demokratischen Euphorienebel verwischt, der nach dem Februaraufstand über das Land fiel. Nachdem der Zar beseitigt worden war und sich das Volk einer nie erlebten Freiheit erfreute, schienen alle für die "Revolution" zu sein – inklusive die demokratischen Verbündeten Rußlands, die hofften, daß dies dem Land erlauben würde, effektiver an den Kriegsanstrengungen teilzunehmen. So stellte sich die Provisorische Regierung als den Hüter der Revolution dar; die Sowjets waren politisch beherrscht durch die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, die alles daran setzten, um die Räte gegenüber dem neu eingerichteten bürgerlichen Regime zu entmachten. Kurz, die ganze Kraft des Massenstreiks und des Aufstands – die in Wirklichkeit ein Ausdruck einer allgemeineren revolutionären Bewegung war, die aufgrund des Krieges in allen wichtigen kapitalistischen Ländern brütete – wurde auf kapitalistische Bahnen umgeleitet.

Wo standen die Bolschewiki in dieser Situation, die so voller Gefahren und Versprechungen war? Sie befanden sich in einer vollständigen Verwirrung.

"Der erste Monat der Revolution war für den Bolschewismus eine Zeit der Fassungslosigkeit und Schwankungen. Im

‘Manifest’ des Zentralkomitees der Bolschewiki, verfaßt gleich nach dem Siege des Aufstands, hieß es, ‘die Arbeiter der Fabriken und Werkstätten wie auch die aufständischen Truppen müssen sofort ihre Vertreter in die revolutionäre Provisorische Regierung wählen’. (...) Sie handelten nicht wie Vertreter einer proletarischen Partei, die sich zum selbständigen Kampf um die Macht vorbereitet, sondern als linker Flügel der Demokratie, der, seine Prinzipien verkündend, die Absicht hat, während einer unbestimmt langen Zeit die Rolle der loyalen Opposition zu spielen."

Als Stalin und Kamenew im März 1917 die Führung der Partei übernahmen, standen sie noch weiter rechts. Stalin entwickelte eine Theorie über die sich ergänzenden Rollen der Provisorischen Regierung und der Sowjets. Schlimmer noch: Das offizielle Organ der Partei, die Prawda, nahm offen eine Position zur Verteidigung des Krieges ein: "Nicht das inhaltlose ‘Nieder mit dem Krieg’ ist unsere Losung. Unsere Losung ist – der Druck auf die Provisorische Regierung mit dem Ziele, sie zu zwingen ... mit einem Versuch hervorzutreten, alle kämpfenden Länder zur sofortigen Aufnahme von Friedensverhandlungen zu bewegen ... Bis dahin bleibt aber jeder auf seinem Kampfposten!"

Trotzki berichtet, wie zahlreiche Mitglieder der Partei zutiefst beunruhigt und sogar wütend auf das opportunistische Abgleiten der Partei reagierten. Aber sie waren programmatisch nicht ausgerüstet, um der Position der Führung entgegenzutreten, da sie auf der Perspektive zu fußen schien, die Lenin selbst entwickelt hatte und die während eines ganzen Jahrzehnts die offizielle Position der Partei dargestellt hatte: die Perspektive der "demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern". Das Wesen dieser Theorie bestand darin, daß die Revolution in Rußland, obwohl sie ökonomisch gesprochen bürgerlicher Natur sein werde, nicht von der russischen Bourgeoisie getragen werden könne, da diese zu schwach sei. Deshalb müsse die kapitalistische Modernisierung Rußlands durch das Proletariat und die ärmsten Schichten der Bauern wahrgenommen werden. Diese Position befindet sich zwischen derjenigen der Menschewiki – die vorgeben, orthodoxe Marxisten zu sein, und folglich vertreten, die Aufgabe des Proletariats bestehe darin, die Bourgeoisie in ihrem Kampf gegen den Absolutismus kritisch zu unterstützen, bis Rußland reif für den Sozialismus sei – und derjenigen von Trotzki, dessen Theorie der "permanenten Revolution", die er nach den Ereignissen von 1905 entwickelte, davon ausgeht, daß die Arbeiterklasse in der kommenden Revolution an die Macht getrieben und gezwungen sein würde, über die bürgerliche Etappe der Revolution hinauszugehen, bis zur sozialistischen Phase unter der einzigen Bedingung, daß die russische Revolution mit einer sozialistischen Revolution in den industrialisierten Ländern zusammenfällt oder sie hervorruft.

In Tat und Wahrheit ist die Theorie Lenins bestenfalls das Produkt einer Epoche, wo es immer offensichtlicher wird, daß die russische Bourgeoisie keine revolutionäre Kraft ist, aber wo auch noch nicht klar ist, daß die Zeit der internationalen sozialistischen Revolution angebrochen ist. Doch die Überlegenheit der These Trotzkis liegt gerade darin, daß sie von einem internationalen, statt einfach einem russischen Rahmen ausgeht; und Lenin selber hat sich trotz seiner zahlreichen und scharfen Divergenzen mit Trotzki nach den Ereignissen von 1905 verschiedentlich des Begriffs der permanenten Revolution bedient.

In der Praxis erwies sich die Idee der "demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern" als substanzlos; die "orthodoxen Leninisten", die diese Formel 1917 wieder aufgriffen, benützten sie als Feigenblatt für ihr ganz banales Abgleiten zum Menschewismus. Kamenew behauptete mit Nachdruck, daß man die Provisorische Regierung kritisch unterstützen müsse, da die bürgerlich demokratische Phase noch nicht abgeschlossen sei: Dies entsprach kaum noch der ursprünglichen Auffassung von Lenin, die die Tatsache unterstrich, daß die Bourgeoisie unweigerlich mit der Autokratie paktieren würde. Es gab sogar ernsthafte Versuche einer Wiedervereinigung zwischen den Menschewiki und den Bolschewiki.

Die politisch entwaffnete bolschewistische Partei zieht es so Richtung Kompromiß und Verrat. Die Zukunft der Revolution steht auf dem Spiel, als Lenin aus dem Exil zurückkommt.

In seiner Geschichte der Russischen Revolution gibt Trotzki uns eine genaue Beschreibung der Ankunft Lenins am 3. April 1917 im Finnländischen Bahnhof von Petrograd. Der Petrogrades Sowjet, der noch von Menschewiki und Sozialrevolutionären beherrscht ist, organisierte eine große Empfangsfeier und hieß Lenin mit Blumen willkommen. Im Namen des Sowjets empfängt Tschcheidse Lenin mit den folgenden Worten:

"Genosse Lenin, im Namen des Petersburger Sowjets und der gesamten Revolution begrüßen wir Sie in Rußland ... Aber wir sind der Ansicht, daß die Hauptaufgabe der revolutionären Demokratie jetzt in der Verteidigung unserer Revolution gegen alle Anschläge, von innen wie von außen, besteht ... Wir hoffen, daß Sie gemeinsam mit uns diese Ziele verfolgen werden."

Die Antwort von Lenin richtete sich nicht an die Führer des Empfangskomitees, sondern an die Hunderte von Arbeitern und Soldaten, die zum Bahnhof geströmt waren:

"Liebe Genossen, Soldaten, Matrosen und Arbeiter! Ich bin glücklich, in eurer Person die siegreiche Russische Revolution zu begrüßen, euch als die Avantgarde der proletarischen Weltarmee zu begrüßen ... Die Stunde ist nicht fern, wo auf den Ruf unseres Genossen Karl Liebknecht die Völker die Waffen gegen ihre Ausbeuter, die Kapitalisten, richten werden ... Die Russische Revolution, von euch vollbracht, hat eine neue Epoche eingeleitet. Es lebe die sozialistische Weltrevolution ..."

So geht der Spielverderber Lenin mit dem demokratischen Karneval von allem Anfang an um. In dieser Nacht arbeitete Lenin seinen Standpunkt zu einer zweistündigen Rede aus, die mehr noch all die Demokraten und sentimentalen Sozialisten vor den Kopf stoßen würde, die wollten, daß die Revolution nicht weitergehe als es diejenige des Februars getan hatte, die den Massenstreiks der Arbeiter applaudierten, als diese den Zaren verjagten und der Provisorischen Regierung erlaubten, die Macht zu ergreifen, die aber jede weitere Polarisierung zwischen den Klassen fürchteten. Am folgenden Tag legte Lenin in einer gemeinsamen Sitzung der Bolschewiki und der Menschewiki das vor, was später unter dem Namen der Aprilthesen bekannt wurde. Sie sind ziemlich kurz, so daß sie hier in voller Länge abgedruckt werden können:

"1. In unserer Stellung zum Krieg, der von seiten Rußlands auch unter der neuen Regierung Lwow und Co. – infolge des kapitalistischen Charakters dieser Regierung – unbedingt ein räuberischer, imperialistischer Krieg bleibt, sind auch die geringsten Zugeständnisse an die ‘revolutionäre Vaterlandsverteidigung’ unzulässig.

Einem revolutionären Krieg, der die Vaterlandsverteidigung wirklich rechtfertigen würde, kann das klassenbewußte Proletariat seine Zustimmung nur unter folgenden Bedingungen geben: a) Übergang der Macht in die Hände des Proletariats und der sich ihm anschließenden ärmsten Teile der Bauernschaft; b) Verzicht auf alle Annexionen in der Tat und nicht nur in Worten; c) tatsächlicher und völliger Bruch mit allen Interessen des Kapitals.

In Anbetracht dessen, daß breite Schichten der revolutionären Vaterlandsverteidiger aus der Masse es zweifellos ehrlich meinen und den Krieg anerkennen in dem Glauben, daß er nur aus Notwendigkeit und nicht um Eroberungen geführt werde, in Anbetracht dessen, daß sie von der Bourgeoisie betrogen sind, muß man sie besonders gründlich, beharrlich und geduldig über ihren Irrtum, über den untrennbaren Zusammenhang von Kapital und imperialistischem Krieg aufklären, muß man den Nachweis führen, daß es ohne den Sturz des Kapitals unmöglich ist, den Krieg durch einen wahrhaft demokratischen Frieden und nicht durch einen Gewaltfrieden zu beenden.

Organisierung der allerbreitesten Propaganda dieser Auffassung unter den Fronttruppen.

Verbrüderung.

2. Die Eigenart der gegenwärtigen Lage in Rußland besteht im Übergang von der ersten Etappe der Revolution, die infolge des ungenügend entwickelten Klassenbewußtseins und der ungenügenden Organisiertheit des Proletariats der Bourgeoisie die Macht gab, zur zweiten Etappe der Revolution, die die Macht in die Hände des Proletariats und der ärmsten Schichten der Bauernschaft legen muß.

Dieser Übergang ist gekennzeichnet einerseits durch ein Höchstmaß an Legalität (Rußland ist zur Zeit von allen kriegführenden Ländern das freieste Land der Welt), andererseits dadurch, daß gegen die Massen keine Gewalt angewandt wird, und schließlich durch die blinde Vertrauensseligkeit der Massen gegenüber der Regierung der Kapitalisten, der ärgsten Feinde des Friedens und des Sozialismus.

Diese Eigenart fordert von uns die Fähigkeit, uns den besonderen Bedingungen der Parteiarbeit unter den unerhört breiten, eben erst zum politischen Leben erwachten Massen des Proletariats anzupassen.

3. Keinerlei Unterstützung der Provisorischen Regierung, Aufdeckung der ganzen Verlogenheit aller ihrer Versprechungen, insbesondere hinsichtlich des Verzichts auf Annexionen, Entlarvung der Provisorischen Regierung statt der unzulässigen, Illusionen erweckenden ‘Forderung’, diese Regierung, die Regierung der Kapitalisten, solle aufhören, imperialistisch zu sein.

4. Anerkennung der Tatsache, daß unsere Partei in den meisten Sowjets der Arbeiterdeputierten in der Minderheit, vorläufig sogar in einer schwachen Minderheit ist gegenüber dem Block aller kleinbürgerlichen opportunistischen Elemente, die dem Einfluß der Bourgeoisie erlegen sind und diesen Einfluß in das Proletariat hineintragen – von den Volkssozialisten und Sozialrevolutionären bis zum Organisationskomitee (Tschcheidse, Zereteli usw.), Steklow usw. usf.

Aufklärung der Massen darüber, daß die Sowjets der Arbeiterdeputierten die einzig mögliche Form der revolutionären Regierung sind und daß daher unsere Aufgabe, solange sich diese Regierung von der Bourgeoisie beeinflussen läßt, nur in geduldiger, systematischer, beharrlicher, besonders den praktischen Bedürfnissen der Massen angepaßter Aufklärung über die Fehler ihrer Taktik bestehen kann.

Solange wir in der Minderheit sind, besteht unsere Arbeit in der Kritik und Klarstellung der Fehler, wobei wir gleichzeitig die Notwendigkeit der Übergangs der gesamten Staatsmacht an die Sowjets der Arbeiterdeputierten propagieren, damit die Massen sich durch die Erfahrung von ihren Irrtümern befreien.

5. Keine parlamentarische Republik – von den Sowjets der Arbeiterdeputierten zu dieser zurückzukehren wäre ein Schritt rückwärts –, sondern eine Republik der Sowjets der Arbeiter, Landarbeiter- und Bauerndeputierten im ganzen Land, von unten bis oben.

Abschaffung der Polizei, der Armee, der Beamtenschaft.

Entlohnung aller Beamten, die durchweg wählbar und jederzeit absetzbar sein müssen, nicht über den Durchschnittslohn eines guten Arbeiters hinaus.

6. Im Agrarprogramm Verlegung des Schwergewichts auf die Sowjets der Landarbeiterdeputierten.

Konfiskation aller Gutbesitzerländereien.

Nationalisierung des gesamten Bodens im Lande; die Verfügungsgewalt über den Boden liegt in den Händen der örtlichen Sowjets der Landarbeiter- und Bauerndeputierten. Bildung besonderer Sowjets von Deputierten der armen Bauern. Schaffung von Musterwirtschaften aus allen großen Gütern (im Umfang von etwa 100 bis 300 Desjatinen, je nach den örtlichen und sonstigen Verhältnissen und nach dem Ermessen der örtlichen Institutionen) unter Kontrolle der Landarbeiterdeputierten und für Rechnung der Gesellschaft.

7. Sofortige Verschmelzung aller Banken des Landes zu einer Nationalbank und Errichtung der Kontrolle über die Nationalbank durch den Sowjet der Arbeiterdeputierten.

8. Nicht ‘Einführung’ des Sozialismus als unsere unmittelbare Aufgabe, sondern augenblicklich nur Übergang zur Kontrolle über die gesellschaftliche Produktion und die Verteilung der Erzeugnisse durch den Sowjet der Arbeiterdeputierten.

9. Aufgaben der Partei:

a) sofortige Einberufung des Parteitags;

b) Änderung der Parteiprogramms, in der Hauptsache in folgenden Punkten:

1. Imperialismus und imperialistischer Krieg;

2. Stellung zum Staat und unsere Forderung eines ‘Kommunestaates’;

3. Berichtigung des veralteten Minimalprogramms;

c) Änderung des Namens der Partei.

10. Erneuerung der Internationale.

Initiative zur Gründung einer revolutionären Internationale, einer Internationale gegen die Sozialchauvinisten und gegen das ‘Zentrum’."

 

 

 

Der Kampf für die Umbewaffnung der Partei – der Beweis der marxistischen Methode

Zalewski, Mitglied des bolschewistischen Zentralkomitees, faßte die Reaktion auf die Thesen Lenins in der Partei und der Arbeiterbewegung folgendermaßen zusammen: "Die Thesen Lenins hatten die Wirkung einer explodierenden Bombe." Die anfängliche Reaktion war Ungläubigkeit, und ein Regen von Verdrehungen prasselte auf Lenin nieder: Er sei zu lange im Exil gewesen und habe so den Kontakt mit der Russischen Revolution verloren, seine Ansichten über die Perspektive der Revolution seien in den "Trotzkismus" abgeglitten und seine Position über die Machtergreifung durch die Sowjets stelle einen Schritt zurück zum Blanquismus, Abenteurertum und Anarchismus dar. Goldberg, ein früheres Mitglied des bolschewistischen Zentralkomitees, nun außerhalb der Partei, äußerte sich dazu folgendermaßen: "Während einigen Jahren war der Platz von Bakunin in der Russischen Revolution unbesetzt; nun ist er von Lenin eingenommen worden." Kamenew sah in den Auffassungen Lenins für die Bolschewiki gar eine Behinderung, als Massenpartei zu funktionieren, indem er ihre Rolle auf eine "Gruppe von kommunistischen Propagandisten reduziere".

Dies war nicht das erste Mal, daß sich die "alten Bolschewiki" im Namen des Leninismus an alten Formeln festklammerten. Schon 1905 stützte sich die anfängliche Reaktion der Bolschewiki gegenüber dem Auftauchen der Räte auf eine mechanische Interpretation von Lenins Kritik am Spontaneismus in "Was Tun?". Die Parteileitung hatte den Petrograder Sowjet sogar aufgefordert, sich der Partei zu unterwerfen oder sich aufzulösen. Lenin hatte als einer der Ersten die Bedeutung der Räte als Organ der proletarischen Macht verstanden und jene Auffassungen kategorisch verworfen. Er bestand darauf, sich nicht die Frage "Sowjet oder Partei" zu stellen, sondern "Sowjet und Partei", da sie beide eine sich gegenseitig ergänzende Rolle haben. Schon damals hatte Lenin diesen "Leninisten" eine Lehre über die marxistische Methode erteilt, indem er ihnen aufzeigte, daß der Marxismus das Gegenteil eines toten Dogmas ist, sondern eine wissenschaftliche und lebendige Theorie, welche dauernd im Laboratorium der sozialen Bewegung bestätigt wird. Die Aprilthesen sind ein Beispiel der Fähigkeit des Marxismus, überholte Auffassungen im Lichte des Klassenkampfes auszusondern, anzupassen, zu verbessern und zu bereichern: "Jetzt gilt es, sich die unbestreitbare Wahrheit zu eigen zu machen, daß der Marxist mit dem lebendigen Leben, mit den exakten Tatsachen der Wirklichkeit rechnen muß, statt sich an die Theorie von gestern zu klammern, die, wie jede Theorie, bestenfalls nur das Grundlegende, Allgemeine aufzeigt und die Kompliziertheit des Lebens nur annähernd erfaßt. ‘Grau, treuer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldener Baum.’" Und im selben Brief warnte Lenin, "es jenen ‘alten Bolschewiki’ gleichzutun, die schon mehrmals eine traurige Rolle in der Geschichte unserer Partei gespielt haben, indem sie sinnlos eine auswendig gelernte Formel wiederholt haben, anstatt die Eigenart der neuen, der lebendigen Wirklichkeit zu studieren."

Für Lenin bestand die "Demokratische Diktatur" in den Deputiertenräten der Arbeiter und Bauern und war somit zu einer veralteten Formel verkommen. Die wichtigste Aufgabe der Bolschewiki war nun das Vorwärtsstoßen der proletarischen Dynamik innerhalb dieser breiten sozialen Bewegung in Richtung eines Kommune-Staates in Rußland, als erster Meilenstein der sozialistischen Weltrevolution. Man kann sich über die Bemühungen Lenins, die Ehre der alten Formeln zu retten, streiten, aber das Wesentliche in seinen Bemühungen war die Fähigkeit, die Zukunft der Bewegung zu sehen und daraus mit veralteten Methoden zu brechen.

Die marxistische Methode ist nicht nur dialektisch und dynamisch, sie ist auch global, sie stellt jede Teilfrage in einen internationalen und historischen Rahmen. Und genau dies erlaubte Lenin, den wirklichen Sinn der Ereignisse zu erkennen. Seit 1914 hatten die Bolschewiki mit Lenin an der Spitze und im Bewußtsein der Dekadenz des Kapitalismus und der angebrochenen Etappe der proletarischen Weltrevolution, die konsequenteste internationalistische Haltung gegen den imperialistischen Krieg verteidigt. Dies war der Dreh- und Angelpunkt der Position der "Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg", die Lenin gegen alle Variationen des Chauvinismus und Pazifismus verteidigte. Sich immer eng an dieser Analyse orientierend, verfiel Lenin nie der Idee, daß die Beteiligung an der Macht der Provisorischen Regierung den imperialistischen Charakter des Krieges verändern würde, und er hielt sich in seinen Kritiken gegenüber denjenigen Bolschewiki, welche diesem Irrtum verfallen waren, nicht zurück: "Die "Prawda" fordert von der Regierung, sie solle auf Annexionen verzichten. Von einer Regierung der Kapitalisten verlangen, sie soll auf Annexionen verzichten – ist Unsinn, schreiender Hohn..."

Die Unnachgiebigkeit in der Verteidigung der internationalistischen Haltung gegenüber dem Krieg war eine Notwendigkeit, um das opportunistische Abgleiten der Partei zu verhindern. Es war aber auch Ausgangspunkt zur theoretischen Liquidierung der Formel der "Demokratischen Diktatur" und aller anderen menschewistischen Rechtfertigungen zur Unterstützung der Bourgeoisie. Das Argument, das rückständige Rußland sei für den Sozialismus noch nicht reif, beantwortete Lenin als wahrer Internationalist in der These Nr. 8: "Nicht die "Einführung" des Sozialismus als unsere unmittelbare Aufgabe, sondern augenblicklich nur Übergang zur Kontrolle über die gesellschaftliche Produktion und die Verteilung der Erzeugnisse durch den Sowjet der Arbeiterdeputierten."

Rußland alleine war für den Sozialismus nicht reif, doch der imperialistische Krieg hatte gezeigt, daß der Kapitalismus weltweit wahrlich mehr als nur reif war. Daher bei der Ankunft im Finnländischen Bahnhof auch der Appell Lenins an die Arbeiter, bei der Machtübernahme als eine Vorhut der internationalen proletarischen Armee zu handeln – daher auch der Aufruf zu einer neuen Internationale am Ende der Aprilthesen. Und für Lenin, wie für alle wahrhaften Internationalisten von damals, war die Weltrevolution nicht nur einfach ein heiliges Gelübde, sondern eine konkrete Perspektive, die sich aus der internationalen proletarischen Revolte gegen den Krieg entwickelte, aus den Streiks in England und Deutschland, den politischen Demonstrationen, den Meutereien und Verbrüderungen in den Armeen der wichtigsten Länder und der revolutionären Springflut in Rußland selbst. Diese Perspektive, zum damaligen Zeitpunkt noch embryonal, sollte sich nach dem Oktoberaufstand durch die Ausbreitung der revolutionären Welle auf Italien, Ungarn, Österreich und vor allem Deutschland voll und ganz bestätigen.

 

 

 

 

Lenins "Anarchismus"

Die Verteidiger des "orthodoxen" Marxismus unterstellten Lenin blanquistische und anarchistische Auffassungen zur Frage der Machtergreifung und des Charakters des nachrevolutionären Staates. Blanquistisch, weil er angeblich für einen Staatsstreich durch eine Minderheit eintrete – entweder durch die alleine agierenden Bolschewiki oder das Industrieproletariat unter Ausschluß der bäuerlichen Mehrheit. Bakunistisch deshalb, weil die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie eine Konzession an die unpolitischen Vorurteile der Anarchisten und Anarchosyndikalisten sei.

In seinen "Briefen über die Taktik" verteidigte Lenin die Aprilthesen gegen die erste Anschuldigung: "Ich habe mich in meinen Thesen entschieden von jedem Überspringen der noch nicht überwundenen bäuerlichen oder überhaupt kleinbürgerlichen Bewegung, von jedem Spiel mit der "Machtergreifung" durch eine Arbeiterregierung, von jedem blanquistischen Abenteuer abgegrenzt, denn ich habe direkt auf die Erfahrungen der Pariser Kommune verwiesen. Diese Erfahrungen haben aber bekanntlich, wie Marx 1871 und Engels 1891 eingehend nachgewiesen haben, gezeigt, daß für Blanquismus kein Platz war, sie haben klar gezeigt, daß die direkte, unmittelbare, unbedingte Herrschaft der Mehrheit und die Aktivität der Massen nur in dem Maße gesichert waren, wie die Mehrheit selbst bewußt auftrat.

In Bezug auf die anarchistischen Positionen über den Staat unterstrich Lenin im April, wie er es in ausführlicher Art und Weise schon in "Staat und Revolution" gemacht hatte, daß die "orthodoxen" Marxisten mit Kautsky und Plechanov an der Spitze die wahren Lehren von Marx und Engels unter einem Haufen von parlamentarischen Verwünschungen begraben hatten. Die Erfahrung der Kommune hatte gezeigt, daß die Aufgabe des Proletariats in der Revolution nicht die Bemächtigung des alten Staates ist, sondern seine Zerstörung in Grund und Boden, und sie hatte gezeigt, daß das neue Instrument der proletarischen Macht, der Kommune-Staat, nicht auf den Prinzipien der parlamentarischen Repräsentation beruht, die nichts anderes als eine Fassade zur Verschleierung der Macht der Bourgeoise ist, sondern auf direkten Mandaten und der jederzeitigen Abwählbarkeit durch die bewaffneten und selbstorganisierten Massen. Durch die Bildung der Sowjets haben die Erfahrung von 1905 und die 1917 aufflammende Revolution diese Perspektive nicht nur bestätigt, sondern um vieles bereichert. Wenn die Pariser Kommune noch einen "volkstümlichen" Charakter hatte, in der alle ausgebeuteten Klassen der Gesellschaft gleich beteiligt waren, so hatten nun die Sowjets einen höherstehenden Charakter, da sie dem Proletariat erlaubten, sich eigenständig und klassenautonom innerhalb der ganzen Massenbewegung zu organisieren. In ihrer Gesamtheit stellten die Sowjets schließlich einen neuen Staat dar, mit einer anderen Qualität als der alte bürgerliche Staat, aber trotzdem noch einen Staat. Hier unterschied sich Lenin auf klarste Art und Weise vom Anarchismus: "...denn der Anarchismus ist die Verneinung der Notwendigkeit des Staates und der Staatsmacht für die Epoche des Übergangs von der Herrschaft der Bourgeoisie zur Herrschaft des Proletariates. Ich aber trete mit einer Bestimmtheit, die jede Möglichkeit eines Mißverständnisses ausschließt, für die Notwendigkeit des Staates in dieser Epoche ein, jedoch – in Übereinstimmung mit Marx und mit den Erfahrungen der Pariser Kommune – nicht des gewöhnlichen bürgerlich-parlamentarischen Staates, sondern eines Staates ohne stehendes Heer, ohne eine gegen das Volk gerichtete Polizei, ohne eine über das Volk gestellte Beamtenschaft.

Wenn Herr Plechanov in seinem "Jedinstwo" aus Leibeskräften über Anarchismus zetert, so ist das nur ein weiterer Beweis für seinen Bruch mit dem Marxismus."

 

Die Rolle der Partei in der Revolution

Die Anschuldigung, Lenin habe einen blanquistischen Staatsstreich geplant, hängt eng mit dem Irrglauben zusammen, sein Ziel sei lediglich die Machtergreifung der eigenen Partei gewesen. Dies war denn auch eine der Hauptachsen der bürgerlichen Propaganda nach der Russischen Revolution. Es wurde behauptet, in Rußland handle es sich um nichts anderes als um einen bolschewistischen Staatsstreich. Wir wollen hier nicht auf alle Einzelheiten und Schattierungen dieser Verdrehungen eingehen. In seinem Buch "Die Geschichte der Russischen Revolution" lieferte schon Trotzki demgegenüber eine der treffendsten Antworten, indem er aufzeigte, daß es nicht die bolschewistische Partei, sondern die Sowjets waren, die im Oktober 1917 die Macht übernommen hatten. Eines der Hauptargumente all dieser Auffassungen ist jedoch immer wieder, die Positionen Lenins zur Partei als einer einheitlichen und stark zentralisierten Organisation führe unweigerlich zu einem Putsch einer Minderheit wie angeblich 1917, zum "Roten Terror" und schließlich zum Stalinismus.

Wie schon erwähnt, hat diese Auseinandersetzung ihre Wurzeln in der Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki, doch ist hier nicht der Platz, alle Einzelheiten dieser entscheidenden Epoche neu aufzurollen. Lenins Auffassungen über die revolutionäre Organisation wurden damals als jakobinerhaft, elitär, militaristisch oder gar terroristisch verunglimpft. Selbst herausragende Marxisten, unter ihnen Rosa Luxemburg und Trotzki, übten Lenin gegenüber solche Kritik. Wir streiten nicht ab, daß die damaligen Auffassungen Lenins über die Organisationsfragen Fehler enthielten, so zum Beispiel 1902 die Wiederaufnahme von Kautskys These, nach der das Bewußtsein von außen in die Arbeiterklasse hineingetragen werden müsse, oder seine Auffassungen zum Verhältnis zwischen Partei und Staat. Aber ganz im Gegenteil zu den Menschewiki von damals und ihren anarchistischen, sozialdemokratischen und rätistischen Nachfolgern, stellen für uns diese Fehler keinesfalls das Entscheidende dar, so wie auch die Fehler, die während der Pariser Kommune oder der Russischen Revolution begangen wurden, nicht der Kernpunkt für die Analyse darstellen. Das Entscheidende ist der Kampf, den Lenin in seinem ganzen Leben für den Aufbau der revolutionären Organisation geführt hat und dessen historische Bedeutung innerhalb der Arbeiterbewegung. Lenin legte gerade auch für die Revolutionäre von heute unersetzbare Grundlagen zum Verständnis der internen Funktionsweise der Organisation und ihrer Rolle, die sie innerhalb der Klasse einnimmt.

Die "engherzige" Organisationsauffassung der Bolschewiki, die Lenin der menschewistischen "Offenherzigkeit" gegenüberstellte, war nicht, wie viele oberflächliche Analysen behaupten, nur ein Produkt der Bedingungen, welche die zaristische Repression setzte. Gleich wie die Massenstreiks und revolutionären Erhebungen 1905 nicht das letzte Echo der bürgerlichen Revolutionen des neunzehnten Jahrhunderts waren, sondern die aufkommende Perspektive des Klassenkampfes im dekadenten Kapitalismus aufzeichneten, so waren auch die bolschewistischen Vorstellungen einer Partei aus entschlossenen Revolutionären mit einem klaren Programm und zentralisierter Funktionsweise ein weitsichtiges Begreifen der Rolle und Struktur der Partei unter den Bedingungen des dekadenten Kapitalismus, der Epoche der proletarischen Revolution. Die Menschewiki orientierten sich in ihren Organisationsauffassungen nicht, wie viele Anti-Bolschewiki behaupteten, an westlichen Organisationsmodellen, sondern vor allem an der überholten Vergangenheit sozialdemokratischer Massenparteien, welche die Klasse vereinigten und vor allem auf parlamentarischer Ebene repräsentierten. Und ganz im Gegensatz zu allen Anschuldigungen, nach denen die Bolschewiki in die archaischen, rückständigen Umstände Rußlands verwickelt gewesen seien, und deshalb zu einem konspirativen Organisationsmodell gegriffen hätten, waren es die Bolschewiki, die vorwärts blickten, vorwärts in eine turbulente revolutionäre Periode, welche nicht durch eine Partei organisiert, geplant oder einverleibt werden konnte. Eine Periode jedoch, welche die Rolle der Partei wie nie zuvor umrissen hat: "Verlassen wir nämlich das pedantische Schema eines künstlich von Partei und Gewerkschafts wegen kommandierten demonstrativen Massenstreiks der organisierten Minderheit und wenden wir uns dem lebendigen Bilde einer aus äußerster Zuspitzung der Klassengegensätze und der politischen Situation mit elementarer Kraft entstehenden wirklichen Volksbewegung zu, (...) so muß offenbar die Aufgabe der Sozialdemokratie nicht in der technischen Vorbereitung und Leitung des Massenstreiks, sondern vor allem in der politischen Führung der ganzen Bewegung bestehen."

Mit diesen Worten beschrieb Rosa Luxemburg in ihrer herausragenden Analyse die Bedeutung des Massenstreiks und die neuen Bedingungen des internationalen Klassenkampfes. Rosa Luxemburg, welche 1903, zur Zeit der Spaltung innerhalb der russischen Sozialdemokratie, noch eine der bissigsten Kritiken an Lenin geübt hatte, stimmte nun mit den grundlegenden Elementen der bolschewistischen Organisationsauffassung überein.

Mit größter Klarheit sind diese wichtigsten Eckpfeiler in den Aprilthesen umrissen, diese verwerfen jegliche Auffassung einer "Revolution von oben": "Solange wir in der Minderheit sind, besteht unsere Arbeit in der Kritik und Klarstellung der Fehler, wobei wir gleichzeitig die Notwendigkeit des Übergangs der gesamten Staatsmacht an die Sowjets der Arbeiterdeputierten propagieren, damit die Massen sich durch die Erfahrungen von ihren Irrtümern befreien." Diese Arbeit der "geduldigen, systematischen und beharrlichen Aufklärung" ist haargenau die Rolle einer politischen Führung in einer revolutionären Periode. Der Aufstand im Oktober 1917 wäre unmöglich gewesen ohne die vorangegangene Übernahme der revolutionären bolschewistischen Positionen durch die Sowjets. Doch bevor dies möglich war, stand der Sieg von Lenins Positionen innerhalb der bolschewistischen Partei auf der Tagesordnung, und dies bedingte einen langen und kompromißlosen Kampf, der mit Lenins Ankunft in Rußland begonnen hatte.

"Wir sind keine Scharlatane, wir stützen uns lediglich auf das Bewußtsein der Massen."

Diese Rolle genügte den "alten Bolschewiki", welche "handfestere" Pläne hatten, nicht. Sie wollten sich an der existierenden "bürgerlichen Revolution" beteiligen und erstrebten wie früher einen massiven Einfluß der bolschewistischen Partei in den Massen. Wie die Worte Kamenews zeigen, waren sie entsetzt über den Gedanken, daß die Partei mit ihren "reinen" Positionen in der Ecke verharren müsse, reduziert auf eine "Gruppe von propagandistischen Kommunisten".

Für Lenin war es keine Kunst, diese Positionen bloßzustellen, hatten doch die Chauvinisten nicht schon dieselben Argumente zu Beginn des Krieges gegenüber den Internationalisten ins Feld geführt und behauptet, sie würden den Kontakt mit den Massen aufrechterhalten, während sie die Bolschewiki und Spartakisten als marginale Sekten bezeichneten. Nun dieselben Argumente aus dem Munde eines bolschewistischen Genossen zu hören war verwirrend, doch dies stumpfte die Schärfe von Lenins Antwort keinesfalls ab: "Genosse Kamenew stellt die ‘Partei der Massen’ einer ‘Gruppe von Propagandisten’ entgegen. Aber die ‘Massen’ sind ja gerade jetzt dem Taumel der ‘revolutionären’ Vaterlandsverteidigung erlegen. Ist es in einem solchen Augenblick nicht auch für die Internationalisten geziemender, dem ‘Massen’taumel zu widerstehen, als bei den Massen ‘bleiben zu wollen’, d.h. Opfer der allgemeinen Seuche zu werden? Haben wir nicht in allen kriegführenden europäischen Ländern gesehen, wie die Chauvinisten sich damit zu rechtfertigen suchten, daß es ihr Wunsch sei, ‘bei den Massen zu bleiben’? Müssen wir es nicht verstehen, eine gewisse Zeit lang gegen den ‘Massen’taumel in der Minderheit zu sein? Ist es den nicht die Arbeit eben der Propagandisten gerade im gegenwärtigen Augenblick der Angelpunkt, um die proletarische Linie frei zu machen von dem kleinbürgerlichen ‘Massen’taumel der Vaterlandsverteidigung? Gerade das Ineinanderfliessen der Massen, der proletarischen wie der nichtproletarischen, ungeachtet der Klassenunterschiede innerhalb der Massen, war eine Voraussetzungen der Vaterlandsverteidigungspsychose. Es ist wahrlich wenig angebracht, verächtlich von einer ‘Gruppe von Propagandisten’ der proletarischen Linie zu reden."

Dieser Wille gegen den Strom zu schwimmen und in der Minderheit zu sein, um die Klassenprinzipien klar und präzise zu verteidigen, hatte nichts puritanisches oder sektiererisches an sich. Im Gegenteil basierte er auf einem Verständnis der wirklichen Bewegung innerhalb der Klasse und auf der Fähigkeit, den fortgeschrittensten Elementen des Proletariates eine Richtung und Orientierung zu geben.

Trotzki zeigte auf, wie Lenin auf dem Weg zur Eroberung der Partei für seine Positionen und die Verteidigung der "proletarischen Linie" innerhalb der gesamten Klasse die Unterstützung dieser Elemente suchte: "Gegen die alten Bolschewiki fand Lenin in einer anderen, bereits gestählten, aber frischeren und mehr in den Massen verbundenen Parteischicht eine Stütze. In der Februarrevolution hatten die bolschewistischen Arbeiter, wie wir wissen, eine entscheidende Rolle gespielt. Sie betrachteten es als selbstverständlich, daß jene Klasse die Macht übernehmen müsse, die den Sieg errungen hatte. Diese Arbeiter hatten stürmisch gegen den Kurs Kamenew-Stalin protestiert und der wyborger Bezirk sogar mit dem Ausschluß der "Führer" aus der Partei gedroht. Das gleiche war in der Provinz zu beobachten. Fast überall gab es linke Bolschewiki, die man des Maximalismus und sogar des Anarchismus beschuldigte. Den revolutionären Arbeitern mangelten nur die theoretischen Mittel, um ihre Positionen zu verteidigen. Doch waren sie bereit, den ersten Zuruf mit Widerhall zu beantworten."

Die Fähigkeit Lenins, die wirkliche Dynamik innerhalb der sozialen Bewegung zu erkennen, ist ein weiteres Beispiel der Bereicherung der marxistischen Methode. Später, in den Zwanzigerjahren, griff Lenin selbst auf das Argument "innerhalb der Massen" zu bleiben zurück, um die "Einheitsfront" und die organisatorische Vereinigung mit den zentristischen Organisationen zu rechtfertigen; Zeichen eines Verlustes über das Verständnis der marxistischen Methode und Abgleitens der Partei in den Opportunismus. Doch dies war das Resultat der Isolierung der Russischen Revolution und der Fusion der Bolschewiki mit dem Staat. Während der aufsteigenden Phase der Russischen Revolution war Lenin mit seinen Aprilthesen nie ein isolierter Prophet, nie ein Weltverbesserer unter den vulgären Massen, sondern die klarste Stimme der revolutionärsten Tendenz innerhalb des Proletariates. Eine Stimme, welche mit höchster Präzision den Weg aufzeigte der zum Oktoberaufstand führte. Amos.

 

 

 

Zu Beginn der Revolution hatte das Proletariat die Macht der Bourgeoisie abgegeben, eine Tatsache, die keinen Marxisten überraschen darf, "denn wir haben es stets gewußt und viele Male darauf hingewiesen, daß die Bourgeoisie sich nicht nur mittels der Gewalt hält, sondern auch infolge der mangelnden Bewußtheit der Massen, ihrer Unfähigkeit, vom Althergebrachten loszukommen, ihrer Verschüchterung, ihrer Unorganisiertheit." Somit war die Hauptaufgabe der Bolschewiki die Entwicklung des Klassenbewußtsein und die Organisierung der Arbeitermassen.

 

 

Ich haben in den Thesen mit größter Bestimmtheit den Kampf um den Einfluß innerhalb der Sowjets der Arbeiter-, Landarbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten in den Mittelpunkt gestellt. Um auch nicht den leisesten Zweifel in dieser Beziehung aufkommen zu lassen, habe ich in den Thesen zweimal die Notwendigkeit der geduldigen, beharrlichen, ‘den praktischen Bedürfnissen der Massen angepaßten’ ‘Aufklärungs’arbeit betont."

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1917 - Russische Revolution [21]

Rubric: 

100 Jahre Russische Revolution

Der Haager Kongreß von 1872: Der Kampf gegen den politischen Parasitismus

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In den ersten beiden Teilen dieser Reihe haben wir Ursprung und Entwicklung der Allianz Bakunins und die Art und Weise aufgezeigt, wie die Bourgeoisie diese Sekte als eine Kampfmaschine gegen die Erste Internationale unterstützte und manipulierte. Wir haben gesehen, daß für Marx, Engels und all die gesunden proletarischen Elemente in der Internationalen die Verteidigung der Funktion der Klassenprinzipien der Arbeiter im Kampf gegen den organisierten Anarchismus absolute Priorität besaß. In diesem Artikel werden wir die Lehren aus dem Haager Kongreß ziehen, einem der wichtigsten Momente im Kampf des Marxismus gegen den politischen Parasitismus. Sozialistische Sekten, die keinen Platz mehr fanden in der zwar jungen, aber sich entwickelnden Arbeiterbewegung, begannen, ihre Hauptaktivität dafür zu verwenden, nicht die Bourgeoisie, sondern die revolutionären Organisationen selbst zu bekämpfen. All diese parasitären Elemente scharten sich, trotz ihrer eigenen Divergenzen, um Bakunin, der versuchte, die Internationale zu zerstören.

 

 

Die Aufgaben der Revolutionäre nach der Pariser Kommune

Der Haager Kongreß der Ersten Internationale 1872 ist einer der bekanntesten Kongresse in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Auf diesem Kongreß fand der historische „Showdown" zwischen Marxismus und Anarchismus statt. Dieser Kongreß stellte einen entscheidenden Schritt bei der Überwindung der sektiererischen Phase dar, die die frühen Tage der Arbeiterbewegung gekennzeichnet hatte. In Den Haag wurde der Grundstein zur Überwindung der Spaltung zwischen den sozialistischen Organisationen auf der einen und den Massenbewegungen des proletarischen Klassenkampfes auf der anderen Seite gelegt. Der Kongreß verurteilte strikt die kleinbürgerliche anarchistische „Ablehnung der Politik" ebenso wie ihre Zurückhaltung gegenüber den täglichen Verteidigungskämpfen der Klasse. Vor allem erklärte er, daß die Emanzipation des Proletariats seine Organisierung als autonome politische Klassenpartei erfordert, die in Opposition zu all den Parteien der besitzenden Klassen steht (Resolution über die Statuten, Haager Kongreß).

Es war kein Zufall, daß diese Fragen zu jenem Zeitpunkt behandelt wurden. Den Haag war der erste internationale Kongreß, der der Niederlage der Pariser Kommune 1871 folgte. Er fand statt angesichts einer internationalen Welle des reaktionären Terrors, der nach dieser Niederlage auf die Arbeiterklasse niederging. Die Pariser Kommune hat den politischen Charakter des proletarischen Klassenkampfes aufgezeigt. Sie hat der revolutionären Klasse die Notwendigkeit gezeigt, ihre Konfrontation mit dem bürgerlichen Staat zu organisieren, ihre Fähigkeit, so zu verfahren, ihre historische Neigung, diesen Staat zu zerstören und ihn durch die Diktatur des Proletariats zu ersetzen, die Vorbedingung des Sozialismus. Die Ereignisse in Paris bewiesen der Arbeiterklasse, daß der Sozialismus nicht durch Experimente mit Kooperativen des proudhonistischen Typs, nicht durch Pakte mit der herrschenden Klasse, wie sie die Lassalleaner propagierten, oder durch die verwegene Aktion einer begrenzten Minderheit, die der Blanquismus befürwortete, errungen werden kann. Vor allem bewies die Pariser Kommune all den wahren proletarischen Revolutionären, daß die sozialistische Revolution keine Orgie von Anarchie und Zerstörung ist, sondern ein zentralisierter, organisierter Prozeß. Und daß der Aufstand der Arbeiter nicht zur sofortigen „Abschaffung" von Klassen, Staat und „Autorität" führt, sondern zwingend die Autorität der Diktatur des Proletariats erfordert. Mit anderen Worten, die Pariser Kommune bekräftigte vollkommen die Position des Marxismus und bewies die totale Falschheit der „Theorien" der Bakunisten.

In der Tat vergegenwärtigten sich zur Zeit des Haager Kongresses die besten Repräsentanten der Arbeiterklasse, daß das Gewicht der Proudhonisten, Blanquisten, Bakunisten und anderer Sektierer innerhalb der Führung des Aufstands die grundsätzliche politische Schwäche der Kommune gewesen war. Damit verknüpft war die Unfähigkeit der Internationalen, die Ereignisse in Paris in der zentralisierten und koordinierten Manier einer Klassenpartei zu beeinflussen

Daher wurde es nach dem Fall der Pariser Kommune zur absoluten Priorität der Arbeiterbewegung, den Ballast ihrer eigenen sektiererischen Vergangenheit abzuschütteln, den Einfluß des kleinbürgerlichen Sozialismus zu überwinden.

Dieser politische Rahmen erklärte die Tatsache, daß die zentrale Frage, die auf dem Haager Kongreß behandelt wurde, nicht die Pariser Kommune selbst war, sondern die Verteidigung der Statuten der Internationale gegen die Komplotte Bakunins und seiner Anhänger. Durch diese Tatsache verblüfft, schließen bürgerliche Historiker daraus, daß dieser Kongreß selbst Ausdruck des Sektierertums sei, da es die Internationale „vorzog", sich mit sich selbst zu befassen, statt mit den Resultaten eines Klassenkampfes von internationaler Bedeutung. Was die Bourgeoisie nicht begreifen kann, ist, daß die Verteidigung der politischen und organisatorischen Prinzipien des Proletariats, die Eliminierung kleinbürgerlicher Theorien und organisatorischer Verhaltensweisen aus ihren Reihen die notwendige Antwort der Revolutionäre auf die Pariser Kommune war.

So kamen die Delegierten nach Den Haag, nicht nur um die internationale Repression und Verleumdungen gegen die Assoziation abzuwehren, sondern auch und vor allem um die Angriffe gegen die Organisation von innen zurückzuschlagen. Diese inneren Angriffe wurden von Bakunin angeführt, der nun offen zur Abschaffung des organisierten Zentralismus, zur Nichtachtung der Statuten, zur Nichtzahlung der Mitgliedsbeiträge an den Generalrat und zur Ablehnung des politischen Kampfes aufrief. Vor allem widersetzte er sich allen Entscheidungen der Londoner Konferenz von 1871, die, indem sie die Lehren aus der Pariser Kommune zog, die Notwendigkeit für die Internationale verteidigte, die Rolle der Klassenpartei zu übernehmen. Auf organisatorischer Ebene rief diese Konferenz den Generalrat dazu auf, ohne Zögern seine Aufgabe der Zentralisierung anzunehmen, indem er die Einheit der Internationale zwischen den Kongressen verkörpert. Und sie verurteilte die Existenz von Geheimgesellschaften innerhalb der Internationalen, wobei sie die Vorbereitung eines Berichts über die skandalösen Aktivitäten von Bakunin und Netschajew in Rußland im Namen der Internationalen in Auftrag stellte.

Bakunins Arroganz bestand zum Teil im Versuch, der Aufdeckung seiner Aktivitäten gegen die Internationale unverfroren die Stirn zu bieten. Vor allem aber gründete sie sich auf eine strategische Kalkulation. Die Allianz kalkulierte damit, die Schwächung und Desorientierung großer Teile der Organisation nach der Niederlage der Pariser Kommune mit dem Ziel auszunutzen, die Internationale vor den Augen der gesamten Welt auf dem Haager Kongreß zu zertrümmern. Im Sonvilliers-Rundschreiben, das an alle Sektionen gesandt wurde, war Bakunins Angriff gegen die „Diktatur des Generalrats" enthalten, der geschickt darauf abzielte, alle kleinbürgerlichen Elemente zu sammeln, die sich durch die gründliche Proletarisierung der organisatorischen Methoden der Internationalen bedroht fühlten, welche von deren Zentralorganen befürwortet wurden. In der bürgerlichen Presse wurden lange Auszüge des Sonvilliers-Rundschreibens unter dem Titel „Das Monster Internationale enthüllt sich selbst" veröffentlicht. „In Frankreich, wo alles, was auf irgendeine Weise mit der Internationalen verbunden war, wütend verfolgt wurde, wurde es an die Häuser angeschlagen".

Das Bündnis zwischen Parasitismus und herrschenden Klassen

Allgemeiner ausgedrückt, war nicht nur die Pariser Kommune, sondern auch die Gründung der Internationalen selbst Ausdruck ein und desselben historischen Prozesses. Das Wesen dieses Prozesses bestand in der Reifung des Emanzipationskampfes des Proletariats. Mitte der 1860er hatte die Arbeiterbewegung begonnen, ihre eigenen „Kinderkrankheiten" zu überwinden. Die Lehren aus den Revolutionen von 1848 ziehend, akzeptierte das Proletariat nicht länger die Führung des radikalen Flügels der Bourgeoisie und kämpfte nun darum, seine eigene Klassenautonomie zu etablieren. Diese Autonomie erforderte jedoch, daß das Proletariat innerhalb seiner eigenen Organisationen die Vorherrschaft der Theorien und organisatorischen Konzepte des Kleinbürgertums, der Bohemiens und entwurzelten Elemente etc. überwand.

Daher mußte der Kampf zur Durchsetzung einer proletarischen Vorgehensweise innerhalb seiner Organisationen, der nach der Pariser Kommune eine neue Stufe erklimmen sollte, nicht nur nach außen geführt werden, gegen die Angriffe der Bourgeoisie, sondern auch innerhalb der Internationalen selbst. Innerhalb ihrer Reihen führten die kleinbürgerlichen und entwurzelten Elemente einen erbitterten Kampf gegen die Verhängung dieser proletarischen politischen und organisatorischen Prinzipien, da dies die Eliminierung ihres eigenen Einflusses über die Arbeiterorganisation bedeutete.

In diesem Sinn werden diese Sekten „..., im Anfange Hebel der Bewegung, ... ein Hindernis, sowie diese sie überholt; sie werden dann reaktionär" (Marx, Engels: Die angeblichen Spaltungen in der Internationale, MEW Bd. 18, S. 33/34).

Der Haager Kongreß setzte sich also selbst zum Ziel, die Sabotage der Reifung und Autonomie des Proletariats durch die Sektierer auszumerzen. Einen Monat vor dem Kongreß erklärte der Generalrat in einem Rundschreiben an alle Mitglieder der Internationalen, daß es höchste Zeit sei, ein für allemal die inneren Kämpfe zu beenden, die vom „Vorhandensein dieser parasitären Körperschaft" verursacht worden waren. Und er erklärte: „Indem die Allianz die Tätigkeit der Internationale gegen die Feinde der Arbeiterklasse lähmt, dient sie ausgezeichnet der Bourgeoisie und den Regierungen" (Engels: Der Generalrat an alle Mitglieder der IAA, MEW Bd. 18, S. 121).

Der Haager Kongreß enthüllte, daß die Sektierer, die nicht mehr Hebel der Bewegung, sondern zu Parasiten geworden waren, die auf Kosten der proletarischen Organisationen lebten, sich international organisiert hatten, um ihren Krieg gegen die Internationale zu koordinieren. Eher zogen sie es vor, die Arbeiterpartei zu zerstören, als zu akzeptieren, daß sich das Proletariat von ihrem Einfluß befreit. Es wurde enthüllt, daß der politische Parasitismus sich darauf vorbereitete, eine Allianz mit der Bourgeoisie zu bilden, um zu verhindern, auf dem berühmten „Müllhaufen der Geschichte" zu landen, wohin er gehört. Die Basis dieser Allianz war der gemeinsame Haß gegen das Proletariat, auch wenn dieser Haß nicht denselben Gründen entsprang. Eine der großen Errungenschaften von Den Haag war die Fähigkeit des Kongresses, das Wesen dieses politischen Parasitismus aufzuzeigen, der die Arbeit der Bourgeoisie ausübt und sich am Krieg der besitzenden Klassen gegen die kommunistischen Organisationen beteiligt.

Die Delegierten bereiten sich auf die Konfrontation mit dem Bakunismus vor

Die schriftlichen Erklärungen, die von verschiedenen Sektionen nach Den Haag geschickt wurden, besonders aus Frankreich, wo die Assoziation heimlich arbeitete und viele Delegierte nicht den Kongreß besuchen konnten, zeigten die Stimmung innerhalb der Internationalen am Vorabend des Kongresses. Die Hauptpunkte, die behandelt werden sollten, waren die vorgeschlagene Ausweitung der Macht des Generalrates, die Orientierung zu einer politischen Klassenpartei und die Konfrontation mit Bakunins Allianz und den anderen eklatanten Verletzungen der Statuten.

Marx' Entscheidung, den Kongreß selbst zu besuchen, war nur eines von vielen Zeichen der Entschlossenheit innerhalb der Reihen der Organisation, die verschiedenen innerhalb der Assoziation entwickelten Komplotte, welche sich alle um Bakunins Allianz konzentrierten, aufzudecken und zu zerstören. Diese Allianz, eine verborgene Organisation in der Organisation, war eine Geheimgesellschaft, die entsprechend dem bürgerlichen Modell der Freimaurerei gegründet wurde. Die Delegierten waren sich völlig im klaren, daß hinter diesen sektiererischen Manövern um Bakunin die herrschende Klasse stand.

„Bürger, nie war ein Kongreß ernster und wichtiger als der, deren Tagung euch in Den Haag zusammengebracht hat. Was in der Tat diskutiert wird, wird nicht diese oder jene bedeutsame Frage der Gestalt, dieser oder jener banale Artikel der Statuten sein, sondern das eigentliche Leben der Assoziation.

Schmutzige Hände, besudelt mit republikanischem Blut, haben lange Zeit versucht, Zwietracht unter uns zu säen, wovon lediglich das kriminellste der Ungeheuer, Louis Bonaparte, profitieren würde; Intriganten, die mit Schande aus unserer Mitte ausgestoßen wurden - die Bakunins, Malons, Gaspard Blancs und Richards - versuchen, eine, wir wissen nicht wie geartete, Förderation zu gründen, bestimmt für ihre ehrgeizigen Projekte, die Assoziation zu zerschmettern. Also, Bürger, es ist dieser Keim der Zwietracht, grotesk in seiner Machart, aber gefährlich in seinen dreisten Manövern, der, koste es, was es wolle, zunichte gemacht werden muß. Sein Leben ist unvereinbar mit unserem, und wir können uns auf unsere unnachgiebige Energie stützen, um einen entscheidenden und brillanten Erfolg zu erringen. Seid ohne Mitleid, schlagt zu ohne Zögern, denn solltet ihr euch zurückziehen, solltet ihr euch schwächen lassen, würdet ihr nicht nur für die Katastrophe, die die Assoziation dann erleidet, verantwortlich sein, sondern auch und vor allem für die fürchterlichen Konsequenzen, die dies für die Sache des Proletariats bedeuten würde."

Entgegen der bakunistischen Forderung nach Autonomisierung der Sektionen und nach faktischer Abschaffung des Generalrats, dem Zentralorgan, das die Einheit der Internationalen repräsentierte, erklärten die Pariser Sektionen:

„Wenn ihr behauptet, daß der Rat eine nutzlose Körperschaft ist, daß die Förderationen es auch ohne ihn schaffen, indem sie untereinander korrespondieren (...), dann wird die Internationale Assoziation entstellt. Das Proletariat weicht zurück bis zur Periode der Korporationen (....) Also, wir Pariser erklären, daß wir nicht unser Blut in jeder Generation in Strömen vergossen haben für die Befriedigung engstirniger Interessen. Wir erklären, daß ihr überhaupt nichts über den Charakter und die Mission der Internationalen Assoziation begriffen habt" (Pariser Sektionen: M+D, S. 235).

(Ferré-Sektion, Paris: Minutes and Documents (M+D) of Hague Congress, S. 238; hier und im folgenden Übersetzung aus dem Englischen)

Die Frage der Mandate

Was die Infiltration proletarischer Organisationen durch den politischen Parasitismus konkret bedeuten kann, wird von der Tatsache veranschaulicht, daß von den sechs für den Kongreß (2. - 7. September 1872) veranschlagten Tagen volle zwei Tage der Kontrolle der Mandate gewidmet werden mußten. Mit anderen Worten, es war nicht immer klar, welche Delegierte wirklich ein Mandat und von wem besaßen. In einigen Fällen war es nicht einmal klar, ob Delegierte Mitglieder der Organisation waren, oder ob die Sektionen, die sie geschickt hatten, tatsächlich existierten.

So hatte Serrailler, der Korrespondent für Frankreich im Generalrat, niemals von Sektionen aus Marseilles gehört, die einem Mitglied der Allianz das Mandat verliehen hatten. Noch hatte er jemals Mitgliedsgebühren von ihnen erhalten.

„Darüber hinaus ist er in Kenntnis gesetzt worden, daß kürzlich Sektionen für den Zweck gegründet wurden, Delegierte zum Kongreß zu schicken"

Die Anhänger Bakunins, die sich auf dem Kongreß in der Minderheit befanden, versuchten umgekehrt, verschiedene Mandate anzufechten und verschwendeten dabei erneut Zeit.

Das Mitglied der Allianz, Alerini, beantragte, die Autoren der „Angeblichen Spaltungen" - d.h. den Generalrat - auszuschließen. Ihr Verbrechen: die Verteidigung der Statuten der Organisation. Die Allianz wollte ebenfalls die existierenden Stimmrechte verletzen, indem den Mitgliedern des Generalrates als Delegierte, die ein Mandat von den Sektionen besaßen, das Stimmrecht verboten werden sollte.

Ein anderer Gegner der Zentralorgane, Mottershead, „fragt, warum Barry, der kein Führer in England ist und kein Gewicht hat, nichtsdestotrotz von einer deutschen Sektion zum Kongreß delegiert wurde". Marx erklärte in seiner Entgegnung, daß „für die Glaubwürdigkeit Barrys spricht, daß er nicht einer der sogenannten Führer der englischen Arbeiter ist, da diese Männer von der Bourgeoisie und der Regierung bestochen sind. Barry ist nur deshalb angegriffen worden, weil er sich weigert, Werkzeug in den Händen von Hales zu sein" (M+D, S. 124). Hales und Mottershead unterstützten die anti-organisatorischen Tendenzen in Großbritannien.

Da sie keine Mehrheit hatte, versuchte die Allianz inmitten des Kongresses einen Putsch gegen die Statuten der Internationale - entsprechend ihrer Sichtweise, wonach Statuten immer nur für die anderen da waren, nicht jedoch für die bakunistische Elite.

Im Antrag Nr. 4 des Kongresses brachte die spanische Allianz vor, daß nur die Stimmen jener Delegierten auf dem Kongreß zählen dürfen, die ein „imperatives Mandat" von ihren Sektionen erhielten. Die Stimmen der anderen Delegierten sollten erst dann zählen, nachdem ihre Sektionen über die Anträge des Kongresses diskutiert und abgestimmt hatten. Das Ergebnis wäre gewesen, daß die angenommenen Resolutionen erst zwei Monate nach dem Kongreß in Kraft getreten wären.

Dieser Antrag zielte auf nichts geringeres als auf die Zerstörung des Kongresses als die höchste Instanz der Organisation ab.

Morage kündigte dann an, „daß die Delegierten aus Spanien genaue Anweisungen erhalten haben, sich der Abstimmung zu enthalten, bis die Abstimmung über die Zahl der Wahlmänner, die von jeder Sektion gestellt werden, durchgeführt wird".

Die Antwort von Lafargue wurde im Protokoll aufgezeichnet - „Lafargue stellt fest, daß, obwohl er Delegierter aus Spanien ist, keine solchen Anweisungen erhalten habe". Dies enthüllt das Wesen der Funktionsweise der Allianz. Delegierte verschiedener Sektionen, von denen einige behaupteten, ein „imperatives" Mandat von ihren Sektionen erhalten zu haben, gehorchten in Wirklichkeit den geheimen Anweisungen der Allianz, einer verborgenen alternativen Führung, die gegen den Generalrat und die Statuten opponierte.

Um ihre Strategie zu verstärken, fuhren die Mitglieder der Allianz fort, den Kongreß zu erpressen. Angesichts der Weigerung des Kongresses, seine eigenen Statuten zu brechen, um die spanischen Bakunisten zufriedenzustellen, kündigte die rechte Hand Bakunins, Guillaume, an, „daß von jetzt an die Jura-Förderation nicht mehr an der Abstimmung teilnehmen wird" (M+D, S. 143).

Doch damit nicht genug, es wurden auch noch Drohungen ausgestoßen, den Kongreß zu verlassen.

In seiner Entgegnung auf diese Erpressung „erklärt (der Vorsitzende), daß die Statuten nicht vom Generalrat oder von individuellen Personen gemacht worden sind, sondern von der IAA und ihren Kongressen, und daß daher jeder, der die Statuten angreift, die IAA und ihre Existenz angreift".

Engels hob hervor: „Es ist nicht unser Fehler, daß die Spanier sich in der traurigen Position befinden, außerstande zu sein abzustimmen, noch ist es der Fehler der spanischen Arbeiter, sondern der des spanischen Förderalrates, der durchsetzt ist mit Mitgliedern der Allianz" (M+D, S. 142/143).

Bei der Konfrontation mit der Sabotage durch die Allianz formulierte Engels die Entscheidung, der der Kongreß gegenüberstand.

„Wir müssen uns entscheiden, ob die IAA weiterhin auf demokratischer Basis geführt oder von einer Clique (Zwischenrufe und Proteste bei dem Wort 'Clique') beherrscht werden soll, die heimlich und unter Verletzung der Statuten organisiert ist"

„Ranvier protestiert gegen die Drohung von Splingard, Guillaume und anderer, die Halle zu verlassen, was nur beweist, daß SIE es sind und nicht wir, die IM VORAUS die Frage als zur Diskussion stehend angekündigt hatten; er wünscht sich, daß alle Polizeispitzel auf der Welt sich so verabschieden."

„Wenn Morago soviel über den möglichen Despotismus von Seiten des Generalrates spricht, dann muß er sich vergegenwärtigen, daß seine und seiner Genossen Art zu sprechen, höchst tyrannisch ist, seitdem sie uns mit der Drohung, mit uns zu brechen, zwingen wollen, daß wir uns ihnen ausliefern."

Der Kongreß antwortete auch in der Frage der imperativen Mandate, welche bedeuten, den Kongreß in eine simple Wahlurne zu verwandeln, wo die Delegationen vorgefaßte Stimmen repräsentieren. Es wäre billiger, den Kongreß erst gar nicht abzuhalten und die Stimmen mit der Post zu schicken. Der Kongreß wäre nicht mehr die höchste Instanz der Einheit der Organisation, die ihre Entscheidungen souverän, als eine Körperschaft trifft.

„Serrailler sagt, daß er nicht wie Guillaume und seine Genossen gebunden ist, die sich bereits im voraus über alles eine Meinung gemacht haben, seitdem sie die imperativen Mandate akzeptiert hatten, welche sie dazu zwingen, in bestimmter Weise abzustimmen oder sich zu enthalten."

Die wirkliche Funktion des „imperativen Mandats" in der Strategie der Allianz wurde in Engels Artikel „Die imperativen Mandate auf dem Haager Kongreß" enthüllt.(Engels: Die imperativen Mandate auf dem Haager Kongreß, MEW Bd. 18, S.175)

„Warum bestehen die Allianzisten, diese eingefleischten Feinde jeden Autoritätsprinzips, mit solcher Hartnäckigkeit auf der Autorität der imperativen Mandate? Weil es für eine Geheimgesellschaft wie die ihrige, die im Schoße einer öffentlichen Gesellschaft wie der Internationale besteht, nichts Bequemeres gibt wie das imperative Mandat. Die Mandate der Verbündeten werden alle identisch sein; die der Sektionen, die dem Einfluß der Allianz nicht unterworfen sind oder gegen sie rebellieren, werden einander widersprechen, so daß der Geheimgesellschaft oftmals die absolute Mehrheit und stets die relative Mehrheit gehören wird; währenddessen auf einem Kongreß ohne imperative Mandate der gesunde Verstand der unabhängigen Delegierten diese bald zu einer gemeinsamen Partei gegen die Partei der Geheimgesellschaft vereinen wird. Das imperative Mandat ist ein äußerst wirksames Mittel der Beherrschung, und eben aus diesem Grunde unterstützt die Allianz ungeachtet ihres ganzen Anarchismus dessen Autorität."

 

(Intervention von Lafargue, M+D, S. 153)
(M+D, S. 129)
(M+D, S. 122).
(M+D, S. 124). Der Kongreß mußte darüber abstimmen, ob diese Sektionen existierten oder nicht !

Die Frage der Finanzen: die „Mittel zur Kriegsführung"

Da die Finanzen als materielle Basis der politischen Arbeit für den Aufbau und die Verteidigung der revolutionären Organisation lebenswichtig sind, lag es auf der Hand, daß der Angriff gegen diese Finanzen eines der Hauptmittel zur Untergrabung der Internationalen durch den politischen Parasitismus war.

Vor dem Haager Kongreß wurden Versuche unternommen, die Zahlung der Mitgliedsbeiträge an den Generalrat, wie es die Statuten vorschrieben, zu boykottieren und zu sabotieren. Hinsichtlich der Politik jener, die in den US-Sektionen gegen den Generalrat revoltierten, erklärte Marx: „Die Weigerung, die Beiträge oder für Objekte zu zahlen, um die die Sektion vom Generalrat gebeten wurde, ist verbunden mit dem von der Jura-Förderation erteilten Rat, welcher besagt, daß, wenn sowohl Amerika als auch Europa sich weigerten, Beiträge zu zahlen, der Generalrat an seinen eigenen Kosten zugrundegehen würde" (M+D, S. 47).

Über die „rebellische" Zweite Sektion in New York: „Ranvier ist der Auffassung, daß die Statuten zu einem Spielzeug gemacht worden seien. Sektion Nr. 2 hat sich vom Förderationsrat getrennt, ist in Lethargie gefallen und hat in Anbetracht des Weltkongresses darum ersucht, auf ihm repräsentiert zu sein und gegen jene zu protestieren, die aktiv gewesen waren. Wie hat diese Sektion übrigens ihre Stellung mit dem Generalrat geregelt? Sie bezahlte ihre Beiträge nur bis zum 26. August. Dies überschreitet die Grenze zur Komödie und ist nicht zu tolerieren. Diese kleinen Klüngel, diese Sekten, diese Gruppen, die unabhängig voneinander und ohne gemeinsames Band sind, gleichen der Freimaurerei und können nicht in der Internationale geduldet werden." (M+D, S. 45)

Der Kongreß bestand richtigerweise darauf, daß nur Delegationen von Sektionen, die ihre Beiträge bezahlt hatten, am Kongreß teilnehmen durften.

Und wie „erklärte" Farga Pellicier das Ausbleiben der Beiträge der spanischen Allianzler? „Was die Beiträge angeht, erklärt er: Die Situation war schwierig, sie mußten gegen die Bourgeoisie kämpfen, und fast alle Arbeiter gehören Gewerkschaften an. Sie beabsichtigen, alle Arbeiter gegen das Kapital zu vereinen. Die Internationale macht große Fortschritte in Spanien, aber der Kampf ist kostspielig. Sie haben ihre Beiträge nicht bezahlt, aber sie werden wieder zahlen."

Mit anderen Worten, sie behielten das Geld der Organisation für sich selbst. Hier die Antwort des Schatzmeisters der Internationalen:

„Engels, Sekretär für Spanien, findet es befremdlich, daß die Delegierten mit Geld in ihren Taschen ankamen und immer noch nicht bezahlt haben. Auf der Londoner Konferenz haben alle Delegierte sofort bezahlt, und die Spanier sollten hier dasselbe machen, denn dies sei unerläßlich für die Gültigkeit ihrer Mandate"

Es überrascht kaum, daß die Allianz und ihre Anhänger daraufhin die Reduzierung der Mitgliedsbeiträge beantragten, um die Organisation zu schwächen. Der Kongreß beantragte ihre Erhöhung.

„Brismé ist für die Abschaffung der Beiträge, weil die Arbeiter an ihre Sektionen zu zahlen haben, an den förderalen Rat, und es ist eine große Last für sie, zehn Centimes pro Jahr dem Generalrat zu geben".

Darauf antwortete Frankel bei seiner Verteidigung der Organisation.

„Frankel ist Lohnarbeiter, und gerade er denkt, daß im Interesse der Internationale die Beiträge absolut erhöht werden müssen. Es gibt Förderationen, die erst in letzter Minute und so wenig wie möglich zahlen. Der Rat hat nicht einen Pfennig in der Kasse (...) Frankel ist der Auffassung, daß mit den Mitteln der Propaganda, die eine Erhöhung der Beiträge erlauben würde, die Spaltungen in der Internationale aufhören würden, und sie würden heute nicht existieren, wenn der Generalrat in der Lage gewesen wäre, seine Emissäre zu den verschiedenen Ländern zu schicken, wo diese Meinungsverschiedenheiten auftauchten"

(M+D, S. 95).

In dieser Frage errang die Allianz einen Teilsieg: Die Beiträge blieben bei ihrer alten Höhe.

Schließlich wies der Kongreß entschieden die Verleumdungen der Allianz und der bürgerlichen Presse in dieser Frage zurück.

„Marx beobachtete, daß, obwohl die Mitglieder des Rates ihr eigenes Geld beisteuerten, um die Ausgaben der Internationale zu bezahlen, Verleumder jene Mitglieder beschuldigt haben, auf Kosten des Rates zu leben (...), von den Pfennigen der Arbeiter zu leben".

„Lafargue sagt, daß die Jura-Förderation eines der Sprachrohre jener Verleumdungen gewesen sei"

(M+D, S. 98, 169).
(M+D, S.128). Zwei Seiten weiter lesen wir in den Protokollen: „Farga Pellicer erhebt sich schließlich und reicht dem Vorsitzenden die Kassenbücher und die Beiträge von der spanischen Förderation, außer für das letzte Vierteljahr", d.h. das Geld, das sie nicht zu haben vorgaben.

Die Verteidigung des Generalrates: im Zentrum der Verteidigung der Internationalen

„Der Generalrat (...) stellt eine der wichtigsten Fragen auf die Tagesordnung, die auf dem Kongreß in Den Haag diskutiert werden müssen, die Revision der Allgemeinen Statuten und Verordnungen"

Die Untersuchung der Allianz

Am letzten Tag des Kongresses wurde der Bericht der Kommission vorgestellt und diskutiert, der sich mit der Untersuchung der Allianz befaßte.

Cuno erklärte: „Es ist absolut unbestreitbar, daß es Intrigen innerhalb der Assoziation gegeben hat; Lügen, Verleumdungen und Verrat sind bewiesen worden, die Kommission hat eine übermenschliche Arbeit geleistet, hat heute 13 Stunden hintereinander getagt. Nun verdient sie eine Abstimmung des Vertrauens, indem die im Bericht hervorgestellten Forderungen akzeptiert werden".

Tatsächlich war die Arbeit der Untersuchungskommission während des Kongresses enorm. Ein Berg von Dokumenten ist geprüft worden. Eine Reihe von Zeugen wurde vorgeladen, Zeugnis abzulegen über verschiedene Gesichtspunkte der Frage. Engels las den Bericht des Generalrates über die Allianz vor. Bezeichnenderweise war eines der Dokumente, die der Generalrat der Kommission präsentierte, die „Allgemeinen Statuten der Internationalen Arbeiterassoziation nach dem Genfer Kongreß von 1866". Diese Tatsache veranschaulicht, daß das Problem, das die Internationale bedrohte, nicht die Existenz von politischen Divergenzen war, die normalerweise im von den Statuten geschaffenen Rahmen behandelt werden konnten, sondern die systematischen Verletzungen der Statuten selbst. Das Trampeln auf die organisatorischen Klassenprinzipien des Proletariats bildet immer eine tödliche Gefahr für die Existenz und den Ruf kommunistischer Organisationen. Die Präsentation der geheimen Statuten der Allianz durch den Generalrat war Beweis genug, daß dies hier der Fall war.

Die vom Kongreß gewählte Kommission hat sich die Arbeit nicht leicht gemacht. Die Dokumentation ihrer Arbeit ist so lang wie alle anderen Dokumente des Kongresses zusammengenommen. Das längste dieser Dokumente, Utins Bericht, beauftragt von der Londoner Konferenz ein Jahr zuvor, enthält fast 100 Seiten. Schließlich stellte der Haager Kongreß die Veröffentlichung eines noch längeren Berichts in Auftrag, das berühmte Dokument „Die Allianz der Sozialistischen Demokratie und die Internationale Arbeiterassoziation". Revolutionäre Organisationen, die nichts vor dem Proletariat zu verbergen haben, haben stets gewollt, daß das Proletariat über solche Fragen informiert wird, soweit es die Sicherheit der Organisation zuläßt.

Die Kommission stellte ohne Zweifel fest, daß Bakunin mindestens dreimal die Allianz aufgelöst und wieder gegründet hatte, um die Internationale in die Irre zu führen, daß sie eine Geheimorganisation innerhalb der Internationalen war, die im Rücken der Organisation gegen die Statuten arbeitete, mit dem Ziel, jene Körperschaft zu übernehmen oder zu zerstören.

Die Kommission erkannte auch den irrationalen, esoterischen Charakter dieser Formation.

„Es wird aus der ganzen Organisation ersichtlich, daß es drei verschiedene Grade gibt, von denen wenige die anderen völlig beherrschten. Die ganze Angelegenheit scheint so abgehoben und exzentrisch zu sein, daß sich die ganze Kommission ständig vor Heiterkeit kugelte. Diese Art von Mystizismus wird allgemein als Verrücktheit angesehen. Die ganze Organisation manifestiert sich als ein einziger Absolutismus."

Die Arbeit der Kommission wurde durch verschiedene Faktoren behindert. Einer davon war die Abwesenheit von Bakunin selbst auf dem Kongreß. Nachdem er erst in seiner großmäuligen Art erklärt hatte, daß er zum Kongreß kommen würde, um seine Ehre zu verteidigen, zog er es vor, seine Verteidigung seinen Jüngern zu überlassen. Aber er gab ihnen eine Strategie auf den Weg, die darauf abzielte, die Untersuchungen zu sabotieren. Erstens weigerten sich seine Anhänger, im allgemeinen „aus Sicherheitsgründen", irgendetwas über die Allianz oder Geheimgesellschaften preiszugeben, als ob sich deren Aktivitäten gegen die Bourgeoisie und nicht gegen die Internationale richteten. Guillaume wiederholte, was er bereits auf dem Kongreß der Schweiz im April 1870 vertreten hatte: „Jedes Mitglied der Internationale hat voll und ganz das Recht, irgendeiner Geheimgesellschaft beizutreten, selbst den Freimaurern. Jede Untersuchung einer Geheimgesellschaft käme einfach einer Denunziation bei der Polizei gleich" (Nicolaevsky: Karl Marx, S.387).

Zweitens sah das imperative Mandat der Jura-Delegierten für den Kongreß vor, daß „die Jura-Delegierten alle persönlichen Fragen abstellen und Diskussionen auf diesem Feld nur dann abhalten, wenn sie dazu gezwungen werden, wobei sie dem Kongreß vorschlagen, die Vergangenheit der Vergessenheit zu überlassen und für die Zukunft Ehrengerichte zu wählen, die jederzeit zu entscheiden haben, wenn eine Anschuldigung gegen ein Mitglied der Internationale erhoben wird" (M+D, S. 325).

Dies ist ein Dokument des politischen Lavierens. Die Klärung der Rolle Bakunins als Anführer eines Komplotts gegen die Internationale wird abgetan als persönliche, nicht politische Frage. Untersuchungen sollen „für die Zukunft" aufgehoben werden und nehmen die Form einer permanenten Institution an, die irgendwelche Zänkereien in der Art bürgerlicher Gerichte regelt. Eine proletarische Untersuchungskommission oder ein Ehrengericht wird so völlig verwässert.

Drittens stellt sich die Allianz als „Opfer" der Organisation dar. Guillaume bestritt die „Macht des Generalrates, eine Inquisition über die Internationale zu errichten" (M+D, S. 84).

Er bekräftigte, daß „der ganze Prozeß ... die sogenannte Minderheit töten soll (...) Es ist das förderalistische Prinzip, das hier verdammt werden soll" (M+D, S. 172).

„Alerini ist der Meinung, daß die Kommission lediglich moralische Überzeugungen und keine materiellen Beweise hat; er war ein Mitglied der Allianz und stolz darauf (...) Aber ihr seid eine heilige Inquisition; wir fordern eine öffentliche Untersuchung und schlüssige, greifbare Beweise."

Der Kongreß ernannte einen Symphatisanten Bakunins, Splingard, zum Mitglied der Kommission. Dieser Splingard mußte zugeben, daß die Allianz als eine Geheimgesellschaft innerhalb der Internationalen existiert hat, obwohl er die Funktion der Kommission nicht begriff. Er sah seine Rolle als eine Art „Rechtsanwalt, der Bakunin verteidigt" (der eigentlich selbst alt genug sein sollte, sich selbst zu verteidigen), statt als Teil eines kollektiven Untersuchungsausschusses.

„Marx sagt, daß sich Splingard in der Kommission wie ein Anwalt der Allianz verhalten habe, nicht als ein unparteiischer Richter".

Marx und Lucain antworteten auf die andere Beschuldigung, daß es „keine Beweise" gebe.

Splingard „weiß sehr gut, daß Marx all jene Dokumente Engels gab. Der spanische Föderalrat besorgte selbst Beweise, und er (Marx) andere aus Rußland hinzu, nur könne er den Namen des Absenders nicht preisgeben; in dieser Angelegenheit hat die Kommission im allgemeinen ihr Ehrenwort gegeben, nicht irgendetwas, was davon handelt, insbesondere irgendwelche Namen, preiszugeben; ihre Entscheidung über diese Frage ist unumstößlich".

Lucain „fragt, ob sie warten müssen, bis die Allianz die Internationale zertrümmert und desorganisiert hat und dann die Beweise herausrückt. Wir werden uns jedoch weigern, so lange zu warten, wir greifen das Übel an, wo wir es sehen, weil das unsere Pflicht ist" (M+D, S. 171).

Außer der bakunistischen Minderheit unterstützte der Kongreß energisch die Schlußfolgerungen seiner Kommission. Tatsächlich forderte die Kommission lediglich drei Ausschlüsse, nämlich den von Bakunin, Guillaume und Schwitzguebel. Nur die beiden ersten wurden vom Kongreß akzeptiert.

Soweit zur Legende, wonach die Internationale eine unbequeme Minderheit durch Disziplinarmaßnahmen eliminieren wollte! Im Gegensatz zu dem, was Anarchisten und Rätekommunisten behaupten, haben proletarische Organisationen solche Maßnahmen nicht nötig; sie haben keine Angst vor, sondern ein starkes Interesse an einer totalen politischen Klärung durch die Debatte. Und sie schließen nur im außergewöhnlichen Falle einer schweren Disziplinlosigkeit und Untreue Mitglieder aus. Wie Johannard in Den Haag sagte, ist „der Ausschluß aus der IAA ... die schlimmste und unehrenhafteste Strafe, die einem Mann passieren kann; solch ein Mann könnte niemals wieder einer honorigen Gesellschaft angehören" (M+D, S. 171).

(S. 170)
(M+D, S. 339)

Die parasitäre Front gegen die Internationale

Wir wollen uns hier nicht mit der anderen dramatischen Entscheidung auf dem Kongreß befassen, den Umzug des Generalrates von London nach New York. Das Motiv hinter diesem Vorschlag war die Tatsache, daß, auch wenn die Bakunisten besiegt waren, der Generalrat in London in die Hände einer anderen Sekte fallen würde, der Blanquisten. Weil letztere sich weigerten, das internationale Zurückfluten des Klassenkampfes anzuerkennen, das von der Niederlage der Pariser Kommune verursacht worden war, riskierten sie in einer Reihe von sinnlosen Barrikadenkonfrontationen die Zerstörung der Arbeiterbewegung. In der Tat markierte die Niederlage in Paris den Anfang vom Ende der Ersten Internationalen (siehe Internationale Revue Nr. 18), wobei Marx und Engels zu jener Zeit hofften, den Generalrat später wieder zurückzuverlegen.

Stattdessen wollen wir diesen Artikel mit einer der großen historischen Errungenschaften des Haager Kongresses schließen. Diese Errungenschaft, die in der Nachwelt meist ignoriert oder völlig mißverstanden wurde (z.B. von Franz Mehring in seiner Biographie von Marx), war die Identifizierung der Rolle des politischen Parasitismus gegen die Arbeiterorganisationen.

Der Haager Kongreß zeigte auf, daß Bakunins Allianz nicht allein handelte, sondern das Koordinationszentrum einer von der Bourgeoisie unterstützten parasitären Opposition gegen die Arbeiterbewegung war.

Einer der Hauptverbündeten der Allianz war die Gruppe um Woodhull und West in Amerika, die man kaum „Anarchisten" nennen konnte.

„Wests Mandat wurde von Victoria Woodhull unterzeichnet, die schon seit Jahren Intrigen spinnt, um Präsident der USA zu werden, Präsidentin der Spiritualisten ist, die freie Liebe predigt, im Bankgeschäft tätig ist etc."

Die Verbindung dieser Elemente mit dem internationalen Parasitismus wurde von Sorge enthüllt.

„Sektion Nr. 12 nahm die Korrespondenz der Jura-Förderation und des Universal Federalist Council mit Vergnügen entgegen. Sektion Nr. 12 hat stets heimlich Intrigen ausgeführt und hartnäckig versucht, die oberste Führung der IAA zu erlangen, sie veröffentlichte selbst Entscheidungen des Generalrats, die nicht in ihrem Sinne waren, und interpretierte sie zu ihrem eigenen Vorteil. Später exkommunizierte sie die französischen Kommunisten und die deutschen Atheisten. Hier fordern wir Disziplin und Unterordnung nicht unter Personen, sondern unter das Prinzip, unter die Organisation; um Amerika zu besiegen, brauchen wir absolut die Iren, und sie werden nie auf unserer Seite sein, wenn wir nicht alle Verbindungen mit der Sektion Nr. 12 und den „freien Liebenden' abbrechen"

(S. 136).

Diese internationale Koordination der Angriffe gegen die Internationale, mit den Bakunisten im Zentrum, wurde in der Diskussion noch klarer.

„Le Moussu liest aus dem Bulletin de la Fédération Jurassienne eine Reproduktion eines Briefes vor, der vom Spring Street Council als Antwort auf die Anordnung, die Sektion Nr. 12 zu suspendieren, an ihn adressiert war"

„Le Moussu lenkt die Aufmerksamkeit des Kongresses auf das Zusammentreffen der Angriffe auf den Generalrat und seine Mitglieder, der im Bulletin der Jura-Förderation unternommen wurde, mit jenen Angriffen, die von ihrer Schwesterförderation unternommen und von den Herren Vesinier und Landeck veröffentlicht wurden, wobei das Blatt der letztgenannten als ein Sprachrohr der Polizei entlarvt und seine Herausgeber als Polizeispitzel von der Flüchtlingsgesellschaft der Kommune in London ausgeschlossen wurden. Zweck dieser Fälschung ist es, die Kommune-Mitglieder im Generalrat als Abenteurer des bonapartistischen Regimes darzustellen, während die anderen Mitglieder, diese Wichte, die sich weiterhin einschmeicheln, Bismarckisten sind, als ob die wahren Bonapartisten und Bismarckisten nicht jene sind, die, wie all diese mittelmäßigen Schreiberlinge all der mannigfaltigen Förderationen, hinter den Bluthunden aller Regierungen folgen, um die wahren Verfechter des Proletariats zu beleidigen. Deshalb sage ich diesen schändlichen Beleidigern: Ihr seid würdige Handlanger der Bismarckschen, bonarpartistischen und thieristischen Politik"

und mit den Worten schließt: „zugunsten der Bildung einer neuen Assoziation, in der die Dissidenten Spaniens, der Schweiz und Londons vereinigt sind. Unzufrieden in Anbetracht der Autorität, die der Generalrat vom Kongreß erhält und statt ihre Klagen aufzuschieben, wie es die Statuten niedergelegt haben, haben diese Individuen also bis heute die Absicht, eine neue Gesellschaft zu bilden und offen mit der Internationalen zu brechen."(S. 50, 51).

Über den Zusammenhang zwischen der Allianz und Landeck: „Dereure informiert den Kongreß darüber, daß eine knappe Stunde zuvor Alerini ihm erzählte, daß er (Alerini) ein enger Freund von Landeck war, der als Polizeispitzel in London bekannt war" (S. 472).

Der deutsche Parasitismus war in Gestalt der aus dem Deutschen Arbeiterbildungsverein ausgeschlossenen Lassalleaner über den oben erwähnten Universal Federalist Council in London, wo sie mit anderen Feinden der Arbeiterbewegung, wie den französischen radikalen Freimaurern und den italienischen Mazzinisten, kollaborierten, ebenfalls mit diesem internationalen parasitären Netzwerk verknüpft.

„Die bakunistische Partei in Deutschland war die Allgemeine Assoziation deutscher Arbeiter unter Schweitzer, und letzterer war endgültig als Polizeiagent demaskiert"

(Intervention von Hepner, S. 160).

Der Kongreß zeigte auch die Kollaboration zwischen den Schweizer Bakunisten und den britischen Reformisten der British Federation unter Hales auf.

Tatsächlich bildete die Bourgeoisie, abseits der Infiltration und Manipulation degenerierter Sekten, die einst zur Arbeiterklasse gehörten, auch von sich aus Organisationen, um die Internationale zu bekämpfen. Die Philadelphier und die Mazzinisten, die in London angesiedelt waren, versuchten, den Generalrat direkt zu übernehmen, wurden aber besiegt, als ihre Mitglieder im September 1865 aus dem Unterkomitee des Generalrates entfernt wurden.

„Der prinzipielle Feind der Philadelphier, der Mann, der verhinderte, daß die Internationale zur Plattform ihrer Aktivitäten wurde, war Karl Marx"

Die zerstörerische Aktivität dieses Milieus wurde von den terroristischen Provokationen der Geheimgesellschaft von Felix Pyat, der „Republikanischen Revolutionären Kommune", fortgesetzt. Diese Gruppe, die aus der Internationalen ausgeschlossen und von ihr öffentlich verurteilt worden war, fuhr fort, im Namen der Internationalen zu wirken, wobei sie ständig den Generalrat angriff.

In Italien zum Beispiel bildete die Bourgeoisie eine gewisse Società Universale dei Razionalisti unter Stefanoni, um die Internationale in diesem Land zu bekämpfen. Ihre Zeitung veröffentlichte die Lügen von Vogt und den deutschen Lassalleanern gegen Marx und verteidigte inbrünstig Bakunins Allianz.

Das Ziel dieses Netzwerkes von Pseudorevolutionären war, „Mitglieder der Internationalen auf eine Weise zu verleumden, die den bürgerlichen Zeitungen, deren üble Inspiratoren sie sind, die Schamröte ins Gesicht treibt, das ist es, was sie Einheitsappell an die Arbeiter nennen" (Intervention von Duval, S. 99).

Daher stand die lebenswichtige Notwendigkeit, die Organisation gegen all diese Angriffe zu verteidigen, im Mittelpunkt der Interventionen von Marx auf diesem Kongreß, dessen Wachsamkeit und Entschlossenheit uns heute im Angesicht ähnlicher Angriffe leiten muß.

„Jeder, der besonders bei der Erwähnung der Polizeiabteilungen lächelt, muß wissen, daß solche Abteilungen in Frankreich, Österreich und anderswo gebildet wurden, und der Generalrat erhielt ein Gesuch aus Österreich, keine Sektion anzuerkennen, die nicht von Delegierten des Generalrats oder der dortigen Organisation gegründet wurde. Vesinier und seine Genossen, die kürzlich von den französischen Flüchtlingen ausgeschlossen wurden, sind natürlich für die Jura-Förderation (...) Individuen wie Vesinier, Landeck und andere gründen nach meiner Auffassung zunächst einen Förderalrat und dann eine Förderation und Sektionen; Agenten von Bismarck könnten dasselbe tun, daher muß der Generalrat das Recht haben, einen Förderalrat oder eine Förderation aufzulösen oder zu suspendieren (...) In Österreich bilden Raufbolde, Ultramontane, Radikale und Provokateure Sektionen, um die IAA zu diskreditieren; in Frankreich bildete ein Polizeikommissariat eine Sektion."

„Es gab den Fall einer Suspendierung eines Förderalrates in New York; es mag sein, daß in anderen Ländern Geheimgesellschaften Einfluß über Förderalräte erlangen wollen, sie müssen suspendiert werden. Was die Leichtigkeit angeht, mit der Vesinier, Landeck und ein deutscher Polizeiinformant ungehindert Förderationen bilden konnten, das darf nicht passieren. Monsieur Thiers macht sich selbst zum Lakaien aller Regierungen gegen die Internationale, und der Rat muß die Macht haben, alle zerstörerischen Elemente zu entfernen (...) Eure Ausdrücke der Besorgnis sind nur Tricks, weil ihr jenen Gesellschaften angehört, die im Geheimen handeln und höchst autoritär sind."

Im vierten und letzten Teil dieser Reihe werden wir uns mit Bakunin, dem politischen Abenteurer, befassen, wobei wir die Lehren aus der Geschichte der Arbeiterklasse ziehen werden.

Kr.

 

(S. 45 - 47)
(S. 154 - 155)
(Nicolaevsky: Geheimgesellschaften und die Erste Internationale, S. 52). Die von Nicolaewsky behauptete direkte Verbindung zwischen diesem Milieu und den Bakunisten ist mehr als wahrscheinlich, betrachtet man ihre offene Identifikation mit den Methoden und Organisationen der Freimaurerei.
Die Gruppe „richtete den notorischen Appell an die englisch sprechenden Bürger der Vereinigten Staaten, der alle Arten von Unsinn der IAA zuschrieb und auf dessen Basis viele ähnliche Sektionen gegründet wurden. Unter anderem erwähnte der Appell die persönliche Freiheit, die gesellschaftliche Freiheit (freie Liebe), die Art der Kleidung, das Wahlrecht für Frauen, eine Weltsprache etc. (...) Sie stellte die Frauenfrage vor der Arbeiterfrage und weigerte sich anzuerkennen, daß die IAA eine Arbeiterorganisation ist." (Intervention von Marx, S. 133)
(Resolution des Generalrates über die Tagesordnung des Haager Kongresses, M+D, S. 23 - 24).

Was die Funktion anging, galt das Hauptanliegen folgender Veränderung der allgemeinen Statuten:

„Art. 2 - Der Generalrat ist gehalten, die Kongreßbeschlüsse auszuführen und darauf zu achten, daß die Grundsätze, Statuten und Verwaltungsverordnungen der Internationale in jedem Lande strikt eingehalten werden.

Art. 6 - Der Generalrat hat ebenfalls das Recht, Zweiggesellschaften, Sektionen, Förderalräte oder Förderalkomitees oder Förderationen der Internationale bis zum nächsten Kongreß zu suspendieren".

Im Gegensatz dazu trachteten die Feinde der Entwicklung der Internationalen danach, ihre zentralisierte Einheit zu zerstören. Die Vortäuschung, daß diese Opposition motiviert wurde von einer „prinzipiellen Opposition zur Zentralisation" (Übersetzung aus dem Englischen), wurde, sofern es die Allianz anging, durch deren eigene Geheimstatuten widerlegt, in denen die „Zentralisierung" in die persönliche Diktatur eines Mannes, „Citizen B" (Bakunin), umgewandelt wurde. Hinter der bakunistischen Zuneigung zum Förderalismus verbarg sich das Verständnis, daß die Zentralisierung eines der Hauptmittel war, mit denen sich die Internationale ihrer Zerstörung erwehrte, indem sie verhinderte, in kleine Stücke zerteilt zu werden. Zum Zwecke dieser „heiligen Zerstörung" mobilisierten die Bakunisten die förderalen Vorurteile der kleinbürgerlichen Elemente innerhalb der Organisation.

„Brismé will, daß die Statuten zuerst diskutiert werden, da es möglich ist, daß es keinen Generalrat mehr geben könnte und folglich auch keine Machtbefugnisse dafür benötigt würden. Die Belgier wollen keine Ausweitung der Machtbefugnisse des Generalrates, im Gegenteil, sie kamen hierher, um ihm die Krone wegzunehmen, die er an sich gerissen hatte"

(M+D, S. 141).

Sauva, USA: „Seine Mandatgeber wollen, daß der Rat erhalten bleibt, aber an erster Stelle wollen sie, daß er keine Rechte hat und daß dieser Souverän nicht das Recht haben sollte, seinen Dienern Weisungen zu erteilen (Gelächter)".

Der Kongreß wies diese Versuche zurück, die Einheit der Organisation zu zerstören, indem er die Stärkung des Generalrates annahm und somit ein Signal gab, dem Marxisten bis heute gefolgt sind. Wie Hepner während der Debatte erklärte: „Gestern abend wurden zwei große Ideen erwähnt: Zentralisation und Förderation. Das letztere drückt sich selbst im Abstentionismus aus, aber diese Enthaltung von allen politischen Aktivitäten führt ins Polizeirevier".

Und Marx: „Sauva hat seit London seine Meinung geändert. Bezüglich der Autorität war er in London für die Autorität des Generalrates (...), hier hat er das Gegenteil vertreten" (M+D, S. 89).(M+D, S. 73).

Gegen das Aufrühren kleinbürgerlicher Ängste vor einer „Diktatur" durch die Bakunisten argumentierte Marx:

„Aber gleich ob wir dem Generalrat die Rechte eines Negerfürsten oder die des russischen Zaren gewähren, seine Macht ist illusorisch, sobald der Generalrat aufhört, den Willen der Mehrheit der IAA auszudrücken. Der Generalrat hat keine Armee, kein Budget, er ist nur eine moralische Kraft, und er wird immer machtlos sein, wenn er nicht die Unterstützung der gesamten Assoziation hat"

(M+D, S. 154).

Der Kongreß stellte auch eine Verbindung zwischen der anderen großen Änderung in den Statuten, die er annahm, nämlich jene von der Notwendigkeit einer politischen Klassenpartei und der Frage der proletarischen Prinzipien der Funktionsweise her. Diese Verbindung ist der Kampf gegen den „Anti-Autoritarismus" als eine Waffe sowohl gegen die Partei als auch gegen die Parteidisziplin.

„Hier haben wir gegen die Autorität gesprochen: Wir sind auch gegen Exzesse jeder Art, aber eine gewisse Autorität, ein gewisses Prestige wird immer notwendig sein, um einen Zusammenhalt in der Partei zu schaffen. Es ist logisch, daß solche Anti-Autoritären auch die Förderalräte, die Förderationen, die Komitees und selbst die Sektionen abschaffen müssen, denn Autorität wird in einem größeren oder kleineren Umfang von ihnen allen ausgeübt. Sie müssen überall eine absolute Anarchie etablieren, das heißt, sie müssen die militante Internationale in eine kleinbürgerliche Partei mit Schlips und Kragen wenden. Wie kann man nach der Kommune etwas gegen Autorität einwenden? Wir deutschen Arbeiter zumindest sind davon überzeugt, daß die Kommune größtenteils deshalb fiel, weil sie nicht genug Autorität ausübte!"

(M+D, S. 161).

„Marx sagt, daß es in der Diskussion über die Machtbefugnisse des Rates nicht um uns geht, sondern um die Institution. Marx hat angeführt, daß er eher für die Abschaffung des Rates stimmen würde, als für einen Rat, der lediglich ein Briefkasten sein würde"

(Resolutionen über die Verwaltungsverordnungen, MEW Bd. 18, S. 150)

Die Lehren aus diesem Kampf gegen den Parasitismus auf dem Haager Kongreß sind heute besonders relevant. Aufgrund des Bruchs in der organischen Kontinuität mit der vergangenen Arbeiterbewegung gibt es viele Parallelen in der Entwicklung des revolutionären Milieus nach 1968 und jener des Beginns der Arbeiterbewegung. Insbesondere gibt es eine starke Parallele, um nicht zu sagen: Identität, zwischen der Rolle des politischen Parasitismus zu Bakunins Zeiten und heute.

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Erste Internationale [72]

Deutsche Revolution, Teil III

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Der verfrühte Aufstand

In diesem 3. Teil[i] [89] wollen wir eine der schwierigsten Fragen des Arbeiterkampfes aufgreifen: die Bedingungen und der Zeitpunkt des Aufstands. Auch wenn die Erfahrung in Deutschland negativ ausging, liefert sie dennoch eine Reihe von wertvollen  Lehren für die zukünftigen revolutionären Kämpfe.

Im November 1918 hatte die Arbeiterklasse durch ihre Erhebung die Bourgeoisie in Deutschland gezwungen, den Krieg zu beenden. Um eine weitere Radikalisierung der Arbeiterklasse, um eine Wiederholung der Ereignisse in Rußland zu verhindern, hatte die Kapitalistenklasse die SPD[ii] [89] als Speerspitze gegen die Arbeiterklasse in die Schlacht geschickt. Mit ausgefuchster politischer Sabotage versuchte die SPD mit Hilfe der Gewerkschaften, die Schlagkraft der Arbeiterräte zu untergraben.

Aber die herrschende Klasse setzte von Anfang an auch auf die Notwendigkeit einer militärischen Niederschlagung der Bewegung.

In Anbetracht  der explosiven Entwicklung, als es überall zu Meutereien der Soldaten und deren Überlaufen auf die Seite der aufständischen Arbeiter kam, war es für die Bourgeoisie nicht möglich, unmittelbar an Repression  zu denken. Die Bourgeoisie mußte zuerst politisch gegen die Arbeiterklasse vorgehen, um dann militärisch einen Sieg zu erringen. Welche politische Sabotage sie betrieb, haben wir in der letzten Internationalen Revue Nr. 18 näher hervorgehoben. Wir wollen uns hier mit der Aufstandsfrage befassen.

 * * *

Die Vorbereitungen für ein militärisches Vorgehen wurden jedoch vom ersten Tag an getroffen. Nicht die ‘rechten’ Parteien leiteten diese militärische Repression in den Weg, sondern die SPD, die sich noch als die ‘große Partei des Proletariats’ darstellte, und dies in engster Absprache mit den Militärs. Es waren die vielgepriesenen Demokraten, die als letztes Bollwerk zur Verteidigung des Kapitalismus auftraten. Sie sollten sich als der wirksamste Schutzwall des Kapitals herausstellen. Die SPD fing an, systematisch Freikorps aufzubauen, da reguläre Truppenteile unter dem ‘Infekt der Arbeiterkämpfe’ immer mehr der bürgerlichen Regierung die Gefolgschaft versagten. Freiwilligenverbände, die mit Sonderprämien geheuert wurden, sollten als militärische Handlanger dienen.

Die militärischen Provokationen vom 6. und 24. Dezember

Gerade ein Monat nach dem Beginn der Kämpfe gab die SPD in Absprache mit dem Militär Order, daß Soldaten am 6. Dezember in die Räume der Redaktion der „Roten Fahne“ eindringen. K. Liebknecht und Rosa Luxemburg sowie andere Spartakisten aber auch Mitglieder des Vollzugsrats sollten verhaftet werden. Gleichzeitig attackierten regierungstreue Truppen demonstrierende entlassene und desertierte Soldaten, 14 Demonstranten wurden getötet. Als Reaktion traten am 7. Dezember mehrere Betriebe in Streik, es wurden überall Vollversammlungen  in den Betrieben abgehalten. Am 8. Dezember gab es zum ersten Mal eine bewaffnete Demonstration von Arbeitern und Soldaten mit mehr als 150’000 Teilnehmern. In Städten des Ruhrgebietes wie Mülheim verhafteten Arbeiter und Soldaten Industrielle.

Aber gegenüber dieser militärischen Provokation riefen die Revolutionäre nicht zum Aufstand auf, sondern drängten auf eine massive Mobilisierung der Arbeiter. Die Spartakisten schätzten das Kräfteverhältnis so ein, daß die Bedingungen für den Sturz der bürgerlichen Regierung noch nicht vorhanden waren, daß die Arbeiterklasse dazu noch nicht ausreichend Kraft entwickelt hatte.[iii] [89]

Der Reichsrätekongresses Mitte Dezember 1918 (16. - 21. Dezember)  verdeutlichte dies; die Bourgeoisie hatte sofort gemerkt, daß sie einen Punktesieg errungen hatte. Auf dem Reichsrätekongreß hatten die Delegierten unter dem Einfluß der SPD beschlossen, ihre Entscheidungen einer zu wählenden Nationalversammlung zu unterwerfen. Gleichzeitig wurde ein ‘Zentralrat’ gewählt, der ausschließlich aus SPD-Mitgliedern bestand und vorgab, im Namen der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands sprechen zu können. Nach diesem Kongreß spürte die Bourgeoisie, daß sie die politische Schwächung der Arbeiterklasse unmittelbar auch militärisch ausnutzen konnte. Am 24. Dezember zettelte sie die nächste militärische Provokation an. Freikorps und regierungstreue Truppen griffen revolutionäre Matrosen an. 11 Matrosen und mehrere Soldaten starben. Wieder große Empörung  unter den Arbeitern. Arbeiter der Daimler-Motoren-Gesellschaft und vieler Berliner Betriebe forderten die Bildung einer Roten Garde. Auch hier wieder machtvolle Demonstrationen am 25. Dezember zur Abwehr dieses Angriffes. Die Regierung mußte einen Rückzieher machen. Nach soviel Diskreditierung mußte auch die USPD[iv] [89],  die bis dahin noch mit der SPD im Rat der Volksbeauftragten gesessen hatte, am 29. Dezember  aus der Regierung austreten.

Die Bourgeoisie gab jedoch nicht nach. Sie  strebte weiter danach, das immer noch bewaffnete Proletariat in Berlin zu entwaffnen und einen entscheidenden Schlag gegen die Arbeiterklasse  in Berlin zu führen.

Die SPD stachelte zum Mord an den Kommunisten an 

Um die Bevölkerung gegen die Arbeiterklasse anzuheizen, machte sich die SPD zum Sprachrohr einer gewaltigen Meuchelmordkampagne gegen die Arbeiterklasse und gegen die Spartakisten insbesondere:

„Wollt ihr Frieden? Dann sorgt Mann für Mann dafür, daß die Gewaltherrschaft der Spartakus-Leute ein Ende nimmt! Wollt ihr Freiheit? Dann macht die bewaffneten Tagediebe Liebknechts unschädlich! Wollt ihr hungern? Dann hört auf Liebknecht! Wollt ihr Sklaven der Entente werden? Liebknecht vermittelt es! Nieder mit der Diktatur der Anarchisten des Spartakus! Der rohen Gewalt dieser Verbrecherbande kann nur mit Gewalt begegnet werden!“ (Flugblatt des Bürgerrates von Groß-Berlin vom 29.12.1918) „Das schändliche Treiben Liebknechts und Rosa Luxemburgs beschmutzt die Revolution und gefährdet alle Errungenschaften. Keine Minute länger dürfen die Massen ruhig zusehen, wie diese Gewalttäter und ihr Anhang die Tätigkeit der republikanischen Behörden lahmlegen.... Mit Lüge, Verleumdung und Gewalt wollen sie alles niederreißen und niederschlagen, was sich ihnen entgegenzustellen wagt (...) Wir haben die Revolution gemacht, um den Krieg zu beenden! Spartakus will eine neue Revolution, um einen neuen Krieg anzufangen.“ (SPD-Flugblatt Januar 1919)

Die Spartakisten waren Ende Dezember aus der USPD ausgetreten und hatten sich am 31.12./1.1. mit den Genossen der IKD[v] [89] zur KPD zusammengeschlossen. Damit hatte die Arbeiterklasse eine inmitten der Kämpfe geborene Kommunistische Partei an ihrer Seite, die sofort zur Zielscheibe der Angriffe der SPD, des Hauptverteidigers des Kapitals, wurde.

Die KPD erkannte, daß die Aktivität der breitesten Arbeitermassen erforderlich war, um dieser Taktik des Kapitals gegenüberzutreten. „Nach der ersten Phase der Revolution, der des vorwiegend politischen Kampfes, kommt eine Phase des verstärkten, gesteigerten, in der Hauptsache ökonomischen Kampfes“ (Luxemburg auf dem Gründungsparteitag der KPD). Die SPD-Regierung wird mit den „emporlodernden Flammen des ökonomischen Klassenkampfes nicht fertig werden“ (ebenda). Deshalb sollte das Kapital mit der SPD an seiner Spitze versuchen, eine weitere Verschärfung der Kämpfe dadurch zu verhindern, indem militärische Aufstände der Arbeiter angezettelt werden sollten. Durch eine frühzeitige Schwächung der Arbeiter in einer militärischen Niederschlagung - insbesondere in Berlin - sollte so schnell ein Zentrum  der Arbeiterklasse getroffen werden, um dann schrittweise gegen den Rest der Klasse vorzugehen.

Die Falle des verfrühten Aufstands in Berlin

Ende Dezember hatte die Bourgeoisie die in Berlin stationierten Truppen neu organisiert. Mehr als 10’000 Mann starke Stoßtruppen standen ihr jetzt um Berlin zur Verfügung. Insgesamt hatte sie über 80’000 Soldaten um Berlin zusammengezogen. Anfang Januar wollte die Bourgeoisie erneut gegen die Arbeiter militärisch losschlagen. Am 4. Januar wurde der Polizeipräsident von Berlin, der im November von den Arbeitern ernannt worden war, Eichhorn, von der bürgerlichen Regierung entlassen. Dies sollte  sofort als Herausforderung der revolutionären Arbeiterschaft empfunden werden. Am Abend des 4. Januar versammelten sich die revolutionären Obleute[vi] [89] zu einer Sitzung, an der auch Liebknecht und Pieck im Namen der frisch gegründeten KPD teilnahmen. Es wurde ein ‘provisorischer Revolutions-Ausschuß’ gegründet, der sich auf den Kreis der Obleute stützte. Gleichzeitig gab es weiterhin den ‘Vollzugsrat’, der in der Zwischenzeit um einen ‘Zentralrat’ ergänzt worden war, und die beide unter der Vorherrschaft der SPD standen.

 Für Sonntag, den 5. Januar, rief der revolutionäre Aktionsausschuß zu einer Protestkundgebung auf. Ca. 150’000 Menschen versammelten sich nach einer Demonstration vor dem  Polizeipräsidium. Am Abend des 5. Januar besetzten einige Demonstranten - vermutlich aufgewiegelt durch Provokateure, jedenfalls ohne das Wissen und die Zustimmung des Aktionsausschusses  - die Gebäude der SPD-Zeitung Vorwärts und  anderer Verlage.

Aber die Bedingungen für einen Sturz der Regierung waren nicht vorhanden. So schrieb die KPD Anfang Januar 1919 in einem Flugblatt: „Würden die Berliner Arbeiter heute die Nationalversammlung auseinanderjagen, würden sie die Scheidemann-Ebert ins Gefängnis werfen, während die Arbeiter des Ruhrgebietes, Oberschlesiens, die Landarbeiter Ostelbiens ruhig bleiben, so würden die Kapitalisten morgen Berlin durch Aushungerung unterwerfen können. Der Angriff der Arbeiterklasse auf das Bürgertum, der Kampf um die Macht der Arbeiter- und Soldatenräte müssen das Werk des gesamten arbeitenden Volkes im ganzen Reiche werden. Nur wenn der Kampf der Arbeiter in Stadt und Land überall jeden Tag sich verschärft, zunimmt, wenn er zum reißenden Strome wird, der ganz Deutschland durchbraust, die Welle der Ausbeutung und Unterdrückung hinwegschwemmt, nur dann wird die Regierung des Kapitalismus, wird die Nationalversammlung gesprengt und auf ihren Ruinen die Regierung der Arbeiterklasse errichtet werden, die im weiteren Kampf gegen die Bourgeoisie das Proletariat zum vollen Siege führen wird. Deswegen darf unser Kampf gegen die Nationalversammlung weder in passiver Abstinenz, in einfacher Stimmenthaltung, noch in bloßer Störung der Wahlen, noch in dem bloßen Versuch der Auseinanderjagung der Nationalversammlung bestehen, es gilt, in diesem Kampfe Machtpositionen zu erobern. ... Arbeiter und Arbeiterinnen, Soldaten und Matrosen! Ruft überall Versammlungen ein und klärt die Volksmassen über den Schwindel der Nationalversammlung auf... In jeder Werkstatt, in jedem Truppenteil. seht Euch in jeder Stadt Euren Arbeiter- und Soldatenrat an, prüft, ob er wirklich gewählt worden ist, ob in ihm Vertreter des kapitalistischen Systems, Verräter der Arbeiterklasse, wie die Scheidemänner, oder haltlos hin- und herschwankende Gestalten, wie die Unabhängigen, sitzen. Dann klärt die Arbeiter auf, und setzt die Wahl von Kommunisten durch... Wo ihr die Mehrheit in den Arbeiterräten habt, da sorgt, daß diese Arbeiterräte mit ebensolchen Arbeiterräten in der Provinz in Verbindung treten... ..  Verschleißt euch nicht in Euren Versammlungssälen, geht hinaus... klärt die anderen Arbeiter auf...

Wenn dieses Programm verwirklicht wird... wird Deutschland als Räterepublik zusammen mit der Räterepublik der russischen Arbeiter die Arbeiter Englands, Frankreichs, Italiens unter die Fahne der Revolution ziehen.“ (aus einem Flugblatt  der KPD, Anfang Januar 1919 verteilt). Aus dieser Einschätzung geht hervor, daß sich die KPD darüber im klaren war, daß der Umsturz der Kapitalistenklasse noch nicht unmittelbar möglich war. Der Aufstand stand noch nicht auf der Tagesordnung.

Nach der riesigen Massendemonstration vom 5. Januar gab es am gleichen Abend erneut eine Sitzung der Obleute mit Beteiligung von Delegierten der USPD; KPD,  und Vertretern der Garnisonstruppen. Unter dem Eindruck der machtvollen Demonstration versuchte man die Stimmung auszuloten. Von einer kampfbereiten Stimmung wurde bei den Truppen berichtet. Die  Anwesenden wählten einen Aktionsausschuß aus 33 Mitgliedern, an dessen Spitze als Vorsitzender Ledebour (USPD), Scholze für die revolutionären Obleute, und Liebknecht für die KPD traten. Für den darauffolgenden 6. Januar beschloß man den Generalstreik und eine erneute Demonstration.

Der Aktionsausschuß verteilte ein Flugblatt mit der Parole: ‘Auf zum Kampf um die Macht des revolutionären Proletariats’, Nieder mit der Regierung Ebert-Scheidemann’.

Soldaten kamen und erklärten dem Aktionsausschuß ihre Solidarität. Eine Soldatendelegation versicherte, sie werde sich auf die Seite der revolutionären Arbeiterschaft stellen, wenn man die vorhandene Ebert-Scheidemann-Regierung für abgesetzt erkläre. Liebknecht für die KPD und Scholz für die revolutionären Obleute unterschrieben daraufhin ein Dekret, die Regierung sei abgesetzt, der Revolutionsausschuß habe die Regierungsgeschäfte übernommen. Am 6. Januar demonstrierten - ca. 500.000 auf der Straße, in allen Stadtteilen fanden Demonstrationen und Versammlungen statt, die Arbeiter der Großbetriebe forderten Waffen. Die KPD forderte die Bewaffnung der Arbeiter und die Entwaffnung der Konterrevolutionäre.

Während jedoch diese Parole „Nieder mit der Regierung“ vom Aktionsausschuß ausgegeben worden war, unternahm der Ausschuß selber keine ernsthaften Versuche, um diese Ausrichtung umzusetzen. In den Betrieben wurden keine Kampftruppen aufgestellt, es wurde nicht versucht, die Staatsgeschäfte in  die Hand zu nehmen, die alte Regierung zu lähmen. Der Aktionsausschuß besaß nicht nur keinen Aktionsplan, er wurde gar am 6. Januar von Marinesoldaten aufgefordert, ein Gebäude, wo er tagte, zu verlassen - was er tat!

Die demonstrierenden Arbeitermassen warteten in den Straßen auf Anweisungen, während die Führer ratlos tagten. Während die Führung des Proletariats wankte und schwankte, abwartete, zögerte, selbst keinen Plan hatte, erholte sich die SPD-geführte Regierung schnell vom Schock des ersten Widerstands der Arbeiterklasse. Sobald sich die Schwäche der Revolutionäre und der Mangel an Führung offenbarte, straffte sich auf der Gegenseite die Entschlossenheit und von allen Seiten wuchsen ihr jetzt Hilfskräfte zu. Die SPD rief zu Streiks und  Demos zur Unterstützung der Regierung auf. Es war die Partei der ‘Demokratie’, die die gewaltigste Hetze gegen die Kommunisten startete: „Wo Spartakus herrscht, ist jede persönliche Freiheit und Sicherheit aufgehoben. Dem deutschen Volke und insbesondere der deutschen Arbeiterschaft drohen die schlimmsten Gefahren. Wir wollen uns nicht länger von Irrsinnigen und Verbrechern terrorisieren lassen. Es muß endlich Ordnung in Berlin geschaffen und der ruhige Aufbau des neuen revolutionären Deutschland gesichert werden. Wir fordern euch auf, zum Protest gegen die Gewalttaten der Spartakusbanden die Arbeit einzustellen und sofort vor dem Haus der Reichsregierung zu erscheinen.

Arbeiter, Soldaten, Genossen!... Ihr müßt jetzt bereit sein, Euch mit Eurer ganzen Person für die revolutionäre Ordnung einzusetzen. Zu diesem Zweck fordern wir Euch auf, eine freiwillige republikanische Schutzwehr zu bilden. Bringt Eure Partei- und gewerkschaftliche Legitimation mit. Nähere Anweisungen werden Euch gegeben. Wir dürfen nicht eher ruhen, als bis die Ordnung in Berlin wieder hergestellt und dem ganzen Volke der Genuß der revolutionären Errungenschaften gesichert ist. Nieder mit den Mördern und Verbrechern. Hoch die sozialistische Republik - Vorstand der SPD, 6. Januar 1919.“ Die Arbeitsstelle Berliner Studenten schrieb: „Ihr bürgerlichen kommt heraus aus Euren Häusern und stellt Euch Schulter an Schulter mit den Mehrheitssozialisten! Höchste Eile tut not!“ (Flugblatt vom 7./8. Januar). „Die Reichsregierung hat mir die Führung der republikanischen Soldaten übertragen. Ein Arbeiter steht also an der Spitze der Macht der sozialistischen Republik. Ihr kennt mich und meine Vergangenheit in der Partei. Ich bürge Euch dafür, daß kein unnützes Blut vergossen wird. Ich will säubern, nicht vernichten. Die Einigkeit der Arbeiterklasse muß gegen Spartakus stehen, wenn Demokratie und Sozialismus nicht untergehen sollen.“ (Noske 11. Januar 1919). Der Zentralrat, der vom Reichskongreß „ernannt“ worden war und vor allem von der SPD beherrscht wurde, erklärte: „..eine kleine Minderheit ist bestrebt, eine brutale Gewaltherrschaft zu errichten. Das verbrecherische, alle Errungenschaften der Revolution gefährdende Treiben bewaffneter Banden hat uns genötigt, der Reichsleitung (Reichsregierung) außerordentliche Vollmachten zu erteilen, damit in Berlin endlich einmal die Ordnung ...wiederhergestellt werden kann. Alle Meinungsverschiedenheiten im einzelnen müssen jetzt zurückgestellt werden hinter dem Ziel... das ganze werktätige Volk vor neuem furchtbaren Unglück zu bewahren. Es ist die Pflicht aller Arbeiter- und Soldatenräte, uns und die Reichsleitung (die Regierung) dabei mit allen Mitteln zu unterstützen... - Der Zentralrat der deutschen sozialistischen Republik“ (Extrablatt Vorwärts, 6. Januar 1919). Im Namen der Revolution und der Interessen der Arbeiterklasse trat die SPD (mit ihren Komplizen) nun auf und bereitete sich darauf vor, die Revolutionäre zu massakrieren. Mit der spitzfindigsten Doppelzüngigkeit rief sie die Arbeiterräte dazu auf, sich hinter die Regierung zu stellen, um nun gegen die ‘bewaffneten Banden’ vorzugehen. Die SPD selbst stellte eine militärische Abteilung auf, die in Kasernen Waffen erhielt, und man ernannte Noske zum Chef der Repressionstruppen.  „Einer muß der Bluthund werden, ich scheue die Verantwortung nicht“.

Schon am 6. Januar kam es  zu vereinzelten Gefechten, während die Regierung um Berlin immer mehr Truppen zusammenzog, tagte am Abend des 6. Januar der Berliner Vollzugsrat. Der Berliner Vollzugsrat, von SPD und USPD beherrscht,  schlug dem revolutionären Aktionsausschuß Verhandlungen zwischen den revolutionären Obleuten und der SPD-Regierung vor, zu deren Sturz der Aktionsausschuß  gerade erst aufgerufen hatte. D.h. anstatt an der Spitze der Bewegung gegen die Regierung zu stehen, setzte sich der Vollzugsrat zwischen zwei Stühle. Der Vollzugsrat wollte als ‘versöhnende Kraft’ auftreten, indem das Unversöhnliche versöhnt wurde. Dieser Schritt des Vollzugsrates brachte die bis dahin abwartenden und zögernden Soldaten ganz ins Schwanken. Die Matrosen erklärten, sie wollten sich nunmehr ‘neutral’ verhalten.  Jedes Schwanken kann schnell zu einem Vertrauensverlust in die Fähigkeit der Arbeiterklasse selbst, vor allem aber zu Mißtrauen gegenüber den politischen Organisationen der Arbeiterklasse führen. Die SPD schaffte es so, die Arbeiterklasse zutiefst zu schwächen. Gleichzeitig setzte sie Provokateure ein (wie sich später herausstellte), die die Arbeiter zu Zusammenstößen trieb. So wurden am 7. Januar verschiedene Zeitungsredaktionen besetzt.

Die Leitung der KPD hatte gegenüber den Unternehmungen in Berlin und dem von den revolutionäre Obleuten gefaßten Beschluß auf Eroberung der politischen Gewalt eine klare Position: Ausgehend von der Einschätzung der Lage auf dem Gründungsparteitag der KPD, hielt die KPD den Zeitpunkt für einen Aufstand für verfrüht.

Am 8. Januar schrieb die ‘Rote Fahne’: „Heute gilt es also, die Arbeiter- und Soldatenräte neu zu wählen, den Vollzugsrat neu zu besetzen unter der Losung: Hinaus mit den Ebert und Anhängern! Heute gilt es, die Erfahrungen der letzten 8 Wochen in den A- und S-Räten zum Ausdruck zu bringen, solche A- und S-Räte zu wählen, die der Auffassung, den Zielen und Bestrebungen der Massen entsprechen. Es gilt mit einem Wort, die Ebert-Scheidemann vor allem in den Fundamenten der Revolution, in den A- und S-Räten zu schlagen. Dann, aber erst dann werden die Berliner Massen und ebenso die Massen im ganze Reiche in den A- und S-Räten revolutionäre Organe haben, die ihnen in allen entscheidenden Momenten wirkliche Führer, wirkliche Zentren der Aktion, der Kämpfe und Siege abgeben werden“ (Rote Fahne, 8. Januar). Die Spartakisten drängten somit die Arbeiterklasse zu einer Intensivierung des Druckes vor allem in den Arbeiterräten, indem die Kämpfe auf ihrem eigenen Boden in den Fabriken geführt werden sollten und indem Ebert, Scheidemann & Co. davongejagt werden. Indem der Druck in den Räten erhöht würde, könnte die Bewegung einen neuen Anschub erhalten, um die Schlacht um die Machtergreifung anzutreten.

Am 8. Januar übten Rosa Luxemburg und Leo Jogiches scharfe Kritik am Aufruf zum unmittelbaren Sturz der Regierung, der vom Revolutionsausschuß aufgestellt wurde, aber auch und vor allem daran, daß dieser wegen seiner zögernden und kapitulantenhaften Haltung unfähig war, die Bewegung der Klasse zu leiten. Insbesondere warfen sie K. Liebknecht vor, auf eigene Faust zu handeln, sich durch seinen Enthusiasmus und seine Ungeduld hinreißen zu lassen, anstatt sich an die Beschlüsse der Partei zu halten und sich auf das Programm und die Einschätzung der Partei zu stützen und daran zu halten.

Diese Situation zeigte, daß es weder an einem  Programm noch an politischen Analysen der Lage mangelte, sondern an der Fähigkeit der Partei, als Organisation ihre politische Führungsrolle der Arbeiterklasse zu übernehmen. Die erst wenige Tage alte KPD hatte nicht den Einfluß und noch weniger die Solidität und den organisatorischen Zusammenhalt, den insbesondere die Bolschewistische Partei 1917 in Rußland hatte. Diese Unreife der KPD war der Grund für die Zerstreuung in ihren Reihen, die später eine schwere und dramatische Bürde darstellen sollte.

In der Nacht vom 8. auf den 9. Januar überfielen Regierungstruppen  Arbeiter. Der Aktionsausschuß, der das Kräfteverhältnis noch immer nicht richtig einschätzte, drängte auf ein Losschlagen gegen die Regierung, obwohl diese selbst im Aufwind war: „Auf zum Generalstreik, auf zu den Waffen... Es gibt keine Wahl! Es muß gekämpft werden bis aufs Letzte“. Dem Aufruf folgten viele Arbeiter, warteten jedoch erneut vergeblich auf präzise  Anweisungen des Ausschusses, was konkret zu tun sei. Nichts geschah, um die Massen zu organisieren, die Verbrüderung der revolutionären Arbeiter mit den Truppen herbeizuführen... Die Regierungstruppen marschierten unterdessen in Berlin ein und lieferten den bewaffneten Arbeitern tagelang heftige Straßenkämpfe. Bei immer wieder aufflammenden Zusammenstößen in verschiedenen Stadtteilen Berlins wurden unzählige Arbeiter erschossen und verletzt. Die Kämpfe dauerten nahezu eine Woche. Am 13. Januar wurde von der USPD-Führung der Generalstreik als beendet erklärt. Am 15. Januar wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von den Schergen des sozialdemokratisch geführten Regimes ermordet! Die Kampagne ‘Tötet Liebknecht’ war ‘erfolgreich’ abgeschlossen. Die KPD war ihrer besten Führer beraubt!

Während die frisch gegründete KPD das Kräfteverhältnis für richtig eingeschätzt hatte und vor einem Aufstand gewarnt hatte, hatte der von den revolutionären Obleuten dominierte Aktionsausschuß die Lage falsch eingeschätzt. Es ist deshalb eine Geschichtsverfälschung von einer sog. ‘Spartakuswoche’ zu reden. Die Spartakisten hatten sich gegen überstürzte Schritte ausgesprochen. Der Bruch der Parteidisziplin durch Liebknecht und Pieck darf nicht das Bild entstehen lassen, der Spartakusbund hätte diese Kämpfe angezettelt. Es war das überstürzte, vor Ungeduld brennende und letztendlich kopflose Verhalten der revolutionären Obleute, die für das Fiasko verantwortlich sind. Die KPD besaß zu dem Zeitpunkt nicht die Kraft, die Bewegung zurückzuhalten - so wie es im Juli 1917 die Bolschewiki geschafft hatten. Der spätere Polizeichef gab dies zu: „Ein Erfolg der Spartakusleute war von vornherein ausgeschlossen, da wir sie durch unsere Vorbereitungen zum früheren Zuschlagen genötigt haben. Ihre Karten wurden früher aufgedeckt, als sie es wünschten, und wir waren daher in der Lage, ihnen entgegenzutreten“ (Polizeipräsident Ernst (SPD), der den alten abgelöst hatte). Die Bourgeoisie verspürte jedoch sofort, daß nach ihrem militärischen Erfolg sie diesen weiter ausbauen mußte. In einer Welle blutiger Repression wurden tausende Berliner Arbeiter, Kommunisten ermordet, mißhandelt und gefangengenommen. Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht war keine Ausnahme, sondern die wilde Entschlossenheit der Bourgeoisie, ihre Todfeinde, die Revolutionäre, auszulöschen. Am 19. Januar triumphierte dann die Demokratie - die Wahlen zur Nationalversammlung fanden statt. Die Regierung hatte unter dem Druck der Arbeiterkämpfe ihren Sitz nach Weimar verlegt. Die deutsche Demokratie, die Weimarer Republik, wurde nach und erst dank dem Massaker an der Arbeiterklasse geboren.Der Aufstand - nur eine Frage der Partei? Hinsichtlich der Frage des Aufstands stützte sich  die KPD klar auf die Positionen des Marxismus und insbesondere auf die Aussagen von F. Engels nach der Erfahrung von 1848: „Nun ist der Aufstand eine Kunst. Der Aufstand ist eine Rechnung mit höchst unbestimmten Größen, deren Wert sich jeden Tag ändern können; die Kräfte des Gegners haben alle Vorteile der Organisation, der Disziplin und der hergebrachten Autorität auf ihrer Seite; kann man ihnen nicht mit starker Überlegenheit entgegentreten, so ist man geschlagen und vernichtet. Zweitens, hat man einmal den Weg des Aufstands beschritten, so handle man mit der größten Entschlossenheit und ergreife die Offensive. Die Defensive ist der Tod jedes bewaffneten Aufstands; er ist verloren, noch bevor er sich mit dem Feinde gemessen hat. Überrasche deinen Gegner, solange seine Kräfte zerstreut sind, sorge täglich für neue, wenn auch noch so kleine Erfolge; erhalte dir das moralische Übergewicht, das der Anfangserfolg der Erhebung dir verschafft hat; ziehe so die schwankenden Elemente auf deine Seite, die immer dem stärksten Antrieb folgen und sich immer auf die sichere Seite schlagen; zwinge deine Feinde zum Rückzug, noch ehe sie ihre Kräfte gegen dich sammeln können...’ (Engels in ‘Revolution und Konterrevolution in Deutschland’, 1848, geschrieben 1851, in MEW Bd 8, S. S. 95). Die Spartakisten hatten die gleiche Herangehensweise gegenüber der Aufstandsfrage wie Lenin im April 1917. „Um erfolgreich zu sein, darf sich der Aufstand nicht auf eine Verschwörung, nicht auf eine Partei stützen, er muß sich auf die fortgeschrittenste Klasse stützen. Dies zum ersten. Der Aufstand muß sich auf den revolutionären Aufschwung des Volkes stützen. Dies zum zweiten. Der Aufstand muß sich auf einen solchen Wendepunkt in der Geschichte der anwachsenden Revolution stützen, wo die Aktivität der vordersten Reihen des Volkes am größten ist, wo die Schwankungen in den Reihen der Feinde und in den Reihen der schwachen, halben, unentschlossenen Freunde der Revolution am stärksten ist. Dies zum dritten. Durch diese drei Bedingungen eben unterscheidet sich der Marxismus in der Behandlung der Frage des Aufstands vom Blanquismus“ (Lenin, Marxismus und Aufstand, Brief an das ZK der SDAPR, geschrieben 13. Sep. 1917, in Werke Bd. 26, S. 4). Wie stand es im Januar 1919 konkret um die von Lenin genannten Kriterien?Der Aufstand stützt sich auf den revolutionären Aufschwung der Klasse Die Analyse der KPD auf ihrem Gründungskongreß war: Die Klasse ist noch nicht reif für den Aufstand. Nach der anfänglich von Soldaten dominierten Bewegung hätte jetzt ein neuer Schub aus den Betrieben, neuer Druck aus den Versammlungen und Demonstrationen der Arbeiter kommen müssen. Dies hätte der Bewegung Auftrieb und mehr Selbstvertrauen geben müssen. Wenn der Aufstand kein Putschversuch seitens einiger verzweifelter und ungeduldiger Elemente sein sollte, sondern sich auf den ‘revolutionären Aufschwung der Arbeiterklasse’ stützen mußte, wäre diese Intensivierung des Kampfes notwendig gewesen.  Zudem hatten die Arbeiterräte im Januar noch lange nicht die Zügel in der Hand, war die Doppelmacht durch die Arbeiterräte aufs heftigste von der SPD sabotiert worden. Wie im letzten Artikel dargestellt, war der Reichsrätekongreß Mitte Dezember ein Sieg der Bourgeoisie gewesen, und  es war noch zu keiner Neubelebung der Arbeiterräte gekommen. Die Einschätzung des Kräfteverhältnisses, der Dynamik der Entwicklung, die die KPD hatte, war realistisch. Manche meinen, die Partei solle die Macht ergreifen. Aber dann soll man erklären, wie eine noch so starke Partei das machen kann, wenn große Teile der Arbeiterklasse ihr Bewußtsein noch nicht ausreichend entwickelt haben, noch zögerlich sind und schwanken, wenn die Arbeiterklasse noch nicht einmal ausreichend starke Arbeiterräte gebildet hat, die sich dem bürgerlichen Regime entgegenstellen können. Aus unserer Sicht steckt dahinter ein grundsätzliches Verkennen der fundamentalsten Charakteristiken einer proletarischen Revolution und des Aufstandes, der, wie Lenin an erster Stelle hervorhob, ‘keine Verschwörung der Partei sein kann, sondern sich auf die fortgeschrittenste Klasse stützen muß’. Es sei denn, man hat eine blanquistische, putschistische  Auffassung? Selbst im Oktober 1917 bestanden die Bolschewiki nachdrücklich darauf, daß nicht die Bolschewistische Partei die Macht ergreift, sondern der Petrograder Sowjet. Der Aufstand ist keine Frage der ‘Deklaration von Oben’, der dann die Massen folgen müssen, sondern die Massen selber müssen vorher genügend Eigeninitiative und Kontrolle über ihre Kämpfe entwickelt haben, daß sie im Moment des Aufstands tatsächlich den Anweisungen und Orientierungen der Räte und der Partei bewußt folgen. Deshalb ist ein proletarischer Aufstand kein Putsch oder ein Handstreich - wie die bürgerlicher Ideologen es sich nur vorstellen können,  sondern das Werk der Arbeiterklasse selbst. Denn, damit das Proletariat das Joch des Kapitalismus abschüttelt, reichen nicht allein der Wille und die Entschlossenheit der Revolutionäre, d.h. des klarsten und entschlossensten Teils der Klasse. „...das aufständische Proletariat kann nur auf seine zahlenmäßige Stärke, seine Geschlossenheit, seine Kader, seinen Stab rechnen“ (Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Die Kunst des Aufstands, S. 833). Dieser Reifegrad war aber in der Klasse im Januar in Deutschland noch nicht erreicht.Die zentrale Rolle der Kommunisten  Die Kommunisten erkannten deshalb im Januar ihre Aufgabe, die Arbeiterklasse durch  unermüdliche ‘Aufklärungsarbeit’ weiter voranzudrängen. Nichts anderes als das hatte Lenin in seinen Aprilthesen im April 1917 betont: „Es scheint, als sei das ‘bloß’ propagandistische Arbeit. In Wirklichkeit ist es im höchsten Grade praktische revolutionäre Arbeit, denn man kann eine Revolution nicht vorwärtstreiben, die zum Stillstand gekommen, die in Redensarten versandet ist, die ‘auf der Stelle tritt’ nicht etwa äußerer Hindernisse wegen, nicht weil die Bourgeoisie Gewalt gegen sie anwendet, sondern weil die Massen in blinder Vertrauensseligkeit befangen sind. Nur durch den Kampf gegen diese blinde Vertrauensseligkeit ... können wir uns von der grassierenden revolutionären Phrase befreien und wirklich sowohl das Bewußtsein des Proletariats als auch das Bewußtsein der Massen sowie ihre kühne, entschlossene Initiative ...vorantreiben.“ (Lenin, Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution“,  Bd 24, S. 47)

Wenn der Siedepunkt dann erreicht ist, muß gerade die Partei ‘den Moment für das Angriffssignal richtig erfassen’ (Trotzki) können, um die Klasse zum richtigen Zeitpunkt zum Aufstand zu drängen. Die Klasse muß ‘über sich eine weitblickende, feste und sichere Leitung (in Form der Partei) fühlen’. (Trotzki).

Im Gegensatz zu den Bolschewiki im Juli 1917 hatte die KPD im Januar 1919 noch längst nicht soviel Gewicht, daß sie den Lauf der Kämpfe entscheidend hätte mitbestimmen können. Es reicht nicht, daß die Partei eine richtige Position hat, sie muß auch ein entsprechendes Gewicht in der Klasse haben. Und weder die verfrühte Aufstandsbewegung in Berlin noch weniger die darauf folgende blutige Niederlage ermöglichten es, dieses Gewicht aufzubauen. Die Bourgeoisie dagegen schaffte es, die revolutionäre Vorhut zu schwächen, indem ihre besten Militanten umgebracht wurden und ihr Hauptinterventionsinstrument in der Klasse, ‘Die Rote Fahne’ zum Schweigen gebracht wurde. In einer Zeit, als die breitest mögliche Intervention der KPD erforderlich war, stand die KPD wochenlang ohne Presse da. Das Drama der zersplitterten Kämpfe  International traten in diesen Wochen die Arbeiter in mehreren Ländern dem Kapital entgegen. Während in Rußland die Offensive der konterrevolutionären Weißen Truppen gegen die Arbeitermacht sich verstärkte, hatte das Kriegsende  gleichzeitig zu einer  Beruhigung in den ‘Siegerländern’ an der Klassenfront geführt. In England und Frankreich gab es zwar auch eine Reihe von Streiks, aber die Kämpfe schlugen nicht die radikale Richtung ein wie in Deutschland und Rußland. Die Arbeiter in Deutschland und in Mitteleuropa schlugen sich relativ abgeschnitten vom Rest der Klasse in den anderen Industriezentren. Im März errichteten die Arbeiter in Ungarn eine Räterepublik, die nach wenigen Wochen von konterrevolutionären Truppen niedergemetzelt wurde.Nachdem sie den Arbeiteraufstand in Berlin niedergeschlagen hatte, betrieb die Bourgeoisie eine Politik des Versuchs der Auflösung der Soldatenräte; sie wollte eine Bürgerkriegsarmee aufstellen. Darüber hinaus strebte sie die systematische Entwaffnung der Arbeiterklasse an. Aber die Kampfbereitschaft der Arbeiter flammte  immer noch an vielen Orten auf. Die Schwerpunkte einer Reihe von Kämpfen sollten in den nächsten Monaten zerstreut in ganz Deutschland liegen, wobei es in nahezu jeder großen Stadt zu heftigen Zusammenstößen zwischen Kapital und Arbeit kam, die aber isoliert voneinander blieben. Bremen im Januar ... Am 10. Januar rief in Bremen der Arbeiter- und Soldatenrat aus Solidarität mit den Berliner Arbeitern die Republik aus. Er verkündete die Entfernung der SPD-Mitglieder aus dem Arbeiterrat, Bewaffnung der Arbeiter, Entwaffnung der bürgerlichen Elemente. Der Arbeiter- und Soldatenrat ernannte eine Räteregierung, die ihm gegenüber rechenschaftspflichtig war. Am 4. Februar hatte die Reichsregierung ausreichend Truppen vor Bremen versammelt, um die isoliert gebliebene Stadt mit ihrem Arbeiter- und Soldatenrat anzugreifen. Am gleichen Tag noch fiel Bremen in die Hände der Bluthunde. Das Ruhrgebiet im Februar ... Auch  im Ruhrgebiet, der größten Konzentration von Arbeitern, flammte die Kampfbereitschaft nach Beendigung des Krieges weiter auf. Noch vor dem Krieg hatte es 1912 eine längere Streikwelle gegeben, dann reagierten die Arbeiter im Juli 1916, im Januar 1917, Januar 1918, August 1918 mit großen Streiks gegen den Krieg. Im November 1918 befanden sich die dort entstandenen Arbeiter- und Soldatenräte meist noch unter dem Einfluß der SPD. Vor allem ab Januar und Februar 1919 brachen viele wilde Streiks aus. Streikende Belegschaften zogen zu Nachbarzechen und bewogen sie zum Anschluß. Da kam es oft zu gewalttätigen Zusammenstößen mit  Arbeiterräten, die in dieser Phase noch von der SPD beherrscht wurden. Die KPD trat für folgende Orientierung ein: „Die Machtergreifung durch das Proletariat und die Durchführung des Sozialismus hat zur Voraussetzung, daß die überwiegende Mehrheit des Proletariats sich zum Willen hindurchringt, die Diktatur zu ergreifen. Wir glauben nicht, daß dieser Augenblick schon gekommen ist. Wir glauben, daß die Entwicklung der nächsten Wochen und Monate erst das Proletariat als Gesamtheit zu der Auffassung wird heranreifen lassen, daß nur in seiner Diktatur sein Heil liegt. Die Regierung Ebert-Scheidemann lauert auf die Gelegenheit, diese Entwicklung im Blut zu ersticken. Wie in Berlin, wie in Bremen wird sie versuchen, Revolutionsherde einzeln zu ersticken, um so der allgemeinen Revolution zu entgehen. Das Proletariat hat die Pflicht, diese Provokationen zuschaden zu machen, indem es vermeidet, in bewaffneten Aufständen den Henkern Opfer freiwillig anzubieten. Es gilt vielmehr, bis zu dem Augenblick der Machtergreifung die revolutionäre Energie der Masse in Demonstrationen, in Versammlungen, in Propaganda, Agitation und Organisation aufs höchste zu steigern, die Massen in immer größerem Umfang zu gewinnen und die Geister bereit zu machen für die kommende Stunde. Vor allem ist überall auf die Neuwahl der Arbeiterräte zu dringen unter der Parole: Heraus mit den Ebert-Scheidemännern aus den Arbeiterräten! Heraus mit den Henkern!“ (Aufruf der Zentrale der KPD vom 3. Februar 1919 zur Neuwahl der Arbeiterräte) Am 6. Februar tagten die Delegierten von 109 Arbeiter- und Soldatenräten des Ruhrgebiets und forderten die Sozialisierung der Produktionsanlagen. Hinter der Sozialisierungsforderung stand die wachsende Erkenntnis der Arbeiter, daß die Kontrolle über die Produktionsmitteln nicht in den Händen des Kapitals bleiben durfte. Solange jedoch die Arbeiter noch nicht die politische Macht in den Händen halten, noch nicht die bürgerliche Regierung gestürzt ist, kann sich diese Forderung als Bumerang erweisen. Denn wenn es vorher keinen politischen Sturz der Bourgeoisie gegeben hat, dann sind alle Sozialisierungsmaßnahmen ohne politische Macht in den Händen der Arbeiter nicht nur Sand in den Augen, sondern auch ein Mittel, um den Kampf abzuwürgen. So versprach die SPD ein  Sozialisierungsgesetz, mit dem eine staatliche Scheinkontrolle unter ‘Mitwirkung der Arbeiterschaft’ angeboten werden sollte. „Die AR werden als wirtschaftliche Interessensvertretung grundsätzlich anerkannt und in der Verfassung verankert. Wahl und Aufgaben werden durch ein sofort zu veranlassendes besonderes Gesetz geregelt.“ (Gesetzestext). Gleichzeitig sollten die Arbeiterräte in Betriebsräte umgewandelt werden. Ihre Funktion sollte nunmehr sein:  kontrollierend und mitbestimmend im Wirtschaftsprozeß mitzuwirken.   Das Ziel dieses Vorgehens war: Abstumpfung der Arbeiterräte, ihre Integration in den Staat. Sie sollten nicht mehr als Organ der Doppelmacht gegen den kapitalistischen Staat wirken, sondern der Regelung der kapitalistischen Produktion dienen. Diese Mystifizierung läßt den Glauben aufkommen, man könne jetzt sofort ‘in seiner Fabrik’ mit der Umwälzung der Produktion beginnen, die Arbeiter werden leicht auf die lokalen, fabrikspezifischen Bedingungen fixiert - anstatt in dieser Phase für die internationale Ausdehnung und Vereinigung der Kämpfe  einzutreten.. Diese Taktik, die zum ersten Mal von der deutschen Bourgeoisie ansatzweise eingesetzt wurde, äußerte sich dann in  Betriebsbesetzungen. In den Kämpfen in Italien 1919/1920 sollte sie von der Bourgeoisie dort mit großen Erfolg eingebracht werden. Ab dem 10. Februar waren die Truppen, die vorher in Berlin und Bremen ihr Blutbad angerichtet hatten, im Anmarsch aufs Ruhrgebiet.  Die Arbeiter- und Soldatenräte des gesamten Industriegebietes beschlossen, den Generalstreik und den bewaffneten Kampf gegen die Freiwilligenkorps aufzunehmen. Überall erscholl der Ruf ‘Heraus aus den Betrieben’. Es gab eine Unmenge von militärischen Zusammenstößen. Und wieder das gleiche Bild: Die SPD rief zur Beendigung der Streiks auf. Wieder bildete sie militärische Abteilungen zum Kampf gegen streikende Arbeiter. Die Rage der Arbeiter war oft so groß, daß SPD-Gebäude angegriffen wurden. So am 22. Februar in Mülheim-Ruhr. Dort beschossen Kommunisten eine SPD-Versammlung mit Maschinengewehrfeuer. In Gelsenkirchen, Dortmund, Bochum, Duisburg, Oberhausen, Wuppertal, Mülheim-Ruhr und Düsseldorf standen bewaffnete Arbeiter und Soldaten in größerer Anzahl. Aber auch hier fehlte es wie zuvor schon in Berlin an  Leitung und Organisation. Während der gesamte Staatsapparat mit der SPD an der Spitze zentralisiert gegen die Arbeiter vorgehen konnte, gab es keine einheitliche, die Kraft der Arbeiter steuernde Leitung. Bis zum 20. Februar streikten über einen Monat lang ca. 150’000 Arbeiter. Am 25. Februar wurde die Wiederaufnahme der Arbeit beschlossen, der bewaffnete Kampf eingestellt. Wieder konnte die Bourgeoisie ihre Repression ungehindert ausüben. Freikorps besetzten im Ruhrgebiet eine Stadt nach der anderen. Dennoch kam es Anfang April wieder zu einem Generalstreik. Am 1. April streikten 150’000, am 10. April 300’000 und Ende April war die Zahl der Streikenden wieder gefallen auf 130’000. Ab Mitte April erneut Repression und Jagd auf Kommunisten. Gleichzeitig standen in Württemberg, Braunschweig, Berlin, Frankfurt, Danzig, Mitteldeutschland große Massen im Streik. Das Ruhrgebiet war für die Bourgeoisie eine Priorität, es mußte zur Ruhe gebracht werden. Mitteldeutschland im Februar und März .. Als Ende Februar die Bewegung im Ruhrgebiet abgeflacht war, die Truppen dort die Oberhand gewonnen hatten, tauchte auch das Proletariat in Mitteldeutschland wieder auf der Bühne auf. Während die Bewegung sich im Ruhrgebiet auf Kohle und Stahl beschränkt hatte, erfaßte sie in Mitteldeutschland die ganze Industrie-Arbeiterschaft und den Transportbereich. In nahezu allen Städten und größeren Betrieben beteiligten sich die Arbeiter an der Bewegung. Am 24. Februar wurde ein Generalstreik ausgerufen,  d.h. 3 Tage nach Ende der Bewegung im Ruhrgebiet. Sofort erließen die Arbeiter- und Soldatenräte einen Aufruf an Berlin, daß es sich anschließen sollte. Auch hier lag der KPD nichts an einer überstürzten Aktion: „solange die Revolution noch nicht ihre zentralen Aktionsorgane hat, müssen wir die an Tausende Punkte ansetzende lokale Aktion der Räteorganisation entgegensetzen“ (Flugblatt der Zentrale der KPD). Verstärkung des Drucks aus den Betrieben! Intensivierung der ökonomische Kämpfe und Erneuerung der Räte! Weitergehende Forderungen nach dem Sturz der Regierung wurden nicht erhoben. Auch hier schaffte es die Bourgeoisie jedoch mit einem Abkommen über die angestrebte Sozialisierung der Bewegung die Spitze zu brechen. Am 6./7. März wurde die Arbeit wieder aufgenommen.  Bei allen militärischen Unternehmungen... ist rechtzeitig Fühlung mit den regierungstreuen führenden SPDlern zu nehmen“ Wieder Berlin im März ... Nachdem die Bewegung im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland ihrem Ende zuneigte, trat am 3. März das Proletariat in Berlin in einen Generalstreik. Die Orientierung war: Verstärkung der Arbeiter- und Soldatenräte, Freilassung aller politischer Gefangenen, Bildung einer revolutionären Arbeiterwehr, Kontaktaufnahme mit Rußland. Die rapide Verschlechterung der Lage der Bevölkerung nach dem Krieg, explodierende Preise, aufkommende Massenarbeitslosigkeit nach der Demobilisierung trieben die Arbeiter zu verstärkten Abwehrkämpfen. Auch in Berlin traten die Kommunisten dafür ein, durch eine Neuwahl in den Arbeiterräten eine größere Druckwelle gegen die Regierung nach den Wahlen zur bürgerlichen Nationalversammlung aufzubauen.  Die Bezirksleitung Groß-Berlin der KPD schrieb: „Glaubt ihr, eure revolutionären Ziele mit dem Stimmzettel zu erreichen? .... Wollt ihr die Revolution weitertreiben, dann setzt eure ganze Kraft ein für die Arbeit in den A.- und S.-Räten. Sorgt dafür, daß sie ein wirkliches Instrument der Revolution werden. Sorgt für Neuwahlen zu den Arbeiter-  und Soldatenräten.“ Die SPD stemmte sich jedoch gegen Neuwahlen zu den Arbeiterräten und zum Vollzugsrat. Auch hier wieder Sabotage der Kämpfe mit politischen und - wie wir sehen werden- mit militärischen Mitteln.  Als die Berliner Arbeiter Anfang März in den Streik traten, übernahm der Vollzugsrat die Leitung des Streiks. Wieder wurde der Vollzugsrat aus Delegierten der SPD und USPD zusammengesetzt. Die KPD wollte nicht mit der SPD in einer Streikleitung sitzen. ‘Die Vertreter dieser Politik in die Streikleitung zu übernehmen, bedeutet den Verrat an dem Generalstreik und an der Revolution.’ Wie  es heute immer wieder die Sozialdemokraten und Stalinisten und andere Vertreter der extremen Linken tun, schaffte es die SPD, sich dank der Leichtgläubigkeit der Arbeiter aber auch durch alle möglichen Tricks und Täuschungsmanöver in die Streikleitung einzuschleichen. Die KPD ließ sich nicht von einer Bloßstellung dieser Henker der Arbeiterklasse abbringen. Die Regierung verbot die Veröffentlichung der ‘Roten Fahne’, während die SPD ihre Zeitung ‘Vorwärts’ weiter drucken lassen konnte. Die Konterrevolutionäre konnten ungehindert sprechen, die Revolutionäre sollten zum Schweigen verurteilt werden! Aus Vorsicht vor Angriffen konterrevolutionären Truppen im Streik, bei Demonstrationen warnte die „Rote Fahne“: „Laßt die Arbeit ruhen! Bleibt vorläufig in den Betrieben. Versammelt Euch in den Betrieben. Klärt die Zaghaften und Zurückgebliebenen auf! Laßt euch nicht in unnütze Schießereien ein, auf die der Noske nur lauert, um neues Blut zu vergießen!“

Frühzeitig jedoch schon initiierte die Bourgeoisie Plünderungen, die als offizielle Rechtfertigung für den Einsatz des Militärs dienten. Noske-Soldaten zerstörten als allererstes die Redaktionsräume  der „Roten Fahne“. Führende KPD-Mitglieder wurden wieder in Haft genommen, Leo Jogiches erschossen. Gerade weil die ‘Rote Fahne’ die Arbeiterklasse vor den Provokationen der Bourgeoisie gewarnt hatte, wurde die ‘Rote Fahne’ zur sofortigen Zielscheibe der konterrevolutionären Truppen.

Die Repression in Berlin begann am 4. März. Ca. 1.200 Arbeiter wurden erschossen, wochenlang wurden Leichen in der Spree ans Ufer gespült. Wer ein Bild von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht besaß, wurde verhaftet. Wir betonen erneut: Nicht Faschisten zeichneten für diese blutrünstige Repression verantwortlich, sondern die SPD! Als am 6. März der Generalstreik in Mitteldeutschland abgebrochen wurde, wurde er auch in Berlin am 8. März beendet. In Sachsen, Baden, Bayern, überall gab es zu diesem Zeitpunkt gleichzeitig Generalstreiks, aber der Funken zwischen diesen Bewegungen sprang nicht über. Die bayrische Räterepublik im April Aber auch in Bayern erhob die Arbeiterklasse die Stirn. Am 7. April versuchten SPD und USPD die ‘Gunst der Massen durch eine pseudo-revolutionäre Aktion zu gewinnen’ (Léviné). Wie im Januar in Berlin hatte die KPD erkannt, daß überhaupt kein für die Arbeiter günstiges Kräfteverhältnis vorhanden war. Sie stellte sich gegen die Ausrufung der Bayrischen Republik! Aber die Kommunisten in Bayern riefen die Arbeiter dazu auf, einen „wirklich revolutionären Rat“ zu wählen zur Erkämpfung und Durchführung der wirklichen kommunistischen Räterepublik. Léviné trat am 13. April an die Spitze einer neuen Räteregierung, die auf ökonomischer, politischer und militärischer Ebene energische Maßnahmen gegen die  Bourgeoisie ergriff. Trotzdem war diese Bildung eines ‘revolutionären Aktionsausschusses’ ein schwerwiegender Fehler der Revolutionäre in Bayern und widersprach dem Beschluß der Partei. Vom Rest Deutschlands vollkommen abgeschnitten, wurde von der Bourgeoisie eine umfassende Konteroffensive gegen die Bayrische Republik gestartet. Die Lebensmittelzufuhren nach München wurden abgebrochen, Truppen von über 100’000 Mann wurden um München zusammengezogen. Am 27. April wurde der Vollzugsrat in München gestürzt. Wieder schlug der blutige Arm der  Repression zu. Tausende Arbeiter wurden in den Kämpfen standrechtlich erschossen und anderswie umgebracht. Erneut setzte eine Kommunistenjagd ein, und Léviné wurde zum Tode verurteilt. * * * Gerade die heutigen Generationen von Arbeitern können sich kaum vorstellen, was eine mächtige Welle von Arbeiterkämpfen - nahezu gleichzeitig - in den größten Arbeiterkonzentrationen bedeutet, welch riesiger Druck dadurch auf das Kapital entsteht..... Die Arbeiterklasse in den Hochburgen des Kapitalismus hatte bewiesen, daß sie gegenüber einer der erfahrensten Bourgeoisien  ein Kräfteverhältnis aufbauen konnte, das zum Sturz des Kapitals hätte führen können. Diese Erfahrung zeigt, daß die revolutionäre Bewegung nicht auf die Arbeiterklasse im angeblich rückständigen Rußland reduziert war, sondern die Arbeiterklasse in höchst entwickelten Industrieländern sich daran massiv beteiligte.Eine Welle revolutionärer Kraft kam in diesen Monaten zerstreut, zersprengt zur Entfaltung. Diese Kraft, die zusammengefaßt und vereinigt ausgereicht hätte zum Sturz der Regierung. Aber diese gewaltige Kraft ging verloren, die Regierung konnte sie stückweise zerschlagen und vernichten, die Berliner Januaraktion hatte der Revolution den Kopf abgeschlagen und das Rückgrat gebrochen, Richard Müller, ein Führer der revolutionären Obleute, die sich über lange Zeit durch ihre großen Schwankungen und Zögerungen auszeichneten, kann nicht umhin festzustellen: „Wenn es nicht zur Niederschlagung der Kämpfe im Januar in Berlin gekommen wäre, dann hätte die Bewegung woanders im Frühjahr weiter Auftrieb erhalten können, und die Frage der Macht wäre näher in Reichweite gerückt, aber die militärische Provokation hatte der Bewegung gewissermaßen schon den Wind aus den Segeln genommen. Die Januaraktion hat Argumente geliefert für die Hetze, für einen Lügenfeldzug, für die Schaffung einer Atmosphäre des Bürgerkrieges ...“ Ohne diese Niederlage hätte das Berliner Proletariat die Kämpfenden in den anderen Teilen Deutschlands unterstützen können. Aber diese  Schwächung dieses zentralen Teils der Revolution ermöglichte es den Kräften des Kapitals in eine Offensive einzutreten und überall die Arbeiter in verfrühte und zerstreute militärische Auseinandersetzungen zu locken. Die Arbeiter wiederum schafften es nicht, selbst eine breite, vereinte und zentralisierte Bewegung auf die Beine zustellen, eine Doppelmacht im ganzen Lande aufzubauen, die eine Zentralisierung durch die Verstärkung der Räte ermöglicht hätte. 

 

Nur der Aufbau solch eines Kräfteverhältnisses ermöglicht es, einen Anlauf zum Aufstand zu machen, der die größte Überzeugung und die Koordination aller Handlungen erfordert. Und diese Dynamik kann sich nicht ohne die klare und entschlossene Intervention einer politischen Partei innerhalb der Bewegung entfalten. Nur so kann die Arbeiterklasse siegreich diesen historischen Kampf gewinnen.

Die Niederlage der Revolution in Deutschland in den ersten Monaten des Jahres 1919 war nicht nur auf die Geschicklichkeit der deutschen Bourgeoisie zurückzuführen. Sie war nur möglich dank des gemeinsamen Vorgehens der internationalen Kapitalistenklasse. Während die Arbeiterklasse in Deutschland dem Kapital zersplitterte Kämpfe lieferte, standen die Arbeiter in Ungarn im März dem Kapital in revolutionären Auseinandersetzungen gegenüber. Am 21. März 1919 wurde in Ungarn die Räterepublik ausgerufen - die jedoch im Sommer von konterrevolutionären Truppen niedergemetzelt wurde. Sicher stand die internationale Kapitalistenklasse geschlossen hinter dem Kapital in Deutschland. Während sie sich zuvor 4 Jahre im Krieg auf das heftigste bekämpft hatte, trat  sie nun vereint der Arbeiterklasse gegenüber. Lenin meinte, daß sich die Ententemächte „mit den deutschen Paktierern auf jede Weise verständigten, um die deutsche Revolution zu erwürgen“ (Lenin, 9. Parteitag der KPR, Werke Bd. 30, S. 441). Das Proletariat tritt seitdem in keinem Teil der Welt einer gespaltenen Kapitalistenklasse gegenüber, sondern jedesmal, wenn sich die Arbeiterklasse anfängt zusammenzuschließen, steht die Front des Kapitals schon geschlossen!

Wenn die Arbeiterklasse  in Deutschland es geschafft hätte, die Macht zu ergreifen, wäre der kapitalistische Staudamm auch international gebrochen, die Revolutionäre in Rußland nicht isoliert geblieben.

Als die 3. Internationale im März 1919 in Moskau gegründet wurde, d.h. zu einem Zeitpunkt, als in Deutschland die Kämpfe voll entflammt waren, schien diese Perspektive den Kommunisten in greifbare Nähe gerückt. Aber die Niederlage der Arbeiter in Deutschland sollte den Niedergang der internationalen revolutionären Welle und insbesondere der russischen Revolution einläuten. Es war die Bourgeoisie mit der SPD an ihrer Spitze, die durch ihre konterrevolutionären Aktionen die Revolution in Rußland entscheidend isolierte, ihre Entartung möglich mache und so zum Geburtshelfer des Stalinismus wurde.           DV.


[i] [89] Siehe die beiden vorherigen Artikel in Int. Revue Nr. 17 und 18.

[ii] [89] Die SPD war die größte Arbeiterpartei vor 1914; im August 1914 verriet die Führung der SPD - mit der Reichstagsfraktion und den Gewerkschaftsführern an der Spitze - alle internationalistischen Prinzipien der Partei. Die Führung schloß sich voll dem Lager des nationalen Kapitals als Rekrutierungskraft für das imperialistische Abschlachten an. [iii] Zu welchem unverantwortlichen Verhalten man sich hinreißen lassen kann, wenn man keine klare Analyse hat, zeigte 1980 die CWO. Sie forderte zur Zeit der Massenkämpfe in Polen: ‘Revolution Now’! [iv] [89] Die „Unabhängige Sozialistische Partei Deutschlands“ war eine zentristische Abspaltung von der SPD, welche deren offensichtlichsten bürgerlichen Auffassungen zwar verwarf, jedoch unfähig war, eine klare internationalistische, kommunistische Haltung einzunehmen. 1917 war der Spartakusbund der USPD mit der Absicht beigetreten, so seinen Einfluss in der Arbeiterklasse, welche durch die Politik der SPD zunehmend angewidert war, zu verstärken.

[v] [89] „Internationale Kommunisten Deutschlands“. Vor dem 23. November 1918, als sie in Bremen beschlossen, das Wort Sozialisten durch Kommunisten zu ersetzen, auch bekannt als „Internationale Sozialisten Deutschlands“. Diese Gruppe war kleiner als der Spartakusbund und besaß auch weniger Einfluss, teilte jedoch deren revolutionäre internationalistische Positionen. Die IKD waren Mitglied der Zimmerwalder Linken und stand der Internationalen Kommunistischen Linken sehr nahe, vor allem der Holländischen Linken (Pannekoek und Gorter gehörten vor dem Krieg zu ihren Theoretikern) und der Russischen Linken (Radek war einer ihrer Genossen). Ihre Ablehnung der Gewerkschaften und des Parlamentarismus stand am Gründungsparteitag der KPD gegenüber der Position von Rosa Luxemburg in der Mehrheit.

 

[vi] [89] Die Revolutionären Obleute waren ursprünglich zum grössten Teil in Betrieben gewählte Gewerkschaftsdelegierte, welche mit den sozialchauvinistischen Gewerkschaftsführungen gebrochen hatten. Sie waren ein direktes Produkt des Widerstandes der Arbeiterklasse gegen den Krieg und gegen den Verrat der Gewerkschaften und sog. “sozialistischen“ Parteien. Leider führte ihr Kampf gegen die Gewerkschaftsführungen zu einem generellen Misstraunen gegenüber zentralisiertem Handeln, und sie entwickelten lokalistische und auf Betriebe reduzierte Standpunkte. Sie waren in politischen Fragen oft sehr schwankend und neigten zu Auffassungen der USPD. <p <div

Theorie und Praxis: 

  • Deutsche Revolution [68]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1919 - Deutsche Revolution [88]

Imperialistische Spannungen: Der Aufstieg des deutschen Imperialismus

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Kein anderes Ereignis hat die weltweite Zuspitzung der imperialistischen Spannungen dramatischer verdeutlicht als die Entsendung von 3.000 deutschen Kampftruppen nach Bosnien. Unter dem Deckmantel der Aufrechterhaltung des ‘Friedensabkommens’ für Bosnien, das von den USA in Dayton diktiert wurde, wird die Bundeswehr genauso wie die Armeen der Rivalen Frankreich, Großbritannien und der USA in das Krisengebiet geschickt, um die imperialistischen Interessen der jeweiligen nationalen Bourgeoisie zu verteidigen.

Kein anderes Ereignis bestätigt so deutlich den Aufstieg des deutschen Imperialismus seit der Wiedervereinigung. Zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg schickt die deutsche Bourgeoisie bewaffnete Streitkräfte ins Ausland mit dem Mandat bewaffneter Einsätze. Dadurch wirft sie demonstrativ die Fesseln von sich, die ihr nach der Niederlage in den beiden Weltkriegen auferlegt worden waren. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang war die deutsche Bourgeoisie der beiden deutschen Staaten, die nach 1945 entstanden waren, nicht berechtigt, im Ausland militärische Interventionen zugunsten ihrer eigenen imperialistischen Interessen durchzuführen. Eine Ausnahme von diesem allgemeinen Gesetz, die von der NATO im Westen und vom Warschauer Pakt im Osten zugelassen würde, konnte nicht in Bonn oder Ostberlin entschieden werden, sondern in Washington oder in Moskau. Tatsächlich war die einzige Beteiligung deutscher Truppen bei militärischen Kampfeinsätzen im Ausland seit 1945 die Ostdeutschlands bei der Besetzung der Tschechoslowakei durch die UdSSR und die Warschau-Pakt-Staaten 1968.

Heute ist Deutschland wiedervereinigt und wieder als führende europäische Macht in Erscheinung getreten. In einer Welt, die nicht nur von militärischen Spannungen, sondern durch ein globales Chaos und den Kampf des jeder gegen jeden erschüttert wird, braucht der deutsche Imperialismus nicht mehr die Zustimmung anderer Staaten zur militärischen Abstützung seiner eigenen Außenpolitik. Heute kann die deutsche Regierung ihre militärische Präsenz auf dem Balkan erzwingen, egal ob die anderen Staaten dies mögen oder nicht. Diese wachsende Stärke verdeutlicht vor allem den Niedergang der Hegemonie der einzig übrig gebliebenen Supermacht - der USA.  Da die Fähigkeit der USA, der Bonner Regierung Vorschriften zu machen über das, was zu tun sei und was nicht, Dreh- und Angelpunkt ihrer Vorherrschaft über zwei Drittel der Erde nach 1945 war, bringt die Präsenz der Bundeswehr in Bosnien heute der Welt zum Ausdruck, wie stark diese US-Vorherrschaft schon untergraben wurde.

Deutschland untergräbt Dayton und fordert die USA heraus

Aber die Beteiligung Bonns an der IFOR 2 Mission der NATO in Bosnien, wo es zusammen mit Frankreich eine der drei Kontrollzonen überwacht, ist eine Herausforderung für die USA und die europäischen Mächte nicht nur auf globaler historischer Ebene. Es handelt sich nämlich auch um einen unabdingbaren Schachzug bei der konkreten Verteidigung der entscheidenden deutschen imperialistischen Interessen in der Region selber. Das herausragendste Interesse Deutschland ist der langfristige Zugang zu einem Marinestützpunkt am Mittelmeer mittels der Häfen des alten historischen Verbündeten Kroatien. Es war die Kohl-Regierung, die die Auflösung Jugoslawiens in Gang setzte, und damit auch die ganze Kette blutiger Reaktionen in diesem Land, indem Bonn aggressiv die Unabhängigkeit Kroatiens und Sloweniens Anfang der 90er Jahre unterstützte. Obgleich Bonn nicht zuletzt durch massive Waffenlieferungen an Kroatien dazu in der Lage war, dieses Ziel durchzusetzen, blieb ein Drittel des Territoriums seines kroatischen Verbündeten von serbischen Kräften besetzt, wodurch praktisch der Norden von den strategisch wichtigen dalmatinischen Häfen im Süden abgeschnitten gewesen war. Am Anfang des Balkankrieges konnte Deutschland noch Punktgewinne erzielen, indem es Kroatien aus dem Hinterhalt unterstützte, ohne selbst Truppen entsenden zu müssen. Aber als der Krieg im benachbarten Bosnien ausgelöst wurde, gingen die europäischen Hauptrivalen Deutschlands, insbesondere Großbritannien und Frankreich unter dem Deckmantel der UNO und schließlich vor allem die USA unter dem Schutzschild der NATO dazu über, ihre Interessen in der Region durch ihre militärische Präsenz direkt zu verteidigen. Diese Präsenz konnte um so wirksamer sein, als Deutschland militärisch und politisch noch nicht dazu in der Lage war nachzuziehen. Vor allem das militärische Engagement der USA bewirkte, daß die Position Deutschlands während der letzten beiden Jahre geschwächt wurde. Die militärischen Siege Kroatiens gegen die pro-britischen und pro-französischen Serben in der Krajina und in Bosnien, welche die Spaltung dieses Landes überwanden und die Wiederherstellung der Verbindung zwischen den dalmatinischen Häfen und der Hauptstadt Zagreb ermöglichten, waren möglich nicht dank der Unterstützung durch Deutschland, sondern durch die USA. Somit verdeutlichte das Daytoner Abkommen, das die USA dank ihrer Militärschläge in Bosnien aufzwingen konnten, die unaufschiebbare Notwendigkeit für Deutschland, seine Interessen in der Region durch eigene bewaffnete Truppen zu verteidigen. Die erste Stationierung von deutschen Sanitäts- und logistischen Einheiten in Kroatien im letzten Jahr, die noch außerhalb der Kampfzone und ohne einen Kampfauftrag erfolgte, war ein erster Schritt zur gegenwärtigen ‘friedenstiftenden’ Einheit in Bosnien selber. Bei ihrer Ankunft in Bosnien wurden diese Einheiten, die schwer bewaffnet und mit einem Kamp­f­auftrag versehen sind, offen von den bosnischen Kroaten als Verbündete begrüßt, und die bosnischen Kroaten nahmen sofort eine aggressivere Haltung gegenüber den moslemischen Bosniern ein, womit den französischen und spanischen Truppen in der geteilten Stadt Mostar das Leben noch schwerer gemacht wurde. Und die kroatische Regierung in Zagreb belohnte die Ankunft der Bundeswehr mit der Entscheidung, die alten Boeing-Flugzeuge der Croatian Airline durch neue Airbusse zu ersetzen, deren Hauptteil in Deutschland produziert wird. Bei der Rechtfertigung dieser Entscheidung sagte der kroatische Außenminister: „Wir schulden unsere nationale Unabhängigkeit Amerika, aber unsere Zukunft liegt in Europa, und sie stützt sich auf die Grundlage unserer Freundschaft mit der deutschen und bayrischen Regierung.“ Tatsächlich hatte die kroatische Bourgeoisie schon seit langem ungeduldig auf die Ankunft der deutschen Truppen gewartet, um die Führungsrolle der USA abzuschütteln. Washington hat Kroatien sehr viel für seine Unterstützung zahlen lassen. Es waren die USA, die lange vor der Endphase des Krieges in Bosnien, vor Dayton, Bosnien und vor allem die kroatischn Kräfte daran gehindert haben, Banja Luca einzunehmen. Somit haben die USA Kroatien daran gehindert, die Serben in den Osten Bosniens zu verdrängen. Und vor allem waren es die USA, die die bosnischen Kroaten dazu zwangen, sich mit den Muslimen zu verbünden, was aber im Widerspruch zu all den kroatischen Kriegszielen in Bosnien steht. Aus der Sicht der kroatischen Bourgeoisie sind ihre Hauptfeinde nicht die Serben, sondern die Moslems, und ihr Ziel ist die Aufteilung Bosniens zwischen Kroaten und Serben auf Kosten der muslimischen Bourgeoisie. Aber die kroatischen Interessen in Bosnien stimmen vollkommen mit denen Deutschlands überein:  die Sicherung des Zugangs zu den dalmatinischen Häfen. Trotz ihrer taktischen Zusammenarbeit mit den USA gegen Serbien während der letzten beiden Jahre, stehen diese gemeinsamen Interessen Bonns und Zagrebs den Interessen nicht nur der pro-serbischen europäischen Mächte und Rußlands, sondern auch der USA selbst entgegen.

Die deutsche Balkan-Offensive

Gegenwärtig kann man eine deutsche Gegenoffensive im ehemaligen Jugoslawien und auf dem Balkan beobachten, die darauf abzielt, die deutschen Punktverluste durch das Dayton-Abkommen wieder auszugleichen. Ebenso will man die amerikanischen Schwierigkeiten im Nahen Osten ausnutzen, um den deutschen Einfluß in Südosteuropa und Zentralasien auszudehnen. Die Entsendung deutscher Truppen nach Bosnien, die weit davon entfernt ist, ein isoliertes ‘friedenserhaltendes’ Ereignis zu sein, ist Teil einer extrem aggressiven imperialistischen Ausdehnung Richtung Mittelmeer, Naher Osten und Kaukasus. Dreh- und Angelpunkt dieser Politik ist die Zusammenarbeit mit der Türkei. Die Niederlage des russischen Imperialismus in Tschetschenien und die Schwächung seiner Position im ganzen Kaukasus hat auch mit dieser deutsch-türkischen Zusammenarbeit zu tun. Heute unterstützt Deutschland die Annäherungspolitik der Regierung Erbakans in Ankara an den Iran, einem anderen traditionellen deutschen Verbündeten. Auch hat Deutschland klar Stellung zugunsten der Türkei in deren Konflikt mit Griechenland bezogen. Außenminister Kinkel erklärte gegenüber der Presse am 7. Dezember 96 in Bonn: „Die Türkei ist für Deutschland das Schlüsselland für unsere Beziehungen zur gesamten islamischen Welt [....]. Wie kann man es der Türkei verübeln, wenn sie sich mehr zu ihren islamischen Nachbarn orientiert, da die Türkei bislang aus der Europäischen Union noch keinen Pfennig gewonnen hat aufgrund der Blockadepolitik.“ Als Reaktion auf dieses deutsch-türkische Zusammengehen hat Rußland den griechischen Zyprioten die Lieferung von Raketen versprochen, ohne auf einen starken Widerstand aus Washington zu stoßen. In  diesem Gebiet, wo  Europa und Asien zusammentreffen, vollzieht sich eine gewaltige Zusammenballung von Waffen und Spannungen.

Gleichzeitig destabilisieren die Großmächte und besonders Deutschland die Innenpolitik aller Länder auf dem Balkan. In der Türkei unterstützt Bonn den ‘islamischen’ Ministerpräsidenten Erbakan bei dessen bitterem Machtkampf mit dem pro-amerikanischen Flügel des Militärs, ungeachtet der Gefahr eines Militärputsches oder eines Bürgerkrieges. Neulich beschuldigte ein deutsches Gericht offiziell die Familie der Rivalin Erbakans, der Außenministerin Tansu Ciller, eine Schlüsselrolle im internationalen Drogenhandel zu spielen. In Serbien hat Deutschland neben den USA die serbische ‘demokratische’ Opposition unterstützt, d.h. auch die zutiefst deutschfeindlichen Draskovic und Djinic, einfach weil man das Regime Milosevics destabilisieren will. In Bulgarien, Mazedonien und Albanien beteiligen sich Deutschland und die anderen Großmächte an den oft blutigen Machtkämpfen. Aber das spektakulärste Beispiel dieser Destabilisierungspolitik ist Österreich, das sich bislang immer als ‘Insel der Seligen’ bezeichnete. Österreich war das einzige Land, das zum gleichen Zeitpunkt die Unabhängigkeit Kroatiens und Sloweniens anerkannte wie Bonn. Die meisten Fraktionen der österreichischen Bourgeoisie sind mehr oder weniger pro-deutsch. Da Österreich für Deutschland das Tor zum Balkan ist, hat Bonn versucht, Österreich in eine quasi-deutsche Kolonie zu verwandeln, indem es Banken und Betriebe aufkaufte, die österreichische Armee dazu drängte, deutsche Rüstungsgüter zu kaufen und den österreichischen christlich-demokratischen Außenminister Schüssel unterstützte, der angeblich Helmut Kohl vor jeder wichtigen außenpolitischen Entscheidung konsultiert. Dies hat eine Reihe von Koalitionskrisen in Wien sowie Widerstand unter den Sozialdemokraten hervorgerufen, die die klassische Partei der österreichischen Bourgeoisie sind. All dies hat zur Ablösung des ‘Versöhnlers’ Vranitzky durch einen neuen Bundeskanzler, Viktor Klima, geführt, der ein  offenerer Gegner einer ‘Übernahme’ durch Deutschland ist.

Welche strategischen Interessen bei diesen Konflikten auf dem Spiel stehen

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 tauchten viele der strategischen Kräfteparallelo­gramme zwischen den Westmächten, die vor und während der beiden Weltkriege bestanden hatten, wieder auf. Das wiedererwachte ‘historische’ Ziel des modernen deutschen Imperialismus schließt die Beherrschung Österreichs und Ungarns als der Pforten zum Balkan und der Türkei als der Pforte nach Asien und dem Mittleren Osten ein, aber auch die Zerstückelung Jugoslawiens und die Unterstützung Kroatiens, damit Deutschland einen Zugang zum Mittelmeer findet. Schon vor und während des 1. Weltkriegs formulierten die berühmten Geostrategen des ‘Alldeutschen Vereins’ die Richtlinien der Außenpolitik, die auch heute nach dem Zusammenbruch der Weltordnung nach 1945 die Außenpolitik wiederum bestimmen. Ernst Jaeckh schrieb 1916: „Deutschland hat ringsum fertige Völker - längst fertige und allmählich feindliche. Im Westen Frankreich: in Revanchefeindschaft verbleibend; im Osten Rußland: in Orientfeindschaft verfallend; im Norden England: in Weltfeindschaft sich steigernd [....]. Nur südostwärts - hinter dem österreichisch-ungarischen Bundesgenossen, für den bereits Bismarck sich entschieden hat gegen Rußland - öffnet sich ein Weg zu Völkern, die noch nicht fertig sind in ihrer Staatenbildung, auch noch nicht feindlich gegen uns [....] durch den nahen Weltteil Mitteleuropa ans Mittelmeer heran und zum Indischen Ozean hin. Der Landweg über Mitteleuropa wird so der Umweg zur Übersee [....]. Und Jaeckh fügte hinzu, daß „Deutschland und die Türkei die Ecksteine sind, Österreich-Ungarn und Bulgarien den Zusammenschluß herstellen.“ Im gleichen Jahr schrieb Friedrich Naumann, ein anderer berühmter Theoretiker des deutschen Imperialismus: „Auf die Sicherheit dieses Weges muß insbesondere Deutschland alles Gewicht legen, weil seine Zusammenhänge mit der Türkei an das Vorhandensein dieser Linie gebunden sind. Wir haben ja im Kriege erlebt, welcher Schaden dadurch hätte entstehen können, daß die Serben ein Stück dieses Weges besaßen. Um dieses Weges willen erfolgte der Donauübergang der Armee Makkensen. Alles, was an der Balkanbahn liegt, liegt an der für uns notwendigen Linie Hamburg-Suez, die wir uns von niemandem dürfen sperren lassen. Was ist Bagdadbahn, was anatolische Bahn für uns, wenn wir sie nicht ohne Englische Erlaubnis erreichen können?“ (Naumann, Bulgarien und Mitteleuropa, 1916). In diesem Sinne wiederholte Paul Rohrbach, den Rosa Luxemburg als „ganz offen und ehrlich [....] halboffiziösen Wortführer des deutschen Imperialismus“ bezeichnet hat, die „notwendige Beseitigung des serbischen Riegels zwischen Mitteleuropa und dem Orient.“ (Rohrbach, England und Rußland, unsere Gegner)[i] [90]

Der Balkan war schon der Ausgangspunkt des Ersten und eines der Hauptschlachtfelder des Zweiten Weltkriegs, auch heute wieder wird diese Region durch den Aufstieg des deutschen Imperialismus und die Bestrebungen der großen Rivalen, dem entgegenzutreten, in die Barbarei gestürzt.

Die deutsch-amerikanischen Rivalitäten in Osteuropa

Obgleich die Vereinigten Staaten und Deutschland mittels ihrer bosnischen und kroatischen Schachfiguren im ehemaligen Jugoslawien kürzlich eine taktische Allianz mit dem Ziel des Zurückdrängens Serbiens eingegangen sind, und obgleich Washington und Bonn zusammengearbeitet haben, um die Entwicklung des Chaos in Rußland zu begrenzen, sind sie zu den Hauptrivalen im Kampf um die Vorherrschaft in Osteuropa geworden. Seit dem Zusammenbruch der UdSSR hat der russische Imperialismus gar die letzten Reste seines vorherigen Einflusses über die früheren Warschauer Pakt Staaten verloren. Obgleich die Osterweiterung der NATO und der Europäischen Union von den westlichen bürgerlichen Medien mit der Notwendigkeit begründet werden, Osteuropa vor einer möglichen russischen Aggression zu schützen, sind sie in Wirklichkeit Teil eines Wettrennens zwischen Deutschland mittels der EU und der USA mittels der NATO, um die imperialistische Vorherrschaft Moskaus durch ihre jeweils eigene zu ersetzen. In der ersten Hälfte der 90er Jahre war Deutschland dazu in der Lage, einen mehr oder weniger starken Einfluß in allen ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten mit Ausnahme der Tschechischen Republik aufzubauen. Im Mittelpunkt der deutschen Ausdehnung steht das Bündnis mit Polen, das eine starke militärische Komponente trägt. Unter dem Vorwand, Hilfe zu leisten bei der Absicherung der polnischen Ostgrenze gegen das Eindringen von illegalen Einwanderern nach Deutschland, hat Deutschland angefangen, große Teile des polnischen Militärapparates auszurüsten und zu finanzieren. So hat die polnische Regierung die Entsendung von deutschen Truppen nach Bosnien aufs wärmste begrüßt; auch hat sie versprochen, sich in Zukunft mit der Bundeswehr an Auslandseinsätzen zu beteiligen. Die Tatsache, daß ein Land wie Polen sich mit dem Wirtschaftsriesen Deutschland verbündet anstatt mit der US-amerikanischen militärischen Supermacht, zeigt, wie wenig Warschau eine militärische Invasion Rußlands fürchtet. In Wirklichkeit hofft die polnische Bourgeoisie, die weniger an ihre Verteidigung denkt, vielmehr darauf, Nutzen zu ziehen aus der deutschen Expansion nach Osten, die auf Kosten Rußlands stattfindet.

Gerade weil die USA gegenüber Deutschland in den letzten Jahren in Osteuropa soviel Terrain verloren haben, drängen diese jetzt so ungeduldig darauf, die NATO-Osterweiterung durchzuführen. Aber indem dies angestrebt wird, werden die russisch-amerikanischen Beziehungen untergraben, die ja so wichtig sind für Washington, gerade weil der erschöpfte russische Bär als einziges anderes Land noch über ein so gigantisches atomares Waffenarsenal verfügt. Gegenwärtig unternimmt die deutsche Diplomatie alles, um den Bruch zwischen den USA und Rußland zu vertiefen, indem Moskau eine Reihe von Konzessionen auf Kosten von Washington angeboten werden. Eine dieser Konzessionen war, daß keine NATO-Truppen (d.h. US-Truppen) oder Atomwaffen auf dem Gebiet der neuen NATO-Mitgliedsstaaten stationiert werden sollen. Der deutsche Verteidigungsminister Rühe schlug sogar vor, das Gebiet der ehemaligen DDR in diese Kategorie Länder einzubeziehen. Das hieße, man würde zum ersten Mal seit 1945 eine ‘no-go area’ für amerikanische Truppen in der  Bundesrepublik Deutschland schaffen. Dies ist ein möglicher erster Schritt für einen eventuellen späteren Abzug der US-Truppen überhaupt. Deshalb die Wut des politischen Establishments in Washington, das angefangen hat, Berichte über die Menschenrechtslage zu veröffentlichen, wo Deutschland auf die gleiche Stufe gestellt wird wie der Iran oder Nordkorea wegen seiner Behandlung der amerikanischen Scientology-Sekte.

Der Aufstieg Deutschlands und die Krise der französischen Europa-Politik

Der Aufstieg Deutschlands zur führenden europäischen Macht steht erst an seinem Anfang. Aber jetzt schon profitiert der deutsche Imperialismus von der globalen Infragestellung der amerikanischen Führungsrolle, nachdem es nach dem Auseinanderbrechen der UdSSR keinen gemeinsamen Feind mehr gibt. Und obgleich Deutschland noch immer zu schwach ist im Vergleich zu den USA, um einen eigenen imperialistischen Block zu errichten, bedroht sein Aufstieg jetzt schon ernsthaft die europäischen Rivalen, Frankreich eingeschlossen. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks strebte Frankreich anfänglich ein Bündnis mit Deutschland gegen Amerika an. Aber die Stärkung seines östlichen Nachbarn und vor allem Bonns Drang zum Mittelmeer im Balkankrieg bewogen Frankreich dazu, sich von Deutschland wegzubewegen und enger an Großbritannien anzulehnen, dies umso mehr, als dieses sich aus seinem ewigen Bündnis mit den USA löste[ii] [91]. In den letzten Monaten dagegen haben sich Bonn und Paris wiederum angenähert. Das auffallendste Beispiel: ihre militärische Zusammenarbeit in Bosnien. Handelt es sich um eine Erneuerung des deutsch-französischen Bündnisses?

Es gibt mehrere Gründe für das neulich einsetzende Auseinanderrücken von Paris und London; einer der Gründe ist die Bestrafung, die die USA insbesondere Großbritannien auferlegt haben. Aber aus französischer Sicht hat das Bündnis mit Großbritannien eines der Hauptziele bislang verfehlt: den Aufstieg Deutschlands zu verhindern. Deutsche Truppen auf dem Balkan und die deutsche Entente mit Polen, das traditionell ein Verbündeter Frankreichs ist, sind die besten Beweise. Als eine Reaktion darauf verbündet sich Frankreich nicht erneut mit Deutschland, sondern es ändert seine Taktik im Kampf gegen Deutschland. Die neue Taktik, den Feind zu umarmen, um ihn an seiner Stärkung zu hindern, wird in Bosnien deutlich, wo die deutschen Truppen, wenn sie schon nicht am Auftauchen gehindert werden können, zumindest unter französischer Führung handeln sollen. Diese Taktik mag eine Zeit funktionieren, da Deutschland noch nicht dazu in der Lage ist, eine unabhängigere militärische Rolle zu spielen. Aber langfristig ist auch diese zum Scheitern verurteilt.

Die Verschärfung der militärischen Spannungen

Diese ganze Entwicklung verdeutlicht die blutige Logik des Militarismus in diesem Jahrhundert, in der dekadenten Phase des Kapitalismus. Durch den Zusammenbruch des Ostblocks wurde Deutschland dank seiner ökonomischen und politischen Stärke und seiner geographischen Stellung nahezu über Nacht zur führenden europäischen Macht. Aber auch solch eine Macht kann ihre Interessen nur wirksam verteidigen, wenn sie sie militärisch durchsetzen kann. Da der Kapitalismus nicht mehr ausreichend Märkte für eine wirkliche Expansion des Systems erobern kann, kann jede imperialistische Macht sich nur durchsetzen auf Kosten der anderen. Diese Situation hat schon zu zwei Weltkriegen in diesem Jahrhundert geführt - deshalb ist es der Einsatz nackter Gewalt, der letzten Endes über den Rang eines bürgerlichen Staates entscheidet. Die Ereignisse in Jugoslawien haben diese Lehre erneut verdeutlicht. Solange Deutschland keine Truppen im ehemaligen Jugoslawien stationiert hat, wird Deutschland dort trotz aller anderen Stärken den Kürzeren ziehen. Dieser Zwang, der aus dem niedergehenden System entsteht, bringt heute die weltweite Verschärfung der militärischen Spannungen hervor; er ist es, der dem deutschen Staat wie allen anderen diesen militaristischen Kurs aufzwingt.

Aber weil dieser blutige Kurs der Arbeiterklasse Verarmung und Leiden auferlegt, und damit Licht auf die Wirklichkeit dieses Systems werfen wird, wird er langfristig den Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat anheizen. Auf historischer Ebene kann die Entfaltung der deutschen imperialistischen Ausdehnung ein wichtiger Faktor bei der Rückkehr des deutschen Proletariats an die Spitze des revolutionären Klassenkampfes des internationalen Proletariats werden.

DK.



[i] [92] Alle Zitate der Geostrategen des ‘Alldeutschen Vereins’ sind entnommen aus der Dokumentation ‘Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945’

[ii] [93] Über den historischen Bruch des Bündnisses von Großbritannien mit den USA siehe insbesondere die „Resolution über die internationale Lage“ in der Internationalen Revue Nr. 18

Theoretische Fragen: 

  • Imperialismus [63]

MARXISMUS GEGEN FREIMAUREREI

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Mit dem folgenden Artikel über den Kampf des Marxismus gegen die Freimaurerei stellt sich die IKS fest in die besten Traditionen des Marxismus und der Arbeiterbewegung. Im Gegensatz zu der politischen Gleichgültigkeit der Anarchisten haben die Marxisten stets darauf bestanden, daß das Proletariat die wesentlichen Merkmale der Funktionsweise seines Klassenfeindes begreifen muß, um seine revolutionäre Aufgabe zu erfüllen. Wie alle ausbeutenden Klassen gebrauchen diese Feinde des Proletariats die Irreführung und Heimlichkeit sowohl gegeneinander als auch gegen die Arbeiterklasse. Daher enthüllten Marx und Engels in einer Reihe wichtiger Schriften der Arbeiterklasse die geheimen Strukturen und Aktivitäten der herrschenden Klasse.

In seinen „Enthüllungen über die Diplomatie des 18. Jahrhunderts", die auf ein erschöpfendes Studium von diplomatischen Schriftstücken im Britischen Museum basieren, enthüllte Marx die heimliche Zusammenarbeit zwischen dem britischen und dem russischen Kabinett seit den Zeiten von Peter dem Großen. In seinen Schriften gegen Lord Palmerston deckte Marx auf, daß die Fortsetzung dieses geheimen Bündnisses sich im wesentlichen direkt gegen revolutionäre Bewegungen in ganz Europa richtete. Tatsächlich war während der ersten sechzig Jahre des 19. Jahrhunderts die russische Diplomatie, die Bastion der Konterrevolution zu jener Zeit, in „alle Verschwörungen und Aufstände" verstrickt, einschließlich der aufständischen Geheimgesellschaften wie die der Carbonari, um sie für die eigenen Zwecke zu manipulieren (Engels: „Die Aussenpolitik des zaristischen Russland").

In seinem Pamphlet gegen Herrn Vogt legte Marx die Wege offen, auf denen Bismarck, Palmerston und der Zar die Agenten des Bonapartismus unter Louis Napoleon in Frankreich bei der Infiltrierung und Verunglimpfung der Arbeiterbewegung unterstützten. Die herausragenden Momente in der Auseinandersetzung der Arbeiterbewegung mit diesen verborgenen Manövern waren der Kampf der Marxisten gegen Bakunin in der Ersten Internationale und der „Eisenacher" gegen die Benutzung des Lassalleanismus durch Bismarck.

Mit ihrer Bekämpfung der bürgerlichen Faszination für das Verborgene und Mysteriöse zeigten Marx und Engels, daß das Proletariat der Feind jeder Art von Politik der Geheimniskrämerei und Verschleierung ist. Im Gegensatz zum britischen Tory Urquhart, dessen über 50 Jahre dauernder Kampf gegen die russische Geheimdiplomatie zu einer „geheimen esoterischen Doktrin" einer „allmächtigen" russischen Diplomatie als des „alleinigen aktiven Faktors der modernen Geschichte" (Engels) entartete, basierte die Arbeit der beiden Gründer des Marxismus immer auf einer wissenschaftlichen, historisch-materialistischen Herangehensweise. Diese Methode enthüllte den verborgenen „jesuitischen Orden" der russischen und westlichen Diplomatie und die Geheimgesellschaften der ausbeutenden Klassen als das Produkt des Absolutismus und der Aufklärung im 18. Jahrhundert, wo die Krone den niedergehenden Adel und die aufstrebende Bourgeoisie zur Zusammenarbeit zwang. Diese „aristokratisch-bürgerliche Internationale der Aufklärung", auf die sich Engels' Artikel über die zaristische Außenpolitik bezog, sorgte auch für eine gesellschaftliche Basis der Freimaurerei, welche in England entstand, dem klassischen Land des Kompromisses zwischen Aristokratie und Bourgeoisie. Auch wenn das bürgerliche Merkmal der Freimaurerei viele bürgerliche Revolutionäre im 18. und frühen 19. Jahrhundert besonders in Frankreich und den Vereinigten Staaten fesselte, sollte ihr zutiefst reaktionärer Charakter sie bald zu einer Waffe vor allem gegen die Arbeiterklasse machen. Dies war der Fall nach der Erhebung der sozialistischen Arbeiterbewegung, die die Bourgeoisie dazu veranlaßte, den materialistischen Atheismus ihrer revolutionären Jugend zu beseitigen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die europäische Freimaurerei, die bis dahin vor allem der Zeitvertreib einer gelangweilten Aristokratie war, welche ihre gesellschaftliche Funktion verloren hatte, in wachsendem Maße zur Bastion einer neuen anti-materialistischen „Religiosität" der Bourgeoisie, die sich im wesentlichen gegen die Arbeiterbewegung richtete. Innerhalb der freimaurerischen Bewegung wurde eine ganze Reihe antimarxistischer Ideologien entwickelt, die später gemeinsames Eigentum der konterrevolutionären Bewegungen des 20.Jahrhunderts werden sollten. Nach einer dieser Ideologien war der Marxismus selbst eine Kreation der „Illuminaten" der deutschen Freimaurerei, gegen die sich die „wahren" Freimaurer zur Wehr setzen mußten. Bakunin, selbst ein aktiver Freimaurer, war einer der Väter einer weiteren Behauptung, wonach der Marxismus eine jüdische Verschwörung sei: „Die gesamte jüdische Welt, umfasst eine einzige ausbeutende Sekte, eine Art blutsaugender Leute, organisierte, zerstörerische Parasiten, nicht nur die Grenzen der Staaten, sondern auch die politischen Auffassungen überschreitend. Diese Welt steht nun zum grössten Teile Marx, aber zum anderen auch Rothschild zur Verfügung. (...) Dies scheint fremd zu sein. Was kann der Sozialismus mit einer führenden Bank gemein haben? Der autoritäre Sozialismus, der marxistische Kommunismus benötigt einen starken Staat. Wo sich der staatliche Zentralismus befindet, gibt es zwangsläufig auch eine zentrale Bank, und wo eine solche Bank existiert, wird die parasitäre jüdische Welt, die mit der Arbeit des Volkes spekuliert, zu finden sein" (Bakunin, zitiert nach R. Huch: Bakunin und die Anarchie).

Im Gegensatz zur Wachsamkeit der Ersten, Zweiten und Dritten Internationale gegenüber diesen Fragen, begnügt sich ein großer Teil des heutigen revolutionären Milieus damit, diese Gefahr zu ignorieren oder die angeblich „machiavellistische" Sichtweise der Geschichte durch die IKS zu verhöhnen. Diese Unterschätzung, die mit einer krassen Ignoranz gegenüber einem wichtigen Teil der Geschichte der Arbeiterbewegung einhergeht, ist das Ergebnis einer 50jährigen Konterrevolution, die das Weiterreichen der organisatorischen Erfahrung der Marxisten von einer Generation zur anderen unterbunden hatte.

Diese Schwäche ist um so gefährlicher, als das Unwesen mystischer Sekten und Ideologien in diesem Jahrhundert Dimensionen erreicht hat, die weit über die Frage der Freimaurerei hinausgehen, vor der man in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus gestanden hatte. So hatte die Mehrheit der antikommunistischen Geheimgesellschaften, die zwischen 1918 und 1923 gebildet wurden, ihren Ursprung nicht in der Freimaurerei, sondern wurde direkt von der Armee, unter der Kontrolle demobilisierter Offiziere, gebildet. Als direkte Instrumente des kapitalistischen Staates gegen die kommunistische Revolution wurden sie aufgelöst, sobald das Proletariat besiegt worden war. Auch nach dem Ende der Konterrevolution in den 60er Jahren dieses Jahrhunderts war die klassische Freimaurerei nur ein Aspekt in einem ganzen Apparat religiöser, esoterischer und rassistischer Sekten und Ideologien, die vom Staat gegen das Proletariat entwickelt wurden. Heute, im Schatten des kapitalistischen Zerfalls, bilden solche antimarxistischen Sekten und Ideologien, indem sie dem Materialismus und der Auffassung vom historischen Fortschritt den Krieg erklären und mit einem erheblichen Einfluß in den Industrieländern ausgestattet sind, eine zusätzliche Waffe der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse.

