Vor gar nicht allzu langer Zeit stießen die Revolutionäre nur auf Skepsis oder man machte sich lustig über sie, wenn sie behaupteten, dass das kapitalistische System sich auf den Abgrund zubewege. Heute müssen die innigsten Verfechter des Kapitalismus eingestehen, « Wir stecken mitten drin im Chaos » (Jacques Attali, ehemaliger enger Mitarbeiter des verstorbenen französischen Präsidenten Mitterand und gegenwärtiger Berater von Präsident Sarkozy). « Vielleicht sind Sie sich nicht dessen bewusst, dass dieses System innerhalb von ein paar Tagen oder Wochen zusammenbrechen könnte. Es wäre der Weltuntergang. Wir bewegen uns auf eine soziale Revolution zu. » (Jean-Pierre Mustier, Bankdirektor bei der französischen Großbank Société Générale). Diese Verteidiger des Kapitalismus kostet es Überwindung zu bekennen, dass die von ihnen so verherrlichte Gesellschaft auf dem Sterbebett liegt. Sie sind natürlich bestürzt darüber und dies umso mehr, da sie feststellen müssen, dass deren Rettungsversuche des Systems erfolglos sind. Die Verteidiger dieses Systems haben keine Lösung anzubieten.
Natürlich können die Leute, die trotz ihres schonungslosen Eingeständnisses hinsichtlich der Perspektiven des Systems meinen, es könne kein anderes System geben, nicht mit einer wirklichen Lösung der Katastrophe aufwarten, vor der heute die Menschheit steht. Denn für die Widersprüche des Kapitalismus gibt es keine Lösung innerhalb des Systems. Die Widersprüche, vor denen dieses Systems steht, sind nicht auf « Misswirtschaft » durch diese oder jene Regierung oder durch die Finanzwirtschaft zurückzuführen, sondern auf die Gesetze des Systems selbst. Nur indem wir den Rahmen dieser Gesetze überwinden, den Kapitalismus durch eine andere Gesellschaft ersetzen, kann die Menschheit der Katastrophe entgehen, in welche sie immer mehr versinkt.
Die einzige Lösung: die Menschheit von der Geißel des Kapitalismus befreien
Genauso wie alle vorhergehenden Gesellschaften wie die Sklavenwirtschaft und der Feudalismus ist der Kapitalismus kein ewig bestehendes System. Die Sklavenwirtschaft herrschte in der Antike, weil sie dem damaligen Niveau der landwirtschaftlichen Produktionstechnik entsprach. Als diese sich weiter entwickelte und von den Produzenten eine größere Aufmerksamkeit erforderlich wurde, geriet die Gesellschaft in eine tiefgreifende Krise (zum Beispiel die römische Dekadenz). An deren Stelle trat der Feudalismus, wo der Leibeigene an seine Scholle gefesselt wurde und seinem Grundbesitzer zu dienen und einen Teil seiner Ernte abzuliefern hatte. Am Ende des Mittelalters war dieses System wiederum veraltet; es stürzte die Gesellschaft in eine neue historische Krise. An deren Stelle trat der Kapitalismus, der nicht auf der kleinen landwirtschaftlichen Produktion fußte, sondern auf Handel, assoziierter Arbeit und der Großindustrie, die wiederum erst möglich wurden dank des Fortschritts der Technik (z.B. der Dampfmaschine). Heute ist der Kapitalismus im Gegenzug aufgrund seiner ihm eigenen Gesetze historisch überholt. Und er muss ebenso ersetzt werden.
Aber welche Gesellschaft soll an dessen Stelle treten? Dies ist DIE sehr beängstigende Frage, welche sich eine immer größere Zahl von Leuten stellt, die sich dessen bewusst werden, dass das gegenwärtige System keine Zukunft mehr hat und die Menschheit in den Abgrund der Verarmung und der Barbarei treibt. Niemand kann genau vorhersehen, wie im Einzelnen diese zukünftige Gesellschaft aussehen könnte, aber eins ist sicher: Sie muss an erster Stelle die Produktion für einen Markt abschaffen; stattdessen muss die Produktion mit dem alleinigen Ziel der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse erfolgen. Heute werden wir mit dieser Absurdität konfrontiert, dass überall auf der Welt die absolute Verarmung zunimmt, die Mehrheit der Bevölkerung gezwungen ist, immer mehr Verzicht zu leisten, nicht weil das System nicht ausreichend produzieren würde, sondern im Gegenteil – es wird zu viel produziert. Man zahlt den Bauern Entschädigungen, damit sie ihre Produktion reduzieren, man schließt Betriebe, schmeißt massenhaft Beschäftigte auf die Straße, sehr viele Jugendliche werden zur Arbeitslosigkeit verdammt, selbst wenn sie lange Studien- und Ausbildungszeiten hinter sich haben, und gleichzeitig zwingt man die Ausgebeuteten immer mehr dazu, den Gürtel enger zu schnallen. Not und Elend sind nicht die Folge eines Mangels an Arbeitskräften oder an Produktionsmitteln. Nein, sie sind die Auswirkungen einer Produktionsweise, die zu einer Kalamität für die ganze Menschheit geworden ist. Nur indem radikal die Produktion für den Markt überwunden wird, nur indem der Markt überhaupt abgeschafft wird, kann die Produktionsform, die den Kapitalismus ersetzen muss, verwirklicht werden: Jeder nach seinen Möglichkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen.
Aber wie kann solch eine Gesellschaft aufgebaut werden? Welche Kraft in der Gesellschaft ist in der Lage, solch eine Umwälzung des Lebens der ganzen Menschheit in Angriff zu nehmen?
Es liegt auf der Hand, dass solch eine Umwälzung nicht durch die Kapitalisten und die bestehenden Regierungen angestoßen werden kann, weil diese ALLE – unabhängig von ihrer politischen Couleur – dieses System und die damit für sie gegebenen Privilegien verteidigen. Nur die ausgebeutete Klasse im Kapitalismus, die Klasse der Lohnabhängigen, die Arbeiterklasse, kann solch eine Umwälzung bewerkstelligen. Diese Klasse ist nicht die einzige, die unter Armut, Ausbeutung und Unterdrückung leidet. Überall auf der Welt gibt es unzählige kleine Bauern, die ebenso ausgebeutet werden und oft unter noch größerer Armut leben als die ArbeiterInnen in dem jeweiligen Land. Aber deren Stellung in der Gesellschaft ermöglicht es ihnen nicht, den Aufbau der neuen Gesellschaft in Angriff zu nehmen, obwohl sie auch an solch einer Umwälzung interessiert wären. Zunehmend durch dieses System in den Ruin getrieben, neigen diese kleinen Produzenten dazu, das Rad der Geschichte zurückdrehen, zu den ‘gesegneten’ Zeiten zurückkehren zu wollen, als sie noch von ihrer eigenen Arbeit leben konnten, und als die großen Agrar- und Lebensmittelmultis ihnen noch nicht den Hals zudrehten. Bei den lohnabhängig Produzierenden des modernen Kapitalismus verhält es sich anders. Die Wurzel ihrer Ausbeutung und ihrer Misere ist die Lohnarbeit, d.h. die Tatsache, dass sich die Produktionsmittel in den Händen der Kapitalisten (egal ob im Privat- oder Staatsbesitz) befinden, und das einzige Mittel zum Broterwerb und um ein Dach über dem Kopf zu haben darin besteht, ihre Arbeitskraft den Kapitalisten zu verkaufen. Die Abschaffung der Ausbeutung verlangt somit die Überwindung der Lohnarbeit, d.h. der Kauf und Verkauf der Arbeitskraft. Mit anderen Worten es gibt eine tiefgreifende Bestrebung der Klasse der lohnabhängigen Produzenten – obwohl sich die Mehrheit der ArbeiterInnen dessen noch nicht bewusst ist – zur Überwindung dieser Trennung zwischen Produzenten und Produktionsmitteln, die den Kapitalismus auszeichnet, und die Warenbeziehungen, durch welche sie ausgebeutet werden, abzuschaffen, und die immer wieder als Rechtfertigung für all die Angriffe auf ihre Lebensbedingungen benutzt werden, weil man den Kapitalisten zufolge « wettbewerbsfähig » sein müsse. Die Arbeiterklasse muss also die Kapitalisten enteignen, gemeinsam die Produktion auf der ganzen Welt in die eigene Hand nehmen, um die Bedürfnisse der Menschheit tatsächlich zu befriedigen. Dies wäre eine wirkliche Revolution. Dabei wird diese aber unvermeidbar mit all den Organen zusammenstoßen, die der Kapitalismus zu seinem Schutz und zur Aufrechterhaltung seiner Herrschaft geschaffen hat, in erster Linie die Staaten, die Repressionskräfte, aber auch den gesamten ideologischen Apparat, der den Ausgebeuteten jeden Tag eintrichtern soll, es gebe keine Alternative gegenüber dem Kapitalismus. Die herrschende Klasse ist fest entschlossen, mit allen Mitteln diese große gesellschaftliche Revolution zu verhindern, vor denen die Herrschenden alle Heidenangst haben.
Die Aufgabe ist zugegebenermaßen gewaltig. Die Kämpfe der jüngsten Zeit gegen die Zuspitzung der Armut in Ländern wie Griechenland oder Spanien sind nur die erste Etappe, die notwendig ist für die Vorbereitung des Proletariats zur Überwindung des Kapitalismus. In ihren Kämpfen, in ihrer Solidarität, in ihrer Vereinigung, in ihrer Bewusstwerdung über die Notwendigkeit und Möglichkeit der Überwindung eines immer bankrotteren Systems, werden die Ausgebeuteten die notwendigen Waffen schmieden für die Überwindung des Kapitalismus und den Aufbau einer von Ausbeutung, Armut , Hunger und Kriegen befreiten Gesellschaft.
Der Weg ist lang und schwierig, aber es gibt keinen anderen. Die wirtschaftliche Katastrophe, deren Ausmaße wir jetzt deutlicher sehen, und die in den Reihen der Herrschenden solche großen Sorgen auslöst, wird für all die Ausgebeuteten auf der ganzen Welt eine schreckliche Verschlechterung ihrer Existenzbedingungen mit sich bringen. Aber die Krise wird die Ausgebeuteten auch dazu zwingen den Weg zur Revolution und der Befreiung der Menschheit einzuschlagen. Fabienne, Dez. 2011
„Macht Vorschläge für einen gerechteren Kapitalismus“ – Stolpersteine der Demokratie
Wie in New York und anderen Städten in den USA wurde am 15. Oktober der Paradeplatz in Zürich zu einem mit Zelten besetzten Camp, das aber unter Räumungsandrohung durch die Polizei nach 2 Tagen in den zentral gelegenen Lindenhof-Park umgesiedelt wurde. Die Occupy-Bewegung in Zürich war von Beginn weg nicht mit direkter Repression konfrontiert, wie wir sie in Spanien erlebten, aber umso mehr mit der Politik der versuchten Integration, wie sie typisch ist für die herrschende Klasse in der Schweiz, die mittels der „direkten Demokratie“ jeglichen Widerstand gegen den Kapitalismus abzufedern versucht. Gerade in der Schweiz hat die herrschende Klasse aus den Ereignissen zu Beginn der 80er Jahren gelernt, dass sie nicht allein mit Brutalität soziale Bewegungen unterdrücken kann, sondern vor allem mit Angeboten zur Beteiligung am System.
Die Chefs der Banken und die Regierung gaben sich scheinheilig verständnisvoll für die Anliegen der Occupy-Bewegung. Occupy-Aktivisten wurden sofort in eine der wichtigsten politischen Fernsehsendungen eingeladen, um dort zusammen mit führenden Bankern und Professoren über mögliche Wege zur Verbesserung des Finanzsystems nachzudenken, denn selbst die Herrschenden können sich heute nicht ausschliesslich in eine arrogante Haltung kleiden, dass „alles gut laufe“. Die Angriffe der bürgerlichen Presse gegenüber Occupy beschränkten sich in dieser Anfangsphase vor allem auf das angebliche Fehlen „konkreter“ politischer Vorschläge.
Wenn die Occupy-Bewegung im Enthusiasmus des Beginns auf Angebote wie die des staatlichen Fernsehens eingegangen ist, dann vor allem in der Hoffnung auf mehr Popularität. Die Vollversammlungen gegen Ende Oktober schafften es dennoch meist, diese Falle der „konkreten Forderungen“ zur Verbesserung des kapitalistischen Finanzsystems zu durchschauen und sich nicht ins Räderwerk der klassischen demokratischen Mitsprache einbinden zu lassen. Es war unübersehbar, dass in den Reihen der Bewegung durch Individuen geäusserte Illusionen in demokratische Reformen die Runde machten, wie es bei allen sozialen Bewegungen und auch bei Arbeitskämpfen der Lohabhängigen Normalität ist. Da Occupy aber vor allem eine Bewegung des kollektiven Nachdenkens und Verstehens ist, die durch die kapitalistische Finanzmisere entzündet wurde; weil sie mit unglaublich komplexen und globalen politischen Fragen konfrontiert ist, auf die es auch keine schnellen Lösungen anzubieten gibt; weil sie nicht wie andere soziale Bewegungen in der Vergangenheit auf den Wunsch nach Freiräumen fixiert ist - aus diesen Gründen überlebte bis Mitte Dezember 2011 innerhalb der Occupy-Bewegung in der Schweiz die Sichtweise, dass wir uns durch die bürgerliche Politik nicht zu etwas drängen lassen sollen, auf das wir keine Antwort haben.
Für die herrschende Klasse schien es gängiger, die Bewegung als Ganzes erst einmal zu tolerieren und auf ihre Erschöpfung zu warten, als sie sofort ins demokratische Spiel integrieren zu können oder niederzuknüppeln. Nebst der fast neuartig solidarischen Diskussionskultur, die versuchte, alle zu Wort kommen zu lassen, war es in der Anfangsphase der Monate Oktober und November sicher eine grosse Stärke der Bewegung, sich die Prämisse zu setzen: „Nehmen wir uns Zeit für unsere Diskussionen und lassen wir uns nicht drängen!“
Das Camp – die Bewegung als Ganzes – Ausweitung?
Das Zeltcamp auf dem Lindenhof, gut organisiert und einladend für alle, die sich beteiligen wollten, wurde (neben den samstäglichen Vollversammlungen auf dem Paradeplatz) in Kürze organisch zum eigentlichen Zentrum der Diskussionen der Occupy-Bewegung. Wie in der Bewegung der Indignados in Spanien erlaubte die kollektive Besetzung von öffentlichem Raum einen Rahmen, in dem sich die Bewegung treffen konnte. Sehr schnell wurden aber trotz der offenen Haltung der direkt im Camp lebenden Aktivisten zwei Dynamiken sichtbar: 1. Das Entstehen einer eigenständigen Camp-Gemeinschaft, an der sich nur Personen beteiligen konnten, welche genügend Zeit und Durchhaltevermögen hatten, ihr Leben an diesen Ort zu verlagern – für die meisten Leute mit Familie und Lohnarbeit kaum möglich. 2. Die Dominanz der alltäglichen Sorgen rund um die Aufrechterhaltung und Organisierung des Camps, über den Freiraum zur politischen Diskussion – den eigentlichen Ursprung der Occupy-Bewegung. Diese Situation wurde von den Besetzern nicht frei gewählt und kann ihnen auch nicht zum Vorwurf gemacht werden, sie wurde ihnen durch die objektive Schwierigkeit, eine lebenswerte Camp-Infrastruktur zu gewährleisten, aufgezwungen, vor allem aber auch durch die permanent drohende Räumung durch den Repressionsapparat der Polizei. Im Gegensatz zum Zuccotti Park in New York ging die Bewegung in Zürich als Ganzes nicht so weit, in die Dynamik eines nach innen gerichteten Park-Fetischs zu verfallen, sie machte sich in Vollversammlungen intensiv Gedanken darüber, wie die Bewegung auf den Rest der „99%“ zugehen kann.
Ausdruck dieses Bestrebens nach Ausweitung war unter anderem eine Vollversammlung am Abend des 3. November, welche den Innenhof der Universität für eine kollektive Diskussion besetzte, um auch die StudentInnen direkt einzuladen. Befreit von den Alltagssorgen des Camps wurden die wöchentlichen Vollversammlungen an der Universität während 5 Wochen zu ermutigenden kollektiven Momenten des Nachdenkens über allgemeine politische Fragen. Dem Auftauchen von Positionen, die sich der Bewegung absurd als „Führung“ anboten oder sie fatalistisch als „illusionär“ bezeichneten, waren die Plenarversammlungen fähig, ihren selbstorganisierten Gemeinschaftsgeist entgegenzuhalten. Doch die Empörung und Kampfbereitschaft unter den StudentInnen war nicht genug hoch, um eine Verbindung der Anliegen der Occupy-Bewegung mit ihren eigenen Sorgen auszulösen. Selbst wenn die erhoffte grosse Beteiligung der Studierenden ausblieb (2009 war an der Universität in Zürich eine Bewegung ausgebrochen), bildeten diese als „Inhalts-Vollversammlungen“ bezeichneten Abende, an denen auch neue Gesichter auftauchten, eine Bereicherung, die klar machte, dass die Occupy-Bewegung nicht direkt mit dem Camp gleichgesetzt werden kann. Occupy hatte versucht, konkrete Schritte zur Ausbreitung der Bewegung zu machen.
In Zukunft sollte eine Bewegung es aber gerade aufgrund des positiven Momentes solcher „Inhalts-Vollversammlungen“ vermeiden, die grundlegenden politischen Diskussionen aus der allgemeinen Vollversammlung an die „Inhalts-Vollversammlungen“ zu delegieren - genauso wie das politische Leben auch nicht ausschliesslich in die Arbeitsgruppen verlegt werden darf. Im Gegenteil sollte sich die allgemeine Vollversammlung die Zeit nehmen, gemeinsam und in Ruhe Raum für die Klärung grundlegender politischer Fragen der Bewegung zu bleiben. Occupy Zürich, stark vom Aktivismus geprägt, rutschte ab Dezember aber immer mehr ins Problem ab, allgemeine Vollversammlung abzuhalten, die ein ermüdendes Durchpauken zahlreicher organisatorischer Detailfragen wurden.
Aufbruchsgeist – Ernüchterung - Individualisierung
Der Aufbruchsgeist, den die ersten grossen Mobilisierungen im Oktober und November auf dem Zürcher Paradeplatz manifestierten, hat sich gelegt. Occupy ist nicht tot, wie die schmierige bürgerliche Boulevardpresse Ende Dezember mit dem Slogan „Bye Bye Occupy“ den Protest gegen die Krise und die Finanzinstitute beerdigen wollte. Aber die Beteiligung an den Vollversammlungen hatte im Dezember rapide abgenommen. Das Zelt-Camp war zudem von der Polizei schon am 15. November geräumt und den Aktivisten waren Moral zermürbende Geldstrafen auferlegt worden. In der ersten Vollversammlung 2012, am 4. Januar, an der sich rund 70 Personen beteiligten, wurde von mehreren Teilnehmern festgestellt, dass „wir immer weniger geworden sind“. Occupy hatte sich innerhalb eines Monates deutlich aus einer spontanen, zahlreiche Leute mobilisierenden Bewegung zu einem Kern von Aktivisten zurück entwickelt, der versucht, mit allen Kräften fast tägliche Aktivitäten aufrecht zu erhalten.
Es war auch ein deutlich anderer Wind in die Diskussionskultur der Vollversammlung eingezogen: Die ursprünglich beeindruckende gegenseitige Geduld und das Zuhören innerhalb der Bewegung litten nun unter Ermüdung, Ungeduld, Spannungen und dem Gefühl, bei Entscheiden übergangen zu werden. Es entwickelte sich eine Dynamik, welche die zunehmende Isolation durch einen Aktivismus zu kompensieren versuchte, der sich aber immer deutlicher nur auf die individuellen Kapazitäten und den guten Willen einzelner Aktivisten abstützte, und nicht auf eine tragende kollektiven Perspektive. Occupy Zürich klammerte sich an die zahlreichen Aktivitäten, die aber mit schwindenden Kräften kaum mehr aufrecht erhalten werden können, wie es in der Vollversammlung die Diskussion über den Informationsstand auf einem öffentlichen Platz am Stauffacher zeigte. Zwar ehrlich gemeinte, aber fast verzweifelte Appelle an die Disziplin - auf der eine soziale Bewegung, die sich das Ziel der Emanzipation der Menschheit setzt, nicht basieren kann, weil dies schlussendlich der individualisierten Moral der kapitalistischen Gesellschaft gleichkommt - führten lediglich zu Spannungen.
Es ist ein bekanntes Phänomen von sozialen Bewegungen, dass Höhenflüge des Beginns schnell in Frustration umschlagen können, wenn eine Bewegung vom Rest der ArbeiterInnenklasse isoliert bleibt. Die Frage der Isolation bildet einen Kernpunkt in solchen Bewegungen. Der ersichtliche Park-Fetisch im New Yorker Zuccotti-Park war aber nicht Grund einer beginnenden Isolation von Occupy Wall Street, sondern vielmehr Ausdruck davon. Es gibt keine „Rezepte für das Überleben“ einer Bewegung wie Occupy, denn wie andere soziale Bewegungen entspringt sie nicht einer aktivistischen Machbarkeit, sondern einer politischen Gärung innerhalb der Gesellschaft aufgrund der objektiven Lebensbedingungen. Doch um Enttäuschungen über die eingetretene Durststrecke zu begrenzen, ist es für die Vollversammlungen wichtig, sich die internationale Dynamik von Occupy zum Thema zu machen und die Situation in anderen Städten und Ländern zu besprechen – eine Diskussion, die Occupy Zürich bisher allzu sehr unterschätzt hat.
Eine andere Dynamik wurde an der Vollversammlung vom 4. Januar ebenfalls sichtbar: Es hatten sich in den vergangenen 10 Wochen auch unterschiedlichste Vorstellungen und v.a. Wünsche herausgeschält, was Occupy sein soll - an sich kein Wunder in einer sozialen Bewegung, die so offen ist. Diese Heterogenität über Inhalt und Perspektiven einer Bewegung ist in der Phase des Anwachsens oft ein stimulierender Faktor, da er interessante Diskussion auslöst. Doch in einer Phase der Ernüchterung, aber vor allem dann, wenn es zusätzlich nicht gelingt, gemeinsam die gemachten Erfahrungen zu bilanzieren, droht die Gefahr eines unreflektierten aktivistischen Auseinandergehens in verschiedenste Richtungen. Die Vollversammlung vom 4. Januar hatte stark den Charakter einer Präsentation und Absegnung von Aktions-Projekten, in die sich Aktivisten zum Teil sehr individuell gestürzt hatten. In einem solchen Moment ist es ergiebiger, sich die Fragen zu stellen wie: „Was wollen wir?“, „Was sind unsere gemeinsamen Kräfte?“, „Was sind die Gründe für den Rückgang der Bewegung?“
Debattenkultur – eine „permanente“ Bewegung? – Bündnisse als Rettungsanker?
Die Notwendigkeit für die Engagierten in Occupy Zürich, sich aufgrund der Ermüdung und des Zusammenschrumpfens auf einen Kern von Aktivisten ganz grundsätzliche Fragen zu stellen, zeigte sich auch deutlich in den ersten zwei Januarwochen 2012 anhand der Frage der Häufigkeit von Vollversammlungen. Die Sorge eines sehr engagierten Aktivisten trotz Ermüdungserscheinungen, die Zahl der Vollversammlungen nicht auf einmal pro Woche zu reduzieren, konnte unbefriedigend diskutiert werden. Was sich in dieser Diskussion zeigte, war ein Widerspruch, der in einer sozialen Bewegung in einer Phase des Rückgangs kaum gelöst werden kann: das Aufrechterhalten häufiger Vollversammlungen als Herzstück der Bewegung einerseits und die fehlende Kraft und Beteiligung an der Bewegung andererseits. In der Vollversammlung am 4. Januar wurde diese Frage schlicht anhand des „Ermüdungsbarometers“ entschieden (ab sofort nur einmal pro Woche Vollversammlung), was nur realistisch und vernünftig erschien. Aber es war absolut korrekt, dass ein Engagierter am folgenden Tag der Vollversammlung gegenüber eine schriftliche Kritik formulierte: „Der Konsensentscheid Vollversammlungen nur noch einmal in der Woche durchzuführen war kein Konsensentscheid sondern ein Mehrheitsentscheid. Ich hatte mich von Anfang an klar dagegen ausgesprochen, die Häufigkeit der Vollversammlungen weiter zu reduzieren, jedoch wurde auf meine Argumente kaum eingegangen und meine Bedenken ignoriert. In einer Runde, in der jeder im Kreis seine Meinung sagte, stellte sich heraus, dass eine Mehrheit dafür war, weniger Vollversammlungen abzuhalten, was schlussendlich dazu geführt hatte, dass ich, als ich meine Position weiter vertreten wollte, von allen niedergeschrien worden bin. Leider wurden zwei Kompromissvorschläge ohne Diskussion verworfen. Ich muss mich an dieser Stelle bei denjenigen, die die Kompromissvorschläge gemacht haben entschuldigen, ich hatte in dieser Situation, von allen Seiten unter Druck gesetzt, die Vorschläge nicht ohne meine Emotionen zu kontrollieren überdacht und sie deshalb voreingenommen abgelehnt. Das tut mir Leid. Im Nachhinein denke ich dass beide Potential gehabt hätten, hätte man sie ausführlich diskutieren können.“ Was er hier verteidigt, ist nicht die blinde Losung eines hohen Rhythmus von Vollversammlungen, ungeachtet der Dynamik der Bewegung, sondern die Aufrechterhaltung der Diskussionskultur. Die Konsens-Methode der Occupy-Bewegung, auch wenn sie die latente Schwäche hat, oft verfrüht nur den kleinsten gemeinsamen Nenner als Resultat einer Diskussion auszuloten, und damit oft auch notwenige Polarisierungen verdrängt, hatte es zumindest in der Anfangsphase einladend erlaubt, allen Meinungen Platz einzuräumen. Es ist klar, dass manchmal konkrete Entscheide gefällt werden müssen, auch wenn nicht alle einverstanden sind. Doch wenn Mehrheitsentscheide gefällt werden, soll diese nicht grundsätzlich das Ende einer Diskussion darüber bedeuten. An der Vollversammlung vom 11. Januar fand leider das Anliegen des oben zitierten Engagierten unter der erdrückenden Menge von Informationen und Aktionspunkten ebenfalls keinen Platz, obwohl er mit seiner Kritik an der veränderten Debattenkultur den Kern des Problems ansprach.