Die Erste Internationale gegen Geheimgesellschaften

Schon die Erste Internationale war das Ziel wütender Angriffe durch den Okkultismus. Die Anhänger der Carbonaris, des katholischen Mystizismus und der Mazzinisten waren erklärte Gegner der Internationalen. In New York versuchten die okkultistischen Anhänger von Virginia Woodhull, Feminismus, „freie Liebe" und „parapsychologische Experimente" in die amerikanische Sektion der Internationalen einzuführen. In Großbritannien und Frankreich organisierten linke Freimaurerlogen, unterstützt von bonapartistischen Agenten, eine Reihe von Provokationen, die darauf abzielten, die Internationale zu diskreditieren und die Verhaftung ihrer Mitglieder zu rechtfertigen, was den Generalrat dazu zwang, Pyat und seine Anhänger auszuschließen und öffentlich zu denunzieren. Am gefährlichsten von allen war Bakunins Allianz, eine Geheimorganisation innerhalb der Internationalen, die mit ihren verschiedenen Graden der „Einweihung" der Mitglieder in ihre „Geheimnisse" und ihre Manipulationsmethoden (Bakunins „revolutionärer Katechismus") exakt das Vorbild der Freimaurerei kopierte (mehr über den Kampf gegen den Bakunismus in der Ersten Internationalen siehe Internationale Revue Nr. 17 und 18).

Marx' und Engels' enormer persönlicher Einsatz bei der Begegnung dieser Angriffe, bei der Entlarvung von Pyat und seiner bonapartistischen Helfer, bei der Bekämpfung von Mazzini, beim Ausschluß der amerikanischen Sektion Woodhulls und vor allem bei der Enthüllung des Komplotts der Allianz Bakunins gegen die Internationale ist allgemein bekannt. Ihre völlige Klarheit über die okkultistische Bedrohung wird von der Resolution über die Notwendigkeit, die Geheimgesellschaften zu bekämpfen, dokumentiert, die von Marx selbst vorgeschlagen und vom Generalrat angenommen wurde.

Auf der Londoner Konferenz der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) im September 1871 bestand Marx darauf, daß „dieser Organisationstyp im Widerspruch zu der Entwicklung der proletarischen Bewegung (steht), weil diese Gesellschaften, statt die Arbeiter zu erziehen, sie autoritären und mystischen Gesetzen unterwerfen, die ihre Selbständigkeit behindern und ihr Bewußtsein in eine falsche Richtung lenken." (Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 17, S. 655)

Die Bourgeoisie versuchte auch, das Proletariat durch Zeitungsmeldungen zu diskreditieren, daß sowohl die Internationale als auch die Pariser Kommune von einer geheimen, freimaurerähnlichen Führung „organisiert" sei. In einem Interview mit der Zeitung The New York World, die andeutete, daß die Arbeiter die Instrumente einer „Konklave" von „kühnen Verschwörern" innerhalb der Pariser Kommune gewesen seien, erklärte Marx: „Mein lieber Herr, es gibt gar kein Geheimnis zu lüften (...), es sei denn das Geheimnis der menschlichen Dummheit bei jenen, die beharrlich die Tatsache ignorieren, daß unsere Assoziation in der Öffentlichkeit wirkt und daß ausführliche Berichte über ihre Tätigkeit veröffentlicht werden für alle, die sie lesen wollen." Die Pariser Kommune könnte, nach der Logik von The World, „genauso eine Verschwörung der Freimaurer gewesen sein, denn ihr individueller Anteil war keineswegs gering. Ich wäre wirklich nicht erstaunt, wenn der Papst ihnen den ganzen Aufstand in die Schuhe schieben würde. Doch versuchen wir, eine andere Erklärung zu finden. Der Aufstand in Paris ist von den Pariser Arbeitern gemacht worden." (MEW, Bd. 17, S. 639)

Der Kampf gegen den Mystizismus in der Zweiten Internationalen

Nach der Niederlage der Pariser Kommune und dem Tod der Internationalen unterstützten Marx und Engels den Kampf darum, Arbeiterorganisationen in Ländern wie Italien, Spanien oder den USA (z.B. die Knights of Labour) aus den Klauen der Freimaurer zu befreien. Die 1889 gegründete Zweite Internationale war zunächst weniger verwundbar durch okkultistische Infiltration als ihre Vorgängerin, da sie die Anarchisten ausschloß. Der Spielraum des Programms der Ersten Internationalen „hatte deklassierten Elemente erlaubt, sich einzuschleichen und im Herzen geheime Organisationen zu etablieren, deren Anstrengungen sich nicht gegen die Bourgeoisie und die Regierung, sondern gegen die Internationale selbst richteten „ (Bericht auf dem Haager Kongreß über die Allianz, 1872).

Da die Zweite Internationale auf dieser Ebene weniger offen war, begann der esoterische Angriff nicht mit der organisatorischen Infiltration, sondern mit einer ideologischen Attacke gegen den Marxismus. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts rühmten sich die deutsche und österreichische Freimaurerei ihrer Erfolge bei der Befreiung der Universitäten und der Wissenschaftskreise von der „Plage des Materialismus". Zusammen mit der Entwicklung reformistischer Illusionen und des Opportunismus in der Arbeiterbewegung zur Jahrhundertwende waren es diese zentraleuropäischen Wissenschaftler, die den Bernsteinianismus dazu veranlaßten, die „Entdeckung" der „Überwindung des Marxismus" durch den Idealismus und neokantianischen Agnostizismus zu übernehmen. Im Zusammenhang mit der Niederlage der revolutionären proletarischen Bewegung in Rußland nach 1905 drang die Krankheit der „Gottesschöpfung" selbst in die Reihen des Bolschewismus ein, wo sie jedoch schnell niedergerungen wurde. Innerhalb der Internationalen in ihrer Gesamtheit gelang der marxistischen Linken eine heldenhafte und brillante Verteidigung des wissenschaftlichen Sozialismus, ohne jedoch in der Lage zu sein, das Fortschreiten des Idealismus aufzuhalten, so daß nun die Freimaurerei begann, Anhänger innerhalb der Arbeiterparteien für sich zu gewinnen. Jaurès, der berühmte französische Arbeiterführer, verteidigte offen die Ideologie der Freimaurerei gegen das, was er „verarmte ökonomische und materialistische Interpretation des menschlichen Denkvermögens" eines Franz Mehring nannte. Gleichzeitig eröffnete die Entwicklung des Anarchosyndikalismus als Reaktion auf den Reformismus ein neues Feld für die Verbreitung reaktionärer, oft mystischer Ideen auf der Grundlage von Philosophen wie Bergson, Nietzsche (der sich selbst als „Philosoph der Esoterik" beschrieb) oder Sorel. Dies beeinflußte umgekehrt halb-anarchistische Elemente innerhalb der Internationalen wie Hervé in Frankreich oder Mussolini in Italien, die mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu den rechtsextremen bürgerlichen Organisationen überliefen. Die Marxisten, die vergeblich versuchten, den Kampf gegen die Freimaurerei in der französischen Partei zu erzwingen oder Parteimitgliedern in Deutschland zu verbieten, eine „zweite Loyalität" gegenüber anderen Organisationen auszuüben, waren in der Periode vor 1914 nicht stark genug, um organisatorische Maßnahmen zu erwirken, wie dies Marx und Engels getan hatten.

Die Dritte Internationale gegen die Freimaurerei

Entschlossen, die organisatorischen Schwächen der Zweiten Internationalen zu überwinden, die ihren Zusammenbruch 1914 erleichtert hatten, kämpfte die Komintern für die vollständige Eliminierung „esoterischer" Elemente aus ihren Reihen. 1922 bekräftigte der 4. Kongreß der Kommunistischen Internationalen erneut in seiner „Resolution über die französische Frage" die Klassenprinzipien mit folgenden Worten, die eine Antwort auf die Infiltration der französischen Kommunistischen Partei durch Elemente darstellten, die der Freimaurerei angehörten und die Partei seit ihrer Gründung auf dem Kongreß von Tours infiziert hatten:

„Die Unvereinbarkeit zwischen Freimaurerei und Sozialismus war in den meisten Parteien der Zweiten Internationalen offensichtlich und klar (...) Wenn der 2. Kongress der Kommunistsichen Internationalen in seinen Aufnahmebedingungen keinen speziellen Punkt über die Unvereinbarkeit von Sozialismus und Freimaurerei formulierte, dann nur deshalb, weil dieses Prinzip vom Kongress einstimmig in einer separaten Resolution angenommen wurde.

Die auf dem 4. Kongress der Kommunistischen Internationalen unerwartet aufgedeckte Tatsache, dass eine beträchtliche Zahl französischer Kommunisten Freimaurerlogen angehörten, war in den Augen der Kommunistischen Internationalen der klarste und zugleich schmerzhafteste Beweis, dass die französische Partei nicht nur das psychologische Erbgut der Epoche des Reformismus, Parlamentarismus und Patriotismus bewahrt hatte, sondern auch Verbindungen, welche einen konkreten Charakter hatten und für die Führungsrolle der Partei durch ihre geheimen, politischen und karrieristischen Organisationen der radikalen Bourgeoisie eine Gefahr darstellten. Die Internationale betrachtete es als unumgänglich, all diesen kompromisslerischen und demoralisierenden Verbindungen zwischen der Führung der Kommunistischen Partei und den politischen Organisationen der Bourgeoisie nun ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Die Ehre des Proletariates in Frankreich forderte die Säuberung all seiner Organisationen von Elementen, welche zu beiden Lagern im Klassenkampf gehören wollten.

Der Kongress forderte das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Frankreichs auf, bis zum 1. Januar 1923 alle Verbindungen der Partei, sei es in Form von Einzelpersonen oder Gruppen, zur Freimaurerei aufzulösen. Diejenigen, welche nicht vor dem 1. Januar ihrer Organisation und auch öffentlich durch die Parteipresse ihren vollständigen Bruch mit der Freimaurerei erklärt hätten, würden automatisch ausgeschlossen, ohne das Recht je wieder aufgenommen zu werden. Jeder der seine Mitgliedschaft in Freimaurergruppen verstecke, werde als Agent des Feindes betrachtet, der die Partei unterwandert hat, und vor dem Proletariat in Schmach gestellt."

Ähnliches konnte auch der KPD-Delegierte auf dem 3. Kongreß der italienischen KP, der zu den Thesen über die kommunistische Taktik referierte die von Bordiga und Terracini eingereicht worden waren, berichten: „Die offenkundige Unvereinbarkeit, gleichzeitig der kommunisitischen Partei und einer anderen Partei anzugehören, erstreckt sich außer auf die politischen Parteien auch auf jene Bewegungen, die trotz ihres politischen Charakters, nicht die Bezeichnung und die Organisation einer Partei haben, und auf alle Vereinigungen, die der Aufnahme ihrer Mitglieder politische Leitsätze zugrunde legen; unter diesen vor allem das Freimaurertum." („Die italienischen Thesen" von Paul Böttcher in Die Internationale, 1922, Hervorhebung im Original).

Der Eintritt des Kapitalismus in seine dekadente Phase seit dem I. Weltkrieg hat zu einer gigantischen Entwicklung des Staatskapitalismus geführt, insbesondere des Militär- und Repressionsapparates (Spionage, Geheimpolizei, etc.). Hieß dies, daß die Bourgeoisie das Verschwinden ihrer „traditionellen" Geheimgesellschaften nun für angebracht hielt? Dies ist nur teilweise der Fall. Wo der dekadente staatskapitalistische Totalitarismus, wie in Hitlers Deutschland, Mussolinis Italien oder Stalins Rußland, eine brutale und unverhüllte Form angenommen hatte, waren freimaurerische oder andere „Logen" oder Geheimgruppen stets verboten.

Doch auch diese brutal offene Form des Staatskapitalismus kam nicht vollständig aus ohne einen heimlichen oder illegalen, offiziell nicht existierenden Apparat. Staatskapitalistischer Totalitarismus beinhaltet die diktatorische Kontrolle des bürgerlichen Staates nicht nur über die gesamte Ökonomie, sondern auch über jeden Lebensbereich. So war in den stalinistischen Regimes die „Mafia" ein unerläßlicher Teil des Staates, da sie den einzigen Teil des Verteilungsapparates kontrollierte, der wirklich funktionierte, der offiziell jedoch für nicht existent gehalten wurde: der Schwarzmarkt. Auch in westlichen Ländern ist die organisierte Kriminalität ein nicht minder unerläßlicher Teil des staatskapitalistischen Regimes.

Aber in der sogenannten „demokratischen" Form des Staatskapitalismus weitet sich der inoffizielle genauso wie der offizielle Repressions- und Infiltrationsapparat gewaltig aus. Hinter dem absoluten Schwindel der Demokratie setzt der Staat auf einer nicht weniger totalitären Weise als unter den Nazis oder den Stalinisten seine Politik gegenüber den Mitgliedern seiner eigenen Klasse durch und bekämpft die Organisationen seiner imperialistischen Rivalen sowie seines proletarischen Klassenfeindes. Seine offizielle politische Polizei und sein Spionageapparat sind genauso allgegenwärtig wie in anderen Staaten. Da jedoch die Ideologie der Demokratie diesem Apparat nicht erlaubt, so offen wie die Gestapo oder die GPU in Rußland zu agieren, belebte die westliche Bourgeoisie ihre alten Traditionen der Freimaurerei und der „Politmafia" wieder, aber diesmal unter direkter Staatskontrolle. Was die westliche Bourgeoisie legal und offen nicht tun konnte, das tat sie illegal und im geheimen.

So kehrte mit der Invasion der US-Armee in Mussolinis Italien nicht nur die Mafia zurück.

„Im Gefolge der nach Norden vorstoßenden motorisierten amerikanischen Verbände schossen auf der Apenninenhalbinsel Freimaurerlogen wie Pilze nach dem Regen aus der Erde. Das war nicht nur eine Auswirkung davon, daß die Logen unter Mussolini verboten waren und ihre Mitglieder verfolgt wurden. Ihren Anteil an dieser Entwicklung hatten die mächtigen Freimaurervereinigungen der USA, die ihre italienischen Brüder sofort unter ihre Fittiche nahmen."

Hier befindet sich der Ursprung einer der berühmtesten unter den vielen illegalen Organisationen des westlichen, amerikanisch geführten imperialistischen Blocks, die „P2-Loge" in Italien. Diese inoffiziellen Strukturen koordinierten den Kampf der verschiedenen nationalen Bourgeoisien des amerikanischen Blocks gegen den Einfluß des rivalisierenden sowjetischen Blocks. Die Mitglieder solcher Logen umfaßten auch Führer des „linken Flügels" des kapitalistischen Staates: stalinistische und linksextreme Parteien, Gewerkschaften.

Durch eine Reihe von Skandalen und Enthüllungen (die in einem Zusammenhang stehen mit der Auflösung des westlichen Blocks nach 1989) wissen wir eine ganze Menge über das Treiben solcher Gruppen gegen den imperialistischen Feind. Aber um so mehr wird die Tatsache von der Bourgeoisie unter Verschluß gehalten, daß in der Dekadenz die alten Traditionen der Infiltration von Arbeiterorganisationen durch Freimaurer ebenfalls Teil des Repertoires des demokratisch-totalitären Staates geworden sind. Dies war der Fall, wann immer das Proletariat die Bourgeoisie ernsthaft bedrohte: vor allem während der revolutionären Welle 1917–23, aber auch seit 1968, mit dem Wiedererwachen der Arbeiterkämpfe.

Im Namen der Internationalen entlarvte Trotzki die Existenz von Verbindungen zwischen „Freimaurerei und den Parteiinstitutionen, der Publikationskommission der Zeitung, dem Zentralkomitee, dem Förderativkomitee" in Frankreich. „Die Liga für Menschenrechte und die Freimaurerei sind Kampfmaschinen der Bourgeoisie, die das Bewußtsein der Repräsentanten des französischen Proletariats ablenken. Wir erklären diesen Methoden den gnadenlosen Krieg, da sie eine geheime und heimtückische Waffe des bürgerlichen Arsenals bilden (...) Wir müssen die Partei von diesen Elementen befreien." (La Voix de L'Internationale: „Le Mouvement Communiste en France; Übersetzung aus dem Französischen)

Ein illegaler konterrevolutionärer Apparat

Wie Lenin hervorhob, wurde die proletarische Revolution in Westeuropa Ende des I. Weltkrieges mit einer weitaus mächtigeren und intelligenteren Bourgeoisie als in Rußland konfrontiert. Wie in Rußland spielte die westliche Bourgeoisie angesichts der Revolution sofort die demokratische Karte, indem sie linksbürgerliche, ehemalige Arbeiterparteien an die Macht brachte, Wahlen und Pläne für eine „industrielle Demokratie" und für die „Integration" der Arbeiterräte in Verfassung und Staat ankündigte.

Aber anders als in Rußland nach dem Februar 1917 begann die westliche Bourgeoisie unmittelbar, einen gigantischen, illegalen konterrevolutionären Apparat aufzubauen.

Zu diesem Zweck machte sie Gebrauch von der politischen und organisatorischen Erfahrung der Freimaurerlogen und rechter völkischer Orden, die sich vor dem Weltkrieg darauf spezialisiert hatten, die sozialistische Bewegung zu bekämpfen, und die ihre Integration in den Staat vervollständigt hatten. Zwei solcher Vorkriegsorganisationen waren der „Germanische Orden" und die „Hammerliga", die 1912 als Antwort auf den näherrückenden Krieg und auf den Wahlsieg der Sozialistischen Partei gegründet wurden und in ihrem Papier „Die Organisierung der Konterrevolution" als ihr Ziel erklärten: „Die heilige Blutrache soll die revolutionären Führer schon zu Beginn des Aufstandes liquidieren und ohne Zögern den Kampf gegen die kriminellen Massen mit ihren eigenen Waffen aufnehmen."

Victor Serge weist auf die Geheimdienste der Action Francaise und der Cahiers de l'Antifrance hin, die die vordersten Reihen der Bewegung in Frankreich bereits während des Krieges ausspionierten; auf die Spionage und die Provokateursdienste der faschistischen Partei in Italien; auf die privaten Detektivagenturen in den USA, welche „die Kapitalisten mit diskreten Spitzeln, Provokationsexperten, Scharfschützen, Wachschutz, Aufsehern und auch mit total korrupten Gewerkschaftsaktivisten versorgten" und „schätzungsweise 135.000 Menschen beschäftigten". „In Deutschland haben sich seit der offiziellen Entwaffnung des Landes die wesentlichen Kräfte der Reaktion in äußerst geheimen Organisationen konzentriert. Die Reaktion hat begriffen, daß selbst in vom Staat unterstützten Parteien die Klandestinität ein wertvoller Aktivposten ist. All diese Organisationen übernahmen natürlich die Funktionen einer faktischen Geheimpolizei gegen das Proletariat." (Übersetzung aus dem Englischen).

Um den Mythos der Demokratie zu bewahren, waren die konterrevolutionären Organisationen in Deutschland und anderen Ländern offiziell kein Teil des Staates, sondern privat finanziert, oft für illegal erklärt, und sie stellten sich selbst als Feinde der Demokratie dar. Mit ihren Attentaten gegen „demokratische" bürgerliche Führer wie Rathenau und Erzberger und ihren rechten Putschversuchen (dem Kapp-Putsch 1920, dem Hitler-Putsch 1923) spielten sie eine wichtige Rolle dabei, das Proletariat auf das Terrain der Verteidigung der konterrevolutionären Weimarer „Demokratie" zu locken.

Das Netz gegen die proletarische Revolution

Am Beispiel Deutschlands, dem Hauptzentrum der revolutionären Welle 1917–23 außer Rußland, können wir am besten das riesige Ausmaß der konterrevolutionären Aktionen einer Bourgeoisie begreifen, die sich in ihrer Herrschaft bedroht fühlt. Ein gigantisches Netz zur Verteidigung des bürgerlichen Staates wurde errichtet. Dieses Netz gebrauchte Provokationen, Infiltrationen und politischen Mord, um die konterrevolutionäre Politik der SPD und der Gewerkschaften genauso wie die Reichswehr und die privat finanzierten inoffiziellen „Weißen Garden" der Freikorps zu ergänzen. Noch berühmter ist freilich die NSDAP, die 1919 in München gegen die Revolution als „Deutsche Arbeiterpartei" gegründet wurde. Hitler, Göring, Röhm und andere Nazis begannen ihre politische Karriere als Informanten und Agenten gegen die bayrischen Arbeiterräte.

Diese illegalen Koordinationszentren der Konterrevolution waren in Wahrheit Teil des Staates. Wann immer ihre Attentatsspezialisten, wie die Mörder von Liebknecht, Luxemburg und Hunderten anderer kommunistischer Führer, vor Gericht gestellt wurden, wurden sie für nicht schuldig befunden, erhielten Bewährungsstrafen, oder es wurde ihnen die Flucht ermöglicht. Wann immer ihre geheimen Waffenlager von der Polizei entdeckt wurden, intervenierte die Armee, um die Waffen zurückzufordern, die ihr angeblich gestohlen wurden.

In den Nachwehen des Kapp-Putsches war die Organisation Escherich („Orgesch") die größte und gefährlichste antiproletarische illegale Organisation, deren erklärtes Ziel die „Liqiudierung des Bolschewismus" war. Sie „verfügte fast über eine Million bewaffneter Mitglieder, welche unzählige Waffenverstecke hatten und mit geheimpolizeilichen Methoden arbeitete. Orgesch verfügte zudem über ein Netz von Spionen." Der „Teno", angeblich ein technischer Hilfsdienst im Falle öffentlicher Katastrophen, war in Wahrheit eine bewaffnete Truppe, 170.000 Mann stark, hauptsächlich als Streikbrecher benutzt. Die Anti-Bolschewistische Liga, von Industriellen am 1. Dezember 1918 gegründet, richtete ihre Propaganda hauptsächlich an Arbeiter. „Sie verfolgte aufmerksam die Aktivitäten der KPD und versuchte sie mit ihren Informanten zu unterwandern. Dazu unterhielt sie unter dem Deckmantel einer „4. Abteilung" ein Netz von Spionen und hatte Verbindungen zur politischen Polizei und der Armeeführung".

In München stellte die Thule-Gesellschaft, in der Vorkriegszeit mit dem oben erwähnten Germanischen Orden verbunden, die Weiße Armee der bayrischen Bourgeoisie, das Freikorps Oberland, und koordinierte den Kampf gegen die Räterepublik von 1919, einschließlich die Ermordung des USPD-Führers Eisner, um eine vorzeitige Erhebung zu provozieren. „Ihre 2. Abteilung war ein Geheimdienst, welcher eine ausgedehnte Infiltrations-, Spionage- und Sabotagearbeit verrichtete. Laut Schottendorff verfügte jedes Mitglied dieses Verbandes schnell und unter anderem Namen über einen Mitgliederausweis des Spartakusbundes. Diese Informanten sassen auch in den Komitees der Räteregierung und der Roten Armee und rapportierten der Zentrale der Thule-Gesellschaft über die Pläne des Feindes."

Die Hauptwaffe der Bourgeoisie gegen die proletarische Revolution ist nicht Repression und Subversion, sondern die Präsenz der Ideologie und des organisatorischen Einflusses der „linken" Organe der Bourgeoisie in den Reihen des Proletariats. Dies war im wesentlichen der Job der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften. Aber die Bedeutung der Hilfe, die die Infiltration und Provokation zu den Bemühungen der Linken des Kapitals gegen den Arbeiterkampf beitragen kann, wird am Beispiel des „Nationalbolschewismus" während der deutschen Revolution unterstrichen. Unter dem Einfluß eines scheinbaren Antikapitalismus, extremen Nationalismus, Antisemitismus und „Anti-Liberalismus" der illegalen Geheimorganisationen der Bourgeoisie, mit denen sie Geheimtreffen abhielt, entwickelte die sogenannte Hamburger „Linke" um Laufenberg und Wolffheim eine konterrevolutionäre Vision des „Linkskommunismus", die 1919 entscheidend zur Spaltung der jungen KPD und zur Diskreditierung der KAPD in den 20er Jahren beitrug.

Bereits 1919 begann die parteiinterne Aufdeckung der bürgerlichen Infiltration der Hamburger Sektion der KPD, einschließlich der 20 Polizeiagenten, die in direkter Verbindung mit der GKSD standen, einem konterrevolutionären Regiment in Berlin. „Sie versuchten wiederholt, die Arbeiter in Hamburg zu bewaffneten Angriffen gegen die Gefängnisse oder anderen abenteurerischen Aktionen zu verführen."

Der Organisator dieser Wühlarbeit gegen die Kommunisten in Hamburg, Von Killinger, war ein Führer der „Organisation Consul", einer geheimen Terror- und Mordorganisation, finanziert von den Junkern und darauf abgerichtet, den Kampf all der anderen rechten Gruppen gegen den Kommunismus zu infiltrieren und zu vereinen.

Die Verteidigung der revolutionären Organisation

Im ersten Teil dieses Artikels sahen wir, wie die Kommunistische Internationale die Lehren aus dem Zusammenbruch der 2. Internationalen auf der organisatorischen Ebene zog, indem sie einen weitaus rigoroseren Kampf gegen die Freimaurerei und Geheimgesellschaften führte. Wie wir gesehen haben, hat der Zweite Weltkongreß 1920 einen Antrag der italienischen Partei gegen die Freimaurerei angenommen, der offiziell zwar nicht Teil der „21 Mitgliedsbedingungen" der Komintern, inoffiziell jedoch als „22. Bedingung" bekannt war.

Tatsächlich verpflichteten die berühmten 21 Bedingungen vom August 1920 alle Sektionen der Internationalen dazu, klandestine Strukturen zu organisieren, die Organisation gegen Infiltration zu schützen, die Aktivitäten des illegalen konterrevolutionären Apparates der Bourgeoisie zu untersuchen und die international zentralisierte Arbeit gegen die kapitalistische Repression zu unterstützen.

Der Dritte Weltkongreß im Juni 1921 nahm Prinzipien an, die einen besseren Schutz der Internationalen vor Spionen und Agents provocateurs und eine systematische Beobachtung der Aktivitäten der offiziellen und geheimen antiproletarischen Polizei und des paramilitärischen Apparates, der Freimaurer, etc. zum Ziel hatten. Ein spezielles Komitee, das OMS, wurde gebildet, um diese Aktivitäten international zu koordinieren.

Die KPD zum Beispiel veröffentlichte regelmäßig Listen mit Provokateuren und Polizeispionen, die sie aus ihren Reihen ausgeschlossen hatte, vervollständigt mit ihren Photos und einer Beschreibung ihrer Methoden. „Zwischen August 1921 und August 1922 deckte die Informationsabteilung 124 Informanten, Aufwiegler und Betrüger auf. Sie waren von der Geheimpolizei und rechten Organisationen in die KPD geschickt worden oder hatten versucht die KPD zu ihren eigenen Nutzen finanziell zu betrügen"

Flugblätter wurden zu dieser Frage bereitet. Die KPD fand sogar heraus, wer Liebknecht und Luxemburg ermordet hatte, und veröffentlichte die Photos der Täter, wobei sie um die Hilfe der Bevölkerung bat, um sie zur Strecke zu bringen. Eine spezielle Organisation wurde etabliert, um die Partei gegen die Geheimgesellschaften und paramilitärischen Organisationen der Bourgeoisie zu schützen. Diese Arbeit schloß spektakuläre Aktionen mit ein. So suchten 1921 als Polizisten verkleidete KPD-Mitglieder die Räumlichkeiten eines russischen weißgardistischen Offiziers in Berlin auf und konfiszierten Papiere von ihm. Es wurden verdeckte Aktionen gegen Geheimoffiziere der kriminellen „Organisation Consul" unternommen. Vor allem versorgte die Komintern alle Arbeiterorganisationen regelmäßig mit konkreten Warnungen und Informationen über die Versuche des okkulten Armes der Bourgeoisie, sie zu zerstören.

Nach 1968: Die Wiederbelebung der okkulten Manipulation gegen das Proletariat

Nach der Niederlage der kommunistischen Revolution 1923 wurden die Elemente des geheimen antiproletarischen Netzes der Bourgeoisie entweder aufgelöst oder mit anderen Aufgaben durch den Staat betraut. In Deutschland wurden viele dieser Elemente später in die Nazibewegung integriert.

Als jedoch die massiven Arbeiterkämpfe im Frankreich von 1968 der Konterrevolution ein Ende bereiteten und eine Periode zunehmenden Klassenkampfes eröffneten, begann die Bourgeoisie, ihren verborgenen antiproletarischen Apparat wiederzubeleben. Im Mai 1968 in Frankreich begrüßte der freimaurerische Grand Orient begeistert die „grossartige Bewegung der Studenten und Arbeiter" und sandte Nahrungsmittel und Medikamente an die besetzte Sorbonne.

Diese „Begrüßung" war ein bloßes Lippenbekenntnis. Bereits unmittelbar nach 1968 benutzte die Bourgeoisie in Frankreich ihre „Neu-Templer"-, „Rosenkreuzer-" und „Martins"-Orden, um linke und andere Gruppen in Zusammenarbeit mit den SAC-Diensten zu infiltrieren. Zum Beispiel begann Luc Jeuret, der Guru der „Sonnentempler", seine Karriere mit der Infiltration maoistischer Gruppen (L'Ordre du Temple Solaire, S.145f.).

In der Tat sah man in den folgenden Jahren Organisationen eines Typs erscheinen, der in den 20ern schon einmal gegen die proletarische Revolution benutzt worden war. Unter den Rechtsextremen hat die Front Européen de Libération die „nationalbolschewistische" Tradition wiederbelebt. In Deutschland hat sich die Sozialrevolutionäre Arbeiterfront, die dem Motto folgt: „Die Grenze verläuft nicht zwischen links und rechts, sondern zwischen oben und unten", darauf spezialisiert, verschiedene „linke" Bewegungen zu infiltrieren. Die Thule-Gesellschaft wurde ebenfalls als konterrevolutionäre Geheimgesellschaft wiedergegründet.

Zu den modernen privaten politischen Geheimdiensten der Rechten gehört die World Anti-Communist League, genauso wie die National Caucus of Labour und die Europäische Arbeiterpartei, dessen Führer la Rouche von einem Mitglied des US-amerikanischen Nationalen Sicherheitsrates als jemand beschrieben wurde, der im Besitz „der besten Geheimpolizei der Welt sei".

Die linksextremen Versionen solcher konterrevolutionärer Organisationen sind nicht weniger aktiv. In Frankreich haben sich zum Beispiel neue Sekten in der Tradition des „Martinismus" etabliert, eine Variante der Freimaurerei, die sich historisch auf die Infiltration und Subversion von Arbeiterorganisationen spezialisiert hat. Solche Gruppen verfechten die Idee, daß der Kommunismus am besten durch die Manipulationen einer aufgeklärten Minderheit erreicht werden könne. Wie andere Sekten haben sie sich auf die Kunst der Manipulation von Menschen spezialisiert.

Allgemeiner gesagt, ist die Entwicklung von okkulten Sekten und esoterischen Gruppierungen in den vergangenen Jahren nicht nur ein Ausdruck der kleinbürgerlichen Hoffnungslosigkeit und Hysterie gegenüber der historischen Situation, sie werden vom Staat auch ermutigt und organisiert. Die Rolle dieser Sekten in interimperialistischen Rivalitäten ist bekannt (z.B. der Gebrauch von Scientology durch die US-Bourgeoisie gegen Deutschland). Aber diese ganze „esoterische" Bewegung ist, insbesondere nach 1989 mit dem angeblichen „Tod des Kommunismus", gleichermaßen auch Teil des bürgerlichen ideologischen Angriffs gegen den Marxismus. Historisch war es das Angesicht einer aufstrebenden sozialistischen Bewegung, das die europäische Bourgeoisie dazu veranlaßte, sich mit der mystischen Ideologie der Freimaurerei zu identifizieren, besonders nach den 1848er Revolutionen. Heute ist der zügellose Haß der Esoterik gegen Materialismus und Marxismus genauso wie gegen die proletarischen Massen, die als „materialistisch" und „dumm" angesehen werden, nichts anderes als der konzentrierte Haß der Bourgeoisie und von Teilen des Kleinbürgertums gegen das unbesiegte Proletariat. Selbst unfähig, irgendeine historische Alternative anzubieten, stellt sich die Bourgeoisie dem Marxismus mit der Lüge entgegen, daß der Stalinismus kommunistisch gewesen sei, aber auch mit der mystischen Vision, wonach die Welt nur „gerettet" werden könne, wenn Bewußtsein und Rationalität durch das Ritual, die Intuition und durch Hokuspokus ersetzt würden.

Angesichts des heutigen Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft ist es die Aufgabe der Revolutionäre, die Lehren aus den Erfahrungen der Arbeiterklasse gegen das zu ziehen, was Lenin „den Mystizismus, die Kloake konterrevolutionärer Methoden" nannte. Und es ist unsere Aufgabe, uns die Wachsamkeit der vergangenen Arbeiterbewegung gegenüber den Manipulationen und der Infiltration des okkulten Apparates der Bourgeoisie wieder anzueignen. Sie sollen „die beschämendste Schmach erhalten indem man sie an die Öffentlichkeit zerrt" ,wie Marx es ausdrückte als er diese Art bürgerlicher Ideologie blosstellte. Gleich wie die Religion, von Marx im letzten Jahrhundert als „Opium für das Volk" bezeichnet, sind die ideologischen Themen der modernen Freimaurerei ein Gift in der Hand des bürgerlichen Staates um das Bewusstsein in der Arbeiterklasse zu zerstören.

Die Tatsache, dass die Arbeiterbewegung in der Vergangenheit einen permanenten Kampf gegen den Okkultismus geführt hat, ist heute wenig bekannt. In Wirklichkeit waren die Ideologie und die geheimen Infiltrationsmethoden der Freimaurerei die Speerspitze der Versuche der Bourgeoisie, die kommunistischen Organisationen von innen zu bekämpfen. Wenn die IKS wie viele andere revolutionäre Organisationen in der Vergangenheit das Eindringen dieser Ideologien erfahren hat, so ist es unsere Pflicht und unsere Verantwortung dem gesamten revolutionären Milieu unsere Erfahrungen zur Verteidigung des Marxismus weiterzugeben. Zur Wiederaneignung der Wachsamkeit aufzurufen, mit welcher die Arbeiterbewegung in der Vergangenheit dieser Politik der Unterwanderung und Manipulation durch den okkulten Apparat der Bourgeoisie bekämpft hat.

Kr.

 

Aktuelles und Laufendes: 

  • Freimaurerei [94]
  • Dritte Internationale [95]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Erste Internationale [72]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Organisation [64]

Internationale Revue 20

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Der Kampf des Marxismus gegen das politische Abenteurertum

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In den ersten drei Teilen dieser Artikelserie haben wir gesehen, wie der Bakunismus, unterstützt und manipuliert von den herrschenden Klassen und von einem ganzen Netzwerk politischer Parasiten, einen versteckten Kampf gegen die Erste Internationale führte. Insbesondere richtete sich dieser Kampf gegen die Etablierung wahrhaft proletarischer Prinzipien und Regeln für die Funktionsweise innerhalb der Internationalen. Während die Statuten der Internationalen Arbeiterassoziation mit ihrer Verteidigung einer einheitlichen, kollektiven, zentralisierten, transparenten und disziplinierten Funktionsweise einen qualitativen Sprung gegenüber der vorherigen sektiererischen, hierarchischen und konspirativen Phase der Arbeiterbewegung darstellte, mobilisierte Bakunins Allianz all die nicht-proletarischen Elemente, die diesen Schritt vorwärts nicht akzeptieren wollten. Mit der Niederlage der Pariser Kommune und dem internationalen Rückfluß des Klassenkampfes nach 1871 verdoppelte die Bourgeoisie ihre Anstrengungen, um die Internationale zu zerstören und vor allem die marxistische Vision einer Arbeiterpartei und ihrer Organisationsprinzipien, die sich in wachsendem Maße etabliert hatte, zu diskreditieren. So blies die Internationale vor ihrer Auflösung, auf dem Haager Kongreß von 1872, zur offenen und entscheidenden Konfrontation mit dem Bakunismus. Sich vergegenwärtigend, daß eine Internationale angesichts solch einer wichtigen Niederlage des Weltproletariats nicht weiter existieren kann, war die Hauptsorge der Marxisten auf dem Haager Kongreß, daß die politischen und organisatorischen Prinzipien, die sie gegen den Bakunismus verteidigt hatten, an die zukünftigen Generationen von Revolutionären weitergereicht werden und als Basis für künftige Internationalen dienen. Daher wurden die Enthüllungen des Haager Kongresses über Bakunins Verschwörung innerhalb der Internationalen und gegen sie veröffentlicht und der gesamten Arbeiterklasse verfügbar gemacht.

Die vielleicht wichtigste Lehre aus dem Kampf gegen Bakunins Allianz, die die Erste Internationale an uns weitergereicht hat, ist die der Gefahr, die deklassierte Elemente im allgemeinen und politisches Abenteurertum im besonderen für kommunistische Organisationen darstellen. Gleichzeitig ist es gerade diese Lehre, die von vielen Gruppen des gegenwärtigen revolutionären Milieus am meisten ignoriert oder unterschätzt wird. Daher ist der letzte Teil unserer Serie über den Kampf gegen den Bakunismus dieser Frage gewidmet.

Die historische Bedeutung der Analyse der Ersten Internationalen über Bakunin

Warum entschied sich die Erste Internationale nicht dafür, ihren Kampf gegen den Bakunismus als eine rein interne Angelegenheit zu behandeln, ohne Belang für alle außerhalb der Organisation? Warum bestand sie so sehr darauf, daß die Lehre dieses Kampfes an die Zukunft weitergereicht wurde? Grundlage der marxistischen Organisationsauffassung ist die Überzeugung, daß revolutionäre kommunistische Organisationen ein Produkt des Proletariats sind. Historisch gesprochen, haben sie ein Mandat von der Arbeiterklasse erhalten. Als solche sind sie dazu verpflichtet, gegenüber der Klasse als Ganzes, insbesondere aber gegenüber anderen politischen Organisationen und Ausdrücken der Klasse, dem proletarischen Milieu, Rechenschaft über ihre Handlungen abzulegen. Dieses Mandat gilt nicht nur in der Gegenwart, sondern auch gegenüber der Geschichte an sich. Gleichzeitig sind die künftigen Generationen von Revolutionären, die das von der Geschichte an sie weitergereichte Mandat akzeptieren, dazu verpflichtet, von den Kämpfen ihrer Vorgänger zu lernen und sich ein Urteil darüber zu bilden.

Deshalb war der letzte große Kampf der Ersten Internationalen dazu bestimmt, dem Weltproletariat und der Geschichte gegenüber das von Bakunin und seinen Anhängern gegen die Arbeiterpartei angezettelte Komplott zu enthüllen. Und deshalb ist es die Verantwortung der marxistischen Organisationen von heute, die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, um für den Kampf gegen den heutigen Bakunismus, gegen das heutige politische Abenteurertum gewappnet zu sein.

Nachdem sie die historische Gefahr begriffen hat, die die von der Ersten Internationalen gezogenen Lehren für ihre eigenen Klasseninteressen darstellen, unternahm die Bourgeoisie in Erwiderung auf die Enthüllungen des Haager Kongresses alles, um diese Bemühungen zu diskreditieren. Die bürgerliche Presse und bürgerliche Politiker erklärten, daß der Kampf gegen den Bakunismus nicht ein Kampf ums Prinzip, sondern ein schmutziger Machtkampf innerhalb der Internationalen gewesen sei. Demnach ging es Marx nur darum, seinen Rivalen Bakunin durch eine Lügenkampagne auszuschalten. Mit anderen Worten, die Bourgeoisie versuchte die Arbeiterklasse davon zu überzeugen, daß ihre Organisationen auf genau dieselbe Weise funktionierten und somit nicht besser seien als jene der Ausbeuter. Die Tatsache, daß die große Mehrheit der Internationalen Marx unterstützte, wurde dem ''Triumph des Autoritätsglaubens'' in ihren Reihen und der angeblichen Neigung ihrer Mitglieder zugeschrieben, überall Feinde der Assoziation lauern zu sehen. Die Bakunisten und die Lassalleaner verbreiteten Gerüchte, wonach Marx selbst ein Agent Bismarcks gewesen sei.

Wie wir wissen, sind dies exakt dieselben Beschuldigungen, die heute von der Bourgeoisie, durch den politischen Parasitismus, gegen die IKS erhoben werden.

Solche Verunglimpfungen seitens der Bourgeoisie, verbreitet vom politischen Parasitismus, sind eine unvermeidliche Begleiterscheinung jedes proletarischen Organisationskampfes. Weitaus ernster und gefährlich ist es, wenn solche Verunglimpfungen ein gewisses Echo innerhalb des revolutionären Lagers selbst erzeugen. Dies war bei Franz Mehrings Biographie von Marx der Fall. In diesem Buch erklärte Mehring, der dem erklärten linken Flügel der Zweiten Internationalen angehörte, daß die Broschüre des Haager Kongresses über die Allianz ''unentschuldbar'' und ''der Internationalen unwürdig'' gewesen sei. In seinem Buch verteidigte Mehring nicht nur Bakunin, sondern auch Lassalle und Schweitzer gegen die von Marx und den Marxisten erhobenen Anschuldigungen. Die von Mehring gegen Marx erhobene Hauptbeschuldigung war, daß er in seinen Schriften gegen Bakunin die marxistische Methode verworfen habe. Während Marx in all seinen anderen Werken immer von einer materialistischen Klassenanalyse der Ereignisse ausging, versuchte er in seiner Analyse der Allianz Bakunins, so Mehring, das Problem mit der Persönlichkeit und den Handlungen einer kleinen Zahl von Individuen, den Führern der Allianz, zu erklären. Mit anderen Worten, er beschuldigte Marx, anstelle einer Klassenanalyse einer personalisierten, verschwörerischen Sichtweise zu verfallen. Gefangen in dieser Sichtweise, war Marx, so Mehring weiter, gezwungen, die Fehler und Sabotage von Bakunin, aber auch der Führer des Lassalleanismus in Deutschland stark überzubetonen.

Tatsächlich erklärte Mehring, nachdem er sich ''aus Prinzip'' weigerte, das Material zu untersuchen, welches Marx und Engels über Bakunin präsentierten:

''Was ihren sonstigen polemischen Schriften den eigentümlichen Reiz und den dauernden Wert verleiht, die positive Seite der neuen Erkenntnis, die durch die negative Kritik entbunden wird, das fehlt dieser Schrift vollständig.''

Auch hier wird dieselbe Kritik heute innerhalb des revolutionären Milieus gegenüber der IKS erhoben. Mit unserer Antwort auf diese Kritik werden wir jetzt demonstrieren, daß die Position von Marx gegen Bakunin doch auf einer materialistischen Klassenanalyse basierte. Es handelte sich dabei um die Analyse des politischen Abenteurertums und der Rolle der Deklassierten. Es ist diese ungeheuer wichtige ''neue Erkenntnis von dauerndem Wert'', welche Mehring und mit ihm die Mehrheit der gegenwärtigen revolutionären Gruppen vollkommen übersehen oder mißverstanden haben.

(Mehring: Karl Marx, Geschichte seines Lebens, S. 500)

Die Deklassierten: Feinde der proletarischen Organisationen

Im Gegensatz zu dem, was Mehring glaubte, schuf die Erste Internationale in der Tat eine Klassenanalyse der Ursprünge und der sozialen Grundlage von Bakunins Allianz.

''Ihre Gründer und die Vertreter der Arbeiterorganisationen beider Welten, die auf den internationalen Kongressen die Allgemeinen Statuten der Assoziation sanktionierten, vergaßen, daß gerade die Weite ihres Programms selbst den Deklassierten erlauben würde, sich einzuschleichen und im Schoße der Assoziation geheime Organisationen zu bilden, deren Tätigkeit sich nicht gegen die Bourgeoisie und die bestehenden Regierungen, sondern sich gegen die Internationale selbst richten würde. Dies war der Fall mit der Allianz der Sozialistischen Demokratie''

Die Schlußfolgerung desselben Dokuments faßt die Hauptaspekte des politischen Programms Bakunins in vier Punkten zusammen, von denen zwei erneut die entscheidende Rolle der Deklassierten unterstreichen.

''1. Alle Scheußlichkeiten, in denen sich nun einmal, wie durch Schicksalsschluß, das Leben der Deklassierten der höheren gesellschaftlichen Schichten bewegt, werden als ebenso viele ultrarevolutionäre Tugenden gepriesen".

''4. An die Stelle des ökonomischen und politischen Kampfes der Arbeiter um ihre Emanzipation treten die allzerstörenden Taten des Zuchthausgesindels, als der höchsten Verkörperung der Revolution. Mit einem Worte, man muß das bei den 'Revolutionen nach dem klassischen Muster des Westens' von den Arbeitern selbst niedergehaltene Lumpentum loslassen und so aus eigenem Antrieb den Reaktionen eine wohldisziplinierte Bande von Agents provocateurs zur Verfügung stellen" (ebenda, S. 440).

''Die vom Haager Kongreß gegen die Allianz gefaßten Beschlüsse waren daher reine Handlungen der Pflicht, er konnte nicht die Internationale, diese große Schöpfung des Proletariats, in den Fallstricken des Auswurfs der Ausbeuterklassen sich verfangen lassen" (ebenda, S. 441).

Mit anderen Worten, die soziale Basis der Allianz bestand aus dem Gesindel der herrschenden Klassen, den Deklassierten, die das Gesindel der Arbeiterklasse, das Lumpenproletariat, für seine Intrigen gegen kommunistische Organisationen zu mobilisieren versuchte.

Bakunin war selbst die Verkörperung des deklassierten Aristokraten.

''.... nachdem er sich in seiner Jugend all die Unarten des kaiserlichen Offiziers der Vergangenheit (er war Offizier) angeeignet hat, wendete er all die schlechten Instinkte seiner tartarischen und adligen Herkunft auf die Revolution an. Diese Art eines tartarischen Adligen ist gut bekannt. Es war ein wahres Austoben übler Leidenschaften: ihre Diener schlagend, prügelnd und quälend, Frauen vergewaltigend, von einem Tag zum nächsten betrunken, mit barbarischer Raffinesse all die Formen der jämmerlichsten Erniedrigung der menschlichen Natur und Würde ausheckend - so war das aufregende und revolutionäre Leben jener Adligen. Nun, wendete der Tartar Horostratus nicht, aus Mangel an feudalen Sklaven, all seine niederen Instinkte, all die üblen Leidenschaften seiner Brüder auf die Revolution an''

Genau diese Anziehungskraft zwischen dem Abschaum der höheren und der niederen Klassen erklärt die Faszination des kriminellen Milieus und des Lumpenproletariats auf Bakunin, dem deklassierten Aristokraten.. Der ''Theoretiker'' Bakunin brauchte die kriminellen Energien der Unterwelt, des Lumpenproletariats, um sein Programm auszuführen. Diese Rolle wurde in Rußland von Netschajew übernommen, der in die Praxis umsetzte, was Bakunin predigte, indem er die Mitglieder seines Komitees erpreßte und jene, die letzteres zu verlassen versuchten, hinrichtete. Bakunin zögerte nicht, diese Allianz des deklassierten ''erhabenen Menschen'' und des Kriminellen zu theoretisieren.

''Das Räubertum ist eine der ehrenvollsten Formen des russischen Volkslebens. Der Räuber ist der Held, der Schirmer und Rächer des Volkes, der unversöhnliche Feind des Staates und jeder vom Staat gegründeten gesellschaftlichen und bürgerlichen Ordnung, der Kämpfer auf Tod und Leben gegen diese ganze Zivilisation der Beamten, Edelleute, Priester und der Krone.... Wer das Räubertum nicht versteht, hat nie von der russischen Volksgeschichte das Geringste verstanden. Wem das Räubertum nicht sympathisch ist, der kann auch nicht mit dem Volksleben sympathisieren und hat kein Herz für die hundertjährigen und unermeßlichen, langanhaltenden Leiden des Volkes; er gehört ins Lager der Feinde, der Parteigänger des Staats" (Ein Komplott gegen die IAA, MEW, Bd. 18, S. 401)

(Bericht von Utin an den Haager Kongreß, Minutes and Documents, S. 448)
Der Bericht ist unterzeichnet von den Mitgliedern der Kongreßkommission, die die Allianz untersuchte: Dupont, Engels, Fränkel, Le Moussu, Marx, Seraillier.
Und die Schlußfolgerung fügt hinzu:
(''Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiter-Assoziation, veröffentlicht im Auftrag des Haager Kongreß, Einleitung''; in MEW Bd. 18, S. 331)

Die Deklassierten in der Politik: Brutplatz für Provokationen

Das Hauptmotiv solch deklassierter Elemente, in die Politik einzusteigen, ist nicht ihre Identifizierung mit der Sache der Arbeiterklasse oder Begeisterung für ihr Ziel, den Kommunismus, sondern ein glühender Haß und Rachegelüste der Entwurzelten gegen die Gesellschaft. In seinem ''Revolutionären Katechismus'' erklärt Bakunin:

''Er ist kein Revolutionär, wenn er noch an irgend etwas in dieser Welt hängt. Er darf nicht zurückbeben, wo es sich darum handelt, irgend jener alten Welt angehöriges Band zu zerreißen, irgendeine Einrichtung oder irgendeinen Menschen zu vernichten. Er muß alles und alle gleichmäßig hassen"

''Indem wir keine andere Tätigkeit als die der Zerstörung zulassen, erkennen wir an, daß die Form, in der sich diese Tätigkeit äußern muß, eine höchst mannigfaltige sein kann: Gift, Dolch, Strick etc. Die Revolution heiligt alles ohne Unterschied.''

Überflüssig zu sagen, daß solch eine Mentalität, solch ein soziales Milieu eine wahre Brutstätte für politische Provokationen ist. Auch wenn die Provokateure, Polizeispitzel und politischen Abenteurer, diese gefährlichsten Feinde der proletarischen Organisationen, von den herrschenden Klassen beschäftigt werden, so sind sie dennoch spontan durch den Prozeß der Deklassierung produziert worden, der vor allem im Kapitalismus vonstatten geht. Ein paar kurze Auszüge aus Bakunins ''Revolutionärem Katechismus'' reichen aus, um diesen Punkt zu veranschaulichen.

§ 10 rät dem ''wahren Militanten'', seine Genossen auszubeuten.

''Jeder Revolutionsgenosse sollte mehrere Revolutionäre zweiter oder dritter Ordnung, d.h. solche, die noch nicht vollständig eingeweiht sind, in seiner Hand haben. Er muß dieselben als einen seiner Verfügung anvertrauten Teil des allgemeinen revolutionären Kapitals betrachten. Er muß ökonomisch mit seinem Kapitalanteil wirtschaften und möglichst großen Nutzen aus demselben herausschlagen" (ebenda, S. 428).

§ 18 stellt vor, wie man von den Reichen lebt.

''Man muß sie auf alle mögliche Art ausbeuten, man muß sie umgarnen und verwirren, und, indem man sich zum Herrn ihrer schmutzigen Geheimnisse macht, sie zu unseren Sklaven machen. Auf diese Weise werden ihre Macht, ihre Verbindungen, ihr Einfluß und ihr Reichtum zu einem unerschöpflichen Schatze und zu einer kostbaren Hülfe bei mannigfaltigen Unternehmungen." (ebenda, S. 430).

§ 19 schlägt die Infiltration der Liberalen und anderer Parteien vor.

''Mit diesen kann man nach ihrem eigenen Programm konspirieren, indem man tut, als ob man ihnen blindlings folge. Man muß sie in unsere Hand bringen, sich ihrer Geheimnisse bemächtigen, sie vollständig kompromittieren, so daß ihnen der Rückzug unmöglich wird, und sich ihrer zur Herbeiführung von Unruhen im Staate bedienen" (S. 430).

§ 20 spricht sicherlich für sich.

''Die fünfte Kategorie bilden die Doktrinäre, Verschwörer, Revolutionäre, all diejenigen, welche in Versammlungen oder auf dem Papier Geschwätz machen. Man muß sie unaufhörlich zu praktischen und gefahrvollen Kundgebungen treiben und fortreißen, deren Erfolg sein wird, daß der größte Teil von ihnen verschwindet, während einige darunter sich zu echten Revolutionären entwickeln."

§ 21: ''Die sechste Kategorie ist von großer Bedeutung - es sind die Frauen, die in drei Klassen einzuteilen sind: Zur ersten gehören die oberflächlichen Frauen, ohne Geist und Herz, deren man sich in derselben Weise bedienen muß, wie der Männer der dritten und vierten Kategorie. Zur zweiten Klasse gehören die leidenschaftlichen, hingebenden und befähigten Frauen, die jedoch nicht zu uns gehören, weil sie noch nicht zum praktischen und phrasenlosen revolutionären Verständnis emporgedrungen sind; man muß sie benutzen wie die Männer der fünften Kategorie. Endlich kommen die Frauen, die ganz und gar zu uns gehören, das heißt, die vollständig eingeweiht sind und unser gesamtes Programm angenommen haben. Sie müssen wir als den kostbarsten unserer Schätze betrachten, ohne dessen Beistand wir nichts auszurichten vermögen." (S. 430)

Was ins Auge sticht, ist die Ähnlichkeit zwischen den Methoden, die von Bakunin und jenen entwickelt wurden, die in den heutigen religiösen Sekten heimisch sind, welche, obgleich vom Staat dominiert, üblicherweise um deklassierte Abenteurer herum gegründet sind. Wie wir in den vorherigen Artikeln gesehen haben, entsprach das Bakuninsche Organisationsmodell dem der Freimaurerei, dem Vorläufer des modernen Phänomens religiöser Sekten.

(Bakunin: Die Prinzipien der Revolution, in Komplott, MEW, Bd. 18, S. 403)
(in Komplott, MEW Bd. 18, S. 429). Der deklassierte Pseudo-Revolutionär, der bar jeder Bande der Loyalität zu irgendeiner Gesellschaftsklasse ist und an keine gesellschaftliche Perspektive außer sein eigenes Fortkommen glaubt, wird nicht von dem Ziel einer künftigen, fortschrittlicheren Gesellschaftsform angetrieben, sondern von einem nihilistischen Zerstörungszwang.

Eine fürchterliche Waffe gegen die Arbeiterbewegung

Die Aktivitäten deklassierter politischer Abenteurer sind für die Arbeiterbewegung besonders gefährlich. Proletarische revolutionäre Organisationen können nur auf der Grundlage eines tiefen gegenseitigen Vertrauens unter den Militanten und den Gruppen des kommunistischen Milieus angemessen existieren und funktionieren. Der Erfolg des politischen Parasitismus im allgemeinen und des Abenteurertums im besonderen hängt genau im Gegensatz dazu von der Fähigkeit ab, das gegenseitige Vertrauen zu untergraben, indem die politischen Verhaltensregeln zerstört werden, worauf es basiert.

In einem Brief an Netschajew, datiert vom Juni 1870, enthüllt Bakunin offen seine Absichten gegenüber der Internationalen. ''Die Gesellschaften, deren Ziele den unsrigen nahestehen, müssen wohl oder übel dahin gebracht werden, sich mit ihr zu vereinigen, oder ihr zumindest untergeordnet sein, ohne daß sie es ahnen, und wobei man aus ihrer Mitte alle unzuverlässigen Elemente entfernt; die feindlichen und eigentlich unheilvollen Gesellschaften müssen zerstört werden; schließlich muß die Regierung endgültig beseitigt werden. Nur durch die Verbreitung der Wahrheit allein wird dies alles nicht erreicht werden; ohne die List, die Gerissenheit, die Lüge wird man nicht auskommen". (S. 84). Einer dieser klassischen ''Tricks'' besteht darin, die Arbeiterorganisationen zu beschuldigen, sich der gleichen Methoden wie die Abenteurer selbst zu bedienen. So behauptet Bakunin in seinem ''Brief an die Brüder in Spanien'', daß die Resolution der Londoner Konferenz von 1872 gegen Geheimgesellschaften, die insbesondere gegen die Allianz gerichtet war, von der Internationalen nur angenommen worden sei, ''um den Weg für ihre eigene Verschwörung freizumachen, für die Geheimgesellschaft, die seit 1848, gegründet von Marx, Engels und dem verstorbenen Wolff, unter der Führung von Marx existiert hat, und die nichts anderes ist als die fast ausschließlich deutsche Gesellschaft der autoritären Kommunisten (...) Man muß feststellen, daß der Kampf, der inmitten der Internationalen ausgebrochen ist, nichts anderes ist als ein Kampf zwischen zwei Geheimgesellschaften.'' In der deutschsprachigen Ausgabe gibt es eine Fußnote vom anarchistischen Historiker Max Nettlau, einem glühenden Verehrer Bakunins, in der dieser einräumt, daß diese Anschuldigungen gegen Marx völlig haltlos sind (Bakunin: Gott und der Staat...., S.216-218) Siehe auch Bakunins antisemitische Rapports personnels avec Marx, in denen der Marxismus als Teil einer jüdischen, eng mit der Rothschild-Familie verknüpften Verschwörung dargestellt wird, und auf die wir in unserem Artikel ''Marxismus gegen Freimaurerei'' (Internationale Revue Nr. 19) hingewiesen haben.

Das Ziel des Bakunismus heißt Bakunin

Die von Bakunin angewandten Methoden waren jene des deklassierten Pöbels. Aber welchem Ziel dienten sie?

Das einzige politische Interesse Bakunins galt - Bakunin. Er trat der Arbeiterbewegung bei, um sein eigenes persönliches Vorhaben zu verfolgen.

Die Internationale war sich darüber völlig im klaren. Der erste Haupttext des Generalrats über die Allianz, das interne Rundschreiben über die Angeblichen Spaltungen in der Internationalen erklärte bereits, daß es Bakunins Ziel sei, ''den Generalrat durch seine eigene persönliche Diktatur zu ersetzen''. Der Bericht des Kongresses über die Allianz entwickelt dieses Thema weiter.

''Die Internationale war schon fest gegründet, als Bakunin sich in den Kopf setzte, eine Rolle als Emanzipator des Proletariats zu spielen (...) Um sich als Haupt der Internationalen zur Geltung zu bringen, mußte er als Haupt einer anderen Armee dastehen, deren absolute Ergebenheit gegen seine Person ihm durch eine geheime Organisation gesichert war. Hatte er seine Gesellschaft einmal offen in die Internationale eingepflanzt, dann rechnete er darauf, jene in alle Sektionen zu verzweigen und sich hierdurch deren absolute Leitung zu verschaffen" (Ein Komplott, Bd. 18, S. 337).

''... ein schlimmes Ding ist, seine Tätigkeit in einem fremden Lande auszuüben. Ich habe dies nur zu sehr erprobt in den Revolutionsjahren; weder in Frankreich noch in Deutschland habe ich Wurzeln schlagen können. Und so widme ich auch ferner der fortschrittlichen Bewegung der gesamten Welt meine glühende Sympathie; um jedoch den Rest meines Lebens nicht zu vergeuden, muß ich von jetzt an meine direkte Tätigkeit auf Rußland, Polen und die Slawen beschränken.

(Bakunin: An die russischen, polnischen und alle slawischen Freunde, MEW, Bd. 18, S. 445)

Hier wird deutlich, daß Bakunins Motiv für seinen Richtungswechsel nicht das Gute der Sache war, sondern das Problem, ''einen sicheren Halt zu gewinnen'': das erste Kennzeichen eines politischen Abenteurers.

Dieses persönliche Vorhaben existierte, lange bevor Bakunin an einen Eintritt in die Internationale dachte. Als Bakunin aus Sibirien flüchtete und 1861 nach London kam, zog er eine negative Bilanz seines ersten Versuches, sich während der Revolutionen von 1848-49 in den westeuropäischen revolutionären Zirkeln zu etablieren.

Bakunins Versuch, die herrschenden Klassen für seine persönlichen Ambitionen zu gewinnen

Folgender Text ist auch bekannt als Bakunins Panslawisches Manifest.

''Man sagt, daß der Kaiser Nikolaus selbst kurz vor seinem Tode, als er sich anschickte, Österreich den Krieg zu erklären, alle österreichischen und türkischen Slawen, die Ungarn und die Italiener zum allgemeinen Aufstand aufrief. Er selbst hatte den orientalischen Krieg gegen sich heraufbeschworen und, um sich zu verteidigen, hätte er sich fast aus einem despotischen Kaiser in einen revolutionären verwandeln mögen''

In seinem Pamphlet 'Die Angelegenheit des Volkes' von 1862 erklärte Bakunin zur Rolle des zeitgenössischen Zaren Alexander II., daß ''er es ist, er allein, der in Rußland, ohne ein Tropfen Bluts zu vergießen, die bedeutendste und wohltätigste Revolution durchführen könnte. Er kann es noch jetzt (...) Die Bewegung des nach tausendjährigem Schlafe erwachten Volkes aufzuhalten, ist unmöglich. Aber stellte sich der Zar kühn und entschlossen an die Spitze der Bewegung, dann hätte seine Macht für das Wohl und den Ruhm Rußlands keine Grenzen" (ebenda, S. 449). In diesem Stil fortfahrend, ruft Bakunin den Zaren dazu auf, in Westeuropa einzufallen.

''Es ist Zeit, daß die Deutschen nach Deutschland abziehen. Wenn der Zar begriffen hätte, daß er von nun an sich nicht mehr das Haupt einer Zwangs-Zentralisation, sondern das einer freien Föderation freier Völker sein müßte, gestützt auf eine feste und neugekräftigte Macht, im Bündnis mit Polen und der Ukraine, daß er alle sosehr verabscheuten deutschen Bündnisse lösen und kühn das panslawistische Banner erheben müßte - er würde der Heiland der slawischen Welt."

''Der Pan-Slawismus ist eine Erfindung des Petersburger Kabinetts und hat keinen anderen Zweck als den, die europäischen Grenzen Rußlands nach Westen und Süden vorzuschieben. Da man aber nicht wagt, den österreichischen, preußischen und türkischen Slawen ihren Beruf anzukündigen, im großen russischen Reich aufzugehen, stellt man ihnen Rußland als die Macht dar, welche sie vom fremden Joch befreien und in einer großen freien Föderation vereinigen wird.''

Was jedoch, abgesehen von seinem wohlbekannten Haß gegen Deutsche, veranlaßte ihn, so offen die Hauptbastion der Konterrevolution in ganz Europa, die Moskowiter Autokratie, zu unterstützten? In Wahrheit versuchte Bakunin, die Unterstützung des Zaren für seine eigenen politischen Ambitionen in Westeuropa zu erlangen. Das radikale politische Milieu im Westen war durchsetzt mit zaristischen Agenten, Gruppen und Zeitungen, die den Pan-Slawismus und andere pseudorevolutionäre Themen in den Vordergrund rückten. Der russische Hof hatte seine Agenten und Sympathisanten in den einflußreichsten Positionen, wie das Beispiel von Lord Palmerston, Großbritanniens mächtigstem Politiker seinerzeit, veranschaulicht. Natürlich wäre Moskaus Protektion für die Verwirklichung von Bakunins persönlichen Ambitionen von unschätzbarem Wert gewesen.

Bakunin hoffte, den Zar dazu zu überreden, seiner Innenpolitik durch die Einberufung einer Nationalversammlung einen revolutionär-demokratischen Anstrich zu verleihen, was es Bakunin erlauben würde, die polnischen und anderen radikalen und Emigrantenbewegungen im Westen als Rußlands ultralinkes trojanisches Pferd in Westeuropa zu organisieren.

''Leider hielt es der Zar nicht für angemessen, die Nationalversammlung einzuberufen, für welche Bakunin in dieser Broschüre bereits seine Kandidatur aufstellte. Er hatte also dieses sein Wahlmanifest und seine Kniebeugungen vor Romanow weggeworfen. Schmählich in seinem unschuldsvollen Vertrauen getäuscht, blieb ihm nichts weiter übrig, als sich kopfüber in die pan-destruktive Anarchie zu stürzen.''

Vom Zarismus enttäuscht, aber unbeirrt auf der Jagd nach der persönlichen Führung über die revolutionäre Bewegung Europas, strebte Bakunin Mitte der 1860er Jahre in Italien zur Freimaurerei hin, indem er selbst etliche Geheimgesellschaften gründete (siehe Internationale Revue Nr. 18). Mittels dieser Methoden infiltrierte Bakunin zunächst die bürgerliche Liga für Frieden und Freiheit, die er ''auf einer Stufe'' mit der Internationalen zu vereinen suchte (siehe Internationale Revue Nr. 19). Als auch dies mißlang, infiltrierte er die Internationale und versuchte, sie über seine geheime Allianz zu übernehmen. Für dieses Vorhaben, die Zerstörung der weltweiten politischen Organisation der Arbeiterklasse, fand Bakunin schließlich die großherzige Unterstützung der herrschenden Klassen.

''Die ganze liberale und Polizeipresse hat offen ihre Partei ergriffen; sie sind in ihren persönlichen Schmähungen gegen den Generalrat und ihren matten Angriffen gegen die Internationale von den Weltverbessern aller Länder unterstützt worden.''

(ebenda, S. 360)
(ebenda, S. 454)
(ebenda, S. 446)
(ebenda, S. 452). Die Internationale kommentierte dies folgendermaßen.
(Komplott, Bd. 18, S. 446).

Untreue gegenüber allen Klassen, Haß gegen die Gesellschaft

Auch wenn er nach ihrer Unterstützung trachtete, war Bakunin nicht einfach nur ein Agent des Zarismus, der Freimaurerei, der Friedensliga oder der westlichen Polizeipresse. Als ein wahrhaft Deklassierter hatte Bakunin gegenüber den herrschenden Klassen nicht mehr Sinn für Loyalität als gegenüber den ausgebeuteten Klassen der Gesellschaft. Im Gegenteil, sein Ziel war es, die Arbeiter- und die herrschenden Klassen gleichermaßen zu täuschen und zu manipulieren, um seine persönlichen Ambitionen zu verwirklichen und an der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit Revanche zu nehmen. Daher benutzten die herrschenden Klassen, wohl wissend um diese Tatsache, Bakunin, wann immer es angebracht war, aber vertrauten ihm niemals und überließen ihn mit größtem Vergnügen seinem Schicksal, sobald sein Nutzen ausgedient hatte. Sobald Bakunin öffentlich von der Internationalen entlarvt worden war, war seine politische Karriere beendet.

Bakunin verspürte einen echten, glühenden Haß gegen die herrschenden feudalen und kapitalistischen Klassen. Da er jedoch die Arbeiterklasse noch mehr haßte und sie im allgemeinen verachtete, sah er die Revolution oder einen gesellschaftlichen Wechsel als Aufgabe einer kleinen, aber entschlossenen Elite von skrupellosen Deklassierten unter seiner persönlichen Führung an. Diese Vision einer gesellschaftlichen Umwandlung war notwendigerweise eine phantastische, mystische Absurdität, denn sie stammte nicht aus irgendeiner Klasse, die in der gesellschaftlichen Realität solide verankert ist, sondern aus der rachsüchtigen Phantasie eines Außenseiters.

Vor allen Dingen glaubte Bakunin wie alle politischen Abenteurer an einen Wandel der Gesellschaft nicht durch Klassenkampf, sondern mittels der manipulierbaren Fertigkeiten einer revolutionären Bruderschaft.

''Die wahre Revolution braucht keine Individuen, die sich an die Spitze der Masse stellen und sie kommandieren, sondern Männer, die, unsichtbar in ihrer Mitte verborgen, die unsichtbare Verbindung einer Masse mit der andern ausmachen und so der Bewegung unsichtbar eine und dieselbe Richtung, einen und denselben Geist und Charakter geben. Die vorbereitende geheime Organisation hat nur diesen Sinn, und einzig und allein hierzu ist sie notwendig"

Daher bestand das politische Vorhaben der Allianz darin, nicht nur die Internationale, sondern auch die Organisationen der herrschenden Klasse zu infiltrieren und zu übernehmen.

So teilt uns § 14 des revolutionären Katechismus Bakunins mit: ''Ein Revolutionär muß sich überall Eingang verschaffen, in der höheren Gesellschaft wie beim Mittelstand, im Kaufmannsladen, in der Kirche, im aristokratischen Palast, in der bürokratischen, militärischen und literarischen Welt, in der dritten Sektion (geheime Polizei) und selbst im kaiserlichen Palast.'' (ebenda, S. 429)

Die Geheimstatuten der Allianz erklären:

''Alle internationalen Brüder kennen einander. Kein politisches Geheimnis darf je unter ihnen existieren. Niemand kann irgendeiner geheimen Gesellschaft angehören ohne positive Zustimmung seines Komitees oder im Notfall, wenn dieses es verlangt, ohne die des Zentralkomitees; und er kann ihr nur unter der Bedingung angehören, daß er diesen Komitees alle Geheimnisse aufdeckt, welche sie direkt oder indirekt interessieren könnten."

Der Bericht der Kommission des Haager Kongresses kommentiert diese Passage wie folgt:

''Die Pietris und Stiebers verwenden nur untergeordnete und verlorene Leute als Spione, die Allianz aber, indem sie ihre falschen Brüder in die Geheimgesellschaften schickt, um deren Geheimnisse zu verraten, überträgt die Rolle des Spions denselben Männern, welche nach ihrem Plan die Leitung der 'allgemeinen Revolution' übernehmen sollen.''

(ebenda, S.338)
(MEW Bd. 18, Ein Komplott gegen die IAA, S.456)
(ebenda, S. 402). Solch eine Vision war nicht neu, sondern wurde bereits seit den Zeiten der Französischen Revolution innerhalb der ''Illuminaten'', einer Verzweigung der Freimaurerei, kultiviert, die sich später darauf spezialisierten, die Arbeiterbewegung zu infiltrieren. Bakunin teilte dieselbe abenteuerliche Idee einer politischen und vor allem total anarchischen persönlichen ''Befreiung'' durch eine machiavellistische Politik der Infiltration, in der die verschiedenen Gesellschaftsklassen gegeneinander ausgespielt werden.

Das Wesen des politischen Abenteurertums

In ihrer gesamten Geschichte ist die Arbeiterbewegung von kleinbürgerlichen Reformisten und Opportunisten und manchmal von schamlosen Karrieristen heimgesucht worden, die nicht an die Bedeutung und Zukunft der Arbeiterbewegung glaubten und sich nicht um sie scherten. Im Gegensatz dazu ist der politische Abenteurer überzeugt davon, daß die Arbeiterbewegung von historischer Bedeutung ist. In diesem Punkt stimmt der Abenteurer mit dem Marxisten überein. Genau aus diesem Grund treten die Abenteurer der Arbeiterbewegung bei. Ein Abenteurer wird weder von der grauen Langeweile des Reformismus noch von der Mittelmäßigkeit eines guten Jobs angezogen. Im Gegenteil, er ist entschlossen, eine historische Rolle zu spielen. Diese große Ambition unterscheidet den Abenteurer vom kleinbürgerlichen Karrieristen und Opportunisten.

Während Revolutionäre in die Arbeiterbewegung eintreten, um ihr zu helfen, ihre historische Mission zu erfüllen, tritt der Abenteurer ihr bei, um die Arbeiterbewegung dazu zu bringen, seiner eigenen ''historischen'' Mission zu dienen. Dies ist es, was den Abenteurer deutlich vom proletarischen Revolutionär unterscheidet. Der Abenteurer ist nicht revolutionärer als der Karrierist oder der kleinbürgerliche Reformer. Der Unterschied besteht nur darin, daß der Abenteurer einen Blick für die historische Bedeutung der Arbeiterbewegung hat. Er verhält sich jedoch ihr gegenüber auf eine völlig parasitäre Weise.

Der Abenteurer ist im allgemeinen ein Deklassierter. Es gibt viele solche Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft, Menschen, die mit großen Zielen und einer immensen Portion Überschätzung ihrer eigenen Fähigkeiten ausgestattet sind, aber völlig unfähig sind, ihre hochfliegenden Ambitionen innerhalb der herrschenden Klasse zu verwirklichen. Voller Bitterkeit und Zynismus gleiten solche Menschen häufig ins Lumpenproletariat ab, indem sie die Existenz von Bohemiens oder Kriminellen fristen. Andere geben für den Staat eine ideale Arbeitskraft als Informanten und Agents provocateurs ab. Aber in dieser Masse gibt es ein paar Ausnahmen, Individuen mit der politischen Gabe zu erkennen, daß die Arbeiterbewegung ihnen eine zweite Chance gibt. Sie können sie als Sprungbrett zu Ruhm und Ehren benutzen, um so an der herrschenden Klasse Rache zu nehmen, die in Wahrheit das Objekt ihrer Bemühungen und Ambitionen ist. Solche Menschen sind voller Groll wegen des Versagens der Gesellschaft insgesamt, ihr angebliches Genie zu erkennen. Gleichzeitig sind sie nicht vom Marxismus oder von der Arbeiterbewegung fasziniert, sondern von der Macht der herrschenden Klasse und ihren Manipulationsmethoden.

Das Verhalten des Abenteurers ist bestimmt durch die Tatsache, daß er nicht das Ziel der Bewegung, der er beigetreten ist, teilt. Sein wirkliches, persönliches Vorhaben muß er folglich vor der Bewegung verbergen. Nur seinen engsten Jüngern ist es vergönnt, eine Ahnung von seinem wirklichen Verhalten gegenüber der Bewegung zu haben.

Wie wir im Falle Bakunins gesehen haben, gibt es eine den politischen Abenteurern innewohnende Tendenz, insgeheim mit der herrschenden Klasse zu kollaborieren. Tatsächlich gehören solche Kollaborationen zum eigentlichen Wesen des Abenteurertums. Wie sonst sollte der Abenteurer seine ''historische Rolle'' erlangen können? Wie sonst könnte er sich selbst gegenüber der Klasse beweisen, von der er sich abgelehnt oder ignoriert fühlt? In der Tat kann nur die Bourgeoisie die Bewunderung und Aufmerksamkeit schenken, nach der der Abenteurer dürstet und die die Arbeiter ihm nicht zu geben gedenken.

Einige der bekanntesten Abenteurer in der Arbeiterbewegung, wie Malinowski, waren auch Polizeiagenten. Aber im allgemeinen arbeiteten Abenteurer nicht direkt für den Staat, sondern für sich selbst. Als die Bolschewiki die Akten der politischen Polizei Rußlands, der Okrana, öffneten, fanden sie Beweise dafür, daß Malinowski ein Polizeiagent war. Hinsichtlich Bakunin wurden jedoch keine solchen Beweise gefunden. Marx und Engels beschuldigten weder Bakunin noch Lassalle, bezahlte Agenten zu sein. Und bis heute gibt es keinen Beweis dafür, daß sie es waren.

Aber wie schon Marx und Engels aufzeigten: Die Gefahr, die vom politischen Abenteurer für proletarische Organisationen ausgeht, ist nicht geringer, sondern größer als die eines gemeinen Polizeispitzels. So wurden innerhalb der Internationalen entlarvte Agenten ohne irgendwelche Störungen für die Arbeit schnell ausgeschlossen und denunziert, während die Enthüllung der Aktivitäten Bakunins einige Jahre kostete und die eigentliche Existenz der Organisation bedrohte. Es ist für Kommunisten nicht schwer zu begreifen, daß ein Polizeiinformant ihr Feind ist. Der Abenteurer dagegen wird, falls er auf eigene Rechnung gearbeitet hat, stets vom kleinbürgerlichen Sentimentalismus verteidigt werden, wie im traurigen Fall Mehrings.

Die Geschichte zeigt, wie gefährlich solche Sentimentalitäten sind. Während solche Leute wie Bakunin, Lassalle, oder die ''Nationalbolschewisten'' um Laufenberg und Wolfheim Ende des I. Weltkrieges in Hamburg geheime Abmachungen mit der herrschenden Klasse gegen die Arbeiterbewegung trafen, traten viele andere ''große'' Abenteurer wie Parvus, Mussolini, Pilsudski, Stalin und andere zur Bourgeoisie über.

Abenteurertum und marxistische Bewegung

Lange vor der Gründung der ersten Internationalen hatte die marxistische Bewegung eine umfangreiche Analyse des Abenteurertums als Phänomen der herrschenden Klasse entwickelt. Diese Analyse wurden vor allem in Bezug auf Louis Bonaparte, dem ''Kaiser'' Frankreichs in den 1850/60er Jahren, angefertigt. In der Auseinandersetzung mit Bakunin entwickelte der Marxismus alle wesentlichen Elemente solch eines Phänomens innerhalb der Arbeiterbewegung, ohne jedoch diese Terminologie zu verwenden. In der deutschen Arbeiterbewegung wurde das Konzept des Abenteurertums im Kampf gegen den lassalleanischen Führer Schweitzer entwickelt, der in Zusammenarbeit mit Bismarck daran arbeitete, die Spaltung innerhalb der Arbeiterpartei aufrechtzuerhalten. In den 1880er Jahren denunzierten Engels und andere Marxisten das politische Abenteurertum der Führung der sozialdemokratischen Föderation in Großbritannien und verglichen ihr Verhalten mit dem der Bakunisten. In jener Zeit eignete sich die Arbeiterbewegung insgesamt dieses Konzept an trotz der Existenz eines opportunistischen Widerstandes. In der trotzkistischen Bewegung vor dem II. Weltkrieg blieb es noch immer ein wichtiges Werkzeug zur Verteidigung der Organisation, indem es richtigerweise im Falle Moliniers und anderer angewandt wurde.

Heute, in der Phase des Zerfalls des Kapitalismus, unter der unaufhörlichen Beschleunigung des Prozesses der Deklassierung und Verlumpung sowie angesichts der Offensive der Bourgeoisie gegen das revolutionäre Milieu, besonders mittels des Parasitismus, ist es eine Frage von Tod oder Leben, die marxistische Auffassung vom Abenteurertum wiederherzustellen, zu vertreten und den Kampf gegen es zu erneuern. Kr.

 

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Erste Internationale [72]

Deutsche Revolution, Teil IV

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4. Fraktion oder Partei?

Wir haben in den drei vorausgegangenen Artikeln aufgezeigt, dass die deutsche Arbeiterklasse das Kapital durch ihre Kämpfe zwang, den I. Weltkrieg zu beenden. Das Kapital unternahm alles, um eine weitere Ausdehnung der revolutionären Kämpfe zu verhindern, die deutsche Arbeiterklasse von der russischen zu isolieren und eine weitere Radikalisierung der Kämpfe zu sabotieren. Wir wollen in diesem Artikel rekapitulieren, wie sich die Revolutionäre in Deutschland in ihrer Reaktion auf den Verrat durch die Sozialdemokratie zur Frage des Aufbaus einer politischen Organisation verhielten.

Die Auslösung des I. Weltkrieges war nur möglich, weil sich ein Großteil der Parteien der II. Internationale den Interessen des nationalen Kapitals unterworfen hatte. Neben den Gewerkschaften, die, ohne zu zögern, einen Burgfrieden mit dem Kapital schlossen, war vor allem die Zustimmung der SPD-Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten die Voraussetzung dafür, dass die deutsche Bourgeoisie den Krieg anzetteln konnte. Die Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD-Fraktion war keine Überraschung, sondern lediglich der krönende Abschluss eines Prozesses der opportunistischen Versumpfung der SPD. Schon in der Vorkriegszeit hatte der linke Flügel der SPD aufs Heftigste gegen diese Versumpfung angekämpft. Vom ersten Kriegstag an sammelten sich die Internationalisten unter dem Banner einer Gruppe, die sich kurze Zeit darauf „Spartakisten“ nannte. Sie bezeichneten es als ihre vorrangige Pflicht, den Internationalismus der Arbeiterklasse gegen den Verrat durch die SPD-Führung zu verteidigen. Und das hieß nicht nur, ihre Stellung gegen den Krieg zu propagieren, sondern auch und vor allem die Organisation der deutschen Arbeiterklasse, die SPD, gegen den Verrat ihrer Führung zu verteidigen. Nach dem Verrat der Parteiführung herrschte unter den Internationalisten Einstimmigkeit darüber, die Partei nicht kampflos den Verrätern zu überlassen. Alle arbeiteten darauf hin, die Partei zurückzuerobern. Niemand wollte freiwillig austreten, sondern konsequent die Fraktionsarbeit innerhalb der Partei fortsetzen, mit dem Ziel, die sozialpatriotische Parteiführung hinauszuwerfen.

Hochburg der Verräter waren die Gewerkschaften, die unwiderruflich in den Staat integriert worden waren. Hier gab es nichts wiederzuerobern. Die SPD dagegen war zwar ein Hort des Verrates, aber eben auch ein Ort des Widerstandes. Die Reichstagsfraktion selbst war von dieser Spaltung in Verräter und Internationalisten deutlich geprägt. Im Reichstag war bald deutlich eine Stimme gegen den Krieg zu hören, wenn auch nach einigem Zögern und unter großen Schwierigkeiten. Doch es war vor allem die Parteibasis, die den größten Widerstand gegen den Verrat entfaltete.

„Wir klagen die Reichstagsfraktion an, die bisherigen Parteigrundsätze und damit zugleich den Gedanken des Klassenkampfes verraten zu haben. Die Fraktion hat sich dadurch selbst außerhalb der Partei gestellt;; sie hat aufgehört, als die berechtigte Vertreterin der deutschen Sozialdemokratie betrachtet zu werden (...)!“ (Flugblatt der Opposition, ziziert nach R. Müller, „Vom Kaiserreich zur Republik“)

Konsens war, dass man den Verrätern nicht freiwillig die Organisation überlassen wollte. „Das bedeutet nicht, dass die sofortige Abspaltung von den Opportunisten in allen Ländern wünschenswert oder auch nur möglich wäre; das bedeutet, dass die Spaltung historisch herangereift, dass sie unvermeidlich geworden ist und einen Fortschritt darstellt, eine Notwendigkeit für den revolutionären Kampf des Proletariats, dass die geschichtliche Wendung vom ‚friedlichen‘ Kapitalismus zum Imperialismus zu einer solchen Spaltung treibt.“ (Lenin, „Der Opportunismus und der Zusammenbruch der Zweiten Internationale“)

Wir haben in einem früheren Artikel darauf hingewiesen, dass die Spartakisten und die Linksradikalen Bremens und anderer Städte beabsichtigten, ein Kräfteverhältnis zu entwickeln, das den sozialpatriotischen SPD-Vorstand in die Minderheit drängen würde. Doch wie sollte der organisatorische Bruch mit den Verrätern vollzogen werden? Es war klar, dass nicht beide, Internationalisten und Sozialpatrioten, auf Dauer in der gleichen Partei verbleiben konnten. Einer von beiden musste gehen. Tatsache war, dass der Vorstand durch den Widerstand der Spartakisten immer mehr in Bedrängnis geriet und die Partei immer unwilliger den Verrätern folgte. Dadurch waren die Sozialpatrioten im Vorstand gezwungen, die Flucht nach vorn anzutreten und gegen die Internationalisten in der Partei offensiv vorzugehen. Wie sollte man auf diese Offensive reagieren? Beim ersten Gegenangriff des Vorstandes die Tür zuschlagen, das Weite suchen und eine neue Organisation außerhalb der SPD aufbauen?

Nachdem die Sozialpatrioten begonnen hatten, die revolutionären Linken aus der SPD hinauszudrängen, zunächst aus der Parlamentsfraktion, dann aus der Partei selbst (so wurde Liebknecht bereits im Januar 1916 ausgeschlossen und im Frühjahr 1916 auch die Abgeordneten, die gegen die Kriegskredite gestimmt hatten, aus der Fraktion geworfen), stand die Frage im Raum: Bis zu welchem Punkt sollte um die alte Organisation gekämpft werden?

Hier schieden sich die Geister innerhalb der Linken. Die Haltung Rosa Luxemburgs war eindeutig:

„Aus kleinen Sekten und Konventikeln kann man ‚austreten‘, wenn sie einem nicht mehr passen, um neue Sekten und Konventikel zu gründen. Es ist nichts als unreife Phantasie, die gesamte Masse der Proletarier aus diesem schwersten und gefährlichsten Joch der Bourgeoisie durch einfachen ‚Austritt‘ befreien zu wollen und ihr auf diesem Wege mit tapferem Beispiel voranzugehen. Das Hinwerfen des Mitgliedsbuchs als Befreiungsillusion ist nur die auf den Kopf gestellte Verhimmelung des Parteibuchs als Machtillusion, beides nur die verschiedenen Pole des Organisationskretinismus (...) Der Zerfall der deutschen Sozialdemokratie ist ein geschichtlicher Prozess größter Dimensionen, eine Generalauseinandersetzung zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie, und von diesem Schlachtfeld drückt man sich nicht vor Ekel auf die Seite (...) Diesen Riesenkampf gilt es auszufechten bis zum Äußersten. An der tödlichen Schlinge der offiziellen deutschen Sozialdemokratie und der offiziellen freien Gewerkschaften, die die herrschende Klasse um den Hals der verirrten und verratenen Massen gelegt hat, gilt es zu zerren mit vereinten Kräften, bis sie zerreißt (...) Die Liquidierung des ‚Haufens organisierter Verwesung‘, der sich heute deutsche Sozialdemokratie nennt, ist nicht als Privatangelegenheit in den Entschluss einzelner oder vereinzelter Gruppen gegeben (...) sie muss als große öffentliche Machtfrage unter Aufbietung aller Kräfte ausgefochten werden“ (Der Kampf, Duisburg, 6. Januar 1917).

„Nicht Spaltung oder Einheit, nicht neue Partei oder alte Partei heißt die Parole, sondern Zurückeroberung der Parteien von unten durch Rebellion der Massen, die die Organisationen und ihre Mittel in eigene Hände nehmen müssen, nicht durch Worte, sondern durch Taten der Rebellion (...) Der Entscheidungskampf um die Partei hat begonnen.“ (Spartakusbriefe, 30. Juni 1914)

Die Fraktionsarbeit

Während Rosa Luxemburg auf einem möglichst langen Verbleiben in der SPD beharrte und am stärksten von der Notwendigkeit einer Fraktionsarbeit innerhalb der SPD überzeugt war, bestanden die Bremer Linken schon früh auf die Notwendigkeit einer eigenständigen Organisation. Allerdings war dieser Streitpunkt noch Anfang 1917 überhaupt nicht aktuell. Selbst Karl Radek, ein prominenter Vertreter der Bremer Linken, sagte:

„Die Propaganda der Spaltung bedeutet keinesfalls, dass wir jetzt aus der Partei austreten sollen. Umgekehrt: unsere Bemühungen müssen darauf gerichtet sein, alle möglichen Organisationen und Organe der Partei in die Hände zu bekommen. Sie wurden in einem halben Jahrhundert des Kampfes für den Kampf geschaffen und gehören uns auf Grund des historischen Rechts. Wir haben alles zu tun, um die Sozialimperialisten zu nötigen, für ihre neuen bürgerlichen Zwecke sich neue Organisationen zu schaffen. Unseres Pflicht ist es, solange wie möglich auf den Posten auszuharren, denn je länger das geschieht, desto größer wird der Teil der Arbeiter sein, der mit uns geht, falls die Sozialimperialisten, die natürlich unsere Taktik ausgezeichnet verstehen, auch wenn wir sie hier verschweigen würden, uns ausschlössen (...) Ein Gebot der Stunde ist es, dass sich auf dem Boden der Opposition stehende lokale Parteiorganisationen zusammenschließen und eine provisorische Leitung der entschiedenen Opposition einsetzen.“ (Karl Radek, Ende 1916)

Es ist daher falsch zu behaupten, die Bremer Linken hätten im August 1914 sofort die organisatorische Trennung angestrebt. Erst Ende 1916, als das Kräfteverhältnis in der SPD zu kippen begann, traten sie dafür ein. Auch die Dresdner und Hamburger Linken plädierten ab 1916 für Eigenständigkeit, obwohl sie selbst keine festen Organisationsvorstellungen hatten.

Die Bilanz der ersten beiden Kriegsjahre zeigte, dass die Revolutionäre sich keinen Maulkorb haben anlegen lassen und keine der oppositionellen Gruppen ihre Selbständigkeit aufgegeben hat. Hätten sie bereits im August 1914 die SPD den Verrätern überlassen, so hätte dies bedeutet, die eigenen Prinzipien über Bord zu werfen. Noch wirkte der Schock in den Reihen der SPD über den Verrat der Parteiführung im August 1914, noch steckte der Stachel des Nationalismus zu tief in der Arbeiterklasse, als dass es realistisch gewesen wäre, eine neue Partei zu gründen. Und auch 1915, als der Druck der Arbeiter langsam zunahm und sich immer mehr Widerstand regte, bestand kein Anlass für den Aufbau einer neuen eigenständigen Organisation außerhalb der SPD. Solange noch kein günstiges Kräfteverhältnis herrschte, solange noch nicht genügend Kampfbereitschaft in den Reihen der Arbeiter bestand und sich die Revolutionäre in solch einer kleinen Minderheit befanden – kurz: solange die Bedingungen für die Gründung einer eigenen Partei noch nicht vorhanden waren, war die Arbeit als Fraktion innerhalb der SPD notwendig.

Im September 1916 berief der Parteivorstand eine Reichskonferenz der SPD ein. Obwohl er den Delegiertenschlüssel manipuliert hatte, bekam der Vorstand die Opposition nicht in den Griff. Diese beschloss, ihre Mitgliedsbeiträge an den Vorstand zu sperren. Darauf reagierte der Vorstand mit dem Parteiausschluss der Zahlungsverweigerer, wobei die Bremer Linken zu den Ersten gehörten.

Angesichts einer sich rasant zuspitzenden Situation, in der die Ablehnung gegen den Parteivorstand immer größer wurde und die Arbeiter immer häufiger Widerstand gegen den Krieg leisteten, teilten die Spartakisten nicht die Politik des „scheibchenweisen“ Austretens aus der SPD, wie sie von einem Teil der Bremer Genossen mit ihrer Taktik der Beitragssperre praktiziert wurde. „Eine solche Spaltung aber würde unter den gegebenen Umständen nicht etwa den Hinauswurf der Mehrheitspolitiker und der Scheidemänner aus der Partei bedeuten, was wir anstreben, sondern muss notwendig zur Absplitterung von kleinen Kränzchen der besten Genossen der Partei führen und die Genossen zur vollständigen Ohnmacht verurteilen. Diese Taktik halten wir für schädlich, ja für verhängnisvoll.“ (Leo Jogiches, 30. September 1916) Die Spartakisten traten für ein einheitliches, nicht getrenntes Vorgehen gegen die Sozialpatrioten ein. Gleichzeitig betonten sie die Bedingungen für das weitere Verbleiben in der SPD:

„Die Zugehörigkeit zur gegenwärtigen SPD darf von der Opposition nur solange aufrechterhalten werden, als diese ihre selbständige politische Aktion nicht hemmt noch beeinträchtigt. Die Opposition verbleibt in der Partei, nur um die Politik der Mehrheit auf Schritt und Tritt zu bekämpfen und zu durchkreuzen, die Massen von der unter dem Deckmantel der Sozialdemokratie betriebenen imperialistischen Politik zu schützen und die Partei als Rekrutierungsfeld für den proletarischen antiimperialistischen Klassenkampf zu benutzen.“

E. Meyer erklärte: „Wir bleiben in der Partei nur so lange, als wir den Klassenkampf gegen den Parteivorstand führen können. In dem Augenblick, wo wir darin gehemmt werden, wollen wir in der Partei nicht bleiben. Umgekehrt treten wir auch nicht für eine Spaltung ein.“ (Wohlgemut, S. 167)

Der Spartakusgruppe wollte innerhalb der SPD ein Sammelbecken der gesamten Opposition bilden. Dies war die von der Zimmerwalder Konferenz vorgegebene Marschrichtung gewesen. Wie Lenin richtig einschätze, „fehlt der deutschen Opposition noch sehr an festem Boden. Sie ist noch zersplittert, zerfällt in selbständige Strömungen, denen vorerst ein gemeinsamer Boden fehlt, der notwendig ist zur Aktionsfähigkeit (...) Wir betrachten es nun als unsere Aufgabe, solange es geht, die zersplitterten Kräfte zu einem aktionsfähigen Organismus zusammenzuschweißen.“ (Wohlgemut, S. 118)

Solange die Spartakisten den Status einer unabhängigen Gruppe in der SPD einnahmen, verliehen sie sich keine getrennte Organisationsform. Den Organisationsprinzipien der Arbeiterbewegung zufolge war die spartakistische Fraktion eine politische Strömung innerhalb der SPD, die gegen den Niedergang, gegen den Verrat der Partei ankämpfte. Solange sie nicht aus der Partei ausgeschlossen wurde, nahm die Fraktion keine separate Existenz an.

Die anderen Gruppierungen der Linken, allen voran der Flügel um Borchardt (Lichtstrahlen) und die Hamburger Linken, sprachen sich zu dieser Zeit bereits eindeutig für den Aufbau einer eigenständigen Organisation außerhalb der SPD aus.

Ein Teil dieser Gruppierungen, in erster Linie die Hamburger und Dresdner, ging sogar so weit, den Verrat der sozialpatriotischen Führung als Vorwand zu benutzen, um die Notwendigkeit der Partei an sich in Frage zu stellen. Aus Furcht vor einer weiteren Bürokratisierung fingen sie an, an der Notwendigkeit politischer Organisationen zu zweifeln. Anfangs drückte sich dies durch ein generelles Misstrauen gegenüber der Zentralisierung dieser Organisationen und durch das Beharren auf den Föderalismus aus. In dieser Phase äußerte sich dies aber durch die offene Flucht vor dem Kampf mit den Sozialpatrioten um die Partei. Es war die Geburtsstunde des späteren Rätekommunismus, der in den folgenden Jahren noch größeren Auftrieb erfahren sollte.

Das Prinzip der konsequenten Fraktionsarbeit, der Fortsetzung des Widerstands innerhalb der SPD, so wie es vor allem von den Spartakisten in Deutschland praktiziert wurde, sollte als Beispiel für die Genossen der Italienischen Linken dienen, die keine zehn Jahre später gegen die Degeneration der Komintern kämpften. Dagegen sollte dieses Prinzip, das von Rosa Luxemburg und den meisten Spartakisten verfochten wurde, später von jenen Genossen in der KPD vergessen werden, die, sobald die ersten Divergenzen auftauchten (und dabei handelte es nicht einmal um einen Verrat, wie ihn die Sozialpatrioten der SPD begangen hatten), die KPD Hals über Kopf verließen.

Die Strömungen in der Arbeiterbewegung

Die internationale Arbeiterbewegung teilte sich in den ersten beiden Kriegsjahren in drei Hauptströmungen auf. Lenin unterteilte in „Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution“, April 1917, diese drei Strömungen in:

· die Sozialchauvinisten, d.h. Sozialisten in Worten, Chauvinisten in der Tat; die für die „Verteidigung des Vaterlandes“ eintraten und ins Lager der Bourgeoisie übergelaufen waren;

· die Internationalisten (denen die „Zimmerwalder Linke“ am nächsten kommt), die für den rückhaltlosen Kampf gegen die imperialistische Regierung und für den völligen Bruch mit dem Sozialchauvinismus eintraten;

· eine dritte Strömung, die Lenin als sog. „Zentrum“ bezeichnete und die zwischen den Sozialchauvinisten und den Internationalisten hin und her lavierte.

Die Zentristen waren für den Frieden mit den Sozialpatrioten, für die „Einheit der Arbeiterklasse“ und gegen die Spaltung. Die Zentristen waren von der Revolution gegen die eigene Regierung nicht überzeugt, taten nichts für ihre propagandistische Verbreitung, scheuten den konsequenten revolutionären Kampf und erfanden die plattesten, aber „erzmarxistisch“ klingenden Ausflüchte. Die zentristische Strömung besaß keine programmatische Klarheit, sondern war inkonsequent und inkohärent, zu allen möglichen Konzessionen bereit. Sie mied jede programmatische Festlegung, suchte sich jeder neuen Lage anzupassen. Der Zentrismus war der Ort, an dem kleinbürgerliche und revolutionäre Einflüsse zusammenprallten. Diese Strömung befand sich auf der Zimmerwalder Konferenz im September 1915 in der Mehrheit.

Die zentristische Strömung selbst war aus einem rechten und einem linken Flügel zusammengesetzt. Der rechte Flügel lehnte sich stärker an die Sozialpatrioten an, während der linke Flügel sich gegenüber den Interventionen der Revolutionäre offener zeigte.

In Deutschland stand Kautsky an der Spitze dieser zentristischen Strömung, die sich im März 1916 unter dem Namen „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“ (SAG) zusammengeschlossen hatte und vor allem in der Reichstagsfraktion einen starken Einfluss ausübte. So waren Haase und Ledebour führende zentristische Reichstagsabgeordnete. Es gab also nicht nur Verräter auf der einen und Revolutionäre auf der anderen Seite, sondern eine zwischen beiden befindliche zentristische Strömung, die lange Zeit die Mehrheit der Arbeiter hinter sich wusste.

„Wer den realen Boden der Anerkennung der Existenz dieser drei Strömungen, ihrer Analyse und des konsequenten Kampfes für die wirkliche internationalistische Strömung verlässt, der verurteilt sich selbst zur Ohnmacht, zur Hilflosigkeit und zu Fehlern.“ (Lenin, Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution, Ges. Werke Bd. 24, S. 60)

Während die Sozialpatrioten die Arbeiterklasse mit dem Nationalismus zu vergiften trachteten und die Spartakisten erbittert dagegenhielten, schwankten die Zentristen zwischen beiden Polen hin und her. Wie sollten sich die Spartakisten ihnen gegenüber verhalten?

Die Frage der Intervention gegenüber dem Zentrismus – Programmatische Klarheit vor Einheit

Der Flügel um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht betonte, dass „man politisch auf die Zentristen einknüppeln muss“, dass sie das Objekt der revolutionären Intervention sein müssen. Als im Winter 1916 eine Konferenz der Kriegsgegner einberufen werden sollte, schrieb Rosa Luxemburg:

„Unsere Taktik auf dieser Konferenz müsste dahin gehen, nicht etwa die ganze Opposition unter einen Hut zu bringen, sondern umgekehrt aus diesem Brei den kleinen, festen und aktionsfähigen Kern herauszuschälen, den wir um unsere Plattform gruppieren können. Mit organisatorischer Zusammenfasung hingegen ist große Vorsicht geboten. Denn alle Zusammenschlüsse der ‚Linken‘ führen nach meiner bitteren langjährigen Parteierfahrung nur dazu, den paar aktionsfähigen Leuten die Hände zu binden.“

Ein organisatorischer Zusammenschluss mit den Zentristen innerhalb der SPD war für Rosa Luxemburg ausgeschlossen. „Genossen, Genossinnen! Lasst euch nicht durch die alte Phrase von der Einigkeit, die die Kraft bilde, einfangen. Jawohl, Einigkeit macht stark, aber Einigkeit der festen, inneren Überzeugung, nicht äußere mechanische Zusammenkoppelung von Elementen, die innerlich auseinanderstreben. Nicht in der Zahl liegt ihre Kraft, sondern in dem Geiste, in der Klarheit, in der Tatkraft, die uns beseelt.“ (R. Luxemburg, Ges. Werke, Bd. 4, S. 179, Frühjahr 1916)

Auch Karl Liebknecht hatte im Februar 1916 festgestellt: „Nicht Einheit, sondern Klarheit über alles. Durch unerbittliche Aufdeckung und Austragung der Differenzen zur prinzipiellen und taktischen Einmütigkeit und damit zur Aktionsfähigkeit und damit zur Einheit, so geht der Weg. Nicht den Beginn des Gärungsprozesses (...), erst seinen Abschluss darf die ‚Einheit‘ bilden.“ (Spartakusbriefe, S. 112)

Eckpfeiler in der Vorgehensweise Rosa Luxemburgs und der anderen Spartakisten war das Festhalten an der Notwendigkeit programmatischer Klarheit. Ihr Bestehen auf ein programmatisch solides und politisch klares Vorgehen auch um den Preis, dabei eine kleine Minderheit zu bleiben, war kein Sektierertum, sondern die Fortsetzung der alten marxistischen Methode. Mit dieser programmatischen Stringenz und Strenge stand Rosa Luxemburg gewiss nicht allein auf weiter Flur; die gleiche Methode wandten später auch Genossen der Italienischen Linken an, als sie bei der Analyse der Bilanz der Russischen Revolution und auch in den 30er Jahren vor der Neigung warnten, programmatische und politische Zugeständnisse zu machen, um an numerischer Stärke dazuzugewinnen. Möglicherweise ahnte Rosa Luxemburg bereits in den Kriegsjahren die Folgen der neuen Periode, der kapitalistischen Dekadenz. Denn in der Niedergangsphase des Kapitalismus ist die Voraussetzung für die Existenz proletarischer Massenparteien verschwunden. An ihre Stelle treten zahlenmäßig kleine, dafür programmatisch solide Parteien. Diese programmatische Fixierung war daher ein zuverlässiger Kompass für die Haltung der Revolutionäre gegenüber dem Zentrismus, der per Definition unschlüssig hin und her schwankt und dabei jede politische und programmatische Klärung scheut.

Als sich im März 1916 die Zentristen nach ihrem Rauswurf aus der SPD anschickten, eine eigene Organisation zu gründen, erkannten die Spartakisten es als notwendig an, sich einzumischen. Sie übernahmen ihre Verantwortung als Revolutionäre gegenüber der Klasse.

Vor dem Hintergrund der sich anbahnenden revolutionären Entwicklung in Russland und der wachsenden Radikalisierung auch der deutschen Arbeiter ging es darum, die besten Elemente, die noch unter zentristischem Einfluss standen, vorwärts zu einer weiteren Klärung zu treiben. Denn die zentristischen Strömungen wie die SAG und eine Vielzahl jener Parteien, die im März 1919 die Kommunistische Internationale gründeten, waren alles andere als homogen; sie waren bar jeder Kohärenz und Stabilität. Da die zentristische Bewegung ein Ausdruck der Unreife des Klassenkampfes war, neigte sie bei zunehmendem Klassenkampf zu einer Klärung offener Fragen und machte sich damit selbst den Garaus, indem sie auseinanderbrach und verschwand. Dazu war neben der Dynamik des Klassenkampfes auch ein programmatisch-organisatorischer Bezugspunkt erforderlich, der in der Lage war, einen Pol der Klarheit gegenüber den Zentristen darzustellen. Ohne die Existenz und Intervention einer revolutionären Organisation, die jene offenen, aufnahmefähigen Elemente, die sich im Dickicht des Zentrismus verfangen haben, hinaushilft, ist eine Fortentwicklung dieser Elemente und ihre Loslösung vom Zentrismus nicht möglich.

Lenin fasste diese Aufgabe folgendermaßen zusammen: „Der größte Mangel des gesamten revolutionären Marxismus in Deutschland ist das Fehlen einer festgefügten illegalen Organisation, die systematisch ihre Linie verfolgt und die Massen im Geiste der neuen Aufgaben erzieht: eine solche Organisation müsste sowohl dem Opportunismus als auch dem Kautskyanertum gegenüber eine eindeutige Stellung einnehmen.“ (Ges. Werke Bd. 22, S. 312, Juli 1916)

Wie sollte nun die Arbeit als revolutionärer Bezugspunkt ausgeübt werden? Im Februar schlugen die Zentristen die Gründung einer gemeinsamen Organisation der Opposition am 6. bis 8. April 1917 mit dem Namen USPD vor. Unter den revolutionären Internationalisten kam es darüber zu tiefen Zerwürfnissen.

Die Bremer Linken lehnten eine Beteiligung der revolutionären Linken an dieser Organisation ab. Radek meinte: „Nur ein organisierter klarer Kern kann auf die radikalen Zentrumsarbeiter Einfluss ausüben. Bis jetzt, solange wir auf dem Boden der alten Partei wirkten, konnte man mit der losen Verbindung einzelner Linksradikaler auskommen. Jetzt (...) kann nur eine linksradikale Partei mit klarem Programm und eigenen Organen die zerstreuten Kräfte sammeln, zusammenhalten und vergrößern. (Wir können unsere Aufgabe nur erfüllen) durch die Organisation der Linksradikalen in einer eigenen Partei.“ (Unter eigenem Banner, S. 414)

Die Spartakisten waren nicht einmal untereinander einer Meinung. Auf einer Vorkonferenz der Spartakusgruppe sprach sich eine Vielzahl von Delegierten gegen die Beteiligung an der USPD aus. Aber offenbar konnte sich dieser Standpunkt nicht durchsetzen, denn am Ende beteiligten sich die Spartakisten an eben jener USPD.

„Wir wollen die besten Elemente herausholen und sie zu unserer Seite rüberziehen (...) Die A.G. beherbergt in sich nämlich (...) eine ganze Menge Arbeiterelemente, die geistig und politisch zu uns gehören und nur durch Mangel an Berührung mit uns oder aus Unkenntnis der tatsächlichen Beziehungen innerhalb der Opposition und anderen zufälligen Ursachen der A.G. folgen (...)“ (Leo Jogiches, 25. Dezember 1916)

„Es gilt ebenso, die neue Partei, die größere Massen in sich vereinigen wird, als Rekrutierungsfeld für unsere Ansichten, für die entschiedene Richtung in der Opposition auszunutzen; es gilt ferner, der A.G. den geistigen und politischen Einfluss auf die Massen innerhalb der Partei selbst streitig zu machen; es gilt schließlich, die Partei als ganzes durch rücksichtslose Kritik, durch unsere Tätigkeit in den Organisationen selbst wie auch durch unsere selbständigen Aktionen vorwärtszutreiben, eventuell auch ihrer schädlichen Einwirkung auf die Klasse entgegenzuwirken." (Spartakus im Kriege, S. 184)

Es gab viele Argumente für und gegen eine Beteiligung. Die Frage lautete: Ist es besser, außerhalb oder innerhalb der USPD zu wirken? Sicherlich gab es keine Frage darüber, dass die Spartakisten gegenüber der USPD intervenieren mussten, um ihre besten Elemente für sich zu gewinnen, doch konnte dies nicht die Frage beantworten, ob dies „von außen“ oder „von innen“ zu geschehen hat.

Diese Frage war nur deshalb so schwierig, weil die Spartakisten die USPD zu Recht als eine zentristische Bewegung ansahen, die der Arbeiterklasse angehörte und nicht eine Partei der Bourgeoisie war.

Selbst Radek und die Bremer Linksradikalen erkannten die Notwendigkeit einer Intervention gegenüber dieser Strömung: „Um die Unentschiedenen ringen, indem wir – ohne nach rechts und links zu schauen – unseren Weg gehen. Wir wollen versuchen, sie zu uns zu ziehen. Sollten sie aber (...) uns jetzt schon nicht folgen können, sollte ihre Orientierung später eintreten, als die Notwendigkeiten der Politik uns organisatorische Selbständigkeit zum Gebot machen werden, nun, dann ist dagegen nichts zu machen. Dann werden wir unseren Weg gehen müssen (...) (Die USPD war eine) Partei, die über kurz oder lang zwischen den Mühlsteinen der entschiedenen Rechten und Linken zerrieben werden würde.“ (Einheit oder Spaltung)

Welche Bedeutung die zentristische USPD besaß und wie groß ihr Einfluss in den Arbeitermassen war, können wir nur verstehen, wenn wir uns die damals wachsende Gärung in der Arbeiterklasse gewärtigen. Nach der Februarrevolution in Russland setzte im Frühjahr 1917 auch in Deutschland eine Streikwelle ein, zunächst in Norddeutschland und im März im Ruhrgebiet, im April dann in Berlin, wo Massenstreiks mit mehr als 300.000 Teilnehmern stattfanden. Im Sommer gab es eine Protest- und Streikbewegung in Halle, Braunschweig, Magdeburg, Kiel, Wuppertal, Hamburg, Nürnberg; im Juni fanden erste Meutereien in der Flotte statt, und schließlich im Januar 1918 eine weitere Streikwelle an. Nur brutale Repression vermochte diese Streiks zu beenden.

Die Frage des Verhältnisses zur USPD bewirkte schließlich eine vorübergehende Spaltung der Linken: auf der einen Seite die Bremer Linksradikalen und andere Teile der revolutionären Linken, die auf eine schnelle Parteigründung drängten, auf der anderen Seite die Spartakisten, die mehrheitlich als Fraktion der USPD beitraten.

Dv.

 

Theorie und Praxis: 

  • Deutsche Revolution [68]

Die Juli-Tage: Die Partei ist eine lebenswichtige Notwendigkeit

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Die Juli-Tage von 1917 sind einer der wichtigsten Momente nicht nur in der Russischen Revolution, sondern in der gesamten Geschichte der Arbeiterbewegung. Im Verlauf von drei Tagen, vom 3. Juli bis zum 5. Juli, öffnete eine der mächtigsten Konfrontationen, die jemals zwischen Bourgeoisie und Proletariat stattgefunden hatten, den Weg zur Machtergreifung vier Monate später im Oktober 1917, auch wenn sie mit einer Niederlage für die Arbeiterklasse endete. Am 3. Juli erhoben sich die Arbeiter und Soldaten Petrograds massiv und spontan und riefen nach einer Übertragung aller Macht an die Arbeiterräte. Am 4. Juli belagerte eine bewaffnete Demonstration von einer halben Million Teilnehmern die Führung des Sowjets, um ihn dazu zu drängen, die Macht zu übernehmen, löste sich aber nach einem Appell der Bolschewiki am Abend wieder friedlich auf. Am 5.Juli nahmen konterrevolutionäre Truppen die russische Hauptstadt ein und begannen, die Bolschewiki zu verfolgen und die fortschrittlichsten Arbeiter zu unterdrücken. Aber durch die Vermeidung eines verfrühten Machtkampfes hielt das Proletariat seine revolutionären Kräfte intakt. Infolgedessen war die Arbeiterklasse imstande, alle Lehren aus diesen Ereignissen zu ziehen und vor allem den konterrevolutionären Charakter der bürgerlichen Demokratie und des neuen linken Flügels des Kapitals zu begreifen: der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, die die Sache der Arbeiter und armen Bauern verrieten und zur Konterrevolution übergegangen waren. Zu keinem anderen Zeitpunkt in der Russischen Revolution war die Gefahr einer entscheidenden Niederlage des Proletariats so akut wie während jener dramatischen 72 Stunden. Zu keinem anderen Zeitpunkt erwies sich das tiefe Vertrauen der führenden Teile des Proletariats in seine Klassenpartei, seine kommunistische Avantgarde, als wichtiger.

80 Jahre später ist, angesichts der bürgerlichen Lügen über den „Tod des Kommunismus" und insbesondere ihrer Verunglimpfung der Russischen Revolution und der Bolschewiki, die Verteidigung der wahren Lehren der Juli-Tage und der gesamten proletarischen Revolution eine der Hauptpflichten der Revolutionäre. Folgt man den Lügen der Bourgeoisie, so war die Russische Revolution ein „Volks"kampf für die bürgerliche parlamentarische Republik gewesen, dem „freiesten Land in der Welt", bevor die Bolschewiki, indem sie das „demagogische" Schlagwort „Alle Macht den Räten" „erfanden", der großen Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung durch einen „Putsch" ihre „barbarische Diktatur" aufzwangen. Doch wird selbst ein noch so kurzer objektiver Blick auf die Ereignisse vom Juli 1917 sonnenklar zeigen, daß die Bolschewiki sich auf der Seite der Arbeiterklasse befanden, daß es die bürgerliche Demokratie war, die sich auf der Seite der Barbarei, des Putschismus und der Diktatur einer dünnen Minderheit über die arbeitenden Menschen befand.

Eine zynische Provokation der Bourgeoisie und eine Falle für die Bolschewiki

Die Juli-Tage von 1917 waren von Anbeginn eine Provokation der Bourgeoisie mit dem Ziel der Enthauptung des Proletariats durch die Niederschlagung der Revolution in Petrograd und die Eliminierung der bolschewistischen Partei, ehe der revolutionäre Prozeß in Rußland in seiner Gesamtheit reif für die Machtergreifung durch die Arbeiter war.

Die revolutionäre Erhebung vom Februar 1917, die zur Ersetzung des Zaren durch eine „bürgerlich-demokratische" Provisorische Regierung und zur Etablierung der Arbeiterräte (Sowjets) als rivalisierendes, proletarisches Machtzentrum führte, war zuallererst das Produkt des Kampfes der Arbeiter gegen den 1914 begonnenen imperialistischen Weltkrieg. Doch die Provisorische Regierung schwor sich genauso wie die Mehrheitsparteien in den Sowjets, die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, gegen den Willen des Proletariats auf die Fortsetzung des Krieges und auf das imperialistische Raubprogramm des russischen Kapitalismus ein. Auf diese Weise wurde nicht nur in Rußland, sondern auch in allen anderen Ländern, aus denen sich die Entente - die Koalition gegen Deutschland - zusammensetzte, dem Krieg, dem größten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit, eine neue pseudorevolutionäre Legitimität verliehen. Zwischen Februar und Juli 1917 wurden etliche Millionen Soldaten, unter ihnen die Blüte der internationalen Arbeiterklasse, getötet oder verwundet, um eine Frage zu klären: Welcher der kapitalistischen und imperialistischen Hauptgangster soll die Welt beherrschen? Nachdem viele russische Arbeiter anfangs auf die Lügen der neuen Führer, aus dem Munde angeblicher „Demokraten" und „Sozialisten", hereinfielen, wonach es notwendig sei, den Krieg fortzusetzen, „um einen gerechten Frieden ohne Annexionen ein für allemal zu erreichen", nahm das Proletariat ab Juni 1917 den revolutionären Kampf gegen das imperialistische Gemetzel mit verdoppelten Kräften wieder auf. Während der gigantischen Demonstration am 18. Juni in Petrograd errangen die internationalistischen Parolen der Bolschewiki zum ersten Mal die Oberhand. Zu Beginn des Juli endete die größte und blutigste Militäroffensive Rußlands seit dem „Triumph der Demokratie" in einem Fiasko; die deutsche Armee durchbrach die Front an mehreren Stellen. Dies war der kritischste Moment für den russischen Militarismus seit Beginn des „Großen Krieges". Aber auch wenn die Neuigkeiten vom Scheitern der Offensive die Hauptstadt bereits erreicht und die revolutionäre Flamme angefacht hatten, so war der Rest des gigantischen Landes noch nicht von ihnen erfaßt. Aus dieser verzweifelten Situation heraus wurde die Idee geboren, eine vorzeitige Revolte in Petrograd zu provozieren, um die dortigen Arbeiter und Bolschewiki zu vernichten und dann den Zusammenbruch der militärischen Offensive einer „Dolchstoßlegende" zuzuschreiben, wonach die Hauptstadt der Front in den Rücken gefallen sein soll.

Die objektive Situation war für solch einen Plan nicht ungünstig. Obgleich die Hauptbereiche der Arbeiter in Petrograd bereits zu den Bolschewiki übergegangen waren, befanden sich die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre in den Sowjets der Provinzen immer noch in der Mehrheit. Es herrschten in der Arbeiterklasse insgesamt, selbst in Petrograd, immer noch große Illusionen über die Fähigkeit der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, auf irgendeine Weise der Sache der Revolution zu dienen. Trotz der Radikalisierung der Soldaten, zumeist Bauern in Uniform, verhielt sich eine beträchtliche Anzahl von wichtigen Regimentern immer noch loyal zur Provisorischen Regierung. Die Kräfte der Konterrevolution waren, nach einer Phase der Desorientierung nach der „Februarrevolution", nun voll wiederhergestellt.. Und die Bourgeoisie hatte noch einen Trumpf in ihrem Ärmel: gefälschte Dokumente und Zeugenaussagen, die vorgaben, beweisen zu können, daß Lenin und die Bolschewiki bezahlte Agenten des deutschen Kaisers seien.

Dieser Plan stellte vor allem für die bolschewistische Partei eine Falle, ein Dilemma dar. Wenn sich die Partei an die Spitze eines zu frühen Aufstandes in der Hauptstadt stellte, würde sie sich selbst in den Augen des russischen Proletariats unglaubwürdig machen, indem sie als Repräsentantin einer unverantwortlichen, abenteuerlichen Politik und den rückständigen Bereichen sogar als Helfer des deutschen Imperialismus erschiene. Wenn sie jedoch die Massenbewegung verleugnete, würde sie sich auf gefährliche Weise von der Klasse isolieren, indem sie die Arbeiter ihrem Schicksal überließe. Die Bourgeoisie hoffte darauf, daß, wie auch die Partei entschied, es ihr zum Verhängnis werden würde.

 

Die konterrevolutionären Schwarzhundertschaften: antisemitischer, von den „westlichen Demokratien" gedeckter Mob

Waren die antibolschewistischen Kräfte jene mutigen Demokraten und Verteidiger der „Völkerfreiheit", als die sie von der bürgerlichen Propaganda dargestellt wurden? Angeführt wurden sie von den Kadetten, der Partei der Großindustrie und der großen Gutsherren; vom Offizierskomitee, das 100’000 Kommandierende repräsentierte und einen Militärputsch vorbereitete; vom Sowjet der konterrevolutionären Truppen Kossacks; von der Geheimpolizei und vom Mob der antisemitischen „Schwarzhundertschaften". 'Diese Kreise zetteln Pogrome an, schießen auf Demonstranten usw.' wie Lenin schrieb.

Die Juli-Provokation war jedoch ein Schlag gegen die heranreifende Weltrevolution, der nicht nur von der russischen, sondern auch von der Weltbourgeoisie in Gestalt der Regierungen der russischen Kriegsverbündeten ausgeführt worden war. Wir erkennen in diesem heimtückischen Versuch, eine unreife Revolution früh im Blut zu ertränken, die Handschrift der alten demokratischen Bourgeoisie: die französische Bourgeoisie mit ihrer langen und blutigen Tradition solcher Provokationen (1791, 1848, 1870) und die britische Bourgeoisie mit ihrer unvergleichlichen politischen Erfahrung und Intelligenz. In der Tat waren die westlichen Verbündeten Rußlands angesichts der wachsenden Schwierigkeiten der russischen Bourgeoisie, die Revolution wirksam zu bekämpfen und die Kriegsanstrengungen aufrechtzuerhalten, bereits zur Hauptkraft nicht nur bei der Finanzierung der russischen Front, sondern auch bei der Beratung und Unterstützung der Konterrevolution geworden. Das provisorische Komitee der Staatsduma (des Parlamentes) „bot legale Deckung für konterrevolutionäre Arbeit, die von Banken und Gesandtschaften der Entente weitestgehend finanziert wurde", wie Trotzki erinnerte. „Petrograd wimmelte von geheimen und halbgeheimen Offiziersorganisationen, die hohe Gönnerschaft und freigiebige Unterstützung genossen. In einer Geheiminformation, die der Menschewik Liber fast einen Monat vor den Julitagen erteilte, war erwähnt, daß Verschwörer-Offiziere einen besonderen Eingang zu Buchanan hatten. Konnten denn die Ententediplomaten etwa nicht besorgt sein um die schnellste Schaffung einer starken Macht?". Es waren nicht die Bolschewiki, sondern die Bourgeoisie, die sich mit fremden Regierungen gegen das russische Proletariat verbündete.

 

Die politischen Provokationen einer blutrünstigen Bourgeoisie

Zu Beginn des Juli reichten drei von der Bourgeoisie arrangierte Zwischenfälle aus, um eine Revolte in der Hauptstadt auszulösen.

1. Die Partei der Kadetten zog ihre vier Minister aus der Provisorischen Regierung zurück. Da die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre bis dahin ihre Weigerung gegenüber „Alle Macht den Räten" mit der Notwendigkeit gerechtfertigt hatten, außerhalb der Arbeiterräte mit den Kadetten als Repräsentanten der „demokratischen Bourgeoisie" zusammenzuarbeiten, zog diese Brüskierung der Koalition nach sich, daß unter Arbeitern und Soldaten erneut die Forderung nach sofortiger Sowjetmacht laut wurde. „Anzunehmen, die Kadetten hätten jene Wirkung, die ihr Akt offener Sabotage gegen die Sowjets hervorrufen würde, nicht vorauszusehen vermocht, hieße Miljukow entschieden unterschätzen. Der Führer des Liberalismus war sichtlich bestrebt, die Versöhnler in eine zugespitzte Situation hineinzutreiben, aus der nur das Bajonett einen Ausweg schaffen könnte: in jenen Tagen glaubte er fest, ein kühner Aderlaß würde die Lage retten".

2. Die Demütigung der Provisorischen Regierung durch die Entente, die darauf abzielte, sie dazu zu zwingen, die Revolution mit Waffen zu konfrontieren oder von ihnen fallen gelassen zu werden.

„Hinter den Kulissen konzentrierten sich die Fäden in den Händen der Gesandtschaften und Regierungen der Entente. Zu der in London tagenden Interalliierten Konferenz hatten die westlichen Freunde 'vergessen', den russischen Gesandten einzuladen. (...) Die Verhöhnung des Gesandten der Provisorischen Regierung und der demonstrative Austritt der Kadetten aus dem Ministerium - beide Ereignisse geschahen am 2. Juli - verfolgten das gleiche Ziel: die Versöhnler niederzuducken."

Immer noch im Beitrittsprozeß zur Bourgeoisie begriffen, unerfahren in ihrer Rolle, voller Zweifel und kleinbürgerlicher Unschlüssigkeiten und immer noch mit einer kleinen proletarisch-internationalistischen Opposition in ihren Reihen, wurden die Parteien der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre nicht in das konterrevolutionäre Komplott eingeweiht, sondern in die Rolle manövriert, die ihnen die bürgerlichen Führer zugedacht hatten.

3. Die Drohung, kampfstarke revolutionäre Regimenter sofort von der Hauptstadt an die Front zu schicken. Tatsächlich wurde die Explosion des Klassenkampfes infolge dieser Provokationen nicht von den Arbeitern, sondern von den Soldaten initiiert, und politisch nicht von den Bolschewiki, sondern von den Anarchisten angestiftet.

„Die Soldaten waren überhaupt ungeduldiger als die Arbeiter: sowohl, weil ihnen unmittelbare Entsendung an die Front drohte, als auch, weil sie Erwägungen politischer Strategie viel schwerer zugänglich waren. Außerdem hatte jeder in der Hand seine Flinte, und nach dem Februar neigte der Soldat dazu, deren selbständige Macht zu überschätzen."

Die Soldaten versuchten sofort, die Arbeiter für ihre Aktion zu gewinnen. In den Putilow-Werken, der größten Arbeiterkonzentration Rußlands, gelang ihnen der entscheidender Durchbruch. „Etwa zehntausend Arbeiter versammelten sich vor dem Kontor. Unter Beifallsrufen berichteten die Maschinengewehrschützen, sie hätten den Befehl erhalten, am 4. Juli zur Front zu gehen, seien aber entschlossen, 'nicht an die deutsche Front zu fahren gegen das deutsche Proletariat, sondern gegen die eigenen Ministerkapitalisten'. Die Stimmung stieg. 'Gehen wir, gehen wir!' schrien die Arbeiter."

Innerhalb von Stunden erhob sich das Proletariat der ganzen Stadt, bewaffnete sich selbst und sammelte sich um den Schlachtruf „Alle Macht den Räten", den Schlachtruf der Massen.

 

Die Bolschewiki vermeiden die Falle

Am Nachmittag des 3. Juli kamen Delegierte der Maschinengewehrregimenter an, um die Unterstützung der Stadtkonferenz der Bolschewiki zu erhalten, und mußten schockiert zur Kenntnis nehmen, daß die Partei sich gegen die Aktion aussprach. Die von der Partei geäußerten Argumente - daß die Bourgeoisie Petrograd provozieren wolle, um sie so für das Fiasko an der Front verantwortlich zu machen, daß der Zeitpunkt für einen bewaffneten Aufstand nicht reif sei und daß der beste Zeitpunkt für eine direkte Hauptaktion der sei, wenn der Zusammenbruch an der Front allen bekannt sei - zeigen, daß die Bolschewiki sofort die Bedeutung und Gefahr der Ereignisse begriffen haben. Tatsächlich hatten die Bolschewiki bereits seit der Demonstration vom 18. Juni öffentlich vor einer verfrühten Aktion gewarnt.

Bürgerliche Historiker haben die bemerkenswerte politische Intelligenz der Partei zu diesem Zeitpunkt anerkannt. In der Tat war die bolschewistische Partei von der Überzeugung durchdrungen, daß es unumgänglich ist, die Natur, Strategie und die Taktiken des Klassenfeindes zu studieren, um in der Lage zu sein, jederzeit richtig zu antworten und zu intervenieren. Sie war durchtränkt vom marxistischen Verständnis, daß die revolutionäre Machtergreifung eine Form der Kunst oder der Wissenschaft ist, wo eine Erhebung zum ungeeigneten Zeitpunkt oder das Versagen, die Macht im richtigen Moment zu ergreifen, gleichermaßen fatal sind.

Aber so korrekt die Analyse der Partei auch war, es dabei zu belassen hätte bedeutet, in die Falle der Bourgeoisie zu tappen. Der erste entscheidende Wendepunkt in den Juli-Tagen kam in derselben Nacht, als das Zentralkomitee und das Petrograder Parteikomitee entschieden, die Bewegung zu legitimieren und sich selbst an ihre Spitze zu stellen, um wenigstens ihren „friedlichen und organisierten Charakter" zu wahren. Im Gegensatz zu den spontanen und chaotischen Ereignissen in den Tagen zuvor, verrieten die gigantischen Demonstrationen am 4. Juli die „ordnende Hand der Partei". Die Bolschewiki wußten, daß das Ziel, das die Massen sich selbst gestellt hatten, nämlich die Führung der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre dazu zu zwingen, im Namen der Arbeiterräte die Macht zu übernehmen, unmöglich war. Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, die heute von der Bourgeoisie als die wirklichen Verteidiger der Sowjetdemokratie dargestellt werden, waren bereits dabei, sich in die Konterrevolution einzugliedern und warteten auf eine Gelegenheit, sich die Arbeiterräte vorzuknöpfen. Das Dilemma der Situation, das noch immer nicht ausreichende Bewußtsein der Massen des Proletariats, wurde in der berühmten Geschichte jenes aufgebrachten Arbeiters deutlich, der mit seiner Faust einem der „revolutionären" Minister einen Schlag ans Kinn versetzte und dabei brüllte: „Übernimm die Macht, Hurensohn, wenn wir sie dir geben." In Wahrheit spielten die Minister auf Zeit, bis loyal zur Regierung stehende Regimenter eintrafen.

Mittlerweile hatten die Arbeiter selbst die Schwierigkeiten realisiert, alle Macht den Sowjets zu übergeben, solange die Verräter und Kompromißler einen bestimmenden Einfluß in ihnen hatten. Weil die Klasse noch nicht die Methode gefunden hatte, um die Sowjets von innen umzuwandeln, versuchte sie vergeblich, ihnen ihren bewaffneten Willen von außen aufzuzwingen. Der zweite entscheidende Wendepunkt kam, am Ende eines Tages voller Massendemonstrationen, mit der Ansprache der bolschewistischen Sprecher an Zehntausende von Arbeitern der Putilow- und anderer Werke, die von Sinowjew mit einem Scherz zur Auflockerung der Spannung begann und die mit dem Appell, friedlich nach Hause zurückzukehren, endete - ein Appell, dem die Arbeiter folgten. Die Zeit der Revolution war noch nicht gekommen, aber sie würde kommen. Nie wurde die Wahrheit von Lenins altem Spruch dramatischer bewiesen: Geduld und Humor sind zwei unersetzliche Eigenschaften der Revolutionäre.

Die Fähigkeit der Bolschewiki, das Proletariat um die Falle der Bourgeoisie zu führen, wurde nicht nur durch ihre politische Intelligenz ermöglicht. Entscheidend war das tiefe Vertrauen der Partei in das Proletariat und in den Marxismus, was ihr erlaubte, sich vollkommen auf den Boden der Kraft und der Methode zu stellen, welche die Zukunft der Menschheit darstellen, und auf diese Weise die Ungeduld des Kleinbürgertums zu vermeiden. Ebenfalls entscheidend war das tiefe Vertrauen, das das russische Proletariat seiner Klassenpartei entgegenbrachte, was der Partei erlaubte, mit der Klasse zu bleiben und sie sogar zu führen, auch wenn beide Seiten wußten, daß sie weder ihre unmittelbaren Ziele noch ihre Illusionen teilte. Die Bourgeoisie scheiterte in ihrem Vorhaben, einen Keil zwischen Partei und Klasse zu treiben, einen Keil, der die sichere Niederlage der Russischen Revolution bedeutet hätte.

„Es war unbedingte Pflicht der proletarischen Partei, bei den Massen zu bleiben und sich zu bemühen, den berechtigten Aktionen dieser Massen einen möglichst friedlichen und organisierten Charakter zu verleihen, nicht abseits zu stehen, nicht wie Pilatus die Hände in Unschuld zu waschen aus dem pedantischen Grunde, daß die Masse nicht bis zum letzten Mann organisiert sei und daß in ihrer Bewegung Exzesse vorkämen!"

 

Die Pogrome und Verleumdungen der Konterrevolution

Früh am Morgen des 5. Juli erreichten Regierungstruppen die Hauptstadt. Das Werk der Treibjagd auf die Bolschewiki, des Entzuges ihrer geringen Publikationsquellen, der Entwaffnung und Terrorisierung der Arbeiter, der Anzettelung von Judenpogromen begann. Die Retter der Zivilisation vor der „bolschewistischen Barbarei" nahmen dabei hauptsächlich zu zwei Provokationen Zuflucht, um Truppen gegen die Arbeiter zu mobilisieren.

1. Die Lügenkampagane, wonach die Bolschewiki deutsche Agenten gewesen seien. „Die Soldaten saßen düster in den Kasernen, warteten. Erst in der zweiten Hälfte des 4. Juli entdeckten die Vorgesetzten ein stark wirkendes Mittel: man zeigte den Preobraschenskern Dokumente, die klar wie zwei mal zwei nachwiesen, daß Lenin - ein deutscher Spion sei. Das wirkte. Die Kunde lieft durch die Regimenter (...) In der Stimmung der neutralen Bataillone vollzog sich ein Umschwung." Insbesondere ein politischer Parasit namens Alexinski, ein abtrünniger Bolschewik, der einst mitgeholfen hatte, eine „ultralinke" Opposition gegen Lenin zu bilden, aber, nachdem er mit seinen Ambitionen gescheitert war, zu einem erklärten Feind der Arbeiterparteien geworden war, war ein Instrument in dieser Kampagne. Infolgedessen waren Lenin und andere bolschewistische Führer gezwungen, sich zu verstecken, während Trotzki und andere inhaftiert wurden. „Die Internationalisten hinter Schloß und Riegel halten - das ist es, was die Herren Kerenski und Co. brauchen", wie Lenin erklärte.

Die Bourgeoisie hat sich nicht verändert. 80 Jahre danach führt sie eine ähnliche Kampagne mit derselben „Logik" gegen die Linkskommunisten. Damals: da die Bolschewiki sich weigerten, die Entente zu unterstützen, mußten sie für die deutsche Seite sein! Heute: da sich die Linkskommunisten weigerten, das „antifaschistische" imperialistische Lager im II. Weltkrieg zu unterstützen, müssen sie und ihre heutigen Nachfolger für die Nazis sein! „Demokratische" staatliche Kampagnen bereiten die künftigen Pogrome vor.

Revolutionäre von heute, die oft die Bedeutung solcher Kampagnen gegen sie unterschätzen, haben noch viel aus dem Beispiel der Bolschewiki nach den Juli-Tagen zu lernen, die Himmel und Erde in Bewegung gesetzt hatten, um ihren Ruf innerhalb der Arbeiterklasse zu verteidigen. Später nannte Trotzki den Juli 1917 „den Monat der größten Verleumdungen in der Geschichte der Menschheit", aber selbst dies verblaßt gegenüber der gegenwärtigen Verleumdung, wonach Kommunismus gleich Stalinismus sei.

Die staatliche Ermutigung nicht-proletarischer und anti-proletarischer Elemente, die sich gern als Revolutionäre darstellen, ist ein anderer Weg, den Ruf der Revolutionäre anzugreifen, so alt wie die Methode der öffentlichen Verunglimpfung und normalerweise in Kombination mit ihr benutzt.

„Provokation hat zweifellos eine gewisse Rolle gespielt bei den Ereignissen an der Front, wie auch in den Straßen Petrograds. Nach der Februarumwälzung hatte die Regierung in die aktive Armee eine große Anzahl ehemaliger Gendarmen und Schutzleute geworfen. Keiner von ihnen wollte natürlich Krieg führen. Sie fürchteten die russischen Soldaten mehr als die Deutschen. Um ihre Vergangenheit vergessen zu machen, imitierten sie die radikalsten Stimmungen der Armee, hetzten Soldaten gegen Offiziere auf, schrien am lautesten gegen Disziplin und Offensive und gaben sich nicht selten direkt für Bolschewiki aus. Indem sie die natürlichen Verbindungen von Komplizen zueinander unterhielten, bildeten sie einen eigenartigen Orden der Feigheit und Niedertracht. Durch sie drangen in die Truppen und verbreiteten sich schnell die phantastischsten Gerüchte, in denen Ultrarevolutionarismus sich mit Schwarzhunderttum vermengte. In kritischen Stunden gaben diese Subjekte als erste Paniksignale. Auf die zersetzende Arbeit der Polizisten und Gendarmen verwies die Presse mehr als einmal. Nicht weniger häufig sind solcher Art Hinweise in den Geheimdokumenten der Armee selbst. Doch das höhere Kommando verharrte in Schweigen und zog es vor, die Schwarzhundert-Provokateure mit den Bolschewiki zu identifizieren."

2. Erst feuerten Heckenschützen auf die in der Hauptstadt ankommenden Truppen, dann wurde verbreitet, die Bolschewiki steckten hinter diesen Schießereien.

„Der berechnete Wahnwitz dieser Schießerei erregte die Arbeiter tief. Es war klar, daß erfahrene Provokateure die Soldaten mit Blei empfingen, zwecks antibolschewistischer Impfung. Die Arbeiter boten alles auf, dies den ankommenden Soldaten zu erklären, doch man ließ sie an diese nicht heran: zum erstenmal seit den Februartagen stellte sich zwischen Arbeiter und Soldat der Junker oder Offizier."

Dazu gezwungen, nach den Juli-Tagen in der Halb-Illegalität zu arbeiten, mußten die Bolschewiki auch gegen demokratische Illusionen jener in ihren Reihen kämpfen, die wünschten, daß ihre Führer sich dem Prozeß vor einem konterrevolutionären Gericht stellen, um auf die Beschuldigung zu antworten, sie seien deutsche Agenten. Als er diese andere Falle, die gegen die Partei aufgestellt war, erkannte, schrieb Lenin:

„ Tätig ist eine Militärdiktatur. Da ist es lächerlich, von einem 'Gericht' auch nur zu sprechen. Es handelt sich gar nicht um ein 'Gericht', sondern um eine Episode des Bürerkriegs."

Daß die Partei die Periode der Repression überlebte, die den Juli-Tagen folgte, lag nicht zuletzt an ihrer Tradition einer ständigen Wachsamkeit bei der Verteidigung der Organisation gegen alle Versuche des Staates, sie zu zerstören. Es sollte zum Beispiel erwähnt werden, daß der Polizeispitzel Malinowski, dem es vor dem Krieg gelang, Mitglied des Zentralkomitees der Partei zu werden, direkt verantwortlich für die Sicherheit der Organisation, verantwortlicher Mann für das Untertauchen Lenins, Sinowjews etc. geworden wäre, wäre er nicht schon vorher durch die Wachsamkeit der Organisation enttarnt worden (trotz der Blindheit Lenins selbst!). Ohne solche Wachsamkeit wäre das Resultat höchstwahrscheinlich die Liquidierung der erfahrensten Parteiführer gewesen. Im Januar/Februar 1919, als Luxemburg, Liebknecht, Jogiches und andere erfahrene Führer der jungen KPD ermordet wurden, schien es, daß die Behörden einen Fingerzeig von einem „hochrangigen" Polizeispitzel innerhalb der Partei erhalten hatten.

 

Bilanz der Juli-Tage

Die Juli-Tage enthüllten einmal mehr die gigantische revolutionäre Energie des Proletariats, seinen Kampf gegen den Schwindel der bürgerlichen Demokratie und die Tatsache, daß die Arbeiterklasse allein ein Faktor gegen den imperialistischen Krieg im Angesicht der kapitalistischen Dekadenz ist. Nicht „Demokratie oder Diktatur", sondern die Diktatur des Proletariats oder die Diktatur der Bourgeoisie, Sozialismus oder Barbarei, das ist die Frage, der die Menschheit gegenübersteht, und die die Juli-Tage aufstellte, ohne selbst schon imstande zu sein, darauf zu antworten. Aber was die Juli-Tage vor allem veranschaulichten, das ist die nicht ersetzbare Rolle der proletarischen Klassenpartei. Kein Wunder, daß die Bourgeoisie heute den 80. Jahrestag der Russischen Revolution mit neuen Manövern und Verleumdungen gegen das zeitgenössische revolutionäre Milieu „feiert".

Der Juli 1917 zeigte auch, daß die Überwindung der Illusionen über die abtrünnigen Arbeiterparteien, der Linken des Kapitals, lebenswichtig ist, wenn das Proletariat die Macht übernehmen soll. Dies war die hauptsächliche Illusion der Klasse während der Juli-Tage. Aber diese Erfahrung selbst war entscheidend. Die Juli-Tage klärten endgültig nicht nur für die Arbeiterklasse und die Bolschewiki, sondern selbst für die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, daß die Organisationen der letztgenannten unwiderruflich zur Konterrevolution übergetreten waren. Wie Lenin Anfang September schrieb:

„In Petrograd war man damals nicht einmal physisch in der Lage, die Macht zu ergreifen, und hätte man sie physisch ergriffen, so hätte man sie politisch nicht halten können, da Zereteli und Co. damals noch nicht bis zur Unterstützung des Henkertums hinabgesunken waren. Darum wäre damals, am 3. bis 5. Juli 1917 in Petrograd, die Losung der Machtergreifung falsch gewesen. Damals fehlte sogar bei den Bolschewiki noch die bewußte Entschlossenheit - das konnte auch nicht anders sein -, Zereteli und Co. als Konterrevolutionäre zu behandeln. Damals konnten weder die Soldaten noch die Arbeiter die Erfahrung besitzen, die ihnen der Monat Juli gebracht hat." 15

Bereits Mitte Juli hatte Lenin diese Lehre klar gezogen:

„Nach dem 4. Juli hat sich die konterrevolutionäre Bourgeoisie, Hand in Hand mit den Monarchisten und Schwarzhunderten, die kleinbürgerlichen Sozialrevolutionäre und Menschewiki einverleibt, nachdem sie diese zum Teil eingeschüchtert hatte, und sie hat die wirkliche Staatsmacht in die Hände der Cavaignac gelegt, in die Hände einer Militärclique, die die Gehorsamsverweigerer an der Front erschießt und die Bolschewiki in Petrograd niederschlägt."16

Die Schlüssellehre des Juli war jedoch die politische Führung der Partei. Die Bourgeoisie hat häufig die Taktik verwendet, vorzeitige Konfrontationen zu provozieren. Ob 1848 und 1870 in Frankreich oder 1919 und 1921 in Deutschland, in jedem Fall war das Ergebnis die blutige Repression gegen das Proletariats gewesen. Wenn die Russische Revolution das einzige größere Beispiel ist, wo die Arbeiterklasse in der Lage war, solch eine Falle und eine blutige Niederlage zu vermeiden, dann vor allen Dingen deshalb, weil die bolschewistische Klassenpartei imstande war, ihre entscheidende Rolle als Avantgarde zu erfüllen. Indem sie die Klasse von solch einer Niederlage fernhielten, bewahrten die Bolschewiki die tiefen revolutionären Lehren aus Engels' berühmter Einführung zu Marxens „Der Klassenkampf in Frankreich" von 1895 vor ihrer Pervertierung durch den Opportunismus, besonders seine Warnung:

„Und da ist nur ein Mittel, wodurch das stetige Anschwellen der sozialistischen Streitkräfte in Deutschland momentan aufgehalten und selbst für einige Zeit zurückgeworfen werden könnte: ein Zusammenstoß auf großem Maßstab mit dem Militär, ein Aderlaß wie 1871 in Paris." 17

Trotzki faßt die Bilanz der Handlungsweise der Partei wie folgt zusammen:

„ Hätte die bolschewistische Partei sich auf der Einschätzung der Julibewegung als einer 'verfrühten' versteift, den Massen den Rücken gekehrt, der h albe Aufstand wäre unvermeidlich unter die zersplitterte und uneinige Leitung von Anarchisten, Abenteurern, zufälligen Exponenten der Massenempörung geraten und in fruchtlosen Konvulsionen verblutet. Aber auch umgekehrt: Hätte die Partei, sich an die Spitze der Maschinengewehrschützen und der Putilower stellend, auf ihre Gesamteinschätzung der Lage verzichtet und den Weg entscheidender Kämpfe beschritten, der Aufstand hätte zweifellos kühnen Schwung genommen, und die Arbeiter und Soldaten würden unter der Leitung der Bolschewiki die Macht erobert haben, aber nur, um den Zusammenbruch der Revolution vorzubereiten. Die Frage der Macht im nationalen Maßstab wäre, im Gegensatz zum Februar, durch einen Sieg in Petrograd nicht entschieden worden. Die Provinz hätte mit der Hauptstadt nicht Schritt gehalten. Die Front die Umwälzung nicht begriffen und nicht akzeptiert. Eisenbahn und Telegraph hätten den Versöhnlern gegen die Bolschewiki gedient. Kerenski und das Hauptquartier eine Regierung der Front und Provinz gebildet. Petrograd wäre blockiert worden. In seinen Mauern hätte Zersetzung Platz gegriffen. Der Regierung wäre es unmöglich gewesen, größere Soldatenmassen gegen Petrograd zu werfen. Der Aufständ hätte unter solchen Bedingungen mit einer Tragödie der Petrograder Kommune geendet.

An der Juli-Kreuzung der historischen Wege hat nur die Einmischung der Partei der Bolschewiki beide Varianten der schicksalvollen Gefahr verhindert: sowohl die im Geiste der Junitage von 1848 wie die im Geiste der Pariser Kommune von 1871. Dank der Tatsache, daß die Partei sich kühn an die Spitze der Bewegung stellte, erhielt sie die Möglichkeit, die Massen in dem Moment anzuhalten, wo die Demonstration sich in ein bewaffnetes Kräftemessen zu verwandeln begann. Der Schlag, der im Juli den Massen und der Partei zugefügt wurde, war sehr empfindlich. Aber es war kein entscheidender Schlag (...). Die Arbeiterklasse ging aus der Prüfung weder enthauptet noch verblutet hervor. Sie hatte ihre Kampfkader unversehrt erhalten, und diese Kader hatten vieles gelernt." 18

Die Geschichte gab Lenin recht, als er schrieb:

„Eine neue Phase beginnt. Der Sieg der Konterrevolution löst bei den Massen Enttäuschung über die Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki aus und macht den Weg frei für den Übergang der Massen zur Politik der Unterstützung des revolutionären Proletariats." 19

Kr.

 

Oktober 1917 - ein Sieg der Arbeitermassen

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1917: Die Russische Revolution     Der Oktoberaufstand - ein Sieg der Arbeitermassen

 

 

 

Das laufende Jahr erinnert uns daran, daß die Geschichte nicht eine Angelegenheit der Universitätsprofessoren ist, sondern eine Frage der gesellschaftlichen Klassen, eine politische Frage, die für das Proletariat lebenswichtig ist. Das Hauptziel, das sich die Bourgeoisie 1997 gesetzt hat, ist, der Arbeiterklasse die verfälschte bürgerliche Version der Geschichte des 20. Jahrhunderts aufzuzwingen. Zu diesem Zweck richtet die Bourgeoisie ihre Scheinwerfer auf den Holocaust des 2. Weltkrieges und auf die Oktoberrevolution, um zu versuchen, die beiden Ereignisse miteinander zu verbinden. Diese beiden Momente, die für die beiden antagonistischen Kräfte stehen, deren Konflikt zu einem Großteil die Entwicklung dieses Jahrhunderts bestimmt hat, die Barbarei des dekadenten Kapitalismus und der fortschrittliche revolutionäre Kampf des Proletariates, werden in der bürgerlichen Propaganda dargestellt als die gemeinsame Frucht “totalitärer Ideologien” und werden “gemeinsam verantwortlich” gemacht für den Krieg, den Militarismus und den Terror der vergangenen 80 Jahre. In diesem Sommer war es die Nazigoldaffäre, die einerseits auf die gegenwärtigen Rivalen der USA und auf diejenigen abzielt, die ihre Autorität in Frage stellen (wie die Schweiz), und andererseits auf ideologischer Ebene dem Weltproletariat gilt (militaristische Propaganda, bürgerlich-demokratischer Antifaschismus), im Herbst nun schlachtet die Bourgeoisie den 80. Jahrestag der Russischen Revolution aus, um die folgende Botschaft zu vermitteln: So wie der Nationalsozialismus nach Auschwitz geführt hat, führt der Sozialismus von Marx, der die Arbeiterrevolution von 1917 inspiriert hat, ebenso unvermeidlich zum Gulag, zum gewaltigen Terror unter Stalin und zum Kalten Krieg nach 1945.

 

 

 

 

 

Mit diesem Angriff gegen die Oktoberrevolution zielen unsere Ausbeuter darauf ab, den gegenwärtigen Rückfluß des proletarischen Bewußtseins zu verstärken, den sie nach 1989 durch den intensiven Gebrauch der gewaltigen Lüge ausgelöst haben, wonach der Sturz der stalinistischen konterrevolutionären Regime gleichzusetzen sei mit dem “Ende des Marxismus” und dem “Bankrott des Kommunismus”. Aber heute will die Bourgeoisie noch einen Schritt weiter gehen bei der Verunglimpfung der proletarischen Revolution und der marxistischen Avantgarde, indem sie nicht nur mit dem Stalinismus, sondern auch mit dem Faschismus gleichgesetzt werden. So hat Anfang 1997 in einem so zentralen Land wie Frankreich zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert eine Medienkampagne begonnen, direkt die internationalistische kommunistische Linke anzugreifen. Sie hat versucht, dieser zu unterstellen, daß sie mit dem Faschismus kollaboriert habe; zu diesem Zweck entstellte sie die internationalistische Position, die während dem 2. Weltkrieg gegen jedes imperialistische Lager Stellung bezogen hatte. Da die Bourgeoisie heute mit dem Bankrott des Kapitalismus des verfaulenden Systems konfrontiert ist, will sie das Programm selber, das geschichtliche Gedächtnis und das Bewußtsein des Proletariats auslöschen. Und vor allem will sie die Erinnerung an den proletarischen Oktober, die erste Machtergreifung durch eine ausgebeutete Klasse in der Geschichte der Menschheit, zerstören.

 

 

 

 

 

Eine falsche Achtung vor der Februarrevolution, einen wahrhaften Haß auf den Oktober

 

 

 

Wie schon nach dem Fall der Berliner Mauer ist auch die gegenwärtige Kampagne der Bourgeoisie nicht einfach eine pauschale Verurteilung von allem, was die Russische Revolution darstellte. Im Gegenteil, gewisse Historiker im Solde des Kapitals sind voll der heuchlerischen Lobreden über “die Initiativen” und sogar “den revolutionären Elan” der Arbeiter und ihrer Massenkampforgane, der Arbeiterräte. Sie geben sich voll Verständnis für die Verzweiflung der Arbeiter, der Soldaten und der Bauern, die mit den Prüfungen des “Großen Krieges” konfrontiert waren. Vor allem aber stellen sie sich dar als die Verteidiger der “wirklichen Russischen Revolution” gegen die angebliche Zerstörung durch die Bolschewiki. Mit anderen Worten: Die Angriffe der Bourgeoisie gegen die Russische Revolution wird vor allem über den angeblichen Gegensatz zwischen Februar und Oktober 1917 geführt, über den angeblichen Gegensatz zwischen dem Anfang des Kampfes und dem Ende und Ziel der Machtergreifung, das das Wesen jeder großen Revolution ist.

 

 

 

 

 

Auf der einen Seite erinnert die Bourgeoisie an den explosiven und spontanen Massencharakter der Kämpfe, die im Februar 1917 ausgebrochen sind, d.h. an die Massenstreiks, die Millionen von Leuten, die die Straße besetzten, die Explosionen von öffentlicher Euphorie bis hin zur Tatsache, daß Lenin selber das Rußland dieser Zeit zum freisten Land auf der Welt erklärte; dem stellt die Bourgeoisie andererseits die Oktoberereignisse entgegen, in denen es wenig Spontaneität gab, die zum voraus geplant gewesen waren, ohne einen Streik, ohne Strassendemonstrationen oder Massenversammlung während des Aufstandes, wo die Macht ergriffen wurde dank der Aktion von einigen Tausend bewaffneten Männern in der Hauptstadt unter dem Kommando eines revolutionären Komitees, das direkt von der bolschewistischen Partei inspiriert war. So erklärt die Bourgeoisie: Ist das nicht genug Beweis dafür, daß der Oktober nichts anderes als ein bolschewistischer Putsch war? Ein Putsch gegen die Mehrheit der Bevölkerung, gegen die Arbeiterklasse, gegen die Geschichte, gegen die menschliche Natur selbst? Und all dies, so erklärt man uns, sei die Folge einer “verrückten marxistischen Utopie”, die nur durch den Terror überleben konnte und direkt zum Stalinismus führen mußte. Nach den Aussagen der herrschenden Klasse wollte das Proletariat 1917 nicht anderes als das, was das Februarregime ihm versprach: eine “parlamentarische Demokratie” mit der Verpflichtung, die “Menschenrechte zu achten”, und eine Regierung, die - auch wenn sie den Krieg fortsetzte - erklärt hatte, “für” einen sofortigen Frieden “ohne Annexionen” zu sein. Mit anderen Worten: Die Bourgeoisie erzählt uns, daß das russische Proletariat sich für die gleich elenden Bedingungen geschlagen hat, die das moderne Proletariat heute erleidet! Wenn das Februarregime nicht im Oktober gestürzt worden wäre, so versichert sie uns, wäre Rußland heute ein ebenso mächtiges und “wohlhabendes” Land wie die Vereinigten Staaten, und die Entwicklung des “Kapitalismus des 20. Jahrhunderts wäre friedlich gewesen”.

 

 

 

 

 

Diese heuchlerische Verteidigung des “spontanen” Charakters der Februarereignisse drückt in Tat und Wahrheit den Haß und die Angst aus, die die Oktoberrevolution bei den Ausbeutern aller Länder hervorrufen. Die Spontaneität des Massenstreiks, der Zusammenschluß des gesamten Proletariats auf den Straßen und in den Vollversammlungen, die Bildung der Arbeiterräte im Feuer des Kampfes sind wesentliche Momente des Befreiungskampfes der Arbeiterklasse. “Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Spontaneität einer Bewegung ein Zeichen dafür ist, daß sie tiefe und feste Wurzeln in der Masse hat und nicht auszumerzen ist”, stellte Lenin fest1 [96]. Aber solange die Bourgeoisie die herrschende Klasse bleibt, solange die politischen und repressiven Waffen des kapitalistischen Staates unversehrt bleiben, ist es ihr immer möglich, diejenigen ihres Klassenfeindes zu blockieren, zu neutralisieren und aufzulösen. Die Arbeiterräte, diese mächtigen Werkzeuge des Arbeiterkampfes, die mehr oder weniger spontan auftauchen, sind trotz allem nicht der einzige und auch nicht unbedingt der höchste Ausdruck der proletarischen Revolution. Sie beherrschen die ersten Etappen des revolutionären Prozesses. Die konterrevolutionäre Bourgeoisie preist die Arbeiterräte gerade mit der Absicht, den Beginn der Revolution als ihren Kulminationspunkt, als ihr Ziel darzustellen, weil sie weiß, daß es einfacher ist, eine Revolution zu zerschlagen, die auf halbem Weg stehenbleibt.

 

 

 

 

 

Aber die Russische Revolution ist nicht auf halbem Weg stehengeblieben. Da sie bis zum Ziel fortschritt, da sie vollendete, was sie im Februar 1917 begonnen hatte, stellte sie die Bestätigung für die Fähigkeit der Arbeiterklasse dar, geduldig, bewußt, kollektiv, also nicht nur “spontan”, sondern reiflich überlegt, geplant, strategisch die Waffen zu schmieden, die sie braucht zur Eroberung der Macht: ihre marxistische Klassenpartei, ihre Arbeiterräte, zusammengeschweißt durch ein Klassenprogramm und einen wirklichen Willen, die Gesellschaft anzuführen, ebenso wie die spezifischen Werkzeuge und die Strategie des proletarischen Aufstands. Es ist die Einheit von politischem Massenkampf und militärischer Machtergreifung, von Spontaneität und Planung, von Arbeiterräten und Klassenpartei, von der Aktion von Millionen von Arbeitern und derjenigen kühner Minderheiten der Vorhut der Klasse, die das Wesen der proletarischen Revolution ausmachen. Es ist diese Einheit, die die Bourgeoisie heute mit ihren Verleumdungen gegen den Bolschewismus und den Oktoberaufstand zerstören will.

 

 

 

 

 

Die Zerstörung des bürgerlichen Staates, der Sturz der Herrschaft der bürgerlichen Klasse, der Anfang der Weltrevolution - dies war die gigantische Verwirklichung des Oktobers 1917, d.h. das wichtigste, das bewußteste und das kühnste Kapitel der Geschichte der Menschheit bis zum heutigen Tag. Der Oktober zerschmetterte Jahrhunderte der durch die Klassengesellschaft produzierten Knechtschaft und bewies, daß mit dem Proletariat zum ersten Mal in der Geschichte ein Klasse existiert, die sowohl ausgebeutet als auch revolutionär ist. Eine Klasse, die fähig ist, die Gesellschaft zu führen, die Klassenherrschaft abzuschaffen, die Menschheit von ihrer “vorgeschichtlichen” Fesselung an blinde gesellschaftliche Kräfte zu befreien. Das ist der eigentliche Grund, weshalb die herrschende Klasse zur Zeit - und heute mehr als je zuvor - kübelweise Lügen und Verunglimpfungen über den Roten Oktober kippt, über das “am meisten gehaßte” Ereignis der modernen Geschichte, das aber gleichzeitig den Stolz der bewußten proletarischen Klasse darstellt. Wir wollen beweisen, daß der Oktoberaufstand, den die Schreiberlinge, die Prostituierten des Kapitals, einen “Putsch” nennen, der Kulminationspunkt nicht nur der Russischen Revolution, sondern des gesamten Kampfes unserer Klasse bis heute gewesen ist. Wie Lenin 1917 schrieb: “Daß die Bourgeoisie uns mit einem solch abgrundtiefen Haß angreift, ist eine der deutlichsten Illustrationen der Wahrheit, das wir den Menschen die richtigen Wege und Mittel zeigen, um die bürgerliche Herrschaft zu stürzen.”2 [96]

 

 

 

 

 

“Die Krise ist herangereift”

 

 

 

 

Am 10. Oktober 1917 schlug Lenin, der am meisten verfolgte Mann im Land, der durch die Polizei in allen Ecken Rußlands gesucht wurde und auf der in Petrograd abgehaltenen Versammlung des Zentralkomitees der bolschewistischen Partei verkleidet mit einer Perücke und einer Brille teilnahm, folgende Resolution vor, die er auf eine Seite eines Schulheftes geschrieben hatte: “Das Zentralkomitee stellt fest, daß sowohl die internationale Lage der russischen Revolution (der Aufstand in der deutschen Flotte als höchster Ausdruck des Heranreifens der sozialistischen Weltrevolution in ganz Europa, ferner die Gefahr eines Friedens der Imperialisten mit dem Ziel, die Revolution in Rußland zu erdrosseln) als auch die militärische Lage (der nicht zu bezweifelnde Entschluß der russischen Bourgeoisie sowie Kerenskis und Co., Petrograd den Deutschen auszuliefern) und die Eroberung der Mehrheit in den Sowjets durch die proletarische Partei - daß all dies im Zusammenhang mit dem Bauernaufstand und mit der Tatsache, daß sich das Vertrauen des Volkes unserer Partei zugewandt hat (die Wahlen in Moskau), und endlich die offenkundige Vorbereitung eines zweiten Kornilowputsches (Abtransport von Truppen aus Petrograd, Zusammenziehung von Kosaken bei Petrograd, Umzingelung von Minsk durch Kosaken usw.) - daß all dies den bewaffneten Aufstand auf die Tagesordnung setzt.

 

 

Das Zentralkomitee stellt somit fest, daß der bewaffnete Aufstand unumgänglich und völlig herangereift ist, und fordert alle Parteiorganisationen auf, sich hiervon leiten zu lassen und von diesem Gesichtspunkt aus alle praktischen Fragen zu behandeln und zu entscheiden (Sowjetkongress des Nordgebiets, Abtransport von Truppen aus Petrograd, die Aktionen der Moskauer und der Minsker usw.).”3 [96]

 

 

 

 

 

Genau vier Monate zuvor hatte die bolschewistische Partei den kämpferischen Elan der Arbeiter Petrograds bewußt und wohlüberlegt gebremst. Diese waren durch die herrschende Klasse provoziert worden mit der Absicht, eine verfrühte und isolierte Konfrontation mit dem Staat herbeizuführen. Eine solche Situation hätte mit Sicherheit zur Enthauptung des russischen Proletariats in der Hauptstadt und zur Dezimierung seiner Klassenpartei geführt (vgl. “Die Julitage” in der vorliegenden Ausgabe der Internationalen Revue). Die Partei, die inzwischen die internen Hemmungen überwunden hatte, engagierte sich entschlossen, wie Lenin es in seinem berühmten Artikel “Die Krise ist herangereift” geschrieben hatte, dafür, “alle Kräfte zu mobilisieren, um die Arbeiter von der Unvermeidlichkeit des Entscheidungskampfes und der Notwendigkeit zu überzeugen, die Regierung Kerenski zu stürzen”. Am 29. September erklärte er: “Die Krise ist herangereift. (...) Es geht um die Ehre der bolschewistischen Partei. Die ganze Zukunft der internationalen Arbeiterbewegung für den Sozialismus steht auf dem Spiel.”

 

 

 

 

 

Die Erklärung für diese neue, im Vergleich zum Juli ganz andere Haltung der Partei ist in der weiter oben zitierten Resolution enthalten, es ist nämlich die Kühnheit und leuchtende Klarheit des Marxismus. Der Ausgangspunkt war wie immer für den Marxismus die Analyse der internationalen Lage, die Einschätzung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und der Bedürfnisse des Weltproletariats. Die Resolution unterstrich, daß das russischen Proletariat im Unterschied zum Juli 1917 nicht mehr allein war, daß vielmehr die Weltrevolution in den zentralen Ländern des Kapitalismus begonnen hatte. “Das Heranreifen der Weltrevolution ist unbestreitbar. Der Ausbruch der Empörung der tschechischen Arbeiter wurde mit unglaublicher Brutalität niedergeschlagen, was davon zeugt, daß die Regierung äußerst erschreckt ist. Auch in Italien ist es zu einer Massenerhebung in Turin gekommen. Am wichtigsten aber ist der Aufstand in der deutschen Flotte”4 [96] Es ist das Verdienst der russischen Arbeiterklasse, nicht nur die Gelegenheit ergriffen zu haben, die internationale Isolation zu durchbrechen, die bis zu diesem Zeitpunkt durch den Weltkrieg aufgezwungen worden war, sondern darüber hinaus die Flammen des Aufstandes zurück nach Westeuropa getragen zu haben, indem es die Weltrevolution begann.

 

 

 

 

 

Gegen die Minderheit in der eigenen Partei, die noch der pseudomarxistischen, konterrevolutionären Argumentation der Menschewiki nachbetete, nach der die Revolution in einem fortgeschritteneren Land beginnen müsse, zeigte Lenin auf, daß die Bedingungen in Deutschland in Tat und Wahrheit viel schwieriger als in Rußland waren und daß die wirkliche Bedeutung des Aufstandes in Rußland darin lag, daß er der revolutionären Erhebung in Deutschland Hilfe leisten würde: ”Die Deutschen haben unter verteufelt schwierigen Verhältnissen, mit nur einem Liebknecht (der dazu noch im Zuchthaus sitzt), ohne Zeitungen, ohne Versammlungsfreiheit, ohne Sowjets, angesichts einer ungeheuren Feindseligkeit aller Bevölkerungsklassen bis zum letzten begüterten Bauern gegen die Idee des Internationalismus, angesichts der ausgezeichneten Organisation der imperialistischen Groß-, Mittel- und Kleinbourgeoisie, die Deutschen, d.h. die deutschen revolutionären Internationalisten, die Arbeiter im Matrosenkittel, haben einen Aufstand in der Flotte begonnen - bei einer Chance von vielleicht eins zu hundert. Wir aber, die wir Dutzende von Zeitungen, die wir Versammlungsfreiheit haben, über die Mehrheit in den Sowjets verfügen, wir, die wir im Vergleich zu den proletarischen Internationalisten in der ganzen Welt die besten Bedingungen haben, wir werden darauf verzichten, die deutschen Revolutionäre zu unterstützen. Wir werden argumentieren wie die Scheidemänner und die Renaudel: Das Vernünftigste ist, keinen Aufstand zu machen, denn wenn man uns niederknallt, so verliert die Welt in uns so prächtige, so vernünftige, so ideale Internationalisten!! Beweisen wir, daß wir vernünftig sind. Nehmen wir eine Sympathieresolution für die deutschen Aufständischen an und lehnen wir den Aufstand in Rußland ab. Das wird dann ein echter, vernünftiger Internationalismus sein.”5 [96]

 

 

 

 

 

Der Standpunkt Lenins und die internationalistische Methode, die das genaue Gegenteil der bürgerlich-nationalistischen Sichtweise des Stalinismus war, die sich im Gefolge der anschließenden Konterrevolution entwickelte, war nicht nur bei den Bolschewiki dieser Phase vorhanden, sondern bei allen fortgeschrittenen Arbeitern Rußlands dank der marxistischen politischen Erziehung. So strahlten die Matrosen der baltischen Flotte zu Beginn des Oktobers über die Radiostationen ihrer Schiffe folgenden Appell in alle Ecken der Welt aus: “In den Stunden, da die Wogen der Baltischen See rot gefärbt sind vom Blut unserer Brüder, erheben wir unsere Stimme. Unterdrückte aller Welt hebt das Banner der Revolte!” Doch die Einschätzung des weltweiten Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen durch die Bolschewiki beschränkte sich nicht darauf, den Zustand des internationalen Proletariats zu untersuchen, sondern drückte auch eine klare Sichtweise der gesamten Lage der feindlichen Klasse aus. Die Bolschewiki, die ein tiefes Wissen über die Geschichte der Arbeiterbewegung hatten und das Beispiel der Pariser Kommune von 1871 kannten, wußten genau, daß die imperialistische Bourgeoisie sogar mitten im Weltkrieg ihre Kräfte gemeinsam gegen die Revolution einsetzen würde.

 

 

 

 

 

“Beweist nicht die völlige Untätigkeit der englischen Flotte im Allgemeinen  und auch der englischen Unterseeboote bei der Besetzung Oesels durch die Deutschen, im Zusammenhang mit der Absicht der Regierung, ihren Sitz von Petrograd nach Moskau zu verlegen, daß zwischen den russischen und englischen Imperialisten, zwischen Kerenski und den englisch-französischen Kapitalisten eine Verschwörung zustande gekommen ist mit dem Ziel, Petrograd an die Deutschen auszuliefern und die russische Revolution auf diesem Wege zu erdrosseln?” fragt Lenin und fügt hinzu: ”Die Resolution der Soldatensektion des Petrograder Sowjets gegen die Übersiedlung der Regierung aus Petrograd hat gezeigt, daß auch unter den Soldaten die Überzeugung von der Verschwörung Kerenskis heranreift.”6 [96] Im August war des revolutionäre Riga durch Kerenski und Kornilow bereits den Klauen des Kaisers Wilhelm II. ausgeliefert worden. Die ersten Gerüchte eines möglichen Separatfriedens zwischen Großbritannien und Deutschland gegen die Russische Revolution beunruhigten Lenin. Das Ziel der Bolschewiki war nicht der “Frieden”, sondern die Revolution, denn sie wußten als wirkliche Marxisten, daß ein kapitalistischer Waffenstillstand nur eine Feuerpause zwischen zwei Weltkriegen sein konnte. Es war diese durchdringende, kommunistische Sicht des unausweichlichen Untergangs in der Barbarei, den der dekadente, historisch bankrotte Kapitalismus der Menschheit vorbehielt, diese Sicht, die den Bolschewismus zu einem Wettlauf gegen die Zeit drängte, um mit den proletarischen, revolutionären Mitteln den Krieg zu beenden. Gleichzeitig begannen die Kapitalisten überall, systematisch die Produktion zu sabotieren, um die Revolution in Mißkredit zu bringen. Allerdings trugen diese Ereignisse schließlich auch dazu bei, den patriotischen Mythos der “nationalen Verteidigung”, wonach die Bourgeoisie und das Proletariat einer Nation ein gemeinsames Interesse daran hätten, den fremden “Aggressor” zurückzudrängen, in den Augen der Arbeiter zu zerstören. Dies erklärt auch, weshalb im Oktober die Sorge der Arbeiter nicht mehr darin bestand, Massenstreiks auszulösen, sondern die Produktion angesichts der Demontage ihrer “eigenen” Fabriken durch die Bourgeoisie in Gang zu halten. Unter den Faktoren, die für das Voranschreiten der Arbeiterklasse zum Aufstand entscheidend waren, gab es einerseits die Bedrohung der Revolution durch die neuen konterrevolutionären Angriffe, andererseits aber auch die entschlossene Unterstützung der Arbeiter v.a. in den wichtigsten Sowjets für die Bolschewiki. Diese beiden Faktoren waren das direkte Ergebnis der größten Massenkonfrontation zwischen Bourgeoisie und Proletariat von Juli bis Oktober 1917: des Kornilow-Putsches im August. Unter der Führung der Bolschewiki stoppte das Proletariat den Vormarsch von Kornilow auf die Hauptstadt, indem hauptsächlich die Truppen zersetzt, das Transportsystem und die Logistik dank den Arbeitern bei der Eisenbahn, der Post und anderen Sektoren lahmgelegt wurden. Im Laufe dieser Aktion, während der die Sowjets als revolutionäre Organisationen der gesamten Klasse zu neuem Leben erwacht waren, entdeckten die Arbeiter, daß die Provisorische Regierung von Petrograd unter der Führung des Sozialrevolutionärs Kerenski und der Menschewiki selbst im konterrevolutionären Komplott verhängt war. Von diesem Moment an verstanden die Arbeiter, daß diese Parteien zu einem eigentlichen “linken Flügel des Kapitals” geworden waren, und sie begannen, sich hinter den Bolschewiki zu vereinigen. “Die ganze taktische Kunst besteht darin, den Moment zu erfassen, wo die Gesamtheit der Bedingungen für uns am günstigsten ist. Der Kornilowsche Aufstand schuf diese Bedingungen. Die Massen, die das Vertrauen zu den Parteien verloren hatten, sahen die konkrete Gefahr der Gegenrevolution. Sie glaubten, daß jetzt die Bolschewiki berufen seien, diese Gefahr zu bannen.”7 [96] Der größte einzelne Test über die Qualität einer Arbeiterpartei ist, ob sie fähig ist, die Machtfrage richtig und zeitig zu stellen. “Die gewaltigste Umstellung ist aber die, wenn die proletarische Partei von der Vorbereitung, der Propaganda, der Organisation, der Agitation übergeht zum unmittelbaren Kampf um die Macht, zum bewaffneten Aufstand gegen die Bourgeoisie. Alles, was in der Partei vorhanden ist an unentschlossenen, skeptischen, opportunistischen, menschewistischen Elementen, erhebt sich gegen den Aufstand.”8 [96] Die bolschewistische Partei überwand diese Krise und zeigte sich entschlossen, den bewaffneten Kampf vorwärtszutreiben, und bewies damit ihre beispiellose Qualität.

 

 

 

 

 

Das Proletariat beschreitet den Weg des Aufstandes

 

Im Februar 1917 hatte sich eine Situation der “Doppelmacht” entwickelt. Nebst dem bürgerlichen Staat und gegen ihn erschienen die Arbeiterräte als eine Alternative, als eine potentielle Regierung der Arbeiterklasse. Da zwei entgegengesetzte Kräfte, zwei verfeindete Klassen, nicht nebeneinander bestehen können und weil die eine zwangsläufig die andere zerstören muß, um sich in der Gesellschaft durchzusetzen, ist eine derartige Periode der “Doppelmacht” notwendigerweise sehr kurz und instabil. Eine solche Phase ist sicherlich nicht durch “friedliche Koexistenz” und gegenseitige Toleranz gekennzeichnet. Sie kann zuerst den Anschein einer sozialen Ausgeglichenheit haben, doch in Wirklichkeit ist es eine entscheidende Stufe im Bürgerkrieg zwischen Kapital und Arbeit.

 

 

 

 

 

Die bürgerlichen Geschichtsfälschungen sind dazu gezwungen, den Todeskampf der Klassen, der sich zwischen Februar und Oktober 1917 abspielte, zu verschleiern und die Oktoberrevolution als einen “bolschewistischen Putsch” darzustellen. Die “ungewöhnliche” Verlängerung dieser Periode der “Doppelmacht” hätte notwendigerweise das Ende der Revolution und ihrer Organe bedeutet. Der Sowjet ist “nur als Organ des Aufstandes, nur als Organ der revolutionären Macht real (...). Außerhalb dieser Aufgabe sind die Sowjets ein bloßes Spielzeug, das unvermeidlich zur Apathie, Gleichgültigkeit und Enttäuschung der Massen führt, denen die endlose Wiederholung von Resolutionen und Protesten mit vollem Recht zuwider geworden ist.”9 [96] Wenn der proletarische Aufstand nicht spontaner war als ein konterrevolutionärer militärischer Staatsstreich - während der Monate vor dem Oktober hatten die zwei Klassen in wiederholter Weise ihre spontane Tendenz zum Kampf um die Macht zum Ausdruck gebracht. Die Julitage und der Kornilov-Putsch waren dabei die klarsten Ausdrücke. Der Oktoberaufstand begann in Wirklichkeit nicht auf ein Signal der bolschewistischen Partei hin, sondern auf den Versuch der bürgerlichen Regierung die revolutionärsten Truppen (2/3 der Petrograder Garnison) an die Front zu schicken und sie in der Hauptstadt durch konterrevolutionäre Bataillone zu ersetzen. Mit anderen Worten: Die Bourgeoisie machte, und dies lediglich einige Wochen nach Kornilow, einen erneuten Versuch, die Revolution zu zermalmen. Ein Versuch, der das Proletariat dazu trieb, zum Aufstand zu schreiten, um sie zu retten.

 

 

 

 

 

“Und doch war der Ausgang des Aufstandes vom 25. Oktober zu drei Viertel, wenn nicht mehr, in dem Moment entschieden, als wir uns der Absendung der Truppen entgegenstemmten, das kriegsrevolutionäre Komitee bildeten (16. Oktober), in allen Truppenteilen und Organisationen unsere Kommissare ernannten und dadurch nicht nur den Stab des Petrograder Militärbezirks, sondern auch die Regierung gänzlich isolierten. (...) Mit dem Moment, da die Bataillone auf den Befehl des kriegsrevolutionären Komitees sich weigerten, die Stadt zu verlassen und sie auch nicht verließen, hatten wir in der Hauptstadt einen siegreichen Aufstand (...).1 [96]0                           

 

 

 

 

 

Noch mehr, dieses Militärrevolutionäre Komitee, welches die entscheidenden militärischen Aktionen des 25. Oktobers leiten sollte - alles andere als ein Organ der Bolschewiki - war ursprünglich von den konterrevolutionären Parteien der “Linken” als ein Mittel zum Abzug der revolutionären Truppen der Hauptstadt unter Umgehung der Sowjets eingeführt worden. Doch es wurde sofort durch den Sowjet zu seinem Instrument umgewandelt, nicht nur um sich dieser Maßnahme zu widersetzen, sondern um den Kampf um die Macht zu organisieren.

 

 

 

 

 

“Nein, die Macht der Sowjets war keine Schimäre, keine von Parteitheoretikern erklügelte, willkürliche Konstruktion. Sie wuchs unaufhaltsam von unten auf, aus dem Wirtschaftszerfall, Ohnmacht der Besitzenden, aus den Nöten der Massen; die Sowjets wurden in der Tat zur Macht - für Arbeiter, Soldaten, Bauern blieb kein anderer Weg übrig. Es war nicht mehr an der Zeit über die Sowjetmacht zu klügeln und zu streiten: es hieß sie verwirklichen.”1 [96]1 Die Legende eines bolschewistischen Putsches ist eine der größten Lügen der Geschichte. In Wirklichkeit wurde der Aufstand im vornherein von den gewählten revolutionären Delegierten öffentlich angekündigt. Die Rede Trotzkis an der Konferenz der Garnison von Petrograd am 18. Oktober illustriert es: “Es ist der Bourgeoisie bekannt, daß der Petrograder Sowjet dem Sowjetkongress vorschlagen wird, die Macht in seine Hände zu nehmen...Und nun versuchen die bürgerlichen Klassen, in Voraussicht des unvermeidlichen Kampfes, Petrograd zu entwaffnen (...) Beim ersten Versuch der Konterrevolution, den Kongreß zu sprengen, werden wir mit einer Gegenoffensive antworten, die unbarmherzig sein wird und die wir restlos durchführen weden.”1 [96]2 Punkt 3 der durch die Konferenz der Garnison angenommenen Resolution lautet: “Der Gesamtrussische Sowjetkongress muß die Macht in die Hände nehmen und dem Volk Frieden, Land und Brot verschaffen.” Um sicher zu gehen, daß das gesamte Proletariat den Kampf um die Macht unterstützt, beschloß diese Garnisonskonferenz, sich auf friedliche Weise noch vor dem Kongreß der Sowjets in Petrograd und gestützt auf Massenversammlungen und Debatten einen Überblick über die eigenen Kräfte zu verschaffen. “Zehntausende umspülten das gigantische Gebäude des Volkshauses (...) An ehernen Säulen und Fenstern hingen Girlanden und Trauben menschlicher Köpfe, Beine, Arme. Die Luft war von jener elektrischen Spannung erfüllt, die eine nahe Entladung anzeigt. Nieder mit Kerenski! Nieder mit dem Krieg! Alle Macht den Sowjets! Nicht einer der Versöhnler wagte nunmehr vor dieser bis zum Rotglühen erhitzten Menge mit Entgegnungen oder Warnungen aufzutreten. Das Wort gehörte den Bolschewiki.” Trotzki führt weiter an: “Die Erfahrung der Revolution, des Krieges, des schweren Kampfes, des ganzen bitteren Lebens ersteht aus der Tiefe der Erinnerung eines jeden von Not bedrückten Menschen und geht in diese einfachen und gebieterischen Parolen ein. So kann es nicht weitergehen. Es muß ein Ausgang in die Zukunft durchbrochen werden.”1 [96]3

 

 

 

 

 

Die Partei hatte den “Willen zur Machtergreifung” der Massen nicht erfunden. Sie hatte ihn jedoch inspiriert, und ihm Vertrauen in seine Fähigkeit gegeben, die Klasse zu führen. Wie Lenin nach dem Putsch von Kornilow schrieb: “Mögen alle Kleinmütigen aus diesem historischen Beispiel lernen. Mögen sich diejenigen schämen, die sagen: “Wir haben keinen Apparat, der den alten, unweigerlich zur Verteidigung der Bourgeoisie neigenden ersetzen könnte.” Denn dieser Apparat ist vorhanden. Das sind gerade die Sowjets. Fürchtet nicht die Initiative und Selbständigkeit der Massen, vertraut den revolutionären Organisationen der Massen, und ihr werdet auf allen Gebieten des staatlichen Lebens dieselbe Kraft, dieselbe Unbesiegbarkeit der Arbeiter und Bauern sehen, die sie in ihrem gemeinsamen Handeln, in ihrem Elan gegen den Kornilowputsch offenbart haben.”1 [96]4

 

 

 

 

 

Die Aufgabe der Stunde: die Zerstörung des bürgerlichen Staates

 

 

 

Der Aufstand ist eines der entscheidendsten, komplexesten und anspruchsvollsten Probleme, welches das Proletariat zu lösen hat, um seine historische Aufgabe zu erfüllen. In der bürgerlichen Revolution war diese Frage viel weniger entscheidend, da sich die Bourgeoisie in ihrem Kampf um die Macht auf das stützen konnte, was sie sich auf ökonomischer und politischer Ebene innerhalb der feudalen Gesellschaft bereits erobert hatte. Während ihrer Revolution ließ die Bourgeoisie das Kleinbürgertum und die junge Arbeiterklasse für sich kämpfen. Sobald der Rauch der Schlacht abgezogen war, bevorzugte sie meist ihre frisch eroberte Macht in die Hände einer feudalen und nun verbürgerlichten, heimischen Klasse zurückzugeben, da diese die Autorität der Tradition auf ihrer Seite hatte. Im Gegensatz dazu besitzt das Proletariat innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft keinerlei Eigentum oder ökonomische Macht. Es kann deshalb weder den Kampf um die Macht noch die Verteidigung seiner einmal erworbenen Klassenherrschaft einer anderen Klasse oder einem anderen Sektor der Gesellschaft überlassen. Das Proletariat muß die Macht selbst ergreifen, indem es die anderen Schichten unter seine Führung stellt, indem es die gesamte Verantwortung trägt, und die Konsequenzen und Gefahren seines Kampfes auf sich nimmt. Während des Aufstandes erwacht das Proletariat und entdeckt sich, viel klarer als in irgendeinem vorangegangenen Moment, selbst, entdeckt das “Geheimnis” seiner eigenen Existenz als erste und letzte sowohl ausgebeutete als auch revolutionäre Klasse in der Geschichte. Aus diesem Grunde darf man keineswegs erstaunt sein, daß die Bourgeoisie dermaßen bestrebt ist, die Erinnerung an den Oktober auszulöschen!

 

 

 

 

 

Von größter Bedeutung in der Revolution war seit dem Februar 1917 die Aufgabe des Proletariates, die Herzen und Gedanken derjenigen Sektoren zu erobern, welche für die Seite des Proletariates gewonnen werden konnten, aber  zugleich auch gegen die Revolution hätten mißbraucht werden können: die Soldaten, die Bauern, die Beamten, die Angestellten des Transportwesens, bis zu denjenigen, welche im Hausdienst der Bourgeoisie standen. Am Vorabend des Aufstandes mußte diese Aufgabe erfüllt werden.

 

 

 

 

 

Die Aufgabe des Aufstandes selbst war etwas ganz anderes: Er beinhaltete das Zerbrechen des Widerstandes derjenigen Teile des Staates und Teile der Armee, welche nicht gewonnen werden konnten, deren Weiterbestehen aber den Keim der barbarischen Konterrevolution beinhalteten. Um diesen Widerstand zu brechen, um den bürgerlichen Staat zu zerstören, mußte das Proletariat eine bewaffnete Kraft bilden, welche der eisernen Disziplin der Klasse unterstand. Deshalb waren die bewaffneten Kräfte des 25. Oktobers ausschließlich aus Soldaten gebildet, welche der Leitung des Proletariates voll und ganz Folge leisteten. “Die Oktoberrevolution war der Kampf des Proletariates gegen die Bourgeoisie um die Macht. Aber den Ausgang des Kampfes entschied letzten Endes der Muschik. (...) Was hier der Umwälzung den Charakter eines kurzen Schlages mit minimalster Zahl an Opfern verlieh, war die Verbindung der revolutionären Verschwörung, des proletarischen Aufstandes mit dem Kampf der Bauerngarnison um die Selbsterhaltung. Geleitet wurde die Umwälzung von der Partei; die wichtigste treibende Kraft war das Proletariat; die bewaffneten Arbeiterabteilungen bildeten die Faust des Aufstandes; doch den Ausgang des Kampfes entschied die schwerwiegende Bauerngarnison.”1 [96]5 So war es in Tat und Wahrheit dem Proletariat gelungen, die Macht zu ergreifen, weil es fähig war, die anderen nichtausbeutenden Schichten hinter sein eigenes Klassenziel zu mobilisieren. Also haargenau das Gegenteil eines “Putsches”!

 

 

 

 

 

“Demonstrationen, Strassenkämpfe, Barrikaden, alles, was in den gewohnten Begriff des Aufstandes fällt, gab es fast nicht: die Revolution hatte nicht nötig, die bereits gelöste Aufgabe zu lösen. Die Eroberung des Regierungsapparates ließ sich planmäßig durchführen, mit Hilfe verhältnismäßig weniger, von einem Zentrum aus geleiteter bewaffneter Abteilungen. (...) Die Ruhe in den Oktoberstrassen, das Fehlen von Massen und Kämpfen gaben den Gegnern Anlaß, von Verschwörung einer verschwindenden Minderheit, von Abenteuer eines Häufleins Bolschewiki zu sprechen. (...) In Wirklichkeit konnten die Bolschewiki im letzten Moment den Kampf um die Macht auf eine “Verschwörung” beschränken, nicht weil sie eine kleine Minderheit waren, sondern im Gegenteil, weil sie in den Arbeitervierteln und Kasernen eine erdrückende, geschlossene, organisierte und disziplinierte Mehrheit hinter sich hatten.”1 [96]6

 

 

 

 

 

Die Wahl des richtigen Zeitpunktes: Schlüssel zu Machtübernahme

 

 

 

Von einem technischen Standpunkt aus betrachtet ist der kommunistische Aufstand nichts anderes als eine Frage der Organisation und Strategie. Politisch jedoch ist es wohl die anspruchsvollste Aufgabe, die man sich vorstellen kann. Die schwierigste aller Aufgaben, welche auch am meisten Probleme mit sich bringt, ist die Wahl des richtigen Zeitpunktes zur Eröffnung des Kampfes um die Macht: nicht zu früh, nicht zu spät. Im Juli 1917, sowie auch schon im August beim Kornilow-Putsch, als die Bolschewiki die Klasse zurückhielten, welche bereit für den Kampf um die Macht war, bestand die größte Gefahr in einem verfrühten Aufstand. Schon im September rief Lenin ohne Unterbruch zur Vorbereitung eines bewaffneten Kampfes auf, indem er erklärte: “Jetzt oder nie!”

 

 

“Eine revolutionäre Situation läßt sich nicht willkürlich konservieren. Hätten die Bolschewiki im Oktober-November die Macht nicht genommen, sie hätten sie aller Wahrscheinlichkeit nach überhaupt nicht genommen. Statt fester Führung hätten die Massen bei den Bolschewiki das gleiche, ihnen schon verhaßt gewordene Auseinandergehen von Wort und Tat gefunden und sich von der Partei, die ihre Hoffnung betrogen, im Laufe von zwei - drei Monaten abgewandt, wie sie sich vorher von den Sozialrevolutionären und Menschewiki abgewandt hatten”1 [96]7 Dies war der Grund, weshalb Lenin in seinem Einsatz gegen die Gefahr des Zurückstellens des Kampfes um die Macht nicht nur die konterrevolutionären Vorbereitungen der Weltbourgeoisie unterstrich, sondern er zog auch die verheerenden Auswirkungen von Zweifeln unter den Arbeitern selbst in Betracht, welche “fast ohne Hoffnung sind”. Die Hungernden könnten beginnen, “alles kurz und klein zu schlagen”, “ja sogar rein anarchistisch, wenn die Bolschewiki es nicht verstehen, sie im letzten Gefecht zu führen.” “Man kann nicht weiter warten, ohne Gefahr zu laufen, das Komplott Rodsjankos mit Wilhelm zu fördern und den völligen Zerfall bei einer Massenflucht der Soldaten zu erleben, wenn sie (die schon nahezu verzweifelt sind) völlig verzweifeln und alles seinem Schicksal überlassen.”1 [96]8 

 

 

 

 

 

Den richtigen Zeitpunkt wählen erfordert nicht nur eine exakte Einschätzung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen, sondern es bedarf auch einer sorgfältigen Einschätzung der Dynamik der Zwischenschichten. “Eine revolutionäre Situation ist nicht von ewiger Dauer. Die schwankendste Voraussetzung der Umwälzung ist die Stimmung der Kleinbourgeoisie. Während nationaler Krisen geht sie hinter jener Klasse, die ihr nicht durch Worte, sondern auch durch Taten Vertrauen einflößt. Fähig zum impulsiven Aufstieg, sogar zur revolutionären Raserei, fehlt der Kleinbourgeoisie Ausdauer, sie verliert bei Mißerfolg leicht den Mut und fällt aus flammender Hoffnung in Enttäuschung. Die scharfen und jähen Wechsel ihrer Stimmungen verleihen eben jeder revolutionären Situation eine solche Unbeständigkeit. Ist die proletarische Partei nicht genügend entschlossen, um die Erwartungen und Hoffnungen der Volksmassen rechtzeitig in revolutionäre Handlungen umzusetzen, wird die Flut schnell von der Ebbe abgelöst: die Zwischenschichten wenden ihre Blicke von der Revolution ab und suchen die Retter im feindlichen Lager.”1 [96]9

 

 

 

 

 

Die Kunst des Aufstandes

 

 

 

In seinem Kampf zur Überzeugung der eigenen Partei von der dringenden Notwendigkeit eines unmittelbaren Aufstandes, griff Lenin auf Marxens hervorragende Argumentation in dessen Werk “Revolution und Konterrevolution in Deutschland” zurück. Über den Aufstand, der “eine Kunst ist, genauso wie der Krieg und andere Formen der Kunst. Er ist bestimmten Regeln unterworfen, deren Unterlassung zur Niederlage und die versäumende   Partei zur Mitschuld führt.” Die wichtigsten dieser Regeln sind laut Marx, einen begonnenen Aufstand niemals auf halbem Wege abzubrechen und immer in der Offensive zu bleiben, da “die Defensive der Tod der bewaffneten Erhebung ist”; den Feind zu überraschen und durch alltägliche Erfolge zu demoralisieren, “selbst mit kleinen”, welche ihn zum Rückzug zwingen; “(...) mit den Worten Dantons, des größten bisher bekannten Meisters revolutionärer Taktik, so zusammengefaßt: ‘Kühnheit, Kühnheit, abermals Kühnheit!’” Und wie Lenin es sagte: “Am entscheidenden Ort und im entscheidenden Augenblick muß ein großes Übergewicht an Kräften konzentriert werden, denn sonst wird der Feind, der besser ausgebildet und organisiert ist, den Aufstand vernichten.” Lenin fügte an: “Wir wollen hoffen, daß wenn die Aktion beschlossen wird, die Führer mit Erfolg das große Vermächtnis von Danton und Marx befolgen werden. Der Erfolg der russischen sowohl wie der Weltrevolution hängt von zwei, drei Tagen des Kampfes ab.”2 [96]0            

 

 

              

 

 

In dieser Perspektive hatte das Proletariat die Organe seines Kampfes um die Macht zu formieren: ein Militärrevolutionäres Komitee und bewaffnete Truppen. “Wie es dem Schmied nicht gegeben ist, mit bloßen Händen glühendes Eisen anzufassen, so kann das Proletariat nicht mit bloßen Händen die Macht ergreifen: es braucht eine für diese Aufgabe geeignete Organisation. In der Verknüpfung von Massenaufstand und Verschwörung, der Unterordnung der Verschwörung unter den Aufstand, der Organisierung des Aufstandes durch die Verschwörung, besteht jedes komplizierte und verantwortliche Gebiet der revolutionären Politik, das Marx und Engels “die Kunst des Aufstandes” nannten.”2 [96]1

 

 

 

 

 

Es ist diese zentralisierte, koordinierte und wohlüberlegte Art und Weise, die es dem Proletariat ermöglichte, den letzten bewaffneten Widerstand der herrschenden Klasse zu brechen. Die Bourgeoisie hat diesen Schlag, den ihr das Proletariat versetzt hatte, bis heute nie vergessen. “Als elementaren Aufstand bezeichnen Historiker und Politiker gewöhnlich eine solche Massenbewegung, die - geeint durch Feindschaft gegen das alte Regime - weder klare Ziele, noch ausgearbeitete Kampfmethoden, noch eine bewußt zum Sieg führende Leitung besitzt. Der elementare Aufstand genießt die wohlwollende Anerkennung der offiziellen Historiker, wenigstens der demokratischen, als unabwendbares Übel, für das die Verantwortung auf das alte Regime fällt. (...) Was sie als “Blanquismus” oder noch schlimmer als Bolschewismus verneint, ist die bewußte Vorbereitung der Umwälzung, der Plan, die Verschwörung.”2 [96]2 

 

 

 

 

 

Das ist es, was die Bourgeoisie so wütend macht: die Kühnheit, mit der ihr die Arbeiterklasse die Macht aus den Händen riß. Die Bourgeoisie auf der ganzen Welt wußte, daß ein Aufstand bevorsteht. Aber sie wußte nicht, wann und wo der Feind zuschlagen würde. Bei seinem entscheidenden Schlag profitierte das Proletariat voll und ganz vom Überraschungseffekt, daß es den Zeitpunkt und das Kampfterrain selbst wählte. Die Bourgeoisie hoffte, ihr Feind sei so naiv und “demokratiegläubig”, öffentlich, auf den Allrussischen Sowjetkongress in Petrograd in Gegenwart der herrschenden Klasse, anzukündigen, wann und wo er losschlägt. Dort gedachte sie, die Entscheidung und Durchführung des Aufstandes sabotieren und beeinflussen zu können. Aber als die Kongressdelegierten in der Hauptstadt ankamen, war der Aufstand schon voll im Gange, die Herrschaft der Ausbeuter wankte schon. Das Petrograder Proletariat übergab mittels seines Militärischen Revolutionskomitees dem Sowjetkongress die Macht, und die Bourgeoisie war dagegen machtlos. Putsch! Verschwörung! schrie die Bourgeoisie und schreit es noch heute. Lenins Antwort war: Putsch, Nein! Verschwörung, Ja! Aber eine Verschwörung, die dem Willen der Massen und den Notwendigkeiten des Aufstandes untergeordnet ist. Und Trotzki fügte hinzu: “Je höher die revolutionäre Bewegung ihrem politischen Niveau nach ist, je ernster ihre Führung, einen um so größeren Raum nimmt die Verschwörung im Volksaufstande ein.”

 

 

 

 

 

Ist der Bolschewismus eine Form des Blanquismus? Diese Anklage wird auch heute wieder von den Herrschenden erhoben. “Die Bolschewiki mußten mehr als einmal, schon lange vor der Oktoberumwälzung, die von den Gegnern gegen sie gerichtete Beschuldigung des Verschwörertums und Blanquismus widerlegen. Indes hat niemand einen so unversöhnlichen Kampf gegen das System der reinen Verschwörung geführt wie Lenin. Die Opportunisten der internationalen Sozialdemokratie haben mehr als einmal die alte sozialrevolutionäre Taktik des individuellen Terrors gegen die Agenten des Zarismus in Schutz genommen vor der erbarmungslosen Kritik der Bolschewiki, die dem individualistischen Abenteurertum der Intelligenz den Kurs auf den Massenaufstand entgegenstellten. Während er jedoch alle Abarten des Blanquismus und Anarchismus verwarf, hat Lenin sich keine Minute vor der ‘Heiligkeit’ des Massenaufstandes gebeugt.” Dazu fügte Trotzki weiter an: “Die Verschwörung ersetzt den Aufstand nicht. Die aktive Minderheit des Proletariates, so gut sie auch organisiert sein mag, ist nicht fähig, unabhängig vom Gesamtzustand des Landes die Macht zu ergreifen: in diesem Sinne hat die Geschichte über den Blanquismus ihr Urteil gesprochen. Aber nur in diesem Sinne. Das direkte Theorem behält seine volle Geltung. Zur Machteroberung genügt dem Proletariat nicht der elementare Aufstand. Nötig ist die entsprechende Organisation, nötig der Plan, nötig die Verschwörung. So ist die Leninsche Fragestellung.”2 [96]3                 

 

 

 

 

 

Die Partei und der Aufstand

 

 

 

Es ist wohlbekannt, daß Lenin der erste war, der die volle Klarheit über die Notwendigkeit des Kampfes um die Macht im Oktober aufwies. Er arbeitete an mehreren Aufstandsplänen: Der eine konzentrierte sich auf Finnland und die baltische Flotte, ein anderer auf Moskau. Er trat dafür ein, daß die bolschewistische Partei, und nicht ein Organ der Sowjets den Aufstand organisieren sollte. Die Ereignisse haben allerdings bewiesen, daß die Organisation und die Führung des Aufstands durch ein Organ der Sowjets, konkret durch das militärische Revolutionskomitee, in dem die Partei offensichtlich den dominierenden Einfluss ausübte, den besten Erfolg für das Gelingen des Unternehmens garantierte, da sich die Klasse als ganzes, und nicht lediglich Sympathisanten der Partei durch die revolutionären Einheitsorgane vertreten sah.

 

 

 

 

 

Gemäß den bürgerlichen Historikern offenbarte allerdings der Vorschlag Lenins, daß für ihn die Revolution nicht die Angelegenheit der Massen, sondern eine Privatsache der Partei gewesen sei. Weshalb, so fragen sie, habe er sich so sehr gegen ein Abwarten des Sowjetkongresses zur Entscheidung des Aufstandes zur Wehr gesetzt. Lenins Haltung war in völliger Übereinstimmung mit der von Marx und fußte auf einem historisch begründeten tiefen Vertrauen in die proletarischen Massen. “Es wäre verderblich oder ein rein formales Herangehen, wollten wir die unsichere Abstimmung am 25. Oktober abwarten, das Volk hat das Recht und die Pflicht, solche Fragen nicht durch Abstimmungen, sondern durch Gewalt zu entscheiden; das Volk hat das Recht und die Pflicht, in kritischen Augenblicken der Revolution seinen Vertretern, selbst seinen besten Vertreter, die Richtung zu weisen und nicht auf sie zu warten. Das hat die Geschichte aller Revolutionen bewiesen, und maßlos wäre das Verbrechen der Revolutionäre, wenn sie den Augenblick vorübergehen ließen, obwohl sie wissen, daß die Rettung der Revolution, das Friedensangebot, die Rettung Petrograds, die Rettung vor dem Hunger, die Übergabe des Grund und Bodens an die Bauern von ihnen abhängen. Die Regierung wankt. Man muß ihr den Rest geben, koste es, was es wolle!”2 [96]4

 

 

 

 

 

In Tat und Wahrheit stimmten alle Führer der Bolschewiki darin überein, die kaum eroberte Macht unmittelbar an den Sowjetkongress ganz Rußlands zu übergeben, wer auch immer der Dirigent des Aufstandes sei. Die Partei war sich sehr wohl bewußt, daß die Revolution weder das Werk der Partei allein noch einzelner Arbeiter von Petrograd, sondern der gesamten Arbeiterklasse ist. Was jedoch die Frage der Inszenierung des Aufstandes selbst betrifft, so hat Lenin richtigerweise hervorgehoben, daß hier die geeignetsten Klassenorgane eine zentrale Rolle spielen sollten, nämlich diejenigen, die befähigt waren, die Aufgabe politisch und militärisch zu planen und die politische Führung der Kämpfe zu übernehmen. Die Ereignisse haben bewiesen, daß Trotzki richtig lag, als er für diese Aufgabe die Bildung eines speziellen Organs der Sowjets vorschlug, in dem die Partei direkten Einfluß ausüben konnte. Es handelte sich hier nicht nur um eine prinzipielle Auseinandersetzung, sondern um die vitale Frage der politischen Effizienz. Lenin wollte nicht den Sowjetapparat als ganzes mit dem Aufstand betrauen, weil dies den Aufstand fatal verzögert und dem Feind die Pläne enthüllt hätte. Diese tiefe Sorge Lenins war vollkommen richtig. Die schmerzhafte Erfahrung der Russischen Revolution war notwendig, damit die Kommunistische Linke einige Jahre später klar festhalten konnte, daß zwar die Partei die politische Führung sowohl im Kampf um die Macht als auch in der Diktatur des Proletariats ausüben müsse, nicht aber die Macht übernehmen dürfe. In dieser Frage wiesen 1917 weder Lenin und die anderen Bolschewiki noch die Spartakisten in Deutschland Klarheit auf, und sie waren dazu auch noch nicht in der Lage. Was jedoch die ”Kunst des Aufstands” selbst betrifft, so gibt es heute keinen Revolutionär, von dem man mehr lernen könnte als von Lenin, insbesondere was die revolutionäre Geduld, die Vorsicht bei der Vermeidung verfrühter Auseinandersetzungen sowie die revolutionäre Kühnheit bei der Machtergreifung anbelangt. Lenin lag richtig, als er die Rolle der Partei im eigentlichen Aufstand thematisierte: Die Massen übernehmen die Macht, die Sowjets garantieren die Organisation, die Partei jedoch ist die unentbehrlichste Waffe im Kampf um die Macht. Im Juli 1917 ersparte die Partei der Klasse eine entscheidende Niederlage. Im Oktober 1917 führte die Partei die Klasse auf dem Weg zur Machtergreifung. Ohne diese unentbehrliche Führung hätte es keine Machtergreifung gegeben.

 

 

 

 

 

Lenin gegen Stalin

 

 

 

Die Bourgeoisie streicht schließlich ihr Hauptargument hervor: Die Oktoberrevolution habe ja zum Stalinismus geführt. Es waren jedoch die bürgerliche Konterrevolution, die Niederlage der Weltrevolution in Westeuropa, die Invasion und internationale Isolierung der Sowjetunion, die Unterstützung der nationalistischen Bürokratie in Rußland gegen die Arbeiterklasse und die Bolschewiki durch die Weltbourgeoisie, die zum Stalinismus führten. Man muß sich unbedingt vergegenwärtigen, daß sich sowohl in den entscheidenden Wochen des Oktobers 1917 als auch bereits in den Monaten zuvor innerhalb der bolschewistischen Partei eine Strömung manifestierte, die das Gewicht der bürgerlichen Ideologie widerspiegelte und sich gegen den Aufstand stellte. Stalin war zu jener Zeit bereits ein gefährlicher Exponent dieser Strömung. Im März 1917 war Stalin das Sprachrohr derjenigen Strömung innerhalb der Partei, die die internationalistische Position verlassen, die provisorische Regierung mit ihrer kriegtreiberischen Politik unterstützen und schließlich die Fusion mit den Menschewiki herbeiführen wollte. Als sich Lenin in den Wochen vor dem Aufstand öffentlich dafür aussprach, ließ Stalin in seiner Funktion als Herausgeber der Parteipresse die Artikel von Lenin absichtlich verspätet erscheinen, während er die Beiträge von Sinowjew und Kamenew, die gegen den Aufstand gerichtet waren, vorzog und so den Eindruck erweckte, als würden sie die Position des Bolschewismus repräsentieren. Lenin drohte daraufhin sogar mit seinem Rücktritt aus dem Zentralkomitee. Stalin fuhr jedoch mit seinem Manöver fort und behauptete, daß Lenin, Sinowjew und Kamenew dieselbe Position vertreten würden, während ersterer die Gesamtheit der Partei in der Frage des unmittelbaren Aufstandes hinter sich hatte, sabotierten letztere offen die Entscheide der Partei. Während des Aufstandes selbst verschwand Stalin von der Bildfläche, um abzuwarten, auf welche Seite der Wind drehen würde, ohne sich vorher zu stark zu exponieren. Der Kampf Lenins und der Partei gegen den ”Stalinismus”, gegen die Manipulationen, gegen die hinterhältige Sabotage des Aufstandes (im Unterschied zu Sinowjew und Kamenew, die wenigstens offen agierten) wurde innerhalb der Partei in Lenins letzten Lebensjahren wieder aufgenommen, allerdings unter historisch unendlich schlechteren Bedingungen.

 

 

 

 

 

Der Kulminationspunkt der Menschheitsgeschichte

 

 

 

Weit davon entfernt ein simpler Staatsstreich zu sein, wie dies die herrschende Klasse lügnerisch behauptet, war die Oktoberrevolution der Kulminationspunkt der bisherigen Menschheitsgeschichte. Erstmals in der Geschichte zeigte eine ausgebeutete Klasse den Mut und die Fähigkeit, den Ausbeutern die Macht zu entreißen und die proletarische Weltrevolution einzuleiten. Obgleich zwar die Revolution bald Niederlagen erlitt, zuerst in Berlin, dann in Budapest und Turin, und obgleich die Arbeiterklasse einen schrecklichen Preis für diese Niederlagen bezahlen mußte (Horror der Konterrevolution, weiterer Weltkrieg, allgemeine Barbarei), gelang es der Bourgeoisie dennoch nicht, dieses außergewöhnliche Ereignis und seine Lehren aus dem Gedächtnis der Arbeiterklasse zu löschen. In der heutigen Zeit existieren in der herrschenden Klasse nur noch die schlimmsten Ideologien und Zerfallsgedanken wie der zügellose Individualismus, der Nihilismus, Obskurantismus. Es blühen reaktionäre Visionen wie der Rassismus und Nationalismus, der Mystizismus und der Oekologismus. In einer Zeit, in der die letzten Spuren eines Glaubens an den Fortschritt der Menschheit verschwunden sind, zeigt uns der Scheinwerfer des Roten Oktobers nach wie vor den Weg. Die Erinnerung an den Oktober ist da, um der Arbeiterklasse zu vergegenwärtigen, daß die Zukunft der Menschheit in ihren Händen ruht und daß sie die große Aufgabe lösen kann. Den Klassenkampf des Proletariats, die Wiederaneignung der eigenen Geschichte, die Verteidigung und die Entwicklung der wissenschaftlichen Methode des Marxismus beinhaltet das Programm des Oktobers. Dies ist das Programm für die Zukunft der Menschheit. Wie Trotzki im Schlußwort seiner großen Geschichte der Russischen Revolution schreibt: “Den historischen Aufstieg der Menschheit kann man, im ganzen genommen, resümieren als eine Kette von Siegen des Bewußtseins über die blinden Kräfte - in Natur, Gesellschaft und im Menschen selbst. Der kritische und schöpferische Gedanke konnte sich bis auf den heutigen Tag der größten Erfolge rühmen im Kampfe mit der Natur. Die physikalisch-chemischen Wissenschaften sind bereits an dem Punkt angelangt, wo der Mensch sich offensichtlich anschickt, Herr der Materie zu werden. Die gesellschaftlichen Beziehungen jedoch gestalten sich noch immer in der Art von Koralleninseln. Der Parlamentarismus hat ein Licht nur auf die Oberfläche der Gesellschaft geworfen, und auch da nur ein recht künstliches Licht. Im Vergleich zur Monarchie und anderen Erbschaften von Menschenfresserei und wildem Höhlenzustand stellt die Demokratie gewiß eine große Errungenschaft dar. Doch läßt sie das blinde Spiel der Kräfte in den sozialen Wechselbeziehungen der Menschen unberührt. Gerade gegen dieses tiefste Gebiet des Unbewußten erhob zum erstenmal die Hand die Oktoberumwälzung. Das Sowjetsystem will Ziel und Plan hineintragen in das Fundament der Gesellschaft, wo bis jetzt nur angehäufte Folgen herrschten.”

 

 

Kr.

 

 

 

 

 

(aus Internationale Revue Nr. 20, Herbst 1997)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1 [96] Lenin, Ges. Werke, Bd. 26, S. 14

2 [96] Lenin, a.a.O.

 

 

3 [96] Lenin, a.a.O. S. 178

 

 

4 [96] Lenin, a.a.O. S. 169

 

 

5 [96] Lenin, a.a.O. S. 191 f.

 

 

6 [96] Lenin, a.a.O. S. 130 f., “Brief an die Petrograder Stadtkonferenz”

7 [96] Trotzki, “Die Lehren des Oktobers”, 1924, Kap. “Vom Oktoberumsturz”

8 [96] Trotzki, a.a.O., Kap. “Es ist notwendig, den Oktoberumsturz zu studieren”

9 [96] Lenin, “Thesen zum Referat in der Konferenz der Petersburger Organisation am 8. Oktober”, Ges. Werke, Bd. 26, Seite 128

10 [96] Trotzki, “Die Lehren des Oktobers”, Kapitel: “Die Oktoberrevolution und die “Legalität” der Sowjets”

11 [96] Trotzki, “Geschichte der Russischen Revolution”, Fischer Taschenbuchausgabe 1973, Seite 758

12 [96] Trotzki, ebenda, Seite 780

13 [96] Trotzki, ebenda, Seite 788 f.

14 [96] Lenin, “Eine der Kernfragen der Revolution”, Ges. Werke, Bd. 25, Seite 382

15 [96] Trotzki, ebenda, Seite 933 f.

16 [96] Trotzki, ebenda, Seite 935 ff.

17 [96] Trotzki, ebenda, Seite 821

18 [96] Lenin, Ges. Werke, Bd. 26, Seite 198 und 195

19 [96] Trotzki, ebenda, Seite 839

20 [96] Lenin, “Ratschläge eines Außenstehenden”, Ges. Werke, Bd. 26, Seite 167-168

21 [96] Trotzki, ebenda, Seite. 833

22 [96] Trotzki, ebenda, Seite 833

23 [96] Trotzki, ebenda, Seiten 832 ff.

24 [96] Lenin, Ges. Werke, Bd. 26, S. 224

Polemik: Haben wir uns in den 80er Jahren getäuscht? Die CWO und der historische Kurs: ein Berg von Widersprüchen

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In der Nr. 5 von Revolutionary Perspectives (RP), dem Organ der Communist Workers Organisation (CWO) findet man einen Artikel mit dem Titel „Sekten, Lügen und die verlorene Perspektive der IKS“. Dieser Artikel versteht sich als eine Antwort auf unseren Text „Eine kopflose Umgruppierungspolitik“ in der Internationalen Revue Nr. 87 (franz,. engl,. span.). Unser Artikel selbst, auf den sich die CWO bezieht, ist eine Antwort auf einen Brief der CWO, der in derselben Internationalen Revue Nr. 87 abgedruckt ist. Der Artikel der CWO in RP 5 schneidet viele Fragen an, im besonderen die Frage der Methode zur Formierung der kommunistischen Organisationen, auf die wir in anderen Artikeln eingehen werden. Im folgenden jedoch wollen wir uns auf einen Aspekt der Polemik der CWO konzentrieren: die Idee, nach der die IKS aufgrund von Irrtümern in ihrer Analyse über die historische Perspektive in einer Krise stecke. In mehreren Artikeln der Internationalen Revue, sowie auch in unserer territorialen Presse[i] [97], haben wir über die Krise, mit der, wie es die CWO in ihrem Artikel feststellt, unsere Organisation in der vergangenen Zeit konfrontiert war und die sich in einem Verlust von einigen Genossen unserer französischen Sektion niedergeschlagen hat, Bilanz gezogen. Die IKS hatte die Gründe ihrer organisatorischen Schwierigkeiten erkannt: das Weiterbestehen von Überbleibseln des Zirkelgeistes innerhalb der Organisation. Ein Resultat der historischen Bedingungen, unter denen unsere Organisation nach der längsten und tiefsten konterrevolutionären Phase, die die Geschichte der Arbeiterbewegung je gekannt hat, gegründet worden war. Das Aufrechterhalten dieses Zirkelgeistes hatte im besonderen zur Bildung von Clans innerhalb der Organisation geführt, die das Organisationsgewebe schwerwiegend untergraben hatten. Seit dem Herbst 1993 führte die gesamte IKS einen Kampf gegen ihre Schwächen, und unser 11. Kongreß vom Frühling 1995 konnte feststellen, daß diese im wesentlichen überwunden sind.[ii] [98]

Die CWO hingegen hat für die organisatorischen Schwierigkeiten der IKS eine andere Erklärung bereit: „(...) die gegenwärtige Krise der IKS ist (...) das Resultat (...) einer politischen Demoralisierung. Der wahre Grund dafür ist der, daß die Perspektiven, auf denen die IKS gegründet wurde, nun schlußendlich, angesichts der Realität, welche die IKS jahrelang immer zu ignorieren versucht hat, zusammengebrochen sind. Tatsächlich paßt das, was wir schon zur früheren Abspaltung von 1981 gesagt hatten auch zur heutigen Krise: „Die Gründe der gegenwärtigen Krise sind über einige Jahre hinweg entstanden und sind in den Grundsatzpositionen der Gruppe zu suchen. Die IKS behauptet, daß die ökonomische Krise mit all ihren Widersprüchen „hier ist“, und dies bereits seit mehr als 12 Jahren. Sie sehen revolutionäres Bewußtsein direkt und spontan aus den Kämpfen der Arbeiter gegen die Auswirkungen der Krise entspringen. Es überrascht uns deshalb nicht, daß wenn die Krise nicht das von der IKS prophezeite Niveau von Klassenkämpfen hervorruft, es zu Spaltungen in der Organisation kommt.“ (Workers Voice Nr. 5)

Seit damals hat sich die Lage der Arbeiterklasse verschlechtert, und sie wurde in die Defensive gedrängt. Statt dies zuzugeben, behauptete die IKS während der 80er Jahre, wir würden durch die „Jahre der Wahrheit“ schreiten, welche uns hin zu immer größeren Klassenkonfrontationen führen (...). Der offensichtliche Widerspruch zwischen der IKS-Perspektive und der kapitalistischen Realität hätte die momentane Krise schon früher ausgelöst, wäre nicht der Zusammenbruch des Stalinismus dazwischen gekommen. Dieses einmalige historische Ereignis ließ die Diskussion über den historischen Kurs in dem Masse vollständig untergehen, wie eine Erschütterung von solchem Umfang für eine bestimmte Zeit den Kurs der Bourgeoisie in Richtung Krieg zurückgestoßen hat und gleichzeitig der Arbeiterklasse erlaubte, mehr Zeit zu haben, um sich wieder zu formieren, bevor die neuen Angriffe des Kapitals wieder breite soziale Konflikte auf internationaler Ebene notwendig machten. Es gab der IKS ebenso eine Chance, sich vor den Konsequenzen der „Jahre-der-Wahrheit“-Perspektiven zu drücken. Wie auch immer, die Probleme sind in ihrem Ursprung nicht gelöst. Für die IKS endete 1968 die Konterrevolution und eröffnete die Phase, in der das Proletariat seine historische Rolle übernehmen könne. Wohin hat diese Konfrontation fast 30 Jahre später (d.h. mehr als eine Generation!) geführt? Dies war die Frage, die wir der IKS 1981 gestellt hatten und die ihr noch heute wie ein Gespenst im Nacken sitzt.

Die IKS weiß dies, und in der Absicht, weitere Demoralisierungen zu vermeiden, ist sie auf der Suche nach einem altbewährten Sündenbock. Die IKS ist nicht bereit, ihre aktuelle Krise als ein Ergebnis ihrer eigenen politischen Irrtümer zu betrachten. Deshalb hat sie, und dies nicht zum ersten Mal, versucht, die Realität auf den Kopf zu stellen und beharrt darauf, daß die Probleme mit denen sie konfrontiert ist, von „parsitären“ Elementen außerhalb der Organisation kommen, die sie organisatorisch unterwandern würden.“

Die Leser unserer Presse konnten jedoch immer feststellen, daß wir in Wirklichkeit unsere internen organisatorischen Schwierigkeiten niemals den Aktivitäten von parasitären Elementen zugeschoben haben. Entweder lügt die CWO absichtlich (und in diesem Fall würden wir sie fragen weshalb?) oder sie hat das, was wir geschrieben haben sehr oberflächlich gelesen (und in diesem Falle würden wir ihren Genossen raten, sich neue Brillen zu kaufen). Auf jeden Fall ist eine solche Behauptung erdrückender Beweis für das Fehlen einer Genauigkeit, die in der politischen Debatte absolut erforderlich ist. Dies wollen wir jedoch beiseite lassen und zum Kern der Differenzen zwischen der IKS und der CWO (und dem Internationalen Büro für die Revolutionäre Partei, IBRP) kommen. Vor allem aber wollen wir in diesem Artikel die Frage aufgreifen, ob die Perspektiven der IKS für den Klassenkampf gescheitert sind.[iii] [99]

Sind die Perspektiven der IKS bankrott?

Um über die Gültigkeit der Perspektive, die wir für die 80er Jahre aufgezeichnet haben, zu entscheiden, ist es notwendig, zu betrachten was wir zu Beginn des Jahrzehnts geschrieben hatten:

„(...) solange die Lösung der Krise möglich schien, hat sie (die Bourgeoisie) die Ausgebeuteten mit illusorischen Versprechungen eingeschläfert: „akzeptiert heute die Austeritätsmassnahmen und morgen wird`s besser gehen“ (...)

Da heute die Versprechungen einer „goldenen Zukunft“ niemanden mehr täuschen, hat die herrschende Klasse andere Register gezogen. Jetzt fängt sie an, das Gegenteil zu versprechen, indem sie laut behauptet, das Schlimmste stände noch vor uns. Man könne aber daran nichts ausrichten, es sei „die Schuld der anderen“, daß es keinen anderen Ausweg gebe (...). So ist die Bourgeoisie - während sie ihre eigenen Illusionen verliert - gleichzeitig immer mehr dazu gezwungen, der Arbeiterklasse gegenüber klar von der Zukunft zu reden, die sie ihr anzubieten hat.

(...) Wenn die Bourgeoisie einerseits der Menschheit keine andere Zukunft als den totalen Krieg anbieten kann, so zeigen andererseits die sich heute entwickelnden Kämpfe, daß das Proletariat nicht willens ist, der Bourgeoisie freien Spielraum zu lassen und daß es eine andere Zukunft anzubieten hat. Eine Zukunft, in der es weder Krieg noch Ausbeutung geben wird: den Kommunismus.

In dem jetzt angebrochenen Jahrzehnt wird sich somit diese Alternative entscheiden: entweder setzt das Proletariat seine Offensive fort, lähmt weiterhin die Mörderhand des zugrundegehenden Kapitalismus und sammelt seine Kräfte für dessen Umsturz, oder es läßt sich in der Falle fangen, erschöpfen, und durch die Reden und die Unterdrückung seitens der Bourgeoise demoralisieren. Somit wäre der Weg frei zu einem neuen Holocaust, der die ganze menschliche Gesellschaft auszulöschen droht. Wenn die 70er Jahre sowohl für die Bourgeoise wie auch für das Proletariat die Jahre der Illusionen waren, so werden die 80er Jahre die Jahre der Wahrheit sein, weil sich die Wirklichkeit dieser Welt vollständig entblößen, und weil sich in diesen Jahren zum Großteil die Zukunft der Menschheit entscheiden wird.“ [iv] [100]             

Wie die CWO schreibt, haben wir diese Analyse durch die ganzen 80er Jahre hindurch aufrechterhalten. Dabei war jeder internationale Kongreß, den wir in dieser Periode abgehalten haben, eine Gelegenheit für die IKS, die Gültigkeit dieser Analyse zu bestätigen.

„Zu Anfang der 80er Jahre bezeichneten wir das neue Jahrzehnt als die „Jahre der Wahrheit“ (...) Nach den ersten drei Jahren dieses Jahrzehnts kann man feststellen, daß sich diese Aussage voll bestätigt hat: noch nie war die Sackgasse, in der sich die kapitalistische Wirtschaft befindet, seit den 30er Jahren so deutlich vor Augen getreten; noch nie hat die Bourgeoisie seit dem letzten Weltkrieg solche Waffenarsenale entwickelt, soviel für die Produktion von Zerstörungsmitteln mobilisiert, und seit den 20er Jahren hat das Proletariat noch nie solche Kämpfe mit der Schlagkraft entfaltet wie 1980-81(...).“[v] [101]

Während dieses Kongresses unterstrichen wir aber auch gleichzeitig die Tatsache, daß das Weltproletariat durch den staatlichen Ausnahmezustand in Polen soeben eine große Niederlage erlitten hatte:

„Während die Jahre 1978 bis 80 durch ein weltweites Auftreten von Arbeiterstreiks gekennzeichnet waren (Streiks der Rotterdamer Hafenarbeiter, Stahlarbeiter in Großbritannien, Metallarbeiter in der BRD und Brasilien, die Zusammenstöße in Denain-Longwy in Frankreich, die Massenstreiks in Polen), gab es 1981 und 82 einen deutlichen Rückfluß im Klassenkampf. Dieses Phänomen hat sich besonders in den „klassischen“ kapitalistischen Ländern wie zum Beispiel in Großbritannien gezeigt, wo es 1981 die geringste Zahl von Streiktagen seit 1945 gab, wogegen sie 1979 mit 29 Millionen Streiktagen einen Höchststand seit dem Jahr des Generalstreiks von 1926 erreicht hatten. So kamen die Ausrufung des Kriegsrechts in Polen sowie die gewaltige Repression nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Der tiefste Punkt der Niederlage der Arbeiter nach dem Sommer 1980, die Kriegserklärung im Dezember 1981, war Teil einer Niederlage des gesamten Proletariats. (...)

Egal wie schwerwiegend die Niederlage der Arbeiterklasse während der letzten Jahre war, sie stellt den historischen Kurs nicht in Frage, da:

- die entscheidenden Bataillone des Weltproletariats nicht an vorderster Front standen:

- die Krise, die nun voll in den Metropolen des Kapitalismus zuschlägt, das Proletariat dieser Metropolen zwingen wird, ihre Kampfreserven, die nämlich bislang noch nicht entscheidend gefordert wurden, voll zur Geltung zu bringen.“

Schon drei Monate später sollte diese Prognose bestätigt werden. Im September 1983 in Belgien und kurz darauf in Holland traten die Arbeiter der öffentlichen Dienste massiv in den Kampf[vi] [102]. Diese Kämpfe blieben nicht isoliert. Nur einige Monate später ergriffen soziale Bewegungen die Mehrheit der fortgeschrittenen Länder: Deutschland, Großbritannien, Frankreich, USA, Schweden, Spanien, Italien und Japan[vii] [103]. Selten konnte man eine derartige internationale Gleichzeitigkeit in den Klassenauseinandersetzungen beobachten, und die Bourgeoisie organisierte in all diesen Ländern ein fast totales Blackout über diese Bewegungen. Ganz offensichtlich hielt sich die herrschende Klasse nicht mit verschränkten Armen zurück, sondern organisierte eine ganze Reihe von Kampagnen und Manövern. Dies vor allem mittels der Gewerkschaften, indem sie die Arbeiter entmutigten, ihre Kämpfe zerstückelten und sie in koorporatistische und sektorielle Sackgassen lenkten. Dies führte während des Jahres 1985 zu einem Rückgang der Arbeiterkämpfe in den wichtigsten europäischen Ländern, vor allem dort, wo die Kämpfe in den vorangegangenen Jahren am heftigsten gewesen waren. Gleichzeitig verstärkten aber all diese Manöver das steigende Mißtrauen gegenüber den Gewerkschaften im Proletariat der meisten fortgeschrittenen Ländern noch. Dies stellte schon immer ein bedeutender Faktor im Bewusstseinsprozess der Arbeiterklasse dar, seit die Gewerkschaften ihr schlimmster Feind sind, der die Aufgabe hat, die Kämpfe des Proletariats von innen zu sabotieren.           

„Aus all diesen Gründen, ist das sich entwickelnde Mißtrauen gegenüber den Gewerkschaften ein wichtiges Element im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, und damit der gesamten historischen Situation. Dieses Mißtrauen selbst ist ein entscheidender Grund für den Rückgang der Kämpfe in verschiedenen Ländern. Vor allem dort, wo die Gewerkschaften am meisten diskreditiert sind (wie in Frankreich, infolge der ungewollten Regierungsübernahme durch die Linke 1981). Wenn die Arbeiter während Jahrzehnten die Illusion hatten, es seien nur Kämpfe im Rahmen der Gewerkschaften und mit deren Unterstützung möglich, so ist der Verlust von Vertrauen in diese Organe für den Moment mit einem Verlust auch in die eigene Stärke verbunden und bringt sie dazu, all den sogenannten „Aufrufen zum Kampf“ mit Passivität zu begegnen[viii] [104]. Die wichtigen Kämpfe, die sich wenig später in zwei Ländern entwickelten, die noch 1985 durch eine geringe Kampfbereitschaft aufgefallen waren, Frankreich (vor allem die Eisenbahnerstreiks im Dezember 1986) und Italien 1987 (dort vor allem im Ausbildungsbereich, aber auch bei den Transportarbeitern) waren der Beweis dafür, daß die Kampfwelle, die im September 1983 in Belgien begonnen hatte, sich fortsetzte. Dies wurde sechs Monate später genau in Belgien durch eine sechs Wochen andauernde Bewegung von Kämpfen bestätigt (April - Mai 86). Die wohl bedeutendste Welle seit Ende des Zweiten Weltkrieges, da sie den öffentlichen Sektor, den privaten Sektor und auch die Arbeitslosen umfaßte, das ökonomische Leben fast vollständig blockierte und damit die Regierung zwang, eine Reihe von Angriffen, die sie vorbereitet hatte, zurückzustellen. Während derselben Periode (1986-87) entfalteten sich auch in den skandinavischen Ländern bedeutende Kämpfe (in Finnland und Norwegen zu Beginn des Jahres 1986, und in Schweden im Herbst 1986), in den USA (im Sommer 1986), in Brasilien (eineinhalb Millionen Streikende im Oktober 1986 und massive Kämpfe vom April bis Mai 1987), in Griechenland (2 Millionen Streikende im Januar 1987), in Jugoslawien (Frühling 1987), in Mexiko, in Südafrika, usw. Auch den spontanen Streik von 140`000 Beschäftigten bei British Telecom Ende Januar 1987, der außerhalb der Gewerkschaften stattfand, gilt es hervorzuheben.

Die Bourgeoisie reagierte auf diese Kampfbereitschaft erneut mit ausgedehnten Manövern. Das Ziel dabei war die Spaltung mittels aufgeblähter ideologischer Kampagnen über den „islamischen Terrorismus“, den „Frieden“ zwischen den Großmächten (Unterzeichnung der SALT Verträge zur Reduzierung der Atomwaffen), das Trachten des Volkes nach „Freiheit und Demokratie“ (die internationale „Glasnost“ Kampagne Gorbatschows), die Ökologie und über die „humanitären“ militärischen Interventionen in der Dritten Welt[ix] [105]. Daneben wurden aber auch Kampagnen gestartet, um den Mißkredit gegenüber klassischen Gewerkschaften mittels neuer gewerkschaftlicher Formen („Kampf-“ und „Basisgewerkschaften“, ect.) wieder gut zu machen. Der bedeutendste Ausdruck dieses bürgerlichen Manövers (meist von linken Organisationen, oft aber auch von Gewerkschaftern und traditionellen linken Parteien, wie den Stalinisten oder der Sozialdemokratie, inszeniert) war die Bildung der „Koordinationen“ in den zwei Ländern, in denen die klassischen Gewerkschaften am stärksten angeschlagen waren: in Italien (dort vor allem in Transportsektor) und in Frankreich (an erster Stelle während des wichtigen Streiks in den Krankenhäusern, im Herbst 1988)[x] [106]. Eine der Funktionen dieser Organisationen, die sich als „Ausdruck der Basis“ und als „Gegen-Gewerkschaften“ ausgaben, war das einschleichen des korporatistsichen Giftes in die Reihen der Arbeiterklasse, mit dem Argument, die Gewerkschaften würden die Interessen der Arbeiter deshalb nicht vertreten, weil sie nach Branchen und nicht nach Berufen organisiert seien.

Diese Manöver hatten eine Wirkung, die wir damals beschrieben: „Dank dieser Manövrierfähigkeit der Bourgeoisie hat sie es bislang geschafft, den Prozeß der Ausdehnung und Vereinigung, der im Mittelpunkt dieser Kampfwelle steht, einzudämmen.“[xi] [107] Bezüglich der Schwierigkeiten, mit denen die Arbeiterklasse zu kämpfen hatte, erinnerten wir an „das Gewicht des ideologischen Zerfalls der Gesellschaft, auf das sich die Manöver der Bourgeoisie stützen und noch mehr stützen werden, um die Atomisierung, das „Jeder für sich“ noch mehr zu verstärken und das wachsende Selbstvertrauen der Arbeiter in ihre eigene Kraft und die Zukunft ihres Kampfes zu schwächen.“ (dito)

Wir hoben ebenfalls hervor, daß, auch wenn „das Phänomen des Zerfalls ein schwerwiegendes Gewicht in der heutigen Periode darstellt, dies auch in Zukunft bleiben wird,“ und „dies eine große Gefahr für die Arbeiterklasse ist, (...) diese Feststellung jedoch keinesfalls eine Quelle der Entmutigung und Skepsis sein darf.“ Denn „während der 80er Jahre war das Proletariat fähig, auch trotz dieses negativen Gewichts des Zerfalls, das systematisch von der herrschenden Klasse ausgenützt wurde, seine Kämpfe als eine Antwort auf die Folgen der Vertiefung der Krise zu entwickeln...“ [xii] [108]

Diese Analyse vom Stand des Klassenkampfes machten wir nur einige Monate vor einem der wohl bedeutendsten Ereignisse der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg: dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime in Europa und der UdSSR.

Die IKS hat dieses Ereignis nicht vorausgesehen (so wie auch die anderen Organisationen des revolutionären Milieus oder die „Experten“ der Bourgeoise nicht). Trotzdem waren wir im September 1989, zwei Monate vor den Fall der Berliner Mauer, eine der ersten, die diese Ereignisse einordnen konnten[xiii] [109]. Wir beschrieben den Zusammenbruch des Ostblocks als den bisher klarsten Ausdruck des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft. In diesem Sinne gingen wir sofort davon aus, daß dieses Ereignis „die Arbeiterklasse vor eine schwierige Lage“[xiv] [110] stellen würde. In Übereinstimmung mit unseren bisherigen Analysen schrieben wir: „Die systematische Gleichstellung des Kommunismus mit Stalinismus, die tausendmal wiederholte und auch heute noch verbreitete Lüge, derzufolge die proletarische Revolution nur scheitern kann, wird mit dem Zusammenbruch des Stalinismus noch eine Zeitlang eine Wirkung in den Reihen der Arbeiterklasse haben. Deshalb kann man mit einem vorübergehendes Rückgang des Bewußtseins der Arbeiter rechnen (...) Insbesondere die reformistische Ideologie wird noch sehr stark auf den Kämpfen der nächsten Zeit lasten, wodurch die Aktionen der Gewerkschaften begünstigt werden. Aufgrund der geschichtlichen Bedeutung der genannten Faktoren wird der gegenwärtige Rückfluß des Klassenkampfes - ungeachtet der Tatsache, daß er den historischen Kurs, die allgemeine Perspektive breiter Zusammenstöße zwischen den Klassen, nicht in Frage stellt - weitreichender sein als der Rückfluß, der die Niederlage in Polen 1981 begleitet hatte.“[xv] [111].

Es ist in der Tat ein wenig leichtfertig, wenn die CWO behauptet, daß der Zusammenbruch des Stalinismus „der IKS erlaubt hat, sich mit Verrenkungen aus den Konsequenzen der Perspektive der „Jahre der Wahrheit“ herauszuwinden.“  In keiner Weise, etwa um ein Scheitern unserer Analyse über die Kämpfe der 80er Jahren zu übertünchen, haben wir erklärt, daß die Ereignisse von 1989 einen Rückschlag für die Arbeiterklasse mit sich bringen werden. Wie schon aufgezeigt, haben wir uns diese These nicht einfach aufgesetzt wie einem Hasen einen Hut, sondern sie steht in absoluter Übereinstimmung mit dem generellen Rahmen unserer Analyse. Wenn die 80er Jahre mit einer Reihe von Niederlagen für die Arbeiterklasse zu Ende gingen, so beweist dies keineswegs etwa die Falschheit unserer Analyse über die historische Periode, wie die CWO behauptet.

Erstens kann man sich bei einer solchen Behauptung nicht auf das Auftauchen eines Ereignisses stützen, das niemand voraussehen konnte (auch wenn der Marxismus es erlaubt, im nachhinein eine Erklärung zu liefern). Haben die Revolutionäre des 19. Jahrhunderts eines der wohl bedeutendsten Ereignisse ihres Jahrhunderts vorhersehen können: die Pariser Kommune von 1870? Hat Lenin vorhersehen können, was einige Wochen später, die Februarrevolution 1917 in Rußland, Vorläufer des Roten Oktobers, geschah, als er zu jungen Arbeitern in der Schweiz sagte: „Wir, die Alten, werden vielleicht die entscheidenden Kämpfe dieser kommenden Revolution nicht erleben“ („Ein Vortrag über die Revolution von 1905“, 9. Januar 1917, MEW Bd. 23, S. 261) In jedem Falle jedoch ist es die Aufgabe der Marxisten, rasch auf unvorhergesehene Ereignisse zu reagieren und unverzüglich Lehren und Konsequenzen daraus zu ziehen. Dies tat auch Marx, noch bevor die Kommune niedergeschlagen war („Der Bürgerkrieg in Frankreich“). Und auch Lenin, sobald er Neuigkeiten über die Februarrevolution erhalten hatte, schrieb seine „Briefe aus der Ferne“ und die „Aprilthesen“. Wir selbst haben seit Ende Sommer 1989 hervorgehoben, welche Auswirkungen die Ereignisse im Osten sowohl auf die imperialistischen Widersprüche als auch auf die Entwicklung des Klassenkampfes haben werden.

Dies bedeutet, daß die wenn auch unvorhergesehenen Erschütterungen von 1989 unsere Analyse von Ende 1979 nicht in Frage stellen: „so werden die 80er Jahre die Jahre der Wahrheit sein, (...) weil sich in diesen Jahren zum Großteil die Zukunft der Menschheit entscheiden wird“.

Tatsächlich stand in dieser Periode ein Teil der historischen Perspektive auf dem Spiel. Zu Beginn der 80er Jahre führte die Bourgeoise - vor allem im Westen - gleichzeitig von einer massiven Aufrüstung begleitet, enorme Kampagnen durch, um die Arbeiterklasse mit dem Ziel eines neuen Weltkrieges hinter sich zu scharen. Dabei versuchte die herrschende Klasse, von der Niederlage der polnischen Arbeiter 1981 zu profitieren, die erstens eine große Verwirrung unter den Arbeitern im Westen auslöste und es ihr möglich machte, das „Reich des Teufels“ anzuklagen (wie Reagan es ausdrückte). Die Kampfwelle von 1983 hat dies zunichte gemacht. Noch weniger als in den 70er Jahren, war die Arbeiterklasse der zentralen Länder bereit, sich für einen generalisierten Krieg mobilisieren zu lassen.

Die Unfähigkeit der Bourgeoisie, ihre eigene Antwort auf die Krise ihres Systems zu geben - der imperialistische Krieg - und die Tatsache, daß die Arbeiterklasse gleichzeitig auch nicht in der Lage war, ihre eigene revolutionäre Perspektive zu entfalten, hat die kapitalistische Gesellschaft in die Phase des Zerfalls geführt[xvi] [112]. Einer der deutlichsten Ausdrücke davon war eben gerade der Kollaps des stalinistischen Regime, der auch die Möglichkeit eines neuen Weltkrieges deutlich verringert hat.

Die 80er Jahre endeten unerwarteterweise mit den Zusammenbruch des Ostblocks und all seinen Auswirkungen, mit einer unvorhergesehnen Bestätigung der Realität des dekadenten Kapitalismus: ein unbeschreibliches Chaos und eine Barbarei, die sich tagtäglich verschärft.

Die Blindheit der CWO und des IBRP  

Wie man sehen kann, steht die These der CWO über den „Bankrott der Perspektiven der IKS“ nicht auf dem Boden der Tatsachen und auch nicht auf unserer eigenen Analyse. Wenn es eine Organisation gibt, die gegenüber den Ereignissen der 80er Jahre blind war, so ist dies nicht die IKS, sondern die CWO (und das IBRP) selbst. Eine Organisation, welche die Ereignisse der damaligen Periode mit folgenden Worten beschreibt:

„(...) 1976 gelang es der herrschenden Klasse mittels den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie, den sozialen Frieden wieder herzustellen. Dies war ein sozialer Frieden, der durch große Kämpfe der Arbeiterklasse unterbrochen wurde (Polen 1980-81, die belgischen Hafenarbeiter 1983 und der Streik der britischen Bergarbeiter 1984-85). Wie auch immer, es gab keine internationale Welle von Streiks wie 1968-74, und all diese Bewegungen endeten in einem noch größeren Rückzug der Arbeiterklasse gegenüber den kapitalistischen Angriffen.“ [xvii] [113]

Eine solche Behauptung macht geradezu sprachlos. Nur um einige Beispiele zu geben: Die CWO erinnert lediglich an den Streik der Hafenarbeiter 1983 in Belgien und vergißt dabei, daß der gesamte öffentliche Sektor miteinbezogen war. Für sie existieren offenbar die Kämpfe im Frühling 1986 nicht, die im selben Land ausbrachen und eine viel größere Bedeutung hatten (1 Million Arbeiter beteiligten sich daran, in einem Land, das weniger als 10 Millionen Einwohner zählt). Desgleichen die Streiks im öffentlichen Sektor in Holland im Herbst 1983, die wichtigsten seit 1903, sie wurden von der CWO offensichtlich gar nicht bemerkt. Man könnte meinen, daß die Blindheit der CWO daher rührt, daß sie selbst, wie auch die andere Organisation des IBRP, Battaglia Comunista, in diesen Ländern nicht präsent ist, und dass sie, wie die große Mehrheit des Weltproletariates, Opfer der international durch die Medien der Bourgeoise organisierten Nachrichtensperre waren, indem diese die sich entfaltenden sozialen Bewegungen verschwiegen. Selbst wenn dies der Fall wäre, eine Entschuldigung ist es keineswegs: Eine revolutionäre Organisation darf sich, um die Situation des Klassenkampfes zu analysieren, nicht nur damit zufriedengeben, die Zeitungen in den Ländern zu lesen, in denen sie präsent ist. Sie soll sich auch auf die Informationen aus der Presse anderer revolutionärer Organisationen stützen, beispielsweise der unseren, welche über solche Ereignisse berichtet. Und genau dort liegt auch das Problem: es ist nicht die IKS, die mit „den objektiven Widersprüchen zwischen (ihren) Perspektiven und der kapitalistischen Realität“ konfrontiert ist. Es ist auch nicht die IKS, die „während Jahren versucht hat die Realität zu ignorieren“ um die Irrtümer ihrer Perspektive zu vertuschen, wie es die CWO behauptet - es ist die CWO selbst. Der beste Beweis dafür: Wenn die CWO über die „großen Kämpfe der Arbeiterklasse“ redet, welche in Großbritannien den „sozialen Frieden unterbrochen haben“, dann beziehen sie sich lediglich auf den Bergarbeiterstreik von 1984-85 und ignorieren vollständig die herausragenden Mobilisierungen von 1979, die größten seit einem halben Jahrhundert. Auch beziehen sie sich auch nicht auf die wichtige Bewegung in den Schulen Italiens 1987, selbst wenn die Schwesterorganisation der CWO, Battaglia Comunista, sich dabei an vorderster Front befand.

Wie läßt sich die Blindheit oder mehr noch der Unwille der CWO, die Realität zu sehen, erklären? Es ist die CWO, die uns eine Antwort darauf gibt (indem sie dies der IKS unterstellt), weil diese Realität ihre eigenen Perspektiven widerlegt hat. Vor allem aber hat die CWO, sowie auch das IBRP, die Frage des historischen Kurses nie wirklich begriffen.

Das IBRP und der historische Kurs

Der Polemik mit dem IBRP über den historischen Kurs hat die IKS, vor allem in der Internationalen Revue, schon zahlreiche Artikel gewidmet[xviii] [114]. Wir wollen hier nicht auf alles bei diesen Gelegenheiten Geschriebene zurückkommen, bei dem es vor allem um das Fehlen einer Methode beim IBRP geht, die historische Periode einzuschätzen, in der die heutigen Arbeiterkämpfe stattfinden. Eines soll jedoch kurz gesagt sein: Das IBRP verwirft sogar den Begriff des historischen Kurses, so wie er während der 30er Jahre von der Linken Fraktion der Kommunistischen Partei Italiens entwickelt worden war. Nur so konnte die Fraktion damals verstehen, daß der Kurs Richtung Krieg und der Kurs in Richtung Klassenkonfrontationen nicht parallel laufen können, sondern sich gegenseitig ausschließen. Und somit konnte die Fraktion in einer Phase der tiefen Konterrevolution, sobald der Kapitalismus 1929 in eine neue offene ökonomische Krise fiel, auch die Unabwendbarkeit eines zweiten Weltkrieges voraussehen.

Für das IBRP „geht der Akkumulationszyklus, der nach den Zweiten Weltkrieg begonnen hatte, seinem Ende zu. Der Aufschwung nach dem Krieg hat seit langem der globalen Krise Platz gemacht. Erneut steht die Frage des imperialistischen Krieges oder der proletarischen Revolution auf der Tagesordnung der Geschichte.“ (Plattform des IBRP von 1994, übersetzt durch uns) Aber gleichzeitig anerkennt das IBRP heute (was damals nicht der Fall war), daß „auf internationaler Ebene eine massive Antwort der Arbeiter auf die Angriffe der kapitalistischen Krise Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre“ stattfand. („Perspectives of the CWO“, Revolutionary Perspectives Nr. 5 ) Dennoch hat sich das IBRP immer geweigert zu anerkennen, daß der Kapitalismus Ende der 60er Jahre deshalb nicht in einen neuen imperialistischen Weltkrieg gefallen ist, weil die Antwort der Arbeiterklasse auf die ersten Attacken der Krise ein Beweis dafür ist, daß diese nicht bereit ist, sich wie in den 30er Jahren in einen neuen Holocaust mobilisieren zu lassen. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage „weshalb der Weltkrieg noch nicht ausgebrochen ist“, auch wenn „auf objektiver Ebene alle Gründe für das Auslösen eines generalisierten Krieges vorhanden sind“, beginnt die theoretische Zeitschrift von Battaglia Comunista Prometeo (Nr. 11, Dezember 1987) mit der Behauptung: „Es ist klar, daß nie ein Krieg geführt werden konnte ohne die Bereitschaft des Proletariats und der anderen arbeitenden Klassen, sowohl zum Kampf als auch zur Kriegsproduktion. Es ist offensichtlich: Ohne williges und kontrolliertes Proletariat wird kein Krieg möglich sein. Und es ist ebenfalls offensichtlich, daß ein Proletariat, das voll im Begriff ist, den Kampf wieder aufzunehmen, Zeichen des Aufstiegs einer Gegentendenz ist: Zeichen der Antithese des Krieges, des Marsches hin zur sozialistischen Revolution.“ Dies ist haargenau die Art und Weise, wie auch wir, die IKS, uns die Frage stellen. Doch ist es ebenfalls genau dieselbe Methode, welche in einem in Battaglia Comunista Nr. 83 (März 1987) veröffentlichten und in Englisch im Organ des IBRP Communist Review Nr. 5 unter dem Titel „Die IKS und der „historische Kurs“: eine falsche Methode“ wiederaufgenommenen Artikel kritisiert wird. In diesem Artikel kann man unter anderem folgendes lesen: „Die Form des Krieges, seine technischen Mittel, sein Tempo, seine Charakteristiken im Vergleich zur Bevölkerung als Ganzes, haben sich stark geändert seit 1939. Genauer, der Krieg braucht heute weniger den Konsens oder die Passivität der Arbeiterklasse als die Kriege von gestern (...) Kriegsaktionen sind möglich ohne die Zustimmung des Proletariates.“ Verstehe dies wer wolle! Vor allem ist nun offensichtlich, daß das IBRP nicht genau weiß, wovon es spricht. Zusammenhänge sind auf jeden Fall nicht gerade das Steckenpferd des IBRP.

Auch die Art und Weise, wie das IBRP auf die Krise die zum Golfkrieg 1991 führte, reagiert hat, ist ein weiterer Beweis dieses Mangels an Kohärenz. In der Englischen Ausführung eines Aufrufs des IBRP zu diesen Ereignissen (die Italienische Version ist nicht identisch!) kann man folgendes lesen: „Wir müssen die Kriegspläne und Vorbereitungen (unseres „eigenen“ Staates) bekämpfen (...) Allen Versuchen, neue Streitkräfte zu schicken, muss zum Beispiel mit Streiks in den Häfen und Flughäfen begegnet werden (...) wir rufen die britischen Ölarbeiter in der Nordsee dazu auf, ihren Kampf zu verstärken und die Bosse an einer Erweiterung der Produktion zu hindern. Dieser Streik muss auf alle Ölarbeiter ausgeweitet werden und auch auf alle anderen Arbeiter.“ (Workers Voice, Nr. 53) Wenn jedoch „Kriegsaktionen möglich sind, ohne die Zustimmung des Proletariates“, welchen Sinn macht dann ein solcher Aufruf? Kann uns die CWO dies erklären?

Kommen wir zurück auf den Artikel in Prometeo Nr. 11, in dem zu Beginn noch mit denselben Worten wie bei der IKS an diese Frage herangegangen wird. Dort steht folgendes: „Die Tendenz Richtung Krieg schreitet rasch voran, das Niveau der Klassenauseinandersetzung jedoch ist absolut unter dem Stand, den es zum Zurückschlagen der schweren Angriffe gegen das internationale Proletariat erfordert.“ Für das IBRP ist es demnach nicht der Klassenkampf, der eine Antwort auf die von ihm selbst gestellte Frage „weshalb ist der Weltkrieg noch nicht ausgebrochen?“ eine Antwort gibt. Die zwei Antworten, die das IBRP, gibt sind folgende:

- die militärischen Bündnisse sind noch nicht genug entwickelt und instabil;

- die Atomwaffen sind für die herrschende Klasse ein abschreckender Faktor, da sie für das Überleben der Menschheit eine Bedrohung darstellen[xix] [115].

In der Internationalen Revue Nr. 54 (engl,. franz,. span.) haben wir auf diese „Argumente“ eine ausführliche Antwort gegeben. Wir beschränken uns hier darauf, zu erinnern, daß das zweite Argument eine für Marxisten absolut unzulängliche Konzession an die bürgerlichen Kampagnen ist, die Atomwaffen immer als einen Garanten für den Weltfrieden darstellen. Ihr erstes Argument wurde durch das IBRP selbst verworfen, indem sie bei Ausbruch des Golfkrieges schrieben: „Der Dritte Weltkrieg hat am 17. Januar begonnen“ (Battaglia Comunista, vom Januar 1991), obwohl die Bündnisse, welche die Erde mehr als ein halbes Jahrhundert dominiert hatten, zu diesem Zeitpunkt gerade am Auseinanderfallen waren. Das IBRP kam später erneut auf diese Analyse des bevorstehenden Krieges zurück. In den Perspektiven der CWO zum Beispiel steht heute: „Ein generalisierter Krieg zwischen den führenden imperialistischen Mächten ist hinausgeschoben worden.“ Das Problem liegt bei der unglücklichen Gewohnheit des IBRP, widersprüchliche Analysen zu machen. Offensichtlich schützt sie dies vor solchen Fehlern, wie die an der IKS kritisierte Aufrechterhaltung derselben Analyse während der gesamten 80er Jahre. Nun, ein Zeichen von Überlegenheit gegenüber der Methode der IKS ist das aber wohl kaum.

Die CWO wird uns vermutlich erneut der Lügen beschuldigen, so wie sie das schon des öfteren in ihren Polemiken getan hat. Sie wird vielleicht den großen Regenschirm der „Dialektik“ öffnen, um zu beweisen, daß alles was sie (oder das IBRP) sagt, mitnichten widersprüchlich sei. Beim IBRP hat die „Dialektik“ ein dickes Fell. Doch in der marxistischen Methode hat Dialektik nie bedeutet, eine Sache zu behaupten und gleichzeitig genau dessen Gegenteil.

„Verfälschung“ wird die CWO rufen. Doch laßt uns noch ein Beispiel nicht bezüglich einer zweitrangigen oder zufälligen Frage geben (wo Widersprüche leichter verzeihbar sind), sondern anhand einer ganz grundsätzlichen Frage: Ist die Konterrevolution zu Ende, welche nach der Niederlage der revolutionären Welle nach dem Ersten Weltkrieg auf die Arbeiter niederprasselte?

Gehen wir davon aus, daß eine Antwort auf die soeben von uns gestellte Frage vorhanden ist, dies auch wenn das IBRP nicht fähig ist, eine klare und kohärente Antwort auf die Frage des historischen Kurses zu geben[xx] [116].

Eine solche Antwort findet man jedoch weder in der Plattform des IBRP von 1994, noch in den „Perspektiven“ der CWO vom Dezember 1996. Beides Orte, an denen dafür Platz hätte eingeräumt werden müssen. In anderen Texten aber sind wir der Antworten fündig geworden:

- Im Artikel von Revolutionary Perspectives Nr. 5, aus dem wir schon zitiert haben, scheint die CWO zu behaupten, daß die Konterrevolution noch nicht beendet ist, weil sie die Idee der IKS verwirft, nach der „der Mai 1968 der Konterrevolution ein Ende gesetzt hat“;

- diese Behauptung scheint mit den Thesen übereinzustimmen, welche vom 5. Kongreß von Battaglia Comunista, auch wenn nicht klar ausgedrückt, 1982 angenommen wurden (siehe Prometeo Nr. 7): „wenn das Proletariat heute, mit der Tiefe der Krise konfrontiert und den wiederholten Angriffen der Bourgeoisie ausgesetzt, sich noch nicht als fähig gezeigt hat zu antworten, dann heißt dies ganz einfach, daß die langandauernde Arbeit der weltweiten Konterrevolution noch im Bewußtsein der Arbeiter aktiv ist.“

Hält man sich an diese zwei Texte, so könnte man sagen, es herrsche eine gewisse Gradlinigkeit in der Vision des IBRP: das Proletariat hat die Konterrevolution noch nicht überwunden. Nun besteht aber das Problem darin, daß man 1987 in „Die IKS und der historische Kurs: eine verwirrte Methode“ (Communist Review, Nr. 5) folgendes lesen kann: „Die Periode der Konterevolution, welche auf die Niederlage der Oktoberrevolution folgte, ist zu Ende“, und „es gibt keine fehlenden Zeichen einer Wiederaufnahme des Kampfes, und wir müssen diese auch nicht hervorheben.“

So gibt es offenbar auch auf eine so einfache Frage nicht eine Position des IBRP, sondern mehrere Positionen. Versuchen wir die verschiedenen veröffentlichten Texte der Organisationen, die das IBRP bilden, zusammenzufassen, so läßt sich ihre Analyse folgendermaßen umschreiben:

- „Die Bewegungen, die sich 1968 in Frankreich, 1969 in Italien, sowie in anderen Ländern entfaltet haben, sind in ihrem Wesen Revolten des Kleinbürgertums“ (Position von Battaglia Comunista zu jener Zeit), aber sie sind dennoch „eine massive internationale Antwort der Arbeiter auf die Angriffe der kapitalistischen Krise“ (CWO, Dezember 1996);

- „die lange Arbeit der Konterrevolution ist im Bewußtsein der Arbeiter noch aktiv“ (Battaglia Comunista, 1982), doch ist „die Periode der Konterevolution, welche auf die Niederlage der Oktoberrevolution folgte zu Ende“ (Battaglia Comunista 1987), was mitnichten in Frage stellt, daß die gegenwärtige Periode „eine Fortsetzung der kapitalistischen Herrschaft ist, welche, nur sporadisch angegriffen, seit Ende der revolutionären Welle, die dem Ersten Weltkrieg folgte, regiert.“ (CWO 1988, in einem an die CBG geschickten und in deren Bulletin Nr. 13 veröffentlichten Brief);

- „seit 1976 (und bis heute) war die herrschende Klasse (...) fähig, erneut den sozialen Frieden einzuführen“ (CWO, Dezember 1996), wohingegen „diese Kämpfe (die Bewegung der COBAS 1987 in den Schulen in Italien und die Streiks im selben Jahr in Großbritannien) Bestätigungen  für den Beginn einer Periode sind, die durch ein Hervortreten der Klassenkonflikte gezeichnet ist“. (Battaglia Comunista, Nr. 3, März 1988)

Auf den ersten Blick könnte man nun davon ausgehen, daß diese verschiedenen widersprüchlichen Positionen auf bestehende Divergenzen zwischen der CWO und Battaglia Comunista zurückzuführen sind. Seit solche Feststellungen jedoch offenbar „Verleumdungen“ der IKS sind, die dazu einladen „ihr den Mund zu stopfen“, wenn sie solche Ideen verbreitet („Sekten, Lügen und die verlorene Perspektive der IKS“, RP Nr. 5), dürfen wir solche Sachen natürlich nicht mehr sagen! Seit es offenbar keine Differenzen mehr gibt zwischen den zwei Organisationen, müssen wir nun eben davon ausgehen, daß im Kopf jedes Militanten des IBRP solche widersprüchlichen Positionen vorhanden sind. Wir selbst zweifeln daran, doch ist es die Aufgabe der CWO, uns dies zu beweisen.

Sollten all diese Widersprüche für die Militanten des IBRP nicht ein Anstoß zum Nachdenken sein? Diese Genossen sind fähig zu klaren und kohärenten Gedanken. Doch weshalb enden sie beim Versuch, die gegenwärtige Periode zu analysieren, in einem solchen Durcheinander? Ist es nicht gerade aufgrund ihres unzweckmäßigen Rahmens, und weil sie im Namen der „Dialektik“ die marxistische Genauigkeit hinter sich lassen, um dafür im Immediatismus und Empirismus zu versinken, wie wir das schon in anderen Polemiken aufgezeigt haben.

Es steckt aber auch noch etwas anderes hinter den Schwierigkeiten des IBRP, den gegenwärtigen Stand des Klassenkampfes kohärent und klar anzupacken: eine konfuse Analyse der Gewerkschaftsfrage, die sie unfähig macht, zum Beispiel gerade die Wichtigkeit des Phänomens des Imageverlustes der Gewerkschaften während der 80er Jahre zu begreifen. Wir werden auch auf diese Frage in einem späteren Artikel zurückkommen.

Im Moment können wir der CWO jedoch schon folgende Antwort geben: Die IKS machte nicht aufgrund ihrer Analyse der gegenwärtigen historischen Periode oder des Standes des Klassenkampfes die Krise durch, von der wir in unserer Presse berichtet haben. Für eine revolutionäre Organisation gibt es - im Gegensatz zu dem was die CWO, welche seit 1981 immerfort dieselbe Diagnose stellt, denkt - auch andere Faktoren der Krise. Dabei im speziellen organisatorische Fragen. Dies hat uns, nebst vielen anderen Beispielen, die Krise der SDAPR (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands) nach ihrem 2. Kongreß 1903 gezeigt. Wie auch immer, wir erlauben uns, die CWO (und auch das IBRP) brüderlich zu warnen: Wenn für sie eine fehlerhafte Analyse der historischen Situation der alleinige oder wichtigste Grund für die Krise einer Organisation darstellt (möglicherweise aufgrund ihrer eigenen Erfahrung), dann sollten sie sehr vorsichtig sein. Durch die Anhäufung von Ungenauigkeiten in ihrer eigenen Analyse befinden sie sich demnach in größter Gefahr.

Dies ist gewiß nicht unser Wunsch. Wir hoffen, daß die CWO und das IBRP ein für alle Mal mit ihrem Immediatismus und Empirismus brechen und die besten Traditionen der Kommunistischen Linken und des Marxismus wieder aufnehmen.            

                                                                                                                     Fabienne

 

      

          



[i] [117] Siehe unseren Artikel über den 11. Kongreß der IKS in der Internationalen Revue Nr. 16.

[ii] [118] a. a. O.

[iii] [119] Wir wollen die CWO darauf hinweisen, daß wenn sie die Probleme, mit denen die IKS konfrontiert war, aufgreifen will, es für sie ratsam wäre, die Analyse, welche wir davon gemacht haben, zuerst seriös zu studieren und nicht ihre eigenen Vermutungen als Ausgangspunkt zu verwenden. Die Analyse der organisatorischen Krise der IKS wurde in unserer Presse veröffentlicht. Falls die CWO glaubt, mehr darüber zu wissen als wir selbst, sollten sie zumindest (falls sie dazu fähig sind) aufzeigen, wo diese Analyse fehlerhaft ist.

[iv] [120] Internationale Revue Nr. 5: „Die 80er Jahre: Jahre der Wahrheit“

[v] [121] „Resolution zur internationalen Lage“,  5. Kongreß der IKS, Juli 1983, Weltrevolution Nr. 12

[vi] [122] Siehe den Artikel: „Belgien -  Holland, Krise und Klassenkampf“ , Internationale Revue Nr. 38 (engl., franz., span.)

[vii] [123] Zu den Charakteristiken und der Ausdehnung dieser Kämpfe, siehe unseren Artikel „Gleichzeitigkeit der Arbeiterkämpfe: welche Perspektive?“ Internationale Revue Nr. 38 (engl., franz., span.)

[viii] [124] „Resolution zur internationalen Lage“, angenommen am 6. Kongreß der IKS, Internationale Revue Nr. 44 (engl., franz., span.)

[ix] [125] Siehe dazu unseren Artikel „Die Manöver der Bourgeoisie gegen die Vereinigung der Arbeiterkämpfe“, Internationale Revue Nr. 58 (engl., franz., span.)

[x] [126] Siehe unseren Artikel „Frankreich, die „Koordinationen“ als Speerspitze der Sabotage der Kämpfe“, Internationale Revue Nr. 58 (engl., franz., span.) 

[xi] [127] „Resolution zur internationalen Situation“ vom 8. Kongreß der IKS, Internationale Revue Nr. 11

[xii] [128] „Präsentation der Resolution zur internationalen Lage“, Internationale Revue Nr. 59 (engl., franz., span.)

[xiii] [129] Siehe: „Thesen zur ökonomischen und politischen Krise in der SU und den osteuropäischen Ländern“, Internationale Revue Nr. 12

[xiv] [130] Titel eines Artikels vom November 1989 in der Internationalen Revue Nr. 12

[xv] [131] Aus den „Thesen“, Punkt 22. Auch wenn wir im Herbst 1989 den Rückfluß des Klassenbewußtsein vorausgesagt hatten, was sich seither bestätigte und auch in unserer Presse unterstrichen wurde, erlaubt sich die CWO in der Antwort an einen Leser folgendes  zu schreiben: „Sie (die IKS), glaubt immer noch, entgegen allen Offensichtlichkeiten, daß wir uns in einer Phase des hohen Klassenbewußtseins befinden. Alles was die Revolutionäre zu tun hätten, sei die Arbeiter über den Mythos der Gewerkschaften aufzuklären, und der Weg zur Revolution sei offen.“  Offenbar ist es einfacher die Argumente des Gegenübers zu entstellen und verfälschen, um sie widerlegen zu können. Nur ist dies für die Debatte nicht sehr hilfreich!

[xvi] [132] Siehe dazu unsere Analyse des Zerfalls des Kapitalismus: „Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft“, Internationale Revue Nr. 13

[xvii] [133] „Perspektiven der CWO“, angenommen durch die Generalversammlung der CWO im Dezember 1996, Revolutionary Perspectives Nr. 5

[xviii] [134] Internationale Revue Nr. 36, 41, 50, 54, 55, 59, 72. (engl., franz., span.)

[xix] [135] Um es auf den Punkt zu bringen geht Battaglia sogar soweit, zu schreiben: daß „ „ Am Tag nach der Unterzeichnung des Vertrags über den Verzicht auf Atomwaffen wird der Krieg erklärt werden“ - dies ist ein noch gerade klassischer Witz unter uns, der den Geschmack der Wahrheit in sich hat“. (BC,.4, April 1986) Als wäre die Bourgeoisie eine Klasse der „Fairness“, welche ihre Versprechen und Unterschriften auf dem Papier einhalten würde!   

[xx] [136] Das IBRP schreibt in ihrem Artikel „Die IKS und der „historische Kurs“: eine verwirrte Methode“, mit dem es zugleich jegliche Verteidigung eines historischen Kurses verwirft: „Im Gegensatz zu dem von der IKS gestellten Problem, genaue Propheten der Zukunft zu werden, besteht die Schwierigkeit darin, daß die Subjektivität nicht mechanisch den objektiven Bewegungen folgt (...) Niemand kann glauben, daß die Reifung des Bewußtseins (...) exakt auf ein absehbares Datum vorbestimmt ist.“  Wir erwarten keinesfalls von Revolutionären „genaue Propheten der Zukunft zu werden“  oder daß sie „das Bewußtsein auf ein exaktes Datum vorbestimmen“, sondern lediglich, daß sie auf folgende Frage ein Antwort geben können: „Sind die Kämpfe welche sich seit 1968 entwickelt haben nun ein Zeichen dafür, daß die Arbeiterklasse nicht bereit ist, sich in einen Dritten Weltkrieg mobilisieren zu lassen, oder sind sie es nicht? Diese Fragestellung auf den Kopf stellend, beweist das IBRP, entweder nichts verstanden zu haben oder keine Antwort darauf geben zu können.   

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Communist Workers Organisation [137]

Schwarzafrika, Algerien, Naher Osten: Die Großmächte sind die Hauptverantwortlichen für die Massaker

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“Mehr noch als in der Wirtschaft hat das dem Zerfall eigene Chaos Auswirkungen auf die politischen Beziehungen zwischen den Staaten. Zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs des Ostblocks, der zur Auflösung der Allianzen führte, die aus dem 2. Weltkrieg hervorgegangen waren, schrieb die IKS:

- daß diese Lage die Bildung neuer Blöcke auf die Tagesordnung setzte, auch wenn dies noch nicht sofort möglich würde, wobei einer der Blöcke von den USA, der andere von Deutschland angeführt würde;

- daß die neue Lage sofort zu einer Reihe von Zusammenstößen führen würde, die zuvor durch das Abkommen von Jalta in einem für die beiden Gendarmen der Welt in einem “annehmbaren” Rahmen gehalten werden konnten. (...)

“Seitdem ist diese Tendenz des “Jeder gegen Jeden”, des Chaos in den Beziehungen zwischen den Staaten mit seiner Reihe von zeitlich begrenzten und kurzweiligen Bündnissen nicht in Frage gestellt worden, sondern genau das Gegenteil ist eingetreten” (...)

“...dann hat die Tendenz des “Jeder für sich” ziemlich schnell Überhand gewonnen im Verhältnis der Tendenz zur Bildung von festen Blöcken, die als Grundlage zukünftiger imperialistischer Blöcke dienen könnten, wodurch wiederum die militärischen Zusammenstöße zugenommen haben.” (“Resolution über die internationale Lage”, Internationale Revue Nr. 19) 

Dies sind die Worte, mit welchen die IKS an ihrem 12. Kongreß die internationale imperialistische Situation beschrieben hat, eine Auffassung, die in den letzten Monaten durch zahlreiche Ereignisse veranschaulicht und bestätigt worden ist. Die wachsende Instabilität der kapitalistischen Welt drückt sich vor allem in einer Vervielfachung von mörderischen Konflikten an allen Ecken der Welt aus. Diese Verschärfung der kapitalistischen Barbarei ist vor allem das Werk der Großmächte, welche nicht aufhören, uns einerseits “eine Welt des Friedens und Wachstums” zu versprechen, deren immer heftigere und offenere Rivalitäten der Menschheit jedoch immer mehr Tote und eine Verallgemeinerung des Terrors und der Misere bescheren.

“Seitdem die Teilung der Welt in zwei Blöcke aufgehoben ist, wird die Autorität der ersten Großmacht der Welt ständig durch ihre ehemaligen Verbündeten herausgefordert.” Deshalb war diese gezwungen, gegenüber ihren Rivalen und deren imperialistische Interessen in der vergangenen Periode eine “massive Gegenoffensive” zu starten, vor allem im ehemaligen Jugoslawien und in Afrika. Nichtsdestotrotz fahren die ehemaligen Verbündeten der USA fort, diese gerade in deren Jagdgründen wie Lateinamerika und dem Nahen Osten herauszufordern.

Wir können hier nicht alle Zonen der Welt anschneiden, welche unter den Auswirkungen der Tendenz des “Jeder gegen Jeden” und der Zuspitzung der imperialistischen Rivalitäten unter den Großmächten zu leiden haben. Doch wollen wir hier einige Beispiele aufzeigen, welche diese Analyse klar verdeutlichen und die in der letzter Zeit erneut drastisch aufgelodert sind.

Schwarzafrika: um die Interessen Frankreichs steht es schlecht

In der oben zitierten Resolution stellten wir fest, daß die führende Weltmacht “dem Land, das sie am offensten herausgefordert hat, Frankreich, einen Schlag in dem Gebiet versetzen können, das Frankreich bislang als seinen “Hinterhof” bezeichnen konnte - Afrika.” Diese Tatsachen erlaubten uns zu sagen: “Nach dem Zurückdrängen des französischen Einflusses in Ruanda entgleitet jetzt vor allem der Hauptstützpfeiler Frankreichs auf dem Kontinent, Zaire, seiner Kontrolle. Das Regime Mobutus zerfällt immer mehr unter den Auswirkungen der “Rebellion” Kabilas, der massiv von Ruanda und Uganda, d.h. von den USA, unterstützt wird.”

Seither haben Kabilas Horden Mobutu verjagt und in Kinshasa die Macht ergriffen. Durch diesen Sieg und die enormen Massaker an der Zivilbevölkerung, die er mit sich gebracht hatte, ist die direkte und offensive Rolle der USA, vor allem durch die zahlreichen “Berater”, die sie Kabila zur Verfügung gestellt hatten, mittlerweile ein offenes Geheimnis geworden. Gestern war es noch der französische Imperialismus, der die Banden der Hutus bewaffnet und beraten hatte, verantwortlich für die Massaker in Ruanda und zur Destabilisierung des pro-amerikanischen Regimes von Kigali; heute tut Washington dasselbe mit den Tutsi-”Rebellen” Kabilas gegen die Interessen Frankreichs. Zaire ist somit ebenfalls in die Hand der USA gefallen. Frankreich hat dadurch eine entscheidende Bastion verloren, was seine gänzliche Verdrängung aus der “Region der Großen Seen” bedeutet.

Noch mehr, diese Situation hat sofort eine Kettenreaktion von Destabilisierungen in den Nachbarländern hervorgerufen, welche ebenfalls unter der Kontrolle Frankreichs sind. Die Autorität und Glaubwürdigkeit des “französischen Paten” hat in der Region einen schweren Schlag erlitten, was die USA möglichst auszunützen versuchen. Seit einigen Wochen ist auch Kongo-Brazzaville durch einen Krieg zerrissen, den sich die zwei ehemaligen Präsidenten, alle beide  “Geschöpfe” Frankreichs, liefern. Der Druck und die zahlreichen Verhandlungsbemühungen aus Paris brachten bisher keinerlei Erfolg. In Zentralafrika, einem Lande das zurzeit einem blutigen Chaos unterworfen ist, zeigt sich dieselbe Machtlosigkeit. Trotz zweier entschlossener militärischer Interventionen und der Bildung einer “Afrikanischen Eingreiftruppe” zu seiner Stärkung, gelingt es dem französischen Imperialismus nicht, seine Stellungen zu halten. Hinzu kommt noch, daß der zentralafrikanische Präsident Ange Patassé, ein weiteres “Geschöpf” Frankreichs, jetzt mit einer Inanspruchnahme der amerikanischen Hilfe droht, was das Mißtrauen gegenüber dem bisherigen Beschützer zum Ausdruck bringt. Dieser Vertrauensverlust dehnt sich heute über ganz Schwarzafrika aus und droht schließlich auch die treusten Bastionen Frankreichs einzuholen. Der Einfluß Frankreichs schwindet auf dem gesamten Kontinent, wie es zum Beispiel der letzte Jahresbericht der UNO, wo die wichtigen “französischen Vorschläge” zurückgewiesen wurden, deutlich gezeigt hat:

- Einer der Vorschläge betraf die Anerkennung der neuen Macht in Kinshasa, die Paris zurückstellen und an Bedingungen knüpfen wollte: Durch den Druck der USA und deren afrikanische Verbündete erhielt Kabila nicht nur eine sofortige Anerkennung, sondern ebenfalls wirtschaftliche Unterstützung “für den Wiederaufbau seines Landes.”

- Der andere betraf die Ernennung einer neuen Leitung des afrikanischen UNO-Apparates: Der “Kandidat” Frankreichs mußte sich, von seinen “Freunden” im Stich gelassen, noch vor der Wahl zurückziehen.

Der französische Imperialismus verzeichnet gegenwärtig unter den Schlägen und zum Vorteil des amerikanischen Imperialismus auf dem ganzen Kontinent eine Serie von schweren Rückschlägen, und es scheint für Frankreich eine historische Niederlage zu bedeuten, in einem Gebiet, das bis vor kurzem sein Hinterhof war.

“Damit erhält Frankreich von den USA eine besonders harte Bestrafung. Die USA wollen somit exemplarisch gegenüber allen anderen Ländern handeln, die genauso wie Frankreich ständig die USA herausfordern möchten.” (ebenda)

Doch trotz seines Niedergangs hat der französische Imperialismus seine Kräfte zur Verteidigung seiner Interessen nicht gänzlich verloren und verfügt noch über Trümpfe, die er gegen die im Moment erfolgreiche amerikanische Offensive einsetzen kann. Dies vor allem durch das strategische Neuformieren seiner militärischen Kräfte in Afrika. Auch wenn Paris (wie andere) auf diesem Terrain weit davon entfernt ist, mit Washington die Kräfte messen zu können, bedeutet es, daß Frankreich keinesfalls die Hände in den Schoß gelegt hat. Zumindest wird es wie bisher all seine Kraft in Störaktionen zur Behinderung der amerikanischen Politik und deren Interessen einzusetzen wissen. Die Bevölkerung Afrikas hat ihr Leiden unter dem Ringen der großen imperialistischen Gangster noch nicht beendet.

Hinter den Massakern in Algerien: dieselben schäbigen Interessen der “Großen”

Algerien ist ein weiteres Schlachtfeld, das unter der Peitsche des Zerfalls des Kapitalismus zu leiden hat und auf dem die unerbittlichen Interessengegensätze zwischen den Großmächten ausgetragen werden. So versinkt dieses Land seit nahezu fünf Jahren in ein immer blutigeres und barbarischeres Chaos. Die serienmäßigen Abrechnungen, die unaufhörlichen Massaker an der Zivilbevölkerung, die zahlreichen mörderischen Attentate selbst in der Hauptstadt stürzen dieses Land in den Horror und einen alltäglich stattfindenden Terror. Seit 1992, dem Beginn dessen, was die bürgerlichen Medien scheinheilig die “Algerienkrise” nennen, hat die Zahl der Toten zweifellos 100’000 überschritten. Wenn es eine Bevölkerung (und somit ein Proletariat) gibt, die im Krieg zwischen den Fraktionen der herrschenden Klasse regelrecht als Geisel genommen wird, so ist es wahrlich in Algerien. Diejenigen, welche heute täglich morden, welche direkt verantwortlich sind für den Tod von Tausenden von Männern, Frauen, Kindern und alten Leuten, sind ohne Zweifel die bewaffneten Banden im Dienste der verschiedenen heute bestehenden bürgerlichen Lager:

- Die Islamisten, deren unnachgiebigste und fanatischste Fraktion, der GIA, saugt vor allem eine zersetzte, ermüdete und perspektivlose Jugend auf, welche in die Kriminalität zu versinken droht. Perspektivlos aufgrund der heutigen dramatischen Wirtschaftslage Algeriens, die eine Mehrheit der Bevölkerung zu Arbeitslosigkeit, Misere und Hunger verurteilt. Al Wasat, die in London herausgegebene Presse der saudiarabischen Bourgeoisie räumt ein: “Diese Jugend hat zuerst einen Motor dargestellt, dessen sich der FIS bediente um alle einzuschüchtern, welche sich ihm auf  seinem Weg zur Übernahme der Macht entgegenstellten”, aber mehr und mehr sei sie ihm entwichen.

- Der algerische Staat, der, wie jedermann klar erkennen kann, selbst direkt in zahlreiche Massaker verwickelt ist, welche er den “islamischen Terroristen” in die Schuhe schiebt. Die gesammelten Zeugenaussagen über die Schlächterei von Rais, einem Vorort von Algier, mit 200-300 Toten Ende August, beweisen, daß das Regime von Zéroual alles andere als unschuldig ist: “Es dauerte von 22.30 Uhr bis 2.30 Uhr. Sie (die Mörder) konnten sich Zeit lassen. (...) Keine Hilfe ist aufgetaucht. Dies obwohl die Sicherheitskräfte sehr nahe sind. Die ersten, die dann an diesem Morgen erschienen, waren die Feuerwehrleute.” (Zeugenaussagen zitiert aus der Zeitung Le Monde) Es ist heute offensichtlich, daß ein Großteil der sich wiederholenden Schlächterein in Algerien entweder das Werk der staatlichen Sicherheitsdienste oder der “Selbstverteidigungsmilizen” sind, welche von demselben Staat bewaffnet und kontrolliert werden. Diese Milizen sind nicht dazu beauftragt, “über die Sicherheit der Dörfer zu wachen”, wie das Regime glauben machen will, sondern sie stellen für den Staat ein Mittel zur Abriegelung der Bevölkerung dar, eine fürchterliche Waffe zur Eliminierung der Opposition und Durchsetzung seiner Macht mittels Terror.

Gegenüber dieser entsetzlichen Situation hat die “Weltöffentlichkeit”, das heißt vor allem die westlichen Großmächte, begonnen, ihre “Gefühle” zu zeigen. Als der Generalsekretär der UNO, Kofi Annan, versucht, “an die Toleranz und den Dialog” zu appellieren und zu einer “dringenden Lösung” aufruft, bekundet Washington, das sich “entsetzt” zeigt, sofort seine Unterstützung. Der französische Staat auf der anderen Seite, gibt sich mitleidig, verbietet sich jedoch eine “Einmischung in die Angelegenheiten Algeriens”. Die Scheinheiligkeit dieser “großen Demokratien” ist absolut widerlich, da sie immer schlechter ihre Verantwortung am Massaker, welches dieses Land heimsucht, verdecken können. Mit den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse Algeriens als Mittelsmänner liefern sich vor allem die USA und Frankreich seit dem Verschwinden der großen imperialistischen Blöcke einen gnadenlosen Krieg. Ziel dieser schmutzigen Rivalität ist für Frankreich der Verbleib Algeriens in seinem Schosse und für Washington dessen Eroberung zu seinen eigenen Gunsten, oder zumindest das Zurückdrängen des Einflusses seines Rivalen.

Der erste Schachzug in diesem Kampf wurde vom amerikanischen Imperialismus geführt durch seine versteckte Unterstützung der fundamentalistischen Fraktion des FIS (welche ihr mittels der Unterstützung Saudi-Arabiens hörig wurde) bis zu dem Punkt, als diese 1992 die Macht zu ergreifen drohte. Und es war ein regelrechter Staatsstreich des bestehenden Regimes in Algier mit der Unterstützung Frankreichs, der es ermöglichte, die Gefahr, welche für die die Regierung ausübenden Fraktionen und die Interessen Frankreichs bestand, zu beseitigen. Seither hat die Politik des algerischen Staates, vor allem durch das Verbot des FIS und die Jagd und Einkerkerung einer Vielzahl seiner Führer und Militanten, dessen Einfluß in Algerien verringert. Aber auch wenn diese Politik insgesamt erfolgreich war, so ist sie doch eben gerade für das momentane Chaos verantwortlich. Genau dies hat die verschiedenen Fraktionen des FIS in die Illegalität, den Untergrundkampf und ihre terroristischen Aktionen geführt. Heute sind die Islamisten wegen ihrer zahlreichen und abscheulichen Greueltaten in Verruf geraten. Somit kann man feststellen, daß das Regime von Zéroual durch die Unterstützung aus Paris im Moment seine Ziele erreicht hat. Auch der französische Imperialismus machte einen ersten erfolgreichen Schritt der Offensive, der führenden Weltmacht zu widerstehen und seine Interessen in Algerien zu verteidigen. Der Preis dieses “Erfolges” ist die Bevölkerung, welche heute und auch noch morgen dafür den Kopf hinhalten muss. Wenn die USA kürzlich davon gesprochen haben, ihre ganze Unterstützung dem “persönlichen Einsatz” Kofi Annans entgegenzubringen, so bedeutet dies nur, Algerien nicht ohne weiteres aufgeben zu wollen, worauf Chirac auch sofort damit antwortete, jegliche Politik “der Einmischung in die algerischen Angelegenheiten”  schon im voraus zu verurteilen, um so die Bereitschaft zur Verteidigung seines Einflußgebietes klarzustellen.

Naher Osten: anwachsende Probleme für die amerikanische Politik

Auch wenn die zweitrangigen imperialistischen Mächte wie Frankreich Probleme haben, ihre Autorität in ihren traditionellen Einflußgebieten aufrecht zu erhalten und dort unter den Schlägen der USA Rückschritte erleiden, so bleibt auch Amerika nicht vor Schwierigkeiten, gerade in seinen Jagdgründen wie dem Nahen Osten, verschont. Diese Region, über die es seit dem Golfkrieg eine fast ausnahmslose Alleinherrschaft ausübt, ist einer wachsenden Instabilität unterworfen, welche die “pax americana” und die Autorität der USA in Frage stellt. In unserer in diesem Text zitierten Resolution, haben wir eine Reihe von Beispielen angeführt, welche die Anfechtung der amerikanischen Führungsrolle in einigen ihrer Vasallenstaaten dieser Region verdeutlichen. So kam es vor allem im Herbst 1996 zu einer “nahezu einhelligen Verwerfung der Bombardierung des Iraks durch 44 Marschflugkörper”, einer Ablehnung sogar durch sonstige “Getreue” wie Ägypten und Saudi-Arabien. Ein anderes bemerkenswertes Beispiel: “die Regierungsübernahme der Rechten in Israel, die gegen den Willen der USA geschah; seitdem hat die rechte Regierung alles unternommen um den Friedensprozess mit den Palästinensern zu sabotieren, der einer der größten Erfolge der US-Diplomatie war.” Die seither entstandene Lage hat diese Analyse genauestens bestätigt.

Seit letztem März erlitt der “Friedensprozess” mit dem Abbruch der israelisch-palästinensischen Verhandlungen und der durch die Regierung Netanyahou eingeführten zynischen Politik der Kolonisierung der besetzten Gebiete einen entscheidenden Rückschlag. Seither sind die Spannungen in dieser Region angewachsen. Sie zeichneten sich in diesem Sommer vor allem durch eine Reihe von Selbstmordattentaten der Hamas in ganz Jerusalem aus, was dem israelischen Staat Gelegenheit gab, seine Repression gegen die palästinensische Bevölkerung zu verstärken und eine “Blockade der befreiten Gebiete” aufzubauen. Zusätzlich wurde auch eine Serie von zerstörerischen und mörderischen Angriffen der Armee gegen die Hisbollah im Südlibanon durchgeführt. Aufgrund der zunehmenden Entgleisung der Situation bemühte sich das Weiße Haus mit dem Einsatz seiner zwei Hauptdiplomaten Denis Ross und Madeleine Albright, jedoch ohne großen Erfolg. Letztere hat sogar zugegeben, “keine Methode gefunden zu haben, um den Friedensprozess wieder auf die Beine zu bringen”. Tatsächlich bleibt Netanyahou trotz starkem Druck Washingtons taub und führt seine aggressive Politik gegenüber den Palästinensern fort, mit der er die Autorität Arafats ins Wanken bringt und damit dessen Möglichkeiten, Kontrolle über die Palästinenser auszuüben. Von den arabischen Staaten bringen immer mehr ihren Unwillen gegenüber der amerikanischen Politik zum Ausdruck, welche sie beschuldigen, die arabischen Interessen zugunsten Israels zu opfern. Unter den sich der Autorität der USA entgegenstellenden Ländern befindet sich Syrien, welches zur Zeit daran ist, seine wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen zu Teheran auszubauen, und gleichzeitig seine Grenzen zum Irak öffnen will. Und selbst was bis vor kurzen noch unvorstellbar schien, ist mittlerweile im Gange: Saudi-Arabien, “der treuste Verbündete” Amerikas, aber auch  bisher der größte Widersacher des “Regimes der Mullahs”, erneuert seine Beziehungen mit dem Iran. Diese neue Haltung gegenüber dem Iran und dem Irak, zwei Hauptzielscheiben der US-Politik in den letzten Jahren, bedeutet für die USA nicht anderes als eine Herausforderung und schwere Kränkung.

Im Rahmen dieser anwachsenden Schwierigkeiten, mit denen ihr Rivale auf der anderen Seite des Atlantiks konfrontiert ist, zögern die europäischen Bourgeoisien nicht, Öl ins Feuer zu gießen. Schon unsere Resolution hat diesen Aspekt hervorgehoben, und unterstrichen, daß die Anfechtung der amerikanischen Führungsrolle bestätigt wird, “auf der allgemeinen Ebene durch den Verlust der alleinigen Kontrolle in dieser entscheidenden Region, dem Nahen Osten. Die Aufwertung Frankreichs verdeutlicht dies, denn Frankreich hat sich als zweite Kraft bei der Lösung des Konfliktes zwischen Israel und dem Libanon Ende 1995 aufgedrängt”. So konnte man auch während des Sommers beobachten, wie die EU Denis Ross übers Ohr haute und durch seinen “Sondergesandten”, der die Bildung eines “permanenten Sicherheitskomitees” vorschlug, um Israel und der PLO “eine permanente und nicht nur unregelmäßige Zusammenarbeit zu ermöglichen”, einen Keil in die Risse der amerikanischen Diplomatie schlug. Kürzlich heizte auch der französische Außenminister Védrine wieder ein, indem er die Politik Netanyahous als “katastrophal” bezeichnete und damit gleichzeitig die amerikanische Politik angriff. Zusätzlich stellte er deutlich fest, daß der “Friedensprozess gescheitert” sei und “keine Perspektive mehr existiert”. Dies scheint zumindest eine Aufforderung an die Adresse der Palästinenser und alle arabischen Staaten zu sein, sich von den USA und ihrer “pax americana” abzuwenden.

“Deshalb kann man die Erfolge der gegenwärtigen Konteroffensive der USA keinesfalls als endgültig ansehen oder als Überwindung ihrer Führungskrise. Und auch wenn “die rohe Gewalt, die Manöver zur Destabilisierung ihrer Konkurrenten (wie heute in Zaire) mit all den tragischen Folgen deshalb weiter von den USA zum Einsatz kommen”, haben diese Konkurrenten selbst mitnichten aufgehört, all ihre Möglichkeiten zur Sabotage der Politik der Weltmacht in Richtung Alleinherrschaft auszuspielen.

Heutzutage ist kein Imperialismus, selbst der stärkste, vor Sabotageakten seiner Konkurrenten gefeit. Die sicheren Einflusszonen und Jagdgründe drohen zu verschwinden. Es gibt auf diesem Planeten keine “sicheren” Zonen mehr. Mehr als bisher ist die Welt dem zügellosen Gesetz des “Jeder gegen Jeden” ausgeliefert. All dies trägt zu Ausbreitung und Verstärkung des blutigen Chaos bei, in dem der Kapitalismus zu versinken droht.

Elfe, 20. September 1997

Geographisch: 

  • Naher Osten [138]

Internationale Revue - 1998

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Internationale Revue 21

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6. Kongreß des Partito Comunista Internazionalista

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Ein Schritt vorwärts für die Kommunistische Linke

In Prometeo Nr. 13 hat der Partito Comunista Internazionalista - Battaglia Comunista  - PCInt, (nachfolgend als BC abgekürzt) die Dokumente veröffentlicht, die für seinen 6. Kongreß verfaßt worden waren.

Der Kongreß ist der wichtigste Moment im Leben einer revolutionären Organisation. Er ist das souveräne Organ, das gemeinsam Beschlüsse faßt über die Orientierungen, Analysen und programmatischen und organisatorischen Positionen. Als solches ist dies schon Grund genug, um zu den Beschlüssen von BC Stellung zu beziehen. Es gibt jedoch noch einen wichtigeren Grund, dies zu tun: Wir wollen die Gesamtstellungnahme des Kongresses hervorheben, die die Absicht zum Ausdruck bringt, Antworten auf die Fragen und Aufgaben zu liefern, vor denen die Arbeiterklasse und ihre Avantgarde aufgrund der Entwicklung der historischen Situation stehen: „Der Kongreß diente im wesentlichen dazu, im ‘historischen’ Vermächtnis der Partei das festzuschreiben und zu integrieren, was wir untersucht und unseren Kräften gemäß als Antwort gegenüber den ständigen Änderungen der Lage verfaßt haben; auf den Anfang dessen hinzuweisen, was wir als eine neue Phase im politischen Leben der Partei und allgemeiner der Kommunistischen Linken definieren.“ (Prometeo, Nr. 13)

Dieses Bewußtsein von einer ‘neuen Phase’ im politischen Leben von BC und der Kommunistischen Linken bewog BC dazu, einige Teile der programmatischen Plattform und der Umgruppierungskriterien des IBRP (1) zu ändern. Das ist an sich schon ein wesentlicher Fortschritt: wo doch vorher die beiden Organisationen (BC und CWO) (1), die das IBRP bilden, ihre je eigene Plattform hatten und das IBRP nochmals eine eigene. Jetzt dient einzig und allein die IBRP-Plattform als politische Grundlage. Wir begrüßen das als Beitrag zur Klärung und zum politischen Zusammenhalt der revolutionäre Bewegung als ganzes. In der revidierten Plattform von 1994 hat das IBRP schon gewisse Punkte und Kriterien für die Umgruppierung modifiziert. Diese Änderungen damals stellen schon einen Klärungsprozeß für das ganze Milieu dar. Die Tatsache, daß sie nun unzweideutig sowohl vom IBRP als auch von seinen beiden Mitgliedsgruppen angenommen worden sind, gibt ihrer Veröffentlichung 1997 eine zusätzliche Bedeutung. Deshalb meinen wir, daß der Kongreß eine Stärkung des Kampfes der gesamten Kommunistischen Linken für ihre Verteidigung und ihre Entwicklung bedeutet.

Natürlich bedeutet die Begrüßung und die Unterstützung der positiven Bestandteile des Kongresses keinesfalls, daß wir unsere Divergenzen und Kritiken der Dokumente des Kongresses, wenn wir ganz und gar nicht einverstanden sind, beiseite legen. In diesem Artikel wollen wir auf einige dieser Divergenzen hinweisen, aber wir möchten vor allem die Punkte hervorheben, die wir als einen Beitrag für die gesamte proletarische Avantgarde und als eine Stärkung der gemeinsamen Positionen der Kommunistischen Linken ansehen. Nur indem wir von diesem Rahmen ausgehen, können  wir unsere Divergenzen und Kritiken ausarbeiten.

Die Denunzierung der bürgerlichen Verschleierungen

Die Geschichte der Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert hat deutlich gemacht, daß die sogenannte ‘Demokratie’ die Hauptwaffe der Bourgeoisie gegen das Proletariat ist. Das demokratische Schauspiel ermöglicht dem kapitalistischen Staat, die Arbeiter zu täuschen, sie zu spalten und von ihrem Klassenterrain wegzulocken, um dann  anschließend eine unerbittliche Repression zu organisieren, die im allgemeinen der Repression in nichts nachsteht, die von den grausamsten Formen der Diktatur des Kapitals (Faschismus oder Stalinismus) ausgeübt wird.

In der gegenwärtigen Lage ist es auf dem Hintergrund der Desorientierung der Arbeiterklasse (die ihre Ursache im Zusammenbruch der fälschlicherweise als ‘kommunistisch’ bezeichneten Regime des ehemaligen Ostblocks hat und in der antikommunistischen Kampagne, die die Bourgeoisie seitdem organisiert hat) zu einer Verstärkung dieser Verschleierung gekommen. Diese Trommel wird ständig gerührt, um unter Einsatz aller staatlichen Mittel die Arbeiter auf das verrottete Terrain der Verteidigung der ‘Demokratie’ zu locken.

Hinsichtlich der Entschleierung der demokratischen Mystifizierungen enthielt die alte Plattform des IBRP von 1984 (2) Unklarheiten und Lücken. So schwieg das IBRP zu den Wahlen und zum Parlamentarismus. Weiter behauptete es, daß „die demokratische Revolution längst kein gangbarer Weg mehr ist. Man muß sie in den imperialistischen Hochburgen (seit langem) als endgültig abgeschlossen betrachten, und sie kann auch anderswo in der Dekadenz nicht mehr wiederholt werden.“ Wir sind voll damit einverstanden, aber während die ‘demokratische Revolution’ als „unmöglich“ verurteilt wurde, bezog BC keine klare Stellung, ob man einen „taktischen“ Kampf für die „Demokratie“ (3) führen könnte, denn in anderen Texten sprach man von „der Möglichkeit, gewisse demokratische Grundrechte bei der revolutionären politischen Propaganda aufzugreifen.“ In der neuen Fassung der Plattform ist eine wichtige Klärung vollzogen worden:

- Einerseits beschränkt sich das IBRP nicht darauf, die „demokratischen Revolutionen“ zu entblößen, es greift „auch den Kampf für die Demokratie“ an: „Der Zeitraum des demokratischen Kampfes ist seit langem abgeschlossen; er kann in der imperialistischen Ära nicht wiederholt werden.“

- Darüber hinaus hat das IBRP einen Absatz hinzugefügt, der eine ausdrückliche Verwerfung der Wahlen beinhaltet: „Die Taktik der revolutionären Partei richtet sich auf die Zerstörung des Staates und die Errichtung der Diktatur des Proletariats aus. Die Kommunisten machen sich keine Illusionen über die Möglichkeit der Eroberung der Freiheit für die Arbeiter, indem man eine Mehrheit im Parlament gewinnt.“

- Konkreter gesagt, hat das IBRP einen anderen Absatz hinzugefügt, wo es sagt, daß „die parlamentarische Demokratie das Feigenblatt darstellt, welches die Scham der bürgerlichen Diktatur bedeckt. Die wirklichen Machtorgane der kapitalistischen Gesellschaft befinden sich außerhalb des Parlamentes.“

Das IBRP hat die ‘Thesen zur Demokratie’ des 1. Kongresses der Komintern wieder aufgegriffen und sich an diese bei ihren Analysen und Perspektiven fest angelehnt. Unserer Meinung nach fehlt jedoch eine ausdrückliche Verurteilung der Wahlen. Zum Beispiel verwirft das IBRP nicht die Theorie des revolutionären Parlamentarismus, die von der Komintern vertreten wurde. Diese Theorie behauptete, daß das Parlament ein Deckmantel war für die Ausübung der bürgerlichen Herrschaft und daß man die Macht nicht durch den parlamentarischen Weg ergreifen konnte. Aber diese Theorie trat für die ‘revolutionäre’ Benutzung des Parlamentes als Agitationsbühne und als ein Mittel der Entblößung ein. Diese damals schon falsche Position ist heute konterrevolutionär; sie wird von den Trotzkisten benutzt, um die Arbeiter wieder zur Wahlbeteiligung zu bewegen.

Des weiteren hat das IBRP den Absatz aufrechterhalten, der sich auf die „Forderung bestimmter Grundfreiheiten (als ein Teil) der revolutionären Propaganda“ bezieht. Wovon spricht das IBRP? Meint es, wie es die Gruppe FOR (4) machte, daß - selbst wenn man die parlamentarische Demokratie und die Wahlen verwerfen müsse - es noch bestimmte ‘Grundfreiheiten’ gebe wie die Versammlungsfreiheit und die Freiheit des Zusammenschlusses usw., die die Arbeiterklasse versuchen sollte, als ersten Schritt in ihrem Kampf legal zu erkämpfen? Meint es, wie einige radikale trotzkistische Gruppen, daß diese ‘Mindestfreiheiten’ ein Bestandteil ihrer Agitation sein müssen, die, auch wenn sie im Kapitalismus nicht durchgesetzt werden können, ihrer Verteidigung dienen, ‘um das Bewußtsein voranzutreiben’? Es wäre gut, wenn das IBRP diese Frage klären könnte.

Die Gewerkschaftsfrage

BC hatte schon eine ziemlich klare Position zur Gewerkschaftsfrage hinsichtlich der Verwerfung der traditionellen bürgerlichen Position bezogen, derzufolge die Gewerkschaften irgendwie ‘neutrale’ Organe seien, und deren Orientierung hin zur Arbeiterklasse oder zur Bourgeoisie von denjenigen abhänge, die an ihrer Spitze stünden. Diese Position wurde in der Plattform von 1984 klar verworfen: „Es ist unmöglich, die Gewerkschaften zu erobern oder sie zu verändern: Die proletarische Revolution muß notwendigerweise über deren Leichnam hinweggehen.“

In der 1997 verabschiedeten Plattform gibt es einige Änderungen, die auf den ersten Blick relativ geringfügig erscheinen. Das IBRP hat einen Absatz aus der Plattform von 1984  gestrichen, der in der Praxis die theoretisch formulierte Klarheit wieder untergrub: „Im Rahmen dieser Prinzipien [wie oben erwähnt, Verwerfung jeder Möglichkeit der Eroberung oder Änderung der Gewerkschaften] ist die Möglichkeit unterschiedlicher konkreter Aktionen hinsichtlich der Arbeit der Kommunisten in den Gewerkschaften eine Frage, die in den Bereich der taktischen Erwägungen der Partei fällt.“ Es scheint uns völlig richtig zu sein, diesen Absatz gestrichen zu haben, denn er bedeutete, daß man die Prinzipienfrage gegenüber den Gewerkschaften in den Bereich der ‘Strategie’ schob, um freie Hand gegenüber den elastisch auszulegenden ‘taktischen Notwendigkeiten’ der ‘Arbeit in den Gewerkschaften’ zu haben.

In der gleichen Richtung hat das IBRP folgenden Abschnitt der Plattform von 1984 geändert: „Die Gewerkschaft ist nicht und kann nicht das Massenorgan der kämpfenden Arbeiterklasse“ werden, indem man den Begriff ‘kämpfend’ fallenließ, was nahelegte, ohne es offen zu sagen, daß die Gewerkschaften Massenorgane der Arbeiterklasse sein könnten, wenn sie nicht kämpft. Diese Korrektur wird in dem 1997 verabschiedeten Dokument ‘Die Gewerkschaften heute und die Tätigkeiten der Kommunisten’ noch verstärkt, wo das IBRP schreibt: „Es ist für die Arbeiter unmöglich, auch nur ihre unmittelbaren Interessen zu verteidigen, wenn nicht außerhalb und gegen die Gewerkschaften.“ (7. These, Prometeo Nr. 13) Mit dieser Präzisierung verwirft das IBRP die trotzkistische Lüge vom ‘Doppelwesen’ der Gewerkschaften, die angeblich den Arbeitern positiv gegenüberstehen in Zeiträumen sozialen Friedens und sich reaktionär verhielten in Zeiten des Kampfes und revolutionärer Erhitzung. Die Auffassung der Trotzkisten läßt es zu, eine Rückkehr ins gewerkschaftliche Gefängnis zu rechtfertigen. Eine Gewerkschaftspolitik, zu der die bordigistische Strömung neigt. Wir meinen, daß die Streichung des Begriffs ‘kämpfend’ durch das IBRP diese Position verwirft, auch wenn dies noch klarer hätte gesagt werden können.

Auch grenzt sich das IBRP in dem erwähnten Dokument von der gewerkschaftlichen Basisarbeit ab, dieser radikalen Variante der Gewerkschaftsarbeit,  wo man die großen Gewerkschaftszentralen und ihre Führer radikal angreift, um besser das sogenannte ‘Arbeiterwesen’ der Gewerkschaften zu verteidigen. Das IBRP sagt, daß „die verschiedenen Versuche des Aufbaus neuer Gewerkschaften in einem Wortschwall neuer basisgewerkschaftlicher Firmenschilder untergegangen sind, von denen viele auf der Suche nach institutionialisierten Befugnissen der Arbeitsvermittlung sind, genau wie es die offiziellen Gewerkschaften betreiben.“ (These 8)

Wir begrüßen ebenfalls, daß das IBRP den folgenden Absatz ersetzt hat: „Die Gewerkschaft ist das Vermittlungsorgan zwischen Arbeit und Kapital.“ Er wurde ersetzt durch eine viel klarere Formulierung: „Die Gewerkschaften wurden gegründet, um als Instrumente der Verhandlung über die Bedingungen für den Verkauf der Arbeitskraft zu dienen.“ Die alte Formulierung war aus zwei Gründen gefährlich:

- Einerseits ließ sie die Gewerkschaften zeitlos als Vermittlungsorgane zwischen Kapital und Arbeit erscheinen, sowohl in der aufsteigenden wie auch in der Niedergangsphase des Kapitalismus, während jetzt zum Ausdruck gebracht wird, „die Gewerkschaften wurden gegründet, ...als Instrumente der Verhandlung“, womit sich die Position des IBRP abhebt von der typisch bordigistischen Auffassung, derzufolge die Gewerkschaften sich nie geändert hätten.

- Andererseits ist die Idee  von  „Vermittlungsorganen zwischen Kapital und Arbeit“ selber schon falsch, denn sie vertritt die Auffassung, daß die Gewerkschaften als Organe zwischen den beiden entgegengesetzten Klassen in der Gesellschaft tätig wären. In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus waren die Gewerkschaften keine Vermittlungsorgane zwischen den Klassen, sondern Waffen des Arbeiterkampfes, die durch die Kämpfe der Arbeiter geschaffen und von der Bourgeoisie heftig verfolgt wurden. Deshalb ist es klarer, wenn man von Organen spricht, die „als Instrumente der Verhandlung über die Bedingungen des Verkaufs der Arbeitskraft“ gegründet wurden, denn dies war eine ihrer Funktionen in diesem historischen Zeitraum, die damals erfüllt werden konnten, weil es noch möglich war, Verbesserungen und Reformen zugunsten der Arbeiter zu erreichen. Das IBRP vergißt jedoch die andere Dimension der Rolle der Gewerkschaften, die von Marx, Engels und anderen Revolutionären hervorgehoben wurde, daß sie „Schulen des Kommunismus“ und Mittel der Organisierung waren, und in einem gewissen Ausmaß auch dem Klärungsprozeß  großer Teile der Arbeiter dienten.

Schließlich hat das IBRP eine entscheidende Veränderung hinsichtlich der Intervention der Kommunisten im Klassenkampf vollzogen. Es geht um die ‘kommunistischen Fabrikgruppen’. Die Plattform von 1984 sagte hierzu, daß „die Möglichkeit zur Förderung der Entwicklung des Kampfes von der unmittelbaren Ebene, wo sie entstehen, bis hin zur allgemeinen Ebene, der des antikapitalistischen politischen Kampfes von der Präsenz und der Intervention der kommunistischen Fabrikgruppen abhängt“. Dagegen meint das IBRP dazu in der Fassung von 1997: „Die Möglichkeit, daß die Kämpfe von der Anfangsphase aus sich weiterentwickeln zum politischen, antikapitalistischen Kampf ist in Wirklichkeit abhängig von der Präsenz und dem Eingreifen der Kommunisten vor Ort in den Betrieben, an den Arbeitsplätzen, damit die Arbeiter entsprechende Anregungen erhalten und damit man ihnen die Perspektive aufzeigt.“ Wir teilen vollkommen die Sorge des IBRP hinsichtlich der Entwicklung der Interventionsmittel der Revolutionäre im konkreten Prozeß des Kampfes und der Politisierung der Klasse. Während das Anliegen richtig ist, scheint uns jedoch die vorgelegte Antwort darauf unzureichend.

Einerseits hat das IBRP die Idee zurecht fallengelassen, derzufolge die Politisierung des unmittelbaren Kampfes der Arbeiter „von der Präsenz und dem Eingreifen der kommunistischen Fabrikgruppen“ (5) abhängt, andererseits vertritt es weiterhin den Standpunkt, daß die antikapitalistische Politisierung der Arbeiterkämpfe „von der Präsenz und dem Eingreifen der Kommunisten vor Ort in den Betrieben, am Arbeitsplatz“ abhängig ist.

Die „Möglichkeit, daß die Kämpfe von der Anfangsphase aus sich weiterentwickeln zum politischen, antikapitalistischen Kampf“, hängt nicht nur von der Anwesenheit der Kommunisten „vor Ort, an den Arbeitsplätzen“ ab. Die Revolutionäre müssen in den Kämpfen, in den Streiks, Demonstrationen, in den Vollversammlungen usw., kurzum, überall wo diese Interventionen möglich sind, und nicht nur vor Ort in den Betrieben, an den Arbeitsplätzen, wo es - den Formulierungen des IBRP zufolge - schon revolutionäre Elemente gebe, politisch präsent sein mittels ihrer Intervention mit der Presse, mit Flugblättern, durch mündliche Redebeiträge.

Dem anderen Dokument, ‘Die Gewerkschaften heute und das Wirken der Kommunisten’, zufolge müßten die Kommunisten um sich herum „Organe zur Intervention in der Klasse“ schaffen, die „entweder auf Fabrikebene“ oder „territorial“ aufgebaut sein könnten.

Diese Formulierung erscheint uns auch als sehr undeutlich. Je nach den verschiedenen Augenblicken des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen können verschiedene Organe innerhalb der Arbeiterklasse entstehen:

- In Phasen sich entwickelnder Kämpfe bildet sich das, was wir Kampfkomitees nennen, die Organe sind, in denen sich die kämpferischsten Teile zusammenfinden mit dem Ziel, zur Ausdehnung des Kampfes beizutragen und dass die Arbeiter den Kampf selber in die Hand nehmen durch die Abhaltung von Vollversammlungen und die Bildung von Komitees mit gewählten und abwählbaren Delegierten; sie fassen Arbeiter aus verschiedenen Branchen zusammen oder neigen zumindest dazu,

- in weniger entscheidenden Momenten oder in der Rückflußphase nach einem intensiven Kampf schaffen kleine Minderheiten Arbeitergruppen oder Diskussionszirkel, die mehr dem Bedürfnis entsprechen, die Lehren des Kampfes zu ziehen und sich mehr auf die allgemeineren Probleme des Arbeiterkampfes hin orientieren.

Gegenüber diesen Tendenzen der Klasse verwerfen die Revolutionäre den ‘Spontaneismus’, der darin besteht, „zu warten, bis sie die Klasse selber und in einer isolierten Weise schafft“. Die Revolutionäre intervenieren in diesen Organen und zögern nicht davor zurück, Vorschläge zu machen und deren Bildung zu begünstigen, wenn die Bedingungen für ihr Entstehen vorhanden sind. Aber diese Organe sind deshalb noch keine ‘Interventionsorgane der Kommunisten’; sie sind vielmehr Organe der Klasse und in der Klasse, deren Intervention sich unterscheidet von derjenigen der kommunistischen politischen Organisationen. Deshalb sind wir der Ansicht, daß die Formulierung des IBRP zweideutig bleibt und weiterhin die Tür einen Spalt offenläßt, um die Auffassung von Zwischenorganen zwischen der Arbeiterklasse und den Kommunistischen Organisationen zu verbreiten.

Die Rolle der Partei und der Kampf für deren Bildung in unserer Epoche

Die kommunistische Weltpartei ist ein unabdingbares Werkzeug der Arbeiterklasse. Wie die Erfahrung der Oktoberrevolution 1917 zeigt, kann das Proletariat den revolutionären Prozeß nicht zum Erfolg führen und die Macht ergreifen, wenn es dazu nicht die Partei bildet, die in der Klasse interveniert, sie politisch führt und ihrem revolutionären Handeln Impulse gibt.

Mit der Niederlage der revolutionären Welle von 1917-23 und der Entartung der kommunistischen Parteien haben die Gruppen der Kommunistischen Linken versucht, die konkreten Lehren aus diesen Erfahrungen hinsichtlich der Parteifrage zu ziehen:

- In erster Linie haben sie sich mit der Frage des Programms befaßt: die Kritik und Überwindung der Schwachpunkte des Programms der Komintern, die zu ihrer Entartung beitrugen, insbesondere hinsichtlich der Frage der Gewerkschaften, des Parlamentarismus und der angeblichen ‘nationalen Befreiung’ der Völker.

- In zweiter Linie haben sie die Auffassungen von der Massenpartei überwunden, die die Aufgabe erfüllen sollten, die in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus auf der Tagesordnung standen (Organisation und Bildung der Klasse in Anbetracht des Gewichtes ihrer Ursprünge unter den Handwerkern und Bauern, Beteiligung an den Parlamentswahlen, weil es noch möglich war, für Reformen und Verbesserungen zu kämpfen).

Diese alte Auffassung ließ die Idee entstehen, daß die Partei die Klasse repräsentiert und organisiert, und die Macht in ihrem Namen ergreift. Diese falsche Auffassung hat sich in der revolutionären Welle von 1917-23 als gefährlich und schädlich herausgestellt. Demgegenüber haben die, fortgeschrittensten Gruppen der Kommunistischen Linken klären können, daß die Partei für die Klasse nicht als Massenorgan unabdingbar ist, sondern als eine in der Minderheit befindliche Kraft, die sich auf die Aufgabe konzentriert, das Bewußtsein der Klasse und ihre politische Entschlossenheit und Zielstrebigkeit zu entwickeln (6). Auch hat die Partei nicht zur Aufgabe, die Macht im Namen der Klasse auszuüben, sondern als dynamischer und fortgeschrittenster Faktor durch ihre Intervention und ihre Klarheit dazu beizutragen, daß die Klasse kollektiv und durch eine massive Beteiligung die Macht durch die Arbeiterräte ausübt.

Die vom IBRP eingenommene Position seiner Plattform von 1984 brachte auch,  obwohl sie eine Klärung der programmatischen Positionen (die, wie wir eingangs in diesem Artikel aufgezeigt haben, auf seinem Kongreß von 1997 ausführlicher entwickelt wurden) verdeutlichte, eine zweideutige Position zum Ausdruck, in der viele allgemeine und vage Behauptungen standen hinsichtlich der entscheidenden Frage der Partei, ihres Verhältnis zur Klasse, ihrer Organisationsform und des Prozesses ihres Aufbaus. Aber in den Dokumenten des Kongresses von 1997 werden diese Fragen präziser gefaßt; es gibt eine klarere Auffassung vom Prozeß des Aufbaus der Partei und der konkreten Schritte, die die kommunistischen Organisationen in der heutigen Phase machen müssen.

In der Plattform von 1984 meinte das IBRP: „Die Klassenpartei ist das besondere und unersetzbare Organ des revolutionären Kampfes, denn es ist das politische Organ der Klasse.“ Wir sind mit der Idee einverstanden, daß die Partei ein spezifisches Organ ist (sie darf nicht mit der gesamten Klasse verwechselt noch in ihr aufgelöst werden), und sie ist  in der Tat unersetzbar (7). Die Formulierung „sie ist das politische Organ der Klasse“ kann jedoch zu verstehen geben, ohne daß es unbedingt offen gesagt wird (wie es die Bordigisten tun), daß die Partei das Organ der Machtergreifung im Namen der Arbeiterklasse ist.

Die Formulierung von 1997 liefert eine wichtige Präzisierung, die sich konsequenter auf die Positionen der Kommunistischen Linken zubewegt: „Die Klassenpartei oder die Organisationen, aus denen sie hervorgeht, umfassen den bewußtesten Teil des Proletariats, das sich organisiert, um das revolutionäre Programm zu verteidigen.“ Obwohl dieser Absatz es nur indirekt und implizit sagt (8), verwirft das IBRP die bordigistische Auffassung, derzufolge die Partei durch eine Minderheit ausgerufen wird, unabhängig von der historischen Lage und den Kräfteverhältnissen zwischen den Klassen, um für immer zu der Partei zu werden. Zudem hat das IBRP die Formulierung „politisches Organ der Klasse“ gestrichen und durch eine viel klarere Formulierung ersetzt: „der bewußteste Teil, der sich organisiert, um das revolutionäre Programm zu verteidigen“.

Natürlich bedeutet das Streichen der Formulierung von 1984 keineswegs den politischen Charakter der Partei zu leugnen. Die politische Rolle der proletarischen Partei kann nicht die gleiche wie die der bürgerlichen Parteien sein, die darin besteht, die politische Macht im Namen derjenigen auszuüben, die sie repräsentieren. Als ausgebeutete Klasse, die keine ökonomische Macht besitzt, kann die Ausübung der politischen Macht keiner Minderheit übertragen werden, auch wenn diese noch so treu und klar ist.

Weiter hat das IBRP in seinen programmatischen Dokumenten Lehren der Russischen Revolution aufgenommen, zu denen im Dokument von 1984 nichts gesagt wurde: „Die Lehren der letzten revolutionären Welle bestehen nicht darin, daß die Klasse auf eine organisierte Führung verzichten kann, und auch nicht, daß die Partei in ihrer Gesamtheit die Klasse ist (wie es die Bordigisten in jüngster Zeit in einer metaphysisch abstrakten Art meinen), sondern daß die organisierte Führung in der Form der Partei die mächtigste Waffe ist, die die Klasse entwickeln kann. Ihr Ziel besteht im Kampf für eine sozialistische Perspektive mit dem Entstehen von Massenorganisationen, die vor der Revolution auftauchen (Sowjets oder Räte). Die Partei wird jedoch eine Minderheit in der Arbeiterklasse und kein Ersatz für diese sein. Das Ziel des Aufbaus des Sozialismus muß von der ganzen Klasse in Angriff genommen und kann nicht delegiert werden, selbst nicht an den bewußtesten Teil des Proletariats.“

Das IBRP hat diese wesentliche Lehre aus der Russischen Revolution ausdrücklich aufgenommen (die andererseits die Devise der I. Internationalen nur bestätigt hat, derzufolge „die Befreiung der Arbeiter das Werk der Arbeiter selber sein muß“) und gleichzeitig Überlegungen dazu angestellt, wie das Verhältnis zwischen den Revolutionären und der Klasse gestaltet sein soll, welche Rolle die Partei übernimmt und wie ihre Beziehung zur Klasse ist.

In der Plattform von 1997 steht: „die Erfahrung der Konterrevolution in Rußland zwingt die Revolutionäre dazu, die Probleme hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Staat, Partei und Klasse zu vertiefen. Die Rolle der ursprünglich  revolutionären  Partei hat viele potentielle Revolutionäre dazu geführt, die Idee der Klassenpartei insgesamt zu verwerfen.“ Anstatt das Problem mit schwülstigen Phrasen über die ‘Wichtigkeit’ der Partei zu umgehen, war das IBRP in der Lage, das Problem historisch richtig zu stellen: „Während der Revolution wird die Partei danach streben, die politische Führung der Bewegung zu erobern, indem sie ihr Programm innerhalb der Massenorgane der Arbeiterklasse verbreitet und es verteidigt. Genauso wie es unmöglich ist, an einen Prozeß des anwachsenden Bewußtseins ohne eine revolutionäre Partei zu denken, ist es auch unmöglich zu glauben, daß der bewußteste Teil des Proletariats die Kontrolle in den Ereignissen unabhängig von den Sowjets ausüben könnte. Die Sowjets sind das Instrument zur Ausübung der Diktatur des Proletariats, und ihr Verfall und ihre Verdrängung aus der politischen Szene in Rußland haben zum Zusammenbruch des sowjetischen Staats und zum Sieg der Konterrevolution beigetragen. Als die bolschewistischen Kommissare gegenüber einer erschöpften und ausgehungerten Klasse isoliert blieben, waren sie gezwungen, die Macht in einem kapitalistischen Staat auszuüben, und sie haben so wie diejenigen gehandelt, die einen kapitalistischen Staat regieren.“

Das IBRP zieht eine Schlußfolgerung, mit der wir ebenso einverstanden sind: „In der zukünftigen Weltrevolution muß die revolutionäre Partei versuchen, die revolutionäre Bewegung nur durch ihre Massenorgane der Klasse zu führen, die auf ihr Entstehen drängen werden. Selbst wenn es kein Rezept gibt, das den Sieg garantiert, stellen weder die Partei noch die Sowjets als solche einen sicheren Schutz gegenüber der Konterrevolution dar; die einzige Garantie des Sieges ist das lebendige Klassenbewußtsein der Arbeitermassen.“

Die Debatte und die Umgruppierung der Revolutionäre

Diese Klärung fortsetzend hat das IBRP eine Reihe von Präzisierungen gegenüber dem Text von 1984 eingebracht hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den gegenwärtigen revolutionären Gruppen und den konkreten Schritten, wie man heute zum Prozeß der Bildung der revolutionären Partei beiträgt.

Gegenüber der gegenwärtigen Offensive der Bourgeoisie gegen die Kommunistische Linke, die zum Beispiel in der ‘anti-negationistischen’ Kampagne zum Ausdruck kommt, müssen die Revolutionäre eine gemeinsame Verteidigungslinie errichten. Anderseits verlangt das Aufblühen von kleinen Minderheiten der Klasse, die weltweit auf der Suche nach revolutionären Positionen sind, daß die kommunistischen Gruppen jedes Sektierertum und jede Isolierung aufgeben und im Gegenteil diesen Elementen einen kohärenten Rahmen anbieten, damit sie das gemeinsame Erbe der Kommunistischen Linken, aber auch die trennenden Divergenzen einschätzen können.

Dieser Sorge Rechnung tragend hat das IBRP den Kriterien der Internationalen Konferenzen (die in der Plattform von 1984 aufgeführt werden), ein weiteres hinzugefügt: „Wir halten das Büro für eine Kraft, die dem  proletarischen  politischen Lager angehört, welches die Kräfte umfaßt, die für die Unabhängigkeit des Proletariats gegenüber dem Kapital kämpfen, jegliche Art Nationalismus verwerfen, den Stalinismus und die ehemalige UdSSR nicht als sozialistisch betrachten und gleichzeitig den Oktober 1917 als den Ausgangspunkt einer weiteren europäischen Revolution sehen.“

BC erkennt, daß „zwischen den Organisationen, die dem erwähnten Lager angehören, es immer wichtige politische Divergenzen gegeben hat, so hinsichtlich dem Wesen und der Funktion der revolutionären Organisation“, und daß es notwendig sei, dazu eine Diskussion in Gang zu setzen. Dies ist die richtige Methode, und das stellt zweifelsohne eine wichtige Änderung der Haltung gegenüber der Position von BC auf der 3. Internationalen Konferenz dar, welche im Text von 1984 aufrechterhalten wurde. Erinnern wir uns daran, daß BC mit Unterstützung der CWO auf dem letzten Treffen dieser Konferenz ein zusätzliches Kriterium hinsichtlich der Rolle der ‘politischen Führung’ der Partei vorgeschlagen hatte, das aus unserer Sicht nur das Ziel verfolgte, die IKS aus den internationalen Konferenzen auszuschließen, wie wir es auch nachher geschrieben haben (9), da BC sich weigerte, den Gegenvorschlag zu diesem Kriterium, wie er von der IKS eingebracht wurde, zu diskutieren. Dieser Gegenvorschlag hob die Rolle der politischen Führung der Partei hervor, aber innerhalb des Rahmens der Machtausübung durch die Arbeiterräte. Diese Frage wurde, wie wir eben aufgezeigt haben, glücklicherweise vom IBRP viel klarer in der Plattform von 1997 formuliert. Darüber hinaus und vor allem verwarf BC seinerzeit ein Resolutionsprojekt, das eine erweiterte und vertiefte Diskussion über die Auffassung zur Partei, ihre Funktion, ihr Wesen und ihre Beziehungen zur gesamten Klasse forderte. Mit dieser Beilage schlägt heute das IBRP eine systematische Diskussion dieser Frage vor, was uns als eine eindeutige Öffnung zur programmatischen Klärung innerhalb der Kommunistischen Linken erscheint. Aus Platzgründen können wir hier im Rahmen dieses Artikels nicht näher auf die vom  IBRP angekündigten Punkte eingehen. Jedoch wollen wir den 2. Punkt herausheben (mit dem wir genauso wie mit Punkt 6 vollkommen einverstanden sind): „Das IBRP wirkt auf die Bildung der Kommunistischen Weltpartei zu dem Zeitpunkt hin, wo ein politisches Programm und ausreichend Kräfte für ihre Bildung bestehen. Das Büro ist für die Partei, aber behauptet nicht, der einzige Ursprungskern zu sein. Die zukünftige Partei wird nicht einfach das Ergebnis des Wachstums einer einzigen Organisation sein.“ (10)

Aus dieser richtigen Auffassung leitet das IBRP den Punkt 3 ab, der aus unserer Sicht ebenfalls sehr richtig ist: „Vor der Gründung der revolutionären Partei müssen alle Einzelheiten ihres politischen Programms durch Diskussionen und Debatten zwischen allen sie gründenden Teilen geklärt werden.“ (10)

Aus dieser Aussage geht das Engagement des IBRP’s hervor für eine ernsthafte Diskussion unter den revolutionären Gruppen im Hinblick auf die Klärung der gesamten Kommunistischen Linken und gegenüber der neuen Generation der von der Klasse hervorgebrachten Elemente, die sich durch ihre Positionen angezogen fühlen. Wir begrüßen dieses Engagement, wir fordern das IBRP dazu auf, es zu konkretisieren und zu entwickeln durch eine entsprechende Haltung und durch praktische Schritte. Wir unsererseits werden mit all unseren Kräften zu dieser Entwicklung beitragen.

Adalen, 16. November 1997

(1) IBRP: Internationales Büro für die revolutionäre Partei, zusammengesetzt aus dem Partito Comunista Internazionalista (Battaglia Comunista - im folgenden abgekürzt als BC) und der Communist Workers Organisation (CWO).

(2) Der Kongreß von BC, an dem eine Delegation der CWO teilnahm, war Anlaß für eine Änderung der Plattform des IBRP, dem die beiden Organisationen angehören.

(3) Solch eine Präzisierung ist umso notwendiger, als die Linke des Kapitals und insbesondere die Trotzkisten und andere Vertreter der ‘extremen Linken’ anerkennen, daß der ‘Kampf für die Demokratie’ nicht ‘revolutionär’ ist, aber sie betrachten ihn aus ‘taktischen’ Gründen als ‘lebenswichtig’ oder als ersten Schritt auf dem ‘Weg zum Sozialismus’.

(4) FOR: Fomento Obrero Revolucionario, (revolutionäres Arbeiterferment), die Gruppe gehört dem proletarischen politischen Milieu an, leider ist sie heute verschwunden, sie wurde von G. Munis geleitet, der 1948 einen Bruch mit dem Trotzkismus vollzog.

(5) Diese Position hat Parallelen mit der der KAPD, die in den 20er Jahren die Bildung von Unionen vorschlug, welche Zwischenorgane zwischen der allgemeinen Organisation der Klasse und der politischen Organisation waren, über eine Plattform verfügten, die sowohl politische Positionen aufgriff als auch zufällig auftretende Punkte. Tatsächlich erwiesen sich diese Unionen als ein Handicap für die Arbeiterklasse aufgrund ihrer Zugeständnisse gegenüber gewerkschaftlichen Auffassungen.

(6) In seiner Polemik von 1903 und im ganzen Kampf der Bolschewiki seit Anfang 1917 hat Lenin einen klaren Bruch mit der Auffassung einer Massenpartei vollzogen, auch wenn er nicht alle Schlußfolgerungen bis zu ihrem logischen Ende daraus zog.

(7) Siehe unter anderem die Artikel: ‘Die Funktion der revolutionären Organisation’, (Internationale Revue Nr. 29, engl., franz. Ausgabe), ‘Die Partei und ihre Beziehungen zur Klasse’, ebenda, Nr. 35.

(8) Bei der Erklärung, die das IBRP den Kriterien der Internationalen Konferenzen hinzugefügt hat, ist es viel präziser: „Die Erklärung der revolutionären Partei oder ihres Ursprungskerns ausschließlich auf der Grundlage kleiner Gruppen von Aktivisten stellt keinen großen Schritt nach vorne dar für die revolutionäre Bewegung.“

(9) Unsere Position wird in den Protokollen der 3. Internationalen Konferenz dargelegt, erhältlich bei unseren Kontaktadressen. Siehe auch unsere Bilanz der Internationalen Konferenzen und eine Einschätzung der Haltung von Battaglia Comunista in der Internationalen Revue Nr. 22, engl./franz. Ausgabe, deutsch in Internationale Revue Nr. 5.

(10) Auch wenn diese global richtige Auffassung nicht zu einer schematischen Interpretation führen darf, derzufolge man die Gründung der Partei bis zur ‘Klärung aller Details’ verschieben darf. Zum Beispiel im März 1919 war die Gründung der Internationale (die schon verspätet war) dringend geboten; so wurde sie gegründet; der Auffassung Lenin folgend im Gegensatz zum Standpunkt des deutschen Delegierten, der das Argument einwarf, daß noch weitere Programmpunkte geklärt werden müßten, und der deshalb für eine spätere Gründung eintrat.

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Bordigismus [139]

Arbeitslosigkeit

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Die Bourgeoisie handelt vorbeugend gegenüber der steigenden Wut der Arbeiter

Während des Winters 97/98 gab es mehrmals  in den beiden größten westeuropäischen Ländern Mobilisierungen zur Frage der Arbeitslosigkeit. In Frankreich fanden monatelang Straßendemonstrationen in den größten Städten des Landes und Besetzungen von öffentlichen Gebäuden (insbesondere der Institutionen, die mit der Auszahlung von Arbeitslosengeldern befaßt sind) statt. In Deutschland wurde am 5. Februar eine Reihe von Demonstrationen im ganzen Land abgehalten, zu denen Arbeitslosenorganisationen und Gewerkschaften aufgerufen hatten. Die Mobilisierung erreichte in Deutschland nicht das gleiche Ausmaß wie in Frankreich, aber von den Medien wurde sie sehr ausführlich aufgegriffen. Stellen diese Mobilisierungen einen wirklichen Ausdruck der Kampfbereitschaft der Arbeiter dar? Wir werden später sehen, daß dies nicht der Fall ist. Dennoch ist die Frage der Arbeitslosigkeit für die Arbeiterklasse von grundlegender Bedeutung, denn sie stellt seitens des krisengeschüttelten Kapitals einen der wichtigsten Angriffe gegen  die Arbeiterklasse dar. Gleichzeitig liefert das Ansteigen und die mittlerweile permanent gewordene Arbeitslosigkeit einen der besten Beweise des Scheiterns des kapitalistischen Systems. Und gerade die Brisanz dieser Frage verbirgt sich hinter den gegenwärtigen Mobilisierungen.

Bevor wir die Bedeutung dieser Mobilisierungen untersuchen, müssen wir das Phänomen der Arbeitslosigkeit in seiner Bedeutung für die Weltarbeiterklasse und die Perspektiven dieses Phänomens erkennen.

Die Arbeitslosigkeit heute und ihre Perspektiven

Heute erfaßt die Arbeitslosigkeit große Teile der Arbeiterklasse in den meisten Ländern auf dieser Erde. In der 3. Welt schwankt der Anteil der erwerbslosen Bevölkerung zwischen 30 und 50%. Und selbst in einem Land wie China, das während der letzten Jahre von den ‘Experten’ als einer der großen Wachstumschampions gefeiert wurde, wird es in den nächsten Jahren 200 Millionen zusätzliche Arbeitslose geben (1). In Osteuropa hat der wirtschaftliche Zusammenbruch in den Ländern, die dem früheren Ostblock angehörten, Millionen von Arbeiter auf die Straße geworfen, und wenn in einigen seltenen Fällen wie Polen relativ hohe Wachstumsraten dank der Zahlung von Hungerlöhnen erzielt wurden und dadurch der Schaden eingedämmt werden konnte, stürzen in den meisten dieser Länder, insbesondere in Rußland, ungeheuer große Arbeitermassen in einen Bettlerzustand ab, die für ihr Überleben gezwungen sind,  ‘minderwertige Arbeiten’ anzunehmen, wie z.B. den Verkauf von Plastiktüten in den Gängen der Metro (2).

In den höchst entwickelten Staaten ist die Arbeitslosigkeit, auch wenn die Lage nicht so tragisch ist wie in den oben erwähnten Ländern, zu einer wirklichen Geißel der Gesellschaft geworden. So beträgt der offizielle Prozentsatz der ‘Arbeitssuchenden’ im Verhältnis zur arbeitsfähigen Bevölkerung in der gesamten Europäischen Union 11%, wogegen er 1990 nur 8% ausmachte, d.h. zu einer Zeit, als der amerikanische Präsident Bush nach dem Zusammenbruch des russischen Blocks eine ‘Phase des Wohlstands’ verkündete.

Die folgenden Zahlen verdeutlichen die Bedeutung der Geißel Arbeitslosigkeit:

Man muß zu diesen Zahlen jedoch folgendes bemerken.

Erstens handelt es sich um offizielle Zahlen, die auf der Grundlage von Kriterien ermittelt wurden, die einen Großteil der Arbeitslosigkeit verdecken. Unter vielen anderen Faktoren berücksichtigen sie nicht:

- die Jugendlichen, die ihre Schulausbildung fortsetzen, weil sie keine entsprechende Beschäftigung finden,

- die Arbeitslosen, die man zur Annahme von unterbezahlten Stellen verpflichtet, weil sie sonst ihre Arbeitslosenunterstützung verlieren würden,

- die Personen, die als Umgeschulte geführt werden, weil sie so angeblich bessere Beschäftigungschancen hätten, was aber nicht stimmt,

- die älteren Arbeitnehmer, die in die Frührente geschickt wurden.

Ebensowenig berücksichtigen diese Zahlen die Teilzeitarbeitslosen, d.h. all die Beschäftigten, die keine feste Vollzeitbeschäftigung finden (z.B. die ständig steigende Zahl von Beschäftigten bei Zeitarbeitsagenturen).

Übrigens sind diese Tatsachen den ‘Experten’ der OECD gut bekannt, die in ihren Fachzeitschriften zugeben müssen, daß „die klassische Arbeitslosenrate... nicht das volle Ausmaß der Unterbeschäftigung erfaßt“. (3)

Zweitens muß man die Bedeutung der Zahlen der sogenannten ‘Klassenbesten’ - der USA und Großbritannien - verstehen. Aus der Sicht vieler Experten seien diese Zahlen der Beweis der Überlegenheit des ‘angelsächsischen Modells’ gegenüber den anderen Modellen der Wirtschaftspolitik. So haut man uns die Ohren voll mit der Tatsache, daß in den USA die niedrigste Arbeitslosenrate seit 25 Jahren erreicht wurde. Es stimmt, daß in den USA gegenwärtig ein höheres Wachstum als in den anderen entwickelten Ländern erzielt wird, und daß während der letzten 5 Jahre 11 Millionen neue Stellen geschaffen wurden. Man muß jedoch präzisieren, daß die meisten dieser Stellen McDonald-Beschäftigungsverhältnisse sind, d.h. alle Art von kleinen, prekären, sehr schlecht bezahlten Jobs, so daß die Armut solche Ausmaße angenommen hat, wie man sie seit den 30er Jahren nicht mehr kannte, mit insbesondere Hunderttausenden Obdachlosen und Millionen von Menschen, die über gar keine Krankenversorgung verfügen.

All das wird von jemandem deutlich zugegeben, der nicht im Verdacht steht, die USA zu verleumden, da er Arbeitsminister während der ersten Amtszeit Bill Clintons war und seit langem dessen persönlicher Freund ist. „Seit 20 Jahren verzeichnet ein Großteil der amerikanischen Bevölkerung eine Stagnation oder einen Rückgang der Reallöhne aufgrund der Inflation. Für die meisten Beschäftigten hat sich der Lohnverfall trotz des Wiederaufschwungs fortgesetzt. 1996 lag das mittlere Realeinkommen unter dem Niveau von 1989 oder unter dem Niveau der vorherigen Rezession. Zwischen Mitte 1996 und Mitte 1997 sind die Reallöhne nur um 0,3% gestiegen, während sich der Fall der Niedrigstlöhne weiter fortsetzte. Die Zahl der Amerikaner, die gemäß der Definition und den offiziellen Statistiken als arm angesehen wird, ist heute größer als 1989“. (4)

Die Lobredner des US-amerikanischen ‘Modells’ vergessen auch meist zu sagen, daß die 11 Millionen neu geschaffener Arbeitsplätze einem Anstieg von 9 Millionen zusätzlichen arbeitsfähigen Menschen entsprechen. So ist ein sehr großer Teil der ‘wunderbaren’ Erfolge der US-Wirtschaft im Bereich Arbeitslosigkeit auf den Einsatz von künstlichen Mitteln zurückzuführen, die die Wirklichkeit verdecken sollen. In den USA gesteht man übrigens diese Tatsache sowohl in den angesehensten Wirtschaftszeitungen ein als auch seitens der politischen Instanzen selber: „Die offizielle Arbeitslosenrate in den USA liefert immer weniger ein wirkliches Bild über die tatsächliche Situation auf dem Arbeitsmarkt.“ (5) Dieser Artikel zeigt, daß „unter der männlichen Bevölkerung von 16-55 Jahren die offizielle Arbeitslosenrate nur 37% der Beschäftigungslosen als ‘Arbeitslose’ überhaupt erfaßt; die verbleibenden 63%, die zwar weiterhin dem arbeitsfähigen Alter zugerechnet werden, werden jedoch als ‘nicht-beschäftigt’, als ‘außerhalb der aktiven Bevölkerung’ geführt.“ (6)

Die offizielle Zeitschrift des US-Arbeitsministeriums erklärte: „Die offizielle Arbeitslosenrate kommt uns zupaß und ist gut bekannt. Indem wir uns jedoch zu sehr auf diesen einzigen Maßstab richten, entwickelt sich ein entstelltes Bild der Wirtschaft der anderen Länder im Vergleich zu den USA (...). Andere Indikatoren sollten berücksichtigt werden, wenn man die jeweiligen Lagen auf den jeweiligen Arbeitsmärkten wirklich richtig interpretieren will.“ (7)

Tatsächlich kann man ausgehend von Untersuchungen, die nicht von schrecklichen ‘Subversiven’ verfaßt wurden, vermuten, daß in den USA eine Arbeitslosenrate von 13% der Wirklichkeit näher kommt als die von unter 5%, die überall als der Beweis für das ‘amerikanische Wunder’ vorgezeigt wird. Könnte das anders sein, wenn man nur diejenigen als Arbeitslose (gemäß den Kriterien des Internationalen Büros für Arbeit) aufführt, die -

- in der Bemessungswoche weniger als eine Stunde gearbeitet haben,

- die während dieser Woche aktiv eine Arbeit gesucht haben,

- die sofort für die Aufnahme einer Arbeit zur Verfügung stehen.

In den USA, wo die meisten Jugendlichen irgendeine sehr niedrig bezahlte Stelle haben, werden diejenigen nicht als Arbeitslose registriert, die für ein paar Dollar den Rasen des Nachbarn gemäht oder in der Woche zuvor dessen Kinder gehütet haben. Auch derjenige, der die Arbeitssuche nach Monaten und Jahren Bewerbungen bei möglichen Arbeitgebern aufgegeben hat, oder die Alleinerziehende Mutter, die nicht ‘sofort zur Verfügung’ steht, weil es praktisch keine Kindergärten gibt, wo sie ihr Kind unterbringen könnte.

Die ‘Erfolgsgeschichte’ der britischen Bourgeoisie ist von noch viel größeren Lügen geprägt als die der US-Bourgeoisie. Der naive Beobachter wird mit einem Paradox konfrontiert: zwischen 1990 und 1997 ist das Beschäftigungsniveau um 7% gesunken, und trotzdem ist die offizielle Arbeitslosenrate in derselben Zeit von 10 auf 5% gesunken. Wie es eine der ‘seriösesten’ internationalen Finanzinstitutionen formuliert: „der Rückgang der Arbeitslosigkeit in Großbritannien scheint vollkommen auf die Zunahme des Anteils der inaktiven, nicht mehr Beschäftigten zurückzuführen zu sein.“ (8)

Und um das Mysterium dieser Umwandlung der Arbeitslosen in ‘Inaktive’ zu begreifen, kann man sich auf die Aussage eines Journalisten vom ‘Guardian’ stützen, d.h. einer Zeitung, von der man schlecht behaupten kann, daß sie zur revolutionären Presse gehöre: „Als Frau Margaret Thatcher ihren ersten Wahlerfolg im Mai 1979 feierte, waren im Vereinigten Königreich seinerzeit 1.3 Mio. offiziell registrierte Arbeitslose erfaßt. Wenn man die Berechnungsmethode nicht geändert hätte, gäbe es heute ein wenig mehr als 3 Mio. Arbeitslose. Ein Bericht der Midlands Bank, der vor kurzem veröffentlicht wurde, ging gar von 4 Mio. Arbeitslosen aus, d.h. 14% der aktiven Bevölkerung und damit mehr als in Frankreich oder in Deutschland.

... die britische Regierung berücksichtigt nicht mehr die Arbeitslosen, sondern ausschließlich die Bezieher einer ohnehin immer mehr gekürzten  Arbeitslosenunterstützung. Nachdem man mehr als 32mal die Grundlagen zur Feststellung der Arbeitslosenzahl geändert hat, hat sie beschlossen, Hunderttausende von ihnen dank der neuen Regelung der Zahlung von Arbeitslosenunterstützung aus der Statistik zu streichen, denn die Arbeitslosenunterstützung wird jetzt nach 6 anstatt wie früher nach 12 Monaten eingestellt... Die Mehrzahl der neu geschaffenen Stellen sind Teilzeitstellen. Den Angaben der Arbeitsinspektion zufolge waren 43% der zwischen Winter 1992-93 und Herbst 1996 geschaffenen neuen Stellen Teilzeitarbeitsplätze. Fast ein Viertel der 28 Mio. Beschäftigten haben ein Teilzeitbeschäftigungsverhältnis. In Frankreich und Deutschland sind das nur ca. 15%..“ (9)

Die im großen Maßstab betriebenen Mogeleien, die es der Bourgeoisie dieser beiden angelsächsischen ‘Beschäftigungschampions’ ermöglichen sich zu brüsten, erhalten in den anderen Ländern stillschweigende Unterstützung durch die zahlreichen ‘Wirtschaftsexperten’ und Politiker aller Couleur und insbesondere durch die Massenmedien (nur in den einigermaßen vertraulich gehaltenen Zeitschriften wird der Schleier ein wenig gelüftet). Der Grund dafür ist einfach: man muß die Idee verbreiten, daß die Politik, die im letzten Jahrzehnt mit einer besonderen Brutalität betrieben wurde und jeweils auf eine Kürzung der Löhne und des Sozialschutzes hinauslief und die ‘Flexibilität’ vorantrieb, ein wirksames Mittel zur Schadensbekämpfung der Massenarbeitslosigkeit sei. Mit anderen Worten, man muß die Arbeiter davon überzeugen, daß die Opfer sich ‘auszahlen’ und daß ihnen daran gelegen sein müßte, die Diktate des Kapitals zu akzeptieren.

Und weil die Bourgeoisie nicht alle Eier in einen Korb legt und sie noch mehr Verwirrung in den Köpfen der Arbeiter stiften will, geht sie so vor, daß sie ein wenig Trost spendet und behauptet, daß es einen ‘Kapitalismus mit menschlichen Antlitz’ geben könnte. Aus diesem Grunde wird immer das Beispiel der Niederlande aufgeführt (10). Deshalb kurz einige Worte zum Beispiel des ‘guten Schülers’ Westeuropas, den Niederlanden.

Auch in diesem Fall sind die Arbeitslosenzahlen nicht aussagekräftig. Wie in Großbritannien ist der Rückgang der Arbeitslosenzahlen mit einem Rückgang der Zahl der .... Beschäftigten verbunden gewesen. So ist die Beschäftigtenrate (Prozentsatz der arbeitsfähigen Bevölkerung, der tatsächlich arbeitet) von 60% 1970 auf 50.7% 1994 zurückgegangen.

Das Rätsel löst sich auf, wenn man feststellt, daß „der Anteil der Teilzeitarbeitsplätze an der Gesamtzahl der Arbeitsplätze innerhalb von 20 Jahren von 15 auf 36% angestiegen ist. Und das Phänomen beschleunigt sich, denn ... an 9/10 der in den letzten 10 Jahren neu geschaffenen Arbeitsplätzen wird zwischen 12 und 36 Stunden pro Woche gearbeitet.“ (11) Des weiteren ist ein großer Prozentsatz der Arbeitslosen gestrichen und der zahlenmäßig noch größeren Gruppe der Berufsunfähigen zugeordnet worden. Dies stellt die OECD fest, wenn sie schreibt, daß „die Schätzungen dieses Anteils ‘verdeckter Arbeitsloser’ unter den Berufsunfähigen sehr stark schwankt, von ca. 10% bis ungefähr 50%“. (12)

Wie der Artikel in Le Monde Diplomatique, den wir vorhin zitierten, schrieb: „Es sei denn, man geht davon aus, daß die Menschen hier - und nur hier - von einer genetischen Schwäche erfaßt werden, wie kann man anders erklären, daß es im Land mehr Arbeitsunfähige als Arbeitslose gibt.“ Natürlich konnte solch eine Methode, die es den Arbeitgebern ermöglicht, ihre Unternehmen billig zu rationalisieren, indem ihr alterndes und wenig ‘anpassungsfähiges’ Personal hinausgeschmissen wird, nur dank eines der ‘großzügigsten’ Sozialsysteme auf der Welt angewandt werden. Aber in einer Phase, wo gerade dieses Sozialsystem radikal infrage gestellt wird (wie überall in den fortgeschrittenen Ländern) wird es der Bourgeoisie immer schwerer fallen, die Arbeitslosigkeit so zu übertünchen. Übrigens fordern die neuen Gesetze, daß die Unternehmen 5 Jahre Berufsunfähigkeitsrente zahlen, was sie davon abhalten wird, die Beschäftigten als berufsunfähig zu melden, die sie loswerden wollen. Jetzt schon wird der Mythos vom ‘Sozialparadies’, als das die Niederlande dargestellt werden, ernsthaft angekratzt, wenn man weiß, daß einer europäischen Untersuchung zufolge (sie wurde am 28. April 97 vom Guardian kommentiert), 16% der niederländischen Kinder in als ‘arm’ eingestuften Familien leben, wogegen der Prozentsatz in Frankreich 12% beträgt. Was das ‘Wunderland’ Großbritannien angeht, leben dort 32% der Kinder in armen Familien.

So gibt es keine Ausnahmen beim Ansteigen der massiven Arbeitslosigkeit in den höchst entwickelten Ländern. Jetzt schon erreicht die Arbeitslosenquote dort (wobei all die nicht gewollten Teilzeitbeschäftigungen und all diejenigen, die die Suche aufgegeben haben, mitgezählt werden müssen) ein Niveau von 13-30%. Diese Zahlen nähern sich immer mehr den Größenordnungen, die es in den 30er Jahren während der großen ‘Depression’ in den Industriestaaten gab. Damals kletterten die Arbeitslosenquoten auf 24% in den USA, 17,5% in Deutschland und 15% in Großbritannien. Abgesehen von den USA kann man feststellen, daß die anderen Länder schon auf diese traurigen ‘Rekorde’ zusteuern. In einigen Ländern hat die Arbeitslosigkeit schon das Niveau der 30er Jahre übertroffen. Insbesondere in Spanien, in Schweden (dort gab es 1933 8%), in Italien (1933=7%), Frankreich (1936=5%, und diese Zahl ist vermutlich tiefgestapelt). (13)

Schließlich darf man sich durch den geringfügigen Rückgang der Arbeitslosenzahlen im Jahre 1997 nicht täuschen lassen, auf den die Bourgeoisie heute verweist (und der in der Tabelle ersichtlich wird). Wie vorhin aufgezeigt, sagen die offiziellen Zahlen kaum etwas aus; dieser Rückgang, der zurückzuführen ist auf ‘den Wiederaufschwung’ der Weltproduktion während der letzten Jahre, wird sehr schnell wieder dahinschmelzen, sobald die Weltwirtschaft erneut in eine offene Rezession eingetreten sein wird wie 1974, 1978, Anfang der 80er und der 90er Jahre. Solch eine Rezession ist unvermeidlich, weil die kapitalistische Produktionsform völlig unfähig ist, die Ursache all der Erschütterungen, von denen sie während der letzten 30 Jahre erfaßt wurde, auszulöschen: die generalisierte Überproduktion, ihre historische Unfähigkeit, ausreichend Märkte für ihre Produkte zu finden. (14)

Der Freund Clintons, den wir vorhin zitierten, äußerst sich klar zu diesem Thema: „Der Wirtschaftsaufschwung ist vorübergehend. In den USA gibt es gegenwärtig eine sehr hohe Wachstumsrate, von der ein Großteil Europas Nutzen zieht. Aber die in Asien aufgetretenen Störungen sowie die wachsende Verschuldung der US-Verbraucher veranlassen uns zu glauben, daß die Vitalität dieser Phase des Zykluses nicht sehr lange dauern wird.“

Ohne natürlich zu wagen, bis zum logischen Ende der Argumentation zu kommen, hebt dieser ‘Spezialist’ genau die grundlegenden Eckpfeiler der gegenwärtigen Lage der Weltwirtschaft hervor:

- Der Kapitalismus konnte seinen ‘Aufschwung’ seit 30 Jahren nur fortsetzen, indem sich alle möglichen Käufer mehr und mehr astronomisch verschuldeten (vor allem die Haushalte und die Firmen, die unterentwickelten Länder während der 70er Jahre, die hochentwickelten Länder, allen voran die USA in den 80er Jahren, die ‘Schwellenländer’ Anfang der 90er Jahre...).

- Der Bankrott dieser Schwellenländer, der seit dem Sommer 1997 eingetreten ist, hat Auswirkungen weit über deren Grenzen hinaus. Er spiegelt den Bankrott des gesamten kapitalistischen Systems wider, der dadurch wiederum verstärkt wird.

Die Massenarbeitslosigkeit, die direkt auf die Unfähigkeit des Kapitalismus zurückzuführen ist, die in ihm verwurzelten Widersprüche zu überwinden, wird weder verschwinden noch zurückgehen. Sie wird sich unerbittlich weiter erhöhen, egal welche Kunstgriffe die Bourgeoisie vollziehen wird, um sie zu übertünchen. Immer mehr Massen von Arbeitern werden auf die Straße fliegen und in die unerträglichste Armut stürzen.

Die Arbeiterklasse und die Frage der Arbeitslosigkeit

Die Arbeitslosigkeit ist eine Geißel für die gesamte Arbeiterklasse. Sie trifft nicht nur die Arbeiter, die jetzt ohne Arbeit dastehen, sondern alle Arbeiter sind von ihr betroffen. Einerseits führt sie zu einer radikalen Verarmung der Arbeiterfamilien - in einem immer größeren Ausmaß -, wo ein oder mehrere Familienmitglieder arbeitslos sind. Andererseits führt sie zu erhöhten Abgaben für die Arbeitslosenversicherung. Schließlich wird sie von den Kapitalisten dazu benutzt, die Arbeiter hinsichtlich des Lohns und der Arbeitsbedingungen zu erpressen. Während der letzten Jahre, seitdem die offene Krise dem illusorischen ‘Wohlstand’ des Kapitalismus ein Ende bereitet hat, hat die Bourgeoisie der höchst entwickelten Länder vor allem mittels der Arbeitslosigkeit die Arbeits- und Lebensbedingungen der Ausgebeuteten angegriffen. Sie wußte aufgrund der massiven Streiks,  die Europa und die Welt von 1968 an erschütterten genau,  daß offene Kürzungen des direkten Lohnes zu sehr gewalttätigen und massiven Reaktionen der Arbeiter führen würden. Deshalb hat sie ihre Angriffe auf den indirekten Lohn konzentriert, der vom ‘Wohlfahrtsstaat’ bezahlt wird, indem immer mehr alle Sozialleistungen gekürzt werden, insbesondere im Namen der ‘Solidarität mit den Arbeitslosen’, und die Lohnmasse ist stark gesenkt worden, indem Dutzende von Millionen Arbeiter auf die Straße gesetzt wurden.

Aber die Arbeitslosigkeit ist nicht nur die Speerspitze der Angriffe des krisengeschüttelten Kapitalismus gegen die Ausgebeuteten. Sobald die Arbeitslosigkeit dauerhaft und massenhaft wird, die unwiderruflich gewaltige Arbeitermassen aus der Lohnarbeit rausschmeißt, stellt sie den offensten Beweis des endgültigen Bankrotts, der Sackgasse einer Produktionsform dar, dessen historische Aufgabe gerade darin bestanden hatte, überall auf der Erde eine wachsende Masse von Menschen zu Lohnabhängigen zu machen. Obwohl die Arbeitslosigkeit für Millionen von Menschen eine wirkliche Tragödie bedeutet, wo die wirtschaftliche Not noch durch die moralische Not erschwert wird, kann die Arbeitslosigkeit in einer Welt, wo die Arbeit das Hauptintegrationsmittel in die Gesellschaft und das Hauptmittel gesellschaftlicher Anerkennung darstellt, ein mächtiger Faktor der Bewußtwerdung der Arbeiterklasse über die Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus werden. Auch wenn die Arbeitslosigkeit den Arbeitern die Möglichkeit vorenthält, Streiks als Kampfmittel einzusetzen, sind sie damit noch nicht zur Hilflosigkeit verdammt. Der Klassenkampf des Proletariats gegen die Angriffe des krisengeschüttelten Kapitalismus bietet den Arbeitern das Hauptmittel, ihre Kräfte zusammenzuschweißen und ihr Bewußtsein über die Notwendigkeit der Überwindung dieses Systems zu entwickeln. Aber dieser Klassenkampf kann sehr wohl andere Kampfformen annehmen als Streiks. Die Straßendemonstrationen, wo Arbeiter zusammenkommen, ohne auf die Fabrikzugehörigkeit oder die Branchenspaltungen zu achten, sind eines der wichtigsten Instrumente, die auch in revolutionären Perioden umfassend eingesetzt wurden. Und bei diesen Demonstrationen können die Arbeitslosen ihren Platz einnehmen. Auch können die Arbeitslosen, wenn sie fähig sind, sich außerhalb der Kontrolle der bürgerlichen Überwachungs- und Kontrollorgane zu organisieren, auf der Straße zusammenkommen und ihre Kräfte mobilisieren, um Wohnungsräumungen und das Abschalten von Strom zu unterbinden, um Rathäuser zu besetzen oder andere öffentliche Plätze, um die Zahlung von Geldern zu erzwingen. Wie wir oft geschrieben haben, „wenn die Arbeitslosen die Fabrik verlieren, gewinnen sie die Straße“ (15),  und sie können einfacher die Branchenspaltungen überwinden, die die Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterklasse insbesondere dank der Gewerkschaften aufrechthält. Hier geht es keineswegs um abstrakte Hypothesen, sondern um konkrete Erfahrungen der Arbeiterklasse, insbesondere während der 30er Jahre in den USA, wo zahlreiche Arbeitslosenkomitees außerhalb der Kontrolle der Gewerkschaften gebildet worden waren.

Obgleich sich die Arbeitslosigkeit in den 80er Jahren massiv zugespitzt hat, ist es nirgendwo zur Bildung von bedeutenden Arbeitslosenkomitees gekommen (sondern nur zu einigen ansatzweisen Versuchen, die von den Gruppierungen der Extremen Linken schnell unterwandert und damit abgewürgt wurden), und noch weniger zu massiven Mobilisierungen von Arbeitslosen. Dabei waren dies Jahre, in denen sich wichtige Arbeiterkämpfe entfaltet hatten, die es immer mehr schafften, sich aus dem Würgegriff der Gewerkschaften zu lösen. Wenn es bislang im Gegensatz zu den 30er Jahren noch nicht zu wirklichen Mobilisierungen der Arbeitslosen gekommen ist, dann gibt es dafür mehrere Gründe.

Der Anstieg der Arbeitslosigkeit seit Beginn der 70er Jahre verlief eher stufenweise, anders als während der ‘großen Depression’. Damals gab es nach dem wilden Durcheinander in der Anfangsphase der Krise eine wahre Explosion der Arbeitslosigkeit (in den USA z.B. stieg die Arbeitslosenquote von 3% 1929 auf 24% 1932). Auch wenn in der gegenwärtigen zugespitzten Krise die Arbeitslosigkeit immer wieder hochschnellte (insbesondere Mitte der 80er Jahre und während der letzten Jahre), war die Bourgeoisie noch dazu in der Lage, den Rhythmus des Zusammenbruches der Wirtschaft zu verlangsamen und die Angriffe gegen die Arbeiterklasse zu strecken, insbesondere bei der Arbeitslosigkeit. Darüber hinaus hat die Bourgeoisie in den fortgeschrittenen Ländern mittlerweile gelernt, dem Problem der Arbeitslosigkeit viel geschickter entgegenzutreten als in der Vergangenheit. Indem z.B. ‘plötzliche’ Entlassungen vermieden werden und statt dessen ‘sozial abgefederte’ Sozialpläne zum Zuge kommen, wo viele Arbeiter eine Zeitlang zu Umschulungen geschickt werden, bevor sie dann doch auf der Straße landen, indem sie zeitlich begrenzte Zahlungen erhalten, die ihnen eine Zeitlang ermöglichen zu überleben, hat die herrschende Klasse in einem beträchtlichen Maße die Bombe der Arbeitslosigkeit entschärft. In den meisten Industriestaaten steht der Arbeiter meist erst nach 6 Monaten oder einem Jahr völlig ohne Arbeitslosengeld da. Nachdem er zuvor schon isoliert und atomisiert wurde, ist es dann viel schwerer, sich mit seinen Klassenbrüdern zusammenzuschließen, um gemeinsam zu handeln. Schließlich ist die Unfähigkeit dieses zahlenmäßig großen Teils der Arbeiterklasse, nämlich  der Arbeitslosen, sich zusammenzuschließen, auch durch die allgemeine Lage des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft begründet, der die Tendenz des „jeder für sich“ und die Verzweiflung fördert.

‘Einer der verschlimmernden Faktoren dieser Lage ist natürlich die Tatsache, daß ein bedeutender Teil der jungen Arbeitergenerationen voll von der Geißel der Arbeitslosigkeit getroffen wird, bevor sie überhaupt die Gelegenheit gehabt haben, am Arbeitsplatz Erfahrungen mit einem gemeinsamen Klassenleben gesammelt zu haben. Während die Arbeitslosigkeit als direktes Ergebnis der Wirtschaftskrise als solche kein Ausdruck des Zerfalls ist, führt sie dennoch in dieser besonderen Phase der Dekadenz zu besonders schwerwiegenden Auswirkungen des Zerfalls. Während die Arbeitslosigkeit im allgemeinen die Unfähigkeit des Kapitalismus aufzeigen kann, den Arbeitern überhaupt eine Zukunft anbieten zu können, stellt sie ebenfalls heute einen wichtigen Faktor der Lumpenisierung bestimmter Teile der Klasse dar, insbesondere unter den jungen Arbeitern, wodurch die gegenwärtigen und zukünftigen politischen Fähigkeiten der Klasse geschwächt werden. Dies spiegelt sich darin wider, daß es zwar ein stetes Ansteigen der Arbeitslosigkeit in den 80er Jahren gab, aber gleichzeitig gab es keine bedeutenden Bewegungen oder wirkliche Organisationsversuche seitens der Arbeitslosen selber.’(16)

Aber die IKS ist nie davon ausgegangen, daß die Arbeitslosen sich nicht in den Kampf ihrer Klasse integrieren könnten. Wie wir schon 1993 schrieben: „Die massive Entwicklung von Arbeiterkämpfen wird als kraftvoller Gegenpol gegen die zerstörerischen Auswirkungen des Zerfalls auftreten, wodurch schrittweise durch die Klassensolidarität die Atomisierung, die Tendenz des ‘jeder für sich’ und all die Spaltungen überwunden werden können, unter denen das Proletariat zu leiden hat. Es ist näm­lich in Kategorien, in Indu­striebranchen, in Immigranten und "Einheimische", in Arbeitslose und Be­schäftigte, die noch eine Arbeit ha­ben, gespalten. Aufgrund des Ge­wichtes des Zerfalls haben die Ar­beitslosen während der letzten 10 Jahre im Gegensatz zu den 30er Jahren nicht in den Kampf treten können (wenn, dann nur sehr beschränkt), und sie werden auch keine den Soldaten in der Russischen Revolution von 1917 ver­gleichbare Rolle spielen, obwohl man das hätte glauben können. Aber die massive Entwicklung der  Arbeiter­kämpfe wird es ihnen ermöglichen, insbesondere bei den Straßendemos sich dem allgemeinen Kampf der Klasse anzuschließen. Dabei wird der Teil derjenigen, die schon eine Arbeit und damit Erfahrung in der asso­ziierten Arbeit und in Kämpfen ge­macht haben,  ansteigen. Allgemein kann man sagen, daß die Arbeitslosig­keit kein be­sonderes Problem der Ar­beitslosen ist, sondern ein Problem, vor dem die ganze Arbeiterklasse steht, weil die Arbeitslo­sigkeit ein tra­gischer und offensichtlicher Ausdruck des historischen Bankrotts des Kapita­lismus ist. Und gerade diese glei­chen Kämpfe werden es in der Zukunft er­möglichen, daß dieser Punkt immer mehr verstanden wird.“ (Internationale Revue Nr. 14, Resolution zur Internationalen Situation, Punkt 21). Und gerade weil die Bourgeoisie diese Bedrohung verstanden hat, unterstützt sie heute die Mobilisierungen der Arbeitslosen.

Die wahre Bedeutung der ‘Arbeitslosenbewegungen’

Um die Bedeutung der Ereignisse der letzten Monate zu verstehen, müssen wir einen wichtigen Faktor hervorheben: diese ‘Bewegungen’ waren keineswegs ein Ausdruck einer wirklichen Mobilisierung der Arbeiterklasse auf ihrem Klassenterrain. Als Beweis genügt es festzustellen, daß die bürgerlichen Medien diese Mobilisierungen ungeheuer stark ins Rampenlicht gerückt haben, wobei sie manchmal deren Ausmaß völlig übertrieben haben. Und das trifft nicht nur auf die Länder zu, wo es diese ‘Mobilisierungen’ gab, sondern auch auf internationaler Ebene. Seit Anfang der 80er Jahre, insbesondere als es im Herbst 1983 mit dem Streik im öffentlichen Dienst in Belgien zu einem Wiedererstarken der Klassenkämpfe kam, hat die Erfahrung gezeigt, wenn die Arbeiterklasse ihre Kämpfe auf ihrem Klassenterrain aufnimmt, und diese Kämpfe dann tatsächlich die Interessen der Bourgeoisie bedrohen, verhängt die herrschende Klasse ein vollständiges Black-out in den Medien. Wenn die Fernsehnachrichten lange und ausführlich über die Arbeitslosenproteste berichten, wenn das deutsche Fernsehen demonstrierende französische Arbeitslose zeigt, und das französische Fernsehen kurze Zeit später mit großem Aufwand über die deutschen Arbeitslosen berichtet, kann man sicher sein, daß der Bourgeoisie sehr daran gelegen ist, diesen Ereignissen einen möglichst großen Medienaufwand zu widmen. Tatsächlich gab es diesen Winter eine kleine ‘Wiederauflage’ der Ereignisse vom Winter 1995 in Frankreich, als es im Dezember 95 im öffentlichen Dienst Streiks gab, die seinerzeit auch überall in der Welt in den Medien groß herausgeputzt wurden. Damals ging es darum, international ein Manöver zu inszenieren, bei dem das Ansehen der Gewerkschaften aufpoliert werden sollte, bevor diese schließlich als ‘soziale Brandlöscher’ tätig werden, wenn sich nämlich wieder neue massive Klassenkämpfe entfalten würden. Der wahre Charakter dieser Manöver stellte sich schnell heraus, als die Gewerkschaften in Belgien die Streiks im Dezember 1995 in Frankreich nachahmen wollten und bewußt vom ‘französischen Beispiel’ sprachen. Einige Monate später wurde im Mai und Juni 1996 das Manöver dann in Deutschland neu aufgelegt, als die Gewerkschaftsführer offen dazu aufriefen, als sie die ‘größte Demonstration in der Nachkriegsgeschichte’ am 15. Juni 1996 vorbereiteten und dazu aufforderten, ‘machen wir es so wie in Frankreich’ (17). Auch diesmal wieder haben sich die Gewerkschaften und die Arbeitslosenverbände in Deutschland ausdrücklich auf das ‘französische Beispiel’ berufen, und am 6. Februar wurden dann auch am Arbeitslosenprotesttag an vielen Orten blau-weiß-rote Fahnen getragen.

Die Frage lautet deshalb nicht, ob die Arbeitslosenbewegung in Frankreich und Deutschland eine wirkliche Klassenmobilisierung zum Ausdruck bringt, sondern welches Ziel die Bourgeoisie damit verfolgt, wenn sie diese organisiert und so ‘populär’ macht.

Denn es ist die Bourgeoisie, die hinter der Organisierung dieser Bewegung steckt. Ein Beweis? In Frankreich ist einer der Hauptorganisatoren der Proteste die CGT, die Gewerkschaftszentrale, die von der ‘Kommunistischen’ Partei gesteuert wird, welche drei Minister in der Regierung hat, und die für die Verwaltung und Verteidigung der Interessen des nationalen Kapitals tätig ist. In Deutschland waren auch die traditionellen Gewerkschaften, deren Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeberlager offensichtlich ist, mit von der Partie. An deren Seite wirkten ‘radikalere’ Organisationen mit wie z.B. in Frankreich die Bewegung AC (Action contre le Chomage /Aktion gegen die Arbeitslosigkeit), die hauptsächlich von der Ligue Communiste Révolutionnaire (einer trotzkistischen Organisation) ferngesteuert wird und sich als eine Art ‘loyale’ Opposition gegenüber der sozialistischen Regierung versteht.

Was war also das Ziel der herrschenden Klasse bei der Förderung dieser Bewegung? Ging es darum, einer unmittelbaren Gefahr einer wirklichen Mobilisierung der Arbeitslosen zuvorzukommen? In Wirklichkeit verfolgte die Bourgeoisie ein doppeltes Ziel.

Einerseits ging es gegenüber den Beschäftigten, deren Unzufriedenheit in Anbetracht der immer heftiger werdenden Angriffe nur zunehmen kann, darum, für eine Ablenkung zu sorgen, um insbesondere bei ihnen ein Schuldgefühl für die Lage derjenigen hervorzurufen, die ‘nicht das Glück haben, eine Arbeit zu haben’. Im Falle Frankreichs war dieses Aufbauschen der Frage der Arbeitslosigkeit ein ausgezeichnetes Mittel, um das Interesse der Arbeiter an den Regierungsprojekten der Einführung der 35-Stunden-Woche zu verstärken (denn die Arbeiter lassen sich nicht dafür begeistern), von der behauptet wird, sie würde angeblich viele Arbeitsplätze schaffen (wodurch aber vor allem die Löhne blockiert und die Arbeitsintensität erhöht werden).

Andererseits ging es der Bourgeoisie darum, genauso wie sie es schon 1995 gemacht hatte, einer Situation zuvorzukommen, der sie in der Zukunft wird entgegentreten müssen. Auch wenn es heute keine Mobilisierungen und Kämpfe seitens der Arbeitslosen wie in den 30er Jahren gibt, heißt dies nicht, daß die Kampfbedingungen heute ungünstiger sind als damals. Im Gegenteil. All die Kampfbereitschaft, die die Arbeiter in den 30er Jahren (z.B. im Mai und Juni 1936 in Frankreich, im Juli 1936 in Spanien) zeigten, vermochte die erstickende Last der Konterrevolution nicht zu überwinden, die auf das Weltproletariat niedergegangen war. Diese Kampfbereitschaft war dazu verurteilt, auf das Terrain des Antifaschismus und der ‘Verteidigung der Demokratie’ abgelenkt zu werden, wodurch der imperialistische 2. Weltkrieg vorbereitet werden konnte. Heute dagegen hat das Proletariat die Konterrevolution (18) überwunden, und auch wenn es nach dem Zusammenbruch der angeblich ‘kommunistischen’ Regime einen ernsthaften politischen Rückschlag erlitten hat, hat die Bourgeoisie es nicht geschafft, der Arbeiterklasse eine entscheidende Niederlage beizufügen, die den historischen Kurs hin zu Klassenzusammenstößen infragestellt.

Und dies weiß die herrschende Klasse sehr wohl. Sie weiß, daß sie auf neue Klassenkämpfe stoßen wird, die als Reaktion auf die immer brutaler werdenden Angriffe seitens des Kapitals gegen die Ausgebeuteten entstehen werden. Und sie weiß, daß diese zukünftigen Kämpfe, die von den Beschäftigten geführt werden werden, Gefahr laufen, immer mehr Arbeitslose in ihren Bannkreis zu ziehen und mit sich zu reißen. Aber bislang wird dieser Teil der Klasse erst sehr wenig von gewerkschaftlichen Organisationen kontrolliert. Die Bourgeoisie legt Wert darauf, dass diese Bereiche der Arbeiterklasse, wenn sie in den Kampf treten und sich dem Kampf der Beschäftigten anschließen, nicht den Kontrollorganen entweichen, die dazu da sind, die Arbeiterklasse zu kontrollieren und ihre Kämpfe zu sabotieren: die Gewerkschaften aller Couleur, die radikalsten unter ihnen eingeschlossen. Insbesondere geht es darum, daß das gewaltige Potential der Kampfbereitschaft, das in den Arbeitslosen steckt, die wenigen Illusionen, die sie über den Kapitalismus haben (die sich im Augenblick in der Gestalt von Hoffnungslosigkeit äußert), ‘infizierend’ auf die Beschäftigten wirkt, wenn diese ihre Kämpfe entfalten. Mit den Mobilisierungen in diesem Winter hat die Bourgeoisie diese Politik des Ausbaus ihrer Kontrolle über die Arbeitslosen mittels der Gewerkschaften und der jetzt bekannt gewordenen ‘Dachverbände’ begonnen.

Auch wenn diese Mobilisierungen bürgerliche Manöver sind, sind diese dennoch ein zusätzlicher Beweis für die Tatsache, daß die herrschende Klasse selber sich nicht nur keine Illusionen über ihre Fähigkeit macht, die Arbeitslosigkeit einzudämmen, geschweige denn die Krise zu überwinden, sondern daß sie immer heftigere Kämpfe seitens der Arbeiterklasse erwartet.       Fabienne  März 1998

(1) „Die überflüssigen Arbeitskräfte auf dem Lande schwanken zwischen 100 und 150 Millionen Menschen. In den Städten zählt man zwischen 30-40 Millionen Arbeitslose, ob zeitweilig oder ganz arbeitslos. Dabei sind natürlich die riesigen Massen Jugendlicher nicht mit gerechnet, die bald auf dem Arbeitsmarkt auftauchen werden.“ (Paradoxe Modernisierung Chinas, Le Monde Diplomatique, März 1997)

(2) Die Arbeitslosenstatistiken dieses Landes sind überhaupt nicht aussagekräftig. So betrug 1996 die offizielle Zahl 9.3%, während das BSP in Rußland zwischen 1986 und 1996 ungefähr um 45% gefallen ist. In Wirklichkeit halten sich zahlreiche Beschäftigte an den Arbeitsplätzen auf, ohne zu arbeiten (weil es keine Aufträge für die Betriebe gibt), gegen Bezahlung eines Hungerlohns (der im Vergleich zu den Arbeitslosenzahlungen der westlichen Staaten viel niedriger liegt), der sie zur Schwarzarbeit, zur Annahme einer zweiten Stelle, zwingt, um überleben zu können.

(3) Beschäftigungsperspektiven, Juli 1993

(4) Robert B. Reich, ‘Kann eine offene Wirtschaft den sozialen Zusammenhalt aufrechterhalten?’, Bilanz der Welt, Ausgabe 1998

(5) Unemployment and Non-employment, American Economic Review, Mai 1997

(6) ‘Die Beschäftigungslosen in den USA’, ‘Die Lage der Welt 1998’, Editions La Découverte, Paris,

(7) ‘International Comparisons of Unemployment Indicators’, Monthly Labor Review, Washington, März 1993

(8) Bank für internationalen Zahlungsausgleich, Jahresbericht, Basel, Juni 1997

(9) Seumas Milne, „Wie London die Statistiken manipuliert“, Le Monde Diplomatique, Mai 97

(10) „Frankreich sollte sich durch das niederländische Wirtschaftsmodell inspirieren lassen“ (Jean-Claude Trichet, Gouverneur der Banque de France, zitiert in Le Monde Diplomatique, Sept. 97, „Die Beispiele Dänemarks und der Niederlande beweisen, daß es möglich ist, die Löhne zu reduzieren und relativ stabile Löhne zu behalten“ (Jahresbericht der Bank für internationalen Zahlungsausgleich, Basel, Juni 97)

(11) ‘Ein Wunder oder Trugbild in den Niederlanden’, Le Monde Diplomatique, Juli 97

(12) ‘Die Niederlande 1995-96’, Wirtschaftsberichte der OECD, Paris 1996

(13) Quelle: Enzyklopädie Universalis, Artikel über ‘Die Wirtschaftskrisen’, und Maddison ‘Economic Growth in the West’, 1981

(14) siehe „Bericht zur Wirtschaftskrise für den 12. Kongreß der IKS“, in dieser Nummer der Imternationalen Revue.

(15) siehe insbesondere unsere Beilage: ‘Der Kapitalismus hat für die Arbeitslosigkeit keine Lösung’, Mai 1994 franz.

(16) „Der Zerfall - letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus“, Internationale Revue Nr. 13

(17) siehe dazu unsere Artikel in der Revue Internationale Nr. 84, 85, 86 (frz., engl., span.)

(18) siehe dazu den Artikel zu Mai 1968 in der Revue Internationale Nr. 93 (frz., engl., span.

Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [140]

Bericht über die Wirtschaftskrise für den 12. Kongreß der IKS

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Aktuelles und Laufendes: 

  • Soziale Foren [141]

Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [140]

Deutsche Revolution Teil V

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5. Von der Fraktionsarbeit zur Gründung der KPD

Im vorangegangenen Artikel dieser Serie haben wir gezeigt, wie angesichts des Verrats der Sozialdemokratie die Revolutionäre in Deutschland mit der Organisationsfrage umgegangen waren. Ihre Devise lautete, zunächst den Kampf und die Fraktionsarbeit innerhalb der alten Partei konsequent fortzusetzen und, als das nicht mehr möglich war, den Aufbau einer eigenen Partei vorzubereiten. Diese verantwortungsvolle Vorgehensweise gegenüber der SPD, die sich die Spartakisten zu Eigen gemacht hatten, veranlasste sie schließlich dazu, im Gegensatz zu den Bremer Linksradikalen, die die sofortige Gründung einer eigenen Partei forderten, mehrheitlich der zentristischen USPD beizutreten. In diesem Artikel werden wir uns mit der Gründung der KPD und den organisatorischen Schwierigkeiten dieser jungen Partei beschäftigen.

 

Die Linksradikalen und der gescheiterte Versuch einer Parteigründung

In einer Stellungnahme vom 5. Mai 1917 warfen die Bremer und Hamburger Linksradikalen den Spartakisten vor, ihre organisatorische Selbständigkeit mit dem Eintritt in den USPD aufgegeben zu haben; sie meinten, „die Zeit ist reif für die Gründung einer linksradikalen Organisation, der Internationalen Sozialistischen Partei Deutschlands.“

Bereits im Sommer trafen sie erste Vorkehrungen für die neue Parteigründung. Für Anfang August 1917 war eine Gründungskonferenz in Berlin geplant. 13 Delegierte kamen, fünf aus Berlin, die restlichen acht aus anderen Städten Deutschlands. Doch die Polizei war auf dem Posten, sie sprengte das Treffen! Es zeigte sich, dass der Wille allein nicht ausreichte, es bedurfte auch organisatorischer Fähigkeiten. „Es reicht eben nicht, das ‚reine Banner‘ aufzupflanzen, die Aufgabe jedoch ist, es zu den Massen zu tragen, um sie zu gewinnen“, stellte Rosa Luxemburg im Duisburger Kampf fest.

Am 2. September wurde ein zweiter Versuch unternommen. Diesmal erhielt die neue Organisation den Namen „Internationaler Sozialistischer Arbeiterbund“. Seine Statuten sahen vor, dass jeder Ortsverein Autonomie erhalten solle. Es wurde behauptet, die „Zweiteilung in politische und wirtschaftliche Organisationen sei geschichtlich überholt“ – ein weiteres Indiz für die große Heterogenität in der Organisationsfrage. Die Behauptung, die Bremer Linksradikalen seien in der Organisationsfrage am klarsten in der revolutionären Bewegung in Deutschland gewesen, entspricht daher nicht den Tatsachen.

Die Dresdner Linken um Otto Rühle begannen gar, organisationsfeindliche Ansätze zu entwickeln. Die Geburt des künftigen Rätekommunismus rückte immer näher. Aus seiner Abneigung gegen eine organisatorische Zusammenfassung machte das rätekommunistische Embryo keinen Hehl.

Während die Spartakisten auf immer mehr Aufmerksamkeit stießen, gelang es den Bremer Linken und dem ISD nie, über den kleinen Kreis von Eingeweihten hinaus zu gelangen. Auch wenn die Arbeit der Spartakisten in der USPD nach anderthalb Jahren nicht die erwarteten Früchte trug, so gab die Spartakusgruppe entgegen der Behauptung der ISD zumindest nicht ihre Unabhängigkeit auf. Bei ihren Interventionen in den Reihen der USPD ließen sich die Spartakisten keinen Maulkorb anlegen.

Ob in den Auseinandersetzungen über die deutsch-russischen Verhandlungen von Brest-Litowsk im Winter 1917 oder während der riesigen Streikwelle im Januar 1918, als ca. eine Million Arbeiter die Arbeit niederlegten und z.T. Arbeiterräte gründeten – immer standen die Spartakisten an vorderster Front.

Zu einem Zeitpunkt, als der deutsche Imperialismus sich ein letztes Mal aufbäumte und noch mehr Kanonenfutter ins Feuer des schon verlorenen Krieges zu werfen beabsichtigte[1], baute die Spartakusgruppe ihr Organisationsnetz weiter aus. Sie veröffentlichte acht Publikationen in Auflagen von 25.000 bis 100.000 Exemplaren. Und dies zu einer Zeit, als nahezu die gesamte Führung der Spartakisten im Gefängnis saß[2].

Auch nachdem die Bremer Linksradikalen sich für die Gründung einer eigenständigen Partei entschieden hatten, blieb die Spartakusgruppe ihrer Linie treu und verfolgte weiterhin die Umgruppierung und Bündelung aller revolutionären Kräfte in Deutschland.

Am 7. Oktober 1918 lud Spartakus zu einer Reichskonferenz, an der auch Abgesandte mehrerer Ortsgruppen anderer linksradikaler Gruppen teilnahmen. Es wurde eine organisatorische Zusammenarbeit zwischen Spartakisten und anderen Linksradikalen beschlossen, ohne dass dies den Eintritt letzterer in die USPD zur Folge hatte. Jedoch wurde auf dieser Konferenz trotz der heraufziehenden revolutionären Entwicklung noch nicht entschieden genug die Notwendigkeit einer eigenen Partei hervorgehoben. Lenin hatte dies betont: „Das größte Unglück und die größte Gefahr für Europa bestehen darin, dass es dort keine revolutionäre Partei gibt (...) Gewiss, die revolutionäre Bewegung der Massen kann diesen Mangel beheben, er bleibt aber (...) eine große Gefahr.“

 

Die Intervention der Spartakisten in den revolutionären Kämpfen

Als die revolutionären Kämpfe im November 1918 ausbrachen, leisteten die Spartakisten eine heroische Arbeit. Auch inhaltlich waren ihre Interventionen in den Kämpfen auf der Höhe. Sie traten dafür ein, eine Brücke zur russischen Arbeiterklasse zu schlagen, entblößten, ohne zu zögern, die Manöver und Sabotage der Bourgeoisie und erkannten die Rolle der Arbeiterräte sowie die Notwendigkeit an, die Bewegung nach Beendigung des Krieges durch die Verstärkung des Drucks aus den Fabriken auf eine neue Stufe zu hieven. (Aus Platzgründen können wir hier nicht näher auf ihre Interventionen eingehen.)

Trotz ihrer inhaltlichen Stärke besaßen die Spartakisten während der Kämpfe aber noch nicht einen ausschlaggebenden Einfluss innerhalb der Arbeiterklasse. Um der Rolle einer kommunistischen Partei jedoch gerecht zu werden, reicht es nicht aus, politisch korrekte Positionen innezuhaben, unabdingbar ist auch ein entsprechender Einfluss auf die Arbeiterklasse. Die Partei muss der Steuermann sein, der die Bewegung an den Untiefen vorbei sicher in den Hafen lotst.

Hatte der lose Zusammenschluss der Spartakusgruppe während des Krieges noch ausgereicht, um eine hervorragende Propagandaarbeit zu leisten, fehlte den Spartakisten bei Ausbruch der revolutionären Kämpfe jetzt ein verlässliches organisatorisches Netzwerk. Erschwerend kam hinzu, dass sie immer noch der USPD angehörten und damit für viele Arbeiter nicht unterscheidbar waren gegenüber den Zentristen. Die SPD schlug insofern Gewinn daraus, als dass sie mit noch mehr Überzeugungskraft von der „Einheit“ zwischen den Arbeiterparteien sprechen konnte.

Der organisatorische Ausbau der Spartakisten wurde erst nach dem Ausbruch der Kämpfe beschleunigt. Am 11. November wurde die Spartakusgruppe in „Spartakusbund“ umbenannt. Gleichzeitig wurde eine Zentrale aus zwölf Genossen gebildet.

Im Gegensatz zur SPD, die allein über ca. 100 Zeitungen verfügte und sich auf einen umfangreichen Funktionärsapparat stützen konnte, waren die Spartakisten bei Ausbruch der Kämpfe nicht einmal im Besitz einer Zeitung. In der entscheidenden Woche vom 11. bis zum 18. November standen die Spartakisten ohne eigene Presse da, denn die Rote Fahne konnte nicht erscheinen. Nachdem die Spartakisten eine bürgerliche Zeitung besetzt hatten, setzte die SPD alle Hebel in Bewegung, um ein Erscheinen der Roten Fahne zu verhindern. Erst nachdem eine andere Druckerei besetzt worden war, konnte die Rote Fahne wieder erscheinen.

Nachdem die Forderung der Spartakisten nach Einberufung eines Parteitages der USPD auf keine Mehrheit gestoßen war, beschlossen sie die Gründung einer eigenen Partei. Die Genossen der ISD, mittlerweile in IKD umbenannt, veranstalteten bereits am 24. Dezember eine Reichskonferenz in Berlin, an der Delegierte von der Küste, aus dem Rheinland, aus Sachsen, Bayern, Württemberg und Berlin teilnahmen. Radek drängte auf dieser Konferenz auf die Verschmelzung der IKD mit den Spartakisten. Zwischen dem 30. Dezember 1918 und dem 1. Januar 1919 wurde schließlich die KPD gegründet.

Die KPD war also das Ergebnis der Vereinigung von IKD und Spartakusbund.

 

Die Gründung der KPD

Als erster Punkt stand die Bilanz der Arbeit der Spartakisten in der USPD auf der Tagesordnung. Bereits am 29. November 1918 hatte Rosa Luxemburg die Schlussfolgerung gezogen, dass es „für eine Partei der Halbheit und Zweideutigkeit in der Revolution keinen Platz mehr“ gibt. Zentristische Parteien wie die USPD würden in revolutionären Zeiten auseinanderbrechen.

„Wir haben der USPD angehört, um aus der USPD herauszuschlagen, was herausgeschlagen werden konnte, um die wertvollen Elemente der USPD voranzutreiben, um sie zu radikalisieren, um auf diese Weise schließlich bei einem Zersetzungsprozess, bei weiterem Fortgang des Zersetzungsprozesses zu erreichen, dass möglichst starke revolutionäre Kräfte gewonnen werden könnten für die Zusammenfassung in einer geschlossenen, einheitlichen, revolutionären proletarischen Partei. (...) Das, was erreicht wurde, war außerordentlich gering (...) (Mittlerweile dient die USPD) als Feigenblatt für die Ebert-Scheidemann. Sie haben in den Massen das Gefühl für einen Unterschied zwischen der Politik der USPD und der Mehrheitssozialisten geradewegs verwirkt (...) Jetzt hat die Stunde geschlagen, in der alle proletarischen revolutionären Elemente der USPD den Rücken kehren müssen, um eine neue, selbständige Partei mit klarem Programm, festem Ziel, einheitlicher Taktik, höchster revolutionärer Entschlossenheit und Tatkraft zu schaffen, als ein starkes Instrument zur Durchführung der beginnenden sozialen Revolution.“ (Rosa Luxemburg, Protokoll des Gründungsparteitages, S. 84, 92)

Beseitigung der zentristischen Hürde, klarste Abgrenzung gegenüber dem Zentrismus, Zusammenschluss aller Revolutionäre in der KPD – das waren die Aufgaben des Tages.

Bei der Einschätzung des aktuellen Standes der revolutionären Kämpfe bewies Rosa Luxemburg in ihrem Referat über Unser Programm und die politische Situation den klarsten Überblick über die Lage. Sie sprach sich dagegen aus, überstürzt zu handeln und die Schwierigkeiten zu unterschätzen. Sie erkannte, dass man sich „mit voller Klarheit alle Schwierigkeiten und Komplikationen dieser Revolution vor Augen führen“ müsse. „Wenn ich es so schildere, nimmt sich der Prozess vielleicht etwas langwieriger aus, als man geneigt wäre, ihn sich im ersten Moment vorzustellen. (...) ich hoffe, wie auf mich, so wirkt auf keinem von Euch die Schilderung der großen Schwierigkeiten, der sich auftürmenden Aufgaben dahin, dass Ihr etwa in Eurem Eifer oder Eurer Energie erlahmt.“

Wie wichtig für sie die Rolle der Partei war, beweist folgende Aussage: „Die jetzige Revolution, die erst in ihrem Anfangsstadium steht, die gewaltige Perspektiven vor sich und weltgeschichtliche Probleme zu bewältigen hat, muss einen untrüglichen Kompass haben, der in jedem Teilstadium des Kampfes, in jedem Siege und in jeder Niederlage unbeirrbar nach demselben großen Ziele weist: nach der sozialistischen Weltrevolution, nach dem rücksichtslosen Machtkampf des Proletariats um die Befreiung der Menschheit vom Joch des Kapitals. Dieser richtungsweisende Kompass, dieser vorwärtstreibende Keil, der proletarisch-sozialistische Sauerteig der Revolution zu sein – das ist die spezifische Aufgabe des Spartakusbundes in der gegenwärtigen Auseinandersetzung zweier Welten.“ (29. Dezember 1918)

„Wir müssen die Massen erst darin schulen, dass der Arbeiter- und Soldatenrat der Hebel der Staatsmaschinerie nach allen Richtungen sein soll, dass er jede Gewalt übernehmen muss und sie alle in dasselbe Fahrwasser der sozialistischen Umwälzung leiten muss. Davon sind auch noch diejenigen Arbeiter, die schon in den Arbeiter- und Soldatenräten organisiert sind, meilenwert entfernt, ausgenommen natürlich einzelne kleine Minderheiten von Proletariern, die sich ihrer Aufgabe klar bewusst sind.“ (Rosa Luxemburg, Unser Programm und die politische Situation, Ges. Werke Bd. 4, S. 511)

Lenin betrachtete das Programm der Spartakisten (Was will der Spartakusbund?), das er Ende Dezember erhielt, als Eckpfeiler bei der Gründung der Kommunistischen Internationale. „Dazu muss man die Grundsätze für eine Plattform formulieren (ich denke, man kann a) die Theorie und Praxis des Bolschewismus nehmen (...) ferner b) ‚Was will der Spartakusbund?‘ nehmen). Aus a + b gehen die Grundsätze für eine Plattform klar genug hervor.“ (Lenin, Briefe, Ges. Werke Bd. 5, S. 221, Dezember 1918)

 

Die Organisationsfrage auf dem Parteitag

Die Zusammensetzung dieses Parteitages – aus 46 Orten kamen 83 Delegierte zusammen, die zu einem Großteil über kein richtiges Mandat verfügten – spiegelte die ganze Unreife der Organisation wider. Der Kampf gegen den Krieg hatte die verschiedensten Kräfte in eine gemeinsame Front geworfen. Neben dem alten Stamm von revolutionären Parteiarbeitern, die bereits vor dem Krieg der linksradikalen Opposition um Rosa Luxemburg angehört hatten, saßen jetzt junge Arbeiter, die erst im Verlaufe des Krieges zu Trägern der revolutionären Propaganda und Aktion geworden waren und demzufolge noch wenig politische Erfahrung besaßen, Soldaten, die durch die Erbitterung über die Leiden und Entbehrungen des Krieges angestachelt waren, Pazifisten, die wacker gegen den Krieg gekämpft hatten, durch ihre Verfolgung nach links getrieben worden waren und die nun in der radikalen Arbeiterbewegung ein fruchtbares Feld für ihre Ideen erblickten, Künstler und Intellektuelle, die vom Sog der Revolution erfasst worden waren – kurzum: Elemente, wie sie in jeder Revolution in die Bewegung gespült werden. Hinzu kam, dass die Repression viele revolutionäre Führer eingekerkert hatte, dass viele erfahrene Parteimitglieder ihr Leben an der Front gelassen hatten und durch junge, radikalisierte Elemente ersetzt worden waren, die über wenig Organisationserfahrung besaßen. Wie man sieht, liefert der Krieg selbst nicht notwendigerweise die besten Bedingungen für den Aufbau einer revolutionären Partei.

Schnell kristallisierten sich auf dem Parteitag in der Organisationsfrage ein von Luxemburg und Jogiches angeführter marxistischer Flügel, ein organisationsfeindlicher Flügel, der später in die rätekommunistische Strömung münden sollte, und ein aktionistischer, in Organisationsfragen schwankender Flügel um Karl Liebknecht heraus. Der Kongress zeigte die große Kluft in der programmatischen Klarheit, in den Auffassungen über die Grundsatzpositionen, wie sie Rosa Luxemburg in Unser Programm umrissen hatte, und in den Auffassungen zur Organisationsfrage auf.

 

Die Schwächen in der  Organisationsfrage

Zunächst nahm die Diskussion über die Organisationsfrage auf dem Gründungsparteitag einen zeitlich nur begrenzten Raum ein; zudem waren einige Delegierte schon abgereist. Der Bericht Eberleins auf dem Parteitag bot ein Spiegelbild der Schwächen der KPD in dieser Frage. Zunächst zog Eberlein als Berichterstatter eine Bilanz der bisherigen Arbeit der Revolutionäre.

„Die alten Organisationen waren schon ihrem Namen und ihrer Tätigkeit nach Wahlvereine. Die neue Organisation soll nicht ein Wahlverein, sondern eine politische Kampforganisation werden. (...) Die sozialdemokratischen Organisationen waren Wahlvereine. Ihre ganze Organisation beruhte darauf, die Vorarbeiten und die Agitation zu den Wahlen einzuleiten und durchzuführen, und es war faktisch so, dass ein bisschen Leben in den Organisationen auch nur dann vorhanden war, wenn man vor Wahlen oder mitten in den Wahlen stand. Die übrige Zeit war es in den Organisationen öde und ausgestorben.“ (aus dem Bericht Eberleins zur Organisationsfrage, S. 260)

Diese Beurteilung der Vorkriegs-SPD gibt das Absterben jeglichen Lebens in den sozialdemokratischen Organisationen infolge der Versumpfung durch den Reformismus trefflich wieder. Die ausschließliche Orientierung auf die Parlamentswahlen erstickte jegliches Leben in den Ortsvereinen. Durch diese Fixierung auf die parlamentarische Tätigkeit (parlamentarischer Kretinismus) sowie die damit einhergehende Bindung an die bürgerliche Demokratie konnte die gefährliche Illusion entstehen, Hauptachse des Kampfes der Partei sei die parlamentarische Tätigkeit. Erst der Verrat der SPD-Reichstagsfraktion zu Kriegsbeginn bewirkte ein Aufbäumen in etlichen Ortsvereinen.

Doch während des Krieges „mussten wir jahrelang eine illegale Tätigkeit ausüben, so dass aufgrund dieser illegalen Tätigkeit eine feste Organisationsform nicht möglich war“.

In der Tat war Liebknecht vom Sommer 1915 bis zum Oktober 1916 entweder von der Armee eingezogen oder saß im Gefängnis, wodurch ihm die „freie Meinungsäußerung“ und der Kontakt zu den anderen Genossen untersagt werden sollte. Rosa Luxemburg war drei Jahre und vier Monate eingekerkert, Leo Jogiches ab 1918; die Mehrzahl der Mitglieder der im Jahre 1916 gebildeten Zentrale befand sich ab 1917 hinter Gittern. Insbesondere kurz vor Ausbruch der entscheidenden Kämpfe 1918 war ein Großteil der führenden Genossen immer noch im Gefängnis. Zwar konnte Spartakus damit nicht zum Schweigen gebracht werden, doch dem organisatorischen Aufbau der Partei wurde ein schwerer Schlag zugefügt, indem einer organisatorisch noch nicht ausgereiften Bewegung die Führung genommen wurde.