Es ist schwer zu sagen, wohin Occupy geht. Doch die Vollversammlung vom 11. Januar hatte deutlich eine Tendenz enthalten, sich von einer Bewegung hin zu einer politischen Gruppierung zu wandeln, welche aber die Auffassung der Möglichkeit einer „permanenten Bewegung“ in sich trägt. Gleich wie Kämpfe um Arbeitsbedingungen und gegen Lohnabbau im heutigen Kapitalismus keinen permanenten Charakter haben können, ohne in gewerkschaftliche Suche nach faulen Kompromissen und Stellvertreterpolitik abzugleiten, lauern auch auf Occupy ähnliche Gefahren. Die Vollversammlung vom 11. Januar zeigte dies deutlich: Aufgrund der momentan verlorenen eigenen Stärke und Dynamik wurden Stimmen für Bündnisse mit linken Gruppierungen wie den Jungsozialisten oder Greenpeace lauter, wohl in der Hoffnung, damit wieder stärker zu werden. Als Beispiel dafür liess sich die Vollversammlung von einem an sich unbedeutenden Angebot zur punktuellen Zusammenarbeit mit einer spirtuell-politischen Gruppe richtiggehend jagen. Anstelle auf die Autonomie der eigenen Bewegung zu bauen und die Fragen, die wirklich anstehen, zu besprechen, liess sich die Vollversammlung zu einer Diskussion zwingen, heute und sofort zu einem Entscheid über ihr Verhältnis gegenüber dieser Gruppe, und zu religiösen Gruppen im Allgemeinen, zu gelangen. Eine Diskussion, die an sich interessant sein, in solcher von aussen auferlegter Hast aber nie geführt und geklärt werden kann, und die schon den Vorgeschmack wohlbekannter linksbürgerlicher Politik erahnen liess. Die zu Beginn der Bewegung mit einem gesunden Reflex zurückgewiesene Erpressung von Seiten der herrschenden Klasse, sich zu „konkreten Forderungen“ zur Verbesserung des Finanzsystems durchzuringen, also der Druck zu einer Positionierung im Rahmen der bürgerlichen Politik, schleicht sich so unbemerkt durch die Hintertür wieder in die Bewegung hinein.
Wenn Occupy nicht aufgesplittert und verloren gehen will in bürgerlichen parlamentarischen Vorstössen zur „Offenlegung der Finanzierung der politischen Parteien“ oder demokratiegläubigen Initiativen gegen die Lebensmittelspekulation, so wie es an der Vollversammlung von einzelnen Teilnehmern als ihre politischen Projekte angekündigt wurde, dann sollte sie sich wieder auf die Frage des Beginns zurückbesinnen: Weshalb diese Krise im Kapitalismus? Sie sollte sich die Frage stellen, ob all diese Probleme, die von den Engagierten in der Occupy-Bewegung mit beeindruckender Sensibilität wahrgenommen werden, innerhalb des Kapitalismus eine Lösung finden – oder ob es an der Zeit ist, diese Produktionsweise als Ganzes zu überwinden. Da es keine sozialen Bewegungen gibt, die permanent bestehen, und auch Occupy nicht die letzte sein wird, ist es wichtig, all die positiven Erfahrungen von Occupy in die Zukunft anderer sozialer Bewegungen mitzunehmen, falls Occupy keinen frischen Wind mehr bekommen sollte. Die Sackgasse des Kapitalismus, der Auslöser von Occupy, wird sicher nicht verschwinden. Versuche des Zusammengehens mit den Anliegen von Lohnabhängigen, wie es ansatzweise mit den Beschäftigten der Elektrizitätswerke in London oder deutlicher in Oakland der Fall war, werden für die Zukunft wohl die besten „Bündnispartner“ und eine wirkliche Verstärkung sein. Mario 16.1.2012
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Eine Ausrichtung, die in den Bewegungen immer wieder zu hören war, lautete: „Wir müssen den Kapitalismus demokratisieren“. Natürlich wird diese Ausrichtung von den Medien, den linken Parteien, den Gewerkschaften, kurz allen systemtragenden Kräften gefördert. Warum hat dieser Slogan „Für einen demokratischeren Kapitalismus“ soviel Erfolg? Dass in den arabischen Ländern mit ihren Machthabern, die oft seit Jahrzehnten die Zügel der Macht in der Hand hielten, diese Forderung soviel Anhänger fand, ist leichter verständlich. Und selbst in Europa, der Wiege der Demokratie, richtete sich die Wut vieler gegen die Führungselite“ einiger „reicher, korrupter, unehrlicher“ Politiker (Sarkozy, Berlusconi)). In Spanien, wo im Mai 2011 die Bewegung der Empörten losbrach, als die Herrschenden unsere Aufmerksamkeit auf die anstehenden Wahlen lenken wollten, konnte man sehr oft hören: „Rechte und linke Parteien, der gleiche Mist“.
Was bedeutet dies? Die Idee breitet sich immer mehr aus, dass überall auf der Welt, unter allen Regierungen an allen Orten die « gleiche Scheiße » praktiziert wird. Was haben die jüngsten „demokratischen Wahlen“ in Ägypten und Spanien geändert? Nichts! Was hat der Rücktritt Berlusconis in Italien oder Papandreous und in Griechenland bewirkt? Die Sparmaßnahmen wurden noch mehr verschärft und sind heute unerträglich geworden. Ob Wahlen oder nicht, die Gesellschaft findet sich fest in der Hand einer herrschenden Minderheit, die ihre Privilegien aufrechterhält – auf Kosten der Mehrheit. Dies ist die tieferliegende Bedeutung des Slogans „Wir sind die 99% und ihr die 1%“, der von der Occupy-Bewegung in den USA in Umlauf gebracht wurde. Eine wachsende Zahl von Leuten ist nicht mehr bereit, sich auf der Nase rumtanzen zu lassen und die Sachen in die eigene Hand zu nehmen. Die Idee gewinnt an Auftrieb, dass die Massen die Gesellschaft organisieren müssen. Der Slogan „Alle Macht den Vollversammlungen“ bringt dieses Begehren zum Ausdruck, dass eine Gesellschaft aufgebaut werden soll, in der nicht mehr eine Minderheit über unser Leben entscheidet.
Aber die Frage ist: können wir diese neue Gesellschaft mittels eines Kampfes um die „Demokratisierung des Kapitalismus“ erreichen?
Es stimmt, von einer Minderheit von Privilegierten beherrscht zu werden, ist unerträglich. Es stimmt, wir müssen unser Schicksal in die eigene Hand nehmen. Aber wer ist „wir“? In der Antwort der meisten Beteiligten der gegenwärtigen Bewegung heißt „wir“ „jeder und jedermann“. „Jeder“ sollte die gegenwärtige Gesellschaft, d.h. den Kapitalismus, mittels einer wirklichen Demokratie führen. Aber an dieser Stelle tauchen die Probleme auf: gehört der Kapitalismus nicht den Kapitalisten? Stellt dieses Ausbeutungssystem nicht das Wesen des Kapitalismus selbst dar? Wenn die Demokratie in ihrer heutigen Form die Beherrschung der Welt durch eine Elite bedeutet, geschieht das dann nicht, weil diese Welt und diese Demokratie sich in den Händen dieser Elite befinden? Wenn wir die Argumentation bis zu ihrem Ende führen und uns einen Augenblick eine kapitalistische Gesellschaft vorstellen, die von einer perfekten und idealen Demokratie regiert wird, in der „jeder“ über alles kollektiv entscheiden würde, was würde sich dann ändern? Gibt es nicht in einigen Ländern wie der Schweiz und anderswo so etwas wie „Volksabstimmungen“! Eine Ausbeutungsgesellschaft zu lenken, heißt aber nicht die Ausbeutung abzuschaffen. In den 1970er Jahren forderten Arbeiter oft Arbeiterselbstverwaltung. „Ein Leben ohne Arbeitgeber, wir nehmen die Produktion in die Hand und zahlen uns die Löhne selbst aus!“ In den betroffenen Betrieben – wie zum Beispiel Lip in Frankreich – haben die Beschäftigten es am eigenen Leib erfahren: sie haben die Leitung des Betriebs in die eigene Hand genommen. Aber aufgrund der erbarmungslosen, unausweichlichen Mechanismen des Kapitalismus waren sie – den Gesetzen der Marktwirtschaft folgend – dazu gezwungen, sich selbst auszubeuten, schlussendlich sich selbst zu entlassen, und all das auf eine sehr „demokratische“ Weise. Eine auch noch so „demokratische“ Regierungsform im Kapitalismus würde nichts zum Aufbau einer neuen, ausbeutungsfreien Gesellschaft beitragen. Die Demokratie ist im Kapitalismus kein Organ zur Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse oder der Überwindung des Kapitalismus. Die Demokratie ist ein Herrschaftsmittel zur Verwaltung des Kapitalismus. Um die Ausbeutung zu überwinden, gibt es nur eine Lösung – die Revolution.
Immer mehr Leute träumen von einer Gesellschaft, in der die Menschheit ihr Schicksal in die Hand genommen hat, eigenständig Entscheidungen treffen kann und nicht mehr zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten gespalten ist. Aber die Frage ist, wer diese Gesellschaft aufbauen kann? Wer kann es möglich machen, dass in der Zukunft die Menschheit ihr Schicksal in die eigene Hand nimmt? Jeder? Natürlich nicht! Denn nicht « jeder « hat ein Interesse daran, den Kapitalismus aus der Welt zu schaffen. Die führenden Kreise der herrschenden Klasse werden alles daransetzen, um ihr System und ihre herrschende Stellung aufrechtzuerhalten; dazu ist sie bereit, ein endloses Blutvergießen hinzunehmen, auch in den „großen Demokratien“. Ebenso wenig haben die Gewerbetreibenden, die Führungskreise der Oberschicht, die Grundbesitzer, Kleinbürgerliche ein Interesse daran, denn diese wollen entweder nur ihren Lebensstandard, den ihr diese Gesellschaft bietet, aufrechterhalten oder – wenn sie von einer Herabstufung bedroht sind – sie schwelgen idealisieren nostalgisch die Vergangenheit. Die Überwindung des Privateigentums haben sie sich sicherlich nicht auf die Fahnen geschrieben.
Um die Kontrolle über ihr eigenes Leben auszuüben, muss die Menschheit den Kapitalismus überwinden. Aber nur die Arbeiterklasse kann dieses System aus der Welt schaffen. Die Arbeiterklasse umfasst die Beschäftigten aus den Fabriken und Büros, ob privat oder staatlich beschäftigt, die Rentner und jüngeren Beschäftigten, Arbeitslose und prekär Beschäftigte. Diese Arbeiterklasse stellt die erste Klasse in der Geschichte dar, die gleichzeitig ausgebeutet und revolutionär ist. In früheren Gesellschaften hatte der Adel einen revolutionären Kampf gegen die Sklavenwirtschaft geführt, schließlich die Bürgerlichen gegen den Feudalismus. Jedesmal wurde ein Ausbeutungssystem aus der Welt geschafft, dieses aber immer wieder durch ein neues Ausbeutungssystem ersetzt. Heute können die Ausbeuteten in Form der Arbeiterklasse dieses System überwinden und eine Welt errichten, in der es keine Klassen und Landesgrenzen geben wird. Keine Landesgrenzen, weil unsere Klasse eine internationale Klasse ist. Sie leidet überall unter der gleichen Last des Kapitalismus; sie hat überall die gleichen Interessen. Von 1848 an hat unsere Klasse diesen Schlachtruf übernommen: „Die Arbeiter haben kein Vaterland. Arbeiter aller Länder vereinigt Euch“. All diese Bewegungen der letzten Monate – von den arabischen Ländern über die Empörten bis zu den Occupyern, - berufen sich in der einen oder anderen Form auf den Kampf der anderen in all diesen Ländern und beweisen, dass es keine Grenze für den Kampf der Ausgebeuteten und Unterdrückten gibt. Aber diese Protestbewegungen werden von einer großen Schwäche geprägt: die treibende Kraft der Ausgebeuteten, die Arbeiterklasse, hat noch nicht ihr Selbstbewusstsein erlangt. Sie ist sich ihrer Existenz, ihrer Stärke, ihrer Fähigkeit, sich als Klasse zu organisieren, noch nicht bewusst. Deshalb geht sie in diesem Meer von Leuten unter, und sie wird selbst Opfer der ideologischen Fallen, die unter der Forderung „für einen demokratischeren Kapitalismus“ in Erscheinung tritt.
Damit die internationale Revolution siegreich verlaufen und eine neue Gesellschaft aufgebaut werden kann, muss sich unsere Klasse in Bewegung setzen. Ihr Kampf, ihre Einheit, ihre Solidarität… und vor allem ihr Klassenbewusstsein sind von Nöten. Dazu muss sie in ihren Reihen die breitest möglichen Debatten und lebendigsten Diskussionen anstoßen, um ihr Begreifen der Welt, dieses Systems, des Wesens ihres Kampfes vorantreiben. Die Debatten müssen allen offenstehen, die auf die vielen Fragen antworten liefern wollen, vor denen die Ausgebeuteten stehen: Wie den Kampf entfalten? Wie können wir uns selbst organisieren? Wie können wir der Repression entgegentreten? Und wir müssen entschlossen gegenüber denjenigen auftreten, die Werbung für die herrschende Ordnung machen. Es darf wirklich nicht darum gehen, diese dahinsiechende, barbarische Gesellschaft zu retten oder zu reformieren. In einer gewissen Hinsicht spiegelt dies die Demokratie Athens in einem umgekehrten Sinne wider. Im antiken Griechenland war in Athen die Demokratie das Privileg der Sklavenbesitzer, der männlichen Bürger, die anderen Schichten der Gesellschaft waren davon ausgeschlossen. In dem revolutionären Kampf der Arbeiterklasse wird die größte Freiheit herrschen, aber davon werden nicht diejenigen profitieren, die daran interessiert sind, die kapitalistische Ausbeutung aufrechtzuerhalten.
Die Bewegungen der Empörten und der Occupyer wollen wirklich debattieren. Sie spiegeln diese unglaubliche Wallung, die Kreativität der handelnden Massen wider, die unsere Klasse auszeichnen, wenn diese kämpft, wie wir es z.B. im Mai 1968 gesehen haben, als man an allen Straßenecken diskutierte. Aber heute wird diese schöpferische Kraft verwässert, gar gelähmt aufgrund ihrer Unfähigkeit, von ihrem Kampf und ihren Debatten all diejenigen auszuschließen, die in Wirklichkeit mit Herz und Seele für die Aufrechterhaltung des Systems einsetzen. Wenn wir eines Tages die Produktion für Profit und Ausbeutung und die Repression erfolgreich aus der Welt schaffen und Herr über unser eigenes Leben werden wollen, werden wir nicht umhin können, diese illusorischen Aufrufe der „Demokratisierung des Kapitalismus“ und der Schaffung eines „humaneren Kapitalismus“ zu verwerfen IKS, Januar 2012
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Die wichtigsten Ereignisse des Jahres 2011 waren die Verschärfung der globalen Krise des Kapitalismus und die sozialen Bewegungen in Tunesien, Ägypten, Spanien, Griechenland, Israel, Chile, USA, GB…(1).
Die Folgen der kapitalistischen Krise sind für die große Mehrheit der Weltbevölkerung sehr hart: die Lebensbedingungen verschlechtern sich, die Arbeitslosigkeit nimmt immer größere Ausmaße an und deren Dauer nimmt zu; die Prekarisierung, welche ein Mindestmaß an Stabilität verhindert, frisst sich immer tiefer; extreme Armut und Hunger greifen um sich…
Millionen von Menschen sehen mit großer Sorge, wie die Möglichkeit eines „stabilen und normalen“ Lebens, einer „Zukunft für unsere Kinder“ dahinschwindet. Das hat eine tiefgreifende Empörung ausgelöst, einen Drang, die Passivität zu durchbrechen, Plätze und Straßen zu besetzen, Fragen hinsichtlich der Ursachen der Krise zu diskutieren, die sich seit fünf Jahren extrem verschärft hat.
Die Empörung wurde noch einmal verstärkt durch die Arroganz, die Habsucht und die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden der Mehrheit der Bevölkerung, die von Bankern, Politikern und anderen Repräsentanten der Kapitalistenklasse an den Tag gelegt wird. Aber auch durch die Hilflosigkeit, welche die Regierungen gegenüber den schwerwiegenden Problemen der Gesellschaft offenbaren: ihre Maßnahmen verschärfen nur die Armut und die Arbeitslosigkeit ohne irgendeine Lösung zu bieten.
Die Bewegung der Empörten hat sich international ausgedehnt. In Spanien hat sie ihren Ausgang genommen, wo die sozialistische Regierung eines der ersten und drakonischsten Sparprogramme durchboxte; dann in Griechenland, dem Symbol der Schuldenkrise; in den USA, dem Tempel des Weltkapitalismus; in Ägypten und Israel, zwei Frontstaaten in einem der schlimmsten und längsten imperialistischen Konflikte des Nahen Ostens.
Das Bewusstsein, dass es sich um eine globale Bewegung handelt, breitet sich weiter aus trotz des zerstörerischen Gewichtes des Nationalismus, der Anwesenheit von Leuten, die Nationalfahnen in den Demonstrationen in Griechenland, Ägypten und den USA schwenkten. In Spanien wurde die Solidarität mit den ArbeiterInnen in Griechenland durch Slogans zum Ausdruck gebracht wie: „Athen hält aus, Madrid erhebt sich“. Die Streikenden von Oakland (USA, November 2011) riefen: „Solidarität mit der Occupy-Bewegung auf der ganzen Welt“. In Ägypten wurde die Solidaritätserklärung von Kairo zur Unterstützung der Bewegung in den USA verabschiedet. In Israel wurde gerufen: „Netanjahu, Mubarak, el Assad – gleiche Bande“ – man nahm Kontakt zu palästinensischen Beschäftigten auf.
Gegenwärtig ist der Höhepunkt dieser Kämpfe überschritten, und obwohl es Anzeichen von neuen Kämpfen (Spanien, Griechenland, Mexiko) gibt, fragen sich viele, „wozu hat diese Protestwelle der Empörung gedient“, „haben wir etwas gewonnen?“
Es ist notwendig, eine Bilanz zu ziehen, um sowohl auf die positiven Seiten als auch auf die Schwächen und Grenzen einzugehen.
Seit mehr als 30 Jahren gab es nicht mehr solche breitgefächerten, vielfältigen Initiativen wie die Besetzung von Straßen und Plätzen, um zu versuchen für die eigenen Interessen einzutreten und über die Illusionen und Verwirrungen hinauszugehen, die uns bremsen.
Diese Leute, ArbeiterInnen, Ausgebeutete, die als ‚gescheiterte, gleichgültige, apathische‘ Menschen dargestellt werden, ‚unfähig Initiativen zu ergreifen und irgendetwas gemeinsam zu machen‘, waren dazu in der Lage, sich zusammenzuschließen, gemeinsam Initiativen zu ergreifen und die nervende Passivität zu durchbrechen, zu der uns die Alltagsnormalität dieses Systems verurteilt.
Dies hat unserer Moral Auftrieb verliehen, das Vertrauen in unsere eigenen Fähigkeiten verstärkt und wir haben angefangen, die Macht zu entdecken, die das gemeinsame Handeln der Massen freisetzt. Die soziale Atmosphäre wandelt sich. Das Monopol der Politiker, Experten, „großen Führer“ über die öffentlichen Themen wird langsam infragegestellt durch eine Vielzahl von unbekannten Menschen, die zu Wort kommen wollen. [2] [11].
Sicher ist das noch ein zerbrechlicher Ausgangspunkt. Die Illusionen, Verwirrungen, die unvermeidbaren Schwankungen der Gemütsverfassungen, die Repression, die gefährlichen Fallen, in welche die Repressionskräfte und der kapitalistische Staat uns locken wollen (die linken Parteien und die Gewerkschaften an der Spitze), werden Rückschritte und bittere Niederlagen bewirken. Wir stehen vor einem langen und schwierigen Weg, voll von Hindernissen und ohne Garantie des Sieges. Aber die Tatsache, dass wir angefangen haben uns in Bewegung zu setzen, ist der erste Sieg.
Die Versammlungen beschränkten sich nicht auf die passive Haltung, nur die Unzufriedenheit zu artikulieren, sondern es wurde eine aktive Haltung der Selbstorganisierung in den Versammlungen entwickelt. Die vielfältigen Versammlungen konkretisierten den Leitgedanken der I. Internationale (Internationale Arbeiterassoziation) von 1864: „Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das Werk der Arbeiter selbst sein“. Damit wird die Tradition der Arbeiterbewegung fortgesetzt, die mit der Pariser Kommune einsetzte und ihren Höhepunkt in Russland 1905 und 1917 erreichte, und sich in Deutschland 1918, Ungarn 1919 und 1956 und Polen 1980 fortsetzte.
Vollversammlungen und Arbeiterräte sind die wahre Organisationsform des Arbeiterkampfes und der Kern einer neuen Organisationsform der Gesellschaft.
Vollversammlungen, um sich massenhaft zusammenzuschließen, anzufangen, die Ketten zu zerschlagen, die uns an die Lohnsklaverei ketten, die Atomisierung, das „jeder für sich“ aufheben, die Isolierung im Getto des jeweiligen Bereiches oder gesellschaftlicher Kategorien zu überwinden.
Vollversammlungen, um gemeinsam nachzudenken, zu diskutieren und zu entscheiden; kollektiv Verantwortung zu übernehmen für die getroffenen Entscheidungen, mit Beteiligung aller an den Entscheidungen und bei der Umsetzung derselben.
Vollversammlungen um das gegenseitige Vertrauen, allgemeine Empathie, Solidarität aufzubauen, die nicht nur unentbehrlich sind um den Kampf vorwärtszubringen, sondern auch als Stützpfeiler einer zukünftigen klassenlosen, ausbeutungsfreien Gesellschaft dienen.
2011 gab es eine Explosion echter Solidarität, die nichts mit der heuchlerischen und eigennützigen „Solidarität“ zu tun hat, die die Herrschenden predigen: Demonstrationen in Madrid zur Befreiung der Inhaftierten oder zur Verhinderung der Festsetzung von Flüchtlingen durch die Polizei. Massenhaftes Zusammenkommen in Spanien, Griechenland und den USA, um Zwangsräumungen von Wohnungen zu verhindern. In Oakland (Kalifornien) hat „die Streikversammlung beschlossen, Streikposten zu anderen Betrieben zu entsenden und andere Betriebe oder Schulen zu besetzen, die Beschäftigte oder Studenten bestrafen, weil sie sich am Generalstreik des 2. November beteiligt haben.“ Es gab Augenblicke, zwar noch immer sehr sporadisch und von kurzer Dauer, in der sich alle unterstützt und geschützt fühlten durch die Gleichgesinnten, was im totalen Gegensatz steht zur „Normalität“ dieser Gesellschaft, in der ein Gefühl der Angst, Schutz- und Hilflosigkeit vorherrscht.
Das notwendige Bewusstsein, damit Millionen ArbeiterInnen die Welt umwälzen, kann nicht erreicht werden, indem wir erleuchteten Führern lauschen und deren Anweisungen folgen, sondern es entsteht aus einer Kampferfahrung, die von massenhaften Debatten begleitet und geführt wird, in dem die Erfahrung früherer Kämpfe berücksichtigt, aber auch der Blick nach vorne in die Zukunft gerichtet ist. Dies wurde durch Slogans in Spanien zum Ausdruck gebracht wie: „Ohne Revolution wird es keine Zukunft geben“.
Die Debattenkultur, die offene Diskussion, die von dem gegenseitigen Respekt und dem gegenseitigen, aufmerksamen Zuhören ausgeht, fängt nicht nur in den Vollversammlungen zu keimen an, sondern auch in deren Umkreis. Man hat angefangen, ambulante Bibliotheken, Treffen, Zusammenkünfte zu organisieren. Viele geistige Aktivitäten mit geringer technischer Ausrüstung wurden mit großem Improvisationstalent in den Straßen und Plätzen in Gang gesetzt. Und wie bei den Versammlungen bedeutet dies ein Wiederanknüpfen an die frühere Erfahrung der Arbeiterbewegung. „Der Drang nach Wissen, so lange unterdrückt, brach sich in der Revolution mit Ungestüm Bahn. Allein aus dem Smolny-Institut gingen in den ersten sechs Monaten täglich Tonnen, Wagenladungen Literatur ins Land. Rußland saugte den Lesestoff auf, unersättlich, wie heißer Sand das Wasser. Und es waren nicht Fabeln, die verschlungen wurden, keine Geschichtslügen, keine verwässerte Religion oder der billige Roman, der demoralisiert – es waren soziale und ökonomische Theorien, philosophische Schriften, die Werke Tolstois, Gogols und Gorkis ...“ (John Reed, „10 Tage, die die Welt erschütterten“, 1. Kapitel).
Gegenüber der Kultur dieser Gesellschaft, die vorgibt für “Erfolgsmodelle” zu kämpfen, die aber immer wieder millionenfach scheitern, gegen die entfremdenden Stereotypen und Verfälschungen, welche die herrschende Ideologie und die Medien uns einzutrichtern versuchen, haben Tausende Personen angefangen, eine wirkliche Kultur des Volkes zu entwickeln, die von ihnen selbst getragen wird, mit dem Bestreben, nach eigenen kritischen und unabhängigen Maßstäben vorzugehen. Dabei kamen Themen wie die Krise und ihre Wurzeln, die Rolle der Banken usw. auf die Tagesordnung. Ebenso wurde über die Revolution diskutiert, wobei alle möglichen Auffassungen zu diesen Fragen auftauchten, die eine Menge Verwirrungen zum Ausdruck bringen. Es wurde über Demokratie und Diktatur geredet. Dabei entstanden die sich ergänzenden Sprüche: „Sie nennen es Demokratie, aber es ist keine“ und „Es ist eine Diktatur, aber man sieht sie nicht“.
Die ersten Schritte wurden unternommen, damit eine wahre Politik der Mehrheit in Gang kommt, die nichts zu tun hat mit der Welt der Intrigen, Lügen und dem Fischen in trüben Gewässern, all den Machenschaften, die die Politik der herrschenden Klasse auszeichnen. Bei dieser Vorgehensweise werden all die Themen angepackt, die uns betreffen – nicht nur die Bereiche Wirtschaft oder Politik, sondern auch die Umweltzerstörung, Ethik, Kultur, Erziehung, Gesundheitswesen.
Wenn die vorhin aufgezeichnete Entwicklung des Jahres 2011 dieses zu einem Jahr des Beginns der Hoffnung macht, müssen wir dennoch einen nüchternen, hellsichtigen und kritischen Blick auf die Bewegungen werfen, um ihre Grenzen und Schwächen zu erkennen, die noch sehr groß sind.
Während eine wachsende Zahl von Menschen auf der ganzen Welt erkennt, dass der Kapitalismus ein überholtes System ist, und “damit die Menschheit leben kann, der Kapitalismus überwunden werden muss”, reduzieren viele den Kapitalismus immer noch auf eine Handvoll „Übel“ (rücksichtslose Finanzhaie, erbarmungslose Diktatoren), obwohl er ein komplexes Netz von gesellschaftlichen Beziehungen ist, die insgesamt tiefgreifend umgewälzt werden müssen. Man darf sich nicht durch seine mannigfaltigen Erscheinungen (Finanzen, Spekulation, Korruption der Führer der Wirtschaft und Politik) in die Irre führen lassen, sonst verzettelt man sich.
Obwohl wir die Gewalt, welche aus allen Poren des Kapitalismus strömt (Repression, Terror und Terrorismus, moralische Barbarei) verwerfen müssen, darf man nicht glauben, dass dieses System nur mit Hilfe eines friedlichen Drucks der „Bürger“ über Bord geworfen werden könnte. Die herrschende Klasse, die eine Minderheit darstellt, wird ihre Macht nicht freiwillig aufgeben; sie verschanzt sich hinter einem Staat, dessen demokratische Spielart sich mit Wahlen legitimiert, die alle vier oder fünf Jahre stattfinden. Er stützt sich auf Parteien, die Sachen versprechen, welche sie nie einhalten und Sachen tun, die sie vorher nie angekündigt haben. Ein weiterer Stützpfeiler sind die Gewerkschaften, die mobilisieren um zu demobilisieren und alles unterzeichnen, was die herrschende Klasse ihnen auf den Tisch zur Unterschrift vorlegt. Nur ein massiver, hartnäckiger, und mit Ausdauer geführter Kampf kann den Ausgebeuteten die notwendige Kraft verleihen, um die Unterdrückungsmittel zu zerstören, mit denen der Staat sich am Leben hält. Nur so können sie den Slogan umsetzen, der in Spanien immer wieder zu hören ist: „Alle Macht den Versammlungen“.
Obwohl der Slogan “Wir sind die 99%“ (gegenüber der Minderheit von 1%), welcher in den USA in der Occupy-Bewegung so populär wurde, durchschimmern lässt, dass man langsam die tiefen Klassenspaltungen erkennt, mit denen wir leben, hat sich die Mehrheit der Teilnehmer der Protestbewegung eher als „Bürger von Unten“ betrachtet, die nach Anerkennung in einer Gesellschaft streben, in der „freie und gleiche Bürger“ leben.
Aber die Gesellschaft ist in Klassen gespalten. Auf der einen Seite gibt es eine Kapitalistenklasse, die die Produktionsmittel besitzt und nichts produziert; auf der anderen Seite eine ausgebeutete Klasse, die Arbeiterklasse, die alles produziert und immer ärmer wird. Der Motor der gesellschaftlichen Entwicklung ist nicht das demokratische Spiel der „Entscheidung durch eine Mehrheit der Bürger“ (dieses Spiel stellt eher die Maske dar, welche die Diktatur der herrschenden Klasse verschleiert und legitimiert), sondern der Klassenkampf.
Die soziale Bewegung muss sich um den Kampf der wichtigsten ausgebeuteten Klasse – die Arbeiterklasse - als Bezugspunkt ausrichten, denn diese produziert gemeinsam die Hauptreichtümer der Gesellschaft und stellt das Funktionieren des gesellschaftlichen Lebens sicher: Fabriken, Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, Universitäten, Büros, Häfen, Bauindustrie, Transport, Post usw. In einigen Bewegungen des Jahres 2011 konnte man ansatzweise ihre Stärke erahnen: die Kampfwelle, die in Ägypten losbrach, und Mubarak zum Rücktritt zwang. In Oakland (Kalifornien) riefen die „Occupyer“ zu einem Generalstreik auf, der Hafen wurde lahmgelegt, und man rief die Beschäftigten des Hafens und LKW-Fahrer zu aktiver Unterstützung auf. In London kamen die streikenden Elektriker und die Besetzer der Saint Paul Kathedrale zu gemeinsamen Aktionen zusammen. In Spanien gab es bei den Versammlungen auf Plätzen Bestrebungen zur Vereinigung bestimmter, im Kampf befindlicher Bereiche.
Es gibt keinen Gegensatz zwischen dem Klassenkampf des modernen Proletariats und den tiefgreifenden Bedürfnissen der gesellschaftlichen Schichten, die unter der kapitalistischen Unterdrückung leiden. Der Kampf des Proletariats ist keine egoistische Bewegung, sondern die Grundlage „der selbständigen Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl“ (Kommunistisches Manifest, MEW, Bd 4, S. 472).
Indem die Erfahrung von zwei Jahrhunderten Arbeiterkampf kritisch aufbereitet wird, können die gegenwärtigen Bewegungen aus den früheren Kämpfen und Befreiungsversuchen lernen. Der Weg ist lang und voll von Hindernissen. Daraus entstand in Spanien der immer wieder gehörte Slogan: „Wir bewegen uns nicht langsam, wir reisen weit“ „No es que vamos despacio, es que vamos muy lejos“. Wir müssen so breit und tiefgehend wie möglich debattieren, ohne Vorbehalte und Angst, damit wir zielstrebig eine neue Bewegung vorbereiten. Nur so können die Grundlagen gelegt werden für eine neue, andere Gesellschaft als der Kapitalismus. IKS 12.3.2012
[1] [12] Siehe “Die Wirtschaftskrise ist keine endlose Geschichte. Sie kündigt das Ende eines Systems und den Kampf für eine neue Welt an“, in International Review Nr. 148. Zusammenhängend mit der globalen Krise des Systems verdeutlichte Fukushima die riesigen Gefahren, vor denen die Menschheit steht.
[2] [13] Es ist aufschlussreich, dass Times Magazine als “Person des Jahres” Protestteilnehmer an der Bewegung der “Empörten” gewählt hat www.time.com/time/specials/packages/article/0,28804,2101745_2102132_2102... [14].
Auch wenn die Entschlossenheit, sich gegen die Krise zur Wehr zu setzen, und die Proteste und Abwehrkämpfe in den einzelnen Ländern noch ein sehr unterschiedliches Niveau aufweisen, ist dieser Trend in immer mehr Ländern deutlich erkennbar: von Südafrika, wo in den Platin-Minen von Implats mehrere Tausend Arbeiter wild streikten, über Indien (siehe dazu den Artikel in dieser Ausgabe) und China, wo immer wieder Streiks und andere Proteste aufflammen, oder die Occupy-Bewegung in den letzten Monaten in mehreren Industriestaaten, bis hin zu den fortdauernden Abwehrkämpfen in Griechenland.
Die Entwicklung in Spanien während der letzten Monate ist dabei besonders aufschlussreich. Während im Mai letzten Jahres die Bewegung der Indignados (Empörten) hauptsächlich eine Protestbewegung ohne konkretere Forderungen war, bei der man auf öffentlichen Plätzen seine Wut über die Verhältnisse zum Ausdruck brachte, gleichzeitig viele die Hoffnung auf eine „Demokratisierung des Systems“ hegten, war diese Bewegung von 2011 vor allem dadurch geprägt, dass zwar eine allgemeine Atmosphäre des Protestes aufblühte, aber aus den Betrieben war relativ wenig Widerstand zu vernehmen. Eine Protestbewegung mit viel Debatten und Initiativen auf den öffentlichen Plätzen, mit generationenübergreifender Beteiligung, ohne sichtbar treibende Kraft beherrschte das Bild. Die Medien berichteten teilweise gar relativ ausführlich über diese Proteste.
Die Proteste der letzten Wochen deuten darauf hin, dass es mehr Initiativen seitens der ArbeiterInnen – ob beschäftigt oder arbeitslos - gibt, die darauf drängen zusammenzukommen. Das Potenzial, ökonomische und politische Fragen des Kampfes miteinander zu verknüpfen, wächst. Der Schwerpunkt liegt bislang im Bereich des öffentlichen Dienstes und im Widerstand gegen staatliche Sparprogramme. Vor allem in Barcelona, Bilbao, Valencia, Castellon und Alicante fanden im Januar und Februar eine Reihe von Protesten statt. Die meisten Proteste stehen im Vergleich zu 2011 noch stark unter gewerkschaftlicher Kontrolle, aber die Tendenz zu Eigeninitiativen nimmt zu, vor allem im Erziehungswesen. Darüberhinaus steigt die Zahl der Beteiligten an Demonstrationen. Am 18. Januar protestierten Gewerkschaftsangaben zufolge mehrere Zehntausend in Barcelona gegen Kürzungen im öffentlichen Dienst. Unsere GenossInnen, die vor Ort anwesend waren, berichten, dass die Teilnehmer mehr als zuvor anfingen, miteinander zu diskutieren, anstatt sich wie bislang üblich passiv und abwartend zu verhalten. Es waren Leute aus verschiedenen Orten der Umgebung zusammengekommen, verschiedene Altersgruppen waren vertreten. Die meisten betonten die Notwendigkeit, dass die Belegschaften aus den Betrieben in Versammlungen und Demonstrationen zusammenkommen müssen. Teilnehmer schilderten Schwierigkeiten, Vollversammlungen gegen den Widerstand der Gewerkschaften abzuhalten. Die Offenheit gegenüber politischen Gruppen war beeindruckend. Viele Teilnehmer wollten unser Flugblatt haben, um es weiterzuverteilen. Am 21. Januar protestierten in Valencia ca. 80.000, in Alicante 40.000 gegen Kürzungen im Bildungswesen, am 26. Januar zogen erneut ca. 100.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in Valencia, 50.000 in Alicante, 20.000 in Castellon auf die Straße. In den Stadtvierteln entwickeln sich auch viele Initiativen. In Madrid protestierten Feuerwehrleute und andere Beschäftigte des öffentlichen Dienstes. 10.000 Menschen solidarisierten sich in Vigo (Nordspanien) mit den Beschäftigten des Schiffsbaus. In Alicante kommen viele LehrerInnen in Nachbarschaftsversammlungen zusammen. In Vollversammlungen, die allen Beschäftigten offenstehen, diskutieren Beschäftigte des Gesundheits- und Bildungswesen, der Gasversorgung usw. miteinander. In Valencia protestieren Eltern, Kinder und Lehrpersonal gegen Kürzungen im Bildungswesen. Wiederum in Valencia wurden in verschiedenen Stadtteilen „Stadtteilversammlungen“ gebildet, in denen die Proteste des Bildungswesens koordiniert werden. Immer mehr stoßen an einzelnen Orten auch Arbeitslose dazu. In mehreren Städten fanden Solidaritätsversammlungen mit den ArbeiterInnen in Griechenland statt. Mitte Februar schließlich gingen Gewerkschaftsangaben zufolge in Madrid über 500.000 Menschen auf die Straße; 450.000 in Barcelona; 300.000 in Valencia. Selbst aus relativ kleinen Städten, wie dem asturianischen Gijón, wurden 50.000 Teilnehmer gemeldet. Die Polizei bestätigte jeweils nur ein Zehntel der von den Gewerkschaften gemachten Angaben. Die Wut richtet sich gegen die jüngsten Sparbeschlüsse der Regierung: Im Falle einer Kündigung müssen den Angestellten nicht mehr wie früher 45 Tage Lohn, sondern nur noch 33 Tage pro Jahr Betriebszugehörigkeit gezahlt werden. Verzeichnen die Betriebe rückläufige Einnahmen, sind es sogar nur noch 20 Tage.
Indem nun mehr Widerstand und Protest aus den Betrieben kommt und mehr Belegschaften in Demonstrationszügen auf der Straße oder bei Protestveranstaltungen in Erscheinung treten, entwickelt sich die Möglichkeit, dass der Widerstand einen Dreh- und Angelpunkt bekommt. In der Polarisierung zwischen Kapital und Arbeit ist es wichtig, dass man sich „einem Pol zugehörig“ fühlt, sozusagen von ihm angezogen wird. Solange die Belegschaften in den Betrieben ruhig bleiben, fehlt dieser Bezugspunkt. Dies ist ein wesentlicher Faktor. Gleichzeitig erfahren wir von Spanien, dass dort in Versammlungen (in den Stadtteilen und anderswo) viele Diskussionen stattfinden über die Perspektiven des Kapitalismus. Dies ist eine unerlässliche Voraussetzung für einen qualitativen Schritt in den Auseinandersetzungen. Während ja in den jüngsten Protesten noch stark der Ruf nach „Demokratisierung des Kapitalismus“ zu vernehmen war, muss der Klärungsprozess deutlich werden lassen, dass nur die Überwindung des Systems eine Lösung bietet. Sicher reifen diese Elemente – der Aufbau eines Selbstvertrauens durch die eigene Erfahrung im Kampf und die Identifizierung mit der Klasse sowie die Erkenntnis, dass die Krise systembedingt ist und nur durch die Überwindung des Systems überwunden werden kann – nicht sehr schnell heran. Sie entstehen nicht im Schnelldurchgang; deren Reifung verläuft keineswegs geradlinig sondern äußerst gewunden, und immer wieder mit Rückschritten.
Während die Krise zwar mehr als je zuvor eine internationale, weltweite Krise ist, ist offensichtlich, dass die Bedingungen für die ArbeiterInnen noch immer von Land zu Land ziemlich unterschiedlich sind.
In den USA
und Frankreich sorgt zum Beispiel im Augenblick der Wahlkampf stark für
Ablenkung – trotz einer äußerst brutalen Verschlechterung der Lage der
ArbeiterInnen. In einem anderen Schlüsselland, Deutschland, ist die Lage sehr
heterogen. Während auf der einen Seite aufgrund der rapide um sich greifenden
Verarmung der Einzelhandel über sinkenden Konsum klagt, bislang immer mehr
Geschäfte schließen – der Fall der Niedrigstlohnkette Schlecker ist nur der
spektakulärste in den letzten Wochen -, werden auf der anderen Seite in den
exportorientierten Betrieben fette Sonderprämien gezahlt. So haben z.B.
Autohersteller zwischen 4.000 (Daimler), 7.500 (VW) und 8.000 (Audi) Euro
Bonuszahlungen für die Beschäftigten angekündigt. Während also in den meisten
europäischen Ländern drastische Lohnkürzungen vorgenommen werden, werden in
Deutschland Sonderzahlungen in einigen Branchen ausgezahlt. Und dennoch –
gleichzeitig stehen bei Siemens, Opel, Osram und anderswo massive
Stellenstreichungen und gar Werksschließungen zur Diskussion. Die deutschen
Exportrekorde werden nämlich nicht ewig halten, dann wird auch die Talfahrt der
Weltwirtschaft im Land der Exportrekorde zu spüren sein. Die Abhängigkeit des
deutschen Kapitals vom Weltmarkt ist enorm (je nach Branche sogar über 50%),
und auch bei weiteren Finanzdesastern wäre das deutsche Kapital mit am meisten
betroffen. All das bedeutet, dass die Arbeiterklasse in der Zukunft dann umso
heftiger angegriffen werden wird. 19.03.2012
100-10=X
100-4= Y
Diese einfachen Rechenaufgaben lernen SchülerInnen ab dem zweiten Grundschuljahr. Leider gibt es Kinder, die schon mit diesen simplen Aufgaben Schwierigkeiten haben, wie z.B. PISA-Untersuchungen immer wieder zeigen. Zugegeben, wenn ein paar Nullen hinzukommen und es sich bei den Zahlen um Millionen oder Milliarden handelt, kann man sich viel schneller verrechnen, auch wenn sich an der Grundrechenart nichts ändert. Nun wurde in einem jüngsten PISA-Test eine besonders diffizile Aufgabe gestellt. Es ging um den Zusammenhang zwischen der Beherrschung der Grundrechenarten, wirtschaftliches Verständnis, Logik und einem durch die SchülerInnen zu ermittelnden Faktor. Die Frage lautete. „Wenn die Anfangskaufkraft 100% beträgt, diese um 10% reduziert wird, hat die Kaufkraft infolgedessen zu- oder abgenommen?“ Nahezu alle SchülerInnen konnten diese Frage ohne Probleme beantworten. Auf die Zusatzfrage aus dem Bereich Wirtschaft, ob das massive Absaugen von Kaufkraft zu einer Ankurbelung der Wirtschaft führen könne, konnten auch hier die meisten SchülerInnen die Frage schnell und richtig beantworten. Anschließend sollten die SchülerInnen die Aussagen von Politikern, Unternehmern usw., dass „nur ein striktes Sparen, eine Kürzung der Löhne usw. die Wirtschaft wieder ans laufen bringe“, mit ihren eigenen Antworten vergleichen. In dem PISA-Test konstatierten nahezu alle SchülerInnen ein eklatantes Auseinanderklaffen zwischen ihren Ergebnissen und den Aussagen der Politiker. Die Frage, wie man dieses Auseinanderklaffen zwischen den elementarsten Ergebnissen der Mathematik, Logik und den „Versprechen“ der Politiker und Unternehmer erklären kann, wird zur Zeit unter den SchülerInnern heiß diskutiert…
Scherz beiseite, was ist dran an den „Lösungsvorschlägen“ der Herrschenden?
„Allein im Jahr 2010 schrumpfte das griechische BIP um 4,5 Prozent, bis zum zweiten Jahresdrittel 2011 um weitere 7,5 Prozent, während die Verschuldung des Landes bis März 2011 bereits auf über 340 Milliarden Euro wuchs.[1] Die Arbeitslosigkeit, die Ende 2009 etwa 9,6 Prozent betrug, ist auf 16,3 Prozent gestiegen; unter den 15- bis 29-Jährigen ist sogar fast jeder Dritte erwerbslos. Den im europäischen Vergleich schlecht bezahlten staatlichen Angestellten wurden ihre Bezüge im Schnitt um 30 bis 40 Prozent gekürzt, sämtliche Rentner des Landes mussten Einschnitte in Höhe von etwa 20 Prozent hinnehmen. Branchentarifverträge dürfen mittlerweile unterlaufen werden, die absolute Untergrenze von etwa 740 Euro Bruttolohn für eine Vollzeitstelle gilt für neu eingestellte junge Erwachsene unter 25 Jahren nicht mehr. Sie müssen mit knapp 600 Euro im Monat auskommen - brutto.“
Griechenland mit seinen ca. 20% Arbeitslosen ist nur ein Beispiel einer Entwicklung, die sich immer mehr Bahn bricht in einer Reihe von europäischen Staaten. In Irland ist die Arbeitslosigkeit auf 14%, in Portugal auf 12%, in Spanien auf über 25% angestiegen – mit jeweils umfangreichen Sparprogrammen. Italien, Großbritannien, Belgien usw. folgen auf den Plätzen. In einem großen Teil Europas also überall Sparen, Kaufkraft schrumpfen… Wachstumsrückgang, Zusammenbruch der Märkte.
Das erinnert an die Zeit der 1930er Jahre, als der damalige Kanzler Brüning nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise die öffentlichen Ausgaben um 30% kürzte, die Steuern erhöhte, die Löhne und Sozialleistungen radikal gesenkt wurden, die Arbeitslosen und noch Beschäftigten mit viel weniger Geld in der Tasche ums Überleben kämpften. Das Bruttosozialprodukt schrumpfte 1931 um 8%, 1932 um 13%, die Arbeitslosigkeit schnellte auf über 30%. Die weitere Entwicklung ist bekannt. Dem Kapital gelang es nicht, die Wirtschaft aus dem Schlamassel zu ziehen. Der Krieg war die Folge.
Mitte März wurde eine neue Studie zum Lohnniveau in Deutschland veröffentlicht. „Knapp acht Millionen Menschen in Deutschland müssen einer Studie zufolge mit einem Niedriglohn [17] von weniger als 9,15 Euro brutto pro Stunde auskommen. Ihre Zahl sei zwischen 1995 und 2010 um mehr als 2,3 Millionen gestiegen, berichtet die "Süddeutsche Zeitung" unter Berufung auf eine Untersuchung des Instituts für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Demnach sind etwa 23 Prozent - fast ein Viertel der Beschäftigten - im Niedriglohnsektor tätig. Laut der Studie bekamen die Niedrigverdiener im Durchschnitt im Jahr 2010 6,68 Euro im Westen und 6,52 Euro im Osten. Von ihnen erhielten mehr als 4,1 Millionen weniger als sieben Euro, gut 2,5 Millionen weniger als sechs Euro und knapp 1,4 Millionen nicht einmal fünf Euro die Stunde. Knapp jeder Zweite der niedrig bezahlten Menschen arbeitet dabei voll und nicht Teilzeit. So gibt es nach den Berechnungen allein fast 800.000 Vollzeitbeschäftigte, die weniger als sechs Euro kassieren können. Sie kommen auf einen Monatslohn unter 1000 Euro brutto.
Stark gestiegen ist die Zahl der Niedrigbezahlten vor allem in Westdeutschland. Der Studie zufolge wuchs sie in 15 Jahren in den alten Bundesländern um 68 Prozent, im Osten dagegen nur um drei Prozent. Die große Mehrheit der knapp acht Millionen Betroffenen habe aber einen Beruf erlernt.“(https://www.stern.de/wirtschaft/job/einkommen-in-deutschland-jeder-viert... [18]e)
Wenn in Deutschland vom Jobwunder und hohen Beschäftigungszahlen die Rede ist, liegt einer der Gründe in der brutalen Senkung der Löhne, welche Lohnabhängige oft dazu zwingt, neben einer ersten schlecht bezahlten Stelle noch eine weitere schlecht bezahlte zu suchen. Selbst das „Manager-Magazin“ musste zugeben: „Das ist die hässliche Seite des Jobbooms: Viele neue Stellen entstanden hierzulande in den Vorjahren auch deshalb, weil die Löhne für die Tätigkeiten gering waren. Jetzt wird das Ausmaß der Billigjobs offenbar - aber auch, wie stark Nebenjobber diesen Boom befeuern.“ www.manager-magazin.de/politik/artikel/a-821203.html [19]. „So erhalten z.B. auch viele Leiharbeiter in Automobilfabriken, die immer wieder neue Absatzrekorde vermelden, gerademal 7.5 Euro, während Beschäftigte der Stammbelegschaft bis 18 Euro erhalten.“
All die Beteuerungen seitens des Staates und des Unternehmerlagers, „Sparen bringt die Wirtschaft wieder ans Laufen“, ändern nichts an der Tatsache: Reduziert man die Kaufkraft durch Lohnsenkungen, streicht man von Sozialleistungen usw., senkt man die Nachfrage. Die Folge: noch mehr produzierte Waren bleiben unverkauft, der Konkurrenzdruck für die Unternehmen wächst, Rationalisierungszwang und Preiskrieg verschärfen sich. Die Betriebe sind gezwungen, noch mehr Personal abzubauen oder zu entlassen. Der Staat nimmt noch weniger Steuern ein und muss noch mehr Geld für die Unterhaltung der Arbeitslosen ausgeben. Das Wachstum wird nicht angeschoben, sondern schrumpft; die Konsequenz: noch weniger Schuldenabbau… Diese Methode löst nur eine Kettenreaktion aus. In Wirklichkeit verschlimmert also die ganze Sparpolitik nur noch die Krise und führt das System nicht aus der Sackgasse.