Doch auch wenn die objektiven Bedingungen – Illegalität und Repression – den Aufbau eines Organisationsnetzes immens erschwerten, darf dies nicht darüber hinweg täuschen, dass vielerorts die Notwendigkeit des Aufbaus einer neuen Organisation unterschätzt wurde. Eberlein meinte:

„Sie alle wissen, dass wir in unserem Optimismus der Auffassung sind, dass die kommenden Wochen und Monate uns Dinge bringen werden, die alle diese Diskussionen überflüssig machen können. Deshalb will ich bei der vorgeschrittenen Zeit, die uns heute zur Verfügung steht, Sie nicht weiter aufhalten. (...) wir stehen jetzt mitten drin im politischen Kampf, da ist zu Paragraphenfuchserei (gemeint ist die Diskussion über die Statuten, die Red.) keine Zeit (...) wir dürfen und sollen in diesen Tagen unser Hauptgewicht nicht auf die kleinen Dinge der Organisation legen. Wir wollen, soweit es möglich ist, in den nächsten Wochen und Monaten Ihnen in den Orten das alles selbst überlassen (...) (wenn wir mehr und überzeugte Mitglieder haben), die für die kommenden Tage der Aktion bereit sind, die ihre ganzen Gedanken auf die Aktion der nächsten Zeit lenken. Dann werden wir über die kleinen Schwierigkeiten der Organisierung und der Organisationsform leicht hinwegkommen.“ (S. 272)

Natürlich ist in der Stunde revolutionärer Entscheidungen Klarheit und Einheit in den revolutionären Aufgaben geboten, alles eilt und drängt, der Faktor Zeit spielt eine ausschlaggebende Rolle. Es liegt also auf der Hand, dass die Klärung der Organisationsfragen vor Ausbruch der revolutionären Kämpfe wünschenswert und notwendig gewesen wäre. Angesichts der Beschleunigung der revolutionären Entwicklung, die ein Großteil der Delegierten für die nächsten Wochen erwartete, verbreitete sich jedoch in jenem Flügel, der der Partei misstrauisch gegenüber eingestellt war, die Auffassung, die Partei werde durch die Entwicklung der Dinge von allein überflüssig gemacht werden.

Die Aussagen Eberleins bringen nicht nur die Ungeduld, sondern auch eine dramatische Unterschätzung der Organisationsfrage zum Ausdruck. „Wir hatten in diesen vier Jahren keine Zeit, um uns zu überlegen, wie wir uns organisieren wollten. Wir wurden in diesen vier Jahren einfach von Tag zu Tag vor Tatsachen gestellt und mussten aufgrund der feststehenden Tatsachen entscheiden, ohne zu fragen, ob dabei ein Organisationsstatut geschaffen werden kann.“ (S. 264)

Zwar trifft es zu, dass die Spartakisten, wie Lenin meinte, „unter den schwierigen Umständen eine systematische revolutionäre Propaganda“ betrieben, aber es ist dennoch unübersehbar, dass sie den Fehler begingen, ihre Organisation in der Klassenintervention zu verausgaben. So mutig und glasklar die revolutionäre Propaganda der Spartakisten war, ihre ausschließliche Fixierung auf die Interventionen führte letztendlich zu einer Lähmung der inneren Aktivitäten der Organisation selbst.

Die Revolutionäre können in einer solch dramatischen Situation wie die des Krieges noch so entschlossen und heldenhaft intervenieren – wenn im Moment des Ausbruchs von Arbeiterkämpfen kein festes organisatorisches Gefüge existiert, wenn dem Proletariat keine schlagkräftige Kampforganisation zur Seite steht, dann können sich all die Jahre aufopfernder Interventionen als unzureichend erweisen. Der Aufbau eines Organisationsnetzes, die Klärung der Funktion der Organisation, die Ausarbeitung von organisatorischen Regeln (Statuten) sind unerlässliche Bausteine für die Errichtung, das Funktionieren und die Intervention einer Organisation. Diese Aufbauarbeit darf durch die Klasseninterventionen nicht behindert werden. Eine Intervention in der Klasse wird nur dann Früchte tragen, wenn sie nicht auf Kosten des Aufbaus der Organisation geht. Der Aufbau und die Verteidigung der Organisation ist eine ständige Pflicht der Revolutionäre, ob in Zeiten der Grabesruhe an der Klassenfront oder in einer Epoche heranflutender Wellen des Klassenkampfes.

Darüber hinaus gab es einen Flügel in der KPD, der angesichts seiner Erfahrungen mit der SPD wie ein gebranntes Kind auf den Zentralismus reagierte. Es trifft zu, dass innerhalb des Parteikörpers ein ungeheurer bürokratischer Apparat entstanden war, der, von der Parteiführung eingesetzt, die Initiativen an der Basis immer mehr behindert hat. Aus Furcht vor der Erstickung des Organisationslebens durch eine neue Zentrale machte sich nun ein Teil der KPD zum Fürsprecher des Föderalismus. Auch Eberlein stimmte in diesen Chor mit ein: „Es wäre notwendig, dass bei dieser Organisationsform den einzelnen Orten von Seiten der Gesamtorganisation die weitmöglichste Freiheit gelassen wird, dass nicht von oben herunter schematisch verordnet wird (...) Wir sind weiter der Meinung, dass das alte System der Unterordnung der einzelnen Orte unter die Zentrale aufhören muss, dass die einzelnen örtlichen Organisationen, die einzelnen Betriebsorganisationen eine völlige Autonomie haben müssen. Sie müssen selbständig sein in ihrer Tätigkeit, (...) sie müssen die Möglichkeit haben, selbst in die Aktion einzutreten, ohne dass die Zentrale immer das Recht hat zu sagen: ‚Das dürft Ihr tun, oder das dürft Ihr nicht tun.‘.“ (S. 269)

Diese Politik des Zentralismus-feindlichen Flügels der jungen KPD und der späteren rätekommunistischen Strömung war nichts anderes als ein Rückschritt in der Organisationsgeschichte der revolutionären Bewegung. Dies kam auch in der Frage der Presse zum Ausdruck. „Wir sind weiter der Meinung, dass die Frage der Presse nicht zentral geregelt werden kann, dass die örtlichen Organisationen überall die Möglichkeit haben müssen, ihre eigene Zeitung zu gründen (...) Einige Genossen haben (die Zentrale) angegriffen und uns gesagt: Ihr gebt eine Zeitung heraus, was sollen wir damit machen, wir können sie nicht gebrauchen, wir geben selbst eine Zeitung heraus.“ (S. 263)

Aus den Ausführungen Eberleins geht hervor,  wie stark die Heterogenität der frisch gegründeten KPD in der Organisationsfrage war.

 

Der marxistische Flügel zur Organisationsfrage – eine Minderheit

Als entschieden marxistischer Flügel trat auf dem Gründungskongress hauptsächlich die Gruppe um Rosa Luxemburg und Leo Jogiches auf; sie blieb jedoch in der Minderheit. Als direkter Gegenpol wirkte der organisationsfeindliche Flügel, die Rätekommunisten, die die Rolle der politischen Organisation grundsätzlich unterschätzten und in ihrem Misstrauen gegenüber der Organisation vor allem die Zentralisierung ablehnten und auf die Selbständigkeit der örtlichen Sektionen drängten. Rühle war ihr prominentester Vertreter[3]. Ein weiterer, jedoch mit keiner klaren Alternative auftretender Flügel war der um Karl Liebknecht. Dieser Flügel zeichnete sich durch seine beispiellose Kampfbereitschaft aus. Doch um als Partei zu wirken, reichte der Wille zur Intervention allein nicht aus; es bedurfte auch der programmatischen Klarheit und eines festen Organisationskörpers. Liebknechts Flügel richtete seine Aktivitäten nahezu ausschließlich auf die Klassenintervention aus. Am deutlichsten wurde dies, als Liebknecht am 23. Oktober 1918 aus dem Gefängnis entlassen wurde. Ca. 20.000 Arbeiter warteten am Anhalter Bahnhof auf seine Ankunft.  Seine erste Tat war, vor die Fabriktore zu gehen und unter den Arbeitern zu agitieren. Dabei war im Oktober 1918, als es in der Klasse ohnehin brodelte, nicht die Intervention die dringlichste Aufgabe der Revolutionäre, sondern die Auferbietung aller Kräfte für den Aufbau der Partei, zumal die Spartakisten erst eine lose Organisation ohne feste Strukturen waren. Liebknechts Haltung in der Organisationsfrage unterschied sich stark von Lenins Position. Nachdem letzterer im April 1917 im Petrograder Bahnhof eingetroffen und triumphal empfangen worden war, verkündete er flugs seine Aprilthesen und tat alles, um die bolschewistische Partei auf einem Sonderparteitag aus ihrer Krise herauszuhelfen und ihr ein klares Programm zu verleihen. Liebknechts Hauptsorge galt dagegen nicht so sehr der Organisation und ihrem Aufbau. Ja, er schien eine Organisationsauffassung zu haben, in deren Mittelpunkt die Idee stand, dass ein revolutionärer Militanter ein Held, ein herausragendes Individuum sein müsse, und die völlig übersah, dass eine proletarische Kampforganisation vor allem von ihrer kollektiven Stärke lebt. Dass er später dann zu Aktionen auf eigene Faust neigte, war nur die logische Konsequenz aus seiner fehlerhaften Organisationsauffassung. Rosa Luxemburg beklagte später denn auch oft, dass „Karl ständig unterwegs war, von einer Rede zu den Arbeitern zur anderen eilte, er kam oft nur zu den Redaktionssitzungen der ‚Roten Fahne‘, sonst war es schwer, ihn zu einer Sitzung der Organisation aufzutreiben.“ Er verstand nicht, dass seine größte Effektivität, sein größter Beitrag in der Festigung der Organisation bestand.

 

Die Sünden der Vergangenheit

Die SPD war bereits seit Jahren von der parlamentarischen Arbeit zernagt worden. Die Dominanz der parlamentarisch-reformistischen Tätigkeit hatte der illusorischen Auffassung Auftrieb verliehen, die Teilnahme an der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie sei die Hauptwaffe des proletarischen Klassenkampfes, und hatte völlig den Blick dafür verstellt, dass der Parlamentarismus allenfalls vorübergehend ein Instrument zur Ausnutzung der Widersprüche zwischen den verschiedenen Fraktionen des Kapitals war und dass er nur vorübergehend die Möglichkeit bot, dem Kapital Konzessionen abzuringen. Durch den Parlamentarismus „verwöhnt“, neigte man dazu, die Stärke der SPD an ihrem Stimmenanteil im Reichstag zu messen. Hier unterschieden sich die Bolschewiki und der linke Flügel in Deutschland grundsätzlich voneinander. Aufgrund ihrer Kampferfahrungen von 1905 und angesichts der Repressionen und den Bedingungen der Illegalität, die es ihnen nur gestattete, eine weitaus kleinere Anzahl von Abgeordneten in die Duma zu entsenden, sahen die Bolschewiki den Schwerpunkt ihrer Tätigkeiten keineswegs im parlamentarisch-gewerkschaftlichen Kampf. Während die SPD eine vom Opportunismus zerfressene Massenpartei geworden war, waren die Bolschewiki eine relativ kleine, schlagkräftige Partei geblieben, die dem Opportunismus trotz der Krisen, die auch sie durchlitten hatte, besser widerstand. Es ist kein Zufall, dass der marxistische Flügel in der SPD, mit Rosa Luxemburg und Leo Jogiches an der Spitze, aus der polnisch-litauischen SDKPL hervorgegangen war, d.h. aus einem Teil der revolutionären Bewegung, der seine Erfahrungen in den Kämpfen von 1905 gesammelt hatte und nicht im parlamentarischen Sumpf abgeglitten war.

 

Der Parteiaufbau kann nur international erfolgen

Schließlich brachte der Kongress noch eine weitere Schwäche der revolutionären Bewegung zum Ausdruck. Während die deutsche Bourgeoisie sofort  Schützenhilfe von der Bourgeoisie auch jener Länder erhielt, die sie noch im Krieg bekämpft hatte, während das Kapital in seinem Kampf gegen die revolutionäre Arbeiterklasse also international vereinigt vorging (im Bürgerkrieg gegen die Arbeitermacht in Russland schlossen sich  weiße Armeen aus 21 Ländern zusammen), hinkten die Revolutionäre bei ihrem organisatorischen Zusammenschluss noch weit hinterher. Zum einen ist dies auf Rudimente alter Auffassungen aus der Zeit der II. Internationale zurückzuführen. Die Parteien der II.Internationale waren föderalistisch aufgebaut. Es war die föderalistische Auffassung, wonach „jeder für sich“ in der Organisation wirken sollte, welche die Revolutionäre davon abgehalten hatte, die Organisationsfrage international und zentralistisch zu stellen. Der linke Flügel in den Parteien der II. Internationale hatte daher noch getrennt voneinander gekämpft.

„Diese Fraktionsarbeit Lenins fand nur innerhalb der russischen Partei statt, ohne zu versuchen, diese auf internationale Ebene auszudehnen. Man muss nur seine verschiedenen Interventionen auf den verschiedenen Kongressen lesen, um sich davon zu überzeugen, und man kann sehen, dass diese Arbeit außerhalb der russischen Kreise vollkommen unbekannt blieb.“ („Das Problem der Fraktion in der III.Internationalen“, Bilan, Nr. 24, 1935)

So war Radek der einzige ausländische Delegierte, der auf dem Gründungskongress der KPD anwesend. Dabei hatte er nur mit viel Glück und Geschick durch die Maschen der Grenzkontrollen schlüpfen können, die die SPD-geführte Regierung errichtet hatte. Wieviel anders hätte der Kongress ausgesehen, wenn nicht nur Radek, sondern auch prominentere Führer der revolutionären Bewegung wie Lenin oder Trotzki, und andere bekannte Führer wie Bordiga aus Italien oder Pannekoek und Gorter aus Holland beteiligt gewesen wären.

Wir können heute die Lehre daraus ziehen, dass es keinen Parteiaufbau in einem Land geben kann, wenn nicht gleichzeitig die Revolutionäre international und zentralisiert die gleiche Aufgabe angehen.

Die Parallele zur Revolution insgesamt ist offensichtlich: Auch der Kommunismus kann nicht isoliert in einem Land durchgesetzt werden. Die Konsequenzen für heute liegen auf der Hand: Der Aufbau einer kommunistischen Partei kann nur international erfolgen.

Mit der KPD war dagegen eine Partei entstanden, die in ihrer Zusammensetzung sehr heterogen und programmatisch gespalten war, in der der marxistische Flügel in der Minderheit und das Misstrauen gegen die Organisation im allgemeinen und gegen die Zentralisierung im besonderen unter vielen Delegierten bereits verbreitet war und die noch nicht genügend Ausstrahlung und Einfluss besaß, um der Bewegung ihren Stempel aufzudrücken.

Die Erfahrung der KPD lehrt, dass die Partei auf ein festes organisatorisches Gerüst aufgebaut werden muss. Die Ausarbeitung organisatorischer Prinzipien, das Einhauchen einer Parteiseele kann nicht per Proklamation, auf Anordnung erfolgen, sondern ist das Ergebnis einer langjährigen Ausübung und Praktizierung dieser Prinzipien. Der Aufbau einer Organisation braucht lange Zeit und viel Ausdauer. Es liegt auf der Hand, dass die Revolutionäre von heute die Lehren aus den Schwächen der deutschen Revolutionäre ziehen müssen.

 

                                                        Dv.



[1] Von März bis November 1918 verzeichnete Deutschland  ca. 200.000 Tote, 860.000 Verwundete und 450.000 Vermisste und Gefangene allein an der Westfront.

[2] Nach der Verhaftung von Liebknecht im Sommer 1916 fand am 4. Juni 1916 eine Besprechung des linken sozialdemokratischen Flügels statt.  Um die durch die Repression abgerissene Verbindung zwischen den revolutionären Gruppen wiederherzustellen, wurde ein fünfköpfiger Aktionsausschuss (dem u.a. Duncker, Meyer und Mehring angehörten) gebildet. Otto Rühle wurde zum Vorsitzenden bestimmt. Wie stark die Spartakisten durch die Repression in Bedrängnis geraten waren,  wird dadurch ersichtlich, dass einem der Zentralisierung und der marxistischen Organisationsauffassung  ablehnend gegenüberstehenden Genosse wie Otto Rühle der Vorsitz anvertraut wurde.

[3] Borchardt hatte schon 1917 verkündet: „Worauf es uns ankommt, ist die Beseitigung jeglichen Führertums in der Arbeiterbewegung. Was wir brauchen, um zum Sozialismus zu gelangen, ist reine Demokratie unter den Genossen, d.h. Gleichberechtigung und Selbständigkeit, Wille und Kraft zur eigenen Tat bei jedem Einzelnen. Nicht Führer dürfen wir haben, sondern nur ausführende Organe, die, anstatt ihren Willen den Genossen aufzuzwingen, umgekehrt nur als deren Beauftragte handeln.“ ((Arbeiterpolitik, 1917, Nr. 10)

Theorie und Praxis: 

  • Deutsche Revolution [68]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1919 - Deutsche Revolution [88]

Die Verantwortung der Revolutionäre angesichts der Degeneration der Internationalen

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Wenn es einen Kampf gibt, den marxistische Revolutionäre, die dieses Namens würdig sind, selbst unter den schwierigsten Bedingungen stets bis zum bitteren Ende ausgefochten haben, dann den um die Bewahrung ihrer Organisation - ob Partei oder Internationale - vor dem Griff des Opportunismus und um die Verhütung ihres Sturzes in die Degeneration oder, schlimmer noch, in den Verrat.

Der lange Kampf der Linken in der Kommunistischen Internationale

Die Krise in der kommunistischen Bewegung kam 1923 offen ans Tageslicht. Einige Ereignisse zeigen dies: nach dem Dritten Kongreß der KI, der das wachsende Gewicht des Opportunismus enthüllte, und nachdem die Repression in Rußland auf Kronstadt ausgeübt wurde, während sich besonders in Petrograd und Moskau Streiks entwickelten. Zur gleichen Zeit wurde die Arbeiteropposition innerhalb der russischen Kommunistischen Partei geschaffen.

Trotzki faßte das allgemeine Gefühl zusammen, als er erklärte, daß ''der Hauptgrund der Krise der Russischen Revolution in der Verspätung der Weltrevolution liegt'' (7). Und tatsächlich wog die Verzögerung der Weltrevolution schwer auf der gesamten Arbeiterbewegung. Letztere war auch durch die staatskapitalistischen Maßnahmen unter der NEP (Neue Ökonomische Politik) desorientiert. Die letzten Niederlagen, die das Proletariat in Deutschland erlitten hatte, machten zudem noch jede Hoffnung auf eine Ausweitung der Revolution in Europa zunichte. Revolutionäre, unter ihnen Lenin (8), begannen, am Erfolg zu zweifeln. 1923 wurde die Russische Revolution von einem Kapitalismus stranguliert, der den Planeten beherrschte. Unter dieser Voraussetzung war die Lage der UdSSR katastrophal, und das Problem, das sich der Führung stellte, war, ob die NEP in ihrer Gesamtheit aufrechterhalten oder durch Hilfen an die Industrie korrigiert werden soll.

Der Beginn von Trotzkis Kampf

Trotzki begann seinen Kampf (9) innerhalb des KPdSU-Politbüros, wo eine Mehrheit den Status quo aufrechterhalten wollte. Er versagte seine Zustimmung in der Frage der ökonomischen Situation in Rußland und der inneren Organisation der KPdSU. Über die Meinungsverschiedenheit innerhalb des Politbüros wurde kein Wort verlautbart, um den Bruch der Parteieinheit zu vermeiden. Sie wurde erst im Herbst 1923 öffentlich gemacht, in Trotzkis Buch "Der neue Kurs" (10).

Auch andere Ausdrücke der Opposition kamen zutage:

 

- ein Brief vom 15. Oktober 1923, adressiert an das Politbüro und von 46 wohlbekannten Persönlichkeiten unterzeichnet, einschließlich linker und oppositioneller Kommunisten (Pjatakow und Preobrashenski, aber auch Ossinski, Sapronow, Smirnow etc.). Sie riefen zur Einberufung einer Sonderkonferenz auf, die erforderliche Maßnahmen ergreifen soll, ohne auf den Kongreß zu warten;

- die Schaffung der Gruppe Demokratischer Zentralismus durch Sapronow, Smirnow und andere;

- die Reaktivierung der Arbeiteropposition mit Schljapnikow;

- die Bildung der Arbeitergruppe von Miasnikow, Kusnezow und anderen (siehe das ''Manifeste du groupe ouvrier du PCUS'', Februar 1923, veröffentlicht in Invariance, Nr. 6 1975).

Zur gleichen Zeit übte Bordiga aus dem Gefängnis heraus, in seinem ''Manifest an alle Genossen der KPI'', seine erste ernsthafte Kritik an der KI, insbesondere hinsichtlich der Frage der ''Einheitsfront''. Aufgrund dieser Ablehnung bat er darum, von all seinen Funktionen als ein Führer der Italienischen Kommunistischen Partei (KPI) entbunden zu werden, damit er nicht Positionen vertreten müsse, denen er nicht zustimme (11).

Wie Trotzki war auch Bordiga in seinem Verhalten behutsam, stets darauf bedacht, einen noch wirksameren politischen Kampf zu entwickeln. Zwei Jahre später erklärte er den Schlüssel zu dieser Methode in einem Brief an Korsch (26. Oktober 1926): ''Sinowjew und Trotzki sind Männer mit einem Sinn für die Realität; sie haben verstanden, daß wir immer noch Schläge einstecken müssen, ohne in die Offensive gehen zu können.'' So handeln Revolutionäre: mit Geduld. Sie sind imstande, einen langen Kampf zu führen, um ihr Ziel zu erreichen. Sie lernen, Schläge einzustecken, vorsichtig voranzuschreiten und vor allem sich die Lehren für die künftigen Kämpfe der Arbeiterklasse zu erarbeiten.

Dieses Verhalten ist meilenweit entfernt von jenem der ''Feiertagsrevolutionäre'', die gierig nach dem unmittelbaren Erfolg sind, oder jenem unserer ''Schreibtischrevolutionäre'', die nur daran interessiert sind, ''ihre eigenen Seelen zu retten'', wie ein gewisser RV, der vor seiner Verantwortung davongerannt ist und sich gleichzeitig darüber beschwert, daß die IKS während der letzten Debatten, an denen er teilnahm, ihn einem Los ausgeliefert habe, das schlimmer sei, als was Stalin der Linksopposition angetan hatte! Ganz abgesehen von ihrem verleumderischen Charakter wäre eine solche Beschuldigung lachhaft, ginge es nicht um eine ernste Sache. Und niemand, der etwas über die Linksopposition und ihr tragisches Ende weiß, wird solch einem Märchen auch nur einen Augenblick lang glauben.

 

Die Krise von 1925/26

Die Periode, die dem Fünften Kongreß der KI folgte, war charakterisiert durch:

- die fortgesetzte ''Bolschewisierung'' der KPs und den ''Ruck nach rechts'' der KI, wie es genannt wurde. Das Ziel von Stalin und seiner Gefolgsleute war es, insbesondere die Führung der französischen und deutschen Parteien zu eliminieren, mit anderen Worten, jene von Treint und Ruth Fischer, welche Sinowjews Speerspitze auf dem 5. Kongreß waren und die nicht bereit waren, den Schwenk nach rechts mitzumachen;

- die ''Stabilisierung'' des Kapitalismus, was für die Führung der KI bedeutete, daß eine ''Anpassung'' notwendig sei. Der Bericht über die politischen Aktivitäten des Zentralkomitees an den 14. Kongreß der KPdSU (Dezember 1925) stellt fest: ''Was wir seinerzeit als eine kurze Pause ansahen, hat sich in eine ganze Periode verwandelt.''

Abgesehen von den Debatten des Kongresses war das wichtigste Ereignis für die Arbeiterbewegung die Auflösung des Triumvirats von Stalin, Sinowjew und Kamenew Ende 1925, die die Internationale und die KPdSU angeführt hatten, nachdem Lenin gezwungen worden war, seine politischen Aktivitäten einzustellen. Warum passierte dies ? Tatsächlich war die Existenz des Triumvirats an dem Kampf gegen Trotzki gebunden. Nachdem letzterer und die erste oppositionelle Bewegung erst einmal zum Schweigen gebracht worden waren, benötigte Stalin die ''alten Bolschewiki'' um Sinowjew und Kamenew nicht mehr, um die Kontrolle über Partei und Staat in Rußland und über die Internationale zu übernehmen. Die Situation der ''Stabilisierung'' gab ihm die Gelegenheit, den Kurs zu ändern.

Obwohl er in der inneren Sowjetpolitik gegen Stalin opponierte, drückte Sinowjew dieselbe Sichtweise der Weltpolitik aus: ''Die erste Schwierigkeit liegt in der Vertagung der Weltrevolution. Zu Beginn der Oktoberrevolution waren wir davon überzeugt, daß die Arbeiter anderer Länder uns innerhalb einiger Monate, schlimmstenfalls Jahre zu Hilfe kommen. Heute ist die Vertagung der Weltrevolution traurigerweise eine unumstößliche Tatsache, es ist gewiß, daß die teilweise Stabilisierung des Kapitalismus eine ganze Epoche darstellt und daß diese uns eine neue, größere und komplexere Reihe von Schwierigkeiten präsentiert.''

Während die Führung der Partei und der KI diese ''Stabilisierung'' anerkannte, erklärte sie jedoch im gleichen Atemzug, daß die Vision und die Politik des Fünften Kongresses korrekt gewesen seien. Sie machte eine politische Kehrtwendung, ohne dies offen zu sagen.

Während Trotzki ruhig blieb, nahm die ''Italienische Linke'' eine politischere Haltung ein, indem sie den Kampf offen fortsetzte. Bordiga stellte die russische Frage und die ''Frage Trotzki'' in einem Artikel der Unita.

Die Linke der PCI schuf das ''Entente-Komitee'', um sich der ''Bolschewisierung'' der Partei zu widersetzen (März-April 1925). Bordiga trat dem Komitee nicht sofort bei, um zu vermeiden, von der Führung unter Gramsci aus der Partei ausgeschlossen zu werden. Erst im Juni bekannte er sich zu den Ansichten Damens, Fortichiaris und Repossis. Das Komitee war jedoch nur ein Organisationsmittel, nicht eine reale Fraktion. Am Ende wurde die ''Linke'' gezwungen, das Komitee aufzulösen, um den Ausschluß aus der Partei zu vermeiden, obwohl sie in ihr eine Mehrheit besaß.

In Rußland sah das Frühjahr 1926 die Bildung der Vereinten Opposition um die erste Opposition Trotzkis herum, der Sinowjew, Kamenew und Krupskaja mit Blick auf die Vorbereitung des 15. Kongresses der KPdSU beitraten.

Stalin steigerte die Repression, der sich in dieser Zeit die neue Opposition ausgesetzt sah:

- Serebriakow und Preobrashenski (12) wurden aus der Partei ausgeschlossen;

- andere (wie Miasnikow von der Arbeitergruppe) wurden ins Gefängnis geworfen oder waren mit einem Bein im Gefängnis (z.B. Fichelew, Direktor der nationalen Druckereien);

- einige der ersten Kämpfer des Bürgerkriegs wurden aus der Armee geworfen (wie Grünstein, Direktor der Luftfahrtschule, und der Ukrainer Okhotnikow);

- im ganzen Land, im Ural, in Moskau, Leningrad, enthauptete die GPU die lokalen Organisationen der Opposition, indem sie ihre Mitglieder aus der Partei ausschloß.

Dann, im Oktober 1927, wurden Trotzki und Sinowjew aus dem Zentralkomitee der KPdSU ausgeschlossen.

 

Nach 1927: Der Kampf wird fortgesetzt

Die Kapitulation von Sinowjew und seinen Anhängern hinderte die russische Linke nicht daran, ihren Kampf fortzusetzen. Weder Verleumdungen noch Drohungen noch Parteiausschlüsse konnten diese wahren Militanten der Arbeiterklasse stoppen.

''Der Ausschluß aus der Partei beraubt uns unserer Rechte als Parteimitglieder, aber er kann uns nicht von den Verpflichtungen entbinden, die jeder von uns eingegangen ist, als wir der Kommunistischen Partei beitraten. Obgleich wir aus der Partei ausgeschlossen worden sind, werden wir nichtsdestotrotz ihrem Programm, ihren Traditionen, ihrem Banner treu bleiben. Wir werden fortfahren, an der Stärkung der Kommunistischen Partei und ihres Einflusses in der Arbeiterklasse zu arbeiten.''

Rakowski erteilt uns hier eine bemerkenswerte Lehre in revolutionärer Politik. Es handelt sich hier um die marxistische Methode, um unsere Methode. Revolutionäre verlassen niemals ihre Organisationen, es sei denn, sie werden ausgeschlossen, und selbst dann fahren sie fort, darum zu kämpfen, die Organisation wiederherzustellen.

Während der folgenden Jahre taten die Mitglieder der Opposition alles, was sie konnten, um in die Partei zurückzukehren. Sie waren tatsächlich davon überzeugt, daß ihr Auschluß nur vorläufig sei.

Im Januar 1928 begannen jedoch die Deportationen. Dies war äußerst schlimm, da den Deportierten keinerlei Überlebensmittel in den ihnen zugewiesenen Wohnsitzen gewährleistet wurde. Verleumdungen und Schlechtigkeiten ergossen sich über die Familien, die in Moskau blieben und oftmals ihr Anrecht auf eine Wohnung verloren. Trotzki reiste nach Alma Ata ab, 48 Stunden später erfolgte die Abfahrt Rakowskis nach Astrakhan. Und noch immer wurde der Kampf wie auch die im Exil organisierte Opposition fortgesetzt.

Trotz einer Reihe neuer Schläge, trotz der aufeinanderfolgenden Kapitulationen und des Rauswurfs Trotzkis aus der UdSSR, setzten die Mitglieder der Opposition und ihr beachtenswertester Repräsentant, Rakowski, ihren unermüdlichen Kampf fort.

In dieser Periode ließ die GPU listigerweise Gerüchte zirkulieren, daß Stalin zuguterletzt doch die Politik der Opposition ausführen würde. Damit setzte sofort die Auflösung der Opposition ein, ein Prozeß, in dem Radek die Rolle des Provokateurs gespielt zu haben scheint (13). Die Schwächsten gaben auf. Die an der Macht befindlichen Stalinisten waren in der Lage, die Zauderer ausfindig zu machen und den günstigsten Moment zu nutzen, um sie entweder niederzuschlagen oder zur Kapitulation zu veranlassen.

Angesichts dieser neuen Schwierigkeiten entwarf Rakowski im August 1929 eine Erklärung: ''Wir appellieren an das Zentralkomitee (...), indem wir es bitten, uns mit der Freilassung der Bolschewiki-Leninisten (...) und mit dem Aufruf an Trotzki, aus dem Exil zurückzukehren (...), bei der Rückkehr in die Partei zu helfen. Wir sind vollkommen bereit, die fraktionellen Kampfmethoden aufzugeben und uns den Statuten der Partei unterzuordnen, die jedem Mitglied das Recht gewährleisten, seine kommunistischen Auffassungen zu vertreten.''

Diese Erklärung hatte keine Chance, akzeptiert zu werden, zunächst weil sie zur Rückkehr Trotzkis aus dem Exil aufrief, aber auch weil sie auf eine Weise die Doppelzüngigkeit und Verantwortung Stalins in dieser Angelegenheit enthüllte. Doch sie erreichte ihr Ziel und brach die Welle der Panik in den Reihen der Opposition. Die Kapitulationen hörten auf.

Trotz der Fallen, Zermürbungen und Anschläge fuhren Rakowski und das Zentrum der Opposition mit ihrem Kampf bis 1934 fort. Die meisten von ihnen setzten ihren Widerstand selbst in den Lagern fort (14).

Als Rakowski den Kampf aufgab, geschah dies nicht auf dieselbe beschämende Weise wie bei Sinowjew und seinen Anhängern. Zunächst einmal erklärte Bilan klar und deutlich: ''Genosse Trotzki (...) hat eine Note veröffentlicht, in der er, nachdem er erklärt, daß dies keine ideologische oder politische Kapitulation sei, schreibt: 'Wir haben viele Male wiederholt, daß der einzige Weg zu einer Wiederherstellung der KP in der UdSSR ein internationaler ist. Der Fall Rakowski bestätigt dies auf eine negative, aber schlagende Weise.' Wir drücken unsere Solidarität mit dieser Bewertung des Falles Rakowski aus, da seine letzte Handlung nichts mit der beschämenden Kapitulation von Radek, Sinowjew, Kamenew und anderen zu tun hat...''

(13)

Ein internationaler Kampf

Der Kampf entfaltete sich auch auf weltweiter Ebene, und zwar mit der Bildung der internationalen Linksopposition, die nach dem Ausschluß Trotzkis aus der UdSSR 1929 erfolgte. Die 6. Erweiterte Exekutive der KI sah Bordigas letztes Auftreten auf einem Treffen der Internationalen. In seiner Rede erklärte er: ''Es ist wünschenswert, daß ein linker Widerstand gegen derartige Gefahren von rechts international gebildet wird, aber ich sage ganz offen, daß diese gesunde, nützliche und notwendige Reaktion nicht in Form von Manövern und Intrigen oder von auf den Korridoren verbreiteten Gerüchten auftreten wird.''

Ab 1927 wurde der Kampf der Italienischen Linken im Exil in Frankreich und Belgien fortgesetzt. Jene Militanten, die nicht in der Lage waren, Italien zu verlassen, befanden sich im Gefängnis oder wurden wie Bordiga mit Verbannung auf den Inseln verurteilt. Die Linke kämpfte auch weiterhin innerhalb der kommunistischen Parteien und der Internationalen, trotz der Tatsache, daß viele ihrer Militanten ausgeschlossen worden waren. Ihr prinzipielles Bestreben galt der Intervention innerhalb dieser Organisationen, um den vermeidbaren Kurs zur Degeneration zu korrigieren. ''Die kommunistischen Parteien sind die Organe, in denen wir den Opportunismus bekämpfen müssen. Wir sind davon überzeugt, daß die Situation die Führung dazu zwingen wird, uns als eine organisierte Fraktion zu reintegrieren, es sei denn, sie will den totalen Niedergang der kommunistischen Parteien bezwecken. Wir sehen dies als äußerst unwahrscheinlich an, aber auch in diesem Falle werden wir immer noch in der Lage sein, unsere Pflichten als Kommunisten zu erfüllen.'' (16)

Diese Sichtweise enthüllt den Unterschied zwischen Trotzki und der Italienischen Linken. Im April 1928 konstituierten letztere eine Fraktion als Antwort auf die Resolution der 9. Erweiterten Exekutive der KI (9. - 25.Februar 1928), die den Beschluß verkündete, daß es nicht möglich sei, Mitglied der KI zu bleiben, wenn man die Positionen Trotzkis unterstützt. Von diesem Moment an hörten die Mitglieder der Italienischen Linken auf, Mitglied der KI zu sein, und wurden gezwungen, eine Fraktion zu bilden.

In ihrer Gründungsresolution verschrieb sich die Fraktion folgenden Aufgaben:

''1) die Reintegration all jener aus der Internationalen Ausgeschlossenen, die das Kommunistische Manifest unterstützen und die Thesen des 2. Weltkongresses akzeptieren;

2) die Einberufung des 6. Weltkongresses unter der Führung von Leo Trotzki;

3) die Behandlung des Ausschlusses all jener Elemente, die ihre Solidarität mit den Resolutionen des 15. Kongresses der KPdSU erklären

(17), als Tagesordnungspunkt des 6. Weltkongresses''. (18)

Während die russische Opposition hoffte, in die Partei reintegriert zu werden, bezweckte die italienische Linke also vor allem, als eine Fraktion innerhalb der KPs und der Internationalen zu überleben, weil sie dachte, daß deren Regeneration nun von ihrer Arbeit als Fraktion abhängt. ''Unter Fraktion verstehen wir einen Organismus, der die Kader entwickelt, welche die Kontinuität des revolutionären Kampfes sicherstellen und dazu berufen sind, die Träger des künftigen proletarischen Sieges zu werden (...). Dagegen erklärt (die Opposition), daß wir nicht auf der Notwendigkeit der Bildung von Kadern bestehen sollten: denn die Lösung der Geschehnisse liege in den Händen der Zentristen und nicht in jenen der Fraktionen.'' (19)

Heute mag diese Politik der wiederholten Forderungen nach Wiederherstellung der KI (die die Italienische Linke erst nach 1928 aufgab) unrichtig scheinen, da er ihr nicht gelang, die Degeneration der kommunistischen Parteien und der Internationalen aufzuhalten. Aber ohne sie wäre die Opposition außerhalb der KI und ihre Isolation noch schlimmer gewesen. Die Mitglieder der Opposition wären von den Massen der kommunistischen Militanten abgeschnitten und nicht mehr in der Lage gewesen, ihre Entwicklung zu beeinflussen (20). Es war diese Methode, welche die Italienische Linke später theoretisieren sollte und es ihr ermöglichte, die Verbindung zur Arbeiterbewegung aufrechtzuerhalten und die Errungenschaften der Linken auf die heutigen Linkskommunisten zu übertragen, an denen die IKS teilhat.

Im Gegensatz dazu sollte sich die isolationistische Politik einer Gruppe wie Réveil Communiste (21) zum Beispiel als so katastrophal erweisen, daß die Gruppe nicht überlebte. Sie war unfähig, einer organisierten Strömung Leben einzuhauchen. Vor allem hat dies die klassische Methode und das Prinzip der Arbeiterbewegung bestätigt: Man spaltet sich nicht leichten Herzens von einer proletarischen Organisation ab, ohne vorher alle Möglichkeiten erschöpft und jedes Mittel genutzt zu haben, um die politischen Divergenzen zu klären und ein Maximum an gesunden Elementen zu überzeugen.

 

Die Lehren der Italienischen Linken

Wir haben dieses breite historische Feld nicht skizziert, um hier den Historiker zu mimen, sondern um die notwendigen Lehren für die Arbeiterbewegung und unsere Klasse heute daraus zu ziehen. Diese lange Entwicklung lehrt uns, daß ''die Geschichte der Arbeiterbewegung die Geschichte ihrer Organisationen ist'', wie Lenin sagte. Heute ist es Mode, sich ohne jegliche Prinzipien und aus trivialen Gründen von einer Organisation abzuspalten und eine neue auf denselben programmatischen Fundamenten zu gründen. Ohne das Programm und die Praxis der Organisation einer kritischen Untersuchung zu unterziehen, wird sie als degeneriert erklärt. Eine kurze Erinnerung an die Geschichte der Dritten Internationale zeigt uns, wie die richtige Haltung von Revolutionären aussehen sollte. Es sei denn, wir sind der Ansicht, daß revolutionäre Organisationen unnötig sind oder daß ein Einzelner für sich all dies entdecken kann, was die Organisationen der Vergangenheit uns hinterlassen haben. Wir sind nicht dieser Ansicht. Ohne die theoretische und politische Arbeit der Italienischen Linken würden weder die IKS noch die anderen Gruppen der kommunistischen Linken ( das IBRP und die verschiedenen PCIs) heute existieren.

Während wir uns klar mit dem Verhalten der Opposition und der Italienischen Linken identifizieren, können wir dies mit den Auffassungen der Opposition und Trotzkis nicht so vorbehaltlos tun. Im Gegensatz dazu stimmen wir den Ideen zu, die Bilan zu Beginn der 30er Jahre vorgestellt hat:

''Es ist vollkommen richtig, daß die Rolle der Fraktionen vor allem eine erzieherische ist, die von ihren Kadern mittels der gelebten Ereignisse und dank einer rigorosen Konfrontation mit der Bedeutung dieser Ereignisse ausgeübt wird (...). Ohne die Arbeit der Fraktionen wäre die Russische Revolution unmöglich gewesen. Ohne Fraktionen wäre Lenin selbst ein Bücherwurm geblieben und nie zu einem revolutionären Führer geworden.

Die Fraktionen sind also der einzige historische Ort, wo das Proletariat fortfährt, für seine Klassenorganisation zu arbeiten. Von 1928 bis heute hat Genosse Trotzki diese Arbeit der Fraktionsbildung vollkommen vernachlässigt und folglich darin versagt, zur Schaffung wirklicher Bedingungen für die Massenbewegung beizutragen.''

Wir stimmen auch mit dem überein, was die Italienische Linke über den Verlust der politischen Organisationen während der Periode eines historischen Abflauens der Arbeiterbewegung (in ihrem Fall der Kurs zum Krieg während der 30er Jahre) gesagt hat, was heute natürlich nicht der Fall ist:

''Der Tod der Kommunistischen Internationalen rührt von der Vernichtung ihrer Funktion her: Das Totenglocken der KI wurden durch den Sieg des Faschismus in Deutschland eingeläutet; dieses Ereignis hat historisch ihre Funktion erschöpft und das erste positive Ergebnis der zentristischen Politik gezeitigt.

Der Sieg des Faschismus in Deutschland bedeutet, daß sich die Ereignisse in die der Revolution entgegengesetzten Richtung bewegen, hin zum Weltkrieg.

Die Partei hört selbst nach dem Tod der Internationalen nicht auf zu existieren. DIE PARTEI STIRBT NICHT, SIE BEGEHT VERRAT.''

All jene, die ihre Übereinstimmung mit den Positionen und Prinzipien der Italienischen Linken erklären und die eine Organisation der Degeneration beschuldigen, haben die Pflicht und Verantwortung, alles zu tun, um diese Dynamik aufzuhalten und sie daran zu hindern, sich dem Verrat zuzuwenden, wie es die Genossen von Bilan vor ihnen taten.

Aber indem sie Trotzki kritisierte, übte die Italienische Linke auch an all jenen prinzipienlosen Individuen (oder an jenen, die den Kurs der Geschichte nicht anerkennen wollten) Kritik, die nichts anderes im Kopf hatten, als, abseits der bereits existierenden, neue Organisationen aufzubauen oder - wie wir anhand der Entwicklung des Parasitismus heute sehen können - jene zu zerstören, die sie gerade verlassen haben:

''In ähnlicher Weise machten die Sportsleute der 'Großen Aktion', was die Gründung neuer Parteien angeht

Es ist offensichtlich, daß Demagogie und flüchtiger Fortschritt eine Art Sport darstellen, aber keine revolutionäre Arbeit.''

Wir möchten all jene feinen Herren, jene neuen ''Sportsleute'', jene unverantwortlichen Gründer neuer Sekten, jene Welt- und Parteiverbesserer, die lautstark die existierenden proletarischen Organisationen denunzieren, an die geduldige revolutionäre Arbeit der Opposition und vor allem der italienischen Linken während der 20er und 30er Jahre erinnern, mit der diese ihre Organisationen retten wollten und die Kader auf die künftige Partei vorbereiteten, statt ihre Organisationen zu verlassen, um sich selbst zu ''retten''. OR.

 

1) Siehe die Artikel über die deutsche Revolution in früheren Ausgaben der Internationalen Revue (Nr. 17 ff.)

2) Die Revolutionäre, die die KAPD gründen sollten, spalteten sich nicht von der KPD ab, sondern wurden aus ihr ausgeschlossen.

3) Pierre Naville hat hervorgehoben, daß Rakowski, den er 1927 in Moskau traf, keine Illusionen über die Periode hatte. Er sah nur Jahre des Leidens und der Repression voraus, was der Entschlossenheit dieses wahren Kämpfers für die Arbeiterklasse jedoch keinen Abbruch tat. Siehe dazu Rakowski ou la révolution dans tous les pays von Pierre Broué (Fayard) und Pierre Navilles Trotsky vivant.

4) Siehe unsere Texte und unser Buch über die Italienische Linke

5) Solch ein Verrat kann nie völlig ausgeschlossen werden, wenn z.B. die Konfusion über die Frage der nationalen Befreiung eine proletarische Gruppe auf das linksextremistische, d.h. bürgerliche Terrain drängt, indem sie in den unter dem Deckmantel der ''nationalen Befreiung'' auftretenden Konflikten zwischen den Mächten das eine imperialistische Lager gegen das andere unterstützt. Dies passierte einigen Sektionen der (bordigistischen) Internationalen Kommunistischen Partei zu Beginn der 80er Jahre.

6) Siehe unsere Broschüre: La prétendue paranoïa du CCI

7) Trotzki: Die Kommunistische Internationale nach Lenin

8) s. Philippe Robrieux: Histoire intérieure du Parti Communist Francais, Bd. 1, S.122ff.

9) Zunächst kämpfte er in der Frage der inneren Parteiorganisation und der Bürokratie an der Seite Lenins. Aber dann erlitt Lenin seine zweite Attacke und kehrte nie mehr zur Arbeit zurück. Siehe dazu Rosmers Einleitung zu De la révolution, eine Sammlung von Artikeln und Texten Trotzkis, erschienen in Editions de Minuit, S.21-22

10) Erschienen im Dezember 1923

11) Die Linke der KPI repräsentierte die Mehrheit der Partei.

12) Parteisekretär vor Stalin

13) Siehe: Pierre Broué (Fayard): Rakosky, ou la révolution dans tous les pays

14) Ciliga: 10 ans au pays du mensonge déconcertant, Champ Libre, Paris, S.223ff.

15) Bilan, Nr. 5, März 1934

16) Antwort der Italienischen Linken am 8.7.1928 gegenüber der Kommunistischen Opposition von Paz, siehe Contre le Courant, Nr. 13

17) Und insbesondere mit der Resolution, die all jene ausschließt, die ihre Solidarität mit Trotzki erklären

18) Prometeo, Nr. 1, Mai 1928

19) Bilan, Nr. 1, November 1933

20) H. Chazé z.B. blieb in der französischen KP bis 1931-32 als Sekretär des Puteaux-Rayon. Siehe dazu sein Buch Chronique de la révolution espagnole, Spartacus

21) Siehe unser Buch über die Italienische Kommunistische Linke

22) Bilan, Nr. 1, November 1933, ''Hin zur 23/4 -Internationalen ?''

(hier dachte die Italienische Linke an Trotzki, der 1933 die Bildung neuer Parteien vorschlug), eine Menge Lärm über die Notwendigkeit, keine unnötige Zeit verstreichen zu lassen und sich an die Arbeit zu machen, statt die Organisation für die politische Aktion auszubauen (...)(22)
(22)
(22)

Dies war die Methode von Marx und Engels in der Ersten Internationale. Es war die Methode der ''Linken'' in der Zweiten Internationale. Wir sollten uns daran erinnern, daß Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und die Spartakisten (1) sich Zeit nahmen, bevor sie sich für den Bruch mit der alten Partei, ob mit den deutschen Sozialdemokraten oder mit der USPD, entschieden. Im günstigsten Fall hofften sie, die opportunistische Führung niederzuwerfen, indem sie die Mehrheit der Partei für sich gewinnen. Im schlimmsten Fall, wenn es keine Hoffnung auf die Wiedereroberung der Partei mehr gab, hofften sie, so viele Militante wie möglich mit sich zu nehmen. Sie setzten ihren Kampf fort, solange es noch den kleinsten Funken Leben in der Partei gab und sie noch die besten Elemente für sich gewinnen konnten. Dies war stets die Methode, die einzige Methode der marxistischen Revolutionäre gewesen. Darüberhinaus hat die historische Erfahrung gezeigt, daß die ''Linken'' gewöhnlich solange Widerstand leisteten, bis sie von der alten Partei ausgeschlossen wurden (2). Trotzki zum Beispiel kämpfte mehr als sechs Jahre innerhalb der bolschewistischen Partei, bevor er schließlich ausgeschlossen wurde.

Der Kampf der ''Linken'' innerhalb der Dritten Internationale ist besonders aufschlußreich, um so mehr, als er während der fürchterlichsten Periode der Arbeiterbewegung ausgefochten wurde: jene der längsten und fürchterlichsten Konterrevolution in der Geschichte, die Ende der 1920er Jahre begann. Und noch inmitten dieser konterrevolutionären Situation, dieser mächtigen Flaute in der Arbeiterbewegung, sollten die Militanten auf der Linken der Kommunistischen Internationale einen unvergeßlichen Kampf aufnehmen. Manche unter ihnen sahen ihn als von Anbeginn aussichtslos an, aber dies entmutigte oder hinderte sie nicht daran, sich dem Kampf zu stellen (3). Und so sahen sie es, solange die leiseste Hoffnung auf eine Wiederherstellung der Partei und der Kommunistischen Internationalen (KI) blieb, als ihre Pflicht an, zu retten, was zu retten war vor dem Griff des triumphierenden Stalinismus. Heute hat sich der Kampf im besten Fall vermindert oder ist im schlimmsten Fall von jenen Elementen völlig vergessen worden, die ihre Organisation bei der ersten Unstimmigkeit oder wegen ihrer ''verletzten Ehre'' verlassen. Dieses Verhalten ist eine Beleidigung gegenüber der Arbeiterklasse und drückt deutlich die Geringschätzung des Kleinbürgers gegenüber dem harten Kampf von Generationen von Arbeitern und Revolutionären, manchmal auf Kosten ihres Lebens, aus, den diese Herrschaften vielleicht als nicht beachtenswert ansehen.

Die Italienische Linke setzte diese Methode nicht nur in die Praxis um, sie bereicherte sie auch politisch und theoretisch. Auf der Grundlage dieses Erbes hat die IKS diese Frage bei zahlreichen Gelegenheiten weiterentwickelt und aufgezeigt, wann und wie es passiert, daß die Partei die Klasse verrät (4). Die Positionen einer Organisation zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Revolution erlauben es uns zu bestimmen, ob sie die Klasse unwiderruflich verraten hat oder nicht. Solange der Verrat der Organisation noch nicht evident ist, solange die Partei noch nicht mit Sack und Pack zum feindlichen Lager übergegangen ist, ist es die Rolle wahrhafter Revolutionäre, mit Zehen und Klauen darum zu kämpfen, sie innerhalb des proletarischen Lagers zu halten. Genau dies taten die Linken in der KI unter den schwierigsten Bedingungen einer letztlich triumphierenden Konterrevolution.

Diese Politik ist auch heute noch gültig. Sie ist heute umso leichter durchzuführen, angesichts eines Kurses hin zu Klassenkonfrontationen, angesichts einer alles in allem leichteren Situation für den Kampf des Proletariats und der Revolutionäre. Im gegenwärtigen historischen Rahmen, in dem weder ein Weltkrieg noch die Revolution auf der Tagesordnung stehen, ist es weitaus weniger wahrscheinlich, daß eine proletarische Organisation Verrat begeht (5). Jeder bewußte und konsequente Revolutionär sollte daher dieselbe Methode anwenden, wenn er denkt, daß seine eigene Organisation im Begriff ist zu degenerieren: Mit anderen Worten, er sollte innerhalb der Organisation um ihre Wiedergesundung kämpfen. Es sollte ihm nicht in den Sinn kommen, sich kleinbürgerlich zu verhalten, indem er etwa versucht, ''seine eigene Seele zu retten'', was die Tendenz von einigen Schreibtisch-Revolutionären ist, deren individualistische und streitsüchtige Neigungen sie bereitwillig den Sirenen des politischen Parasitismus empfänglich machen. Daher sind all jene, die ihre Organisation unter der Beschuldigung aller Arten von Fehlern verlassen, ohne den Kampf bis zum bitteren Ende ausgefochten zu haben - wie im Fall von RV zum Beispiel (6) -, verantwortungslos und verdienen es, als arme, kleine prinzipienlose Kleinbürger behandelt zu werden.

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Dritte Internationale [142]

Diskussionsbeitrag aus Russland - Die nicht-identifizierte Klasse -Die sowjetische Bürokratie aus der Sicht Leo Trotzkis

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Was war die Natur des Systems das in unserem Land während der ”sowjetischen” Periode existierte?

 

Dies ist sicherlich eine der wichtigsten Fragen der Geschichte und in einem gewissen Masse auch für die anderen Gesellschaftswissenschaften. Und es ist mitnichten eine akademische Frage - sie ist stark mit der heutigen Zeit verknüpft, da die gegenwärtige Realität ohne eine Kenntnis der Vergangenheit nicht verstanden werden kann.

 

Die Frage kann folgendermaßen zusammengefaßt werden: Welche Natur hatte das für das ”sowjetischen” System zentrale, die Entwicklung des Landes bestimmende Subjekt, d.h. die herrschende Bürokratie? Welches war ihr Verhältnis zu den anderen gesellschaftlichen Schichten? Welche Motivationen und Bedürfnisse bestimmten ihr Handeln?

 

Es ist unmöglich, diese Fragen gewissenhaft zu studieren, ohne die Werke Leo Trotzkis zu kennen, einem der ersten Autoren, welche versuchten, die Natur des ”sowjetischen” Systems und seiner herrschenden Schicht zu verstehen und zu analysieren. Trotzki widmete diesem Problem mehrere Werke, doch seine weitreichendsten und konzentriertesten Ansichten über die Bürokratie finden sich in seinem vor 60 Jahren erschienenen Buch Verratene Revolution.

 

Die grundlegenden Charakterzüge der Bürokratie

 

Erinnern wir uns an die Hauptcharakterzüge der Bürokratie, wie sie Trotzki in seinem Buch beschreibt:

 

1. Die obersten Etagen der gesellschaftlichen Pyramide der UdSSR sind besetzt durch ”die einzige im vollen Sinne des Wortes privilegierte und kommandierende Schicht”, und diese Schicht, ”die, ohne selbst eine produktive Arbeit zu vollbringen, kommandiert, verwaltet, dirigiert und verteilt Züchtigung und Strafen.” Laut Trotzki umfaßte sie zwischen 5 und 6 Millionen Personen[i] [143].

 

2. Diese Schicht, die alles dirigiert, befindet sich außerhalb jeglicher Kontrolle durch die Massen, welche alle gesellschaftlichen Güter produzieren. Die Bürokratie beherrscht die ”folgsamen und schweigenden” arbeitenden Massen[ii] [143].

 

3. Diese Schicht hält die materiellen Ungleichheiten in der Gesellschaft aufrecht: ”Limousinen für die ”Aktivisten”, gute Parfums für ”unsere Frauen”, Margarine für die Arbeiter, ”Lux”-Läden für die Vornehmen, der Anblick der Delikatessen durch die Fensterscheiben für den Pöbel”[iii] [143]. Grundsätzlich sind die Lebensbedingungen der herrschenden Schicht dieselben wie die der Bourgeosie: sie unfasst ”alle Stufen vom Kleinbürgertum des Krähwinkels bis zur hauptstätdischen Grossbourgeoisie” [iv] [143].

 

4. Diese Schicht herrscht nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv, indem sie sich als einzigen Leiter der Gesellschaft sieht. Laut Trotzki besitzt sie ”das spezifische Bewusstsein der herrschenden ”Klasse””[v] [143].

 

5. Die Herrschaft dieser Schicht wird durch die Repression aufrechterhalten, und ihr Wohlstand durch ”verschleierte Aneignung fremder Arbeit”. ”Eine privilegierte Minderheit der Aktionäre lebt auf Kosten der untervorteilten Mehrheit” schreibt Trotzki[vi] [143].

 

6. Es existiert ein permanenter gesellschaftlicher Kampf zwischen dieser herrschenden Schicht und der unterdrückten Mehrheit von Arbeitern[vii] [143].                  

 

Trotzki zeichnet somit folgendes Bild: Es existiert eine zahlenmäßig große gesellschaftliche Schicht, welche die Produktion sowie auch das Produzierte in einer monopolistischen Art und Weise kontrolliert und sich auch einen Großteil dieses Produktes aneignet (mit anderen Worten: eine Form der Ausbeutung). Ihre gemeinsamen materiellen Interessen und deren Widerspruch gegenüber der produzierenden Klasse hält sie zusammen.

 

Was ist für den Marxismus eine gesellschaftliche Schicht, welche all diese Charakteristiken in sich trägt? Darauf gibt es nur eine Antwort: Es ist die wortwörtliche Beschreibung der herrschenden gesellschaftlichen Klasse.

 

Trotzki führt die Leser zu derselben Schlußfolgerung. Er selbst jedoch macht sie nicht, auch wenn er schreibt, daß die Bürokratie in der UdSSR ”etwas mehr ist als nur eine Bürokratie”[viii] [143]. ”Etwas mehr als das”, doch was nun? Trotzki gibt darauf keine Antwort. Noch mehr, er widmet ein ganzes Kapitel seines Buches dem Anliegen, die bürgerliche Klassennatur der Bürokratie zu widerlegen. Trotzki sagt A, doch nachdem er die ausbeutende herrschende Klasse ausführlich beschrieben hat, zögert er im letzten Moment und weigert sich, B zu sagen.

 

Stalinismus und Kapitalismus

 

Bei Trotzkis Vergleich zwischen der stalinistischen Bürokratie und dem kapitalistischen System finden wir dieselbe Zurückhaltung. ”Mutatis mutandis ist die Stellung der Sowjetregierung gegenüber der Gesamtwirtschaft die eines Kapitalisten gegenüber dem Einzelunternehmen”, schreibt Trotzki im zweiten Kapitel seines Buches Verratene Revolution[ix] [143].

 

Im neunten Kapitel schreibt er jedoch: ”Die Aushändigung der Fabriken an den Staat hat die Lage des Arbeiters nur juristisch (Hervorhebung durch AG)  verändert; in Wirklichkeit ist er, während er eine bestimmte Anzahl von Stunden für einen bestimmten Lohn arbeitet, gezwungen zu darben. (...) Die Arbeiter verloren jeglichen Einfluß auf die Leitung der Betriebe. Beim Akkordlohn, schweren materiellen Daseinsbedingungen, Fehlen der Freizügigkeit, einem fürchterlichen Polizeiapparat, der in das Leben jedes Betriebes eindringt, fühlt sich der Arbeiter schwerlich als ”freier Werkmann”. Im Beamten sieht er den Vorgesetzten, im Staat den Herrn.”[x] [143]

 

Im selben Kapitel beschreibt Trotzki, daß die Verstaatlichung des Besitztums die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den herrschenden und den unterworfenen Schichten nicht aufhebt: Erstere genießen den größtmöglichen Luxus, zweitere leben in derselben Armut wie zuvor und verkaufen ihre Arbeitskraft. Dasselbe beschreibt er auch im vierten Kapitel: ”Das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln verwandelt nicht Mist in Gold und umgibt nicht das Schwitzsystem, das mit der Hauptproduktivkraft, dem Menschen, Raubbau treibt mit einem Heiligenschein”.[xi] [143]

 

Diese Thesen scheinen die grundlegenden Phänomene sehr klar aus marxistischer Sicht zu beschreiben. Marx hat immer hervorgehoben, daß der Hauptcharakterzug eines gesellschaftlichen Systems nicht durch sein Recht und seine ”Eigentumsformen” bestimmt wird, da eine derartig isolierte Analyse unbrauchbar und abstrakt ist[xii] [143]. Der entscheidende Faktor sind die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse und vor allem die Stellung der gesellschaftlichen Schichten zum gesellschaftlichen Mehrprodukt.

 

Eine Produktionsweise kann auf verschiedenen Formen des Eigentums gründen. Das Beispiel des Feudalismus zeigt dies deutlich. Während des Mittelalters basierte er in den westlichen Ländern auf dem privaten Feudaleigentum des Bodens und in den Ländern des Ostens auf dem staatlichen Feudaleigentum. Dennoch waren die gesellschaftlichen Verhältnisse in beiden Fällen feudal und stützten sich auf die feudale Ausbeutung der Bauernschaft.

 

Im dritten Band des Kapitals beschreibt Marx als Hauptcharakteristik jeglicher Gesellschaft "die spezifische ökonomische Form, in der unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird". Was schlußendlich bestimmt, ist das Verhältnis zwischen denjenigen, die den Ablauf und die Früchte der Produktion kontrollieren, und denjenigen, welche letztere hervorbringen; die Stellung der Eigentümer der Produktionsbedingungen gegenüber den unmittelbaren Produzenten: Darin finden ”wir das innerste Geheimnis, die verborgene Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion"[xiii] [143].

 

Wir haben bereits aufgezeigt, wie Trotzki das Verhältnis zwischen der herrschenden Schicht und den Produzenten beschreibt. Auf der einen Seite die tatsächlichen ”Eigentümer der Produktionsmittel”, verkörpert im Staat (der organisierten Bürokratie) und auf der anderen Seite die Eigentümer de iure, in Tat und Wahrheit die jeglicher Rechte beraubten Arbeiter, die Lohnarbeiter, aus denen ”die unbezahlte Arbeit ausgesogen wird”. Daraus können wir nur eine einzige logische Schlußfolgerung ziehen: es gibt keinen grundsätzlichen Unterschied in der Natur der stalinistischen Bürokratie und des ”klassischen” Kapitalismus.

 

Auch hier, nachdem er A gesagt, nachdem er die grundsätzliche Identität beider Systeme aufgezeigt hat, sagt Trotzki nicht B. Im Gegenteil stemmt er sich kategorisch gegen eine Gleichstellung der stalinistischen Gesellschaft mit dem Staatskapitalismus und kommt zur These, daß in der UdSSR eine spezielle Form von ”Arbeiterstaat” existiere, in der das Proletariat vom ökonomischen Standpunkt her gesehen eine herrschende Klasse darstelle und keiner Ausbeutung unterliege außer, daß sie ”politisch entmachtet” sei.

 

Um diese These aufrecht zu erhalten, führt Trotzki die Verstaatlichung des Bodens, der Produktions-, Handels-, und Transportmittel an sowie das Aussenhandelsmonopol. Mit anderen Worten, er gebraucht dieselbe ”juristische” Argumentation, welche er selbst zuvor in überzeugender Art und Weise zurückgewiesen hat (siehe die oben zitierte Stelle). Auf Seite 72 (russische Ausgabe) der Verratenen Revolution bestreitet er die Verwandlung von ”Mist in Gold” durch die Verstaatlichung der Produktionsmittel, doch auf Seite 206 behauptet er ganz im Gegenteil, daß alleine die Tatsache der Verstaatlichung genüge, um die unterdrückte Arbeiterklasse in eine herrschende Klasse zu verwandeln.

 

Das Schema ersetzt die Wirklichkeit

 

Wie kann man sich dies erklären? Weshalb widerspricht Trotzki, der Publizist, der erbarmungslose Kritiker des Stalinismus, der die Fakten anführt, welche beweisen, daß die Bürokratie eine herrschende und kollektiv ausbeutende Klasse ist, dem Trotzki, der als Theoretiker diese Fakten zu analysieren versucht?

 

Wir können zwei Hauptgründe anführen, die Trotzki daran hinderten, diesen Widerspruch zu überwinden; einen theoretischen und einen politischen Faktor.

 

In seinem Buch Verratene Revolution versucht Trotzki die These über die bürgerliche Klassennatur der Bürokratie mit dem schwachen Argument, sie habe ”weder Aktien noch Obligationen”, zu widerlegen[xiv] [143]. Doch weshalb soll die herrschende Klasse dies notwendigerweise besitzen? Der Besitz von Aktien und Obligationen ist an sich bedeutungslos: Der entscheidende Punkt liegt in der Frage, ob sich eine bestimmte gesellschaftliche Schicht das Mehrprodukt der Arbeit der direkten Produzenten aneignet oder nicht. Wenn ja, besteht die Funktion der Ausbeutung unabhängig davon, ob die Verteilung des Mehrwerts via Dividenden und Anteilscheine oder durch einen Lohn und Privilegien, die an einen Arbeitsplatz gebunden sind, geschieht. Der Autor der Verratenen Revolution überzeugt ebensowenig, wenn er sagt, daß die Repräsentanten der herrschenden Schicht ihre privilegierte Stellung nicht weitervererben können[xv] [143]. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß Trotzki ernsthaft davon ausging, die Kinder der Elite würden Arbeiter oder Bauern werden.

 

Unserer Ansicht nach ist es falsch, in solch oberflächlichen Argumenten den Grund von Trotzkis Weigerung, die Bürokratie als herrschende gesellschaftliche Klasse zu anerkennen, zu suchen. Der Grund liegt vielmehr in seiner tiefen Überzeugung, die Bürokratie könne nicht das zentrale Element eines beständigen Systems werden, sondern sie sei nur fähig, die Interessen anderer Klassen ”auszudrücken”, allerdings indem sie diese entstellt.

 

Schon während der 20er Jahre war diese Überzeugung Grundlage für Trotzkis Schema über die gesellschaftlichen Widersprüche der ”sowjetischen” Gesellschaft geworden. Für ihn beschränkte sich der Rahmen aller Widersprüche auf die strikte Zweiteilung zwischen Proletariat und privatem Kapital. In diesem Schema gab es keinen Platz für eine ”dritte Kraft”. Der Aufstieg der Bürokratie wurde als Resultat des Drucks des ländlichen und städtischen Kleinbürgertums auf die Partei und den Staat gesehen. Die Bürokratie wurde als zwischen den Interessen der Arbeiter und denen der ”neuen Besitzer” schwankende Gruppe bezeichnet, unfähig den einen oder den anderen wirklich zu dienen. Ein solches durch eine instabile Gruppe ”zwischen den Klassen” geführtes Regime kann bei der ersten drohenden Instabilität nur zusammenbrechen und diese Gruppe sich nur aufspalten. Genau dies prophezeite Trotzki Ende der 20er Jahre[xvi] [143].

 

Doch in der Realität entwickelten sich die Ereignisse anders. Nach gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Bauernschaft und dem Kleinbürgertum war die Bürokratie weder gestürzt, noch hatte sie sich zersplittert. Nachdem die Kapitulation einer internen, bedeutungslosen ”Rechten” ohne Schwierigkeiten erreicht worden war, begann die Bürokratie, die NEP und ”die Kulaken als Klasse” zu liquidieren, und führte ein Regime mit verstärkten Kollektivierungen und Industrialisierungen ein. Überzeugt, daß die ”zentristischen” Apparatschiks durch ihre Natur zu so etwas unfähig seien, waren diese Ereignisse für Trotzki und seine Anhänger eine Überraschung! So ist es nicht erstaunlich, wenn der Bankrott der politischen Einschätzungen der trotzkistischen Opposition ihre katastrophale Kapitulation in Rußland und den politischen Bankrott auf internationaler Ebene nach sich zog[xvii] [143].

 

Auf der vergeblichen Suche nach einem Ausweg schrieb Trotzki Briefe und Artikel aus dem Exil, in denen er aufzeigte, daß die Bürokratie lediglich einen Weg kenne und ”notgedrungen kollabiert, lange bevor sie ein wirkliches Resultat erzielt”[xviii] [143]. Auch wenn der Führer der Opposition die praktische Inkohärenz seiner Idee einer ”abhängigen” Rolle der ”zentristischen” Bürokratie sah, so klammerte er sich dennoch weiter an sein bankrottes Schema. Seine theoretischen Analysen über die Zeit der ”großen Wende” stechen durch ihren realitätsfremden Zug ins Auge. Ende 1928 schrieb er beispielsweise: ”Zentrismus ist eine offizielle Linie des Apparates. Der Träger dieses Zentrismus ist der Parteifunktionär. Die Funktionäre bilden keine Klasse. Welche Klassengrenze also soll durch den Zentrismus gebildet werden?” Nachdem Trotzki eine eigene Linie der Bürokratie verneinte, kam er zu folgendem Schluß: ”Die aufsteigenden Besitzer von Eigentum finden ihren hinterhältigen Ausdruck in der rechten Fraktion. Die proletarische Linie wird durch die Opposition verkörpert. Was bleibt da noch dem Zentrismus? Nach Abzug des oben Beschriebenen...die mittlere Bauernschaft”[xix] [143]. All dies schrieb er, während der stalinistische Apparat eine gewaltsame Kampagne gegen die mittlere Bauernschaft führte, um damit deren Zerstörung als wirtschaftlichen Faktor einzuleiten!

 

Daraufhin fuhr Trotzki mit seiner Hoffnung auf eine bevorstehende Spaltung der Bürokratie in proletarische und bürgerliche Elemente und die, welche ” beiseite bleiben”, fort. Er prophezeite den Machtverlust des ”Zentrismus” einerseits wegen des Scheiterns einer ”totalen Kollektivierung” und andererseits aufgrund einer ökonomischen Krise am Ende des ersten Fünfjahresplanes. In seinem 1931 geschriebenen Plattformentwurf für die internationale linke Opposition über die russische Frage sah er sogar die Möglichkeit eines Bürgerkrieges, wenn die Elemente des Staats- und Parteiapparates ”auf die zwei Seiten der Barrikaden” gespalten würden[xx] [143].

 

All dieser Voraussagen zum Trotz überlebte das stalinistische Regime, und die Bürokratie blieb nicht nur geeint, sondern baute ihre totalitäre Macht aus. Dennoch fuhr Trotzki fort, das bürokratische System in der UdSSR als sehr angreifbar zu betrachten, und während der 30er Jahre dachte er, die Macht der Bürokratie könne jeden Moment zusammenbrechen. Mit anderen Worten, sie könne nicht als eine Klasse betrachtet werden. Trotzki drückte diesen Gedanken am deutlichsten in seinem Artikel Die UdSSR im Krieg (September 1939) aus: ”Brächten wir uns nicht selbst in eine lächerliche Lage, wenn wir der bonapartistischen Bürokratie die Bezeichnung einer neuen herrschenden Klasse aufdrücken würden, gerade ein paar Jahre oder sogar ein paar Monate vor ihrem unrühmlichen Untergang?"[xxi] [143].

 

Alle Voraussagen Trotzkis über den bevorstehenden Fall der ”sowjetischen” Bürokratie wurden eine nach der anderen durch die Ereignisse selbst widerlegt. Dennoch war er nicht bereit, seine Auffassungen zu ändern. Für ihn wog die Verknüpfung mit einem theoretischen Schema mehr als alles andere. Doch dies ist nicht der einzige Grund, denn Trotzki war mehr ein politischer denn ein theoretischer Mensch, und er verwendete im Allgemeinen den ”konkreten politischen” Bezug zu einer Frage eher als einen ”abstrakt soziologischen”. Wir werden hier einen weiteren wichtigen Grund betrachten für seine hartnäckige Weigerung, die Dinge bei ihrem Namen zu nennen.

 

Terminologie und Politik

 

Wenn wir die Geschichte der trotzkistischen Opposition während der 20er und zu Beginn der 30er Jahre betrachten, sehen wir, daß ihre gesamte politische Strategie auf einer bevorstehenden Ausbootung des Staatsapparates der UdSSR gründete. Trotzki dachte, eine Allianz zwischen einer hypothetischen ”linken Tendenz” und der Opposition wäre notwendig, um die Partei und den Staat zu erneuern. Ende 1928 schrieb er: ”Ein Block mit den Zentristen (der stalinistische Teil des Apparates - AG) ist im Prinzip zulässig und möglich. Nochmehr, alleine solch eine Umgruppierung innerhalb der Partei kann die Revolution retten”[xxii] [143]. Da sie auf einen solchen Block zählten, versuchten die Führer der Opposition, die ”progressiven” Bürokraten nicht hinauszuwerfen. Diese Taktik erklärt die höchst fragwürdige Haltung der Führer der Opposition gegenüber dem Klassenkampf der Arbeiter gegen den Staat, ihr Nein zur Gründung einer eigenen Partei etc.

 

Selbst nach seinem Exil aus der UdSSR fuhr Trotzki fort, seine Hoffnungen auf eine Annäherung mit den ”Zentristen” zu setzen. Seine Hoffnung, die Unterstützung eines Teils der herrschenden Bürokratie zu erhalten, war dermaßen groß, daß er (unter bestimmten Bedingungen) zu einem Kompromiß mit dem Generalsekretär des Zentralkomitees der KP bereit war. Die Geschichte des Slogans ”Stalin absetzen!” ist ein treffendes Beispiel. Im März 1932 veröffentlichte Trotzki einen offenen Brief an das Zentralexekutivkomitee der UdSSR mit dem Appell: ”Es ist notwendig endlich Lenins letzten Ratschlag zu befolgen: Stalin absetzen”[xxiii] [143]. Einige Monate später, im Herbst desselben Jahres, machte er eine Schritt zurück und erklärte: ”Das Problem ist nicht Stalin als Individuum, sondern seine Fraktion... Der Slogan ”Nieder mit Stalin” könnte (und wird zwangsläufig) möglicherweise als ein  Aufruf zur Überwindung der Fraktion verstanden werden, die heute an der Macht ist, und in einem weiteren Sinne des Apparates. Wir wollen das System nicht überwinden, sondern reformieren”[xxiv] [143].

 

Seine Haltung gegenüber den Stalinisten brachte Trotzki in einem nichtveröffentlichten Interviewartikel, der im Dezember 1932 geschrieben wurde, auf den Punkt: ”Heute wie Gestern sind wir zu einer vielfältigen Zusammenarbeit mit der gegenwärtig herrschenden Fraktion bereit. Frage: Sind sie demnach zu einer Zusammenarbeit mit Stalin bereit? Antwort: Zweifellos”[xxv] [143].

 

Während dieser Periode verknüpfte Trotzki den möglichen Schwenker eines Teils der stalinistischen Bürokratie hin zu einer ”vielfältigen Zusammenarbeit” mit der Opposition mit der für ihn, wie bereits oben beschrieben, aus Gründen der gesellschaftlichen ”Ungewißheit” der Bürokratie unabwendbar bevorstehenden Katastrophe des Regimes[xxvi] [143]. Aufgrund dieser Katastrophe betrachteten die Führer der Opposition die Zusammenarbeit mit Stalin als Mittel, die Partei, die Verstaatlichung und die ”Planwirtschaft” vor der bürgerlichen Konterrevolution zu retten.

 

Doch die Katastrophe trat nicht ein. Die Bürokratie war stärker und viel verankerter als Trotzki dachte. Das Politbüro antwortete nicht auf seine Aufrufe zu Festigung ”einer ehrlichen Zusammenarbeit der historischen Fraktionen” innerhalb der Kommunistischen Partei[xxvii] [143]. Schlußendlich, im Herbst 1933, verlor Trotzki nach langem Zögern jegliche Hoffnung auf eine in jedem Falle utopische Reform des bürokratischen Systems unter Beteiligung der Stalinisten und rief zu einer ”politischen  Revolution” in der UdSSR auf.

 

Doch dieser Wechsel der trotzkistischen Slogans brachte keine wirkliche Veränderung ihrer Sicht über die Natur der Bürokratie, der Partei und des Staates, ebensowenig wie es kein definitives Verwerfen der Hoffnungen auf eine mögliche Zusammenarbeit mit deren ”fortschrittlichen” Flügeln bedeutete. Als Trotzki sein Buch Verratene Revolution schrieb, und auch noch danach, betrachtete er die Bürokratie nachwievor theoretisch als ein unsicheres, von wachsenden Widersprüchen zerfressenes Gebilde. Im Übergangsprogramm der 4. Internationalen (1938) erklärte er, der Staatsapparat in der UdSSR beinhalte alle politischen Tendenzen und sogar eine ”wirklich bolschewistische”. Trotzki dachte bei letzterer an eine Minderheit innerhalb der Bürokratie, jedoch an eine nicht unbedeutende: er sprach nicht nur von einigen Apparatschiks, sondern von einer linken ”Fraktion”, die 5-6 Millionen Personen umfasse. Laut Trotzki sei diese ”wirklich bolschewistische” Fraktion ein Reservoir für die linke Opposition. Doch nicht genug, der Führer der 4. Internationalen zog im Falle einer kapitalistischen Konterrevolution, welche er 1938 als ”kurz bevorstehend” einschätzte, weiterhin eine ”Einheitsfront” mit dem stalinistischen Teil des Apparates in Betracht[xxviii] [143].

 

Es ist diese politische Orientierung, erst hin zu einer Zusammenarbeit und einem Block mit den ”Zentristen” - also der Mehrheit der herrschenden ”Sowjet”-Bürokratie (in den späten 20er und frühen 30er Jahren), dann in Richtung einer Allianz mit der ”wirklich bolschewistischen” Fraktion und einer ”Einheitsfront” mit der herrschenden stalinistischen Fraktion (nach 1933), die wir im Auge haben müssen, wenn wir die Ideen Trotzkis über die Natur der bürokratischen Oligarchie und die gesellschaftlichen Verhältnisse in der UdSSR untersuchen, die in seinem Buch Verratene Revolution wohl am komplettesten dargestellt sind.

 

Stellen wir uns vor, Trotzki hätte die totalitäre ”sowjetische” Bürokratie als ausbeutende, herrschende Klasse und bitteren Feind des Proletariates anerkannt. Was wären die politischen Konsequenzen gewesen? Als Erstes hätte er die Idee einer Vereinigung mit einem Teil dieser Klasse zurückweisen müssen - auch die Idee von der Existenz einer ”wirklich bolschewistischen Fraktion” innerhalb der ausbeuterischen bürokratischen Klasse wäre damit genauso absurd erschienen wie die Existenz einer solchen Fraktion innerhalb der Bourgeoisie zum Beispiel. Zweitens wäre die vorgeschlagene ”Einheitsfront” mit den Stalinisten zur Bekämpfung der ”kapitalistischen Konterrevolution” zu einer ”Volksfront” geworden. Eine Politik die von den Trotzkisten kategorisch abgelehnt wurde, da sie zu einem Block verfeindeter Klassen anstelle einer ”Einheitsfront” innerhalb der eigenen Klasse, eine in der bolschewistisch-leninistischen Tradition stehende Auffassung, geführt hätte. Kurzum, ein Begreifen der Klassennatur der Bürokratie wäre ein starker Anstoß für die politischen Grundlagen von Trotzkis Strategie gewesen. Doch dies hatte er nicht gewollt.

 

Somit war die Frage über der Natur der Bürokratie weit mehr als nur ein Wortgefecht über Theorie oder Terminologie. 

 

Das Schicksal der Bürokratie

 

Um Trotzki gerecht zu werden: Gegen Ende seines Lebens begann er seine Ansichten über die stalinistische Bürokratie zu revidieren. Dies ist ersichtlich in seinem Buch Stalin, dem reifsten seiner Werke, wenn auch unvollendet. Bei der Untersuchung der entscheidenden Ereignisse Ende der 20er und zu Beginn der 30er Jahre, als die Bürokratie die Macht und das Eigentum vollständig monopolisierte, begann Trotzki den Staats- und Parteiapparat schon als eine der wichtigsten gesellschaftlichen Kräfte im Kampf um ”die Kontrolle des Mehrwerts der Nation” zu betrachten. Bei seiner Kriegserklärung an die ”kleinbürgerlichen Elemente” war dieser Apparat weder durch den ”Druck” des Proletariates noch ”durch die Opposition angetrieben” (wie Trotzki einst erklärt hatte)[xxix] [143]. Die Bürokratie war nicht ”Vertreter” der Interessen anderer, noch ”balancierte” sie zwischen zwei Polen, sondern bildete eine gesellschaftliche Klasse mit einem Bewußtsein über ihre eigenen Interessen. Nachdem sie alle ihre Rivalen geschlagen hatte, war sie Siegerin im Kampf um Macht und Profit. Sie alleine monopolisierte die Verteilung des Mehrwertes (mit anderen Worten, die Funktion des tatsächlichen Eigentümers der Produktionsmittel). Nachdem Trotzki dies erkannt hatte, konnte er der Frage der Klassennatur der Bürokratie nicht länger ausweichen. So schrieb er bezüglich der 20er Jahre: ”Die Substanz des (sowjetischen) Termidor... Sie war die Kristallisierung einer neuen privilegierten Schicht, die Schöpfung eines neuen Unterbaus  für die ökonomisch herrschende Klasse (hervorgehoben von AG). Zwei Anwärter auf diese Rolle waren vorhanden: das Kleinbürgertum und die Bürokratie selbst”[xxx] [143]. Ernährte dieser Unterbau beide Anwärter auf die Rolle der herrschenden Klasse? Es bleibt uns lediglich festzustellen, wer gewann - der Gewinner war die Bürokratie. Die Schlußfolgerung daraus ist sehr einfach: es war die Bürokratie welche zur neuen, gesellschaftlich herrschenden Klasse geworden war. Trotzki, zu dieser Schlußfolgerung an sich gerüstet, war in Wirklichkeit nicht fähig dazu, da er es vorzog seine Reflexionen politisch nicht zu vollenden. Doch er hatte einen großen Schritt vorwärts gemacht.

 

In seinem 1939 veröffentlichten Artikel Die UdSSR im Krieg machte er einen Schritt weiter in diese Richtung: Er dachte, es sei theoretisch möglich, daß ”das stalinistische Regime die erste Stufe einer neuen Gesellschaft der Ausbeutung darstellt”. Gewiß, wie immer unterstrich er, es gebe noch einen anderen Standpunkt: Das ”sowjetische” System und seine herrschende Bürokratie wären lediglich eine ”Episode” in der Umwandlung der bürgerlichen Gesellschaft in eine sozialistische. Dennoch zeigte er seinen guten Willen, seine Ansichten unter gewissen Umständen zu ändern, dann nämlich, wenn die UdSSR in den bereits entfachten Weltkrieg eintreten und ihn in andere Länder ausbreiten sollte[xxxi] [143].

 

Wir wissen, was danach geschah. Die Bürokratie hatte laut Trotzki keine historische Mission, befand sich ”zwischen den Klassen”, besaß keine Selbständigkeit, war unsicher und stellte somit eine ”vorübergehende Episode” dar. Doch in Tat und Wahrheit wälzte sie die gesellschaftliche Struktur der UdSSR radikal um, indem sie Millionen von Bauern und Kleinbürgern proletarisierte, eine Industrialisierung auf der Basis der Überausbeutung der Arbeiter vorantrieb, das Land in eine militärische Großmacht verwandelte, es in einen schrecklichen Krieg führte und seine Herrschaftsform nach Zentral- und Osteuropa und nach Südostasien exportierte. Hätte Trotzki nach alledem seine Sichtweise über die Bürokratie geändert? Es ist schwer zu sagen: Er hat den Zweiten Weltkrieg nicht überlebt und die Bildung des ”sozialistischen Blocks” nicht mitverfolgen können. Doch nach dem Krieg sollte die Mehrheit seiner politischen Anhänger während Jahrzehnten die theoretischen Dogmen, welche in seinem Buch Verratene Revolution zu finden sind, Wort für Wort wiederkäuen.

 

Der Gang der Geschichte hat alle zentralen Punkte der trotzkistischen Analyse über das gesellschaftliche System der UdSSR widerlegt. Um dies zu verstehen ist eines wichtig: keine dieser ”Errungenschaften” der Bürokratie stimmt mit Trotzkis theoretischem Schema überein. Und selbst heute gibt es einige Gelehrte (ganz zu schweigen von den Repräsentanten der trotzkistischen Bewegung), die weiterhin behaupten, die Konzeptionen des Autors der Verratenen Revolution einer herrschenden ”Kaste” und seine Voraussagen über deren Schicksal seien durch den Zusammenbruch des Regimes der KPdSU und die darauffolgenden Ereignisse in der UdSSR und im ”sowjetischen Block” bestätigt worden. Hier sprechen sie über Trotzkis Voraussage, daß die Macht der Bürokratie unweigerlich fallen werde; entweder als Resultat einer ”politischen Revolution” durch die arbeitenden Massen oder durch einen gesellschaftlichen ”Staatsstreich” der konterrevolutionären Bourgeoisie[xxxii] [143]. V.Z. Rogovin[xxxiii] [143] zum Beispiel schreibt, daß die ”konterrevolutionäre Variante” von Trotzkis Voraussagen ”mit 50jähriger Verspätung, jedoch mit extremer Genauigkeit eingetreten ist” [xxxiv] [143].

 

Wo finden wir diese Genauigkeit und vor allem ihren ”extrem genauen” Charakter?

 

Die Grundlage der ”konterrevolutionären Variante” von Trotzkis Prognosen lag vor allem in seinen Voraussagen über den Fall der Bürokratie als herrschende Schicht. ”Die Bürokratie ist im ökonomischen Sinne untrennbar mit der herrschenden Klasse verbunden (damit meinte er das Proletariat), ernährt sich an denselben gesellschaftlichen Wurzeln und steht und fällt mit ihr (hervorgehoben durch AG)[xxxv] [143]. Angenommen, es hätte eine gesellschaftliche Konterrevolution in den Ländern des ehemaligen Ostblocks stattgefunden und die Arbeiterklasse dadurch ihre ökonomische und gesellschaftliche Macht verloren, so wäre laut Trotzki die herrschende Bürokratie mit ihr gefallen.

 

Ist sie in der Realität gefallen, um einer Bourgeoisie Platz zu machen, die von sonst irgendwo herkam? Laut dem Soziologischen Institut der russischen Akademie der Wissenschaften haben mehr als 75% der russischen ”politischen Elite” und mehr als 61% der ”Wirtschaftselite” ihre Wurzeln in der Nomenklatura der ”sowjetischen” Periode[xxxvi] [143]. Demnach befinden sich die gleichen Leute in den führenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Positionen der Gesellschaft. Die Herkunft des anderen Teils der Elite kann leicht erklärt werden. O. Krychtanovskaya schreibt: ”Nebst der direkten Privatisierung ..., deren hauptsächliche Profiteure der technokratische Teil der Nomenklatura (Ökonomen, Bankiers, ect.) ist, beobachteten wir das fast spontane Entstehen kommerzieller Strukturen welche keine Beziehungen zur Nomenklatura zu haben scheinen. An der Spitze dieser Strukturen findet man junge Leute deren Biographien keine Verbindungen zur Nomenklatura haben. Ihr großer finanzieller Erfolg kann nur so erklärt werden: auch wenn kein Teil der Nomenklatura, so genießen sie deren Vertrauen, sind ihre ”Vertrauensagenten”, mir anderen Worten ihre Gesandten. " (Hervorhebungen durch AG)[xxxvii] [143].

 

All dies zeig sehr klar, daß es keine ”bürgerliche Partei” war (woher könnte diese auch kommen, wenn die Bourgeoisie in einem totalitären Regime fehlt), welche die Macht ergriff und Erfolg hatte, indem sie einige Individuen der früheren herrschenden ”Kaste” zu ihren Dienern machte. Es war die Bürokratie selbst, welche die politischen und wirtschaftlichen Formen ihrer Herrschaft organisiert veränderte, während sie an der Spitze des Systems blieb.

 

Im Gegensatz zu Trotzkis Vorhersagen ist die Bürokratie nicht gestürzt. Und was ist mit dem anderen Teil seiner Prophezeiung: der bevorstehenden Spaltung der herrschenden gesellschaftlichen ”Schicht” in proletarische und bürgerliche Elemente und der Bildung einer ”wirklich bolschewistischen” Fraktion in ihr? Tatsächlich nehmen die heutigen Führer der ”kommunistischen” Parteien verschiedenster Färbung, die aus den Überresten der KPdSU entstanden sind, für sich in Anspruch, ”echte” Bolschewiki zu sein und die Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten. Doch es ist höchst unwahrscheinlich, daß Trotzki in Leuten wie Zhuganov oder Ampilow[xxxviii] [143] seine ”proletarischen Elemente” sehen würde, da das Ziel ihres ”antikapitalistischen” Kampfes nichts anderes als die Restaurierung des alten bürokratischen Regimes in seiner klassisch stalinistischen oder ”staatspatriotischen” Form ist.

 

Trotzki beschrieb die ”konterrevolutionäre” Version der Machtenthebung der Bürokratie in fast apokalyptischen Worten: ”Der Kapitalismus kann, was eher zweifelhaft ist, in Rußland nur restauriert werden durch einen unbarmherzigen konterrevolutionären Staatsstreich der mehr Opfer fordern würde als die Oktoberrevolution und der Bürgerkrieg. Sollte das Sowjetregime fallen, so könnte sein Platz nur durch einen russischen Faschismus eingenommen werden, neben dem die grausamen Regimes von Mussolini und Hitler als menschenfreundliche Institutionen wirken würden.”[xxxix] [143] Diese Voraussage sollte nicht als zufällige Übertreibung betrachtet werden, da sie zwangsläufig aus Trotzkis gesamter theoretischer  Einschätzung über die Natur der UdSSR herrührt, und vor allem aus seiner festen Überzeugung, das ”sowjetische”, bürokratische System diene den arbeitenden Massen auf seinem Weg, da es ihnen ihre ”sozialen Errungenschaften” sichere. Eine solche Sichtweise ging natürlich davon aus, daß eine konterrevolutionäre Umwandlung des Stalinismus in den Kapitalismus von einem Aufbäumen der proletarischen Massen begleitet sein würde, um den ”Arbeiterstaat” und "ihr" verstaatlichtes Eigentum zu verteidigen. Und natürlich könne nur ein eisernes, faschistisches Regime den gewaltigen Widerstand der Arbeiter gegen die ”Wiedereinführung des Kapitalismus” niederringen und schlagen.

 

Selbstverständlich konnte Trotzki nicht wissen, daß 1989-90 die Arbeiterklasse das staatliche Eigentum und den ”kommunistischen” Staatsapparat nicht verteidigt, sondern vielmehr zu dessen Abschaffung beigetragen hat. Da die Arbeiter im alten System nichts gesehen haben, das seine Verteidigung rechtfertigen würde, führte die Umwandlung in die Marktwirtschaft und die Aufhebung des Staatseigentums nicht zu blutigen Klassenkämpfen, und kein faschistisches oder halb-faschistisches System stand auf der Tagesordnung. Es gibt somit keinen Grund, Trotzkis Voraussagen über diese Frage als bestätigt zu betrachten.

 

Wenn die ”sowjetische” Bürokratie keine herrschende Klasse gewesen ist, sondern, wie Trotzki gemeint hat, ein ”Polizist” im Verteilungsprozess, hätte die Wiedereinführung des Kapitalismus in der UdSSR eine ursprüngliche Akkumulation des Kapitals erfordert. Und tatsächlich, zeitgenössische russische Kommentatoren benützen oft den Ausdruck der ”ursprünglichen Akkumulation des Kapitals”. Damit meinen sie im Allgemeinen die Bereicherung dieser oder jener Person, die Anhäufung von Geld, Produktionsmitteln oder anderen Werten in den Händen der ”neuen Russen”. Wie auch immer, dies hat nichts zu tun mit einem wissenschaftlichen Verständnis von ursprünglicher Akkumulation, wie sie von Marx in seinem Buch Das Kapital beschrieben wurde. In seiner Untersuchung über die Entstehung des Kapitals unterstrich Marx, daß ”die sog. ursprüngliche Akkumulation also nichts als der historische Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmitteln” ist[xl] [143]. Das Entstehen einer Armee von Lohnarbeitern durch die Konfiszierung des Eigentums der Produzenten ist eine der Hauptvoraussetzungen für die Entstehung einer herrschenden Klasse. War in den Ländern der ehemaligen UdSSR während der 90er Jahre bei der ”Wiedereinführung des Kapitalismus” die Bildung einer Lohnarbeiterklasse mittels Enteignung der Produzenten notwendig? Ganz sicher nicht: Diese Klasse existierte bereits, die Produzenten hatten keinerlei Kontrolle über die Produktionsmittel - da gab es niemanden zu enteignen. Demnach ist die Zeit der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals bereits vorbei.

 

Trotzki hatte zweifelsohne recht, wenn er die ursprüngliche Akkumulation mit einer grausamen und blutigen Diktatur gleichsetzte. Auch Marx schrieb, dass ”das Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend" zur Welt kommt und daß es in seiner ersten Phase eine ”blutige Disziplin” benötigt[xli] [143]. Trotzkis Fehler bestand nicht darin, die ursprüngliche Akkumulation mit der Konterrevolution gleichzusetzen, sondern darin, nicht zu sehen, wie sich die Konterrevolution unter seinen Augen abspielte mit all ihren Charakteristiken wie Massakern und einer monströsen politischen Tyrannei. Die Millionen von ausgeplünderten und an Hunger und Armut gestorbenen Bauern, die jeglicher Rechte beraubten und zu einer ihre Kräfte weit übersteigenden Arbeit verdammten Proletarier, deren Gräber das Fundament für die unter den Fünfjahresplänen erstellten Gebilde waren, die unzähligen Gefangenen des Gulag, dies waren die wirklichen Opfer der ursprünglichen Akkumulation in der UdSSR. Die heutigen Besitzer brauchen kein Kapital zu akkumulieren, sondern sie müssen es lediglich unter sich neu verteilen, indem sie staatliches Kapital in privates Aktienkapital verwandeln[xlii] [143]. Doch dieser Akt bedeutet weder eine Veränderung der Gesellschaft, noch der herrschenden Klasse, und es braucht dazu auch keine große gesellschaftliche Umwälzung. Wenn wir dies nicht verstehen, so verstehen wir weder die ”sowjetische” Geschichte noch das Rußland von heute.

 

Fassen wir zusammen: Die trotzkistische Auffassung über die Bürokratie, die die grundlegenden theoretischen  Standpunkte und politischen Perspektiven Trotzkis zusammengefasst hat, ist unfähig, die Realität des Stalinismus und seine Entstehung zu erklären. Über die anderen Elemente der trotzkistischen Analyse des gesellschaftlichen Systems in der UdSSR (zum ”Arbeiterstaat”, zur ”postkapitalistischen” Natur der gesellschaftlichen Verhältnisse und der ”Doppelrolle” des Stalinismus, etc.) können wir dasselbe sagen. Dennoch machte Trotzki Fortschritte bei der Klärung einer Frage: Dieser bewundernswerte Kommentator machte eine vernichtende Kritik an den Thesen über den ”Aufbau des Sozialismus” in der UdSSR. Und dies war viel für die damalige Zeit.

 

AG

 

                                                                       

 


[i] [143] Trotzki, Verratene Revolution, S. 242, Veritas Verlag, 1957

[ii] [143] ebenda.

[iii] [143] ebenda, S. 119.

[iv] [143] ebenda, S. 138.

[v] [143] ebenda, S. 133.

[vi] [143] ebenda, S. 234.

[vii] [143] ebenda, S. 121f.

[viii] [143] ebenda, S. 242.

[ix] [143] ebenda, S. 45.

[x] [143] ebenda, S. 235.

[xi] [143] ebenda, S. 84.

[xii] [143] Marx, ”Das Elend der Philosophie” MEW Bd. 4

[xiii] [143] MEW Bd. 25 S. 799ff.

[xiv] [143] Trotzki, Verratene Revolution, S. 243.

[xv] [143] ebenda, S. 243f.

[xvi] [143] Siehe den Artikel ”Vers la nouvelle étape”,  Russisches Dokumentations und Sammelzentrum zur Neuen Geschichte (RDSNG), Fach 325, Liste 1, Dossier 369, Seite 1-11.

[xvii] [143] Bis 1930 verlor die Opposition 2/3 ihrer Mitglieder, mitsamt ihrer ”historischen Führung” (10 von 13 Personen welche 1927 die ”Plattform der Bolschewiki-Leninisten” unterschrieben hatten)

[xviii] [143] RDSNG, F. 325, L. 1, D. 175, S. 4, 32-34.

[xix] [143] ebenda, D. 371, S. 8.

[xx] [143] Oppositions-Bulletin (OB), 1931, Nr. 20, Seite 10.

[xxi] [143] ebenda, 1939, Nr. 79-80, S. 6./ Siehe auch Trotzki, Verteidigung des Marxismus, Verlag Neuer Kurs 1973, S. 20.

[xxii] [143] RDSNG, F. 325, L. 1, D. 499, S. 2.

[xxiii] [143] OB, 1932, Nr. 27, S. 6.

[xxiv] [143] ebenda, 1933, Nr. 33, S. 9-10.

[xxv] [143] Siehe Pierre Broué, Trotzki et le bloc des oppositions de 1932, Cahiers Leon Trotzki, 1980, Nr. 5, S. 22.

[xxvi] [143] Siehe L.Trotzki, Briefe und Korrespondenz, Moskau, 1994, S. 54-55.

[xxvii] [143] ebenda.

[xxviii] [143] OB, 1938, Nr. 66-67, S. 15.

[xxix] [143] Leo Trotzki, ”Stalin” , Rowohlt Verlag, Bd. 2, 1971.

[xxx] [143] ebenda, Seite 253.

[xxxi] [143] Siehe Trotzki, Die UdSSR im Krieg, 1939.

[xxxii] [143] Siehe Trotzki, Verratene Revolution, S. 243f.

[xxxiii] [143] Vadim Rogovin war in der ”sowjetischen” Epoche einer der wichtigsten offiziellen Propagandisten und Kommentatoren der Politik der KPdSU und zugleich Professor am Russischen Soziologischen Institut. Während der Perstroika verwandelte er sich selbst in einen ”Anti-Stalinisten” und bedingungslosen Bewunderer Trotzkis. Er schrieb verschiedene apologetische, selbstrechtfertigende Bücher über Trotzki und dessen Ideen.

[xxxiv] [143] V.Z. Rogovin, Die stalinistische Neo-NEP, Moskau, 1994, S. 344.

[xxxv] [143] OB, 1933, Nr. 36-37, S. 7.

[xxxvi] [143] O. Krychtanovskaja, Die Finanzoligarchie in Russland, Isvestia, 10. Jan. 1996.

[xxxvii] [143] ebenda.

[xxxviii] [143] Zhuganov ist der Chef der ”erneuerten” Kommunistischen Partei und war Hauptrivale Jelzins bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Victor Ampilov ist der führende Kopf der ”harten” stalinistischen Bewegung in Russland und Gründer der ”Russischen Kommunistischen Arbeiterpartei”. Er propagiert die Wiedereinführung des ”klassischen” Totalitarismus à la 30er Jahre. 

[xxxix] [143] OB, 1935, Nr. 41, S. 3.

[xl] [143]Karl Marx, Das Kapital, I. Band; MEW Bd. 23 S. 742.

[xli] [143] ebenda. S. 788 und 770.

[xlii] [143] Nach konkreten soziologischen Studien bei derselben Schlussfolgerung angelangt, schreibt O. Krychtanovskaja: ”Wenn wir die Situation in Russland während der 90er Jahre vorsichtig analysieren (...), so stellen wir fest, dass einzig die unglücklichen Physiker die sich entschieden ”Broker” zu werden oder die Ingenieure und Techniker welche einen Kiosk kauften oder Handelskooperativen gründeten ”ursprüngliche Akkumulation” betrieben. Diese Akkumulation endete meist im Kauf von ”MMM”-Aktien (eine Finanzpyramide) (das Resultat ist wohlbekannt) und hat im seltensten Falle zur ”erweiterten Akkumulation” geführt.” (Isvestia, 10. Jan. 1996).   

 

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Trotzkismus [144]

Moskauer Konferenzen - Der Beginn einer proletarischen Debatte in Rußland

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Der Beginn einer proletarischen Debatte in Rußland

 

Im Gefolge des Zusammenbruchs der stalinistischen Regimes in Osteuropa entstand in Rußland ein Komitee für das Studium des Vermächtnisses von Leo Trotzki. Dieses Komitee hielt eine Reihe von Konferenzen über verschiedene Aspekte im Werk jenes großen marxistischen Revolutionärs ab. Im Verlaufe des Studiums von Trotzkis Beitrags wurde nicht nur klar, daß Trotzki selbst weder der einzige noch der radikalste und entschlossenste Vertreter der ''trotzkistischen'' Linksopposition gewesen war, sondern auch daß es andere oppositionelle Strömungen innerhalb wie außerhalb Rußlands gegeben hat, die noch viel weiter links angesiedelt waren. Genauer gesagt: Es stellte sich heraus, daß es eine andere alternative Tradition im proletarischen Kampf gegen den Stalinismus gibt, jene des Linkskommunismus, deren Vertreter noch heute existieren. Auf Initiative der russischen Mitglieder des Komitees wurde unsere Organisation, die Internationale Kommunistische Strömung, zur Konferenz von 1996 in Moskau eingeladen, die sich der Bewertung von Trotzkis Buch Verratene Revolution widmete. Auf Vorschlag der IKS wurden auch andere Gruppen der Kommunistischen Linken eingeladen, die es jedoch entweder versäumten zu kommen, wie im Fall des Internationalen Büros für eine Revolutionäre Partei, oder sich aufgrund eines tiefsitzenden Sektierertums verweigerten, wie im Fall der ''Bordigisten''. Dennoch war die Intervention der IKS längst nicht der einzige Ausdruck des lebendigen Proletariats auf dieser Konferenz. Die Kritik an Trotzkis Weigerung, den staatskapitalistischen Charakter des stalinistischen Rußlands anzuerkennen, die auf der Konferenz von einem russischen Mitglied des Organisationskomitees vorgetragen wurde und die wir in dieser Ausgabe unserer Internationalen Revue veröffentlichen, ist ein Beweis dafür. Ferner wurde ein Jahr später die Anwesenheit linkskommunistischer Gruppen auf der 1997er Konferenz über Trotzki und die Oktoberrevolution durch die Teilnahme eines anderen Repräsentanten des proletarischen Milieus, zusammen mit der IKS, nachdrücklich untermauert: die Communist Workers Organisation, die zusammen mit Battaglia Comunista das oben erwähnte Internationale Büro für die Revolutionäre Partei (IBRP) bildet.

 

 

Das Vermächtnis von Trotzki und die Aufgaben in der gegenwärtigen Periode

 

Die Konferenzen über das Vermächtnis Trotzkis fanden im Schatten von Ereignissen weltweiter Bedeutung statt: dem Zusammenbruch der stalinistischen Regimes Osteuropas (und somit der gesamten Nachkriegsweltordnung von Yalta) und der UdSSR selbst. Die Tatsache, daß der Stalinismus nicht vom Klassenkampf des Proletariats gekippt wurde, sondern sich unter dem Gewicht der historischen Krise des Weltkapitalismus und seiner spezifischen Schwächen als ökonomisch und politisch rückständige Fraktion der Bourgeoisie auflöste, erlaubte es der herrschenden Klasse, diese Ereignisse als Bankrott nicht des Stalinismus, sondern des Kommunismus und insbesondere des Marxismus darzustellen. Indem er seine eigene historische Auflösung als die des Marxismus präsentierte, war der Todfeind des Proletariats, der Stalinismus, im Endeffekt selbst in seinem Scheitern in der Lage, dem Weltkapitalismus noch einen letzten, großen Dienst zu erweisen. Denn diese Ereignisse wurden dazu benutzt, das Bewußtsein der Arbeiter in aller Welt in einer höchst kritischen Frage zu attackieren: jener nach dem historischen Ziel ihres Kampfes - dem Kommunismus selbst. Aber auch wenn die weltweiten historischen Ereignisse von 1989-92 somit in einen Rückgang auf der Ebene des Klassenbewußtseins innerhalb des Proletariats als Ganzes mündeten, so bedeutete dies noch keine historische Niederlage der Arbeiterklasse, deren Kampfkraft und Fähigkeit zur kollektiven Reflexion intakt blieben. Während sie also einen Rückgang im Bewußtsein der proletarischen Massen bewirkten, enthielten diese Ereignisse gleichzeitig auch die Perspektive einer quantitativen Entwicklung und qualitativen Heranreifung kleiner revolutionärer Minderheiten der Klasse. Indem sie unverfroren Stalinismus mit Kommunismus gleichsetzt, zwingt die Bourgeoisie jene suchenden proletarischen Minderheiten, die diese Gleichsetzung ablehnen, die folgende Frage zu stellen: Welche politischen Strömungen in der Geschichte der Arbeiterklasse widersetzten sich im Namen des Kommunismus und des Proletariats dem Stalinismus, und welcher Teil dieses Erbes kann heute als Grundlage für revolutionäre Aktivitäten dienen? Nun ist es eine zentrale These des Marxismus, daß das Klassenbewußtsein des Proletariats vor allem ein historisches Bewußtsein ist und daß daher revolutionäre Minderheiten ihre Aufgaben nur erfüllen können, wenn sie die Anpassung und kritische Synthese all der Beiträge der vergangenen Generationen von Marxisten zum Ausgangspunkt ihres Kampfes machen. Insbesondere die marxistische Auffassung über die Rolle einer Fraktion, die in einer Periode der Niederlage des Proletariats die unersetzliche Verantwortung dafür hat, alle Lehren aus jener Niederlage zu ziehen und sie an künftige revolutionäre Generationen weiterzureichen (Lenin und die Bolschewiki nach der Niederlage der Revolution von 1905 in Rußland; Luxemburg und die Spartakisten nach der Niederlage, die die Unterstützung des I.Weltkrieges durch die Sozialdemokraten 1914 verkörperte; die italienische Fraktion rings um die Publikation Bilan nach der Niederlage der revolutionären Welle von 1917-23 etc.), ist eine zentrale Konkretisierung dieses Verständnisses. Von den vielen Tausenden von revolutionären Elementen, die, angestoßen von den proletarischen Massenkämpfen einer neuen und unbesiegten Generation der Klasse nach 1968, international aufgetaucht waren, verschwanden, durchdrungen von Ungeduld und einem einseitigen Vertrauen in die ''Spontaneität'' des Klassenkampfes zum Nachteil einer langfristigen theoretischen und organisatorischen Arbeit, die meisten von ihnen spurlos, genau aus dem Grunde, weil sie daran scheiterten, sich in den früheren Positionen und Traditionen der Arbeiterbewegung zu verankern. Obwohl die Bedingungen für die Entwicklung von revolutionären Minderheiten in der Phase nach 1989 in gewisser Weise schwieriger geworden sind, da es ihr an dem unmittelbaren Beispiel eines proletarischen Massenkampfes mangelt, der die Generation nach 1968 inspirierte, eröffnet die Tatsache, daß suchende proletarische Elemente sich heute gezwungen fühlen, nach vergangenen revolutionären Traditionen zu suchen und sich mit ihnen zu verbinden, um der bürgerlichen Kampagne über den ''Tod des Kommunismus'' zu widerstehen, die Perspektive einer breiten und tiefgehenden Wiederentdeckung des großen marxistischen Vermächtnisses der Linkskommunisten. In Rußland selbst, dem zentralen und allerersten Opfer der stalinistischen Konterrevolution, konnte erst mit dem Zusammenbruch der Herrschaft und der Hegemonie des Stalinismus eine neue Generation von Revolutionären entstehen - über 30 Jahre nachdem derselbe Prozeß im Westen begonnen hatte. Ferner wogen die zerstörerischen weltweiten Auswirkungen jener ein halbes Jahrhundert lang währenden Konterrevolution - die Zerstörung der organischen Verbindung zu den vergangenen revolutionären Generationen, die Vergrabung der wirklichen Geschichte jener Bewegung unter Tausenden von Leichen und Lügen - besonders schwer im Land der Oktoberrevolution. Das Auftreten fragender proletarischer Elemente in Rußland heute bestätigt, was das Wiederaufleben des Klassenkampfes Ende der 60er Jahre nicht nur im Westen, sondern auch in Polen, Rumänien, China und gar in Rußland selbst bereits demonstriert hat: das Ende der stalinistischen Konterrevolution. Doch wenn die Bedingungen für die Wiederentdeckung der wahren Geschichte der proletarischen Bewegung dort auch besonders schwer sind, so ist es dennoch unvermeidlich, daß in einem Land, in dem es kaum eine Arbeiterfamilie gibt, die nicht wenigstens ein Mitglied im stalinistischen Terror verloren hatte, die Enthüllung der historischen Wahrheit den Ausgangspunkt bilden muß. Wenn mit der Perestroika die Frage der ''Rehabilitierung'' der Opfer des Stalinismus zum Slogan der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Dissidenten-Opposition wurde, so wurden die Vertreter des Proletariats vor eine sehr wichtige Aufgabe gestellt: die Wiederherstellung der revolutionären Tradition der besten dieser Opfer, der verschworenen Klassenfeinde des Stalinismus. Es ist daher alles andere als ein Zufall, daß die ersten sich entfaltenden Versuche russischer Revolutionäre, die Interessen ihrer Klasse zu definieren und zu debattieren und Kontakte zu den linkskommunistischen Organisationen im Ausland herzustellen, im Zusammenhang mit der Frage des Vermächtnisses des proletarischen Kampfes gegen den Stalinismus und insbesondere des Vermächtnisses von Trotzki entstanden. Von all den Führern der Opposition gegen die Degeneration der Russischen Revolution und der Kommunistischen Internationale war Trotzki weit und breit der bekannteste. Seine Rolle bei der Gründung der Dritten Internationalen, in der Oktoberrevolution selbst und im darauffolgenden Bürgerkrieg war so gigantisch (vergleichbar selbst mit jener Lenins), daß selbst in der UdSSR die stalinistische Bourgeoisie nie in der Lage war, seinen Namen vollständig aus den Geschichtsbüchern oder aus dem kollektiven Gedächtnis des russischen Proletariats zu radieren. Aber genauso unvermeidlich rückte das Vermächtnis Trotzkis in den Brennpunkt einer politischen Auseinandersetzung. Dies deshalb, weil Trotzki, der couragierte Verteidiger des Marxismus, Gründer einer politischen Strömung war, die nach einem langen Prozeß der opportunistischen Degeneration schließlich die Arbeiterklasse verriet, indem sie den proletarischen Internationalismus Lenins abschaffte und aktiv am zweiten imperialistischen Weltkrieg teilnahm. Die trotzkistische Strömung, die aus diesem Verrat entstand, war zu einer Fraktion der Bourgeoisie geworden, mit einem klar definierten (dirigistischen) Programm für das nationale Kapital, mit einer bürgerlichen Außenpolitik (im allgemeinen zur Unterstützung des ''sowjetischen'' Imperialismus und des Ostblocks) und mit der besonderen Aufgabe der radikalen Sabotage der Arbeiterkämpfe und der marxistischen Reflexion aufstrebender revolutionärer Elemente. Hinter Trotzki gibt es also nicht nur ein Vermächtnis, sondern zwei: das proletarische Vermächtnis Trotzkis selbst und das bürgerliche, ''kritische'' stalinistische Vermächtnis des Trotzkismus.

 

 

Die Widersprüche auf der Konferenz über Trotzkis Vermächtnis

 

Von Anbeginn enthielt die Konferenz, weit davon entfernt, eine wirkliche Einheit im Willen und in der Herangehensweise zu bilden, zwei sich widersprechende Tendenzen. Die erste, die bürgerliche Tendenz, wird von Mitgliedern trotzkistischer Organisationen und auch von einigen sich ihrer Sache verschriebenen Historikern repräsentiert, die vorwiegend aus dem Westen kommen und versuchen, in Rußland Fuß zu fassen, wobei diese Organisationen sogar Mitglieder entsenden, um dort zu leben etc. Auch wenn sie an den Konferenzen teilnehmen und behaupten, daß es ihnen um die wissenschaftliche Untersuchung ginge, gilt ihr tatsächliches Bestreben der Verfälschung der Geschichte (eine Spezialität, aber kein Monopol des Stalinismus). Ihr Ziel ist es, die Linksopposition als einzigen proletarischen Gegner des Stalinismus, Trotzki als den einzigen Repräsentanten der Linksopposition und den heutigen Trotzkismus als den Erben des Vermächtnisses von Trotzki darzustellen. Aus diesem Grund sind sie dazu gezwungen, die meisten Beiträge des proletarischen Kampfes gegen den Stalinismus mit Stillschweigen zu übergehen, einschließlich vieler von der Linksopposition gemachter, einschließlich einiger Beiträge von Trotzki. Und sie sind gezwungen, selbst das Vermächtnis Trotzkis zu verfälschen. Sie tun dies, wie dies die bürgerlichen Trotzkisten immer getan haben, indem sie Trotzki in eine harmlose Ikone, in einen Gegenstand der Verehrung, und seine politischen Fehler in nicht in Frage zu stellende Dogmen umwandeln, während sie die kritische, dynamische, revolutionäre Herangehensweise, die Loyalität zum Proletariat, die das Kennzeichen von Trotzkis Marxismus gewesen war, liquidieren. Mit anderen Worten: Sie ''verwandeln'' Trotzki auf dieselbe Weise, wie die Stalinisten Lenin ''verwandelten''. Nicht genug damit, daß die Agenten Stalins Trotzki in Mexiko ermordeten - die Trotzkisten machten sich daran, die revolutionäre Tradition, für die er stand, zu eliminieren.

 

Die zweite Tendenz im Komitee und auf den Konferenzen, die die Interessen des Proletariats repräsentierte, sträubte sich rasch gegen die trotzkistischen Verfälschungen. Auch wenn sie aufgrund der stalinistischen Konterrevolution nicht in der Lage war, von klar definierten proletarischen programmatischen Positionen auszugehen, so zeigte diese Tendenz doch durch ihre Entschlossenheit, die gesamte Geschichte des proletarischen Kampfes gegen den Stalinismus komplett, ohne jegliche Tabus und Kompromisse, aufzudecken und die verschiedenen Beiträge auf die Tagesordnung einer offenen und kritischen Debatte zu setzen, ihre Sorge um die Arbeiterklasse. Diese Elemente bestanden besonders darauf, daß die Aufgabe der Konferenzen nicht die Propagierung des Trotzkismus in Rußland ist, sondern die kritische Würdigung seines Vermächtnisses im Verhältnis zu anderen proletarischen Beiträgen. Dieses proletarische Verhalten im Komitee, insbesondere von seiten des Autors des in dieser Revue veröffentlichten Beitrages, erhielt gleich von zwei Seiten unter den russischen Teilnehmern Unterstützung. Einerseits von jungen anarcho-syndikalistischen Elementen, die sich der Untersuchung des Vermächtnisses nicht nur des Anarchismus, sondern auch des Linkskommunismus verpflichtet hatten. Andererseits von gewissen russischen Historikern, die sich zwar nicht in den heutigen organisierten politischen Aktivitäten engagieren, aber den besten Traditionen der Loyalität gegenüber der wissenschaftlichen Wahrheit treu geblieben sind. Einige Manöver der Trotzkisten im Komitee und auf den Konferenzen, die Stimmen des Proletariats zum Schweigen zu bringen, erinnerte diese Historiker unfreiwillig an die Art der stalinistischen Druckausübung, unter der sie in der UdSSR so lange gelitten hatten.

 

Die Sabotage der ersten Schritte der proletarischen Klärung in Rußland und die Etablierung einer trotzkistischen Präsenz zur Verhinderung einer Wiederaneignung der Lehren des proletarischen Kampfes in jenem Land sind ein wichtiges Ziel der Bourgeoisie. Für den Trotzkismus und die Linke des internationalen Kapitals, die jahrzehntelang die UdSSR verteidigten, obwohl ihnen und ihrer Presse der Eintritt in jenes Land stets verwehrt worden war, ist ihre eigene Etablierung in Rußland und die Verhinderung einer proletarischen Debatte dort unverzichtbar für ihr eigenes Image als die wahren und einzigen Erben der Oktoberrevolution. (1)

 

Während der Perestroika begann die stalinistische KP den Zugang zu den historischen Archiven des Landes zu erlauben. Diese Maßnahme, Teil von Gorbatschows Politik der Mobilisierung der öffentlichen Meinung gegen den Widerstand innerhalb der Staatsbürokratie gegen seine ''Reform''politik, enthüllte sich bald als ein Ausdruck des Kontrollverlusts und der allgemeinen Auflösung des stalinistischen Regimes. Nachdem sich das Jelzin-Regime an der Macht etabliert hatte, schränkte es schnell den Zugang zu den Staatsarchiven, besonders in Bezug auf den Linkskommunismus und die Opposition links von Trotzki, ein. Obwohl die Jelzin-Regierung das private kapitalistische Eigentum neben dem bereits existierenden staatskapitalistischen Eigentum in Rußland wiedereinführte, verstand sie weitaus besser als Gorbatschow, daß jedes historische Infragestellen ihrer Vorgänger, von Stalin bis Breschnew, und jede Rehabilitierung des proletarischen Kampfes gegen den Staat der UdSSR ihre eigene Autorität nur untergraben kann.

 

Scheinbar im Gegensatz dazu, symphatisieren Teile der heutigen russischen Bourgeoisie mit der Idee, eine ikonisierte bürgerliche Fälschung Trotzkis, der als ''kritischer Anhänger'' einer geringfügig ''demokratisierten'' Nomenklatura dargestellt wird, zu benutzen, um ihr eigenes historisches Image aufzupolieren. Diese Sorge spiegelte sich in der Anwesenheit von stalinistischen Parteidissidenten auf der Konferenz wider, einschließlich eines Ex-Mitglieds von Suganows Zentralkomitee.

 

 

Die Konferenz von 1996 über die Verratene Revolution

 

Trotzkis berühmte Studie der Natur der UdSSR unter Stalin, in welcher er behauptete, daß einige ''Errungenschaften der Oktoberrevolution'' 1936 immer noch existierten, wurde von den Trotzkisten auf der Moskauer Konferenz von 1996 genutzt, um zu ''beweisen'', daß ein ''degenerierter Arbeiterstaat'' mit ''Elementen der sozialistischen Ökonomie'' bis in die 90er Jahre dort existiert hätte! Mitte der 30er Jahre glaubte Trotzki (der trotz der Zerschlagung des deutschen Proletariats 1933 nicht begriffen hatte, daß die revolutionäre Periode einer Epoche der Niederlage und der Konterrevolution gewichen war, und der die Kraft der russischer Arbeiteropposition innerhalb wie außerhalb der stalinisierten KP völlig überschätzt hatte), daß die Weltrevolution erst begonnen hätte und die Arbeiteropposition an die Macht zurückbringen würde. Im letzten Abschnitt seines Buches erklärt er: “Auf der Pyrenäenhalbinsel, in Frankreich, Belgien, wird augenblicklich das Los der Sowjetunion entschieden'' und schließt daraus, daß allein die siegreiche Revolution in diesen Ländern jetzt “den ersten Arbeiterstaat für die sozialistische Zukunft retten'' kann. Obwohl die Ereignisse in Spanien, Frankreich und Belgien mit dem kompletten Sieg der Konterrevolution und der Mobilisierung des westeuropäischen Proletariats für den imperialistischen Weltkrieg endeten, obwohl sie den Krieg und den ihm vorauseilenden Terror, die endgültige physische Liquidierung der letzten Überbleibsel der organisierten proletarischen Opposition in der UdSSR und den totalen Sieg der stalinistischen Konterrevolution nicht nur in der UdSSR, sondern auch in China und ganz Osteuropa bewirkten, wandelt der heutige Trotzkismus Trotzkis Fehler in ein religiöses Dogma um, indem er behauptet, daß Jelzins angebliche ''Wiederherstellung des Kapitalismus'' die Vorhersagen des ''Propheten'' Trotzki vollkommen bestätigt habe!

 

Gegen die bürgerliche Kanonisierung der Fehler Trotzkis zitierte die IKS seine Erklärung zu Beginn seines Buches Verratene Revolution: ''Mit den Herren bürgerlichen Ökonomisten braucht man sich nicht mehr zu streiten: der Sozialismus bewies sein Recht auf den Sieg nicht auf den Seiten des “Kapital”, sondern auf einer Wirtschaftsarena, die einen Sechstel der Erdoberfläche bildet, bewies es nicht in der Sprache der Dialektik, sondern in der Sprache des Eisens, des Zements und der Elektrizität.” Wenn dies zuträfe, würde die Desintegration der stalinistischen Ökonomie uns dazu zwingen, die Überlegenheit des Kapitalismus über den ''Sozialismus'' zuzugeben - eine Schlußfolgerung, die die Weltbourgeoisie jetzt genüßlich daraus zieht. In der Tat begann Trotzki gegen Ende seines Lebens, hoffnungslos verfangen in seiner eigenen unrichtigen Definition der UdSSR, selbst das ''historische Scheitern des Sozialismus'' als Hypothese in Erwägung zu ziehen.

 

Es ist kein Zufall, daß ein wichtiger Teil der Argumentation in Verratene Revolution der ''Widerlegung'' gewidmet ist, daß Stalins Rußland staatskapitalistisch ist - diese Position wurde nicht nur innerhalb des Linkskommunismus, sondern auch in der Linksopposition selbst, sowohl in Rußland als auch im Ausland, ständig geltend gemacht. Der hier veröffentlichte Beitrag des Genossen AG aus Moskau stellt eine fundamentale Widerlegung der Position Trotzkis zur UdSSR vom Standpunkt des revolutionären Marxismus dar. Dieser Beitrag demonstriert nicht nur die staatskapitalistische Natur des stalinistischen Rußlands. Er enthüllt auch die grundsätzliche Schwäche in Trotzkis Verständnis der Degeneration des Roten Oktober. Während Trotzki die Konterrevolution, wenn sie denn nicht durch eine ausländische Invasion triumphieren würde, von der Bauernschaft erwartete, weshalb er auch in den Bucharinisten und nicht in den Stalinisten die Hauptgefahr in den 20er Jahren erblickte und Stalins Bruch mit Bucharin zunächst als einen Schritt hin zur revolutionären Politik ansah, war er gegenüber dem Hauptinstrument einer Konterrevolution von innen mit Blindheit geschlagen: dem ''Sowjet''staat, der die Sowjets ausgelöscht hatte. In der Tat enthüllte bereits seine Debatte mit Lenin über die Gewerkschaftsfrage, in der Lenin das Recht der Arbeiter, gegen ihren ''eigenen Staat'' zu streiken, verteidigte und Trotzki es verneinte, Trotzkis Schwäche in dieser Frage. Im Gegensatz zu Trotzkis unkritischem Glauben in den ''Arbeiterstaat'', hob Lenin bereits 1921 hervor, daß der Staat auch andere Klassen, die dem Proletariat antagonistisch gegenüberstehen, repräsentiere und ''bürokratisch deformiert'' sei. Hinzu kommt noch ein anderes, wichtiges Unverständnis Trotzkis - sein Glauben an die ''ökonomischen Errungenschaften'' und an die Möglichkeit, die sozialistische Umgestaltung zumindest in einem Land zu beginnen -, was mithalf, den Weg für den Verrat des Trotzkismus durch die Unterstützung des Sowjetimperialismus im 2. Weltkrieg zu ebnen.

 

Diese Debatte war nicht akademisch. Während der Konferenz riefen die Trotzkisten, indem sie zur Verteidigung der ''noch verbliebenen sozialistischen Errungenschaften'' in einem Kampf gegen den ''Privatkapitalismus'' aufriefen, den sie als ''noch immer nicht entschieden'' beurteilten, die russischen Arbeiter tatsächlich dazu auf, ihr Blut für die Verteidigung der Interessen jenes Teils der stalinistischen Nomenklatura zu vergießen, der durch den Zusammenbruch des Regimes verloren hatte. Überdies leugnen sie, indem sie die Kriege in Ex-Jugoslawien als ein Mittel zur ''Wiederherstellung des Kapitalismus'' in jenem Land darstellen, die imperialistische Natur dieses Konflikts und rufen die Arbeiter zur Unterstützung der sogenannten ''antikapitalistischen'' Seite auf (im allgemeinen die pro-russische serbische Fraktion, die auch vom britischen und französischen Imperialismus unterstützt wird). Während des offenen Forums am Ende der Konferenz intervenierte die IKS, um den imperialistischen Charakter der UdSSR, der Kriege in Jugoslawien und in Tschetschenien und der Linken des Kapitals zu entlarven. Unsere Stimme war jedoch nicht die einzige, die sich zur Verteidigung des proletarischen Internationalismus erhob. Einer der jungen russischen Anarchisten intervenierte ebenfalls, zunächst um die Manöver der Kollaborationspolitik des russischen Zweiges der militanten Tendenz innerhalb des Trotzkismus mit anderen linken, aber auch rechten Tendenzen zu denunzieren. Doch vor allem entlarvte der Genosse den imperialistischen Charakter des 2. Weltkriegs und der Teilnahme Rußlands an ihm - wahrscheinlich die erste öffentliche und somit historische internationalistische Erklärung dieser Art durch eine neue Generation von Revolutionären in Rußland.

 

 

Die Konferenz von 1997 über Trotzki und die Russische Revolution

 

Diese Konferenz wurde hauptsächlich durch eine unmittelbarere Konfrontation zwischen dem Trotzkismus und dem Linkskommunismus beherrscht. Der Einfluß des letztgenannten wurde größtenteils durch die Anwesenheit und die mutigen Interventionen der Communist Workers Organisation, aber auch durch einen anderen Beitrag des Genossen G. gesteigert. Dieser Beitrag erinnerte nicht nur an die Existenz linkskommunistischer Strömungen in Rußland, wie die Kommunistische Arbeitergruppe von Gabriel Miasnikow, der sich der stalinistischen Degeneration viel früher und weitaus entschlossener als Trotzki widersetzte. Er verwies auch, auf der Basis einer Untersuchung historischer Dokumente, auf die Existenz einer massiven Unzufriedenheit und sogar offener Gegnerschaft gegenüber Trotzkis halbherziger Politik, die in Forderungen nach einer sozialen Revolution gegen die stalinistische Bourgeoisie zum Ausdruck kam.

 

Die CWO und die IKS erinnerten daran, daß die Kommunistische Internationale von den Bolschewiki und den kommunistischen Linken im wesentlichen gegründet wurde, um die Weltrevolution zu verbreiten. Lenin und Trotzki übertrugen den bekanntesten Mitgliedern des holländischen Linkskommunismus, Pannekoek und Gorter, die Leitung des westeuropäischen Büros der Internationalen (in Amsterdam). Die wichtigsten kommunistischen Parteien dort wurden von Linkskommunisten gegründet: die KPD von den Spartakisten und den Bremer Linksradikalen und die italienische Partei von den Genossen um Bordiga. Überdies wurde die Komintern 1919 auf der Grundlage der Positionen der kommunistischen Linken gegründet. Das Manifest des Gründungskongresses, verfaßt von Trotzki, ist der deutlichste Ausdruck dafür; er zeigt auf, daß in der Epoche des dekadenten Staatskapitalismus der gewerkschaftliche und parlamentarische Kampf, die nationale Befreiung und die Verteidigung der bürgerlichen Demokratie nicht mehr möglich sind und daß die Sozialdemokratie zum linken Flügel der Bourgeoisie geworden ist. Wenn Lenin und Trotzki, im Gegensatz zum Linkskommunismus, diesen Positionen nicht treu geblieben sind, dann hauptsächlich deshalb, weil sie nach 1917 in der Verteidigung der Interessen des russischen Übergangsstaates verstrickt waren. Daher ist der Linkskommunismus der wahre Verteidiger des großen revolutionären Erbes von Lenin und Trotzki zwischen 1905 und 1917. Dies beweist die Tatsache, daß die Kommunistische Linke den internationalistischen Positionen Lenins während des 2. Weltkriegs, als der Trotzkismus Verrat beging, treu geblieben war.

 

Die CWO und die IKS verteidigten den gigantischen Beitrag von Rosa Luxemburg für den Marxismus gegen den britischen Neotrotzkisten Hillel Tiktin, der, um russische Militante am Studium ihrer Werke zu hindern, behauptete, daß sie gestorben sei, weil sie ''keine Parteikonzeption'' gehabt habe, mit anderen Worten, es sei ihr eigener Fehler gewesen, daß sie von der sozialdemokratischen Konterrevolution ermordet wurde. (2)

 

Diese Konferenz enthüllte den russischen Genossen vor allem, daß der Trotzkismus die Stimme des Proletariats nicht tolerieren kann. Während der Konferenz selbst versuchten sie wiederholt, die Darstellungen und Interventionen der CWO und der IKS zu verhindern. Nach der Konferenz versuchten sie, die ''Feinde des Trotzkismus'' von künftigen Treffen auszuschließen und jene russischen Mitglieder aus dem Organisationsbüro des Komitees zu entfernen, die die Teilnahme von nicht-trotzkistischen politischen Strömungen auf den Konferenzen verteidigten. Zuvor schon hatten sie die Veröffentlichung der IKS-Beiträge auf der Konferenz von 1996 auf russisch mit dem Vorwand sabotiert, daß sie von ''keinem wissenschaftlichen Interesse'' seien.

 

 

Perspektiven

 

Wir müssen wohl kaum die internationale und historische Bedeutung der langsamen und schwierigen Entwicklung von proletarischen Positionen im Lande der Oktoberrevolution betonen. Es liegt auf der Hand, daß die Entwicklung eines solchen Klärungsprozesses enormen Hindernissen und Gefahren ausgesetzt ist. Als Ergebnis insbesondere einer über ein halbes Jahrhundert währenden stalinistischen Konterrevolution, deren Zentrum genau in jenem Land lag, und der extremen Manifestation der kapitalistischen Krise dort, sind die suchenden proletarischen Elemente in Rußland noch immer isoliert und unerfahren, weiterhin abgeschnitten von großen Teilen der wahren Geschichte des Proletariats und der marxistischen Bewegung sowie den enormen materiellen Schwierigkeiten und der Gefahr der Ungeduld und Demoralisierung ausgesetzt. Hinzu kommt die Tatsache, daß die Linke des Kapitals ganz sicher damit fortfahren wird, diesen Prozeß um alles in der Welt zu sabotieren.

 

Die wahre Aufgabe der Revolutionäre in Rußland heute, nach Jahrzehnten der furchtbarsten Konterrevolution in der Geschichte, die nicht nur zwei Generationen von proletarischen Revolutionären ausgelöscht hat, sondern auch unserer Klasse ihre wahre Geschichte ''gestohlen'' hat, besteht in der politischen Klärung von Positionen. Die Entwicklung einer revolutionären Perspektive für die Arbeiterklasse von heute kann nur eine äußerst langfristige, schwere Aufgabe sein. Das Proletariat braucht keine Revolutionäre, die nach kurzer Zeit wieder verschwinden, sondern Organisationen, die fähig sind, eine historische Arbeit und Perspektive zu entwickeln. Daher wird von Revolutionären vor allem ein Marxismum an Klarheit und Standfestigkeit in proletarischen Positionen und die Fähigkeit verlangt, die wahren Traditionen der Arbeiterklasse zu verteidigen.

 

Die IKS hat sich selbst dazu verpflichtet, die Unterstützung aller Bemühungen in diese Richtung fortzusetzen. Insbesondere wollen wir die russischen Genossen ermuntern, die Beiträge des Linkskommunismus zu studieren, den sie selbst als einen echten und wichtigen Ausdruck des historischen Kampfes unserer Klasse anerkennen.

 

Nach unserer Auffassung war die Art von Konferenzen, wie sie bis dahin stattgefunden haben, ein wichtiges Moment in der Debatte und Konfrontation gewesen, hat aber nun ihre Grenzen erreicht, insofern als es nicht mehr möglich ist, angesichts von Sabotage und Verfälschungen der Art, wie wir sie bei den Trotzkisten gesehen haben, die Klärung fortzusetzen. Der Klärungsprozeß selbst jedoch kann und muß weitergehen, und dies ist nur in internationalem Rahmen möglich.

 

Nicht nur die russischen Revolutionäre, sondern auch das internationale Proletariat wird von diesem Prozeß nutznießen. Der im Folgenden veröffentlichte Text ist ein klares Anzeichen dafür, wie reich dieser Beitrag sein kann. (3) KR

 

 

(1)  So nahm der französische Trotzkist Krivine ein TV-Team des deutsch-französischen Kanals Arte zur Konferenz mit und blieb nur einige Sitzungen lang, um vor der Kamera zu posieren.

 

(2) Die trotzkistische (und stalinistische) Lüge, derzufolge die Deutsche Revolution von 1918-23 infolge Rosa Luxemburgs angeblicher Unterschätzung der Partei und der Notwendigkeit diese zum richtigen Zeitpunkt zu gründen gescheitert sei, wurde von Trotzki, der eine marxistische Erklärung zum Rückstand und zur Schwäche der damaligen politischen Avantgarde in Deutschland gab, nicht geteilt. “Die Geschichte hat der Menschheit einmalmehr eine ihrer dialektischen Widersprüche präsentiert: genau weil die deutsche Arbeiterklasse in der vorangegangenen Periode ihre größte Energie dem Aufbau einer unabhängigen Organisation gewidmet hat, welche innerhalb der Zweiten Internationalen als Partei und auch als Gewerkschaftsapparat den ersten Rang einnahm, genau aus diesem Grunde hat sich die deutsche Arbeiterklasse in einer neuen Epoche, im Moment des Wechsels zum offenen revolutionären Kampf um die Macht als organisatorisch sehr verletzlich offenbart.” (“Die kriechende Revolution”, “Die ersten fünf Jahre der Kommunistischen Internationalen”) In der Tat war die Fraktionsarbeit innerhalb der deutschen Sozialdemokratie, welche Rosa Luxemburg und der Spartakusbund gegen den Verrat der Führung und mit dem Ziel die Partei der Zukunft zu bilden führten, nicht nur einer der kühnsten und entschlossensten Kämpfe für die Partei in der bisherigen Geschichte, sondern er entsprach auch den von Lenin verwirklichten Traditionen der Fraktionsarbeit.

 

(3) Wir sind im Ganzen mit der Analyse und den in diesem Dokument entwickelten Argumenten einverstanden. Doch dies heißt nicht, daß wir damit auch alle Formulierungen als richtig erachten. So scheint uns die Idee, nach der “die Arbeiterklasse (in Rußland) zur  Abschaffung des staatlichen Eigentums und des kommunistischen Staatsapparates beigetragen hat” als falsch. In keiner Weise war die Arbeiterklasse als Klasse selbst ein aktiver Faktor in den Umwälzungen, die in den sogenannt sozialistischen Ländern damals stattgefunden haben. Die Tatsache, daß eine Mehrheit der Arbeiter, als Opfer von demokratischen Illusionen, hinter die Ziele der “liberalen” Fraktion der Bourgeoisie gegen die stalinistische gezogen wurde heißt absolut nicht, daß die Arbeiterklasse eine aktive Rolle spielte. Die imperialistischen Weltkriege haben Dutzende von Millionen Arbeiter erfaßt. Doch dies bedeutet nicht, die Arbeiterklasse hätte sich aktiv an den Massakern beteiligt. Als sich die Arbeiterklasse als Klasse erhoben hat, wie 1917 in Rußland und 1918 in Deutschland, hatte dies zum Ziel, dem Krieg ein Ende zu setzen. Auch trotz einiger unglücklicher Formulierungen ist dies ein hervorragender Text den wir begrüßen.                   

 

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Stalinismus [5]

Internationale Revue 22

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Aufbau der revolutionären Organisation -Thesen über den Parasitismus

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1. Die Arbeiterbewegung hat sich während ihrer ganzen bisherigen Geschichte gegen das Eindringen fremder Ideologien in ihre Reihen wehren müssen. Ideologien, welche entweder von der herrschenden Klasse oder dem Kleinbürgertum herrühren. Dieses Eindringen hat sich in den Organisationen der Arbeiterklasse in vielfältigen Formen ausgedrückt. Die bekanntesten und auch am meisten verbreiteten darunter sind:

-  das Sektierertum

-  der Individualismus

-  der Opportunismus

-  das Abenteurertum / der Putschismus.

2. Das Sektierertum ist eine typische Form einer kleinbürgerlichen Organisationsvorstellung. Es lehnt sich an den kleinbürgerlichen Geist des Krämers an, des "Herrn im eigenen Haus", und drückt sich darin aus, die eigenen Interessen und Organisationsvorstellungen über die Interessen der Arbeiterbewegung als Ganzes zu stellen. In der sektiererischen Vorstellung ist die Organisation "allein auf der Welt", und sie trägt eine Verachtung gegenüber allen andern Organisationen der Arbeiterbewegung, welche als "Konkurrenten" und "Feinde" angesehen werden, zur Schau. Da sie sich durch diese bedroht fühlen, lehnen sektiererische Organisationen die Debatte und Polemik meist ab. Sie suchen Zuflucht in einer "wundervollen Isolation", tun so, als würden die anderen nicht existieren, oder stellen hartnäckig, ohne Gemeinsamkeiten zu beachten, nur das in den Vordergrund, was sie von den anderen unterscheidet.

3. Der Individualismus rührt ebenfalls von kleinbürgerlichen oder direkt bürgerlichen Einflüssen her. Von der herrschenden Klasse übernimmt der Individualismus die Ideologie, welche das Individuum als Subjekt der Geschichte betrachtet, den "Einzelgänger" glorifiziert und damit den "Kampf des Einzelnen gegen Alle" rechtfertigt. Er dringt vor allem durch die Brücke des Kleinbürgertums in die Organisationen des Proletariates ein. Insbesondere durch frisch proletarisierte Elemente aus den Schichten des Bauerntums und des Handwerks (dies war vor allem im letzten Jahrhundert der Fall) oder durch Elemente aus dem intellektuellen und studentischen Milieu (vor allem nach dem historischen Wiedererwachen der Arbeiterklasse Ende der 60er Jahre). Der Individualismus drückt sich vor allem in der Tendenz aus:

-  die Organisation nicht als etwas Kollektives zu sehen, sondern als eine Summe von Individuen, bei der die Beziehungen zwischen Personen Vorrang haben vor politischen und statutarischen Beziehungen;

-  die eigenen "Wünsche" und "Interessen" über die Bedürfnisse der Organisation zu stellen;

-  sich schlußendlich der Disziplin innerhalb der Organisation entgegenzustellen;

-  in den militanten Aktivitäten eine "persönliche Verwirklichung" zu suchen;

-  gegenüber den Zentralorganen eine permanent rebellische Haltung einzunehmen und diese als Zerstörer der Individualität anzuklagen und gleichzeitig, ergänzend dazu, nach einem "Aufstieg" zu streben durch den eigenen Eintritt in diese Organe;

-  auf allgemeiner Ebene durch eine elitäre Organisationsauffassung, in der man zu den "Militanten 1. Klasse" gehören will und durch eine Verachtung gegenüber denjenigen, die als "Militante 2. Klasse" betrachtet werden.

4. Der Opportunismus, der in der Geschichte die größte Gefahr für die Organisationen des Proletariats darstellte, ist ein weiterer Ausdruck des Eindringens bürgerlicher, und vor allem kleinbürgerlicher Ideologien. Eine seiner Hauptantriebskräfte ist die Ungeduld, welche den Standpunkt einer zur Machtlosigkeit verdammten Schicht ausdrückt, die keinerlei Zukunft in der Geschichte hat. Seine andere Antriebskraft ist die Tendenz, die Interessen und Positionen der zwei Hauptklassen der Gesellschaft, des Proletariates und der Bourgeoisie, zwischen denen das Kleinbürgertum eingepfercht ist, in Übereinstimmung bringen zu wollen. Deshalb zeichnet sich der Opportunismus darin aus, die allgemeinen und historischen Interessen der Arbeiterklasse den Illusionen des unmittelbaren und von den momentanen Umständen abhängigen "Fortschritts" zu opfern. Da es für die Arbeiterklasse aber keinen Widerspruch gibt zwischen dem Kampf innerhalb des Kapitalismus und dem Kampf für dessen Überwindung, führt die Politik des Opportunismus schlußendlich dazu, auch die unmittelbaren Interessen des Proletariats zu opfern, vor allem indem er die Klasse zu Kompromissen mit den Interessen und Positionen der herrschenden Klasse drängt. Letztendlich wählen opportunistische politische Strömungen in den entscheidenden historischen Augenblicken, wie dem imperialistischen Krieg und der proletarischen Revolution, das Lager der herrschenden Klasse. Dies war der Fall bei der Mehrheit der sozialdemokratischen Parteien während des Ersten Weltkrieges und den kommunistischen Parteien am Vorabend des Zweiten Weltkrieges.

5. Der Putschismus - oder auch Abenteurertum genannt[1] - behauptet von sich, das Gegenteil des Opportunismus darzustellen. Unter dem Deckmantel der "Unbeugsamkeit" und des "Radikalismus" erklärt er sich allzeit bereit, Angriffe gegen die Bourgeoisie zu eröffnen und einen "alles entscheidenden" Kampf zu führen, auch wenn dazu die Bedingungen im Proletariat noch nicht erfüllt sind. Der Putschismus versäumt auch keine Gelegenheit, die authentische, proletarische und marxistische Strömung, welche darum bemüht ist, die Arbeiterklasse vor einem von vornherein aussichtslosen Kampf zu bewahren, des Opportunismus, Versöhnlertums oder gar des "Verrats" zu bezichtigen. In Wirklichkeit von derselben Quelle herrührend wie der Opportunismus - der kleinbürgerlichen Ungeduld - vereint er sich oft mit diesem. Die Geschichte ist reich an Beispielen von opportunistischen Strömungen, welche putschistische Strömungen unterstützten oder die sich in den putschistischen Radikalismus verwandelten. So zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Rechte innerhalb der deutschen Sozialdemokratie gegen den Widerstand ihres linken Flügels um Rosa Luxemburg, die russischen Sozialrevolutionäre unterstütze, welche Anhänger des Terrorismus waren. Gleichfalls im Januar 1919, als sich dieselbe Rosa Luxemburg gegen den von der sozialdemokratischen Regierung provozierten Aufstand der Arbeiter in Berlin aussprach, drängten die Unabhängigen, welche dieselbe Regierung eben verlassen hatten, in einen Aufstand, der in einem Massaker an Tausenden von Arbeitern und den wichtigsten kommunistischen Anführern endete.

6. Der Kampf gegen das Eindringen bürgerlicher und kleinbürgerlicher Ideologien in die Organisationen der Klasse und gegen die Auswirkungen dieses Eindringens ist eine permanente Verantwortung für die Revolutionäre. Eigentlich war dieser Kampf sogar der hauptsächliche, den die wirklich proletarische und revolutionäre Strömung innerhalb der Organisationen der Klasse auszufechten hatte, da er weit schwieriger war als der direkte Kampf gegen die offiziellen, erklärten Kräfte der Bourgeoisie. Der Kampf gegen die Sekten und das Sektierertum, besonders innerhalb der Internationalen Arbeiter Assoziation (IAA), war einer der bedeutendsten, den Marx und Engels führten. Desgleichen der Kampf gegen den Individualismus, vor allem in der Form des Anarchismus, den nicht nur Marx und Engels führten, sondern auch die Marxisten der Zweiten Internationalen (vor allem Rosa Luxemburg und Lenin). Der Kampf gegen den Opportunismus ist sicher der konstanteste und systematischste, den die revolutionäre Strömung seit Beginn geführt hat:

-  gegen den "Staats-Sozialismus" der Lassalleaner zwischen 1860 und 1870;

-  gegen all die Revisionisten und Reformisten wie Bernstein und Jaurès um die Jahrhundertwende;

-  gegen den Menschewismus;

-  gegen den Zentrismus vom Schlage Kautskys am Vorabend, während und nach dem Ersten Weltkrieg;

-  gegen die Degenerierung der Dritten Internationale und der kommunistischen Parteien während der 20er und zu Beginn der 30er Jahre;

-  gegen die Degenerierung der trotzkistischen Strömung während der 30er Jahre.

-  Der Kampf gegen den Abenteurer-Putschismus fand nicht mit derselben Beharrlichkeit statt wie der Kampf gegen den Opportunismus. Trotzdem wurde er seit dem Beginn der Arbeiterbewegung geführt (gegen die immediatistische Tendenz von Willich-Schapper im Bund der Kommunisten, gegen die bakunistischen Abenteuer während der "Kommune" von Lyon 1870 und im Bürgerkrieg in Spanien von 1873). Eine besondere Bedeutung hatte er jedoch vor allem während der weltrevolutionären Welle von 1917-23: Auf der Fähigkeit der Bolschewiki, diesen Kampf im Juli 1917 zu führen, gründete im wesentlichen der Erfolg der Oktoberrevolution.

7. Die vorangegangenen Beispiele zeigen deutlich auf, daß die Auswirkungen dieser verschiedenen Ausdrücke des Eindringens fremder Ideologien eng zusammenhängen mit:

-  der historischen Periode;

-  dem Zeitpunkt in der Entwicklung der Arbeiterklasse;

-  der Verantwortung, welche die Klasse unter den jeweiligen Umständen hat.

Einer der wichtigsten Ausdrücke des Eindringens fremder Ideologien in die Reihen der Arbeiterklasse (sowie auch der entschlossene Kampf dagegen), der Opportunismus, fand seinen Boden, auch wenn er in der Geschichte der Arbeiterklasse andauernd vorhanden war, insbesondere in den Parteien der Zweiten Internationale. Dies während einer Periode:

-  in der die Illusionen einer möglichen Einigung mit der Bourgeoisie aufgrund der tatsächlichen Entwicklung des Kapitalismus und den handfesten Verbesserungen der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse aufblühten;

-  in der das Bestehen von Massenparteien die Idee begünstigten, daß der Druck, den diese Parteien ausübten, die geradlinige Umwandlung des Kapitalismus in den Sozialismus ermöglichen würde.

Ebenso ist das Eindringen des Opportunismus in die Parteien der Dritten Internationale stark bestimmt durch das Abebben der weltrevolutionären Welle. Dieser Rückfluß förderte die Idee, daß es möglich sei, innerhalb der Arbeitermassen einen Einfluß zu gewinnen, indem man Konzessionen mache gegenüber den auf ihr lastenden Illusionen, die sich vor allem in den Fragen des Parlamentarismus, der Gewerkschaften und der Natur der Sozialdemokratie ausdrückten.

Die Wichtigkeit des historischen Zeitpunkts, bezüglich der verschiedenen Ausdrücke des Eindringens fremder Ideologien in die Klasse zeigt sich am Beispiel des Sektierertums noch deutlicher. Das Sektierertum war vor allem zu Beginn der Arbeiterbewegung stark vorhanden, als sich das Proletariat erst gerade aus dem Handwerker- und Gesellentum (mit seinen Ritualen und Berufsgeheimnissen) gelöst hatte. Gleichfalls blühte es während der Konterrevolution in Form der bordigistischen Strömung erneut auf, die im Rückzug in sich selbst ein Mittel (das offenbar aber nicht taugte) im Kampf gegen die Bedrohung durch den Opportunismus sah.

8. Der politische Parasitismus, der mehrheitlich auch ein Ausdruck des Eindringens fremder Ideologien in die Arbeiterklasse ist, fand in der Geschichte der Arbeiterbewegung nicht im demselben Ausmaße Aufmerksamkeit wie andere Ausdrücke (z.B. der Opportunismus). Dies weil der Parasitismus die Organisationen des Proletariates nur in bestimmten historischen Momenten bedeutsam angegriffen hat. Der Opportunismus stellt eine andauernde Gefahr für die Organisationen des Proletariates dar und er drückt sich vor allem in den Momenten aus, in denen diese ihre größte Entwicklung erleben. Demgegenüber findet der Parasitismus seinen Platz grundsätzlich nicht während den wichtigsten Momenten der Arbeiterbewegung. Der Parasitismus findet einen günstigen Boden vielmehr in Perioden der relativen Unreife der Arbeiterbewegung, in denen die Organisationen des Proletariates noch eine schwache Wirkung und wenig Tradition haben. Dies hängt mit der Natur des Parasitismus zusammen, der sich, um erfolgreich zu sein, an Elemente wendet, welche auf der Suche nach Klassenpositionen sind und Schwierigkeiten haben, zwischen tatsächlich revolutionären Organisationen und denjenigen Strömungen zu unterscheiden, deren Existenz alleine darauf beruht, auf Kosten der Revolutionäre zu leben, deren Wirken zu sabotieren und sie wenn möglich zu zerstören. Gleichzeitig - auch dies rührt von seiner Natur her - taucht der Parasitismus nicht schon zu Beginn des Entstehens der Organisationen der Klasse auf, sondern dann, wenn sich diese bereits formiert haben und den Beweis erbringen, die Interessen der Arbeiterklasse tatsächlich zu verteidigen.

Dies sind Elemente, die wir schon zu Beginn der Entstehung des politischen Parasitismus finden: bei der "Allianz der sozialistischen Demokratie", welche versuchte die Arbeit der Internationalen Arbeiterassoziation zu sabotieren und diese zu zerstören.

9. Es waren Marx und Engels, die als erste die Gefahr erkannten, welche der Parasitismus für die Organisationen des Proletariates darstellt:

"Es ist außerdem an der Zeit, ein für allemal den inneren Kämpfen ein Ende zu bereiten, die durch das Vorhandensein dieser parasitären Körperschaft täglich von neuem in unserer Assoziation provoziert werden. Diese Streitigkeiten dienen nur dazu, Kräfte zu vergeuden, die dazu benutzt werden sollen, das jetzige bourgeoise Regime zu bekämpfen. Indem die Allianz die Tätigkeit der Internationale gegen die Feinde der Arbeiterklasse lähmt, dient sie ausgezeichnet der Bourgeoisie und den Regierungen."

Der Begriff des politischen Parasitismus ist also keineswegs "eine Erfindung der IKS". Es war die IAA (Internationale Arbeiterassoziation), welche als erste mit dieser Bedrohung für die Arbeiterbewegung konfrontiert war, sie identifizierte und auch bekämpfte. Sie - und zuvorderst Marx und Engels - war es, die die Parasiten schon damals als politisierte Elemente beschrieb, welche zwar vorgeben, zum Programm und den Organisationen des Proletariates zu gehören, ihre Energie aber nicht auf den Kampf gegen die herrschende Klasse, sondern gegen die Organisationen der revolutionären Klasse konzentrieren. Das Wesen der parasitären Aktivitäten ist es, Verleumdungen und Manöver gegen das revolutionäre Lager zu führen, auch wenn sie behaupten, dazu zu gehören und in seinem Dienst zu stehen.[2]

"Zum ersten Mal in der Geschichte der Kämpfe der Arbeiterklasse stoßen wir auf eine geheime Verschwörung, die angezettelt worden ist inmitten dieser Klasse selbst und dazu bestimmt ist, nicht das bestehende Ausbeuterregime zu unterminieren, sondern gerade die Assoziation, die es aufs energischste bekämpft."

10. In dem Masse, wie die Arbeiterbewegung mit der IAA über eine reiche Erfahrung des Kampfes gegen den Parasitismus verfügt, ist es für die Konfrontation mit den gegenwärtigen parasitären Angriffen und zur Bewaffnung gegen sie äußerst wichtig, die Hauptlehren dieses vergangenen Kampfes in Erinnerung zu rufen. Diese Lehren betreffen eine ganze Reihe von Aspekten:

-  den Zeitpunkt des Auftauchens des Parasitismus;

-  seine Besonderheiten im Verhältnis zu den anderen Gefahren, die den proletarischen Organisationen lauern;

-  sein Rekrutierungsfeld;

-  seine Methoden;

-  die Mittel eines wirksamen Kampfes gegen ihn.

Wie weiter unten festzustellen sein wird, sticht die Ähnlichkeit unter all diesen Gesichtspunkten zwischen der Lage, vor der das proletarische Milieu heute steht, und derjenigen der IAA in die Augen.

11. Auch wenn der Parasitismus eine Arbeiterklasse befiel, die noch unerfahren war, so trat er geschichtlich doch erst als Feind der Arbeiterbewegung auf, als diese bereits einen gewissen Reifegrad erreicht und die sektiererische Kindheitsphase überwunden hatte.

"Die erste Phase in dem Kampfe des Proletariats gegen die Bourgeoisie ist durch die Sektenbewegung bezeichnet. Diese ist berechtigt zu einer Zeit, in der das Proletariat sich noch nicht hinreichend entwickelt hat, um als Klasse zu handeln."

Das Auftreten des Marxismus, die Reifung des proletarischen Klassenbewußtsein und die Fähigkeit der Klasse und ihrer Vorhut, ihren Kampf zu organisieren, stellen die Arbeiterbewegung auf einer gesunden Grundlage.

"Von dem Moment an, da die Bewegung der Arbeiterklasse Wirklichkeit wurde, schwanden die phantastischen Utopien (...), weil an die Stelle phantastischer Utopien die wirkliche Einsicht in die historischen Bedingungen der Bewegung trat und die Kräfte für eine Kampforganisation der Arbeiterklasse sich immer mehr zu sammeln begannen."

Der Parasitismus ist geschichtlich als Antwort auf die Gründung der Ersten Internationale entstanden, die Engels beschrieb als "das Mittel zur allmählichen Auflösung und Aufsaugung all jener kleineren Sekten" (Friedrich Engels, Brief an Florence Kelley-Wischnewetzky vom 27.1.1887).

Mit anderen Worten war die Internationale ein Instrument, das die verschiedenen Teile der Arbeiterbewegung zwang, sich in einem kollektiven und öffentlichen Klärungsprozeß zu engagieren und sich einer einheitlichen, unpersönlichen, proletarischen, organisatorischen Disziplin zu unterwerfen. Der Parasitismus hat der revolutionären Bewegung den Krieg vor allem als Widerstand gegen diese internationale "Auflösung und Aufsaugung" aller nicht proletarischen programmatischen und organisatorischen Besonderheiten und Autonomien erklärt.

"Die Sekten, im Anfange Hebel der Bewegung, werden ein Hindernis, sowie diese sie überholt; sie werden dann reaktionär; Beweis dafür sind die Sekten in Frankreich und England und letzthin die Lassalleaner in Deutschland, welche, nachdem sie jahrelang die Organisation des Proletariats gehemmt, schließlich einfache Polizeiwerkzeuge geworden sind."

12. Dieser dynamische Rahmen der Analyse, den die Erste Internationale entwickelte, erklärt, warum die gegenwärtige Phase, d.h. diejenige der 1980er und v.a. der 1990er Jahre, Zeugin einer seit der Zeit der Allianz der Strömung von Lassalle nie mehr erlebten Entwicklung des Parasitismus ist. Wir stehen heute vor zahlreichen informellen Umgruppierungen, die häufig im Dunkeln agieren und vorgeben, zum Lager der Kommunistischen Linken zu gehören, die aber ihre Energien darauf verwenden, eher die bestehenden marxistischen Organisationen zu bekämpfen als die bürgerliche Herrschaft. Wie zur Zeit von Marx und Engels besteht die Funktion dieser reaktionären parasitären Welle darin, die Entwicklung der offenen Debatte und der proletarischen Klärung zu sabotieren sowie die Aufstellung von Verhaltensregeln, die alle Mitglieder des proletarischen Lagers verbinden, zu verhindern. Insbesondere die folgenden Faktoren rufen gegenwärtig den Haß und die Offensive des politischen Parasitismus hervor:

-  eine internationale marxistische Strömung wie die IKS, die das Sektierertum und den Monolithismus ablehnt;

-  öffentliche Polemiken zwischen revolutionären Organisationen;

-  die gegenwärtige Debatte über marxistische Organisationsgrundsätze und die Verteidigung des revolutionären Milieus;

-  neue revolutionärer Elemente, die auf der Suche der wirklichen marxistischen Traditionen - sowohl organisatorisch als auch programmatisch - sind.

Wie wir anhand der Erfahrung der IAA gesehen haben, wird den Parasitismus nur in jenen Phasen zum Hauptgegner der Arbeiterbewegung, in denen diese aus einem Stadium grundlegender Unreife auf eine qualitativ höhere, spezifisch kommunistische Stufe übertritt. In der gegenwärtigen Phase ist diese Unreife nicht das Produkt der Jugend der Arbeiterbewegung in ihrer Gesamtheit wie zur Zeit der IAA, sondern v.a. das Ergebnis von 50 Jahren Konterrevolution, die auf die Niederlage der revolutionären Welle von 1917-23 folgten. Heute erklärt v.a. dieser Bruch der organischen Kontinuität mit den Traditionen der früheren Generationen von Revolutionären das Gewicht der kleinbürgerlichen Reflexe und Verhaltensweisen gegen die Organisation bei vielen Elementen, die sich auf den Marxismus und die Kommunistische Linke berufen.

13. Neben einer ganzen Reihe von Ähnlichkeiten zwischen den Bedingungen und den Charakteristiken des auftauchenden Parasitismus zur Zeit der IAA einerseits und dem heutigen andererseits, darf man einen erheblichen Unterschied zwischen den beiden Epochen nicht übersehen: Im letzten Jahrhundert nahm der Parasitismus hauptsächlich die Form einer strukturierten und zentralisierten Organisation in der Klassenorganisation an, während er heute im Wesentlichen in der Form von kleinen Gruppen oder sogar noch "unorganisierten" Elementen (die zwar oft in Verbindung miteinander arbeiten) auftaucht. Ein solcher Unterschied stellt die grundsätzlich identische Natur der Erscheinung des Parasitismus in beiden Perioden nicht in Frage. Der Unterschied erklärt sich wesentlich durch die folgenden Tatsachen:

-  Eine der Grundlagen, auf denen sich die Allianz entwickelte, war diejenige der Überbleibsel der Sekten aus der vorangegangenen Phase: Sie selbst übernahm von den Sekten ihre streng zentralisierte Struktur um einen "Propheten" und ihren Geschmack für die Untergrundorganisation; der gegenwärtige Parasitismus stützt sich umgekehrt unter anderem auf die Überbleibsel der studentischen Rebellion, die auf dem historischen, Ende der 60er Jahre und insbesondere 1968 wieder aufgetauchten proletarischen Kampf lastete, mit all ihren individualistischen Fesseln und der Infragestellung der Organisation bzw. der Zentralisation, die als "Einengung der Individualität" betrachtet wurden[3].

-  Zur Zeit der IAA gab es nur eine einzige Organisation, die die gesamte proletarische Bewegung zusammenfaßte, so daß diejenigen Strömungen, die sich zum Ziel setzten, sie zu zerstören, aber gleichzeitig vorgaben, ihren Kampf gegen die Bourgeoisie zu unterstützen, innerhalb derselben agieren mußten; in einem Punkt der Geschichte umgekehrt, wo die Elemente, die den revolutionären Kampf der Arbeiterklasse darstellen, in verschiedenen Organisationen des Proletarischen Politischen Milieus verstreut sind, kann sich jede Gruppe der parasitären Richtung als ein "Bestandteil" des Milieus neben anderen Gruppen ausgeben.

In diesem Sinn muß man unterstreichen, daß die gegenwärtige Aufsplitterung des Proletarischen Politischen Milieus und alle sektiererischen Tendenzen, die die Anstrengungen hin zu einer Umgruppierung oder die brüderliche Debatte zwischen den verschiedenen Bestandteilen ver- oder behindern, dem Parasitismus in die Hände spielen.

14. Der Marxismus hat auf Grund der Erfahrungen der IAA die Unterschiede zwischen dem Parasitismus sowie den anderen Formen, unter denen fremde Ideologien in die Klassenorganisationen eindringen, herausgearbeitet. So hat er beispielsweise aufgezeigt, daß der Opportunismus, selbst wenn er anfänglich als Organisation auftritt (wie dies 1903 bei den Menschewiki der Fall war), in erster Linie das Programm der proletarischen Organisation unter Beschuß nimmt. Der Parasitismus greift, um seiner Rolle gerecht zu werden, nicht a priori das Programm an, sondern er bewegt sich hauptsächlich auf dem organisatorischen Terrain, selbst wenn er, um besser zu rekrutieren, öfters gewisse Aspekte des Programms in Frage stellt. So hat man Bakunin sehen können, wie er sich 1869 auf dem Kongreß von Basel auf das Pferd der "Aufhebung des Erbrechts" schwang, da er genau wußte, daß er viele Delegierte um diese hohle und demagogische Forderung würde sammeln können. Zu dieser Zeit existierten diesbezüglich noch große Illusionen in der Internationale. Tatsächlich aber zielte Bakunin darauf ab, den von Marx beeinflußten Generalrat, der diese Forderung bekämpfte, zu stürzen und einen Generalrat zu bilden, der ihm ergeben war[4]. Da sich der Parasitismus direkt auf die organisatorischen Strukturen des Proletariats stürzt, stellt er, wenn die historischen Bedingungen sein Erscheinen erlauben, eine viel unmittelbarere Gefahr dar als der Opportunismus. Diese zwei Formen des Eindringens fremder Ideologien stellen eine tödliche Gefahr für die proletarischen Organisationen dar. Der Opportunismus bringt diese Werkzeuge der Arbeiterklasse um, indem er sie ins Lager der Bourgeoisie führt. Aber da er hauptsächlich das Programm angreift, kann er zu diesem Ziel lediglich durch einen komplizierten Prozeß gelangen, in dem die revolutionäre Strömung, die Linke, ihrerseits innerhalb der Organisation den Kampf für die Verteidigung des Programms aufnimmt[5]. Da der Parasitismus die Organisationsstruktur direkt ins Visier nimmt, bleibt der proletarischen Strömung viel weniger Zeit zu ihrer Verteidigung. Das Beispiel der IAA ist diesbezüglich bedeutend: Der Kampf gegen die Allianz dauerte alles in allem nicht mehr als vier Jahre, und zwar von 1868, als Bakunin in die Allianz eintrat, bis 1872, als er am Kongreß von Den Haag ausgeschlossen wurde. Dies unterstreicht nur eine Tatsache: Es besteht für die proletarische Organisation die Notwendigkeit, dem Parasitismus schnell paroli zu bieten, nicht zuzuwarten, bis er bereits Schaden angerichtet hat.

15. Wie wir gesehen haben, muß man den Parasitismus von anderen Formen des Eindringens fremder Ideologien unterscheiden. Nun ist es aber eine Charakteristik des Parasitismus, auch die anderen Formen zu benutzen. Dies erklärt sich aus den Ursprüngen des Parasitismus, der ebenfalls von einem solchen Eindringen fremder Einflüsse abstammt, aber auch aus der Tatsache, daß seine Herangehensweise in letzter Instanz auf die Zerstörung der proletarischen Organisationen abzielt und er somit weder Prinzipien noch Skrupel hegen darf. So hat sich die Allianz innerhalb der IAA und der damaligen Arbeiterbewegung dadurch hervorgetan, daß sie von den Überbleibseln des Sektierertums profitierte, eine opportunistische Herangehensweise anwendete (gegenüber der Frage des Erbrechts) oder sich in völlig abenteuerliche Bewegungen stürzte ("Kommune" von Lyon oder Bürgerkrieg in Spanien 1873). Auch hat sie sich stark auf den Individualismus einer kaum dem Handwerk oder dem Bauerntum entronnenen Arbeiterklasse gestützt (dies hauptsächlich in Spanien und im Schweizer Jura). Die gleichen Merkmale finden wir auch beim heutigen Parasitismus. Die Rolle des Individualismus bei der Bildung des gegenwärtigen Parasitismus ist bereits enthüllt worden, aber wir müssen darauf hinweisen, daß auch alle Abspaltungen von der IKS, die in der Folge parasitäre Gruppen bildeten (GCI, CBG, FECCI) eine sektiererische Herangehensweise an den Tag legten: Sie haben in einem verfrühten Stadium mit der Organisation gebrochen und lehnten eine tiefgreifende Debatte zur Klärung ab. Der Opportunismus war ein Markenzeichen der GCI. Als sie noch eine "Tendenz" innerhalb der IKS war, hat sie die Organisation angegriffen, daß sie gegenüber den neuen Kandidaten nicht genügend Forderungen stelle. Danach begab sie sich auf eine Werbetour ohne die geringsten Prinzipien und änderte ihr Programm in Richtung der linken und gerade modischen Mystifikationen (3.-Welt-Bewegung). Derselbe Opportunismus ist von der CBG und der FECCI angewendet worden, die sich zu Beginn der 90er Jahre auf ein unglaubliches Feilschen einließen, um sich umzugruppieren. Was das Abenteurertum und den Putschismus betrifft, so ist es bemerkenswert, auch wenn wir die Liebäugelei der GCI mit dem Terrorismus beiseite lassen, daß all diese Gruppen systematisch in die der Arbeiterklasse gestellten Fallen der Bourgeoisie getappt sind. So beispielsweise in Frankreich im Herbst 1995, als sie zu einem Kampf aufriefen, während das Terrain von der herrschenden Klasse und ihren Gewerkschaften bereits vollständig vermint war.

16. Die Erfahrungen der IAA haben die Unterschiede zwischen dem Parasitismus und dem Sumpf offengelegt (auch wenn der letztgenannte Ausdruck zu dieser Zeit noch nicht existierte). Der Marxismus definiert den Sumpf als eine politische Bewegung, die zwischen den politischen Positionen der Arbeiterklasse und denjenigen der Bourgeoisie oder des Kleinbürgertums liegt. Solche Bewegungen können in einer ersten Phase des Bewußtwerdungsprozesses von Teilen der Arbeiterklasse oder aus einem Bruch mit bürgerlichen Positionen auftauchen. Sie können ebenfalls Hindernisse von Strömungen darstellen, die zu einem gegebenen Zeitpunkt eine wirkliche Anstrengung im Bewußtwerdungsprozeß an den Tag legten, die sich jedoch als unfähig erwiesen, sich in Richtung und gemäß den Erfahrungen der neuen proletarischen Kampfbedingungen weiterzuentwickeln. Die Bewegungen des Sumpfs entwickeln meistens keine Stabilität. Das Hin und Her zwischen den proletarischen und anderen Klassenpositionen führt sie dazu, sich entweder vollständig den revolutionären oder aber den bürgerlichen Positionen anzuschließen. Tritt weder der eine noch der andere Fall ein, so werden sie zwischen den beiden Terrains zerrissen. Ein solcher Kristallisierungsprozeß wird normalerweise durch die großen Ereignisse, mit denen sich die Arbeiterklasse konfrontiert sieht (im 20. Jahrhundert handelt es sich hauptsächlich um den imperialistischen Krieg sowie um die proletarische Revolution), ausgelöst und beschleunigt. Die Richtung dieses Prozesses hängt von der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen Bourgeoisie und Proletariat ab. Gegenüber diesen Strömungen hat die Linke in der Arbeiterklasse immer die Haltung vertreten, sie für den Klassenkampf nicht als verloren zu betrachten. Sie müssen allerdings in ihrem Klärungsprozeß vorangetrieben werden, so daß sich die gesündesten Elemente vollumfänglich dem Kampf anschließen und diejenigen mit größter Entschlossenheit verurteilen, die den gegnerischen Weg eingeschlagen haben.

17. Innerhalb der IAA gab es neben der die Vorhut bildenden marxistischen Strömung auch Strömungen, die man als dem Sumpf zugehörig definieren könnte. Dies war beispielsweise bei gewissen proudhonistischen Gruppen der Fall, die noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frankreich die proletarische Avantgarde gebildet hatten. Indessen waren sie trotz all ihrer Konfusionen in der Lage, am Kampf um die Rettung der Internationale, insbesondere am Kongreß in Den Haag, teilzunehmen. Ihnen gegenüber nahmen die Marxisten eine ganz andere Haltung ein als gegenüber der Allianz. Niemals stellte sich die Frage, sie auszuschließen. Es wurden im Gegenteil Anstrengungen unternommen, sie im Kampf der IAA gegen ihre Feinde zu integrieren, nicht nur weil sie innerhalb der IAA ein großes Gewicht darstellten, sondern auch weil die Erfahrung des Kampfes diesen Strömungen eine Klärung ermöglichte. In der Praxis hat dieser Kampf gezeigt, daß ein fundamentaler Unterschied zwischen dem Sumpf und dem Parasitismus besteht: Im ersteren existiert ein proletarisches Leben, das es seinen besten Elementen ermöglicht, sich der proletarischen Strömung anzuschließen. Der Parasitismus hingegen zielt auf die Zerstörung der Klassenorganisation ab und kann sich somit niemals in diese Richtung entwickeln, selbst wenn es einzelnen vom Parasitismus geblendeten Elementen gelingt, diesen Schritt zu tun.

Heute müssen wir ebenfalls zwischen den Strömungen des Sumpfs[6] und des Parasitismus unterscheiden. So wie die Gruppen des proletarischen Milieus die Pflicht haben zu versuchen, die ersteren hin zu marxistischen Positionen zu bewegen und bei ihnen eine politische Klärung herbeizuführen, so müssen sie umgekehrt gegenüber dem Parasitismus die größte Strenge demonstrieren, seine dreckige Rolle denunzieren, die er zum großen Nutzen der Bourgeoisie spielt. Und dies ist umso wichtiger, als die Strömungen des Sumpfs auf Grund ihrer Verwirrungen (insbesondere was ihre Abneigung gegen die Organisation betrifft, was insbesondere bei denjenigen der Fall ist, die sich dem Rätismus zuwenden) durch Attacken des Parasitismus besonders verwundbar sind.

18. Jegliches Eindringen von fremden Ideologien in die Arbeiterklasse ist eine Speerspitze der feindlichen Klasse. Ganz offensichtlich ist dies beim Parasitismus der Fall, dessen Ziel (bewußt oder unbewußt) ja die Zerstörung der revolutionären Organisation ist. Die IAA war sich dieses Umstands vollumfänglich bewußt, als sie behauptete, daß Bakunin, auch wenn er kein Agent des Staates sei, dessen Interessen viel besser wahrnehme, als es ein wirklicher Agent tun könnte. Dies wiederum bedeutet aber keinesfalls, daß der Parasitismus per se einen Sektor des politischen Apparates der herrschenden Klasse darstellt wie beispielsweise die bürgerlichen Strömungen der extremen Linken im Stile des heutigen Trotzkismus. In den Augen von Marx und Engels wurden selbst die damals bekanntesten Parasiten wie Bakunin und Lassalle nicht als politische Repräsentanten der Bourgeoisie angesehen. Diese Analyse leitet sich vom Verständnis ab, daß der Parasitismus keine Fraktion der Bourgeoisie darstellt, da er weder ein Programm oder eine spezifische Orientierung für das nationale Kapital beinhaltet noch Einsitz in den staatlichen Organen zur Kontrolle des Arbeiterkampfes nimmt. Angesichts der Dienste, die der Parasitismus für die Kapitalisten vollbringt, erstaunt es aber nicht, daß er von einer speziellen Zuwendung von letzteren profitiert. Diese Zuwendung manifestiert sich hauptsächlich in drei Formen:

-  Er erhält politische Unterstützung für sein Vorgehen. So hat die europäische Presse klar und deutlich für die Allianz und Bakunin in ihrem Kampf gegen den Generalrat Stellung bezogen.

-  Der Staat infiltriert die parasitären Strömungen mit Staatsagenten. So wurde die Lyoner Sektion der IAA von zwei bonapartistischen Agenten, Richard und Blanc, kontrolliert.

-  Die Bourgeoisie bringt selbst politische Strömungen hervor, deren Ziel die Unterwanderung der proletarischen Organisationen ist, so beispielsweise die "Liga für Frieden und Freiheit" (angeführt von Vogt, einem bonapartistischen Agenten), die nach den Worten von Marx "in Opposition zur Internationale gegründet worden ist" und 1868 versuchte, sich mit ihr "zu verbünden".

Man muß diesbezüglich festhalten, daß sich zwar die meisten parasitären Strömungen ein proletarisches Programm umgehängt haben, dies jedoch keine notwendige Voraussetzung dafür ist, daß eine Organisation eine Funktion des politischen Parasitismus erfüllen kann; dieser zeichnet sich nicht durch die Positionen aus, die er verteidigt, sondern durch seine zerstörerische Haltung gegenüber den wirklichen Organisationen der Arbeiterklasse.

19. In der gegenwärtigen Phase, in der die heutigen proletarischen Organisationen in keiner Weise den Bekanntheitsgrad der früheren IAA erreichen, kümmert sich die offizielle Propaganda der Bourgeoisie nicht darum, den parasitären Gruppen und Elementen Unterstützung zu erteilen (was den Nachteil mit sich bringen würde, daß sie in den Augen derjenigen, die sich kommunistischen Positionen annähern, in Mißkredit gebracht würden). Man muß hingegen festhalten, daß in den bürgerlichen Kampagnen, die speziell gegen die Kommunistische Linke geführt werden, wie diejenige über den Negationismus, genau jenen Gruppen ein wichtiger Platz eingeräumt wird, die als Repräsentanten der Kommunistischen Linken dargestellt werden, wie der ehemalige Mouvement communiste, die Banquise usw., während diese tatsächlich einen stark parasitären Anstrich haben.

Dagegen war es tatsächlich ein Agent aus einem Anhängsel des Staates, Chénier[7], der 1981 die treibende Kraft bei der Formierung einer "geheimen Tendenz" innerhalb der IKS spielte. Nachdem sie den Verlust der Hälfte der britischen Sektion bewirkt hatte, wandelte sie sich in die CBG, ein typisch parasitäres Grüppchen.

Auch versuchen verschiedene bürgerliche Strömungen in das proletarische Milieu einzudringen, um hier parasitär zu wirken. Das linke Grüppchen Hilo Rojo aus Spanien oder die OCI in Italien sind Beispiele dafür: Ersteres versuchte während Jahren die Aufmerksamkeit des proletarischen Milieus auf sich zu ziehen, bis es schließlich eine Attacke dagegen richtete. Bei letzterer handelt es sich um eine linke Gruppierung aus Italien, von der einige Elemente durch den Bordigismus gegangen waren und die für sich in Anspruch nimmt, der wahre Erbe der bordigistischen Strömung zu sein.

20. Das Eindringen von Staatsagenten in parasitäre Bewegungen wird offensichtlich durch die Tatsache erleichtert, daß ihre Berufung die Bekämpfung der wirklichen proletarischen Organisationen ist. Tatsächlich öffnet gerade die parasitäre Rekrutierung von Elementen, die die Disziplin der Klassenorganisation ablehnen, die der statutarischen Organisationweise nichts als Verachtung entgegenbringen, die sich eher im informellen Verhalten und in loyalen Beziehungen wohl fühlen, Tür und Tor für die staatliche Infiltration in das parasitäre Milieu. Tür und Tor stehen ebenfalls sperrangelweit offen für die unfreiwilligen Hilfskräfte des kapitalistischen Staates: nämlich den Abenteurern, diesen deklassierten Elementen, die die Arbeiterbewegung in den Dienst ihrer Ambitionen stellen wollen. Sie trachten hier nach Einfluß und Macht, die ihnen die bürgerliche Gesellschaft verwehrt. Das Beispiel von Bakunin in der IAA ist allgemein bekannt. Marx und seine Genossen behaupteten nie, daß er ein direkter Agent des Staates gewesen sei. Sie waren fähig, nicht nur die Dienste, die er unbewußt der herrschenden Klasse erwies, sondern auch das Vorgehen und die klassenmässige Herkunft der Abenteurer innerhalb der proletarischen Organisation sowie die Rolle, die sie als Führer des Parasitismus spielten, zu identifizieren und zu denunzieren. So schrieben sie bezüglich der Handlungen der geheimen Allianz in der IAA, daß die "deklassierten Elemente" fähig gewesen seien, "einzudringen und in ihrem Zentrum Geheimorganisationen zu errichten". Die gleiche Herangehensweise hat Bebel bezüglich Schweitzer aufgenommen, der ein Führer der Strömung um Lassalle war (die nebst ihrem Opportunismus auch eine stark parasitäre Komponente enthielt): "Für ihn war die Bewegung, der er sich nach mancherlei Irrfahrten anschloß, nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Er trat in die Bewegung ein, sobald er sah, daß ihm innerhalb des Bürgertums keine Zukunft blühte, daß für ihn, den durch seine Lebensweise früh Deklassierten, nur die Hoffnung bestand, in der Arbeiterbewegung die Rolle zu spielen, zu der sein Ehrgeiz wie seine Fähigkeiten ihn sozusagen prädestinierten." (August Bebel, Aus meinem Leben)

21. Auch wenn die parasitären Strömungen oft von deklassierten Abenteurern angeführt werden (wenn nicht gar von direkten Agenten des Staates), so rekrutieren sie sich doch nicht nur aus dieser Kategorie. Man findet hier ebenso Elemente, die anfänglich von einem revolutionären Willen beseelt gewesen sind und es nicht auf die Zerstörung der Organisation abgesehen haben, die jedoch

-  von der kleinbürgerlichen Ideologie imprägniert, d.h. ungeduldig, individualistisch, affinitär, elitär sind;

-  enttäuscht von der Arbeiterklasse sind, die sich ihrer Ansicht nach nicht schnell genug bewegt;

-  die Disziplin einer revolutionären Organisation nur schlecht ertragen und frustriert sind, da sie keine Dankbarkeit für ihre militante Arbeit und auch nicht die angestrebten "Pöstchen" erhalten.

Deswegen entwickeln sie eine tiefgreifende Feindschaft gegen die proletarische Organisation, auch wenn sich diese Feindschaft als militantes Engagement verkleidet.

In der IAA hat man ein solches Phänomen bei einer gewissen Anzahl von Mitgliedern des Generalrates wie Eccarius, Jung und Hales beobachten können.

Schließlich ist der Parasitismus in der Lage, ehrliche und militante proletarische Elemente zu rekrutieren, die kleinbürgerliche Schwächen oder einen Mangel an Erfahrung aufweisen und sich so von klar antiproletarischen Elementen täuschen und manipulieren lassen. In der IAA war dies bei einem Großteil der Mitglieder in Spanien der Fall.

22. Was die IKS anbelangt, so sind die meisten Abspaltungen, die zur Bildung parasitärer Gruppierungen führten, auf eine kleinbürgerliche Herangehensweise, wie sie oben beschrieben wurden, zurückzuführen. Der Anstoß kam jeweils von Intellektuellen, die darob frustriert waren, von der Organisation nicht genügend Anerkennung erhalten zu haben; die ungeduldig waren, weil es ihnen nicht gelungen war, andere Militante von der Richtigkeit ihrer Positionen zu überzeugen oder weil die Entwicklung des Klassenkampfes zu langsam voranschritt. Sie wurden auch am ehesten in ihrer Empfindlichkeit getroffen bei Kritik ihrer Positionen oder ihres Verhaltens. Sie lehnten den Zentralismus als stalinistisch ab. All dies bildete den Motor bei der Konstituierung von Tendenzen, die wiederum in der Bildung parasitärer Gruppen ausmündete. Die "Tendenz" von 1979, die schließlich zur Bildung der "Groupe Communiste Internationaliste" führte; weiter die Tendenz Chénier, von der u.a. die mittlerweile dahingegangene Communist Bulletin Group abstammte; die "Tendenz" McIntosh-ML-JA (die sich zu einem großen Teil aus Mitgliedern des Zentralorgans der IKS zusammensetzte), die die EFIKS ("Externe Fraktion der IKS", mittlerweile mutiert zu Perspective Internationaliste) ins Leben rief - sie alle stellten typische Beispiele dieser Erscheinung dar. Bei diesen Geschichten konnte man auch sehr gut beobachten, wie sich Elemente mit einem zweifelsohne proletarischem Engagement durch persönliche Bindungen gegenüber den Anführern von solchen Tendenzen haben mitreißen lassen. Hier handelte es sich um nichts anderes als um Clans im eigentlichen Sinne, wie sie die IKS bereits definiert hat. Die Tatsache, daß alle parasitären Abspaltungen von der IKS zuerst in der Form von Clans aufgetreten sind, ist kein Zufall. Tatsächlich gibt es eine sehr große Ähnlichkeit zwischen den organisatorischen Verhaltensweisen der Clans einerseits, des Parasitismus anderseits: der Individualismus, der als Zwang empfundene statutarische Rahmen, Frustration aus dem militanten Engagement, Loyalität gegenüber Personen zum Schaden der Loyalität gegenüber de Organisation, der Einfluß von "Gurus" (Personen, die danach trachten, einen persönlichen Machteinfluß über andere Militante auszuüben).

Die Zerstörung des Organisationsgewebes durch die Bildung von Clans findet im Parasitismus den extremsten Ausdruck: Es geht darum, die proletarische Organisation selber zu zerstören[8].

23. Die Heterogenität ist ein Markenzeichen des Parasitismus, da er in seinen Rängen sowohl aufrichtige als auch solche Elemente aufweist, die von nichts anderem als dem Haß gegenüber der proletarischen Organisation beseelt sind (Abenteurer oder Staatsagenten). Die Heterogenität stellt eine ausgezeichnetes Terrain für die der proletarischen Sorge am feindlichsten gesinnten Elemente dar, um mit ihrer Geheimpolitik die anderen mit sich zu reißen. Die Präsenz von "aufrichtigen" Elementen, hauptsächlich von solchen, die tatkräftig beim Aufbau der Organisation mitgewirkt haben, stellt für den Parasitismus eine Bedingung für seinen Erfolg dar, da er so auf betrügerische Weise seine "proletarische" Etikette vorzeigen kann (ebenso wie die Gewerkschaften "aufrichtige und ergebene" Militante benötigen, um ihre Rolle zu spielen). Gleichzeitig können der Parasitismus und seine Vertreter die Kontrolle über ihre Herde nur ausüben, wenn sie ihre wirklichen Ziele verschleiern. So umfaßte die Allianz in der IAA mehrere Zirkel um den ,,Bürger B" und geheime Statuten, die den „Eingeweihten" vorbehalten waren. "Die Allianz teilt sie (ihre Mitglieder) in zwei Kasten, in Eingeweihte und Laien, Aristokraten und Plebejer. wobei die letzteren bestimmt sind. von den ersteren mittels einer Organisation geführt zu werden, von deren Existenz sie nicht einmal etwas wissen ... (Friedrich Engels, Bericht über die Allianz der sozialistischen Demokratie) Heute handelt der Parasitismus in gleicher Weise. Selten legen parasitäre Gruppen, Abenteurer oder frustrierte Intellektuelle ihr Programm offen dar. In diesem Sinne ist der Mouvement Communiste[9] der ganz offen die Zerstörung der kommunistischen Linken propagiert, gleichzeitig eine Karikatur sowie der klarste Ausdruck der Natur des Parasitismus.

24. Im Kampf gegen den Parasitismus hält sich die IKS an die Methoden, die bereits die IAA und die Eisenacher angewendet haben. Die Manöver des Parasitismus wurden in den öffentlichen Kongreßdokumenten, in der Presse, in den Arbeiterversammlungen und sogar im Parlament denunziert. Wiederholt ist aufge- zeigt worden, daß sich die herrschende Klasse hinter den Attacken befindet mit dem Ziel, den Marxismus zu zerstören. Die Arbeiten des Kongresses von Den Haag sowie die berühmten Reden BebeIs gegen die Geheimpolitik von Bismarck und Schweitzer offenbaren die Fähigkeit der Arbeiterbewegung, eine umfassende Analyse zu liefern und diese Manöver in einer äußerst konkreten Art und Weise zu denunzieren. Unter den wichtigsten Gründen für die Publikation der Enthüllungen über Bakunins Gebaren finden wir hauptsächlich die folgenden:

- Die offene Demaskierung bot die einzige Möglichkeit, die Arbeiterklasse vor weiteren solchen Methoden zu bewahren: einzig die Bewußtseinsentwicklung über die Wichtigkeit dieser Fragen bei allen Mitgliedern konnte eine zukünftige Wiederholung verhindern.

- Die öffentliche Denunzierung der Allianz Bakunins war notwendig, um andere von der Anwendung derselben
Methoden abzubringen. . Marx und Engels wußten nur zu gut, daß andere Parasiten eine Geheimpolitik innerhalb und außerhalb führten wie beispielsweise die Anhänger von Pyatt. Einzig eine offene Debatte konnte die Kontrolle von Bakunin über viele Opfer brechen und sie zu Aussagen ermutigen. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Manipulationsmethoden Bakunins durch die Publikation des Revolutionären Katechismus enthüllt worden.

- Die öffentliche Denunzierung war unausweichlich, um zu verhindern, daß die Internationale selbst mit solchen
Praktiken in Verbindung gebracht würde. So ist der Entscheid zum Ausschluß von Bakunin aus der Internationale gefällt worden, nachdem die Informationen über die Affäre Netschajew eingetroffen und nachdem das Bewußtsein über die Gefahr dieser Affäre für die Internationale gereift war.

- Die Lehren aus diesem Kampf hatten eine historische Bedeutung nicht nur für die Internationale, sondern auch für die Zukunft der Arbeiterbewegung. In diesem Geist hat Bebel Jahre später um die 80 Seiten seiner Autobiographie dem Kampf gegen Lassalle und Schweitzer gewidmet.

Im Zentrum dieser Politik stand die Notwendigkeit, die politischen Abenteurer wie Bakunin und Schweitzer zu demaskieren. Man kann nicht genügend unterstreichen, daß diese Haltung das ganze politische Leben Marxens durchzogen hat. Sehr gut erkennbar wird diese Tatsache in der Denunzierung der Helfershelfer von Lord Palmerston oder Herrn Vogts. Er verstand sehr gut, daß es lediglich der herrschenden Klasse dienen würde, wenn man diese Geschichten unter den Teppich kehren wollte.

- Die offene Demaskierung bot die einzige Möglichkeit, die Arbeiterklasse vor weiteren solchen Methoden zu bewahren: einzig die Bewußtseinsentwicklung über die Wichtigkeit dieser Fragen bei allen Mitgliedern konnte eine zukünftige Wiederholung verhindern.

-  Die öffentliche Denunzierung der Allianz Bakunins war notwendig, um andere von der Anwendung derselben Methoden abzubringen. Marx und Engels wußten nur zu gut, daß andere Parasiten eine Geheimpolitik innerhalb und außerhalb führten wie beispielsweise die Anhänger von Pyatt.

-  Einzig eine offene Debatte konnte die Kontrolle von Bakunin über viele Opfer brechen und sie zu Aussagen ermutigen. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Manipulationsmethoden Bakunins durch die Publikation des Revolutionären Katechismus enthüllt worden.

-  Die öffentliche Denunzierung war unausweichlich, um zu verhindern, daß die Internationale selbst mit solchen Praktiken in Verbindung gebracht würde. So ist der Entscheid zum Ausschluß von Bakunin aus der Internationale gefällt worden, nachdem die Informationen über die Affäre Netschajew eingetroffen und nachdem das Bewußtsein über die Gefahr dieser Affäre für die Internationale gereift war.

-  Die Lehren aus diesem Kampf hatten eine historische Bedeutung nicht nur für die Internationale, sondern auch für die Zukunft der Arbeiterbewegung. In diesem Geist hat Bebel Jahre später um die 80 Seiten seiner Autobiographie dem Kampf gegen Lassalle und Schweitzer gewidmet.

Im Zentrum dieser Politik stand die Notwendigkeit, die politischen Abenteurer wie Bakunin und Schweitzer zu demaskieren.

Man kann nicht genügend unterstreichen, daß diese Haltung das ganze politische Leben Marxens durchzogen hat. Sehr gut erkennbar wird diese Tatsache in der Denunzierung der Helfershelfer von Lord Palmerston oder Herrn Vogts. Er verstand sehr gut, daß es lediglich der herrschenden Klasse dienen würde, wenn man diese Geschichten unter den Teppich kehren wollte.

25. Dieser Tradition der Arbeiterbewegung folgt die IKS mit den Artikeln über den eigenen internen Kampf, mit den Polemiken gegen den Parasitismus, mit der Veröffentlichung des einstimmig beschlossenen Ausschlusses eines Mitgliedes am 11. internationalen Kongreß, mit den Artikeln über das Freimaurertum usw. Insbesondere handelt die IKS mit der Verteidigung des Ehrentribunals für Elemente, die das Vertrauen der revolutionären Organisation verloren haben, ganz im Geist des Kongresses von Den Haag sowie der Untersuchungskommissionen der russischen Arbeiterparteien, welche Kommissionen einberufen wurden, wenn der Verdacht entstand, daß jemand ein agent provocateur sein könnte. Nur so kann das revolutionäre Milieu verteidigt werden.

Der Sturm der Entrüstung sowie die Anklagen der bürgerlichen Presse nach der Veröffentlichung der Hauptergebnisse der Untersuchung über die Allianz zeigen, daß gerade diese strenge Methode der öffentlichen Denunzierung die Bourgeoisie mehr als alles andere verstimmt. Die gleiche Angst zeigte sich bei den Verteidigern von kleinbürgerlichen Organisationsprinzipien, als die opportunistische Führung der II. Internationale in den Jahren vor 1914 das berühmte Kapitel "Marx gegen Bakunin" systematisch überging.

26. Gegenüber der kleinbürgerlichen Infanterie des Parasitismus bestand die Politik der Arbeiterbewegung immer darin, sie von der politischen Bühne verschwinden zu lassen. Hier spielt die Denunzierung der absurden Positionen sowie der politischen Aktivitäten der Parasiten eine hervorragende Rolle. So hat Engels in seiner berühmten Schrift Die Bakuninisten am Werk (im spanischen Bürgerkrieg) die Enthüllungen über das organisatorische Verhalten der Allianz unterstützt und vervollständigt.

Heute führt die IKS dieselbe Politik im Kampf gegen Anhänger verschiedener organisierter und "unorganisierter" Zentren des parasitären Netzes.

Was die mehr oder weniger proletarischen Elemente anbelangt, die sich vom Parasitismus täuschen lassen, so war die Politik des Marxismus ihnen gegenüber immer eine ganz andere. Die Politik bestand darin, einen Keil zwischen diese Elemente und die parasitäre Führung zu treiben, die von der Bourgeoisie angeleitet oder ermutigt wird. Es sollte aufgezeigt werden, daß erstere die Opfer der letzteren sind. Das Ziel dieser Politik besteht immer darin, die parasitäre Führung zu isolieren und die Opfer von ihrer Einflußzone zu entfernen. Gegenüber diesen "Opfern" hat der Marxismus immer ihre Haltung sowie ihre Aktivitäten denunziert bei gleichzeitiger Gewinnung ihres Vertrauens in die Organisation und in das proletarische Milieu. Die Arbeit von Lafargue und Engels gegenüber der spanischen Sektion der IAA ist diesbezüglich ein sehr gutes Beispiel.

Die IKS verfolgt diese Tradition auch in der Konfrontation mit dem Parasitismus, um irregeleitete Elemente zurückzugewinnen. Bebel und Liebknecht haben Schweitzer an einer Massenversammlung der Lassalleanischen Partei in Wuppertal als Agent Bismarcks denunziert, was ein gutes Beispiel dieser Haltung ist.

27. Seit den großen Kämpfen gegen den Parasitismus in der IAA ist diese Politik aus zweierlei Gründen in den Hintergrund getreten:

-  In den späteren proletarischen Organisationen hat der Parasitismus keine größere Gefahr dargestellt.

-  Die Länge und Tiefe der Konterrevolution ließ diese Errungenschaften vergessen.

Dies stellt angesichts der Offensive des Parasitismus ein sehr bedeutendes Element der Schwäche für das proletarische Milieu dar. Diese Gefahr ist umso größer, als der ideologische Druck des Zerfalls des Kapitalismus das Eindringen der kleinbürgerlichen Ideologie mit all ihren extremen Charakteristiken[10] erleichtert und so andauernd ein geeignetes Terrain für die Entwicklung des Parasitismus schafft. Es ist also eine äußerst wichtige Verantwortung des proletarischen Milieus, den entschiedenen Kampf gegen diese Geißel aufzunehmen. Gewissermaßen zeigt gerade die Fähigkeit der revolutionären Strömungen, den Parasitismus zu identifizieren und zu bekämpfen, in welchem Ausmaß sie auch in der Lage sind, andere Gefahren, insbesondere die ständig vorhandene Gefahr des Opportunismus, zu bekämpfen.

Der Opportunismus und der Parasitismus tolerieren sich und stimmen gegenseitig überein, da ja beide denselben Ursprung (das Eindringen der kleinbürgerlichen Ideologie) aufweisen und einen Angriff gegen die proletarische Organisation darstellen (die programmatischen Prinzipien beim Opportunismus, die organisatorischen Prinzipien beim Parasitismus). So ist es keineswegs paradox, daß wir in der IAA die "antistaatlichen" Bakuninisten und die staatstreuen Lassalleaner (die eine Variante des Opportunismus darstellten) Seite an Seite finden. Eine Schlußfolgerung daraus ist, daß es den linken Strömungen innerhalb der proletarischen Organisation obliegt, den Kampf gegen den Parasitismus zu führen. In der IAA haben Marx und Engels und ihre Tendenz den Kampf gegen die Allianz geführt. Es ist keineswegs ein Zufall, wenn die wichtigsten Dokumente aus diesem Kampf ihre Unterschriften tragen (das Rundschreiben vom 5. März 1872 sowie Die angeblichen Spaltungen in der Internationale haben Marx und Engels verfaßt; der Bericht von 1873 über Die Allianz der sozialistischen Demokratie und die internationale Arbeiterassoziation ist die Arbeit von Marx, Engels, Lafargue und Utin).

Die Erfahrungen in der IAA behalten auch heute ihre Gültigkeit. Der Kampf gegen den Parasitismus ist eine Hauptaufgabe der Kommunistischen Linken. Sie hält sich dabei streng an die Tradition ihrer Kämpfe gegen den Opportunismus. Im gegenwärtigen Zeitpunkt ist dieser Kampf ein grundlegender Bestandteil für die Vorbereitung der Partei von morgen. Er beeinflußt dadurch teilweise sowohl den Augenblick, in dem sie entstehen kann, als auch ihre Fähigkeit, ihre Rolle in den entscheidenden Kämpfen des Proletariats zu spielen.