Der andere „Lösungsansatz“ – zusätzliche Kaufkraft schaffen durch künstliche Nachfragestimulierung in Form von Billigkrediten, Verschuldung usw. hat aber ebenso Schiffbruch erlitten. Diese Politik wurde während der letzten Jahrzehnte systematisch betrieben.
Die Folge. In dem führenden Industriestaat, der einzig verbliebenen Supermacht USA, melden immer mehr Kommunen Bankrott an, immer mehr Bundesstaaten bewegen sich in diese Richtung. Die Kapitalisten fallen ebenso wie Räuber über die Lohnabhängigen her. Einige Beispiele: „New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg, ein Milliardär, hat für den Haushalt 2012 bereits drastische Sparmaßnahmen verordnet, darunter Entlassungen in vielen städtischen Behörden, die nächtliche Schließung von 20 Feuerwehrkommandos, gekürzte Öffnungszeiten für Bibliotheken und Kulturzentren sowie die Entlassung von 6000 Lehrern im Juni. Trotzdem droht, laut dem Büro des Bürgermeisters, eine Etatlücke von 4,4 Milliarden Dollar.“ (URL: www.manager-magazin.de/politik/weltwirtschaft/a-806026.html [20])
Nachdem im Sommer 2011 eine Insolvenz des Staates drohte, konnte die Regierung mit einer weiteren Erhöhung der Schuldengrenze und angekündigten drastischen Streichungen die Insolvenz erst einmal aufschieben. "Die Bundesregierung in Washington kann Geld drucken, die Bundesstaaten können ihre Budgetprobleme auf die Städte abwälzen. Doch die müssen Insolvenz anmelden, weil sie die Defizite nicht weiterreichen können." (ebenda) So beschreibt Stephanie Gomes, eine Stadträtin in Vallejo, die drohende fiskalische Kettenreaktion in den USA. „Die malerische Stadt Vallejo mit 115.000 Einwohnern in den Hügeln gegenüber von San Francisco kehrte in diesem Sommer 2011 nach drei Jahren aus der Insolvenz zurück. Etwas verkürzt lautet die fiskalische Wiederauferstehung so: Die Hälfte der Feuerwehrleute wurde heimgeschickt, ein Drittel der Polizisten entlassen, Bibliotheken und Parks geschlossen, zahlreiche öffentliche Dienstleistungen - darunter für Senioren - eingestampft. (…) Staatliche Pensionen gelten plötzlich doch nicht mehr als unantastbare Leistung, die selbst einer kommunalen Insolvenz standhält.“ Die bankrotte Stadt Central Falls in Rhode Island hat jahrelang in die Pensionsfonds von Feuerwehrleuten, Polizisten und anderen Beamten keine Beiträge eingestellt. Nun wird ein Teil der 47 Millionen Dollar Zusagen für Pensionen gestrichen, um den Banken Zinsen zahlen zu können. Bereits 82 Pensionäre der Stadt haben sich mit Kürzungen ihrer Renten um bis zu 55 Prozent einverstanden, berichten die Zeitungen in der ärmsten Stadt von Rhode Island.“ (ebenda).
Selbst die gigantischsten Konjunkturankurbelungsprogramme und Verschuldungspraktiken können den Bankrott nur aufschieben, bis der Zeitpunkt kommt, wo sowohl Zahlungsunfähigkeit als brutale Sparprogramme anstehen.
So offenbaren all die Maßnahmen, die die Herrschenden ergreifen, um die Wirtschaftskrise zu überwinden, eigentlich nur die Ausweglosigkeit des Systems. Aus diesem Teufelskreis kann keine Maßnahme des Kapitals führen, sondern nur die Überwindung des Systems selbst. Die Herrschenden wiederum müssen immer mehr und unverfrorener lügen.
D, 18.03.2012
Aber die von den Gewerkschaften erhobenen Forderungen gehen von der Annahme aus, dass die kapitalistische Regierung Indiens in der Lage wäre, auf die Bedürfnisse anderer Klassen einzugehen. Auch verbreiten sie die Illusion, dass sie die Inflation eindämmen und den Verkauf von Staatsbetrieben einschränken könnte, was zum Vorteil der Arbeiter wäre. Die Wirtschaftskrise zeigt auch deutlich in Indien ihre Spuren. Die Umsätze der IT Industrie und Call-Center in Indien hängen bis zu 70% von US-Firmen ab. Diese Wirtschaftsbranche ist von der Krise schwer erfasst worden; sie wächst nicht mehr, die Profite brechen ein, überall wurden die Löhne gekürzt und Stellen gestrichen. Aber auch in anderen Branchen gibt es die gleiche Entwicklung. Die indische Wirtschaft kann sich nicht vor der Weltwirtschaftskrise abschirmen.
Bei diesem Streik zogen alle Gewerkschaften an einem Strang. Seit 1991 gab es 14 Generalstreiks. In der jüngsten Zeit jedoch haben immer mehr Beschäftigte eigenständig gehandelt anstatt auf gewerkschaftliche Anweisungen zu warten. Zum Beispiel beteiligten sich zwischen Juni und Oktober 2011 Tausende Beschäftigte an Fabrikbesetzungen, wilden Streiks und Protestlagern in Maruit-Suzuki und anderen Autofabriken in Manesat, einer „Boom town“ in der Nähe von New Delhi. Nach gewerkschaftlicher Übereinkunft mit den Arbeitgebern Anfang Oktober wurde der Vertrag für 1.200 Zeitarbeiter nicht verlängert. Darauf legten 3.500 Beschäftigte in einem spontanen Streik die Arbeit nieder und besetzten die Fließbänder aus Solidarität. Mehr als 8.000 Beschäftigte schlossen sich aus Solidarität in anderen Werken an. Dadurch wurden ebenso sit-in Proteste ausgelöst; Vollversammlungen wurden abgehalten, um sich der Sabotage durch die Gewerkschaften zu widersetzen.
Die Wiederentdeckung von Vollversammlungen als das wirksamste Mittel zur breitest möglichen Beteiligung von ArbeiterInnen und der größtmögliche Austausch von Ideen ist ein gewaltiger Fortschritt für den Kampf. Die Vollversammlungen bei Maruit-Sazuki in Manesar standen jedem offen, alle ArbeiterInnen wurden aufgefordert, sich an den Versammlungen zu beteiligen und die Führung und Ziele des Kampfes festzulegen. Daran beteiligten sich zwar nicht Millionen, aber sie machten klar, dass die Arbeiterklasse in Indien eindeutig ein Teil der gegenwärtigen internationalen Intensivierung des Klassenkampfes ist. Car. 3/3/12.
- Kürzung des Mindestlohns um 22% (er wird von 750 auf 480 Euro gesenkt) und eine Kürzung um 32% für die unter 25jährigen, mit Konsequenzen für all diejenigen, deren Einkommen durch die Entwicklung des Mindestlohns bestimmt wird – für viele Beschäftigte bedeutet dies eine Halbierung ihrer Löhne.
- 150.000 Stellen im öffentlichen Dienst werden in den nächsten zwei Jahren gestrichen, deren Löhne sollen auf 60% des bisherigen Niveaus gesenkt werden.
- Rentenkürzungen,
- Das Arbeitslosengeld wird auf ein Jahr beschränkt,
- keine automatischen Lohnanpassungen mehr, keine Berücksichtigung der Dauer der Betriebszugehörigkeit,
- Die Sozialausgaben werden gesenkt, dadurch werden die Gesundheitskosten für einen Großteil der Bevölkerung nicht mehr erstattet.
- Lohnabkommen werden in ihrer Dauer auf drei Jahre Laufzeit beschränkt.
Das ist noch nicht alles. Im November 2011 betrug die offizielle Arbeitslosigkeit 20.9% (ein Anstieg um 48.7% gegenüber dem Vorjahr). Die Arbeitslosenrate beträgt bei Jugendlichen in der Altersgruppe 18-25 Jahre 50%.
Innerhalb von zwei Jahren stieg die Zahl der Obdachlosen um 25%. Immer mehr Menschen wissen nicht wie sie sich ernähren sollen; es erinnert sie an die Hungertage des 2. Weltkriegs. Ein für ein NGO tätiger Arzt berichtete in Libération (30.1.12): „Ich wurde wirklich besorgt, als ich bei Arztbesuchen immer häufiger feststellte, dass immer mehr Kinder zu Arztbesuchen kamen, nachdem sie seit einiger Zeit nichts zu essen bekommen hatten.“
Die Zahl der Selbstmorde hat sich innerhalb von zwei Jahren verdoppelt, insbesondere junge Leute nehmen sich häufiger das Leben. Und die Zahl der an Depression Erkrankten ist sprunghaft angestiegen.
Aufgrund der breiten Ablehnung der jüngsten Sparbeschlüsse durch die Bevölkerung haben sich ca. 100 Parlamentsabgeordnete der Stimme enthalten oder mit Nein gestimmt; dazu gehörten auch ca. 40 Abgeordnete der beiden großen Parteien vom rechten und linken Flügel. Sie beugten sich nicht der von ihnen verlangten Parteidisziplin. Die Lage wird immer chaotischer, da die beiden traditionellen großen Parteien, die in der Zeit nach dem Krieg abwechselnd die Macht ausübten, total diskreditiert sind. Große Stimmenverluste für sie sind zu erwarten. Auf diesem Hintergrund wird es den Herrschenden schwer fallen, die für April angekündigten Parlamentswahlen zu ihren Gunsten durchzuführen.
Die Proteste in Griechenland haben zu Solidarisierungen und zu Eigeninitiativen der Betroffenen geführt. In vielen Stadtvierteln und in Dörfern kommen die Nachbarn zusammen. Die Besetzung der Novicki-Universität dient als Diskussionsforum. Ministerien wurden ebenso besetzt (so das Arbeits-, Gesundheits- und Wirtschaftsministerium), sowie Regionalbehörden, das Megalopolis Kraftwerk, das Rathaus in Holargos. Firmen haben Milch und Kartoffeln verteilt. Arbeiter haben die Zeitungsdruckerei Eleftherotypia, in der 800 Arbeiter beschäftigt sind, besetzt. Während des Streiks haben sie ihre eigene Zeitung gedruckt.
Schwächen und Illusionen der Bewegung
Aber die deutlichste Reaktion, die die Entschlossenheit der Bewegung in Griechenland zum Ausdruck bringt, spiegelt ebenso all ihre Schwächen und Illusionen wider. Dies wird anhand der Reaktion im Kilkis-Krankenhaus in Zentralmazedonien in Nordgriechenland ersichtlich. In einer Vollversammlung beschlossen die Beschäftigten in den Streik zu treten und das Krankenhaus zu besetzen, um ausstehende Löhne einzufordern. Sie stellten gleichzeitig Notoperationen und freie Behandlung für die Mittellosen sicher. Die Beschäftigten haben einen Aufruf an andere Beschäftigte verfasst: „Die einzig legitimierte, entscheidungsbefugte Instanz wird die Vollversammlung der Arbeiter sein.“ Wir haben diesen Aufruf auf unserer (englischen) Webseite veröffentlicht, weil dieser die Absicht zum Vorschein bringt, nicht isoliert bleiben zu wollen. Die Beschäftigten richten sich nicht nur an die Beschäftigten anderer Krankenhäuser, sondern an alle Beschäftigten, damit diese sich ihrem Kampf anschließen. Aber dieser Aufruf bringt auch viele demokratische Illusionen an den Tag, weil man sich auf „die Reaktionen der Bürger“ stützen möchte und auf eine schwammige Kraft wie „Arbeitergewerkschaften“, oder die „Zusammenarbeit aller Gewerkschaften und fortschrittlicher politischer Organisationen und wohl gesonnener Medien.“ Im Aufruf kommt ebenso eine Menge Patriotismus und Nationalismus zum Vorschein. „Wir sind entschlossen weiterzumachen, bis die Verräter, die unser Land verschachert haben, weg sind.“ Dies ist ein echtes Gift für die Kämpfe [1] [24].
Hier handelt es sich um eine Hauptschwäche der “Volksbewegung” in Griechenland. Sie steckt in der Fall des Nationalismus und nationaler Spaltungen, die von Politikern und Gewerkschaften systematisch verschärft werden. Alle Parteien und Gewerkschaften schimpfen zunehmend über den „verletzten Nationalstolz“. An erster Stelle steht dabei die KKE (die stalinistische Partei), die überall die nationalistische Karte spielt und die Regierung des Ausverkaufs des Landes beschuldigt und dass diese die Nation verraten habe. Sie behaupten, die Ursache der jetzigen Entwicklung sei nicht das kapitalistische System selbst, sondern es liege alles an Europa, Deutschland oder den USA.
Durch dieses Gift wird der Abwehrkampf der Klasse in den Grabenkrieg der nationalen Spaltungen hineingezogen, der wiederum ein Ergebnis kapitalistischer Spaltungspolitik ist. Dies ist nicht nur eine Sackgasse, sondern ein Haupthindernis für die unerlässliche Entwicklung des proletarischen Internationalismus. Wir haben kein Vaterland zu verteidigen. Unsere Kämpfe müssen sich ausdehnen und auf internationaler Ebene zusammenschließen. Es geht darum, dass die ArbeiterInnen anderer Länder ebenso in den Kampf treten und allen anderen vor Augen führen, dass die Antwort der Ausgebeuteten auf der ganzen Welt, die mit den Angriffen der Kapitalisten konfrontiert sind, nicht aus nationalistischer Sicht erfolgen darf, sondern nur mit einer internationalistischen Perspektive. W 18/2/12
Siehe auch: Workers take control of the Kilkis hospital in Greece [25]
"In order to liberate ourselves from debt we must destroy the economy" [26]
[1] [27] Die Erklärung der Besetzer der Athen Rechtsschule, die wir ebenso auf unserer (englischen) Webseite veröffentlicht haben, wendet sich direkt gegen alle nationalistischen und staatskapitalistischen „Lösungen“. Sie bezeichnen die ‚Schuldenkrise’ richtigerweise als einen Ausdruck der globalen Krise des Kapitalismus. Diese Auffassung spiegelt sicherlich die Meinung einer Minderheit in der gegenwärtigen Bewegung wider, aber diese Minderheit scheint an Zahl zuzunehmen.
Am 4. Dezember 2011 fanden in Russland die Parlamentswahlen statt. Der Wahlbetrug war so zynisch, dass sich Hunderttausende von Bürgern empörten. Zehntausende von Menschen nahmen an den Demonstrationen „für ehrliche Wahlen“ teil. In verschiedenen Städten des Landes gab es solche Demonstrationen. Man muss aber anmerken, dass die Mehrheit der Empörten sich mit demokratischen Illusionen für die Verbesserung des kapitalistischen Systems einsetzt, statt sich diesem mit den Mitteln des Klassenkampfes zu widersetzen.
Reiche und Arme zusammen auf der Straße
Die größten Demonstrationen fanden in Moskau statt, am 10. Dezember auf dem Balotnaia-Platz und am 24. Dezember in der Sacharov-Allee, wo die Anzahl der Teilnehmer_innen auf einige Zehntausend geschätzt wurde. An den Protesten nahmen verschiedene politische Kräfte teil. Man sah die Banner der Liberalen neben den roten Flaggen, die Nationalisten neben den rotschwarzen Fahnen der Anarchisten. Aber die Mehrheit der Teilnehmer_innen war keiner Organisation oder Tendenz zugehörig.
Die wichtigste Forderung der Demonstration war die nach „ehrliche Wahlen“. Viele Leute, die nicht politisch engagiert sind, wollten nichts anderes, als dass sich die Behörden den Gesetzen unterwerfen und friedliche, demokratische Veränderungen stattfinden. Im Allgemeinen hatte die große Masse kein offenes Ohr für revolutionäre Aufrufe oder radikale Aktionen.
Man muss auch sagen, dass die Zusammensetzung der Teilnehmenden buntscheckig war. Man fand Geschäftsleute, alte Mitglieder der Regierung (den ehemaligen Premierminister Mikhail Kassianov), Stars aus dem Showbusiness, bekannte Journalisten und sogar eine Vertreterin der High Society wie Xenia Sabchak, deren Vater Anatoli Sabchak als graue Eminenz von Putins Politik bezeichnet wird. Andererseits gab es viele gewöhnliche Leute: Büroangestellte, Student_innen, Arbeiter_innen, Rentner_innen, Arbeitslose ... Einigen Beobachtern zufolge war die Anzahl von Proletarier_innen in anderen Städten, abgesehen von Moskau und St. Petersburg, größer als in diesen.
Es steht außer Zweifel, dass die weltweite ökonomische Krise auch in Russland die Rolle des Katalysators in den Protesten gespielt hat. Trotz des von offizieller Seite propagierten Optimismus spüren die gewöhnlichen Leute je länger je mehr die Krise. Der Wahlbetrug der Parlamentswahlen von 2011 diente einzig als Vorwand für die Massenproteste. Die Forderung nach „ehrlichen Wahlen“ war das Leitmotiv fast aller Proteste, vom Fernen Osten bis zu den Zentren Russlands.
Das Internet ist die wichtigste Waffe der Opponenten Putins geworden. Im Internet kann man Hunderte, wenn nicht Tausende von Videos anschauen, auf denen laut ihren Herstellern der Wahlbetrug festgehalten ist. Im Übrigen hat aber niemand die Glaubwürdigkeit dieser Videos überprüft. Die Empörung hat im Wahlbetrug einen formellen Aufhänger gefunden. Wie wir oben schon gesagt haben, ist aber ihr wichtigster Grund die Unzufriedenheit von Millionen von Menschen über ihre Lebensverhältnisse.
Auf der anderen Seite wird von offizieller Seite behauptet, dass die Anschuldigungen des Wahlbetrugs haltlos seien. Der Kreml lancierte eine mediale Kampagne, in der behauptet wurde, die Proteste ständen unter dem Einfluss westlicher Agenten, die in Uncle Sam‘s Dienste arbeiteten.
Durch diese generelle Unzufriedenheit war Putin trotz allem gezwungen, gewisse Konzessionen zu machen. Zum Beispiel machte Medwedew gewisse demokratische Versprechen, namentlich dass die Gouverneure der Republiken wieder von den Bürger_innen gewählt werden sollen, welches Recht Putin unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung abgeschafft hatte.
Es steht außer Zweifel, dass die Unzufriedenheit soziale Gründe hat. Russland geht wie andere Teile der Weltwirtschaft durch eine Krise. Die Arbeiter_innen Russlands und der anderen Länder beginnen zu verstehen, dass der Kapitalismus ihnen keine strahlende Zukunft zu bieten hat. Aber dieses Gefühl hat sich noch nicht in Klassenbewusstsein verwandelt. Die demokratischen Illusionen, die von der bürgerlichen Propaganda verbreitet werden, behindern die Bewusstseinsbildung. Leider verstehen viele nicht, dass Wahlen, wie Marx richtig bemerkte, nur das Recht der Unterdrückten sind, alle paar Jahre die Vertreter der herrschenden Klasse zu wählen. Dabei verändert sich aber das Gesicht der Macht nicht. Es bleibt kapitalistisch und ausbeuterisch. Was macht es für einen Unterschied, ob man diesen oder jenen Präsidenten hat, diesen oder jenen Vertreter? Die Proletarier_innen, die Lohnabhängigen, die Hand- und Kopfarbeiter_innen, die von den Produktionsmitteln und der politischen Macht getrennt sind, bleiben ausgebeutet. Die Arbeiter_innen werden nicht die soziale Emanzipation erlangen, außer sie stürzen das System, wie z.B. in der Pariser Kommune oder in den Arbeiterräten von 1905 und 1917. Nur mit einem Wechsel des Systems ist es möglich, die Ausbeutung abzuschaffen.
Die Anführer der Opposition gegen Putin
Die Liberalen, die Linke (vor allem Stalinisten), Nationalisten, haben sich an die Spitze dieser Bewegung gestellt. Zusammen haben sie das Koordinationszentrum „ Für ehrliche Wahlen“ gebildet.
Unter den „Anführern“ gibt es Figuren wie Boris Nemtsov, Vize-Premier unter Jelzin, der nicht wenig zur Verschlechterung der Lage der Arbeiter beigetragen hat.
Alles in allem erhalten die Opponenten Putins keinen großen Zuspruch von Seiten der Arbeiter_innen. Die Leute erinnern sich nur zu gut an die Armut, an die zurückgehaltenen Löhne und Renten, an die Zeit, in der die heutige Opposition an der Macht war. Die Führer der Opposition versuchen bloß, die aktuelle Unzufriedenheit für ihre Wahlziele auszunutzen. Es geht ihnen um die zukünftige Präsidentschaft. In den Protestdemonstrationen werden die Wähler_innen dazu aufgerufen, so abzustimmen, „wie es sich gehört“. Aber es ist klar, dass, selbst wenn die jetzige Opposition Putin ablösen sollte, dies keine Verbesserungen für die Arbeiter_innen bedeuten würde.
Man weiß nur zu gut, dass die Forderung nach „ehrlichen“ Wahlen nichts mit dem Klassenkampf zu tun hat. Aber wir müssen uns bewusst sein, dass unter den vielen Tausenden, die an diesen Demonstrationen teilgenommen haben, viele unserer Klassengenoss_innen sind. In einer solchen Situation müssen wir offen die demokratischen Illusionen kritisieren. Auch wenn es nicht dazu führt, dass wir uns bei den „Anhängern“ von „ehrlichen Wahlen“ beliebt machen. Ohne das Verständnis dafür, dass die eigentliche Grundlage dieser Probleme das Wesen der kapitalistischen Produktionsweise ist, wird es keine Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins geben. Trotz der medialen Kampagnen um diese Wahlen müssen Revolutionäre die falschen Illusionen der bürgerlichen „Freiheiten“ entlarven. Auch wenn wir die Fehler der Teilnehmer_innen an den Demos für „ehrliche Wahlen“ kritisieren, sollte man aber nicht vergessen, dass es einen Unterschied zwischen der bürgerlichen „Opposition“ gibt, die diese Proteste für sich nutzen und sich bequeme Posten in den Organen der Macht ergattern will, und den gewöhnlichen Leuten, die ehrlich ihren Unmut über die Unverschämtheit und Dreistigkeit der Autoritäten im Kreml zum Ausdruck bringen.
Aber die Erfahrung zeigt, dass in so sterilen und unbedeutenden Protesten, wie sie die Demonstrationen von Moskau für die Machthaber waren, sehr schnell ein radikaler Geist erwachen kann. Vor Monaten noch konnte sich niemand vorstellen, dass Zehntausende auf die Straße gehen würden, um gegen das Regime Putins zu protestieren.
Es ist unsere revolutionäre Aufgabe, den wirklichen Charakter der Opposition als auch Putins zu entlarven. Wir müssen den Arbeiter_innen erklären, dass nur der autonome Klassenkampf für den Umsturz des Kapitalismus und den Aufbau einer Gesellschaft ohne Ausbeutung ihre Probleme und die der ganzen Menschheit lösen können.
Sympathisant_innen der IKS in der ex-UdSSR (Januar 2012)
Im Februar schaffte es der Streik von 200 Vorfeldarbeitern am Frankfurter Flughafen Fraport, nicht nur eines der zentralen Drehkreuze im weltweiten Flugverkehrsnetz zu behindern, sondern der Streik brachte auch die Geschäftsführung von Fraport, die Gewerkschaft Verdi, die bürgerliche Justiz und die Regierungsparteien gegen sich auf. Eine solche Konfrontation verdient es näher untersucht zu werden.
Der Streik war organisiert und ausgerufen von der kleinen Gewerkschaft der Flugsicherung GdF. Wie schon beim spektakulären Streik der Lokführer 2007 ist es wieder eine kleine Spartengewerkschaft, der es mit höheren Forderungen und der Androhung eines größeren volkswirtschaftlichen Schadens gelingt, den Streik in die mediale Öffentlichkeit zu katapultieren.
Neben den mächtigen Einheitsgewerkschaften des DGB haben Spartengewerkschaften wie die GdF, die GdL, der Marburger Bund und Cockpit sich durch eigenständige Aktionen einen Namen gemacht und die sozialpartnerschaftlich verordnete Trägheit zumindest medial aufgemischt. Doch was bedeutet dies für den Klassenkampf? Was bedeutet dies für die Analyse der Funktion von Gewerkschaften im niedergehenden Kapitalismus?
Die kontrollierende Funktion von Verdi gegenüber der Arbeiterklasse wird doppelt deutlich. Einmal ist der Arbeitsdirektor und somit Vorstandsmitglied von Fraport Herbert Mai. Vormals jahrzehntelang Gewerkschaftsfunktionär und von 1995 – 2000 Gewerkschaftsvorsitzende der ÖTV (der Vorgängerorganisation von Verdi). Die Fraport hatte sich mit Hilfe von Mais gewerkschaftlicher Erfahrung gut auf den Streik vorbereitet und viele Mitarbeiter aus dem verwaltenden Bereich in Kurzschulungen auf die Streikbrecherarbeit vorbereitet. Zum zweiten hatte Verdi vor drei Jahren mit Fraport ein 24 Millionen Euro schweres Kostensenkungsabkommen auf Kosten der ArbeiterInnen vereinbart. Die Masse der Beschäftigen und der Verdi-Mitglieder sind im einfachen Dienstleistungssektor (Service-, Sicherheits-, Reinigungskräfte, kaufmännische Angestellte usw) tätig. Die GdF dagegen sieht sich hauptsächlich als Nischenkraft für die ArbeiterInnen an strategisch wichtigen Stellen, wie die Vorfeldmitarbeiter, die mit ihren „follow me“ Fahrzeugen die Flugzeuge auf dem Rollfeld dirigieren. Diese Nischenkraft scheint auch für die anderen Spartengewerkschaften typisch zu sein. Doch was haben diese strategischen Punkte mit der gewerkschaftlichen Organisierung zu tun?
In der klassischen Industrieproduktion waren beispielsweise die Kämpfe der Fließband-ArbeiterInnen in den großen amerikanischen Autofabriken 1936/37 der Geburtsakt der modernen Industriegewerkschaft der Autoarbeiter CIO. In den Streiks wurde der Terror des Fließbands unterbrochen und die Verwundbarkeit des Produktionsprozess wurde offensichtlich. [1] Die deutsche Entsprechung bietet die IGM, sie erfüllt hervorragend die Rolle, die Neuausrichtung der hochproduktiven deutschen Industrie über die Jahrzehnte begleitet und moderiert zu haben. Doch der kapitalistische Produktionsprozess hat sich in der Zeit stark verändert. In den gegenwärtigen weltweiten Produktionsketten und Dienstleistungswolken sind viele neue Berufsbilder um immer mehr strategisch wichtige Knotenpunkte entstanden. Dazu kommen Spezialisten und Experten, die sich selbst ehemals außerhalb der Arbeiterklasse gesehen haben und mittlerweile immer offensichtlicher proletarisiert wurden (Lokführer, Lehrer, teilweise sind Ingenieure, Architekten, Techniker, bis hin zu Ärzten von dieser Entwicklung betroffen). Aus diesen Bereichen nähren sich die Spartengewerkschaften.
Dabei ist auffällig, dass sie besonders häufig genau mit dieser strategischen Macht drohen, um im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Größe eine relativ große Verhandlungsmacht aufzubauen. Was diese „Strategische Macht“ politisch bedeutet, gucken wir uns weiter unten an. Vorher sollten wir uns noch etwas intensiver mit der Frage der gewerkschaftlichen Konkurrenz beschäftigen.
Der Streik der Lokführer hatte gezeigt, dass eine kleine Spartengewerkschaft ohne großen bürokratischen Apparat und nach Jahrzehnten Dornröschenschlaf mit keiner Streikerfahrung mehr Raum für die Eigeninitiative der ArbeiterInnen ließ. Dies drückte sich gleich in den Forderungen aus, die sich entgegen der Logik solcher Spartengewerkschaften nicht nur exklusiv auf die Lokführer beschränken sollte, sondern auch für das mitfahrende Zugbegleitpersonal gelten sollte. Es ist kein Wunder, dass diese Forderung von der GdL als erstes am Verhandlungstisch fallen gelassen wurde. Die Eigeninitiative der Lokführer und die Kuschelpolitik der Transnet (konkurrierende DGB Gewerkschaft) mit dem DB Vorstand versetzte die bürgerliche Linke in Aufregung. Unterstützen wir die DGB-Einheitsgewerkschaften und wehren uns gegen die Aufspaltung oder fördern wir die kämpferischen Gewerkschaften, wie damals die GdL?
Die meisten sogenannten Linksgewerkschafter haben diese Frage mittlerweile pragmatisch entschieden: Die gewerkschaftliche Konkurrenz tut auch dem DGB gut, wir brauchen insgesamt kämpferischere Gewerkschaften. Diese Haltung drückt sehr gut die Befürchtung aus, dass die Gewerkschaften ihre Funktion, die Arbeiterklasse im Auftrag des Kapitals zu kontrollieren, insgesamt verlieren könnten.
Die Spartengewerkschaften erscheinen kämpferischer. Somit müssen wir uns nun der Frage zuwenden, was heißt „kämpferischer“? Es sollte klar sein, dass dies nicht statistisch an Streiktagen zu messen ist, hier schlagen die Warnstreiks von Verdi und IGM durch Masse immer durch. Diese Frage lässt sich nur qualitativ beantworten: wird der politische Lernprozess des Proletariats gestärkt. [Stärkung der Arbeitermacht, Entwicklung des Klassenbewusstseins]
Die Fraport hatte sich mit enormen Aufwand auf den Streik vorbereitet und so die Ausfälle von Landungen und Starts kleiner als befürchtet gehalten; doch zeigte auch dieser Streik, was 200 ArbeiterInnen an einer strategisch günstigen Situation für die Funktionsweise des Produktionsprozesses bedeuten können. Wie wirkt sich diese Produktionsmacht [2] auf die anderen ArbeiterInnen aus? Sind solch spektakuläre Aktionen der Beginn eines tieferen Bewusstseinsprozesses?
Die Macht der ArbeiterInnen zeigt sich dort, wo Streiks sich ausweiten, wo sie Berufsgruppen überspringen, wo sie ArbeiterInnen zusammenbringen, wo sie das Werk verlassen und sich über verschiedene Branchen ausbreiten. Dies drückt sich nicht nur in der Form der Ausweitung aus, sondern auch in der Beteiligung der ArbeiterInnen, das Zusammenkommen um zu diskutieren, hier bekommt der Streik eine politische (und kulturelle) Dimension, das gemeinsame Lernen, Erfahrungen austauschen, Ideen entwickeln usw. Die Kampfbewegung selbst ist durchzogen von kollektiven Lern-, Emanzipations- und Bewusstseinsprozessen innerhalb des Proletariats als Klasse. Dies ist die Quelle ihrer politischen Kraft, die notwendig ist, um die Revolution zu machen. Das Proletariat ist die erste ausgebeutete Klasse in der Geschichte, die die Revolution machen kann. Sie ist die erste Klasse, die sich nicht aufgrund einer neuen ökonomischen Struktur herausbildet, um die Ausbeutung zu optimieren, sondern um diese abzuschaffen. Ihre Macht ist daher primär eine im weitesten Sinne politische. Umso drängender die Frage: Woher kommt die Vorstellung, dass die Arbeitermacht eine technische Figur der „strategischen Macht im Produktionsprozess“ sei?
Als die Arbeiterklasse um 1968 mit vielfältigen massiven Kämpfen als politische Kraft wieder auf der Bühne erschien, bestand ihre Stärke genau darin, weite Teile der Gesellschaft in ihren Bann zu ziehen. Die Kämpfe der Industriearbeiter animierten die Kämpfe der Landarbeiter und umgekehrt, künstlerische Berufe, Versicherungsangestellte, öffentlicher Sektor bis hin zu Technikern in Kraftwerken – die Macht der Arbeiterklasse bestand in ihrer Breite und Vielfältigkeit, was auch für ihre Kampfformen galt. [3] Ein Teil der neuen Linken begab sich auf die Suche nach der Achillesferse der kapitalistischen Produktion. Der Operaismus [4] theoretisierte eine der vielfältigen kreativen Formen, die der Arbeiterkampf zu dieser Zeit angenommen hatte. Dies basierte auf der Erfahrung der Kämpfe um den „heißen Herbst“ 1969 in Italien, dass bestimmte Arbeitersegmente „den gesamten Zyklus des Kapitals lahm legen könnten“ (für Leute die tiefer mit der Begrifflichkeit der Operaisten vertraut sind: dass eine bestimmte Kapitalzusammensetzung eine bestimmte Klassenzusammensetzung hervorbringen würde). Diese Arbeitersegmente wurden als zentrale oder ziehende Sektoren bestimmt. Diese quasi Arbeiteravantgarden seien die Vorhut der Kämpfe zur Revolution. In sogenannten Untersuchungen wurde versucht festzustellen, wo genau solche strategischen Punkte im Produktionsprozess seien und wie die ArbeiterInnen sich dort verhalten würden. Mit der Theoretisierung dieser Fragestellung wurde eine taktische Frage im Arbeiterkampf aus ihrem politischen Kontext herausgelöst. Verrückterweise überschnitt sich an dieser Stelle die linksradikale Kritik des Operaismus häufig mit den Ansichten der verhassten stalinistischen Organisationen, die ihre Agitation stark auf den blue-collar-worker ausrichteten, was den Operaismus darin bestärkte, jede politische Dimension zu verteufeln. Die politische Dimension der Arbeitermacht wurde auf eine soziologisch-empirische (und technische) im rein ökonomischen Kampf zurechtgestutzt.
Der politische Gang in die Fabrik, um die Arbeiterklasse zu untersuchen (wie die Operaisten) oder zu agitieren (wie die K-Gruppen), ist heute nur noch Gegenstand von akademischen Untersuchungen [siehe das Buch Jan Ole Arps, Frühschicht. Linke Fabrikintervention in den 70er Jahren]. Die Produktionsmacht [5] wird heute von den Spartengewerkschaften eingesetzt, und dieser Ansatz unterstützt ihre Aufgabe, die ArbeiterInnen voneinander zu trennen statt sie zusammenzubringen.
Die linksradikale Hoffnung auf „ziehende Sektoren“ wird bei ihnen umgedreht, statt Solidarität organisiert die Gewerkschaft den Streik gegen die Masse der zumeist schlechter bezahlten ca 70.000 ArbeiterInnen am Frankfurter Flughafen. Die Solidarität ist ein Wesensmerkmal der Arbeiterklasse. Bei einem Fortschreiten des Klassenbewusstseins werden sich die ArbeiterInnen bewusst, dass sie Teil einer Klasse sind. Die einzelnen Sparten, Branchen und Berufsfelder gehen in der politischen Figur der Arbeiterklasse auf. In dieser Einheit entfaltet sich erst die Vielfältigkeit und Kreativität der ArbeiterInnen. Die gegenseitige Unterstützung und Hilfestellung sind praktischer Ausdruck einer Solidarität der Masse. Diese Masse ist nicht allein eine Frage der Quantität, sondern auch der Qualität. In dem bewussten Bezug auf weitere Teile der Arbeiterklasse über die bürgerlich-kapitalistischen Grenzen hinweg liegt die Stärke der Arbeitersolidarität. Der Aufruf zum „Solidaritätsstreik“ für ein Dutzend Towerlotsen erscheint so rum nur noch als Farce dieser Idee. Dennoch gilt es zu betonen, dass unsere volle Solidarität den streikenden ArbeiterInnen gilt. Wir wissen, dass auch im Klammergriff der Gewerkschaften die ArbeiterInnen versuchen den Streik weiterzutragen. Diese Dynamik politisch durch Interventionen zu unterstützen, ist eine unserer Aufgaben. Genauere Informationen über die VorfeldarbeiterInnen liegen uns nicht vor. Doch für einige Lokführer war es selbstverständlich, während des BVG-Streiks vor den Toren eines Straßenbahnbetriebshofs zu erscheinen. Sie waren zwar den Fängen der GdL entkommen, doch nur um von den Funktionären der Verdi eingefangen zu werden. Als wiederum ein erneuter Lokführerstreik drohte und ein selbstorganisierter Kreis von Lokführern Streikzentren organisierte, um mit anderen ArbeiterInnen zusammen zu kommen, setzte die GdL erst auf Disziplinierungsmaßnahmen und kündigte dann am Vorabend den Streik auf.
Wir sollten uns also keinen Illusionen über den kämpferischen Charakter von Spartengewerkschaften hingeben. Ihre Funktion ist die Unterdrückung der politischen Dynamik von Arbeiterkämpfen, das Verhindern von kollektiven Lernprozessen.
Erklärt sich das Auftauchen von Spartengewerkschaften bzw. ihre Reaktivierung tatsächlich nur über die Veränderungen im Produktionsprozess und die Proletarisierung? Es ist tatsächlich eine wichtige Möglichkeit, das Unbehagen von proletarisierten Menschen einzufangen. Doch warum sind die DGB-Einheitsgewerkschaften nicht in der Lage, diese Rolle auszufüllen? Es würde naheliegen, darauf zu antworten, dass diese Proletarisierten sich selbst nicht als ArbeiterInnen definieren würden, doch dies gilt vermutlich ebenfalls für die Angestellten der Versicherungen und Banken, die jedoch bei Verdi gelandet sind und dort auch bereits Teil von größeren Mobilisierung waren. Die Spartengewerkschaften (ebenfalls wie die „Für eine kämpferische Gewerkschaft“-Fraktion der anarcho-syndikalistischen FAU) scheinen Ausdruck des allgemeineren Erodierungsprozesses der bürgerlichen Institutionen zu sein: das kurze Haltbarkeitsdatum für Bundespräsidenten, das kurze Aufblitzen von Karrieristen (wie von Gutenberg), die Missbrauchsskandale der christlichen Kirchen, allgemeine Politikverdrossenheit durch den Legitimationsverlust der politischen Kaste usw. Der Ansehensverlust der quasi-staatlichen Vermittlungsinstanzen nimmt groteske Formen an. Um nicht falsch verstanden zu werden, die Funktionen dieser bürgerlichen Institutionen und insbesondere der Gewerkschaften sind nach wie vor notwendig im niedergehenden Kapitalismus, sie werden nicht von selbst zerfallen, sondern sich immer wieder eine „modernere Form“ (und damit häufig zerbrechlichere und irrationalere) geben. Doch diese sind von den herrschenden Widersprüchen angespannt und deuten auf die innere Aushöhlung des politischen Systems hin. Das ist der Hintergrund, vor dem man die diktatorischen Maßnahmen am besten versteht, die die bürgerliche Justiz jüngst gewählt hat, um sowohl den „Solidaritätsstreik“ von zwölf Fluglotsen zu unterbinden, als auch gleich den ganzen Streik wegen eines Formfehlers für unrechtsmäßig zu erklären (dass die Justiz gegenüber den Spartengewerkschaften nicht einheitlich vorgeht und sich auch schon mal zu „deren Gunsten“ ausgesprochen hat, zeigten die gerichtlichen Auseinandersetzungen um den Lokführerstreik). Die Bourgeoisie steht auf jeden Fall gegenwärtig vor der schweren Aufgabe, entweder den DGB gegen das Grundgesetz zu stärken oder aber die Gewerkschaftsvielfalt als „moderne“ Falle auszubauen oder beides miteinander in Einklang zu bringen. [6] So oder so, der Zerfall des Ansehens der bürgerlichen Institutionen macht auch vor den Gewerkschaften nicht halt. G.
Anmerkungen
[1] Im Rahmen dieses Artikels kann keine weitere Analyse der entstehenden Industriegewerkschaften geliefert werden, es sei nur darauf verwiesen, dass die Arbeiterklasse in Europa zu dem Zeitpunkt politisch vollkommen geschlagen war, der Nationalsozialismus nahm Gestalt an, der Stalinismus führte seine blutigen Prozesse durch und in Spanien kündigte sich bereits der zweite Weltkrieg an. Die amerikanische Arbeiterklasse hatte noch nichts Vergleichbares erlebt, doch sie war isoliert und politisch – trotz der Migration – noch relativ unerfahren. Die neuen Gewerkschaften konnten die Klasse gut einfangen und auf den zweiten Weltkrieg vorbereiten.
[2] "Die strukturelle Arbeitermacht war in der neuen Leitindustrie (Automobile) weit größer als in der alten (Textilien). Die Automobilarbeiter verfügten über mehr Produktionsmacht, weil diese Industrie anfälliger gegenüber den Störungen war, die Arbeiter und Arbeiterinnen in der Produktion verursachen konnten.“ S. 125 Beverly Silver, Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870. Forces of Labor - sehr gute Zusammenfassung der Kernaussagen: www.arbeitsalltag.de/Texte/Silver.pdf [34].
[3] Tragischer war der organisatorische Bruch, der es der Klasse sehr mühsam machte, an den Kampferfahrungen der revolutionären Welle anzuknüpfen und zu einer Tiefe zu kommen. Diese Aufgabe wurde erst durch 1968 und das Auftauchen von revolutionären Minderheiten wieder aufgenommen.
[4] Zur kritischen Würdigung siehe die Artikelfolge zum Operaismus; Start in der Weltrevolution 141 – 143 /content/1396/der-operaismus-eine-oekonomistische-und-soziologische-betrachtungsweise-des [35]
/content/1428/der-operaismus-eine-oekonomistische-und-soziologische-betrachtungsweise-2 [36]
/content/1479/der-operaismus-eine-oekonomistische-und-soziologische-betrachtungsweise-des [37]
[5] Die Verdi Betriebsratsvorsitzende Claudia Amier hat dies im Gespräch mit der Financial Times Deutschland sehr gut festgestellt: „Eine kleine Gruppe von Beschäftigten nutzt ihre Monopolstellung aus, um Entgelte zu erzielen, die weit über jedes Maß hinausgehen und völlig unverhältnismäßig sind.“
[6] Hier einige Bruchstücke aus der derzeit innerhalb der deutschen Bourgeoisie tobenden Debatte:
SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier stellte die „Zerfledderung der deutschen Tariflandschaft“ fest und sagte der Passauer Neuen Presse: "Wir müssen zur Tarifeinheit zurückkehren, zum Grundsatz: Ein Tarif pro Betrieb. Der Vorsitzende der Monopolkommission, Justus Haucap, warnte die Politik derweil vor einem Bruch des Grundgesetzes in ihrem Bestreben, Arbeitskämpfe von konkurrierenden Gewerkschaften in einem Betrieb zu verhindern. Wer nicht beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) mitmachen wolle, dürfe auch nicht dazu gezwungen werden, sagte er dem Handelsblatt Online. Dessen ungeachtet hält auch Haucap die "Machtanballung bei Kleinstgewerkschaften" für ein Problem. Er regte an, über eine Änderung des Streikrechts gegen Gewerkschaften vorzugehen, die mit ihrer monopolartigen Macht nicht verantwortungsvoll umgehen.
Die Barbarei des syrischen Regimes ist mittlerweile jedem bekannt. Die herrschende Clique wird vor nichts zurückschrecken; sie hat keine Skrupel, Massaker zu verüben, um weiter die Kontrolle im Land auszuüben und ihre Privilegien aufrechtzuerhalten. Aber wer ist diese «Freie Syrische Armee », die behauptet, sich unter die Führung der « Volksproteste » zu stellen? Nichts als eine neue Bande von Mördern! Die FSA beansprucht für die Freiheit des Volkes zu kämpfen, aber in Wirklichkeit ist sie nur der bewaffnete Arm einer anderen bürgerlichen Clique, die mit Bashar al-Assad um die Macht kämpft. Dies ist eine wahre Tragödie für die Demonstranten. Diejenigen, die gegen die unerträglichen Lebensbedingungen, gegen Armut und Ausbeutung protestieren wollen, haben die Wahl zwischen Pest und Cholera. So wird ihr Widerstand zermalmt, die Protestierenden gefoltert, niedergeknüppelt und ermordet.
In Syrien ist die Protestbewegung zu schwach, um einen eigenständigen Kampf zu entfalten. So konnte ihre Wut sofort kanalisiert und von den verschiedenen, sich bekämpfenden rivalisierenden bürgerlichen Cliquen im Lande vereinnahmt werden. Die Demonstranten sind zu Kanonenfutter geworden, gefangen in einem Krieg, den sie nicht wollen, eingespannt in Machtkämpfe, die auf ihre Kosten ausgetragen werden. Wir sehen eine Wiederauflage dessen, was in Libyen einige Monate zuvor geschah.
Die FSA braucht von dem an der Macht befindlichen blutrünstigen al-Assad Regime in Syrien nichts Neues zu lernen. Anfang Februar zum Beispiel drohte die FSA damit, Damaskus und all die Hauptquartiere und Hochburgen des Regimes zu beschießen. Die FSA rief die Bevölkerung Damaskus dazu auf, sich aus den Gefechtsgebieten zu entfernen, obwohl dies unmöglich war. Die Einwohner von Damaskus hatten keine andere Wahl als verzweifelt Schutz zu suchen in Kellern und unterirdischen Löchern. Ihnen geht es ähnlich wie den vom Assad-Regime Verfolgten und Bombardierten in Homs und anderen Städten.
Aber die sich zerfleischenden Rivalen in Syrien sind nicht die einzigen Verantwortlichen für diese Massaker. Die international Verantwortlichen haben alle einen Sitz in UN-Gremien. Ammar al-Wai, einer der Befehlshaber der FSA, beschuldigte Russland und einige Nachbarländer wie Libanon und den Iran direkt an der Repression beteiligt zu sein, und auch die Arabische Liga und die ‚internationale Gemeinschaft‘ wurden wegen ihrer Inaktivität angeprangert, weil dadurch das al-Assad Regime noch mehr Spielraum für seine Massaker erhalten hätte. Welch eine Erkenntnis ! Die neuen Anträge für die Verabschiedung einer UN-Resolution, die Ende Februar vor der UNO eingebracht wurden, stießen aufgrund der imperialistischen Interessensgegensätze der Staaten, die Syrien unterstützen, auf deren unerbittlichen Widerstand: China und Russland stellen sich hinter das syrische Regime. Russland und Iran liefern dem Regime Waffen. Und wahrscheinlich mischen auch Soldaten aus diesen Ländern direkt oder indirekt vor Ort mit. Für Russland ist Syrien ein vitaler Verbündeter, denn nur Syrien hat Russland einen Flottenstützpunkt in Tartus am Mittelmeer überlassen. Für den Iran ist Syrien ein wichtiger Stützpfeiler seiner Machtbestrebungen im Mittleren Osten. Deshalb unterstützt das iranische Regime das bestehende syrische Regime vorbehaltlos, auch mit direkter militärischer Beteiligung. Und die « großen demokratischen Nationen », die Krokodilstränen vergießen und erklären, die Niederschlagung von Demonstranten durch das Regime Basha al-Assads sei nicht hinnehmbar, scheren sich in Wirklichkeit einen Dreck um das Schicksal der Opfer, stattdessen verfolgen auch sie nur ihre schmutzigen imperialistischen Interessen.
In der Zwischenzeit werden die Stimmen immer lauter, die auf ein militärisches Eingreifen in Syrien drängen. Das russisch-chinesische Veto der UN-Resolution zur Verurteilung der Repression durch das Assad-Regime beschleunigt diese Tendenz noch. All diese imperialistischen Geier nehmen die Massaker des syrischen Regimes als Vorwand, um ihre Kriegsvorbereitungen für Syrien zu treffen. So verbreiteten russische Medien wie « Voice of Russia » und die iranischen Medien die Nachricht, dass die Türkei mit US-Hilfe Truppen entlang der Grenze zu Syrien zusammenziehe, um nach Syrien einmarschieren zu können. Seitdem wurde diese Nachricht von allen westlichen Medien weiter zirkuliert. Gleichzeitig wurden in Syrien in der Kamechi und Deir Ezzor-Region entlang der Grenzen zum Irak und der Türkei Raketen installiert, die Syrien während der Zeit der UdSSR erworben hatte. Diese Schritte wurden nach einem Treffen in Ankara im November 2011 beschlossen. Der Gesandte Katars bot dem türkischen Premierminister Erdogan Geldmittel zur Durchführung von militärischen Maßnahmen gegen Syrien von türkischem Territorium aus an. Diese Treffen führten das syrische Regime und seine Verbündeten dazu, allen voran Iran und Russland, den Ton zu verschärfen und kaum verhüllte Drohungen gegen die Türkei auszusprechen. Bislang hat der syrische Nationalrat, in welchem westlichen Medien zufolge die Mehrheit der Opposition des Landes zusammengeschlossen ist, noch keine ausländische Militärhilfe angefordert. Sicherlich hat diese abwartende Haltung des syrischen Nationalrates das türkische und auch das israelische Militär bislang davon abgehalten, militärisch einzugreifen. Auch in den USA werden die Möglichkeiten eines militärischen Eingreifens ermittelt. Aber der US-Generalstabschef, General Dempsey, warnte davor, dass « die Kapazitäten der syrischen Luftwaffe mehr als fünfmal so groß seien wie die der libyschen Streitkräfte des gestürzten Gaddafi. Zudem befänden sich die meisten syrischen Flugabwehrsysteme in dicht besiedelten Gebieten, so dass man bei Luftangriffen auf diese mit zahlreichen Toten unter der Zivilbevölkerung rechnen müsse.“ (FAZ, 8.3.2012) Er fügte hinzu, das syrische Arsenal biologischer und chemischer Waffen sei 100 mal größer als das libysche. Die Vernichtung der syrischen Luftabwehr werde lange dauern und aufwendig sein, ohne die Führung der USA würde dies nicht gelingen. In Wirklichkeit ist natürlich kein einziger Staat, der sich an einer Militäroperation gegen das Assad-Regime beteiligen würde, an dem Schicksal der Menschen interessiert (1).
Zudem treiben in Syrien und im benachbarten Libanon Terrorgruppen wie Hamas, Hisbollah und vermutlich auch al-Qaida ihr Unwesen, von denen Hamas und Hisbollah Waffen aus dem Iran beziehen. Mittlerweile sollen auch bewaffnete Kräfte aus Libyen in Syrien an der Seite der FSA kämpfen. Auch wenn es im Vergleich zu Libyen keine Petro-Dollars zu gewinnen gibt, ist das Land ein strategisches Drehkreuz im Mittleren Osten, das keiner der imperialistischen Rivalen dem anderen ohne erbitterten Widerstand überlassen würde. Eine militärische Intervention von Außen in Syrien würde deshalb einen noch viel größeren Brand auslösen. Auch wäre die Wahrscheinlichkeit groß, dass es zu einem weiteren Blutvergießen im Libanon käme. Ein Sturz des Assad-Regimes, das bislang als Achilles-Ferse des Irans gilt, würde darüberhinaus den Einfluss des Irans in der Region entscheidend schwächen. Dies wäre sicherlich eines der Hauptanliegen der westlichen Kräfte bei einer möglichen militärischen Intervention in Syrien. Die Ausgebeuteten und Unterdrückten in Syrien laufen somit Gefahr, zwischen der FSA und den Killerkommandos des Assad-Regimes und den imperialistischen Ambitionen ausländischer Mächte aufgerieben zu werden.