Im Kampf gegen den Parasitismus hält sich die IKS an die Methoden, die bereits die IAA und die Eisenacher angewendet haben. Die Manöver des Parasitismus wurden in den öffentlichen Kongreßdokumenten, in der Presse, in den Arbeiterversammlungen und sogar im Parlament denunziert. Wiederholt ist aufgezeigt worden, daß sich die herrschende Klasse hinter den Attacken befindet mit dem Ziel, den Marxismus zu zerstören. Die Arbeiten des Kongresses von Den Haag sowie die berühmten Reden Bebels gegen die Geheimpolitik von Bismarck und Schweitzer offenbaren die Fähigkeit der Arbeiterbewegung, eine umfassende Analyse zu liefern und diese Manöver in einer äußerst konkreten Art und Weise zu denunzieren. Unter den wichtigsten Gründen für die Publikation der Enthüllungen über Bakunins Gebaren finden wir hauptsächlich die folgenden: Die Heterogenität ist ein Markenzeichen des Parasitismus, da er in seinen Rängen sowohl aufrichtige als auch solche Elemente aufweist, die von nichts anderem als dem Haß gegenüber der proletarischen Organisation beseelt sind (Abenteurer oder Staatsagenten). Die Heterogenität stellt eine ausgezeichnetes Terrain für die der proletarischen Sorge am feindlichsten gesinnten Elemente dar, um mit ihrer Geheimpolitik die anderen mit sich zu reißen. Die Präsenz von "aufrichtigen" Elementen, hauptsächlich von solchen, die tatkräftig beim Aufbau der Organisation mitgewirkt haben, stellt für den Parasitismus eine Bedingung für seinen Erfolg dar, da er so auf betrügerische Weise seine "proletarische" Etikette vorzeigen kann (ebenso wie die Gewerkschaften "aufrichtige und ergebene" Militante benötigen, um ihre Rolle zu spielen). Gleichzeitig können der Parasitismus und seine Vertreter die Kontrolle über ihre Herde nur ausüben, wenn sie ihre wirklichen Ziele verschleiern. So umfaßte die Allianz in der IAA mehrere Zirkel um den "Bürger B" und geheime Statuten, die den "Eingeweihten" vorbehalten waren. "Die Allianz teilt sie (ihre Mitglieder) in zwei Kasten, in Eingeweihte und Laien, Aristokraten und Plebejer, wobei die letzteren bestimmt sind, von den ersteren mittels einer Organisation geführt zu werden, von deren Existenz sie nicht einmal etwas wissen." (Friedrich Engels, Bericht über die Allianz der sozialistischen Demokratie) Heute handelt der Parasitismus in gleicher Weise. Selten legen parasitäre Gruppen, Abenteurer oder frustrierte Intellektuelle ihr Programm offen dar. In diesem Sinne ist der Mouvement Communiste, der ganz offen die Zerstörung der kommunistischen Linken propagiert, gleichzeitig eine Karikatur sowie der klarste Ausdruck der Natur des Parasitismus.(Marx/Engels, Die angeblichen Spaltungen in der Internationale)(Karl Marx, Erster Entwurf zum Bürgerkrieg in Frankreich)(Marx/Engels, Die angeblichen Spaltungen in der Internationale) (Friedrich Engels, Bericht über die Allianz der sozialistischen Demokratie, vorgelegt dem Haager Kongreß im Namen des Generalrates) (Friedrich Engels, "Der Generalrat an alle Mitglieder der IAA", eine Warnung vor der Allianz Bakunins).



[1] Es ist wichtig eine Unterscheidung zu machen zwischen den beiden Bedeutungen, welche man unter dem Begriff .Abenteurertum" verstehen kann. Auf der einen Seite gibt es das Abenteurerturn deklassierter Elemente, die politischen Abenteurer, welche innerhalb der herrschenden Klasse keine Rolle spielen konnten. Da sie erkennen, dass der Arbeiterklasse eine bestimmende Rolle in der Gesellschaft und der Geschichte zukommt, versuchen sie im Proletariat und seinen Organisationen Anerkennung zu gewinnen, welche es ihnen erlaubt, ihre persönliche Rolle zu spielen, die ihr die Bourgeoisie verweigert hat. Wenn sie sich dem Klassenkampf zuwenden, haben diese Elemente nicht die Absicht sich diesem zu unterstellen, sondern den Klassenkampfihren eigenen Ambitionen zu unterwerfen. Sie versuchen offenkundig "ins Proletariat" zu gehen, so wie andere eine Weltreise machen. Auf der anderen Seite beschreibt der Begriff Abenteurerturn eine politische Haltung, sich in leichtfertige Aktionen zu werfen, auch wenn die minimalsten Bedingungen zu einem Erfolg, eine Reife innerhalb der Arbeiterklasse, nicht vorhanden ist. Eine solche Haltung kann von politischen Abenteurern getragen sein, welche auf der Suche nach großen Emotionen sind. Sie kann aber auch von aufrichtigen, engagierten und selbstlosen Arbeitern und Militanten übernommen werden, denen es jedoch an politischem Urteilsvermögen fehlt oder die in Ungeduld gefangen sind.

[2] Marx und Engels waren nicht die einzigen, die den politischen Parasitismus identifizierten und beschrieben. Auch zu Ende des 19. Jahrhunderts nahm ein großer marxistischer Theoretiker wie Antonio Labriola dieselbe Analyse Ober den Parasitismus wieder auf: „Im ersten Stadium unserer heutigen Parteien (er schreibt hier ober den Bund der Kommunisten). in dem wir die ersten Zellen unseres komplexen, elastischen und hochentwickelten Organismus finden, existierte nicht nur ein Bewusstsein, ein Vorläufer für die Vollendung unserer Mission zu sein, sondern die ersten Initiatoren der proletarischen Revolution waren sich auch klar über die einzig anwendbare Form und Methode sich zusammenzuschließen. Es war keine Sekte mehr. Diese waren schon überwunden worden. Die unmittelbare und phantastische Vorherrschaft des Individuums war eliminiert. Was dominierte. war eine Disziplin, die ihre Quellen in der Erfahrung über das Notwendige und in der Lehre halte, die eben genau die bewusste Reflexion dieser Notwendigkeit war. Dasselbe innerhalb der Internationale, welche nur denen als autoritär erschien, welche ihr selbst ihre eigene Autorität aufzwingen wollten. Dasselbe Muss und wird in allen Arbeiterparteien mitspielen: Wo immer diese Charakteristiken nicht vorhanden sind oder keinen Einfluss gewinnen können, wird eine unausgereifte und konfuse proletarische Agitation nur Illusionen streuen und Nährboden für Intrigen sein. Wo diese nicht vorhanden sind, besteht eine Sekte; in der sich der Erleuchtete sich mit dem Verrückten oder dem Spion zusammentut; es wird eine Wiedergeburt der Internationalen Bruderschaft sein, die sich wie ein Parasit an die Internationale klebt, um diese zu diskreditieren: (..) und schlussendlich eine Gruppe von unzufriedenen Deklassierten und Kleinbürgern, weiche sich damit beschäftigen, über den Sozialismus zu spekulieren. gleich wie über irgendwelche politische Phrasen, die in Mode sind. " (Essay über die materialistische Geschichtsauffassung. von uns aus dem Französischen obersetzt)

[3]Dieses Phänomen wird offensichtlich verstärkt durch das Gewicht des Rätismus. der, wie die IKS aufgezeigt hat, den Preis darstellt, den die wiedererwachte Arbeiterbewegung bezahlt und noch bezahlen wird, um sich vom Einfluss des Stalinismus während der ganzen Phase der Konterrevolution loszukaufen

[4] Aus diesem Grund unterstützten die Freunde von Bakunin an diesem Kongress einen Entscheid zur erheblichen Stärkung des Generalrates, während sie später forderten, dass er lediglich die Funktion eines Briefkastens wahrnehmen solle.

[5] Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist reich an solchen langen, von der Linken geführten Kämpfen. Unter den wichtigsten befinden sich die folgenden:

-   Rosa Luxemburg gegen den Revisionismus Bernsteins Ende des 19. Jahrhunderts.

-   Lenin gegen die Menschewiki ab 1903.

-   Rosa Luxemburg und Pannekoek gegen Kautsky in der Frage des Massenstreiks (1908- 1911).

-   Rosa und Lenin für die Verteidigung des Internationalismus (Kongress von Stuttgart 1907 und Basel 1912),

-  Pannekoek, Gorter, Bordiga und alle Militanten der Linken in der Komintern im Kampf gegen die Degenerierung (zu denen in einem gewissen Grad auch Trotzki gehörte).

[6] Heute besteht der Sumpfhauptsächlich aus verschiedenen rätistischen Strömungen (sie tauchten in der historischen Wiederaufnahme des Klassenkampfes Ende der 60er Jahre auf und werden wahrscheinlich auch in Zukunft wieder in Erscheinung treten), aus Überbleibseln der Vergangenheit wie den De Leonisten im angelsächsischen Raum oder aus Elementen, die mit den linken Organisationen brechen.

[7] Es gibt keinerlei hinreichende Beweise dafür, dass Chenier ein Agent der staatlichen Sicherheitsdienste war. Hingegen zeigen seine schnelle Karriere in der staatlichen Verwaltung kurz nach seinem Ausschluss aus der IKS einerseits und vor allem in der sozialistischen Partei (die damals die Regierung stellte) anderseits, dass er bereits damals, als er sich noch als "Revolutionär" präsentierte, für diesen Apparat der Bourgeoisie arbeitete.

[8] Den Analysen und der Sorge der IKS bezüglich des Parasitismus wird oft entgegengehalten, dass dieses Phänomen nur unsere Organisation betreffe, sei es als Zielscheibe, sei es als .Zulieferer" der parasitären Szene mittels der Spaltungen, die die Organisation kannte. Tatsächlich bildet die IKS heute den Hauptangriffspunkt des Parasitismus, was sich damit erklären lässt, dass sie die wichtigste und verbreitetste Organisation des proletarischen Milieus darstellt. Deshalb zieht sie auch den größten Hass von Seiten der Feinde dieses Milieus auf sich, die keine Gelegenheit verpassen, um eine Feindschaft der anderen proletarischen Organisationen gegenüber der IKS zu schüren. Ein anderer Grund für das .. Privileg", das der IKS durch den Parasitismus erteilt wird, liegt darin begründet, dass es von unserer Organisation am meisten Abspaltungen gab, die sich in parasitäre Gruppierungen verwandelten. Für dieses Phänomen gibt es mehrere Erklärungen.

An erster Stelle Muss man anfuhren, dass von all den Organisationen des proletarischen Milieus die IKS die einzige ist, die 1968 neu entstanden ist. Alle anderen existierten zu diesem Zeitpunkt bereits. In der Anfangsphase unserer Organisation war der Zirkelgeist sehr weit verbreitet, der einen idealen Nährboden für Clans und für den Parasitismus bildete. Darüber hinaus hat es in den anderen Organisationen bereits vor dem historischen Wiederaufschwung der Arbeiterklasse eine natürliche Selektion gegeben, durch die die Abenteurer sowie die Intellektuellen, die auf der Suche nach einem Publikum waren, ausgeschieden worden waren. Sie waren nicht ausreichend geduldig, um in kleinen Organisationen zu einem Zeitpunkt von nur geringem Einfluss zu arbeiten. Im Augenblick des Aufschwungs analysierten Elemente dieses Typs, dass es einfacher Wäre, sich einen Platz in der neu entstandenen, im Aufbau begriffenen Organisation zu ergattern.

An zweiter Stelle besteht ganz generell ein grundlegender Unterschied zwischen den (ebenfalls zahlreichen) Abspaltungen, die die Bordegistische Strömung (die auf internationaler Ebene bis Ende der 70er Jahre am weitesten entwickelt war) betroffen haben, und den Abspaltungen von der IKS. In den bordigistischen Organisationen, die für sich den Monolithismus in Anspruch nehmen, sind Abspaltungen hauptsachlich die Folge aus der Unmöglichkeit, innerhalb der Organisation politische Differenzen zu entwickeln, was wiederum bedeutet, dass diese Abspaltungen nicht unbedingt eine parasitäre Dynamik entwickeln. Dagegen sind die Abspaltungen von der IKS nicht das Resultat eines Monolithismus oder Sektierertums, da unsere Organisation immer erlaubt und auch dazu ermutigt hat, Debatten und Konfrontationen zu führen: Kollektive Desertionen waren also stets die Folge von Ungeduld, individuellen Frustrationen und der Vorgehensweise von Clans. Dieser Umstand barg den Keim einer parasitären Dynamik in sich.

Dennoch ist es wichtig zu unterstreichen, dass die IKS nicht das einzige Ziel des Parasitismus ist. Die Aktivitäten von Hilo Rojo und Mouvement Communiste betreffen die ganze Kommunistische Linke. Ebenso ist das bevorzugte Ziel der OCI die Bordegistische Strömung. Auch wenn die parasitären Gruppen ihre Angriffe auf die IKS konzentrieren und gleichzeitig den anderen Gruppen des proletarischen Milieus schmeicheln (wie dies der Fall bei der CBG war oder wie dies systematisch von Echanges er Mouvement betrieben wird), so geschieht dies generell mit dem Ziel, Meinungsdifferenzen und das Auseinanderdriften der verschiedenen Gruppen des proletarischen Milieus zu verstärken, Die IKS hat diese Schwache immer zuvorderst bekämpft.

[9] Diese Gruppe ist von ehemaligen Mitgliedern der IKS, die auch der Gel angehört hatten, gegründet werden, nicht zu verwechseln mit dem Mouvement Communiste aus den 70er .Jahren, der ein Apostel des Modernismus war.

[10] „Anfänglich erfaßt der "ideologische Zerfall hauptsächlich die Kapitalistenklasse selber, und damit auch die kleinbürgerlichen Schichten, die keine eigenständige Existenz haben. Man kann gar sagen. daß diese Schichten besonders stark vom Zerfall befallen sind. weil ihre besondere Situation, - sie besitzen keine Zukunft - bei dem Hauptgrund des ideologischen Zerfalls zu spüren ist: das Fehlen einer unmittelbaren Perspektive für die gesamte Gesellschaft. Nur die Arbeiterklasse kann der Menschheit eine Perspektive anbieten. und deshalb gibt es in ihren Reihen die größten Widerstandskräfte gegen diesen Zerfall. Die Arbeiterklasse selber ist jedoch nicht immun gegen den Zerfall, insbesondere weil die Kleinbourgeoisie mit der sie sich auseinanderzusetzen hat. der Haupt" träger dieses Zerfalls ist. Die verschiedenen Elemente, die die Stärke der Arbeiterklasse ausmachen. stoßen direkt mit den verschiedenen Erscheinungsweisen des ideologischen Zerfalls zusammen

-   das kollektive Handeln. die Solidarität; all das hebt sich ab von der „Atomisierung, dem Verhalten“ „Jeder für sich“. „jeder schlägt sich individuell durch“.

-   das Bedürfnis nach Organisierung steht dem gesellschaftlichen Zerfall entgegen, der Zerbröckelung der Verhältnisse, auf die jede Gesellschaft baut,

-   die Zuversicht in die Zukunft und in die eigenen Kräfte wird ständig untergraben durch die allgemeine Hoffnungslosigkeit, die in der Gesellschaft immer mehr überhand nimmt, durch den Nihilismus, durch die Ideologie des „No future“,

-   das Bewußtsein, die Klarheit, die Kohärenz und den Zusammenhalt des Denkens, den Geschmack für die Theorie. all diese Elemente müssen sich behaupten gegenüber den Fluchtversuchen, der Gefahr der Drogen. den Sekten, dem Mystizismus, der Verwerfung der theoretischen Überlegungen, der Zerstörung des Denkens, d.h. all den destruktiven Elementen, die typisch sind für unsere Epoche." (Internationale Revue Nr. 13, "Der Zerfall: Letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus" Punkt 13).

Die Engstirnigkeit, die falsche Solidarität in den Clans, der Haß gegen die Organisation, das Mißtrauen, die Verunglimpfung, die samt und sonders Haltungen und Verhaltensweisen darstellen, die dem Parasitismus entsprechen, finden im heutigen gesellschaftlichen Zerfall reichhaltige Nahrung. Das Sprichwort besagt: Die schönsten Blumen blühen auf dem Misthaufen. Die Wissenschaft lehrt uns, daß darauf zahlreiche parasitäre Organismen ebenfalls bestens gedeihen. Und in seinem Bereich halt sich der politische Parasitismus an die Spielregeln der Biologie, er, der seinen Honig aus der Fäulnis der Gesellschaft zieht.

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Parasitismus [145]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [146]

Bericht zur Struktur und Funktionsweise der Organisation der Revolutionäre

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Bericht zur Struktur und Funktionsweise der Organisation der Revolutionäre

Internationale Konferenz der IKS Januar 1982

1) Die Struktur der Organisation der Revolutionäre entspricht der Funktion, die sie in der Klasse zu erfüllen hat. Da diese Funktion Aufgaben beinhaltet, die in jeder Etappe der Arbeiterbewegung zu erfüllen sind, aber auch Aufgaben, die eher einer bestimmten Phase der Bewegung entsprechen, gibt es Eigenschaften, die ständig auf eine revolutionäre Organisation zutreffen, und solche, die eher für einen bestimmten Zeitpunkt typisch sind und somit von den historischen Bedingungen bestimmt werden, innerhalb derer die Organisation hervorgeht und sich entfaltet.

 

Zu den ständig gültigen Eigenschaften zählen:

* Die Existenz eines für die ganze Organisation gültigen Programms. Als Synthese der Erfahrungen des Proletariats (von dem die Organisation ein Teil ist), als Ausdruck einer Klasse, die nicht nur in der Gegenwart existiert, sondern auch eine historische Zukunft hat, drückt dieses Programm

- diese Zukunft durch die Festlegung der Ziele der Klasse und des Weges zur Erreichung desselben aus,

- faßt es die grundlegenden Positionen zusammen, welche eine Organisation in der Klasse verteidigen muß,

- dient es als Grundlage zum Beitritt zu einer Organisation.

* Ihr einheitlicher Charakter. Als Ausdruck der Einheit ihres Programms und der Arbeiterklasse, aus der sie hervorgeht, spiegelt sich dies praktisch in der Zentralisierung ihrer Struktur wider.

Unter den eher durch die Umstände bedingten Eigenschaften kann man Folgendes hervorheben:

- Die relativ große oder kleine Ausdehnung, je nach der Stufe der Arbeiterbewegung; in der Anfangsphase (geheime Gesellschaften, Sekten usw.), in der Blütezeit des Kapitalismus (Massenparteien der II. Internationale), zur Zeit des direkten Zusammenstoßes mit dem Kapitalismus mit dem Ziel seiner Zerstörung (der mit der Russischen Revolution 1917 und der Gründung der Komintern eröffnete Zeitraum), wo die Organisation dazu gezwungen wird, strengere und genauere Kriterien der Mitgliedschaft zu haben.

- Das Maß und die Ebene, auf der diese programmatische und organische Einheit am direktesten zum Ausdruck kommen; die nationale Ebene, als die Arbeiterklasse mit spezifischen Aufgaben konfrontiert war, d.h. als sich der Kapitalismus in voller Entfaltung befand und die Parteien der II. Internationale in den jeweiligen Ländern ihren Kampf führten; die internationale Ebene, seit das Proletariat nur noch eine Aufgabe vor sich hat: die Weltrevolution.

 

2. Die Organisationsform der IKS entspricht diesen verschiedenen Tatsachen voll:

- programmatische und organische Einheit auf Weltebene,

- eine enggeknüpfte Organisation, mit strengen Mitgliedschaftskriterien.

Aber der Einheitscharakter der IKS auf internationaler Ebene trifft hier um so mehr zu, als die IKS im Gegensatz zu den Organisationen, die in der Phase der Dekadenz vorher entstanden sind (Komintern, Fraktionen der Kommunistischen Linke), über keine organische Verbindung zu den Organisationen verfügt, die aus der 2. Internationale hervorgegangen waren, die ja bekanntlich nach Ländern organisiert war. Deshalb ist die IKS von vornherein als eine internationale Organisation entstanden und hat im folgenden verschiedene territoriale Sektionen hervorgebracht. Sie ist also kein Ergebnis eines Annäherungsprozesses von schon auf nationaler Ebene gebildeten Organisationen.

Diesem eher "positiven" Element des organischen Bruchs steht aber eine ganze Reihe Schwächen gegenüber, die mit diesem Bruch verbunden sind und das Verständnis der Organisationsfrage betreffen. Diese Schwächen sind nicht typisch für die IKS, sondern treffen auf das gesamte revolutionäre politische Milieu zu. Diese Schwächen sind erneut in der IKS aufgetreten; sie haben uns zum Entschluß geführt, eine internationale Konferenz abzuhalten und diesen Text zu verabschieden.

 

3) Im Mittelpunkt des mangelnden Begreifens innerhalb der IKS steht die Frage des Zentralismus. Der Zentralismus ist kein abstraktes oder frei wählbares Prinzip einer Organisationsstruktur. Er stellt die Konkretisierung ihres Einheitscharakters dar; deshalb spiegelt er die Tatsache wider, daß die Organisation als ein einheitlicher Körper Position bezieht und in der Klasse handelt.

In der Beziehung zwischen den verschiedenen Teilen der Organisation und dem Ganzen überwiegt das Ganze. Gegenüber der Klasse darf es keine besondere politische Position oder eine besondere Auffassung zur Intervention seitens einer territorialen oder lokalen Sektion geben. Sie müssen sich alle als ein Teil eines Ganzen auffassen. Die Analysen und Positionen, die in der Presse, den Flugblättern, den öffentlichen Veranstaltungen, Diskussionen mit Sympathisanten zum Ausdruck gebracht werden; die in unserer Propaganda wie in unserem internen Leben verwendeten Methoden müssen überall in der Organisation die gleichen sein, selbst wenn es über den einen oder anderen Punkt oder in der einen oder anderen Sektion oder bei einzelnen Militanten unterschiedliche Auffassungen gibt oder selbst wenn die Organisation die in ihren Reihen stattfindenden Debatten nach Außen trägt.

Wir müssen resolut die Auffassung verwerfen, derzufolge einzelne Teile der Organisation gegenüber der Klasse oder der Organisation Positionen oder Einstellungen vertreten können, die ihnen im Gegensatz zu den Positionen der Organisation, die sie als falsch betrachten, als richtig erscheinen:

- Denn wenn die Organisation einen falschen Weg einschlägt, besteht die Verantwortung der Mitglieder, die glauben eine richtige Position zu verteidigen, nicht darin, sich selbst auf eine Insel zu retten, sich in eine Ecke zurückzuziehen, sondern einen Kampf innerhalb der Organisation zu führen, um damit beizutragen, sie wieder auf den "richtigen Weg zu bringen" (1).

- Eine solche Auffassung führt einen Teil der Organisation dazu, ihren eigenen Willen der gesamten Organisation willkürlich hinsichtlich dieses oder jenes Aspektes (lokal oder spezifisch) aufzuzwingen.

In der Organisation setzt sich das Ganze nicht aus der Summe der Teile zusammen. Die einzelnen Teile erhalten ein Mandat für die Durchführung einer besonderen Aufgabe (territoriale Presse, lokale Intervention usw.) und sind deshalb gegenüber der gesamten Organisation für die Durchführung des Mandats verantwortlich.

 

4) Der Internationale Kongreß ist der Ort, wo die Einheit der Organisation in ihrem ganzen Ausmaß zum Ausdruck kommt. Auf dem Internationalen Kongreß wird das Programm der IKS definiert, bereichert und korrigiert; dort werden auch die Organisationsformen und Funktionsweisen festgelegt, verändert oder präzisiert; die Analysen und Gesamtausrichtungen angenommen; eine Bilanz der vergangenen Aktivitäten gezogen und Arbeitsperspektiven für die Zukunft verabschiedet. Deshalb muß die Vorbereitung des Kongresses mit der größten Sorgfalt und Energie von der gesamten Organisation durchgeführt werden. Deshalb müssen die Orientierungen und Entscheidungen des Kongresses im Leben der Organisation als ständige Bezugspunkte dienen.

 

5) Zwischen 2 Kongressen wird die Einheit sowie die Kontinuität der Organisation durch die Existenz von Zentralorganen sichergestellt, die vom Kongreß ernannt werden und ihm gegenüber verantwortlich sind. Die Zentralorgane haben die Verantwortung (je nach Ebene der Zuständigkeit international oder territorial) dafür:

- die Organisation nach Außen zu vertreten,

- jedesmal wenn nötig auf der Grundlage der vom Kongreß definierten Orientierungen Stellung zu beziehen,

- die Gesamtheit der Aktivitäten der Organisation zu koordinieren und zu orientieren,

- auf die Qualität der Intervention nach Außen und insbesondere die der Presse zu achten,

- das interne Leben der Organisation anzuregen und zu fördern, insbesondere durch die Verteilung von internen Bulletins und, wenn dies nötig ist, durch Stellungnahmen zu Debatten,

- die finanziellen und materiellen Ressourcen der Organisation zu verwalten,

- jede nur erforderliche Maßnahme zu ergreifen, um die Sicherheit der Organisation und ihre Fähigkeit zu garantieren, daß sie ihre Aufgaben erfüllt,

- die Kongresse einzuberufen.

Das Zentralorgan ist ein Teil der Organisation und als solches ist es der Organisation gegenüber verantwortlich, wenn diese zu ihrem Kongreß zusammenkommt. Jedoch handelt es sich um einen Teil, der zur Aufgabe hat, das Ganze zum Ausdruck zu bringen und es zu repräsentieren. Deshalb sind die Positionen und Entscheidungen des Zentralorgans immer höherwertig gegenüber denen, die andere Teile der Organisation getroffen haben.

Im Gegensatz zu bestimmten Auffassungen, insbesondere der sogenannten "leninistischen" Auffassung, ist das Zentralorgan ein Instrument der Organisation und nicht umgekehrt. Es ist nicht die Spitze einer Pyramide, wie das eine hierarchische und militärische Auffassung von der Organisation der Revolutionäre meinen könnte. Die Organisation besteht nicht aus dem Zentralorgan, und dann folgen die Militanten; sondern sie stellt ein eng geflochtenes und vereinigtes Netz dar, innerhalb dessen alle Teile miteinander verbunden sind und zusammenwirken. Man muß deshalb das Zentralorgan eher als den Kern einer Zelle auffassen, der den Stoffwechsel eines lebendigen Ganzen koordiniert.

Deshalb muß sich die gesamte Organisation ständig mit den Aktivitäten ihrer Zentralorgane befassen, die regelmäßig über ihre Aktivitäten berichten müssen. Selbst wenn sie nur auf einem Kongreß ihr Mandat zurückgeben, müssen die Zentralorgane immer offen sein und aufmerksam das Leben in der Organisation verfolgen und dies ständig berücksichtigen.

Falls die Umstände es erfordern, können die Zentralorgane in ihren Reihen Unterkommissionen bilden, die zur Aufgabe haben, die während der Vollversammlung der Zentralorgane getroffenen Entscheidungen auszuführen und auf deren Anwendung zu achten. Auch können sie für die Durchführung jeder anderen Aufgabe herangezogen werden (insbesondere Stellungnahmen abgeben), soweit sich dies zwischen zwei Vollversammlungen als notwendig erweist.

Diese Unterkommissionen sind gegenüber den Vollversammlungen rechenschaftspflichtig. Allgemein gelten die Prinzipien für das Verhältnis zwischen der Organisation insgesamt und den Zentralorganen ebenso für das Verhältnis zwischen Zentralorganen und den ständigen Unterkommissionen.

6) Die Sorge um die größte Einheit der Organisation ist ebenfalls das Leitmotiv bei der Festlegung der Mechanismen, die die Abfassung von Stellungnahmen und die Nominierung der Zentralorgane bestimmen. Es gibt keinen idealen Mechanismus, der die beste Wahl bei den zu treffenden Entscheidungen, einzuschlagenden Orientierungen und für die Zentralorgane zu benennenden Genossen aufzeigt. Aber die Abstimmung und die Wahl liefern am besten die Garantie sowohl für die Einheit der Organisation als auch für die größtmögliche Beteiligung der Gesamtheit der Genossen an ihrem Leben.

Im allgemeinen werden die Entscheidungen auf allen Ebenen (Kongresse, Zentralorgane, örtliche Sektionen) mit einfacher Mehrheit gefällt, wenn es keine Einstimmigkeit gibt. Aber bestimmte Entscheidungen, die eine direkte Auswirkung auf die Einheit der Organisation haben können (Änderung der Plattform oder der Statuten, Integration oder Ausschluß von Mitgliedern), werden mit einer stärkeren Mehrheit als der einfachen gefällt (3/5, 3/4 usw.).

Aber auch von der gleichen Sorge um die Einheit ausgehend, kann eine Minderheit der Organisation einen Außerordentlichen Kongreß von dem Augenblick an einberufen lassen, wenn sie zu einer bedeutenden Minderheit wird (z.B. 2/5): Im allgemeinen muß der Kongreß die Hauptfragen entscheiden, und das Vorhandensein einer größeren Minderheit, die sich für die Einberufung eines Kongresses ausspricht, ist ein Beweis für die Existenz von großen Problemen innerhalb der Organisation.

Schließlich liegt es auf der Hand, daß Abstimmungen nur einen Sinn machen, wenn die Mitglieder der Minderheit die Entscheidungen auch anwenden, die getroffen wurden und damit als Beschluß der Organisation gelten.

Bei der Ernennung der Zentralorgane ist es notwendig, die drei folgenden Elemente mit zu berücksichtigen:

- das Wesen der von diesen Organen zu erfüllenden Aufgaben;

- die Fähigkeit der Kandidaten, diese Aufgaben zu erfüllen;

- ihre Fähigkeit, kollektiv zusammenzuarbeiten.

Die Versammlung (ob der Kongreß oder eine andere), die ein Zentralorgan ernennen muß, stellt somit eine Mannschaft, ein Team auf: Deshalb macht im allgemeinen das alte Zentralorgan einen Kandidatenvorschlag. Aber diese Versammlung (und dies ist das Recht eines jeden Militanten) darf andere Kandidaten vorschlagen, wenn sie dies für notwendig erachtet, und sie kann natürlich auch die Mitglieder der Zentralorgane einzeln ernennen. Nur diese Art Wahlen macht es möglich, daß die Organisation Organe wählt, in die sie das größte Vertrauen hat.

Das Zentralorgan hat zur Aufgabe, die vom Kongreß - welcher es gewählt hat - beschlossenen Entscheidungen anzuwenden und zu verteidigen. Deshalb ist es ratsam, daß innerhalb des Zentralorgans ein großer Teil von Mitgliedern vertreten sind, die sich während des Kongresses zugunsten dieser Entscheidungen und Orientierungen ausgesprochen haben. Das heißt jedoch nicht, daß nur diejenigen, die auf dem Kongreß die Mehrheitspositionen vertreten haben, d.h. Positionen, die nachher zu den offiziellen Positionen der Organisation geworden sind, Mitglieder des Zentralorgans werden könnten. Die drei oben erwähnten Kriterien bleiben weiterhin gültig, unabhängig von den Positionen, die der eine oder andere mögliche Kandidat während der Debatten vertreten hat. Aber das soll nicht heißen, daß es ein Repräsentationsprinzip der Minderheitspositionen - z.B. das Proporzsystem - innerhalb des Zentralorgans geben sollte. Dies ist eine gängige Praxis in den bürgerlichen Parteien, insbesondere den sozialdemokratischen Parteien, deren Führung von den Repräsentanten der verschiedenen Strömungen oder Tendenzen gebildet wird, je nach Verhältnis der auf den Kongressen erhaltenen Stimmen. Eine solche Art der Ernennung eines Zentralorgans entspricht der Tatsache, daß in einer bürgerlichen Organisation Divergenzen sich auf die Verteidigung der einen oder anderen Organisierung der Verwaltung des Kapitalismus stützen, oder gar einfach auf die Verteidigung des einen oder anderen Bereiches der herrschenden Klasse oder dieser oder jener Clique, Orientierung oder Interessen, die ständig weiter vorhanden sind und die mit einer "gleichmäßigen Aufteilung" der Pöstchen zwischen verschiedenen Repräsentanten in Übereinstimmung gebracht werden müssen. So etwas gibt es nicht in einer kommunistischen Organisation, wo die Divergenzen keinesfalls die verschiedenen materiellen, persönlichen oder die Interessen von "Pressure groups" widerspiegeln, sondern der Ausdruck eines lebendigen und dynamischen Prozesses der Klärung der Probleme sind, vor denen die Klasse steht, und die als solche mit der Vertiefung der Diskussion und im Lichte der Erfahrungen überwunden werden müssen. Eine stabile, ständige und dem Proporz entsprechende Repräsentierung von verschiedenen Positionen, die bei den verschiedenen Tagesordnungspunkten eines Kongresses aufgetaucht wären, würde somit die Tatsache verwerfen, daß die Mitglieder der Zentralorgane

- als erstes dafür verantwortlich sind, die Entscheidungen und Beschlüsse des Kongresses anzuwenden;

- manchmal ihre Position im Laufe der Debatte ändern können (in der einen oder anderen Richtung).

 

7) Es ist falsch, die Begriffe "demokratisch" oder "organisch" zur Beschreibung des Zentralismus der Organisation der Revolutionäre zu verwenden:

- weil man so nicht zu einem richtigen Verständnis des Zentralismus gelangen kann,

- weil diese Begriffe selbst mit einer gewissen Praxis in der Geschichte verbunden sind.

Der "demokratische Zentralismus" (dieser Begriff wurde von Lenin eingebracht) trägt heute den Stempel des Stalinismus, der sich darauf berief, um den Prozeß des Erstickens und der Auslöschung jedes revolutionären Lebens innerhalb der Parteien der Internationale zu rechtfertigen. Bei diesem Prozeß war übrigens Lenin mitverantwortlich dafür, daß auf dem 10. Kongreß der Kommunistischen Partei (1921) das Verbot der Fraktionen gefordert und beschlossen wurde. Lenin meinte irrigerweise, daß dieses Verbot (auch wenn nur vorübergehend) in Anbetracht der gewaltigen Schwierigkeiten der Revolution notwendig sei. Andererseits hat die Forderung nach einem "wirklichen demokratischen Zentralismus", der in der bolschewistischen Partei praktiziert worden sei, keinen Sinn, weil:

- einige von Lenin vertretene Positionen (insbesondere in "Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück") hinsichtlich des hierarchischen und "militärischen" Charakters der Organisation - Positionen, die später vom Stalinismus zur Rechtfertigung seiner Methoden verwandt wurden - verworfen werden müssen;

- der Begriff "demokratisch" selber sowohl von seinem etymologischen Ursprung ("Macht des Volkes") als auch aufgrund seiner Bedeutung innerhalb des Kapitalismus unangebracht ist. Denn im Kapitalismus ist er zu einem formalistischen Fetisch geworden, der zur Vertuschung und zur Rechtfertigung der Herrschaft der Bourgeoisie über die Gesellschaft dient.

Der Begriff "organisch" (der auf Bordiga zurückzuführen ist) wäre in gewisser Hinsicht besser, um das Wesen des Zentralismus innerhalb der Organisationen der Revolutionäre zu bezeichnen. Aber weil die bordigistische Strömung ihn als Mittel benutzt, um eine Funktionsweise zu rechtfertigen, die jede Kontrolle der Zentralorgane und des Lebens der Organisation selber durch die gesamte Organisation verwirft, muß er auch abgelehnt werden. Der Bordigismus meint - zurecht -, daß das Vorhandensein einer Mehrheit zu einer Position keine Garantie für die Richtigkeit dieser Position bedeutet oder daß die Wahl von Zentralorganen kein perfekter Mechanismus sei, um diese vor der Entartung zu bewahren. Aber daraus ergibt sich für ihn die Schlußfolgerung, daß man in einer Organisation die Organe nicht wählen und gar keine Abstimmungen abhalten soll. Dieser Auffassung zufolge setzen sich die richtigen Positionen und damit auch die "Führer" "von selber" in einem "organischen Prozeß" durch; aber in der Praxis sieht das so aus, daß das "Zentrum" allein entscheiden kann und muß und daß jede Debatte von diesem abgeschlossen werden kann. Das "Zentrum" bewegt sich dann meist auf die Position eines "historischen Führers" hin, der eine Art göttliche, überirdische Unfehlbarkeit besäße. Aber die Revolutionäre, die gegen jede Art religiösen und mystischen Geist kämpfen, dürfen natürlich keinen Papst aus Rom durch einen neuen aus Neapel oder Mailand ersetzen.

Nochmals: Auch wenn Wahlen und Abstimmungen noch so unvollkommen sind, sind sie doch unter den gegenwärtigen Bedingungen das beste Mittel, um ein Höchstmaß an Einheit und Leben der Organisation zu garantieren.

 

8) Im Gegensatz zu der bordigistischen Auffassung darf die Organisation der Revolutionäre nicht "monolithisch" sein. Wenn es Divergenzen in ihren Reihen gibt, spiegelt das die Tatsache wider, daß es sich um eine lebendige Organisation handelt, die nicht immer eine unmittelbare, fest geformte Antwort auf die Probleme hat, vor denen die Klasse steht. Der Marxismus ist weder ein Dogma, noch ein Katechismus. Er ist ein theoretisches Instrument einer Klasse, die mittels ihrer Geschichte und im Hinblick auf ihre historische Zukunft schrittweise - Höhen und Tiefen durchlaufend - zu einer Bewußtwerdung hin voranschreitet, die die unabdingbare Vorbedingung ihrer Befreiung ist. Wie jedes menschliche Nachdenken und Überlegen, das auch bei der Entwicklung des proletarischen Bewußtseins vorhanden ist, handelt es sich nicht um einen linearen und mechanischen Prozeß, sondern um einen widersprüchlichen und mit Kritiken behafteten Prozeß. Er setzt notwendigerweise die Auseinandersetzung mit kontroversen Argumenten voraus. Tatsächlich ist der berühmte "Monolithismus" oder die viel gepriesene "Invarianz" der Bordigisten eine Illusion, ein Schein (was sich oft in den Stellungnahmen dieser Organisation und ihrer verschiedenen Sektionen widerspiegelt). Entweder ist die Organisation vollständig verkalkt und hat den Bezug zum Leben der Klasse verloren, oder sie ist nicht monolithisch und ihre Positionen sind nicht invariant, unveränderlich.

 

9) Während Divergenzen innerhalb der Organisation ein Beweis des Lebens der Organisation sind, ist es dennoch erforderlich, daß bestimmte Diskussionsregeln eingehalten werden, damit diese Divergenzen zu einem wirklichen Beitrag zur Verstärkung der Organisation und zur Verwirklichung der Aufgaben werden, für die die Klasse sie hervorgebracht hat.

Einige dieser Regeln lauten:

- Regelmäßige Treffen der örtlichen Sektionen und eine Tagesordnung, wo die Hauptfragen diskutiert werden müssen, die in der gesamten Organisation besprochen werden. Auf keinen Fall darf die Debatte erstickt werden.

- Größtmögliche Zirkulation der verschiedenen Beiträge innerhalb der Organisation durch die zu diesem Zweck vorgesehenen Mittel (interne Bulletins).

- Verwerfung von geheimer oder bilateraler Korrespondenz, die keinesfalls zur Klärung der Debatten beiträgt, sondern nur Mißverständnisse, das Mißtrauen und die Tendenz zur Errichtung einer Organisation innerhalb der Organisation verstärkt.

- Die Minderheit muß die Unabdingbarkeit der organisatorischen Disziplin (wie in Punkt 3 dargestellt) anerkennen.

- Verwerfung jeglicher disziplinarischer oder "administrativer" Maßnahmen seitens der Organisation gegenüber Mitgliedern, die mit bestimmten Punkten nicht einverstanden sind. Genauso wie die Minderheit lernen muß, wie man sich als Minderheit innerhalb der Organisation verhält, muß die Mehrheit wissen, was sie als Mehrheit zu tun hat, und vor allem darf sie nicht die Tatsache ausnutzen, daß ihre Position zu der Position der Organisation geworden ist, um die Debatten irgendwie zu ersticken, indem z.B. Mitglieder der Minderheit gezwungen werden, als Sprecher für Positionen aufzutreten, die sie nicht unterstützen.

- Die gesamte Organisation muß danach streben, daß die Diskussionen (selbst wenn es sich um Divergenzen zu Prinzipien handelt, die nur zu einer organisatorischen Spaltung führen können) auf die deutlichste Art geführt werden (ohne daß dadurch natürlich die Organisation gelähmt oder sie bei der Verwirklichung ihrer Aufgaben geschwächt würde), um sich dadurch gegenseitig von der Gültigkeit der jeweiligen Analysen zu überzeugen. Oder daß zumindest dadurch die größte Klarheit über das Wesen und die Tragweite der Unstimmigkeiten und Divergenzen geschaffen wird.

Weil die Debatten, die in der Organisation stattfinden, im allgemeinen die ganze Arbeiterklasse betreffen, müssen diese auch nach Außen getragen werden, wobei aber die folgenden Bedingungen eingehalten werden müssen:

- Diese Debatten betreffen allgemeine politische Fragen und sie müssen einen ausreichenden Reifegrad erreicht haben, damit ihre Veröffentlichung einen wirklichen Beitrag zur Bewußtseinsentwicklung der Arbeiterklasse liefert.

- Die Bedeutung und der Raum für diese Debatten darf das allgemeine Gleichgewicht der Publikationen nicht stören.

- Die Organisation als Ganzes entscheidet und übernimmt die Veröffentlichung dieser Publikationen entsprechend den gültigen Kriterien, die auch für das Schreiben irgendeines anderen Artikels in der Presse angewandt werden: der Grad der Klarheit und der Redaktionsform, das Interesse, das er für die Arbeiterklasse darstellt. Deshalb soll man keine Texte auf irgendeine Einzelinitiative von einzelnen Mitgliedern der Organisation hin außerhalb der für diesen Zweck bestimmten Organe veröffentlichen. Auch gibt es kein "formales" Recht innerhalb der Organisation (weder für ein einzelnes Mitglied noch für eine Tendenz), einen bestimmten Text veröffentlichen zu lassen, wenn die Verantwortlichen der Publikationen dessen Nützlichkeit nicht sehen oder den Zeitpunkt nicht für angebracht erachten.

 

10) Die Divergenzen innerhalb der Organisation der Revolutionäre können soweit gehen, daß organisierte Formen von Minderheitspositionen erscheinen. Während keine administrative Maßnahme (wie das Verbot solcher organisierten Formen) die tiefstmögliche Diskussion ersetzen kann, ist es dennoch wichtig zu betonen, daß auch in diesem Prozeß verantwortlich gehandelt werden muß.

Dies setzt voraus,

- daß diese organisierte Form der Divergenzen sich nur auf eine positive und kohärente Grundlage stützen darf und nicht auf eine einfache Zusammenwürfelung, Ansammlung von Punkten der Opposition und der Beschuldigungen,

- daß die Organisation dazu in der Lage ist, das Wesen eines solchen Prozesses zu verstehen; insbesondere den Unterschied zwischen einer Tendenz und einer Fraktion.

Die Tendenz ist vor allem der Ausdruck des Lebens der Organisation, weil das Denken sich nie geradlinig entwickelt, sondern ein widersprüchlicher, durch den Zusammenprall von Ideen charakterisierter Prozeß ist. Als solches verschwindet eine Tendenz im allgemeinen, sobald eine Frage ausreichend geklärt ist, so daß die gesamte Organisation eine einheitliche Analyse vertritt, sei es infolge der Diskussion oder infolge des Auftauchens von neuen Tatsachen, die eine bestimmte Einschätzung bestätigen und zur Verwerfung der anderen führen.

Eine Tendenz entwickelt sich hauptsächlich um Punkte, die die Orientierung und Intervention der Organisation betreffen. Ihre Gründung geht in der Regel nicht von Fragen theoretischer Analyse aus. Solch eine Auffassung von der Rolle von Tendenzen würde zu einer Schwächung der Organisation und einer enormen Zersplitterung der militanten Energien führen.

Die Fraktion ist eine Widerspiegelung der Tatsache, daß die Organisation in einer Krise steckt, weil ein Niedergangsprozeß eingetreten ist, eine Kapitulierung gegenüber dem Gewicht der bürgerlichen Ideologie. Im Gegensatz zu einer Tendenz, die nur bei Divergenzen gegenüber Orientierungen zu vorübergehenden Problemen und Fragestellungen auftaucht, erscheinen Fraktionen bei programmatischen Divergenzen, die nur dazu führen können, daß die bürgerliche Position bekämpft und somit ausgelöscht wird, oder daß die kommunistische Fraktion aus der Organisation ausscheidet. Weil die Fraktion als solches eine Spaltung zwischen zwei innerhalb eines gleichen Körpers miteinander unvereinbaren Positionen bedeutet, nimmt sie eine organisierte Gestalt mit ihren eigenen Propagandaorganen an.

Weil die Organisation der Klasse nie gegen einen Niedergang, einen Entartungsprozeß geschützt ist, besteht die Rolle der Revolutionäre in einem ständigen Kampf für die Auslöschung bürgerlicher Positionen, die sich in ihren Reihen entwickeln könnten. Und wenn sie in diesem Kampf in einer Minderheit sind, besteht ihre Aufgabe darin, sich als Fraktion zu organisieren, entweder um die gesamte Organisation für die kommunistischen Positionen zu gewinnen und damit die bürgerliche Position zu eliminieren, oder wenn dieser Kampf vergeblich geworden ist, weil die Organisation den Boden der Arbeiterklasse verlassen hat - meist während eines Rückflusses der Klasse - muß die Brücke für die Wiedererrichtung einer Klassenpartei errichtet werden, die aber erst in einem Prozeß des Wiedererstarkens des Kampfes entstehen kann.

 

Auf jeden Fall muß die Orientierung und die Ausrichtung der Revolutionäre die gleiche sein, die innerhalb der Klasse insgesamt existiert. D.h. man darf nicht die geringen revolutionären Energien verschwenden, über die die Klasse verfügt. Das erfordert eine ständige Wachsamkeit mit dem Ziel der Aufrechterhaltung und Entfaltung dieses Instrumentes der Organisation der Revolutionäre, das so unabdingbar, aber auch zerbrechlich ist.

 

11) Während die Organisation keine administrativen oder disziplinarischen Mittel einsetzen darf, um mit Divergenzen umzugehen, heißt das nicht, daß sie immer unter allen Umständen auf diese Mittel verzichten soll. Sie muß im Gegenteil auf diese Mittel wie die zeitweise Suspendierung oder den endgültigen Ausschluß zurückgreifen, wenn eine Einstellung, ein Verhalten und ein Wirken festzustellen ist, das eine Gefahr für ihre Existenz, ihre Sicherheit oder ihre Fähigkeit, ihre Aufgaben zu verwirklichen, darstellt. Dies trifft auf ein Verhalten innerhalb oder außerhalb der Organisation zu, das unvereinbar ist mit der Zugehörigkeit zu einer kommunistischen Organisation.

Darüber hinaus muß die Organisation alle erforderlichen Maßnahmen für ihren Schutz gegenüber Versuchen der Infiltrierung oder der Zerstörung durch Organe des kapitalistischen Staates oder durch Elemente ergreifen, die zwar nicht unbedingt direkt vom Staat manipuliert sein müssen, aber ein Verhalten an den Tag legen, das dessen Absichten und Wirken begünstigt.

Wenn solch ein Verhalten ersichtlich wird, muß die Organisationen Maßnahmen nicht nur zu ihrem eigenen Schutz, sondern auch zum Schutz anderer kommunistischen Organisationen ergreifen.

 

12) Eine grundlegende Bedingung der Fähigkeit einer Organisation, ihre Aufgaben innerhalb der Klasse zu erfüllen, ist das richtige Begreifen des Verhältnisses zwischen ihren Mitgliedern und der Organisation. Dies ist eine in der gegenwärtigen Zeit besonders schwer zu verstehende Frage, weil es einen organischen Bruch zwischen den Fraktionen der Vergangenheit und dem Einfluß der Studenten in den revolutionären Organisationen in der Zeit nach 1968 gegeben hat, der das Wiederauftauchen eines Lasters aus der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts bewirkt hat: des Individualismus.

Im allgemeinen spiegeln die Beziehungen zwischen den Mitgliedern und einer Organisation die gleichen Prinzipien wider, wie die oben zwischen den Teilen und dem Ganzen dargestellten.

Insbesondere muß man dazu folgendes unterstreichen:

* Die Arbeiterklasse bringt keine revolutionären Militanten hervor, sondern nur revolutionäre Organisationen: Es gibt keine direkte Beziehung zwischen Militanten und der Klasse. Die Militanten beteiligen sich am Kampf der Klasse, indem sie zu Mitgliedern der Organisation werden und sich an der Verwirklichung deren Aufgaben beteiligen. Sie haben kein besonderes Heil gegenüber der Arbeiterklasse oder der Geschichte zu suchen. Ihnen geht es um das Wohlergehen der ganzen Klasse und der Organisation, die diese hervorgebracht hat.

* Das gleiche Verhältnis zwischen einem besonderen Organismus (Gruppe oder Partei) und der Klasse besteht zwischen der Organisation und dem Militanten. Und ebenso wie die Klasse nicht zur Aufgabe hat, die Bedürfnisse der kommunistischen Organisation zu erfüllen, haben diese genausowenig zur Aufgabe, die Probleme des einzelnen Mitgliedes einer Organisation zu lösen. Die Organisation ist nicht das Ergebnis der Bedürfnisse ihrer Mitglieder. Man ist Militanter der Klasse in dem Maße, wie man die Aufgaben und die Funktion der Organisation verstanden hat und diese unterstützt.

* Auf diesem Hintergrund zielt die Verteilung der Aufgaben und der Verantwortlichkeiten innerhalb der Organisation nicht auf eine "Verwirklichung" der einzelnen Mitglieder ab. Die Aufgaben müssen so verteilt werden, daß die Organisation als ein Ganzes optimal funktionieren kann. Wenn die Organisation soweit wie möglich die Situation und das "Wohlergehen" eines einzelnen Mitglieds berücksichtigt, dann geschieht dies vor allem im Interesse der Organisation. Das heißt nicht, daß die Individualität und die Probleme eines einzelnen Mitgliedes außer Acht gelassen würden, sondern Ausgangs- und Endpunkt müssen vielmehr sein, daß die Organisation in der Lage ist, ihre Aufgabe im Klassenkampf zu erfüllen.

* In der Organisation gibt es keine "erhabenen" und dann "zweitrangige", "weniger würdevolle" Aufgaben. Die Aufgabe der theoretischen Herausarbeitung wie die Verwirklichung der praktischen Aufgaben, die Arbeit innerhalb der Zentralorgane wie auch die spezifische Arbeit in den örtlichen Sektionen sind ebenso wichtig für die Organisation. Sie dürfen deshalb nicht hierarchisch geordnet werden (nur der Kapitalismus errichtet solche Hierarchien). Deshalb muß man die Idee als bürgerlich verwerfen, derzufolge die Berufung eines Mitglieds in ein Zentralorgan einen "Aufstieg", den Zugang zu einem "Ehrenposten" oder zu einem Privileg bedeuten würde. Das Karrieredenken muß in der Organisation unbedingt verworfen werden als etwas, das im Gegensatz steht zu der selbstlosen Aufopferung, die ein charakteristisches Merkmal der kommunistischen Militanten ist.

* Während es in der Tat ungleiche Fähigkeiten zwischen den einzelnen Menschen und natürlich auch den Mitgliedern einer Organisation gibt, die vor allem durch die Klassengesellschaft aufrechterhalten und verstärkt werden, besteht die Rolle der Organisation nicht darin, wie es in den Gemeinschaften der Utopisten versucht wird, diese abzuschaffen. Die Organisation muß im höchstmöglichen Maß die politische Bildung und die politischen Fähigkeiten ihrer Mitglieder fördern und verstärken, weil dies eine Bedingung für ihre eigene Verstärkung ist. Aber für sie stellt sich das Problem nicht in Begriffen wie individueller Schulbildung ihrer Mitglieder und auch nicht der Nivellierung dieser Bildung.

* Die wirkliche Gleichheit unter den Mitgliedern besteht darin, daß alle der Organisation das größtmögliche geben ("Jeder nach seinen Möglichkeiten", eine Formulierung von Saint-Simon, wie sie von Marx wiederaufgegriffen wurde). Die wirkliche "Verwirklichung" der Mitglieder als Militante besteht darin, daß alles unternommen wird, damit die Organisation ihre Aufgaben verwirklichen kann, zu deren Erfüllung die Klasse sie hervorgebracht hat.

* All das bedeutet, daß die Mitglieder sich nicht persönlich in der Organisation engagieren, etwas "investieren", das "Dividenden" abwirft und das man sich bei einem Austritt wieder auszahlen lassen kann. Deshalb muß man alle Praktiken der "Wiederaneignung" von Material und Organisationsgeldern verwerfen, weil sie dem Wesen der Arbeiterklasse entgegengesetzt sind, sogar wenn man die angeeigneten Mittel nur für den Aufbau einer anderen politischen Gruppe benutzen will.

* Ebenso "wie die Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen der Organisation und die Beziehungen zwischen den Militanten (...) notwendigerweise die Narben der kapitalistischen Gesellschaft mit sich tragen,... dürfen sie doch nicht in offenkundigem Widerspruch stehen zu dem von den Revolutionären verfolgten Ziel, und sie müssen notwendigerweise auf der Solidarität und dem gegenseitigen Vertrauen beruhen, die ein Kennzeichen der Zugehörigkeit der Organisation zu der Klasse sind, die den Kommunismus verwirklichen wird" (aus Plattform der IKS).

23.10.1981

 

1) Dies bezieht sich aber nicht nur auf uns selber. Wir meinen damit nicht nur die Spaltungen, die in der IKS stattgefunden haben (oder noch stattfinden werden). Innerhalb des proletarischen politischen Milieus haben wir immer diese Position vertreten. Dies war insbesondere der Fall, als die Aberdeener Sektion der Communist Workers' Organisation (CWO) aus dieser austrat oder als das Nucleo Comunista Internazionalista aus "Programma Comunista" austrat. Wir haben damals die Überstürzung bei den Spaltungen kritisiert, die sich damals auf keine grundsätzlichen Divergenzen stützten und die in den jeweiligen Organisationen nicht ausreichend in vertieften Debatten geklärt worden waren. Im allgemeinen ist die IKS gegen "Spaltungen", die sich nicht auf Prinzipienfragen stützen, sondern zweitrangige Fragen als Ursprung haben (selbst wenn die ausgetretenen Genossen später ihre Kandidatur für die Mitgliedschaft in die IKS stellen). Jede Spaltung, die von zweitrangigen Fragen ausgeht, fußt in Wirklichkeit auf einer monolithischen Auffassung von der Organisation, die keine Diskussionen und keine Divergenzen zuläßt. Dies ist bei Sekten typisch.

 

 

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Organisation [64]

Deutsche Revolution VI

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6. Der gescheiterte Organisationsaufbau

 


Wir haben im letzten Artikel gesehen, dass die KPD in Deutschland  Ende Dezember 1918 inmitten der Kämpfe gegründet worden war. Obwohl die Spartakisten eine ausgezeichnete Propagandaarbeit gegen den Krieg geleistet sowie entschlossen und mit großer Klarheit in der revolutionären Bewegung selbst interveniert hatten, war die frisch gegründete KPD noch längst nicht eine solide Partei. Der Organisationsaufbau war gerade erst begonnen worden, das Organisationsgewebe noch sehr lose gesponnen. Die Partei war auf ihrem Gründungskongress von großer Heterogenität geprägt. Nicht nur in der Frage der Mitarbeit in den Gewerkschaften oder der Teilnahme an der Nationalversammlung prallten verschiedene Positionen aufeinander. Schwerer noch wogen die Differenzen in der Organisationsfrage. Wobei sich der marxistische Flügel um Rosa Luxemburg und Leo Jogiches in der Minderheit befand. Der Werdegang dieser noch „unfertigen“ Partei zeigt, dass es nicht ausreicht, eine Partei zu proklamieren. Um den Aufgaben einer Partei gerecht zu werden, muss ein engmaschiges Organisationsnetz vorhanden sein und Einigkeit innerhalb der Organisation hinsichtlich der Funktion und der Funktionsweise herrschen.

Die Unreife der KPD führte dazu, dass sie ihre Aufgaben gegenüber der Arbeiterklasse nicht erfüllen konnte. Die Tragödie der deutschen Arbeiterklasse (und damit auch der Weltarbeiterklasse) bestand darin, dass sie in solch einer entscheidenden Phase wie jene nach dem Krieg ohne die wirksame Unterstützung durch eine kommunistische Partei kämpfen musste.

 

1919:  Die Abwesenheit der KPD nach der Repression

Anfang 1919, eine Woche nach dem Gründungskongress der KPD, zettelte die deutsche Bourgeoisie den so genannten Januaraufstand an. Die KPD hatte vor verfrühten Aufständen gewarnt. Sie hatte betont, dass der Moment des Angriffs gegen den bürgerlichen Staat noch nicht gekommen war.

Doch als dann die Bourgeoisie die Arbeiter provozierte und Wut und Empörung unter ihnen erzeugte, stürzte sich Liebknecht, entgegen dem Parteibeschluss, zusammen mit den revolutionären Obleuten in den Kampf.

Nicht nur der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit wurde so eine tragische Niederlage zugefügt, auch und besonders die Revolutionäre wurden hart von den Schlägen der Repression getroffen. Neben Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Leo Jogiches, der im März 1919 umgebracht wurde, wurden noch viele andere Revolutionäre erschossen. Die KPD wurde mehr oder weniger enthauptet.

Nicht zufällig war gerade der marxistische Flügel um Rosa Luxemburg und Leo Jogiches zur Zielscheibe der Repression geworden. Dieser Flügel hatte für den Zusammenhalt der Partei gesorgt und war immer wieder resolut für die Verteidigung der Organisation eingetreten.

Schließlich wurde die KPD monatelang, bis auf einige wenige Unterbrechungen, in die Illegalität verbannt. Zwischen Januar und März sowie zwischen Mai und Dezember 1919 musste die Rote Fahne ihr Erscheinen einstellen. Daher spielte sie in den Streikwellen vom Februar bis April keine entscheidende Rolle. Ihre Stimme war früh vom Kapital zum Schweigen gebracht worden.

Wäre die KPD stark und einflussreich genug gewesen, um die Januar-Provokation der Bourgeoisie wirksam zu entlarven und die Arbeiter vor dieser Falle zu warnen, so wäre die Bewegung aller Wahrscheinlichkeit nach anders ausgegangen.

So hat die Arbeiterklasse einen hohen Preis für die organisatorischen Schwächen der Partei bezahlt. Die Partei selbst wurde zur Zielscheibe heftigster Repression: Überall wurde Jagd auf die Kommunisten gemacht. Mehrfach wurde die Verbindung zwischen der Rumpfzentrale und den Bezirken unterbrochen. Auf einer Reichskonferenz am 29. März 1919 wurde festgestellt, dass „die Ortsgruppen von einem Heer von Spitzeln überschwemmt werden“. Bezüglich der programmatischen Divergenzen meinte die Konferenz: „In der Gewerkschaftsfrage ist die Konferenz der Meinung, dass die Parole ‚Heraus aus den Gewerkschaften!‘ jetzt nicht angebracht ist (...). Der verwirrenden syndikalistischen Agitation muss entgegengetreten werden nicht durch Zwangsmaßregeln, sondern durch planmäßige Aufklärung über die Gegensätze in der Auffassung und der Taktik.“ (KPD-Zentrale auf der Reichskonferenz, 29. 3. 1919) Es ging ihr also darum, diese Divergenzen weiter zu diskutieren.

Auf einer Reichskonferenz am 14./15. Juni 1919 in Berlin nahm die KPD eine Satzung an, die die Notwendigkeit einer straff zentralisierten Partei betonte. Und obwohl die Partei klar gegen den Syndikalismus Stellung bezog, wurde empfohlen, nicht gegen Mitglieder vorzugehen, die syndikalistischen Gewerkschaften angehörten.

Noch auf dem Gründungskongress Ende 1918 war kein Modus für die Bestellung der Delegierten existent, und auch die Frage der Zentralisierung war noch nicht weiter präzisiert worden. Dem wurde erst auf einer weiteren Reichskonferenz im August 1919 abgeholfen, wo den 22 Reichsbezirken der Partei, unabhängig von der Größe, jeweils ein Delegierter zugestanden wurde. Daneben erhielten auch die Mitglieder der Zentrale jeweils eine Stimme. Mit anderen Worten: die Zentrale war stimmenmäßig überrepräsentiert, während die Stellung und der Einfluss der örtlichen Parteibezirke unterbewertet wurden. Somit bestand die Gefahr einer Verselbständigung der Zentrale, was das Misstrauen gegenüber der Zentrale noch verstärkte. Dennoch konnte sich der Standpunkt Levis (der mittlerweile zum Parteivorsitzenden gewählt worden war) und der Zentrale zur Frage der Gewerkschaften und der Parlamentsarbeit nicht durchsetzen, da die Mehrheit der Delegierten zu den Positionen der Linken neigte.

Wie wir bereits aufgezeigt haben, verließen in der Welle von Kämpfen, die in der ersten Hälfte des Jahres 1919 ganz Deutschland erschütterten, immer mehr Arbeiter die Gewerkschaften - ganz ohne Zutun der KPD, deren Stimme, wie bereits erwähnt, zum Schweigen gebracht worden war. Viele Arbeiter spürten, dass die Gewerkschaften als klassische reformistische Interessensverbände nicht mehr ihre Aufgabe, die Verteidigung der Arbeiterinteressen, erfüllen konnten, dass sie, nachdem sie während des Krieges schon den Burgfrieden durchgesetzt hatten, in der sich anschließenden revolutionären Situation erneut auf der Seite des Kapitals standen.

Andererseits war die Situation längst nicht mehr so erhitzt wie im November und Dezember 1918, als die Arbeiter sich überall in Arbeiterräten zusammengeschlossen und den Staat herausgefordert hatten. Nun gründeten viele Arbeiter „Betriebsorganisationen“, die als Unionen alle kämpferischen Arbeiter zusammenfassen sollten. Diese Unionen stellten zum Teil politische Plattformen auf, die den Sturz des kapitalistischen Systems postulierten. Viele Arbeiter meinten damals, dass einzig und allein die Unionen das Sammelbecken proletarischer Kräfte seien und auch die Partei sich in ihnen auflösen sollte. Es war die Zeit, als anarcho-syndikalistische Auffassungen wie auch rätekommunistische Ideen auf ein großes Echo stießen. Mehr als 100.000 Arbeiter schlossen sich in den Unionen zusammen. Im August 1919 wurde in Essen die „Allgemeine Arbeiter-Union“ (AAU) gegründet.

Gleichzeitig erlebte die Lage der Arbeiterklasse nach dem Krieg eine dramatische Verschlechterung. Nachdem sie schon im Krieg hatte hungern und bluten müssen und besonders im Winter 1918/19 zermürbt worden war, sollte die deutsche Arbeiterklasse nun auch die Kriegsschulden bezahlen. Mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages wurde dem deutschen Kapital und insbesondere den deutschen Arbeitern die Leistung von Reparationszahlungen aufgebürdet. Dem deutschen Kapital war natürlich daran gelegen, das Ausmaß dieser Bestrafung so gering wie möglich zu gestalten. Daher unterstützte es all diejenigen, die gegen diese Reparationszahlungen Stellung bezogen, insbesondere einige Führer der Hamburger KPD. Militärische Kreise nahmen Verbindung zu Laufenberg und Wolffheim auf, die ab Winter 1919/20 für einen „nationalen Volkskrieg“ eintraten, in dem die deutsche Arbeiterklasse gemeinsam mit dem deutschen Kapital gegen die „nationale Unterdrückung“ kämpfen sollte.

 

Der II. Parteitag im Oktober 1919: Von der politischen Verwirrung zur organisatorischen Zerstreuung

Nach dem Höhepunkt der Kämpfe und ihrer anschließenden Niederschlagung in der ersten Hälfte des Jahres 1919 fand vom 20. bis 24. Oktober 1919 der II. Parteitag der KPD in Heidelberg statt. An erster Stelle auf der Tagesordnung standen die politische Lage und der Geschäftsbericht. Bei der Einschätzung der politischen Lage wurde vorwiegend auf die wirtschaftliche und imperialistische Entwicklung, insbesondere auf die Position Deutschlands eingegangen, jedoch mit nahezu keinem Wort das internationale Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat erwähnt. Die Schwächung und die Krise der Partei schien ihr den Blick für den tatsächlichen Stand des Klassenkampfes weltweit getrübt zu haben. Obgleich es notwendig war, alles zu unternehmen, um die revolutionären Kräfte zusammenzufassen, stellte die KPD-Zentrale von Anfang an ihre „Leitsätze über kommunistische Grundsätze und Taktik“ in den Vordergrund – von denen einige Aspekte schwerwiegende Konsequenzen für die Partei haben und den Weg für zahlreiche Abspaltungen bahnen sollten – und versuchte, sie dem Kongress aufzuzwingen.

In jenen Leitsätzen wurde betont, dass „die Revolution ein politischer Kampf der Proletariermassen um die politische Macht ist. Dieser Kampf wird mit allen politischen und wirtschaftlichen Mitteln geführt (...) Dabei aber kann die KPD auf kein politisches Mittel grundsätzlich verzichten, das der Vorbereitung dieser großen Kämpfe dient. Als solches Mittel kommt auch die Beteiligung an Wahlen in Betracht“. Weiter sahen die Leitsätze die Beteiligung der Kommunisten in den Gewerkschaften vor, damit man sich „nicht von den Massen isoliere“.

Man bejahte die Gewerkschaften und das Parlament also nicht aus grundsätzlichen, sondern aus rein taktischen Erwägungen. Ferner wurde zu Recht der Föderalismus abgelehnt und straffste Zentralisierung gefordert.

Jedoch sollte mit letztgenannter Forderung auch die Möglichkeit weiterer Diskussionen verhindert werden: „Mitglieder der KPD, die diese Anschauungen über Wesen, Organisation und Aktion der Partei nicht teilen, haben aus der Partei auszuscheiden.“ (aus den Leitsätzen)

Wir haben eingangs aufgezeigt, dass die Divergenzen innerhalb der KPD hinsichtlich der Grundsatzfragen über die Mitarbeit in den Gewerkschaften und die Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung tief greifend waren.

Zwar hatte die erste, auf dem Gründungskongress der KPD gewählte Zentrale in diesen Fragen ebenfalls eine von der Mehrheit abweichende Position, doch sie beabsichtigte nie, ihre Meinung der Mehrheit aufzuzwingen. Insbesondere die Mitglieder der Zentrale  hatten hier ein richtiges Organisationsverständnis bewiesen, denn sie traten wegen dieser Divergenzen nicht etwa aus der Partei aus, sondern fassten diese Meinungsverschiedenheiten als etwas auf, was erst noch durch weitere Diskussionen ausgeräumt werden musste.[1] 

Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass die damalige Arbeiterklasse seit dem Beginn des I. Weltkrieges bereits viel Erfahrung gesammelt hatte, um zu einem dezidierten Standpunkt gegen Gewerkschaften und Parlamentarismus zu gelangen. Dennoch stellte diese Position noch keine Klassengrenze dar und war auch kein Spaltungsgrund. Die Auswirkungen der kapitalistischen Dekadenz waren noch von keinem Teil der revolutionären Bewegung umfassend und kohärent aufgearbeitet worden. Es herrschte noch eine große Heterogenität in dieser Frage. Nicht nur in Deutschland, auch in die revolutionäre Bewegung in den meisten anderen Ländern gab es dieselben Divergenzen in dieser Frage. Es war das Verdienst der deutschen Kommunisten gewesen, als erste diese Position überhaupt formuliert zu haben. International befanden sie sich hierbei in der Minderheit. Auch auf dem Gründungskongress der Komintern im März 1919 wurde noch keine theoretisch fundierte Position hierzu entwickelt, auch wenn der Kongress zur Ablehnung der Gewerkschaften wie auch der Nationalversammlung neigte, indem der Schwerpunkt auf die Sowjets gelegt wurde. Dieser Umstand spiegelte die Unreife der gesamten Bewegung zum damaligen Zeitpunkt wider. Sie war mit einer neuen objektiven Situation konfrontiert und hinkte mit ihrem Bewusstsein, der theoretischen Aufarbeitung eben dieser Situation, hinterher. Auf jedem Fall wurde deutlich, dass eine Debatte über diese Fragen unerlässlich war und vorangetrieben werden musste, dass man ihr auf keinen Fall ausweichen durfte. Aus all diesen Gründen konnten und durften die programmatischen Divergenzen in der Gewerkschaftsfrage und zur Wahlbeteiligung damals noch  nicht Anlass sein, die Anhänger der einen oder anderen Position aus der Partei auszuschließen bzw. sich von letzterer zu spalten. Wäre man so verfahren, so hätte dies zum Parteiausschluss von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht führen müssen, die auf dem Gründungskongress der KPD in der Frage der Gewerkschaften und der Wahlbeteiligung der Minderheit angehört hatten.

Doch die KPD war auch in der Organisationsfrage selbst zutiefst gespalten. Auf ihrem Gründungskongress stellte sie sich noch als ein breites Sammelbecken für diejenigen dar, die links von der USPD standen, aber insbesondere bezüglich der Organisationsfrage in verschiedenen Flügeln zersplittert waren. Der marxistische Flügel um Rosa Luxemburg und Leo Jogiches, der am entschlossensten für die Verteidigung und Einheit der Organisation eintrat, stand einer Reihe von Elementen gegenüber, die die Notwendigkeit der Organisation entweder unterschätzten, ihr misstrauisch oder gar feindlich gegenüberstanden.

Daher musste sich der II. Parteitag vorrangig der Verteidigung und dem Aufbau der Organisation widmen. Doch die objektiven Bedingungen waren bereits nicht mehr sehr günstig. Denn:

·          das Organisationsleben war bereits schwer beeinträchtigt. Aufgrund der Illegalität und der Repression war eine umfassende Diskussion in den örtlichen Sektionen über die o.g. programmatischen Fragen und die organisatorischen Konsequenzen unmöglich. So konnte sich der Kongress nicht auf ein umfassendes Meinungsbild in der Organisation stützen;

·          die auf dem Gründungskongress gewählte Zentrale wurde stark dezimiert: Drei der neun Mitglieder (Luxemburg, Liebknecht, Jogiches) waren ermordet worden, drei weitere konnten aufgrund ihrer Verfolgung und drohenden Verhaftung nicht am Kongress teilnehmen. Übrig blieben Levi, Pieck, Lange und Thalheimer.

Gleichzeitig befanden sich die rätekommunistischen und anarcho-syndikalistischen Ideen im Aufschwung. Anhänger der Unionen plädierten für die Auflösung der Partei in den Unionen, andere drängten auf den Rückzug auf reine Lohnkämpfe. Der Begriff „Führerpartei“ und „Führerdiktatur“ machte die Runde und war Synonym für den Auftrieb organisationsfeindlicher Tendenzen.

Es waren jene fehlerhaften Organisationsauffassungen, die diesen Kongress in einem Desaster enden ließen. Schon bei der Zusammensetzung der Delegierten hatte Levi im Namen der Zentrale die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Zentrale zurechtgerückt. So warf die Zentrale die politischen Prinzipien des Gründungskongresses (der es versäumt hatte, eine genaue Festlegung des Delegiertenschlüssels vorzunehmen) über Bord. Statt auf eine Repräsentierung der örtlichen Delegierten, die ein extrem heterogenes Meinungsbild verkörperten, zu drängen, legte sie den Delegiertenschlüssel dergestalt fest, dass der Zentrale die Mehrheit sicher war.

Von Beginn an vertiefte diese Haltung der Zentrale die Spaltungen und bereitete so den Ausschluss der ehemaligen Mehrheit vor. Statt ihre Leitsätze wie die in nahezu allen kommunistischen Parteien stattfindenden Debatten als einen Diskussionsbeitrag einzubringen, der die Klärung weiter vorantreibt, erblickte die Zentrale in ihnen ein Mittel, um die Diskussion abzuwürgen und die Gegenseite aus der Partei auszuschließen. Der letzte Leitsatz, der den Ausschluss sämtlicher Delegierter vorsah, die nicht mit den Leitsätzen einverstanden waren, spiegelte ein falsches, weil monolithisches Organisationsverständnis wider, das auch zum Organisationsverständnis des marxistischen Flügels um Luxemburg und Jogiches, die stets für die breiteste Diskussion in der gesamten Organisation eingetreten waren, im Widerspruch stand.

Während die auf dem Gründungskongress gewählte Zentrale die richtige politische Auffassung vertreten hatte, dass die damals vorhandenen Differenzen in Grundsatzfragen wie die Gewerkschaften oder der Parlamentarismus kein Grund zur Spaltung der Partei sein durften, trug die während des II. Kongresses amtierende Zentrale selbst zu einer fatalen Spaltung der Partei auf falscher Grundlage bei.

Die Delegierten, die die Mehrheitsposition des Gründungskongresses vertraten, verlangten, in Anbetracht der Schwere der Entscheidungen die jeweiligen Parteizellen zu konsultieren und den Beschluss einer Spaltung nicht übers Knie zu brechen. Doch die Parteizentrale wollte auf Biegen und Brechen eine Entscheidung herbeiführen. 31 stimmberechtigte Kongressteilnehmer stimmten für die Leitsätze, 18 dagegen. Diese 18 Delegierten, die überwiegend die mitgliederstärksten Parteibezirke repräsentierten und unter denen sich fast alle Delegierten der ehemaligen ISD/IKD (Internationale Sozialisten Deutschlands / Internationale Kommunisten Deutschlands) befanden, galten nunmehr als ausgeschlossen.

 

Ein Bruch darf nur auf der klarsten Grundlage erfolgen

Um in einer Situation des Dissens‘ die Diskussion fair zu gestalten, ist es notwendig, dass jedermann seinen Standpunkt umfassend und uneingeschränkt darstellen kann. Doch Levi hatte bei seiner Attacke gegen die Mehrheit nichts Besseres im Sinn, als alle in einen Topf zu werfen und somit eklatant gegen diesen Grundsatz zu verstoßen.

Denn es gab die unterschiedlichsten Argumentationen. Otto Rühle z.B. trat am offensten gegen die Mitarbeit in Gewerkschaften und Parlamente ein. Aber seine Argumentation war rätekommunistisch, er verteufelte die „Führerpolitik“.

Die Genossen aus Bremen, die gleichfalls entschlossene Gegner von Gewerkschaft und Parlament waren, lehnten dagegen die Partei nicht ab. Doch brachten sie ihren Standpunkt nicht energisch genug auf dem Kongress vor. Sie überließen die Bühne dem zerstörerischen Treiben von Abenteurern wie Wolffheim und Laufenberg sowie den Föderalisten und Unionisten.

Es herrschte allgemeine Verwirrung vor, da die Standpunkte noch nicht hinreichend geklärt waren. Insbesondere in der Organisationsfrage, wo ein klarer Trennungsstrich zwischen Parteibefürwortern und –gegnern hätte herbeigeführt werden müssen, wurde alles durcheinander geworfen.

Denn nicht alle, die die Gewerkschaften und Parlamente ablehnten, leugneten auch die grundsätzliche Notwendigkeit einer Partei. Doch leider ignorierte Levi dies, als er alle Gegner der Gewerkschafts- und Parlamentsarbeit als Parteigegner bezeichnete. Damit betrieb er eine komplette Desinformation und verdrehte die verschiedenen Positionen völlig.

Gegenüber dieser Vorgehensweise der Zentrale gab es unterschiedliche Reaktionen. Nur Laufenberg, Wolffheim sowie zwei weitere Delegierte erklärten die Spaltung für unumgänglich und kündigten noch im gleichen Atemzug die Gründung einer neuen Partei an. Vorher säten Laufenberg und Wolffheim Misstrauen unter den KPD-Mitgliedern und planten, der Zentrale das Vertrauen wegen Lücken im Kassenbericht abzusprechen. Mit diesem undurchsichtigen Manöver wollten sie die offene Auseinandersetzung über die Organisationsfrage vermeiden.

Die Bremer Delegierten dagegen stellten sich ihrer Verantwortung. Sie wollten sich nicht ausschließen lassen. So erschienen sie am nächsten Tag wieder, um ihre Delegiertentätigkeit fortzusetzen. Doch die Zentrale hatte das Tagungslokal verlegt und weigerte sich, die Minderheit hineinzulassen.

So entledigte man sich eines großen Teils der Mitglieder: Neben den Tricks mit dem Delegiertenschlüssel griff man auch zu Zwangsmaßnahmen, um die Genossen vom Parteitag auszuschließen.

Der Kongress war geprägt von falschen Organisationsvorstellungen. Die Levi-Zentrale hatte eine monolithische Organisationsauffassung, in der Minderheitspositionen zur Gewerkschaftsfrage und Wahlbeteiligung keinen Platz hatten. Aber mit Ausnahme der Bremer Genossen vertrat auch die Minderheit ein monolithisches Verständnis. Denn sie hätte umgekehrt am liebsten die Mitglieder der Zentrale aus der Partei ausgeschlossen. So provozierten beide Seiten eine Spaltung auf völlig unklarer Grundlage. Der marxistische Flügel hatte sich in der Organisationsfrage nicht durchsetzen können.

Damit sollte unter den Kommunisten in Deutschland eine Tradition Einkehr halten, deren Muster sich seither ständig wiederholen sollten: bei jeder Divergenz eine Spaltung.

 

Falsche programmatische Positionen öffnen die Tür zum Opportunismus

Dabei kam in den Leitsätzen, die die Arbeit im Parlament und in den Gewerkschaften noch unter hauptsächlich taktischen Gesichtspunkten sahen, ein Problem zum Ausdruck, das damals in der gesamten kommunistischen Bewegung vorhanden war: die Fähigkeit, die Lehren aus der kapitalistischen Dekadenz zu ziehen, die Erkenntnis, dass die Dekadenz neue Bedingungen hervorgebracht hat, dass die alten Kampfmittel nicht mehr taugten, da sich die Bedingungen selbst geändert hatten.

Längst hatte der Staat Parlament und Gewerkschaften in sich aufgesogen. Der linke Flügel hatten diesen Prozess geahnt, wenngleich theoretisch nicht verstanden. Doch die taktische Orientierung der KPD-Führung, die auf einer konfusen Sicht der Dinge beruhte, trug dazu bei, dass die Partei – unter dem Vorwand, „sich nicht von den Massen zu isolieren“ – zu immer mehr Konzessionen gegenüber denjenigen getrieben wurde, die das Proletariat verraten hatten. Dieser Opportunismus wurde auch in der Absicht deutlich, eine Brücke zur zentristischen USPD zu schlagen, um auf diese Weise zu einer „Massenpartei“ zu werden. Dadurch, dass gerade jene Genossen, die Divergenzen gegenüber dieser Orientierung durch die Parteiführung hatten, aus der Partei ausgeschlossen worden waren, hatte sich die Partei ausgerechnet jener kritischen, aber parteitreuen Militanten beraubt, die in der Lage gewesen wären, diese opportunistische Fäulnis zu bremsen.

Der Schlüssel zu dieser Tragödie lag im mangelnden Verständnis der Organisationsfrage und ihrer Bedeutung. Heute liegt die Lehre auf der Hand: Parteiausschlüsse oder Spaltungen sind eine viel zu ernste und schwerwiegende Angelegenheit, als dass man sie übers Knie brechen sollte. Nur nach vorheriger tiefgreifender und abschließender Klärung kann eine solche Entscheidung in Erwägung gezogen werden. Aus diesem Grund muss in den Statuten einer jeden kommunistischen Organisation diese politische Einsicht entsprechend klar und deutlich festgeschrieben werden.

Die Kommunistische Internationale selbst teilte einerseits die Position Levis zur Gewerkschafts- und Parlamentsfrage, bestand aber andererseits auf die Notwendigkeit, diese Debatte zu vertiefen, und lehnte jeden Bruch auf der Grundlage dieser Divergenzen ab.

In Reaktion auf ihren Ausschluss aus der KPD richteten die Bremer eine „Informationsstelle“ der Opposition ein, um u.a. die Verbindung unter den Linkskommunisten im ganzen Reich zu gewährleisten. Sie verstanden ihre Fraktionsarbeit richtig. Aus Sorge über die drohende Parteispaltung versuchten sie mittels Kompromissen in den wichtigsten Streitpunkten in der Organisationspolitik, in der Gewerkschafts- und Parlamentarismusfrage, die Einheit der Partei zu bewahren. Am 23. Dezember 1919 forderte die Bremer Informationsstelle:

„1. Einberufung einer neuen Reichskonferenz Ende Januar.

   2. Zulassung aller Bezirke, die vor der 3.Reichskonferenz zur KPD gehörten, ob sie die Leitsätze anerkennen oder nicht.

   3. Die sofortige Zur-Diskussionsstellung von Leitsätzen und Anträgen für die Reichskonferenz.

   4. Die Zentrale ist verpflichtet, bis zur Einberufung der neuen Konferenz jede weitere parteispaltende Tätigkeit einzustellen.“

(KAZ, Nr. 197)

Indem sie dem III. Parteitag der KPD, der am 25. und 26. Februar 1920 in Karlsruhe tagte, Abänderungsvorschläge zu den Leitsätzen unterbreiteten und ihre Wiedereingliederung forderten, wurden die Bremer Genossen ihrer Fraktionsarbeit vollauf gerecht.

Diese Abänderungsanträge liefen auf organisatorischer Ebene auf eine Stärkung der Stellung der örtlichen Parteigruppen gegenüber der Zentrale hinaus, während sie in der Gewerkschafts- und Parlamentarismusfrage Konzessionen gegenüber den von der Zentrale postulierten Grundsätzen einräumten. Doch die Parteizentrale setzte in den Bezirken, aus denen die ausgeschlossenen Mitglieder kamen (Hamburg, Bremen, Hannover, Berlin und Dresden), unbeirrt ihre spalterische Politik fort und begann, neue Ortsgruppen aufzubauen.

Auf dem III. Parteitag der KPD wurde der Aderlass deutlich. Hatte es im Oktober 1919 noch knapp über 100.000 Mitglieder gegeben, zählte man jetzt nur noch ca. 40.000. Darüber hinaus hatte der II. Parteitag im Oktober 1919 soviel Unklarheit hinterlassen, dass auf dem Februarparteitag 1920 Verwirrung darüber herrschte, ob die Bremer noch der KPD angehörten oder nicht. Erst auf letztgenanntem Parteitag wurde schließlich der endgültige Ausschluss beschlossen, obwohl er schon seit Oktober 1919 faktisch wirksam war.

 

Die Bourgeoisie trieb den Zerfall der Partei voran

Auf einer Reichskonferenz der Opposition am 14. März 1920 erklärte die Bremer Informationsstelle unter dem Eindruck des gerade begonnenen Kapp-Putsches, sie könne die Gründung einer neuen kommunistischen Partei nicht verantworten, und löste sich auf. Ende März, nach dem III. Parteitag, kehrten die Bremer wieder in die KPD zurück.

Die Delegierten aus Hamburg, Laufenberg und Wolffheim, kündigten dagegen unmittelbar nach ihrem Ausschluss die Gründung einer neuen Partei an. Diese Vorgehensweise entsprach in keiner Weise der marxistischen Haltung in der Organisationsfrage. Ihre Reaktion nach dem Parteiausschluss legte ihr bewusst zerstörerisches Treiben gegenüber revolutionären Organisationen bloß. Von diesem Zeitpunkt an entwickelten sie offen und hemmungslos ihre „nationalbolschewistischen“ Positionen. Schon während des Krieges hatten sie Propaganda für den „revolutionären Volkskrieg“ betrieben. Im Gegensatz zu den Spartakisten hatten sie keine internationalistische Position bezogen, sondern zur Unterwerfung der Arbeiterklasse unter das Kommando der Reichswehr aufgerufen, um die „britisch-amerikanische Vorherrschaft zu beenden“. Sie hatten die Spartakisten gar beschuldigt, zum Zerfall der Reichswehr beigetragen und ihr so „einen Dolchstoß versetzt“ zu haben. So lauteten bekanntermaßen auch die Anschuldigungen der Rechtsextremen nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages. Während sie sich bei ihren Angriffen gegen die Gewerkschaften 1919 noch radikal gebärdet hatten, enthüllten Laufenberg und Wolffheim nun, nach ihrem Ausschluss aus der KPD, ihre „national-bolschewistische“ Haltung. Gegenüber den Hamburger Arbeitern stieß ihre Politik auf kein großes Echo. Doch diese beiden Individuen gingen geschickt vor und veröffentlichten ihren Standpunkt in Gestalt einer Beilage zur Kommunistischen Arbeiterzeitung –  ohne Zustimmung der Partei. Je isolierter sie in der KPD wurden, desto offener richteten sie antisemitische Angriffe gegen den KPD-Führer Levi, den sie als „Juden“ und „englischen Agenten“ bezeichneten. Wie sich später herausstellte, war Wolffheim der Sekretär des Reichswehr-Offiziers Lettow-Vorbeck und Agent provocateur der Polizei. Er hatte also nicht aus eigener Initiative gehandelt. Sein Treiben, das bewusst die Zerstörung der Partei in Kauf nahm, wurde systematisch von obskuren, im Hintergrund bleibenden Kreisen unterstützt.

Das Drama der Opposition bestand darin, sich nicht rechtzeitig und ausreichend von diesen Elementen abgegrenzt zu haben. Die Folge war, dass immer mehr Genossen, abgestoßen von den Aktivitäten Laufenbergs und Wolffheims, nicht mehr auf den Parteitreffen erschienen und sich zurückzogen (s. Protokoll des KPD-Parteitages, S. 23).

Nach der Serie von Niederlagen im Jahre 1919, die die deutsche Arbeiterklasse geschwächt hatte, begann das Kapital im Frühjahr 1920 eine neue Offensive.

Am 13. März schlugen die Truppen von Kapp und Lüttwitz los. Der Kapp-Putsch war ein eindeutiger Angriff gegen die Arbeiterklasse, auch wenn vordergründig die SPD-geführte Regierung „gestürzt“ werden sollte. Vor die Alternative gestellt, sich entweder gegen die Angriffe des Militärs zur Wehr zu setzen oder einer blutigen Repression ausgesetzt zu werden, regte sich in nahezu allen Städten Widerstand gegen das Militär. Die Arbeiterklasse hatte keine andere Wahl, als sich zu verteidigen. Die Widerstandsbewegung ging im Ruhrgebiet am weitesten, wo eine „Rote Armee“ ausgehoben wurde.

Die KPD-Zentrale in Berlin reagierte desorientiert gegenüber dem Vorgehen des Militärs. Nach anfänglicher Unterschätzung der Verteidigungsbereitschaft der Arbeiter ließ sich die KPD anschließend in die Irre führen, als das Kapital eine SPD/USPD-Regierung propagierte, um die „Demokratie zu schützen“. Die KPD betrachtete die sozialdemokratische Regierung als das „kleinere Übel“ und bot ihr eine „loyale Opposition“ an.

Die aufflammenden Abwehrkämpfe der Arbeiter und die Reaktion der KPD veranlassten den Rest der aus der KPD ausgeschlossenen Militanten dazu, eine neue Partei zu gründen.

 

                                                          Dv.



[1] „Also vor allem, was die Frage der Nichtbeteiligung an den Wahlen betrifft: Du überschätzt enorm die Tragweite dieses Beschlusses (...) Unsere ‚Niederlage‘ (sie meint die Abstimmungsniederlage der späteren Zentrale in dieser Frage, die Red.) war nur der Triumph eines etwas kindischen, unausgegorenen, gradlinigen Radikalismus (...) Vergiss nicht, dass die ‚Spartakisten‘ zu einem großen Teil eine frische Generation sind, frei von den verblödenden Traditionen der ‚alten bewährten‘ Partei – und das muss mit Licht- und Schattenseiten genommen werden. Wir haben allen einstimmig beschlossen, den Casus nicht zur Kabinettsfrage zu machen und nicht tragisch zu nehmen.“ (Rosa Luxemburg in einem Brief an Clara Zetkin, 11. Januar 1919)

Theorie und Praxis: 

  • Deutsche Revolution [68]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Gründung der KAPD [147]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1919 - Deutsche Revolution [88]

Mai 1968

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Das Proletariat kehrt auf die Bühne der Geschichte zurück

Vor dreißig Jahren waren nahezu 10 Millionen Arbeiter in Frankreich einen Monat lang an einer großen Streikbewegung beteiligt. Für junge Genossen, die sich heute revolutionären Positionen annähern, ist es sehr schwer zu wissen, was während des weit zurückliegenden Mai 1968 passiert war. Und dies ist nicht ihr Fehler. Die Bourgeoisie hat stets die tiefe Bedeutung dieser Ereignisse entstellt, und die bürgerliche Geschichte (ob rechte oder linke spielt keine Rolle) hat sie immer als eine "Studentenrevolte" dargestellt, während sie in Wahrheit die wichtigste Phase in einer Klassenbewegung waren, die sich auf Italien, die Vereinigten Staaten und die industrialisierten Länder ausbreitete. Es überrascht nicht, daß die herrschende Klasse die vergangenen Kämpfe des Proletariats zu verbergen versucht. Und wenn ihr dies nicht gelingt, dann verzerrt sie sie, stellt sie als alles mögliche dar, aber nicht als Zeichen der historischen und unlösbaren Antagonismen zwischen der hauptsächlich ausgebeuteten Klasse und der für diese Ausbeutung verantwortlichen herrschenden Klasse. Heute setzt die Bourgeoisie ihre Arbeit der Mystifizierung der Geschichte fort, indem sie versucht, die Oktoberrevolution als einen Staatsstreich durch blutrünstige, machthungrige Bolschewiki darzustellen, als das Gegenteil der Realität: der größte Versuch der Arbeiterklasse in der Geschichte, "den Himmel zu stürmen", die politische Macht zu erringen, um mit der Umwandlung der Gesellschaft in eine kommunistische zu beginnen, mit anderen Worten: die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abzuschaffen. Die Bourgeoisie versucht, die Gefahr des historischen Gedächtnisses als eine Waffe der Arbeiterklasse auszutreiben.  Und gerade weil die Kenntnis ihrer eigenen Vergangenheit für die Arbeiterklasse lebenswichtig ist, um die Kämpfe von heute und morgen vorzubereiten, liegt es an den Revolutionären, der politischen Avantgarde der Klasse, die vergangene Erfahrung in die Erinnerung zurückzurufen.

Die Ereignisse des Mai 68

Am 3. Mai vor dreißig Jahren wurde ein Treffen einiger hundert Studenten im Hof der Sorbonne in Paris abgehalten, wozu die UNEF (eine Studentengewerkschaft) und die "Bewegung 22. März" (einige Wochen zuvor an der Fakultät von Nanterre in den Pariser Vorstädten gegründet) aufgerufen hatten. Es gab nichts besonders Erregendes in den theoretisierenden Reden der linken "Führer". Aber es gab ein hartnäckiges Gerücht: "Der 'Occident' wird angreifen". Diese weitestgehend rechte Bewegung gab der Polizei den Vorwand, um einzugreifen und die Demonstranten zu "trennen". Ziel war es vor allem, die studentische Agitation zu zerschmettern, die seit einigen Wochen in Nanterre vernehmbar war. Diese Agitation war der simple Ausdruck studentischer Frustration, angetrieben von solch unterschiedlichen Motiven wie dem Streitpunkt der akademischen Mandarine oder der Forderung nach größerer individueller und sexueller Freiheit im täglichen Leben der Universitäten.

Und dennoch "passierte das Unmögliche": Die Agitation wurde einige Tage lang im Quartier Latin fortgesetzt. Sie erklomm jeden Abend eine neue Stufe: Jede Demonstration, jedes Treffen zog ein paar Leute mehr an als tags zuvor: zehn-, dann dreißig-, dann fünfzigtausend Leute. Die Auseinandersetzungen mit der Polizei wurden gewalttätiger. Auf der Straße schlossen sich junge Arbeiter dem Kampf an. Trotz der offenen Feindschaft der KPF (Kommunistische Partei Frankreichs), die die "enragés" (wörtlich: die "Wütenden") und den "deutschen Anarchisten" Daniel Cohn-Bendit verleumdeten, wurde die CGT (die stalinistisch kontrollierte Gewerkschaft) gezwungen, die Streiks, die ohne offizielle Ankündigung ausbrachen und sich rapide ausbreiteten, "anzuerkennen", um den Verlust der Kontrolle über die Situation zu vermeiden: Zehn Millionen Streikende schreckten die 5. Republik in ihrer Erstarrung auf und markierten das Wiedererwachen des Weltproletariats.

Der Streik begann am 14. Mai in Sud-Aviation und breitete sich spontan aus. Es war von Beginn an eine radikale Abkehr von den "Aktionen", die bis dahin von den Gewerkschaften organisiert wurden. In den lebenswichtigen Bereichen des Maschinenbaus und Transports war der Streik nahezu allumfassend. Die Gewerkschaften wurden von einer Bewegung überrumpelt, die sich selbst von ihrer traditionellen Politik absetzte. Die Bewegung ging über die Kontrolle der Gewerkschaften hinaus, zeichnete sich von Anbeginn durch einen ausgedehnten und oft ungenauen Charakter aus und wurde häufig von einer großen, wenn auch "unbewußten" Unruhe angeregt.

Die Arbeitslosen, von der Bourgeoisie zu "Deklassierten" abgestempelt, spielten eine wichtige Rolle in den Konfrontationen. In der Tat waren diese "deklassierten", "verführten" Individuen durch und durch Proletarier. Das Proletariat besteht nicht nur aus Arbeitern und jenen, die schon mal einen Job hatten, sondern auch aus jenen, die noch nicht in der Lage waren zu arbeiten und bereits arbeitslos sind. Sie sind reine Produkte der dekadenten Epoche des Kapitalismus. In der Jugendarbeitslosigkeit können wir eine der historischen Grenzen des Kapitalismus beobachten, der wegen der allgemeinen Überproduktion unfähig geworden ist, neue Generationen in den Produktionsprozeß zu integrieren. Die Gewerkschaften unternahmen jedoch alles in ihrer Macht Stehende, um die Kontrolle über diese Bewegung wiederzuerlangen, die ohne sie und bis zu einem gewissen Umfang auch gegen sie begonnen hatte.

Am Freitag, den 17. Mai verteilte die CGT ein Flugblatt, das ganz deutlich die Grenzen aufzeigte, die sie der Aktion aufzuzwingen beabsichtigte: auf der einen Seite traditionelle Forderungen, gekoppelt mit Übereinkünften wie jenen von Matignon im Juni 1936, das die Rechte der Gewerkschaftssektionen in Firmen garantierte; auf der anderen Seite riefen sie zu einem Regierungswechsel auf, mit anderen Worten: zu Neuwahlen. Obwohl sie gegenüber den Gewerkschaften mißtrauisch waren, bevor der Streik über die Spitzen der Gewerkschaften hinweg begann und durch ihre eigene Initiative ausgeweitet wurde, benahmen sich die Arbeiter während des Streiks so, als sei es normal, daß die Gewerkschaften ihn zu Ende bringen.

Nachdem sie gezwungen wurden, der Bewegung zu folgen, um nicht die Kontrolle zu verlieren, zogen die Gewerkschaften letztendlich mit Hilfe der KPF zwei Trümpfe aus dem Ärmel: einerseits indem sie Verhandlungen mit der Regierung führten, während sie andererseits die Arbeiter dazu aufriefen, ruhig zu bleiben, damit das friedliche Abhalten von Neuwahlen, die von der KPF und den Sozialisten gefordert wurden, nicht gestört werde. Gleichzeitig setzten sie diskret Gerüchte über die Möglichkeit eines Staatsstreiches und über Truppenbewegungen rings um die Hauptstadt in Umlauf. In Wahrheit hatte die Bourgeoisie, wenn auch überrascht und alarmiert über die Radikalität der Bewegung, keinesfalls die Absicht, zu militärischer Repression zu greifen. Sie wußte sehr gut, daß dies die Bewegung erneut auslösen und die gewerkschaftlichen "Versöhnler" aus dem Spiel zwingen könnte, und daß ein Blutbad später weitaus teurer werden würde. Es war nicht so sehr die CRS (Compagnie Républicaine de Sécurité, Anti-Aufruhr-Polizei), die die Demonstrationen attackierte und Demonstranten zerstreute, sondern die weit besser ausgebildeten und gefährlicheren Gewerkschaftsbullen, die ihr schmutziges Werk, die Spaltung der Arbeiter, innerhalb der Fabriken verrichteten.

Ihre erste Polizeioperation führten die Gewerkschaften aus, als sie zu Fabrikbesetzungen ermunterten, womit es ihnen gelang, die Arbeiter auf ihren Arbeitsplätzen abzuschotten und sie daran zu hindern, sich zu treffen, miteinander zu diskutieren und sich auf der Straße zu begegnen.

Am Morgen des 27. Mai erschienen die Gewerkschaften vor den Arbeitern mit einem Kompromiß, der gemeinsam mit der Regierung unterschrieben war (die Übereinkünfte von Grenelle). Bei Renault, dem größten Konzern des Landes und „Stimmungsbarometer" in der Arbeiterklasse, wurde der CGT-Generalsekretär von den Arbeitern niedergebrüllt, als sie erkannten, daß ihr Kampf verraten werden sollte. Andernorts nahmen die Arbeiter dieselbe Haltung ein. Die Zahl der Streikenden stieg weiter an. Viele Arbeiter zerrissen ihre Gewerkschaftsausweise. Dies passierte, als die Gewerkschaften und die Regierung arbeitsteilig vorgingen, um die Bewegung zu brechen. Die CGT, die umgehend nichts mehr mit der Übereinkunft von Grenelle zu tun haben wollte – die sie selbst unterzeichnet hatte –, erklärte, daß "von Branche zu Branche Verhandlungen aufgenommen werden sollten, um (das Abkommen) zu verbessern". Die Regierung und die Bosse spielten mit, machten große Zugeständnisse in einigen Industrien, was es ermöglichte, sich wieder zur Arbeit zu begeben. Zur gleichen Zeit, am 30. Mai, gab de Gaulle den Forderungen der linken Parteien statt: Er löste das Parlament auf und rief Neuwahlen aus. Am selben Tag marschierten Hunderttausende seiner Anhänger über die Champs Elysées. Es war ein buntes Mischmasch all jener mit einem blinden Haß gegen die Arbeiterklasse und die "Kommunisten": die Bewohner wohlhabender Bezirke, Kriegsveteranen, Nonnen und Concierges, Ladenbesitzer und Spitzel. Diese feine Gesellschaft marschierte de Gaulles Ministern hinterher, angeführt von André Malraux (dem antifaschistischen Schreiber, wohlbekannt seit seiner Teilnahme am Krieg in Spanien 1936).

Die Gewerkschaften teilten die Arbeit untereinander auf: Die sich in der Minderheit befindende CFDT nahm ein 'radikales' Aussehen an, um die Kontrolle über die kämpferischsten Arbeiter zu behalten. Die CGT enthüllte sich selbst als Streikbrecher. Auf Massenversammlungen schlug sie vor, den Streik zu beenden, mit der Begründung, daß die Arbeiter in den benachbarten Fabriken bereits zur Arbeit zurückgekehrt seien: Dies war eine Lüge. Vor allen Dingen rief sie zusammen mit der KPF zu einem "ruhigen" und "besonnenen Verhalten" auf (indem sie sogar das Schreckgespenst des Bürgerkrieges und der Repression durch die Armee bemühte), um die am 23. und 30. Juni abgehaltenen Wahlen nicht zu stören. Als die Wahlen dann kamen, war das Ergebnis ein Erdrutschsieg der Rechten, was nur den Abscheu der kämpferischsten Arbeiter vergrößerte, die ihren Streik bis dahin noch durchgehalten hatten.

Trotz aller Einschränkungen half der enorme Elan des Generalstreiks bei der weltweiten Wiederentdeckung des Klassenkampfes. Mit ihrem Erscheinen nach einer ununterbrochenen Reihe von Rückschlägen, die den revolutionären Ereignissen von 1917-23 gefolgt waren, waren die Ereignisse vom Mai 68 ein entscheidender Wendepunkt nicht nur in Frankreich, sondern auch im restlichen Europa und auf der ganzen Welt. Die Streiks erschütterten nicht nur die Staatsmacht, sondern auch ihren wirksamsten und am schwersten zu überwindenden Schutzwall: die Linke und die Gewerkschaften.

Eine "Studenten"bewegung ?

Nachdem sie sich erst einmal von ihrer Überraschung  und anfänglichen Panik erholt hatte, bemühte sich die Bourgeoisie, Erklärungen für diese Ereignisse zu finden, die ihren Frieden gestört hatten. Es ist daher wenig überraschend, daß die Linke die studentische Agitation dazu benutzte, um das eigentliche Gespenst, das sich vor den Augen einer sich fürchtenden Bourgeoisie erhob – das Proletariat –, auszutreiben, und daß sie die sozialen Ereignisse auf eine bloße ideologische Auseinandersetzung zwischen den Generationen beschränkte. Der Mai 68 wurde dargestellt als das Resultat jugendlicher Langeweile angesichts von Anpassungsschwierigkeiten in der modernen Welt. Es ist offensichtlich, daß der Mai 68 von einem endgültigen Zerfall der Werte der herrschenden Ideologie gekennzeichnet war, aber diese "kulturelle" Revolte war nicht die eigentliche Ursache des Konflikts. In seinem Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie zeigte Marx auf, daß sich "mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher umwälzt. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten."

All die Ausdrücke der ideologischen Krise haben ihre Wurzel in der ökonomischen Krise, nicht anders herum. Der Zustand dieser Krise bestimmt den Lauf der Dinge. Die Studentenbewegung war also tatsächlich ein Ausdruck des allgemeinen Zerfalls der bürgerlichen Ideologie. Sie war ein Anzeichen, das eine weit fundamentalere soziale Bewegung ankündigte. Aber wegen des eigentlichen Platzes der Universität im Produktionssystem kam es nur in Ausnahmefällen zu Verbindungen mit dem Klassenkampf.

Der Mai 68 war nicht eine Bewegung von Studenten und jungen Leuten, er war vor allem eine Bewegung der Arbeiterklasse, die nach Jahrzehnten der Konterrevolution ihr Haupt erhob. Die Radikalisierung der Studentenbewegung war exakt das Ergebnis der Präsenz der Arbeiterklasse.

Studenten sind keine Klasse und noch weniger eine revolutionäre soziale Schicht. Im Gegenteil, sie sind die spezifischen Vehikel der schlimmsten Art bürgerlicher Ideologie. Wenn 1968 Tausende von jungen Leuten von revolutionären Ideen beeinflußt waren, so genau deshalb, weil die einzige revolutionäre Klasse unserer Epoche, die Arbeiterklasse, auf den Straßen war.

Dieses Wiederaufleben machte all den Theorien über die "Verbürgerlichung" der Arbeiterklasse, ihrer "Integration" in das kapitalistische System den Garaus. Wie sonst wäre zu erklären, daß all die Theorien, die im Universitätsmilieu, wo sie von solchen Leuten wie Marcuse und Adorno erarbeitet worden waren, so vorherrschend waren, wie Schneeflocken in der Sonne dahinschmolzen und sich die Studenten der Arbeiterklasse zuwandten wie Motten dem Licht? Und wie sonst kann man erklären, daß die Studenten in den folgenden Jahren aufhörten, sich selbst Revolutionäre zu nennen, obwohl sie immer noch von derselben Agitation angetrieben waren?

Nein, der Mai 68 war nicht eine Revolte der Jugend gegen die "Unzulänglichkeiten der modernen Welt", er war nicht eine rein geistige Revolte; er war das erste Anzeichen sozialer Erschütterungen, deren Wurzeln viel weiter reichten als bis in den Überbau, nämlich bis in die Krise der kapitalistischen Produktionsweise. Der Mai 68 war in keiner Weise der Triumph der Theorien von Marcuse, sondern ihr Todesurteil, das sie zurück in die Welt der Hirngespinste schickte, wo sie herkamen.

Nein, der Beginn des historischen Wiederauflebens des Klassenkampfes

Der Generalstreik von 10 Millionen Arbeiter in einem Land im Herzen des Kapitalismus bedeutete das Ende der Periode einer Konterrevolution, die in den 20er Jahren mit der Niederlage der revolutionären Welle eröffnet und durch die gleichzeitige Aktion von Stalinismus und Faschismus fortgesetzt sowie vertieft wurde. Erst kurz zuvor, in der Mitte der 60er Jahre, wurde das Ende der dem Zweiten Weltkrieg folgenden Wiederaufbauperiode und der Beginn einer neuen offenen Krise des kapitalistischen Systems eingeläutet.

Die ersten Schläge dieser Krise traf eine Generation von Arbeitern, die nicht die Demoralisierung durch die Niederlagen in den 20er Jahren kannten und während des "Wirtschaftsbooms" aufgewachsen waren. Zu jenem Zeitpunkt berührte die Krise sie nur leicht, aber die Arbeiterklasse begann zu fühlen, daß sich etwas geändert hatte:

"Ein Gefühl der Unsicherheit über die Zukunft entwickelt sich unter den Arbeitern und vor allem unter den jüngeren. Dieses Gefühl ist umso stärker, als es unter den Arbeitern in Frankreich seit dem Krieg unbekannt war.... Immer mehr fühlten die Massen, daß all der schöne Wohlstand eines Tages zu Ende sein wird. Verhaltensweisen der Gleichgültigkeit und des 'Das-ist-mir-völlig-Wurst' unter den Arbeitern, so charakteristisch und so sehr beschrieen in den Jahrzehnten davor, haben einer wachsenden Unruhe Platz gemacht.... Es mußte eingeräumt werden, daß eine Explosion dieser Art auf einer langen Anhäufung von Unzufriedenheit unter den Massen gegenüber ihrer wirtschaftlichen Situation basiert, selbst wenn ein oberflächlicher Beobachter nichts bemerkt haben mag." (Révolution Internationale, Nr.2, alte Serie, 1969)

Und in der Tat wird ein oberflächlicher Beobachter nichts von dem begreifen, was in den Tiefen der kapitalistischen Welt passiert. Es ist kein Zufall, daß eine radikale Gruppe ohne solide marxistische Grundlage wie die Situationistische Internationale über die Ereignisse des Mai 68 schreibt: "Man kann keinerlei Tendenz zu einer Wirtschaftskrise erkennen.... der revolutionäre Ausbruch kam nicht aus einer Wirtschaftskrise heraus.... was im Mai frontal angegriffen wurde, war eine gut funktionierende kapitalistische Wirtschaft." (Enragés et Situationistes dans le mouvement des occupations, Situationistische Internationale, 1969)

Die Realität sah ganz anders aus, und die Arbeiter fühlten es am eigenen Leib.

Nach 1945 ermöglichte es die US-Hilfe, die Produktion in Europa wieder zum Laufen zu bringen, das einen Teil seiner Schulden zurückzahlte, indem es seine Unternehmen an amerikanische Gesellschaften abtrat. Doch nach 1955 beendeten die USA ihre "großzügige" Hilfe. Die Handelsbilanz der USA war positiv, während die der meisten anderen Ländern negativ war. Weiterhin wurde amerikanisches Kapital schneller in Europa als im Rest der Welt investiert, was die Zahlungsbilanz in diesen Ländern ins Gleichgewicht, jene der USA jedoch schnell aus dem Gleichgewicht bringen sollte. Diese Situation führte zu wachsenden Schulden des amerikanischen Schatzamtes, da die in Europa oder im Rest der Welt investierten Dollars für jenes Schulden gegenüber den Inhabern dieses Geldes bildeten. Seit den 60er Jahren überstieg diese Auslandsschuld die Goldreserven des US-Schatzamtes, aber diese Unfähigkeit, den Dollar zu decken, versetzte die USA nicht in Schwierigkeiten, solange die anderen Länder bei den USA verschuldet waren. Die USA konnte somit fortfahren, sich Kapital vom Rest der Welt anzueignen, indem es dafür mit Papier zahlte. Diese Situation kehrte sich erst mit dem Ende des Wiederaufbaus in den europäischen Ländern um. Die europäischen Ökonomien waren jetzt in der Lage, eigene Produkte in Konkurrenz zu den US-Produkten auf dem Weltmarkt abzusetzen: Gegen Mitte der 60er Jahre wurde die Handelsbilanz der meisten von den USA unterstützten Länder positiv, während nach 1964 jene der USA sich immer weiter verschlechterte. Dies kennzeichnete die Vervollständigung des Wiederaufbaus der europäischen Länder. Der Produktionsapparat stand jetzt einem gesättigten Markt gegenüber, was die nationalen Bourgeoisien dazu zwang, die Ausbeutung ihres Proletariats zu intensivieren, um für die Verschärfung der internationalen Konkurrenz gewappnet zu sein.

Auch Frankreich entkam dieser Lage nicht, und 1967 mußte es unvermeidliche Maßnahmen der Umstrukturierung ergreifen: Rationalisierung und erhöhte Produktivität führten zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit. So überschritt Anfang 1968 die Zahl der Arbeitslosen die 500.000. In vielen Fabriken trat zeitweilig Beschäftigungslosigkeit auf, was zu Reaktionen der Arbeiter führte. Eine Reihe von Streiks brach aus, die zwar von den Gewerkschaften begrenzt und noch immer kontrolliert wurden, aber ein gewisses Unbehagen ausdrückten. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit wurde von dieser Arbeitergeneration schlecht aufgenommen, die von der Bevölkerungsexplosion, welche dem Zweiten Weltkrieg folgte, stammte und an Vollbeschäftigung gewohnt war.

Allgemein trachteten die Bosse danach, den Lebensstandard der Arbeiter zu verringern. Die Bourgeoisie und ihre Regierung richteten in wachsendem Maße ihre Angriffe gegen die Arbeits- und Lebensbedingungen. In allen Industrieländern gab es eine spürbare Zunahme der Arbeitslosigkeit, die wirtschaftlichen Perspektiven wurden immer düsterer, der internationale Wettbewerb immer schärfer. Ende 1967 unternahm Großbritannien seine erste Abwertung des Pfundes, um seine Produkte wettbewerbsfähiger zu machen. Aber die Wirkung dieser Maßnahme wurde durch die Abwertungen, die daraufhin in allen anderen Staaten stattfanden, annulliert. Die Austeritätspolitik der damaligen Labour-Regierung war besonders streng: massive Kürzungen der öffentlichen Gelder, der Rückzug britischer Truppen aus Asien, die ersten protektionistischen Maßnahmen.

Die USA, Hauptopfer der europäischen Offensive, konnten nur hart reagieren, und von Anfang Januar 1968 an kündigte Präsident Johnson ein Reihe von Wirtschaftsmaßnahmen an, während im März 1968 der Dollar als Antwort auf die Abwertungen der Konkurrenzwährungen ebenfalls fiel.

Dies waren die wesentlichen Punkte der wirtschaftlichen  Lage vor dem Mai 1968.

Eine Bewegung für unmittelbare Forderungen, aber nicht nur dafür

In dieser Situation fanden die Ereignisse vom Mai 68 statt: eine sich verschlechternde ökonomische Situation, die eine Reaktion der Arbeiterklasse hervorrief.

Sicherlich trugen auch andere Faktoren zur Radikalisierung der Situation bei: die polizeiliche Repression gegen die Studenten und die Arbeiterdemonstrationen, der Vietnam-Krieg. Gleichzeitig gerieten alle kapitalistischen Nachkriegsmythen in die Krise: der Mythos der Demokratie, des wirtschaftlichen Wohlstandes, des Friedens. Diese Situation schuf eine soziale Krise, auf die die Arbeiterklasse ihre erste Antwort gab.

Es war eine Antwort auf wirtschaftlicher Ebene, aber nicht nur auf dieser Ebene. Die anderen Elemente der sozialen Krise, die Unglaubwürdigkeit, die die Gewerkschaften und die traditionellen linken Kräfte erlitten, führte Tausende von jungen Leuten dazu, grundsätzlichere Fragen zu stellen, um nach Antworten über die hinter ihrer Unzufriedenheit und Desillusionierung stehenden Ursachen zu suchen.

So kam eine neue Generation von Militanten auf, die sich revolutionären Positionen annäherten. Sie begannen, Marx, Lenin wieder zu lesen, die Arbeiterbewegung der Vergangenheit zu studieren. Die Arbeiterklasse entdeckte nicht nur die Dimension ihres Kampfes als ausgebeutete Klasse wieder, sondern begann auch, ihre revolutionäre Natur zu enthüllen.

Diese neuen Militanten wurden zumeist von den falschen Perspektiven der verschiedenen linksextremen Gruppen aus der Bahn geworfen und waren schnell verloren. Während die Gewerkschaften die Waffe waren, die es der Bourgeoisie erlaubte, die Massenbewegung der Arbeiter zu blockieren, war der Linksextremismus die Waffe, die die Mehrheit der im Kampf geformten Militanten brach.

Viele andere schafften es jedoch, authentische revolutionäre Organisationen zu finden, Organisationen, die die historische Kontinuität mit der vergangenen Arbeiterbewegung repräsentierten – die Gruppen der Linkskommunisten. Während aber keine der letztgenannten in der Lage war, die Bedeutung der Ereignisse vollständig zu begreifen, und sie lediglich Zaungäste blieben, womit sie das Feld den Linksextremisten überließen, waren andere kleine Zirkel imstande, diese neuen revolutionären Energien zusammenzufassen, indem sie neue revolutionäre Organisationen bildeten und neue Bemühungen um die Regruppierung der Revolutionäre, die Basis für eine künftige revolutionäre Partei, anstellten.

Ein langes und qualvolles Wiedererwachen

Die Ereignisse vom Mai 68 stellen den Beginn des historischen Wiedererwachens des Klassenkampfes dar, den Bruch mit der Periode der Konterrevolution und die Eröffnung eines neuen historischen Kurses zur entscheidenden Konfrontation zwischen den antagonistischen Klassen unserer Zeit: dem Proletariat und der Bourgeoisie.

Es war ein überraschender Beginn, der die Bourgeoisie im diesem Augenblick unvorbereitet erwischte; aber die herrschende Klasse erholte sich schnell und war ihrerseits in der Lage, die Unerfahrenheit dieser Arbeitergeneration auszunützen, die auf die Hauptbühne der Geschichte zurückgekehrt war.

Dieser historische Kurs wurde von den internationalen Ereignissen bestätigt, die dem Mai 68 folgten.

1969 brach in Italien die große Streikbewegung aus, die bekannt wurde als "Heißer Herbst", eine Zeit voller Kämpfe, die sich mehrere Jahre lang fortsetzen sollten und in deren Verlauf die Arbeiter dazu neigten, die Gewerkschaften zu demaskieren und ihre eigenen Organe für die Führung des Kampfes aufzubauen. Es war eine Welle von Kämpfen, deren Hauptschwäche darin bestand, sich in der Illusion, ein "harter" Kampf in den Fabriken sei genug, um die Bosse zum Rückzug zu zwingen, in den einzelnen Betrieben zu isolieren. Diese Begrenzungen sollten die Gewerkschaften in die Lage versetzen, ihren Platz in den Betrieben wiederzuerlangen, indem sie sich in ihrem neuen Gewand der "Basisorgane" repräsentierten und alle linksextremistischen Elemente miteinbezogen, die in der aufsteigenden Phase der Bewegung den Revolutionär gemimt und nun einen Job als gewerkschaftliches Zugpferd gefunden hatten.

Die 70er Jahre sahen andere Streikbewegungen überall in den industrialisierten Ländern: in Italien (die Arbeitslosen, die Krankenhausbeschäftigten), in Frankreich (LIP, Renault, die Stahlarbeiter von Longwy und Denain), in Spanien und Portugal und anderswo. Die Arbeiter sträubten sich in wachsendem Maße gegen die Gewerkschaften, die trotz der Verkleidung durch ihren neuen "Basisnähe" immer noch wie die Vertreter der kapitalistischen Interessen und Saboteure der Arbeiterkämpfe aussahen.

In Polen zog die Arbeiterklasse 1980 Nutzen aus der blutigen Erfahrung, die sie in den früheren Konfrontationen von 1970 und 1976 gemacht hatte, indem sie einen Massenstreik organisierte, der das ganze Land lahmlegte. Diese bewundernswerte Bewegung der Arbeiter in Polen, die der gesamten Welt die Stärke des Proletariats zeigte, seine Fähigkeit, die Kontrolle über seine Kämpfe zu übernehmen, sich selbst in Massenversammlungen und Streikkomitees (den MKS) zu organisieren, um den Kampf auf ein ganzes Land auszudehnen, war eine Ermutigung für die Arbeiter überall. Es war an der Gewerkschaft Solidarnosc, die von der Bourgeoisie (mit Unterstützung der westlichen Gewerkschaften) mit dem Ziel geschaffen wurde, die Bewegung zu umfassen, zu kontrollieren und zum Entgleisen zu bringen, womit letztendlich die Arbeiter der Repression der Jaruzelski-Regierung ausgeliefert wurden. Diese Niederlage führte zu einer tiefen Verwirrung im Weltproletariat. Es dauerte mehr als zwei Jahre, um diese Niederlage zu verdauen.

Während der 80er Jahre begannen jedoch die Arbeiter, ihre Lektion aus all den Erfahrungen mit der Gewerkschaftssabotage des vergangenen Jahrzehnts zu ziehen. Neue Kämpfe brachen in den Hauptländern aus, und die Arbeiter begannen, die Leitung ihrer Kämpfe zu übernehmen, indem sie ihre eigenen Kampforgane schufen. Die Eisenbahnarbeiter Frankreichs, die Schulbediensteten in Italien führten ihre Kämpfe auf der Basis von Organen, die von den Arbeitern durch allgemeine Streikversammlungen kontrolliert wurden.

Angesichts dieser Reife der Kämpfe war die Bourgeoisie gezwungen, ihre eigenen gewerkschaftlichen Waffen zu erneuern: In diesen Jahren wurde eine neue Form der "Basisgewerkschaften" entwickelt (die Koordinationen in Frankreich, die COBAS in Italien), verkappte Gewerkschaften, die die Formen der Organe, welche die Arbeiter für den Kampf geschaffen hatten, kopierten, um die Arbeiter zurück in den Käfig der Gewerkschaften zu drängen.

Wir haben das, was in den beiden Jahrzehnten nach dem französischen Mai folgte, nur gestreift. Wir denken aber, daß es ausreicht, um zu zeigen, daß letztgenannter keineswegs nur ein flüchtiger Vorfall war, etwas spezifisch Französisches, sondern tatsächlich der Beginn einer neuen historischen Phase, in der die Arbeiterklasse mit der Konterrevolution gebrochen hat und wieder auf der Bühne der Geschichte erschienen ist, um den langen Weg zur Konfrontation mit dem Kapital anzutreten.

Ein schwieriges historisches Wiedererwachen

Auch wenn es der Nachkriegsgeneration der Arbeiterklasse gelang, mit der Konterrevolution zu brechen, da sie die Demoralisierung der Niederlage in der 20er Jahren nicht kannte, so mangelte es ihr doch an Erfahrung, und so sollte sich dieses historische Wiedererwachen als lang und schwierig erweisen. Wir haben bereits gesehen, wie schwierig es ist, gegen die Gewerkschaften und ihre Rolle als Verteidiger des Kapitals Erfolge zu erzielen. Aber ein wichtiges und unvorhersehbares historisches Ereignis sollte dieses Wiedererwachen noch um einiges langwieriger und schwieriger machen – der Zusammenbruch des Ostblocks.

Als Ausdruck der durch die Wirtschaftskrise verursachten Erosion führte dieser Kollaps zu einem Rückfluß im Bewußtsein des Proletariats, ein Rückfluß, der von einer Bourgeoisie weidlich ausgenutzt wurde, die den Versuch unternahm, den Boden, den sie in den vorherigen Jahren verloren hatte, wieder gutzumachen.

Indem sie Stalinismus mit Kommunismus identifiziert, stellt die Bourgeoisie den Zusammenbruch des Stalinismus als den Tod des Kommunismus dar, womit sie der Arbeiterklasse eine simple aber wirkungsvolle Botschaft verkündet: "Der Arbeiterkampf hat keine Perspektive, weil es keine lebensfähige Alternative zum Kapitalismus gibt. Es ist ein System mit vielen Fehlern, aber es ist das einzig mögliche System."

Der durch diese Kampagne provozierte Rückfluß war viel tiefgreifender als jene, die in den früheren Streikwellen stattgefunden hatten. Diesmal ging es nicht um eine Bewegung, die schlecht ausgegangen war, um Gewerkschaftssabotage, die bei der Blockade einer Streikwelle erfolgreich war. Diesmal stand die Möglichkeit einer langfristigen Perspektive des Kampfes an sich auf dem Spiel.

Dennoch ist die Krise, die der Auslöser der historischen Wiederbelebung des Klassenkampfes gewesen war, immer noch da und bewirkt immer gewalttätigere Angriffe auf den Lebensstandard der Arbeiter. Aus diesem Grund wurde die Arbeiterklasse 1992 gezwungen, zum Kampf zurückzukehren, was mit der Streikbewegung gegen die Amato-Regierung in Italien geschah, der sich andere Kämpfe in Belgien, Deutschland, Frankreich etc. anschlossen. Es war eine Wiederbelebung der Kampfbereitschaft einer Klasse, die noch immer nicht den Rückfluß in ihrem Bewußtsein überwunden hat. Deshalb stieg diese Wiederbelebung bis jetzt nicht auf das Niveau an, das Ende der 80er erreicht worden war.

Seitdem stand die Bourgeoisie nicht mit verschränkten Armen herum. Sie gestattete es dem Proletariat nicht, mit seinen Kämpfen fortzufahren und durch sie Selbstvertrauen zu tanken. Mit noch mehr Kräften und Manövrierfähigkeiten ausgestattet, organisierte die Bourgeoisie im Herbst 1995 in Frankreich den Streik im öffentlichen Sektor: Mittels einer massiven internationalen Pressekampagne wurde dieser Streik dafür benutzt, um zu beweisen, daß die Gewerkschaften einen Kampf organisieren können und die Interessen des Proletariats verteidigen würden. Gleiche Manöver fanden in Belgien und Deutschland statt, was in eine Stärkung der Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften auf internationaler Ebene mündete und sie mit einem erneuerten Arsenal ausstattete, um den Kampfgeist der Arbeiter zu sabotieren.

Aber die Bourgeoisie manövrierte nicht nur auf diesem Terrain. Sie lancierte eine Reihe von Kampagnen, die darauf abzielten, die Arbeiter ins Lager der Verteidiger der Demokratie (und somit des bürgerlichen Staates) zu stecken: die "Mani-Pulite"-Kampagne in Italien, die Dutroux-Affäre in Belgien, der Anti-Rassismus in Frankreich – all diese Ereignisse erhielten große Publizität in den Medien, um die Arbeiter der gesamten Welt davon zu überzeugen, daß ihr Problem nicht die vulgäre Verteidigung ihrer ökonomischen Interessen sei, sondern daß sie ihren Gürtel für ihren jeweiligen nationalen Staat enger schnallen und sich der Verteidigung der Demokratie, der Gerechtigkeit und anderer Albernheiten anschließen sollen.

Doch während der beiden letzten Jahre hat die Bourgeoisie auch versucht, das historische Gedächtnis der Arbeiterklasse zu zerstören, indem sie die Geschichte der Arbeiterklasse und der auf sie bezogenen Organisationen diskreditierte. Selbst die Linkskommunisten waren Angriffen ausgesetzt, indem sie als Hauptinspirationsquelle des "Negationismus" dargestellt wurden.

Die Bourgeoisie hat gleichermaßen versucht, die wahre Bedeutung der Oktoberrevolution zu entstellen, die von ihr als bolschewistischer Staatsstreich präsentiert wurde, wobei sie danach trachtet, die Erinnerung an die große revolutionäre Welle in den 20er Jahren zu tilgen, in welcher die Arbeiterklasse trotz ihrer Niederlage bewiesen hatte, daß sie imstande ist, den Kapitalismus als Produktionsweise zu bekämpfen, und nicht nur, um sich gegen die Ausbeutung zur Wehr zu setzen. In zwei gewaltigen Büchern, deren Originale in Frankreich und Großbritannien verfaßt wurde, aber bereits in andere Sprachen übersetzt sind, fährt sie mit der Mystifizierung fort, daß Kommunismus gleich Stalinismus und tatsächlich für alle Verbrechen des Stalinismus verantwortlich sei.

Aber die Zukunft gehört noch immer dem Proletariat

Wenn die Bourgeoisie so sehr mit der Untergrabung des Kampfes der Arbeiterklasse, mit der Verzerrung ihrer Geschichte, mit der Diskreditierung der Organisationen, die die revolutionäre Perspektive des Proletariats verteidigen, beschäftigt ist, dann in dem Wissen, daß das Proletariat noch nicht besiegt ist, daß trotz all ihrer gegenwärtigen Schwierigkeiten der Weg zu massiven Konfrontationen, in welchen die Arbeiterklasse einmal mehr die Herrschaft der Bourgeoisie in Frage stellen wird, immer noch offen ist. Und die Bourgeoisie weiß auch, daß die Vertiefung der Krise und die Opfer, die den Arbeitern auferlegt werden, sie immer mehr dazu zwingen werden, sich auf einen Kampf einzulassen. In diesem Kampf werden die Arbeiter das Vertrauen in sich selbst wiederfinden, die wahre Natur der Gewerkschaften kennenlernen und ihre eigenständigen Organisationsformen finden.

Ein neuer Abschnitt hat begonnen, in welchem die Arbeiterklasse den Weg wiederentdecken wird, der vor 30 Jahren durch den großen Generalstreik im französischen Mai eröffnet worden war. Helio

Polemik: Die Wurzeln der IKS und des IBRP -Die Italienische Fraktion und die Französische Kommunistische Linke

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Die Polemik des IBRP schneidet dieselben Themen an wie der Artikel in Revolutionary Perspectives Nr. 5: die Ursachen der organisationsinternen Schwierigkeiten, mit denen die IKS in der letzten Zeit konfrontiert war. Die große Schwäche dieser zwei Artikel ist jedoch, daß sie in keiner Weise Bezug auf die Analyse nehmen, welche wir als IKS über diese Schwierigkeiten gemacht haben(1). In den Augen des IBRP können die Ursachen dieser Probleme einzig in unserem Programm oder in unserem Unverständnis gegenüber der aktuellen Weltlage liegen. Selbstverständlich können dies Quellen von Schwierigkeiten für eine revolutionäre Organisation sein. Doch die gesamte Geschichte der Arbeiterbewegung zeigt uns, daß Fragen der Struktur und der Funktionsweise einer Organisation von besonderer politischer Bedeutung sind und daß Schwächen in diesen Bereichen noch viel stärker als in anderen programmatischen oder analytischen Punkten schwerwiegendste Konsequenzen - ja oft dramatische Auswirkungen - auf das Leben revolutionärer Gruppen haben. Müssen wir die Genossen des IBRP, welche für sich in Anspruch nehmen, die Positionen Lenins aufrechtzuerhalten, an das Beispiel des

2. Kongresses der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands 1903 erinnern, wo es eben gerade die Frage der Organisation war (und nicht programmatischer Punkte oder der Analyse der damaligen Situation), welche die Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki herbeiführte? Genauer betrachtet nämlich hat die gegenwärtige Unfähigkeit des IBRP, eine Analyse des historischen Kurses herauszuarbeiten, seine Wurzeln zu einem großen Teil in politischen Irrtümern bezüglich der Organisationsfrage und im Speziellen in der Frage des Verhältnisses zwischen Fraktion und Partei. Und tatsächlich, genau dies taucht im letzten Artikel von Internationalist Communist wieder auf! Damit uns die Genossen des IBRP nicht vorwerfen können, ihre Positionen verdreht zu haben, werden wir im Folgenden einen längeren Abschnitt aus ihrem Artikel zitieren:

„Die IKS wurde 1975 gegründet, doch ihre Geschichte geht zurück auf die Französische Kommunistische Linke (GCF/Gauche Communiste de France), eine winzige Gruppe, die während des Zweiten Weltkrieges von derselben Person („Marc") gegründet wurde, die dann in den 70er Jahren die IKS gründen sollte. Die GCF stützte sich grundsätzlich auf das Verwerfen der Gründung der Internationalistischen Kommunistischen Partei in Italien durch die Vorfahren des IBRP in der Periode nach 1942.

Die GCF behauptete, daß die Internationalistische Kommunistische Partei keinen Fortschritt darstelle gegenüber der alten Fraktion der Kommunistischen Linken welche während der Diktatur von Mussolini nach Frankreich ins Exil gegangen war. Die GCF rief die Mitglieder der Fraktion auf, der neuen Partei, welche von Revolutionären wie Onorato Damen, der nach dem Zusammenbruch von Mussolinis Regime aus dem Gefängnis entlassen worden war, gegründet wurde, nicht beizutreten. Sie argumentierten, daß die Konterrevolution, welche seit den Niederlagen in den 20er Jahren auf den Arbeitern lastete, andauere und deshalb die Bildung einer revolutionären Partei in den 40er Jahren unmöglich sei. Nachdem der italienische Faschismus 1943 zusammengebrochen war und der italienische Staat ein Schlachtfeld im Kampf der zwei imperialistischen Fronten wurde, schloß sich die breite Mehrheit der exilierten Italienischen Fraktion der Internationalistischen Kommunistischen Partei (PCInt) an. Sie gingen davon aus, daß die Arbeiterunruhen mit dem sich abzeichnenden Ende des Krieges nicht nur auf Norditalien beschränkt bleiben würden. Die Opposition der GCF war damals noch gering, doch sollte es das erste Beispiel von Konsequenzen aufgrund abstrakter Begründungen sein, die eines der methodologischen Markenzeichen der heutigen IKS darstellen. Heute sagt die IKS, die Tatsache, daß aus dem Zweiten Weltkrieg keine Revolution entstanden sei, gebe der GCF Recht. Dies ignoriert jedoch die Tatsache, daß der PCInt das fortgeschrittenste Produkt ist, das die Arbeiterklasse seit der Russischen Revolution hervorgebracht hat und das trotz einem halben Jahrhundert kapitalistischer Herrschaft heute noch existiert und wächst.

Die GCF auf der anderen Seite trieb ihre „logischen" Abstraktionen noch weiter. Sie argumentierte, daß, seit die Konterrevolution vorherrsche, die proletarische Revolution nicht auf der Tagesordnung stünde. Und da dies der Fall sei, müsse auch ein neuer imperialistischer Krieg kommen! Resultat war das Weggehen ihrer Führung nach Südamerika und der Zusammenbruch der GCF während des Koreakrieges. Die IKS war immer ein wenig verlegen gegenüber Enthüllungen über die Fähigkeiten ihrer Ahnen, den „historischen Kurs" zu verstehen. Wie auch immer, ihre Antwort war immer etwas unverschämt. Anstatt zuzugeben, daß der PCInt mit beidem, seiner Perspektive und seinem Organisationskonzept recht lag, versuchte die ehemalige GCF, nachdem sie Mitte der 60er Jahre in ein bemerkenswert unversehrtes Europa zurückgekehrt war, den PCInt als „sklerotisch" und „opportunistisch" zu verunglimpfen und erzählten der Welt, sie seien „Bordigisten" (eine Anschuldigung, die sie nur aufgrund der Ignoranz der jungen Generation von Revolutionären aufrechterhalten, später dann jedoch zurückziehen mußte). Wie auch immer, auch nachdem sie zu diesem Rückzug gezwungen war, beendete die IKS ihre Politik der Verunglimpfung möglicher „Rivalen" (um ihre eigenen Worte zu gebrauchen) nicht und versuchte nun zu behaupten, daß der PCInt „in den Reihen der Partisanen gearbeitet habe" (mit anderen Worten die Unterstützung der bürgerlichen Kräfte bei der Etablierung eines demokratischen Staates in Italien). Dies war eine ekelhafte und feige Verleumdung. In Tat und Wahrheit waren Militante des PCInt, die versucht hatten, die stalinistische Kontrolle über die Arbeiterklasse zu bekämpfen, indem sie sich Gehör bei den Partisanen verschafften, auf direkte Anweisung von Palmiro Togliatti (Generalsekretär der italienischen Kommunistischen Partei) ermordet worden" (Übersetzt durch uns)

Dieser Abschnitt über die Geschichte der IKS und des IBRP verlangt eine tiefgreifende Antwort, besonders auch über historische Fakten. Einer klaren Auseinandersetzung zuliebe wollen wir zuerst einige dieser Anschuldigungen berichtigen, welche entweder auf schlechte Absichten oder eine betrübliche Ignoranz des Autors des Artikels schließen lassen.

In der Nummer 20 unserer Internationalen Revue (engl., franz., span. Nr. 89) haben wir eine Polemik als Antwort auf den Artikel „Sekten, Lügen und die verlorene Perspektive der IKS" in Revolutionary Perspectives Nr. 5 (Publikation der Communist Workers Organisation CWO) veröffentlicht. Aus Platzgründen sind wir in dieser Polemik nicht auf alle Aspekte, die von der CWO angeschnitten wurden, eingegangen und haben uns vor allem auf einen Punkt konzentriert: Die Auffassung, nach der die von der IKS entwickelte Perspektive für die gegenwärtige Periode absolut verfehlt sei. Wir haben in dieser Polemik gezeigt, daß die Anschuldigungen der CWO im Wesentlichen auf ihrem tiefen Unverständnis unserer eigenen Positionen gründen, vor allem aber auch auf dem Fehlen einer eigenen Methode zur Analyse der heutige Periode. Dieses fieberhaft abgestrittene Fehlen eines analytischen Rahmens bei der CWO und dem IBRP (Internationales Büro für die Revolutionäre Partei, zu dem die CWO gehört) wird jedoch weiterhin aufrechterhalten. So wird behauptet, es sei für die revolutionären Organisationen unmöglich, im Kräfteverhältnis zwischen Proletariat und Bourgeoisie die vorherrschende Tendenz, entweder den Kurs hin zu verschärften Klassenauseinandersetzungen oder den Kurs hin zum imperialistischen Krieg, zu erkennen. In Wirklichkeit hat das Zurückweisen des IBRP einer Möglichkeit, ja gar Notwendigkeit für die Revolutionäre, die Natur des historischen Kurses zu bestimmen, seine Ursprünge in den Umständen, unter denen die andere Organisation des IBRP, Partito Comunista Internazionalista (PCInt), zu Ende des Zweiten Weltkrieges gegründet worden ist. Just in der Nummer 15 der theoretischen Revue des IBRP in englischer Sprache, Internationalist Communist (IC), kommt der PCInt auf die Frage der Wurzeln des PCInt und der IKS zu sprechen, und es ist genau diese Frage, welche wir als Antwort auf ihre Polemik hier aufgreifen wollen.

Einige Berichtigungen und Vertiefungen

Zuallererst die Frage der Partisanen, die bei den Genossen des IBRP eine derartige Entrüstung ausgelöst hat, daß sie nicht umhin können, uns als „feige Verleumder" zu bezeichnen. Selbstverständlich haben wir gesagt, daß die PCInt „in den Reihen der Partisanen gearbeitet habe". Dies ist jedoch keineswegs eine Verleumdung, sondern lediglich die Wahrheit. Hat der PCInt tatsächlich einige ihrer Militanten und Kader in die Reihen der Partisanen geschickt, ja oder nein? Dies ist eine Tatsache, die man nicht verbergen kann. Noch mehr, der PCInt nimmt diese Politik für sich in Anspruch, es sei denn, er habe seine Position geändert, seit der Genosse Damen im Namen des Sekretariates des PCInt im Herbst 1976 schrieb, daß sich seine Partei „keinesfalls über etwas schämen muss" und verweisen könne auf „ihre revolutionären Militanten, die in die Reihen der Partisanen eingedrungen sind, um dort die Prinzipien und die Taktik der revolutionären Bewegung zu verbreiten. Eine Arbeit, die sie oft sogar mit dem Leben bezahlt haben".(2) Wir haben umgekehrt nie behauptet, daß diese Arbeit eine „Unterstützung der bürgerlichen Kräfte, welche versuchten, einen demokratischen Staat in Italien zu etablieren", gewesen sei. Verschiedene Male schon haben wir diese Frage in unserer Presse aufgegriffen (3) und werden auch im zweiten Teil dieses Artikels noch darauf zurückkommen. Wenn wir dabei unerbittlich die vom PCInt seit seiner Gründung begangenen Fehler kritisiert haben, so haben wir ihn keinesfalls mit den trotzkistischen Organisationen oder noch weniger mit den stalinistischen gleichgesetzt. Die Genossen täten besser daran, die Stellen, welche sie dermaßen verstimmten, zu zitieren. Bis dann ist es besser, wenn sie ihre Entrüstung und ihre Beleidigungen im Zaum halten.

Ein anderer Punkt, zu dem es unsererseits einige Berichtigungen und Vertiefungen zu machen gilt, betrifft die Analyse der historischen Periode, die durch die GCF zu Beginn der 50er Jahre gemacht wurde und die einige Mitglieder zur Wegreise aus Europa bewogen hat. Das IBRP täuscht sich, wenn es behauptet, daß die IKS bei dieser Frage in Verlegenheit gerate und wir darauf immer eine „unverschämte" Antwort auf Lager hätten. So haben wir im Artikel zur Erinnerung an unserer Genossen Marc (Internationale Revue Nr. 66, engl., franz,. span.) geschrieben: „Diese Analyse findet man vor allem im Artikel „Die Entwicklung des Kapitalismus und die neue Perspektive", welcher in Internationalisme Nr. 46 veröffentlicht wurde (...). Dieser Text wurde im Mai 1952 von Marc geschrieben und stellt in gewisser Hinsicht das politische Testament der GCF dar. Marc verließ Frankreich im Juni 1952 und wanderte nach Venezuela aus. Diese Abreise entsprach einer kollektiven Entscheidung der GCF, die angesichts des Koreakrieges davon ausging, daß ein Dritter Weltkrieg zwischen dem amerikanischen und dem russischen Block unabwendbar sei und kurz bevorstehe (wie es auch im Text in Form einer Frage formuliert wird). Ein solcher, vor allem Europa verwüstender Krieg, würde die wenigen kommunistischen Gruppen, und darunter auch die GCF, die bisher überlebt hatten, zerstören. Die Entscheidung, einige Militante ausserhalb von Europa „in Sicherheit zu bringen", gründete nicht auf einem persönlichen Bedürfnis nach Sicherheit dieser Genossen (...) sondern auf der Sorge nach dem Überleben der Organisation selbst. Dennoch versetzte die Abreise des am besten geschulten und erfahrensten Genossen auf einen anderen Kontinent der GCF einen fatalen Schlag, und trotz der regelmäßigen Korrespondenz mit Marc waren die Genossen, welche in Frankreich geblieben waren, nicht fähig, die Organisation in einer Periode der tiefsten Konterrevolution aufrechtzuerhalten. Aus Gründen, auf die wir hier nicht näher eingehen, fand ein Dritter Weltkrieg nicht statt. Es ist klar, daß dieser Fehler in der Analyse der GCF das Leben kostete (und unter all den Fehlern, welche Marc in seinem Leben machte, hatte dieser wohl die größten Konsequenzen)."

Als wir den Text, um ihn in Erinnerung zu rufen, wieder veröffentlichten (1974 in der Nummer 8 des Bulletin d`étude et de discussion von Révolution Internationale, des Vorläufers der Revue Internationale), schrieben wir dazu: „Internationalisme analysierte die Periode nach den Zweiten Weltkrieg richtigerweise als eine Fortführung der Reaktion und des Rückflusses des proletarischen Klassenkampfes (...). Ebenfalls richtig war die Behauptung, daß der Kapitalismus mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht aus seiner dekadenten Phase austrat und daß alle Widersprüche, die den Kapitalismus in den Krieg geführt hatten, ihn unerbittlich in neue Kriege stoßen würden. Aber Internationalisme merkte nicht, oder stellte nicht genügend klar, was die Phase des Wiederaufbaus im Zyklus Krise-Krieg-Wiederaufbau bedeutete. Aus diesem Grunde und im Kontext des Kalten Krieges USA-UdSSR sah Internationalisme keine Möglichkeit des Wiedererstarkens des Proletariates außer in oder nach einem Dritten Weltkrieg."

Wie man sehen kann, hat die IKS diese Frage niemals „unverschämt" angegangen noch war sie „verlegen", die Fehler der GCF zuzugeben (selbst in einer Zeit, in der das IBRP noch nicht da war, um uns darauf aufmerksam zu machen). Dies bedeutet erneut, daß das IBRP unsere Analyse des historischen Kurses nicht begriffen hat. Der Irrtum der GCF lag nicht in einer falschen Einschätzung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen, sondern in einer Unterschätzung der Atempause, die der Wiederaufbau der kapitalistischen Ökonomie gewähren konnte und es ihr erlaubte, während zwei Jahrzehnten der offenen Krise zu entfliehen und sogar in einem gewissen Masse den Spannungen zwischen den zwei imperialistischen Blocks. Jene setzten sich in der Form lokaler Kriege fort (Korea, Naher Osten, Vietnam, etc.). Wenn zur damaligen Zeit ein Dritter Weltkrieg nicht ausbrach, dann nicht wegen des Proletariates (das paralysiert und lahmgelegt war durch die Linke des Kapitals), sondern weil es der Kapitalismus zu Beginn der 50er Jahre noch nicht erforderte.

Nach diesen Berichtigungen wollen wir nun auf ein „Argument" zurückkommen, welches dem IBRP offenbar besonders am Herzen liegt und das auch schon in der Polemik in Revolutionary Perspektives Nr. 5 aufgetaucht ist: die „Winzigkeit" der GCF. Der Verweis auf den „winzigen" Charakter der GCF ist in Tat und Wahrheit ein Vergleich mit „dem fortgeschrittensten Produkt, das die Arbeiterklasse seit der Russischen Revolution hervorgebracht hat", d.h. mit dem PCInt, der seinerzeit mehrere Tausend Mitglieder hatte. Bedeutet dies, daß der „große Erfolg" des PCInt auch gleichzeitig seine Positionen korrekter werden läßt als die der GCF?

Ein solches Argument wäre wahrlich etwas mager. Doch den mageren Charakter dieses Argumentes beiseite gelassen wirft die Haltung des IBRP einen zentralen Punkt grundlegender Differenzen zwischen unseren Organisationen auf. Um dies zu betrachten, müssen wir aber erst auf die Geschichte der Italienischen Kommunistischen Linken zurückkommen, denn die GCF war nicht nur eine „winzige" Gruppe, sondern auch der wirkliche politische Nachkomme der historischen Strömung, auf die sich der PCInt und das IBRP berufen.

Einige Meilensteine in der Geschichte der Italienischen Linken

Die IKS hat ein Buch mit dem Titel „Die Italienische Kommunistische Linke"(4) veröffentlicht, das die Geschichte dieser Strömung beschreibt. Wir können hier lediglich einige der wichtigsten Aspekte herausgreifen.

Die Italienische Linke, um Amadeo Bordiga und die Federation von Neapel als „abstentionistische" Fraktion innerhalb der Sozialistischen Partei Italiens entstanden, war Hauptbeteiligte bei der Gründung der Italienischen Kommunistischen Partei auf dem Kongreß von Livorno 1921 und hat den Weg dieser Organisation bis 1925 bestimmt. Gleichzeitig mit anderen Strömungen der Linken in der Kommunistischen Internationalen (z.B. der Deutsch-Holländischen Linken) und schon lange vor Trotzkis Linksopposition wandte sie sich gegen den opportunistischen Kurs der Komintern. Anders als der Trotzkismus, der sich ausdrücklich auf die ersten vier Kongresse der Komintern beruft, verwarf die Italienische Linke einige der am 3. und 4. Kongreß angenommenen Positionen, dabei im besonderen die Taktik der „Einheitsfront". Über einige Punkte, so zum Beispiel den kapitalistischen Charakter der UdSSR oder die endgültige bürgerliche Natur der Gewerkschaften waren die Positionen der Deutsch-Holländischen Linken zu Beginn viel klarer als die der Italienischen Linken. Dennoch war die Auseinandersetzung der Italienischen Linken in der Arbeiterklasse verglichen mit den anderen Strömungen der Kommunistischen Linken viel fruchtbarer, da sie die Fähigkeit besaß, zwei entscheidende Fragen besser zu verstehen:

– das Ende und die Niederlage der weltrevolutionären Welle,

– die Aufgaben der revolutionären Organisation in einer solchen Situation.

Im Bewußtsein der Notwendigkeit, politische Positionen, die im Lichte der historischen Erfahrung widersprüchlich geworden waren, zu überprüfen, schritt die Italienische Linke mit großer Vorsicht voran. Dies erlaubte ihr auch, „das Kind nicht mit dem Bad auszuschütten" wie die Holländische Linke, die schliesslich den Oktober 1917 als bürgerliche Revolution bezeichnete und die Notwendigkeit einer revolutionären Partei verwarf. Dies hinderte die Italienische Linke jedoch nicht daran, sich einige Positionen anzueignen, welche vorher die Deutsch-Holländische Linke ausgearbeitet hatte.

Die zunehmende Repression des Mussolini-Regimes insbesondere mit den „Ausnahmegesetzen" von 1926 zwang die Mehrheit der Italienischen Kommunistischen Linken, ins Exil zu flüchten. Im Ausland, vor allem in Frankreich und Belgien, fuhr diese Strömung dann fort, eine organisierte politische Aktivität aufrechtzuerhalten. Im Februar 1928 wurde in Pantin am Rande von Paris die Linke Fraktion der Kommunistischen Partei Italiens gegründet. Diese beteiligte sich an den Diskussionen und dem Umgruppierungsprozess der verschiedenen linkskommunistischen Strömungen, welche aus der degenerierten Komintern ausgeschlossen worden waren und deren wohl bekannteste Figur Trotzki war. Die Fraktion hoffte vor allem, mit anderen Gruppen ein gemeinsames Diskussionsbulletin herauszugeben. Nachdem sie jedoch auch von Trotzkis Linksopposition ausgeschlossen worden war, begann sie ab 1933 in ihrem eigenen Namen die Zeitschrift BILAN in französischer Sprache und PROMETEO auf Italienisch herauszugeben.

Wir werden an dieser Stelle nicht die gesamten Positionen der Fraktion oder gar deren Entwicklung betrachten. Wir wollen uns hier darauf konzentrieren, an eine ihrer grundlegendsten Positionen zu erinnern, auf welcher ihre Existenz beruht: das Verhältnis zwischen Partei und Fraktion.

Diese Position wurde von der Fraktion Ende der 20er und zu Beginn der 30er Jahre schrittweise herausgearbeitet, als es darum ging zu definieren, welche Politik gegenüber den degenerierenden kommunistischen Parteien einzuschlagen war.

In ihren großen Zügen kann man diese Position folgendermaßen zusammenfassen: Die Linke Fraktion bildet sich in einem Moment, in dem die Partei des Proletariates als Opfer des Opportunismus, durch das Eindringen bürgerlicher Ideologien in ihre eigenen Reihen den Kurs der Degeneration einschlägt. Es ist die absolute Verantwortung der revolutionären Minderheit, welche das revolutionäre Programm aufrechterhält, auch auf organisierte Art und Weise für dessen Sieg innerhalb der Partei zu kämpfen. Entweder ist die Fraktion erfolgreich in der Durchsetzung ihrer Prinzipien und der Rettung der Partei, oder letztere setzt ihren degenerierenden Kurs fort und landet schliesslich mit Sack und Pack im Lager der Bourgeoisie. Es ist alles andere als leicht, den Moment des Übertritts der proletarischen Partei ins Lager der Bourgeoisie genau zu erkennen und zu definieren. Dennoch ist eines der bezeichnendsten Indizien für dieses Übertreten die Feststellung, daß es keinen Platz für ein proletarisches politisches Leben innerhalb der Partei mehr gibt. Die Linke Fraktion hat die Verantwortung, ihren Kampf im Innern der Partei zu führen, solange nur die kleinste Hoffnung auf einen Erfolg besteht. Dies war auch der Grund, weshalb es in den 20er und zu Beginn der 30er Jahre nicht die linken Strömungen waren, die die Parteien der Kommunistischen Internationalen verließen, sondern sie wurden oftmals durch schäbige Manöver ausgeschlossen. Dies bedeutet wiederum, daß, wenn eine Partei des Proletariates einmal ins Lager der Bourgeoisie übergetreten ist, keine Rückkehr mehr möglich ist. Notwendigerweise muss das Proletariat, um seinen Kurs zur Revolution wieder aufzunehmen, nun eine neue Partei hervorbringen. Die Rolle der Fraktion ist jetzt die einer Brücke zwischen der an den Klassenfeind verlorenen alten Partei und der Partei von morgen, für die sie die programmatischen Grundlagen erarbeiten und das Gerüst bauen soll. Die Tatsache, daß nach dem Übertritt der Partei ins Lager der Bourgeoisie kein proletarisches Leben mehr in ihr weiter existieren kann, bedeutet gleichfalls, daß es für die Revolutionäre absolut nutzlos, ja sogar gefährlich ist, einen „Entrismus" zu betreiben, eine der sogenannten „Taktiken" des Trotzkismus, welche die Fraktion immer entschieden verworfen hat. Der Versuch, in einer bürgerlichen und für Klassenpositionen sterilen Partei ein proletarisches Leben aufrechterhalten zu wollen, führte niemals zu etwas anderem als zur Beschleunigung der opportunistischen Entartung und nicht zu einer Wiederbelebung dessen, was diese Partei einmal war. Was die „Rekrutierungen" betrifft, welche mit solchen Methoden vollbracht wurden, diese Elemente waren immer besonders konfus, mit Opportunismus versetzt und nie fähig, für die Arbeiterklasse eine Avantgarde zu bilden.

Einer der wohl bedeutendsten Unterschiede zwischen der Italienischen Fraktion und dem Trotzkismus liegt darin, daß die Fraktion bei der Vereinigung der revolutionären Kräfte immer die absolute Notwendigkeit einer größtmöglichen politischen Klarheit und programmatischer Strenge hervorhob. Dies, obwohl sie offen war für die Diskussion mit allen anderen Strömungen, welche sich gegen die Degeneration der Komintern engagierten. Demgegenüber hatte der Trotzkismus immer wieder überstürzt, ohne eine seriöse Diskussion oder vorherige Abklärung der politischen Positionen versucht, Organisationen zu gründen. Diese basierten vor allem auf Einverständnissen zwischen „Persönlichkeiten" und der von Trotzki errungenen Autorität als einem der wichtigsten Führer der Revolution von 1917 und der Komintern in ihren Anfangsjahren.

Eine andere Frage, welche den Trotzkismus von der Italienischen Fraktion getrennt hatte, war die des Zeitpunktes für die Gründung der neuen Partei. Für Trotzki und seine Genossen stand der Zeitpunkt zur Gründung der neuen Partei unmittelbar auf der Tagesordnung, nachdem die alten Parteien für das Proletariat verloren gegangen waren. Für die Fraktion war diese Frage jedoch absolut klar:

„Die Umwandlung der Fraktion in die Partei hängt von zwei eng aneinander gebundenen Elementen ab(5):

1. Die Ausarbeitung neuer politischer Positionen durch die Fraktion, welche fähig sind, dem Kampf des Proletariates einen soliden Rahmen für die Revolution in der fortgeschrittenen Phase zu geben (...).

2. Die Umkehrung der Klassenverhältnisse des aktuellen Systems (...) mit dem Ausbrechen von revolutionären Bewegungen, welche es der Fraktion erlauben, wieder die Führung der Kämpfe in Richtung Aufstand zu übernehmen." („Hin zur 2 ¾ Internationalen?" BILAN Nr.1 1933)

Um zu einem gegebenen Zeitpunkt ihre Aufgaben zu erkennen, ist es für Revolutionäre unabdingbar, in klarster Art und Weise das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen sowie auch die Richtung, welche dieses Kräfteverhältnis einschlägt, zu analysieren. Einer der größten Verdienste der Fraktion bestand gerade in ihrer Fähigkeit, den historischen Kurs der 30er Jahre erkannt zu haben: die generalisierte Krise des Kapitalismus, die Konterrevolution, welche auf die Arbeiterklasse niederprasselte und die Tatsache, daß es daraus keinen anderen Ausweg als einen neuen Weltkrieg geben konnte.

Diese Analyse bestätigte sich vollauf im Spanischen Bürgerkrieg. Während die Mehrheit der Organisationen, welche sich zur Linken der kommunistischen Parteien zählten, in den Ereignissen in Spanien ein revolutionäres Wiedererwachen des Weltproletariates zu erkennen glaubten, hatte die Fraktion verstanden, daß das spanische Proletariat trotz seiner Kampfbereitschaft und seinem Mut durch die antifaschistische Ideologie in eine Falle gelockt worden war. Eine Ideologie, welche von allen Organisationen, welche im Proletariat einen Einfluß besaßen, vorangetrieben wurde (die anarchistische CNT, die sozialistische UGT, die kommunistischen und sozialistischen Parteien und die POUM, eine linkssozialistische Partei welche sich an der bürgerlichen Regierung, der „Generalitat" beteiligte) und das spanische Proletariat dazu verurteilte, zum Kanonenfutter in Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Teilen der Bourgeoisie, der „demokratischen" und der „faschistischen", zu werden, welche den Weltkrieg einläuteten, der unvermeidbar geworden war. Innerhalb der Fraktion bildete sich zu diesem Zeitpunkt eine Minderheit, welche davon ausging, daß die Situation in Spanien „objektiv revolutionär" geblieben sei, die sich unter Verachtung aller Organisationsdisziplin und Zurückweisung einer Debatte, die ihr die Mehrheit angeboten hatte, in die antifaschistischen Brigaden der POUM einreihte und sich sogar in der Zeitung dieser Partei zu Wort meldete(6). Die Fraktion war nun gezwungen, die Abspaltung der Minderheit zu akzeptieren, welche sich nach ihrer Rückkehr aus Spanien 1936(7) in die Union Communiste einreihte. Eine Gruppe, die zu Beginn der 30er Jahre mit linken Argumenten mit dem Trotzkismus gebrochen hatte, jedoch die Ereignisse in Spanien als „revolutionär" bezeichnete, einen „kritischen Antifaschismus" propagierte und wieder in diese Strömung zurückkehrte.

Zusammen mit einigen Genossen der Deutsch-Holländischen Linken war die Italienische Fraktion die einzige Organisation, welche angesichts des imperialistischen Krieges, der sich in Spanien entwickelt hatte, eine unbeugsame Klassenposition aufrechterhielt(8). Leider begann Vercesi, Haupttheoretiker und Triebfeder der Fraktion, gegen Ende 1937 eine Theorie zu entwickeln, nach der die verschiedenen militärischen Auseinandersetzungen, welche sich in der zweiten Hälfte der 30er Jahre entwickelten, nicht Vorbereitungen hin zu einer neuen imperialistischen Schlächterei seien, sondern „lokale Kriege", bestimmt dazu, mit Massakern an Arbeitern der drohenden proletarischen Gefahr zuvorzukommen. Gemäss dieser „Theorie" befand sich die Welt am Vorabend einer neuen revolutionären Welle, und der Weltkrieg sei vor allem deshalb nicht mehr auf der Tagesordnung, weil die Kriegsökonomie selbst fähig sei, die kapitalistische Krise zu überwinden. Nur eine Minderheit der Fraktion, darunter auch unser Genosse Marc, war fähig, sich nicht in diese Abwege zu verirren, die eine Art verspätete Vergeltung der Minderheit von 1936 darstellten. Die Mehrheit entschied nun, die Herausgabe der Zeitschrift BILAN zu beenden und durch OCTOBRE zu ersetzten, deren Name an die angebliche „neue Perspektive" angelehnt sei. OCTOBRE war bestimmt als Organ des Internationalen Büros der (italienischen und belgischen) Linkskommunistischen Fraktionen und sollte in drei Sprachen publiziert werden. In Tat und Wahrheit, statt „mehr zu tun", wie es die „neue Perspektive" vorsah, war die Fraktion unfähig, ihre bisherige Arbeit aufrechtzuerhalten. OCTOBRE sollte im Gegensatz zu BILAN nur noch unregelmäßig und alleine auf französisch erscheinen. Zahlreiche Genossen, durch diese Missachtungen der Positionen der Fraktion aus den Bahnen geworfen, verfielen der Demoralisierung und schieden aus.

Die Italienische Linke während des 2. Weltkrieges und die Bildung der GCF

Als der 2. Weltkrieg ausbrach, war die Fraktion lahmgelegt. Mehr noch als die polizeilichen Repressalien von Seiten der „demokratischen" Polizei sowie der Gestapo (mehrere Genossen, darunter Mitchell, Triebfeder der Belgischen Fraktion, wurden deportiert und ermordet) war es die politische Verwirrtheit und mangelnde Vorbereitung auf den unerwarteten Weltkrieg, die für dieses Auseinanderfallen verantwortlich waren. Vercesi selbst erklärte mit dem Ausbruch des Krieges, das Proletariat sei „gesellschaftlich inexistent" geworden, jede Arbeit der Fraktion sei nun überflüssig, und rief sogar dazu auf, die Fraktionen aufzulösen, was noch mehr zur Blockierung der Fraktion beitrug (eine Entscheidung, die vom Internationalen Büro der Fraktionen gefällt worden war). Der Kern von Marseilles, welcher aus Genossen bestand, die sich den revisionistischen Konzeptionen Vercesis vor dem Krieg widersetzt hatten, verfolgte weiterhin eine geduldige Arbeit zum Wiederaufbau der Fraktion, eine wegen der Repressalien und den beschränkten materiellen Mitteln höchst beschwerliche Arbeit. In Lyon, Toulon und Paris wurden wieder Sektionen errichtet, und es konnten Kontakte in Belgien geknüpft werden. Ab 1941 hielt die „wiederaufgebaute" Fraktion jährlich eine Konferenz ab, ernannte eine Exekutivkommission und veröffentlichte ein internationales Diskussionsbulletin. Parallel dazu bildete sich 1942 auf den Positionen der Italienischen Linken der französische Kern der Kommunistischen Linken, an dem sich der Genosse Marc, Mitglied der Exekutivkommission der italienischen Fraktion, beteiligte und der sich die Konstituierung der französischen Fraktion zum Ziel gesetzt hatte.

Als 1942–43 in Norditalien große Arbeiterstreiks ausbrachen, welche zum Sturz Mussolinis und seiner Ersetzung durch den pro-Alliierten General Badoglio führten (Streiks, die sich auch in Deutschland unter italienischen Arbeitern ausbreiteten und von deutschen Arbeitern unterstützt wurden), ging die Fraktion gemäss ihrer bisherigen Position davon aus, daß nun „in Italien der Weg für die Umwandlung der Fraktion in die Partei offen sei". Ihre Konferenz vom August 1943 entschied, mit Italien Kontakt aufzunehmen, und wies die Genossen an, sich auf eine baldmögliche Heimkehr vorzubereiten. Diese Rückkehr war jedoch einerseits aus materiellen Gründen nicht sofort möglich, andererseits aber auch aus politischen Gründen. Vercesi und ein Teil der Belgischen Fraktion standen dem mit der Begründung, die Ereignisse in Italien würden „die soziale Inexistenz" des Proletariates keineswegs aufheben, feindlich gegenüber. Auf der Konferenz vom Mai 1944 verwarf die Fraktion die Theorien von Vercesi.(9) Dieser befand sich jedoch noch lange nicht am Ende seines Irrweges. Im September 1944 beteiligte er sich im Namen der Fraktion (und in Begleitung von Pieri, eines anderen Genossen der Fraktion) in Brüssel, Seite an Seite mit christlich-demokratischen, „kommunistischen", republikanischen, sozialistischen und liberalen Parteien an der Gründung der „Coalizione antifascista", welche die Zeitschrift „L`Italia di domani" herausgab, in deren Zeilen man Aufrufe zur finanziellen Unterstützung des alliierten Krieges fand. Als die Exekutivkommission der Fraktion davon erfuhr, wurde Vercesi am 20. Januar 1945 ausgeschlossen, was diesen jedoch keineswegs davon abhielt, seine Aktivitäten in der „Coalizione antifascista" und als Präsident des „Roten Kreuzes" noch mehrere Monate lang aufrechtzuerhalten.(10)

Die Fraktion führte weiterhin eine schwierige Propagandaarbeit gegen die antifaschistische Hysterie und zur Denunzierung des imperialistischen Krieges. Sie hatte dabei den französischen Kern der Kommunistischen Linken zur Seite, der sich zur Französischen Fraktion der Kommunistischen Linken umgewandelt hatte und im Dezember 1944 ihren ersten Kongreß abhielt. Die zwei Fraktionen verteilten Flugblätter und Plakate, in denen zur Verbrüderung zwischen den Proletariern in Uniform in beiden imperialistischen Lagern aufgerufen wurde. Nachdem die Gründung der Internationalistischen Kommunistischen Partei in Italien rund um bekannte Figuren wie Onorato Damen und Amadeo Bordiga bekannt geworden war, beschloß die Mehrheit der Fraktion jedoch auf der Konferenz vom Mai 1945 ihre Auflösung und den individuellen Beitritt ihrer Mitglieder in den PCInt. Dies bedeutete eine radikale Infragestellung der Haltung der Fraktion seit ihrer Gründung 1928. Marc, Mitglied der Exekutivkommission der Fraktion und eine der Haupttriebfedern ihrer Arbeit während des Krieges, widersetzte sich dieser Entscheidung. Dabei handelte es sich um eine politische Haltung und keineswegs um eine formalistische: Er ging davon aus, daß man die Fraktion solange aufrechterhalten müsse, bis Klarheit über die Positionen der neuen Partei herrsche, die ohnehin nur schlecht bekannt waren, und es sei zu überprüfen, ob sie mit denen der Fraktion übereinstimmten.(11) Um nicht am Selbstmord der Fraktion beteiligt zu sein, gab er seine Arbeit in der Exekutivkommission ab und verließ die Konferenz, nachdem er seine Position ausdrücklich dargelegt hatte. Die Fraktion (welche dennoch nicht vernünftig genug war, um weiter zu existieren) schloß ihn wegen „politischer Niederträchtigkeit" aus und weigerte sich, die FFGC (Fraction Française de la Gauche Communiste) deren Hauptkraft er darstellte, zu akzeptieren. Einige Monate später spalteten sich zwei Genossen der FFGC, die mit Vercesi Kontakt aufgenommen hatten, der sich für die Gründung der PCInt aussprach, ab und gründeten eine zweite FFGC (FFGC-bis), welche vom PCInt unterstützt wurde. Um jegliche Verwirrung zu vermeiden, nannte sich die FFGC von nun an Gauche Communiste de France (GCF) und berief sich ganz auf die politische Kontinuität der Fraktion. Die FFGC-bis ihrerseits wurde nun durch den Beitritt von ehemaligen Mitgliedern der 1936 aus der Fraktion ausgeschlossenen Minderheit und Chazé, dem Hauptkopf der Union Communiste, „verstärkt". Dies hinderte den PCInt und die belgische Fraktion leider nicht daran, sie als die „alleinige Vertreterin der Kommunistischen Linken in Frankreich" zu bezeichnen.

 

Die „winzige" GCF stellte 1946 die Veröffentlichung ihrer Zeitschrift L`Etincelle (Der Funke) ein, weil sie davon ausging, daß sich eine historische Wiederaufnahme des Klassenkampfes, die sich 1943 abgezeichnet hat, nun nicht bestätigt. Dennoch veröffentlichte sie zwischen 1945 und 1952 46 Nummern ihrer theoretischen Revue Internationalisme, die alle Fragen aufgriff, welche sich zu Ende des Zweiten Weltkrieges für die Arbeiterklasse stellten. Es war Internationalisme, das auch die programmatische Basis klärte, auf welcher sich 1964 in Venezuela Internationalismo, 1968 in Frankreich Révolution Internationale und 1975 die Internationale Kommunistische Strömung gründeten.

In einem zweiten Teil dieses Artikels werden wir auf die Gründung des Partito Comunista Internazionalista, des Begründers des IBRP und laut seinen eigenen Worten „das fortgeschrittenste Produkt, das die Arbeiterklasse seit der Russischen Revolution hervorgebracht hat", zurückkommen. Fabienne

 

 

(1) Siehe den Artikel über den 12. Kongress der IKS in Weltrevolution, Nr. 82, Juni /Juli 1997.

(2) Von uns, in Revue Internationale Nr. 8 (engl., franz., span.) veröffentlichter, und mit einer Antwort (Les ambiguités sur les „partisans" dans la constitution du Parti Communiste Internationaliste en Italie") versehener Brief.

(3) Siehe den genannten Artikel in Revue Internationale Nr. 8

(4) Auf deutsch ist der zweite Teil in Form einer Broschüre erhältlich. Das komplette Buch ist in französisch und englisch erhältlich.

(5 )In unserer Presse haben wir öfters die von der Italienischen Linken entwickelte Vorstellung aufgegriffen, die die Partei und die Fraktion unterscheidet (siehe v.a. unsere Broschüre auf deutsch: Das Verhältnis Fraktion – Partei in der marxistischen Tradition). Der Klarheit halber wollen wir hier auf folgende Punkte hinweisen: Die kommunistische Minderheit existiert als ein Ausdruck der revolutionären Zukunft des Proletariates permanent. Ihr Einfluss auf die unmittelbaren Kämpfe der Klasse jedoch hängt eng von deren Entwicklungsstufe und vom Bewusstsein in der Klasse ab. Nur in Phasen von offenen und zunehmend bewussteren Kämpfen kann sich diese Minderheit einen Einfluss darauf erhoffen. Alleine unter solchen Umständen kann man von der kommunistischen Minderheit auch als einer Partei sprechen. In Perioden des historischen Rückflusses des Proletariats, des Triumphs der Konterrevolution, ist es falsch zu glauben, dass die revolutionären Positionen einen entscheidenden und herausragenden Einfluss auf die Gesammtheit der Klasse hätten. In solchen Perioden ist die einzige, aber lebenswichtige Arbeit die der Fraktion: die Vorbereitung der politischen Bedingungen für die zukünftige Partei, die es ab dem Tage, an dem es das Kräfteverhältniss zwischen den Klassen erneut zulässt, möglich macht, einen Einfluss im gesamten Proletariat zu haben.

(6) Ein Mitglied der Minderheit, Candiani, übernahm sogar das Kommando der sog. „Lenin-Kolonne" der POUM an der Aragon Front.

(7) Im Gegensatz zur Legende, die die Minderheit und andere Gruppen verbreitet haben, hat die Mehrheit der Fraktion die Ereignisse in Spanien nicht aus sicherer Ferne betrachtet. Ihre Mitglieder blieben bis im Mai 1937 in Spanien. Nicht um sich in die antifaschistische Front einzureihen, sondern um ihre politische Arbeit fortzusetzen in der Hoffnung, einige Militante der Spirale des imperialistischen Krieges entreissen zu können. Eine Arbeit im Geheimen und permanent mit stalinistischen Mördern im Nacken.

(8) Die Ereignisse in Spanien haben auch Abspaltungen in anderen Organisationen bewirkt (Union Communiste in Frankreich, Ligue des Communistes in Belgien, Revolutionary Workers` League in den USA, Liga Comunista in Mexico), welche die Positionen der Italienischen Fraktion annahmen, in ihre Reihen eintraten oder, wie in Belgien, neue Fraktionen der Internationalen Kommunistischen Linken bildeten. Zu dieser Zeit verliess auch unser Genosse Marc die Union Communiste, um der Fraktion beizutreten, mit der er mehrere Jahre in Kontakt stand.

(9)Während dieser Periode veröffentlichte die Fraktion zahlreiche Nummern ihres Diskussionsbulletins, was ihr erlaubte, eine ganze Reihe von Analysen zu machen. Vor allem über den Charakter der UdSSR, die Degenerierung der Russischen Revolution, die Frage des Staates in der Übergangsperiode, die von Vercesi entwickelte Theorie der Kriegsökonomie und die ökonomischen Gründe des imperialistischen Krieges.

(10) In dieser Funktion bedankte er sich sogar bei „seiner Exzellenz, dem apostolischen Nuntius," für seine „Unterstützung dieser Arbeit der Solidarität und Menschlichkeit" und erklärte, dass „sich kein Italiener mit der Schmach bedecken kann, gegenüber unseren dringlichen Aufrufen taub zu bleiben" (in L`Italia di Domani Nr. 11, März 1945).

(11) Der Grund, weshalb sich Marc dem Beschluss der Fraktion im Mai 1945 widersetzte ist nicht der, den Internationalist Communist angibt, „dass die Konterrevolution, welche seit den Niederlagen in den 20er Jahren auf der Arbeiterklasse laste noch fortdauere, und aus diesem Grunde die Möglichkeit der Bildung einer neuen Partei in den 40er Jahren noch nicht gegeben sei:" Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er immer die sich vertiefenden Schwierigkeiten der Arbeiterklasse angesichts der systematischen Politik der Alliierten, die Kampfbereitschaft des Proletariates auf bürgerliches Terrain zu ziehen, betont, hatte aber nicht ausdrücklich die 1943 entstandene Position über die Möglichkeit der Bildung der Partei verworfen.

 

 

Polemik: Die Wurzeln der IKS und des IBRP, Teil II

Die Gründung des Partito Comunista Internazionalista

In der letzten Ausgabe der Internationalen Revue (Nr. 22) veröffentlichten wir den ersten Teil eines Artikels, der auf die Polemik „Die politischen Wurzeln der Organisationskrankheit der IKS" antwortet, welche in der International Communist Review Nr. 15 erschienen war, der englischsprachigen Revue des Internationalen Büros für die Revolutionäre Partei (IBRP), das sich aus der Communist Workers Organisation (CWO) und des Partito Comunista Internazionalista (PCInt.) zusammensetzt. In diesem ersten Teil gingen wir, nachdem wir eine gewisse Zahl von Behauptungen des IBRP berichtigt hatten, die Zeugnis für einen Mangel an Kenntnissen unserer Positionen ablegen, auf die Geschichte der Italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken zurück, einer politischen Strömung, auf die sich sowohl das IBRP als auch die IKS berufen. Insbesondere zeigten wir, daß die Vorfahren der IKS, die Gauche Communiste de France (GCF), mehr als eine „winzige Gruppe" war, wie es das IBRP formuliert: In Wahrheit war sie der tatsächliche politische Erbe der Italienischen Fraktion, indem sie sich auf die Basis der Errungenschaften der letztgenannten stellte. Genau diese Errungenschaften hat der PCInt, als er sich 1943 bildete und noch stärker auf seinem ersten Kongreß 1945, über Bord geworfen oder einfach abgelehnt. Dies beabsichtigen wir in diesem zweiten Teil des Artikels aufzuzeigen.

Für Kommunisten hat das Studium der Geschichte der Arbeiterbewegung und ihrer Organisationen nichts mit akademischer Neugier gemein. Im Gegenteil, es ist ein unersetzliches Mittel für sie, ihr Programm auf eine solide Basis zu stellen, sich selbst in der aktuellen Situation zu orientieren und klare Perspektiven für die Zukunft zu erkunden. Insbesondere ermöglicht die Untersuchung der vergangenen Erfahrungen der Arbeiterklasse die Verifizierung der Gültigkeit der Positionen, die von den früheren Klassenorganisationen vertreten worden waren, und Lehren daraus zu ziehen. Die Revolutionäre einer Epoche sitzen nicht zu Gericht über ihre Vorfahren. Aber sie müssen imstande sein, das, was in den von ihnen vertretenen Positionen immer noch gültig ist, herauszuziehen und gleichzeitig ihre Irrtümer zu erkennen, so wie sie auch in der Lage sein müssen, den Moment zu erkennen, in dem eine in einem bestimmten historischen Zusammenhang richtige Position unter veränderten historischen Bedingungen hinfällig geworden ist. Andernfalls werden sie große Schwierigkeiten haben, ihrer Verantwortung nachzukommen, dazu verdammt, die Irrtümer zu wiederholen oder an anachronistischen Positionen festzuhalten.

Solch eine Herangehensweise ist das ABC für eine revolutionäre Organisation. Wenn wir seinen Artikel betrachten, dann teilt das IBRP diese Herangehensweise, und wir erkennen es als sehr positiv an, daß diese Organisation unter anderem die Frage nach ihren eigenen Ursprüngen (oder vielmehr nach den Ursprüngen des PCInt) und den Ursprüngen der IKS stellt. Uns scheint, daß das Verständnis der Differenzen zwischen unseren beiden Organisationen mit der Untersuchung ihrer entsprechenden Geschichte beginnen muß. Aus diesem Grund wird sich unsere Antwort auf die Polemik des IBRP auf diese Frage konzentrieren. Wir begannen damit im ersten Teil dieses Artikels mit unserem Blick auf die Italienische Fraktion und die GCF. Jetzt wollen wir auf die Geschichte des PCInt eingehen.

In der Tat ist einer der wichtigsten Punkte, die behandelt werden müssen, folgender: Können wir zustimmen, daß, wie das IBRP sagt, „der PCInt die erfolgreichste Kreation der revolutionären Arbeiterklasse seit der Russischen Revolution ist" (1)? Falls dies der Fall wäre, so müßten wir die Aktionen des PCInt als beispielhaft und als Hauptinspirationsquelle der Kommunisten von heute und morgen ansehen. Die Frage, die sich stellt, ist die: Wie beurteilen wir den Erfolg einer revolutionären Organisation? Die Antwort kann nur sein: indem wir daran Maß anlegen, wie sie die Aufgaben erfüllt, die ihr in der historischen Periode, in der sie wirkt, zufallen. In diesem Sinn sind die ausgewählten Kriterien des „Erfolgs" in sich selbst bedeutsam für die Weise, wie man die Rolle und Verantwortung der Vorhutorganisation des Proletariats begreift.

Die Kriterien für den „Erfolg" einer revolutionären Organisation

Eine revolutionäre Organisation ist Ausdruck und aktiver Faktor des Prozesses, in dem das Proletariat sein Klassenbewußtsein entwickelt und so seine historische Mission des Sturzes des Kapitalismus und der Schaffung des Kommunismus übernimmt. In diesem Sinn ist solch eine Organisation ein unersetzliches Instrument des Proletariats im Augenblick des historischen Sprunges, der die kommunistische Revolution darstellt. Wenn die revolutionäre Organisation mit dieser besonderen Situation konfrontiert ist, wie dies für die kommunistischen Parteien zwischen 1917 und dem Beginn der 20er Jahre der Fall war, dann ist das entscheidende Kriterium zur Beurteilung ihrer Aktivitäten ihre Fähigkeit, die großen Massen der Arbeiter, die das Subjekt der Revolution sind, um sich und um das von ihr vetretene kommunistische Programm zu sammeln. In diesem Sinn können wir sagen, daß die bolschewistische Partei 1917 diese Aufgabe völlig erfüllte (nicht nur angesichts der Revolution in Rußland, sondern auch angesichts der Weltrevolution, da es ebenfalls die bolschewistische Partei war, die die Hauptanregung zur Bildung der Kommunistischen Internationalen 1919 gab). Vom Februar bis zum Oktober 1917 war ihre Fähigkeit, sich mit den Massen inmitten der revolutionären Gärung zu verbinden, in jedem Moment der Heranreifung der Revolution die geeignetesten Parolen aufzustellen, mit der größten Unnachsichtigkeit gegen alle Sirenen des Opportunismus zu handeln – war all dies zweifellos entscheidend für ihren „Erfolg".

So weit, so gut, doch ist die Rolle der kommunistischen Organisationen nicht auf revolutionäre Perioden beschränkt. Wenn dies der Fall wäre, dann hätten solche Organisationen nur in der Periode von 1917 bis 1923 existiert, und wir müßten die Bedeutung der Existenz des IBRP und der IKS in Frage stellen. Es ist klar, daß außerhalb direkt revolutionärer Perioden kommunistische Organisationen die Rolle besitzen, die Revolution vorzubereiten, d.h. auf bestmögliche Weise zur Entwicklung der wesentlichen Voraussetzung für die Revolution beizutragen: die Bewußtwerdung des gesamten Proletariats über seine historischen Ziele und die Mittel, um sie zu erreichen. Dies bedeutet in erster Linie, daß es die ständige Funktion von kommunistischen Organisationen (also auch in revolutionären Perioden) ist, das proletarische Programm auf die klarste und kohärenteste Weise zu definieren. In zweiter Linie, und direkt verknüpft mit der ersten Funktion, bedeutet es, politisch und organisatorisch die Partei vorzubereiten, die im Augenblick der Revolution an der Spitze des Proletariats zu sein hat. Schießlich bedeutet es eine ständige Intervention in der Klasse, entsprechend den Mitteln, die der Organisation zur Verfügung stehen, um jene Elemente für kommunistische Positionen zu gewinnen, die mit der Ideologie und den Organisationen der Bourgeoisie zu brechen versuchen.

Um zur „erfolgreichsten Kreation der Arbeiterklasse seit der Russischen Revolution", d.h. gemäß dem IBRP zum PCInt, zurückzukehren, muß die Frage gestellt werden: Über welche Art von „Erfolg" reden wir hier?

Spielte der PCInt eine entscheidende Rolle in der Aktion des Proletariats während der revolutionären Periode oder wenigstens in einer Periode intensiver proletarischer Aktivitäten?

Leistete sie entscheidende Beiträge zur Erarbeitung des kommunistischen Programms, wie zum Beispiel die Italienische Fraktion der Kommunistischen Linken, auf die sie sich berief?

Legte sie solide organisatorische Fundamente für die Gründung der künftigen kommunistischen Weltpartei, der Vorhut der kommenden proletarischen Revolution?

Wir wollen mit der Beantwortung der letzten Frage beginnen. In einem Brief der IKS an den PCInt vom 9.6.1980, just nach dem Nichtzustandekommen der dritten Konferenz der kommunistischen Linken, schrieben wir: „Wie erklärt Ihr (....), daß Eure Organisation, die bereits vor dem Wiedererwachen der Klasse 1968 existiert hatte, unfähig war, von diesem Wiedererwachen zu profitieren und sich auf internationaler Ebene auszubreiten, während unsere, die 1968 praktisch noch nicht existierte, seitdem ihre Kräfte gesteigert und sich in zehn Ländern eingepflanzt hat?"

Diese Frage, die wir damals stellten, bleibt bis heute gültig. Seitdem hat es der PCInt zwar geschafft, sich international auszuweiten, indem er in Gemeinschaft mit der CWO (die ihre wesentlichen Positionen und Analysen übernommen hat) das IBRP gründete (2). Aber wir kommen nicht umhin zu erkennen, daß die Bilanz des PCInt nach mehr als einem halben Jahrhundert der Existenz sehr bescheiden ist. Die IKS hat stets die extreme numerische Schwäche und den beschränkten Einfluß von kommunistischen Organisationen in der gegenwärtigen Periode, und dies schließt unsere mit ein, hervorgehoben und bedauert. Wir gehören nicht zu jenen, die mit Bluffs ihren Weg machen und behaupten, der „Generalstab" des Proletariats zu sein. Wir überlassen es anderen Gruppen, den „großen Napoleon" hervorzukehren. Trotzdem, wenn wir von dem hier untersuchten Kriterium des „Erfolges" ausgehen, schneidet die „winzige GCF" weitaus besser ab als der PCInt, auch wenn sie 1952 aufgehört hat zu existieren. Mit Sektionen oder Kernen in 13 Ländern, 11 regelmäßigen territorialen Publikationen in sieben verschiedenen Sprachen (einschließlich der am weitesten verbreiteten in den Industrieländern: Englisch, Deutsch, Spanisch und Französisch), einer vierteljährlichen theoretischen Zeitschrift in drei Sprachen, ist die IKS, die um die Positionen und politischen Analysen der GCF herum gegründet worden war, heute zweifellos nicht nur die größte und am weitesten verbreitete politische Organisation der Linkskommunisten, sondern auch und vor allem diejenige, die im letzten Vierteljahrhundert die positivste Dynamik in ihrer Entwicklung erfahren hat. Das IBRP mag wohl erkennen, daß der „Erfolg" der Erben der GCF, gemessen an jenem des PCInt, Beweis für die Schwäche der Arbeiterklasse ist. Wenn die Kämpfe und das Bewußtsein letzterer mehr entwickelt sind, wird sie sicherlich die Positionen und die Parolen des PCInt anerkennen und sich viel massiver um sie umgruppieren als heute. Jedenfalls ist dies ein tröstlicher Gedanke.

Tatsächlich kann das IBRP, wenn es den fabelhaften „Erfolg" des PCInt beschwört, nicht deren Fähigkeit meinen, den Grundstein für die künftige organisatorische Basis der Weltpartei gelegt zu haben (es sei denn, es nimmt Zuflucht zu Spekulationen, was das IBRP in der Zukunft sein könnte). Wir sehen uns daher veranlaßt, ein anderes Kriterium zu untersuchen: Hat der PCInt zwischen 1945 und 1946 (d.h. als er seine erste Plattform annahm) einen wesentlichen Beitrag zur Erarbeitung des kommunistischen Programms geleistet?

Wir wollen hier nicht all die in dieser Plattform enthaltenen Positionen begutachten, die sicherlich einige exzellente Dinge enthalten. Wir werden unseren Blick nur auf ein paar programmatische Punkte richten, die schon damals äußerst wichtig waren und über die wir kein großes Quantum an Klarheit in der Plattform finden können. Wir beziehen uns hier auf den Charakter der UdSSR, auf die sog. „nationalen und kolonialen Befreiungskämpfe" und auf die Gewerkschaftsfrage.

Die gegenwärtige Plattform des IBRP ist sich im klaren über die kapitalistische Natur der Gesellschaft, die bis 1990 in Rußland existierte, über die Rolle der Gewerkschaften als Instrumente zur Bewahrung der bürgerlichen Ordnung, die in keiner Weise vom Proletariat „wiedererobert" werden können, und über den konterrevolutionären Charakter der nationalen Befreiungskämpfe. Diese Klarheit ist jedoch nicht in der Plattform des PCInt von 1945 zu finden, in der die UdSSR noch immer als „proletarischer Staat" definiert ist, in der die Arbeiterklasse zur Unterstützung bestimmter nationaler und kolonialer Kämpfe aufgerufen wird und in der die Gewerkschaften noch immer als Organisationen betrachtet werden, die vom Proletariat „wiedererobert" werden können, bemerkenswerterweise durch die Schaffung von Minderheiten unter der Führung des PCInt (3). In derselben Periode hat die GCF bereits die alten Analysen der Italienischen Linken über die proletarische Natur der Gewerkschaften in Frage gestellt und begriffen, daß die Arbeiterklasse diese Organe nicht mehr wiedererobern kann. Die Analyse der kapitalistischen Natur der UdSSR war bereits während des Krieges von der Italienischen Fraktion, die sich um den Kern in Marseilles rekonstituiert hatte, erarbeitet worden. Und endlich war die konterrevolutionäre Natur der nationalen Kämpfe, die Tatsache, daß sie nichts anderes als Momente des imperialistischen Konflikts zwischen den Großmächten sind, bereits in den 30er Jahren von der Fraktion nachgewiesen worden. Deshalb halten wir heute daran fest, was die GCF 1946 über den PCInt gesagt hat und was das IBRP derart aufregt. Wie letzteres es formuliert: „Die GCF argumentiert, daß die Internationalistische Kommunistische Partei kein Fortschritt gegenüber der alten Fraktion der Linkskommunisten darstellt, die während der Mussolini-Diktatur ins französische Exil ging" (ICR, Nr. 15). Auf der Ebene der programmatischen Klarheit sprechen die Fakten für sich (4).

Wir können also nicht erkennen, daß die programmatischen Positionen des PCInt von 1945 Bestandteil seines „Erfolges" waren, zumal ein guter Teil von ihnen später revidiert wurde, besonders 1952 zur Zeit des Kongresses, als die Spaltung von der Tendenz Bordigas stattfand, und sogar noch später. Wenn uns das IBRP die kleine Ironie erlaubt, möchten wir sagen, daß einige seiner gegenwärtigen Positionen mehr von der GCF als vom PCInt von 1945 inspiriert worden sind. Also worin liegt der „große Erfolg" dieser Organisation? Alles, was übrigbleibt, ist ihre numerische Stärke und der Einfluß, den sie in einem bestimmten Augenblick der Geschichte hatte.

Es ist ganz richtig, daß zwischen 1945 und 1947 der PCInt fast 3000 Mitglieder und eine bedeutende Anzahl von Arbeitern hatte, die sich mit ihm identifizierten. Heißt das, daß diese Organisation imstande war, eine bedeutsame Rolle in den historischen Ereignissen zu spielen und sie zur proletarischen Revolution zu lenken, auch wenn dies nicht das endgültige Resultat war? Natürlich können wir dem PCInt nicht vorwerfen, angesichts einer revolutionären Situation in seiner Verantwortung versagt zu haben, weil solch eine Situation 1945 nicht herrschte. Aber genau da drückt der Schuh. Wie der Artikel des IBRP sagt, hegte der PCInt die „Erwartung, daß die Unruhen der Arbeiter sich nicht nur auf Norditalien beschränken würden, als der Krieg sich dem Ende näherte". In der Tat wurde der PCInt 1943 auf der Basis des Wiederauflebens der Arbeitermilitanz in Norditalien konstituiert, wobei er diese Kämpfe als die ersten einer neuen revolutionären Welle betrachtete, die aus dem Krieg heraus entstehen würde, wie dies am Ende des Ersten Weltkrieges der Fall gewesen war. Die Geschichte hat diese Perspektive widerlegt. Aber 1943 war es vollkommen gerechtfertigt, sie aufzustellen (5). Zwar waren die Kommunistische Internationale und die meisten kommunistischen Parteien, einschließlich der italienischen Partei, gebildet worden, als die revolutionäre Welle, die 1917 begann, mit der Zerschlagung des deutschen Proletariats im Januar 1919 am abebben war. Aber die Revolutionäre dieser Zeit waren sich dessen noch nicht bewußt (und eines der großen Verdienste der Italienischen Linken war es, zu den ersten Strömungen zu gehören, die realisierten, daß das Gleichgewicht zwischen Proletariat und Bourgeoisie umgekippt war). Als jedoch die Konferenz Ende 1945 und Anfang 1946 abgehalten wurde, war der Krieg bereits vorbei, und die proletarischen Reaktionen, die dadurch hervorgerufen worden waren, wurden durch eine systematische Politik der Prävention von seiten der Bourgeoisie schon im Keim erstickt (6). Trotzdem stellte der PCInt seine bisherige Politik nicht in Frage (auch wenn auf der Konferenz einige Stimmen laut wurden, daß nichts außer der Griff der Bourgeoisie um die Arbeiterklasse gestärkt worden ist). Was 1943 ein völlig verständlicher Irrtum gewesen war, war 1945 bereits weitaus weniger zu entschuldigen. Dennoch verfolgte der PCInt denselben Weg und stellte nie die Berechtigung seiner Gründung 1943 in Frage.

Am schlimmsten war jedoch nicht der Irrtum des PCInt bei der Einschätzung der historischen Periode und seine Schwierigkeiten, diesen Irrtum zu erkennen. Viel katastrophaler waren die Art und Weise, in der sich der PCInt entwickelte, und die Positionen, zu denen er verleitet wurde, vor allem weil er versuchte, sich den Illusionen einer im Rückzug befindlichen Arbeiterklasse „anzupassen".

Die Gründung des PCInt

 

Als er 1943 gegründet wurde, erklärte sich der PCInt selbst zum Erben der von der Italienischen Fraktion der Linkskommunisten erarbeiteten Positionen. Überdies zählte er, während sein Hauptanimator, Onorato Damen, einer der Führer der Linken in den 20er Jahren, seit 1924 in Italien blieb (die meiste Zeit in Mussolinis Gefängnissen, aus denen er während der Ereignisse von 1942/43 befreit wurde) (7), in ihren Reihen eine gewisse Zahl von Militanten der Fraktion zu sich, die zu Beginn des Krieges nach Italien zurückgekehrt waren. Und in der Tat können wir in den ersten heimlichen Ausgaben des Prometeo (das den traditionellen Namen der Zeitung der Linken in den 20er Jahren und der Italienischen Fraktion in den 30ern angenommen hatte), veröffentlicht seit November 1943, klare Denunziationen des imperialistischen Krieges, des Antifaschismus und der Partisanenbewegungen finden (8). Doch nach 1944 orientierte sich der PCInt in Richtung Agitation unter den Partisanengruppen; im Juni veröffentlichte er ein Manifest, das aufrief zur „Umwandlung der Partisanengruppen, die sich aus proletarischen Elementen mit einem gesunden Klassenbewußtsein zusammensetzen, in Organe der proletarischen Selbstverteidigung, dazu bereit, in den revolutionären Kampf um die Macht einzugreifen". Im August 1944 ging Prometeo Nr. 15 über solche Kompromisse sogar noch hinaus: „Die kommunistischen Elemente glauben aufrichtig an die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Nazifaschismus und denken, daß, wenn dieses Objekt erst einmal niedergeworfen ist, sie in der Lage sein werden, den Weg der Machteroberung und des Sturzes des Kapitalismus zu beschreiten." Dies war eine Wiederbelebung der Idee, die als Basis für all jene gedient hatte, die, wie die Anarchisten und Trotzkisten, die Arbeiter auf dem Weg zum spanischen Bürgerkrieg dazu aufgerufen hatten, „erst den Sieg über den Faschismus zu erringen und dann die Revolution zu machen". Es war das Argument jener, die die Sache des Proletariats verraten und sich unter den Fahnen des einen oder anderen imperialistischen Lagers eingereiht hatten. Dies war beim PCInt nicht der Fall, weil er von der Tradition der Linken der Kommunistischen Partei stark durchdrungen blieb, welche sich angesichts des Aufstiegs des Faschismus Anfang der 20er Jahre durch ihre unversöhnliche Klassenhaltung abhob. Gleichwohl zeigte das Erscheinen solcher Argumente in der Presse des PCInt, wie weit die Dinge gehen konnten. Darüberhinaus trat eine gewisse Anzahl von Militanten des PCInt den Partisanengruppen bei und folgten somit dem Beispiel einer Minderheit in der Fraktion, die 1936 den antifaschistischen Milizen der POUM in Spanien beitraten. Aber während eine Minderheit der Fraktion mit der Organisationsdisziplin gebrochen hatte, so war dies keineswegs der Fall bei den Militanten des PCInt: Sie erfüllten lediglich die Direktiven der Partei (9).