Syrien ist nicht der einzige Brandherd in der Region. Denn gleichzeitig nehmen die Spannungen zwischen dem Iran und mehreren imperialistischen Staaten, den USA, Großbritannien, Frankreich, Saudi-Arabien, Israel usw. jeden Tag zu. Die Kriegsgefahr wächst.
Wenn heute ein Land wie der Iran die USA und die anderen imperialistischen Haie herausfordern kann, spiegelt diese Entwicklung die Tendenz des wachsenden imperialistischen Chaos wider, das mit dem Zusammenbruch des Schah-Regimes Anfang 1979 einsetzte und ein Jahrzehnt später mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Ende der Konfrontation zwischen zwei Blöcken ein neues Kapitel im Niedergang des Kapitalismus eröffnete. Seitdem sind die USA die noch einzig übrig gebliebene Supermacht, die aber zunehmend von anderen Staaten herausgefordert wird, während sich gleichzeitig ein wahres Chaos in den imperialistischen Beziehungen gebildet hat, wo „Jeder gegen jeden“ antritt. Bis 1979 war der Iran ein strategisch wichtiges Bindeglied in der Abwehrkette des von den USA angeführten westlichen Blocks gegen die Sowjetunion gewesen. Nach dem Zusammenbruch des Schah-Regimes, der Übernahme der Macht durch die Mullahs und der danach einsetzenden Amerika-feindlichen Politik versuchte einerseits seinerzeit die Sowjetunion durch den Einmarsch in Afghanistan Ende 1979 Kapital aus der Schwächung der USA zu schlagen. Das russische Fiasko in Afghanistan ist bekannt; es trug mit zum Zusammenbruch des stalinistischen Regimes in der Sowjetunion bei. Andererseits reagierten die USA mit dem Anstacheln des Iran-Irak-Krieges 1980, der nahezu 10 Jahre Massaker zwischen Iran-Irak brachte. Seit mehreren Jahrzehnten ist die ganze Region – von Israel/Palästina über den Irak und Afghanistan - mit Kriegen übersät worden. Durch ihre verzweifelten Versuche, ihre Vormachtstellung hauptsächlich mit militärischen Mitteln aufrechtzuerhalten, haben die USA eine riesige Blutspur in der Region hinterlassen. Und die USA selbst sind im Irak, in Afghanistan, indirekt in Pakistan in einen riesigen Schlamassel geraten, wo sie keine Beruhigung der Lage, sondern nur eine weitere Destabilisierung bewirkt haben. Und gleichzeitig hat sich der Iran (neben der Türkei) auf Kosten der USA zu einer neuen Regionalmacht im Mittleren Osten mausern können. Weil der Iran eigentlich keine anderen Trümpfe als Öl- und Gasexporte einsetzen kann und über keine industrielle Konkurrenzfähigkeit verfügt, kann das Regime nur „erpresserisch“ und militärisch destabilisierend wirken. Die Mullahs setzen dabei die Keule der religiösen Spaltung ein. Jeder Schiit ist für das Regime Kanonenfutter im Kampf gegen die rivalisierenden Regime – z.B. gegen Saudi-Arabien. Gegenüber Israel droht der Iran seit langem mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen. Irans derzeit hochambitioniertes Atomprogramm, angeblich nur friedlichen Zwecken dienend, ist derzeit der Hauptkonfliktpunkt, welcher die Kriegsgefahr in der Region weiter auf die Spitze treibt. Die Aussicht, dass das Regime in Teheran bald über Kernwaffen verfügen könnte, ist für die israelische Regierung jetzt schon Grund genug, militärisch gegen seinen östlichen Herausforderer vorgehen zu wollen.
Auch wenn der Iran im Vergleich zu seinem Rivalen Saudi-Arabien nur ein Fünftel von dem in die Rüstung steckt, was die Saudis dafür ausgeben, hat das Land einen Großteil seiner Ressourcen in Rüstung gesteckt. Solch ein aufgeblähter Militarismus ist eine klassische Erscheinungsform eines niedergehenden Systems. Auch wenn es schwierig ist, die militärische Schlagkraft des Irans genau einzuschätzen, ist das Regime dazu in der Lage, viel größere Verwerfungen hervorzurufen als Syrien selbst. Wenn sich der Iran zur Blockade der Straße von Hormus entschließen sollte, wodurch der Ölnachschub beeinträchtigt würde, würde dies die wirtschaftliche Lage weltweit noch mehr destabilisieren. Jeder direkte Angriff auf den Iran würde ein noch größeres, unkontrollierbares Chaos auslösen.
Gegenwärtig rüstet sich Israel für einen Militärschlag gegen den Iran. Im Gegensatz zu früheren Militärschlägen gegen den Irak 1981 oder Syrien 2007 würde ein Angriff gegen den Iran die gegenwärtigen Kapazitäten des israelischen Militärs überfordern (2). Israel wäre letzten Endes auf die Unterstützung der USA angewiesen. Damit könnten die USA in einem Krieg gegen den Iran ein neues militärisches Desaster erleben. Zudem haben die USA erst jüngst ihre neuen militärischen Prioritäten für die nächsten Jahrzehnte bekannt gegeben. Und da steht an erster Stelle die notwendige Anpassung an die zu erwartende Intensivierung der Konflikte in Ostasien und der Zwang, China ausreichend gerüstet entgegenzutreten. Wenn die USA im Mittleren Osten militärisch angreifen würden, spiegelt das somit die ganze Unkontrollierbarkeit der militaristischen Spirale wider, welche das kapitalistische System immer weiter in den Abgrund treibt. Auch wenn wegen des bevorstehenden Wahlkampfes in den USA zur Zeit viele Fragen hinsichtlich des Vorgehens der USA offen sind, müssten die USA in den beiden Brandherden Syrien und Iran mit an vorderster Front stehen.
Während das Krebsgeschwür des Militarismus und das Terrorregime der Herrschenden immer mehr Opfer hinterlässt, liegt der Schlüssel für den Ausweg aus dieser Barbarei mehr denn je in den Händen der Arbeiterklasse – vor allem in den Händen der Arbeiter der Industriestaaten, die am ehesten den Arm der Repression und des Militarismus zurückhalten können.
W/D Anfang März 2010
(1)Nur einige Beispiele der Heuchelei einiger Staaten, die an einer „humanitären Intervention“ in Syrien mitwirken könnten: Der türkische Ministerpräsident verbrachte in den letzten Jahren seinen Urlaub mit dem Assad-Clan, um dadurch die Beziehungen zu Syrien zu verbessern. Ohne jegliche Berührungsängste mit dem blutrünstigen Assad-Regime verfolgt Ankara seit Jahren die Kurden. Oder Israel, das behauptet, der Genozid an den Juden im Holocaust legitimiere jeglichen Gewalteinsatz (von der Vertreibung bis zur Bombardierung usw. ) ist eher am Machterhalt des Israel feindlich gesonnenen, aber berechenbaren Assad-Regimes interessiert als am möglichen Aufstieg eines eventuell stärker muslimisch geprägten syrischen Regimes. Auch wenn die vom Assad-Regime bombardierten Dörfer und Städte oft nur wenige Kilometer von Israel entfernt sind, zeigt der israelische Staat keine Sorge um die Opfer der Repression in Syrien. Im Libanon werden viele der ins Land geflüchteten Opfer der syrischen Repression von Polizeikräften aufgegriffen und - wenn sie nicht in Libanon verfolgt werden – wieder nach Syrien abgeschoben. Der deutsche Staat hat jahrelang mit den syrischen Geheimdiensten kooperiert und nie davor gezögert, syrische Flüchtlinge den Henkern des Regimes auszuliefern.
(2 „Primäre Ziele wären alle Anlagen zur Herstellung von Spaltmaterial, das für den Bau von Atomwaffen nötig ist. Dazu zählen die Urankonversionsanlage in Isfahan und der noch nicht fertiggestellte Schwerwasserreaktor Arak, der einmal Plutonium liefern könnte - vor allem aber die Urananreicherungsanlagen in Natans und Fordow (die sich in Bunkern befinden). Sie bereiten den Israelis das meiste Kopfzerbrechen: Beide Kavernen liegen unter 80 Meter Fels und sind laut Experten mit konventionellen Waffen nicht zu knacken. Israel [42] müsste aber zugleich sicherstellen, dass die Atomfabrik nicht nach wenigen Monaten wieder arbeitet. (…) Analysten in Israel [42] gehen davon aus, dass die Luftwaffe mehrere Angriffswellen fliegen müsste, auch um Irans Luftabwehr auszuschalten und Sekundärziele zu attackieren, wie Stützpunkte und Produktionsstätten für Raketen. 125 Kampfjets der Typen F-15 und F-16 hat Israel dafür mit Zusatztanks für Langstrecken ausgerüstet. Marschflugkörper, Raketen und Drohnen dürften ebenso zum Einsatz kommen, wie Kommandoeinheiten. Die Gelegenheit ist aus Sicht der Hardliner in Israel günstig: Die Jets könnten unbehelligt über Irak fliegen, nachdem die Amerikaner dort Ende 2011 abgezogen sind. Zudem dürfte es sich US-Präsident Obama kurz vor der Wahl kaum leisten können, Israel die Unterstützung nach einem Angriff zu entziehen, so sehr er sich gegen diesen stemmt.“ https://www.sueddeutsche.de/politik/atomstreit-wie-israel-sich-fuer-einen-angriff-gegen-iran-ruestet-1.1290231 [43]
uf dem ersten Blick reiht sich diese Affäre in jene Kette von „Skandalen“ ein, die mit schöner Regelmäßigkeit die Öffentlichkeit heimsuchen. Zunächst sickern ganz „zufällig“ Details über angebliche oder tatsächliche Verfehlungen an die Öffentlichkeit, dem zumeist Dementis der Betroffenen folgen. Dann folgen immer mehr Details, bis es am Ende - ungeachtet aller Beschwichtigungsversuche und öffentlicher Entschuldigungen des betreffenden Politikers bzw. Spitzenfunktionärs – zum „freiwilligen“ Rücktritt des Letzteren kommt. Die Medien, in so gut wie allen Fällen Auslöser dieser Affären, sonnen sich im Glanz der unerschrockenen Aufklärer und preisen ihre Tugenden als „Wächter der Demokratie“; die politische Klasse schreit „Igitt“ angesichts dieser Verderbtheit eines ihrer Angehörigen, und die Regierung verspricht eiligst juristische Verbesserungen. Und schließlich wird das hohe Lied von den „Selbstreinigungskräften der Demokratie“ angestimmt.
Bundespräsident a.D. Wulff war in diesem Sinn ein idealer Sündenbock auf dem Altar der „politischen Hygiene“, der sich die politische Klasse derzeit mal wieder verschrieben hat. Sein Ungeschick im Umgang mit der Medienkampagne, das in der Torheit kulminierte, ausgerechnet die BILD unter Druck zu setzen, seine Dementis, denen stets zunächst Relativierungen, schließlich reuevolle Schuldeingeständnisse folgten, sein Krisenmanagement per Anwalt boten den Tugendwächtern der Republik die Gelegenheit, ein wenig Dampf aus dem Kessel abzulassen. Denn ihnen war nicht entgangen, dass sich in den letzten eine brisante Mischung aus Wut und Misstrauen unter den Erwerbstätigen dieses Landes angestaut hat. Eine Wut, die sich – noch – gegen die Raffzähne in der Finanzwirtschaft und nicht gegen die kapitalistische Wirtschaftsweise als solches richtet, ein Misstrauen, das sich gegen bürgerliche Politiker, aber – noch - nicht gegen die bürgerliche Politik an sich wendet. Es ist das altbekannte Lied: Indem sie das altbekannte Märchen vom schwarzen Schaf bemühen und das ganze Problem als „Fehlverhalten“ Einzelner herunterspielen, indem sie ausgesuchte Mitglieder ihrer Klasse als Blitzableiter für die Wut der Bevölkerung opfern (wobei im Falle Wulffs das „Opfer“ mit 200.000 Euro jährlichem „Ehrensold“ versüßt wird), versuchen die Herrschenden größeren Schaden vom System an sich abzuwenden.
Doch es scheint, als gäbe es hinter diesem eher banalen Motiv für die Anti-Wulff-Kampagne noch eine zweite, tiefere Wahrheit, eine Wahrheit, die sich dem Normalsterblichen nur indirekt, anhand von einigen wenigen Indizien schemenhaft erschließt. War Wulff etwa nur vordergründig der Sündenbock für den moralischen Furor, von dem die politische Klasse aktuell ergriffen ist, und in Wahrheit ein Bauernkopf im unsichtbaren Krieg zwischen verschiedenen Seilschaften innerhalb der herrschenden Klasse? Geht es im Kern dieser Affäre nicht um den moralischen Kodex, wie vorgegeben wird, sondern auch etwa um Macht, Interessen und Strategie? Es gibt rund um die Wulff-Affäre einige Auffälligkeiten, die es durchaus möglich erscheinen lassen, dass es Sinn und Zweck der ganzen Affäre war, einen bestimmten Teil der herrschenden Klasse zu schwächen, indem seine Machenschaften ans Tageslicht gezerrt werden. Eine Seilschaft, die in Niedersachsen beheimatet ist und in den letzten anderthalb Jahrzehnten ziemlich erfolgreich dabei war, ihre Leute in wichtige Positionen der Bundespolitik zu hieven. In der Tat waren und sind niedersächsische Politiker in Berlin überrepräsentiert: angefangen mit dem ehemaligen Bundeskanzler Schröder über die beiden SPD-Spitzenpolitiker Steinmeier und Gabriel bis hin zu Wirtschaftsminister Rösler, Arbeitsministerin von der Leyen und eben dem – nunmehr – ehemaligen Bundespräsidenten Wulff.
Diese Niedersachsen-Connection war offensichtlich parteienübergreifend und entfaltete sich in der Grauzone zwischen Politik und Geschäft. Hier tummelten sich einige schillernde Figuren wie jener Parvenü Carsten Maschmeyer, der – Ex-Mitinhaber der AWD, einem Finanzvertrieb, der Tausende von Kleinanleger um ihr Geld gebracht hat – sowohl zum ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder als auch zu seinem Nachfolger Wulff enge Beziehungen unterhielt und ihre Wahlkämpfe mit erheblichen Geldmitteln unterstützte. Oder der Eventmanager und Strippenzieher Manfred Schmidt, der es verstand, mit seinen prominent besetzten Partys und Events sowie mit seinen Einladungen in seine Feriendomizile zahlreiche „Volksvertreter“ zu umgarnen. Man könnte diese Liste fortsetzen, haben doch die bürgerlichen Medien in den letzten Wochen detailliert über dieses Netzwerk berichtet. Sie haben dies so ausgiebig getan, dass das eigentliche Kraftzentrum dieses Netzwerkes völlig außer Acht blieb: der – nennen wir ihn einmal – „industriell-gewerkschaftliche Komplex“ des VW-Konzerns. Er bildet die Schnittstelle und die Machtbasis etlicher politischer und gewerkschaftlicher Karrieren; allein seine rechtliche Grundlage, das „VW-Gesetz“, mit der Sperrminorität der Landesregierung im VW-Aufsichtsrat – eine Besonderheit, die von der EU schon vor langem ins Visier genommen worden war, bis heute jedoch von der deutschen Politik hartnäckig verteidigt wird -, verschaffte den Ambitionen dieser Kreise ein erhebliches bundespolitisches Gewicht. Von hier ging der in der Geschichte der Bundesrepublik schlimmste Angriff gegen die Arbeiterklasse aus: Hartz IV. Ihr Namensgeber und Erfinder war Peter Hartz, lange Jahre Personalmanager bei VW mit kurzem Draht zur IG Metall, bis er 2005 wegen einer Korruptionsaffäre im Zusammenhang mit dem Konzernbetriebsrat gehen musste.
Von hier gingen auch die Impulse für eine stärkere Akzentuierung der „strategischen Partnerschaft“ mit Russland aus, wobei sich vor allem einer aus dem Hannoveraner Stall hervortat, der schon bei der Einführung der „Agenda 2010“ eine federführende Rolle gespielt hatte: Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder. Noch kurz vor der Abwahl der von ihm angeführten rot-grünen Bundesregierung im November 2005 fädelte er jenen berüchtigten Deal mit der staatseigenen russischen Gazprom ein, der eine direkte Erdgaspipeline zwischen Russland und Deutschland durch die Ostsee unter Umgehung der baltischen und polnischen Transitländer vorsah und sowohl im In- wie im Ausland vehement kritisiert wurde. War es zunächst die Tatsache, dass Schröder unmittelbar nach seiner Abwahl und ohne jegliche Schamfrist in den Vorstand der NorthStream AG wechselte (dem eigens für die Betreibung der Ostseepipeline gegründeten Gazprom-Ableger), die den Unmut der herrschenden Klassen hierzulande erregte, so stellte sich bald ein grundsätzlicher Dissens zwischen dem Schröder-Clan und anderen gewichtigen Kreisen in der herrschenden Klasse ein. Es ging dabei um die Frage der Gewichtung der deutschen Außenpolitik: Sollte den deutsch-russischen Beziehungen eine stärkere Bedeutung eingeräumt werden, oder sollte die „deutsch-französische Freundschaft“ weiterhin Vorrang genießen?
Spätestens der Ausbruch der sog. Euro- oder Schuldenkrise beantwortete diese Schlüsselfrage für die deutsche Bourgeoisie. Die Existenz der EU steht auf Messers Schneide; Experten sprechen davon, dass das Jahr 2012 zum Schicksalsjahr für die Europäische Union werden könnte. Kaum ist Griechenland aus den Schlagzeilen verschwunden (was keinesfalls bedeutet, dass es über dem Berg ist, im Gegenteil), lauert schon mit Portugal der nächste Wackelkandidat. Ein Scheitern der EU bzw. der Euro-Zone hätte unabsehbare ökonomische und soziale Folgen für Deutschland. Unter diesen Umständen ist die deutsch-französische Achse überlebenswichtig für die deutsche Bourgeoisie. Nicht dass sie die strategische Partnerschaft mit Russland aufzukündigen beabsichtigen, aber die Ton angebenden Kreise in der deutschen Bourgeoisie haben nicht vor, ihren französischen Partner durch einen allzu innigen Flirt mit dem russischen Nebenbuhler noch einmal vor den Kopf zu stoßen. Nicht Putin, der „lupenreine Demokrat“ (Schröder) genießt heute in der deutschen Außenpolitik Priorität, sondern das deutsch-französische Tandem.
Affären vom Zuschnitt der Wulff-Affäre haben oftmals einen doppelten Boden; hinter der für die breite Öffentlichkeit bestimmten Botschaft enthalten sie Absichten, die sich nur für Eingeweihte erschließen – und erschließen sollen. Möglicherweise steckt hier die eigentliche Botschaft hinter der Anti-Wulff-Kampagne: eine Warnung an jene Kräfte in der deutschen Bourgeoisie, deren Bestrebungen den strategischen Interessen der bürgerlichen Klasse in ihrer Gesamtheit zuwiderlaufen. Es fiel in diesem Zusammenhang jedenfalls auf, wie vornehm sich die SPD-Führung, insbesondere der ehemalige Schröder-Mann Steinmeier und Schröders einstiger Nachfolger in das Amt des niedersächsischen Ministerpräsidenten Gabriel, in der Wulff-Affäre zurückgehalten hatte. Steckte dahinter wirklich nur das Motiv, „das Amt des Bundespräsidenten nicht zu beschädigen“?
All dies geschah rechtzeitig, bevor die nächste Bombe platzte: die Auflösung der rot-grünen Landesregierung von Nordrhein-Westfalen. Die Begleitumstände des „Sturzes“ der erst vor 20 Monaten gebildeten rot-grünen Landesregierung unter Hannelore Kraft (SPD) waren recht merkwürdig: Während die Abgewählten, SPD und Grüne, Mühe hatten, ihre Freude über ihre eigene Abwahl zu verbergen, herrschten in der Opposition betretene Mienen vor. Besonders die FDP-Fraktion im Düsseldorf erntete angesichts ihrer Rolle bei der Lesung des Haushalts der rot-grünen Landesregierung im Düsseldorfer Landtag verständnisloses Kopfschütteln. Schließlich hatte sie mit ihrem Nein in der zweiten Lesung nicht nur dafür gesorgt, dass der Haushalt scheiterte und Ministerpräsident Kraft umgehend die Auflösung ihrer Regierung erklärte, sondern auch politisches Harakiri begangen angesichts von Umfragewerten, die seit Monaten um die zwei Prozent pendeln. Es hat aber den Anschein, als sei die FDP in eine Falle gelaufen; ihr Kalkül, in der zweiten Lesung die Einzelhaushalte abzulehnen, um in der dritten Lesung schließlich dem Gesamthaushalt doch zuzustimmen, wurde durch eine sehr umstrittene Auslegung der Rechtslage durch die Düsseldorfer Landesverwaltung unterlaufen, nach der die Ablehnung der Einzelhaushalte in der zweiten Lesung automatisch die Ablehnung des Gesamthaushaltes nach sich zöge und damit eine dritte Lesung überflüssig sei. Es ist offensichtlich, dass Rot-Grün die Gelegenheit nutzen will, via vorzeitiger Neuwahlen die kleineren Parteien aus dem Landtag zu kegeln; denn neben der FDP krebst auch die Linke unterhalb der Fünfprozenthürde herum.
Spätestens seit 2005, als die SPD zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit die Macht in NRW an die CDU und dem selbsternannten Arbeiterführer Rüttgers abgeben musste, womit das vorzeitige Ende der rot-grünen Bundesregierung unter Schröder eingeläutet wurde, gelten Wahlen in dem bevölkerungsreichsten Bundesland als Wegweiser für wichtige Veränderungen auf Bundesebene. Vor diesem Hintergrund findet derzeit eine regelrechte Heerschau der politischen Klasse in NRW statt: Die FDP schickt ihr bestes Pferd ins Rennen, den ehemaligen Generalsekretär Lindner, der mit seinem „mitfühlenden“ Liberalismus das Unmögliche wahr machen und die FDP vor dem Schicksal einer Splitterpartei in NRW bewahren soll. Die CDU setzt ihre Hoffnungen auf Bundesumweltminister Röttgen, der für die schwarz-grüne Option steht. Währenddessen setzen die Grüne und die SPD auf ihre bewährten Kräfte in NRW; Hannelore Kraft wird von manchen gar schon als die kommende Kanzlerkandidatin der SPD gehandelt. Die Landtagswahlen in NRW werden ein Probelauf für die Bundestagswahlen 2013 sein; hier wird die Antwort auf die Frage vorweggenommen, welche Optionen in der politischen Farbenlehre auf Bundesebene möglich sind. Werden die kleinen Parteien auch nach den Wahlen im kommenden Mai im Düsseldorfer Landtag präsent sein, um weiterhin populistische Tendenzen in der Bevölkerung zu kanalisieren? Und wenn nicht, wird es Röttgen gelingen, die Grünen für ein gemeinsames Regierungsprojekt zu begeistern? Oder kommt es zu einer rot-grünen Wiederauflage, diesmal aber nicht als Minderheitsregierung, sondern mit einer satten Mehrheit ausgestattet? Letzteres würde in Kombination mit dem Sturz der NRW-FDP unter die Fünfprozenthürde die Merkel-Regierung in Berlin – vorsichtig ausgedrückt – in erhebliche Turbulenzen bringen und die Wiederauflage einer rot-grünen Bundesregierung immer näher rücken lassen.
Im Unterschied zu offenen Diktaturen wie die stalinistischen Einparteiensysteme im früheren Ostblock bergen Wahlen in parlamentarischen Demokratien viele Unwägbarkeiten in sich, die die Herrschenden trotz aller Manipulationskünste nicht völlig beeinflussen können. Das Aufkommen populistischer Parteien in den westlichen Demokratien in den letzten Jahren zeigt, dass die herrschenden Kreise nicht vor unliebsamen Überraschungen gefeit sind. Umso wichtiger ist es für sie, dass die Hauptprotagonisten der politischen Klasse in ihrer strategischen Orientierung an einem Strang ziehen. Ein sehr effektives Mittel zu ihrer Disziplinierung ist das Lancieren von Affären in der Öffentlichkeit. Vom Grundsätzlichen ins Konkrete übersetzt: möglicherweise waren – und da schließt sich der Kreis - die eigentlichen Adressaten der Anti-Wulff-Kampagne die führenden SPD-Mitglieder und potenziellen Kanzlerkandidaten Gabriel und Steinmeier. Vielleicht war die Wulff-Affäre in Wirklichkeit ein verkappter Warnschuss gegen die Niedersachsen-Connection, die sich erneut anschickt, nach der Macht zu greifen – ein Warnschuss, mit dem die SPD-Führung für den Fall, dass sie im kommenden Jahr zusammen mit den Grünen die Bundesregierung bildet, an die strategischen Gesamtinteressen und Prioritäten des deutschen Imperialismus erinnert wird. B. 24.3.2012
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Der Artikel wurde schon auf IKSonline veröffentlicht.
https://de.internationalism.org/IKSonline2012_peruecuadorneuesektionen [49]
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Angesichts dessen stellen sich zwei Fragen, wovon die erste spekulativer Natur, die zweite aber durchaus konkret ist: Handelt es sich bei den „Piraten“ lediglich um eine politische Eintagsfliege, die sich spätestens nach den nächsten Bundestagswahlen in ihre einzelnen Bestandteile zerlegen wird, oder hat sie das Zeug zu einer Protestpartei mit Zukunftspotenzial? Und: Welche Rolle spielen die „Piraten“ heute, worin besteht ihre aktuelle Funktion?
Treibende Kraft hinter dem Phänomen der „Piraten“ ist ein Konflikt zwischen der sog. Internet-Community, also jener Heerschar von Internet-Usern, Hackern, Bloggern, Spielern, etc., und staatlichen Institutionen (Justiz, Geheimdienste, der Gesetzgeber) und Konzernen um die Freiheit des World Wide Web. Dieser Konflikt schwelt bereits seit geraumer Zeit und flammt immer wieder auf. Es war die Affäre rund um Wikileaks und dessen Spiritus rector, Julian Assange, der der breiten Öffentlichkeit erstmals einen Eindruck davon verschaffte, wie verbissen die Auseinandersetzungen zwischen den Verfechtern der uneingeschränkten Transparenz und den staatlichen Geheimniskrämern inzwischen geführt werden. Seither ist dieser Konflikt zu einem mehr oder minder offenen „Cyberkrieg“ eskaliert, in dem beide Seiten immer größeres Geschütz auffahren. Auf der einen Seite drohen die staatskapitalistischen Regimes überall mit immer drakonischeren Strafen, hetzen ihre Geheimdienst- und Polizeiapparate auf zum Teil minderjährige Hacker und drangsalieren die Internet-Community mit immer neuen Einschränkungen. Auf der anderen Seite schrecken Internet-Aktivisten wie die ominöse Gruppe „Anonymus“ immer weniger davor zurück, Konzerne, staatliche Behörden und selbst Privatpersonen mit immer ausgeklügelteren Methoden elektronisch lahmzulegen, ihre Kundendateien bzw. persönlichen Daten zu hacken, um sie anschließend zu veröffentlichen. Besonders heftig tobt der Kampf in den USA; der US-amerikanische Staatskapitalismus hat den Krieg gegen die sog. Cyberkriminalität auf sein Schild gehoben und jagt Betreiber illegaler Dienste notfalls um den ganzen Globus.
Aber auch das politische Regime in Deutschland hat die Zeichen der Zeit erkannt. Während es einerseits darum bemüht ist, die „Auswüchse“ des Webs gesetzlich einzudämmen, weiß es andererseits auch um die Vorteile, die die neuen Medien im Sinne der Aufrechterhaltung seiner Herrschaft bieten. Im Grunde war es seine Umtriebigkeit, die die Internet-Community erst sensibilisierte und politisierte. Initialzündung für die Gründung der „Piraten“ in Deutschland waren Pläne der damaligen Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen („Zensursula“), unter dem Vorwand des Kampfes gegen die Kinderpornographie die gesetzliche und infrastrukturelle Möglichkeit zu schaffen, Internetseiten zu sperren – unter Verwendung von sog. Sperrlisten des Bundeskriminalamtes und ohne Einbeziehung von Gerichten. Und als sich die Bundesregierung Anfang des Jahres anschickte, das auf völlig undurchsichtige Art und Weise zwischen den USA, der EU und einigen anderen Ländern zustande gekommene sog. Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommen (Anti-Counterfeiting Treat Agreement, kurz: ACTA) zu ratifizieren, schuf sie mit den anschließenden Straßenprotesten erst die (wenn auch labile) Massenbasis für die „Piraten“, mit der diese sich dann in die o.g. Landtage katapultierte.
Der gesamte Konflikt besteht in seinem Kern aus zwei Brandherden. Zum einen laufen die Netzaktivisten Sturm gegen die zunehmende Einschränkung kostenloser Downloads und die Kommerzialisierung des Internets auf Kosten der Nutzer. Erst jüngst ließ das juristische Vorgehen des Musikrechteverwerters Gema gegen die Musik- und Filmplattform YouTube die Wellen im Netz hochschlagen; YouTube wurde vom Landgericht Hamburg zu einer strikteren Kontrolle der hochgeladenen Musikstücke verdonnert. Aber auch die Internet-Anbieter selbst sinnen über Möglichkeiten des elektronischen Abkassierens ihrer bisher für den Nutzer kostenlosen Dienste nach. Zum anderen sieht sich die Netzgemeinde zunehmend mit dem Griff des staatlichen Regimes nach der Kontrolle über das Internet konfrontiert, muss sie erleben, wie sich der staatliche Moloch die neuen elektronischen Medien zunutze macht, um seine Überwachungsmethoden zu verfeinern und zu perfektionieren. Vor einigen Jahren, im April 2007, wurde die Öffentlichkeit von einer Nachricht des Chaos Computer Club (CCC) über die Existenz sog. „Bundestrojaner“ aufgeschreckt, einer Spionagesoftware, die, einmal im Computer, Laptop oder I-Phone installiert, eine lückenlose Überwachung durch Geheimdienste ermöglicht; der CCC fand ferner heraus, dass diese Spitzelsoftware in einem Programm mit dem vielsagenden Titel ELSTER vorinstalliert war, mit dem künftig jeder Bundesbürger seine Steuererklärung erstatten soll… Erst im letzten Jahr wurde bekannt, dass die neue Handy-Generation, die I-Phones, ein detailliertes Bewegungsprofil des stolzen Besitzers eines solchen Gerätes erlaubt; in Kombination mit der sog. Vorratsdatenspeicherung eröffnet dies den staatlichen Überwachungsbehörden ganz neue Möglichkeiten.
All dies ist ein schlagender Beweis für ein Phänomen, das den niedergehenden Kapitalismus des 20. und 21. Jahrhunderts prägt. Der Konflikt rund um das Internet ist nur ein weiteres Beispiel für die Unfähigkeit und den Unwillen des „senilen Kapitalismus“, der Entwicklung der von ihm selbst geschaffenen Produktivkräfte (das Internet ist bekanntlich eine Erfindung des US-Militärs im Kalten Krieg) freien Lauf zu lassen. Er veranschaulicht angesichts des technisch möglichen freien, weltweiten Zugangs zum Internet und seinen Produkten die ganze Perversion, die heute in der Warenwirtschaft und im Privateigentum an Produktionsmitteln steckt. Und er zeigt, dass bei aller Grenzenlosigkeit des World Wide Web die staatskapitalistischen Regimes dieser Welt keineswegs geneigt sind, auf ihr Primat gegenüber dem Internet zu verzichten, dass sie bereit sind, mit allen Mitteln – angefangen von einer Überwachung Orwellschen Ausmaßes über die Kriminalisierung blutjunger Teenager bis hin zum Abschalten des Internets – ihre Vorherrschaft auch gegenüber diesem gesellschaftlichen Segment zu verteidigen.
Mit den „Piraten“ verhält es sich ähnlich wie einst mit den Grünen: Sie geben falsche Antworten auf eine richtige Frage. So wie die Grünen in ihren Anfängen üben sich die „Piraten“ in urdemokratischen Praktiken und propagieren sie als politisches Gegenmodell zu den etablierten Parteien; Erstere nannten dies „Basisdemokratie“, die Piraten dagegen bevorzugen, angeregt von der Occupy-Bewegung, die Begriffe „Teilhabe“ und „Transparenz“. Doch anders als die Grünen, die die „Basisdemokratie“ in Gestalt der seinerzeit wie Pilze aus dem Boden schießenden Bürgerinitiativen nur als ein Mittel zum Zweck der Durchsetzung ökologischer Politik betrachteten, scheinen die „Piraten“ die „liquid democracy“ selbst als den Hauptzweck ihrer Politik anzusehen. Es ist dieses Versprechen, das die „Piraten“ derzeit insbesondere in der jungen Generation so attraktiv macht: Weg mit der undurchsichtigen Hinterzimmer-Diplomatie, den intriganten Manövern, der Politik nach Gutsherrenart, für eine transparente Politik unter voller Beteiligung der Bevölkerung! Dabei kommt den „Piraten“ der Umstand zugute, dass die sozialen Proteste sich hierzulande noch nicht der Straßen und Plätze bemächtigt haben, wie das beispielsweise in Spanien der Fall ist. Nur so ist zu erklären, dass eine „Partei“ wie die „Piraten“ in die Parlamente katapultiert wird, obwohl sie bisher mit keiner einzigen Silbe auf die brennenden sozialen Fragen eingegangen ist, sieht man einmal von ihrer Forderung nach einem sog. Bürgergeld ab.
Im Grunde rennen die „Piraten“ mit ihrer Forderung nach Partizipation und Transparenz lediglich offene Türen ein. Die Herrschenden in Deutschland haben schon längst begriffen, dass ihr Herrschaftsmodell der „repräsentativen Demokratie“, sprich: der Parteienherrschaft, ein neues Make-up nötig hat. Spätestens mit den live im Fernsehen übertragenen Gesprächen zwischen Gegnern und Befürwortern von „Stuttgart 21“ hat die so genannte Bürgerbeteiligung eine neue Qualität gewonnen – mehr Transparenz geht nicht. Allerorten suchen die etablierten Parteien den „Dialog mit dem Bürger“: Kanzlerin Merkel geht mit ihren „Townhall-Meetings“ hausieren, SPD-Vorsitzender Gabriel schlägt vor, dass auch Nicht-Mitglieder den SPD-Kanzlerkandidaten nominieren dürfen, und auch beim Ausbau des Stromnetzes im Zuge der sog. Energiewende sollen die Betroffenen per „Dialog“ eingebunden werden. Wohin das Auge blickt, „Partizipation“ ohne Ende. Für die politische Klasse überwiegen die Vorteile einer solchen „bürger-beteiligten“ Demokratie. Zwar ist das ganze Prozedere der „Bürgerbeteiligung“ sehr Zeit raubend und sorgt für lange Vorlaufzeiten bei infrastrukturellen Großvorhaben, doch am Ende zählt der politische Gewinn, nämlich eine neue Politur für die bürgerliche Demokratie und ein Zeichen gegen die grassierende „Politikverdrossenheit“.
So sind denn die „Piraten“, ohne es zu wollen, nichts anderes als nützliche Idioten im Dienste der Bourgeoisie. Sie erwecken den Glauben an das bürgerliche Parlament zu neuem Leben, was nirgendwo sichtbarer wird als in der Tatsache, dass es ihnen wie keiner anderen im Bundestag vertretenen Partei gelingt, bisherige Nichtwähler für die Wahlen zu mobilisieren. Sie sind die reformistische Auflösung des Widerspruchs, in dem sich große Teile gerade der jungen Generation, ihre Hauptwähler, befinden: Einerseits mit einer gehörigen Portion Negativität gegenüber dem Überwachungsstaat ausgestattet, drückt sich in ihrem Sehnen nach einer „sauberen“, „transparenten“ Politik andererseits auch eine prinzipiell positive Erwartungshaltung gegenüber dem Parlament, eine ungebrochene Demokratiegläubigkeit ihrer jungen Wähler aus. Ihre Stimmen sind kein Votum für das Programm der „Piraten“, das in seiner Dürftigkeit eh einem Nichts gleicht. Sie sind vielmehr ein Denkzettel für die etablierten Politiker, was in letzter Konsequenz ein – wenn auch negativer – Vertrauensbeweis gegenüber diesem Establishment darstellt.
Noch schwimmen die „Piraten“ auf einer Welle des Erfolges. Der von den Medien erzeugte Hype um die „Piraten“ hat sich verselbstständigt, so dass nicht mit ihrem baldigen Schiffbruch zu rechnen ist. Nichtsdestotrotz stellt sich bereits der erste Gegenwind ein. Eine erste Ahnung davon bekamen die „Piraten“, als in den Medien Informationen über rechtsradikale Umtriebe und den Hitlerfaschismus verharmlosende Äußerungen in ihren Reihen durchsickerten. Das Wohlwollen, das ihnen auch deswegen von der Öffentlichkeit entgegengebracht wurde, weil sie eben keinen rechts durchwirkten Populismus repräsentieren (was für die deutsche Außenpolitik unvorteilhaft wäre), drohte umzuschlagen. Doch dies war lediglich ein Warnschuss vor dem Bug der „Piraten"; es gelang ihnen, die aufbrandenden Wogen durch entsprechende Klarstellungen wieder zu beruhigen. Komplizierter gestalten sich dagegen die immer heftigeren Auseinandersetzungen rund um die Frage der Urheberrechte. Hier sind es vor allem linksbürgerliche Intellektuelle, Autoren, Musiker und andere Beschäftigte aus dem Kulturbetrieb, die Front gegen die „Piraten“ machen. Eine Aussöhnung zwischen dem Interesse der „Piraten“-typischen Klientel an kostenlosen Downloads und dem Interesse der Künstler an Vergütung ihrer Leistungen ist nicht in Sicht.
Die größte Klippe wartet auf die „Piraten“ allerdings noch, der Schritt von der reinen Protestpartei zu einem festen Bestandteil im politischen Leben der Bourgeoisie. Dabei steht ihnen sozusagen ihr eigener Erfolg im Weg: Während die Grünen sich im parlamentarischen Alltagsleben schnell ihrer basisdemokratischen Folklore entledigt hatten, ohne dabei ihre Identität zu verlieren, und mit ihrer eigentlichen „Kernkompetenz“, der ökologischen Frage, einen dauerhaften Platz im Parteienspektrum errangen, besteht das Hauptanliegen der „Piraten“ in nichts Geringerem als der Durchsetzung der „wahren Demokratie“ in Parlament und Politik. Das heißt, dass sie künftig daran gemessen werden, ob sie ihren hehren Anspruch der inner- wie außerparteilichen Demokratie, die sog. liquid democracy, erfüllen, ob ihnen in den zahlreichen parlamentarischen Ausschüssen der Spagat zwischen totaler Transparenz und der vorgegebenen Geheimhaltungspflicht gelingt. Die „Piraten“ stecken in einem Dilemma: Gelingt ihnen nicht der Sprung aus der Fundamentalopposition, so wird es ihnen so ergehen wie der „Linken“, die, was kein Zufall ist, just zu dem Zeitpunkt in die Versenkung zu verschwinden droht, in dem die „Piraten“ reüssieren. Vollziehen sie aber die Metamorphose zu einer „normalen“ Partei, so verlieren sie alsbald ihren Reiz bei ihren Wählern und drohen ebenfalls zu einer Episode in der Geschichte des bürgerlichen Parlamentarismus zu werden. 18.5.2012
Der Artikel wurde schon auf IKSonline veröffentlicht.
https://de.internationalism.org/IKSonline2012_syrieniranabgrund [51]
Der Artikel wurde schon von IKS-online veröffentlicht.
https://de.internationalism.org/IKSonline2012_gewerkschaftlicheh%C3%BCrd... [52]
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Im Frühjahr 2012 ist es der offiziellen Schweiz wieder einmal gelungen, nach einem „Volksentscheid“ Verwunderung in der internationalen Presse hervorzurufen. Dieses Mal ging es um die Frage: mehr Urlaub oder nicht. Eine Volksinitiative des zweitgrössten nationalen Gewerkschaftsbundes Travail.Suisse wollte das Recht auf sechs Wochen Ferien für alle ArbeitnehmerInnen in der Verfassung verankern. Der Initiativtext sah vor, dass sich der Ferienanspruch im Jahr nach Annahme des Volksbegehrens auf fünf Wochen erhöht. In den folgenden fünf Jahren sollte der Anspruch jeweils um einen Tag steigen. Die Idee dahinter war laut Abstimmungspropaganda, „so einen gezielten und wirksamen Ausgleich für die gestiegene Belastung am Arbeitsplatz zu schaffen“. Derzeit beziehen die LohnarbeiterInnen in der Schweiz im Durchschnitt fünf Wochen bezahlte Ferien. Gesetzlich garantiert sind für Festangestellte nur deren vier (Art. 329a Obligationenrecht).
Am 11. März 2012 fand die Abstimmung über die Initiative statt. Sie wurde deutlich abgelehnt: 66,5 Prozent der Stimmenden sagten Nein, in keinem einzigen Kanton resultierte ein Ja. Am meisten Zustimmung erhielt die Initiative in der französischsprachigen Westschweiz. Abgelehnt wurde sie allerdings auch dort. Am knappsten war die Ablehnung im Kanton Jura mit rund 51 Prozent Nein-Stimmen. Am deutlichsten verworfen wurde die Initiative im Kanton Appenzell Innerrhoden mit 82 Prozent Nein-Stimmen.
Die Stimmbeteiligung lag bei 45 Prozent. Das heißt, dass 55 Prozent der Stimmberechtigten sich gar nicht beteiligten. Mehr als ein Fünftel der Bevölkerung hat keinen Schweizer Pass und ist deshalb ohnehin nicht stimmberechtigt.
Schon vor der Abstimmung im Januar 2012 ergaben Meinungsumfragen offenbar folgendes: „Während die Erwerbstätigen aller Alterskategorien der Initiative zustimmen, hat sie bei den Pensionierten keine Ja-Mehrheit (39% Ja, 49% Nein).“ (Travail.Suisse, Medienmitteilung vom 8.1.12) Soviel zu den Zahlen und der übrigen Faktenlage.
Gleich nach der Bekanntgabe des Ergebnisses kam es zu Reaktionen nicht nur in der Schweiz, sondern auch in andern Ländern. Abgesehen von der Medienberichterstattung, die je nach politischer Couleur die Entscheidung des Stimmvolks verhöhnte oder bewunderte, brach eine Diskussion darüber aus, ob die Schweizer Arbeiter verrückt, ob sie arbeitswütig seien oder nicht wüssten, was sie mit ihrer Freizeit anfangen sollen.
Aus der Sicht der Arbeiterklasse stellen sich dabei insbesondere folgende Fragen:
Warum stimmen die ArbeiterInnen nicht für mehr Ferien? Gibt es denn da etwas zu verlieren? Wäre die Initiative angenommen worden, wenn alle ArbeiterInnen abgestimmt hätten (auch diejenigen, die keinen Schweizer Pass haben, oder die unter 18-jährigen)? Oder auf einer allgemeineren Ebene: drückt sich in Abstimmungsresultaten ein bestimmter Stand des Arbeiterbewusstseins aus? Sind Abstimmungen eine Messlatte für das Klassenbewusstsein? Ist die Stimmabstinenz (die in der Schweiz meist geringe Beteiligung an Referenden und Wahlen) Ausdruck einer Politikverdrossenheit, eines Illusionsverlustes gegenüber der parlamentarischen Demokratie?
Diese Fragen stellen sich natürlich nicht allein aufgrund einer einzelnen seltsamen Abstimmung in der Schweiz. Vielmehr rieben sich auch in Ägypten in den letzten Wochen viele Revolutionäre vom Tahrirplatz die Augen, als sie in den Präsidentschaftswahlen plötzlich vor der korrekt demokratischen, aber alles andere als revolutionären Alternative standen, entweder einen Luftwaffengeneral und ehemaligen Premierminister Hosni Mubaraks (Ahmad Schafiq) oder einen Islamisten (Mohammed Mursi) zu wählen. Ist dies alles, was vom Arabischen Frühling übrig bleibt?
Wir werfen solche Fragen hier nicht auf, um ein Abstimmungsergebnis im Hinblick auf künftige Urnengänge präziser zu analysieren. Dieser Aspekt der Einschätzung der Stärke oder Schwäche der bürgerlich-demokratischen Herrschaft ist zwar interessant. Aber zentral für die kommenden Kämpfe unserer Klasse (nicht nur in der Schweiz) scheint uns die umgekehrte Perspektive zu sein – jene von unten, der Bruch mit der Logik dieser bürgerlichen Demokratie. Dabei sei hier im Sinne einer Begriffsklärung voraus geschickt, dass es für uns zwischen der repräsentativen Demokratie (z.B. à la française) und der direkten Demokratie (nach Schweizer Art) keinen wesentlichen Unterschied gibt. Beiden gemeinsam ist das Prinzip der Stellvertreterpolitik anstelle der Selbsttätigkeit, die umgekehrt beispielsweise in Vollversammlungen der Indignados in Spanien oder in den Arbeiterräten gelebt worden ist.
Interessant finden wir insbesondere die Diskussionen auf zwei Internet-Foren, auf denen sich internationalistische Stimmen zu treffen pflegen. Das eine ist das englischsprachige Forum libcom.org, das andere das Forum undergrounddogs.net aus der Schweiz. Werfen wir einen Blick auf ein paar Argumente, die da ausgetauscht worden sind. Zunächst ein paar Kommentare aus libcom.org, übersetzt auf Deutsch. Schon bald fand sich da der Erste, der einfach schrieb:
- „Idioten“ – gemeint waren damit, aus dem Zusammenhang zu schliessen, die „Schweizer“. Ob Schweizer Stimmbürger oder Schweizer Arbeiter, blieb zunächst unklar.
- Ein weiterer Kommentar nahm dann aber Bezug auf das Klassenbewusstsein: Er habe in einem anderen Diskussionsstrang auf dem Forum gelesen, „die Schweizer seien eine der am wenigsten klassenbewussten Bevölkerungen auf der Welt. Ich bin geneigt, ihm/ihr zu glauben.“
- Ein dritter Teilnehmer brachte eine neue Sichtweise in die Diskussion. Er fand, das Abstimmungsresultat sei “ein gutes Bespiel dafür, dass es wenig Sinn macht, den Kapitalismus häppchenweise zu ‘demokratisieren’, denn in einem gewissen Sinn (innerhalb des Kapitalismus) ist es vernünftig, gegen deine Klasseninteressen zu stimmen – wie die Genossenschaftsarbeiter, die Lohnkürzungen absegnen.“
- In der gleichen Richtung intervenierte ein Vierter: “Es ist auch ein schönes Beispiel dafür, wie das Proletariat ständig im Dilemma ist. Egal was es tut, zieht es den Kürzeren.”
- Jemand, der sich auf den hier eingangs zitierten Ausruf bezog, warf die Frage auf: “Macht es dich zum Idioten, wenn du so abstimmst, wie es dir ein quasselnder Idiot vorsagt? Irgendwie schon, aber das macht es auch nicht besser …”
Da sind wir also wieder einmal am Punkt angelangt, wo das Bewusstsein reift, dass wir alle verschiedene Teile der gleichen kollektiven Bewusstseinsentwicklung sind – die sich leider noch auf ziemlich bescheidenem Niveau bewegt, aber eben doch bewegt. Jemand auf libcom.org sprach es offen so aus:
- “Wenn es da Idioten gibt, so sind wir alle Idioten. Zeig mir einen (nationalen/regionalen/lokalen) Teil der Arbeiterklasse, der sich nicht irgendwann verarschen und in die scheiss Chef-Klassenpropaganda einlullen liess. Wenn ad infinitum wiederholt wird, dass mehr Ferien bekanntermassen das Ende der Welt bedeuten, so ist es keineswegs eine Überraschung, wenn Arbeiter einen solchen Vorschlag ablehnen.“
Welches Zwischenfazit können wir in Frage, ob die Arbeiter Idioten sind, ziehen? Wenn die Arbeiter den bürgerlich-demokratischen Wahlzettel einwerfen, haben sie schon verloren. Ihnen daraus auch noch einen moralischen Vorwurf zu machen bringt nichts. Es geht um unsere Klasse.
Da
wird es Zeit, auf die Diskussion im undergrounddogs.net zu schauen. Einer
schlägt hier den Bogen zur alten Einsicht (aus dem Kommunistischen Manifest),
dass die herrschenden Ideen einer Zeit stets nur die Ideen der herrschenden
Klasse waren:
„Ich finde das Resultat nicht so
erstaunlich, sonst könnte sich ja eine Minderheit wie die Bourgeoisie sie ist,
nicht an der Macht halten, wenn sie nicht fähig ist, ihre Ideen
durchzubringen.“ Ein anderer konkretisierte den Stand des Bewusstseins bei den
ArbeiterInnen so: „Die Arbeiter machen
sich in der Regel eben gerade keine Gedanken über wirkungsvollen Klassenkampf.
Eben weil sie sich andauernd überlegen wie sie sich - individuell - am besten
im Kapitalismus einrichten können. Und weil sie denken, dass ihr Wohl vom Gang
der kapitalistischen Geschäfte und vom Abschneiden der Schweiz in der
Standortkonkurrenz abhängt, verhalten sie sich entsprechend. Mehr Ferien, das
ist ja ein Konkurrenznachteil gegenüber dem Ausland und gefährdet
Arbeitsplätze. Die Konsequenz heisst dann halt: williges und billiges Anhängsel
will ich sein.“
Die Diskussionsteilnehmer verfolgen meist mehrere Ideen gleichzeitig, die sie rüberbringen wollen. Wir möchten uns hier bewusst auf einen Aspekt konzentrieren, auf den Aspekt der kollektiven Bewusstseinsentwicklung; natürlich sind Missverständnisse (sei es kreativer oder destruktiver Art …) nie ausgeschlossen. Die Missverstandenen werden sich hoffentlich melden! Aber eines sticht doch aus all den bisher zitierten Argumenten heraus: Wenn sich die Summe aller Arbeiter als Stimmbürger sowohl der Form als auch dem Inhalt nach zu 100 Prozent in der kapitalistischen Logik bewegt (und genau dies geschieht bei Volksabstimmungen), so ist es kein Wunder, wenn ein kapitalistisch sinnvoller Entscheid herausschaut – selbst wenn scheinbar die „Arbeiterklasse“ die Möglichkeit gehabt hätte, anders zu entscheiden. Wie hätte sie denn sonst entscheiden sollen? Für die Revolution? Die Revolution wird gerade nicht von vereinzelten Individuen, die getrennt jedes für sich zur Abstimmungsurne gehen und anonym ihren Zettel einwerfen, gemacht, sondern von der Masse der ProletarierInnen im Kollektiv, selbstbestimmt und selbstorganisiert.