Es ist offenkundig, daß der Wille, ein Maximum an Arbeitern in der und um die Partei herum zu sammeln, zu einer Zeit, als erstere en masse dem „Partisanentum" erlagen, den PCInt dazu verleitete, Abstand zu nehmen von der Unversöhnlichkeit, die er ursprünglich gegenüber dem Antifaschismus und den Partisanen gezeigt hatte. Dies ist keine „Verleumdung" durch die IKS, die sich an die „Verleumdungen" der GCF anschließt. Dieser Hang zur Rekrutierung neuer Militanter ohne allzuviel Sorge um die Festigkeit ihrer internationalistischen Überzeugungen wurde vom Genossen Danielis bemerkt, der verantwortungsbewußt die Stellung in der Turiner Förderation 1945 hielt und der ein altes Mitglied der Fraktion war: „Eines muß für jeden klar sein: Die Partei hat schwer an der oberflächlichen Ausweitung ihres politischen Einflusses – das Ergebnis eines ebenso oberflächlichen Aktivismus – gelitten. Ich möchte von einer persönlichen Erfahrung erzählen, die als Warnung vor der Gefahr für die Partei dienen soll, einen oberflächlichen Einfluß auf gewisse Schichten der Massen auszuüben, der eine automatische Konsequenz der gleichermaßen oberflächlichen theoretischen Bildung ihrer Kader ist (...) Man könnte annehmen, daß kein Mitglied der Partei die Richtung des ‘Komitees der Nationalen Befreiung’ akzeptiert hätte. Jetzt, am Morgen des 25.April (der Tag der ‘Befreiung’ Turins), befand sich die gesamte Turiner Förderation unter Waffen und bestand darauf, an der Krönung von sechs Jahren Massaker teilzunehmen, und einige Genossen aus der Provinz – noch unter militärischer Disziplin – kamen nach Turin, um an der Menschenjagd teilzunehmen (...) Die Partei existiert nicht mehr; sie hat sich selbst liquidiert" (Sitzungsberichte des Kongresses des PCInt im Mai 1948 in Florenz). Offenbar war auch Danielis ein „Verleumder".

Im Ernst, wenn Wörter irgeneine Bedeutung haben sollen, dann war die Politik des PCInt, die 1945 solch einen großen „Erfolg" ermöglichte, nichts anderes als opportunistisch. Noch weitere Beispiele gefällig? Wir können aus einem vom 10. Februar 1945 datierten Brief zitieren, der vom „Agitationskomitee" des PCInt gerichtet ist „an die Agitationskomitees von Parteien mit einer proletarischen Ausrichtung und an Gewerkschaftsbewegungen in den Unternehmen, um dem revolutionären Kampf des Proletariats eine Einheit in den Direktiven und der Organisation zu verleihen (...) Zu diesem Zweck schlagen wir eine Versammlung der diversen Komitees vor, um einen gemeinsamen Plan zu entwerfen" (Prometeo, April 1945) (10). Die „Parteien mit proletarischer Ausrichtung", die hier erwähnt werden, sind die sozialistischen und stalinistischen Parteien. Wie überraschend dies heute auch erscheinen mag, es ist absolut wahr. Als wir in der International Review Nr. 32 an diese Fakten erinnerten, antwortete der PCInt: „War das Dokument ‘Appell des Agitationskomitees des PCInt’, das in der Ausgabe vom April ‘45 veröffentlicht wurde, ein Irrtum? Zugegeben, es war der letzte Versuch der Italienischen Linken, die Taktik der ‘Einheitsfront von unten’ anzuwenden, unterstützt dabei von der KP Italiens in ihrer Polemik mit der KI 1921–23. Als solches legen wir ihn in die Kategorie der ‘Jugendsünden’, denn die Genossen waren in der Lage, ihn sowohl auf politischer als auch organisatorischer Ebene mit einer Klarheit zu eliminieren, die uns heute in diesem Punkt ganz sicher macht" (Battaglia Comunista, Nr. 3, Februar 1983). Darauf antworteten wir: „Wir können die Feinheit und Vornehmheit bewundern, mit der BC sein eigenes Image umhätschelt. Wenn der Vorschlag einer Einheitsfront mit den stalinistischen und sozialdemokratischen Schlächtern nur eine ‘Jugendsünde’ war, was hätte der PCInt 1945 noch machen müssen, um wirklich einen ernsten Fehler zu begehen? (...) In die Regierung eintreten?" (International Review, Nr. 34 engl./franz./span. Ausgabe) (11) Jedenfalls ist klar, daß 1944 die Politik des PCInt einen wirklichen Rückschritt darstellte, verglichen mit jener der Fraktion. Und was für einen Rückschritt! Die Fraktion hatte lange zuvor eine eingehende Kritik der Taktik der Einheitsfront gemacht, und seit 1935 hatte sie die stalinistische Partei nicht mehr eine „Partei mit proletarischer Ausrichtung" genannt, ganz zu schweigen von der Sozialdemokratie, deren bürgerliche Natur seit den 20er Jahren erkannt war.

Diese opportunistische Politik des PCInt kann auch in der „Öffnung" und in dem Mangel an Strenge beobachtet werden, den er Ende des Krieges in seinen Expansionsbestrebungen gezeigt hatte. Die Zweideutigkeiten des PCInt im Norden des Landes waren nichts, verglichen mit jenen der Gruppen im Süden, die Ende des Krieges in die Partei hineingelassen wurden. Zum Beispiel die „Frazione di sinistra dei comunisti e socialisti", die in Neapel um Bordiga und Pistone gegründet wurde: Gleich von Beginn des Jahres 1945 an praktizierte sie eine Entrismusstrategie in die stalinistische PCI, in der Hoffnung, diese wieder auf die Beine zu stellen. Sie war besonders vage in der Frage der UdSSR. Der PCInt öffnete seine Türen auch für Elemente aus der POC (Kommunistische Arbeiterpartei), die eine Zeitlang die italienische Sektion der trotzkistischen Vierten Internationalen gebildet hatte.

Wir wollen auch daran erinnern, daß Vercesi, der während des Krieges den Schluß gezogen hatte, daß nichts zu tun wäre, und der am Ende des Krieges an der „Coalizione Antifascista" in Brüssel teilgenommen hatte (12), ebenfalls der neuen Partei beitrat, ohne daß letztere verlangt hätte, daß er seine antifaschistischen Abweichungen verurteilt. Über diesen Punkt und zugunsten des PCInt schrieb O. Damen im August 1976 an die IKS: „Das Brüsseler Antifaschistische Komitee in der Person von Vercesi, der dachte, in den PCInt eintreten zu müssen, als dieser gegründet wurde, hielt an seinen pervertierten Positionen fest, bis die Partei unter den Opfern, die die Klarheit erfordert, sich selbst von dem toten Stamm des Bordigismus losmachte." Darauf antworteten wir: „Was für eine elegante Art der Darstellung! Er – Vercesi – dachte, er müsse eintreten!? Und die Partei – was dachte die Partei darüber? Oder ist die Partei ein Bridge-Klub, dem jeder beitreten kann?" (IR, Nr. 8 engl./franz. Ausgabe). Es sollte angemerkt werden, daß Damen in diesem Brief offen genug war anzuerkennen, daß die Partei 1945 noch nicht „die Opfer, die die Klarheit erfordert", geleistet hatte, sondern erst später, im Jahre 1952. Wir können diese Bestätigung nur unterstreichen, die allen Fabeln über die „große Klarheit" widerspricht, die über die Gründung des PCInt die Aufsicht führte, welche gemäß des IBRP einen „Schritt vorwärts" gegenüber der Fraktion darstellte (13).

Der PCInt äußerte keinerlei Bedenken gegenüber den Mitgliedern der Minderheit in der Fraktion, die sich 1936 den antifaschistischen Milizen in Spanien angeschlossen hatten und die daraufhin der Union Communiste (14) beitraten. Diese Elemente wurden für würdig erklärt, in die Partei integriert zu werden, ohne auch nur die leiseste Kritik an ihren vergangenen Irrtümern zu üben. O. Damen schrieb über diese Frage im selben Brief:

„Bezüglich der Genossen, die während des Krieges in Spanien entschieden haben, die Italienische Fraktion der Kommunistischen Linken abzuschaffen und sich selbst in ein Abenteuer zu werfen, das sie außerhalb der Klassenpositionen führt: Wir sollten uns daran erinnern, daß die Ereignisse in Spanien, die die Positionen der Fraktion nur bestätigten, diesen Genossen eine Lehre war und ihnen erlaubte, zur revolutionären Linken zurückzukehren." Worauf wir antworteten: „Es ging diesen Elementen niemals darum, zu den Linkskommunisten zurückkehren, bis die Fraktion sich auflöste und ihre Militanten in den PCInt integriert wurden (Ende 1945). Es ging niemals darum, eine ‘Lehre’ zu ziehen, oder darum, daß diese Militanten ihren alten Positionen abschworen und ihre Teilnahme im antifaschistischen Krieg in Spanien verurteilten" (ebenda). Wenn das IBRP dies als eine neue „Verleumdung" durch die IKS ansieht, dann sollte es uns die Dokumente zeigen, die das beweisen. Und wir fuhren fort: „Es ging einfach darum, daß die Euphorie und Konfusion bei der Gründung der Partei ‘mit Bordiga’ diese Genossen dazu anregte, (...) der Partei beizutreten... Die Partei in Italien forderte diese Genossen nicht zur Rechenschaft über ihre vergangenen Aktivitäten auf. Dies geschah nicht aus Ignoranz (...) Es geschah, weil es an der Zeit gewesen sei, ‘alte Streits’ zu vergessen: Die Rekonstitution der Partei wischte den Tisch rein. Einer Partei, die sich nicht sehr klar über die Wirkung der Partisanenbewegung auf ihre eigenen Militanten ist, ist eine strenge Haltung gegenüber dem, was die Minderheit einige Jahre zuvor getan hatte, kaum zuzutrauen. Also war es nur ‘natürlich’, daß sie ihre Türen diesen Genossen öffnete..." (ebenda).

In der Tat war die GCF die einzige Organisation, die nicht die Gunst des PCInt fand und zu der letzterer keinerlei Beziehung haben wollte, und zwar deshalb, weil sie sich auf den Boden derselben Strenge und Unnachgiebigkeit stellte, die die Fraktion in den 30er Jahren auszeichneten. Und es trifft zu, daß die Fraktion jener Periode den Mischmasch, aus dem der PCInt gebildet wurde, nur verurteilt hätte. In der Tat ähnelte es der Praxis des Trotzkismus, für den die Fraktion nur die harschesten Worte übrig hatte.

In den 20er Jahren hatten sich die Linkskommunisten der opportunistischen Orientierung auf dem Dritten Kongress der Kommunistischen Internationalen widersetzt, besonders dem Bestreben, „zu den Massen zu gehen", zu einer Zeit, als die revolutionäre Welle im Rückfluß begriffen war. Diese Orientierung hatte Fusionen mit den aus den sozialistischen Parteien stammenden zentristischen Strömungen (die Unabhängigen in Deutschland, die „Terzini" in Italien, Cachin-Frossard in Frankreich etc.) und die Politik der „Einheitsfront" mit den SPs zur Folge. Dieser Methode der „breiten Sammlung", die von der KI benutzt wurde, um Kommunistische Parteien zu errichten, widersetzten sich Bordiga und die Linken, die die Methode der „Auswahl" vorzogen, die auf einer strengen und unnachgiebigen Verteidigung der Prinzipien basierte. Die Politik der KI hatte mit der Isolation und dem endgültigen Ausschluß der Linken sowie der Invasion der Partei durch opportunistische Elemente, die die besten Träger der Degeneration waren, tragische Konsequenzen.

Zu Beginn der 30er Jahre hatte die Italienische Linke, voller Vertrauen in ihre Politik der 20er Jahre, innerhalb der internationalen Linksopposition für dieselbe Rigorosität gegenüber der opportunistischen Politik Trotzkis gefochten, für den die Anerkennung der ersten vier Kongresse der KI und vor allem seine eigenen taktischen Manöver weitaus wichtigere Kriterien für die Umgruppierung waren als die Auseinandersetzungen, die innerhalb der KI gegen deren Degeneration ausgetragen wurden. Bei einer solchen Politik waren die gesundesten Elemente, die danach trachteten, eine internationale Strömung der Linkskommunisten aufzubauen, entweder korrupt, entmutigt oder zur Isolation verurteilt. Auf solch zerbrechlichem Fundament basierend, durchlitt die trotzkistische Strömung eine Krise nach der anderen, ehe sie während des Zweiten Weltkrieges mit Sack und Pack ins bürgerliche Lager wechselte. Was die Italienische Linke angeht, so war das Resultat ihrer unnachgiebigen Haltung ihr Ausschluß aus der Linksopposition 1933 mit Trotzki gewesen, der auf das Phantom einer „Neuen Italienischen Opposition" (NIO) setzte, die sich aus Elementen zusammensetzte, die an der Spitze der PCI 1930 für den Ausschluß von Bordiga aus der Partei gestimmt hatten.

1945 nahm der PCInt, sorgsam darauf bedacht, seine Mitgliederschaft so gut wie möglich zu verstärken, und mit dem Anspruch angetreten, Erbe der Linken zu sein, tatsächlich nicht die Politik letzterer gegenüber der KI und dem Trotzkismus auf, sondern genau jene Politik, die von der Linken bekämpft worden war: eine „breite" Sammlung, die auf programmatischen Zweideutigkeiten beruht, eine Umgruppierung – ohne nach irgendeiner „Rechenschaft" zu fragen – auf der Basis von Militanten und „Persönlichkeiten" (15), die sich den Positionen der Fraktion während des Krieges in Spanien widersetzt hatten, eine opportunistische Politik, die den Illusionen der Arbeiter in Partisanenverbänden und Parteien, welche längst zum Feind übergelaufen waren, schmeichelte etc. Und um diese Sammlung so vollständig wie möglich zu machen, mußte die GCF aus der internationalen linkskommunistischen Strömung ausgeschlossen werden, eben weil sie am loyalsten zum Kampf der Fraktion stand. Gleichzeitig war die einzige Gruppe, die als Repräsentant der Linkskommunisten in Frankreich anerkannt wurde, die Französische Fraktion der Kommunistischen Linken (FFGC bis). Dabei sollte man sich in Erinnerung rufen, daß diese Gruppe von drei jungen Elementen gegründet wurde, die sich im Mai 1945 von der GCF abgespalten hatten, Mitglieder der Ex-Minderheit in der Fraktion die während des Spanischen Krieges ausgeschlossen wurden, und der ehemaligen Union Communiste, die zur gleichen Zeit dem Antifaschismus anheimgefallen war (16). Gibt es nicht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dieser Haltung des PCInt und der Politik Trotzkis gegenüber der Fraktion und der NIO?

Marx schrieb, daß „Geschichte sich stets wiederholt, das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce". Ein bißchen davon trifft auf die nicht sehr glorreiche Episode der Gründung des PCInt zu. Unglücklicherweise sollten die folgenden Ereignisse zeigen, daß diese Wiederholung der von der Linken in den 20er und 30er Jahren vertretenen Politik durch den PCInt von 1945 eher dramatische Konsequenzen hatte.

Die Konsequenzen der opportunistischen Herangehensweise des PCInt

Wenn wir die Sitzungsberichte der Konferenz des PCInt von Ende 1945, Anfang 1946 lesen, sind wir lediglich von der Heterogenität beeindruckt, die hier vorherrscht.

Die Hauptführer waren sich uneinig über die Analyse der historischen Periode, die eine ganz wichtige Frage war. Damen fuhr fort, die „offizielle Position" zu vertreten: „Der neue Kurs der Geschichte des proletarischen Kampfes ist offen. Unsere Partei hat die Aufgabe, diesen Kampf in die Richtung zu lenken, die es ermöglichen wird, während der nächsten unvermeidlichen Krise dem Krieg und seinen Betreibern rechtzeitig und endgültig durch die proletarische Revolution das Handwerk zu legen" („Bericht über die internationale Situation und die Perspektiven", S. 12).

Aber gewisse Stimmen bemerkten, ohne es offen zu sagen, daß die Bedingungen für die Bildung der Partei nicht günstig waren:

„.... was heute vorherrscht, ist die ‘Kampf-bis-zum-Ende’-Ideologie der CLN und der Partisanenbewegung, und deshalb sind die Bedingungen für die siegreiche Behauptung des Proletariats nicht vorhanden. Folglich können wir den gegenwärtigen Augenblick nur als reaktionär qualifizieren" (Vercesi, „Die Partei und internationale Probleme", S. 14).

„Als Schlußfolgerung aus dieser politischen Bilanz ist es notwendig, uns selbst zu fragen, ob wir weitermachen sollen mit einer Politik der Erweiterung unseres Einflusses, oder ob uns die Situation in einer vergifteten Atmosphäre die Notwendigkeit aufzwingt, die elementaren Fundamente unserer politischen und ideologischen Abgrenzung zu schützen, die Kader ideologisch zu stärken, sie gegen die Bazillen, die man in der gegenwärtigen Umwelt einatmet, zu immunisieren und sie so auf die neuen politischen Positionen vorzubereiten, die sich ihnen morgen präsentieren. Nach meiner Auffassung sollte die Aktivität der Partei erst in zweiter Linie auf alle Bereiche gerichtet sein" (Maffi, „Politisch-organisatorische Beziehungen in Norditalien").

Mit anderen Worten, Maffi befürwortet die klassische Arbeit einer Fraktion.

In der parlamentarischen Frage sehen wir dieselbe Heterogenität:

„Daher werden wir unter einem demokratischen Regime alle Zugeständnisse, soweit diese Situation die Interessen des revolutionären Kampfes nicht beeinträchtigt, ausnutzen. Wir bleiben unwiderruflich antiparlamentarisch; aber der Sinn fürs Konkrete, der unsere Politik anregt, läßt uns jede, im voraus bestimmte abstentionistische Position ablehnen" (Damen, ebenda, S. 12).

„Maffi, der über die durch die Partei abgesegneten Schlußfolgerung hinaus ging, fragte, ob das Problem des Wahlabstentionismus in seiner alten Form (Teilnahme an den Wahlen nur, wenn die Situation sich in Richtung einer revolutionären Explosion bewegt) gestellt werden sollte, oder ob es im Gegenteil in einem Umfeld, das von Wahlillusionen korrumpiert sei, nicht besser wäre, eine klar gegen die Wahlen gerichtete Position einzunehmen. Sich nicht an die uns von der Bourgeoisie gemachten Zugeständnissen klammern (Zugeständnisse, die nicht ein Ausdruck ihrer Schwäche, sondern ihrer Stärke sind), sondern uns mit dem realen Prozeß des Klassenkampfes und unserer linken Tradition verbinden" (ebenda; S. 12)

Sollen wir noch hervorheben, daß Bordigas linke Strömung in der Italienischen Sozialistsichen Partei während des Ersten Weltkrieges als „Abstentionistische Fraktion" bekannt war?

Auch in der Gewerkschaftsfrage argumentiert der Berichterstatter Luciano Stefanini gegen die schließlich angenommene Position: „Die politische Linie der Partei in der Gewerkschaftsfrage ist noch nicht genügend deutlich. Auf der einen Seite sehen wir die Gewerkschaften als Dependancen des kapitalistischen Staates an; auf der anderen Seite laden wir die Arbeiter dazu ein, innerhalb ihrer zu kämpfen und sie von innen zu erobern, um sie zu Klassenpositionen zu bringen. Diese Möglichkeit wird jedoch durch die oben erwähnte kapitalistische Evolution ausgeschlossen. Die gegenwärtigen Gewerkschaften können ihre Physiognomie als Staatsorgan nicht ändern. Die Forderung nach neuen Massenorganen ist heute nicht gültig, aber die Partei hat die Pflicht, den Verlauf der Ereignisse vorherzusagen und den Arbeitern anzuzeigen, welche Art von Organen, die aus der Entwicklung der Situation heraus entstehen, als einheitliche Führung für das Proletariat unter der Leitung der Partei nötig sind. Die Vorstellung, Kommandostellen im gegenwärtigen Gewerkschaftsorganismus zu halten, um sie umzuwandeln, muß endgültig zu Grabe getragen werden" (S. 18/19).

Nach dieser Konferenz schrieb die GCF:

„Die neue Partei ist keine politische Einheit, sondern ein Konglomerat, eine Addition von Strömungen und Tendenzen, die es nicht fertigbringen, aufzutreten und einander zu konfrontieren. Der gegenwärtige Waffenstillstand kann nur provisorisch sein. Die Eliminierung der einen oder anderen Strömung ist unvermeidbar. Früher oder später wird sich eine politische und organisatorische Definition von allein aufdrängen" (Internationalisme, Nr. 7, Februar 1946).

Nach einer Periode der intensiven Rekrutierung begann die Phase der Definitionssuche. Ende 1946 führte die Unruhe, die im PCInt durch seine Teilnahme an Wahlen provoziert wurde (viele Militante konnten die abstentionistische Tradition der Linken einfach nicht vergessen), die Parteiführung dazu, eine Stellungnahme in der Presse mit dem Titel „Unsere Stärke" zu veröffentlichen, worin zur Disziplin aufgerufen wurde. Nach der Euphorie der Turiner Konferenz verließen viele entmutigte Militante die Partei. Eine gewisse Anzahl von Elementen spaltete sich ab, um an der Gründung der trotzkistischen POI teilzunehmen, Beweis dafür, daß es für sie keinen Platz gab in einer Organisation der Linkskommunisten. Viele Militante wurden ausgeschlossen, ohne daß die Divergenzen klar zutage traten, zumindest in der öffentlichen Presse. Eine der Förderationen spaltete sich ab, um die „Autonome Turiner Förderation" zu bilden. 1948, auf dem Florentiner Kongreß, hatte die Partei bereits die Hälfte ihrer Mitglieder und ihre Presse die Hälfte ihrer Leser verloren. Was den „Waffenstillstand" von 1946 anbetrifft, so wurde er in einen „bewaffneten Frieden" umgewandelt, den die Führer nicht zu stören versuchten, indem sie bei den Hauptdivergenzen Irreführung betrieben. So sagte Maffi, daß er „davon absieht, dieses oder jenes Problem anzusprechen, weil ich weiß, daß diese Diskussion die Partei vergiften würde". Dies hinderte den Kongreß jedoch nicht daran, die Position zu den Gewerkschaften, die anderthalb Jahre zuvor angenommen worden war (die Position von 1945, die angeblich durch so viel Klarheit glänzt), radikal in Frage zu stellen. Dieser bewaffnete Frieden führte schließlich zu einer offenen Konfrontation (besonders nachdem Bordiga 1949 der Partei beigetreten war), was 1952 in die Spaltung zwischen der Damen-Tendenz und der von Bordiga und Maffi angeregten Tendenz mündete, die der Ursprung von Programma Comunista war. Was die „Schwesterorganisationen" angeht, die der PCInt bei der Bildung eines Internationalen Büros der Kommunistischen Linken aufgezählt hat, so sind ihre Ergebnisse noch weniger beneidenswert. Die belgische Fraktion hörte mit der Veröffentlichung von L’Internationaliste 1949 auf und verschwand bald darauf; die französische Fraktion FFGC ging durch einen zweijährigen Niedergang, in dem die meisten ihrer Mitglieder sie verließen, bevor sie als die französische Gruppe der Internationalen Kommunistischen Linken wieder erschien, die sich mit der bordigistischen Strömung verband (17).

Der „größte Erfolg seit der Russischen Revolution" war also kurzlebig. Und wenn uns das IBRP zur Stärkung seiner Argumente für diesen „Erfolg" erzählt, daß der PCInt „trotz eines halben Jahrhunderts der weiteren kapitalistischen Vorherrschaft, seine Existenz fortgesetzt hat und heute wächst", vergißt es darauf hinzuweisen, daß der heutige PCInt in Bezug auf die Mitgliederschaft und auf seine Zuhörerschaft nicht viel damit zu tun hat, was er Ende des letzten Krieges dargestellt hat. Ohne lange bei Vergleichen zu verweilen, können wir sagen, daß die Größe dieser Organisation heute annähernd jener des direkten Erben der „winzigen GCF" entspricht, der französischen Sektion der IKS. Und wir wollen in der Tat glauben, daß der PCInt „heute wächst". Auch die IKS hat in der jüngsten Periode herausgefunden, daß es ein größeres Interesse an den Positionen der Kommunistischen Linken gibt, was sich insbesondere durch eine gewisse Anzahl neuer Mitglieder ausgedrückt hat. Dennoch denken wir nicht, daß das gegenwärtige Wachstum es dem PCInt ermöglichen wird, schnell auf den Mitgliederstand von 1945/46 zurückzukehren.

So reicht dieser große „Erfolg" nur bis zur nicht sehr glorreichen Situation, in der eine Organisation, die damit fortfährt, sich selbst eine „Partei" zu nennen, tatsächlich dazu gezwungen ist, die Rolle einer Fraktion zu spielen. Was viel bedenklicher ist, ist, daß heute das IBRP nicht die Lehren aus dieser Erfahrung zieht und vor allem nicht die opportunistische Methode in Frage stellt, welche einer der Gründe dafür ist, daß der „glorreiche Erfolg" von 1945 den darauf folgenden „Mißerfolg" einleitete (18).

Dieses unkritische Verhalten gegenüber den opportunistischen Abweichungen des PCInt in seinen Ursprüngen läßt uns befürchten, daß das IBRP, wenn die Klassenbewegung entwickelter als heute ist, versuchen wird, zu denselben opportunistischen Zweckmäßigkeiten Zuflucht zu nehmen, wie wir sie hervorgehoben waren. Die Tatsache, daß das Haupt-"Kriterium des Erfolgs" einer proletarischen Organisation für das IBRP die Anzahl der Mitglieder und der Einfluß ist, den sie zu einem gegebenen Augenblick hat, wobei die programmatische Strenge und die Fähigkeit, das Fundament für eine langfristige Arbeit anzulegen, außer acht gelassen werden, enthüllt die immediatistische Herangehensweise, die es gegenüber der Organisationsfrage pflegt. Und wir wissen, daß der Immediatismus der Vorraum des Opportunismus ist. Wir können auch einige andere, akutere Konsequenzen für die Unfähigkeit des PCInt hervorheben, seine Ursprünge zu kritisieren.

An erster Stelle verleitete die Tatsache, daß er (als es evident wurde, daß die Konterrevolution immer noch in Saft und Kraft war) die Gültigkeit der Gründung der Partei aufrechterhielt, den PCInt von 1945/46 dazu, die gesamte Auffassung der Italienischen Fraktion über die Beziehung zwischen Partei und Fraktion radikal zu revidieren. Für den PCInt konnte von nun an die Bildung der Partei in jedem Augenblick stattfinden, unabhängig vom Gleichgewicht der Kräfte zwischen Proletariat und Bourgeoisie (19). Dies ist die Position der Trotzkisten, nicht der Italienischen Linken, welche stets anerkannte, daß die Partei erst im Gefolge des historischen Wiedererwachens der Klasse gebildet werden kann. Aber gleichzeitig bedeutete diese Revision auch die Infragestellung der Idee, daß es bestimmte und antagonistische historische Kurse gibt: den Kurs hin zu entscheidenden Klassenkonfrontationen oder den Kurs in den Weltkrieg. Für das IBRP können diese beiden Kurse parallel verlaufen, ohne sich gegenseitig auszuschließen, was in der Unfähigkeit endet, die gegenwärtige historische Periode zu analysieren, wie wir in unserem Artikel „Die CWO und der historisch Kurs: Ein Berg von Widersprüchen" (Internationale Revue Nr. 20) aufgezeigt haben. Deshalb schrieben wir im ersten Teil des vorliegenden Artikels: „Genauer betrachtet nämlich hat die gegenwärtige Unfähigkeit des IBRP, eine Analyse des historischen Kurses herauszuarbeiten, ihre Wurzeln zu einem grossen Teil in politschen Irtümmern bezüglich der Organisationsfrage und im Speziellen in der Frage des Verhältnisses zwischen Fraktion und Partei". (Internationale Revue Nr. 22)

Hinsichtlich der Frage, ob die Erben der „winzigen GCF" da Erfolg haben, wo jene der ruhmreichen Partei von 1943-45 versagen, d.h. in der Bildung einer wirklich internationalen Organisation, schlagen wir dem IBRP vor, über folgendes nachzudenken: Die GCF, und in ihrem Kielwasser die IKS, waren bzw. sind erfolgreich, weil sie volles Vertrauen in die Herangehensweise hatten, mit der sich die Fraktion in die Lage gesetzt hatte, zur Zeit des Schiffbruchs der KI zur größten und aktivsten Strömung der Kommunistischen Linken zu werden, nämlich:

– als Fundament einer Organisation eine programmatische Strenge, die jeglichen Opportunismus, jegliche Hast, jegliche Politik der „Rekrutierung" auf wackligen Fundamenten ablehnt;

– eine klare Vorstellung von dem Begriff der Fraktion und ihrer Zusammenhänge mit der Partei;

– die Fähigkeit, die Natur des historischen Kurses korrekt zu identifizieren.

Der größte Erfolg seit dem Tod der KI (und nicht seit der Russischen Revolution) war nicht der PCInt, sondern die Fraktion. Nicht in numerischen Begriffen, sondern im Rahmen ihrer Fähigkeit, die Fundamente für die Weltpartei der Zukunft vorzubereiten, trotz ihres eigenen Verschwindens.

Im Prinzip präsentiert sich der PCInt (und nach ihm das IBRP) selbst als die politischen Erben der Italienischen Fraktion. Wir haben in diesem Artikel aufgezeigt, wie weit sich der PCInt seit seiner Gründung von der Tradition und den Positionen der Fraktion distanziert hatte. Seither hatte der PCInt eine Reihe von programmatischen Fragen geklärt, was wir als äußerst positiv ansehen. Nichtsdestotrotz erscheint es uns, daß der PCInt erst dann in der Lage ist, seinen vollen Beitrag zur Gründung der zukünftigen Weltpartei zu leisten, wenn er seine Erklärungen und seine Aktionen auf eine Linie bringt, d.h. wenn er sich die politische Herangehensweise der Italienischen Fraktion wiederaneignet. Und das bedeutet an erster Stelle, daß er sich als fähig erweist, eine ernsthafte Kritik über die Erfahrung aus der Gründung des PCInt 1943-45 zu leisten, statt sie zu rühmen und sie zum Beispiel, dem man folgen sollte, zu machen. Fabienne

Fussnoten:

 

(1) Wir nehmen an, daß der Autor des Artikels, von seinem Enthusiasmus dahingerissen, Opfer eines Schreibfehlers geworden ist und daß er eigentlich schreiben wollte „seit dem Ende der ersten revolutionären Welle und der Kommunistischen Internationalen". Wenn er es aber doch so meint, wie er schrieb, dann hätten wir gern ein paar Fragen an seine Geschichtskenntnisse und seinen Realitätssinn zu stellen: Hat er unter anderem nie von der Kommunistischen Partei Italiens gehört, welche Anfang der 20er Jahre einen viel größeren Einfluß besaß als der PCInt 1945 und gleichzeitig die Avantgarde der Internationalen in einer ganzen Reihe von politischen Fragen darstellte? Wir ziehen es jedenfalls für den Rest des Artikels vor, uns für die erste Hypothese zu entscheiden. Gegen Absurditäten zu polemisieren ist nicht in unserem Interesse.

(2) Wir erlauben uns die Bemerkung, daß während dieser Periode die IKS drei neue Territorialsektionen integrierte: in der Schweiz und in zwei Ländern der kapitalistischen Peripherie, Mexiko und Indien, Gebiete, denen das besondere Interesse des IBRP gegolten hatte (siehe insbesondere die Annahme der „Thesen über die kommunistischen Taktiken in den Ländern der kapitalistischen Peripherie" durch den 6. Kongreß des PCInt 1977).

(3) So wurde die Politik des PCInt gegenüber den Gewerkschaften formuliert: „... der substantielle Inhalt von Punkt 12 der Parteiplattform kann in folgenden Worten konkretisiert werden:

1. Die Partei strebt nach der Wiederherstellung der CGL durch den direkten Kampf des Proletariats gegen die Bosse in einzelnen und allgemeinen Klassenbewegungen.

2. Der Kampf der Partei dient nicht direkt der Spaltung der Massen von den Gewerkschaften.

3. Der Prozeß der Wiederherstellung der Gewerkschaften, der nicht ohne die Eroberung der gewerkschaftlichen Führungsorgane vonstatten gehen kann, leitet sich von einem Programm zur Organisierung des Klassenkampfes unter Führung der Partei ab."

(4) Der PCInt von heute wird durch diese Plattform von 1945 eher in Verlegenheit gebracht. Kümmerte er sich, als er 1974 dieses Dokument zusammen mit dem „Schema eines Programms", das 1944 von der Damen-Gruppe verfaßt wurde, wiederveröffentlichte, also um eine gründliche Kritik der Plattform, indem er sie dem „Schema eines Programms" gegenüberstellte, welches nicht hoch genug gelobt werden konnte? In der Einführung sagt er, daß „1945 das Zentralkomitee den Entwurf einer politischen Plattform von Genosse Bordiga erhielt, der, wir betonen, kein Mitglied der Partei war. Das Dokument, dessen Annahme in Form eines Ultimatums eingefordert wurde, wurde als unvereinbar mit den festen Positionen angesehen, welche von der Partei zu den wichtigsten Problemen eingenommen wurden, und trotz aller unternommener Modifikationen wurde das Dokument stets als Beitrag zur Debatte und nicht als De-facto-Plattform anerkannt (...) Wie wir gesehen haben, konnte das ZK das Dokument nicht akzeptieren, es sei denn als Beitrag einer einzelnen Person zur Debatte auf dem künftigen Kongreß, der, als er 1948 stattfand, die Existenz von ganz anderen Positionen erbrachte." Wir sollten noch deutlicher machen, wer genau es war, der dieses Dokument einen „Beitrag zur Debatte" nannte. Wahrscheinlich Damen und ein paar andere Militante. Sie behielten jedoch ihre Eindrücke für sich, da die Konferenz von 1945/46, d.h. die Repräsentanten der gesamten Partei eine ganz andere Position einnahmen. Das Dokument wurde einmütig als Plattform des PCInt angenommen und diente als Basis für Parteibeitritte und für die Bildung eines Internationalen Büros der Linkskommunisten. Tatsächlich wurde das „Schema eines Programms" für die Diskussion auf dem nächsten Kongreß aufgehoben. Und wenn die Genossen des IBRP wieder einmal denken, daß wir lügen, dann sollten sie in den mündlichen Sitzungsberichten der Turiner Konferenz Ende 1945 nachschlagen. Wenn etwas lügnerisch ist, dann die Art, in der der PCInt seine „Version" der Dinge 1974 darstellt. Tatsächlich ist der PCInt über gewisse Aspekte seiner eigenen Geschichte so wenig stolz, daß er es notwendig findet, sie ein bißchen zu verschönern. Angesichts dieser Feststellung können wir uns fragen, warum der PCInt es zuließ, sich irgendeinem „Ultimatum" zu unterwerfen, wo es doch von jemand stammte, der nicht einmal Parteimitglied war.

(5) Wie wir im ersten Teil dieses Artikels gesehen haben, zog die Italienische Fraktion auf ihrer Konferenz vom August 1943 die Schlußfolgerung, daß „mit dem durch die August-Ereignisse in Italien eröffneten Kurs nun der Weg frei ist für die Umwandlung der Fraktion in eine Partei". Die GCF griff bei ihrer Gründung 1944 dieselbe Analyse auf.

(6) Wir haben in unserer Presse bei einer Reihe von Gelegenheiten gezeigt, woraus diese systematische Politik der Bourgeoisie bestand – wie diese Klasse, die Lehren aus dem ersten Krieg ziehend, systematisch die Arbeit aufteilte, indem sie den besiegten Ländern die „schmutzige Arbeit" überließ (Repression gegen die Arbeiterklasse in Norditalien, die Niederschlagung des Warschauer Aufstandes etc.), während die Sieger gleichzeitig die Arbeiterkonzentrationen in Deutschland systematisch bombardierten, die besiegten Länder besetzten, um sie zu überwachen, und noch etliche Jahre nach Kriegsende Kriegsgefangene interniert hielten.

(7) Die GCF und die IKS haben oft die von Damen vertretenen Positionen genauso wie seine politischen Methoden kritisiert. Dies ändert nichts an unserer Hochachtung gegenüber der Tiefe seiner kommunistischen Überzeugung, seiner militanten Energie und seinem großen Mut.

(8) „Arbeiter! Setzt dem Schlachtruf des Nationalkrieges, der die italienischen Arbeiter gegen die deutschen und englischen Arbeiter bewaffnet, den Schlachtruf der kommunistischen Revolution entgegen, der die Arbeiter der gesamten Welt gegen ihren gemeinsamen Feind vereint: den Kapitalismus." (Prometeo, Nr. 1, 1. November 1943) „Dem Aufruf des Zentrismus (so nannte die Italienische Linke den Stalinismus), in die Partisanenbanden einzutreten, müssen wir mit unserer Präsenz in den Fabriken entgegentreten, und nur von hier kommt die Klassengewalt her, die die wesentlichen Zentren des kapitalistischen Staates zerstören wird." (Prometeo, 4. März 1944)

(9) Mehr über das Verhalten des PCInt gegenüber den Partisanen in „The ambiguities of the Internationalist Communist Party over the ‘partisans’ in Italy in 1943", International Review, Nr. 8 (engl./franz. Ausgabe).

(10) In der International Review Nr. 32 (engl./franz./span. Ausgabe) veröffentlichten wir den vollständigen Text dieses Appells wie auch unseren Kommentar dazu.

(11) Wir sollten unterstreichen, daß in dem Brief, den der PCInt der SP als Antwort auf deren Reaktion auf den Appell schickte, der PCInt diese sozialdemokratischen Schurken in der Anrede „liebe Genossen" nannte. Nicht gerade die beste Art, die Verbrechen zu demaskieren, die diese Parteien gegen das Proletariat seit dem Ersten Weltkrieg und der ihm folgenden revolutionären Welle begangen hatten. Aber ein exzellenter Weg, den Illusionen der Arbeiter, die ihnen noch folgten, zu schmeicheln.

(12) siehe den ersten Teil dieses Artikels in Internationale Revue Nr. 22;

(13) Es ist wert, über dieses Thema andere Passagen zu zitieren, die vom PCInt verfaßt wurden: „Die vom Genossen Perrone (Vercesi) zum Ausdruck gebrachten Positionen sind freie Ausdrücke einer sehr persönlichen Erfahrung und einer auf Phantasie basierenden politischen Perspektive, welche nicht als massgebend für eine Kritik der Gründung des PCInt verwendet werden können." (Prometeo, Nr. 18, 1972) Das Problem ist, daß diese Positionen im Bericht über „Die Partei und internationalen Probleme" zum Ausdruck kamen, welcher der Konferenz durch das Zentralkomitee, dessen Mitglied Vercesi war, vorgestellt wurde. Das Urteil der Militanten von 1972 über ihre Partei 1945/46 ist wahrlich hart, eine Partei, deren Zentralorgan einen Bericht präsentiert, in dem egal was gesagt werden kann. Wir nehmen an, daß nach diesem Artikel der Autor ernsthaft dafür gemaßregelt wird, daß er den PCInt von 1945 „verleumdet" hat, anstatt die Schlußfolgerung zu wiederholen, die O. Damen aus der Diskussion über den Bericht gezogen hatte: „Es gab keine Divergenzen, sondern eine besondere Sensibilität, die eine organische Klärung dieser Probleme erlaubt." (Sitzungsberichte, S. 16) Es trifft zu, daß derselbe Damen später entdeckte, daß diese „besondere Sensibilität" „pervertierte Positionen" waren und daß „organische Klärung" die „Trennung von dem toten Stamm" bedeutete. Einerlei, lang lebe die Klarheit von 1945!

(14) Über die Minderheit in der Fraktion 1936 siehe den ersten Teil dieses Artikels in Internationale Revue Nr. 22

(15) Es ist klar, daß einer der Gründe, warum der PCInt von 1945 der Integration von Vercesi zustimmte, ohne ihn aufzufordern, Rechenschaft über seine vergangenen Aktivitäten abzulegen, und warum er es zuließ, daß Bordiga sich in der Frage der Plattform „durchsetzte", darin liegt, daß er mit dem Prestige dieser beiden „historischen" Führer rechnete, um ein Maximum an Arbeitern und Militanten anzuziehen. Bordigas Feindschaft hätte den PCInt die Gruppen und Elemente in Süditalien gekostet, Vercesis Feindschaft die belgische Fraktion und die FFGC bis.

(16) Über diese Episode siehe den ersten Teil dieses Artikels.

(17) Wir können daher daran festhalten, daß die „winzige GCF", die mit soviel Geringschätzung behandelt und sorgfältig von den anderen Gruppen ferngehalten wurde, noch länger überlebte als die belgische Fraktion und die FFGC bis. Bis zu ihrem Verschwinden 1952 veröffentlichte sie 46 Ausgaben von Internationalisme, ein unschätzbares Erbe, worauf die IKS errichtet wurde.

(18) Es trifft zu, daß die opportunistische Methode nicht die einzige Erklärung für den Einfluß ist, den der PCInt 1945 erreichen konnte. Es gibt zwei fundamentale Ursachen dafür:

* Italien war das einzige Land, das eine wirkliche und mächtige Bewegung der Arbeiterklasse während des imperialistischen Krieges und gegen ihn erblickte.

* Die Linkskommunisten hatten, da sie sich die Führung der Partei bis 1925 angeeignet hatten und weil Bordiga der Hauptgründer dieser Partei war, ein Prestige unter den Arbeitern Italiens, das in keinem Vergleich stand zu jenem in anderen Ländern.

Andererseits liegt eine der Ursachen für die numerischen Schwächen der GCF gerade in der Tatsache, daß es in der Arbeiterklasse Frankreichs keine Tradition des Linkskommunismus gab und daß erstere nicht in der Lage gewesen war, sich während des Krieges zu erheben. Da ist auch die Tatsache, daß die GCF jedes opportunistische Verhalten bezüglich der Illusionen der Arbeiter in die „Befreiung" und die Partisanen vermied. Hier folgte sie dem Beispiel der Fraktion 1936 angesichts des Spanischen Krieges, der sie der Isolation überließ, wie sie in Bilan Nr. 36 selbst bemerkte.

(19) Zu dieser Frage siehe insbesondere die Broschüre „Das Verhältnis Fraktion – Partei in der marxistischen Tradition"

 

 

 

 

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Battaglia Comunista [148]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Französische Kommunistische Linke [149]

Zuspitzung der Krise, imperialistische Massaker in Afrika: Ein neuer Schritt ins Chaos

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In den Industriestaaten gesteht die Bourgeoisie den Ausgebeuteten im allgemeinen im Sommer Ferien zu, damit sie ihre Arbeitskraft wiederherstellen und in der restlichen Jahreszeit produktiver arbeiten. Seit langem haben die Ausgebeuteten aber auch erfahren, dass ihre Zerstreuung, ihre Abwesenheit vom Arbeitsplatz während der Ferien und ihre geringere Wachsamkeit von der herrschenden Klasse ausgenutzt werden, um die Angriffe gegen ihre Lebensbedingungen zu verschärfen. Während die Arbeiter sich also ausruhen, bleiben die Bourgeoisie und ihre Regierungen nicht passiv. Jedoch haben sich auch seit einigen Jahren in der Sommerzeit die imperialistischen Konflikte zugespitzt.

Zum Beispiel fing im August 1987 mit der Besetzung Kuwaits durch den Irak der Konflikt an, der zur Golfkrise und zum Golfkrieg werden sollte. Im Sommer 1991 fing das ehemalige Jugoslawien an auseinanderzubrechen, was wiederum zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert den Krieg in das Zentrum Europas brachte. Und im Sommer 1995 kam es zu den Nato-Bombardierungen und zur (von den USA unterstützten)  kroatischen Offensive gegen Serbien. Und man könnte die Reihe von Beispielen weiter fortsetzen.

Dagegen war der Sommer 1997 auf imperialistischer Ebene besonders ruhig gewesen. Und dennoch hatte sich die internationale Lage weiter entwickelt. Im Sommer 1997 brach unabhängig vom Willen der Kapitalisten und ihrer Regierungen die Finanzkrise in Südostasien aus, welche Erschütterungen der Weltwirtschaft ausgelöst haben, die diese nicht überwinden kann.

Der Sommer 1998 wiederum setzte mit dem Krieg im Kongo und den Attentaten gegen zwei US-Botschaften in Afrika, denen die US-Bombardierungen in Afghanistan und im Sudan folgten, die ‘Tradition’ der Zuspitzung der imperialistischen Spannungen fort. Gleichzeitig war der Sommer geprägt durch eine beträchtliche Zuspitzung der Erschütterungen der Weltwirtschaft, insbesondere mit dem Chaos in Russland und dem erneuten Absinken der ‘Schwellenländer’ sowie mit dem historischen Verfall der Aktienkurse in den Industriestaaten.

Die jüngste Auslösung der Erschütterungen aller Art der kapitalistischen Welt ist kein Zufall. Sie spiegelt ein neues Fortschreiten der unlösbaren Widersprüche der Industriegesellschaft wider. Es gibt keine direkte, mechanische Verbindung zwischen den Erschütterungen im Bereich der Wirtschaft und der Zuspitzung der imperialistischen Konflikte. Aber sie haben alle den gleichen Ursprung: das Versinken der Weltwirtschaft in einer ausweglosen Krise, was die historische Sackgasse zum Ausdruck bringt, in der die kapitalistische Produktionsform steckt, seitdem sie in ihre Dekadenzphase seit dem 1. Weltkrieg eingetreten ist.

Das ausgehende 20. Jahrhundert ist als das Jahrhundert bekannt, das der Menschheitsgeschichte die größten Tragödien gebracht hat. Und nur die Arbeiterklasse kann durch die Verwirklichung der kommunistischen Revolution verhindern, daß das 21. Jahrhundert noch schlimmer wird. Das ist die Hauptlehre, die die Arbeiterklasse aus dem Versinken des Kapitalismus in der Krise und wachsenden Barbarei ziehen muss.

Nach Asien, Russland und Lateinamerika
Die Wirtschaftskatastrophe erreicht das Herz des Kapitalismus

Die Finanzkrise, die vor etwas mehr als einem Jahr in Südostasien ausbrach, ist dabei,  heute ihr wirkliches Ausmaß zu zeigen. Im Sommer gab es eine erneute Zuspitzung mit dem Zusammenbruch der russischen Wirtschaft und den Erschütterungen in einem bislang nicht gekannten Ausmaß in den ‘Schwellenländern’ Lateinamerikas. Aber nunmehr sind die Hauptmetropolen des Kapitalismus, die höchst entwickelten Staaten Europas und Nordamerika am heftigsten betroffen. Dort purzeln die Aktienkurse, die Wachstumsprognosen werden ständig nach unten korrigiert. Die Euphorie, von der die Bourgeoisie vor einigen Monaten noch erfaßt schien, ist längst verfolgen. Diese Euphorie kam durch das schwindelerregende Ansteigen der Aktienkurse im Westen in der ersten Jahreshälfte 1998 zum Ausdruck. Heute sprechen die gleichen ‘Spezialisten’, die die ‘gute Gesundheit’ der angelsächsischen Staaten lobten und die einen Wiederaufschwung in allen europäischen Staaten  vorhersahen, mit als erste von Rezession, gar von ‘Depression’. Und sie haben Grund dazu pessimistisch zu sein. Die Wolken über dem Himmel der stärksten Wirtschaften kündigen keine einfache Schauer an, sondern einen wahren Sturm, die die Sackgasse veranschaulicht, in welche die kapitalistische Wirtschaft reingeraten ist.

Als Moment einer neuen und brutalen Zuspitzung hat der Sommer 1998 auch der Glaubwürdigkeit des kapitalistischen Systems einen Schlag versetzt: Zuspitzung der Krise in Asien, wo die Rezession sich dauerhaft niedergelassen  und jetzt die beiden ‘Großen’ Japan und China erfaßt hat, eine bedrohliche Lage in Lateinamerika, spektakulärer Zusammenbruch der russischen Wirtschaft und Kurseinbrüche, die die historischen Börsenhaussen an den Hauptbörsen der Welt zum Einsturz brachten. Innerhalb von drei Wochen hat der russische Rubel 70% seines Wertes verloren (seit Juni 1991 ist das Bruttoinlandsprodukt um 50%, wenn nicht gar um 80% gesunken). Am 31. August, dem berühmten ‘blauen Montag’, denn die Journalisten mochten nicht vom ‘schwarzen Montag’ sprechen,  rutschte Wall Street um 6.4% ab, und der Nasdaq, der Index der Technologiewerte, um 8.5%. Am Folgetag wurden die europäischen Börsen erfasst. In Frankfurt fielen die Kurse morgens um 2%, in Paris 3.5%. Im Verlaufe des Tages verlor Madrid 4.23%, Amsterdam 3.56% und Zürich 2.15%. In Asien fiel am 31. August die Börse von Hongkong um 7%, und die von Tokio erreichte ein 12 Jahres Höchsttief. Seitdem hat sich der Kursverfall der Aktienwerte noch beschleunigt, so daß am Montag, den 21. September (und bis zum Erscheinen dieser Ausgabe der Internationale Revue wird sich die Lage noch verschärft haben) die meisten Börsen das Niveau des Jahresanfangs von 1998 erreicht hatten: + 0.32% in New York, + 5.09 % in Frankfurt, aber Negativwerte in London, Zürich, Amsterdam, Stockholm...

Die Akkumulierung all dieser Ereignisse ist keineswegs ein Zufall. Im Gegensatz zu allen Beteuerungen ist sie auch kein Zeichen einer ‘vorübergehenden Vertrauenskrise’ gegenüber den ‘Schwellenländern’, oder eine ‘begrüßenswerte mechanische Korrektur eines überbewerteten Marktes’, sondern es handelt sich sehr wohl um eine neue Episode des Versinkens in das Inferno des Kapitalismus als ein ganzes, ein Abstieg in die Hölle, von dem uns der Zusammenbruch der Wirtschaft in Russland einen karikaturalen Vorgeschmack liefert.

Die Krise in Russland

Monatelang trösteten sich die Weltbourgeoisie und ihre ‘Experten’, die durch die Finanzkrise in Südostasien vor einem Jahr erschrocken worden waren, damit, dass die die anderen ‘Schwellenländer’ nicht mit in den Sog gezogen worden waren. Die Medien hoben jeweils den ‘besonderen Charakter’ der Schwierigkeiten in Thailand, Korea, Indonesien usw. hervor. Und dann hörte man erneut Alarmzeichen mit der Zuspitzung des Chaos der russischen Wirtschaft zu Anfang des Sommers (1). Nach einer anfänglich nur sehr schleppenden Reaktion, hat die ‘internationale Gemeinschaft’, die in Südostasien schon kräftig zur Kasse gebeten wurde, 22.6 Milliarden Dollar für einen Zeitraum von 18 Monaten zugestanden, was wiederum mit den üblichen drakonischen Bedingungen verbunden ist: drastische Reduzierung der Staatsausgaben, Steuererhöhungen (insbesondere der Lohnsteuer, womit die chronische Schwäche des russischen Staates, Steuern bei den Unternehmern einzutreiben, ausgeglichen werden soll), Preiserhöhungen, Beitragserhöhungen für die Rentner. All das auf einem Hintergrund, wo die Lebensbedingungen der russischen Arbeiter ohnehin schon miserabel waren und die meisten Staatsbeschäftigten und ein Großteil der privat Beschäftigten seit Monaten keine Löhne mehr ausgezahlt bekommen haben. Diese Misere hat dramatische Ausmaße angenommen: Seit Juni 1991 ist bekannt, daß die Lebenserwartung für Männer von 69 auf 58 Jahre gefallen, die Geburtenrate von 14.7 auf 9.5%o gesunken ist.

Einen Monat später musste man feststellen: die aufgewandten ‘Hilfsgelder’ war ein reines Verlustgeschäft. Nach einer schwarzen Woche an der Moskauer Börse und nachdem Hunderte von Banken mit dem Bankrott kämpfen, waren Jelzin und seine Regierung am 17. August dazu gezwungen, den letzten Rest ihrer Glaubwürdigkeit aufzugeben: den Rubel und seinen Wechselkurs gegenüber dem Dollar. Von der ersten Zahlung von 4.8 Mrd. $, die im Juli im Rahmen eines IWF-Programms geleistet wurde, wurden 3.8 Mrd. $ für die wirkungslose Verteidigung des Rubels aufgebracht. Was die verbleibende Milliarde Dollar angeht, diente sie keineswegs den Sanierungsmaßnahmen der Staatsfinanzen und noch weniger dazu, die noch ausstehenden Löhne der Beschäftigten zu zahlen. Sie war ganz einfach bei der  Schuldenzahlung draufgegangen (die mehr als 35% der Staatseinnahmen beansprucht), mit anderen Worten: sie war verwendet worden für die anstehenden Zinsratenzahlungen, die damals anstanden. Ohne von den Beträgen zu sprechen, die entwendet wurden und direkt in die Tasche der einen oder anderen Fraktion einer wie Gangster handelnden Bourgeoisie wanderten. Das Scheitern dieser Politik heisst für Russland, dass zusätzlich zu den reihenweisen Bankenpleiten (mehr als 1.500 Banken sind betroffen), zu dem Absturz in die Rezession und der Explosion seiner in Dollar berechneten Auslandsschulden, die galoppierende Inflation ihren Einzug hält. Man geht jetzt schon davon aus, dass sie zwischen 200 und 300% in diesem Jahr erreichen könnte. Und das Schlimmste ist noch nicht da.

Dieser Absturz hat sofort ein Auseinanderbrechen an der Spitze des russischen Staates bewirkt und eine politische Krise hervorgerufen, die Ende September (zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels) noch nicht abgeschlossen war. Dieses Auseinanderbrechen in den Reihen der russischen Führungsschicht, die immer mehr den Eindruck entstehen lässt, als ob es sich um eine einfache Bananenrepublik handele, hat die westlichen Bourgeoisie in Angst und Aufregung versetzt. Aber die Bourgeoisie mag sich  um das Wohl Jelzins und seiner Konsorten Sorgen machen, vor allem ist die russische Bevölkerung und die Arbeiterklasse dazu gezwungen, für die Folgen dieser Lage aufzukommen. So hat der Kursverfall des Rubels die importierten Lebensmittel schon um über 50% verteuert, wobei Russland ungefähr die Hälfte der benötigten Nahrungsmittel importiert. Die Produktion ist auf ungefähr 40% unter das Produktionsniveau zur Zeit der Berliner Mauer zurückgefallen...

So wird heute das bestätigt, was wir vor 9 Jahren in unseren ‘Thesen zur ökonomischen und politischen Krise in der Sowjetunion und den osteuropäischen Ländern’ im September 1989 schrieben:

„Gegenüber dem totalen Scheitern der Wirtschaft dieser Länder besteht der einzige Ausweg darin, nicht eine wirkliche Wettbewerbsfähigkeit zu entwickeln, sondern zu versuchen, den Kopf über Wasser zu halten. Damit müssen Mechanismen eingeführt werden, die eine wirkliche Verantwortung ihrer Führer bedingen. Diese Mechanismen setzen eine „Liberalisierung’ der Wirtschaft sowie die Schaffung eines wirklichen Binnenmarktes voraus, eine größere Selbständigkeit der Unternehmen und die Entwicklung eines starken ‘privaten’ Sektors (...) Obgleich solch ein Programm immer unabdingbarer wird, beinhaltet seine Umsetzung praktisch unüberwindbare Hindernisse“. (Internationale Revue Nr. 12, These 13).

Zwei Monate später fügten wir hinzu:

„bestimmte Bereiche der Bourgeoisie antworten, daß man einen neuen ‘Marshall-Plan’ durchziehen müsste, der die Wirtschaftskraft dieser Länder neu herstellen würde (...) Deshalb stehen heute große Kapitalinvestitionen zur Entwicklung des Wirtschaftspotentials, insbesondere der Industriebereiche, nicht auf der Tagesordnung. Selbst wenn solch ein Industriepotential auf die Beine gestellt werden könnte, würden die von ihm erzeugten Produkte den Weltmarkt nur noch mehr erschüttern, der ohnehin schon total übersättigt ist. Bei den Ländern, die aus dem Stalinismus hervorgehen, verhält es sich so wie mit den Ländern der 3. Welt: all die massiven Finanzspritzen während der 70er und 80er Jahre haben nur zu der heute allseits bekannten katastrophalen Lage geführt (Schulden von 1.400 Mrd. Dollar und noch mehr zerstörte Wirtschaften). Den osteuropäischen Ländern (deren Wirtschaft in vieler Hinsicht übrigens der der peripheren Länder ähnelt) wird es nicht viel anders gehen. (...) Das einzige, was man erwarten kann, sind Kreditvergaben oder dringliche Hilfen für Länder, um einen totalen, offenen finanziellen Bankrott und Hungersnöte zu vermeiden, die die Erschütterungen dieser Länder nur noch verstärken würden“ (Internationale Revue Nr. 12, Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks: Destabilisierung und Chaos’ 10.2.1990).

Und zwei Jahre später schrieben wir 1991: „Um die finanzielle Erwürgung der ehemaligen UdSSR etwas zu lockern, haben die G7-Staaten einen Aufschub von einem Jahr für die Rückzahlung der Zinsen für die sowjetische Verschuldung gewährt, die heute ca. 80 Mrd. Dollar umfaßt. Aber dies wird nur ein Pflaster auf einem Holzbein sein, denn die bewilligten Gelder selber verschwinden wiederum wie in einem Fass ohne Boden. Vor zwei Jahren waren alle möglichen Illusionen über ‘neue Märkte’ verbreitet worden, die der Zusammenbruch der stalinistischen Regime ermöglichen würde. Während heute die Weltwirtschaftskrise unter anderem immer deutlicher durch eine Liquiditätskrise in Erscheinung tritt, zögern die Banken immer mehr, ihr Kapital in diesem Teil der Welt anzulegen.“ (Internationale Revue Nr. 68).

So haben die Tatsachen entgegen allen Illusionen der Bourgeoisie und der Beweihräucherer ihres Systems das bewiesen, was die marxistische Theorie den Revolutionären ermöglichte vorauszusagen. Heute sehen wir ein vollständiges Auseinanderbrechen, die Ausdehnung eines schrecklichen Elends an den Türen dessen, was man als ‘Festung Europa’ bezeichnet.

Die Bemühungen der Medien, die Botschaft zu vermitteln, sobald die gegenwärtige Börsenpanik vorüber sei, würden die Konsequenzen für die wirkliche Wirtschaft auf internationaler Ebene nur gering sein, hat keinen großen Erfolg gebracht. Dies ist normal, denn der Wille der Kapitalisten, sich selbst zu beruhigen, und vor allem der Arbeiterklasse das wirkliche Ausmaß der Krise  zu verheimlichen, prallt mit den harten Tatsachen zusammen. Zunächst werden alle Gläubiger Russlands erneut stark zur Kasse gebeten. Russland hatte von den westlichen Banken mehr als 75 Milliarden Dollar Kredite erhalten, die in ihrem Besitz befindlichen Schatzbriefe haben schon 80% ihres Wertes verloren, und Russland hat jegliche Rückzahlungen in Dollar eingestellt. Darüber hinaus befürchtet die westliche Bourgeoisie, dass den osteuropäischen Staaten das gleiche Schicksal erfährt. Zu dieser Befürchtung gibt es allen Anlass: Polen, Ungarn und die Tschechische Republik zogen ungefähr 18mal soviel westliche Investitionen an wie Russland. Nun konnte man Ende August die ersten Risse in den Börsen von Warschau (–9.5%) und Budapest (–5.5%) vernehmen, die zeigen, dass die Kapitalströme aus diesen neuen Finanzplätzen abziehen. Darüberhinaus zieht Russland in wachsendem Maße die anderen GUS-Staaten in den Sog seines Zusammenbruchs mit hinein, denn deren Wirtschaften sind eng mit der Russlands verbunden. Auch wenn Russland letztendlich nur ein ‘kleiner Schuldner’ im Vergleich zu anderen Regionen ist, verleiht seine geographische Lage – die Tatsache, daß es inmitten Europas ein mit Nuklearwaffen bestücktes Minenfeld darstellt –, und die Gefahren, die von dem Chaos ausgehen, das die Wirtschafts- und politische Krise ausgelöst hat, eine besondere Dimension.

Dabei ist die Tatsache, dass der russische Schuldenberg im Vergleich zu den Schulden Asiens oder anderer Gebiete der Welt relativ begrenzt ist, ein ziemlich schwacher Trost. Tatsächlich sollte diese Erkenntnis im Gegenteil die Aufmerksamkeit auf andere auftauchende Gefahren lenken, wie die Zuspitzung der Finanzkrise in Lateinamerika, wo in den letzten Jahren umfangreiche Direktinvestitionen getätigt wurden (45% der Gesamtinvestitionen in den ‘Entwicklungsländern’ wurden 1997 dort angelegt, 1980 waren es nur 20% und 1990 38%). Die Risiken einer Abwertung in Venezuela, das Absacken der Rohstoffpreise seit der Asienkrise, von der die südamerikanischen Staaten noch heftiger erfasst wurden als Russland, eine gewaltige Auslandsverschuldung, eine astronomische öffentliche Verschuldung (das öffentliche Defizit Brasiliens, das zahlenmäßig der siebtgrößte Staat gemessen am Bruttoinlandsprodukt darstellt, übersteigt bei weitem das Russlands), führen dazu, dass in Lateinamerika eine Zeitbombe tickt, die zusätzlich zu den katastrophalen Folgen Russlands und Asiens ihre zerstörerischen Auswirkungen haben wird. Und diese Zeitbombe tickt vor den Türen der ersten Industriemacht der Erde, den USA.

Aber die Hauptbedrohung kommt nicht aus den unterentwickelten oder schwach entwickelten Staaten sondern aus einem höchstentwickelten Land, das die zweite Wirtschaftsgroßmacht der Erde ist – Japan.

Die Krise in Japan

Noch bevor der Absturz der russischen Wirtschaft den Optimismus der Bourgeoisie aller Länder abgekühlt hatte, war im Juni 1998 ein Beben mit dem Zentrum Tokio ausgelöst worden, das die Gefahr einer Destabilisierung des Weltwirtschaftssystems mit sich bringt. Trotz 7 ‘Ankurbelungsplänen’, in denen ca. 2–3% des BSP pro Jahr in die Wirtschaft gepumpt wurden, trotz einer Abwertung des Yens um die Hälfte seit drei Jahren mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit japanischer Waren auf dem Weltmarkt zu stützen, sinkt die japanische Wirtschaft seit 1992 weiter in die Rezession. Aus Angst, mit den wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen in einem sehr zerbrechlichen Umfeld konfrontiert zu werden, hat der japanische Staat immer wieder die ‘Sanierungsmaßnahmen’ seines Bankensektors aufgeschoben. Die Summe nicht zurückzahlbarer Schulden beläuft sich mittlerweile auf ca. 15% des Bruttoinlandsproduktes.... Das reichte, um die japanische und Weltwirtschaft zum Absturz zu bringen. Mittlerweile hat die Rezession ein Ausmaß angenommen wie seit der großen Wirtschaftskrise 1929 nicht mehr. Gegenüber diesem beschleunigten Absinken Japans in die Rezession und den Ausflüchten des Staates, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, war der Yen Zielscheibe umfangreicher Spekulationen, die den ganzen Fernen Osten mit einer Abwertung in Kettenreaktion bedrohten, womit das Signal für das schlimmste deflationäre Szenario gegeben wurde. Am 17. Juni 1998 gerieten die Finanzmärkte in helle Aufregung: die Amerikanische Federal Reserves mußte den Yen massiv unterstützen, da dieser dabei war, in den Keller zu fallen. Aber es war nur ein Zeitaufschub – mit Hilfe der ‘internationalen Gemeinschaft’ konnte Japan einen Fristaufschub erwirken.. und das zum Preis einer immer schwindelerregenderen Verschuldung. Allein die öffentliche Verschuldung entspricht schon der Summe der Produktion eines einzigen Jahres (100% des BSP).

Es ist hier interessant festzustellen, dass die gleichen ‘liberalen’ Ökonomen, die das Eingreifen des Staates in der Wirtschaft verpönen und in den großen internationalen Finanzinstitutionen und in den westlichen Regierungen eine herausragende Rolle spielen, heute lauthals eine neue massive Finanzspritze öffentlicher Gelder für den Bankenbereich fordern, um ihn vor dem Bankrott zu retten. Das zeigt, dass über die ideologischen Sprüche hinaus, wo ‘weniger Staat’ gefordert wird, die bürgerlichen ‘Experten’ sehr wohl wissen, dass der Staat den letzten Rettungsanker gegenüber einer auseinanderbrechenden Wirtschaft darstellt. Wenn sie von ‘weniger Staat’ sprechen, zielen sie auf den ‘Wohlfahrtsstaat, d.h. die Maßnahmen zum Sozialschutz der Beschäftigten (Arbeitslosen- und Krankengelder, Mindestlöhne usw.), und ihre Reden streben danach, die Lebensbedingungen der Arbeiter noch mehr herabzudrücken.

Schließlich unterzeichneten die Regierung und die Opposition am 18. September einen Kompromiss zur Rettung des japanischen Finanzsystems, das aber anstatt die Börsen weiter anzukurbeln, nur zu einem erneuten Kurssturz geführt hat, womit das tiefgreifende Misstrauen der Finanzexperten gegenüber der Wirtschaft der zweiten Wirtschaftsmacht der Erde zum Ausdruck gebracht wird, die jahrelang als das ‘Modell’ präsentiert wurde. Der Chefökonom der Deutsche Bank in Tokio, Kenneth Courtis, der als ein ernsthafter Ökonom eingestuft wird, gab unumwunden zu: „Wir müssen die Dynamik hin zum Absinken, die schlimmer ist als zur Zeit der Ölkrisen Anfang der 70er Jahre (damals fielen der Verbrauch und die Investitionen im freien Fall) umkehren, denn wir sind jetzt in eine Stufe eingetreten, wo wir dabei sind, neue zweifelhafte Kredite zu schaffen. Wir sprechen viel von denen der Banken, aber kaum von denen der Haushalte. Mit dem Abrutschen der Immobilienpreise und ansteigender Arbeitslosigkeit wir es immer mehr zu Zahlungsunfähigkeiten bei der Rückzahlung abgesicherter Kredite im privaten Wohnungsbau kommen. Diese Hypotheken haben die astronomische Höhe von 7.500 Milliarden Dollar erreicht, deren Wert um 60% gefallen ist. Das politische und soziale Problem bleibt gewissermaßen verborgen. (...) Wir dürfen uns aber nichts vormachen: eine ‘Reinigung’ großen Ausmaßes der Wirtschaft hat eingesetzt... und die Unternehmen, die dabei überleben werden, werden unglaublich stark sein. In Japan sind die Risiken, die für die Weltwirtschaft ausgehen, seit den 30er Jahren am größten“ (Le Monde, 23. September).

Die Aussage ist klar: für die Wirtschaft Japans und für die Arbeiterklasse steht das Schlimmste noch bevor, die japanischen Arbeiter, die während der letzten 10 Jahre von der Stagnation  schon hart getroffen wurden, müssen noch mehr Sparprogramme, noch mehr Massenentlassungen und eine Verschärfung ihrer Ausbeutung  über sich ergehen lassen, während jetzt schon aufgrund der Finanzkrise auch große Firmen schließen müssen. Aber auch das bereitet den Kapitalisten in dieser Phase, wo die Weltarbeiterklasse noch nicht die ideologische Niederlage überwunden hat, die sie nach dem Zusammenbruch des Ostblocks erlitten hat, noch nicht die größte Sorge. Was sie immer mehr bedrückt, ist die Zerstörung der Illusionen und das zunehmende Entblößen der katastrophalen Perspektiven ihrer Wirtschaft.

Hin zu einer neuen weltweiten Rezession

Während jeweils bei einem früheren Alarm die ‘Spezialisten’ mit tröstenden Aussagen aufwarteten, wie ‘der Handel mit Südostasien ist nur von geringem Umfang’, ‘Russland hat in der Weltwirtschaft kein großes Gewicht’, ‘die Wirtschaft Europas ist durch die Perspektive des Euros wie gedopt’, ‘die Wirtschaftslage in den USA ist gesund’ usw., ändert sich heute der Ton. Der Minikrach Ende August an allen Finanzplätzen der Welt hat wieder in Erinnerung gerufen, wenn im Sturm zunächst die schwächsten Äste am Baum brechen, dann vor allem, weil der Stamm nicht mehr genügend ‘Energie’ aus den Wurzeln ziehen kann, um die periphäresten Teile zu versorgen. Der Kern des Problems befindet sich in den Industriezentren selber; die Börsenprofis haben sich keineswegs getäuscht. Während die Beruhigungssprüche immer mehr von der Wirklichkeit widerlegt werden, kann man die Wirklichkeit selber nicht mehr verheimlichen. Für die Bourgeoisie kommt es jetzt grundsätzlich darauf auf, dass man sich auf die schmerzhaften sozialen und wirtschaftlichen Folgen einer internationalen Rezession einstellt, deren Eintreten immer gewisser wird: „eine weltweite Rezession ist nicht abgewendet. Die amerikanischen Behörden haben es für nützlich befunden mitzuteilen, dass sie die Ereignisse sehr genau verfolgen (...), die Wahrscheinlichkeit einer weltweiten wirtschaftlichen Verlangsamung darf nicht vernachlässigt werden. Ein Großteil Asiens steckt schon in der Rezession. In den USA könnten gesunkene Aktienwerte die Haushalte dazu bewegen, höhere Beträge zu sparen, womit die Ausgaben für Konsum sinken würden, was wiederum zu einer wirtschaftlichen Verlangsamung führt“ (Le Soir, 2. September).

Die Krise in Ostasien hat schon zu einer massiven Kapitalentwertung geführt, indem Hunderte von Produktionsstandorte stillgelegt wurden, indem Guthaben an Wert verloren, Tausende Firmen dicht gemacht haben und Millionen von Menschen noch tiefer in Armut versunken sind. ‘Der dramatischste Zusammenbruch eines Landes während der letzten 50 Jahre’ – so beschreibt die Weltbank die Lage in Indonesien. Übrigens war auslösendes Moment des Rückgangs der Aktienkurse die offizielle Ankündigung des Beginns der Rezession im zweiten Halbjahr 1998 in Südkorea und Malaysien. Nach Japan, Hongkong, Indonesien und Thailand ist nahezu das ganze so hochgelobte Südostasien abgestürzt, denn man erwartet, dass selbst Singapur Ende des Jahres in die Rezession gerät. Nur Kontinental-China und Taiwan bilden bislang noch eine Ausnahme, aber wie lange noch? Im Falle Asiens spricht man übrigens nicht mehr von Rezession, sondern von Depression: „Eine Depression liegt hingegen dann vor, wenn das Schrumpfen von Produktion und Handel sich gegenseitig derart potenzieren, daß die sozialen Grundlagen der wirtschaftlichen Aktivität Schaden leiden. In diesem Stadium wird es unmöglich, auf einen Umschwung der Entwicklungstendenzen zu bauen, und die Einleitung klassischer Wiederankurbelungsmaßnahmen ist entweder schwer zu realisieren oder sinnlos. Exakt in dieser Lage befinden sich derzeit viele Länder Asiens, was für die gesamte Region bedrohlich ist) (Le Monde Diplomatique, Sept. 98).

Wenn man die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in den Industriezentren mit der Rezession der zweiten Wirtschaftsmacht der Welt – Japan – und des ganzen südostasiatischen Raums zusammenführt, wenn man die Rezessionsauswirkungen, die der Zusammenbruch in Russland in den anderen osteuropäischen Staaten und in Lateinamerika hervorgerufen hat (insbesondere ersichtlich durch den Rückgang der Rohstoffpreise, darunter vor allem Öl), mit berücksichtigt, gelangt man zu einer unvermeidbaren Schrumpfung des Weltmarktes, die den Auftakt dieser neuen internationalen Rezession stellen wird. Der IWF täuschte sich nicht. Er hat schon die Rezessionsauswirkungen bei seinen Prognosen berücksichtigt und meint, dass die Finanzkrise weltweit 2% weniger Wachstum im Jahr 1998 im Vergleich zu 1997 (4.3%) bedeuten wird, während das Jahr 1999 erst das Schlimmste bringen wird. Dabei sprach man vorher noch von geringfügigen Auswirkungen! Das nächste Jahrtausend, das ja den Beweis des endgültigen Sieges des Kapitalismus und der neuen Weltordnung liefern sollte, beginnt wahrscheinlich mit Nullwachstum.

Kontinuität und Grenzen der Hilfsmittel

Seit mehr als 30 Jahren haben die Flucht nach Vorne in immer mehr Verschuldung sowie ein Aufschieben der zerstörerischsten Auswirkungen der Krise auf die Peripherie es der internationalen Bourgeoisie ermöglicht, immer wieder für einen Aufschub zu sorgen. Diese heute noch immer im großen Umfang praktizierte Politik zeigt immer mehr Erschöpfungserscheinungen. Die neue finanzielle Ordnung, die schrittweise das Abkommen von Bretton Woods nach dem Krieg ersetzt hat, erweist sich heute als sehr kostspielig. „Die reichen Staaten (USA, Europäische Union, Japan) haben daraus Nutzen geschlagen, während die kleinen Staaten durch einen auch nur bescheidenen Kapitalfluss leicht zermalmt werden’ (John Llewellyn, Chefökonom bei Lehman Brothers London). Wie bei einem Bumerang sind die zerstörerischsten Auswirkungen der Krise immer weniger auf die Randbereiche der internationalen Weltwirtschaft einzugrenzen. Die Verschlechterung der Lage und die wirtschaftlichen Erschütterungen haben solche Ausmaße angenommen, dass die Auswirkungen unvermeidlich direkt im Herzen selber der mächtigsten Metropolen zu spüren sind. Nach dem Bankrott der 3. Welt, des Ostblocks und Südostasiens, hat jetzt die zweite Wirtschaftsmacht der Erde – Japan – angefangen zu schwanken. Hier dreht es sich nicht mehr um die Peripherie des Systems, sondern einer der drei Pole ist erfaßt, der zum Herzen des Systems gehört. Ein anderer untrüglicher Beleg der Erschöpfung dieser Mittel ist die immer größere Unfähigkeit der internationalen Institutionen wie IWF und Weltbank – die in die Bresche springen mußten, um ein Szenario wie das von 1929 zu verhindern – , die aufgetretenen Brände zu löschen, die an immer mehr Orten der Erde aufflammen. Das spiegelt sich durch eine Unsicherheit des IWF, letzter Rettungsanker sein zu können, wider. Der IWF verfügt nicht mehr über ausreichend Mittel, Feuerwehr spielen zu können. „Die letzten Erschütterungen der Krise in Russland haben darüber hinaus gezeigt, dass der IWF nicht mehr zur Verfügung stand – nicht mehr dazu in der Lage war, sagen einige – um systematisch die Feuerwehrrolle zu spielen. Die Entscheidung des IWF und der G7, Russland keine zusätzliche Finanzhilfe zu leisten, war von grundsätzlicher Bedeutung für die Zukunft der Investitionen in den Schwellenländern (...) Übersetzt heisst dies: nichts besagt, dass der IWF finanziell eingreifen würde, um eine mögliche Krise in Lateinamerika oder anderswo zu bekämpfen. Das dient nicht der Beruhigung der Investoren“ (AFP, Le Soir, 25.8.).  Wie die Entwicklung in Afrika belegt, wird die Bourgeoisie keine andere Wahl haben, als ganze Produktionsbereiche der Weltwirtschaft aufzugeben, um sich von den kränksten Bereichen abzuschotten und ein Mindestmaß an Stabilität auf einer eingeschränkteren Basis zu bewahren. Dies ist einer der Hauptgründe des beschleunigten Aufbaus von regionalen Wirtschaftseinheiten (EU, Nafta usw.). Genauso wie die Bourgeoisie der entwickelten Länder seit 1995 daran arbeitet, die Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften mit dem Ziel zu erhöhen, die zukünftigen Arbeiterkämpfe zu kontrollieren, hat sie mit der Einführung des Euro versucht, sich vorzubereiten, um auf die Finanz- und Währungserschütterungen zu reagieren. So soll das in der Weltwirtschaft stabilisiert werden, was noch funktioniert. Deshalb spricht die europäische Bourgeoisie hinsichtlich des Euro von einem Schutzschild. Dabei betreibt sie ein zynisches Kalkül: für den internationalen Kapitalismus geht es darum, einen Vergleich anzustellen zwischen den Kosten für die Mittel, die aufgebracht werden müssen zur Rettung eines Landes oder einer Region, und die Folgen des Bankrottes derselben, falls nichts zur Rettung unternommen wird. Das bedeutet, in der Zukunft kann niemand mehr sicher sein, dass der IWF immer als ‘letzter Rettungsanker’ auftreten wird. Diese Unsicherheit trifft die ‘Schwellenländer’ besonders hart, denn die Gelder, die ihnen ihren ‘Wohlstand’ ermöglicht hatten, versiegen, womit ein möglicher Wiederaufschwung infragegestellt wird.

Der Bankrott des Kapitalismus

Vor nicht allzulanger Zeit rief der Begriff ‘Schwellenländer’ unter den Kapitalisten der ganzen Welt helle Aufregung hervor, die auf einem gesättigten Weltmarkt verzweifelt nach neuen Akkumulationsfeldern für ihr Kapital suchten. Sie waren die Aushängeschilder aller Ideologen des Systems, die diese Länder als Beweis der ewigen Jugend des Kapitalismus darstellten, welcher angeblich eine ‘zweite Jugend’ erlebe. Heute ruft dieser Begriff an der Börse Panik hervor, und die Angst,  eine neue ‘Krise’ in den Industriezentren könnte aus den ‘entfernten Regionen überschwappen’, macht sich breit.

Aber diese Krise kommt nicht wirklich aus diesen entfernten Regionen. Sie ist keine Krise der ‘jungen Länder’,  sondern eine Krise eines altersschwachen, in seinem Niedergang befindlichen System, das seit mehr als 80er Jahren dekadent ist und seitdem immer wieder auf die gleichen unüberwindbaren Widersprüche stößt: die Unmöglichkeit, immer mehr Absatzmärkte für die produzierten Waren zu finden, um die Fortsetzung der Akkumulation des Kapitals sicherzustellen. Zwei Weltkriege, Krisenphasen offener Zerstörung, wie die Krise, die nunmehr schon 30 Jahre dauert, waren der Preis dafür. Um ‘durchzuhalten’, hat das System immer wieder seine eigenen Gesetze ausgehebelt. Und der Hauptbetrug bestand in der Flucht nach vorne in eine immer größer werdende Verschuldung.

Die Absurdität der Lage in Russland, wo die Banken und der Staat sich nur über ‘Wasser gehalten’ haben dank einer immer unerträglicher werdenden Verschuldung, welche sie dazu zwang, sich noch mehr zu verschulden, allein um die Interessen dieser kumulierten Schulden zu zahlen, dieser Wahnsinn ist keineswegs ein rein ‘russischer’. Seit Jahrzehnten wurde die gesamte Weltwirtschaft aufrechterhalten durch die gleiche wahnsinnige Flucht nach vorn, da sie die einzig mögliche Reaktion auf ihre Widersprüche ist, und da sie das einzige Mittel ist, künstlich neue Märkte für das Kapital und die Waren zu schaffen. Das ganze System ist weltweit auf einem immer zerbrechlicheren Kartenhaus gebaut. Die umfangreichen Kredite an und massive Investitionen in den ‘Schwellenländern’, die selbst wiederum alle nur über Kredite finanziert wurden, waren nur ein Mittel, die Krise des Systems und seine explosiven Widersprüche vom Zentrum auf die Peripherie zu verlagern. Die aufeinanderfolgenden Börsenkrachs von 1987, 1989, 1997, 1998 – die daraus hervorgegangen sind, spiegeln den immer größeren Zusammenbruch des Kapitalismus wider. Gegenüber diesem brutalen Absturz lautet die Frage nicht, warum es jetzt solch eine Rezession gibt, sondern warum sie nicht schon früher gekommen ist. Die einzige Antwortet muss sein: weil die Bourgeoisie weltweit alles unternommen hat, um solche fälligen ‘Abrechnungen’ aufzuschieben, Zeit zu gewinnen, indem sie selbst ihre eigenen Gesetze manipuliert. Die Überproduktionskrise, die der Marxismus seit dem letzten Jahrhundert vorausgesehen hatte, kann aber durch solche Manipulationen nicht überwunden werden. Und heute zeigt erneut der Marxismus die Absurdität der Aussagen der ‘Experten des Liberalismus’ und der Anhänger einer ‘strengeren Finanzkontrolle’. Weder die einen noch die anderen können ein Wirtschaftssystem retten, dessen Widersprüche trotz dieser Manipulationen aufbrechen. Dieser Bankrott des Kapitalismus, den nur der Marxismus als unvermeidbar aufzeigen kann, lässt diese Erkenntnis zu einer Waffe für den Kampf der Ausgebeuteten werden.

Und wenn die Rechnung beglichen werden muss, wenn das zerbrechliche Finanzsystem zusammenbricht, schlagen die Grundwidersprüche zu: es folgt der Absturz in die Rezession, die Explosion der Arbeitslosigkeit, reihenweise gehen Firmen und ganze Industriebereiche bankrott. Innerhalb weniger Monate sind in Indonesien und Thailand Dutzende von Millionen Menschen in das schlimmste Elend gestürzt worden. Die Bourgeoisie selber gesteht dies ein, und wenn sie dies tun muss, zeigt das, wie schlimm die Lage ist. Aber all das ist keineswegs auf die ‘Schwellenländer’ beschränkt. Die Rezession ist auch in den Industriestaaten eingekehrt. Die am meist verschuldeten Länder der Erde sind übrigens weder Russland noch Brasilien, sondern die des Zentrums des Kapitalismus selber, angefangen bei den USA, die am höchsten verschuldet sind. Japan ist nun offiziell in die Rezession eingetreten nach zwei Halbjahren negativen Wachstums, und man erwartet, dass das Bruttoinlandsprodukt um mehr als 1.5% 1998 zurückgeht. Großbritannien, das vor kurzem auch noch neben den USA als Modell ‘ökonomischen Dynamismus’ dargestellt wurde, ist aufgrund inflationärer Gefahren dazu gezwungen, eine ‘Abkühlung’ seiner Wirtschaft und ein ‘schnelles Ansteigen der Arbeitslosigkeit’ (Libération 13.8.) hinzunehmen. Überall in der Industrie werden Entlassungen angekündigt (100.000 Stellenstreichungen bei einer Gesamtbeschäftigtenzahl von 1.8 Mio. in der verarbeitenden Industrie sind allein in den nächsten 18 Monaten vorgesehen).

Asien zeigt uns die Perspektive der kapitalistischen Weltwirtschaft. Während die Rettungs- und Sanierungspläne angeblich diesen Ländern  neuen Elan einflößen sollten, hat sich im Gegenteil die Rezession niedergelassen und Elend und Hunger haben erneut ihren Einzug gehalten.

Der Kapitalismus hat keine Lösung für die Krise und diese stößt innerhalb dieses Systems auf keine Grenzen. Deshalb besteht die einzige Lösung für die Barbarei und das Elend, den das System der Menschheit aufzwingt, in der Überwindung durch die Arbeiterklasse. Deshalb liegt gegenüber der gesamten Arbeiterklasse weltweit aufgrund seiner Konzentration und seiner historischen Erfahrung in den Händen des Proletariats der Industriezentren des Kapitalismus, insbesondere Europas, eine entscheidende Verantwortung.                               MFP

(aus Internationale Revue Nr. 95, 4. Quartal 1998)

Interimperialistische Konflikte

Ein neuer Schritt ins Chaos

Letzten Sommer gab es keine Pause bei den Erschütterungen der kapitalistischen Welt. Im Gegenteil, wie so häufig in den letzten Jahren war die Sommerzeit durch eine brutale Zuspitzung der imperialistischen Konflikte und der kriegerischen Barbarei geprägt gewesen. Attentate gegen zwei US-Botschaften in Afrika, US-Bombardierungen in Afghanistan und im Sudan nach diesen Attentaten, Rebellion im Kongo mit einer starken Beteiligung der Nachbarländer gegen das neue Kabila-Regime usw. All diese jüngsten Ereignisse sind zusätzlich aufgetreten zu der Vielzahl von bewaffneten Konflikten, die die Welt zerstören, und die erneut das blutige Chaos aufzeigen, in das die Gesellschaft unter der Herrschaft des Kapitalismus immer mehr versinkt.

Mehrfach haben wir in unserer Presse die Tatsache hervorgehoben, dass der Zusammenbruch des Ostblocks Ende der 80er Jahre keine ‘neue Weltordnung’ eröffnete, wie es der US-Präsident Bush seinerzeit angekündigt hatte, sondern damit zog ein nur noch größeres Chaos in der Geschichte der Menschheit ein. Seit dem Ende des 2. imperialistischen Weltkriegs hatte die Welt unter der Schreckensherrschaft der beiden Militärblöcke gelebt, die unaufhörlich vier Jahrzehnte lang in einer Reihe von Kriegen aufeinanderprallten, die genauso viele Tote hinterlassen haben wie im 2. Weltkrieg selber. Aber die Aufteilung der Welt zwischen beiden verfeindeten imperialistischen Blöcken, die einerseits immer wieder zahlreiche lokale Konflikte hervorrief, zwang andererseits die beiden Supermächte dazu, eine gewisse Polizeirolle zu spielen, um diese Konflikte in einem ‘akzeptablen’ Rahmen einzugrenzen und zu vermeiden, dass sie zu einem generalisierten Chaos führten.

Der Zusammenbruch des Ostblocks und darauffolgend des gegnerischen Blockes hat nicht die imperialistischen Widersprüche zwischen kapitalistischen Staaten aus der Welt geschafft, im Gegenteil. Die Gefahr eines neuen Weltkrieges ist gegenwärtig in größere Entfernung gerückt, da die möglichen gegnerischen Blöcke im Augenblick nicht mehr existieren, aber aufgrund des Versinkens der kapitalistischen Wirtschaft in einer unüberwindbaren Krise haben die Rivalitäten zwischen den Staaten nur an Schärfe zugenommen und spitzen sich weiter unkontrolliert zu. Von 1990 an, als die USA absichtlich die Krise und den Golfkrieg herbeigeführt haben, und wo sie ihre gewaltige militärische Überlegenheit zur Schau gestellt haben, haben die USA versucht, ihre Autorität auf der ganzen Welt und vor allem gegenüber ihren alten Verbündeten aus der Zeit des kalten Krieges zu behaupten. Aber der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien zeigte, dass diese ehemaligen Verbündeten zusammenprallten und die US-Vorherrschaft infrage stellten. Dabei unterstützten einige Kroatien (Deutschland), andere Serbien (Frankreich und Großbritannien insbesondere), während die USA nach einer Phase der Unterstützung Serbiens, schließlich Bosnien unterstützten. Das war der Anfang der Epoche des ‘jeder für sich’, wo die Allianzen immer mehr ihre Grundlage verloren, und wo insbesondere die USA Schwierigkeiten bekamen, ihre Führungsrolle auszuüben.

Die treffendste Verdeutlichung dieser Lage konnte man im letzten Winter beobachten, als die USA auf ihre kriegerischen Drohungen gegen den Irak verzichten mussten, nachdem sie eine vom Generalsekretär der UNO erzielte Verhandlungslösung akzeptieren mussten, die auch durch die Unterstützung von Ländern wie Frankreich zustande gekommen war. Diese Länder haben seit 1990 ununterbrochen die US-Vorherrschaft untergraben (siehe dazu unseren Artikel in der Internationalen Revue Nr. 93: ‘Ein Rückschlag für die USA, der die kriegerischen Spannungen weiter antreibt’). Und die Ereignisse im Sommer haben erneut diese Tendenz, ja eine Verschärfung derselben  zum Vorschein gebracht, wo jeder für sich kämpft.

Der Krieg im Kongo

Das Chaos, dem heute die Beziehungen zwischen den Staaten verfallen, wird sofort ersichtlich, wenn man die Konflikte der jüngsten Zeit genau untersucht. Zum Beispiel unterstützen heute im Kongo-Krieg Länder, die vor weniger als zwei Jahren die Offensive von Laurent-Désiré Kabila gegen das Regime Mobutus mittrugen, die Rebellen gegen denselben Kabila. Noch verwunderlicher ist es, dass diese Länder, die in den USA einen herausragenden Verbündeten gegen die Interessen der französischen Bourgeoisie gefunden hatten, heute auf der Seite Frankreichs stehen, das die Rebellion gegen Kabila diskret unterstützt, denn es betrachtet ihn als einen Feind, nachdem er das mit Frankreich ‘befreundete Regime’ Mobutus gestürzt hatte. Noch überraschender ist die Unterstützung, die sich als entscheidend herausgestellt hat, seitens Angolas für das Regime Kabilas, nachdem er fast schon dabei war, verjagt zu werden. Bislang erlaubte Kabila, der anfangs von Angola unterstützt wurde, (insbesondere durch Ausbildung und Ausstattung der ehemaligen ‘Katanga-Gendarmen’) es den Truppen der UNITA, die einen Krieg gegen die gegenwärtige Regierung in Luanda führten, sich in den Kongo zurückzuziehen und dort Truppen auszubilden. Scheinbar hat Angola diese Treulosigkeit Kongos nicht nachgehalten. Um alles noch komplizierter werden zu lassen, hat sich  heute Angola, das vor einem Jahr den Sieg der Clique um Denis Sassou Ngesso ermöglichte, der von Frankreich gegen die Clique Pascale Lissoubas bei dem Kampf um die Kontrolle Kongo-Brazzavilles unterstützt wurde, dem Feindeslager Frankreichs angeschlossen. Schließlich zeigen die Bemühungen der USA, ihren Einfluss in Afrika insbesondere auf Kosten von Frankreich zu vergrößern, auf, dass nach den Erfolgen bei der Einrichtung eines ‘befreundeten’ Regimes in Ruanda und vor allem nach dem Sturz Mobutus, der bis zum letzten Tag von Frankreich unterstützt wurde, die USA selber auf der Stelle treten. Das Regime, dem die USA im Mai 1997 in Kinshasa an die Macht verhalfen, hat sich nicht nur gegen die USA gewendet, sondern auch ein Großteil der Bevölkerung, die zuvor noch Kabila nach 30 Jahren Mobutu-Herrschaft als den neuen Machthaber mit Blumen bejubelte, aber auch eine Reihe von Nachbarstaaten und insbesondere ‘Paten’ wie Uganda und Ruanda verwirft die USA. In der gegenwärtigen Krise ist die US-Diplomatie besonders schweigsam geblieben (sie hat ‘sofort Ruanda gebeten’, sich nicht einzumischen und die Militärhilfe eingestellt), während der französische Gegner entsprechend diskret aber dennoch eindeutig die Militärrebellion unterstützt.

Es ist unverkennbar, dass bei dem Chaos, in das Zentralafrika versinkt, die afrikanischen Staaten immer mehr der Kontrolle der Großmächte entweichen. Im kalten Krieg war Afrika ein Streitpunkt bei den Rivalitäten zwischen den beiden imperialistischen Blöcken, die die Welt aufgeteilt hatten. Die alten Kolonialmächte und insbesondere Frankreich waren vom westlichen Block damit beauftragt worden, dort zugunsten desselben als Gendarm aufzutreten. Die verschiedenen Staaten, die nach der Unabhängigkeit schrittweise versucht hatten, sich auf den russischen Block zu stützen, (wie beispielsweise Ägypten, Algerien, Angola, Mosambik) wechselten das Lager  und wurden zu treuen Verbündeten des westlichen Blocks, noch bevor der sowjetische Block zusammenbrach. Aber solange dieser – wenn auch noch sehr geschwächt – sich am Leben hielt, gab es eine grundlegende Solidarität zwischen den Westmächten, um zu verhindern, dass die UdSSR in Afrika erneut Fuß fasst. Diese Solidarität ist jetzt nach dem Zusammenbruch des russischen Blocks auseinandergebrochen. Aus der Sicht der USA war der fortdauernde Einfluss Frankreichs in einem Großteil Afrikas – der im krassen Missverhältnis stand zu dem ökonomischen und vor allem militärischen Gewicht Frankreichs auf der Welt – etwas Anormales, zumal Frankreich keine Gelegenheit verpasste, die US-Führung zu untergraben. Deshalb war das heausragende Merkmal all der verschiedenen Konflikte in Afrika während der letzten Jahre die wachsende Rivalität zwischen den beiden ehemaligen Verbündeten Frankreich und den USA. Die USA haben dabei jeweils versucht, den ehemaligen Verbündeten aus dessen Machtbereichen zu vertreiben. Die spektakulärste Verdeutlichung dieser amerikanischen Offensive war im Mai 1997 der Sturz des Mobutu-Regimes, das jahrzehntelang in Afrika bei den Interessen Frankreichs (wie auch während des kalten Krieges im Interesse der USA) eine Schlüsselstellung eingenommen hatte. Als Laurent-Désiré Kabila zum  Regierungschef ernannt wurde, nahm er kein Blatt vor den Mund, um seine Feindschaft gegenüber Frankreich zu erklären und seine ‘Freundschaft’ mit den USA, die ihm in den Sattel geholfen hatten. Damals noch war trotz aller Rivalitäten zwischen den verschiedenen, insbesondere ethnischen Cliquen, die vor Ort zusammenprallten, der rote Faden des Konfliktes zwischen den USA und Frankreich deutlich zu erkennen, genauso wie er kurz zuvor sichtbar war bei dem Regierungssturz der Regime in Ruanda und in Burundi zugunsten der Tutsis, die von den USA unterstützt wurden.

Heute fällt es dagegen schwer, die gleichen Konfrontationslinien in der neuen blutigen Tragödie im Kongo zu erkennen. Es scheint so, dass die verschiedenen Staaten, die an diesem Konflikt beteiligt sind, ihre eigene Karte spielen, unabhängig von dem grundlegenden Zusammenprall zwischen Frankreich und den USA, der die Geschichte Afrikas in der letzten Zeit so geprägt hatte. So träumt gegenwärtig Uganda, einer der großen Drahtzieher des Sieges Kabilas, bei seinem gegenwärtigen Vorgehen gegen den gleichen Kabila davon, die Führung in einem ‘Tutsiland’ zu übernehmen, das Ruanda, Kenia, Tansania, Burundi und die östlichen Provinzen des Kongos zusammenführen würde.

Durch die Beteiligung an der Offensive gegen Kabila zielt Ruanda darauf ab, eine ‘ethnische Säuberung’ der von den Hutu-Milizen benutzten kongolesischen Gebiete vorzunehmen. Die Hutu-Milizen setzen nämlich ihre Angriffe gegen die ruandische Regierung in Kigali fort. Daneben verfolgt Ruanda das Ziel der Besetzung der Provinz Kivu (übrigens behauptete einer der Rebellenführer – Pascal Tshiapta  – am 5. August, die Rebellion sei deshalb ausgelöst worden, weil Kabila sein Versprechen nicht eingehalten hatte, Kiva den Banyamulengue zu überlassen, die ihn gegen Mobutu unterstützt hatten).

Die Unterstützung Kabilas durch das Regime Angolas ist auch nicht uneigennützig. Man denkt fast an das Seil, das um den Hals des zu Hängenden gelegt wird. Indem das Regime Kabilas von dessen militärischer Hilfe abhängt, kann Angola ihm seine Bedingungen diktieren: die UNITA-Rebellen dürfen sich nicht mehr auf kongolesischem Territorium aufhalten, es darf dieses Territoriums zur Aufrechterhaltung der Verbindung mit der Enklave Cabinda benutzen, die geographisch vom angolanischen Territorium abgeschnitten ist.

Die allgemeine Tendenz des ‘jeder für sich’, die die ehemaligen Verbündeten des amerikanischen Blocks immer mehr an den Tag legen, und die im ehemaligen Jugoslawien so unübersehbar wurde, hat mit dem gegenwärtigen Konflikt im Kongo eine neue Stufe erreicht: jetzt treten schon Länder aus dritt- oder viertrangigen Gebieten auf wie Angola oder Uganda, um ihre imperialistischen Ambitionen unabhängig von den Interessen ihrer ‘Schutzmächte’ umzusetzen. Und dieselbe Tendenz kam bei den Attentaten am 7. August gegen die US-Botschaften in Afrika und dem ‘Gegenschlag’ der USA zwei Wochen später zum Vorschein.

Die Attentate gegen die US-Botschaften und ihre Folgen

Die minutiöse Vorbereitung, die Koordinierung und das Ausmaß der mörderischen Gewalt der Attentate vom 7. August lassen den Schluß zu, das diese nicht das Werk einer isolierten Terroristengruppe waren, sondern dass sie von einem Staat unterstützt und organisiert wurden. Sofort nach diesen Attentaten behaupteten die USA übrigens lauthals, dass der Krieg gegen den Terrorismus nunmehr ein vorrangiges Ziel ihrer Politik darstellt (dieses Ziel vertrat Präsident Clinton mit Nachdruck am 21. September vor der UNO). Tatsächlich sind damit die Staaten gemeint, die den Terrorismus praktizieren oder ihn unterstützen – daran ließ die US-Regierung keinen Zweifel. Diese Politik ist nicht neu: seit vielen Jahren schon geisseln die USA die ‘terroristischen Staaten’ (insbesondere Libyen, Syrien und der Iran wurden als solche eingestuft). Natürlich gibt es ‘terroristische Staaten’, auf die sich die Wut der USA nicht richtet: es handelt sich um diejenigen Staaten, die die Bewegungen unterstützen, welche den Interessen der USA dienen (wie im Falle Saudi-Arabiens, das die algerischen Integristen finanziert, die einen Krieg gegen ein mit Frankreich befreundetes Regime führen). Aber wenn die erste Weltmacht, die den Führungsanspruch auf die ‘Gendarmenrolle’ in der Welt erhebt, dieser Frage solch eine Bedeutung zumisst, dann ist das nicht nur durch die augenblicklichen Umstände bedingt. Wenn heute der Terrorismus zu einem immer häufiger benutzten Mittel in den imperialistischen Konflikten geworden ist, dann verdeutlicht dies vor allem das Chaos in den Beziehungen zwischen den Staaten (2). Dieses Chaos ermöglicht es den weniger wichtigen Staaten, die Position der Großmächte zu untergraben, und insbesondere der ersten Großmacht, was natürlich eine weitere Untergrabung der Führungsrolle derselben bewirkt.

Die beiden Gegenschläge der USA gegen die Attentate gegen ihre Botschaften, die Bombardierung einer Fabrik in Karthum und des Stützpunktes von Oussama Ben Laden im Afghanistan mittels Marschflugkörper, spiegeln die Art der internationalen Beziehungen, die heute vorherrschen, wider. In beiden Fälle haben die USA zur Beanspruchung ihrer Führungsrolle erneut ihre Hauptstärke zur Schau gestellt: ihre gewaltige militärische Überlegenheit gegenüber allen anderen Staaten. Nur die US-Army kann auf solche massive Art und mit dieser teuflischen Präzision in Zehntausenden Kilometer Entfernung von den USA den Tod säen - und das ohne selbst das geringste Risiko einzugehen. Das stellt eine Warnung dar an die Länder, die geneigt sein würden, terroristische Gruppen zu unterstützen; aber sie richtet sich auch an die westlichen Staaten, die mit diesen Staaten gute Beziehungen unterhalten. So diente die Zerstörung einer Fabrik im Sudan – auch wenn die vorgebrachte Rechtfertigung  (Herstellung von chemischen Waffen) brüchig ist – den USA dazu, einen Schlag gegen ein islamisches Regime auszuführen, das gute Beziehungen zu Frankreich unterhält.

Aber wie früher schon hat sich diese Zurschaustellung der Militärmacht als wenig wirksam herausgestellt, um die anderen Staaten um die USA zusammenzuscharen. Einerseits haben fast alle arabischen oder islamischen Staaten die Bombardierungen verurteilt. Andererseits haben die westlichen Staaten, auch wenn sie Lippenbekenntnisse zur Unterstützung abgelegt haben, ihre Vorbehalte gegenüber den von den USA angewandten Mitteln zum Ausdruck gebracht. Dies legt erneut Zeugnis von den enormen Schwierigkeiten ab, auf die heute die erste Großmacht der Erde stößt, um ihre Führungsrolle zu verteidigen: solange es keine andere Supermacht gibt (wie das zur Zeit der UdSSR und dem Bestehen des Ostblocks der Fall war), ermöglicht auch das Zurschaustellen und der Einsatz der militärischen Stärke kein Zusammenrücken  um die USA. Genausowenig wird dadurch das Chaos überwunden, das sie angeblich bekämpfen wollen. Oft verschärft diese Politik nur die Verwerfung der USA und spitzt das Chaos und die Tendenz des ‘jeder für sich’ weiter zu.

Das unaufhaltsame Ansteigen des ‘jeder für sich’ und die Schwierigkeiten der amerikanischen Führungsrolle wurden bei den Bombardierungen der Stützpunkte Ben Ladens deutlich. Die Frage dreht sich darum, ob er Drahtzieher dieser Attentate in Dar-es-Salaam und in Nairobi war. Sie bleibt weiter unaufgeklärt. Aber die Tatsache, dass die USA beschlossen, Marschflugkörper auf die Ausbildungslager in Afghanistan zu feuern, belegt, dass die erste Weltmacht ihn als einen Feind betrachtet. Aber gerade dieser gleiche Ben Laden war zur Zeit der russischen Besetzung Afghanistans einer der besten Verbündeten der USA, den diese unterstützten und großzügig finanzierten. Überraschender noch erhielt Ben Laden Hilfe von den Taliban, die wiederum von den USA (mit der Hilfe Pakistans und Saudi-Arabiens) entscheidend Unterstützung bekamen bei deren Eroberung eines Großteils des afghanischen Territoriums. Heute stehen sich die Taliban und die USA gegenüber. Man kann mehrere Gründe zur Erklärung des Schlags der USA gegen die Taliban anführen.

Einerseits stellte die bedingungslose Unterstützung der Taliban durch Washington ein Hindernis beim Prozess der ‘Normalisierung’ der Beziehungen mit dem iranischen Regime dar. Dieser Prozess hatte in den Medien eine große Aufmerksamkeit auf sich gezogen, als die Fussballmannschaften der USA und Irans während der letzten Fussball-WM Freundschaftsbekundungen austauschten. Bei ihren diplomatischen Bemühungen gegenüber dem Iran hinken die USA jedoch im Verhältnis zu den anderen Ländern wie z.B. Frankreich hinterher. So hatte Frankreich just zum gleichen Zeitpunkt seinen Aussenminister nach Teheran entsandt. Für die USA kommt es darauf an, die gegenwärtige Tendenz der Öffnung nicht zu verpassen, die von der iranischen Diplomatie eingeschlagen wurde, und damit nicht gegenüber anderen Mächten ins Hintertreffen zu geraten.

Aber der Schlag gegen die Taliban ist ebenfalls eine Warnung gegen die Bestrebungen derselben, gegenüber Washington auf Distanz zu gehen, nachdem ihr nahezu vollständiger Sieg über ihre Feinde sie weniger abhängig werden läßt von den USA. Mit anderen Worten: die erste Weltmacht will vermeiden, dass sich im Falle der Taliban nicht das gleiche wiederholt wie mit Ben Laden, dass ihre ‘Freunde’ nicht zu ihren Feinden werden. Aber in diesem Fall wie in anderen steht nicht fest, dass sich dieser Schlag für die USA auszahlen wird. Das ‘jeder für sich’ und das daraus entstehende Chaos wird auch durch das Zurschaustellen des Waffenarsenals des ‘Weltpolizisten’ nicht eingedämmt. Diese Phänomene sind ein vollständiger Bestandteil der gegenwärtigen historischen Periode des Zerfalls des Kapitalismus und sind als solche unüberwindbar.

Die grundlegende Unfähigkeit der USA, diese Lage zu überwinden, spiegelt sich übrigens auch im Leben der Bourgeoisie selber wider. Bei der Krise, von der heute die US-Exekutive um ‘Monica-Gate’ (Monika Lewinsky Affäre) erfasst wird, spielen wahrscheinlich Streitigkeiten innerhalb der politischen Klasse eine Rolle. Dieser von den Medien systematisch aufgebauschte Skandal wird nutzbringend eingesetzt, um die Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse abzulenken von einer wirtschaftlichen Lage, die sich immer mehr verschlechtert. Wachsende Angriffe der Unternehmer wie das Ansteigen der Kampfbereitschaft (Streiks bei General Motors und bei Northwest) belegen das. Der etwas surrealistische Aspekt dieses Prozesses gegen Clinton liefert ebenfalls einen Beweis für das Zerfäulnis der bürgerlichen Gesellschaft, die typisch ist für die Zerfallsperiode. Aber solch eine Offensive gegen den US-Präsidenten, die zu seiner Amtsenthebung führen könnte, zeigt die Malaise der US-Bourgeoisie, die unfähig ist, ihre eigene Führungsrolle in der Welt zu spielen.

Aber der Verdruss Clintons und gar der gesamten US-Bourgeoisie sind nur ein unbedeutender Aspekt in diesem Drama, das sich heute weltweit vollzieht. Für immer mehr Menschen – und das ist heute besonders deutlich sichtlich im Kongo – bedeutet dieses Chaos, das sich überall mehr entfaltet, immer mehr Massaker, Hungersnot, Epidemien, Barbarei. Diese Barbarei erreichte im Sommer eine neue Stufe, sie wird sich noch solange weiter zuspitzen, bis der Kapitalismus überwunden ist.           Fabienne    

(aus Internationale Revue Nr. 95,  4/98)

 

Geographisch: 

  • Afrika [150]

Internationale Revue - 1999

  • 3298 reads
  

Internationale Revue 23

  • 2489 reads

1918-1919 :Die proletarische Revolution beendet den imperialistischen Krieg

  • 4046 reads

Erst vor kurzem feierte die Bourgeoisie das Ende des Ersten Weltkrieges. Ein Unmenge von rührseligen Erklärungen wurden zu dieser schrecklichen Tragödie verbreitet. Aber in keiner der Erinnerungen, ob nun in den Erklärungen von Politikern, in Zeitungsartikeln oder in Fernsehsendungen, wurde auch nur mit einem Wort der Ereignisse gedacht, die die damaligen Regierungen zur Beendigung des Krieges bewegten. Man sprach von der militärischen Niederlage der Mittelmächte, von Deutschland und seinem Alliierten Österreich, aber man vermied peinlichst, einen Hinweis auf das entscheidendste Element für den Wunsch nach Waffenstillstandsverhandlungen zu nennen: nämlich die revolutionäre Bewegung in Deutschland, die sich Ende 1918 entwickelte. Auch war mit keinem Wort (und hier kann man die Bourgeoisie gut verstehen) von den wirklichen Gründen für diesen Krieg die Rede. Gewiss sind "Spezialisten" in die Archive der verschiedenen Regierungen gegangen, um zum Schluss zu gelangen, dass Deutschland und Österreich die Urheber des Krieges gewesen waren. Ebenso haben die Historiker die Tatsache ans Tageslicht gebracht, dass auch auf Seiten der Entente klar definierte Kriegsziele vorhanden waren. In keiner ihrer Analysen stellt man aber den wirklich Verantwortlichen an den Pranger: das kapitalistische System. Nur der Marxismus kann erklären, weshalb es nicht der Wille oder die besondere Hinterhältigkeit dieser oder jener Regierung gewesen ist, die am Anfang des Krieges standen, sondern die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus selbst. Für uns stellt der Jahrestag der Beendigung des Ersten Weltkrieges die Gelegenheit dar, auf die Analysen zurückzukommen, die die Revolutionäre damals erstellten, sowie auf den Kampf, den sie gegen den Krieg führten. Wir stützen uns insbesondere auf die Schriften, Positionen und Haltungen von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die vor 80 Jahren von der Bourgeoisie getötet worden waren. Dies ist die geeignetste Würdigung für diese beiden großartigen Kämpfer für das Weltproletariat' in einer Zeit, in der die Bourgeoisie alles unternimmt, um die Erinnerung an sie auszulöschen.

Dem Ersten Weltkrieg, der in Europa im August 1914 ausbrach, waren auf diesem Kontinent zahlreiche andere Kriege vorausgegangen. Beschränkt man sich auf das 19. Jahrhundert, so kann man beispielsweise an die napoleonischen Kriege und den Krieg zwischen Preußen und Frankreich 1870 erinnern. Jedoch bestehen zwischen dem Konflikt von 1914 und allen vorangehenden Kriegen fundamentale Unterschiede. Der offensichtlichste Unterschied liegt darin, dass sich 1914 ein Blutbad und eine Barbarei über die Gesamtheit jenes Kontinents ergoss, der angeblich die "Zivilisation" verkörpern sollte. Nach der noch unglaublich größeren Barbarei des Zweiten Weltkrieges erscheint der Erste Weltkrieg heute als bescheiden. Aber im Europa des Jahrhundertanfangs, als der letzte bedeutende militärische Konflikt bereits seit 30 Jahren ( 1870) vorbei war, als noch die letzten Feuer der Belle Epoque flackerten und nachdem sich die Arbeiterklasse in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus eine bedeutende Verbesserung ihrer Lebensbedingungen erkämpft hatte, erschien das Abtauchen in die brutale Massenschlächterei, in den täglichen Horror der Schützengräben und in ein seit einem halben Jahrhundert unbekanntes Elend insbesondere den Ausgebeuteten als ein nicht zu überbietender Kulminationspunkt der Barbarei. Auf beiden Seiten der Hauptrivalen, in Deutschland und in Frankreich, erzählten die Alten den Soldaten und der Bevölkerung vom Krieg von 1870 sowie von seiner Brutalität. Was sie aber jetzt erlebten, das hatte überhaupt nichts mehr mit dieser Episode zu tun. Der Konflikt 1870 hatte lediglich einige Monate gedauert und im Vergleich eine verschwindend kleine Anzahl von Opfern gefordert, und er hatte weder den Sieger noch den Besiegten ruiniert. Mit dem Ersten Weltkrieg musste man all die Verletzten, Getöteten und Behinderten in Millionen zählen. Die Dauer der täglichen Hölle musste man in Jahren messen (2). An der Front war das Überleben nur untertags in Sumpf und Dreck, im Gestank der Kadaver, in der immerwährenden Angst möglich. Und was wartete am nächsten Tag? Versehrte Körper, Verletzte, die Stunden oder Tage im Sterben lagen. Und hinter der Front lastete die schwere Arbeit, damit die Soldaten mit neuen Waffen versorgt werden können. Die Preissteigerung fraß die Löhne auf, lange Schlangen vor den leeren Geschäften, Hunger. Alle lebten in ständiger Angst, vom Tod des Ehemannes, Bruders, Vaters oder Sohnes zu erfahren. Schmerz und Verzweiflung beherrschten den Alltag.

Ein weiteres Charakteristikum dieses Krieges, das auch die massive Barbarei erklärt: Es war ein totaler Krieg. Die ganze Kraft der Industrie, alle Arbeitskräfte sind in den Dienst eines einzigen Zieles gestellt worden: Waffenproduktion. Alle Männer, vom Ende der Jugend an bis ins hohe Alter, wurden mobilisiert. Der Krieg war auch total vom Standpunkt der Zerstörungen in der Wirtschaft. Die Länder des Schlachtfeldes wurden vollständig zerstört. Die europäischen Volkswirtschaften waren vom Krieg zerstört, was das Ende der europäischen Macht und den Beginn des amerikanischen Aufstiegs einläutete. Der Krieg war nicht auf diejenigen Staaten beschränkt, die den Krieg begannen, sondern beinahe alle europäischen Länder wurden hineingezogen. Mit der Front im Nahen Osten, der Mobilisierung von Truppen in den Kolonien sowie dem Kriegseintritt von Japan, den USA und mehreren lateinamerikanischen Ländern auf Seiten der Alliierten wurde es ein Weltkrieg.

Bereits unter dem Aspekt der Barbarei und der Zerstörungen ist der Krieg von 1914-1918 eine tragische Illustration der Voraussagen der Marxisten: Der Eintritt der kapitalistischen Produktionsweise in die Niedergangsperiode, die Dekadenz. Der Krieg bestätigte die von Marx und Engels getroffene Voraussage: "Sozialismus oder Untergang in der Barbarei ".

Aber die Marxisten haben auch eine theoretische Erklärung für die neue Phase der kapitalistischen Gesellschaft gegeben.

Die grundsätzlichen Ursachen für den Ersten Weltkrieg

Das Ziel von Lenins Schrift Der Imperialismus als höchste Stufe des Kapitalismus von 1916 war die Identifizierung dieser fundamentalen Ursachen. Aber es war Rosa Luxemburg, die bereits 1912, zwei Jahre vor Ausbruch des Krieges, mit der Akkumulation des Kapitals die tiefgründigste Erklärung der Widersprüche gab, die den Kapitalismus in seiner neuen Phase erschüttern würden.

"Der Kapitalismus bedarf zu seiner Existenz und Fortentwicklung nichtkapitalistischer Produktionsformen als seiner Umgebung (...) Er braucht nichtkapitalistische soziale Schichten als Absatzmarkt für seinen Mehrwert, als Bezugsquellen seiner Produktionsmittel und a1s Reservoirs der Arbeitskräfte für sein Lohnsystem (...) Ohne die Produktionsmittel und Arbeitskräfte kann er nicht auskommen, sowenig wie ohne ihre Nachfrage nach seinem Mehrprodukt. Um ihnen aber Produktionsmittel und Arbeitskräfte zu entnehmen, um sie in Warenabnehmer zu verwandeln, strebt er zielbewusst danach, sie a1s selbständige soziale Gebilde zu vernichten. Diese Methode ist vom Standpunkt des Kapitals die zweckmässigste, weil sie zugleich die rascheste und profitabelste ist. " (Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Kap. Der Kampf gegen die Naturalwirtschaft, Gesammelte Werke, Bd. 5, S. 316f. u. 319)

"Der Imperialismus ist der politische Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus (...) Bei der hohen Entwicklung und der immer heftigeren Konkurrenz der kapitalistischen Länder um die Erwerbung nichtkapitalistischer Gebiete nimmt der Imperialismus an Energie und an Gewalttätigkeit zu, sowohl in seinem aggressiven Vorgehen gegen die nichtkapitalistische Welt wie in der Verschärfung der Gegensätze zwischen den konkurrierenden kapitalistischen Ländern. Je gewalttätiger, energischer und gründlicher der Imperialismus aber den Untergang nichtkapitalistischer Kulturen besorgt, um so rascher entzieht er der Kapitalakkumulation den Boden unter den Füßen. Der Imperialismus ist ebensosehr eine geschichtliche Methode der Existenzverlängerung des Kapitals wie das sicherste Mittel, dessen Existenz auf kürzestem Wege objektiv ein Ziel zu setzen. Damit ist nicht gesagt, dass dieser Endpunkt pedantisch erreicht werden muss. Schon die Tendenz zu diesem Endziel der kapitalistischen Entwicklung äuJ3ert sich in Formen, die die Schlussphase des Kapitalismus zu einer Periode der Katastrophen gestalten. " (a.a.0., Kap. Schutzzoll und Akkumulation, Gesammelte Werke, Bd. 5, S. 391f.)

"Je gewalttätiger das Kapital vermittelst des Militarismus drauJ3en in der Welt wie bei sich daheim mit der Existenz nichtkapitalistischer Schichten aufräumt und die Existenzbedingungen aller arbeitenden Schichten herabdrückt, um so mehr verwandelt sich die Tagesgeschichte der Kapitalakkumulation auf der Weltbühne in eine fortlaufende Kette politischer und sozialer Katastrophen und Konvulsionen, die zusammen mit den periodischen wirtschaftlichen Katastrophen in Gestalt der Krisen die Fortsetzung der Akkumulation zur Unmöglichkeit, die Rebellion der internationalen Arbeiterklasse gegen die Kapitalsherrschaft zur Notwendigkeit machen werden, selbst ehe sie noch ökonomisch auf ihre natürliche selbstgeschaffene Schranke gestossen ist.. " (Rosa Luxemburg, Antikritik, Gesammelte Werke, Bd. 5, S. 520f.)

Der Kapitalismus ist die erste Wirtschaftsform mit propagandistischer Kraft, eine Form, die die Tendenz hat, sich auf dem Erdrund auszubreiten und alle anderen Wirtschaftsformen zu verdrängen, die keine andere neben sich duldet. Er ist aber zugleich die erste, die allein, ohne andere Wirtschaftsformen als ihr Milieu und ihren Nährboden, nicht zu existieren vermag, die also gleichzeitig mit der Tendenz, zur Weltform zu werden, an der inneren Unfähigkeit zerschellt, eine Weltform der Produktion zu sein. Er ist ein lebendiger historischer Widerspruch in sich selbst, seine Akkumulationsbewegung ist der Ausdruck, die fortlaufende Lösung und zugleich Potenzierung des Widerspruchs. Auf einer gewissen Höhe der Entwicklung kann dieser Widerspruch nicht anders gelöst werden als durch die Anwendung der Grundlagen des Sozialismus derjenigen Wirtschaftsform, die zugleich von Hause aus Weltform und in sich ein harmonisches System, weil sie nicht auf die Akkumulation, sondern auf die Befriedigung der Lebensbedürfnisse der arbeitenden Menschheit selbst durch die Entfaltung aller Produktivkräfte des Erdrundes gerichtet sein wird. " (a.a.0., Kap. Der Militarismus als Gebiet der Kapitalakkumulation, Bd. 5, S. 410f.) Nach dem Ausbruch des Krieges ging Rosa Luxemburg 1915 auf Kritiken ein, die an ihrem Werk Die Akkumulation des Kapitals geäußert worden waren, und aktualisierte ihre Analyse: "Das Kennzeichen des Imperialismus als des letzten Konkurrenzkampfes um die kapitalistische Weltherrschaft ist nicht bloss die besondere Energie und Allseitigkeit der Expansion, sondern - dies das spezifische Anzeichen, dass der Kreis der Entwicklung sich zu schliessen beginnt - das Zurückschlagen des Entscheidungskampfes um die Expansion aus den Gebieten, die ihre Objekte darstellen, in ihre Ursprungsländer. Der Imperialismus führt damit die Katastrophe als Daseinsform aus der Peripherie der kapitalistischen Entwicklung nach ihrem Ausgangspunkt zurück. Nachdem die Expansion des Kapitals vier Jahrhunderte lang die Existenz und die Kultur aller nichtkapitalistischen Völker in Asien, Afrika, Amerika und Australien unaufhörlichen Konvulsionen und dem massenhaften Untergang preisgegeben hatte, stürzt sie jetzt die Kulturvölker Europas selbst in eine Serie von Katastrophen, deren Schlussergebnis nur der Untergang der Kultur oder der Übergang zur sozialistischen Produktionsweise sein kann

Das Werk Lenins umgekehrt insistiert darauf, den Imperialismus mit einem Nebenaspekt zu erklären: dem Export von Kapital aus den entwickelten in rückständige Länder,

damit so dem tendenziellen Fall der Profitrate entgegenwirkt werde, der aus der Zunahme des konstanten Kapitals (Maschinen, Rohstoffe) gegenüber dem variablen Kapital (Löhne), dem einzig profiterzeugenden Kapitalbestandteil, resultiert. Gemäß Lenin sind es die Rivalitäten zwischen den industrialisierten Ländern um die weniger entwickelten Zonen und den Kapitalexport in diese Zonen, die notwendigerweise zu ihrem Zusammenstoß führen müssen.

Obwohl zwischen den Analysen von Lenin, Rosa Luxemburg und anderen Revolutionären Unterschiede bestehen, stimmen sie doch bei einem hauptsächlichen Punkt überein: Dieser Krieg ist nicht das Ergebnis einer schlechten Politik oder der Bosheit dieser oder jener Regierungsclique, sondern er ist die unausweichliche Konsequenz der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise. In diesem Sinn haben diese beiden Revolutionäre mit derselben Energie alle "Analysen" bekämpft, die den Arbeitern glauben machen wollten, dass es innerhalb des Kapitalismus eine Alternative zum Imperialismus gebe. So zerstörte Lenin die These von Kautsky über die Möglichkeit eines "Superimperialismus", der fähig sei, ein Gleichgewicht zwischen den Großmächten herzustellen, und so ihren kriegerischen Auseinandersetzungen ein Ende bereite. Ebenso zerstörte er alle Illusionen lieber ein "internationales Schiedsgericht", das unter der Leitung von Leuten mit gutem Willen und von "pazifistischen" Kreisen der Bourgeoisie die Kontrahenten dazu bringen sollte, sich zu versöhnen und den Krieg zu beenden. Nicht anders drückte sich Rosa Luxemburg in ihrem Buch aus:

"Im Lichte dieser Auffassung gesehen, gestaltet sich die Stellung des Proletariats gegenüber dem Imperialismus zur Generalauseinandersetzung mit der Kapitalherrschaft. Die taktische Richtschnur seines Verhaltens ist gegeben durch jene geschichtliche Alternative (des Ruins der Zivilisation oder der Errichtung der kapitalistischen Produktionsweise).

Ganz anders verlaufen die Richtlinien vom Standpunkt des offiziellen 'sachverständigen' Marxismus. Der Glaube an die Möglichkeit der Akkumulation in einer 'isolierten kapitalistischen Gesellschaft', der Glaube, dass 'der Kapitalismus auch ohne Expansion denkbar' sei, ist die theoretische Formel einer ganz bestimmten taktischen Tendenz. Diese Auffassung zielt dahin, die Phase des Imperialismus nicht als historische Notwendigkeit, nicht a1s entscheidende Auseinandersetzung um den Sozialismus zu betrachten, sondern als boshafte Erfindung einer Handvoll Interessenten. Diese Auffassung geht dahin, der Bourgeoisie einzureden, dass der Imperialismus und Militarismus ihr sel6st vom Standpunkt ihrer eigenen kapitalistischen Interessen schädlich sei, dadurch die angebliche Handvoll der Nutznießer dieses Imperialismus zu isolieren und so einen Block des Proletariats mit breiten Schichten des Bürgertums zu bilden. um den Imperialismus zu 'dämpfen', ihn durch 'teilweise Abrüstung' auszuhungern, ihm 'den Stachel zu nehmen'! (...) Die Generalauseinandersetzung zur Austragung des weltgeschichtlichen Gegensatzes zwischen Proletariat und Kapital verwandelt sich in die Utopie eines historischen Kompromisses zwischen Proletariat und Bourgeoisie zur 'Milderung' der imperialistischen Gegensätze zwischen kapitalistischen Staaten." (Rosa Luxemburg, Antikritik, Gesammelte Werke, Bd. 5, S. 521f.)

Lenin und Rosa Luxemburg legten schließlich in den gleichen Begriffen dar, warum Deutschland die Rolle des Auslösers für den Ausbruch des Weltkrieges gespielt hatte (die große Idee derjenigen, die den verantwortlichen Staat dafür suchen), während sie die beiden Lager genau gleich behandelten: "Anderseits hat sich gegen diese hauptsächlich englisch französische Gruppe eine andere, noch beutegierigere, noch räuberischere Gruppe in Bewegung gesetzt, eine Gruppe von Kapitalisten, die an den Tisch des kapitalistischen Schmauses herantraten, als die Plätze schon besetzt waren, dabei aber neue Verfahren zur Entwicklung der kapitalistischen Produktion, eine bessere Technik und eine unvergleichliche Organisation in den Kampf führten (...) Das eben ist die Geschichte der Ökonomie, die Geschichte der Diplomatie während mehrerer Jahrzehnte, woran niemand vorbeigehen kann. Sie allein weist den Weg zu einer richtigen Lösung der Frage des Krieges und zeigt, dass auch der gegenwärtige Krieg ein Produkt der Politik jener Klassen ist, die in diesem Krieg aneinandergeraten sind, der beiden grossen Giganten, die lange vor dem Kriege über die ganze Welt, über alle Länder die Netze ihrer finanziellen Ausbeutung gespannt, die vor dem Kriege die ganze Welt ökonomisch unter sich aufgeteilt hatten. Sie mussten auf einanderstossen, weil vom Standpunkt des Kapitalismus die Neuaufteilung dieser Herrschaft unvermeidlich geworden war. " (Lenin, Krieg und Revolution, Werke, Bd. 24, S. 401f.)

"Darüber hinaus ist bei der allgemeinen Einschätzung des Weltkrieges und seiner Bedeutung für die Klassenpolitik des Proletariats die Frage der Verteidigung und des Angriffs, die Frage nach dem 'Schuldigen'völ1ig belanglos. Ist Deutschland am allerwenigsten in der Selbstverteidigung, so sind es auch Frankreich und England nicht, denn was sie 'verteidigen', ist nicht ihre nationale, sondern ihre weltpolitische Position, ihr von den Anschlägen des deutschen Emporkömmlings bedrohter alter imperialistischer Besitzstand. Haben die Streifzüge des deutschen und österreichischen Imperialismus im Orient den Weltbrand zweifellos entzündet, so hatten zu ihm der französische Imperialismus durch die Verspeisung Marokkos, der englische durch seine Vorbereitungen zum Raub Mesopotamiens und Arabiens wie durch alle MaJ3nahmen zur Sicherung seiner Zwangsherrschaft in Indien, der russische durch seine auf Konstantinopel zielende Balkanpolitik Scheit für Scheit den Brennstoff zusammengeschleppt und aufgeschichtet. Wenn die militärischen Rüstungen eine wesentliche Rolle als Triebfeder zum Losbrechen der Katastrophe gespielt haben, so waren sie ein Wettkampf aller Staaten. "

(Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie, Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 136f.) Diese Gemeinsamkeit in der Analyse der Ursprünge des Krieges fand man bei zwei Revolutionären, die aus Ländern von sich gegenüberstehenden Kriegslagern stammten. Sie war aber auch vorhanden bezüglich der Klassenpolitik und in der Denunzierung der sozialdemokratischen Parteien, die einen Verrat am Proletariat begangen hatten.

Die Rolle der Revolutionäre im Krieg

Beim Kriegsausbruch bestand die Rolle der Revolutionäre und derjenigen, die dem proletarischen Lager treu geblieben waren, in der Denunzierung. Sie mussten insbesondere alle Lügen entlarven, die die Bourgeoisie und jene verbreiteten, die ihre Lakaien geworden waren, nämlich die sozialdemokratischen Parteien, um den Krieg zu rechtfertigen, die Proletarier einzuspannen und ins Gemetzel zu schicken. In Deutschland trafen sich einige führende Sozialdemokraten wie Karl Liebknecht, die dem proletarischen Internationalismus treu geblieben waren, in der Wohnung von Rosa Luxemburg und begannen, den Widerstand gegen den Krieg zu organisieren. Während die gesamte sozialdemokratische Presse in den Dienst der Regierungspropaganda übergelaufen war, publizierte diese kleine Gruppe eine Zeitschrift, Die Internationale, und eine Reihe von Flugschriften, die mit Spartakus unterzeichnet wurden. In der sozialdemokratischen Fraktionssitzung des Parlamentes vom 4. August widersetzt sich Liebknecht entschlossen gegen die Zustimmung zu den Kriegskrediten, aber er unterwirft sich der Mehrheit in Nachachtung der Parteidisziplin. Dies war ein Fehler, den er in Zukunft nicht mehr begehen sollte, wenn die Regierung Nachtragskredite verlangte. In der Abstimmung vom 2. Dezember 1914 war er der einzige, der dagegen stimmte; erst im August und Dezember 1915 wurde er in seiner Haltung durch andere sozialdemokratische Abgeordnete unterstützt (die jedoch bei dieser Gelegenheit eine Erklärung dahingehend abgaben, dass Deutschland keinen Verteidigungskrieg führe, da es ja Belgien und einen Teil Frankreichs besetze, welchen Vorbehalt Liebknecht als zentristisch und feige brandmarkte).

So schwierig sich die Propaganda der Revolutionäre sich in einer Zeit gestaltete, in der die Bourgeoisie einen eigentlichen Belagerungszustand ausgerufen hatte, wo jeder Ausdruck einer proletarischen Stimme unterdrückt wurde, so wichtig war die Aktivität von Rosa Luxemburg und ihren Genossen für die Vorbereitung der kommenden Ereignisse. Im April 1915, als sie im Gefängnis eingesperrt war, schrieb sie Die Krise der Sozialdemokratie, ein Werk, das "das geistige Dynamit ist, das die bürgerliche Ordnung in die Luft sprengt", wie Clara Zetkin, die Kampfgefährtin Rosa Luxemburgs, in ihrem Vorwort vom Mai 1919 schrieb.

Dieses Buch ist eine unerbittliche Anklageschrift gegen den Krieg, aber auch gegen alle Aspekte der bürgerlichen Propaganda; die beste Würdigung, die man Rosa Luxemburg erweisen kann, besteht darin, einige (zu) kurze Passagen aus diesem Werk zu zitieren.

Während sich in allen kriegführenden Ländern die verschiedenen Sprachrohre der Bourgeoisie gegenseitig im nationalistischen Gebrüll überboten, begann sie dieses Dokument mit einer schonungslosen Offenlegung der chauvinistischen Hysterie, die sich der Bevölkerung bemächtigt hatte:

"(...) ganze Stadtbevölkerungen in Pöbel verwandelt, bereit zu denunzieren. Frauen zu misshandeln, hurra zu schreien und sich selbst durch wilde Gerüchte ins Delirium zu steigern; eine Ritualmordatmosphäre, eine Kischinjow-Luft(3), in der der Schutzmann an der Strassenecke der einzige Repräsentant der Menschenwürde war ". (Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 52)

Dann entlarvte sie die Wirklichkeit dieses Krieges: "Geschändet, entehrt, im Blute watend, von Schmutz triefend - so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt - a1s reiJ3ende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt. " (S. 53)

Rosa geht also schon zu Beginn direkt zum Kern der Frage: Im Gegensatz zu den pazifistischen Illusionen, die eine bürgerliche Gesellschaft "ohne ihre Auswüchse" wollten, bezeichnete sie den für den Krieg Verantwortlichen: den Kapitalismus als solchen. Und sofort widmete sie sich der Aufgabe, die Rolle und den Inhalt der kapitalistischen Propaganda

Schwarzhunderter Pogrome gegen Juden und Arbeiter veranstalteten zu entlarven, einerlei ob sie von den traditionellen bürgerlichen Parteien oder von der Sozialdemokratie betrieben wurde:

" Der Krieg ist ein methodisches, organisiertes, riesenhaftes Morden. Zum systematischen Morden muss aber bei normal veranlagten Menschen erst der entsprechende Rausch erzeugt werden. Dies ist seit jeher die wohlbegründete Methode der Kriegsführenden. Der Bestialität der Praxis muss die Bestialität der Gedanken und der Gesinnung entsprechen, diese muss jene vorbereiten und begleiten. " (S. 64)

Ein wesentlicher Teil des Buches besteht darin, systematisch all diese Lügen und die Regierungspropaganda zu entlarven, die dazu bestimmt war, die Massen für das Gemetzel zu gewinnen (4). So analysierte Rosa die Kriegsziele der verschiedenen Länder, allen voran Deutschlands, um den imperialistischen Charakter dieses Kriegs aufzuzeigen. Sie analysierte die ganze Kette der Ereignisse von der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand am 28. Juni in Sarajevo zum Kriegsausbruch zwischen den wichtigsten Ländern Europas: Deutschland, Russland, Frankreich, England und Österreich-Ungarn. Sie zeigte auf, dass diese Ereignisse keineswegs einem blinden Gesetz der Unausweichlichkeit gehorchten oder von irgendeinem "Bösen" zu verantworten waren, wie es die offizielle Propaganda und die Sozialdemokratie der kriegführenden Ländern wollte, sondern dass sie seit langem vom Kapitalismus selber ausgebreitet wurden:

"Der am 4. August offiziell begonnene Weltkrieg war derselbe, auf den die deutsche und die internationale imperialistische Politik seit Jahrzehnten unermüdlich hinarbeitete, derselbe, dessen Nahen die deutsche Sozialdemokratie ebenso unermüdlich seit einem Jahrzehnt fast jedes Jahr prophezeite, dersel6e, den die sozialdemokratischen Parlamentarier, Zeitungen und Broschüren tausendmal aIs ein frivoles imperialistisches verbrechen brandmarkten, das weder mit Kultur noch mit nationalen Interessen etwas zu tun hätte, vielmehr das direkte Gegenteil von beiden Seiten wäre. " (S. 108f.)

Sie nahm vor allem die deutsche Sozialdemokratie aufs Korn, die Vorzeigepartei der Sozialistischen Internationalen, deren Verrat das Regierungsmanöver zur Vereinnahmung des Proletariats in Deutschland, aber auch in den anderen Ländern unendlich vereinfachte. Sie richtete ihre besondere Aufmerksamkeit auf das sozialdemokratische Argument, nach dem der Krieg auf deutscher Seite den Zweck verfolge, die "Zivilisation" und die "Freiheit der Völker" gegen die zaristische Barbarei zu verteidigen.

Sie denunzierte insbesondere die Rechtfertigungen der Neuen Zeit, des theoretischen Organs der Partei, das sich auf Marxens Analyse berief, nach der Russland das "Gefängnis der Völker" und die Hauptkraft der Reaktion in Europa darstellte: "Nachdem die sozialdemokratische Fraktion dem Kriege den Charakter einer Verteidigung der deutschen Nation und Kultur angedichtet hatte, dichtete ihm die sozialdemokratische Presse gar den Charakter des Befreiers fremder Nationen an. Hindenburg wurde zum Vollstrecker des Testaments von Marx und Engels. " (S. 112)

Indem Rosa die Lügen der Sozialdemokratie denunzierte, entlarvte sie deren wirkliche Rolle:

"Mit der Annahme der Burgfriedens hat die Sozialdemokratie für die Dauer des Krieges den Klassenkampf verleugnet. Aber damit verleugnete sie die Basis der eigenen Existenz, der eigenen Politik. (...) Sie überliess die "Vaterlandsverteidigung" den herrschenden Klassen und begnügte sich damit, die Arbeiterklasse unter deren Kommando zu stellen und für die Ruhe unter dem Belagerungszustand zu sorgen, d.h. die Rolle des Gendarmen der Arbeiterklasse zu spielen. " (S. 126)

Schließlich ist im Buch von Rosa Luxemburg sehr wichtig, dass eine Perspektive für das Proletariat aufgezeigt wird, nämlich diejenige der Beendigung des Krieges durch die revolutionäre Tat des Proletariats. Während sie behauptete (wobei sie bürgerliche Politiker zitierte, die sich darüber sehr klar waren), dass die einzige Kraft, die den Ausbruch des Krieges hätte verhindern können, der Kampf des Proletariats gewesen wäre, kam sie zurück auf die Resolution des Kongresses der Internationalen von 1907, die durch den Kongress von 1912 (außerordentlicher Kongress von Basel) bestätigt wurde: "Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es Pflicht der Sozialdemokratie, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen. " (S. 130)

Rosa berief sich auf diese Resolution, um den Verrat der Sozialdemokratie zu entlarven, die genau das Gegenteil dessen tat, wozu sie sich verpflichtet hatte. Sie appellierte an die geeinte Aktion des Weltproletariats, dem Krieg ein Ende zu bereiten, wobei sie gleichzeitig die Gefahr unterstrich, die dieser für die Zukunft des Sozialismus bedeutete: "Hier erweist sich aber auch der heutige Weltkrieg nicht bloss als ein grandioser Mord, sondern auch a1s Selbstmord der europäischen Arbeiterklasse. Es sind ja die Soldaten des Sozialismus, die Proletarier Englands, Frankreichs, Deutschlands, Russlands, Belgiens selbst, die einander auf Geheiss des Kapitals seit Monaten abschlachten, einander das kalte Mordeisen ins Herz stoJ3en, einander mit tödlichen Armen umklammernd zusammen ins Grab hinabtaumeln. (...) Der Wahnwitz wird erst aufhören, und der blutige Spuk der Hölle wird verschwinden, wenn die Arbeiter in Deutschland und Frankreich, in England und Russland endlich aus ihre Rausch erwachen, einander brüderlich die Hand reichen und den bestialischen Chorus der imperialistischen Kriegshetzer wie den heiseren Schrei der kapitalistischen Hyänen durch den mächtigen Schlachtruf der Arbeit überdonnern: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" (S. 163f.)

Es ist darauf hinzuweisen, dass Rosa Luxemburg in ihrem Buch wie übrigens die Gesamtheit der Parteilinken, die sich (im Gegensatz zum "marxistischen Zentrum" um Kautsky, der mit seinen Verdrehungen die Politik der Führung rechtfertigte) entschlossen gegen den Krieg wandte, nicht alle Schlussfolgerungen aus der Resolution von Basel zog und nicht die klare Losung Lenins herausgab: "Den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg verwandeln ". Genau aus diesem Grund befanden sich die Vertreter der Strömung um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im September 1915 an der Konferenz von Zimmerwald auf der "zentristischen" Position, die Trotzki vertrat, und nicht auf der linken, die Lenin einnahm. Erst an der Konferenz von Kienthal im April 1916 schließt sich jene Strömung der Linken von Zimmerwald an.

Trotz ihrer Schwächen ist die beträchtliche Arbeit Rosa Luxemburgs und ihrer Genossen in dieser Zeit hervorzuheben, eine Arbeit, die 1918 ihre Früchte tragen sollte.

Aber bevor wir auf diese letzte Periode eingehen, ist auf die äußerst wichtige Rolle des Genossen von Rosa hinzuweisen, den die Bourgeoisie am gleichen Tat wie sie ermordete: Karl Liebknecht. Dieser ging, auch wenn er die gleichen politischen Positionen vertrat, theoretisch zwar nicht so in die Tiefe wie Rosa und hatte auch nicht dasselbe Talent für seine Artikel (aus diesem Grund und aus Platzgründen zitieren wir hier nicht aus seinen Schriften). Aber seine mutige und entschlossene Haltung, seine äußerst klaren Bloßstellungen des imperialistischen Krieges und all jener, die ihn offen oder verschleiert rechtfertigten, sowie seine Entlarvung der pazifistischen Illusionen

machten ihn in dieser Zeit zum Symbol schlechthin des proletarischen Kampfes gegen den imperialistischen Krieg. Ohne hier auf die Einzelheiten seiner Aktion einzugehen (vgl. dazu unser Artikel "Die Revolutionäre in Deutschland im Ersten Weltkrieg", Internationale Revue), müssen wir an ein bezeichnendes Ereignis erinnern: seine Teilnahme an einer Demonstration von 10'000 Arbeitern am Ersten Mai 1916 in Berlin gegen den Krieg, in deren Verlauf er das Wort ergriff und rief: "Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung! ", was seine sofortige Verhaftung zur Folge hatte. Diese Verhaftung bildete den Anlass für den ersten politischen Massenstreik in Deutschland, der Ende Mai ausbrach. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass er vor dem Kriegsgericht, das ihn am 28. Juni verurteilte, offen seine Tat verteidigte im Bewusstsein darüber, dass dies die Strafe nur verschärfen konnte; er nützte die Gelegenheit aus, um erneut den imperialistischen Krieg und den Kapitalismus, der dafür verantwortlich ist, zu denunzieren und die Arbeiter zum Kampf auf zurufen. Von da an wurden der Name und das Beispiel Liebknechts in allen Ländern Europas zum Banner, das jene vereinte, die - wie an erster Stelle Lenin - gegen den imperialistischen Krieg und für die proletarische Revolution kämpften.

Die proletarische Revolution und das Kriegsende

Die Perspektive, die die Resolution des Basler Kongresses enthielt, wurde im Februar 1917 in Russland zum ersten Mal konkret verdeutlicht, als die Revolution das Zarenregime stürzte. Nach drei Jahren unbeschreiblichen Tötens und Elends fing das Proletariat an, soweit sein Haupt zu erheben, dass der Zarismus gestürzt und die sozialistische Revolution entfacht wurde. Wir gehen hier nicht weiter auf die Ereignisse in Russland ein, die wir noch jüngst in unserer Internationalen Revue (5) behandelt haben. Dagegen müssen wir darauf hinweisen, dass die Arbeiter in Uniform nicht nur in diesem Land sich im Jahre 1917 gegen die kriegerische Barbarei zur Wehr setzten. Kurze Zeit nach Februar 1917 entstanden in mehreren Armeen an der Front massive Aufstandsbewegungen. So kam es in den drei größten Ländern der Entente, in Frankreich, Großbritannien und Italien, zu umfangreichen Aufständen, die deren Regierungen zu einer blutigen Repression veranlassten. In Frankreich verweigerten ca. 40'000 gemeinsam den Gehorsam; ein Teil von ihnen versuchte gar auf Paris zu marschieren, wo es zum gleichen Zeitpunkt Streiks in den Rüstungsschmieden gab. Dieses Zusammentreffen von Klassenkämpfen "hinter der Front" und der Soldatenrevolte ist wahrscheinlich einer der Gründe für die Zurückhaltung, mit der die französische Bourgeoisie ihre Repression ausführte: Von den 554 zum Tode Verurteilten wurden nur ca. 50 tatsächlich erschossen. Diese "Mäßigung" findet man nicht auf englischer und italienischer Seite, wo jeweils 306 und 750 hingerichtet wurden.

Im November 1998, als die Gedächtnisfeiern zum Ende des Ersten Weltkriegs stattfanden, haben die Bourgeoisie und insbesondere die sozialdemokratischen Parteien, die heute in den europäischen Staaten mehrheitlich die Regierungen stellen, bei den Meutereien von 1917 erneut veranschaulicht, wie heuchlerisch sie sind und wie stark ihnen an einer Zerstörung des Gedächtnisses des Proletariats gelegen ist. In Italien hat der Verteidigungsminister mitgeteilt, dass man die "Ehre" der erschossenen Meuterer "wiederherstellen" müsse, und in Großbritannien hat man sie "öffentlich geehrt". Bei der Heuchelei ragt der "Genosse" Jospin (der französische Premierminister) besonders heraus, denn wer war damals Rüstungs- und Kriegsminister? Die "Sozialisten" Albert Thomas und Paul Painleve.

Diese "Sozialisten", die heute all diese pazifistischen und "bewegten" Reden über die Grausamkeiten des Ersten Weltkriegs schwingen, vergessen zu sagen, dass sie 1914 in den wichtigsten Ländern Europas an vorderster Stelle bei der Mobilisierung der Arbeiterklasse für den Krieg standen und sie mit in das Abschlachten getrieben haben. Indem sie die Aufständischen des Ersten Weltkriegs "in das nationale Gedächtnis" einverleiben wollen, will die linke Bourgeoisie vergessen machen, dass diese Aufständischen ein Teil der Geschichte des Weltproletariats sind (6).

Was die offizielle These der Politiker und der systemtreuen Historiker angeht, die behaupten, die Revolten von 1917 seien gegen eine "unfähige Führungsspitze" der Armee gerichtet gewesen, kann diese nicht die Tatsache vom Tisch fegen, dass diese Revolten in beiden Lagern und an den meisten Fronten stattgefunden haben: Soll man etwa glauben, dass der Weltkrieg nur von unfähigen Armeeführungen geführt wurde? Darüber hinaus fanden diese Revolten statt, als in den anderen Ländern Nachrichten über die Februarrrevolution in Russland eintrafen (7).

Was die Bourgeoisie tatsächlich zu verheimlichen sucht, ist der unleugbare proletarische Inhalt der Meutereien und die Tatsache, dass der einzig wahre Widerstand gegen den Krieg nur von der Arbeiterklasse kommen kann.

Im gleichen Zeitraum wurde jenes Land von Meutereien erfasst, in dem das Proletariat am mächtigsten war und die Soldaten im direkten Kontakt mit den russischen Soldaten an der Ostfront standen: Deutschland. Die Ereignisse in Russland ließen einen großen Enthusiasmus unter den deutschen Truppen aufkommen und an der Front nahmen die Verbrüderungen zu (8) . In der Marine fingen die Meutereien im Sommer 1917 an. Die Tatsache, dass die Matrosen diese Bewegung anführten, war aufschlussreich: fast alle sind Arbeiter in Uniform (während unter den Heeressoldaten ein höherer Bauernanteil gezählt wurde). Die revolutionären Gruppen und insbesondere die Spartakisten verfügten unter den Matrosen über einen bedeutenden Einfluss, der immer mehr zunahm. Die Spartakisten zeigten klar die Perspektive für die gesamte Arbeiterklasse auf: "Die siegreiche russische Revolution im Bunde mit der siegreichen deutschen Revolution sind unbesiegbar. von dem Tage an, wo unter den revolutionären Schlägen des Proletariats die deutsche Regierung samt dem deutschen Militarismus zusammenbricht, beginnt ein neues Zeitalter, in dem Kriege, kapitalistische Ausbeutung und Bedrückung für immer verschwinden müssen." (Flugblatt der Spartakisten, April 1917).

" (...) Nur durch Massenkampf, durch Massenaufdehnung, durch Massenstreiks, die das ganze wirtschaftliche Getriebe und die gesamte Kriegsindustrie zum Stillstand bringen, nur durch Revolution und die Erringung der Volksrepublik in Deutschland durch die Arbeiterklasse kann dem Völkermord ein Ziel gesetzt und der allgemeine Frieden herbeigeführt werden. Und nur so kann auch die russische Revolution gerettet werden."(Spartakus, Nr. 6, August 1917).

Und dieses Programm sollte mehr und mehr die wachsenden Kämpfe der Arbeiterklasse in Deutschland mittragen. In Rahmen dieses Artikels können wir auf die Ereignisse nicht detaillierter eingehen (siehe dazu unsere Artikelserie in der Internationalen Revue), aber man muß an dieser Stelle in Erinnerung rufen, dass einer der Gründe, weshalb Lenin und die Bolschewiki im Oktober 1917 die Bedingungen als reif für die Machtergreifung durch die Arbeiterklasse erachteten, gerade die Entfaltung der Kampfbereitschaft der Arbeiter und Soldaten in Deutschland war.

Man muss insbesondere hervorheben, wie die Intensivierung der Arbeiterkämpfe und die Erhebung der Soldaten auf proletarischer Grundlage ausschlaggebend waren für die Forderung Deutschlands nach einem Waffenstillstand und damit dem Ende des Ersten Weltkriegs.

"Angespornt durch die revolutionäre Entwicklung in Russland war nach mehreren vorausgegangenen Kämpfen im April 1917 ein Massenstreik entbrannt. Im Januar 1918 stürzten sich ca. 1 Mio. Arbeiter in eine neue Streikbewegung, gründeten einen Arbeiterrat in Berlin. Unter dem Einfluß der Ereignisse in Russland zerbröckelte im Sommer 1918 die Kampfbereitschaft an den Fronten immer mehr. In den Fabriken brodelte es, auf den Straßen sammelten sich immer mehr Arbeiter, um den Widerstand gegen den Krieg zu intensivieren." (Der Beginn der Revolution, Teil 2, Internationale Revue Nr. 18, S. 17)

Am 3. Oktober 1918 wechselte die Bourgeoisie den Kanzler aus. Prinz Max von Baden löste den Grafen Georg Hertling ab, und die SPD trat der Regierung bei. Die Revolutionäre verstanden sofort die Rolle, die die Sozialdemokratie übernommen hatte. Rosa Luxemburg schrieb: "Der Regierungssozialismus stellt sich mit seinem jetzigen Eintritt in die Regierung a1s Retter des Kapitalismus der kommenden proletarischen Revolution in den Weg" (Oktober 1918).

Zum gleichen Zeitpunkt hielten die Spartakisten mit anderen revolutionären Gruppen eine Konferenz ab, die einen Aufruf an die Arbeiter verfasste: "Die spontanen Meuterungen unter den Soldaten gilt es mit allen Mitteln zu unterstützen, zum bewaffneten Aufstand überzuleiten, den bewaffneten Aufstand zum Kampf um die ganze Macht für die Arbeiter und Soldaten auszuweiten und durch Massenstreiks der Arbeiter für uns siegreich zu machen. Das ist die Arbeit der allernächsten Tage und Wochen. "

"Am 23. Oktober war Liebknecht aus dem Gefängnis entlassen worden. Mehr als 20'000 Arbeiter begrüssten ihn bei seiner Ankunft in Berlin. (...) Am 28. Oktober begann in Österreich, in den tschechischen und slowakischen Gebieten sowie in Budapest eine Welle von Streiks, die jeweils zum Sturz der Monarchie führten. Überall entstanden wie in Russland Arbeiter- und Soldatenräte (...). Als am 3. November in Kiel die Flotte zu weiteren Gefechten auslaufen sollte, erhoben sich die Matrosen und meuterten. Sofort wurden Soldatenräte gegründet, denen im gleichen Atemzug die Gründung von Arbeiterräten folgte. (...) Sie bildeten massive Delegationen von Arbeitern und Soldaten, die sich in andere Städte begaben. Riesige Delegationen wurden nach Hamburg, Bremen, Flensburg, ins Ruhrgebiet, gar bis nach Köln geschickt, die dort vor Versammlungen der Arbeiter sprachen und zur Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten auf riefen. So zogen Tausende von Arbeitern und Matrosen von den norddeutschen Städten auch nach Berlin und in andere Städte in die Provinz. (...) Innerhalb von einer Woche waren in den GroJ3städten Deutschlands überall Arbeiter- und Soldaten-Räte gegründet worden. "

An die Soldaten Berlins gewandt, veröffentlichten die Spartakisten am 8. November einen Aufruf, in dem steht:

"Arbeiter und Soldaten! Was Euren Genossen und Kameraden in Kiel, Hamburg, Bremen, Lübeck, Rostock, Flensburg, Hannover, Magdeburg, Braunschweig, München und Stuttgart gelungen ist: Das muss auch Euch gelingen. Denn von dem was Ihr erringt, von der Zähigkeit und dem Erfolge Eures Kampfes, hängt auch der Sieg Eurer dortigen Brüder ab, hängt der Erfolg des Proletariats der ganzen Welt ab. Soldaten! Handelt wie Eure Kameraden von der Flotte, vereinigt Euch mit Euren Brüdern im Arbeitskittel. Lasst Euch nicht gegen Eure Brüder gebrauchen, folgt nicht den Befehlen der Offiziere, schieJ3t nicht auf die Freiheitskämpfer. Arbeiter und Soldaten! Die nächsten Ziele Eures Kampfes müssen sein:."

  • 1. Befreiung aller zivilen und militärischen Gefangenen.
  • 2. Aufhebung aller Einzelstaaten und Beseitigung aller Dynastien
  • 3. Wahl von Arbeiter- und Soldatenräten, Wahl von Delegierten hierzu in allen Fabriken und Truppenteilen.
  • 4. Sofortige Aufnahme der Beziehungen zu den übrigen deutschen Arbeiter- und Soldatenräten.
  • 5. Übernahme der Regierung durch die Beauftragten der Arbeiter- und Soldatenräte.
  • 6. Sofortige Verbindung mit dem internationalen Proletariat, insbesondere mit der russischen Arbeiterrepublik
  • Hoch die sozialistische Republik!
  • Es lebe die Internationale! Die Gruppe Internationale (Spartakusgruppe) (8. November).
  • Am gleichen Tag rief ein Flugblatt der Spartakisten die Arbeiter dazu auf, auf der Straße zusammenzukommen:
  • "Heraus aus den Betrieben! Heraus aus den Kasernen! Reicht Euch die Hände! Es lebe die sozialistische Republik. "

"In den Morgenstunden des 9. November begann in Berlin der revolutionäre Aufstand (...) Hunderttausende Arbeiter folgten den Aufrufen der Spartakusgrupppe und des Vollzugsausschusses, legten die Arbeit nieder und strömten in riesigen Demonstrationszügen in das Zentrum der Stadt. An der Spitze marschierten bewaffnet Arbeitergruppen. Die große Mehrheit der Truppen schloß sich den demonstrierenden Arbeitern an, verbrüderten sich mit ihnen. Am Mittag war Berlin in den Händen der revolutionären Arbeiter und Soldaten

Vor dem Schloß der Hohenzollern sprach Liebknecht:

" Wir müssen alle Kräfte anspannen, um die Regierung der Arbeiter und Soldaten aufzubauen... Wir reichen (den Arbeitern der anderen Länder) die Hände und rufen sie zur Vollendung der Weltrevolution auf (...) Ich proklamiere die freie sozialistische Republik Deutschland. " (Liebknecht am 9. November)

Am gleichen Abend besetzten revolutionäre Arbeiter und Soldaten die Druckerei einer bürgerlichen Zeitung und ermöglichten somit den Druck der ersten Ausgabe der Roten Fahne, der Tageszeitung des Spartakusbundes. Darin wurde sofort vor der SPD gewarnt: "Es gibt keine Gemeinschaft mit denen, die euch vier Jahre verraten haben. Nieder mit dem Kapitalismus und seinen Agenten! Es lebe die Revolution! Es lebe die Internationale!"

Am gleichen Tag ergriff die Bourgeoisie gegenüber der wachsenden revolutionären Gefahr entsprechende Schritte. Sie veranlasste die Abdankung des Kaisers Wilhelm II., rief die Republik aus und ernannte einen Führer der SPD, Ebert, zum Kanzler. Er wurde ebenso vom Vollzugsrat ernannt, in dem viele sozialdemokratische Funktionäre Mandate erheischt hatten. Ein "Rat der Volksbeau8ragten" wurde gegri5ndet, der aus SPD- und USPD-Mitgliedern zusammengesetzt war (d.h. aus "Zentristen", die im Februar 1917 wie die Spartakisten aus der SPD ausgeschlossen worden waren). Tatsächlich versteckte sich hinter dem "revolutionären" Titel (es war der gleiche Titel wie der der Sowjetregiernng in Russland) eine durch und durch bürgerliche Regierung, die alles unternehmen sollte, um die proletarische Revolution zu verhindern und das Massaker an den Arbeitern vorzubereiten.

Die erste Maßnahme dieser Regierung bestand darin, einen Tag nach ihrer Ernennung einen Waffenstillstand zu unterzeichnen (während die deutschen Truppen noch Feindesland besetzt hielten). Nach der Erfahrung mit der Revolution in Rußland, wo die Fortsetzung des Krieges den entscheidenden Faktor der Mobilisierung und der Bewußtwerdung des Proletariats bis hin zum Sturz der bürgerlichen Macht im Oktober 1917 geliefert hatte, wusste die deutsche Bourgeoisie ganz genau, dass sie sofort den Krieg beenden musste, um nicht das gleiche Schicksal zu erleiden wie die russische Bourgeoisie.

Obgleich heute die Sprecher der Bourgeoisie sorgfältigst die Rolle der proletarischen Revolution bei der Beendigung des Krieges verheimlichen, entgeht diese Tatsache den eher ernsthafteren und sorgfältiger arbeitenden Historikern (deren Schriften nur für eine kleine Leserschaft bestimmt sind) nicht.

"Entschlossen, die Verhandlungen trotz des Widerstands von Ludendorff fortzusetzen, sollte die deutsche Regierung bald dazu gezwungen sein. Zunächst brachte die österreichische Kapitulation eine neue und schreckliche Bedrohung für den Süden des Landes mit sich. Dann und vor allem brach die Revolution in Deutschland aus (...). (Die deutsche Delegation unterzeichnete den Waffenstillstand am 17. November um 5.20 h im berühmten Eisenbahnwagen Fochs. Sie unterzeichnete im Namen der deutschen Regierung, die auf Eile drängte. (...) Die deutsche Delegation erzielte winzige Vorteile, die " - so Pierre Renouvin "das gleiche Ziel verfolgten: der deutschen Regierung die Mittel nicht einreissen, damit sie gegen den Bolschewismus kämpfen konnte. Insbesondere lieferte das Heer nur 25'000 anstatt 30'000 geforderte Maschinengewehre ab. Es konnte weiterhin das Ruhrgebiet - Zentrum der Revolution - besetzen, anstatt "neutralisiert" zu werden. " (Jean-Baptiste Duroselle, Le Monde 12.11.1968)(9)

Sobald der Waffenstillstand unterzeichnet war, entwickelte die sozialdemokratische Regierung eine ganze Strategie zur Eindämmung und zur Niederschlagung der proletarischen Bewegung. Insbesondere die Spaltung zwischen Soldaten und den revolutionärsten Arbeitern wollte sie weiter vertiefen, wobei die meisten Soldaten davon ausgingen, dass man den Kampf nicht fortzusetzen brauche, da der Krieg nunmehr beendet sei. Die Sozialdemokratie unterstützte die Illusionen, die sie in einem beträchtlichen Teil der Arbeiterklasse aufrechterhalten konnte, um die Spartakisten von den großen Arbeitermassen zu isolieren.

Wir können hier nicht weiter auf die Einzelheiten der damaligen Zeit vom Waffenstillstand bis zum Moment der Ermordung Rosa Luxemburgs . und Karl Liebknechts eingehen (dieser Zeitraum wird in zwei Artikeln in unserer Artikelserie in der Internationalen Revue Nr. 18 und 19 behandelt). Aber die einige Jahre später von General Groener, oberster Armeechef von Ende 1918 bis Anfang 1919, veröffentlichten Schriften sind sehr aufschlussreich über die von Ebert betriebene Politik, der mit ihm jeden Tag in Verbindung stand:

" Wir haben uns verbündet zum Kampf gegen den Bolschewismus. (...) Ich habe dem Feldmarschall den Rat gegeben, nicht mit der Waffe die Revolution zu bekämpfen, weil zu befürchten sei, dass bei der Tierfassung der Truppen eine solche Bekämpfung scheitern würde. Ich habe ihm vorgeschlagen, die Oberste Heeresleitung möge sich mit der SPD verbünden, da es zurzeit keine Partei gebe, die Einfluss genug habe im Volke, besonders bei den Massen, um eine Regierungsgewalt mit der Obersten Heeresleitung wieder herzustellen. (...) Zunächst handelte es sich darum, in Berlin den Arbeiter- und Soldatenräten die Gewalt zu entreiJ3en. Zu diesem Zwecke wurde ein Unternehmen geplant. 10 Divisionen sollten in Berlin einmarschieren. Ebert war damit einverstanden. (...) Wir haben ein Programm ausgearbeitet, das nach dem Einmarsch eine Säuberung Berlins und die Entwaffnung der Spartakisten vorsah. Das war auch mit Ebert besprochen, dem ich dafür besonders dankbar bin wegen seiner absoluten Vaterlandsliebe. (...) Dieses Bündnis war geschlossen gegen die Gefahr der Bolschewiken und gegen das Rätesystem " (Groener, Oktober-November 1925, Zeugenaussage).

Im Januar 1919 versetzte die Bourgeoisie den entscheidenden Schlag gegen die Revolution. Nachdem sie mehr als 80'000 Soldaten um Berlin zusammengezogen hatte, fädelte sie am 4. Januar eine Provokation ein, indem sie den Polizeipräfekten von Berlin, das USPD Mitglied Eichhorn, absetzte. Mit großen Demonstrationen wurde auf diese Provokation reagiert. Während der Gründungsparteitag der KPD mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht an seiner Spitze 4 Tage zuvor die Einschätzung entwickelt hatte, dass die Zeit noch nicht reif sei für den Aufstand, ließ sich Karl Liebknecht in eine Falle locken und beteiligte sich an einem Aktionsausschuss, der zum Auf stand aufrief Für die Arbeiterklasse bedeutete dies ein wahres Desaster. Tausende von Arbeitern, insbesondere Spartakisten wurden massakriert. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die Berlin nicht hatten verlassen wollen, wurden am 15. Januar verhaftet und ohne Prozess von den Soldaten unter dem Vorwand des "Fluchtversuchs" kaltblütig erschossen. Zwei Monate später wurde Leo Jogiches, ehemaliger Gefährte Rosa Luxemburgs und ebenfalls ein Führer der Partei, im Gefängnis umgebracht.

Heute versteht man, warum die Bourgeoisie und insbesondere ihre "sozialistischen Parteien" diese Ereignisse, die den Ersten Weltkrieg zu Ende brachten, vertuschen wollen. Insbesondere ist den "demokratischen" und vor allem den "sozialistischen" Parteien überhaupt nicht daran gelegen, dass ihre Rolle bei den Massakern an der Arbeiterklasse aufgedeckt wird; diese Rolle wird in den gegenwärtigen Märchen immer den "faschistischen Diktaturen" und den "Kommunisten" zugeschrieben.

Zweitens geht es ihnen darum, gegenüber der Arbeiterklasse zu verheimlichen, dass ihr Kampf das einzige Hindernis für den imperialistischen Krieg darstellt. Während weltweit sich überall die Massaker fortsetzen und weiter zunehmen, geht es den Herrschenden vor allem darum, dass die Arbeiterklasse ein Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber dieser Lage empfinden soll. Um jeden Preis soll sie an der Bewusstwerdung gehindert werden, dass ihre Kämpfe gegen die wachsenden Angriffe, die durch die ausweglose Krise hervorgerufen werden, das einzige Mittel sind, um die Generalisierung dieser Konflikte zu verhindern. Konflikte, welche letztendlich die Welt in eine neue kriegerische Barbarei stürzen, wie es im 20. Jahrhundert schon zweimal der Fall war. Die Arbeiter sollen somit von der Idee der Revolution abgebracht werden, die als der Grund für alles Übel dieses Jahrhunderts dargestellt wird. Doch es war die Niederschlagung der Revolution, die es ermöglichte, dass dieses Jahrhundert das blutigste und barbarischste der Geschichte wurde - gerade weil sie die einzige Hoffnung für die Menschheit darstellt.

Fabienne

    "Erinnern wir uns, dass einige Wochen nach ihrer Ermordung die erste Sitzung des ersten Kongresses der Kommunistischen Internationale mit einer Würdigung dieser beiden Militanten eröffnet wurde, seither haben die Organisationen der Arbeiterbewegungen immer wieder ihrer gedacht.

  • (2) In Frankreich wurden 16,8% aller Mobilisierten getötet. Das Verhältnis ist für Deutschland kaum geringer: 15,4%. Aber es steigt für Bulgarien auf 22%, für Rumänien auf 25%, für die Türkei auf 27%, für Serbien auf 37%. Gewisse Kategorien der Kämpfenden erlebten schrecklichere Verluste: Die Infanterie Frankreichs 25% sowie ein Drittel aller Männer die 1914 20 Jahre alt waren. Erst 1950 erreichte die Bevölkerung wieder das Niveau vom Ersten August 1914. Man muss sich auch die menschliche Tragödie der Invaliden und der Verstümmelten vorstellen. Unter den Verstümmelten gab es ganz schreckliche Fälle: Allein in Frankreich zählte man 20000 "kaputte Fressen", Soldaten, die absolut entstellt waren und nicht mehr ins soziale Leben integriert werden konnten, so dass man für sie Spezialinstitutionen schaffen musste, wo sie in einem Getto den Rest ihrer Tage verbrachten. Auch darf man die Hunderttausenden von jungen Männern nicht vergessen, die irr geworden waren und von den Behörden im Allgemeinen als "Simulanten" betrachtet wurden.
  • (3) Kischinjow: Ort in Russland, wo 1903 die vom zaristischen Regime geschaffenen
  • (4) Auf beiden Seiten überboten sich die Lügen der bürgerlichen Presse in Geschmacklosigkeit und Unverschämtheit. "Schon ab August 1914 denunzierten die Allierten die `Grausamkeiten', die die Invasoren an der Bevölkerung Belgiens und Nordfrankreichs verübt hatte: die `abgeschnittenen Hände' der Kinder, die Vergewaltigungen, die hingerichteten Geiseln und die `als Exempel' verbrannten Dörfer ... Die deutschen Zeitungen umgekehrt veröffentlichten täglich Meldungen Über die `Grausamkeiten', die die belgischen Zivilen an den deutschen Soldaten verübt hatten: ausgestochene Augen, abgeschnittene Finger, bei lebendigem Leibe verbrannte Gefangene." ("Realité et propagande: la barbarie allemande", in L'Histoire, November 1998)
  • (5) Siehe Internationale Revue Nr 88 bis 91 (englisch/französisch/spanische Ausgabe)
  • (6) Der französische Premierminister zitierte in seiner Rede eine Strophe des "Craonne-Liedes", das nach den Meutereien verfasst wurde. Aber er hat mit Bedacht den folgenden Abschnitt ausgelassen: "Diejenigen, die Geld haben, werden wiederkommen.
  • Denn für sie sterben wir.
  • (7) Nach den Meutereien in der französischen Armee wurden ca. 10'000 russische Soldaten, die neben den französischen Soldaten an der Westfront kämpften, von der Front zurückbeordert und bis Kriegsende im Lager La Courtine isoliert. Es musste verhindert werden, dass ihr Enthusiasmus, den sie für die Revolution zeigten, die sich bei "ihnen zu Hause" entwickelte, die französischen Soldaten ansteckte.
  • (8) Man muss festhalten, dass die Verbrüderungen an der Westfront einige Monate nach Kriegsbeginn und der Abreise mit Blumen im Gewehr und dem Slogan einsetzten "Nach Berlinl!" oder "Nach Paris!". "Am 25. Dezember 1914: Keine Feindestätigkeit. In der Nacht und im Laufe des 25. Dezember wurde Verbindung aufgenommen zwischen Franzosen und Bayern, von Graben zu Graben (Gespräche, Notizen seitens des Gegners mit Schmeicheleien, Zigaretten... Besuch von einigen Soldaten in den deutschen Gräben" (Aufzeichnungen und Marschbefehle der 139. Brigade). In einem Brief vom 1.1.1915 eines Generals, der an einen anderen General gerichtet war, steht: "Man muJ3 feststellen, dass die Soldaten zu lange am gleichen Ort bleiben, und somit zu sehr ihre Gegner von gegenüber kennenlernen, so dass daraus Gespräche entstehen und manchmal gar Besuche, die meistens nachteilige Auswirkungen haben. " Dies nahm im Laufe des Krieges noch zu, insbesondere 1917. In einem im November 1917 von der Post abgefangenen Brief schrieb ein französischer Soldat an seinen Schwager: "Wir sind nur 20 Meter von den Deutschen entfernt, aber sie sind ziemlich nett, denn sie geben uns Zigarren und Zigaretten, und wir geben ihnen Brot." (Zitate aus L'Histoire, Januar 1988).
  • Aber das ist jetzt vorbei, denn die Soldaten werden jetzt alle in den Streik treten "
  • (9) Jean-Baptiste Duroselle und Pierre Renouvin sind zwei sehr bekannte Historiker, Spezialisten dieses Zeitraums.

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1917 - Russische Revolution [21]

Historische Ereignisse: 

  • Erster Weltkrieg [151]

Theoretische Fragen: 

  • Internationalismus [152]

Deutsche Revolution VII

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Die Gründung der KAPD

Im vorherigen Artikel in der Internationalen Revue Nr. 22 haben wir gesehen, wie die KPD, deren besten Mitglieder ermordet wurden und der Repression ausgesetzt waren, es nicht schaffte, die Rolle zu erfüllen, die sie zu spielen gehabt hätte, und wie falsche Organisationsauffassungen zu einem Fiasko führten, bis hin zum Ausschluß der Mehrheit der Mitglieder der Partei! Auf dem Hintergrund politischer Konfusionen und der aufflammenden Kampfbereitschaft sollte die KAPD gegründet werden.

Am 4./5. April 1920 trafen sich drei Wochen nach dem Beginn des Kapp-Putsches und der Welle von Abwehrkämpfen, die dieser in ganz Deutschland hervorgerufen hatte,  in Berlin Delegierte der Opposition, um  eine neue Partei aus der Taufe zu heben: die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD).

Es ging darum, endlich eine Partei der ”revolutionären Aktion” zu gründen und eine Kraft haben, die dem opportunistischen Kurs der KPD entgegentrat. 

So schwerwiegend die Fehler der KPD während des Kapp-Putsches auch waren – dies war jedoch noch kein Anlaß, damit eine neue Partei aus der Taufe zu heben. Ohne vorher alle Möglichkeiten der Fraktionsarbeit ausgeschöpft zu haben, gründete man völlig überstürzt – zum Teil aus ”Frust”, fast aus Verärgerung auf die Schnelle eine neue Partei. Hauptsächlich kamen die Delegierten aus Berlin und einigen anderen Städten. Sie beanspruchten, ca.  20.000 Mitglieder zu vertreten.

Ähnlich dem Gründungskongreß der KPD war die neu gegründete KAPD sehr heterogen zusammengesetzt. Sie war wiederum eher ein  Sammelbecken der Opposition und Ausgeschlossenen (1).

Es gab:

– Die Berliner Tendenz: sie wurde von Intellektuellen wie Schröder, Schwab und Reichenbach angeführt, die alle aus dem Milieu sozialistischer Studenten kamen, und Arbeitern, die ausgezeichnete Organisatoren waren wie Emil Sachs, Adam Scharrer und Jan Appel, geprägt. Aus ihrer Sicht waren die Unionen nur ein Ableger der Partei, deswegen verwarfen sie jede Form des revolutionären Syndikalismus und den anarchisierenden Föderalismus. Sie stellten den marxistischen Flügel innerhalb der KAPD  dar.

– Die ”Parteigegner”, deren prominentester Sprecher Rühle war und die als solche eher eine lose Gruppierung waren. All ihre Kräfte auf die Unionen zu konzentrieren, darin bestand die einzige Orientierung, die sie verband. Es handelte sich um eine syndikalistisch-revolutionäre Tendenz.

– Die nationalbolschewistische Tendenz um Wolffheim und Laufenberg, die in Hamburg die Mehrheit darstellte; auch wenn Wolffheim und Laufenberg nicht direkt an der Gründung der KAPD mitwirkten, traten sie ihr bei und versuchten sie zu infiltrieren.

Gleichzeitig erhielt die KAPD schnell Zulauf von jungen, radikalisierten, unzufriedenen Arbeitern, die aber über wenig organisatorische Erfahrung, aber großen revolutionären Enthusiasmus verfügten. Selbst viele Mitglieder der Berliner Sektion waren nicht sehr stark in der Arbeiterbewegung vor dem Krieg verwurzelt gewesen. Zudem hatte der 1. Weltkrieg eine Radikalisierung vieler Künstler und Intellektueller mit sich gebracht (F. Jung, Dichter; H. Vogeler, Anhänger einer Kommune; Pfemfert und O. Kanehl, Künstler; usw.), die sich massenhaft zur KPD und später zur KAPD hingezogen fühlten. Die meisten von ihnen sollten eine verheerende Rolle spielen. Denn ähnlich dem Einfluß der bürgerlichen Intellektuellen nach 1968 haben sie sehr stark die Saat der Organisationsfeindlichkeit verbreitet und den Individualismus, die Zentralisierungsfeindlichkeit, den Föderalismus usw. propagiert. Dieses Milieu von Leuten ist leicht infizierbar durch die kleinbürgerliche Ideologie und deren Verhaltensweisen und macht sich zu deren Träger. Ohne damit von vornherein ein negatives Gesamtimage der KAPD zu zeichnen, denn die KAPD wurde später leichtfertig und pauschalisierend als ”kleinbürgerlich” beschimpft, weil der Einfluß dieser Strömung spürbar war, sollte die KAPD dennoch stark darunter leiden. Diese Intellektuellen-Kreise halfen auch bei dem Aufkommen des bis dahin in der Arbeiterbewegung nicht verbreiteten ”Proletenkults”, was sie nicht daran hinderte, selbst Feinde einer theoretischen Vertiefung zu sein. So mußte der marxistische Flügel innerhalb der KAPD von Anfang an eine Abgrenzung von den organisationsfeindlich

Wie die Schwächen bei der Organisationsfrage zum Verschwinden der Organisation führen

en Elementen vollziehen.

Es ist nicht das Ziel dieses Artikels, die programmatischen Positionen der KAPD näher zu untersuchen. Wir haben dies im Detail in unserem Buch Die holländische Linke getan. Die KAPD sollte trotz aller theoretischer Schwächen einen historisch wertvollen Beitrag hinsichtlich der Gewerkschafts- und Parlamentsfrage liefern. Sie leistete Pionierarbeit bei der Vertiefung des Verständnisses, warum im dekadenten Kapitalismus eine Arbeit in den Gewerkschaften nicht mehr möglich ist, warum die Gewerkschaften selber zu Staatsorganen geworden sind und warum sich das Parlament nicht mehr zugunsten der Arbeiterklasse benutzen läßt, sondern zu einer gefährlichen Waffe gegen das Proletariat geworden ist. Auch bezüglich der Rolle der Partei sollte die KAPD als erste Partei einen klaren Standpunkt zur Frage des Substitutionismus entwickeln. Sie hatte im Gegensatz zu den Parteien der Komintern erkannt, daß im neuen Zeitraum der Dekadenz keine Massenparteien mehr möglich sind. ”Die historisch gegebene Organisationsform zur Zusammenfassung der bewußtesten, klarsten, tatbereitesten proletarischen Kämpfer ist die Partei (...) Die kommunistische Partei  muß ein programmatisch durchgearbeitetes, in einheitlichem Wollen organisiertes und diszipliniertes Ganzes sein. Sie muß der Kopf und die Waffe der Revolution sein (....) insbesondere darf sie ihren Mitgliederbestand nie rascher erweitern, als es die Angliederungskraft des festen kommunistischen Kerns gestattet.” (Leitsätze über die Rolle der Partei in der proletarischen Revolution, Thesen der KAPD, Proletarier Nr. 7, Juli 1921).

Wir heben diese programmatischen Errungenschaften der KAPD an erster Stelle hervor, um zu betonen, daß die Kommunistische Linke sich ungeachtet der fatalen Schwächen der KAPD, auf die wir jetzt eingehen,  auf diese Errungenschaften berufen muß. Gerade die KAPD sollte verdeutlichen, daß es nicht reicht, ”programmatisch zu Schlüsselfragen” klar zu sein, denn solange man kein ausreichend klares Verständnis der Organisationsfrage hat, stellt die programmatische Klarheit zu obengenannten Fragen keine Garantie für ein Überleben der Organisation dar. Ausschlaggebend ist nämlich die Fähigkeit, eine revolutionäre Organisation nicht nur programmatisch auf solide Füße zu stellen, sondern die Organisation auch aufzubauen, sie zu verteidigen,  und sicherzustellen, daß die Organisation ihre historische Rolle erfüllt, und nicht zerfressen wird von falschen Organisationsauffassungen, und den Höhen und Tiefen des Klassenkampfes standhält. 

Als einer der ersten Tagesordnungspunkte auf dem Gründungskongreß hatte die KAPD beschlossen, sofort der Kommunistischen Internationale beizutreten, ohne vorher die Mitgliedschaft bei ihr zu beantragen. Während sie sich so von Anfang an der internationalen Bewegung zugehörig fühlte, lief die Ausrichtung ihrer Diskussion zu diesem Tagesordnungspunkt darauf hinaus, als Schwerpunkt ”innerhalb der 3. Internationale den Kampf gegen den Spartakusbund” zu führen. In einer Diskussion mit Vertretern des KPD  hatte man vorher erklärt, daß wir ”die reformistische Taktik des Spartakusbundes als nicht im Einklang mit den Prinzipien der 3. Internationale stehend betrachten und daß wir den Ausschluß des Spartakusbundes aus der 3. Internationale betreiben würden” (Protokoll des Gründungsparteitages, zit. bei Bock, S. 207). Als Leitmotiv bei dieser Diskussion tauchte immer wieder die Idee auf: ”Wir lehnen ein Zusammengehen mit dem Spartakusbund ab und werden ihn scharf bekämpfen... Unsere Stellung zum Spartakusbund ist klar und einfach zu präzisieren: Wir glauben, daß einzelne kompromittierte Führer aus der proletarischen Kampffront ausgeschlossen werden müssen, und wir haben die Bahn frei für das Zusammengehen der Massen gemäß dem maximalistischen Programm..... Eine Delegation von 2 Genossen, die dem Exekutiv-Komitee der 3. Internationale mündlichen Bericht erstatten sollen, wird beschlossen. Die Delegation wird von Berlin und Hamburg gestellt, da besonderes Gewicht darauf gelegt wird, die Hamburger Entwicklung klarlegen zu lassen” (ebenda S. 211).

Während ein politischer Kampf gegen die opportunistischen Positionen des Spartakusbundes in der Tat unerläßlich war, spiegelte diese dermaßen  feindliche Haltung gegenüber der KPD jedoch ein völliges Verdrehen der Prioritäten wider. Anstatt Klärung gegenüber der KPD mit dem Ziel der Festlegung für die Bedingungen der Einheit, Vereinigung zu betreiben, überwog eine sektiererische, unverantwortliche, jede Organisation zerstörerische  Haltung.  Haupttriebkraft dieser Haltung waren vor allem die Hamburger Nationalbolschewisten.

Zunächst war es ein Fiasko, daß die KAPD bei ihrer Gründung die Hamburger Nationalbolschewisten in ihre Reihen aufgenommen hatte. Diese Strömung war antiproletarisch. Allein ihre Anwesenheit ließ das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der KAPD in den Augen der Komintern von vornherein schwerwiegend absinken (2).

Als Delegierte zum im Juli tagenden 2. Kongreß der Komintern wurden Jan Appel und Franz Jung benannt (3).

In Diskussionen mit dem Exekutivkomitee der Komintern stellten sie den Standpunkt der KAPD dar. Im Anschluß an diese Diskussionen versicherten sie dem EKKI, daß sowohl die nationalbolschewistische Strömung um Laufenberg und Wolffheim als auch die parteifeindliche Strömung um Rühle aus der KAPD ausgeschlossen werden würde. Bei der Gewerkschafts- und Parlamentarismusfrage prallten die Standpunkte der KAPD und des EKKI heftig aufeinander. Lenin hatte kurz zuvor seine Schrift Der linke Radikalismus - die Kinderkrankheit im Kommunismus fertiggestellt. Nachdem die KAPD aufgrund der kriegsbedingten Blockade keine Nachricht von ihren Delegierten erhalten hatte, schickte man eine 2. Delegation, Otto Rühle und Merges. Das war das Schlimmste, das sie machen konnte. 

Vor allem Rühle war Repräsentant der föderalistischen Minderheit, die die kommunistische Partei auflösen und in ein System von Unionen überführen wollte. Jegliche Zentralisierung ablehnend, verwarfen sie deshalb auch implizit die Existenz einer Internationale überhaupt. Nach einer Reise durch Rußland, wo sie von den Auswirkungen des Bürgerkrieges, den die 21 Armeen gegen Rußland angezettelt hatten, geschockt  waren und ein ”belagertes Regime” sahen, wollten die beiden Delegierten ohne Absprache mit der KAPD wieder abreisen, überzeugt davon, daß ”die Diktatur der Bolschewistischen Partei der Nährboden für das Erscheinen einer neuen sowjetischen Bourgeoisie war”. Obwohl Lenin, Sinowjew, Radek und Bucharin ihnen eine beratende Stimme auf dem 2. Kongreß 1920 einräumen wollten, sie zur Teilnahme am Kongreß drängten, wollten sie auf die Teilnahme verzichten. Vor ihrer Abreise gestand das Exekutivkomitee der Komintern ihnen gar eine beschließende und nicht mehr nur eine beratende Stimme zu. ”Während wir uns schon in Petrograd auf dem Rückweg befanden, schickte uns das Exekutivkommission eine neue Einladung zum Kongreß, mit der Erklärung, daß die KAPD auf diesem Kongreß auch das Stimmrecht erhalte, obgleich sie keine der drakonischen Bedingungen des Offenen Briefes an die KAPD erfüllt oder auch nur versprochen hätte, sie zu erfüllen.”

Resultat war: Der 2. Kongreß der Komintern fand ohne die kritische Stimme der KAPD-Delegierten statt. Die verhängnisvolle opportunistische Entwicklung in der Komintern konnte leichter vonstatten gehen, die Arbeit in den Gewerkschaften wurde in den 21 Aufnahmebedingungen als bindend beschlossen. Der Widerstand der KAPD gegen diese opportunistische Kehrtwende war auf diesem Kongreß nicht zu spüren.

Auch war es infolgedessen nicht möglich, daß sich die kritischen Stimmen gegenüber dieser Entwicklung in der Komintern auf dem Kongreß selber zusammenfanden. Durch dieses schädliche Verhalten der KAPD-Delegierten kam es zu keinen internationalen Absprachen und keinem gemeinsamen Vorgehen. Die Ansätze einer internationalen Fraktionsarbeit wurden verpaßt.

Nach ihrer Rückkehr wurde die Strömung um Rühle aus der KAPD wegen organisationsfeindlichem Verhalten und Auffassungen ausgeschlossen. Nicht nur verwarfen die Rätekommunisten die politische Organisation des Proletariats, und leugneten damit die besondere Rolle der Partei, die diese bei der Bewußtseinsentwicklung des Proletariats zu spielen hatte (siehe dazu die Thesen zur Partei der KAPD). Sie reihten sich ein in die bürgerlichen Propagandastimmen, die die Erfahrung der Russischen Revolution verzerrten. Anstatt die Lehren aus dem Scheitern der Russischen Revolution zu ziehen,  fingen sie an, die Revolution als eine doppelte (proletarisch und bürgerlich, bzw. kleinbürgerlich) zu bezeichnen. Damit gaben sie sich selbst den politischen Todesstoß. Die ”Rätisten” wirkten nicht nur schädlich, indem sie die Rolle der Revolutionäre bei der Bewußtseinsentwicklung verneinten, sondern sie wirkten auch auf die Auflösung des revolutionären Lagers hin und verstärkten die allgemeine Organisationsfeindlichkeit. Nach ihrer Auflösung und Verstreuung konnten sie keinen politischen Beitrag mehr leisten. Diese Strömung besteht heute noch und hält sich hauptsächlich in den Niederlanden am Leben (obwohl ihre Ideologie weit über dieses Land hinaus verbreitet ist).

Der Zentralausschuß der KAPD beschloß auf dem 1. Ordentlichen Parteitag der KAPD im August 1920, daß es nicht darum ging, die 3. Internationale zu bekämpfen, sondern in ihren Reihen solange zu kämpfen, bis der Standpunkt der KAPD gesiegt habe. Diese Einstellung unterschied sich kaum von der Haltung der Italienischen Linken, allerdings änderte sich das später. Aber die Auffassung, daß man nur eine ”Opposition” und keine Internationale Fraktion innerhalb der Komintern bilden sollte, verhinderte es, daß eine internationale Plattform der Kommunistischen Linken entwickelt wurde.

Im November 1920 fuhr eine 3. Delegation nach dem 2. Kongreß der KAPD nach Moskau (ihr gehörten Gorter, Schröder und Rasch an). Die Komintern wies gegenüber der KAPD zurecht darauf hin, daß die Existenz zweier Organisationen (KPD und KAPD) in einem Land eine Anomalie sei und beendet werden müsse. Aus der Sicht der Komintern sollte der Ausschluß der Parteigegner um Rühle und der Nationalbolschewisten um Laufenberg und Wolffheim der Vereinigung der beiden Strömungen den Weg freimachen und den Zusammenschluß mit dem linken Flügel der USPD ermöglichen. Während die KAPD und die KPD sich jeweils wiederum vehement gegen den Zusammenschluß beider Parteien stellten, verwarf die KAPD prinzipiell jeden Zusammenschluß mit dem linken Flügel der USPD. Trotz dieser Ablehnung der Position der Komintern erhielt die KAPD den Status einer sympathisierenden Partei der 3. Internationale mit beratender Stimme.

Auf dem 3. Kongreß der Komintern (22.6.-13.7.1921) äußerte die Delegation der KAPD  erneut ihre Kritik an den Positionen der Komintern. Sie trat mutig und entschlossen der opportunistischen Entwicklung der Komintern in zahlreichen Redebeiträgen entgegen. Der Versuch, eine linke Fraktion auf dem Kongreß zu errichten, schlug fehl, denn von den anderen kritischen Stimmen aus Mexiko, England, Belgien, Italien und den USA, war niemand zu einer internationalen Fraktionsarbeit bereit. Nur die niederländische KAP und Genossen aus Bulgarien schlossen sich ihnen an. Schließlich wurde die Delegation mit einem Ultimatum der Komintern konfrontiert: Innerhalb von 2-3 Monaten sollte die KAPD ihre Verschmelzung mit der VKPD vollziehen. Ansonsten werde die KAPD aus der Komintern ausgeschlossen.

Damit beging die Komintern einen schwerwiegenden Fehler, denn durch ihr Ultimatum brachte sie wie die KPD zwei Jahre zuvor auf dem Oktober-Parteitag in Heidelberg eine kritische Stimme in ihren eigenen Reihen zum Schweigen. Die opportunistische Entwicklung der Komintern stieß auf eine Hürde weniger.

Die Delegation der KAPD in Moskau wollte diese Entscheidung nicht vor Ort im Namen der Partei treffen, sondern dazu die Instanzen der Partei anhören.

Als revolutionäre Strömung stand die KAPD vor einer schweren und schmerzhaften Wahl, auch deshalb, weil sie sich auf die gesamte linkskommunistische Strömung auswirken würde:

– entweder mit der VKPD zusammengehen, damit der opportunistischen Entwicklung Vorschub leisten;

– oder zu einer externen Fraktion der Internationale werden, mit der Absicht, die Komintern wiederzuerobern und auch die deutsche VKPD, wobei sich gleichzeitig andere größere Fraktionen bilden müßten;

– oder auf die Bedingungen der Gründung einer neuen kommunistischen Internationale hinarbeiten;

– oder sich künstlich und ohne Berücksichtigung der subjektiven Bedingungen für die Bildung einer neuen 4. Internationale entscheiden.

Die Führung der KAPD ließ sich vom Juli 1921 an in überstürzte Entscheidungen treiben. Trotz des Widerstands der Vertreter aus Hannover und Ostsachsen, trotz der Enthaltung des größten Parteibezirks – Großberlin – entschied sich die Führung der Partei für die Annahme einer Resolution, die den Bruch mit der 3. Internationale verkündete. Schwererwiegend als diese außerhalb des Rahmens eines Kongresses getroffene Entscheidung war der Beschluß, auf die ”Errichtung einer Kommunistischen Arbeiter-Internationale” hinzuarbeiten. Auf einem Außerordentlichen Kongreß der KAPD vom 11.-14. Sept. 1921 wurde dann einstimmig der sofortige Austritt aus der Komintern als sympathisierende Partei verkündet. 

Gleichzeitig betrachtete die KAPD alle Sektionen der Komintern als verloren. Ihr zufolge könnten aus deren Reihen keine revolutionären Fraktionen mehr hervorgehen. Die Wirklichkeit verzerrend, stellten sie die verschiedene Parteien als ”Hilfstruppen” im Dienste des Aufbaus des ”russischen Kapitals” dar. Vor lauter revolutionärem Eifer hatte die KAPD nicht nur das Potential des Widerstandes gegen die opportunistischen Entwicklung der Komintern unterschätzt, sondern auch die Prinzipien im Umgang unter revolutionären Gruppen verletzt. Diese sektiererische Haltung sollte einen Vorgeschmack auf die spätere sektiererische Haltung anderer revolutionärer Organisationen liefern. Der Feind schien nicht mehr das Kapital sondern die anderen Gruppen zu sein, denen man absprach revolutionär zu sein.

 Das Drama der Selbstverstümmelung

Einmal aus der Komintern ausgeschlossen, sollte in der KAPD eine weitere Schwäche voll zum Tragen kommen.

Nicht nur gab es auf ihren Konferenzen kaum umfassende Einschätzungen des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen auf internationaler Ebene, man beschränkte sich mehr oder weniger auf die Analyse der Lage in Deutschland und die Hervorhebung  der besonderen Verantwortung der Arbeiterklasse dort. Man war nicht bereit sich einzugestehen, daß die revolutionäre Welle international im Rückfluß begriffen war. Anstatt aus diesem Rückfluß die Lehren zu ziehen und die Aufgaben der Stunde neu zu definieren, meinte man, daß die ”Situation überreif war für die Revolution”. Und dennoch fiel sehr schnell ein Großteil der Mitglieder, vor allem jüngere, die nach dem Krieg zur Bewegung gestoßen waren, ab, als sie merkten, daß der Gipfel der revolutionären Kampfwelle überschritten war. Als Reaktion darauf versuchte man, wie wir in einem weiteren Artikel sehen werden, der Lage künstlich entgegenzutreten, indem eine Tendenz zu Einzelaktionen und Putschismus sich breit machte.

Anstatt den Rückfluß des Klassenkampfes anzuerkennen, anstatt eine zähe Fraktionsarbeit außerhalb der Komintern zu betreiben, strebte man die Gründung einer Kommunistischen Arbeiter-Internationale an. Die Sektionen der KAPD in Berlin und in Bremerhaven wandten sich gegen diese Haltung, blieben aber in der Minderheit.

Gleichzeitig fing im Winter 1921/22 ein Flügel der KAPD um Schröder an, die Notwendigkeit von Lohnkämpfen  zu verwerfen. Diese seien zur Zeit der ”Todeskrise des Kapitalismus” opportunistisch; nur politische Kämpfe, die die Frage der Macht stellen, sollten unterstützt werden. Mit andern Worten: Die Partei könne ihre Funktion nur in Zeiten revolutionärer Kämpfe ausüben; eine andere Spielart rätekommunistischer Auffassungen!

Im März 1922 gewann Schröder durch Manipulation des Abstimmungsmodus eine Mehrheit für seinen Flügel, die nicht den tatsächlichen Mehrheitsverhältnissen in der Partei entsprach. Der Bezirk Groß-Berlin, der zahlenmäßig der stärkste war, schloß daraufhin Schröder, Sachs, Goldstein aus der Partei wegen ”parteischädigenden Verhaltens und wegen ihres maßlosen persönlichen Ehrgeizes” aus. Als Folge schloß der offiziell die Mehrheit vertretende Schröder den Berliner Bezirk aus, ließ sich in Essen nieder und rief eine ”Essener Strömung” ins Leben. Es gab nunmehr zwei KAPDs, zwei Zeitungen mit dem gleichen Namen. Die Zeit der persönlichen Inkrimierungen und Verleumdungen begann.

Anstatt die Lehren aus dem Ausschluß auf dem Oktober-Parteitag der KPD 1919 gezogen, anstatt die Erkenntnis aus dem Ausschluß aus der Komintern gewonnen zu haben, war es so, als wollte man die Kontinuität dieser Reihe von Fiaskos bewahren! Der Begriff der Partei wurde eine einfache Etikette für jede sich abspaltende Organisation, die auf einige wenige Hundert Mitglieder zusammenschrumpfte, wenn nicht weniger.

Um den Gipfel des organisatorischen Selbstmordes zu besteigen, gründete die Essener Strömung um Schröder dann am 2.- 6. April  1922 die Kommunistische Arbeiter-Internationale.

Nachdem die KAPD selber im April 1920 mehr oder weniger auf die Schnelle aus dem Boden gestampft worden war, ohne vorher die Möglichkeit einer Fraktionsarbeit außerhalb der KPD ausgeschöpft zu haben, beschloß man jetzt – sobald man aus der Komintern ausgeschlossen war und die unverantwortliche Spaltung der KAPD in eine Essener und Berliner Strömung selber herbeigeführt hatte – überstürzt eine neue Internationale aus dem Boden zu stampfen! Eine rein künstliche Gründung, als ob die Gründung einer Organisation  nur eine Frage des Willens sei!  Ein vollkommen unverantwortliches Verhalten – das ein weiteres Fiasko bedeutete.

Die Essener Strömung spaltete sich im November 1923 erneut, es löste sich ein ”Kommunistischer Rätebund” ab, Teile der Essener Richtung (Schröder, Reichenbach) kehrten 1925 wieder in die SPD zurück, ein anderer Teil zog sich aus der Politik ganz zurück. Die Berliner Richtung schaffte es noch, eine längere Zeit am Leben zu bleiben. Ab 1926 wandte sie sich dem linken Flügel innerhalb der KPD zu. Nachdem die Berliner Richtung der KAPD 1926 noch ca. 1.500-2.000 Mitglieder umfaßte, während ein Großteil der Ortsgruppen – vor allem im Ruhrgebiet – zusammengebrochen war, gab es noch einmal einen zahlenmäßigen Auftrieb (man zählte ca. 6.000 Mitglieder) durch den Zusammenschluß mit der ”Entschiedenen Linken”, die aus der KPD ausgeschlossen worden war.

Nach einer weiteren Spaltung 1928 versank die KAPD immer mehr in Bedeutungslosigkeit.

Die Entwicklung zeigt: Die Linkskommunisten in Deutschland hatten verhängnisvoll falsche Auffassungen in Sachen Organisationsfrage. Ihr organisatorisches Vorgehen war nichts anderes als eine Katastrophe für die Arbeiterklasse.

Zwar schwankten sie nicht hinsichtlich der Frage der Gewerkschaften und des Parlamentarismus, zur Aufarbeitung der Erfahrung der Russischen Revolution leisteten sie jedoch keinen Beitrag. Zu stark lastete der rätekommunistische Einfluß, der ja die Russische Revolution vollständig zu verwerfen begonnen hatte, in ihren Reihen. Nachdem sie von der Komintern ausgeschlossen worden waren und die Farce der Kommunistischen Arbeiter-Internationale in die Welt gesetzt hatten, konnten sie nicht einmal eine konsequente internationale Fraktionsarbeit leisten. Diese Aufgabe sollte die Italienische Linke wahrnehmen.

Die Verteidigung der Lehren der Kämpfe aus der revolutionären Welle konnte nur erfolgreich durchgeführt werden, wenn sie als Organisation selber am Leben blieben. Jedoch hatten ihre Schwächen und fehlerhaften Auffassungen zur Organisationsfrage dazu geführt, daß sie es nicht schafften, ihre Organisation – als Fraktion – am Leben zu erhalten. Zwar versuchte die Bourgeoisie von Anfang an, mit ihren Repressionskräfte (anfänglich die Sozialdemokratie, später die Stalinisten und Faschisten) die linkskommunistischen Kräfte physisch zu vernichten, aber ihre Unfähigkeit, die Organisation zu verteidigen, hatte mit zu ihrem politischen Todesurteil, zu ihrer Verstümmelung beigetragen. Das revolutionäre Erbe in Deutschland sollte – von einigen sporadischen Ausnahmen abgesehen – ausgelöscht werden. Die Konterrevolution hatte vollständig gesiegt. Die vermachten Lehren aus der Organisationserfahrung der ”Deutschen Linken” aufzuarbeiten und sich anzueignen, ist deshalb heute für die Revolutionäre eine dringende Aufgabe, um eine Wiederholung des Fiaskos von damals zu verhindern.

Die falschen Organisationsauffassun­gen der KPD beschleunigen ihren Weg zum Opportunismus

Die KPD selber sollte nach 1919, nachdem sie die ”Opposition” ausgeschlossen hatte, in einen verheerenden opportunistischen Strudel geraten.

Vor allem begann die KPD, die Arbeit in den Gewerkschaften und dem Parlament zu propagieren. Von der ”rein taktischen” Frage auf dem 2. Kongreß im Oktober 1919 war der Weg nicht weit zu einer ausgesprochenen Verteidigung und Hauptausrichtung auf diese ”Strategien”.

Weil man sah, daß die revolutionäre Welle von Kämpfen sich nicht weiter ausdehnte und radikalisierte, wollte man ”an die rückständigen” und noch ”mit Illusionen behafteten” Arbeiter in den Gewerkschaften ”rankommen”, indem man mit der Sozialdemokratie ”Einheitsfronten” in den Unternehmen aufbaute. Zunächst wurde im Dezember 1920 der Zusammenschluß mit der zentristischen USPD vollzogen in der Hoffnung, durch die Bildung einer Massenpartei mehr Einfluß zu bekommen. Vor allem nach Wahlerfolgen bei den Parlamentswahlen geriet die KPD selber unter die Räder ihrer eigenen Illusionen, indem sie glaubte, je mehr Stimmen sie bei den Wahlen gewinne, desto größer werde ihr Einfluß in der Arbeiterklasse. Schließlich wurde es für die Mitglieder Pflicht, in den Gewerkschaften mitzuarbeiten.

Beschleunigt wurde ihre opportunistische Entwicklung noch dadurch, als sie ihre Türen dem Nationalismus öffnete. Hatte sie 1919 die Nationalbolschewisten berechtigterweise rausschmeißen wollen, ließ sie ab 1920/21 selbst die nationalistischen Element durch die Hintertür rein.

Gegenüber der KAPD nahm sie eine sehr ablehnende Haltung ein. Nachdem die Komintern im November 1920 die KAPD als beratende Partei zugelassen hatte, drängte die KPD auf deren Hinauswurf aus der Komintern.

Vor allem nach den Kämpfen von 1923, und nachdem der Stalinismus in Rußland immer mehr triumphiert hatte, wurde die KPD zum Sprachrohr des russischen Staates. In den 20er Jahren wurde die KPD eines der treuesten Anhängsel Moskaus. Während große Teile der KAPD die russische Erfahrung ganz verwarfen, war die KPD völlig unkritisch geworden! Die falschen Organisationsauffassungen hatten damit selbst die Kräfte des Widerstandes innerhalb der KPD gegen den Opportunismus entscheidend geschwächt.

”Die Deutsche Revolution”: Geschichte der Schwäche der Partei

Blicken wir zurück auf die Kämpfe und die Rolle der Kommunisten, sticht sofort ins Auge, daß der Arbeiterklasse in Deutschland eine ausreichend starke Partei an ihrer Seite fehlte. War das Gewicht der Spartakisten in den Kämpfen in der Anfangsphase im November und Dezember 1918 verständlicherweise noch relativ gering gewesen, gab es ein wahres Fiasko im Januar 1919, als die frisch gegründete KPD die Provokation der Bourgeoisie nicht verhindern konnte. Das ganze Jahr 1919 über zahlte die Arbeiterklasse dann den Preis für die Schwächen der Partei. In der Welle von Kämpfen in den verschiedenen Orten hatte die KPD keinen entscheidenden Einfluß. Dieser Einfluß sank nochmehr ab, als es ab Oktober 1919 zu einer Spaltung der KPD kam. Als sich dann im März 1920 eine geballte Reaktion der Arbeiter gegen den Kapp-Putsch erhob, war wiederum die KPD nicht auf der Höhe. 

Nachdem wir aufgezeigt haben, welche Tragöde die Schwächen der Partei für die Arbeiterklasse bedeutete, und betont haben, wie die Parteiarbeit hätte aussehen sollen, könnte man meinen, damit sei das Rätsel für die Niederalge der Revolution in Deutschland entschlüsselt.

Es stimmt, daß diese Schwäche der Partei, die Fehler der Revolutionäre vor allem zu den Organisationsfragen sich nicht wiederholen dürfen.

Jedoch liefern die Fehler und Schwächen der Partei nicht die ganze Erklärung dafür, daß die Revolution in Deutschland gescheitert ist.

Oft wird hervorgehoben, die Bolschewistische Partei um Lenin habe ein Modell dafür geliefert, wie eine Revolution ”erfolgreich” durchgeführt werden könne. Und Deutschland liefere nur das Gegenbeispiel für die Schwächen der Revolutionäre. Aber damit macht man es sich zu einfach. Lenin und die Bolschewiki waren die ersten, die dies hervorhoben: ”Wenn es so leicht war, mit der Bande solcher kläglichen, schwachsinnigen Kreaturen wie Romanow und Rasputin fertig zu werden, so ist es unendlich schwieriger, gegen die organisierte und starke Clique der deutschen gekrönten und ungekrönten Imperialisten zu kämpfen” (W. Lenin, Auf dem Ersten Gesamtrussischen Kongreß der Kriegsflotte, in Werke Bd. 26, S. 342, 25. November 1917).

”Für uns war es leichter, die Revolution anzufangen, aber es ist für uns außerordentlich schwer, sie fortzusetzen und zu vollenden. Furchtbar schwer kommt die Revolution in einem so hochentwickelten Lande wie Deutschland, in einem Lande mit einer so ausgezeichnet organisierten Bourgeoisie, zustande (...)” (Lenin, Referat auf der Moskauer Gouvernementskonferenz der Betriebskomitees, 23. Juli 1918, Werke Bd. 27, S. 547).

Vor allem indem die Bourgeoisie durch den Druck der Arbeiter den Krieg zu Ende brachte, nahm sie eine wichtige Triebkraft aus den Kämpfen weg. Als dann nach Kriegsende ein Massenkampf der Arbeiter, mit zunehmendem Druck aus den Betrieben, mit verstärkter Initiative in den Arbeiterräten selbst zustande kam, prallte die Arbeiterklasse auf die ausgefeilte Sabotagetaktik der konterrevolutionären Kräfte mit der SPD und den Gewerkschaften an zentraler Stelle.

Die Lehre für heute liegt auf der Hand: Gegenüber solch einer cleveren Bourgeoisie wie sie die deutsche damals war – und in einer zukünftigen Revolution wird die ganze Bourgeoisie vereint mit allen Mitteln gegen die Arbeiterklasse ankämpfen – können die Revolutionäre nur ihre Aufgabe erfüllen, wenn sie selber solide und international organisiert sind.

Die Partei kann nur aufgebaut werden, indem sie sich auf langwierige vorherige programmatische Klärung und vor allem die Ausarbeitung fester organisatorischer Prinzipien stützt. Die Erfahrung in Deutschland zeigt: Ohne die Klarheit über eine marxistische organisatorische Funktionsweise wird jede Organisation auseinanderbrechen.

Das Versagen der Revolutionäre in Deutschland in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg beim wirklichen Parteiaufbau hat  katastrophale Auswirkungen gehabt. Nicht nur zerstümmelte und verkrüppelte die Partei sich damit selbst. Im Laufe der Konterrevolution wurden schon bis Ende der 20er Jahre die Stimmen der organisierten Revolutionäre weitestgehend zum Schweigen gebracht. In Deutschland sollte dann ein mehr als 50jährige Friedhofsruhe herrschen. Als das Proletariat dann nach 1968 auch in Deutschland wieder seine Stirn zeigte, fehlte natürlich diese revolutionäre Stimme des Proletariats. Es gehört somit zu den wichtigsten Aufgaben der Vorbereitung der zukünftigen proletarischen Revolution, den Organisationsaufbau erfolgreich in Angriff zu nehmen. Sonst wird es nicht nur zu keiner Revolution kommen, sondern ihr Scheitern wäre jetzt schon vorprogrammiert.

Deshalb steht der Kampf für den Aufbau der Organisation im Mittelpunkt der Vorbereitung der Revolution von morgen.

DV

(1) Siehe unser Buch La gauche hollandaise (Die holländische Linke) und unsere Broschüre Die deutsch-holländische Linke, in welchen Publikationen wir auf die Frage der KAPD und ihre Entwicklung detailliert eingehen, insbesondere den Teil ”Linkskommunismus und die Revolution – 1919-1927”.

(2) Erst nach der Rückkehr der Delegation am Ende des Sommers 1920 wurden sie aus der KAPD ausgeschlossen. Ihre Mitgliedschaft in der KAPD zeigt, wie heterogen die KAPD zum Zeitpunkt ihrer Gründung war, und daß sie eher ein Sammelbecken als eine Partei war, die auf soliden programmatischen und organisatorischen Grundlagen aufgebaut war.

(3) Über Land konnte man damals Moskau infolge der Belagerung durch die ”Armeen der Demokratie” und des Bürgerkriegs nicht erreichen. Erst nachdem Jan Appel und F. Jung ein Schiff gekapert hatten und die Matrosen zur Absetzung des Kapitäns überreden konnten, nahm das Schiff Kurs auf Rußland. Unter abenteuerlichen Umständen gelang es ihnen, die Blockade der russischen Häfen, die die konterrevolutionären Armeen gegen Rußland im Bürgerkrieg errichtet hatten, zu unterlaufen und Ende April Murmansk zu erreichen, von wo aus sie nach Moskau weiterfuhren.

 

 

 

 

 

Theorie und Praxis: 

  • Deutsche Revolution [68]

Die chinesische Frage (1920–1940)

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Die Linkskommunisten gegen den Verrat durch die degenerierte Kommunistische Internationale

Von der Debatte der Linkskommunisten innerhalb der Kommunistischen Internationalen bis zur Ablehnung der nationalen Befreiungskämpfe durch die Italienische Fraktion der Linkskommunisten

Wir haben in unserer Revue bereits eine Reihe von Artikeln über das sogenannte kommunistische China veröffentlicht (Internationale Revue, Nr. 81, 84, 94, engl., franz., span. Ausgabe) in denen wir den konterrevolutionären Charakter des Maoismus aufzeigten. Wenn wir hier zu dem Kampf zurückkehren, den das chinesische Proletariat in den 20er Jahren bis zur furchtbaren Niederlage führte, welche es in Shanghai und Kanton erlitt, dann nicht nur, weil er ein bedeutender Ausdruck des Kräftegleichgewichts zwischen Bourgeoisie und Proletariat auf internationaler Ebene war, sondern auch weil er infolge der von ihm hervorgerufenen entscheidenden politischen Auseinandersetzungen eine wichtige Rolle in der revolutionären Bewegung selbst spielte.Sinowjew schrieb 1927: ".... die Ereignisse in China sind von gleicher Bedeutung wie die Ereignisse in Deutschland im Oktober 1923. Und wenn sich die gesamte Aufmerksamkeit unserer Partei damals auf Deutschland richtete, so ist es jetzt notwendig, dasselbe in Bezug auf China zu tun, um so mehr als die internationale Lage weitaus komplizierter und beunruhigender für uns geworden ist."[1] Und Sinowjew hatte recht, als er die Bedeutsamkeit der Situation betonte, die von Revolutionären in der ganzen Welt erkannt wurde. Im Endeffekt sollten die Ereignisse in China das Ende der weltweiten revolutionären Welle markieren, da der Stalinismus sich innerhalb der Kommunistischen Internationalen immer mehr durchsetzte.Jedoch war die Situation in China eine der Fragen, die die Bildung der "Linksopposition" und die Bestätigung der "Italienischen Linken" (die die Zeitschrift Bilan veröffentlichte) als eine der wichtigsten Strömungen innerhalb der internationalen Opposition bewirkte, eine Strömung, die in den folgenden Jahren eine Aktivität und eine politische Reflexion von unschätzbarem Wert entwickelte.

Die Niederschlagung der Revolution in China

Mitte der 20er Jahre war eine kritische Periode für die Arbeiterklasse und ihre revolutionären Organisationen. Kann sich die Revolution noch weiter entfalten und auf Weltebene voranschreiten? Wenn nicht, könnte die Russische Revolution auf Dauer in ihrer Isolation überleben? Dies waren die Fragen, welche die kommunistische Bewegung vorwiegend beschäftigten, und die gesamte Komintern klammerte sich an die Möglichkeiten der Revolution in Deutschland. Seit 1923 lief die Politik der Komintern darauf hinaus, auf den Aufstand zu drängen. Sinowjew, der noch immer ihr Vorsitzender war, hatte das Ausmaß der Niederlage in Deutschland vollkommen unterschätzt.[2] Er erklärte, dass sie lediglich eine Episode sei und dass neue revolutionäre Angriffe in etlichen Ländern auf der Tagesordnung stünden. Die Komintern hatte einen sichtlich schwachen politischen Kompass, und als sie versuchte, sich auf das Abebben der revolutionären Welle einzustellen, verfiel sie einer wachsend opportunistischen Strategie. Von 1923 an entlarvten Trotzki und die erste Linksopposition ihre schweren Irrtümer und zeigten deren tragische Konsequenzen auf, gingen aber nicht so weit, von Verrat zu sprechen. Die Degeneration der Komintern nahm an Geschwindigkeit zu; Ende 1925 kam es zur Trennung des Triumvirats Sinowjew-Kamenew-Stalin, und die Komintern gelangte daraufhin unter die Führung von Stalin und Bucharin. Die "putschistische" Politik, die unter Sinowjew vorherrschte, wurde durch eine Politik ersetzt, die auf der Ansicht beruhte, dass der Kapitalismus in eine lange Phase der "Stabilisierung" eingetreten sei. Dies war der Kurs des rechten Flügels, der sich in Europa auf die Einheitsfront mit den "reformistischen" Parteien konzentrierte.[3] In China praktizierte die Komintern eine Politik, die noch über das hinausging, was die Menschewiki für die ökonomisch unterentwickelten Länder befürwortet hatten. Ab 1925 vertrat sie die Auffassung, dass die Politik der Kuomintang und die bürgerliche Revolution auf der Tagesordnung stünden, die kommunistische Revolution käme erst danach. Diese Position führte dazu, die chinesischen Arbeiter dem Gemetzel auszuliefern.Tatsächlich behelligte die Komintern bereits in der ultra-linken, putschistischen Periode die KP Chinas damit, in die Kuomintang einzutreten, welche auf dem 5. Kongress der Komintern als eine mit der Internationalen "sympathisierende Partei" bezeichnet wurde (Prawda, Nr. 25, Juni 1924). Es war diese "sympathisierende Partei", die zum Totengräber des Proletariats wurde!Die stalinisierte Komintern "erkannte die Kuomintang als ein Organ der nationalen Revolution Chinas an. Die Kommunisten liefen en masse über unter den Namen und die Fahne der Kuomintang. Diese Politik führte die Kommunisten dazu, im März 1927 in die nationale Regierung einzutreten. Sie erhielten die Ministerien für Landwirtschaft (nachdem die Partei sich gegen jegliche Agrarrevolution und für den 'Stop allzu energischer Aktionen durch die Bauern' ausgesprochen hatte) und Arbeit, um die Arbeitermassen in einer Politik des Kompromisses und Verrats zu kanalisieren. Die Juli-Vollversammlung der KPCh sprach sich gegen die Inbesitznahme von Land, gegen die Bewaffnung der Arbeiter und Bauern aus - mit anderen Worten, für die Liquidierung der Partei und der Klassenbewegung der Arbeiter und ihre totale Auslieferung an die Kuomintang, um einen Bruch mit letzterer um jeden Preis zu vermeiden. Alle stimmten mit dieser kriminellen Politik überein. Von der Rechten unter Pen Chou Chek über das Zentrum unter Chen Duxiu bis hin zu den sogenannten Linken unter Tsiou Tsiou-Bo." (Bilan, Nr. 9, Juli 1934)Diese opportunistische Politik, die die KPCh in mehr oder minder aufgelöstem Zustand in die Kuomintang drängte und die von Bilan einige Jahre später so brillant analysiert wurde, endete in einer furchtbaren Niederlage der chinesischen Arbeiter: "Am 26. März begann Chiang Kai-Shek seinen Coup, indem er eine Anzahl von Kommunisten und Sympathisanten inhaftierte (...) Diese Tatsachen wurden vom Exekutivkomitee der Komintern verschwiegen, während um die antiimperialistische Rede Chiang Kai-Sheks auf dem Kongress der Arbeit 1926 viel Lärm gemacht wurde. Die Truppen der Kuomintang begannen ihren Marsch in Richtung Norden. Dies sollte als Vorwand dienen, um die Streiks in Kanton, Hongkong etc. zu beenden (...) Als sich die Truppen näherten, gab es Aufstände in Shanghai, der erste zwischen dem 19. und 24. Februar; der zweite am 21. März war siegreich. Chiang Kai-Sheks Truppen betraten die Stadt erst am 26. März. Am 3. April richtete Trotzki eine Warnung an den 'chinesischen Pilsudski'.[4] Am 5.April erklärte Stalin, dass Chiang Kai-Shek sich der Disziplin untergeordnet habe, dass die Kuomintang eine Art revolutionärer Block oder Parlament sei."[5] Am 12. April wurde aus dem Coup Tschiang Kai-Tscheks Ernst; eine Demonstration wurde mit Maschinengewehren angegriffen. Es gab Tausende von Opfern."Nach diesen Ereignissen sicherte die Delegation der Kommunistischen Internationalen am 17. April in Hunan der 'linken Kuomintang'[6], an der die kommunistischen Minister teilnahmen, ihre Unterstützung zu. Dann, am 15. Juli, gab es eine Wiederauflage des Coups von Shanghai. Der Sieg der Konterrevolution wurde abgesichert. Es folgte eine Periode systematischer Massaker: Vorsichtige Schätzungen besagen, dass 25'000 Kommunisten ermordet wurden." Und im September 1927 "legte die neue Führung der KP (...) den 13. Dezember als Termin für den Aufstand fest (...) Ein Arbeiterrat wurde auf Weisung von oben gebildet. Der Aufstand wurde auf den 10. Dezember vorverlegt. Am 13. war er vollkommen unterdrückt. Die zweite chinesische Revolution war endgültig zerschlagen."[7] Die chinesischen Arbeiter und Revolutionäre wurden in den Abgrund der Hölle gestoßen. Dies war der Preis, den sie für die opportunistische Politik der Komintern bezahlten."Trotz all dieser Zugeständnisse fand der Bruch mit der Kuomintang erst im Juli 1927 statt, als die Regierung von Hunan die Kommunisten aus der Kuomintang ausschloss und ihre Verhaftung anordnete." Daraufhin "verurteilte die Parteikonferenz vom August 1927 schließlich das, was die opportunistische Linie der alten Chen Duxiu-Führung genannt wurde, und fegte die alten Führer beiseite (...) Somit wurde die 'putschistische' Ära eröffnet, die ihren Ausdruck in der Kommune von Kanton im Dezember 1927 fand. Sämtliche Bedingungen für einen Aufstand in Kanton waren ungünstig (...) Es sollte klar sein, dass wir keinesfalls den Heroismus der Kommunarden von Kanton herabsetzen wollen, die bis zum Tod kämpften. Aber das Beispiel von Kanton war nicht das einzige. Zur gleichen Zeit erklärten sich fünf andere Regionalkomitees zugunsten eines sofortigen Aufstandes." Und trotz der siegreichen Offensive der Konterrevolution "fuhr der 6. Kongress der KPCh damit fort, die Perspektive eines siegreichen Kampfes in einer oder mehreren Provinzen aufrechtzuerhalten."[8]

Die chinesische Frage und die russische Opposition

Die Niederlage der Chinesischen Revolution stellte die schärfste Verurteilung der Strategie der Komintern nach dem Tode Lenins und vor allem der stalinisierten Komintern dar.In seinem Brief an den 6. Kongress der Komintern im Juli 1928 (siehe: Die dritte Internationale nach Lenin) schrieb Trotzki, dass die opportunistische Politik der Komintern zunächst das Proletariat in Deutschland 1923 geschwächt, dann jenes in Großbritannien und schließlich in China in die Irre geführt und verraten habe. "Hier liegen die unmittelbaren und unleugbaren Ursachen für die Niederlagen." Und er fuhr fort: "Um die Bedeutung der gegenwärtigen Wende nach links zu begreifen[9], müssen wir uns einen vollständigen Blick nicht nur über den Rutsch zur allgemeinen rechtszentristischen Linie verschaffen, der 1926-27 völlig unverkleidet stattfand, sondern auch über die vorherige ultralinke Periode von 1923-25 bei der Vorbereitung dieses Rutsches."Letztendlich hatte die Führung der Komintern 1924 ständig wiederholt, dass die revolutionäre Situation sich immer noch entwickle und dass "es in der nächsten Zukunft entscheidende Schlachten geben wird". "Auf der Basis dieser falschen Beurteilung errichtete der 6. Kongress Mitte 1924 seine ganze Orientierung."[10] Die Opposition drückte ihre Nicht-Übereinstimmung mit dieser Vision aus und "betätigte die Alarmglocken".[11] "Trotz des politischen Rückflusses orientierte sich der 5. Kongress nachweislich in Richtung Aufstand (...) 1924 wurde zum Jahr der Abenteuer in Bulgarien[12] und Estland.[13]" Dieser Linksextremismus von 1924-25, "völlig desorientiert angesichts der Situation, wurde durch eine rechte Verirrung ersetzt"[14].Die neue Vereinigte Opposition[15] wurde durch die Umgruppierung von Trotzkis alter Opposition und der Gruppe von Sinowjew und Kamenew gebildet. Etliche Themen regten 1926 die Diskussionen in der bolschewistischen Partei an, insbesondere die Wirtschaftspolitik der UdSSR und die Demokratie innerhalb der Partei. Aber die Hauptdebatte, jene, welche die Partei am tiefsten spaltete, war die Debatte über die chinesische Frage.Die Linksopposition widersetzte sich der Linie "eines Blocks mit der Kuomintang", die von Stalin und dem Ex-Menschewiki Martynow aufgestellt wurde. Die strittigen Punkte waren die Rolle der nationalen Bourgeoisie, der Nationalismus und die Klassenunabhängigkeit des Proletariats.Trotzki verteidigte seine Position in seinem Text Klassenverhältnisse in der chinesischen Revolution (3. April 1927). Er argumentierte:- dass die Chinesische Revolution vom allgemeinen Kurs der proletarischen Weltrevolution abhing; und gegen die Vision der Komintern, die die Unterstützung der Kuomintang befürwortete, um die bürgerliche Revolution durchzuführen, rief er die chinesischen Kommunisten dazu auf, die Kuomintang zu verlassen;- dass, um sich in Richtung Revolution zu bewegen, die chinesischen Arbeiter sich bewaffnen und Arbeiterräte bilden müssen.[16] Diesem Text folgten am 14. April Sinowjews an das Politbüro der KP der UdSSR gerichtete Thesen.[17] Hier bekräftigte er noch einmal Lenins Position zu den nationalen Befreiungskämpfen, insbesondere dass eine kommunistische Partei sich nicht irgendeiner anderen Partei unterordnen darf und dass sich das Proletariat nicht auf dem Terrain des Klassenversöhnlertums verlaufen darf. Er bekräftigte ebenfalls den Gedanken, dass "die Geschichte der Revolution gezeigt hat, dass jede bürgerlich-demokratische Revolution unvermeidlich den Weg der Reaktion einschlägt, wenn sie sich nicht in eine sozialistische Revolution umwandelt".Aber die russische Opposition besaß nicht die Mittel, den Kurs zur Degeneration der Komintern zu wenden, da das Proletariat nicht nur in China, sondern auch international eine Niederlage erlitt. Wir können sogar sagen, dass selbst innerhalb der bolschewistischen Partei "das Proletariat seine furchtbarste Niederlage erlitt"[18] (Bilan, Nr. 1, November 1933), und zwar in dem Ausmaß, dass die Revolutionäre, jene, die die Oktoberrevolution machten, einer nach dem anderen ins Gefängnis geschmissen, ins Exil getrieben oder gar ermordet wurden. Noch schwerer wiegt die Tatsache, dass "das internationale Programm verbannt wurde, die Strömungen der internationalistischen Linken ausgeschlossen wurden (...) Eine neue Theorie feierte ihren Einzug in die Komintern" (ebenda). Es war die Theorie vom "Sozialismus in einem Land". Von jetzt an war es das Ziel Stalins und der Komintern, den russischen Staat zu verteidigen. Als Folge des Bruchs mit dem Internationalismus aber starb die Internationale als Organ des Proletariats.

China und die Internationale Linksopposition (ILO)

Doch auch wenn sie besiegt war, so war der Kampf der Opposition innerhalb der Komintern von fundamentaler Natur. Er hatte ein beträchtliches internationales Echo in allen KPs. Vor allem steht fest, dass ohne ihn die gegenwärtigen linkskommunistischen Strömungen nicht existieren würden. In China selbst, wo die Stalinisten eine völlige Unterdrückung der Texte der Opposition erzwangen, schaffte es Chen Duxiu, seinen Brief an alle Mitglieder der KPCh zu schicken (er wurde im August 1929 aus der Partei ausgeschlossen; sein Brief ist datiert vom 10. Dezember desselben Jahres), in welchem er Stellung bezog gegen Stalins Opportunismus in der chinesischen Frage.In Europa und in der restlichen Welt versetzte dieser Kampf die oppositionellen, aus den KPs ausgeschlossenen Gruppen in die Lage, sich selbst zu strukturieren und zu organisieren. Sehr schnell sahen sie sich jedoch zersplittert, denn sie schafften es nicht, vom Stadium einer Opposition in das einer wirklichen politischen Strömung überzugehen.In Frankreich zum Beispiel veröffentlichten Souvarines Gruppe "Le Cercle Marx et Lénine", die Maurice Paz-Gruppe "Contre le Courant" und die Treint-Gruppe "Le Redressement Communiste" Dokumente der russischen Linksopposition und sammelten revolutionäre Kräfte. Anfänglich gab es in der Tat eine Vermehrung solcher Gruppen, aber leider erwiesen sie sich als unfähig, zusammenzuarbeiten.Schließlich gab es eine Umgruppierung, nachdem Trotzki aus der UdSSR ausgewiesen wurde, eine Umgruppierung, die den Namen Internationale Linksopposition (ILO) annahm, aber leider nicht genügend Gebrauch machte von den vielen Kräften dieser Zeit. 1930 sprachen sich die folgenden Gruppen zugunsten der von Trotzki vertretenen und in seinem Brief an den 6. Kongress der Komintern 1928 entwickelten Positionen aus:* die Kommunistische Liga (Opposition) für Frankreich, A. Rosmer,* die vereinigte Linksopposition der deutschen Kommunistischen Partei, K. Landau,* die spanische kommunistische Opposition, J. Andrade, J. Gorkin,* die belgische kommunistische Opposition, Hennaut,* die Kommunistische Liga von Amerika, M. Schachtmann, M. Abern,* die kommunistische Opposition (Linkskommunisten aus Österreich), D. Karl, C. Mayer,* die österreichische KP (Opposition), Frey,* die "Interne Gruppe" der österreichischen KP, Frank,* die tschechoslowakische Linksopposition, W. Krieger,* die italienische Linksfraktion, Candiani,* die Neue Italienische Opposition (NIO), Santini, Blasco. Sie unterschrieben gar eine gemeinsame Erklärung An die Kommunisten Chinas und der ganzen Welt (12. Dezember 1930). Candiani[19] unterzeichnete im Namen der Italienischen Fraktion.Die Erklärung war deutlich und machte keine Zugeständnisse an die opportunistische Politik der Klassenkollaboration."Wir, Repräsentanten der Internationalen Linksopposition, bolschewistische Leninisten, haben uns von Anbeginn dem Eintritt der Kommunistischen Partei in die Kuomintang widersetzt und sind für eine unabhängige proletarische Politik eingetreten. Seit dem Beginn des revolutionären Aufstandes haben wir die Arbeiter dazu aufgerufen, die Führung über die Bauernerhebung zu übernehmen, um sie zur Vollendung der Agrarrevolution zu geleiten. All dies ist abgelehnt worden. Unsere Partisanen sind in den Tod gehetzt, aus der KP ausgeschlossen worden, und in der UdSSR sind sie ins Gefängnis gesteckt und ausgewiesen worden. In welchem Namen? Im Namen der Allianz mit Chiang Kai-Shek."

Die Lehren der Italienischen Linken

Während die ILO sich einem klaren Verständnis für die Aufgaben der Stunde näherte, brachte ihre unkritische politische Treue gegenüber den ersten vier Kongressen der Komintern sie sehr schnell zum Abkippen in opportunistische Positionen, sobald die revolutionäre Flut sich offenkundig zurückzog. Dies galt nicht für die Italienische Fraktion, die sich deutlich in den drei zur Debatte stehenden Themen bezüglich der Kolonialländer (nationale Befreiungskämpfe, demokratische Parolen und interimperialistische Kriege in diesen Ländern) abhob.Die nationale Frage und die Revolution in den Ländern der kapitalistischen PeripherieIm Gegensatz zu den Thesen des 2. Kongresses der Komintern nahm die Fraktion eine Resolution über den chinesisch-japanischen Konflikt (Februar 1932) an, in welcher sie diese Frage in einer radikal neuen Weise für die Arbeiterbewegung stellte. Sie brach mit den klassischen Positionen zu den nationalen Befreiungskämpfen:[20] "1. In der Epoche des kapitalistischen Imperialismus existieren die Bedingungen nicht mehr, um durch eine bürgerliche Revolution innerhalb der kolonialen und halbkolonialen Ländern die Macht an eine kapitalistische Klasse zu verleihen, die imstande wäre, die fremden Mächte zu besiegen. (...)Da der Krieg das einzige Mittel zur Befreiung der Kolonialländer ist (...), ist es notwendig, nachzuweisen, welche Klasse dazu aufgerufen wird, ihn in dieser Epoche des kapitalistischen Imperialismus zu führen. Innerhalb des komplizierten Rahmens der wirtschaftlichen Gebilde in China ist es die Rolle der einheimischen Bourgeoisie, die Entwicklung der revolutionären Bewegung der Arbeiter und Bauern zu verhindern und die kommunistischen Arbeiter genau in dem Moment niederzuschlagen, wenn sich das Proletariat als die einzige Kraft zeigt, die fähig ist, den revolutionären Krieg gegen den ausländischen Imperialismus zu führen."Sie fuhr fort: "Die Rolle des Proletariats ist es, für die Errichtung der Diktatur des Proletariats zu kämpfen. (...)Punkt 4: Die Linksfraktion hat stets bekräftigt, dass die zentrale Achse der Situation sich in dem Dilemma 'Krieg oder Revolution' ausdrückt. Die gegenwärtigen Ereignisse im Fernen Osten bestätigen diese grundlegende Position. (...)Punkt 7: Die Pflicht der chinesischen Kommunistischen Partei ist es, sich an die vorderste Front des Kampfes gegen die einheimische Bourgeoisie zu stellen, einschließlich ihrer linken Repräsentanten in der Kuomintang, den berüchtigten Schlächtern von 1927. (...) Die chinesische Kommunistische Partei muss sich selbst auf der Basis des Industrieproletariats reorganisieren, sie muss in den Städten ihren Einfluss über das Proletariat wiedererobern, die einzige Klasse, die die Bauern in einen konsequenten und entscheidenden Kampf leiten kann, der zur Einrichtung wirklicher Arbeiterräte in China führen wird."Es erübrigt sich zu sagen, dass dies in allererster Linie die Ablehnung der Politik der stalinistischen (und bald darauf "maoistischen") Kommunistischen Partei Chinas bedeutete, aber es bedeutete auch eine offene Kritik an den politischen Positionen Trotzkis. Es waren diese Positionen, die ihn nicht viel später dazu verleiteten, China gegen Japan im Krieg zwischen diesen beiden Ländern zu verteidigen.Im Verlaufe der 30er Jahre wurde die Position der Fraktion noch präziser, wie man aus der Resolution über den chinesisch-japanischen Konflikt im Dezember 1937 (Bilan, Nr. 45) ersehen kann: "Die Bewegungen für nationale Unabhängigkeit, die in Europa einst eine fortschrittliche Funktion hatten, da sie die fortschrittliche Funktion ausdrückten, welche die bürgerliche Produktionsweise damals besaß, können jetzt in Asien nur die reaktionäre Funktion haben, sich dem Kurs zur proletarischen Revolution mit kriegerischen Großbränden entgegenzustemmen, deren einzige Opfer die Ausgebeuteten der kriegführenden Länder und des Proletariats aller Länder sind."

Demokratische Parolen

Bei der Frage der demokratischen Parolen stellte sich dasselbe Problem - jenes der nationalen Befreiungskämpfe. Konnte es noch immer verschiedene Programme für das Proletariat der entwickelten Länder und für jenes geben, dessen Bourgeoisie ihre Revolution noch nicht durchgeführt hatte? Konnten demokratische Parolen immer noch "fortschrittlich" sein, wie die ILO behauptete? "In Wahrheit fällt die Machteroberung durch die Bourgeoisie nirgendwo mit diesen demokratischen Parolen zusammen. Im Gegenteil, in der gegenwärtigen Periode erblicken wir die Tatsache, dass in einer ganzen Reihe von Ländern die Macht der Bourgeoisie nur auf der Basis semifeudaler Gesellschaftsverhältnisse und Institutionen möglich ist. Erst das Proletariat kann diese Verhältnisse und Institutionen zerstören, d.h. die historischen Ziele der bürgerlichen Revolution ausführen."Dies war in der Tat eine menschewistische Position in völligem Gegensatz zu dem, was Trotzki hinsichtlich der Aufgaben der Kommunisten in China in den 20er Jahren vertreten hatte.Die Position der Italienischen Linken war grundsätzlich anders. Sie wurde von ihrer Delegation auf der nationalen Konferenz der Ligue Communiste repräsentiert (Bulletin d'information de la Fraction Italienne, Nr. 3 und 4). Sie vertrat den Gedanken, dass "demokratische Parolen" in den halbkolonialen Ländern nicht mehr auf der Tagesordnung standen. Das Proletariat musste das einheitliche kommunistische Programm verteidigen, weil die kommunistische Revolution auf der internationalen Tagesordnung stand."Wir sagten, dass in Ländern, wo der Kapitalismus seine ökonomische und politische Herrschaft über die Gesellschaft nicht errichtet hatte (das Beispiel der Kolonien), in bestimmten Perioden die Bedingungen für einen Kampf des Proletariats für die Demokratie existieren. Aber wir bestanden auch darauf, dass dies sehr klar definiert werden muss, dass wir über die Klassenbasis für diesen Kampf genauestens im klaren sein müssen. (...) In der gegenwärtigen Lage der Todeskrise des Kapitalismus müßte es dazu bestimmt sein, die Diktatur der Partei des Proletariats herbeizuführen. (...)In den Ländern jedoch, wo die bürgerliche Revolution bereits gemacht worden war (...), würde dies nur zur Entwaffnung des Proletariats führen, und dies angesichts der neuen Aufgaben, die durch die Ereignisse erzwungen wurden. (...)Beginnen wir damit, der Formel der 'demokratischen Parolen' eine politische Bedeutung zu geben. Wir denken, dass wir folgende geben können:- Parolen, die direkt mit der Machtausübung durch eine gegebene Klasse verknüpft sind;- Parolen, die den Inhalt der bürgerlichen Revolutionen ausdrücken und die auszuführen der Kapitalismus - in der gegenwärtigen Situation - nicht die Möglichkeit oder Funktion besitzt;- Parolen, die sich auf die Kolonialländer beziehen, wo es eine Überkreuzung zwischen den Problemen des Kampfes gegen den Imperialismus, der bürgerlichen Revolution und der proletarischen Revolution gibt;- 'falsche' demokratische Parolen, d.h. jene, die den Lebensnotwendigkeiten der arbeitenden Massen entsprechen.Zum ersten Punkt gehören all jene Formulierungen, die zur Praxis einer bürgerlichen Regierung gehören, wie die Forderung nach einem 'Parlament und seiner freien Ausübung', 'Wahlen zu den Gemeindeverwaltungen und ihrer freien Ausübung, verfassunggebende Versammlung' etc.Zum zweiten Punkt gehören vor allem die Aufgaben der sozialen Umwandlung auf dem Lande.Zum dritten Punkt gehören die Probleme der Taktik in den Kolonialländern.Zum vierten Punkt gehört die Frage der Teilkämpfe der Arbeiter in den kapitalistischen Ländern."Die Fraktion kehrte dann zu jedem dieser vier Bereiche zurück, wobei sie sagte, dass Taktiken der entsprechenden Situation angepasst werden müssen, dass es aber notwendig sei, strikt an Prinzipien festzuhalten.

"Die institutionellen demokratischen Parolen

(...) die politische Meinungsverschiedenheit zwischen unserer Fraktion und der russischen Linken sind deutlicher zutagegetreten. Aber wir müssen klar darüber sein, dass diese Meinungsverschiedenheit dem Reich der Taktiken angehört, wie dies bei einem Treffen zwischen Bordiga und Lenin bewiesen wurde (...)."In Spanien, in Italien wie in China hat sich die Fraktion deutlich von den Taktiken abgegrenzt, die von der Linksopposition angewendet wurden."In Spanien nahm die Umwandlung vom monarchistischen Staat in einen republikanischen Staat, was einst das Resultat einer bewaffneten Auseinandersetzung gewesen war, mit der Abreise des Königs infolge einer Übereinkunft zwischen Zamora und Romanonés die Form einer Komödie an. (...)In Spanien hat die Tatsache, dass die Opposition die Position der Unterstützung der sogenannten demokratischen Umwandlung des Staates angenommen hat, jede Möglichkeit einer ernsthaften Auseinandersetzung in unserer Sektion mit den Fragen beseitigt, die sich auf die Resolution über die kommunistische Krise beziehen.Die Tatsache, dass in Italien die Partei das Programm der Diktatur des Proletariats verändert und das demokratische Programm der Volksrevolution[21] aufgegriffen hat, hat einen großen Beitrag zur Stärkung des Faschismus geliefert (...)."

Demokratische Parolen und die Agrarfrage

"(....) eine Umwandlung (die Befreiung der Landwirtschaft von den gesellschaftlichen Verhältnissen des Feudalismus) der Wirtschaft eines Landes wie Spanien in eine Wirtschaft wie die der entwickelteren Länder wird mit dem Sieg der proletarischen Revolution zusammenfallen. Dies jedoch bedeutet überhaupt nicht, dass der Kapitalismus nicht auf dem Weg zu dieser Umwandlung bereits aufbrechen kann. (...) Die programmatische Position der Kommunisten muss damit fortfahren, die Forderung nach der 'Sozialisierung des Landes' voll und ganz zu bekräftigen." Die Fraktion gibt den Sofortforderungen für das Land nur sehr wenig Raum.

Die institutionellen Parolen der Kolonialfrage

"Wir wollen uns hier mit den Kolonialländern befassen, wo trotz der Industrialisierung eines wichtigen Teils der Wirtschaft der Kapitalismus noch immer nicht als eine an der Macht befindliche Klasse existiert."Selbst wenn es nötig war, die Taktik in gewissen Ländern anzupassen, unterschieden sich für die Fraktion die Parolen des Proletariats in China oder Spanien nicht von denen für das Proletariat in den Kernländern des Kapitalismus."In China steht es zur Zeit des Manifests von 1930 und auch in der gegenwärtigen Situation außer Frage, ein Programm zur Eroberung der politischen Macht aufzustellen (...) zu einer Zeit, wo der 'Zentrismus'[22] sich politische Kunststückchen leistet, um die Verfälschung der Ziele und Bewegungen der Bauern als Sowjets zu präsentieren.Einmal mehr gibt es nur eine Klasse, die einen siegreichen Kampf führen kann, und das ist das Proletariat."

Die Teilforderungen der Arbeiterklasse

Die bürgerlichen Parteien und vor allem die Sozialdemokratie bestehen besonders auf der Notwendigkeit, die Massen zur Verteidigung der Demokratie zu führen. Sie fordern - und aufgrund des Mangels einer kommunistischen Partei haben sie es auch erreicht -, dass die Arbeiter vom Kampf zur Verteidigung ihrer Löhne und des Lebensstandards der Massen im allgemeinen ablassen, wie es jetzt in Deutschland passiert."Hier vertritt die Fraktion den Gedanken, dass die Arbeiterklasse nur den Kampf zur Verteidigung ihrer eigenen Interessen entwickeln kann, dass sie auf ihrem eigenen Terrain bleiben muss, das das einzige ist, das ihr erlaubt, auf dem Weg zum revolutionären Kampf voranzuschreiten.

Der imperialistische Krieg und die chinesischen Trotzkisten

Auf diesem Gebiet endete Trotzki darin, die Positionen, die er zwischen 1925-27 vertreten hatte, zu verraten, jene, die er in Die Dritte Internationale nach Lenin (wie auch in seiner Deklaration An die Kommunisten in China und der ganzen Welt von 1930) vertreten hatte. Damals stand er noch treu zur Idee, dass der bürgerlichen Lösung des imperialistischen Krieges der Kampf des Proletariats für seine eigenen revolutionären Interessen entgegengesetzt werden muss, da "die Bourgeoisie endgültig ins Lager der Konterrevolution übergegangen ist". An die Adresse der Mitglieder der chinesischen Kommunistischen Partei gerichtet, fügte er hinzu: "Eure Koalition mit der Bourgeoisie war bis 1924 richtig, ja sogar bis Ende 1927, aber nun ist sie wertlos."Während der 30er Jahre begann er jedoch, die chinesischen Arbeiter dazu aufzurufen, "ihre ganze Pflicht im Krieg gegen Japan zu tun" (La Lutte Ouvrière, Nr. 43, 23. Oktober 1937). In Lutte Ouvrière Nr. 37 behauptete er bereits, "wenn es einen gerechten Krieg gibt, dann ist es der Krieg des chinesischen Volkes gegen seine Eroberer". Dies war dieselbe Position wie jene der Sozialverräter während des Ersten Weltkrieges! Und er fügte hinzu: "Alle Arbeiterorganisationen, alle fortschrittlichen Kräfte in China werden, ohne jede Konzession bezüglich ihres Programms und ihrer politischen Unabhängigkeit, in diesem Befreiungskrieg voll und ganz ihre Pflicht erfüllen, unabhängig von ihrer Haltung gegenüber der Chiang Kai-Shek-Regierung."Bilan attackierte in ihrer Resolution über den chinesisch-japanischen Konflikt im Februar 1927 heftig Trotzkis Position."Trotzki, der in Spanien und China eine Position zugunsten der Heiligen Union eingenommen hatte, während er in Frankreich und Belgien ein Programm in Opposition zur Volksfront aufgestellt hatte, ist ein Glied in der Kette der kapitalistischen Herrschaft, und eine gemeinsame Aktion mit ihm ist unvorstellbar. Dasselbe gilt für die Ligue Communiste Internationaliste in Belgien, die eine internationalistische Position zu China einnimmt, aber die Heilige Union in Spanien verteidigt."[23] Die Fraktion veröffentlichte sogar einen Artikel in Bilan Nr. 46, Januar 1938, der den Titel trug Ein großer Renegat mit einem Pfauensterz: Leo Trotzki.[24] Trotzkis Degeneration hätte ihn (wenn er länger gelebt und in Kontinuität zu dieser politischen Haltung Stellung zum Krieg bezogen hätte) in das Lager der Konterrevolution geführt. Und in der Tat verleitete seine Position zunächst die chinesischen Trotzkisten und dann die gesamte IV. Internationale dazu, im Verlauf des Zweiten Weltkrieges in die Arme des Patriotismus und des Sozialimperialismus zu fallen.Lediglich die Gruppe, die L'Internationale um Zheng Chaolin und Weng Fanxi veröffentlichte, hielt zur Position des "revolutionären Defätismus", und aus diesem Grunde wurden einige ihrer Mitglieder von der trotzkistischen Kommunistischen Liga Chinas ausgeschlossen, andere brachen mit letzterer (s. Internationale Revue, Nr. 94, engl., franz., span. Ausgabe).Am Ende dieses Artikels ist es wichtig zu bemerken, dass allein die Italienische Fraktion in der Lage war, die Argumente zu entwickeln, die aufzeigten, warum nationale Befreiungskämpfe nicht mehr "fortschrittlich" waren, sondern in der gegenwärtigen Phase in der Entwicklung des Kapitalismus konterrevolutionär geworden waren. Es waren die Gauche Communiste de France und später die IKS, die diese Position stärkten, indem sie ihr ein solides theoretisches Fundament verliehen haben. MR



[1] Sinowjews Thesen für das Politbüro der KP der UdSSR, 14. April 1927

[2] s. die Artikel in den jüngsten Ausgaben der Internationalen Revue über die Deutsche Revolution. Trotzki schrieb, dass das Scheitern in Deutschland 1923 "eine gigantische Niederlage" war (Die Dritte Internationale nach Lenin).

[3] Der Name, der den sozialistischen oder sozialdemokratischen Parteien verliehen wurde, die während des Ersten Weltkrieges Verrat begangen hatten.

[4] Der polnische Diktator, der die polnische Arbeiterklasse niedergeschlagen hatte: ein Gründungsmitglied der polnischen Sozialistischen Partei, die eine reformistische und nationalistische Tendenz war

[5] Trotzki in Die Dritte Internationale nach Lenin

[6] Die Existenz einer "linken Kuomintang" war ein von der stalinisierten KP ersonnenes Märchen

[7] Harold Isaacs, The Tragedy of the Chinese Revolution 1925-27

[8] Bilan, Nr. 9, Juli 1934

[9] Dies war der Begriff für den Kurs, der von der KP nach 1927 verfolgt wurde.

[10] Von Trotzki selbst hervorgehoben

[11] ebenso, Trotzki

[12] Ein Aufstand, der vom 19. bis zum 28. September stattfand, bevor er niedergeschlagen wurde.

[13] Im Dezember 1924 wurde ein Aufstand organisiert, in dem 200 KP-Mitglieder verwickelt waren. Er wurde binnen Stunden niedergeschlagen.

[14] ebenda, Trotzki

[15] Ende 1925 zerbrach das Stalin-Sinowjew-Kamenew-Triumvirat. Ein oppositioneller "Block" wurde gebildet, der Vereinigte Opposition genannt wurde.

[16] Wir wissen heute, dass diese Parole nicht angemessen war: Trotzki selbst stellte ihre Gültigkeit in Frage, da der Kurs nicht mehr günstig war für die Revolution.

[17] Thesen, die auf dem späteren 7. Plenum der Komintern und dem 15. Kongress der KP der UdSSR diskutiert werden sollten.

 

[18] Dies nannte die Opposition den "Thermidor der Russischen Revolution".

 

[19] Enrico Russo (Candiani), ein Mitglied des Exekutivkomitees der Italienischen Fraktion

[20] Selbst heute haben die Bordigisten Probleme, die Position der Fraktion aufzunehmen: Zum Beispiel beschuldigen sie die IKS, eine "indifferente" Position zu haben.

 

[21] Dies bezog sich auf die "Aventin"-Taktik, nach der sich die KP aus dem von den Faschisten dominierten Parlament zurückzog und sich in Aventin mit den Zentristen und Sozialdemokraten neu sammelte.

 

[22] Dies bezieht sich auf die stalinisierten KPs und die stalinisierte Komintern.

 

[23] Die einzige Tendenz, die dieselbe Position wie die Italienischen und Belgischen Fraktionen der Linkskommunisten aufgriff, wurde von der Revolutionary Worker's League (bekannt unter dem Namen seines Repräsentanten, Oelher) und dem Grupo de Trabajadores Marxistas (auch bekannt unter dem Namen ihres Repräsentanten Eiffel) gebildet.

 

[24] Was uns angeht, erkennen wir an, dass Trotzki die Arbeiterklasse nicht verriet, da er vor der Generalisierung des Weltkrieges starb. Dies trifft auf die Trotzkisten nicht zu (s. unsere Broschüre: Le Trotzkysme contre la Classe Ouvrière).

Aktuelles und Laufendes: 

  • Maoismus [153]
  • Tschiang Kai Schek [154]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Kommunistische Linke [155]

Historische Ereignisse: 

  • Nationale Front [156]
  • Kommunistische Linke [157]
  • Niederschlagung der Aufstände von Shanghai und Kanton [158]
  • Degeneration der Komintern [159]

Internationale Revue 23 - Editorial

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Krieg in Europa: Der Kapitalismus zeigt sein wahres Gesicht

Der mit den NATO-Bombardierungen Serbiens ausgebrochene Krieg in Ex-Jugoslawien ist seit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 das weltweit bedeutendste Ereignis auf der imperialistischen Bühne. Auch wenn bisher die eingesetzten Mittel noch deutlich kleiner sind als diejenigen im Golfkrieg 1991, hat dieser Konflikt eine andere Dimension. Heute wird die Kriegsbarbarei im Herzen Europas, nur ein bis zwei Flugstunden von den wichtigsten Hauptstädten dieses Kontinents entfernt, entfesselt. Dies war zwar schon der Fall während der verschiedenen Zusammenstöße, die seit 1991 Ex-Jugoslawien verwüsteten und schon Zehntausende von Opfern forderten. Doch diesmal sind es die kapitalistischen Großmächte, allen voran der Weltpolizist, welche die Hauptakteure dieses Krieges sind.

Dass sich dieser Krieg in Europa abspielt, hat eine gewisse Bedeutung: Dieser Kontinent war, als Wiege des Kapitalismus und wichtigste Industriezone der Welt, Hauptziel und Epizentrum aller großen imperialistischen Konflikte des 20. Jahrhunderts, insbesondere der beiden Weltkriege. Selbst der Kalte Krieg, in dem sich 40 Jahre lang der russische und der amerikanische Block gegenüberstanden, hatte als Hauptziel Europa, auch wenn sich die offenen kriegerischen Auseinandersetzungen auf der Bühne peripherer Länder oder in ehemaligen Kolonien abspielte (Korea-Krieg, Vietnam, Naher Osten usw.). Darüber hinaus findet der heutige Konflikt auf dem Balkan in einer besonders sensiblen Zone des Kontinents statt, welche durch ihre geographische Lage (viel mehr als aus ökonomischen Gründen) schon vor dem Ersten Weltkrieg eines der umstrittensten Gebiete des Planeten war. Vergessen wir nicht, dass die erste imperialistische Schlächterei in Sarajevo ihren Auftakt hatte.

Darüber hinaus gibt es noch ein anderes Element, welches die Tragweite des gegenwärtigen Konfliktes bestimmt: die direkte und aktive Teilnahme Deutschlands in dieser Auseinandersetzung, nicht als Statist, sondern in einer bedeutenden Rolle. Dies ist seit mehr als einem halben Jahrhundert eine historische Premiere, weil Deutschland aufgrund seiner Verliererrolle im 2. Weltkrieg aus allen militärischen Interventionen ferngehalten wurde. Wenn die deutsche Bourgeoisie heute ihren Platz auf den Schlachtfeldern wieder einnimmt, ist dies bezeichnend für die allgemeine Zuspitzung der kriegerischen Spannungen, die der dekadente Kapitalismus, mit einer unlösbaren ökonomischen Krise konfrontiert, immer deutlicher hervorbringt.

Die Politiker und die Medien der NATO-Staaten präsentieren uns diesen Krieg als eine Aktion zur ”Verteidigung der Menschenrechte” gegen ein besonders widerliches Regime, verantwortlich für verschiedenste Missetaten wie die seit 1991 Ex-Jugoslawien mit Blut besudelnden ”ethnischen Säuberungen”. In Wirklichkeit kümmern sich die ”demokratischen” Staaten keineswegs um das Schicksal der Bevölkerung im Kosovo, ebensowenig wie sie das Schicksal der kurdischen und schiitischen Bevölkerung im Irak, die nach dem Golfkrieg von den Truppen Saddam Husseins massakriert wurden, rührte. Die Leiden der durch diesen oder jenen Diktator verfolgten Zivilbevölkerung dienten immer nur als Vorwand, der es den großen ”Demokratien” erlaubte, im Namen einer ”gerechten Sache” den Krieg zu entfesseln. Dies war vor allem im 2. Weltkrieg der Fall, wo die Ausrottung der Juden durch das Regime Hitlers (eine Ausrottung, gegen die die Alliierten nichts unternahmen, obwohl Möglichkeiten dazu vorhanden gewesen wären) dazu diente, im Nachhinein die von den ”Demokraten” begangenen Verbrechen zu rechtfertigen: so die 250’000 Toten in Dresden unter den Bomben der Alliierten in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 oder die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945.

Wenn uns die Medien seit Wochen mit Bildern über die Tragödie Zehntausender albanischer Flüchtlinge, die Opfer von Milosevics Barbarei sind, überschwemmen, dann nur deshalb, um die Kriegskampagne der NATO-Länder zu rechtfertigen, die schon seit Beginn unter der Bevölkerung dieser Länder auf Skepsis, wenn nicht gar Feindschaft stößt. Dabei geht es auch um die Gewöhnung und Vorbereitung auf die letzte Phase der Operation ”Entschlossene Kraft”, falls die Bombardierungen Milosevic nicht in die Knie zwingen: die Offensive mit Bodentruppen, die nicht nur auf serbischer Seite, sondern auch unter den Alliierten große Opfer fordern wird.

In Tat und Wahrheit ist die ”humanitäre Katastrophe” der Kosovo-Flüchtlinge von den ”Demokraten” vorausgesehen und beabsichtigt worden, um ihre Kriegspläne zu legitimieren. Genauso wie die Massaker an den Kurden und Schiiten im Irak beabsichtigt waren, als die Alliierten diese noch während des Golfkrieges zum Aufstand gegen Saddam Hussein aufriefen.

Der wirkliche Verantwortliche für den gegenwärtigen Krieg ist nicht in Belgrad oder Washington zu suchen. Es ist der Kapitalismus als Ganzes, der verantwortlich ist für den Krieg. Die kriegerische Barbarei mit ihren andauernden Massakern, Völkermorden und Grausamkeiten kann nur von der Weltarbeiterklasse durch die Überwindung dieses Systems beendet werden. Andernfalls droht der im Sterben liegende Kapitalismus die gesamte Menschheit zu zerstören.                    

Angesichts der imperialistischen Kriege und all ihrer Greueltaten haben die Kommunisten eine Pflicht zur Solidarität. Doch diese Solidarität gilt nicht dieser oder jener Nation oder Rasse, innerhalb derer man auch immer Ausgebeutete und Ausbeuter, Opfer und Henker findet, wie letztere in der Figur Milosevics oder der nationalistischen UCK-Clique, die schon jetzt mit Gewalt aus den Reihen der Flüchtlinge die wehrfähige Männer aushebt. Die Solidarität der Kommunisten ist eine Klassensolidarität, welche den serbischen und albanischen Arbeitern und Ausgebeuteten gilt. Den Arbeitern in Uniform aller Länder, die sich gegenseitig abschlachten lassen müssen, indem man sie zu Mördern im Namen des ”Vaterlandes” oder der ”Demokratie” macht. Der Aufruf zur Klassensolidarität richtet sich vor allem aber an die bedeutendsten Teile des Weltproletariates, die Arbeiter Europas und Nordamerikas, sich nicht unter die Fahne des Pazifismus zu stellen, sondern ihren Kampf gegen den Kapitalismus und gegen die Ausbeuter im eigenen Land zu führen.

Die Kommunisten haben die Aufgabe, mit allen Mitteln die Pazifisten als Prediger des Krieges zu entlarven. Der Pazifismus ist einer der schlimmste Feinde des Proletariates. Er verbreitet die Illusion, dass der ”gute Wille” oder die ”internationalen Verhandlungen” dem Krieg ein Ende setzen könnten. Damit streuen sie die Lüge, nach der ein ”guter Kapitalismus”, der den Frieden und die ”Menschenrechte” respektiert, möglich sei, und halten so das Proletariat vom Klassenkampf gegen den Kapitalismus als Ganzen ab. Schlimmer noch, sie sind die Antreiber der ”konsequenten Linie”, die Trompeter der Kreuzzüge: ”Weil die Kriege von ’schlechten Kapitalisten’, ’Nationalisten’ und ‘Blutsaugern’ verursacht sind, werden wir keinen Frieden haben, bevor wir diese ‘schlechten Kapitalisten’ nicht beseitigt haben - indem wir ihnen den Krieg erklären.” Genau das kann man in Deutschland beobachten, wo der große Führer der pazifistischen Bewegung Joschka Fischer heute die imperialistische Politik seines Landes anführt. Er klopft sich auch noch selbst auf die Schultern mit den Worten: ”Zum ersten Mal seit langem führt Deutschland einen Krieg für eine gerechte Sache”.

Seit Beginn dieses Krieges haben die Internationalisten mit ihren leider noch bescheidenen Mitteln die Stimme gegen die imperialistische Barbarei erhoben. Am 25. März hat die IKS ein Flugblatt herausgegeben, welches daraufhin an die Arbeiter in 13 Ländern verteilt und unseren Lesern in den territorialen Publikationen bekannt gemacht wurde. Doch unsere Organisation war nicht die Einzige, welche mit der Verteidigung internationalistischer Positionen reagiert hat. Alle Gruppen, die sich auf die Kommunistische Linke berufen, haben ebenfalls reagiert und dieselben Grundprinzipien verteidigt[1] [160]. In der nächsten Nummer unserer Internationalen Revue (engl., franz., span.) werden wir genauer auf die Positionen und Analysen eingehen, die von diesen Gruppen entwickelt wurden. Doch schon heute gilt es das zu unterstreichen, was uns verbindet (die Verteidigung internationalistischer Positionen wie sie auf den Konferenzen in Zimmerwald und Kienthal während des Ersten Weltkrieges und auf den ersten Kongressen der Kommunistischen Internationalen zum Ausdruck gebracht wurden) und alles was uns von denjenigen Organisationen (Stalinisten, Trotzkisten usw.) unterscheidet, die sich zwar auf die Arbeiterklasse berufen, aber im Proletariat das Gift des Nationalismus oder Pazifismus verstreuen.

Die Rolle der Kommunisten beschränkt sich aber keineswegs nur auf die Verteidigung der Prinzipien, so wichtig und unabdingbar diese Aufgabe auch ist. Sie besteht auch darin, der Arbeiterklasse eine laufende Analyse zum Begreifen der Ereignisse, der näheren Umstände und der grundsätzlichen Aspekte der internationalen Situation zu liefern. Die Analyse des erst gerade begonnenen Krieges in Jugoslawien bildete eine der Achsen des 13. Kongresses der IKS, der Anfangs April stattfand. In der nächsten Nummer der Internationalen Revue werden wir auf diesen Kongress zurückkommen. Wir veröffentlichen hier schon die Resolution über die internationale Situation, welche auf dem Kongress verabschiedet wurde und in der dem gegenwärtigen Krieg ein großer Platz eingeräumt wird.

10. April 1999


[1] [161] Es handelt sich um folgende Organisationen: Das Internationale Büro für die Revolutionäre Partei IBRP, den Partito Comunista Internazionale-Il Programma Comunista, den Partito Comunista Internazionale- Il Comunista und den Partito Comunista Internazionale-Il Partito Comunista.

Organisationsfrage: Sind wir "Leninisten" geworden? (Teil I)

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Seit Ende der 60er Jahre und dem Entstehen der Gruppen, welche 1975 die IKS gründen sollten, sind wir immer wieder mit zweierlei Kritiken konfrontiert worden.

Für die Einen, so vor allen die verschiedenen Internationalen Kommunistischen Parteien, welche direkt von  der Italienischen Linken abstammen, sind wir in der Frage des Klassenbewusstseins Idealisten und bezüglich der Organisationsfrage Anarchisten.

Für die Anderen, vornehmlich aus der anarchistischen oder rätistischen Strömung, welche die Notwendigkeit der politischen Organisation und einer Kommunistischen Partei verwerfen oder unterschätzen, sind wir "Parteifanatiker" oder "Leninisten". Erstere stützen sich in ihrer Behauptung auf unsere Ablehnung der "klassischen" Position der Arbeiterbewegung über die Machtübernahme durch die Kommunistische Partei während der Diktatur des Proletariates und auf unsere nicht-monolithische Sichtweise über die Funktionsweise einer politischen Organisation. Die Zweiten verwerfen unsere strenge Auffassung von der revolutionären Militanz und unsere stetigen Anstrengungen zur Bildung einer einheitlichen, international zentralisierten Organisation.

Heutzutage taucht aber noch eine andere Kritik auf, die derjenigen von Seiten der Rätisten ähnlich, aber viel bissiger ist: die IKS sei am degenerieren, eine ”leninistische”[i] [162]  Sekte geworden und stehe vor dem Bruch mit ihrer politischen Plattform und ihren Grundsatzpositionen. Wir fordern unsere Leser dazu auf, diese Lüge zu überprüfen, für die es in unserer Presse oder unseren programmatischen Texten keinerlei Bestätigung gibt. Für jemanden, der die Presse der IKS seriös und ohne Voreingenommenheit verfolgt – wir selbst sind ja offenbar einer Beurteilung unfähig –  ist die Unerhörtheit dieser Anschuldigung offensichtlich. Doch die Tatsache, dass es oft ehemalige Mitglieder unserer Organisation sind, welche diese Lüge verbreiten, kann den unaufmerksamen oder unerfahrenen Leser glauben lassen, es gebe ”kein Rauch ohne Feuer”. Diese ehemaligen Mitglieder unserer Organisation sind ein Teil dessen, was wir als den ”politischen Parasitismus” bezeichnen[ii] [162]. Diese Kreise stemmen sich unserem permanenten Kampf für die internationale Umgruppierung der militanten Kräfte und die Einheit des politischen proletarischen Milieus im historischen  Kampf gegen den Kapitalismus entgegen. Sie versuchen konsequent, unseren Kampf gegen Stümperei und  Informalismus in der militanten Arbeit und unsere leidenschaftliche Verteidigung einer international vereinigten und zentralisierten Organisation zu untergraben und zu schwächen.

 

Sind wir Leninisten geworden wie es unsere Kritiker und Ankläger behaupten? Eine solch schwerwiegende Behauptung können wir kaum übergehen. Um darauf eine seriöse Antwort zu geben, müssen wir erst wissen, von was wir überhaupt sprechen. Was ist ”Leninismus”? Was hat dies in der Geschichte der Arbeiterbewegung bedeutet?

”Leninismus” und Lenin

Der "Leninismus" tauchte zusammen mit dem Kult um Lenin nach dessen Tode auf. Seit 1922 erkrankt, konnte sich Lenin am politischen Leben bis zu seinem Tod 1924 immer weniger beteiligen. Der Rückfluss der weltrevolutionären Welle, welche den Ersten Weltkrieg beendet hatte, und die Isolierung des russischen Proletariates sind die Hauptgründe für die Machtübernahme der konterrevolutionären Kräfte in diesem Land. Die wichtigsten Ausdrücke dieses Prozesses sind die Vernichtung der Macht und das Absterben jeglichen proletarischen Lebens der Arbeiterräte, sowie die Bürokratisierung und der Aufstieg des Stalinismus in Russland,  speziell innerhalb der sich an der Macht befindlichen bolschewistischen Partei. Die politischen Fehler nahmen ein dramatisches Ausmaß an – vor allem die Gleichsetzung der Partei und des Proletariates mit dem russischen Staat, welche unter anderem die Repression in Kronstadt legitimierte. Sie spielten eine wichtige Rolle in der Entstehung der Bürokratie und des Stalinismus. Auch Lenin ist vor Kritik nicht gefeit, auch wenn er oft derjenige war, der sich am heftigsten gegen die Bürokratisierung zur Wehr setzte. So 1920, als er sich gegen Trotzki und einen großen Teil der bolschewistischen Führer wandte, welche die Militarisierung der Gewerkschaften forderten, oder während seiner letzten Lebensjahre, als er die wachsende Macht Stalins anklagte und Trotzki aufrief, eine Allianz oder, wie er sagte: einen Block, zu bilden "gegen die Bürokratisierung im allgemeinen und gegen das Organisationsbüro (unter Stalins Führung) im speziellen."[iii] [162] Als sein Tod seine politische Autorität beendet hatte, begann die konterrevolutionäre Tendenz  der Bürokraten einen Personenkult rund um Lenin aufzubauen[iv] [162]: Petrograd wurde in Leningrad umbenannt, Lenins Körper mumifiziert, und man begann vor allem, eine Ideologie des "Leninismus" und "Marxismus-Leninismus" zu konstruieren. Das Trio Stalin-Sinowjew-Kamenjew eignete sich Lenins "Erbschaft" an, als Werkzeug gegen Trotzki im Kampf innerhalb der russischen Partei und um sich der Führung der Kommunistischen Internationalen (Komintern) zu bemächtigen. Die stalinistische Offensive zur Kontrolle über die verschiedenen Kommunistischen Parteien drehte sich um die "Bolschewisierung" dieser Parteien und den Ausschluss von Militanten, welche die neue Politik zurückwiesen.

Der "Leninismus" ist der konterrevolutionäre Verrat an Lenins Erbe

1939 beschrieb Boris Souvarine[v] [162] in seiner Stalin-Biographie den Unterschied zwischen Lenin und "Leninismus": "Zwischen dem alten Bolschewismus und dem neuen "Leninismus" gibt es genau genommen keine Kontinuität.”[vi] [162] Er definierte den "Leninismus" folgendermaßen: "Stalin machte sich zu dessen erstem klassischen Autor mit seiner Broschüre Grundlagen des Leninismus, einer Sammlung von Vorlesungen bei den "Roten Studenten" der kommunistischen Swerdlov Universität Anfangs April 1924. In dieser fleißig zusammengetragenen Sammlung, in der sich abgeschriebene Sätze mit Zitaten abwechselten, sucht man vergeblich das kritische Denken Lenins. Alles Lebendige, Relative, von Bedingungen Abhängige und Dialektische in seinem Denken wird darin passiv, absolut, katechistisch und ist mit Widersprüchen übersät.[vii] [162]

 

Der "Leninismus" ist die "Theorie" des Sozialismus in einem Land und dem Internationalismus Lenins vollkommen entgegengesetzt

Der Aufstieg des "Leninismus" drückte, als die Isolation des revolutionären Russlands immer spürbarer wurde, den Sieg des opportunistischen Kurses aus, den die Komintern seit ihrem 3. Kongress eingeschlagen hatte, speziell mit der Annahme der Taktik der Einheitsfront und der Parole, "in die Massen" zu gehen. Die Fehler der Bolschewiki waren ein negativer Faktor, der diesen opportunistischen Kurs beschleunigte. Es ist ratsam, an dieser Stelle daran zu erinnern, dass die falsche Position der "Machtergreifung durch die Partei" damals von der gesamten revolutionären Bewegung vertreten wurde, Rosa Luxemburg und die Deutsche Linke inbegriffen. Erst in den frühen 20er Jahren wies die KAPD auf den Widerspruch hin, der sich für eine revolutionäre Partei auftut, welche die Macht ergreift und sich mit dem neuen Staat identifiziert, der durch den siegreichen Aufstand entsteht.

Gegen dieses erst opportunistische und danach offen konterrevolutionäre Krebsgeschwür entstanden und entwickelten sich verschiedene Widerstände. Die konsequentesten darunter waren die verschiedenen Linksoppositionen in Russland, Italien, Deutschland und Holland, welche dem Internationalismus und dem Oktober 1917 treu blieben. Den in der Internationalen aufkommenden opportunistischen Kurs bekämpfend, wurden sie allesamt im Verlauf der 20er Jahre ausgeschlossen. Diejenigen, welche sich am Leben erhalten konnten widersetzten sich den praktischen Auswirkungen des "Leninismus", der sogenannten "Bolschewisierung" der kommunistischen Parteien. Insbesondere bekämpften sie die Ersetzung der Organisierung in lokalen Sektionen (das heißt auf einer territorialen, geographischen Ebene) durch die Organisierung in Fabrikzellen, welche dazu führte, die Militanten auf einer korporatistischen Ebene zusammenzuführen, um aus den Parteien jegliches wirklich kommunistische Leben, bestehend aus Debatten und Diskussionen um die generellen Fragen, zu beseitigen.

 

Die Ausbreitung des "Leninismus" verschärfte den Kampf zwischen dem Stalinismus und der linken Opposition. Sie war begleitet von der Entwicklung der Theorie des "Sozialismus in einem Land", welche einen vollständigen Bruch mit Lenins unbeugsamem Internationalismus und der Erfahrung des Oktobers bedeutete. Sie markiert den Aufstieg des opportunistischen Kurses bis zum vollständigen Sieg der Konterrevolution. Mit der Annahme ihres Programms des "Sozialismus in einem Land" warf sie den Internationalismus über Bord, die Kommunistische Internationale starb – als Internationale – definitiv an ihrem 6. Kongreß 1928.

 

Der "Leninismus" ist die Spaltung zwischen Lenin und Luxemburg, die Spaltung zwischen der bolschewistischen Fraktion und den anderen internationalistischen Linken

1925 nahm der 5. Kongress der Kommunistischen Internationalen die Thesen über die Bolschewisierung an. Dies war Ausdruck des zunehmenden Einflusses der stalinistischen Bürokratie innerhalb der Komintern und der Kommunistischen Parteien. Als Produkt der stalinistischen Konterrevolution wurde die Bolschewisierung auf der Ebene der Organisation zum Hauptträger der zunehmenden Degenerierung der Parteien der Kommunistischen Internationalen. Die ansteigende Repression und der Staatsterror in Russland, sowie die Ausschlüsse in anderen Parteien zeigen die Schärfe und Grausamkeit der Auseinandersetzung auf. Für den Stalinismus existierte damals noch die Gefahr der Bildung einer starken internationalen Opposition rund um Trotzki, welcher als einziger fähig war, um sich herum den Großteil der überlebenden revolutionären Kräfte zu sammeln. Diese Opposition stellte sich dem Opportunismus entgegen und hatte alle Chancen, den Stalinismus der Parteiführungen erfolgreich zu bekämpfen, wie die Beispiele von Italien und Deutschland zeigten.

Eines der Ziele der ”Bolschewisierung” war es, einen Widerspruch zwischen Lenin und anderen großen Persönlichkeiten des Kommunismus der linken Strömungen zu konstruieren. Insbesondere zwischen Lenin und Trotzki, aber auch zwischen Lenin und Rosa Luxemburg: "Eine wirkliche Bolschewisierung ist unmöglich ohne die Überwindung der luxemburgistischen Irrtümer. Der "Leninismus" muss der alleinige Kompass für die Kommunistischen Parteien der ganzen Welt sein. Alles was sich vom "Leninismus" unterscheidet, unterscheidet sich auch vom Marxismus."[viii] [162]

 

Der Stalinismus brach und zerriss als erster die Verbindung und Einheit zwischen Lenin und Luxemburg, zwischen der bolschewistischen Tradition und dem Rest der Linken die aus der Zweiten Internationalen entstanden war. Die sozialdemokratischen Parteien halfen dem Stalinismus, einen unüberwindbaren Graben zwischen der "guten und demokratischen" Rosa Luxemburg und einem "bösen und diktatorischen" Lenin zu schlagen. Diese Politik gehört mitnichten der Vergangenheit an. Alles, was dies beiden großen Revolutionäre immer verband, wird auch heute noch angegriffen. Die scheinheilige Ehre, welche der Weitsicht Rosa Luxemburgs bezüglich ihrer Kritik an den Bolschewiki und der Russischen Revolution zuteilkommt, wird meist von den direkten politischen Nachkommen ihrer sozialdemokratischen Mörder, den heutigen sozialdemokratischen Parteien, auf die Beine gestellt. Dies insbesondere von den deutschen Sozialdemokraten, da Rosa Luxemburg offenbar eine Deutsche war ...!

 

Einmal mehr bestätigen sich die Allianz und die gemeinsamen Interessen zwischen der stalinistischen Konterrevolution und den ”klassischen” kapitalistischen Kräften. Vor allem die Allianz zwischen der Sozialdemokratie und dem Stalinismus mit dem Ziel, die Geschichte der Arbeiterklasse zu verfälschen und den Marxismus zu zerstören. So ist es kein Wunder, wenn die Bourgeoisie den Tag der Ermordung Rosa Luxemburgs und der Spartakisten 1919, vor achtzig Jahren, in Berlin auf ihre Weise feiert.

 

"Welch schmerzhaftes Spektakel für die revolutionären Militanten, zuzusehen wie die Mörder der Köpfe der Russischen Revolution, welche zu Verbündeten der Mörder der Spartakisten geworden sind, es wagen, den Tod der proletarischen Führer zu zelebrieren. Nein, diejenigen welche verraten und nochmals verraten haben, um die internationale Konterrevolution anzuführen haben, nicht das Recht von Rosa Luxemburg zu sprechen, deren Leben von Unbeugsamkeit, dem Kampf gegen den Opportunismus und revolutionärer Beharrlichkeit geprägt war."[ix] [162]

 

Hände weg von Rosa Luxemburg und Lenin – sie gehören zum revolutionären Proletariat!

Heutzutage hat ein Großteil des parasitären Milieus[x] [162] ein leichtes Spiel, zu diesen Verfälschungen beizutragen, indem er seine Gamaschen in den anarchistischen Morast steckt, ein anderes Milieu, das sich auf Angriffe gegen Lenin und alles, was er repräsentierte, spezialisiert hat.

Leider verfügt der Großteil der wirklich kommunistischen Strömungen und Gruppen nicht über eine politische Klarheit in dieser Frage. Auch der Rätismus trägt durch seine theoretische Schwäche und seine politischen Fehler dazu bei, zwischen der bolschewistischen Partei und der Deutsch-Holländischen Linken, zwischen Lenin auf der einen Seite und Luxemburg auf der anderen, eine Mauer zu errichten, so wie es die herrschende Klasse beabsichtigt. Auch die bordigistischen Gruppen und selbst der PCInt/Battaglia Comunista, sehen aufgrund ihrer theoretischen Schwächen oder Verwirrungen, wie der "Invarianz"-Theorie der Bordigisten, die politische Notwendigkeit nicht, Lenin, Luxemburg und alle linken Fraktionen, welche aus der Kommunistischen Internationalen hervorgingen, zu verteidigen.

 

Es ist wichtig, nicht nur auf die Einheit und Kontinuität des Kampfes der Individuen Lenin und Rosa Luxemburg hinzuweisen, sondern auch auf die der Bolschewiki und der anderen Linken innerhalb der Zweiten Internationalen. Trotz ihrer Debatten und Differenzen befanden sie sich immer auf derselben Seite der Barrikaden, wenn die Arbeiterklasse in entscheidenden Auseinandersetzungen stand. Lenin und Luxemburg waren die Führer der revolutionären Linken auf dem Stuttgarter Kongress der Sozialistischen Internationalen 1907, auf welchem sie zusammen mit Erfolg einen Abänderungsvorschlag bezüglich der Haltung der Sozialdemokraten gegenüber dem Krieg durchsetzten. Dieser rief dazu auf, "mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die durch den Krieg entstandene ökonomische und politische Krise zu nutzen, um das Volk aufzuwecken und die kapitalistische Herrschaft zu überwinden". Lenin vertraute das Mandat der russischen Partei in dieser Debatte Rosa Luxemburg an. Dem internationalistischen Kampf treu stellten sie sich innerhalb ihrer jeweiligen Partei dem Ersten Weltkrieg entgegen. Die Strömung um Rosa Luxemburg, die Spartakisten, nahm zusammen mit den Bolschewiki und Lenin an den internationalistischen Konferenzen von Zimmerwald (1915) und Kienthal (1916) teil. Sie standen mit allen kommunistischen Linken enthusiastisch für die Unterstützung der Russischen Revolution ein: "Die Russische Revolution ist das gewaltigste Faktum des Weltkrieges. (...) Dass die Bolschewiki ihre Politik gänzlich auf die Weltrevolution des Proletariats stellten, ist gerade das glänzendste Zeugnis ihres politischen Weitblicks und ihrer grundsätzlichen Treue, des kühnen Wurfs ihrer Politik.(...) Die Lenin-Partei war die einzige, die das Gebot und die Pflicht einer wirklich revolutionären Partei begriff, durch die Losung: alle Macht in die Hände des Proletariates und des Bauerntums! den Fortgang der Revolution gesichert hat. (...) Die Bolschewiki haben auch sofort als Zweck dieser Machtergreifung das ganze und weitgehendste Programm aufgestellt: nicht etwa Sicherung der bürgerlichen Demokratie, sondern Diktatur des Proletariates zum Zwecke der Verwirklichung des Sozialismus. Sie haben sich damit das unvergängliche geschichtliche Verdienst erworben, zum ersten mal die Endziele des Sozialismus als unmittelbares Programm der praktischen Politik zu proklamieren."[xi] [162]

 

Heißt dies, dass es keine Differenzen gab zwischen diesen großen Figuren oder ihren Organisationen der Arbeiterbewegung? Sicher nicht! Um diese Differenzen richtig zu betrachten und daraus ein Maximum an Lehren zu ziehen, braucht es aber erst eine Erkenntnis und Verteidigung der Gemeinsamkeiten. Diese Gemeinsamkeiten waren der Klassenkampf, der geradlinige revolutionäre Kampf gegen das Kapital und gegen die Bourgeoisie und alle ihre politischen Kräfte. Rosa Luxemburgs Text, aus dem wir zitiert haben, ist eine konzessionslose Kritik an der Politik der Bolschewiki in Russland. Aber sie versteht sehr gut, den Rahmen darzustellen, in welchem ihre Kritik verstanden werden soll: Im Rahmen der Solidarität und im gemeinsamen Kampf mit den Bolschewiki. Sie entblößt auf bissige Art den Widerstand der Menschewiki und Kautskys gegenüber dem proletarischen Aufstand. Und um jeglichem Zweifel an ihren Klassenpositionen oder der Verdrehung ihrer Worte zuvorzukommen, schließt sie mir folgenden Worten ab: "In Russland konnte das Problem nur gestellt werden. Es konnte nicht in Russland gelöst werden, es kann nur international gelöst werden. Und in diesem Sinne gehört die Zukunft überall dem "Bolschewismus".

 

Die Verteidigung dieser Genossen und ihrer Klasseneinheit ist eine Aufgabe die uns sie Italienische Linke vererbt hat und die wir weiter erfüllen. Lenin und Rosa Luxemburg gehören dem revolutionären Proletariat. Die Italienische Fraktion der Kommunistischen Linken verstand die Verteidigung dieses Vermächtnisses folgendermaßen: "An der Seite dieses brillanten proletarischen Führers (Lenin) standen gleichermaßen imposante Figuren wie Rosa Luxemburg oder Karl Liebknecht. Als Früchte des internationalen Kampfes gegen den Revisionismus und Opportunismus und Ausdruck des revolutionären Willens des deutschen Proletariates gehören sie uns und nicht denen, die aus Rosa das Symbol eines Anti-Leninismus und Anti-Parteigeists; aus Liebknecht das Symbol eines Anti-Militarimus, der in Tat und Wahrheit seinen Ausdruck in der Zustimmung für Militärkredite in den verschiedenen "demokratischen" Ländern fände, machen wollen."[xii] [162]

 

Wir haben auf den Vorwurf, gegenüber Lenin unsere Haltung geändert zu haben, noch nicht geantwortet. Doch der Leser kann sich ein klares Bild davon machen, dass wir dem “Leninismus” absolut entgegentreten und dass wir der Tradition der Linken Fraktionen, auf die wir uns berufen, treu bleiben, insbesondere der Italienischen Fraktion der 30er Jahre. Wir versuchen uns auf die Methode abzustützen, welche für die Verteidigung der historischen Einheit und Kontinuität der Arbeiterbewegung kämpft – gegen den ”Leninismus” und alle Versuche, die Arbeiterbewegung zu spalten oder ihre marxistischen Fraktionen gegeneinander auszuspielen. Gegen abstrakte und schematische Angriffe, meist gestützt auf Zitate, die aus dem Zusammenhang herausgerissen sind, setzen wir die verschiedenen Positionen der einzelnen Strömungen, ihre Debatten und Polemiken, in ihren tatsächlichen historischen Kontext innerhalb der Arbeiterklasse – oder in anderen Worten: ins selbe Lager. Dies ist die Methode, die der Marxismus immer anzuwenden versuchte, also das Gegenteil des ”Leninismus”, welcher von denen, die dem wirklichen Beispiel Lenins heute folgen, absolut verworfen wird. Es ist daher  amüsant zu sehen, wenn genau diejenigen, welche heute der ”stalinistischen” Methode folgen, die IKS als ”Leninisten” beschimpfen.                   

 

Hände weg von der Holländischen Linken und den Genossen Pannekoek und Gorter

Die heutigen Anhänger der ”Methode” des ”Leninismus” kann man leicht in verschiedenen Milieus ausmachen. Es ist in anarchorätistischen Kreisen und bei parasitären Elementen Mode geworden, zu versuchen, sich betrügerisch der Holländischen Linken zu bemächtigen und sie den anderen linken Fraktionen und natürlich Lenin gegenüberzustellen. Diese Kreise verraten ihrerseits, ganz so wie Stalin und sein ”Leninismus” Lenin verraten, die Tradition der Holländischen Linken und ihrer großen Persönlichkeiten wie Anton Pannekoek – auf den Lenin sich mit großem Respekt und Bewunderung in Staat und Revolution bezog – oder Herman Gorter, der diesen Klassiker des Marxismus bereits 1918 übersetzte. Bevor Anton Pannekoek in den 30er Jahren die Theorie des Rätekommunismus entwickelte, war er einer der hervorragendsten Militanten des linken Flügels zuerst in der 2. Internationale an der Seite von Rosa Luxemburg und Lenin, aber dann auch während des Krieges. Da er aufgrund seiner rätistischen Kritik des Bolschewismus von Elementen außerhalb des proletarischen Lagers leichter vereinnahmt werden kann als ein Bordiga, ist er auch heute noch Zielscheibe von Angriffen, die jede Erinnerung an seine Zugehörigkeit zur Kommunistischen Internationale, an seine Beteiligung an vorderster Front bei der Gründung des Amsterdamer Büros für den Westen und an seine begeisterte und entschlossene Unterstützung der Oktoberrevolution auszulöschen versuchen. Ebenso wie die Italienische und die Russische Linke Fraktion der Komintern gehören auch die Holländischen und Deutschen Linken dem Proletariat und dem Kommunismus. Wenn wir und auf alle linken Fraktionen, die aus der Komintern hervorgegangen sind, berufen, wenden wir die gleiche Methode an, die die Holländische Linke gegenüber der gesamten Linken hatte:

”Der Weltkrieg und die daraus hervorgegangene Revolution haben klar gezeigt, dass es in der Arbeiterbewegung nur eine Richtung gibt, die die Arbeiter wirklich zum Kommunismus führt. Nur die extreme Linke der sozialdemokratischen Parteien, die marxistischen Fraktionen, die Partei Lenins in Russland, Bela Kuns in Ungarn, Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts in Deutschland haben den guten und gemeinsamen Weg gefunden.

 

Die Richtung, die immer die gewaltsame Zerstörung des Kapitalismus zum Ziel hatte, die in der Zeit der friedlichen Evolution und Entwicklung den politischen Kampf und die parlamentarische Aktion für die revolutionäre Propaganda und für die Organisierung des Proletariats benützte; diejenige, die jetzt die staatliche Macht für die Revolution benützt. Die gleiche Richtung die auch das Mittel fand, den kapitalistischen Staat zu zerschlagen und ihn in den sozialistischen Staat umzuwandeln, und das Mittel, mit dem man den Kommunismus aufbaut: die Arbeiterräte, die selber die ganze politische und wirtschaftliche Macht verkörpern; die Richtung schließlich, die entdeckte und für alle Zukunft festhielt, was die Arbeiterklasse bis jetzt nicht wusste: die Organisation, durch die das Proletariat siegen und den Kapitalismus beseitigen kann.”[xiii] [162]

 

Sogar nach dem Ausschluss der KAPD aus der Komintern 1921 versuchte sie, ihren Prinzipien treu und mit den Bolschewiki solidarisch zu bleiben.

 

”Wir fühlen uns, auch wenn der Moskauer Kongress unsere Richtung ausschloss, völlig solidarisch mit den russischen Bolschewiki (...). Wir bleiben daher solidarisch, nicht nur mit dem russischen Proletariat, sondern auch mit seinen bolschewistischen Führern, auch wenn wir ihr Auftreten innerhalb des internationalen Kommunismus aufs schärfste kritisieren müssen.”[xiv] [162]

 

Wenn die IKS sich ”auf die Errungenschaften, die nacheinander erbracht wurden vom Bund der Kommunisten (1847-52) um Marx und Engels, den drei Internationalen (Internationale Arbeiterassoziation 1864-72, II. Sozialistische Internationale 1889-1914, Kommunistische Internationale 1919-1928), den Linkskommunistischen Fraktionen, die in den 20er und 30er Jahren aus der 3. Internationalen während ihres Niedergangs hervorgegangen waren, insbesondere der Deutschen, Holländischen und Italienischen Linken”[xv] [162], beruft und deren Einheit und Kontinuität verteidigt, so ist sie der marxistischen Tradition in der Arbeiterbewegung treu. Insbesondere reiht sie sich ein in den gemeinsamen und dauernden Kampf der ”Richtung”, wie sie Gorter bezeichnet hatte, der linken Fraktionen in der 2. und 3. Internationalen. In diesem Sinn sind wir Lenin, Rosa Luxemburg, Pannekoek und Gorter treu sowie der Tradition der linken Fraktionen in den 1930er Jahren, insbesondere der Zeitschrift Bilan.

 

Die heutigen ”Leninisten” befinden sich nicht in der IKS

Den linken Fraktionen treu, die den Stalinismus auch unter den dramatischsten Umständen bekämpften, weisen wir jede Beschuldigung des ”Leninismus” zurück. Und wir denunzieren diejenigen, die sie aussprechen: Sie sind vielmehr diejenigen, die auf die Methode Stalins und seine Theorie des ”Leninismus” zurückgreifen, indem sie diese Lenin zuschreiben. Ausgerüstet mit der ”Methode” Stalins, versuchen sie nicht einmal, ihre Beschuldigungen auf tatsächliche, konkrete Elemente zu stützen – z.B. auf unsere schriftlichen oder mündlichen Stellungnahmen –, sondern vielmehr einzig auf Gerüchte und Lügen. Sie behaupten, unsere Organisation sei eine Sekte geworden und befinde sich in voller Degenerierung, um diejenigen abzuschrecken und von uns fernzuhalten, die auf der Suche nach einer konsequenten politischen und revolutionären Perspektive sind. Die Beschuldigung ist umso verleumderischer, als sich hinter dem Wort ”Leninismus” der an uns gerichtete Vorwurf des Stalinismus verbirgt, wenn er nicht gar offen vorgebracht wird.

Die Denunzierung unseres angeblichen ”Leninismus” stützt sich im Wesentlichen auf Gerüchte über unsere interne Funktionsweise, v.a. betreffend die angebliche Unmöglichkeit der Debatte in unserer Organisation. Wir haben auf diese Anschuldigungen bereits an anderer Stelle geantwortet[xvi] [162] und kommen hier nicht darauf zurück. Wir beschränken uns darauf, das Kompliment zu erwidern, nachdem wir aufgezeigt haben, wer die wirklichen Nachahmer der ”leninistischen”, unmarxistischen, vermeintlich revolutionären Methode sind.

 

Die IKS hat sich immer auf Lenins Kampf um den Parteiaufbau berufen

Nachdem wir die Beschuldigung des ”Leninismus” zurückgewiesen haben, bleibt eine viel ernsthaftere Frage stehen: Haben wir unseren kritischen Geist gegenüber Lenin in der Frage der politischen Organisation aufgegeben? Hat es eine Änderung in der Position der IKS zu Lenin insbesondere in Organisationsangelegenheiten, in den Fragen der Partei, ihrer Rolle und ihrer Funktionsweise gegeben? Wir sehen zwischen der IKS zur Zeit ihrer Gründung in den 1970er Jahren und der IKS von heute nichts, was einen Bruch in unserer Position betreffend die Organisationsfrage und Lenin darstellen könnte.

Wir bleiben dabei, dass wir an der Seite Lenins stehen im Kampf gegen den Ökonomismus und den Menschewismus. Da gibt es nichts Neues. Wir bleiben dabei, dass wir einverstanden sind mit der angewandten Methode und der fundierten Kritik gegen den Ökonomismus und die Menschewiki. Und wir bleiben dabei, dass wir auch mit einem Großteil der verschiedenen von Lenin entwickelten Punkte einverstanden sind. Da hat sich nichts verändert.

 

Wir bleiben auch bei unserer Kritik gewisser Aspekte, die er in der Organisationsfrage vertreten hat. ”Einige von Lenin vertretene Positionen (insbesondere in ”Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück”) hinsichtlich des hierarchischen und ”militärischen” Charakters der Organisation – Positionen, die später vom Stalinismus zur Rechtfertigung seiner Methoden verwandt wurden – (müssen) verworfen werden.”[xvii] [162] Wir haben auch nicht unsere Meinung über diese Kritik geändert. Doch verdient die Frage eine genauere Antwort, einerseits um die wirkliche Tragweite der Fehler von Lenin zu begreifen, andererseits um den geschichtlichen Sinn der Debatten zu verstehen, die in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) ausgetragen wurden.

 

Um diese für die Revolutionäre zentrale Frage, inbegriffen die Fehler Lenins, ernsthaft anzugehen, sollte man der Methode und den Lehren der verschiedenen kommunistischen Linken treu bleiben, so wie wir es im ersten Teil dieses Artikels unterstrichen haben. Wir lehnen es ab, eine Wahl zu treffen zwischen dem, war uns an der Geschichte der Arbeiterbewegung gefällt, und dem, was uns daran missfällt. Eine solche Haltung ist ahistorisch und einzig denjenigen eigen, die sich nach 100 oder 80 Jahren anmaßen, über einen geschichtlichen Prozess, der aus Schwankungen, Erfolgen und Niederlagen, zahlreichen Debatten und Beiträgen besteht, die unter gewaltigen Opfern und harten politischen Kämpfen zustande gekommen sind, zu urteilen. Das gilt sowohl für die theoretischen und politischen Fragen als auch die Organisationsangelegenheiten. Weder das menschewistische Ende, das Plechanow gefunden hat, und seine chauvinistische Haltung während dem ersten Weltkrieg, noch die Verwendung Trotzkis durch den – Trotzkismus und Pannekoeks durch den Anarcho-Rätismus tun dem Reichtum ihrer politischen und theoretischen Beiträge, die immer aktuell und von militantem Interesse bleiben werden, auch nur den geringsten Abbruch. Weder der schmachvoll Tod der 2. und der 3. Internationale noch das Ende der bolschewistischen Partei im Stalinismus, schmälern irgendwie ihre Rolle in der Geschichte der Arbeiterbewegung oder die Gültigkeit ihrer organisatorischen Errungenschaften.

 

Haben wir diesbezüglich unsere Meinung geändert? Keineswegs: ”Es gibt eine organisatorische Errungenschaft ebenso eine theoretische Errungenschaft, und das eine bedingt dauernd das andere.”[xviii] [162]

 

So wie die Kritik Rosa Luxemburgs an den Bolschewiki in Zur russischen Revolution in den Rahmen der Klasseneinheit gestellt werden muss, die sie mit den Bolschewiki verbindet, ebenso muss die Kritik, die wir in der Organisationsfrage vorbringen können, in den Rahmen der Einheit gestellt werden, die uns mit Lenin in seinem Kampf verbindet – für den Aufbau der Partei. Diese Position ist nicht neu und darf nicht erstaunen. Heute ”wiederholen wir”[xix] [162] – wie wir dies schon 1991 getan haben – ”dass die ‘Geschichte der Fraktionen die Geschichte Lenins’[xx] [162] ist, und dass man nur auf der Grundlage der von ihr geleisteten Arbeit die zukünftige kommunistische Weltpartei aufbauen kann”.[xxi] [162]

 

Heißt das, dass das Verständnis der IKS über die Organisationsfrage vom Anfang ihrer Gründung bis heute das gleiche geblieben ist? Heißt das, dass dieses Verständnis während der ganzen Debatten und Kämpfe um die Organisationsfrage, die unsere Organisation führen musste, nicht angereichert und vertieft worden ist? Wenn dies der Fall wäre, könnte man uns vorwerfen, wir seien eine Organisation ohne Leben, ohne Debatte, wir seien eine Sekte, die sich darauf beschränkt, die Heiligen Schriften der Arbeiterbewegegung zu rezitieren. Wir werden nun hier nicht die ganze Geschichte der Organisationsdebatten und -kämpfe nachzeichnen, die unsere Organisation seit ihrer Gründung durchgemacht hat. Jedesmal mussten wir uns – bei Strafe der Schwächung, wenn nicht des Untergangs der IKS – auf ”die organisatorischen Errungenschaften” der Geschichte der Arbeiterbewegung abstützen, mussten wir sie uns wieder aneignen, sie präzisieren und bereichern.

 

Aber die Wiederaneignung und die Bereicherung, die wir in Organisationsangelegenheiten geleistet haben, bedeuten nicht, dass wir die Position zu dieser Frage im allgemeinen oder auch nur bezüglich Lenin geändert hätten. Sie reihen sich ein in die Geschichte der organisatorischen Errungenschaften, die uns die Erfahrung der Arbeiterbewegung vermacht hat. Wir fordern jeden heraus zu beweisen, dass es einen Bruch in unserer Position gibt. Die Organisationsfrage ist eine eigenständige politische Frage mit dem gleichen Stellenwert wie die anderen. Wir behaupten sogar, dass sie die zentrale Frage ist, die schließlich die Fähigkeit bestimmt, alle anderen theoretischen und politischen Fragen anzupacken. Wenn wir dies sagen, stehen wir in Übereinstimmung mit Lenin. Wenn wir dies sagen, ändern wir nicht die Positionen, die wir immer vertreten haben. Wir haben immer behauptet, dass die größte Klarheit in dieser Frage, insbesondere über die Rolle der Fraktion, ausschlaggebend für die Fähigkeit der Italienischen Linke war, nicht nur sich als Organisation zu halten, sondern auch die klarsten und kohärentesten theoretischen und politischen Lehren zu ziehen, inbegriffen die Aufnahme und Weiterentwicklung der anfänglichen theoretischen und politischen Beiträge der Deutsch-Holländischen Linken – über die Gewerkschaften, den Staatskapitalismus, den Staat in der Übergangsperiode.

 

Die IKS an der Seite Lenins im Kampf gegen den Ökonomismus und den Menschewismus

Die IKS hat sich immer auf den Kampf der Bolschewiki in Organisationsangelegenheiten berufen. Wir orientierten uns an ihrem Beispiel, als wir schrieben: ”Die Idee, dass sich eine revolutionäre Organisation gewollt, bewusst, mit Vorsatz bildet, ist alles andere als voluntaristisch, sondern vielmehr eine konkrete Schlussfolgerung jeder marxistischen Praxis.”[xxii] [162]

 

Insbesondere haben wir immer unsere Übereinstimmung mit Lenins Kampf gegen den Ökonomismus unterstrichen. Ebenso haben wir seit je seinen Kampf gegen diejenigen unterstützt, die am 2. Kongress der SDAPR die Menschewiki wurden. Das ist nicht neu. So wie es auch nicht neu ist, dass wir Was tun? (1902) als das wesentliche Werk im Kampf gegen den Ökonomismus und Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück (1904) als das unabdingbare Werkzeug zum Verständnis der Auseinandersetzung und der Bruchpunkte in der damaligen Partei betrachten. Diese beiden Bücher für Klassiker des Marxismus in Organisationsangelegenheiten zu halten und zu behaupten, dass die wichtigsten Lehren, die Lenin in diesen Werken zog, immer noch aktuell sind, ist für uns nicht neu. Zu sagen, dass wir mit dem Kampf, mit der angewandten Methode und einem Großteil der Argumente, die in diesem beiden Texten vorgebracht werden, einverstanden sind, hindert uns nicht daran, Lenins Fehler zu kritisieren.

 

Was war in der Wirklichkeit des Moments, d.h. 1902 in Russland das Wesentliche an Was tun?? Was erlaubte es der Arbeiterbewegung einen Schritt vorwärts zu gehen? Auf welche Seite musste man sich stellen? Auf die Seite der Ökonomisten, weil Lenin auf die falsche Auffassung Kautskys über das Klassenbewusstsein zurückgriff? Oder auf die Seite Lenins gegen das Hindernis, das die Ökonomisten bei der Gründung einer konsequenten Organisation der Revolutionäre bildeten?

 

Was ist das Wesentliche in Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück? Sich auf die Seite der Menschewiki zu stellen, weil Lenin, in der Hitze der Polemik, gewisse Punkte von falschen Auffassungen verteidigte? Oder auf Lenins Seite zugunsten der Annahme von strengen Aufnahmekriterien für Organisationsmitglieder, für eine einheitliche und zentralisierte Partei und gegen die Aufrechterhaltung von autonomen Zirkeln?

 

In diesem Fall bedeutet ”die Frage zu stellen, sie auch zu beantworten”. Die Fehler betreffend das Bewusstsein und die Auffassung von einer ”militärischen” Partei wurden von Lenin selber, insbesondere durch die Erfahrung des Massenstreiks und der Revolution 1905 in Russland, korrigiert. Die Existenz einer bolschewistischen Fraktion und einer geschlossenen Organisation hat den Bolschewiki die Mittel gegeben, um unter denjenigen zu sein, die am besten die politischen Lehren aus 1905 ziehen konnten, auch wenn sie anfänglich nicht die klarste Auffassung hatten, insbesondere wenn man sie hinsichtlich der Dynamik des Massenstreiks mit Trotzki, Rosa Luxemburg oder sogar Plechanow vergleicht. Jene Mittel haben den Bolschewiki erlaubt, die anfänglichen Schwächen zu überwinden.

 

Worin bestanden die Fehler Lenins? Sie liegen auf zwei verschiedenen Ebenen. Die einen sind der Polemik zuzuschreiben, die anderen aber theoretischen Fragen, dies betrifft v.a. die Frage des Klassenbewusstseins.

 

Wo Lenin in der Polemik ”den Bogen überspannte”

Lenin krankte an seinen eigenen Qualitäten: Als großartiger Polemiker tendiert er dazu, "den Bogen zu überspannen", indem er die Argumente seiner Gegner übernimmt, um sie gegen sie zu wenden. "Wir alle wissen jetzt, dass die Ökonomisten den Bogen nach der einen Seite überspannt haben. Um ihn wieder auszurichten, musste man ihn nach der anderen Seite spannen, und das habe ich getan."[xxiii] [162] Aber diese Methode, die zwar in der Polemik und der klaren Polarisierung – die notwendigerweise zu jeder Debatte gehört – sehr wirksam ist, hat auch ihre Grenzen und kann mitunter eine Schwäche darstellen. Indem er den Bogen überspannte, verfiel er in Übertreibungen und entstellte die wirklichen Positionen. Was tun? ist ein Beispiel dafür, was Lenin selber bei verschiedenen Gelegenheiten zugab:

"Und ich dachte auch auf dem zweiten Parteitag nicht daran, speziell meine eigenen Formulierungen, die ich in Was tun? gegeben hatte, für etwas 'Programmatisches', besondere Prinzipien Darstellendes auszugeben. Im Gegenteil, ich wandte den später so oft zitierten Vergleich mit dem überspannten Bogen an. In Was tun? wird der von den 'Ökonomisten' überspannte Bogen wieder ausgerichtet, sagte ich. (...) Der Sinn dieser Worte ist klar: Was tun? korrigiert polemisch den 'Ökonomismus', und es ist falsch, den Inhalt der Broschüre außerhalb dieser Aufgabe zu betrachten."[xxiv] [162]

 

Leider gibt es viele, die Was tun? und Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück "außerhalb dieser Aufgabe betrachten", indem sie sich krampfhaft an den Buchstaben klammern, statt sich an der Idee des Textes zu orientieren. Es gibt viele, die seine Übertreibungen als bare Münze betrachten: vorab seine Kritiker und Gegner von damals, unter denen sich Trotzki und Rosa Luxemburg befanden, welche letztere auf das zweite Werk mit dem Artikel Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie (1904) antwortete. Schwerwiegender in den Konsequenzen war, dass sich 20 Jahre später dann die Stalinisten auf seine in der Hitze der Polemik geäußerten Formulierungen stützten, um den "Leninismus" und die stalinistische Diktatur zu rechtfertigen. Wenn er angegriffen wurde, er sei ein Diktator, Jakobiner, Bürokrat, er verteidige die militärische Disziplin und eine verschwörerische Sichtweise, so übernahm er die Begriffe seiner Gegner und entwickelte sie weiter, wobei er seinerseits "den Bogen überspannte". Man warf ihm vor, eine verschwörerische Auffassung von der Organisation zu haben, wenn er strikte Aufnahmekriterien für neue Mitglieder und die Disziplin unter den Bedingungen der Illegalität und der Repression verfocht? Seine Antwort als Polemiker lautete, wie folgt:

 

"Ihrer Form nach kann eine derartige festgefügte revolutionäre Organisation in einem autokratischen Lande auch eine 'Verschwörer'organisation genannt werden, denn das französische Wort 'conspiration' entspricht dem russischen Wort für 'Verschwörung', Konspiration ist eine so unumgägliche Vorbedingung für eine solche Organisation, dass alle anderen Bedingungen (die Zahl der Mitglieder, ihre Auslese, ihre Funktionen usw.) ihr angepasst werden müssen. Es wäre darum höchst naiv, die Beschuldigung zu fürchten, dass wir Sozialdemokraten eine Verschwörerorganisation schaffen wollten. Diese Beschuldigungen müssen für jeden Feind des Ökonomismus ebenso schmeichelhaft sein wie die Beschuldigung des 'Narodowolzentums'[xxv] [162]."[xxvi] [162]

 

In seiner Antwort an Rosa Luxemburg (September 1904), deren Publikation Kautsky und die Leitung der deutschen sozialdemokratischen Partei ablehnten, bestritt Lenin, die von ihm aufgegriffenen Formulierungen als erster verwendet zu haben:

 

"Gen. Luxemburg meint, nach meiner Auffassung erscheine 'das Zentralkomitee als der eigentliche aktive Kern der Partei'. In Wirklichkeit ist das unwahr. Ich habe diese Auffassung nirgends vertreten. (...) Gen. Luxemburg meint, ich verherrliche die erzieherische Wirkung der Fabrik. Das ist nicht wahr. Nicht ich, sondern mein Gegner behauptete, dass ich mir die Partei als eine Fabrik vorstelle. Ich lachte ihn tüchtig aus und wies ihm mit seinen eigenen Worten nach, dass er zwei verschiedene Seiten der Fabrikdisziplin verwechselt, was leider auch bei der Genossin Rosa Luxemburg der Fall ist."[xxvii] [162]

 

Der Fehler in Was tun? bezüglich des Klassenbewusstseins

Auf der anderen Seite ist es viel wichtiger und ernster, auf einen theoretischen Fehler Lenins in Was tun? hinzuweisen und ihn zu kritisieren. Er sagte, "dass die Arbeiter ein sozialdemokratisches Bewusstsein gar nicht haben konnten. Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden."[xxviii] [162] Wir kommen hier nicht auf unsere Kritik und unsere Position zur Bewusstseinsfrage zurück[xxix] [162]. Selbstverständlich ist diese Position, die Lenin von Kautsky übernahm, nicht nur falsch, sondern auch extrem gefährlich. Sie sollte nach dem Oktober 1917 als Rechtfertigung der Machtausübung der Partei anstelle der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit dienen. Weiter war sie später eine furchtbare Waffe in den Händen des Stalinismus, insbesondere um die putschistischen Aufstände in Deutschland in den 20er Jahren, aber auch und vor allem um die blutige Repression gegen die Arbeiterklasse in Russland zu rechtfertigen.

Ist es wirklich nötig, darauf hinzuweisen, dass unsere Position in dieser Frage unverändert geblieben ist?

 

Die Schwäche von Rosa Luxemburgs Kritik

Nach dem 2. Parteitag der SDAPR und der Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki stand Lenin einer Vielzahl von Kritikern gegenüber. Unter diesen waren Plechanow und Trotzki die einzigen, die ausdrücklich die Position verwarfen, dass das Klassenbewusstsein "von außen in die Arbeiterklasse gebracht werden muss". Bekannt ist vor allem die Kritik Rosa Luxemburgs, Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, auf die sich die heutigen Verleumder Lenins abstützen – um die beiden großen Militanten gegeneinander auszuspielen und zu beweisen, dass der stalinistische Wurm bereits in der Leninschen Frucht gesteckt habe, was nichts anderes als die alte stalinistische Lüge darstellt, aber diesmal von der anderen Seite betrachtet. Im Grunde genommen befasste sich Luxemburg v.a. mit dem "überspannten Bogen" und legt dabei Auffassungen dar, die an sich richtig, aber losgelöst vom realen praktischen Kampf am Parteitag sind und deshalb abstrakt bleiben.

"Gen. Rosa Luxemburg ignoriert majestätisch die konkreten Tatsachen unseres Parteikampfes und ergeht sich großmütig in Deklamationen über Fragen, die unmöglich ernst diskutiert werden können. (...) Welche Polemik ich auf dem Parteitag führte, gegen wen ich meine Grundsätze vorbrachte, das kümmert die Genossin überhaupt nicht. Statt dessen geruht sie, mir eine ganze Vorlesung über den Opportunismus ... in den Ländern des Parlamentarismus zu halten!!"[xxx] [162]

 

Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück legte klar dar, um was es am Parteitag und im Kampf, der sich dort abspielte, ging: um den Kampf gegen die Aufrechterhaltung von Zirkeln in der Partei, für eine klare und strenge Abgrenzung zwischen der politischen Organisation und der Arbeiterklasse. Obwohl Rosa Luxemburg die konkrete Situation auf dem Parteitag nicht voll erfasste, blieb sie bezüglich der allgemeinen Ziele klar:

 

"Das Problem, an dem die russische Sozialdemokratie seit einigen Jahren arbeitet, ist eben der Übergang vom Typus der zersplitterten, ganz unabhängigen Zirkel- und Lokalorganisation, die der vorbereitenden, vorwiegend propagandistischen Phase der Bewegung entsprach, zur Organisation, wie sie für einen einheitliche politische Aktion der Masse im ganzen Staate erforderlich ist."[xxxi] [162]

 

Bei der Lektüre dieser Stelle wird klar, dass sie auf dem gleichen Boden wie Lenin stand und das gleiche Ziel vor Augen hatte. Wenn man die "zentralistische", d.h. "autoritäre" Auffassung Rosa Luxemburgs und Leo Jogiches' in der polnischen sozialdemokratischen Partei (SDKPiL) kennt, gibt es keinen Zweifel in der Frage, auf welche Seite sie sich im konkreten Kampf gegen die Zirkel und die Menschewiki gestellt hätte, wenn sie in der SDAPR anwesend gewesen wäre. Lenin wäre bestimmt gezwungen gewesen, ihre Energie zu bremsen und vielleicht sogar ihre Übertreibungen richtigzustellen

 

Unsere Position heute, fast ein Jahrhundert später, zur genauen Unterscheidung zwischen politischer Organisation und Einheitsorganisation der Arbeiterklasse, stützt sich auf die Beiträge aus der Sozialistischen Internationale, insbesondere diejenigen Lenins. Er war in der Tat der erste, der – unter den besonderen Bedingungen des zaristischen Russland – die Entwicklungsbedingungen einer kleinen Minderheitsorganisation darlegte im Unterschied zu den Antworten Trotzkis und Rosa Luxemburgs, die zu diesem Zeitpunkt immer noch von der Massenpartei ausgingen. Ebenso stützen wir uns mit unserer strengen, genauen und klar definierten Auffassung über den Beitritt und die Mitgliedschaft bei einer kommunistischen Organisation auf Lenins Kampf gegen die Menschewiki um den 1. Punkt der Statuten am 2. Kongress der SDAPR. Schließlich gehen wir davon aus, dass dieser Kongress und Lenins Kampf damals einen Höhepunkt der theoretischen und politischen Vertiefung der Organisationsfrage, insbesondere betreffend die Zentralisierung gegen alle föderalistischen, individualistischen und kleinbürgerlichen Sichtweisen, darstellte. Es war ein Moment, der trotz aller Anerkennung für die positive geschichtliche Rolle, die die Zirkel bei der Umgruppierung der revolutionären Kräfte in einer ersten Phase gespielt hatten, die Notwendigkeit unterstrich, dieser Stadium zu überwinden, um wirklich einheitliche Organisationen zu schaffen und brüderliche, von gegenseitigem Vertrauen unter allen Militanten geprägte politische Beziehungen zu entwickeln.

 

Wir haben unsere Position zu Lenin nicht geändert. Und unsere Organisationsgrundsätze, insbesondere unsere Statuten, die sich auf die Gesamtheit der Erfahrungen der Arbeiterbewegung in dieser Frage abstützen und sie synthetisieren, sind stark von den Beiträgen Lenins in den Kämpfen für die Organisation beeinflusst. Ohne die Erfahrung der Bolschewiki in Organisationsangelegenheiten würde ein wichtiger und grundlegender Teil der organisatorischen Errungenschaften fehlen, auf denen die IKS sich gegründet hat und auf welchen sich die kommunistische Partei von morgen errichten muss.

 

Im zweiten Teil dieses Artikels werden wir auf das zurückkommen, was Was tun? sagt bzw. nicht sagt, dieser Text, dessen Ziel und Inhalt verkannt oder sogar absichtlich entstellt worden sind und nach wie vor werden. Wir werden genauer darlegen, inwiefern Lenins Werk einen wirklichen Klassiker des Marxismus und einen historischen Beitrag zur Arbeiterbewegung darstellt, sowohl was das Bewusstsein als auch was die Organisationsfrage betrifft. Kurz, inwiefern sich die IKS auch auf Was tun? beruft.

 

RL

 



[i] [162] Siehe beispielsweise den Text eines unserer ehemaligen Genossen, RV, Prise de position sur l`évolution récente du CCI, der von uns selbst veröffentlicht wurde in unserer Broschüre La prétendue paranoia du CCI, 1.

[ii] [162] Siehe die Thesen über den politischen Parasitismus, Internationale Revue Nr. 22

[iii] [162] Zitiert aus Trotzki: Mein Leben.

[iv] [162] Erinnern wir uns einmal mehr an das, was Lenin selbst über die Versuche, die großen revolutionären Figuren einzuverleiben, geschrieben hat: ”Nach ihrem Tode versucht man aus ihnen handlungsunfähige Ikonen zu machen, sie heilig zu sprechen,  ihren ”Namen” mit Glorie zu verkleiden um die unterdrückten Schichten zu ”trösten” und zu mystifizieren. Damit beraubt man ihren revolutionären Geist seines Inhalts, stumpft ihre revolutionäre Schärfe ab und entwürdigt sie.  (...) Und die bürgerlichen Gelehrten Deutschlands, gestern noch Experten in der Zerstörung des Marxismus, sprechen immer öfter von einem ”national-deutschen” Marx.”  Und die Stalinisten sprechen von einem ”großrussisch-nationalen” Lenin ... könnte man hier anfügen.

[v] [162] Boris Souvarine, Stalin, Editions Gérard Lebovici, 1985

[vi] [162] ebenda, Seite 311

[vii] [162] ebenda, Seite 312

[viii] [162] These 8 über die Bolschewisierung, 5. Kongreß der Komintern (von uns aus einer spanischen Version übersetzt)

[ix] [162] Bilan, Nr. 39, Theoretisches Bulletin der Italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken, Januar 1937.

[x] [162] Siehe: Thesen über den politischen Parasitismus, Internationale Revue Nr. 22

[xi] [162] Rosa Luxemburg, Zur Russischen Revolution, Dietz-Verlag 1987, Seite 341

[xii] [162] Bilan, Nr. 39, 1937

[xiii] [162] Herman Gorter, ”Der Sieg des Marxismus”, 1920 in il Soviet veröffentlicht, 1969 in Invariance Nr. 7 neu abgedruckt.

[xiv] [162] Artikel von Anton Pannekoek in Die Aktion Nr. 11-12, 19. März 1921, zitiert in unserer Broschüre zur Deutsch-Holländischen Linken, S. 21

[xv] [162] Aus der Zusammenfassung unserer politischen Positionen auf der Rückseite jeder Publikation

[xvi] [162] Vgl. zum 12. Kongress der IKS ”Die politische Verstärkung der IKS” in Weltrevolution Nr. 82.

[xvii] [162] ”Bericht zur Struktur und Funktionsweise der Organisation der Revolutionäre”, Januar 1982, in Internationale Revue Nr. 22

[xviii] [162] ”Bericht über die Organisationsfrage unserer internationalen Strömung”, International Review Nr. 1 (engl./franz. Ausgabe), April 1975

[xix] [162] Wir können der Versuchung nicht widerstehen einen unserer ehemaligen Militanten zu zitieren, der uns heute beschuldigt, wir seien Leninisten geworden: ”Man muss jedoch den Scharfsinn von Rosa Luxemburg begrüßen (...) ebenso wie die Fähigkeit der Bolschewiki, sich als unabhängige Fraktion mit ihren eigenen Interventionsmitteln in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands zu organisieren. Genau aus diesem Grund konnten sie zur Avantgarde des Proletariats in der revolutionären Welle am Ende des ersten Weltkriegs werden.” (RV, ”Die Kontinuität der politischen Organisationen des Proletariats”, International Review Nr. 50 (engl./franz. Ausgabe), 1987)

[xx] [162] Intervention Bordigas auf dem 6. erweiterten Exekutivkomitee der Komintern 1926

[xxi] [162] Einführung zum 3. Teil unserer Broschüre ”Das Verhältnis Fraktion – Partei in der marxistischen Tradition”

[xxii] [162] ”Bericht über die Organisationsfrage unserer internationalen Strömung”, International Review Nr. 1 (engl./franz. Ausgabe), April 1975

[xxiii] [162] Protokoll des 2. Kongresses der SDAPR, zit. nach Lenin Werke, Bd. 6, S. 490

[xxiv] [162] Lenin, "Vorwort zum Sammelband '12 Jahre'", September 1907, a.a.O., Bd. 13, S. 99f.

[xxv] [162] Von "Nardodnaya Volja", einer der geheimen Organisationen der russischen terroristischen Bewegung in den 1870er Jahren

[xxvi] [162] Was tun?, Hervorhebung durch Lenin, Kap. 'Verschwörer'organisation und 'Demokratismus', a.a.O., Bd. 5, S. 492f.

[xxvii] [162] Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. Antwort an R. Luxemburg, a.a.O., Bd. 7, S. 481ff.

[xxviii] [162] Was tun?, Kap. "Spontaneität der Massen und Bewusstheit der Sozialdemokratie", "a) Beginn des spontanen Aufschwungs", a.a.O., Bd. 5, S. 385

[xxix] [162] Vgl. unsere Broschüre Kommunistische Organisationen und Klassenbewusstsein (engl./franz./span.)

[xxx] [162] Lenin, Antwort an R. Luxemburg, a.a.O., Bd. 7, S. 484

[xxxi] [162] Rosa Luxemburg, Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, I. Teil, Gesammelte Werke, Bd. 1/2, S. 424

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Organisation [64]

Polemik: Die Wurzeln der IKS und des IBRP, Teil II Die Gründung des Partito Comunista Internazionalista

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Polemik: Die Wurzeln der IKS und des IBRP, Teil II

Die Gründung des Partito Comunista Internazionalista

In der letzten Ausgabe der Internationalen Revue (Nr. 22) veröffentlichten wir den ersten Teil eines Artikels, der auf die Polemik „Die politischen Wurzeln der Organisationskrankheit der IKS" antwortet, welche in der International Communist Review Nr. 15 erschienen war, der englischsprachigen Revue des Internationalen Büros für die Revolutionäre Partei (IBRP), das sich aus der Communist Workers Organisation (CWO) und des Partito Comunista Internazionalista (PCInt.) zusammensetzt. In diesem ersten Teil gingen wir, nachdem wir eine gewisse Zahl von Behauptungen des IBRP berichtigt hatten, die Zeugnis für einen Mangel an Kenntnissen unserer Positionen ablegen, auf die Geschichte der Italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken zurück, einer politischen Strömung, auf die sich sowohl das IBRP als auch die IKS berufen. Insbesondere zeigten wir, daß die Vorfahren der IKS, die Gauche Communiste de France (GCF), mehr als eine „winzige Gruppe" war, wie es das IBRP formuliert: In Wahrheit war sie der tatsächliche politische Erbe der Italienischen Fraktion, indem sie sich auf die Basis der Errungenschaften der letztgenannten stellte. Genau diese Errungenschaften hat der PCInt, als er sich 1943 bildete und noch stärker auf seinem ersten Kongreß 1945, über Bord geworfen oder einfach abgelehnt. Dies beabsichtigen wir in diesem zweiten Teil des Artikels aufzuzeigen.

Für Kommunisten hat das Studium der Geschichte der Arbeiterbewegung und ihrer Organisationen nichts mit akademischer Neugier gemein. Im Gegenteil, es ist ein unersetzliches Mittel für sie, ihr Programm auf eine solide Basis zu stellen, sich selbst in der aktuellen Situation zu orientieren und klare Perspektiven für die Zukunft zu erkunden. Insbesondere ermöglicht die Untersuchung der vergangenen Erfahrungen der Arbeiterklasse die Verifizierung der Gültigkeit der Positionen, die von den früheren Klassenorganisationen vertreten worden waren, und Lehren daraus zu ziehen. Die Revolutionäre einer Epoche sitzen nicht zu Gericht über ihre Vorfahren. Aber sie müssen imstande sein, das, was in den von ihnen vertretenen Positionen immer noch gültig ist, herauszuziehen und gleichzeitig ihre Irrtümer zu erkennen, so wie sie auch in der Lage sein müssen, den Moment zu erkennen, in dem eine in einem bestimmten historischen Zusammenhang richtige Position unter veränderten historischen Bedingungen hinfällig geworden ist. Andernfalls werden sie große Schwierigkeiten haben, ihrer Verantwortung nachzukommen, dazu verdammt, die Irrtümer zu wiederholen oder an anachronistischen Positionen festzuhalten.

Solch eine Herangehensweise ist das ABC für eine revolutionäre Organisation. Wenn wir seinen Artikel betrachten, dann teilt das IBRP diese Herangehensweise, und wir erkennen es als sehr positiv an, daß diese Organisation unter anderem die Frage nach ihren eigenen Ursprüngen (oder vielmehr nach den Ursprüngen des PCInt) und den Ursprüngen der IKS stellt. Uns scheint, daß das Verständnis der Differenzen zwischen unseren beiden Organisationen mit der Untersuchung ihrer entsprechenden Geschichte beginnen muß. Aus diesem Grund wird sich unsere Antwort auf die Polemik des IBRP auf diese Frage konzentrieren. Wir begannen damit im ersten Teil dieses Artikels mit unserem Blick auf die Italienische Fraktion und die GCF. Jetzt wollen wir auf die Geschichte des PCInt eingehen.

In der Tat ist einer der wichtigsten Punkte, die behandelt werden müssen, folgender: Können wir zustimmen, daß, wie das IBRP sagt, „der PCInt die erfolgreichste Kreation der revolutionären Arbeiterklasse seit der Russischen Revolution ist" (1)? Falls dies der Fall wäre, so müßten wir die Aktionen des PCInt als beispielhaft und als Hauptinspirationsquelle der Kommunisten von heute und morgen ansehen. Die Frage, die sich stellt, ist die: Wie beurteilen wir den Erfolg einer revolutionären Organisation? Die Antwort kann nur sein: indem wir daran Maß anlegen, wie sie die Aufgaben erfüllt, die ihr in der historischen Periode, in der sie wirkt, zufallen. In diesem Sinn sind die ausgewählten Kriterien des „Erfolgs" in sich selbst bedeutsam für die Weise, wie man die Rolle und Verantwortung der Vorhutorganisation des Proletariats begreift.

Die Kriterien für den „Erfolg" einer revolutionären Organisation

Eine revolutionäre Organisation ist Ausdruck und aktiver Faktor des Prozesses, in dem das Proletariat sein Klassenbewußtsein entwickelt und so seine historische Mission des Sturzes des Kapitalismus und der Schaffung des Kommunismus übernimmt. In diesem Sinn ist solch eine Organisation ein unersetzliches Instrument des Proletariats im Augenblick des historischen Sprunges, der die kommunistische Revolution darstellt. Wenn die revolutionäre Organisation mit dieser besonderen Situation konfrontiert ist, wie dies für die kommunistischen Parteien zwischen 1917 und dem Beginn der 20er Jahre der Fall war, dann ist das entscheidende Kriterium zur Beurteilung ihrer Aktivitäten ihre Fähigkeit, die großen Massen der Arbeiter, die das Subjekt der Revolution sind, um sich und um das von ihr vetretene kommunistische Programm zu sammeln. In diesem Sinn können wir sagen, daß die bolschewistische Partei 1917 diese Aufgabe völlig erfüllte (nicht nur angesichts der Revolution in Rußland, sondern auch angesichts der Weltrevolution, da es ebenfalls die bolschewistische Partei war, die die Hauptanregung zur Bildung der Kommunistischen Internationalen 1919 gab). Vom Februar bis zum Oktober 1917 war ihre Fähigkeit, sich mit den Massen inmitten der revolutionären Gärung zu verbinden, in jedem Moment der Heranreifung der Revolution die geeignetesten Parolen aufzustellen, mit der größten Unnachsichtigkeit gegen alle Sirenen des Opportunismus zu handeln – war all dies zweifellos entscheidend für ihren „Erfolg".

So weit, so gut, doch ist die Rolle der kommunistischen Organisationen nicht auf revolutionäre Perioden beschränkt. Wenn dies der Fall wäre, dann hätten solche Organisationen nur in der Periode von 1917 bis 1923 existiert, und wir müßten die Bedeutung der Existenz des IBRP und der IKS in Frage stellen. Es ist klar, daß außerhalb direkt revolutionärer Perioden kommunistische Organisationen die Rolle besitzen, die Revolution vorzubereiten, d.h. auf bestmögliche Weise zur Entwicklung der wesentlichen Voraussetzung für die Revolution beizutragen: die Bewußtwerdung des gesamten Proletariats über seine historischen Ziele und die Mittel, um sie zu erreichen. Dies bedeutet in erster Linie, daß es die ständige Funktion von kommunistischen Organisationen (also auch in revolutionären Perioden) ist, das proletarische Programm auf die klarste und kohärenteste Weise zu definieren. In zweiter Linie, und direkt verknüpft mit der ersten Funktion, bedeutet es, politisch und organisatorisch die Partei vorzubereiten, die im Augenblick der Revolution an der Spitze des Proletariats zu sein hat. Schießlich bedeutet es eine ständige Intervention in der Klasse, entsprechend den Mitteln, die der Organisation zur Verfügung stehen, um jene Elemente für kommunistische Positionen zu gewinnen, die mit der Ideologie und den Organisationen der Bourgeoisie zu brechen versuchen.

Um zur „erfolgreichsten Kreation der Arbeiterklasse seit der Russischen Revolution", d.h. gemäß dem IBRP zum PCInt, zurückzukehren, muß die Frage gestellt werden: Über welche Art von „Erfolg" reden wir hier?

Spielte der PCInt eine entscheidende Rolle in der Aktion des Proletariats während der revolutionären Periode oder wenigstens in einer Periode intensiver proletarischer Aktivitäten?

Leistete sie entscheidende Beiträge zur Erarbeitung des kommunistischen Programms, wie zum Beispiel die Italienische Fraktion der Kommunistischen Linken, auf die sie sich berief?

Legte sie solide organisatorische Fundamente für die Gründung der künftigen kommunistischen Weltpartei, der Vorhut der kommenden proletarischen Revolution?

Wir wollen mit der Beantwortung der letzten Frage beginnen. In einem Brief der IKS an den PCInt vom 9.6.1980, just nach dem Nichtzustandekommen der dritten Konferenz der kommunistischen Linken, schrieben wir: „Wie erklärt Ihr (....), daß Eure Organisation, die bereits vor dem Wiedererwachen der Klasse 1968 existiert hatte, unfähig war, von diesem Wiedererwachen zu profitieren und sich auf internationaler Ebene auszubreiten, während unsere, die 1968 praktisch noch nicht existierte, seitdem ihre Kräfte gesteigert und sich in zehn Ländern eingepflanzt hat?"

Diese Frage, die wir damals stellten, bleibt bis heute gültig. Seitdem hat es der PCInt zwar geschafft, sich international auszuweiten, indem er in Gemeinschaft mit der CWO (die ihre wesentlichen Positionen und Analysen übernommen hat) das IBRP gründete (2). Aber wir kommen nicht umhin zu erkennen, daß die Bilanz des PCInt nach mehr als einem halben Jahrhundert der Existenz sehr bescheiden ist. Die IKS hat stets die extreme numerische Schwäche und den beschränkten Einfluß von kommunistischen Organisationen in der gegenwärtigen Periode, und dies schließt unsere mit ein, hervorgehoben und bedauert. Wir gehören nicht zu jenen, die mit Bluffs ihren Weg machen und behaupten, der „Generalstab" des Proletariats zu sein. Wir überlassen es anderen Gruppen, den „großen Napoleon" hervorzukehren. Trotzdem, wenn wir von dem hier untersuchten Kriterium des „Erfolges" ausgehen, schneidet die „winzige GCF" weitaus besser ab als der PCInt, auch wenn sie 1952 aufgehört hat zu existieren. Mit Sektionen oder Kernen in 13 Ländern, 11 regelmäßigen territorialen Publikationen in sieben verschiedenen Sprachen (einschließlich der am weitesten verbreiteten in den Industrieländern: Englisch, Deutsch, Spanisch und Französisch), einer vierteljährlichen theoretischen Zeitschrift in drei Sprachen, ist die IKS, die um die Positionen und politischen Analysen der GCF herum gegründet worden war, heute zweifellos nicht nur die größte und am weitesten verbreitete politische Organisation der Linkskommunisten, sondern auch und vor allem diejenige, die im letzten Vierteljahrhundert die positivste Dynamik in ihrer Entwicklung erfahren hat. Das IBRP mag wohl erkennen, daß der „Erfolg" der Erben der GCF, gemessen an jenem des PCInt, Beweis für die Schwäche der Arbeiterklasse ist. Wenn die Kämpfe und das Bewußtsein letzterer mehr entwickelt sind, wird sie sicherlich die Positionen und die Parolen des PCInt anerkennen und sich viel massiver um sie umgruppieren als heute. Jedenfalls ist dies ein tröstlicher Gedanke.

Tatsächlich kann das IBRP, wenn es den fabelhaften „Erfolg" des PCInt beschwört, nicht deren Fähigkeit meinen, den Grundstein für die künftige organisatorische Basis der Weltpartei gelegt zu haben (es sei denn, es nimmt Zuflucht zu Spekulationen, was das IBRP in der Zukunft sein könnte). Wir sehen uns daher veranlaßt, ein anderes Kriterium zu untersuchen: Hat der PCInt zwischen 1945 und 1946 (d.h. als er seine erste Plattform annahm) einen wesentlichen Beitrag zur Erarbeitung des kommunistischen Programms geleistet?

Wir wollen hier nicht all die in dieser Plattform enthaltenen Positionen begutachten, die sicherlich einige exzellente Dinge enthalten. Wir werden unseren Blick nur auf ein paar programmatische Punkte richten, die schon damals äußerst wichtig waren und über die wir kein großes Quantum an Klarheit in der Plattform finden können. Wir beziehen uns hier auf den Charakter der UdSSR, auf die sog. „nationalen und kolonialen Befreiungskämpfe" und auf die Gewerkschaftsfrage.

Die gegenwärtige Plattform des IBRP ist sich im klaren über die kapitalistische Natur der Gesellschaft, die bis 1990 in Rußland existierte, über die Rolle der Gewerkschaften als Instrumente zur Bewahrung der bürgerlichen Ordnung, die in keiner Weise vom Proletariat „wiedererobert" werden können, und über den konterrevolutionären Charakter der nationalen Befreiungskämpfe. Diese Klarheit ist jedoch nicht in der Plattform des PCInt von 1945 zu finden, in der die UdSSR noch immer als „proletarischer Staat" definiert ist, in der die Arbeiterklasse zur Unterstützung bestimmter nationaler und kolonialer Kämpfe aufgerufen wird und in der die Gewerkschaften noch immer als Organisationen betrachtet werden, die vom Proletariat „wiedererobert" werden können, bemerkenswerterweise durch die Schaffung von Minderheiten unter der Führung des PCInt (3). In derselben Periode hat die GCF bereits die alten Analysen der Italienischen Linken über die proletarische Natur der Gewerkschaften in Frage gestellt und begriffen, daß die Arbeiterklasse diese Organe nicht mehr wiedererobern kann. Die Analyse der kapitalistischen Natur der UdSSR war bereits während des Krieges von der Italienischen Fraktion, die sich um den Kern in Marseilles rekonstituiert hatte, erarbeitet worden. Und endlich war die konterrevolutionäre Natur der nationalen Kämpfe, die Tatsache, daß sie nichts anderes als Momente des imperialistischen Konflikts zwischen den Großmächten sind, bereits in den 30er Jahren von der Fraktion nachgewiesen worden. Deshalb halten wir heute daran fest, was die GCF 1946 über den PCInt gesagt hat und was das IBRP derart aufregt. Wie letzteres es formuliert: „Die GCF argumentiert, daß die Internationalistische Kommunistische Partei kein Fortschritt gegenüber der alten Fraktion der Linkskommunisten darstellt, die während der Mussolini-Diktatur ins französische Exil ging" (ICR, Nr. 15). Auf der Ebene der programmatischen Klarheit sprechen die Fakten für sich (4).

Wir können also nicht erkennen, daß die programmatischen Positionen des PCInt von 1945 Bestandteil seines „Erfolges" waren, zumal ein guter Teil von ihnen später revidiert wurde, besonders 1952 zur Zeit des Kongresses, als die Spaltung von der Tendenz Bordigas stattfand, und sogar noch später. Wenn uns das IBRP die kleine Ironie erlaubt, möchten wir sagen, daß einige seiner gegenwärtigen Positionen mehr von der GCF als vom PCInt von 1945 inspiriert worden sind. Also worin liegt der „große Erfolg" dieser Organisation? Alles, was übrigbleibt, ist ihre numerische Stärke und der Einfluß, den sie in einem bestimmten Augenblick der Geschichte hatte.

Es ist ganz richtig, daß zwischen 1945 und 1947 der PCInt fast 3000 Mitglieder und eine bedeutende Anzahl von Arbeitern hatte, die sich mit ihm identifizierten. Heißt das, daß diese Organisation imstande war, eine bedeutsame Rolle in den historischen Ereignissen zu spielen und sie zur proletarischen Revolution zu lenken, auch wenn dies nicht das endgültige Resultat war? Natürlich können wir dem PCInt nicht vorwerfen, angesichts einer revolutionären Situation in seiner Verantwortung versagt zu haben, weil solch eine Situation 1945 nicht herrschte. Aber genau da drückt der Schuh. Wie der Artikel des IBRP sagt, hegte der PCInt die „Erwartung, daß die Unruhen der Arbeiter sich nicht nur auf Norditalien beschränken würden, als der Krieg sich dem Ende näherte". In der Tat wurde der PCInt 1943 auf der Basis des Wiederauflebens der Arbeitermilitanz in Norditalien konstituiert, wobei er diese Kämpfe als die ersten einer neuen revolutionären Welle betrachtete, die aus dem Krieg heraus entstehen würde, wie dies am Ende des Ersten Weltkrieges der Fall gewesen war. Die Geschichte hat diese Perspektive widerlegt. Aber 1943 war es vollkommen gerechtfertigt, sie aufzustellen (5). Zwar waren die Kommunistische Internationale und die meisten kommunistischen Parteien, einschließlich der italienischen Partei, gebildet worden, als die revolutionäre Welle, die 1917 begann, mit der Zerschlagung des deutschen Proletariats im Januar 1919 am abebben war. Aber die Revolutionäre dieser Zeit waren sich dessen noch nicht bewußt (und eines der großen Verdienste der Italienischen Linken war es, zu den ersten Strömungen zu gehören, die realisierten, daß das Gleichgewicht zwischen Proletariat und Bourgeoisie umgekippt war). Als jedoch die Konferenz Ende 1945 und Anfang 1946 abgehalten wurde, war der Krieg bereits vorbei, und die proletarischen Reaktionen, die dadurch hervorgerufen worden waren, wurden durch eine systematische Politik der Prävention von seiten der Bourgeoisie schon im Keim erstickt (6). Trotzdem stellte der PCInt seine bisherige Politik nicht in Frage (auch wenn auf der Konferenz einige Stimmen laut wurden, daß nichts außer der Griff der Bourgeoisie um die Arbeiterklasse gestärkt worden ist). Was 1943 ein völlig verständlicher Irrtum gewesen war, war 1945 bereits weitaus weniger zu entschuldigen. Dennoch verfolgte der PCInt denselben Weg und stellte nie die Berechtigung seiner Gründung 1943 in Frage.

Am schlimmsten war jedoch nicht der Irrtum des PCInt bei der Einschätzung der historischen Periode und seine Schwierigkeiten, diesen Irrtum zu erkennen. Viel katastrophaler waren die Art und Weise, in der sich der PCInt entwickelte, und die Positionen, zu denen er verleitet wurde, vor allem weil er versuchte, sich den Illusionen einer im Rückzug befindlichen Arbeiterklasse „anzupassen".

Die Gründung des PCInt

 

Als er 1943 gegründet wurde, erklärte sich der PCInt selbst zum Erben der von der Italienischen Fraktion der Linkskommunisten erarbeiteten Positionen. Überdies zählte er, während sein Hauptanimator, Onorato Damen, einer der Führer der Linken in den 20er Jahren, seit 1924 in Italien blieb (die meiste Zeit in Mussolinis Gefängnissen, aus denen er während der Ereignisse von 1942/43 befreit wurde) (7), in ihren Reihen eine gewisse Zahl von Militanten der Fraktion zu sich, die zu Beginn des Krieges nach Italien zurückgekehrt waren. Und in der Tat können wir in den ersten heimlichen Ausgaben des Prometeo (das den traditionellen Namen der Zeitung der Linken in den 20er Jahren und der Italienischen Fraktion in den 30ern angenommen hatte), veröffentlicht seit November 1943, klare Denunziationen des imperialistischen Krieges, des Antifaschismus und der Partisanenbewegungen finden (8). Doch nach 1944 orientierte sich der PCInt in Richtung Agitation unter den Partisanengruppen; im Juni veröffentlichte er ein Manifest, das aufrief zur „Umwandlung der Partisanengruppen, die sich aus proletarischen Elementen mit einem gesunden Klassenbewußtsein zusammensetzen, in Organe der proletarischen Selbstverteidigung, dazu bereit, in den revolutionären Kampf um die Macht einzugreifen". Im August 1944 ging Prometeo Nr. 15 über solche Kompromisse sogar noch hinaus: „Die kommunistischen Elemente glauben aufrichtig an die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Nazifaschismus und denken, daß, wenn dieses Objekt erst einmal niedergeworfen ist, sie in der Lage sein werden, den Weg der Machteroberung und des Sturzes des Kapitalismus zu beschreiten." Dies war eine Wiederbelebung der Idee, die als Basis für all jene gedient hatte, die, wie die Anarchisten und Trotzkisten, die Arbeiter auf dem Weg zum spanischen Bürgerkrieg dazu aufgerufen hatten, „erst den Sieg über den Faschismus zu erringen und dann die Revolution zu machen". Es war das Argument jener, die die Sache des Proletariats verraten und sich unter den Fahnen des einen oder anderen imperialistischen Lagers eingereiht hatten. Dies war beim PCInt nicht der Fall, weil er von der Tradition der Linken der Kommunistischen Partei stark durchdrungen blieb, welche sich angesichts des Aufstiegs des Faschismus Anfang der 20er Jahre durch ihre unversöhnliche Klassenhaltung abhob. Gleichwohl zeigte das Erscheinen solcher Argumente in der Presse des PCInt, wie weit die Dinge gehen konnten. Darüberhinaus trat eine gewisse Anzahl von Militanten des PCInt den Partisanengruppen bei und folgten somit dem Beispiel einer Minderheit in der Fraktion, die 1936 den antifaschistischen Milizen der POUM in Spanien beitraten. Aber während eine Minderheit der Fraktion mit der Organisationsdisziplin gebrochen hatte, so war dies keineswegs der Fall bei den Militanten des PCInt: Sie erfüllten lediglich die Direktiven der Partei (9).

Es ist offenkundig, daß der Wille, ein Maximum an Arbeitern in der und um die Partei herum zu sammeln, zu einer Zeit, als erstere en masse dem „Partisanentum" erlagen, den PCInt dazu verleitete, Abstand zu nehmen von der Unversöhnlichkeit, die er ursprünglich gegenüber dem Antifaschismus und den Partisanen gezeigt hatte. Dies ist keine „Verleumdung" durch die IKS, die sich an die „Verleumdungen" der GCF anschließt. Dieser Hang zur Rekrutierung neuer Militanter ohne allzuviel Sorge um die Festigkeit ihrer internationalistischen Überzeugungen wurde vom Genossen Danielis bemerkt, der verantwortungsbewußt die Stellung in der Turiner Förderation 1945 hielt und der ein altes Mitglied der Fraktion war: „Eines muß für jeden klar sein: Die Partei hat schwer an der oberflächlichen Ausweitung ihres politischen Einflusses – das Ergebnis eines ebenso oberflächlichen Aktivismus – gelitten. Ich möchte von einer persönlichen Erfahrung erzählen, die als Warnung vor der Gefahr für die Partei dienen soll, einen oberflächlichen Einfluß auf gewisse Schichten der Massen auszuüben, der eine automatische Konsequenz der gleichermaßen oberflächlichen theoretischen Bildung ihrer Kader ist (...) Man könnte annehmen, daß kein Mitglied der Partei die Richtung des ‘Komitees der Nationalen Befreiung’ akzeptiert hätte. Jetzt, am Morgen des 25.April (der Tag der ‘Befreiung’ Turins), befand sich die gesamte Turiner Förderation unter Waffen und bestand darauf, an der Krönung von sechs Jahren Massaker teilzunehmen, und einige Genossen aus der Provinz – noch unter militärischer Disziplin – kamen nach Turin, um an der Menschenjagd teilzunehmen (...) Die Partei existiert nicht mehr; sie hat sich selbst liquidiert" (Sitzungsberichte des Kongresses des PCInt im Mai 1948 in Florenz). Offenbar war auch Danielis ein „Verleumder".

Im Ernst, wenn Wörter irgeneine Bedeutung haben sollen, dann war die Politik des PCInt, die 1945 solch einen großen „Erfolg" ermöglichte, nichts anderes als opportunistisch. Noch weitere Beispiele gefällig? Wir können aus einem vom 10. Februar 1945 datierten Brief zitieren, der vom „Agitationskomitee" des PCInt gerichtet ist „an die Agitationskomitees von Parteien mit einer proletarischen Ausrichtung und an Gewerkschaftsbewegungen in den Unternehmen, um dem revolutionären Kampf des Proletariats eine Einheit in den Direktiven und der Organisation zu verleihen (...) Zu diesem Zweck schlagen wir eine Versammlung der diversen Komitees vor, um einen gemeinsamen Plan zu entwerfen" (Prometeo, April 1945) (10). Die „Parteien mit proletarischer Ausrichtung", die hier erwähnt werden, sind die sozialistischen und stalinistischen Parteien. Wie überraschend dies heute auch erscheinen mag, es ist absolut wahr. Als wir in der International Review Nr. 32 an diese Fakten erinnerten, antwortete der PCInt: „War das Dokument ‘Appell des Agitationskomitees des PCInt’, das in der Ausgabe vom April ‘45 veröffentlicht wurde, ein Irrtum? Zugegeben, es war der letzte Versuch der Italienischen Linken, die Taktik der ‘Einheitsfront von unten’ anzuwenden, unterstützt dabei von der KP Italiens in ihrer Polemik mit der KI 1921–23. Als solches legen wir ihn in die Kategorie der ‘Jugendsünden’, denn die Genossen waren in der Lage, ihn sowohl auf politischer als auch organisatorischer Ebene mit einer Klarheit zu eliminieren, die uns heute in diesem Punkt ganz sicher macht" (Battaglia Comunista, Nr. 3, Februar 1983). Darauf antworteten wir: „Wir können die Feinheit und Vornehmheit bewundern, mit der BC sein eigenes Image umhätschelt. Wenn der Vorschlag einer Einheitsfront mit den stalinistischen und sozialdemokratischen Schlächtern nur eine ‘Jugendsünde’ war, was hätte der PCInt 1945 noch machen müssen, um wirklich einen ernsten Fehler zu begehen? (...) In die Regierung eintreten?" (International Review, Nr. 34 engl./franz./span. Ausgabe) (11) Jedenfalls ist klar, daß 1944 die Politik des PCInt einen wirklichen Rückschritt darstellte, verglichen mit jener der Fraktion. Und was für einen Rückschritt! Die Fraktion hatte lange zuvor eine eingehende Kritik der Taktik der Einheitsfront gemacht, und seit 1935 hatte sie die stalinistische Partei nicht mehr eine „Partei mit proletarischer Ausrichtung" genannt, ganz zu schweigen von der Sozialdemokratie, deren bürgerliche Natur seit den 20er Jahren erkannt war.

Diese opportunistische Politik des PCInt kann auch in der „Öffnung" und in dem Mangel an Strenge beobachtet werden, den er Ende des Krieges in seinen Expansionsbestrebungen gezeigt hatte. Die Zweideutigkeiten des PCInt im Norden des Landes waren nichts, verglichen mit jenen der Gruppen im Süden, die Ende des Krieges in die Partei hineingelassen wurden. Zum Beispiel die „Frazione di sinistra dei comunisti e socialisti", die in Neapel um Bordiga und Pistone gegründet wurde: Gleich von Beginn des Jahres 1945 an praktizierte sie eine Entrismusstrategie in die stalinistische PCI, in der Hoffnung, diese wieder auf die Beine zu stellen. Sie war besonders vage in der Frage der UdSSR. Der PCInt öffnete seine Türen auch für Elemente aus der POC (Kommunistische Arbeiterpartei), die eine Zeitlang die italienische Sektion der trotzkistischen Vierten Internationalen gebildet hatte.

Wir wollen auch daran erinnern, daß Vercesi, der während des Krieges den Schluß gezogen hatte, daß nichts zu tun wäre, und der am Ende des Krieges an der „Coalizione Antifascista" in Brüssel teilgenommen hatte (12), ebenfalls der neuen Partei beitrat, ohne daß letztere verlangt hätte, daß er seine antifaschistischen Abweichungen verurteilt. Über diesen Punkt und zugunsten des PCInt schrieb O. Damen im August 1976 an die IKS: „Das Brüsseler Antifaschistische Komitee in der Person von Vercesi, der dachte, in den PCInt eintreten zu müssen, als dieser gegründet wurde, hielt an seinen pervertierten Positionen fest, bis die Partei unter den Opfern, die die Klarheit erfordert, sich selbst von dem toten Stamm des Bordigismus losmachte." Darauf antworteten wir: „Was für eine elegante Art der Darstellung! Er – Vercesi – dachte, er müsse eintreten!? Und die Partei – was dachte die Partei darüber? Oder ist die Partei ein Bridge-Klub, dem jeder beitreten kann?" (IR, Nr. 8 engl./franz. Ausgabe). Es sollte angemerkt werden, daß Damen in diesem Brief offen genug war anzuerkennen, daß die Partei 1945 noch nicht „die Opfer, die die Klarheit erfordert", geleistet hatte, sondern erst später, im Jahre 1952. Wir können diese Bestätigung nur unterstreichen, die allen Fabeln über die „große Klarheit" widerspricht, die über die Gründung des PCInt die Aufsicht führte, welche gemäß des IBRP einen „Schritt vorwärts" gegenüber der Fraktion darstellte (13).

Der PCInt äußerte keinerlei Bedenken gegenüber den Mitgliedern der Minderheit in der Fraktion, die sich 1936 den antifaschistischen Milizen in Spanien angeschlossen hatten und die daraufhin der Union Communiste (14) beitraten. Diese Elemente wurden für würdig erklärt, in die Partei integriert zu werden, ohne auch nur die leiseste Kritik an ihren vergangenen Irrtümern zu üben. O. Damen schrieb über diese Frage im selben Brief:

„Bezüglich der Genossen, die während des Krieges in Spanien entschieden haben, die Italienische Fraktion der Kommunistischen Linken abzuschaffen und sich selbst in ein Abenteuer zu werfen, das sie außerhalb der Klassenpositionen führt: Wir sollten uns daran erinnern, daß die Ereignisse in Spanien, die die Positionen der Fraktion nur bestätigten, diesen Genossen eine Lehre war und ihnen erlaubte, zur revolutionären Linken zurückzukehren." Worauf wir antworteten: „Es ging diesen Elementen niemals darum, zu den Linkskommunisten zurückkehren, bis die Fraktion sich auflöste und ihre Militanten in den PCInt integriert wurden (Ende 1945). Es ging niemals darum, eine ‘Lehre’ zu ziehen, oder darum, daß diese Militanten ihren alten Positionen abschworen und ihre Teilnahme im antifaschistischen Krieg in Spanien verurteilten" (ebenda). Wenn das IBRP dies als eine neue „Verleumdung" durch die IKS ansieht, dann sollte es uns die Dokumente zeigen, die das beweisen. Und wir fuhren fort: „Es ging einfach darum, daß die Euphorie und Konfusion bei der Gründung der Partei ‘mit Bordiga’ diese Genossen dazu anregte, (...) der Partei beizutreten... Die Partei in Italien forderte diese Genossen nicht zur Rechenschaft über ihre vergangenen Aktivitäten auf. Dies geschah nicht aus Ignoranz (...) Es geschah, weil es an der Zeit gewesen sei, ‘alte Streits’ zu vergessen: Die Rekonstitution der Partei wischte den Tisch rein. Einer Partei, die sich nicht sehr klar über die Wirkung der Partisanenbewegung auf ihre eigenen Militanten ist, ist eine strenge Haltung gegenüber dem, was die Minderheit einige Jahre zuvor getan hatte, kaum zuzutrauen. Also war es nur ‘natürlich’, daß sie ihre Türen diesen Genossen öffnete..." (ebenda).

In der Tat war die GCF die einzige Organisation, die nicht die Gunst des PCInt fand und zu der letzterer keinerlei Beziehung haben wollte, und zwar deshalb, weil sie sich auf den Boden derselben Strenge und Unnachgiebigkeit stellte, die die Fraktion in den 30er Jahren auszeichneten. Und es trifft zu, daß die Fraktion jener Periode den Mischmasch, aus dem der PCInt gebildet wurde, nur verurteilt hätte. In der Tat ähnelte es der Praxis des Trotzkismus, für den die Fraktion nur die harschesten Worte übrig hatte.

In den 20er Jahren hatten sich die Linkskommunisten der opportunistischen Orientierung auf dem Dritten Kongress der Kommunistischen Internationalen widersetzt, besonders dem Bestreben, „zu den Massen zu gehen", zu einer Zeit, als die revolutionäre Welle im Rückfluß begriffen war. Diese Orientierung hatte Fusionen mit den aus den sozialistischen Parteien stammenden zentristischen Strömungen (die Unabhängigen in Deutschland, die „Terzini" in Italien, Cachin-Frossard in Frankreich etc.) und die Politik der „Einheitsfront" mit den SPs zur Folge. Dieser Methode der „breiten Sammlung", die von der KI benutzt wurde, um Kommunistische Parteien zu errichten, widersetzten sich Bordiga und die Linken, die die Methode der „Auswahl" vorzogen, die auf einer strengen und unnachgiebigen Verteidigung der Prinzipien basierte. Die Politik der KI hatte mit der Isolation und dem endgültigen Ausschluß der Linken sowie der Invasion der Partei durch opportunistische Elemente, die die besten Träger der Degeneration waren, tragische Konsequenzen.

Zu Beginn der 30er Jahre hatte die Italienische Linke, voller Vertrauen in ihre Politik der 20er Jahre, innerhalb der internationalen Linksopposition für dieselbe Rigorosität gegenüber der opportunistischen Politik Trotzkis gefochten, für den die Anerkennung der ersten vier Kongresse der KI und vor allem seine eigenen taktischen Manöver weitaus wichtigere Kriterien für die Umgruppierung waren als die Auseinandersetzungen, die innerhalb der KI gegen deren Degeneration ausgetragen wurden. Bei einer solchen Politik waren die gesundesten Elemente, die danach trachteten, eine internationale Strömung der Linkskommunisten aufzubauen, entweder korrupt, entmutigt oder zur Isolation verurteilt. Auf solch zerbrechlichem Fundament basierend, durchlitt die trotzkistische Strömung eine Krise nach der anderen, ehe sie während des Zweiten Weltkrieges mit Sack und Pack ins bürgerliche Lager wechselte. Was die Italienische Linke angeht, so war das Resultat ihrer unnachgiebigen Haltung ihr Ausschluß aus der Linksopposition 1933 mit Trotzki gewesen, der auf das Phantom einer „Neuen Italienischen Opposition" (NIO) setzte, die sich aus Elementen zusammensetzte, die an der Spitze der PCI 1930 für den Ausschluß von Bordiga aus der Partei gestimmt hatten.

1945 nahm der PCInt, sorgsam darauf bedacht, seine Mitgliederschaft so gut wie möglich zu verstärken, und mit dem Anspruch angetreten, Erbe der Linken zu sein, tatsächlich nicht die Politik letzterer gegenüber der KI und dem Trotzkismus auf, sondern genau jene Politik, die von der Linken bekämpft worden war: eine „breite" Sammlung, die auf programmatischen Zweideutigkeiten beruht, eine Umgruppierung – ohne nach irgendeiner „Rechenschaft" zu fragen – auf der Basis von Militanten und „Persönlichkeiten" (15), die sich den Positionen der Fraktion während des Krieges in Spanien widersetzt hatten, eine opportunistische Politik, die den Illusionen der Arbeiter in Partisanenverbänden und Parteien, welche längst zum Feind übergelaufen waren, schmeichelte etc. Und um diese Sammlung so vollständig wie möglich zu machen, mußte die GCF aus der internationalen linkskommunistischen Strömung ausgeschlossen werden, eben weil sie am loyalsten zum Kampf der Fraktion stand. Gleichzeitig war die einzige Gruppe, die als Repräsentant der Linkskommunisten in Frankreich anerkannt wurde, die Französische Fraktion der Kommunistischen Linken (FFGC bis). Dabei sollte man sich in Erinnerung rufen, daß diese Gruppe von drei jungen Elementen gegründet wurde, die sich im Mai 1945 von der GCF abgespalten hatten, Mitglieder der Ex-Minderheit in der Fraktion die während des Spanischen Krieges ausgeschlossen wurden, und der ehemaligen Union Communiste, die zur gleichen Zeit dem Antifaschismus anheimgefallen war (16). Gibt es nicht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dieser Haltung des PCInt und der Politik Trotzkis gegenüber der Fraktion und der NIO?

Marx schrieb, daß „Geschichte sich stets wiederholt, das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce". Ein bißchen davon trifft auf die nicht sehr glorreiche Episode der Gründung des PCInt zu. Unglücklicherweise sollten die folgenden Ereignisse zeigen, daß diese Wiederholung der von der Linken in den 20er und 30er Jahren vertretenen Politik durch den PCInt von 1945 eher dramatische Konsequenzen hatte.

Die Konsequenzen der opportunistischen Herangehensweise des PCInt

Wenn wir die Sitzungsberichte der Konferenz des PCInt von Ende 1945, Anfang 1946 lesen, sind wir lediglich von der Heterogenität beeindruckt, die hier vorherrscht.

Die Hauptführer waren sich uneinig über die Analyse der historischen Periode, die eine ganz wichtige Frage war. Damen fuhr fort, die „offizielle Position" zu vertreten: „Der neue Kurs der Geschichte des proletarischen Kampfes ist offen. Unsere Partei hat die Aufgabe, diesen Kampf in die Richtung zu lenken, die es ermöglichen wird, während der nächsten unvermeidlichen Krise dem Krieg und seinen Betreibern rechtzeitig und endgültig durch die proletarische Revolution das Handwerk zu legen" („Bericht über die internationale Situation und die Perspektiven", S. 12).

Aber gewisse Stimmen bemerkten, ohne es offen zu sagen, daß die Bedingungen für die Bildung der Partei nicht günstig waren:

„.... was heute vorherrscht, ist die ‘Kampf-bis-zum-Ende’-Ideologie der CLN und der Partisanenbewegung, und deshalb sind die Bedingungen für die siegreiche Behauptung des Proletariats nicht vorhanden. Folglich können wir den gegenwärtigen Augenblick nur als reaktionär qualifizieren" (Vercesi, „Die Partei und internationale Probleme", S. 14).

„Als Schlußfolgerung aus dieser politischen Bilanz ist es notwendig, uns selbst zu fragen, ob wir weitermachen sollen mit einer Politik der Erweiterung unseres Einflusses, oder ob uns die Situation in einer vergifteten Atmosphäre die Notwendigkeit aufzwingt, die elementaren Fundamente unserer politischen und ideologischen Abgrenzung zu schützen, die Kader ideologisch zu stärken, sie gegen die Bazillen, die man in der gegenwärtigen Umwelt einatmet, zu immunisieren und sie so auf die neuen politischen Positionen vorzubereiten, die sich ihnen morgen präsentieren. Nach meiner Auffassung sollte die Aktivität der Partei erst in zweiter Linie auf alle Bereiche gerichtet sein" (Maffi, „Politisch-organisatorische Beziehungen in Norditalien").

Mit anderen Worten, Maffi befürwortet die klassische Arbeit einer Fraktion.

In der parlamentarischen Frage sehen wir dieselbe Heterogenität:

„Daher werden wir unter einem demokratischen Regime alle Zugeständnisse, soweit diese Situation die Interessen des revolutionären Kampfes nicht beeinträchtigt, ausnutzen. Wir bleiben unwiderruflich antiparlamentarisch; aber der Sinn fürs Konkrete, der unsere Politik anregt, läßt uns jede, im voraus bestimmte abstentionistische Position ablehnen" (Damen, ebenda, S. 12).

„Maffi, der über die durch die Partei abgesegneten Schlußfolgerung hinaus ging, fragte, ob das Problem des Wahlabstentionismus in seiner alten Form (Teilnahme an den Wahlen nur, wenn die Situation sich in Richtung einer revolutionären Explosion bewegt) gestellt werden sollte, oder ob es im Gegenteil in einem Umfeld, das von Wahlillusionen korrumpiert sei, nicht besser wäre, eine klar gegen die Wahlen gerichtete Position einzunehmen. Sich nicht an die uns von der Bourgeoisie gemachten Zugeständnissen klammern (Zugeständnisse, die nicht ein Ausdruck ihrer Schwäche, sondern ihrer Stärke sind), sondern uns mit dem realen Prozeß des Klassenkampfes und unserer linken Tradition verbinden" (ebenda; S. 12)

Sollen wir noch hervorheben, daß Bordigas linke Strömung in der Italienischen Sozialistsichen Partei während des Ersten Weltkrieges als „Abstentionistische Fraktion" bekannt war?

Auch in der Gewerkschaftsfrage argumentiert der Berichterstatter Luciano Stefanini gegen die schließlich angenommene Position: „Die politische Linie der Partei in der Gewerkschaftsfrage ist noch nicht genügend deutlich. Auf der einen Seite sehen wir die Gewerkschaften als Dependancen des kapitalistischen Staates an; auf der anderen Seite laden wir die Arbeiter dazu ein, innerhalb ihrer zu kämpfen und sie von innen zu erobern, um sie zu Klassenpositionen zu bringen. Diese Möglichkeit wird jedoch durch die oben erwähnte kapitalistische Evolution ausgeschlossen. Die gegenwärtigen Gewerkschaften können ihre Physiognomie als Staatsorgan nicht ändern. Die Forderung nach neuen Massenorganen ist heute nicht gültig, aber die Partei hat die Pflicht, den Verlauf der Ereignisse vorherzusagen und den Arbeitern anzuzeigen, welche Art von Organen, die aus der Entwicklung der Situation heraus entstehen, als einheitliche Führung für das Proletariat unter der Leitung der Partei nötig sind. Die Vorstellung, Kommandostellen im gegenwärtigen Gewerkschaftsorganismus zu halten, um sie umzuwandeln, muß endgültig zu Grabe getragen werden" (S. 18/19).

Nach dieser Konferenz schrieb die GCF:

„Die neue Partei ist keine politische Einheit, sondern ein Konglomerat, eine Addition von Strömungen und Tendenzen, die es nicht fertigbringen, aufzutreten und einander zu konfrontieren. Der gegenwärtige Waffenstillstand kann nur provisorisch sein. Die Eliminierung der einen oder anderen Strömung ist unvermeidbar. Früher oder später wird sich eine politische und organisatorische Definition von allein aufdrängen" (Internationalisme, Nr. 7, Februar 1946).

Nach einer Periode der intensiven Rekrutierung begann die Phase der Definitionssuche. Ende 1946 führte die Unruhe, die im PCInt durch seine Teilnahme an Wahlen provoziert wurde (viele Militante konnten die abstentionistische Tradition der Linken einfach nicht vergessen), die Parteiführung dazu, eine Stellungnahme in der Presse mit dem Titel „Unsere Stärke" zu veröffentlichen, worin zur Disziplin aufgerufen wurde. Nach der Euphorie der Turiner Konferenz verließen viele entmutigte Militante die Partei. Eine gewisse Anzahl von Elementen spaltete sich ab, um an der Gründung der trotzkistischen POI teilzunehmen, Beweis dafür, daß es für sie keinen Platz gab in einer Organisation der Linkskommunisten. Viele Militante wurden ausgeschlossen, ohne daß die Divergenzen klar zutage traten, zumindest in der öffentlichen Presse. Eine der Förderationen spaltete sich ab, um die „Autonome Turiner Förderation" zu bilden. 1948, auf dem Florentiner Kongreß, hatte die Partei bereits die Hälfte ihrer Mitglieder und ihre Presse die Hälfte ihrer Leser verloren. Was den „Waffenstillstand" von 1946 anbetrifft, so wurde er in einen „bewaffneten Frieden" umgewandelt, den die Führer nicht zu stören versuchten, indem sie bei den Hauptdivergenzen Irreführung betrieben. So sagte Maffi, daß er „davon absieht, dieses oder jenes Problem anzusprechen, weil ich weiß, daß diese Diskussion die Partei vergiften würde". Dies hinderte den Kongreß jedoch nicht daran, die Position zu den Gewerkschaften, die anderthalb Jahre zuvor angenommen worden war (die Position von 1945, die angeblich durch so viel Klarheit glänzt), radikal in Frage zu stellen. Dieser bewaffnete Frieden führte schließlich zu einer offenen Konfrontation (besonders nachdem Bordiga 1949 der Partei beigetreten war), was 1952 in die Spaltung zwischen der Damen-Tendenz und der von Bordiga und Maffi angeregten Tendenz mündete, die der Ursprung von Programma Comunista war. Was die „Schwesterorganisationen" angeht, die der PCInt bei der Bildung eines Internationalen Büros der Kommunistischen Linken aufgezählt hat, so sind ihre Ergebnisse noch weniger beneidenswert. Die belgische Fraktion hörte mit der Veröffentlichung von L’Internationaliste 1949 auf und verschwand bald darauf; die französische Fraktion FFGC ging durch einen zweijährigen Niedergang, in dem die meisten ihrer Mitglieder sie verließen, bevor sie als die französische Gruppe der Internationalen Kommunistischen Linken wieder erschien, die sich mit der bordigistischen Strömung verband (17).

Der „größte Erfolg seit der Russischen Revolution" war also kurzlebig. Und wenn uns das IBRP zur Stärkung seiner Argumente für diesen „Erfolg" erzählt, daß der PCInt „trotz eines halben Jahrhunderts der weiteren kapitalistischen Vorherrschaft, seine Existenz fortgesetzt hat und heute wächst", vergißt es darauf hinzuweisen, daß der heutige PCInt in Bezug auf die Mitgliederschaft und auf seine Zuhörerschaft nicht viel damit zu tun hat, was er Ende des letzten Krieges dargestellt hat. Ohne lange bei Vergleichen zu verweilen, können wir sagen, daß die Größe dieser Organisation heute annähernd jener des direkten Erben der „winzigen GCF" entspricht, der französischen Sektion der IKS. Und wir wollen in der Tat glauben, daß der PCInt „heute wächst". Auch die IKS hat in der jüngsten Periode herausgefunden, daß es ein größeres Interesse an den Positionen der Kommunistischen Linken gibt, was sich insbesondere durch eine gewisse Anzahl neuer Mitglieder ausgedrückt hat. Dennoch denken wir nicht, daß das gegenwärtige Wachstum es dem PCInt ermöglichen wird, schnell auf den Mitgliederstand von 1945/46 zurückzukehren.

So reicht dieser große „Erfolg" nur bis zur nicht sehr glorreichen Situation, in der eine Organisation, die damit fortfährt, sich selbst eine „Partei" zu nennen, tatsächlich dazu gezwungen ist, die Rolle einer Fraktion zu spielen. Was viel bedenklicher ist, ist, daß heute das IBRP nicht die Lehren aus dieser Erfahrung zieht und vor allem nicht die opportunistische Methode in Frage stellt, welche einer der Gründe dafür ist, daß der „glorreiche Erfolg" von 1945 den darauf folgenden „Mißerfolg" einleitete (18).

Dieses unkritische Verhalten gegenüber den opportunistischen Abweichungen des PCInt in seinen Ursprüngen läßt uns befürchten, daß das IBRP, wenn die Klassenbewegung entwickelter als heute ist, versuchen wird, zu denselben opportunistischen Zweckmäßigkeiten Zuflucht zu nehmen, wie wir sie hervorgehoben waren. Die Tatsache, daß das Haupt-"Kriterium des Erfolgs" einer proletarischen Organisation für das IBRP die Anzahl der Mitglieder und der Einfluß ist, den sie zu einem gegebenen Augenblick hat, wobei die programmatische Strenge und die Fähigkeit, das Fundament für eine langfristige Arbeit anzulegen, außer acht gelassen werden, enthüllt die immediatistische Herangehensweise, die es gegenüber der Organisationsfrage pflegt. Und wir wissen, daß der Immediatismus der Vorraum des Opportunismus ist. Wir können auch einige andere, akutere Konsequenzen für die Unfähigkeit des PCInt hervorheben, seine Ursprünge zu kritisieren.

An erster Stelle verleitete die Tatsache, daß er (als es evident wurde, daß die Konterrevolution immer noch in Saft und Kraft war) die Gültigkeit der Gründung der Partei aufrechterhielt, den PCInt von 1945/46 dazu, die gesamte Auffassung der Italienischen Fraktion über die Beziehung zwischen Partei und Fraktion radikal zu revidieren. Für den PCInt konnte von nun an die Bildung der Partei in jedem Augenblick stattfinden, unabhängig vom Gleichgewicht der Kräfte zwischen Proletariat und Bourgeoisie (19). Dies ist die Position der Trotzkisten, nicht der Italienischen Linken, welche stets anerkannte, daß die Partei erst im Gefolge des historischen Wiedererwachens der Klasse gebildet werden kann. Aber gleichzeitig bedeutete diese Revision auch die Infragestellung der Idee, daß es bestimmte und antagonistische historische Kurse gibt: den Kurs hin zu entscheidenden Klassenkonfrontationen oder den Kurs in den Weltkrieg. Für das IBRP können diese beiden Kurse parallel verlaufen, ohne sich gegenseitig auszuschließen, was in der Unfähigkeit endet, die gegenwärtige historische Periode zu analysieren, wie wir in unserem Artikel „Die CWO und der historisch Kurs: Ein Berg von Widersprüchen" (Internationale Revue Nr. 20) aufgezeigt haben. Deshalb schrieben wir im ersten Teil des vorliegenden Artikels: „Genauer betrachtet nämlich hat die gegenwärtige Unfähigkeit des IBRP, eine Analyse des historischen Kurses herauszuarbeiten, ihre Wurzeln zu einem grossen Teil in politschen Irtümmern bezüglich der Organisationsfrage und im Speziellen in der Frage des Verhältnisses zwischen Fraktion und Partei". (Internationale Revue Nr. 22)

Hinsichtlich der Frage, ob die Erben der „winzigen GCF" da Erfolg haben, wo jene der ruhmreichen Partei von 1943-45 versagen, d.h. in der Bildung einer wirklich internationalen Organisation, schlagen wir dem IBRP vor, über folgendes nachzudenken: Die GCF, und in ihrem Kielwasser die IKS, waren bzw. sind erfolgreich, weil sie volles Vertrauen in die Herangehensweise hatten, mit der sich die Fraktion in die Lage gesetzt hatte, zur Zeit des Schiffbruchs der KI zur größten und aktivsten Strömung der Kommunistischen Linken zu werden, nämlich:

– als Fundament einer Organisation eine programmatische Strenge, die jeglichen Opportunismus, jegliche Hast, jegliche Politik der „Rekrutierung" auf wackligen Fundamenten ablehnt;

– eine klare Vorstellung von dem Begriff der Fraktion und ihrer Zusammenhänge mit der Partei;

– die Fähigkeit, die Natur des historischen Kurses korrekt zu identifizieren.

Der größte Erfolg seit dem Tod der KI (und nicht seit der Russischen Revolution) war nicht der PCInt, sondern die Fraktion. Nicht in numerischen Begriffen, sondern im Rahmen ihrer Fähigkeit, die Fundamente für die Weltpartei der Zukunft vorzubereiten, trotz ihres eigenen Verschwindens.

Im Prinzip präsentiert sich der PCInt (und nach ihm das IBRP) selbst als die politischen Erben der Italienischen Fraktion. Wir haben in diesem Artikel aufgezeigt, wie weit sich der PCInt seit seiner Gründung von der Tradition und den Positionen der Fraktion distanziert hatte. Seither hatte der PCInt eine Reihe von programmatischen Fragen geklärt, was wir als äußerst positiv ansehen. Nichtsdestotrotz erscheint es uns, daß der PCInt erst dann in der Lage ist, seinen vollen Beitrag zur Gründung der zukünftigen Weltpartei zu leisten, wenn er seine Erklärungen und seine Aktionen auf eine Linie bringt, d.h. wenn er sich die politische Herangehensweise der Italienischen Fraktion wiederaneignet. Und das bedeutet an erster Stelle, daß er sich als fähig erweist, eine ernsthafte Kritik über die Erfahrung aus der Gründung des PCInt 1943-45 zu leisten, statt sie zu rühmen und sie zum Beispiel, dem man folgen sollte, zu machen. Fabienne

Fussnoten:

 

(1) Wir nehmen an, daß der Autor des Artikels, von seinem Enthusiasmus dahingerissen, Opfer eines Schreibfehlers geworden ist und daß er eigentlich schreiben wollte „seit dem Ende der ersten revolutionären Welle und der Kommunistischen Internationalen". Wenn er es aber doch so meint, wie er schrieb, dann hätten wir gern ein paar Fragen an seine Geschichtskenntnisse und seinen Realitätssinn zu stellen: Hat er unter anderem nie von der Kommunistischen Partei Italiens gehört, welche Anfang der 20er Jahre einen viel größeren Einfluß besaß als der PCInt 1945 und gleichzeitig die Avantgarde der Internationalen in einer ganzen Reihe von politischen Fragen darstellte? Wir ziehen es jedenfalls für den Rest des Artikels vor, uns für die erste Hypothese zu entscheiden. Gegen Absurditäten zu polemisieren ist nicht in unserem Interesse.

(2) Wir erlauben uns die Bemerkung, daß während dieser Periode die IKS drei neue Territorialsektionen integrierte: in der Schweiz und in zwei Ländern der kapitalistischen Peripherie, Mexiko und Indien, Gebiete, denen das besondere Interesse des IBRP gegolten hatte (siehe insbesondere die Annahme der „Thesen über die kommunistischen Taktiken in den Ländern der kapitalistischen Peripherie" durch den 6. Kongreß des PCInt 1977).

(3) So wurde die Politik des PCInt gegenüber den Gewerkschaften formuliert: „... der substantielle Inhalt von Punkt 12 der Parteiplattform kann in folgenden Worten konkretisiert werden:

1. Die Partei strebt nach der Wiederherstellung der CGL durch den direkten Kampf des Proletariats gegen die Bosse in einzelnen und allgemeinen Klassenbewegungen.

2. Der Kampf der Partei dient nicht direkt der Spaltung der Massen von den Gewerkschaften.

3. Der Prozeß der Wiederherstellung der Gewerkschaften, der nicht ohne die Eroberung der gewerkschaftlichen Führungsorgane vonstatten gehen kann, leitet sich von einem Programm zur Organisierung des Klassenkampfes unter Führung der Partei ab."

(4) Der PCInt von heute wird durch diese Plattform von 1945 eher in Verlegenheit gebracht. Kümmerte er sich, als er 1974 dieses Dokument zusammen mit dem „Schema eines Programms", das 1944 von der Damen-Gruppe verfaßt wurde, wiederveröffentlichte, also um eine gründliche Kritik der Plattform, indem er sie dem „Schema eines Programms" gegenüberstellte, welches nicht hoch genug gelobt werden konnte? In der Einführung sagt er, daß „1945 das Zentralkomitee den Entwurf einer politischen Plattform von Genosse Bordiga erhielt, der, wir betonen, kein Mitglied der Partei war. Das Dokument, dessen Annahme in Form eines Ultimatums eingefordert wurde, wurde als unvereinbar mit den festen Positionen angesehen, welche von der Partei zu den wichtigsten Problemen eingenommen wurden, und trotz aller unternommener Modifikationen wurde das Dokument stets als Beitrag zur Debatte und nicht als De-facto-Plattform anerkannt (...) Wie wir gesehen haben, konnte das ZK das Dokument nicht akzeptieren, es sei denn als Beitrag einer einzelnen Person zur Debatte auf dem künftigen Kongreß, der, als er 1948 stattfand, die Existenz von ganz anderen Positionen erbrachte." Wir sollten noch deutlicher machen, wer genau es war, der dieses Dokument einen „Beitrag zur Debatte" nannte. Wahrscheinlich Damen und ein paar andere Militante. Sie behielten jedoch ihre Eindrücke für sich, da die Konferenz von 1945/46, d.h. die Repräsentanten der gesamten Partei eine ganz andere Position einnahmen. Das Dokument wurde einmütig als Plattform des PCInt angenommen und diente als Basis für Parteibeitritte und für die Bildung eines Internationalen Büros der Linkskommunisten. Tatsächlich wurde das „Schema eines Programms" für die Diskussion auf dem nächsten Kongreß aufgehoben. Und wenn die Genossen des IBRP wieder einmal denken, daß wir lügen, dann sollten sie in den mündlichen Sitzungsberichten der Turiner Konferenz Ende 1945 nachschlagen. Wenn etwas lügnerisch ist, dann die Art, in der der PCInt seine „Version" der Dinge 1974 darstellt. Tatsächlich ist der PCInt über gewisse Aspekte seiner eigenen Geschichte so wenig stolz, daß er es notwendig findet, sie ein bißchen zu verschönern. Angesichts dieser Feststellung können wir uns fragen, warum der PCInt es zuließ, sich irgendeinem „Ultimatum" zu unterwerfen, wo es doch von jemand stammte, der nicht einmal Parteimitglied war.

(5) Wie wir im ersten Teil dieses Artikels gesehen haben, zog die Italienische Fraktion auf ihrer Konferenz vom August 1943 die Schlußfolgerung, daß „mit dem durch die August-Ereignisse in Italien eröffneten Kurs nun der Weg frei ist für die Umwandlung der Fraktion in eine Partei". Die GCF griff bei ihrer Gründung 1944 dieselbe Analyse auf.

(6) Wir haben in unserer Presse bei einer Reihe von Gelegenheiten gezeigt, woraus diese systematische Politik der Bourgeoisie bestand – wie diese Klasse, die Lehren aus dem ersten Krieg ziehend, systematisch die Arbeit aufteilte, indem sie den besiegten Ländern die „schmutzige Arbeit" überließ (Repression gegen die Arbeiterklasse in Norditalien, die Niederschlagung des Warschauer Aufstandes etc.), während die Sieger gleichzeitig die Arbeiterkonzentrationen in Deutschland systematisch bombardierten, die besiegten Länder besetzten, um sie zu überwachen, und noch etliche Jahre nach Kriegsende Kriegsgefangene interniert hielten.

(7) Die GCF und die IKS haben oft die von Damen vertretenen Positionen genauso wie seine politischen Methoden kritisiert. Dies ändert nichts an unserer Hochachtung gegenüber der Tiefe seiner kommunistischen Überzeugung, seiner militanten Energie und seinem großen Mut.

(8) „Arbeiter! Setzt dem Schlachtruf des Nationalkrieges, der die italienischen Arbeiter gegen die deutschen und englischen Arbeiter bewaffnet, den Schlachtruf der kommunistischen Revolution entgegen, der die Arbeiter der gesamten Welt gegen ihren gemeinsamen Feind vereint: den Kapitalismus." (Prometeo, Nr. 1, 1. November 1943) „Dem Aufruf des Zentrismus (so nannte die Italienische Linke den Stalinismus), in die Partisanenbanden einzutreten, müssen wir mit unserer Präsenz in den Fabriken entgegentreten, und nur von hier kommt die Klassengewalt her, die die wesentlichen Zentren des kapitalistischen Staates zerstören wird." (Prometeo, 4. März 1944)

(9) Mehr über das Verhalten des PCInt gegenüber den Partisanen in „The ambiguities of the Internationalist Communist Party over the ‘partisans’ in Italy in 1943", International Review, Nr. 8 (engl./franz. Ausgabe).

(10) In der International Review Nr. 32 (engl./franz./span. Ausgabe) veröffentlichten wir den vollständigen Text dieses Appells wie auch unseren Kommentar dazu.

(11) Wir sollten unterstreichen, daß in dem Brief, den der PCInt der SP als Antwort auf deren Reaktion auf den Appell schickte, der PCInt diese sozialdemokratischen Schurken in der Anrede „liebe Genossen" nannte. Nicht gerade die beste Art, die Verbrechen zu demaskieren, die diese Parteien gegen das Proletariat seit dem Ersten Weltkrieg und der ihm folgenden revolutionären Welle begangen hatten. Aber ein exzellenter Weg, den Illusionen der Arbeiter, die ihnen noch folgten, zu schmeicheln.

(12) siehe den ersten Teil dieses Artikels in Internationale Revue Nr. 22;

(13) Es ist wert, über dieses Thema andere Passagen zu zitieren, die vom PCInt verfaßt wurden: „Die vom Genossen Perrone (Vercesi) zum Ausdruck gebrachten Positionen sind freie Ausdrücke einer sehr persönlichen Erfahrung und einer auf Phantasie basierenden politischen Perspektive, welche nicht als massgebend für eine Kritik der Gründung des PCInt verwendet werden können." (Prometeo, Nr. 18, 1972) Das Problem ist, daß diese Positionen im Bericht über „Die Partei und internationalen Probleme" zum Ausdruck kamen, welcher der Konferenz durch das Zentralkomitee, dessen Mitglied Vercesi war, vorgestellt wurde. Das Urteil der Militanten von 1972 über ihre Partei 1945/46 ist wahrlich hart, eine Partei, deren Zentralorgan einen Bericht präsentiert, in dem egal was gesagt werden kann. Wir nehmen an, daß nach diesem Artikel der Autor ernsthaft dafür gemaßregelt wird, daß er den PCInt von 1945 „verleumdet" hat, anstatt die Schlußfolgerung zu wiederholen, die O. Damen aus der Diskussion über den Bericht gezogen hatte: „Es gab keine Divergenzen, sondern eine besondere Sensibilität, die eine organische Klärung dieser Probleme erlaubt." (Sitzungsberichte, S. 16) Es trifft zu, daß derselbe Damen später entdeckte, daß diese „besondere Sensibilität" „pervertierte Positionen" waren und daß „organische Klärung" die „Trennung von dem toten Stamm" bedeutete. Einerlei, lang lebe die Klarheit von 1945!

(14) Über die Minderheit in der Fraktion 1936 siehe den ersten Teil dieses Artikels in Internationale Revue Nr. 22

(15) Es ist klar, daß einer der Gründe, warum der PCInt von 1945 der Integration von Vercesi zustimmte, ohne ihn aufzufordern, Rechenschaft über seine vergangenen Aktivitäten abzulegen, und warum er es zuließ, daß Bordiga sich in der Frage der Plattform „durchsetzte", darin liegt, daß er mit dem Prestige dieser beiden „historischen" Führer rechnete, um ein Maximum an Arbeitern und Militanten anzuziehen. Bordigas Feindschaft hätte den PCInt die Gruppen und Elemente in Süditalien gekostet, Vercesis Feindschaft die belgische Fraktion und die FFGC bis.

(16) Über diese Episode siehe den ersten Teil dieses Artikels.

(17) Wir können daher daran festhalten, daß die „winzige GCF", die mit soviel Geringschätzung behandelt und sorgfältig von den anderen Gruppen ferngehalten wurde, noch länger überlebte als die belgische Fraktion und die FFGC bis. Bis zu ihrem Verschwinden 1952 veröffentlichte sie 46 Ausgaben von Internationalisme, ein unschätzbares Erbe, worauf die IKS errichtet wurde.

(18) Es trifft zu, daß die opportunistische Methode nicht die einzige Erklärung für den Einfluß ist, den der PCInt 1945 erreichen konnte. Es gibt zwei fundamentale Ursachen dafür:

* Italien war das einzige Land, das eine wirkliche und mächtige Bewegung der Arbeiterklasse während des imperialistischen Krieges und gegen ihn erblickte.

* Die Linkskommunisten hatten, da sie sich die Führung der Partei bis 1925 angeeignet hatten und weil Bordiga der Hauptgründer dieser Partei war, ein Prestige unter den Arbeitern Italiens, das in keinem Vergleich stand zu jenem in anderen Ländern.

Andererseits liegt eine der Ursachen für die numerischen Schwächen der GCF gerade in der Tatsache, daß es in der Arbeiterklasse Frankreichs keine Tradition des Linkskommunismus gab und daß erstere nicht in der Lage gewesen war, sich während des Krieges zu erheben. Da ist auch die Tatsache, daß die GCF jedes opportunistische Verhalten bezüglich der Illusionen der Arbeiter in die „Befreiung" und die Partisanen vermied. Hier folgte sie dem Beispiel der Fraktion 1936 angesichts des Spanischen Krieges, der sie der Isolation überließ, wie sie in Bilan Nr. 36 selbst bemerkte.

(19) Zu dieser Frage siehe insbesondere die Broschüre „Das Verhältnis Fraktion – Partei in der marxistischen Tradition"

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Bordigismus [139]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Französische Kommunistische Linke [149]

Theoretische Fragen: 

  • Partei und Fraktion [163]

Resolution zur internationalen Lage 1999

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Internationale Revue 24

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13. Kongress der IKS

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Die gewachsene Verantwortung der Revolutionäre gegenüber der zugespitzten historischen Lage

Die IKS hat Ende März/Anfang April ihren 13. Kongress in einem historischen Augenblick abgehalten, wo sich die Geschichte beschleunigt, und wo der todgeweihte Kapitalismus eine der schwierigsten und gefährlichsten Phasen der modernen Geschichte durchläuft. Die Tragweite, die diese Periode kennzeichnet, ist vergleichbar mit denen der beiden Weltkriege, dem Entstehen der proletarischen Revolution 1917-1919 oder der großen Depression 1929. Der Ernst der Lage wird durch eine Verschärfung der Widersprüche auf allen Ebenen geprägt:

- Zuspitzung der imperialistischen Spannungen und Entfaltung des weltweiten Chaos,

- eine sehr fortgeschrittene und gefährliche Phase der Krise des Kapitalismus,

- Angriffe gegen die internationale Arbeiterklasse, wie es sie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr gegeben hatte,

- ein beschleunigter Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft.

Die IKS, die sich über die gewaltige Verantwortung bewusst ist, welche durch diese Lage auf den Schultern des Proletariats lastet, hat die Debatten ihres Kongresses darauf ausgerichtet, die Perspektiven mit der in dieser historischen Situation erforderlichen größtmöglichen Klarheit aufzuzeigen. Nur indem die Arbeiterklasse ihre Kampfbereitschaft und ihr Bewusstsein entfaltet, kann sie die revolutionäre Alternative aufzeigen, die einzig und allein dazu in der Lage ist, das Überleben der Menschheit zu garantieren. Aber die größte Verantwortung lastet auf den Schultern der Kommunistischen Linken, auf den Organisationen des proletarischen Lagers. Nur sie können die theoretischen und historischen Lehren sowie die marxistische Methode vermitteln, die für die revolutionären Minderheiten unabdingbar sind, welche heute im Entstehen begriffen sind, damit sie am Aufbau der zukünftigen Klassenpartei mitwirken können. In gewisser Hinsicht ist die Kommunistische Linke heute wie seinerzeit BILAN in den 30er Jahren[i] [164] dazu gezwungen, eine bislang noch nicht dagewesene, neue historische Situation zu begreifen. Diese Herausforderung verlangt sowohl eine weitreichende Übernahme der theoretischen und historischen Herangehensweise des Marxismus wie auch revolutionäre Kühnheit, um die neue Lage zu begreifen, die mit den Schemen der Vergangenheit nicht so einfach verstanden werden kann.

Diese Verantwortung hat die IKS auf ihrem 13. Kongress vor Augen gehabt, damit wir in der Lage sind, durch unsere Analysen, unsere Positionen und unsere Intervention zur proletarischen Antwort gegenüber der ganzen Tragweite der Weltlage am Vorabend des nächsten Jahrtausends beizutragen.

Die internationale Lage: eine sich verstärkende Tendenz zum Chaos

Die Debatten über die Analyse und Perspektiven der internationalen Situation waren die zentrale Achse unseres 13. Kongresses (siehe dazu die ”Resolution zur Internationalen Situation” – Internationale Revue Nr. 23). Und das durfte nicht anders sein. Kurz vor unserem Kongress war der neue Balkankrieg ausgelöst worden.[ii] [164] Der Kongress hob klar hervor, dass dieser neue Krieg das wichtigste Ereignis seit dem Zusammenbruch des Ostblocks Ende der 80er Jahre auf imperialistischer Ebene darstellte. Der jetzige Krieg und seine destabilisierenden Wirkungen auf europäischer Ebene und gar weltweit verdeutlichen erneut das Dilemma, vor dem heute die USA stehen. Die Tendenz des ”jeder für sich” und die immer deutlichere Formulierung der imperialistischen Ansprüche ihrer ehemaligen Verbündeten haben die USA zunehmend dazu gezwungen, ihre gewaltige militärische Überlegenheit zur Schau zu stellen und einzusetzen. Gleichzeitig kann diese Politik nur zu einer noch größeren Zuspitzung des schon vorhandenen weltweiten Chaos führen.

So unterstrich der Kongress, dass der Krieg im ehemaligen Jugoslawien der klarste Ausdruck einer neuen Etappe der Entfaltung der Irrationalität des Krieges im dekadenten Kapitalismus mit sich bringt, die direkt mit der Zerfallsphase des Systems verbunden ist. Dies bestätigt eine grundlegende These des Marxismus hinsichtlich der Entwicklung des Kapitalismus im 20. Jahrhundert, wonach in der Niedergangsphase des Kapitalismus der Krieg zu seiner Überlebensform geworden ist.

Solch eine Zuspitzung des Chaos, begleitet von einer ständigen Auseinandersetzung zwischen den Großmächten, wird durch die Beschleunigung der kapitalistischen Krise noch verschärft. Die Krise, die Ende der 60er Jahre wieder ausbrach, nachdem die Wiederaufbauperiode nach dem 2. Weltkrieg zum Abschluss kam, hat sich seitdem immer mehr vertieft. Anfang der 90er Jahre versuchte die Bourgeoisie dieses Phänomen zu vertuschen, als sie den Zusammenbruch des Ostblocks als den endgültigen Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus verkaufen wollte. In Wirklichkeit war der Bankrott des Ostblocks eine Schlüsselphase der Vertiefung der kapitalistischen Weltkrise. Er hat den Bankrott eines bürgerlichen Krisenverwaltungssystems offenbart: des Stalinismus. Seitdem haben alle ”Wirtschaftsmodelle” eins nach dem anderen ins Gras gebissen, angefangen bei der zweiten und dritten Industriemacht der Erde: Japan und Deutschland. Ihnen folgten der Absturz der ”Tiger” und ”Drachen” Asiens und der ”Schwellenländer” Lateinamerikas. Der offene Bankrott Russlands hat die Unfähigkeit des ”westlichen Liberalismus” bloßgelegt, Osteuropa wieder auf die Beine zu bringen. Die Bourgeoisie hat diese Wirtschaftskatastrophe als besonders schmerzhaft dargestellt, die jedoch nur eine begrenzte, aufgrund von Besonderheiten nur konjunkturelle Erscheinung sei. In Wirklichkeit aber sind diese Länder in eine in jeder Hinsicht so brutale und zerstörerische Depression hineingerutscht wie die der 30er Jahre. Und dies ist nur das Vorspiel für eine neue, weltweite offene Rezession.

Hinsichtlich des Klassenkampfes hat unser Kongress hervorgehoben, dass die Arbeiterklasse historisch nicht geschlagen ist, auch wenn der Zerfall, der durch die Sackgasse hervorgerufen wird, in der der Kapitalismus steckt, ein großes Gewicht ausübt, und auch wenn die Arbeiterklasse einen historischen Rückschlag erlitten hat, der durch den Zusammenbruch des russischen Blocks 1989 auf  Bewusstseinsebene und hinsichtlich der  Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse eingetreten ist – wobei die Weltbourgeoisie den Zusammenbruch des russischen Blocks so dargestellt hat, als ob damit die Perspektive des Kommunismus gestorben sei. Obgleich die Zeit nicht zugunsten der Arbeiterklasse wirkt, da sie die Ausbreitung all der Zerfallserscheinungen einer verfaulenden Gesellschaft nicht verhindern kann, können wir am Ende dieses Jahrzehnts wieder Anzeichen einer ansteigenden Kampfbereitschaft feststellen. Um dieser entgegenzutreten, mussten die Gewerkschaften wieder anfangen, die Kampfbewegungen zu isolieren und zu sabotieren, und die Bourgeoisie muss erneut die Politik des black-outs der Kämpfe auf internationaler Ebene betreiben, um das ”schlechte Beispiel” von Arbeiterkämpfen nicht weiter zu verbreiten.

Aber trotz der Schwierigkeiten, die weiterhin auf der Arbeiterklasse aufgrund des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft lasten, urteilte der 13. Kongress der IKS, dass es langfristig viele besonders günstige Faktoren für ein neues Entfalten des Bewusstseins der Arbeiterklasse gibt:

- das fortgeschrittene Stadium der Krise selber, die das Nachdenken innerhalb der Arbeiterklasse über die Notwendigkeit, dem System entgegenzutreten und es zu überwinden, fördert;

- der immer massivere, gleichzeitige und generalisierte Charakter der Angriffe, der die Notwendigkeit einer breiten, umfassenden Klassenreaktion aufwirft;

- der Krieg wird allgegenwärtig. Er zerstört die Illusionen über einen ”friedlichen” Kapitalismus. Der jetzige Balkankrieg, der in der Nähe der wichtigsten Zentren des Kapitalismus stattfindet, wird das Bewusstsein der Arbeiter wesentlich beeinflussen, da er die katastrophalen Perspektiven des Kapitalismus für die Menschheit entlarvt;

- die Verstärkung der Kampfbereitschaft einer unbesiegten Klasse, die mehr gegen die Verschlechterung ihrer Existenzbedingungen ankämpfen wird;

- eine neue Generation von Arbeitern wird sich in den Kampf einreihen, deren Kampfbereitschaft ungebrochen ist, und die aus den Erfahrungen der Kämpfe seit 68 lernen kann;

- das Auftauchen von Diskussionszirkeln oder von fortgeschrittenen Arbeiterkernen, die versuchen werden, sich die unmittelbare und historische Erfahrung der Arbeiterbewegung anzueignen. Auf dem Hintergrund solch einer Perspektive lastet auf den Schultern der Kommunistischen Linken eine viel größere Verantwortung als in den 30er Jahren. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass die Bourgeoisie sich voll der Gefahr bewusst ist, dass die Arbeiterklasse ihre Geschichte aufarbeitet, und sie deshalb eine Verleumdungskampagne gegen die Geschichte und die jetzige Rolle ihres Klassenfeindes angeleiert hat.

Besorgt über die Gefahr, die von der Arbeiterklasse ausgeht, hat die herrschende Klasse in 13 von 15 Ländern der Europäischen Union sowie in den USA die Sozialdemokratie die Regierungsgeschäfte übernehmen lassen. Sie beabsichtigt damit, die Wahlmystifizierung und die ”demokratische Alternative” aufzupäppeln, nachdem die Rechten jahrelang an der Regierung waren, insbesondere in Schlüsselländern wie Deutschland und Großbritannien. Aber darüber hinaus und vor allem besitzt die Linke den Vorteil gegenüber der Rechten, die notwendige Intensivierung der Angriffe gegen die Arbeiter auf eine geschicktere und weniger provozierende Art durchzusetzen.

Schlussendlich hat der 13. Kongress betont, wenn heute die linken Parteien die meisten Regierungen bilden, zeigt dies, in welchem Maße die Bourgeoisie sich der Gefahr bewusst ist, die von einer Arbeiterklasse ausgeht, welche ihre historische Rolle kennt, was für sie jeweils ein Anlass war, all diese präventiven Aktionen einzuleiten, um die aufsteigende Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse zu untergraben.

Die Aktivitäten der IKS werden durch die neue Periode geprägt

Der 13. Kongress der IKS hat eine Bilanz unserer Aktivitäten erstellt auf dem Hintergrund einer historisch noch nie dagewesenen Lage, die sich als besonders schwierig und gefährlich erweist, und wo die Großmächte ihr mörderisches Arsenal mitten im Herzen Europas einsetzen.

Der 13. Kongress zog eine sehr positive Bilanz unserer Aktivitäten. Das ist keine Selbstbeweihräucherung, sondern eine objektive und kritische Einschätzung unserer Aktivitäten. Der 12. Kongress hatte beschlossen, dass die IKS wieder ein Gleichgewicht ihrer Aktivitäten herstellen müsse, nachdem wir drei Jahre lang einen Kampf für die Wiederherstellung unseres Organisationsgewebes geführt hatten. Gemäß dem Mandat des 12. Kongresses wurde diese ”Normalisierung” unserer Aktivitäten konkretisiert durch:

- eine Öffnung hin zum proletarischen politischen Milieu und hin zu den Kontakten, während wir gleichzeitig den Kampf gegen die parasitären Gruppen und Elemente fortgesetzt haben;

- eine theoretisch-politische Verstärkung, die Entwicklung der Fähigkeit, unserer Propaganda eine historische Dimension zu verleihen, indem wir uns auf den Marxismus und die Erfahrung der Klasse stützen;

- eine Verstärkung des ”Parteigeistes”, weil wir nur so die revolutionäre Organisation verstärken können.

Die Verstärkung der Organisation wurde ebenso belegt durch die Fähigkeit der IKS, neue Militante in sieben territorialen Sektionen integrieren zu können (insbesondere in unserer Sektion in Frankreich). So widerlegt die numerische Verstärkung der IKS (die sich fortsetzen wird, wie durch die Wünsche weiterer Sympathisanten, die sich jüngst um eine Mitgliedschaft beworben haben) all die Verleumdungen des parasitären Milieus, das unsere Organisation beschuldigt, zu einer ”auf sich selbst zurückgezogenen Sekte” geworden zu sein. Im Gegensatz zu den Verleumdungen unserer Kritiker hat der Kampf unserer Organisation um die Verteidigung des Parteigeistes die Leute, die nach Klassenpositionen suchen, nicht abgeschreckt, sondern im Gegenteil ihre Annäherung und politische Klärung ermöglicht.

Die IKS hat eine ernsthafte und klare, auf einer langfristigen Sicht aufgebauten Intervention mit dem Ziel der Annäherung an die Gruppen des proletarischen politischen Milieus fortgesetzt. Diese Ausrichtung wurde auf die Kontakte und Sympathisanten erweitert, auf deren Sorgen und Fragestellungen wir ernsthaft und vertiefend eingehen müssen, und denen es möglich gemacht werden soll, ihr mangelndes Begreifen und Misstrauen gegenüber der Rolle der revolutionären Organisationen zu überwinden. Diese Orientierung der IKS ist nicht auf irgendeine grössenwahnsinnige Auffassung zurückzuführen, sondern eine historische Notwendigkeit, die erforderlich macht, dass die Arbeiterklasse und die revolutionären Minderheiten an ihrer Seite ihre Pflicht erfüllen.

Die Verteidigung des proletarischen Milieus verlangte ebenso einen Kampf gegen die Konteroffensive der parasitären Elemente. So haben wir zwei Broschüren mit dem Titel Die angebliche Paranoia der IKS veröffentlicht und eine öffentliche ”internationale” Diskussionsveranstaltung zur Verteidigung der Organisation  abgehalten. An dieser haben sich mehrere unserer Kontakte beteiligt. So hat die Organisation die Frage des politischen Parasitismus vertiefen können. Dazu haben wir die ”Thesen zum politischen Parasitismus” verabschiedet und veröffentlicht, die ein Instrument zum historischen und theoretischen Begreifen der Gruppen des Milieus darstellen. Die Verteidigung des proletarischen Milieus hieß ebenso, dass die IKS die Haltung verstärkt, Diskussionen und die Annäherung voranzutreiben,  wobei wir mit anderen Gruppen dieses Milieus gemeinsame Interventionen gegenüber den antikommunistischen Kampagnen, die die Bourgeoisie anlässlich des 80. Jahrestages der Oktoberrevolution entfaltete, durchgeführt haben. Diese Arbeit wurde ebenso konkretisiert durch die Interventionen gegenüber dem politischen Milieu, das sich in Russland entfaltet.

Der 13. Kongress beschloss, dass die Intervention gegenüber dem ”politischen Sumpf” entschlossener von der Organisation angegangen werden muss. Dieses unbestimmte ”Niemandsland” zwischen Bourgeoisie und Proletariat ist das unvermeidbare Durchgangslager aller Elemente der Klasse, die sich hin zu einer Bewusstwerdung entwickeln. Deshalb ist der ”politische Sumpf” eine besondere Zielscheibe der Aktivitäten der Parasiten, mit denen sozusagen ein Wettlauf um die Zeit stattfindet. Auch darf die Organisation nicht erwarten, dass die ”suchenden Elemente” uns ”entdecken”, um Interesse an uns zu finden. Im Gegenteil muss die Organisation sich an diese ”suchenden Elemente” wenden und den Kampf gegen die Bourgeoisie im Sumpf selber führen.

Diese Verstärkung unserer Auffassung vom proletarisch politischen Milieu ist ein Ergebnis der politischen und theoretischen Verstärkung. Der Kongress unterstrich, dass die politisch-theoretische Verstärkung nicht als ein ”abgesondertes” Feld, als ein ”eigenständiger” oder ”zusätzlicher” Aufgabenbereich aufgefasst werden soll. In der gegenwärtigen historischen Lage und ausgehend von den langfristigen Perspektiven der Aktivitäten der revolutionären Organisation ist die politisch-theoretische Verstärkung ein Aspekt, der unsere Aktivitäten, unser Nachdenken und unsere Entscheidungen inspirieren und deren Grundlage darstellen muss.

Die positive Bilanz unserer Aktivitäten stützt sich auf eine klarere Auffassung darüber, dass  Organisationsfragen gegenüber anderen Aspekten unserer Aktivitäten ausschlaggebend sind. Deshalb ist sich die IKS bewusst, dass wir unsere Anstrengungen und unseren Kampf für das Erlangen des ”Parteigeistes” fortsetzen müssen, insbesondere indem wir gegen die Auswirkungen der herrschenden Ideologie auf das militante Engagement ankämpfen müssen. Während der letzten 25 Jahre hat die IKS die Folgen des Bruchs der organischen Kontinuität mit den revolutionären Organisationen der Vergangenheit ertragen müssen. Obgleich wir eine positive Bilanz aus dieser Erfahrung ziehen, wissen wir, dass die Errungenschaften in diesem Bereich nie endgültig sind; vor allem in der Zeit des Zerfalls, wenn die Bemühungen der Organisation, mit Parteigeist zu funktionieren, von den Tendenzen der Gesellschaft des ”jeder für sich”, des Nihilismus, der Irrationalität ständig untergraben werden, was sich in der Organisation durch Phänomene wie Individualismus, Misstrauen, Demoralisierung, Immediatismus, Oberflächlichkeit äußert.

Der 13. Kongress hat die Orientierung der Aktivitäten der IKS (Presse, Vertrieb, öffentliche Diskussionsveranstaltungen und Permanenzen) in die Perspektive eingebettet, dass wir auf der einen Seite von einer Zunahme der zerstörerischen Auswirkungen des Zerfalls ausgehen, auf der anderen Seite aber auch eine Beschleunigung der Geschichte erwarten, die sich durch eine Zuspitzung der Krise des Kapitalismus und wiedererstarkende Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse äußert. Die IKS und mit uns das gesamte proletarische Milieu ist durch diesen Kongress besser gerüstet, um sich den historischen Herausforderungen zu stellen.      

IKS



[i] [164] Revue der Kommunistischen Linken Italiens in den 30er Jahren – siehe unsere Broschüre /Buch ”Die Italienische Kommunistische Linke”

[ii] [164] Siehe unser internationales Flugblatt, das in allen Ländern, wo es IKS-Sektionen gibt, sowie in Kanada, Australien und Russland verteilt wurde. Siehe ebenso den Artikel in dieser Ausgabe zur Intervention der anderen Gruppen des proletarischen politischen Milieus.

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [146]

Deutsche Revolution VIII

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Der Kapp-Putsch 1920

Die Rechten greifen an, die Demokratie fügt den Arbeitern die Niederlage bei

In der Internationalen Revue Nr. 19 haben wir aufgezeigt, dass die Arbeiterklasse 1919 nach dem Scheitern des Januaraufstands in einer Reihe von zerstreuten Kämpfen schwerwiegende Niederlagen hinnehmen musste. Mit der blutrünstigsten Gewalt schlug die herrschende Klasse in Deutschland gegen die Arbeiter zu.

1919 war der Spitze der revolutionären Welle überschritten. Und nachdem die Arbeiterklasse in Russland gegenüber dem Ansturm der konterrevolutionären Truppen, die die demokratischen Staaten gegen Russland organisiert hatten, isoliert blieb, wollte in Deutschland die Bourgeoisie die Arbeiterklasse, die durch die 1919 erlittenen Niederlagen angeschlagen war, weiter angreifen und vollständig auf den Boden werfen.

Die Arbeiterklasse sollte die Kosten des Krieges tragen

Nach dem Desaster des Krieges, als die Wirtschaft dabei war zusammenzubrechen, wollte die herrschende Klasse die Situation ausnutzen, um der Arbeiterklasse die ganzen Kosten des Krieges aufzubürden. In Deutschland waren zwischen 1913 und 1920 die Ernten in der Landwirtschaft und die industrielle Produktion um mehr als die Hälfte gefallen. Von der vorhandenen Produktion sollte noch ein Drittel an die Siegerländer abgeführt werden. In vielen Wirtschaftszweigen brach die Produktion weiter zusammen. Unterdessen schossen die Preise rasant in die Höhe; betrugen die Lebenshaltungskosten 1913 100 Einheiten, waren sie 1920 auf 1.100 Einheiten. Nach dem Hungern im Krieg stand jetzt wieder der Hunger im ‘Frieden’ auf dem Programm. Die Unterernährung dehnte sich weiter aus. Chaos und Anarchie der kapitalistischen Produktion, Verarmung und Hunger in den Reihen der Arbeiter herrschten überall.

Die Bourgeoisie setzt den Versailler Vertrag zur Spaltung der Arbeiterklasse ein

Gleichzeitig wollten die Siegermächte des Westens die deutsche Bourgeoisie als Verlierer des Krieges zur Kasse bitten. Zu dem Zeitpunkt bestanden jedoch große Interessensgegensätze zwischen den Siegermächten.

Während die USA daran interessiert waren, dass Deutschland als Gegenpol gegen England wirken könnte und sich deshalb gegen eine Zerschlagung Deutschlands stellten, wollte Frankreich die möglichst nachhaltigste militärische, wirtschaftliche und territoriale Schwächung und gar eine Zerstückelung Deutschlands. Im Versailler Vertrag (28. Juni 1919) wurde deshalb beschlossen, dass in Deutschland das Militär bis zum 10. April 1920 von 400.000 auf 200.000 Mann, bis 10. Juli auf 100.000 Mann reduziert werden solle. Von 24.000 Offizieren würden nur 4.000 in die neue republikanische Armee, die Reichswehr, übernommen werden. Die Reichswehr fasste diesen Beschluss als eine lebensgefährliche Bedrohung für sie auf und wollte sich mit allen Mitteln dagegen zur Wehr setzen. Unter allen bürgerlichen Parteien – von SPD über Zentrum bis zu den Rechten– herrschte Einigkeit, dass der Versailler Vertrag wegen nationalen Interessen verworfen werden sollte. Nur aufgrund des von den Siegermächten ausgeübten Zwangs beugten sie sich. Gleichzeitig benutzte die Bourgeoisie den Versailler Vertrag dazu, die schon im Krieg vorhandene Spaltung in der internationalen Arbeiterklasse noch weiter zu vertiefen: in Arbeiter der Siegermächte und der Verliererstaaten.

Vor allem große Teile des Militärs fühlten sich durch den Versailler Vertrag bedroht und wollten sofort ihren Widerstand organisieren. Erneut strebten sie einen Krieg mit den Siegermächten an. Dazu musste aber der Arbeiterklasse eine weitere entscheidende Niederlagen schnell beifügt werden.

Aber das Großkapital wollte die Militärs nicht an die Macht kommen lassen. Die SPD hatte bislang an der Spitze des Staates ganze Arbeit geleistet. Seit 1914 hatte sie die Arbeiterklasse gefesselt, in den revolutionären Kämpfen im Winter 1918/1919 die Sabotage und Repression organisiert. Das Kapital brauchte nicht die Militärs, um seine Herrschaft aufrechtzuerhalten, es hatte die Diktatur der Weimarer Republik und setzte weiter auf sie. So schossen von der SPD befehligte Polizeitruppen am 13. Januar 1920 auf eine Massendemo vor dem Reichstag. 42 Tote blieben auf der Strecke. In einer Streikwelle im Ruhrgebiet Ende Februar wurde von der ‘demokratischen Regierung’ die Todesstrafe gegen revolutionäre Arbeiter angedroht.

Als im Februar Teile des Militärs Putschbestrebungen in Gang setzten, wurden diese deshalb nur von wenigen Kapitalfraktionen gestützt. Vor allem der agrarische Osten bildete ihren Stützpunkt, da er besonders stark an einer Rückeroberung durch den Krieg verloren gegangener Gebiete interessiert war.

Der Kapp-Putsch Die Rechten greifen an ...

Dass ein Putschversuch in Vorbereitung war, pfiffen die Spatzen von den Dächern. Aber die SPD-geführte Regierung unternahm zunächst nichts gegen diese Bestrebungen. Am 13. März zog eine ‘Marine-Brigade’ unter dem Kommando des Generals von Lüttwitz in Berlin ein, umstellte das Regierungsgebäude und rief den Sturz der Ebert-Regierung aus. Nachdem Ebert die Generale Seeckt und Schleicher um sich versammelte, um mit ihnen die Niederschlagung des rechtsradikalen Putsches durch die SPD-geführte Regierung zu besprechen, weigerten sich die Militärs, denn wie der oberste Militärchef sagte: ‘Die Reichswehr will keinen ‘Bruderkrieg’ Reichswehr gegen Reichswehr zulassen’.

Die Regierung floh zunächst nach Dresden und dann nach Stuttgart. Zwar erklärte Kapp die bürgerliche Regierung für abgesetzt, aber sie wurde nicht einmal verhaftet. Vor ihrer Flucht nach Stuttgart konnte die Regierung noch einen Aufruf zum Generalstreik erlassen, der ebenfalls von den Gewerkschaften unterstützt wurde, und zeigte damit erneut, wie heimtückisch dieser linke Flügel des Kapitals gegen die Arbeiter vorzugehen verstand.

”Kämpft mit jedem Mittel um die Erhaltung der Republik. Lasst allen Zwist beiseite! Es gibt nur ein Mittel gegen die Diktatur Wilhelm II.:

- Lahmlegung jeden Wirtschaftslebens

- Keine Hand darf sich nicht mehr rühren

- Kein Proletarier darf der Militärdiktatur helfen

- Generalstreik auf der ganzen Linie

- Proletarier vereinigt Euch. Nieder mit der Gegenrevolution.

Die sozialdemokratischen Mitglieder der Regierung: Ebert, Bauer, Noske,

Der Parteivorstand der SPD– O. Wels”

Gewerkschaften und SPD traten sofort für den Schutz der bürgerlichen Republik ein – auch wenn sie dabei eine ‘arbeiterfreundliche Sprache’ benutzten.[i] [165] Kapp erklärte die Nationalversammlung für aufgelöst, kündigte Neuwahlen an und drohte jedem streikenden Arbeiter mit der Todesstrafe.

Die Reaktion der Arbeiterklasse:  Der bewaffnete Abwehrkampf

Die Empörung unter den Arbeitern war riesig. Ihnen war sofort klar, dass es sich um einen Angriff gegen die Arbeiterklasse handelte. Überall entflammte heftigster Widerstand. Natürlich ging es nicht darum, die für abgesetzt erklärte, verhasste Scheidemann-Regierung zu verteidigen, die vorher so blutig gegen die Arbeiterklasse gewütet hatte.

Von der Waterkant über Ostpreußen, Mitteldeutschland, Berlin, Baden-Württemberg, Bayern bis zum Ruhrgebiet, keine Großstadt, in der es nicht Demonstrationen gab, kein Industriezentrum, wo nicht die Arbeiter in den Streik traten und versuchten, Polizeistationen zu stürmen und sich zu bewaffnen. Keine Fabrik, wo es keine Vollversammlung gab, um über den Widerstand zu entscheiden. In den meisten Großstädten fingen die putschistischen Truppen oder die Reichswehr an, auf demonstrierende Arbeiter zu schießen. Dutzende von Arbeitern fielen am 13. und 14. März unter den Schüssen der Putschisten.

In den Industriezentren wurden Aktionsausschüsse, Vollzugsräte, Arbeiterräte gebildet. Die Arbeitermassen strömten auf die Straße.

Seit dem November 1918 war die Mobilisierung der Arbeiter noch nie so stark gewesen.

Überall bäumte sich die heftigste Wut der Arbeiter gegen die rechten Militärs gleichzeitig auf.

Am 13. März, dem Tag des Einmarsches der Kapp-Truppen in Berlin, reagierte die KPD-Zentrale in Berlin mit Abwarten. In einer ersten Stellungnahme riet die KPD-Zentrale noch vom Generalstreik ab, ”Das Proletariat wird keinen Finger rühren für die demokratische Republik ... Die Arbeiterklasse, die gestern noch in Banden geschlagen war von den Ebert-Noske, und waffenlos, .. ist in diesem Augenblick nicht aktionsfähig. Die Arbeiterklasse wird den Kampf gegen die Militärdiktatur aufnehmen in dem Augenblick und mit den Mitteln, die ihr günstig erscheinen. Dieser Augenblick ist noch nicht da ...” Doch die KPD-Zentrale täuschte sich. Die Arbeiter selber wollten nicht abwarten, sondern innerhalb von wenigen Tagen reihten sich mehr Arbeiter in diesen Abwehrkampf ein, als sich seit Beginn der revolutionären Welle in den vielen zerstreuten Bewegungen zuvor mobilisiert hatten. Überall hieß die Parole ‘Bewaffnung der Arbeiter’, ‘Niederschlagung der Putschisten’.

Während 1919 in ganz Deutschland zerstreut gekämpft worden war, hatte der Putsch an vielen Orten die Arbeiterklasse gleichzeitig mobilisiert. Dennoch kam es abgesehen vom Ruhrgebiet kaum zu Kontaktaufnahmen der Arbeiter in den verschiedenen Städten untereinander. Landesweit erhob sich der Widerstand spontan, ohne eine ihn zentralisierende Bewegung.

Das Ruhrgebiet, die größte Konzentration der Arbeiterklasse, war zentrale Zielscheibe der Kappisten gewesen. So wurde das Ruhrgebiet zum Zentrum des Abwehrkampfes. Von Münster aus wollten die Kappisten die Arbeiter im Ruhrgebiet einkesseln. Nur die Arbeiter im Ruhrgebiet bündelten ihre Kämpfe in mehreren Städten und bildeten eine zentrale Streikleitung. Überall werden Aktionsausschüsse gebildet. Es wurden systematisch bewaffnete Arbeiterverbände aufgestellt. Man spricht von 80.000 bewaffneten Arbeitern im gesamten Ruhrgebiet. Dies war die größte militärische Mobilisierung in der Geschichte der Arbeiterbewegung neben dem Abwehrkampf in Russland.

Obwohl der Widerstand der Arbeiter auf militärischer Ebene nicht zentral geleitet wurde, gelang es den bewaffneten Arbeitern, den Vormarsch der Kapp-Putschisten zu stoppen. In einer Stadt nach der anderen konnten die Putschisten verjagt werden. Diese Erfolge hatten die Arbeiter 1919 in den verschiedenen Erhebungen nicht verbuchen können. Am 20. März musste sich das Militär gar aus dem Ruhrgebiet ganz zurückziehen. Am 17. März war Kapp schon zurückgetreten, sein Putsch hatte keine 100 Stunden gedauert. Der Widerstand der Arbeiterklasse hatte ihn zu Fall gebracht.

Ähnlich der Entwicklung ein Jahr zuvor hatten sich die stärksten Widerstandszentren in Sachsen, Hamburg, Frankfurt und München gebildet.[ii] [165] Die machtvollste Reaktion der Arbeiter kam jedoch im Ruhrgebiet zustande.

Während in den anderen Orten Deutschlands die Bewegung nach dem Rücktritt Kapps und dem Scheitern des Putsches sofort wieder stark abflachte, war im Ruhrgebiet mit dem Rücktritt des Putschisten die Bewegung nicht zu stoppen. Viele Arbeiter glaubten, dass man jetzt weitergehen müsse.

Die Grenzen der Reaktion der Arbeiter

Während sich spontan und in Windeseile eine große Abwehrfront der Arbeiter gegen die blutrünstigen Putschisten erhoben hatte, war klar, dass die Frage des Sturzes der Bourgeoisie keineswegs auf der Tagesordnung stand, sondern es ging in den Augen der meisten Arbeiter nur um ein Zurückschlagen eines bewaffneten Angriffs.

Und welcher Schritt der erfolgreichen Abwehr des Putschistenangriffes hätte folgen sollen, war damals unklar.

Abgesehen vom Ruhrgebiet erhoben die Arbeiter in anderen Regionen kaum Forderungen, die der Bewegung der Klasse eine größere Dimension hätte geben können. Solange sich der Druck aus den Betrieben gegen den Putsch richtete, gab es eine einheitliche Linie unter den Arbeitern, aber sobald die putschistischen Truppen niedergeworfen wurden, trat die Bewegung auf der Stelle und suchte ein klares Ziel. Einen Teil des Militärs zurückschlagen, ihn in einer Gegend zum Rückzug zu zwingen, heißt noch nicht, die Kapitalistenklasse gestürzt zu haben,

An verschiedenen Orten gab es Versuche von anarcho-syndikalistisch-rätistischen Kräften, erste Maßnahmen in Richtung Sozialisierung der Produktion in Gang zu setzen, weil man glaubte, nachdem man in einer Stadt die rechtsradikalen Kräfte vertrieben hatte, die Tür zum Sozialismus öffnen zu können. So wurden vielerorts durch die Arbeiter eine Reihe von ‘Kommissionen’ gebildet, die dem bürgerlichen Staat Anweisungen geben wollten, was zu tun sei. Erste Maßnahmen der Arbeiter nach einer erfolgreichen ‘Schlacht’ auf dem Weg zum Sozialismus, erste winzige Ansätze einer Doppelmacht – als solche wurden sie dargestellt. Aber diese Auffassungen sind ein Zeichen der Ungeduld, die in Wirklichkeit von der dringendsten Aufgabe ablenkt. Solche Maßnahmen ins Auge zu fassen, nachdem man nur LOKAL ein günstiges Kräfteverhältnis aufgebaut hat, sind eine große Gefahr für die Arbeiterklasse, weil sich die Machtfrage zunächst für ein ganzes Land und in Wirklichkeit nur international stellt. Deshalb müssen solche Zeichen kleinbürgerlicher Ungeduld und des ‘sofort alles haben wollen’ bekämpft werden.

Während die Arbeiter wegen der Bedrohung durch die Militärs sich sofort militärisch mobilisierten, fehlte jedoch der unabdingbare Druck aus den Fabriken. Ohne den entsprechenden Impuls aus den Betrieben, ohne die Masseninitiative, die auf die Straße drängt und sich in Arbeiterversammlungen äußert, wo gemeinsam die Lage diskutiert wird und Entscheidungen getroffen werden, kann die Bewegung nicht wirklich von der Stelle kommen. Dazu ist aber die größtmögliche Eigeninitiative, das Bestreben nach der Ausdehnung und dem Zusammenschluss der Bewegung erforderlich, was wiederum mit einer tiefgreifenden Bewusstseinsentwicklung verbunden ist, wo die Feinde des Proletariats entlarvt werden.

Deswegen reicht nicht einfach die Bewaffnung und die entschlossene militärische Abwehrschlacht – die Arbeiterklasse selber muss ihr wichtigstes Geschütz auffahren: ihr Bewusstsein über ihre eigenen Rolle, ihre Fähigkeit, sich selbst zu organisieren, vorantreiben. Dazu stehen die Arbeiterräte an zentraler Stelle. Die Arbeiterräte und Aktionsausschüsse, die in den Abwehrkämpfen wieder spontan entstanden waren, waren jedoch noch zu schwach entwickelt, um der Bewegung als Sammelpunkt und als Speerspitze zu dienen.

Hinzu kam, dass die SPD von Anfang an alles unternahm, um gerade ihren Sabotagehebel gegen die Räte anzusetzen. Während die KPD den Schwerpunkt ihrer Intervention auf die Neuwahl der Arbeiterräte setzte, die Initiative in den Räten selber verstärken wollte, blockierte die SPD diese Versuche ab.

SPD und Gewerkschaften: Speerspitze bei der Niederschlagung der Arbeiterklasse

Im Ruhrgebiet saßen wiederum viele SPD-Vertreter in den Aktionsausschüssen und in der zentralen Streikleitung. So versuchte die SPD erneut wie zwischen November 1918 und Ende 1919 die Bewegung sowohl von Innen wie auch von Außen her zu sabotieren, um, sobald die Arbeiter entscheidend geschwächt waren, mit der Repression gegen sie vorzugehen.

Denn nachdem am 17. März Kapp zurückgetreten war und seine Truppen aus dem Ruhrgebiet am 20. März abzogen, und nachdem die ‘geflüchtete’ SPD-geführte Regierung um Ebert-Bauer wieder die Geschäfte übernommen hatte, konnte die Regierung und mit ihr das Militär ihre Kräfte neu gruppieren.

Wieder einmal kamen SPD und Gewerkschaften dem Kapital zu Hilfe. Sie verlangten das sofortige Ende der Kämpfe. Die Regierung stellte ein Ultimatum. Mit großer demagogischer Kunst wollten sie die Arbeiter zum Einstellen der Kämpfe bewegen. Ebert und Scheidemann riefen sofort zur Wiederaufnahme der Arbeit auf: ”Kapp und Lüttwitz sind erledigt, aber junkerliche und syndikalistische Empörung bedrohen noch immer den deutschen Volksstaat. Ihnen gilt der weitere Kampf, bis auch sie sich bedingungslos unterwerfen. Für dieses große Ziel ist die republikanische Front noch inniger und fester zu schließen. Der Generalstreik trifft bei längerer Dauer nicht nur die Hochverräter, sondern auch unsere eigene Front. Wir brauchen Kohlen und Brot zur Fortführung des Kampfes gegen die alten Mächte, deshalb Abbruch des Volksstreiks, dafür aber stets Alarmbereitschaft.”

Gleichzeitig bot die SPD politische Scheinkonzessionen an, mit deren Hilfe sie der Bewegung die Spitze brechen wollte. So versprach sie ”mehr Demokratie” in den Betrieben, einen ”entscheidenden Einfluss auf die Neuregelung der wirtschaftlichen und sozialen Gesetzgebung” und die Säuberung der Verwaltung von putschfreundlich gesinnten Kräften. Vor allem die Gewerkschaften legten sich ins Zeug, damit ein Waffenstillstand unterzeichnet wurde. Im sogenannten Bielefelder Abkommen wurden dann Konzessionen versprochen, die aber nur ein Vorwand sein konnten, um nach dem Bremsen der Bewegung um so heftiger die Repression zu organisieren

Gleichzeitig wurde wieder mit der ‘ausländischen Intervention’ gedroht. Sollte es zu einer weiteren Ausdehnung der Kämpfe kommen, würden ausländische Truppen – vor allem die USA – eingreifen. Lebensmittellieferungen aus Holland an die hungernde Bevölkerung wurden von den Militärs unterbunden.

So sollten SPD und Gewerkschaften wieder zum Drahtzieher der Repression gegen die Arbeiter werden. Dieselbe SPD, deren Minister einige Tage zuvor noch, am 13. März, zum Generalstreik gegen die Putschisten aufgerufen hatten, nahmen jetzt wieder die Zügel in die Hand für die Repression. Denn während die ‘Waffenstillstandsverhandlungen’ stattfanden, die Regierung scheinbare Konzessionen machte, war die volle Mobilisierung der Reichswehr in Absprache mit der SPD schon im Gange. So gingen viele Arbeiter von der fatalen Illusion aus, da man Regierungstruppen vor sich habe, die der ‘demokratische Staat’ der Weimarer Republik gegen die Putschisten geschickt habe, würden diese keine Kampfhandlungen gegen die Arbeiter unternehmen. So rief das Verteidigungskomitee in Berlin-Köpenick die Arbeiterwehren dazu auf, den Kampf einzustellen. Nach dem Einzug der ‘regierungstreuen Truppen’ wurden sofort Standgerichte gebildet, deren Wüten sich in nichts von dem blutrünstigen Vorgehen der Freikorps ein Jahr zuvor unterschied. Jeder, der im Besitz von Waffen war, wurde sofort erschossen. Tausende Arbeiter wurden misshandelt, gefoltert und erschossen und unzählige Frauen vergewaltigt. Man spricht von mehr als 1.000 ermordeten Arbeitern allein im Ruhrgebiet.

Es waren die Truppen des frisch gegründeten demokratischen Staates, die gegen die Arbeiterklasse geschickt wurden.

Und während die Schergen der Putschisten es nicht geschafft hatten, die Arbeiter zu Boden zu werfen, sollten dies die Henker der Demokratie bewerkstelligen.

Seit dem 1. Weltkrieg sind alle bürgerlichen Parteien reaktionär und Todfeinde der Arbeiterklasse

In der dekadenten Phase des Kapitalismus hat die Arbeiterklasse seitdem diese Erkenntnis immer wieder gewinnen müssen: Es gibt keine Fraktion der herrschenden Klasse, die weniger reaktionär oder der Arbeiterklasse gegenüber weniger feindselig eingestellt ist. Im Gegenteil: Die linken Kräfte, wie die SPD es wieder einmal unter Beweis stellen sollte, sind nur noch hinterlistiger und heimtückischer in ihren Angriffen gegen die Arbeiter.

Im dekadenten Kapitalismus gibt es keine Fraktion der Bourgeoisie, die noch irgendwie fortschrittlich und unterstützungswert wäre. Deshalb sollten die Illusionen über die Sozialdemokratie in Wirklichkeit mit dem Blut der Arbeiterklasse bezahlt werden. Bei der Niederschlagung der Bewegung gegen den Kapp-Putsch zeigte die SPD erneut ihre ganze heimtückische List, wie sie im Dienste des Kapitals handelt.

Einmal trat sie als ”radikaler Vertreter der Arbeiter” auf. Nicht nur schaffte sie es, die Arbeiter zu täuschen, sondern auch die Arbeiterparteien ließen sich durch die SPD Sand in die Augen streuen. Denn während die KPD laut und deutlich vor der SPD auf Reichsebene warnte, vorbehaltlos den bürgerlichen Charakter ihrer Politik aufzeigte, wurde sie vor Ort selber Opfer der Heimtücke der SPD. Denn in den verschiedenen Städten unterzeichnete die KPD mit der SPD Aufrufe zum Generalstreik:

In Frankfurt z.B. riefen SPD, USPD und KPD dazu auf: ”Nun gilt es den Kampf aufzunehmen, nicht zum Schutze der bürgerlichen Republik, sondern zur Aufrichtung der Macht des Proletariats. Verlaßt sofort die Betriebe und die Büros!”

In Wuppertal beschlossen die Bezirksleitungen von SPD, USPD und KPD den Aufruf: ”Der einheitliche Kampf muss geführt werden mit dem Ziel:

1. Erringung der politischen Macht durch die Diktatur des Proletariats, bis zur Festigung des Sozialismus auf der Grundlage des reinen Rätesystems.

2. Sofortige Sozialisierung der dazu reifen Wirtschaftsbetriebe.

Dieses Ziel zu erreichen, rufen die unterzeichneten Parteien (USPD, KPD, SPD) dazu auf, am Montag, den 15. März, geschlossen in den Generalstreik zu treten ...”

Die Tatsache, dass KPD und USPD die wahre Rolle der SPD hier nicht entblößten, sondern der Illusion einer möglichen Einheitsfront mit dieser Partei Vorschub leisteten, die die Arbeiterklasse verraten hatte und der soviel Blut an den Fingern wegen der von ihr organisierten Repression gegen die Arbeiter klebte, sollte für die Arbeiterklasse verheerende Auswirkungen haben.

Die SPD wiederum zog in Wirklichkeit alle Fäden der Repression gegen die Arbeiter. Sie sorgte sofort nach Rückzug der Putschisten mit Ebert an der Regierungsspitze dafür, dass die Reichswehr einen neuen Chef – von Seeckt – bekam, der sich als ausgekochter Militär einen Ruf als Henker der Arbeiterklasse verdient hatte. Mit grenzenloser Demagogie stachelte das Militär den Hass gegen die Arbeiter an: ”Während der Putschismus von rechts zerschlagen abtreten muss, erhebt der Putschismus von links aufs neue das Haupt (..). wir führen die Waffen gegen jeden Putsch.” So wurden die Arbeiter, die gegen die Putschisten gekämpft hatten, als die eigentlichen Putschisten beschimpft. ”Lasst euch nicht irremachen durch bolschewistische und spartakistische Lügen. Bleibt einig und stark. Macht Front gegen den alles vernichtenden Bolschewismus. Im Namen der Reichsregierung: von Seeckt und Schiffer.”

Das wirkliche Blutbad gegen die Arbeiter übte die Reichswehr aus, die von der SPD dirigiert wurde. Es rückte die ‘demokratische Armee’, die Reichswehr gegen die Arbeiter vor, die Kappisten hatten längst die Flucht ergriffen!

Die Schwäche der Revolutionäre – für die Arbeiterklasse fatal

Während die Arbeiterklasse sich mit großem Heldenmut dem Angriff der Militärs entgegenwarf und nach einer weiteren Orientierung für ihre Kämpfe suchte, hinkten die Revolutionäre selbst der Bewegung hinterher. So wurde das Fehlen einer starken Kommunistischen Partei zu einer der entscheidenden Ursachen des erneuten Rückschlags, den die proletarische Revolution in Deutschland erleiden sollte.

Wie wir in früheren Artikeln aufgezeigt haben, war die KPD durch den Ausschluss ihrer Opposition auf dem Heidelberger Parteitag im Oktober 1919 entscheidend geschwächt worden, und im März 1920 gab es in Berlin gerademal einige Hundert Mitglieder, die Mehrzahl der Mitglieder war ausgeschlossen worden.

Zudem lastete über der Partei das Trauma der verheerenden Fehler der Revolutionäre aus der blutigen Januarwoche 1919, als die KPD nicht geschlossen die Falle, die die Bourgeoisie für die Arbeiter aufgestellt hatte, aufdecken und die Arbeiter nicht daran hindern konnte, in diese zu laufen.

So schätzte die KPD jetzt am 13. März das Kräfteverhältnis falsch ein, denn sie meinte, es sei zu früh zum Zurückschlagen. Fest stand, dass die Arbeiterklasse gegenüber einer Offensive der Bourgeoisie nicht die Wahl des Zeitpunktes hatte, und die Abwehrbereitschaft der Arbeiter war groß. In dieser Lage war die Orientierung der Partei vollkommen richtig: ”Sofortiger Zusammentritt in allen Betrieben zur Neuwahl von Arbeiterräten. Sofortiger Zusammentritt der Räte zu Vollversammlungen, die die Leitung des Kampfes zu übernehmen und die über die nächsten Maßnahmen zu beschließen haben. Sofortiger Zusammentritt der Räte zu einem Zentralkongreß der Räte. Innerhalb der Räte werden die Kommunisten kämpfen: für die Diktatur des Proletariats, für die Räterepublik ...” (15. März 1920).

Aber nachdem die SPD nach dem 20. März die Zügel der Regierungsgeschäfte wieder in die Hand genommen hatte, erklärte die KPD-Zentrale am 21. März 1920:

”Für die weitere Eroberung der proletarischen Massen für den Kommunismus ist ein Zustand, wo die politische Freiheit unbegrenzt ausgenützt werden, wo die bürgerliche Demokratie nicht als die Diktatur des Kapitals auftreten könnte, von der größten Wichtigkeit für die Entwicklung in der Richtung zur proletarischen Diktatur.

Die KPD sieht in der Bildung einer sozialistischen Regierung unter Ausschluß von bürgerlich-kapitalistischen Parteien einen erwünschten Zustand für die Selbstbetätigung der proletarischen Massen und ihr Heranreifen für die Ausübung der proletarischen Diktatur.

Sie wird gegenüber der Regierung eine loyale Opposition treiben, solange diese Regierung die Garantien für die politische Betätigung der Arbeiterschaft gewährt, solange sie die bürgerliche Konterrevolution mit allen ihr zu Gebot stehenden Mitteln bekämpft und die soziale und organisatorische Kräftigung der Arbeiterschaft nicht hemmen wird” (21. März 1920, Zentrale der KPD).

Wenn die KPD der SPD gegenüber eine ‘loyale Opposition’ versprach, was erwartete sie von dieser? War es nicht die gleiche SPD gewesen, die während des Krieges und seit Beginn der revolutionären Welle alles unternommen hatte, um die Arbeiter zu täuschen, sie an den Staat zu binden und immer wieder kaltblütig die Repression organisiert hatte!

Indem die KPD-Zentrale diese Haltung einnahm, ließ sie sich auf das gefährlichste durch die Manöver der SPD täuschen.

Wenn die Avantgarde der Revolutionäre sich schon so irreführen ließen, war es nicht verwunderlich, dass unter den Massen der Arbeiter die Illusionen über die SPD noch größer waren!

Diese Politik der Einheitsfront ‘von unten’, die im März 1920 von der KPD-Zentrale schon praktiziert wurde, sollte dann von der Komintern Zug um Zug übernommen werden. Die KPD hatte damit einen tragischen Anfang gesetzt.

Für die aus der KPD im Oktober 1919 ausgeschlossenen Genossen sollten die Fehler der KPD-Zentrale dann der Anlass sein, nur kurze Zeit später, Anfang April 1920, in Berlin die KAPD zu gründen.

Wieder einmal hatte die Arbeiterklasse in Deutschland heldenhaft gegen das Kapital gekämpft. Während international die Kampfeswelle schon stärker abgeklungen war, hatte sich die Arbeiterklasse in Deutschland ein weiteres Mal den Angriffen des Kapitals entschlossen entgegengeworfen. Aber erneut musste die Arbeiterklasse ohne eine wirklich schlagkräftige Organisation an ihrer Seite auskommen.

Das Zögern und die politischen Fehler der Revolutionäre in Deutschland verdeutlichen, wie schwerwiegend die Unklarheit und das Versagen einer revolutionären Organisation ins Gewicht fällt.

Diese von der Bourgeoisie angezettelte Provokation nach dem Kapp-Putsch endete leider in einer neuen und schwerwiegenden Niederlage der Arbeiterklasse in Deutschland. Trotz des heldenhaften Mutes und der Entschlossenheit, mit der sich die Arbeiter in den Kampf stürzten, mussten die Arbeiter erneut ihre weiterhin bestehenden Illusionen über die SPD und die bürgerliche Demokratie teuer bezahlen. Durch die chronische Schwäche ihrer revolutionären Organisation politisch gehandikapt, durch die Politik und das heimtückische Vorgehen der Sozialdemokratie getäuscht, erlitten sie eine Niederlage und wurden schließlich nicht den Kugeln der rechtsextremen Putschisten ausgeliefert, sondern der sehr demokratischen Reichswehr, die unter dem Befehl der SPD-geführten Regierung stand.

Aber diese neue Niederlage des Proletariats in Deutschland war vor allem ein Schlag gegen die weltweite revolutionäre Welle, wodurch Sowjetrussland noch weiter in die Isolation geriet.

Dv



[i] [165] Die Frage ist bis heute ungeklärt, ob es sich nicht um eine gezielte Provokation gehandelt hat, wo es eine Absprache zwischen den Militärs und Regierung gab. Man kann keinesfalls als ausgeschlossen betrachten, dass die herrschende Klasse einen Plan hatte, um die Putschisten als provozierenden Faktor einzusetzen nach dem Konzept: die ‘Rechten’ locken die Arbeiter in die Falle, die ‘demokratische’ Diktatur schlägt dann zu!

[ii] [165] In Mitteldeutschland trat zum ersten Mal Max Hoelz in Erscheinung, der durch die Organisierung von bewaffneten Kampfverbänden der Arbeiter Polizei und Militär viele Gefechte lieferte, bei seinen Aktionen in Geschäften Waren beschlagnahmte und sie an Arbeitslose verteilte. Wir werden in einem späteren Artikel erneut auf ihn zurückkommen.

Theorie und Praxis: 

  • Deutsche Revolution [68]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1919 - Deutsche Revolution [88]

Internationale Revue 24 - Editorial

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Timor, Tschetschenien...Kapitalismus heisst Chaos und Barbarei

Nach Kosovo Osttimor, nach Timor Tschetschenien. Das Blut aus den einen Massakern ist noch nicht vertrocknet, da gibt es schon neue Blutbäder an anderen Orten der Erde. Gleichzeitig liegt der afrikanische Kontinent immer mehr in seinem Todeskampf: neben den chronischen Kriegen, die jeden Tag Eritrea,  Sudan, Somalia, Sierra Leone, Kongo und viele andere Länder mehr ausbluten, hat es wieder Massaker in Burundi sowie Zusammenstöße zwischen den beiden “befreundeten” Staaten Ruanda und Uganda gegeben, während gleichzeitig der Krieg in Angola wieder aufflammt. Von den Verheißungen des amerikanischen Präsidenten Bush, der genau vor 10 Jahren beim Zusammenbruch des Ostblocks versprach, es werde eine “neue Weltordnung des Friedens und des Wohlstands” geben, keine Spur. Der einzige Frieden, der im letzten Jahrzehnt weiter vorangeschritten ist, ist der der Friedhöfe.

Jeden Tag wird das Versinken der kapitalistischen Gesellschaft im Chaos, ihre Fäulnis immer deutlicher.

Timor und Tschetschenien: Zwei Ausdrücke der Zerfallserscheinungen des Kapitalismus

In Ost-Timor sind die Massaker (Tausende von Toten) und die Zerstörungen (in bestimmten Gebieten sind 80-90% der Häuser verbrannt) nichts Neues. Nachdem Portugal Ost-Timor im Mai 1975 in seine Unabhängigkeit entlassen hatte, waren eine Woche später die indonesischen Truppen einmarschiert, um es zur 27. Provinz Indonesiens zu erklären. Damals hatten die Massaker und Hungersnöte 200.000-300.000 Tote hinterlassen, und das bei einer Gesamtbevölkerungszahl von weniger als einer Million Menschen. Aber die Ereignisse in Ost-Timor sind keine bloße Neuauflage der Ereignisse von 1975. Damals gab es schon sehr viele, oft mörderische Konflikte (der Vietnamkrieg wurde erst 1975 beendet). Aber die systematische Ausrottung von Zivilbevölkerungen aufgrund ethnischer Zugehörigkeit war damals noch eine Ausnahme, während sie heute zur Regel geworden ist. Die Massaker an den Tutsis 1994 in Ruanda waren keine “afrikanische” Besonderheit, die auf die Unterentwicklung dieses Kontinentes zurückzuführen gewesen wären. Die gleiche Tragödie hat vor einigen Monaten im Herzen Europas, im Kosovo, stattgefunden. Und wenn es heute in Timor zur Wiederholung solcher barbarischer Taten kommt, dann muss man diese als einen Ausdruck der gegenwärtigen Barbarei des Kapitalismus und des Chaos verstehen, in das dieses System versinkt, und nicht als eine Besonderheit dieses Landes, das auf eine gescheiterte Entkolonialisierung vor 25 Jahren zurückzuführen wäre.

Die Tatsache, dass die gegenwärtige Phase sich deutlich von der vor dem Zusammenbruch des Ostblocks abhebt, wird in dem jetzigen Krieg klar deutlich, der heute Tschetschenien verwüstet. Vor 10 Jahren hatte die UdSSR innerhalb weniger Wochen ihren imperialistischen Block verloren, den sie zuvor vier Jahrzehnte lang mit eiserner Hand beherrscht hatte. Aber da dieser Zusammenbruch des Blocks an erster Stelle auf eine Wirtschaftskrise und eine katastrophale Politik seiner Führungsmacht zurückzuführen war, was wiederum zu einer völligen Lähmung der UdSSR führte, war das Auseinanderbrechen der UdSSR auch vorprogrammiert gewesen: die baltischen, kaukasischen, zentralasiatischen Republiken und selbst die Osteuropas (Ukraine und Weissrussland) wollten dem Beispiel Polens, Ungarns, Ostdeutschlands, der Tschecholoswakei usw. folgen. 1992 war das Spiel vorbei und Russland stand allein auf weiter Flur. Aber Russland selbst, das aus verschiedenen Nationalitäten zusammengesetzt ist, fing an, Opfer des gleichen Prozesses des Auseinanderbrechens zu werden, wie der Krieg in Tschetschenien zwischen 1994-96 vor Augen führte. Dieser Krieg, in dem mehr als 100.000 Tote auf beiden Seiten zu beklagen und die größten Städte zerstört worden waren, endete in einer russischen Niederlage und der Unabhängigkeit Tschetscheniens.

Der Einmarsch islamischer Truppen des tschetschenischen Chamil Bassajew und seiner Konsorten um den Jordanier Khattab im Monat August in Dagestan lieferten den Auftakt zu einem neuen Krieg in Tschetschenien. Dieser neue Krieg kristallisiert die Erscheinungen des kapitalistischen Zerfalls, welcher den gesamten Kapitalismus erfasst.[i] [166]

Einerseits ist er ein Ergebnis des Zusammenbruchs der UdSSR, der selbst wiederum der tiefstgreifende Ausdruck der Zerfallsphase der bürgerlichen Gesellschaft ist. Andererseits wird dadurch der Aufstieg des islamischen Fundamentalismus ersichtlich, der ebenso in vielen Ländern (Iran, Afghanistan, Algerien usw.) die Fäulnis des Systems zeigt, und deren Gegenstück in den entwickelten Staaten die Zunahme der Gewalt in den Städten, der Drogensucht und des Sektenwesens ist.

Wenn es darüber hinaus zutrifft, dass Bassajew und seine Clique – wie von vielen behauptet (dies ist gar ziemlich wahrscheinlich) – von dem Mafia-Milliardär Berezovski, der grauen Eminenz Jelzins finanziert werden, oder dass die Explosionen in Moskau im September auf die Machenschaften der russischen Geheimdienste zurückzuführen sind, dann wären dies nur weitere Erscheinungen des Zerfalls des Kapitalismus, die sich auch nicht auf Russland beschränken. Der Terrorismus wird von den bürgerlichen Staaten selber immer häufiger eingesetzt (und nicht nur von kleinen unkontrollierten Gruppen); zudem häuft sich immer mehr die Korruption. Auch wenn die russischen “Geheimdienste” nicht hinter den Attentaten steckten, wurden diese von der Staatsgewalt ausgenutzt, um den Fremdenhass in Russland zu schüren und den neuen Krieg gegen Tschetschenien zu rechtfertigen. Dieser Krieg wurde von allen Kreisen der politischen Klasse Russlands (mit Ausnahme von Lebed, der das Abkommen von Kassaviur im August 1996 mit Tschetschenien unterschrieb) gewollt, angefangen von den Stalinisten um Siuganow bis hin den zu den “Demokraten” des Bürgermeisters von Moskau. Obwohl breite Teile des politischen Apparates Russlands Klage führen über Korruption und Unfähigkeit der Jelzin-Clique, unterstützen sie deren Flucht nach vorne in ein Abenteuer, das die wirtschaftliche und politische Katastrophe nur noch verschlimmern kann. Das spricht dies Bände.

Der Zynismus und die Heuchelei der “Demokratien”

Vor einigen Monaten war die militärische Offensive der NATO-Verbände in Jugoslawien mit dem Feigenblatt der “humanitären Einmischung” verdeckt worden. Nur dank einer intensiven Medienpropaganda, die unaufhörlich Bilder vom Elend der kosovarischen Flüchtlinge und der Massengräber vermittelte, die nach dem Rückzug der serbischen Truppen aus dem Kosovo entdeckt worden waren, konnte gegenüber der Bevölkerung in den NATO-Staaten die Tatsache übertüncht werden, dass diese militärische Intervention als erste Konsequenz die Auslösung “ethnischer Säuberungen” der Milizen Milosevics gegen die Albaner in dieser Provinz zur Folge hatte.

Heute erreicht die Heuchelei mit den Ereignissen in Osttimor eine neue Stufe. Als diese Region 1975-76 von den Truppen Suhartos besetzt wurde, wobei ca. ein Drittel der Bevölkerung umgebracht wurde, hatten sich die Medien und die westlichen Regierungen noch wenig um diese Tragödie gekümmert. Auch wenn die Vollversammlung der UNO diese Annexion nicht anerkannte, unterstützen die westlichen Großmächte Suharto vorbehaltlos, da sie in ihm den Garanten der westlichen Ordnung in diesem Teil der Welt sahen.[ii] [167] Natürlich ragten die USA insbesondere durch ihre Waffenlieferungen und die Ausbildung der indonesischen Kampftruppen (welche die gegen die Unabhängigkeit kämpfenden Milizen organisierten, wobei sie aus den Reihen der timoresischen Gangster Leute rekrutierten) und durch ihre Unterstützung der Henker im Timor heraus. Aber sie waren nicht die einzigen, da Frankreich und Großbritannien auch ihre Waffenlieferungen fortsetzten (die Elitetruppen Indonesiens waren vom britischen “Secret Action Service” ausgebildet worden). Das Land, das heute als der “Retter” der Bevölkerung Osttimors dargestellt wird,  Australien, hatte damals als einziger Staat die Annexion Osttimors anerkannt (wofür es 1981 mit der Beteiligung an der Ausbeutung der Ölvorkommen an der Küste Timors belohnt wurde). Vor kurzem noch hat Australien ein Abkommen über militärische Zusammenarbeit unterzeichnet, das insbesondere gegen den Terrorismus gerichtet ist – zu denen natürlich die Unabhängigkeitsguerilla Osttimors zählte.

Heute bemühen sich alle Medien, die Barbarei zu entblößen, deren Opfer die Bevölkerung Osttimors wurde, nachdem diese mehrheitlich für die Unabhängigkeit gestimmt hatte. Und dieser Medienrummel hat natürlich die Zustimmung zum Eingreifen der UN-Interventionskräfte unter australischem Kommando erhöht. Wie im Kosovo ging die Kampagne zum “Schutz der Menschenrechte” der bewaffneten Intervention voraus.

Erneut brachten die Militärs die humanitären Organisationen (die ganze Heerschar von NGO) in ihrem Gepäck mit, womit die Lüge gerechtfertigt werden sollte, das bewaffnete Eingreifen verfolge kein anderes Ziel als die Verteidigung von Menschenleben (und sicherlich nicht die Verteidigung imperialistischer Interessen).

Aber die Massaker an den Albanern im Kosovo waren vorhersehbar (und von der NATO gewünscht, um im nachhinein ihre Intervention zu rechtfertigen). Das Massaker an der Bevölkerung Osttimors war nicht nur vorhersehbar, sondern offen von den Tätern, den pro-indonesischen Milizen, angekündigt worden. Trotz all der Warnungen hat die UNO ohne Bedenken die Vorbereitung des Referendums zur Unabhängigkeit vom 30. August unterstützt, womit die Bevölkerung Osttimors den angekündigten Massakern ausgeliefert wurde.

Als die Verantwortlichen der UNO befragt wurden, warum sie so sorglos gewesen waren, antwortete einer ihrer Verantwortlichen ganz ruhig: “Die UNO stellt nur die Summe ihrer Mitglieder dar.”[iii] [168] Und in der Tat wirkte der Verlust der Glaubwürdigkeit der UNO zugunsten der USA. Nach dem Ende des Kosovo-Krieges, wo eine von der NATO ausgelöste Bombardierung mit einer Verstärkung der UNO endete, die immer mehr der Kontrolle der USA entweicht, nachdem sich eine wachsende Zahl von Ländern, insbesondere Frankreich, der Vorherrschaft der USA entgegenstellt, suchten die USA nach einer Gelegenheit, um dieser Entwicklung gegenzusteuern.

Die Position der USA war übrigens mehrfach von den wichtigsten US-Führern herausgestrichen worden:

“Es kommt nicht in Frage, kurzfristig UNO-Truppen zu schicken, die Indonesier müssen selber wieder die Kontrolle über die verschiedenen Teile der Bevölkerung erlangen.” (Peter Burleigh, Stellvertretender US-Botschafter bei der UNO)[iv] [169] Das ließ sich leicht sagen, solange mehr als offensichtlich war, dass die Gegner der Unabhängigkeit im Solde der indonesischen Armee standen. “Auch wenn wir Belgrad bombardiert haben, brauchen wir jetzt nicht Dili bombardieren.” (Samuel Berger, Leiter des Nationalen Sicherheitsrates im Weißen Haus) “Osttimor ist nicht das Kosovo.” (James Rubin, Sprecher des Außenministeriums)[v] [170]

Diese Aussagen zeigen zumindest die Heuchelei und Doppelzüngigkeit Clintons, der einige Monate zuvor am Ende des Kosovokrieges herausposaunt hatte: “Ob Ihr in Afrika, Mitteleuropa oder woanders lebt, wenn jemand ein massives Verbrechen gegen die unschuldige Zivilbevölkerung begehen will, muss er wissen, dass wir ihn - wenn wir können – daran hindern werden.”[vi] [171]

Die die Intervention ablehnende Haltung der USA kann nicht nur durch den Willen der USA erklärt werden, der UNO das Maul zu stopfen. Abgesehen davon, dass die erste Weltmacht nicht die “Gefühle” ihres treuen Verbündeten in Jakarta verletzen wollte (mit dem sie noch am 25. August gemeinsame Manöver unter dem Motto “Humanitäre und Hilfsoperationen in Notfällen” durchgeführt hatten), wollten sie die Polizeioperation des indonesischen Staates unterstützen, als dieser durch die Milizen Massaker an der Zivilbevölkerung ausüben ließ. Auch wenn die indonesische Armee (die die wichtigsten Zügel der Macht in den Händen hält) wusste, dass sie in Osttimor nicht endgültig die Kontrolle aufrechterhalten konnte (deshalb stimmte sie dem Einsatz von Interventionstruppen der UNO zu), verfolgte sie mit den Massakern, die von ihr nach dem Referendum ausgeübt wurden, das Ziel, eine Warnung an all diejenigen auszusprechen, die in diesem gewaltigen Inselreich weiter Unabhängigkeitsbestrebungen zeigen würden. Die Bevölkerung in Nordsumatra, auf Sulawesi oder den Molukken, die durch nationalistische Bewegungen in Versuchung geraten könnte, sollte gewarnt werden. Und dieses Ziel der indonesischen Bourgeoisie wurde von den Bourgeoisien der anderen Staaten der Region (Thailand, Burma, Malaysia) voll mitgetragen, die auch mit Problemen ethnischer Minderheiten konfrontiert sind. Es wird ebenso von einem Teil der amerikanischen Bourgeoisie unterstützt, die über die Destabilisierung in der Region besorgt ist, nachdem die Lage schon in anderen Teilen der Welt so instabil geworden ist.

Bei der Operation “Wiederherstellung der Ordnung” in Osttimor – die unbedingt stattfinden musste, um nicht die in den letzten Jahren uns so stark eingetrichterte “humanitäre” Ideologie zu gefährden – haben die USA die Arbeit Australien übertragen. Damit ergab sich für sie der Vorteil, sich nicht direkt gegenüber Indonesien zu kompromittieren, wobei ihr treuester und solidester Verbündeter in der Region gleichzeitig an Stärke gewinnen konnte. Denn für Australien war dies auch eine gute Gelegenheit, seinen Bedürfnissen nach Verstärkung seiner imperialistischen Positionen in der Region nachzukommen (selbst auf Kosten eines vorübergehenden Streits mit Indonesien). Für die USA geht es als Weltmacht grundsätzlich darum, in dieser Region durch Stellvertreter eine starke Präsenz aufrechtzuerhalten, denn sie wissen, dass der allgemeine Trend der imperialistischen Spannungen in der heutigen geschichtlichen Situation die Gefahr in sich birgt, dass der Einfluss der anderen beiden Großmächte, die in der Region eine Rolle beanspruchen könnten, Japan und China, zunehmen könnte.

Diese gleiche geostrategische Sorge erklärt die gegenwärtige Haltung der USA und der anderen Großmächte gegenüber dem Tschetschenien-Krieg. In dieser Region wird die Zivilbevölkerung jeden Tag mehr durch die Bombardierung der russischen Luftwaffe abgeschlachtet. Die Zahl der Flüchtlinge übersteigt schon mehrere Hunderttausend, Zehntausende Familien obdachlos geworden,  und das auf dem Hintergrund des bald hereinbrechenden Winters. Gegenüber dieser seit Wochen andauernden “humanitären” Katastrophe äußern sich die westlichen Führer nicht. Clinton zeigte sich “besorgt” über die Lage in Tschetschenien und Laurent Fabius, Präsident der französischen Nationalversammlung, behauptet ganz unverblümt, dass man sich gegen alle Unabhängigkeitsbestrebungen innerhalb der Russischen Föderation wenden solle: “Frankreich unterstützt die territoriale Integrität der russischen Föderation  und verurteilt den Terrorismus, die Destabilisierungsversuche, den Fundamentalismus, die alle Gefahren für die Demokratie sind.”[vii] [172]

Obgleich die Medien weiter einen auf “humanitär” machen, gibt es eine Übereinkunft auch zwischen den Ländern, die oft anderswo aufeinanderprallen (wie Frankreich und die USA), Russland keine Schwierigkeiten zu machen und es ihm zu erlauben, weiter Massaker auszuüben. Tatsächlich sind alle Teile der westlichen Bourgeoisie daran interessiert, eine neue Zuspitzung des Chaos zu verhindern, in das das größte Land der Welt, das zwischen zwei Kontinenten liegt, immer mehr versinkt, und das im übrigen noch immer Tausende von Atomsprengköpfen besitzt.

An den beiden Enden des gewaltigen asiatischen Kontinentes, der der bevölkerungsreichste der Erde ist, steht die Weltbourgeoisie einem wachsenden Chaos gegenüber. Dieser Kontinent war schon im Sommer 1997 durch die brutalen Angriffe der Krise erschüttert worden, wodurch die politischen Verhältnisse in einigen Ländern destabilisiert wurden, wie im Falle Indonesiens besonders deutlich wurde (das zwar kein Teil des asiatischen Festlandes ist, aber in unmittelbarer Nähe liegt). Gleichzeitig sind andere, das Chaos beschleunigende Faktoren  hinzugekommen, insbesondere durch die Zuspitzung  traditioneller Konflikte wie der zwischen Indien und Pakistan Anfang 1999. Das langfristige Risiko, vor denen der gesamte asiatische Kontinent steht, ist die von  Explosion von Widersprüchen, wie zur Zeit im Kaukasus sichtbar, die Entwicklung einer ähnlichen Lage wie in Afrika, aber natürlich mit viel katastrophaleren Konsequenzen für die gesamte Welt.

Das sich immer weiter ausbreitende Chaos ruft natürlich große Sorgen unter allen Teilen der Weltbourgeoisie hervor, insbesondere unter den Führern der Großmächte. Aber diese Sorge bleibt hilflos. Die Absicht, ein Mindestmaß an Stabilität zu bewahren, gerät ständig in Konflikt mit den widersprüchlichen Interessen der verschiedenen nationalen Teile der herrschenden Klasse. So verhalten sich die fortgeschrittenen Länder, die “großen Demokratien” meisten als feuerlegende Feuerwehrleute, die eingreifen, um eine Lage zu “stabilisieren”, die sie selbst haben chaotisch werden lassen (wie man insbesondere im ehemaligen Jugoslawien erkennen konnte oder heute in Osttimor).

Aber das sich auf der imperialistischen Bühne ausdehnende Chaos ist nur ein Ausdruck des allgemeinen Zerfalls der bürgerlichen Gesellschaft. Dieser Zerfall hat seine Wurzeln in der Unfähigkeit der herrschenden Klasse auch nur irgendeine Lösung für die unüberwindbare Wirtschaftskrise zu finden – selbst ein Weltkrieg, in den sie 1914 und 1939 die Welt gestürzt hatte, ist heute nicht möglich. Dieser Zerfall äußert sich durch ein langsames Verfaulen der gesamten Gesellschaft. Und dieser Zerfall ist nicht beschränkt auf die rückständigen Länder, sondern er erfasst auch die großen bürgerlichen Metropolen. Dies belegen der schreckliche Eisenbahnunfall am 5. Oktober in London, Hauptstadt des ältesten kapitalistischen Zentrums der Welt (also keineswegs eines 3.Welt-Landes) wie auch der Unfall im AKW am 30. September in Tokaimura in Japan, einem Land, das den Ruf von “Qualität” und “technischer Makellosigkeit” genoss. Dieser Zerfall wird nur dann zu Ende gebracht werden können, wenn der Kapitalismus selber überwunden ist. Dies kann nur durch die Arbeiterklasse geschehen, wenn sie dieses System überwindet, das heute gleichbedeutend ist mit Chaos und Barbarei.

Fabienne (10/10/99)


[i] [173] Für eine vertiefte Analyse des Zerfalls des Kapitalismus siehe unseren Artikel in “Internationale Revue” Nr. 10 & 13.

[ii] [174] Der Staatsstreich Suhartos 1965 gegen Sukarno, der als den “sozialistischen” Ländern zu nahestehend bezichtigt wurde, wurde mit US-amerikanischer Hilfe durchgeführt. Die US-Regierung war besonders froh darüber, dass ihre Hilfe für die indonesische Armee “diese ermutigt hatte, gegen die Kommunistische Partei vorzugehen, als sich die Gelegenheit dazu bot.” (so die Aussage Mac Namaras, damaliger Chef des Pentagons).

[iii] [175] Le Monde, 16.9.1999

[iv] [176] Libération 5.9.1999

[v] [177] Le Monde 14.9.1999

[vi] [178] Le Monde 16.9.1999

[vii] [179] Le Monde 7.10.1999

Organisationsfrage: Sind wir "Leninisten" geworden? (Teil II)

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Im ersten Teil dieses Artikels sind wir auf die Anschuldigung eingegangen, dass wir ”Leninisten” geworden seien und unsere Position bezüglich der Organisationsfrage geändert hätten. Wir haben gezeigt, dass der ”Leninismus” nicht nur unseren Prinzipien und politischen Positionen widerspricht, sondern auch auf die Zerstörung der historischen Einheit der Arbeiterbewegung abzielt. Insbesondere verwirft er den Kampf der marxistischen Linken zuerst inner-, später außerhalb der II. sowie der III. Internationale. Er hetzt Lenin gegen Rosa Luxemburg, Pannekoek usw. auf. Der ”Leninismus” ist nichts anderes als die Negation des militanten Kommunisten Lenin und Ausdruck der stalinistischen Konterrevolution zu Beginn der 20er Jahre.

Wir haben auch festgehalten, dass wir uns immer auf den Kampf Lenins für den Parteiaufbau gegen die menschewistische und die ökonomistische Opposition bezogen haben. Wir haben auch daran erinnert, dass wir seine Fehler bezüglich der Organisation, insbesondere bezüglich ihres hierarchischen und militärischen Charakters, sowie auf theoretischer Ebene bezüglich der Frage des Klassenbewusstseins, das gemäß seiner Anschauung von außen in die Klasse hineingetragen wird, zurückgewiesen. Wir haben seine Fehler in den historischen Kontext gestellt, um ihre Dimension und wirkliche Bedeutung zu verstehen.

Welche Position nimmt die IKS zu Was tun? und Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück ein? Weshalb bekräftigen wir, dass diese zwei Werke von Lenin unersetzbare theoretische, politische und organisatorische Errungenschaften darstellen? Stellen unsere Kritiken, die bei erstrangigen Fragen ansetzen - insbesondere bezüglich der in Was tun? entwickelten Frage des Bewusstseins - unsere prinzipielle Übereinstimmung mit Lenin nicht in Frage?

Die Position der IKS zu Was tun?

”Es wäre falsch und eine Entstellung der Geschichte, wenn man den substituionistischen Lenin von Was tun? der klaren und gesunden Sichtweise einer Rosa Luxemburg oder eines Leo Trotzki (der in den 20er Jahren ein eiserner Verfechter der Militarisierung der Arbeit und der allmächtigen Diktatur der Partei wurde!) gegenüberstellen wollte.“[i] [180]

Wie man sieht, beginnt unsere Position zu Was tun? mit der Anwendung unserer Methode, die Geschichte der Arbeiterbewegung zu verstehen. Diese Methode stützt sich auf die Einheit und Kontinuität dieser Bewegung, wie wir dies im ersten Teil dieses Artikels dargestellt haben. Sie ist nicht neu und reicht bis zur Gründung der IKS zurück.

Was tun? gliedert sich in zwei große Teile. Der erste ist der Frage des Klassenbewusstseins und der Rolle der Revolutionäre gewidmet. Der zweite geht direkt zu Organisationsfragen über. Die Schrift stellt eine unversöhnliche Kritik der “Ökonomisten” dar, für die die Entwicklung des Klassenbewusstseins der Arbeiter ausschließlich von unmittelbaren Kämpfen ausgehen kann. Sie tendieren auch dazu, die aktive politische Rolle der revolutionären Organisationen zu unterschätzen, ja zu negieren: Deren Aufgabe sei lediglich die Unterstützung der ökonomischen Kämpfe. Als natürliche Konsequenz dieser Unterschätzung der Rolle der Revolutionäre widersetzen sich die “Ökonomisten” der Bildung einer zentralisierten und einheitlichen Partei, die in der Lage wäre, mit großer Kraft und einheitlicher Stimme zu allen ökonomischen und politischen Fragen zu intervenieren.

Lenins Text Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück  ist eine Ergänzung zu Was tun?. Er geht auf die Spaltung der SDAPR am 2. Kongress in Bolschewisten und Menschewisten ein.

Der Schwachpunkt von Was tun? liegt beim Klassenbewusstsein. Welche Haltung nahmen diesbezüglich andere Revolutionäre ein? Bis zum 2. Kongress stellte sich nur der “Ökonomist” Martinow dagegen. Erst nach dem Kongress kritisierten Plechanow und Trotzki die irrige Anschauung Lenins  über das von außen in die Arbeiterklasse hineingetragene Klassenbewusstsein. Sie waren die einzigen, die die von Lenin übernommene Position Kautskys ausdrücklich zurückwiesen, gemäß der der Sozialismus und der Klassenkampf des Proletariats ”nebeneinander entstehen, nicht auseinander (und) der Träger der Wissenschaft nicht das Proletariat ist, sondern die bürgerliche Intelligenz”.[ii] [181]

Die Antwort Trotzkis ist zwar richtig, aber auch sehr begrenzt. Vergessen wir nicht, dass wir uns im Jahr 1903 befinden und die Antwort von Trotzki Unsere politischen Aufgaben aus dem Jahr 1904 datiert. In Deutschland hat die Debatte über den Massenstreik kaum begonnen, und sie entwickelt sich kaum vor den Erfahrungen von 1905 in Russland. Trotzki weist die Position von Kautsky deutlich zurück und unterstreicht die in ihr enthaltene Gefahr des Substitutionismus. Doch obwohl Trotzki die Position Lenins zu den Organisationsfragen hart angreift, grenzt er sich in der Frage des Klassenbewusstseins nicht klar von Lenin ab. Er versteht und erklärt die Gründe hinter Lenins Position folgendermaßen:

”Als Lenin Kautsky die absurde Vorstellung bezüglich des Verhältnisses von ‘spontanem’ und ‘bewusstem’ Element in einer revolutionären Bewegung des Proletariats unterschob, zeichnete er damit mit groben und unsauberen Strichen ganz einfach die Aufgabe seiner Epoche.”[iii] [182]

Zugunsten Trotzkis muss man sagen, dass sich unter den Opponenten Lenins vor dem II. Kongress der SDAPR niemand gegen die Position Kautskys zum Bewusstsein erhoben hat. Am Kongress hat Martow, der Führer der Menschewiki, genau dieselbe Position wie Kautsky und Lenin vertreten: ”Wir sind der bewusste Ausdruck eines unbewussten Prozesses.”[iv] [183] Nach dem Kongress wird dieser Frage ein so geringes Gewicht zugemessen, dass die Menschewiki jegliche programmatische Divergenz verneinen und die Spaltung einzig auf Lenins organisatorische ”Hirngespinste” zurückführen: ”Mit meiner bescheidenen Intelligenz bin ich nicht unfähig zu verstehen, was mit ‘Opportunismus in Organisationsfragen’ losgelöst von jeder organischen Verbindung zu programmatischen und taktischen Ideen  gemeint sein soll.”[v] [184]

Die Kritik von Plechanow bleibt, wenn auch richtig, so doch ziemlich generell und gibt sich mit einem marxistischen Positionsbezug zufrieden. Sein Hauptargument bestand darin, dass es nicht wahr sei, dass ”die Intellektuellen ihre eigenen sozialistischen Theorien ‘völlig unabhängig vom spontanen Wachstum der Arbeiterbewegung ausgearbeitet’ haben - das geschah nie und konnte nie geschehen”[vi] [185].

Vor und während des Kongresses, als Plechanow noch einig mit Lenin war, beschränkte er sich auf eine theoretische Erörterung der Frage des Bewusstseins. Er griff aber die Debatten des II. Kongresses nicht auf und antwortete auch nicht auf die zentrale Frage: Welche Partei und welche Rolle für diese Partei? Einzig Lenin antwortete darauf.

Die zentrale Frage von Was tun?: Hebung des Bewusstseins in der Klasse

Lenin hatte in seiner Polemik gegen den “Ökonomismus” auf theoretischer Ebene eine zentrale Sorge: die Frage des Klassenbewusstseins und seine Entwicklung in der Arbeiterklasse. Lenin war mit den Erfahrungen des Massenstreiks und dem Auftauchen der ersten Sowjets 1905 in Russland schnell auf die Position Kautskys zurückgekommen. Im Januar 1917, vor dem Ausbruch der Russischen Revolution und während des Wütens des 1. Weltkriegs, griff Lenin auf den Massenstreik von 1905 zurück. Ganze Passagen über die "unlösbare Verflechtung von ökonomischem und politischem Streik" erscheinen wie von Rosa Luxemburg oder Trotzki verfasst.[vii] [186] Und sie geben einen guten Eindruck über die Revision seiner ursprünglichen Idee, die zu einem wesentlichen Teil der ”Überspannung des Bogens” in der Hitze der Polemik geschuldet war[viii] [187].

”Die wirkliche Erziehung der Massen kann niemals getrennt vom und außerhalb vom selbständigen politischen und besonders revolutionären Kampfe der Masse selbst geschehen. Erst der Kampf erzieht die ausgebeutete Klasse, erst der Kampf gibt ihr das Maß ihrer Kräfte, erweitert ihren Horizont, steigert ihre Fähigkeit, klärt ihren Verstand auf, stählt ihren Willen.” [ix] [188] Das ist weit entfernt von Kautskys Position.

Doch schon in Was tun? finden sich widersprüchliche Stellen über das Bewusstsein. Neben der falschen Position schreibt Lenin beispielsweise auch: ”Dies zeigt uns, dass das ‘spontane Element’ eigentlich nichts anderes darstellt als die Keimform der Bewusstheit.”[x] [189]

Diese Widersprüche sind Ausdruck der Tatsache, dass Lenin 1902 ebenso wie die übrige Arbeiterbewegung noch keine sehr klare und präzise Auffassung über das Klassenbewusstsein hatte[xi] [190]. Die Widersprüche in Was tun? und seine späteren Stellungnahmen zeigen, dass Lenin nicht besonders für die Position Kautskys eingenommen war. Es finden sich übrigens nur drei gut abgegrenzte Stellen in Was tun?, in denen Lenin schreibt, dass "das Bewusstsein von außen gebracht werden müsse". Und von diesen dreien hat eine überhaupt nichts mit Kautsky zu tun.

Lenin verwirft die Möglichkeit, ”dass man das politische Klassenbewusstsein der Arbeiter aus ihrem ökonomischen Kampf sozusagen von innen heraus entwickeln könne, d.h. ausgehend allein (oder zumindest hauptsächlich) von diesem Kampf, basierend allein (oder zumindest hauptsächlich) auf diesem Kampf”, und er setzt dem entgegen: ”Das politische Klassenbewusstsein kann dem Arbeiter nur von außen gebracht werden, das heißt aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern.”[xii] [191] Die Formulierung ist konfus, aber die Idee dahinter richtig, und diese stimmt nicht mit dem an anderer Stelle im Zusammenhang mit dem Bewusstsein verwendeten Wort "von außen" überein. Seine Gedanken sind an anderer Stelle noch viel präziser: ”Der politische Kampf der Sozialdemokratie ist viel umfassender und komplexer als der ökonomische Kampf der Arbeiter gegen die Unternehmer und die Regierung.”[xiii] [192]

Lenin verwirft ganz klar die von den Ökonomisten entwickelte Auffassung über das Klassenbewusstsein, wonach es das unmittelbare, direkte, mechanische und ausschließliche Produkt der ökonomischen Kämpfe sei.

Wir stimmen mit Was tun? im Kampf gegen den Ökonomismus überein. Wir erklären uns mit den kritischen Argumenten gegen den Ökonomismus einverstanden und betrachten sie bezüglich ihres politischen und theoretischen Inhalts auch heute noch als aktuell.

”Der Gedanke, dass das Klassenbewusstsein nicht mechanisch aus den ökonomischen Kämpfen hervorgeht, ist völlig richtig. Der Fehler von Lenin besteht aber im Glauben, dass man das Klassenbewusstsein ausgehend von den ökonomischen Kämpfen gar nicht entwickeln kann und dass es von außen durch eine Partei hineingetragen werden muss.”[xiv] [193]

Handelt es sich hier um eine neue Einschätzung der IKS? Nachstehend einige Zitate aus Was tun?, die wir 1989 in einer Polemik mit dem IBRP[xv] [194] verwendet haben, um zu unterstreichen, was wir auch heute sagen:

”Das sozialistische Bewusstsein der Arbeitermassen (ist) die einzige Grundlage, auf der der Sieg sichergestellt werden (kann). (...) die Partei (muss) immer die Möglichkeit haben, der Arbeiterklasse den Gegensatz zwischen ihren Interessen und denen der Bourgeoisie aufzuzeigen. (Das von der Partei erreichte Bewusstsein muss) in die Arbeitermassen in immer größerem Maße eingeflößt werden. (...) es ist notwendig, alles zu tun, um das Niveau der Bewusstheit der Arbeiter im allgemeinen zu heben. (...) die Aufgabe der Partei ist (es), die Funken politischen Bewusstseins, die der ökonomische Kampf in den Arbeitern entstehen lässt, auszunutzen, um die Arbeiter auf das Niveau des sozialdemokratischen (d.h. kommunistischen) politischen Bewusstseins zu heben”.[xvi] [195]

Für die Verleumder von Lenin künden die in Was tun? vorgestellten Auffassungen den Stalinismus an. Es gebe also, wird behauptet, zwischen Lenin und Stalin bezüglich der Organisationsfrage eine Verbindung[xvii] [196]. Wir haben diese Lüge auf historischer Ebene bereits im ersten Teil dieses Artikels widerlegt. Und wir weisen sie auch auf politischer Ebene, d.h. auch in Bezug auf die Frage des Klassenbewusstseins und die politische Organisation zurück.

Zwischen Was tun? und der Russischen Revolution gibt es eine Einheit und eine Kontinuität, jedoch bestimmt nicht mit der stalinistischen Konterrevolution. Diese Einheit und Kontinuität erstreckt sich über den ganzen revolutionären Prozess vom Massenstreik 1905 über den Februar bis zum Oktober 1917. Was tun? kündet bereits die Aprilthesen von 1917 an: ”In Anbetracht dessen, dass breite Schichten der revolutionären Vaterlandsverteidiger aus der Masse es zweifellos ehrlich meinen und den Krieg anerkennen in dem Glauben, dass er nur aus Notwendigkeit und nicht um Eroberungen geführt werde, in Anbetracht dessen, dass sie von der Bourgeoisie betrogen sind, muss man sie besonders gründlich, beharrlich und geduldig über ihren Irrtum, über den untrennbaren Zusammenhang von Kapital und imperialistischem Krieg aufklären. (...) Aufklärung der Massen darüber, dass die Sowjets der Arbeiterdeputierten die einzig mögliche Form der revolutionären Regierung sind (...).”[xviii] [197] Was tun? kündet auch den Oktoberaufstand und die Sowjetmacht an.

Die heutigen ”antileninistischen” Verleumder kümmern sich keinen Deut um diese Hauptsorge von Was tun?. Sie verfallen so einem Element des Stalinismus, das wir bereits im ersten Teil dieses Artikels denunziert haben. So wie Stalin militante Bolschewisten auf Fotos ausradieren ließ, so blenden sie das Wesentliche von Lenins Aussagen aus und beschuldigen uns, ”Leninisten”, d.h. Stalinisten, geworden zu sein.

Für die kritiklosen Anhänger Lenins wie beispielsweise die bordigistische Strömung sind wir hoffnungslose Idealisten, da wir auf der wichtigen Rolle des Klassenbewusstseins in der Arbeiterklasse im historischen und revolutionären Kampf der Arbeiterklasse beharren. Wer genau liest, was Lenin geschrieben hat, und wer sich in den tatsächlichen Diskussionsprozess sowie in die politischen Konfrontationen der damaligen Zeit vertieft, der wird erkennen, dass beide Anschuldigungen falsch sind.

Der Unterschied zwischen politischer Organisation und Einheitsorganisation in Was tun?

Was tun? enthält auf politischer und organisatorischer Ebene weitere wichtige Beiträge. Es handelt sich hauptsächlich um die von Lenin getroffene präzise Unterscheidung zwischen den Organisationen, die die Arbeiterklasse in ihren täglichen Kämpfen benötigt, den sogenannten Einheitsorganisationen, und den politischen Organisationen. Betrachten wir diese Errungenschaft vorerst auf politischer Ebene.

”Solche Zirkel, Verbände und Organisationen sind überall in möglichst großer Zahl und mit den mannigfaltigsten Funktionen erforderlich, aber es wäre unsinnig und schädlich, sie mit einer Organisation der Revolutionäre zu verwechseln, die Grenzen zwischen ihnen zu verwischen (...).” ”Die Organisation einer revolutionären sozialdemokratischen Partei muss unvermeidlich anderer Art sein als die Organisation der Arbeiter für den ökonomischen Kampf.”[xix] [198]

Auf dieser Ebene war die Unterscheidung noch keine Entdeckung für die Arbeiterklasse. Die internationale Sozialdemokratie, insbesondere die deutsche, war sich darüber bereits im klaren. Jedoch war Was tun? im Kampf jener Zeit gegen die russische Variante des Opportunismus, den Ökonomismus, sowie angesichts der speziellen Kampfbedingungen im zaristischen Russland gezwungen, weiter voranzuschreiten und eine neue Idee zu unterstreichen.

”Die Organisation der Revolutionäre muss vor allem und hauptsächlich Leute erfassen, deren Beruf die revolutionäre Tätigkeit ist (...). Hinter dieses allgemeine Merkmal der Mitglieder einer solchen Organisation muss jeder Unterschied zwischen Arbeitern und Intellektuellen, von den beruflichen Unterschieden der einen wie der anderen ganz zu schweigen, völlig zurücktreten. Diese Organisation muss notwendigerweise nicht sehr umfassend und möglichst konspirativ sein.”[xx] [199]

Halten wir hier kurz inne. Es wäre verfehlt, die in dieser Passage geäußerten Überlegungen auf die einzigartigen historischen Bedingungen der russischen Revolutionäre, insbesondere die Illegalität, Klandestinität und Repression zu reduzieren. Lenin stellte drei Punkte mit universellem und historischem Anspruch in den Vordergrund, deren Gültigkeit bis heute erhalten geblieben ist. Erstens ist die kommunistische Militanz ein freiwilliger und ernsthafter Akt (er verwendete das Wort "professionell", das in den Kongressdebatten auch von den Menschewiki gebraucht wurde), der den Militanten prägt und sein Leben bestimmt. Wir stimmen seit jeher mit dieser Auffassung über das militante Engagement überein, die jede dilettantische Sichtweise oder Haltung ausschließt.

Zweitens verteidigt Lenin eine Anschauung zum Verhältnis zwischen den militanten Kommunisten, die die Trennung von Arbeitern und Intellektuellen aufhebt[xxi] [200]. Heute würden wir von Führern und Geführten sprechen. Lenin überwand jegliche Sichtweise einer Hierarchie oder einer individuellen Überlegenheit in einer Kampfgemeinschaft in der Partei, in der revolutionären Organisation. Weiter widersetzte er sich jeglicher beruflichen oder korporativen Spaltung zwischen den Militanten. Er verwarf auch die Fabrikzellen, die später  während der Bolschewisierung im Namen des ”Leninismus” eingeführt wurden[xxii] [201].

Schließlich definierte er die Organisation, die "nicht sehr breit sein soll". Als erster sieht er das Ende der Periode der Massenparteien der Arbeiterklasse[xxiii] [202]. Gewiss begünstigten die Bedingungen in Russland diese Klarheit. Jedoch waren es die neuen Lebens- und Kampfbedingungen, die sich insbesondere im Massenstreik manifestierten, die auch die neuen Bedingungen für revolutionäre Aktivitäten bestimmten, ganz besonders den weniger breiten, minoritären Charakter der revolutionären Organisation in der Dekadenz des Kapitalismus, die mit dem Beginn des Jahrhunderts einsetzte.

”Doch wäre es (...) ‘Nachtrabpolitik’, wollte man glauben, dass irgendwann unter der Herrschaft des Kapitalismus fast die gesamte Klasse oder die gesamte Klasse imstande wäre, sich bis zu der Bewusstheit und der Aktivität zu erheben, auf der ihr Vortrupp, ihre sozialdemokratische Partei steht.”[xxiv] [203]

Rosa Luxemburg, Pannekoek und Trotzki gehörten zwar zu den ersten, die aus dem Auftauchen von Massenstreik und Arbeiterräten die Lehren zogen, sie blieben jedoch der Auffassung der Massenpartei verhaftet. Rosa Luxemburg kritisierte Lenin vom Standpunkt der Massenpartei aus[xxv] [204], und zwar so, dass sie selber in einen Fehler verfiel, als sie schrieb: ”Tatsächlich ist die Sozialdemokratie aber nicht mit der Organisation der Arbeiterklasse verbunden, sondern sie ist die eigene Bewegung der Arbeiterklasse.”[xxvi] [205] Sie war selber ein Opfer ihrer Positionierung auf der Seite der Menschewiki bezüglich der am II. Kongress der SDAPR auf dem Spiel stehenden Fragen. Sie glitt leider auf das Terrain der Menschewiki und der Ökonomisten ab und ließ die revolutionäre Organisation in der Klasse aufgehen[xxvii] [206]. Sie korrigierte ihren Fehler später, aber bezüglich der Unterscheidung zwischen Organisation der ganzen Arbeiterklasse und Organisation der Revolutionäre blieb Lenin der klarste. Er geht hier am weitesten.

Wer ist Parteimitglied?

Was tun? und Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück stellen also in der Arbeiterbewegung wesentliche politische Fortschritte dar. Die zwei Werke sind praktische politische Errungenschaften auf organisatorischer Ebene. Wie Lenin hat auch die IKS die Organisationsfrage immer als eine eigenständige politische Frage betrachtet. Die politische Organisation der Klasse unterscheidet sich von der Einheitsorganisation, was wiederum praktische Auswirkungen nach sich zieht: Die genaue Definition von Aufnahme und Zugehörigkeit zur Partei, d.h. die Definition des Militanten, seine Aufgaben, Pflichten und Rechte, kurz sein Verhältnis zur Organisation sind hier wichtig. Die Auseinandersetzung am II. Kongress der SDAPR um Artikel 1 der Statuten ist bekannt: Es ist der erste Zusammenstoß zwischen Bolschewiki und Menschewiki. Der Unterschied zwischen den beiden von Lenin und Martow vorgeschlagenen Formulierungen kann als völlig unbedeutend erscheinen:

Für Lenin gilt ”als Mitglied der Partei jeder, der ihr Programm anerkennt und die Partei sowohl in materieller Hinsicht als auch durch die persönliche Betätigung in einer der Parteiorganisationen unterstützt”. Für Martow gilt ”als Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands jeder, der ihr Programm anerkennt, die Partei in materieller Hinsicht unterstützt und ihr unter der Leitung einer ihrer Organisationen regelmäßig persönlichen Beistand leistet”.

Die Divergenz dreht sich um die Anerkennung des Parteimitglieds, um die Frage, ob die Mitgliedschaft - dies Lenins Auffassung - nur den militanten Parteimitgliedern, die von der Partei auch anerkannt werden, zugestanden werden soll, oder ob die auch formell nicht der Partei angehörigen Militanten, die in diesem oder jenem Augenblick oder bei irgendeiner Aktivität der Partei Unterstützung zukommen lassen oder sich selbst einfach als Sozialdemokraten bezeichnen, den Status eines Mitglieds erhalten sollen. Die Position Martows und der Menschewiki ist also viel lockerer, weniger restriktiv und auch weniger präzis als diejenige von Lenin.

Hinter dieser Differenz versteckt sich eine viel tiefschürfendere Frage, die am Kongress dann auch schnell aufgetaucht ist und mit der auch die heutigen Revolutionäre konfrontiert werden: Wer ist Parteimitglied oder, manchmal viel schwieriger, wer ist es nicht? Für Martow war klar: ”Wir sollten uns nur freuen, wenn jeder Streikende, jeder Demonstrant, der für seine Handlungen zur Verantwortung gezogen wird, sich für ein Parteimitglied erklären kann.”[xxviii] [207]

Die Auffassung von Martow tendiert zur Verwässerung, zur Auflösung der revolutionären Organisation oder der Partei in der Klasse. Er schloss sich hier den Ökonomisten an, die er zuvor an der Seite Lenins bekämpft hatte. Er führte zur Unterstützung seines Vorschlags eine Argumentation ins Feld, die die Idee einer einheitlichen, zentralisierten und disziplinierten Avantgardepartei mit einem klar definierten politischen Programm und mit einem noch präziser und strenger definierten Willen zur militanten und kollektiven Tat vollständig liquidierte. Diese Argumentation ebnete einer opportunistischen Politik und einer prinzipienlosen Rekrutierung von Militanten den Weg, die für die langfristige Entwicklung der Partei eine schwere Hypothek darstellten. Lenin hatte recht, als er sagte: ”Im Gegenteil, je stärker unsere Parteiorganisationen sein werden, denen wirkliche Sozialdemokraten angehören, je weniger Wankelmütigkeit und Unbeständigkeit es innerhalb der Partei geben wird, um so breiter, vielseitiger, reicher und fruchtbarer wird der Einfluss der Partei auf die sie umgebenden, von ihr geleiteten Elemente der Arbeitermassen sein. Man darf doch wirklich die Partei als Vortrupp der Arbeiterklasse nicht mit der ganzen Klasse verwechseln.”[xxix] [208]

Martows opportunistischer Vorschlag bezüglich der Organisationsfrage, der Rekrutierung, Aufnahme und Zugehörigkeit zur Partei stellte eine außerordentliche Gefahr dar, die am Kongress sehr schnell erkannt wurde. Axelrod intervenierte diesbezüglich: ”Man kann ein ehrliches und ergebenes Mitglied der sozialdemokratischen Partei sein und gleichzeitig völlig ungeeignet für die streng zentralisierte Kampforganisation.”[xxx] [209]

Wie kann man Parteimitglied, kommunistischer Militanter sein und gleichzeitig "ungeeignet für die zentralisierte Kampforganisation"? Eine solche Idee ist genauso absurd wie diejenige eines kämpfenden und revolutionären Arbeiters, der ungeeignet wäre für jegliche kollektive Handlung der Klasse. Jede kommunistische Organisation darf nur Militante akzeptieren, die in der Lage sind, sich der Disziplin und der Zentralisation des Kampfes zu unterwerfen. Wie könnte es auch anders sein? Dies hieße sonst zu akzeptieren, dass die Militanten die Organisationsbeziehungen und -entscheide sowie die Notwendigkeit des Kampfes nicht unbedingt respektieren. Es hieße den Begriff selber der kommunistischen Organisation ins Lächerliche zu ziehen, die ”der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder”[xxxi] [210] sein muss.

Der historische Kampf der Arbeiterklasse muss einheitlich, kollektiv und zentralisiert sein auf historischer Ebene und international. Die Kommunisten führen einen Kampf, der ein Abbild der Klasse darstellt und jegliche individualistische Anschauung ausschließt: historisch, international, permanent, geeint, kollektiv und zentralisiert.

”Während das kritische Bewusstsein und die freiwillige Initiative für die Individuen nur einen sehr beschränkten Wert haben, werden sie in der Kollektivität der Organisation vollständig verwirklicht.”[xxxii] [211] Wer unfähig ist, einen solchen zentralisierten Kampf zu führen, der ist auch nicht geeignet zur Militanz und kann ergo auch nicht als Parteimitglied anerkannt werden. ”.... dass die Partei nur solche Elemente aufnehme, die wenigstens ein Mindestmaß an Organisiertheit ermöglichen”[xxxiii] [212].

Diese ”Eignung” ist die Frucht der politischen und militanten Überzeugung der Kommunisten. Sie entwickelt sich in der Teilnahme am historischen Kampf der Arbeiterklasse und insbesondere innerhalb der organisierten politischen Minderheiten. Für jede konsequente und streng zentralisierte kommunistische Organisation stellen die Überzeugung und die praktische - nicht platonische - Fähigkeit jedes einzelnen neuen Militanten eine unabdingbare Bedingung für seine Aufnahme sowie einen konkreten Ausdruck seiner politischen Übereinstimmung mit dem kommunistischen Programm dar.

Auch heute noch ist die Definition eines Militanten und seine Qualität als Mitglied einer kommunistischen Organisation eine wesentliche Frage. Was tun? und Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück liefern Grundlagen und Antworten auf viele Organisationsfragen. Deshalb hat sich die IKS auch immer auf den Kampf der Bolschewiki am 2. Kongress bezogen, um mit Klarheit, Strenge und Entschlossenheit den Militanten als einen Genossen zu definieren, "der persönlich in einer der Organisationen der Partei teilnimmt", wie es Lenin verteidigte, und den Sympathisanten, den Weggefährten als denjenigen, der ”das Programm annimmt, die Partei materiell unterstützt und ihr die regelmäßige (oder unregelmäßige, fügen wir hinzu)  Hilfe zukommen lässt unter der Leitung einer ihrer Organisationen”, so wie Martow den Militanten definierte und welche Formulierung schließlich durch den 2. Kongress angenommen wurde. Ebenso haben wir immer den Grundsatz verteidigt: ”Willst du Parteimitglied sein, so darfst du auch die organisatorischen Beziehungen nicht nur platonisch anerkennen.”[xxxiv] [213]

All dies ist nichts Neues für die IKS. Bereits am ersten internationalen Kongress im Januar 1976 spielten diese Überlegungen bei der Annahme der Statuten eine Rolle.

Es wäre eine irrige Annahme, wenn man davon ausginge, dass diese Frage heute kein Problem mehr darstellte. Zuallererst ist die rätistische Strömung - auch wenn sie sich heute politisch eher ruhig verhält, ja sogar im Verschwinden begriffen ist[xxxv] [214], eine Erbin  des Ökonomismus und der Menschewiki bezüglich der Organisationsfragen. In einer Periode größerer Aktivität der Arbeiterklasse wird der Druck aus der rätistischen Ecke, ”sich selbst zu betrügen, die Augen zu verschließen vor der Fülle der Aufgaben, diese Aufgaben zu reduzieren (indem man vergisst, dass) es einen Unterschied gibt zwischen dem revolutionären Vortrupp und den Massen, die sich um ihn drehen”[xxxvi] [215], wieder Aufwind haben. Jedoch ist selbst das Proletarische Politische Milieu, das sich ausschließlich auf die Italienische Linke und auf Lenin bezieht, d.h. die bordigistische Strömung und das IBRP, weit von der praktischen Umsetzung der Methode Lenins und seinen politischen Gedanken zu Organisationsfragen entfernt. Man muss nur die Politik der prinzipienlosen Rekrutierung der bordigistischen PCI in den 70er Jahren betrachten. Diese aktivistische und immediatistische Politik hat schließlich die Explosion dieser Organisation 1982 beschleunigt. Die mangelnde Strenge des IBRP (das Battaglia Comunista in Italien und die CWO in Großbritannien umfasst) führt dazu, dass es manchmal Mühe hat zu entscheiden, wer Militanter der Organisation und wer lediglich ein Sympathisant mit engem Kontakt ist. Dies stellt natürlich ein großes Risiko dar.[xxxvii] [216] Der Opportunismus bezüglich der Organisationsfrage ist heute eines der gefährlichsten Gifte für das proletarische politische Milieu. Und leider ist die alte Leier von Teilen des Milieus über Lenin und die Notwendigkeit der ”starken und kompakten Partei” kein wirksames Gegengift.

Lenin und die IKS: die gleiche Auffassung über die Militanz

Was sagt Rosa Luxemburg in ihrer Polemik mit Lenin zur Frage des Militanten und seiner Zugehörigkeit zur Partei?

”Die Auffassung, die hier (d.h. in Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück) in eindringlicher und erschöpfender Weise ihren Ausdruck gefunden hat, ist die eines rücksichtslosen Zentralismus, dessen Lebensprinzip einerseits die scharfe Heraushebung und Absonderung der organisierten Trupps der ausgesprochenen und tätigen Revolutionäre von dem sie umgebenden, wenn auch unorganisierten, aber revolutionär-aktiven Milieu, andererseits die straffe Disziplin und die direkte, entscheidende und bestimmende Einmischung der Zentralbehörde in alle Lebensäußerungen der Lokalorganisationen der Partei.”[xxxviii] [217]

Auch wenn sie sich nicht ausdrücklich gegen die präzise Definition des Militanten von Lenin ausspricht, so zeigt doch der ironische Ton, wenn sie von der ”Absonderung der organisierten Trupps der Revolutionäre von dem sie umgebenden Milieu” spricht sowie ihr Stillschweigen über die politische Auseinandersetzung um den ersten Artikel des Statuts, dass Rosa Luxemburgs Anschauung zu diesem Zeitpunkt falsch ist und sie sich auf der Seite der Menschewiki positioniert. Sie bleibt eine Gefangene der Massenpartei und ihrem besten Beispiel: der deutschen Sozialdemokratie. Sie sieht das Problem nicht oder weicht ihm aus, indem sie ein Scheingefecht führt. Die Tatsache, dass sie sich nicht  zur Debatte um den ersten Artikel äußert, gibt Lenin recht, wenn er bekräftigt, dass sie ”bloße Worte wiederholt, ohne sich zu bemühen, ihren konkreten Sinn zu begreifen. Sie malt Schreckgespenster an die Wand, ohne erforscht zu haben, was dem Streit wirklich zugrunde liegt. Sie schreibt mir Gemeinplätze, allgemeine Prinzipien und Erwägungen, absolute Wahrheiten zu, sucht aber die relativen Wahrheiten totzuschweigen, die streng stimmte Tatsachen betreffen (...)”[xxxix] [218].

Die generellen Überlegungen von Rosa Luxemburg - auch wenn sie isoliert betrachtet richtig sind - antworten wie auch im Fall Plechanows und vieler anderer nicht auf die wirklichen politischen Fragen, die Lenin stellt. ”Eine berechtigte Sorge ist auch: auf dem kollektiven Charakter der Arbeiterbewegung zu beharren, auf der Tatsache, dass ‘die Befreiung der Arbeiter das Werk der Arbeiter selbst sein wird’, führt zu falschen praktischen Schlussfolgerungen” sagten wir zu diesem Thema bereits 1979[xl] [219]. Rosa Luxemburg geht nicht auf die politischen Errungenschaften des Kampfes der Bolschewiki ein.

Ohne die Debatte um den ersten Artikel wäre keine scharfe Unterscheidung zwischen der Gesamtheit der Arbeiterklasse und der Partei möglich. Ohne den von Lenin geführten Kampf um den ersten Artikel wäre diese Frage keine politische Errungenschaft allererster Wichtigkeit geworden, auf die sich auch die heutigen Kommunisten  stützen müssen, um ihre Organisation zu bilden. Sie sind nicht nur für die Aufnahme neuer Militanter, sondern vor allem auch für die Errichtung klarer, präziser und strenger Beziehungen zwischen den Militanten und der revolutionären Organisation wichtig.

Ist die Verteidigung der Position Lenins zum ersten Artikel des Statuts neu für die IKS? Haben wir unsere Position verändert?

”Um Mitglied der IKS zu sein, muss man (....) sich in die Organisation integrieren, sich aktiv an ihrer Arbeit beteiligen und die einem übertragenen Aufgaben erfüllen”, bekräftigt der Artikel unserer Statuten, der die Frage der Zugehörigkeit des Militanten zur IKS behandelt. Es ist klar, dass wir hier ohne jede Zweideutigkeit die Konzeption, den Geist, ja den Wortlaut, den Lenin am 2. Kongress der SDAPR vorgeschlagen hat, aufnehmen. Wir beziehen uns hier gewiss nicht auf Martow und Trotzki. Es ist schade, dass ehemalige Mitglieder der IKS, die uns heute des ”Leninismus” beschuldigen, ganz vergessen, wofür sie selbst seinerzeit gestimmt haben. Sie haben dies zweifelsohne mit Leichtigkeit und großer Unbekümmertheit und dem studentischen Nach-68er Enthusiasmus getan. Auf jeden Fall sind sie heute äußerst unehrlich, wenn sie die IKS des Positionswechsels bezichtigen und gleichzeitig von sich hören lassen, dass sie selbst der wahren, ursprünglichen IKS treu geblieben seien.

Die IKS an der Seite Lenins bezüglich der Statuten

Wir haben kurz unsere Auffassung über den militanten Revolutionär dargelegt und gezeigt, wessen Erbe sie ist. Zu einem großen Teil stammt sie aus den Beiträgen Lenins in Was tun? und Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. Wir haben die Wichtigkeit unterstrichen, diese Errungenschaften so getreu und streng wie möglich in der täglichen militanten Praxis, mit Hilfe der Organisationsstatuten, umzusetzen. Wir sind diesbezüglich seit jeher Anhänger der Methode und der Lehren Lenins in Organisationsfragen. Der politische Kampf um die Fixierung von präzisen Regeln für die Beziehungen in der Organisation, d.h. für die Statuten, ist fundamental. Der Kampf für deren Respektierung ist selbstverständlich ebenso wichtig. Ohne die Befolgung würden die großen Deklarationen über die Partei nichts als Prahlerei bleiben.

Im Rahmen dieses Artikels können wir mangels Platz nicht näher auf unsere Auffassung über die Einheit der politischen Organisation eingehen und auch nicht aufzeigen, inwiefern der Kampf Lenins auf dem 2. Kongress gegen den Fortbestand der Zirkel ein bedeutender theoretischer und politischer Beitrag war. Aber wir möchten unterstreichen, wie wichtig es in der Praxis ist, die notwendige Einheit in die Organisationsstatuten zu übertragen.

”Der Edelanarchismus begreift nicht, dass ein formales Statut gerade notwendig ist, um die engen Zirkelbindungen durch eine breite Parteibindung zu ersetzen. Es war nicht nötig und nicht möglich, die Bindung innerhalb des Zirkels oder zwischen den Zirkeln in eine feste Form zu bringen, denn diese Bindung fußte auf Freundschaft oder auf einem nicht rechenschaftspflichtigen und nicht motivierten ‘Vertrauen’. Die Parteibindung kann und darf weder auf dem einen noch auf dem anderen fußen, sie muss sich stützen auf ein formelles, (vom Standpunkt des undisziplinierten Intellektuellen) ‘bürokratisch’[xli] [220] redigiertes Statut, dessen strenge Einhaltung uns allein vor dem Zirkeldünkel, den Zirkellaunen, den Zirkelmethoden jener Katzbalgerei bewahrt, die man den freien ‘Prozess’ des [xlii] [221]ideologischen Kampfes nennt.”[xliii] [222]

Ebenso verhält es sich mit der Zentralisierung der Organisation gegen jede föderalistische oder lokale Anschauung. Die Organisation ist auch keine Summe von Teilen, sprich von revolutionären autonomen Individuen. "Der internationale Kongress ist das souveräne Organ der IKS" (Statuten der IKS). Auch hier beziehen wir uns auf den Kampf Lenins und auf die praktische Umsetzung in den Organisationsstatuten.

”In der Zeit der Wiederherstellung der faktischen Einheit der Partei und des Aufgehens der veralteten Zirkel in dieser Einheit ist diese oberste Instanz unbedingt der Parteitag als das höchste Organ der Partei.”[xliv] [223]

Dasselbe gilt für das interne politische Leben: Der Beitrag Lenins betrifft auch und hauptsächlich die internen Debatten, die Pflicht - und nicht einfach nur das Recht -, alle Meinungsverschiedenheiten im Rahmen der gesamten Organisation auszudrücken. Wenn die Debatten geführt worden sind und der Kongress (der das souveräne Organ, die Generalversammlung der Organisation ist) Entscheide gefällt hat, so müssen sich alle Teile und alle Militanten der Gesamtheit fügen. Im Gegensatz zur häufig verbreiteten Idee eines diktatorischen Lenin, der danach trachtet, alle Debatten und das gesamte politische Leben der Organisation zu ersticken, hat er sich in Tat und Wahrheit gegen die menschewistische Vision des Kongresses als ”eines aufzeichnenden, kontrollierenden, aber nicht schöpferischen”[xlv] [224] gestellt.

Für Lenin und die IKS ist der Kongress ein ”Schöpfer”. Insbesondere verwerfen wir radikal die Idee von imperativen Mandaten für die Delegierten am Kongress, da dies den breitesten, dynamischsten und fruchtbarsten Debatten entgegenstehen würde und den Kongress genau zu einem ”Aufzeichner” reduzieren würde, wie es Trotzki 1903 wollte. Ein ”aufzeichnender” Kongress würde den Vorrang der Teile über das Ganze festschreiben, die Herrschaft der Mentalität ”jeder ist Herr im eigenen Haus”, von Lokalismus und Föderalismus. Ein ”aufzeichnender und kontrollierender” Kongress ist die Negation des souveränen Wesens des Kongresses. Wie Lenin sind wir dafür, dass der Kongress ein ”souveränes Organ” der Partei ist, der die Kompetenz zur Entscheidung und zur ”Schöpfung” hat. Der ”schöpferische” Kongress setzt Delegierte voraus, die nicht Gefangene von gebundenen Mandaten sind.[xlvi] [225]

Der Kongress als oberstes Organ impliziert auch seinen programmatischen, politischen  und organisatorischen Vorrang über alle Teile der kommunistischen Organisation.

”‘Der Parteitag ist die höchste Instanz der Partei’, und folglich verletzt die Parteidisziplin und das Parteistatut derjenige, der einen beliebigen Delegierten auf irgendeine Weise daran hindert, sich unmittelbar an den Parteitag zu wenden, und zwar in allen Fragen des Parteilebens, ohne jede Ausnahme. Die Streitfrage läuft also auf das Dilemma hinaus: Zirkelwesen oder Parteiprinzip? Einschränkung der Rechte der Parteitagsdelegierten im Namen eingebildeter Rechte oder Statuten verschiedener Kollektive und Zirkel oder vollständige, nicht nur in Worten, sondern in der Tat vollständige Auflösung aller unteren Instanzen und alten Grüppchen vor dem Parteitag.”[xlvii] [226]

Auch hier beziehen wir uns nicht nur auf den Kampf Lenins, sondern wir lassen diese Auffassung in die Organisationsregeln, d.h. in die Statuten unserer Organisation, einfließen und verstehen uns so als die Erben und als diejenigen, die diese Auffassung fortsetzen.

Die Statuten sind keine Ausnahmemaßnahmen

Wir haben gesehen, dass Rosa Luxemburg und Trotzki Lenin bezüglich des ersten Artikels der Statuten nicht antworteten. Sie vernachlässigten diese Frage vollständig, gleichsam verfuhren sie mit den Statuten im allgemeinen. Sie zogen es vor, auf einer abstrakten Ebene zu verharren. Und wenn sie dennoch geruhten, die Frage der Statuten zu berühren, so unterschätzten sie sie vollständig. Bestenfalls betrachteten sie die Statuten der politischen Organisation einfach als eine Sicherheitsabschrankung, die die Straße begrenzt und die nicht überschritten werden soll. Schlechtestenfalls handelt es sich aber für sie um Werkzeuge der Repression, um Ausnahmemaßnahmen, die nur mit ausserordentlichster Vorsicht angewendet werden dürfen. Diese Sichtweise der Statuten ist dieselbe wie diejenige des Stalinismus: Auch er sieht in den Statuten nur Repressionsmittel, allerdings ohne die "Vorsicht".

Für Trotzki hätte Lenins Formulierung von Artikel 1 ”die platonische Befriedigung (verschafft), das statutarisch sicherste Mittel gegen den Opportunismus entdeckt (zu haben). Kein Zweifel: Es handelt sich um eine einfältige, typisch verwaltungstechnische Methode, eine ernsthafte praktische Frage zu lösen.”[xlviii] [227]

Rosa Luxemburg antwortete Trotzki unwissentlich, als sie bekräftigte, dass im Falle einer bereits bestehenden Partei (also im Falle der deutschen sozialdemokratischen Massenpartei), ”auch eine strengere Durchführung des zentralistischen Gedankens im Organisationsstatut und die straffere Paragraphierung der Parteidisziplin als ein Damm gegen die opportunistische Strömung sehr zweckmäßig” sei[xlix] [228].

Sie ist im Falle Deutschlands also, d.h. allgemein, mit Lenin einverstanden. Im Falle Russlands aber beginnt sie "abstrakte Wahrheiten" zu verkünden (”so können opportunistische Verirrungen nicht von vornherein verhütet werden, sie müssen erst, nachdem sie in der Praxis greifbare Gestalt angenommen haben, durch die Bewegung selbst überwunden werden”), die überhaupt nichts aussagen und in der Realität ”von vornherein” den Verzicht auf einen Kampf gegen den Opportunismus in Organisationsfragen bedeuten. Sie verfehlte es jedoch im Falle Russlands nicht, sich über die Statuten als "Papiertiger" oder "Papierkrieger" lustig zu machen und sie als Ausnahmemaßnahmen zu betrachten:

”Das Parteistatut soll nicht etwa an sich eine Waffe zur Abwehr des Opportunismus sein, sondern bloß ein äußeres Machtmittel zur Ausübung des maßgebenden Einflusses der tatsächlich vorhandenen revolutionären proletarischen Majorität der Partei.”[l] [229]

Wir hatten bezüglich dieses Punktes immer Meinungsverschiedenheiten mit Rosa Luxemburg: ”Rosa fährt fort zu wiederholen, dass es an der Massenbewegung selber liege, den Opportunismus zu überwinden; die Revolutionäre hätten diese Bewegung nicht künstlich zu beschleunigen. (...) Rosa Luxemburg verstand nicht, dass die kollektive Natur der revolutionären Aktion etwas ist, dass ebenfalls geschmiedet wird.”[li] [230] In der Frage der Statuten sind und waren wir immer mit Lenin einverstanden.

Die Statuten als Lebensregel und Kampfwaffe

Für Lenin sind die Statuten weit mehr als einfache formelle Funktionsregeln, die man lediglich in Ausnahmesituationen konsultiert. Lenin definiert die Statuten gegen Rosa Luxemburg oder die Menschewiki als Grundlage des Verhaltens, als Geist, der die Organisation und ihre Militanten täglich beleben soll. Lenin begreift die Statuten als Waffen, die den einzelnen Teilen der Organisation und ihren Militanten Verantwortung gegenüber der Gesamtheit der politischen Organisation auferlegen, ganz im Gegensatz zur Auffassung der Statuten als Repressions- oder Zwangsmittel. Die Statuten verpflichten zur öffentlichen Darstellung von Meinungsverschiedenheiten und politischen Schwierigkeiten vor der Gesamtheit der Organisation.

Lenin fasst die Vertretung von Standpunkten, Schattierungen, Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten nicht als Recht der Militanten, gleichsam als Recht des Individuums gegenüber der Organisation auf, sondern als Pflicht und Verantwortung gegenüber der Partei und ihren Mitgliedern. Der militante Kommunist ist gegenüber seinen Kampfgenossen, der politischen Einheit und der Parteiorganisation verantwortlich. Die Statuten sind Werkzeuge der Einheit und der Zentralisierung der Partei, mit anderen Worten: Waffen gegen den Föderalismus, den Zirkelgeist, Vetternwirtschaft, gegen jegliche Form von Parallelleben und -diskussionen. Die Statuten sind für Lenin Ausdruck des politischen, organisatorischen und militanten Lebens und nicht lediglich äußere Grenzen und Regeln.

”Die strittigen Fragen innerhalb der Zirkel wurden nicht gemäß Statut entschieden, sondern durch Kampf und durch die Drohung, fortzugehen. (...) Als ich Mitglied eines bloßen Zirkels war (...), da durfte ich mich, wenn ich z.B. mit X nicht zusammenarbeiten wollte, zur Rechtfertigung einzig und allein auf mein Misstrauen berufen, über das ich keine Rechenschaft abzulegen und das ich nicht zu motivieren brauchte. Seitdem ich Mitglied der Partei bin, darf ich mich nicht nur auf mein unbestimmtes Misstrauen berufen, denn das würde jeder Art Launen und jeder Art Dünkel des alten Zirkelwesens Tür und Tor öffnen; ich muss mein ‘Vertrauen’ oder ‘Misstrauen’ mit formellen Argumenten begründen, d.h. mit dem Hinweis auf diese oder jene formell festgelegte Satzung unseres Programms, unserer Taktik, unseres Statuts; ich darf mich nicht auf ein willkürliches ‘Vertrauen’ oder ‘Misstrauen’ beschränken, sondern ich muss einsehen, dass über alle meine Entschlüsse und überhaupt über alle Entschlüsse jedes Teils der Partei vor der Gesamtpartei Rechenschaft abzulegen ist; ich muss den formell vorgeschriebenen Weg gehen, um meinem ‘Misstrauen’ Ausdruck zu geben, um die Ansichten und die Wünsche durchzusetzen, die sich aus diesem Misstrauen ergeben. Wir haben uns bereits vom Zirkelstandpunkt des willkürlichen ‘Vertrauens’ zum Parteistandpunkt erhoben, der die Einhaltung rechenschaftspflichtiger und formell vorgeschriebener Methoden verlangt, mittels deren das Vertrauen ausgedrückt und überprüft wird (...)”[lii] [231].

Die Statuten der revolutionären Organisation sind nicht einfache Ausnahmemaßnahmen. Sie sind eine Konkretisierung von Organisationsprinzipien der politischen Avantgarde der Arbeiterklasse. Als Produkt dieser Prinzipien sind sie gleichzeitig eine Waffe gegen den Opportunismus in Organisationsfragen sowie die Grundlage, auf der die revolutionäre Organisation aufbauen muss. Sie sind Ausdruck ihrer Einheit, ihrer Zentralisierung, ihres politischen und organisatorischen Lebens und schließlich ihres Klassencharakters. Sie sind die Regel und der Geist, die die Militanten täglich in ihren Beziehungen zur Organisation, in ihren Beziehungen zu anderen Militanten, in den ihnen anvertrauten Aufgaben, in ihren Rechten und Pflichten, in ihrem täglichen persönlichen Leben, das weder im Widerspruch zur militanten Tätigkeit noch zu den kommunistischen Prinzipien stehen darf, leiten.

Für uns ist die Organisationsfrage in der Tradition Lenins eine eigenständige politische Frage. Darüber hinaus ist sie eine fundamentale politische Frage. Die Annahme der Statuten und der permanente Kampf für ihre Respektierung und Anwendung steht im Zentrum des Verständnisses und des Kampfes für den Aufbau der politischen Organisation. Die Statuten sind auch eine eigenständige theoretische und politische Frage. Ist dies eine Entdeckung unserer Organisation? Eine Änderung unserer Position?

”Der einheitliche Charakter der IKS wird auch ausgedrückt durch die vorliegenden Statuten, die für die ganze Organisation gelten (...). Diese Statuten stellen eine konkrete Anwendung der Auffassung der IKS in Organisationsfragen dar. Als solche sind sie integrierender Bestandteil der Plattform der IKS.” (aus den Statuten der IKS)

Die kommunistische Partei wird auf den politisch-organisatorischen Errungenschaften Lenins errichtet

Im Kampf der Arbeiterklasse spielt Lenins Auseinandersetzung eine wichtige Rolle für die Errichtung ihres politischen Organs, das sich im März 1919 in der Gründung der Kommunistischen Internationale konkretisierte. Vor Lenin hatte bereits die I. Internationale eine ebenso wichtige Rolle gespielt. Nach Lenin stellte der Kampf der Italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken für das eigene organisatorische Überleben einen weiteren wichtigen Augenblick dar.

Durch all diese unterschiedlichen Erfahrungen zieht sich ein roter Faden, eine prinzipielle, theoretische und politische Kontinuität in Organisationsfragen. Die heutigen Revolutionäre müssen ihre Tätigkeiten in diese Kontinuität und historische Einheit stellen.

Wir haben jetzt bereits eine Reihe unserer eigenen Texte zitiert, die klar und ohne Zweideutigkeit unsere Herkunft und unser Erbe in Organsationsfragen darlegen. Die Methode der Wiederaneignung der politischen und theoretischen Errungenschaften der Arbeiterklasse ist keine Erfindung der IKS. Wir haben sie von der Italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken und ihrem Organ Bilan aus den 30er Jahren und von der Kommunistischen Linken Frankreichs und ihrem Organ Internationalisme in den 40er Jahren geerbt. Wir haben uns immer auf diese Methode bezogen und ohne sie würde die IKS in ihrer heutigen Form nicht bestehen.

”Der vollkommenste Ausdruck der Lösung des Problems, welche Rolle das bewusste Element, die Partei, für den Sieg des Sozialismus zu spielen berufen ist, wurde durch die Gruppe der russischen Marxisten in der alt[1] [232]en Iskra, insbesondere durch Lenin, geprägt, der in seinem bemerkenswerten Werk Was tun? 1902 eine grundsätzlich Definition der Parteifrage lieferte. Der Leninsche Begriff der Partei sollte der bolschewistischen Partei als Wirbelsäule dienen und einen der größten Beiträge dieser Partei im internationalen Kampf des Proletariats darstellen.”[liii] [233]

Tatsächlich kann sich die kommunistische Weltpartei von morgen nicht unter Vernachlässigung der prinzipiellen, theoretischen, politischen und organisatorischen Errungenschaften Lenins bilden. Die wirkliche und nicht nur deklamatorische Wiederaneignung seiner Errungenschaften sowie ihre strenge und systematische Anwendung unter den heutigen Bedingungen gehören zu den wichtigsten Aufgaben, die die heutigen kleinen kommunistischen Gruppen wahrnehmen müssen, wenn sie zum Prozess der Parteibildung beitragen wollen.

 

RL



[1] [234]



[i] [235] IKS-Broschüre Communist Organisations and Class Consciousness (Kommunistische Organisationen und Klassenbewusstsein), engl./frz./span., 1979

[ii] [236] Kautsky, zitiert nach Lenin in Was tun?, Lenin Werke Bd. 5 S. 394f.

[iii] [237] Trotzki in Unsere politischen Aufgaben, zit. nach Leo Trotzki, Schriften zur revolutionären Organisation, Rowohlt Taschenbuch Verlag, S. 34

[iv] [238] Aus den Protokollen des Kongresses von 1903 (aus dem Französischen übersetzt)

[v] [239] P. Axelrod, Über die Ursprünge und die Bedeutung unserer organisatorischen Meinungsverschiedenheiten, Brief an Kautsky, 1904

[vi] [240] G. Plechanow, Die Arbeiterklasse und die sozialdemokratischen Intellektuellen, 1904

[vii] [241] vgl. Massenstreik, Partei und Gewerkschaften (R. Luxemburg 1906) und 1905 (Trotzki 1908/09)

[viii] [242] vgl. den ersten Teil dieses Artikels in Internationale Revue Nr. 23

[ix] [243] Lenin, Ein Vortrag über die Revolution von 1905, Jan. 1917, Werke Bd. 23 S. 249

[x] [244] Lenin, Was tun?, Werke Bd. 5, S. 385

[xi] [245] Marx ist in seinen Werken viel klarer. Jedoch waren viele von ihnen sie zu jener Zeit unter den Revolutionären unbekannt, da sie nicht verfügbar oder nicht publiziert waren. Das Hauptwerk zur Frage des Bewusstseins, Die deutsche Ideologie, wurde beispielsweise erst 1932 veröffentlicht.

[xii] [246] Lenin, Was tun?, Werke Bd. 5 S. 436

[xiii] [247] a.a.O.

[xiv] [248] IKS-Broschüre Communist Organisations and Class Consciousness (Kommunistische Organisationen und Klassenbewusstsein), engl./frz./span., 1979

[xv] [249] Diesen Artikel (Internationale Revue Nr. 11) schrieb nicht die IKS, sondern die Genossen des Grupo Proletario Internacionalista, die später die IKS-Sektion in Mexiko bildete.

[xvi] [250] ”Klassenbewusstsein und Partei”, Internationale Revue Nr. 11, S. 32

[xvii] [251] Unter all den bürgerlichen Lügen zu dieser Frage, befindet sich auch diejenige von RV, einem ehemaligen Mitglied der IKS, der erklärt, "dass es eine wahrhafte Kontinuität und Kohärenz zwischen den Konzeptionen von 1903 und Taten wie dem Fraktionsverbot in der bolschewistischen Partei oder der Niederschlagung des Kronstädter Aufstands gebe" (RV, "Stellungnahme zur letzten Entwicklung der IKS", veröffentlicht in unserer Broschüre La prétendu paranoia du CCI (Die angebliche Paranoia der IKS, frz.).

[xviii] [252] Lenin, Aprilthesen, Werke Bd. 24 S. 4f.

[xix] [253] Lenin, Was tun?, a.a.O. S. 483 und 468

[xx] [254] a.a.O., Hervorhebung im Original

[xxi] [255] Hier soll nur kurz an das in der russischen Arbeiterklasse herrschende schwache schulische Niveau und den Analphabetismus erinnert werden. Dieser Umstand hinderte Lenin nicht daran, sie bei den Aktivitäten der Partei auf gleicher Ebene wie die Intellektuellen zu integrieren.

[xxii] [256] Siehe den ersten Teil dieses Artikels in der vorhergehenden Nummer.

[xxiii] [257] ”Er wandte sich auch ab von der sozialdemokratischen Auffassung der Massenpartei. Für Lenin setzten die neuen Kampfbedingungen voraus, dass es eine Avantgardepartei in der Form einer Minderheit gab, die auf die Umwandlung der wirtschaftlichen in politischen Kämpfe hinarbeiteten.” IKS-Broschüre Communist Organisations and Class Consciousness (Kommunistische Organisationen und Klassenbewusstsein), engl./frz./span., 1979

[xxiv] [258] Lenin, Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, a.a.O. S. 258

[xxv] [259] ”Diese Militante, die durch die Schule der Sozialdemokratie gegangen war, entwickelte eine so bedingungslose Hingabe an den Massencharakter der revolutionären Bewegung, dass sich in ihren Augen die Partei allem anzupassen hatte, was diesen Charakter trug.” IKS-Broschüre Communist Organisations and Class Consciousness (Kommunistische Organisationen und Klassenbewusstsein), engl./frz./span., 1979

[xxvi] [260] Rosa Luxemburg, Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, Gesammelte Werke Bd. 1/2, S. 429

[xxvii] [261] Der Leser wird bemerkt haben, dass diese Betrachtungsweise dem Substitionismus Tür und Tor öffnet. Die Partei stellt sich an die Stelle der Handlungen der Arbeiterklasse ... bis zur Ausübung der Staatsmacht in ihrem Namen oder aber zur Durchführung einer putschistischen Politik, wie dies die Stalinisten in den 20ern taten.

[xxviii] [262] Martow, zitiert von Lenin in Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, a.a.O. S. 258f.

[xxix] [263] Lenin, Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, Werke Bd. 7, S. 257

[xxx] [264] Protokoll des 2. Kongresses der SDAPR

[xxxi] [265] K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW Bd. 4 S. 474

[xxxii] [266] Thesen über die Taktik der Kommunistischen Partei Italiens, Römer Thesen, 1922

[xxxiii] [267] Lenin, Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, a.a.O. S. 255

[xxxiv] [268] Der Bolschewik Pawlowitsch, zitiert von Lenin in Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, Werke Bd. 7 S. 272

[xxxv] [269] Siehe unsere Territorialpresse zur Einstellung von Daad en Gedachte, einer Publikation einer rätistischen holländischen Gruppe mit demselben Namen

[xxxvi] [270] Lenin, Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück

[xxxvii] [271] Wir haben die diesbezügliche Ungenauigkeit und den Opportunismus von BC in Italien gegenüber den Militanten der GLP bereits kritisiert (vgl. Weltrevolution Nr. 89). Es geht dabei nicht um ein isoliertes Beispiel. Kürzlich erschien auf der Website des IBRP ein Artikel mit dem Titel ”Sollen Revolutionäre in reaktionären Gewerkschaften arbeiten?”. In diesem nicht gezeichneten Artikel, dessen Autor ein Mitglied von CWO sein könnte, wird auf die Frage im Titel die Antwort gegeben: ”Materialisten, nicht Idealisten, müssen eine bejahende Antwort geben.” Zwei Argumente werden dafür vorgetragen: ”Es gibt viele kampfbereite Arbeiter in den Gewerkschaften”, und ”Kommunisten sollten nicht Organisationen geringschätzen, die Massen von Arbeitern vereinigen” (sic). Diese Position steht in diametralem Widerspruch zu derjenigen von BC an ihrem letzten Kongress (und somit vermutlich derjenigen des IBRP), wo sie die Idee vertrat, dass ”es keine wirkliche Vertretung der Arbeiterinteressen, sogar der unmittelbarsten, geben kann als außerhalb und gegen die Gewerkschaften”. Vor allem aber besteht das Problem darin, dass wir keine Ahnung haben, wer den Artikel schrieb: War es ein Militanter des IBRP oder ein Sympathisant? Und warum, unabhängig davon, gab es keine Stellungnahme zum Artikel, keine Kritik an ihm? Vergassen es die Genossen einfach? Oder war es Opportunismus im Zusammenhang mit der Rekrutierung eines neuen Militanten, der offenbar noch nicht vollständig mit der bürgerlichen Linken gebrochen hatte? Oder ist es schlicht und einfach eine Unterschätzung der Organisationsfrage? Noch einmal: Bei den Gruppen des IBRP riecht es da nach Martow. In der Zwischenzeit ist der Artikel aus der Website entfernt worden, ohne irgendeinen Kommentar.   

[xxxviii] [272] Rosa Luxemburg, Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, a.a.O. S. 425

[xxxix] [273] Lenin, Antwort an Rosa Luxemburg, Werke Bd. 7, S. 484

[xl] [274] IKS-Broschüre Communist Organisations and Class Consciousness (Kommunistische Organisationen und Klassenbewusstsein), engl./frz./span.

[xli] [275] Ein weiteres Beispiel zur polemischen Methode Lenins, der die Beschuldigungen seiner Gegner aufgriff, um sie gegen sie selbst zu wenden (vgl. den ersten Teil dieses Artikels).

[xlii] [276]

[xliii] [277] Lenin, Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, Werke Bd. 7 S. 397

[xliv] [278] a.a.O. S. 401

[xlv] [279] Trotzki, Bericht der sibirische Delegation

[xlvi] [280] Der Delegierte der Kommunistischen Partei Deutschlands, Eberlein, hatte an der internationalen Konferenz im März 1919 anfänglich das Mandat, sich gegen die Bildung einer III. Internationale zu stellen. Für alle Teilnehmer, insbesondere für die bolschewistischen Anführer wie Lenin, Trotzki, Sinowjew war klar, dass die Gründung der kommunistischen Internationale nicht ohne Beitritt der KPD stattfinden könne. Wenn nun Eberlein Gefangener des imperativen Mandats geblieben wäre, hätte die Internationale als Weltpartei der Arbeiterklasse nicht gegründet werden können.

[xlvii] [281] Lenin, Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, Werke Bd. 7 S. 213

[xlviii] [282] Trotzki, Bericht der sibirischen Delegation

[xlix] [283] Rosa Luxemburg, Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, a.a.O. S. 442

[l] [284] a.a.O. S. 442

[li] [285] IKS-Broschüre Communist Organisations and Class Consciousness (Kommunistische Organisationen und Klassenbewusstsein), engl./frz./span., 1979

[lii] [286] Lenin, Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, a.a.O. S. 396ff.

[liii] [287] Internationalisme Nr. 4, 1945

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Organisation [64]

Wirtschaftskrise: I. Die 70er Jahre

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30 Jahre offene Krise des Kapitalismus

Die Reden der herrschenden Klasse über den ”guten Gesundheitszustand” und die ewige Existenz ihres Systems wurden durch die zahlreichen ökonomischen Erschütterungen in den letzten 30 Jahren in zunehmendem Maße als leeres Geschwätz entlarvt: die Rezessionen von 1974-75, 1980-82 und die besonders heftige von 1990-93; Börsenkräche wie jener vom Oktober 1987 oder der ”Tequila-Effekt” von 1994 etc. Indes stellt der anschwellende Strom schlechter Wirtschaftsnachrichten seit August 1997 - der Zusammenbruch der thailändischen Währung, das Debakel der asiatischen ”Tiger” und ”Drachen”, die brutale Entschlackung der weltweiten Aktienmärkte, der Bankrott Russlands, die angespannte Situation in Brasilien und anderen ”aufstrebenden” Volkswirtschaften Lateinamerikas und vor allem der ernste Zustand der zweitwichtigsten Volkswirtschaft der Welt, Japans - die ernsteste Episode in der historischen Krise des Kapitalismus dar. Dies bestätigt nachdrücklich die Analyse des Marxismus und demonstriert die Notwendigkeit des Sturzes des Kapitalismus durch die proletarische Weltrevolution.

Die Gestalt, die die Krise in den letzten 30 Jahren vor allem in den wichtigen Industrieländern angenommen hat, ist nicht mit jener brutalen Depression zu vergleichen, die sich in den 30er Jahren ereignet hatte. Was wir bisher gesehen haben, war ein langsamer und fortschreitender Abstieg in die Hölle der Arbeitslosigkeit und Armut durch aufeinanderfolgende Rezessionen. Die schlimmsten Verwüstungen haben sich dabei meist auf die Länder der Peripherie, in Afrika, Südamerika, Asien, konzentriert, die unwiderruflich in den Morast der Barbarei und Zerstörung gesunken sind.

Für die Bourgeoisie in den Hauptindustrieländern, wo die wichtigsten proletarischen Massen konzentriert sind, hat diese bis dahin unbekannte Form der historischen Krise des Kapitalismus den Vorteil, den Todeskampf des Kapitalismus zu verbergen und die Illusion zu schaffen, dass seine Erschütterungen nur vorübergehend sind und dass sie den zyklischen Krisen entsprechen, die typisch für das vorherige Jahrhundert waren und denen Perioden intensiver Entwicklung folgten.

Als eine Waffe im Kampf gegen solche Mystifikationen veröffentlichen wir eine Studie über die letzten 30 Jahre. Einerseits wird sie aufzeigen, dass der nur langsam eskalierende Rhythmus der Krise das Resultat der staatlichen Bemühungen gewesen ist, die Krise zu ”managen”, indem man sich den Gesetzen des kapitalistischen Systems entzog (besonders durch die Flucht in astronomisch hohe Schulden, die ohne Beispiel in der Menschheitsgeschichte sind), und andererseits wird sie zeigen, dass diese Politik nicht einmal im entferntesten eine Lösung für die unheilbare Krankheit des Kapitalismus ist. Der Preis für die Hinauszögerung der schlimmsten Auswüchse in den wichtigsten Ländern ist: immer explosivere Widersprüche und die Verschlimmerung des tödlichen Krebses des Weltkapitalismus.

Crash oder allmählicher Zusammenbruch?

Der Marxismus hat klar gemacht, dass der Kapitalismus keine Lösung für seine historische Krise vorweisen kann, eine Krise, die im Ersten Weltkrieg ihren Ausgangspunkt hat. Nichtsdestotrotz waren Form und Ursachen dieser Krise Objekt von Diskussionen unter den Revolutionären der Linkskommunisten gewesen (1). Besteht die Form aus jener deflationären Depression, die typisch war für die zyklischen Krisen der aufsteigenden Periode (zwischen 1820 und 1913)? Oder besteht sie nicht vielmehr aus einem Prozess fortschreitender Degeneration, in dem die gesamte Weltwirtschaft in einen immer kritischeren Zustand der Stagnation und Auflösung kollabiert?

In den 20er Jahren brachten einige Tendenzen in der KAPD die ”Theorie des Zusammenbruchs” auf, derzufolge die historische Krise des Kapitalismus die Form eines irreversiblen, brutalen Zusammenbruchs annehmen wird, was dem Proletariat die Notwendigkeit aufzwingen würde, die Revolution zu machen. Einige bordigistische Strömungen, die meinen, dass eine plötzliche Krise das Proletariat zwingen würde, in der revolutionären Tat Zuflucht zu suchen, drücken ebenfalls diese Sichtweise aus.

Wir können hier nicht in eine detaillierte Diskussion über diese Theorie eintreten. Jedoch sollte klar sein, dass die Entwicklung des Kapitalismus seit 1914 sie sowohl auf der politischen als auch auf der ökonomischen Ebene als falsch überführt hat. Die historische Erfahrung hat bestätigt, dass die Bourgeoisie imstande ist, Berge zu versetzen, um einen spontanen und plötzlichen Zusammenbruch ihres Produktionssystems zu verhindern. Die Frage, worin die historische Krise des Kapitalismus mündet, ist nicht strikt ökonomisch, sondern vor allem und im wesentlichen politisch, abhängig von der Entwicklung des Klassenkampfes:

 *Wird das Proletariat seinen Kampf zur Durchsetzung seiner revolutionären Diktatur entfalten, welche die Menschheit aus der gegenwärtigen Patsche helfen und zum Kommunismus als neuer Produktionsweise führen wird, die die unlösbaren Widersprüche des Kapitalismus überwindet und löst?

 *Wird das Überleben des Systems die Menschheit in die Barbarei und endgültige Zerstörung stoßen, sei es durch einen allgemeinen Weltkrieg, sei es durch die langsame Agonie einer fortschreitenden und systematischen Zersetzung (2).

Die Bourgeoisie hat auf die permanente Krise ihres Systems mit der allgemeinen Tendenz zum Staatskapitalismus geantwortet. Der Staatskapitalismus ist nicht nur eine ökonomische Antwort, sondern auch eine politische, gleichermaßen notwendig zur Ausführung eines imperialistischen Krieges wie zur Konfrontation des Proletariats. Vom ökonomischen Standpunkt aus richten sich die Bemühungen des Staatskapitalismus nicht so sehr darauf, diese Krise zu überwinden und zu lösen, sondern vielmehr darauf, sie zu managen und hinauszuzögern (3).

So wie die internationale revolutionäre Welle des Proletariats zwischen 1917 und 1923 die Bedrohung ihres Systems auf der entscheidenden politischen Ebene deutlich gemacht hat, so demonstrierte die brutale Depression von 1929 der Bourgeoisie die großen Gefahren, die ihre historische Krise auf ökonomischer Ebene barg. Die Bourgeoisie gab an keiner der beiden Fronten auf. Sie entwickelte eine totalitäre Form ihres Staates, damit er als Verteidigungsbollwerk gegen die proletarische Bedrohung und gegen die wirtschaftlichen Widersprüche seines Ausbeutungssystems dienen kann. Dieser totalitäre Staat drückte sich auf ökonomischer Ebene als allgemeine Tendenz zum Staatskapitalismus aus, der verschiedene Formen annahm: nazistische, stalinistische und ”demokratische”.

In den letzten 30 Jahren, die ebenso vom offenen Wiederauftreten der historischen Krise des Kapitalismus sowie von der Wiedergeburt des proletarischen Kampfes gekennzeichnet waren, sahen wir, wie die Bourgeoisie ihre staatlichen  Mechanismen des Krisenmanagements perfektionierte und ausweitete, um eine abrupte und unkontrollierte Explosion zumindest in den Hauptindustrieländern (Europa, Nordamerika, Japan), dort wo der historische Ausgang der unheilbaren Krise des Kapitalismus bestimmt wird,  zu vermeiden (4).

Die Bourgeoisie hat jeden denkbaren Trick an ihren eigenen ökonomischen Gesetzen ausprobiert, um eine Wiederholung der Erfahrung von 1929, mit einem katastrophalen Fall der Weltproduktion um 30% in weniger als drei Jahren und einer Explosion der Arbeitslosigkeit von 4 auf 28% in derselben Persiode, zu vermeiden. Sie hat nicht nur zahllose ideologische Kampagnen vom Stapel gelassen, die den Zweck verfolgten, das Ausmaß der Krise und ihre wahren Ursachen zu verbergen, sie hat sich auch die Künste ihrer ”Nationalökonomie” zunutze gemacht, um den Anschein eines Wirtschaftsgefüges aufrechtzuerhalten, das funktioniert, Fortschritte macht und auch ein bisschen Zukunft hat.

Bei ihrer Gründung stellte unsere Strömung fest, dass ”in bestimmten Augenblicken das Zusammenfließen einiger dieser Indikatoren einen massiven Konjunktureinbruch in bestimmten nationalen Kapitalien wie Großbritannien, Italien, Portugal oder Spanien auslösen könnte. Dies ist eine Möglichkeit, über die wir nicht hinwegsehen. Dennoch könnte sich, obwohl solch ein Kollaps der Weltwirtschaft einen irreparablen Schaden versetzen würde (britische Auslandsguthaben und -investitionen betragen allein bis zu 20 Milliarden Pfund Sterling), das kapitalistische Weltsystem weiterschleppen, solange es in einigen fortgeschrittenen Ländern wie den USA, Deutschland, Japan und den osteuropäischen Ländern als Produktionsweise aufrechterhalten wird. All diese Ereignisse tendieren natürlich dahin, das gesamte System zu verschlingen, und Krisen sind heute unvermeidlich Weltkrisen. Aber aus den Gründen, die wir oben hervorgehoben haben, haben wir Anlass zu glauben, dass die Krise sich in die Länge ziehen wird - voller Erschütterungen und in steilen Berg- und Talfahrten, aber eher einem Schneeballeffekt ähnelnd als einem jähen, steilen Fall. Selbst der Ruin einer nationalen Wirtschaft würde nicht notwendigerweise all die Kapitalisten dazu treiben, sich selbst aufzuhängen, wie Rosa Luxemburg in einem etwas anderen Zusammenhang bemerkte. Damit dies passiert, muss die Personifizierung des nationalen Kapitals, der Staat, von niemand anderem als dem revolutionären Proletariat erdrosselt werden.” (5)

In ähnlicher Weise haben wir nach den gewaltsamen ökonomischen Ereignissen in den 80er Jahren darauf hingewiesen, dass ”die kapitalistische Maschinerie noch nicht vollständig kollabiert ist. Trotz der Rekordzahl von Bankrotten, trotz der immer häufigeren und ernsthafteren Risse im System funktioniert die Profitmaschine weiterhin, indem sie neue, gigantische Reichtümer konzentriert - das Produkt des Gemetzels unter verschiedenen Kapitalien -, und rühmt mit zynischer Arroganz die Wohltaten des 'Liberalismus'.” (6)

Eine herrschende Klasse begeht keinen Selbstmord oder schließt den Laden und übergibt den Schlüssel an die Klasse, die sie ersetzen soll. Wir können dies bei der feudalen Klasse sehen, die erst nach heftigem Widerstand einen Pakt mit der Bourgeoisie schloss, der ihr einen Platz in der neuen Ordnung einräumte. Dies wird bei der Bourgeoisie noch weniger der Fall sein, die sehr gut weiss, dass sie von der neuen, vom Proletariat repräsentierten Ordnung nichts anderes als ihr eigenes Verschwinden erwarten kann.

Sowohl für die Mystifizierung und Niederringung des Proletariats als auch dafür, ihr ökonomisches System am Laufen zu halten, ist es notwendig, dass die Angehörigen der Bourgeoisie nicht demoralisiert werden und das Handtuch werfen. Dies bedeutet, dass der Staat um jeden Preis das Wirtschaftsgefüge aufrechtzuerhalten hat, dass er ihm den bestmöglichen Anschein von Normalität und Effektivität verleiht, um ein Minimum an Vertrauen und Glaubwürdigkeit der Wirtschaft sicherzustellen.

Auf alle Fälle ist die Krise der beste Verbündete des Proletariats bei der Erfüllung seiner revolutionären Mission. Jedoch handelt es sich nicht um etwas Spontanes oder Mechanisches, sondern findet durch die Entwicklung seines Kampfes und seines Bewusstseins statt. Wenn das Proletariat seine Reflexionen über die Ursachen der Krise entwickeln soll, dann müssen die Gruppen der Linkskommunisten einen zähen und hartnäckigen Kampf führen, um die Realität des Todeskampfes des Kapitalismus aufzuzeigen und alle Bemühungen des Staatskapitalismus zu entlarven, die die Krise verlangsamen, verstecken, von den Nervenzentralen des Weltkapitalismus weg- und zu den eher peripheren Regionen hinlenken sollen, wo das Proletariat ein geringeres gesellschaftliches Gewicht besitzt.

Das Krisenmanagement

Der Begriff des ”Krisenmanagements”, um die Ausdrucksweise des Berichts unseres vorletzten Internationalen Kongresses (7) zu gebrauchen, ist von entscheidender Natur. Seit 1967 hat der Weltkapitalismus auf das offene Wiederauftreten seiner historischen Krise mit einer Politik des Krisenmanagements geantwortet, was für das Verständnis sowohl des Verlaufs der wirtschaftlichen Entwicklung innerhalb dieser Periode als auch des Erfolges wichtig ist, den die Bourgeoisie bis jetzt dabei hatte, Ausmaß und Umfang der Krise vor dem Proletariat zu verschleiern.

Diese Politik des Krisenmanagements bildet den vollendetsten Ausdruck für die allgemeine historische Tendenz zum Staatskapitalismus. In der Realität der letzten 30 Jahre haben die westlichen Staaten eine Praxis der Manipulation des Wertgesetzes, der massiven und allgegenwärtigen Verschuldung, des autoritären staatlichen Eingriffs gegenüber den wirtschaftlich Handelnden und in den Produktionsprozess, der Tricks im Umgang mit Geld, dem Aussenhandel und den öffentlichen  Schulden entwickelt, die die staatlichen Planungsmethoden der stalinistischen Bürokratien wie ein Kinderspiel aussehen lässt. All das Geschnatter der westlichen Bourgeoisie über ”Marktwirtschaft”, das ”Spiel der freien Marktkräfte”, die ”Überlegenheit des Liberalismus” und ähnliches ist in Wahrheit eine enorme Mystifikation. In den letzten 70 Jahren gab es, wie die Linkskommunisten hervorgehoben haben, keine zwei ”Wirtschaftssysteme”, von denen das eine eine ”Planwirtschaft” und das andere eine ”freie Wirtschaft” wäre, sondern nur eines: den Kapitalismus, welcher in seinem in die Länge gezogenen Todeskampf durch einen immer entwickelteren und totalitäreren Staatsinterventionismus gestützt wird.

Diese Staatsintervention beim Krisenmanagement, die danach strebt, sich der Krise anzupassen und sie zu verzögern, hat den Hauptindustrieländern ermöglicht, einen brutalen Zusammenbruch, eine allgemeine Desintegration des Systems zu verhindern. Jedoch hat dies weder die Krise gelöst noch irgendeinen ihrer schlimmsten Ausdrücke wie die Arbeitslosigkeit oder die Inflation beseitigt. Die einzige Errungenschaft der 30 Jahre des ”Krisenmanagements” ist eine Art organisierter Marsch in den Abgrund, die Möglichkeit eines kontrollierten Absturzes durch aufeinanderfolgende Rezessionen, dessen einziges reales Resultat darin besteht, das Leiden, die Unsicherheit und Verzweiflung der Arbeiterklasse und der übergroßen Mehrheit der Weltbevölkerung auf unbestimmte Zeit zu verlängern. Einerseits ist die Arbeiterklasse der großen Industriezentren einer systematischen Politik der allmählichen aber fortschreitenden Kürzung ihrer Löhne, der Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und Problemen des eigentlichen Überlebens ausgesetzt. Andererseits ist das elende Leben der großen Mehrheit der Weltbevölkerung in den riesigen Peripherien, die die Nervenzentralen des Kapitalismus umgeben, in eine Situation der Barbarei, des Hungers und des Todes eingemündet, die getrost als größter, jemals von der Menschheit erlittener Genozid eingeordnet werden kann.

Diese Politik des Krisenmanagements jedoch ist die einzige Möglichkeit für die Gesamtheit des Weltkapitalismus, die einzige, die ihn am Laufen halten kann, selbst wenn der Preis dafür ist, immer größere Teile ihres eigenen Wirtschaftsorganismus in den Abgrund fallen zu lassen. Die wichtigsten und entscheidenden Länder konzentrieren aus imperialistischen und ökonomischen Gründen, aber vor allem wegen der Klassenkonfrontation all ihre Bemühungen darauf, die Krise auf die schwächeren Länder abzuwälzen, die mit weniger Ressourcen gegen ihre verheerenden Auswirkungen und einer geringeren Bedeutung im Kampf gegen das Proletariat versehen sind. So brachen in den 80er Jahren ein großer Teil Afrikas, ein gutes Stück Süd- und Lateinamerikas und eine Reihe asiatischer Länder zusammen. Seit 1989 waren die Länder Osteuropas, Zentralsiens etc. drangewesen, die bis dahin unter der Vorherrschaft jenes Riesen auf tönernen Füßen, Russland genannt, gestanden haben. Nun sind die ehemaligen asiatischen ”Drachen” und ”Tiger” dran, die wie im Fall Indonesiens mit dem brutalsten und rasantesten Sturz einer nationalen Wirtschaft seit 80 Jahren konfrontiert sind.

Wir haben eine Menge Sprüche von Politikern, Gewerkschaftsführern und ”Experten” von ”Wirtschaftsmodellen” über die ”geeignete Wirtschaftspolitik” und ”Krisenlösungen” gehört. Die triste Realität der Krise in den letzten 30 Jahren hat diese Sprüche als das entlarvt, was sie sind: unaussprechliche Dummheit oder gewöhnliche Tricks von Quacksalbern. Vom ”schwedischen Modell einer sozialen Marktwirtschaft” hört man schon lange nichts mehr, das ”japanische Modell” wurde schleunigst aus den Werbekatalogen zurückgezogen, das ”deutsche Modell” diskret dem Museum überschrieben, und die immer wieder aufgelegte, zerkratzte Platte vom ”Erfolg” der asiatischen ”Drachen” und ”Tiger” ist innerhalb einiger Monate aus dem ideologischen Musikautomaten genommen worden. Praktisch besteht die einzig mögliche Politik aller Regierungen, mögen sie links, rechts, diktatorisch oder ”demokratisch”, ”liberal” oder ”interventionistisch” sein, im Krisenmanagement, im kontrollierten und so langsam wie möglich gestalteten Abstieg ins Inferno.

Die Politik des Krisenmanagements und der Krisenbegleitung hat keinesfalls den Effekt, den Weltkapitalismus in einer statischen Position zu halten, wo die brutalen Gegensätze des Regimes der Ausbeutung ständig gezügelt und eingeschränkt bleiben. Solche ”Stabilität” ist wegen der Natur des Kapitalismus selbst, der Dynamik seiner inneren Widersprüche, die ihn unablässig dazu drängt, nach der Verwertung von Kapital zu trachten und um die Neuaufteilung des Weltmarktes zu streiten,  unmöglich. Aus diesen Gründen hat die Politik der Linderung und Verlangsamung der Krise den perversen Effekt, die Widersprüche des Kapitalismus zu verschärfen, zu vertiefen und gewaltsamer zu machen. Der ”Erfolg” der Wirtschaftspolitik des Kapitalismus in den letzten 30 Jahren kann darauf reduziert werden, das Schlimmste der Krise vermieden zu haben, währenddessen jedoch der Umfang der Zeitbombe zugenommen hat, sie also noch explosiver, gefährlicher und zerstörerischer geworden ist:

*30 Jahre der Verschuldung haben die allgegenwärtige Zerbrechlichkeit der Finanzmechanismen erhöht, was ihren Gebrauch beim Krisenmanagement schwieriger und gefährlicher gemacht hat.

*30 Jahre der allgemeinen Überproduktion bedeuteten sukzessive Amputationen am industriellen und landwirtschaftlichen Organismus der Weltwirtschaft, was den Marktumfang eingeschränkt und diese Überproduktion sehr viel ernster und drückender gemacht hat.

*30 Jahre des Hinauszögerns und der Dosierung der Arbeitslosigkeit bedeuten, dass sie heute sehr viel ernster ist und eine endlose Kette von Entlassungen, Gelegenheitsarbeiten, Unterbeschäftigung etc. verursachte.

All die Tricksereien des Kapitalismus mit seinen eigenen ökonomischen Gesetzen bedeuten, dass die Krise nicht die Form eines plötzlichen Zusammenbruchs der Produktion angenommen hat, wie es in den zyklischen Krisen des aufstrebenden Kapitalismus im letzten Jahrhundert passiert war oder wie wir in der Depression von 1929 sahen. Trotzdem hat die Krise eine ausgedehntere Form angenommen, ist zerstörerischer für die Lebensbedingungen des Proletariats und die gesamte Menschheit geworden: ein Abstieg über aufeinanderfolgende, immer brutalere Etappen bis hinab zur Situation einer immer allgemeineren Stagnation und Zersetzung.

Die Erschütterungen, die seit August 1997 stattgefunden haben, markieren eine neue Etappe auf dem Weg in den Abgrund. Wir dürfen keinen Zweifel daran haben, dass dies die schlimmste Periode in den letzten 30 Jahren ist, der größte Schritt, den der Kapitalismus auf seinen Abstieg gemacht hat. Um ihre Auswirkungen auf die Lebensbedingungen des Proletariats und hinsichtlich der Verschlimmerung der kapitalistischen Krise besser zu begreifen, erscheint es uns notwendig, auf die gesamte Periode einzugehen.

In International Review, Nr. 8 (im Artikel ”The international political situation”) zeigten wir, dass die Politik des Kapitalismus, ”die Krise zu managen und zu begleiten”, drei Achsen hat: Diese bestehen in der ”Abwälzung der Krise auf andere Länder, auf die Mittelschichten und auf das Proletariat”. Diese drei Achsen haben die Politik des Krisenmanagements gekennzeichnet und sind auf den verschiedenen Stufen des Zusammenbruchs des Systems bestimmt worden.

Die Politik der 70er Jahre

Die Entwertung des Pfund Sterling 1967 war eines der ersten deutlichen Anzeichen einer neuen offenen Krise des Kapitalismus nach den Jahren relativer Prosperität, die aufgrund des Wiederaufbaus der Weltwirtschaft nach der beträchtlichen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg geherrscht hatte. Es gab den ersten Schock der Arbeitslosigkeit, die in manchen europäischen Ländern auf bis zu 2% anstieg. Die Regierungen antworteten mit einer Politik der öffentlichen Ausgaben, die schnell die Situation bereinigte und eine Erholung der Produktion zwischen 1969 und 1971 erlaubte.

1971 nahm die Krise die Form gewaltiger Währungsturbulenzen an, die sich um die Hauptwährung der Welt konzentrierten: den Dollar. Die Nixon-Regierung war in der Lage, das Problem zeitweise hinauszuzögern, aber dies hatte ernste Konsequenzen für die künftige Entwicklung des Kapitalismus: Es demontierte das Bretton-Woods-Abkommen, das 1944 angenommen worden war, um seitdem die Weltwirtschaft zu regulieren.

Bretton Woods selbst hatte endgültig den Goldstandard abgeschafft und ihn durch den Dollarstandard ersetzt. Schon zu jener Zeit markierte dies einen Schritt zur Schwächung des Weltwährungssystems und zur Stimulierung öffentlicher Schulden. In seiner aufstrebenden Periode hatte der Kapitalismus die Währungen an die Gold- und Silberreserven gebunden, was eine mehr oder weniger kohärente Verbindung zwischen der Ausweitung der Produktion und den Geldmengen in der Zirkulation hergestellt und eine Flucht in den Kredit verhindert oder zumindest abgemildert hatte. Die mit dem Dollar verbundenen Währungen eliminierten diesen Kontrollmechanismus und führten, abgesehen vom beträchtlichen Vorteil, der dadurch dem amerikanischen Kapitalismus gegenüber seinen Konkurrenten geschenkt wurde, ein beträchtliches Währungsrisiko und eine Kreditunsicherheit ein.

Diese Bedrohung blieb verborgen, solange der Wiederaufbau den Platz für den Absatz einer kontinuierlich expandierenden Produktion schuf. Als 1967 der Spielraum für Manöver jedoch dramatisch eingeschränkt wurde, explodierte das Ganze. Die Abschaffung des Dollarstandards und seine Ersetzung durch Sonderziehungsrechte des IWF erlaubten es jedem Staat, seine Währung ohne jegliche Garantie ausser ihrer selbst auszugeben.  Die Bedrohung durch Instabilität und unkontrolliertes Schuldenwachstum wurde immer fühlbarer und gefährlicher.

Der ”Boom” von 1972/73 verbarg diese Probleme nicht nur, er brachte auch eine dieser Illusionen mit sich, welche der Kapitalismus dazu benutzte, seine Todeskrise zu verkleiden: In diesen beiden Jahren erreichte die Produktion Rekordausmaße. Dies beruhte im wesentlichen auf der Entfesselung des Konsums.

Betrunken von seinem flüchtigen ”Erfolg”, prahlte der Kapitalismus mit der Überwindung der Krise und der Widerlegung der Behauptung des Marxismus über die Todeskrise des Systems. Diese Proklamationen wurden schon bald durch die sogenannte ”Ölkrise” von 1974/75 demaskiert, der schlimmsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg: Der Produktionsstand in den Industrieländern fiel um 2 bis 4%.

Die Antwort auf diese neue Erschütterung beruhte auf zwei Achsen:

*auf dem bemerkenswerten Wachstum öffentlicher Defizite in den Industrieländern, besonders in den Vereinigten Staaten;

*aber vor allem auf dem enormen Wachstum der Verschuldung in der Dritten Welt und den Ländern des Ostens. Die Jahre zwischen 1974 und 1977 erblickten das, was später als die größte Welle des Geldverleihens in die Geschichte einging: 78 Milliarden Dollar wurden Ländern der Dritten Welt verliehen, nicht eingeschlossen jene, die zum russischen Block gehörten. Um sich ein Bild von dem unerhörten Ausmaß der Kreditvergabe zu machen, muss man sie nur mit jenen Krediten vergleichen, die zwischen 1948 und 1953 im Rahmen des Marshall-Plans an die europäischen Länder vergeben wurden: Insgesamt betrugen sie 15 Milliarden Dollar, was für damalige Zeiten bereits ein Rekord war.

Diese Maßnahmen bewirkten eine Erholung der Produktion, obgleich diese niemals den Umfang von 1972/73 erreichte. Jedoch war der Preis dafür die Explosion der Inflation, welche in manchen zentralen Ländern 20% überschritt (in Italien erreichte sie 30%). Die Inflation ist ein charakteristischer Zug des dekadenten Kapitalismus (8), zurückzuführen auf die immense Masse an unproduktiven Ausgaben, die das System erfordert, um zu überleben: Kriegsproduktion, Aufblähung des Staatsapparates, gigantische finanzielle Kosten, Werbung, etc. Diese Kosten sind unvergleichlich größer als die Kosten der Zirkulation und des Wachstums, die typisch für die aufsteigende Periode waren. In der Mitte der 70er Jahre wurde diese permanente und strukturelle Inflation jedoch aufgrund der Anhäufung öffentlicher Defizite, die durch die unkontrollierte Ausgabe von Geld ohne Gegenwert bewirkt wurden, zu einer galoppierenden Inflation.

Die Entwicklung der Weltwirtschaft in der zweiten Hälfte der 70er Jahre schwankte zwischen Erholung und Depression. Jede Bemühung, die Wirtschaft wiederzubeleben, führte zu einem Ausbruch der Inflation (welche die Kapitalisten ”Überhitzung” nannten), was bedeutete, dass die Regierungen das ”Einfrieren” des Wachstums durch steigende Zinssätze, plötzliche Reduzierungen der Geldmengen in der Zirkulation etc. durchsetzen mussten, was in die Rezession führte. Dies demonstrierte deutlich die allgemeine Sackgasse der kapitalistischen Ökonomie, zurückzuführen auf die Überproduktion.

Die Bilanz der 70er Jahre

Nach dieser kurzen Beschreibung der ökonomischen Entwicklung während der 70er Jahre können wir einige Schlüsse auf zwei Ebenen ziehen:

- die wirtschaftliche Situation;

- die Senkung des Lebensstandards der Arbeiterklasse.

Die allgemeine wirtschaftliche Lage

1. Das Produktionsniveau war hoch. Die durchschnittliche Höhe der Produktionssteigerung während dieser Dekade in den 24 Ländern der OECD betrug 4,1%. Während des Booms von 1972/73 erreichte sie 8% und gar 10% in Japan. Trotzdem ist es nicht schwer, im Vergleich zu den vorherigen Jahrzehnten die klare Tendenz nach unten zu erkennen:

Durchschnittliche Zuwachsraten der Produktion in den Ländern der OECD:

1960-70    -    5,6%                   

1970-73    -    5,5%                   

1976-79    -    4,0%

2. Die massive Kreditvergabe an die ”Dritte Welt” erlaubte die Ausbeutung und Einverleibung der letzten, wenn auch sehr kleinen vor-kapitalistischen Überbleibsel in den Weltmarkt. Wir können also sagen, dass der Weltmarkt eine sehr begrenzte Expansion erlebte, so wie während der Wiederaufbauperiode nach 1945.

3. Der ganze produktive Sektor, inklusive der traditionellen Bereiche wie Schiffbau, Kohleförderung, Eisen und Stahl, die zwischen 1972 und 1978 eine große Expansion erfuhren, wuchs. Jedoch war diese Ausweitung ihr Schwanengesang: Von 1978 an führten die Zeichen einer wachsenden Marktsättigung zur berüchtigten ”Restrukturierung” (ein Euphemismus, der die massiven Entlassungen verhüllte), die 1979 begann und dem folgenden Jahrzehnt ihren Stempel aufdrückte.

4. Die Erholungsphasen wirkten sich auf die Weltwirtschaft mehr oder weniger ausgeglichen aus. Von ein paar Ausnahmen abgesehen (ein wichtiges Beispiel war der Produktionsrückgang in Argentinien, Chile, Uruguay), profitierten alle Länder vom Produktionswachstum. Es gab keine Länder, die von der Erholung ”abgenabelt” wurden, so wie es später in den 80er Jahre geschah.

5. Die Rohstoffpreise hielten die Steigerungstendenzen aufrecht, die ihren Höhepunkt mit dem spekulativen Ölboom (zwischen 1972 und 1977) erreichten, um sich danach in ihr Gegenteil zu verkehren.

6. Die Rüstungsproduktion hob im Verhältnis zu den 60er Jahren ab und wuchs von 1976 an spektakulär.

7. Ab 1975 beschleunigten sich die Schuldenraten stark, obwohl sie im Vergleich zu dem, was noch kommen sollte, winzig waren. Sie waren charakterisiert durch:

- ein ziemlich moderates Wachstum in den zentralen Ländern (obgleich es ab 1977 einen spektakulären Anstieg in den Vereinigten Staaten während der Carter-Administration gab);

- einen massiven Anstieg andererseits in den Ländern der ”Dritten Welt”.

Schulden der ”unterentwickelten” Länder

(Quelle: Weltbank)

1970     -     $ 70 Mia                   

1975     -     $ 170 Mia                   

1980     -     $ 580 Mia

8. Das Bankensystem war solide: Die Kreditvergabe (für Konsum und Investitionen, an Familien, Geschäfte und Institutionen) wurde einer Reihe sehr rigoroser Kontrollen und Garantien unterworfen.

9. Die Spekulation war noch ein begrenztes Phänomen, obwohl die fiebrige Ölspekulation (die berühmten Petrodollars) Vorbote einer Tendenz zu ihrer Verallgemeinerung im darauffolgenden Jahrzehnt war.

Die Lage der Arbeiterklasse

1. Die Arbeitslosigkeit blieb relativ beschränkt, auch wenn sie ab 1975 stetig wuchs. In den 24 OECD-Ländern gab es 1968 7 Millionen Arbeitslose; 1979 war ihre Zahl auf 18 Millionen gestiegen.

2. Es gab erhebliche nominale Lohnsteigerungen (diese erreichten 20-25%), und in Ländern wie Italien wurden gleitende, inflationsgebundene Löhne eingeführt. Diese Lohnsteigerungen täuschten darüber hinweg, dass insgesamt gesehen die Löhne gegenüber der galoppierenden Inflation an Boden verloren.

3. Dauerarbeitsplätze überwogen deutlich, und in den meisten Ländern gab es ein starkes Wachstum der Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst.

4. Die Sozialausgaben, Beihilfen, das soziale Sicherheitssystem, Haushalts-, Kranken- und Erziehungsgeld - alles erlebte eine erhebliche Steigerung.

5. In diesem Jahrzehnt war der Verfall der Lebensbedingungen zwar real, aber ziemlich mild. Die Bourgeoisie, wachsam geworden durch die historische Wiedergeburt des Klassenkampfes und beträchtlichen Spielraum für Manöver auf dem wirtschaftlichen Terrain auskostend, zog es vor, ihre Angriffe mehr auf die schwächsten Bereiche des nationalen Kapitals als auf die Arbeiterklasse zu konzentrieren. Die 70er Jahre waren ”Jahre der Illusionen”, gekennzeichnet von der politischen Dynamik der ”Linken an der Macht”.

Im nächsten Teil dieses Artikels werden wir eine Bilanz der 80er und 90er Jahre ziehen, was uns erlauben wird, einerseits die gewaltige Verschlimmerung der Wirtschaftslage und der Lage der Arbeiterklasse zu bewerten, andererseits die düsteren Perspektiven des weiteren Abstiegs zum Inferno besser zu begreifen, die die im August 1997 eröffnete Periode umfassen.

Adalen

Anmerkungen:

1 Es gibt im wesentlichen zwei Theorien über die Krisenursache: die Sättigung des Weltmarktes und der tendenzielle Fall der Profitrate. Siehe dazu die Artikel in International Review Nr. 13, 16, 23, 29, 30, 76 und 83.

2  s. International Review Nr. 62 ”The decomposition of capitalism”

3  s. International Review Nr. 21 ”On state capitalism” und International Review Nr. 23 ”The proletariat in decadent capitalism”

4  s. International Review Nr. 31 ”The proletariat in Western Europe at the centre of the class struggle”

5  s. den Artikel über die internationale Lage in International Review Nr.1

6  s. International Review Nr. 56

7  s. den Bericht, den wir in der Internationalen Revue Nr. 21 veröffentlichten

8  s. unsere Broschüre Die Dekadenz des Kapitalismus

Über den Aufruf der IKS zu einer Stellungnahme gegen den Krieg in Serbien: Die kriegerische Offensive der Bourgeoisie erfordert

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Der Krieg in Serbien hat die vermeintlichen Revolutionäre entlarvt und die grundlegende Einheit der wirklich internationalistischen Gruppen aufgezeigt.

Kriege und Revolutionen sind bedeutende historische Ereignisse, die das Lager der herrschenden Klasse von dem der Revolutionäre abgrenzen und gleichzeitig ein Prüfstein für die Klassennatur politischer Kräfte sind. Dies galt auch für den Ersten Weltkrieg, der den Verrat der Sozialdemokratie auf internationaler Ebene ans Licht brachte, den Tod der Zweiten Internationale bedeutete und eine Minderheit auftauchen ließ, welche die neuen kommunistischen Parteien der Dritten Internationale gründeten. Es galt ebenso für den Zweiten Weltkrieg, der die Integration der verschiedenen stalinistischen Parteien in die Verteidigung des bürgerlichen Staates durch ihre Unterstützung der imperialistischen ”demokratischen” Front gegen den ”Faschismus” bestätigte und die verschiedenen trotzkistischen Gruppierungen dazu brachte, die Arbeiterklasse zur Verteidigung des russischen ”Arbeiterstaates” gegen die Aggression der nazi-faschistischen Diktatur aufzurufen. Andererseits aber tauchte damals der mutige Widerstand einer winzigen Minderheit von Revolutionären auf, die ihr Lager in dieser schrecklichen historischen Prüfung aufrecht erhalten konnten. Heute sind wir noch nicht mit der Gefahr eines dritten Weltkrieges konfrontiert, da die Bedingungen dazu nicht vorhanden sind, und wir gehen auch nicht davon aus, dass sich dies in nächster Zukunft ändern wird. Dennoch ist die militärische Intervention in Serbien das bedeutendste Ereignis seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, und sie hat eine Polarisierung der politischen Kräfte um die zwei Hauptklassen der Gesellschaft hervorgerufen: das Proletariat und die Bourgeoisie.

Die verschiedenen linken Gruppierungen haben ihren bürgerlichen Charakter entweder durch die Unterstützung der NATO-Angriffe oder die Verteidigung Serbiens1 [288] einmal mehr  bestätigt. Doch auf der anderen Seite können wir mit tiefer Zufriedenheit feststellen, dass die wichtigsten revolutionären politischen Gruppen alle eine gradlinige internationalistische Position eingenommen haben, welche die folgenden Grundsätze unterstützt:

1. Der gegenwärtige Krieg ist ein imperialistischer Krieg (wie alle Kriege heutzutage) und die Arbeiterklasse hat in der Unterstützung der einen oder anderen Seite nichts zu gewinnen:

”Welches Lager man auch betrachtet - ob amerikanisch oder serbisch, italienisch oder französisch, russisch oder englisch - es sind immer die inner-imperialistischen Konflikte, hervorgerufen durch die Widersprüche der bürgerlichen Ökonomie (...). Kein Mensch, kein Soldat für den imperialistischen Krieg: offener Kampf gegen die eigene nationale Bourgeoisie, serbisch oder kosovarisch, italienisch oder amerikanisch, deutsch oder französisch.” (Il Programma comunista, Nr. 4, 30. April 1999)

”Für die wirklichen Kommunisten ist die Unterstützung dieses oder jenes Imperialisten, auch die Unterscheidung zwischen Schwächeren und Stärkeren, opportunistisch und unehrenhaft, da bei zwei Schlechten den weniger Schlimmen zu suchen, falsch ist. Jegliche Unterstützung für diese oder jene imperialistische Front ist eine Unterstützung des Kapitalismus. Es ist ein Verrat an allen Erfahrungen der Befreiung der Arbeiterklasse und an der Sache des Sozialismus.

Der einzige Weg, der Logik des Krieges zu entfliehen, geht über die Wiederaufnahme des Klassenkampfes im Kosovo sowie im Rest Europas, den Vereinigten Staaten oder in Russland.” (Flugblatt des IBRP, ”Kapitalismus heißt Imperialismus, Imperialismus heißt Krieg”, 25. März 1999)    

   

2. Der Krieg in Serbien, weit davon entfernt humanitäre Ziele für irgendeinen Bevölkerungsteil zu verfolgen, ist das direkte Resultat der imperialistischen Zusammenstöße auf Weltebene:

”Die Drohungen und der Druck auf die Türkei, sowie auch der Krieg gegen den Irak, haben die Repression und Massaker an den Kurden nicht gestoppt; wie auch die Drohungen und der Druck gegen Israel die Repression und die Massaker an den Palästinensern nicht gestoppt haben. Die UNO-Missionen, die sogenannten Eingreiftruppen, die Embargos, hatten gestern den Krieg in Ex-Jugoslawien zwischen Serbien und Kroatien, innerhalb Kroatiens, zwischen Serbien und Bosnien, alle gegen alle, nicht verhindern oder stoppen können. Und die militärische Intervention der westlichen Bourgeoisien, von der NATO gegen Serbien organisiert, wird die ”ethnischen Säuberungen” gegen die Kosovari nicht verhindern, so wie sie die Bombardierung Belgrads und Pristinas nicht verhindert haben.

Die humanitären Missionen der UNO (...) haben vielmehr das Terrain zu Repression und schrecklicheren Massakern ”vorbereitet”. Es ist der Beweis, dass die humanitäre und pazifistische Vision und Aktion in Wirklichkeit nur eine ohnmächtige Illusion ist.” (”Der wirkliche Widerstand gegen die militärischen Interventionen und den Krieg ist der Klassenkampf des Proletariats, seine Reorganisierung auf dem internationalistischen Klassenterrain gegen alle Formen der bürgerlichen Unterdrückung und den Nationalismus”, Beilage zu Il comunista Nr. 64-65, April 1999).                

3. Dieser Krieg ist trotz einer angeblichen Fassade der Einheit ein Konflikt zwischen den imperialistischen Mächten innerhalb der NATO und im speziellen zwischen den USA auf der einen und Deutschland und Frankreich auf der anderen Seite:

”Der feste Wille der USA, durch die direkte Intervention gegen Serbien einen Kriegsgrund zu finden, ist schon während der Verhandlungen von Rambouillet hervorgetreten: diese Verhandlungen, weit davon entfernt eine friedliche Lösung für die unentwirrbare Kosovo-Frage zu suchen, diente im Gegenteil dazu, die Verantwortung für den Krieg der jugoslawischen Regierung zuzuschieben. (...) Das wahre Problem für die USA waren ihre eigenen Verbündeten und Rambouillet diente dazu, Druck auf sie auszuüben und ihnen die NATO-Intervention aufzuzwingen (...).” (Il Partito comunista, Nr. 266, April 1999)

”Um die Konsolidierung eines neuen imperialistischen Blockes zu verhindern, der fähig wäre, sich dem Stärksten zu widersetzen, drängten die USA auf eine Ausdehnung der NATO in Richtung Balkan sowie Osteuropa (...) Sie beabsichtigten (...), und dies ist vielleicht der wichtigste Aspekt, den europäischen Ansprüchen, eine selbständige imperialistische Rolle zu spielen, einen harten Schlag zuzufügen.

Die Europäer ihrerseits machten gute Mine zum bösen Spiel, indem sie die militärische Aktion der NATO unterstützten, dies jedoch nur, um nicht das Risiko einzugehen, aus einer derart wichtigen Region komplett ausgeschlossen zu sein.” (Flugblatt des IBRP, ”Kapitalismus heißt Imperialismus, Imperialismus heißt Krieg”, 25. März 1999)   

4. Wie schon immer zeigt der Pazifismus einmal mehr, dass er nicht ein Instrument des Kampfes der Arbeiterklasse und der Zivilbevölkerung gegen den Krieg ist, sondern ein von den linken Parteien gebrauchtes Mittel, um die Arbeiterklasse einzuschläfern. Dies wird durch die Rolle der Linken als Kriegstreiber für die zukünftigen Schlächtereien bestätigt:

”Das verlangt die Überwindung aller pazifistischen und reformistischen Illusionen, die entwaffnen und sich gegen die Ziele und Methoden des Kampfes der Klasse wenden, die immer zur proletarischen Tradition gehörten (...)” (Il Programma comunista, Nr. 4, 30. April 1999)    

”Die bunte Front (...) richtet den gleichen pazifistischen Appell an alle, deren sich das Kapital bedient, um Krieg zu führen: die Verfassung, die Vereinten Nationen, die Regierungen (...). Und schlussendlich, um das Ganze noch lächerlicher zu machen, bittet man dieselben Regierungen, die Krieg führen, nett zu sein und für den Frieden zu arbeiten.” (Battaglia Comunista, Nr. 5, Mai 1999)      

Unser Aufruf an das politische proletarische Milieu

Wie man feststellen kann, existiert unter den verschiedenen Organisationen des politischen revolutionären Milieus eine volle Übereinstimmung über die grundsätzlichen Fragen zum Konflikt auf dem Balkan. Natürlich gibt es auch Divergenzen, die in einer unterschiedlichen Herangehensweise in der Analyse des Imperialismus in der gegenwärtigen Phase und des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen liegen. Aber ohne diese Divergenzen zu unterschätzen betrachten wir die gemeinsamen Aspekte als viel wichtiger und bedeutsamer als diejenigen, welche bezüglich der momentanen Begebenheiten unterschiedlich sind. Auf dieser Grundlage haben wir am 29. März 1999 an alle diese Gruppen[i] [288] einen Appell für eine gemeinsame Initiative gegen den Krieg gerichtet:

”Genossen,

(...) Heute sind die Gruppen der Kommunistischen Linken die einzigen, welche die klassischen Positionen der Arbeiterbewegung verteidigen. Nur diejenigen Gruppen, die sich auf diese Strömung berufen, die als einzige während des Zweiten Weltkrieges keinen Verrat begangen hat, sind fähig auf all die Fragen, die sich heute für die Arbeiterklasse stellen, eine Antwort zu geben. Ihre Pflicht ist es, so breit als möglich in der Arbeiterklasse zu intervenieren, um die Flut von Lügen, die von den verschiedenen Teilen der Bourgeoisie verstreut werden, zu denunzieren und die internationalistischen Prinzipien zu verteidigen, die uns die Kommunistische Internationale und ihre linken Fraktionen als Erbe überlassen haben. Die IKS ihrerseits hat bereits ein Flugblatt herausgegeben, von dem wir Euch hier eine Kopie zukommen lassen. Wir denken jedoch, dass die Wichtigkeit der Ereignisse es erfordert, dass alle Gruppen, welche eine internationalistische Position verteidigen, eine gemeinsame Stellungnahme zur Bekräftigung der proletarischen Klassenprinzipien und gegen die kriegerische kapitalistische Barbarei veröffentlichen und verteilen. Zum ersten Mal seit mehr als einem halben Jahrhundert führen die imperialistischen Hauptgangster den Krieg in Europa selber, d.h. auf dem Schlachtfeld der beiden Weltkriege und gleichzeitig in dem weltweit größten Ballungsgebiet der Arbeiter. Dies zeigt den ganzen Ernst der Lage auf. Damit fällt den Kommunisten die Verantwortung zu, ihre Kräfte zu vereinen, um die Stimme der internationalistischen Prinzipien so laut wie möglich zu erheben und um mit unseren geringen Kräften diesen Prinzipien soviel Widerhall wie möglich zu verschaffen.

Es ist der IKS klar, dass eine solche Stellungnahme in einigen Punkten anders sein wird als das Flugblatt, das wir selbst veröffentlicht haben, weil wir wissen, dass innerhalb der Kommunistischen Linken Meinungsverschiedenheiten bezüglich gewisser Aspekte der Analyse über die Weltlage bestehen. Dennoch sind wir fest davon überzeugt, dass die Gesamtheit der Gruppen der Kommunistischen Linken ein Dokument zur Bestätigung der grundlegenden Prinzipien des Internationalismus  erstellen können ohne ihre eigenen Prinzipien abzuschwächen. Deshalb schlagen wir Euch vor, dass sich unsere Organisationen so schnell wie möglich treffen um einen Appell gegen den imperialistischen Krieg, gegen die Lügen der Bourgeoisie, gegen alle Kampagnen des Pazifismus und für eine proletarische Perspektive zur Überwindung des Kapitalismus zu verfassen.

Mit diesem Vorschlag knüpfen wir an die Politik der Internationalisten und im besonderen derjenigen Lenins auf den Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal 1915 und 1916 an. Eine Politik, die fähig war, bestehende Meinungsverschiedenheiten zwischen verschiedenen Teilen der europäischen Arbeiterbewegung zu überwinden oder beiseite zu lassen um die proletarische Perspektive gegen den imperialistischen Krieg hervorzuheben. Wir sind offen für jede andere Initiative Eurer Organisation, gegenüber jeglichem Vorschlag, der es erlaubt, dem proletarischen Standpunkt gegen die kriegerische Barbarei und gegen die Lügen der herrschenden Klasse Gehör zu verschaffen (...)

Mit kommunistischen Grüßen

IKS”                                

                   

Die Antworten auf unseren Aufruf

Leider entsprachen die Antworten auf unseren Aufruf nicht der Dringlichkeit der Situation und unseren Erwartungen. Zwei der bordigistischen Gruppen, Il Comunista-Le Prolétaire und Il Partito Comunista haben trotz eines zweiten Briefes vom April 1999 mit der Anfrage um eine Antwort bisher auf unseren Aufruf nicht geantwortet. Die dritte bordigistische Gruppe, Programma Comunista, hatte eine schriftliche (negative) Antwort versprochen, doch wir haben nichts erhalten. Das IBRP letztlich erwies uns die Ehre einer freundschaftlichen ablehnenden Antwort auf unsere Einladung. Es liegt auf der Hand, dass wir das Scheitern dieses Aufrufes nur bedauern können. Abgesehen davon bestätigt es offenbar einmal mehr die Schwierigkeiten, in denen sich das von der starken sektiererischen Erstarrung aus dem konterrevolutionären Klima seiner Wiederformierung geprägte proletarische politische Milieu befindet. Im jetzigen Zeitpunkt angesichts der Probleme des Krieges ist es jedoch nicht unser Anliegen, die Reibungen im proletarischen politischen Milieu mit einer Polemik über die Unverantwortlichkeit, die eine negative Antwort bzw. das Stillschweigen auf unseren Aufruf darstellen, weiter zu nähren, sondern wir wollen vor allem die Argumente für die Notwendigkeit und das Interesse der Arbeiterklasse für eine gemeinsame Stellungnahme aller internationalistischen Gruppen unterstreichen. Wir wollen in diesem Rahmen die ablehnenden Argumente des IBRP (das uns als einzige Organisation geantwortet hat!) überprüfen, welche sie schriftlich und in direkten Treffen mit uns vorgebracht haben. Dies in Anbetracht dessen, dass viele der Argumente des IBRP mit größter Wahrscheinlichkeit denjenigen gleichkommen, mit denen uns die bordigistischen Gruppen geantwortet hätten. Damit hoffen wir mit dem Blick auf alle Genossen und politischen Gruppierungen der Arbeiterklasse unseren Vorschlag zu einer gemeinsamen Stellungnahme voranzubringen und so in Zukunft ein besseres Resultat zu erzielen.

Ist es wahr, dass eine gemeinsame Stellungnahme des proletarischen-politischen Milieus zwangsläufig ein "tiefes politisches Niveau" hat?

Das erste Argument des IBRP besteht in der Behauptung, die Positionen der verschiedenen Gruppen seien allzu unterschiedlich, so dass jegliche gemeinsame Stellungnahme ein "sehr tiefes politisches Niveau" aufweisen würde und deshalb kaum förderlich wäre "der Barbarei und den Lügen der Bourgeoisie den proletarischen Standpunkt entgegenzuhalten" (Antwortbrief des IBRP auf unseren Aufruf).

Sich auf diese Behauptung stützend fügen sie an:

"Es ist wahr, dass die Gruppen der Kommunistischen Linken heute die Einzigen sind, welche die klassischen Positionen der Arbeiterbewegung verteidigen. Doch es ist ebenfalls wahr, dass jede dieser Strömungen dies in einer radikal unterschiedlichen Art und Weise tut. Wir wollen auf die spezifischen Unterschiede, die jeder aufmerksame Betrachter leicht erkennen kann, hier nicht eingehen, doch wir wollen an dieser Stelle unterstreichen, dass diese Differenzen große Gräben zwischen den Kräften aufzeigen, die sich auf die Kommunistische Linke berufen (...)" (a.a.O.).

Wir haben zuvor gerade das Gegenteil aufgezeigt. Die Zitate zu Beginn dieses Artikels könnten unter den verschiedenen politischen Gruppen leicht ausgetauscht werden, ohne dass dadurch eine politische Verunstaltung entstehen würde, und als Ganzes bilden sie die grundlegenden politische Elemente für eine mögliche gemeinsame Stellungnahme, die für die Arbeiterklasse heute von großer Bedeutung wäre.    

Weshalb spricht das IBRP von "radikalen Differenzen", die jeglichen Versuch einer gemeinsamen Initiative fruchtlos machen würden? Weil das IBRP die Grundsatzpositionen (die defätistische Haltung gegenüber dem Krieg) und die politischen Analysen über die gegenwärtige Periode (die Gründe des Krieges in Serbien, das Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat ...) auf dieselbe Ebene stellt. Wir unterschätzen die Wichtigkeit dieser aktuellen Divergenzen im proletarischen-politischen Milieu bezüglich der Analyse gewiss nicht. Wir werden in einem künftigen Artikel auf diese Fragen eingehen sowie auf unsere Kritik an der ökonomistischen Position, wie sie vor allem von Battaglia Comunista und Il Partito  verfochten wird. Heute müssen wir aber feststellen, dass das größte Problem in der Unterschätzung des IBRP und der anderen angeführten Gruppen über das Echo besteht, auf welches eine solche gemeinsame Stellungnahme stoßen könnte.

Nicht umsonst ist das IBRP durch die Verwerfung dieser Möglichkeit auf den Abweg geraten, die Bedeutung der Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal gewaltig zu unterschätzen.

Die Bedeutung der Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal                    

"Aus folgendem Grund hat die in Eurem Brief/Aufruf enthaltene Bezugnahme auf die Konferenzen von Zimmerwald keine Bedeutung in der heutigen historischen Situation. Zimmerwald und Kienthal waren keine Initiativen der Bolschewiki oder Lenins sondern der italienischen und schweizerischen Sozialisten, welche darin eine Mehrheit der "radikalen" Tendenzen innerhalb der Parteien der Zweiten Internationale zusammenführten. Lenin und die Bolschewiki nahmen daran Teil um den Bruch mit der Zweiten Internationale voranzutreiben, doch:

a) der Bruch fand damals nicht statt, denn Lenin befand sich in Wirklichkeit auf beiden Konferenzen in einer absoluten Minderheit;

b) war es nicht das Zimmerwalder Manifest, welches "klar die proletarische Perspektive gegenüber dem imperialistischen Krieg aufzeigte", sondern vielmehr die Motion Lenins, welche von der Konferenz verworfen wurde. Die Teilnahme der Bolschewiki an den Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal als Modell für die gegenwärtige Situation darzustellen ist sinnlos." (Antwortbrief des IBRP auf unseren Aufruf)

In diesem Abschnitt beginnt das IBRP mit der Wiederholung von Tatsachen wie der, dass die Konferenzen eine Initiative der italienischen und schweizerischen Sozialisten und nicht der Bolschewiki war, dass Lenin daran mit der Absicht teilnahm, den Bruch mit der Zweiten Internationale voranzutreiben und Lenin, als Konsequenz davon, auf beiden Konferenzen schlussendlich in der Minderheit blieb. Und der Abschnitt endet damit, diejenigen zu verfluchen, welche diese "Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal als Modell für die gegenwärtige Situation darstellen".

Das IBRP hat nicht verstanden, offenbar durch Unachtsamkeit bei der Lektüre unseres Aufrufes, was wir ebenfalls hervorgehoben haben: ”Mit diesem Vorschlag knüpfen wir an die Politik der Internationalisten, und im besonderen derjenigen Lenins, auf den Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal 1915 und 1916 an. Eine Politik, die fähig war (...) die proletarische Perspektive gegen den imperialistischen Krieg hervorzuheben.” Das wirkliche Problem besteht darin, dass das IBRP selbst die Geschichte unserer Klasse zu ignorieren scheint. Während es wahr ist, dass die Bolschewiki, zur damaligen Zeit auf dem "linken Flügel der Arbeiterbewegung", immer versucht haben die Ergebnisse dieser Konferenzen so weit als möglich vorwärtszutreiben, so hatten sie nie die Absicht abseits zu stehen, da sie die Notwendigkeit erkannten, in einem Moment der besonders intensiven und entscheidenden politischen Klärung wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Kräfte zu sammeln. Lenin selbst leistete dazu eine wichtige Arbeit, indem er die sogenannte "Zimmerwalder Linke" animierte, den Schmelztiegel der politischen Kräfte, aus denen die Dritte Internationale geschmiedet wurde. Und noch einmal zur Tatsache, dass "Zimmerwald und Kienthal keine Initiative der Bolschewiki war", hier die Gedanken der revolutionären Zimmerwalder Linken:

”Das von der Konferenz angenommene Manifest stellt uns nicht ganz zufrieden. Es enthält keine Charakteristik weder des offenen noch des unter radikalen Phrasen versteckten Opportunismus - des Opportunismus, der an dem Zusammenbruch der Internationale nicht nur die Hauptschuld trägt, sondern diesen Zusammenbruch auch noch verewigen will. Das Manifest enthält keine klare Charakteristik der Mittel für den Kampf gegen den Krieg. (...)

Wir stimmen für das Manifest, weil wir es als einen Kampfaufruf betrachten, und in diesem Kampf wollen wir mit der übrigen Internationale Hand in Hand gehen. (...)”

(Erklärung der Zimmerwalder Linken auf der Konferenz von Zimmerwald. Unterschrieben von Lenin, Sinowjew, Radek, Nerman, Höglund und Winter. Aus: Jules Humbert-Droz, ”Der Krieg und die Internationale”, Europa Verlag 1964, S. 148-149)

Und hier die Worte Sinowjews nach der Kienthaler Konferenz:

”Wir, die Zimmerwalder haben jetzt den Vorzug, dass wir uns schon international zusammengefunden haben, während die Sozialpatrioten es noch nicht können. Diesen Vorzug sollen wir ausnützen, um den Kampf gegen den Sozialpatriotismus zu organisieren (...).   

Im ganzen ist die Resolution ein Schritt vorwärts. Wer diese Resolution mit dem Projekt der Zimmerwalder Linken im September 1915 und mit den Schriften der deutschen, holländischen, polnischen und russischen Linksradikalen vergleichen wird, der wird zugestehen müssen, dass unsere Ideen in den Grundzügen jetzt von der Konferenz angenommen sind. (...)

Alles in allem war die zweite Zimmerwalder Konferenz zweifellos ein Schritt vorwärts. Das Leben wirkt in unserem Sinne. (...)

Die zweite Zimmerwalder Konferenz wird politisch und historisch noch ein Schritt vorwärts auf dem Weg zur Dritten Internationale sein. (Sinowjew, ebenda, S. 215-217)  

                              

Zusammengefasst waren Zimmerwald und Kienthal zwei entscheidende Etappen im Kampf der Revolutionäre zur Zusammenführung der revolutionären Kräfte und ihrer Trennung von den sozialpatriotischen Verrätern im Hinblick auf die Gründung der Dritten Internationale. Die Bolschewiki und Lenin verstanden die Bedeutung des Manifestes von Zimmerwald für die isolierten und in den Schützengräben verstreuten Arbeiter: Es zeigte den Weg aus der Hölle auf. Dies versteht das IBRP leider nicht. Es gibt Momente in der Geschichte, in denen ein Voranschreiten der Revolutionäre wichtiger ist als tausend noch so klare politische Programme, muss man in Anlehnung an Marxens Worte sagen.

Was bleibt?

Bezüglich des IBRP gibt es noch etwas wichtiges anzufügen: Diese Organisation hat noch vor einigen Monaten und im Verlauf der letzten Jahre mit uns eine Reihe von gemeinsamen Initiativen unternommen. Hier die wichtigsten:

- Die koordinierte Teilnahme, und zum Teil gemeinsame Interventionen im Namen beider Organisationen, auf der zweiten Konferenz über das politische Erbe Trotzkis, welche in Moskau vom dortigen trotzkistischen oder halb-trotzkistischen Milieu organisiert wurde.

- Eine gemeinsame öffentliche Veranstaltung in London über die Russische Revolution mit einer gemeinsamen Einführung im Namen beider Gruppen, einem gemeinsamen Präsidium und einem Artikel, der über diese Veranstaltung Bilanz zog und von beiden Gruppen geschrieben und in der jeweiligen englischsprachigen Presse (Workers Voice und World Revolution) veröffentlicht wurde.

- Eine koordinierte Intervention zwischen den zwei Gruppen in einer Konfrontation mit parasitären Gruppen in Großbritannien.

Doch nun weist das IBRP jede Initiative dieser Art zurück. Als wir die Genossen von Battaglia Comunista darum anfragten, antworteten sie uns, dass es möglich war zur Russischen Revolution zusammenzuarbeiten, da ”die Lehren darüber schon vor langer Zeit gezogen wurden”. Es scheint sich hier um eine gefestigte Analyse über Ereignisse der Vergangenheit zu handeln, während der Krieg ein anderes Problem, ein Problem der heutigen Zeit sei, das Auswirkungen auf die Perspektive habe. Auch wenn wir die Tatsache beiseite lassen, dass die öffentliche Diskussionsveranstaltung zur Russischen Revolution sowie auch die Intervention auf den Konferenzen in Russland sich nicht auf die Vergangenheit beschränkten, sondern Bezug zur Aktualität und Zukunft der Arbeiterbewegung hatten, so ist es kurios, wenn die Diskussion über den Oktober 1917 als ein Element der politischen Archäologie statt als ein Instrument zur Schärfung der Intervention in der Arbeiterklasse von heute dargestellt wird. Noch einmal zusammengefasst: Die Argumente des IBRP sind nicht nur ungültig, sondern falsch.

Dieser Schwenker des IBRP ist aus der Nähe betrachtet kein großes Rätsel. Es stimmt mit dem überein, was die Genossen in den Schlussfolgerungen ihrer ”Resolution über die internationale Arbeit” des 6. Kongresses von Battaglia Comunista, der vom gesamten Büro angenommen wurde, schrieben und in der Antwort auf unseren Aufruf erwähnt ist:

”Es ist jetzt ein anerkanntes Prinzip unserer politischen Führungslinie, dass, außer unter sehr außergewöhnlichen Umständen, alle neuen internationalen Konferenzen  und Treffen, die vom Büro und seinen Organisationen abgehalten werden, sich vollständig in eine Richtung zur Festigung, Stärkung und Ausweitung der revolutionären Tendenzen des Weltproletariates einfügen müssen. Das Internationale Büro für die Revolutionäre Partei und die dazugehörigen Organisationen folgen diesem Prinzip. (...) Und es ist in diesem Rahmen und aufgrund aller anderen Dokumente des Büros klar, das wir mit ”revolutionären Tendenzen des Weltproletariates” all diejenigen Kräfte meinen, welche die internationale Partei des Proletariates aufbauen wollen. Und - wegen der gegenwärtigen politischen Methoden Eurer und der anderen Organisationen - denken wir nicht, dass Ihr ein Teil davon sein könnt.”

Hinter diesen Zeilen, lässt man den ersten Teil, mit dem wir einverstanden sind, beiseite (”alle neuen internationalen Konferenzen  und Treffen (...) sich vollständig in eine Richtung zur Festigung, Stärkung und Ausweitung der revolutionären Tendenzen des Weltproletariates einfügen müssen”), versteckt sich die Idee, dass das Büro heute die einzige glaubwürdige Organisation innerhalb der Kommunistischen Linken sei (wir wundern uns woher eine solche in der Arbeiterbewegung neuartige Behauptung wohl herkommt. Vielleicht hat das IBRP, dem Papste gleich, ein Abkommen mit dem Himmel abgeschlossen). Dies alles weil die IKS ”idealistisch” und die Bordigisten ”sklerotisch” seien: ”(...) wegen der gegenwärtigen politischen Methoden Eurer und der anderen Organisationen - denken wir nicht, dass Ihr ein Teil davon sein könnt”,- der ”internationalen Partei des Proletariates”. Somit scheint es also besser, mit Rücksicht auf seine Schwesterorganisationen dem eigenen Weg zu folgen und keine Zeit für Konferenzen oder gemeinsame Initiativen zu verschwenden, die so oder so nur sterile Resultate erzielten.

Dies ist die einzige klare Position des IBRP zu der ganzen Frage, doch sie ist absolut nicht gradlinig oder zumindest auf trügerischen  Argumenten aufgebaut.

Wir werden auf diese Frage zurückkommen. Was uns betrifft, sind wir sicher, dass die Partei durch die Konfrontation und die politische Klärung entstehen wird, die sich unter den bestehenden revolutionären Organisationen abspielen muss.

Ezechiele, 31. Mai 1999        

                                            



1 [288] In unseren jeweiligen territorialen Presseorganen vom April, Mai und Juni 1999 ist die Denunzierung dieser angeblich revolutionären Gruppierungen, die in verschiedenen Ländern auftreten, nachzulesen.

 

[i] [288] Internationales Büro für die revolutionäre Partei (Partito Comunista Internazionalista, welche Battaglia Comunista in Italien publiziert und die Communist Workers Organisation, welche Revolutionary Perspectives in Großbritannien publiziert); Partito Comunista Internazionale (welche Il Comunista in Italien und Le Prolétaire in Frankreich publiziert); Partito Comunista Internazionale (welche Il Partito Comunista herausgibt); Partito Comunista Internazionale (welche Il Programma Comunista in Italien, Cahiers Internationalistes in Frankreich und Internationalist Papers in Großbritannien veröffentlicht)

Theoretische Fragen: 

  • Internationalismus [152]

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