Im Kern geht es also um die Frage, ob sich die ArbeiterInnen ausschliesslich in der Logik des Kapitals bewegen, oder ob sie sich eine eigene Logik zulegen. Diese Logik hat einerseits mit der Form zu tun: Stellvertretung durch demokratische (individuelle) Stimmabgabe oder (kollektive) Selbsttätigkeit und Selbstorganisation. Andererseits hat die proletarische Logik auch eine inhaltliche Seite. Es geht darum, sich ein eigenes Terrain zu schaffen und sich darauf zu bewegen. Ein Genosse auf undergrounddogs.net:
„Es gibt da doch zwei
verschiedene Terrains.
1. das demokratisch-nationale Terrain.
Dies ist für den Klassenkampf zwar nicht das wichtige, aber es war nun mal eine
Abstimmung. Auf der Ebene stimmt zwar einerseits das, was R [der zuletzt zitierte
Genosse] sagt, dass die Arbeiter hier als
einzelne (Insassen der Nation) agieren und sich diese Konkurrenzgedanken
machen. Zumindest die, die so abgestimmt haben. Zusätzlich sollte es auch klar
sein, dass auf dieser Ebene sowieso nicht gewonnen werden kann, weil hier
antagonistische Interessen gegeneinander stehen, wo ein grosser Teil der
Abstimmenden eh schon auf der anderen Seite steht, von Kleinbürgern aufwärts.
Rechnerisch fällt da also schon einiges weg. Zusätzlich kommt noch hinzu, dass
ein grosser Teil von denen, die ein unmittelbares Interesse an so einer
Verbesserung hätten (sagen wir mal, die Proletarier seien hierzulande etwa zu Hälfte
Ausländer) eh aus der demokratischen Willensbildung ausgeschlossen sind.
Von der Seite her kann man die Aussage von R auch gar nicht beurteilen, weil
man dafür erst mal untersuchen müsste: Wer hat alles abgestimmt? Wie haben die
verschiedenen Klassen abgestimmt? Was hätten diejenigen gestimmt, die nicht abstimmen
dürfen? usw. Das mal zur demokratisch-arithmetischen Wahlhuberei.
2. das Klassenterrain.
Der Punkt ist doch, dass diese ganze Abstimmung sich um den alten Antagonismus
dreht, er aber nicht als ein solcher behandelt wird, sondern die Frage nach dem
Wohl der Nation im Zentrum einer solchen Abstimmung steht. Der
Klassenantagonismus wird also gar nicht erst zur organisatorischen Struktur so
einer Abstimmung. Man müsste sich also fragen, wie man das Interesse der
Arbeiter als Klasseninteresse organisieren kann. Also Formen zu finden, wo
nicht Schweizer Kapitalisten und Schweizer Proletarier gemeinsam über das Wohl
der Nation abstimmen, sondern wie man den Klassenkampf so organisieren kann,
dass unsere Seite zu maximaler Stärke kommt und wie man gegen die anderen
gewinnt. Das ist aber keine Frage demokratischer Willensbildung, sondern eine
Frage der Macht.“
Das sind wohl die entscheidenden Fragen: Nation oder Klasse, Kapitallogik oder proletarisches Klassenterrain.
Wenn wir auf die eingangs aufgeworfenen Fragen zurückblicken, können wir aufgrund der verschiedenen Argumente folgende Schlussfolgerung ziehen:
In einem Abstimmungsresultat im Rahmen der repräsentativen oder direkten bürgerlichen Demokratie kommt das Bewusstsein der Arbeiterklasse nur mehrfach gebrochen zum Ausdruck:
1. Zunächst einmal sind die Stimmberechtigten keineswegs identisch mit der Arbeiterklasse; viele ArbeiterInnen sind nicht stimmberechtigt, und ein grosser Teil des Stimmvolkes ist nicht proletarisch. Im Abstimmungszirkus wird das Proletariat im Volk der Staatsbürger aufgelöst.
2. Noch wichtiger ist aber das Prinzip der Vereinzelung in der demokratischen Abstimmung: Jeder Arbeiter/jede Arbeiterin geht als Individuum und als StaatsbürgerIn anonym einen Zettel einwerfen, auf dem nur ein Ja oder ein Nein steht. Die Volksabstimmung ist das Gegenteil einer kollektiven Debatte. Die Politiker führen stellvertretend eine (Schein-)Debatte. Die StimmbürgerInnen sollen dann Ja oder Nein dazu sagen. Das Resultat dieser „Partizipation“ ist eine rein quantitative Grösse, wie der Preis einer Ware. Die differenzierte Qualität einer proletarischen Debatte wäre blosser Störfaktor. Das Gefühl, dass man als Ausgebeuteter ein- und derselben Klasse angehört und als Kollektiv ein Gewicht hätte, kann so gar nicht erst aufkommen.
3. Ein Ausbrechen aus der vorgegebenen kapitalistischen Logik ist nicht möglich. Das Proletariat kann im Rahmen dieser demokratischen Spielregeln innerhalb eines bestimmten Nationalstaats nur Ja oder Nein sagen zu (Schein-)Lösungen innerhalb dieses Systems, selbst wenn sich immer mehr ProletarierInnen bewusst werden, dass es eine grundlegende Umwälzung der gesamten Gesellschaft und Wirtschaft bedarf.
Damit ist auch gesagt, dass selbst eine perfektionierte bürgerliche Demokratie, z.B. mit einem AusländerInnen-Stimmrecht, kein brauchbares Mittel für unsere Interessen ist. Vielmehr setzt eine proletarische Revolution die Selbsttätigkeit, die kollektive Debatte und die Selbstorganisierung immer grösserer Massen unserer Klasse voraus. Nur so lässt sich eine neue Welt ohne Ausbeutung von Mensch und Natur schaffen.
Noch nicht entschieden ist damit allerdings die Frage, ob aus einer grossen Stimmabstinenz, z.B. im konkreten Fall der Schweiz, abgeleitet werden kann, dass die Leute von der Politik verdrossen oder sogar tendenziell revolutionär sind. Die letztere Schlussfolgerung wäre sicher falsch, und zwar genau wegen des zuvor beschriebenen Prinzips: Eine Revolution setzt die bewusste Selbsttätigkeit der Massen voraus, d.h. eine aktive Haltung. Die heute praktizierte Wahlabstinenz ist aber in den allermeisten Fällen ein passiver Reflex, der sicher mit Resignation zu tun hat, aber nur ausnahmsweise mit einer alternativen Perspektive.
Ob eine Politikverdrossenheit herrscht, lässt sich nicht direkt an einem bestimmten Stand der Wahlabstinenz ablesen. Gerade bei den Wahlen stellt man oft fest, dass sich eine erste Empörung im „Volk“ gegen eine bestimmte Regierung zunächst einmal in einer hohen Wahlbeteiligung ausdrückt; die WählerInnen wollen die regierende Partei abstrafen. Die Desillusionierung verschafft sich Luft – in einer neuen Illusion.
Der Weg zum Bruch mit der demokratischen Ideologie ist noch lang. Dieser Wall, der die herrschende Ordnung schützt, ist deshalb ein perfides Hindernis, weil er nirgends physisch sichtbar ist, sondern in den Köpfen der ProletarierInnen existiert und sich ständig reproduziert, solange wir nicht gemeinsam die Stärke und das Selbstvertrauen für die Befreiung gewinnen. Es ist aber sicher nötig, dass revolutionäre Minderheiten der Klasse beginnen, den Weg zur Überwindung dieses Walls abzustecken.
GF, 10.7.12
In der Tat stellten die Verwerfungen des Krieges in allen Ländern die an ihm teilgenommen hatten, die Bedingungen für vielfältige soziale Unruhen, Massenstreiks und Revolutionen her, zeigten aber auch die Grenzen der alten Arbeiterbewegung auf. Ein besonders symptomatisches Beispiel hierfür ist die Revolution von 1918/19 in Deutschland, eines der am stärksten industrialisierten Länder in Europa mit der größten sozialistischen Massenpartei und Gewerkschaftsbewegung.
Zumeist wird mit Verweis auf die anfänglich dominante Position der im Krieg kollaborierenden Mehrheitssozialdemokratie und die schnelle Niederlage revolutionärer Kräfte im „Spartakusaufstand“ vom Januar 1919, ein sozialrevolutionärer oder gar „sozialistischer“ Charakter der Revolution abgesprochen. Bisher weniger beachtet wird dabei jedoch eine breite Streikbewegung im Frühjahr 1919, welche die industriellen Zentren in Deutschland erschütterte. Getragen wurde sie von den im November 1918 entstandenen Arbeiterräten, welche als Organisationsformen proletarischer Selbstermächtigung revitalisiert wurden. Erstmals erhielten dabei Sozialisierungsforderungen einen zentralen Stellenwert in der Bewegung und drückten damit die eigentliche sozialrevolutionäre Komponente der Revolution aus. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Bewegung im Generalstreik vom März 1919 in Berlin, der schließlich im bis dahin größten Blutbad, durch Freikorps und sozialdemokratische Führungsebene, ertränkt wurde.
In „Massenstreik und Schießbefehl“ werden diese Ereignisse in Berlin vom März 1919 unter Auswertung der verfügbaren Quellen rekonstruiert. Dabei geht es vor allem um eine Analyse der Streikbewegung auf lokaler Ebene und ihrer Verknüpfung mit der Berliner Rätebewegung seit November 1918. Die Hauptthese besteht darin, dass sich in der Streikbewegung vom Frühjahr 1919 die sozialrevolutionären Erwartungen der Arbeiter und Soldaten vom November 1918 nun gegen die neuen parlamentarischen Institutionen und die alte sozialdemokratische Parteiführung ausdrückten. Der politische Radikalisierungsprozess vollzog sich allerdings parallel zur Restauration bürgerlicher und monarchistischer Kräfte in Heer und Verwaltung und traf daher bei seiner Eruption auf eine bestens vorbereitete Gegenrevolution. Dennoch bestand, so die These, für einen kurzen Zeitraum die Möglichkeit die gegenrevolutionäre Entwicklung aufzuhalten oder wieder in die Richtung einer sozialrevolutionären Perspektive zu lenken. Die Bedingungen hierfür und die Gründe für das Scheitern dieser Möglichkeiten sind der Gegenstand des Buches.
Titel: Dietmar Lange, Massenstreik und Schießbefehl. Generalstreik und Märzkämpfe in Berlin 1919, Edition Assemblage, Münster 2012.
[1]Friedrich Engels, Einleitung zu Sigismund Borkheims Broschüre "Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten. 1806-1807", in: Karl Marx; Friedrich Engels, Werke, Band 21, 5. Auflg., Berlin 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 346-351, Zitat S. 351.
Aber diese historische Krise des Kapitalismus wurde zum Teil vertuscht und unter einem Berg von Lügen und Propaganda begraben. In jedem Jahrzehnt wurde das gleiche Register gezogen: Ein Land, eine Weltregion oder ein Wirtschaftsbereich, dem es etwas besser ging als den anderen, wurde besonders herausgehoben, um uns einzutrichtern, die Krise sei keine Fatalität, es reiche aus, die richtigen „Strukturreformen“ einzuleiten, damit der Kapitalismus wieder zu seiner Dynamik zurückfinde und Wachstum und Wohlstand bringe. In den 1980-1990er Jahren wurden Argentinien und die „asiatischen Tiger“ als Erfolgsmodelle dargestellt, dann, von 2000 an, galten Irland und Spanien als Aushängeschilder. Natürlich stellten sich diese „Wunder“ samt und sonders als Schimären heraus: 1997 wurden die „asiatischen Tiger“ als „Papiertiger“ entblößt, Ende der 1990er Jahr musste Argentinien seine Zahlungsunfähigkeit erklären, heute stehen Irland und Spanien am Abgrund. Jedes Mal wurde das “unglaubliche Wachstum” durch Schulden finanziert und jedes Mal führte die Schuldenlast dazu, dass die willkürlich aufgebauschten Hoffnungen allesamt verflogen. Und als ob man auf unser schlechtes Gedächtnis setzt, tischt man uns jetzt wieder die gleichen Lügengeschichten und Schönfärbereien auf. Schenkt man ihnen Glauben, so krankt Europa an hausgemachten Problemen: Schwierigkeiten, Reformen durchzusetzen und die Schulden der Mitglieder auf alle umzulegen, ein Mangel an Einheit und Solidarität unter den Ländern, eine Zentralbank, der die Ankurbelung der Wirtschaft nicht gelingt, weil sie nicht Geld nach ihrem Belieben drucken kann. Aber diese Argumente ziehen nicht mehr. Die USA und ihre Fed, Weltmeister im willkürlichen Ankurbeln der Notenpresse seit 2007, stehen ebenfalls schlecht da.
Mit der Abkürzung „BRIC“ bezeichnet man die boomenden Wirtschaften der letzten Jahre: Brasilien, Russland, Indien und China. Wie bei jedem Eldorado entspricht auch ihr „guter Zustand“ eher einem Mythos als der Wirklichkeit. All diese „Booms“ werden im Wesentlichen durch Schulden finanziert und enden da, wo ihre Vorgänger auch gelandet sind. Auch sie werden vom Würgegriff der Rezession erfasst. Schon jetzt hat sich der Wind gedreht.
In Brasilien sind in den letzten zehn Jahren die Verbraucherkredite buchstäblich explodiert. Ähnlich wie in den USA im letzten Jahrzehnt verfügen die Privathaushalte in Brasilien jedoch über immer weniger Mittel, um die Schulden zurückzuzahlen. Die Zahlungsunfähigkeit von Privatkonsumenten bricht alle Rekorde. Die Währungsblase gleicht exakt der spanischen Blase, bevor diese platzte: Jüngst errichtete Gebäude – Wohn- und Bürohäuser – stehen oft weitestgehend leer.
In Russland beträgt die Inflation offiziell sechs Prozent, andere Instanzen sprechen von 7,5 Prozent. Und die Obst- und Gemüsepreise sind im Juni und Juli gewaltig angestiegen, nämlich um 40 Prozent!
In Indien nimmt das Haushaltsdefizit weiter gefährlich zu; für das Jahr 2012 werden 5,8 Prozent des BIP erwartet. Die Industrieproduktion ist rückläufig (-0,3 Prozent im ersten Quartal 2012), der Privatverbrauch ist ebenso rückläufig; die Inflation hat zugenommen (7,2% im April, im letzten Oktober kletterten die Lebensmittelpreise sogar um zehn Prozent). Indien wird heute von der Finanzwelt als risikoreich eingestuft. Sein Rating beträgt BBB (die niedrigste Bewertung der Kategorie „untere mittlere Qualität“). Indien läuft Gefahr, demnächst jener Reihe von Ländern zugeordnet zu werden, bei denen man von Investitionen ganz abrät.
In China flacht die wirtschaftliche Aktivität langsam weiter ab. Im Juni war die Produktion zum achten Mal in Folge rückläufig. Die Wohnungspreise sind zusammengebrochen, die Aktivitäten der Bauindustrie scheinen sich im freien Fall zu befinden. Ein Beispiel ist sehr aufschlussreich: Allein in Beijing stehen mehr Wohnungen leer als in den USA zusammengenommen (3,8 Millionen in Beijing im Vergleich zu 2,5 Millionen leer stehender Wohnungen in den USA) (https://www.germanyinews.com/Nachrichten-920819-Peking-Immobilien-Leerst... [59]). Doch am bedrohlichsten sind ohne Zweifel die Haushaltsdefizite in den Provinzen. Denn wenn der Staat nicht offiziell unter der Schuldenlast erstickt, dann geschieht dies nur aufgrund von Buchungstricks, mit denen beispielsweise all diese Defizite auf die Kommunen abgewälzt werden. Zahlreiche Kommunen in den Provinzen stehen am Rand des Bankrotts.
Die Investoren sind sich des schlechten Zustands der BRIC-Länder bewusst. Deshalb flüchten sie aus den vier Landeswährungen – Real, Rubel, Rupie und Yuan -, deren Wechselkurse seit Monaten absacken.
Die Stadt Stockton, Kalifornien, hat am 26. Juni Zahlungsunfähigkeit angemeldet, wie vor ihr bereits Jefferson County, Alabama und Harrisburg, Pennsylvania. Dabei haben die 300.000 Einwohner Stocktons alle möglichen notwendiger Opfer für die „Sanierung“ erbracht: Der Stadthaushalt wurde um 90 Millionen Dollar gekürzt, 30 Prozent der Feuerwehrleute und 40 Prozent der anderen städtischen Beschäftigten wurden entlassen, die Löhne der städtischen Beschäftigten um 11.2 Millionen Dollar wurden gekürzt, die Renten drastisch reduziert. Dieses sehr konkrete Beispiel spiegelt den ganz realen Auflösungszustand der US-Wirtschaft wider. Die Haushalte, Betriebe, Banken, Städte, die Bundesstaaten und die Washingtoner Regierung – alle sind davon betroffen. All diese Teile der Wirtschaft werden buchstäblich unter einem Schuldenberg begraben, der nie zurückbezahlt werden wird. Vor diesem Hintergrund besteht die Gefahr, dass die anstehenden Verhandlungen zwischen Demokraten und Republikanern über die Schuldengrenze wie im Sommer 2011 zu einem Psychodrama zu werden drohen. Eigentlich steht die amerikanische Bourgeoisie vor einem unlösbaren Problem: Um die Wirtschaft anzukurbeln, muss sie sich immer mehr verschulden. Um nicht pleite zu gehen, muss sie die Verschuldung reduzieren.
Jeder verschuldete Teil der Wirtschaft wirkt wie eine Mine: Hier steht eine Bank kurz vor dem Bankrott, dort ist eine Stadt oder ein Betrieb nahezu pleite… und wenn eine Mine hochgeht, besteht die Gefahr einer Kettenreaktion.
Heute droht die “Blase der Studentenkredite“ zu platzen, befürchten jedenfalls die Finanzexperten. Das Studium wird immer kostspieliger, immer weniger Jugendliche finden einen Job nach ihrem Studienabschluss. Mit anderen Worten – die Studentenkredite werden immer umfangreicher, und das Risiko der Zahlungsunfähigkeit wird immer wahrscheinlicher. Konkret heißt das:
- Am Ende ihres Studiums sind die US-Studenten im Durchschnitt mit 25.000 Dollar pro Kopf verschuldet;
- Die laufenden Studentenkredite übertreffen sogar die Verbraucherkredite in den USA; sie betragen ca. 904 Milliarden Dollar (und haben sich während der letzten fünf Jahre praktisch verdoppelt); dies entspricht ca. sechs Prozent des BIP.
- Die Arbeitslosigkeit der Universitätsabsolventen unter 25 Jahren liegt über neun Prozent.
- 14 Prozent der Diplominhaber, die sich verschuldet haben, werden drei Jahre nach ihrem Studienabschluss zahlungsunfähig.
Dieses Beispiel ist sehr typisch dafür, was aus dem Kapitalismus geworden ist: ein krankes System, das seine Zukunft (im wahren Sinne des Wortes) nur noch mehr mit Hypotheken belasten kann. Um zu überleben, müssen die Jugendlichen sich heute verschulden und die Gehälter von morgen, die ihnen nicht ausgezahlt werden, „investieren“. Es ist kein Zufall, wenn auf dem Balkan, in England oder in Quebec in den letzten beiden Jahren die neue Generation mit massiven Protestbewegungen auf die Erhöhung der Studiengebühren reagiert hat (siehe Artikel auf unserer Webseite dazu). Mit Anfang 20 von einem Schuldenberg erdrückt zu werden, um später arbeitslos oder unterbezahlt zu sein - das führt uns die Zukunftslosigkeit im Kapitalismus vor Augen. Die USA sind wie Europa, ja die ganze Welt krank. Unter dem Kapitalismus wird es keine wirkliche und dauerhafte Gesundung geben, denn dieses Ausbeutungssystem ist unheilbar krank.
Wenn es trotz dieses Artikels immer noch Leser gibt, die ein wenig Hoffnung haben und glauben, dass ein „Wirtschaftswunder“ noch möglich ist, so sei ihnen gesagt, dass auch der Vatikan in den roten Zahlen steckt…
- Auf die Entwicklung der Krise in Deutschland werden wir in kürze in einem gesonderten Artikel eingehen.
Pawel, 6. 7. 2012.
(1) Allein in Madrid werden jeden Tag 40 Familien aus ihren Wohnungen geholt. Laut der Bürgerplattform PAH, die in allen spanischen Städten versucht, Zwangsräumungen zu verhindern, wurden seit Beginn der Krise rund 300.000 Zwangsvollstreckungen ausgesprochen. 125.000 Familien wurden bereits vor die Tür gesetzt. Bei den Gerichten sind weitere anderthalb Millionen Fälle anhängig. "Das sind fast zwei Millionen Familien, die am Rande der Gesellschaft leben, eine echte Zeitbombe", resümiert PAH-Sprecher José Maria Ruiz die Lage. In Spanien gibt es 3,1 Millionen leer stehende Wohnungen. (https://www.welt.de/wirtschaft/article13939609/Dutzende-spanische-Famili... [60])
Der sozialistische Gedanke, der in unserer Zeit stärker als je die Geister bewegt, ist nicht erst in der Gegenwart oder der jüngsten Vergangenheit lebendig geworden, sondern er kann auf eine Jahrtausende lange Geschichte zurückblicken. Das was man heute gemeinhin unter Sozialismus oder Kommunismus versteht, der proletarische Sozialismus, ist zwar jungen Datums, ist kaum ein Jahrhundert alt. Aber zu allen Zeiten hat es Denker gegeben, die, wenn auch gefühlmäßig und unklar, der auf Ausbeutung und Unterdrückung beruhenden Gesellschaft ein neues Kulturideal gegenüberstellten, die einen Zustand herbeisehnten, in dem nicht mehr Willkür und Macht, sondern Recht und Gerechtigkeit bestimmend wären für die Beziehungen von Mensch zu Mensch. Alle diese Denker können sich Sozialisten nennen, können darauf Anspruch erheben, als Sozialisten anerkannt zu werden; denn sie alle weisen in ihrer Zielsetzung auf das Ideal des Sozialismus hin. Es kann aber nicht wundernehmen, dass über dieses eine, allen sozialistischen Denkern gemeinsame Ziel hinaus die Gedanken dieser verschiedenen Sozialisten in mannigfacher Weise von einander abweichen. Klar und deutlich lassen sich in der sozialistischen Geistesweit namentlich zwei Strömungen unterscheiden, in die wir die Gesamtheit der sozialistischen Systeme gliedern wollen: 1. der utopische oder naturrechtliche Sozialismus, auch als „nationaler" Sozialismus bezeichnet, und 2. der entwicklungsgeschichtliche, moderne oder wissenschaftliche Sozialismus: der Marxismus.
Alle sozialistischen Theorien, alle sozialistischen Denker lassen sich in eine dieser beiden Gruppen einordnen. Unsere Aufgabe ist es nun, die gemeinsamen Züge und die Unterschiede dieser Spielarten des Sozialismus festzustellen. Gemeinsam ist dem utopistischen mit dem modernen Sozialismus: 1. der Gegensatz gegen die bestehende Gesellschaftsordnung 2. das Ziel einer von Ausbeutung und Unterdrückung freien Gesellschaft. Die Scheidung beginnt bereits, sobald es sich um: 1. eine nähere Kennzeichnung dieses Zieles handelt. Der utopische Sozialismus ergeht sich in weitschweifigen Darstellungen des "Zukunftsstaates". dessen „vernünftige" und „gerechte" Einrichtungen genau beschrieben werden, als ob sie schon verwirklicht wären. Es ist eines der Kennzeichen des Utopismus, dass seine literarischen Erzeugnisse häufig nichts anderes sind als Beschreibungen der sozialen Zustände von Ländern, die es in Wirklichkeit nicht gibt, die nur in der Phantasie des betreffenden Schriftstellers existieren. Daher auch der aus dem Griechischen stammende Name „Utopie", das heißt Nicht‑Ort, Nirgendwo. Wie dieser ersehnte Zukunftsstaat im Einzelnen aussieht, darüber gehen die Wünsche der Utopisten selbst welt auseinander, darüber denkt z.B. Thomas Morus ganz anders als Fourier. Das wesentliche ist an dieser Stelle nur, dass die Utopisten auf die genaue Ausmalung des künftigen Reiches das Hauptgewicht legen. Damit stehen sie im Gegensatz zu den modernen Sozialisten: diese haben es im Allgemeinen mit Recht abgelehnt zu sagen, wie sie sich den Zukunftsstaat" im Einzelnen „vorstellen", und sich darauf beschränkt. die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaft und der Klassengegensätze und die Schaffung der gleichen EntwicklungsmögIichkeiten für alle als die Grundlagen der künftigen Gesellschaft aufzuzeigen.
Dieser Unterschied in der Zielsetzung führt uns unmittelbar auf: 2. die Verschiedenheit in der Methode, d.h. der Begründung der sozialistischen Anschauung. Hier liegt rechteigentlich der springende Punkt, der wesentlichste Unterschied zwischen utopischen und wissenschaftlichen Sozialismus: a) die Utopisten begründen ihre Forderungen naturrechtlich, d.h. sie stellen der bestehenden „unnatürlichen" Gesellschaftsordnung eine andere, bessere gegenüber, die sie für die „natürliche" Ordnung ausgeben. Mit anderen Worten: die Utopisten erheben sittliche Forderungen, die sie nicht aus den gegebenen Verhältnissen, sondern aus ihrer höheren Einsicht herleiten. Die Utopisten sind Erfinder einer neuen, bisher unbekannten Gesellschaftsordnung. Der Utopismus sagt, was „gut" ist und daher kommen soll. b) die modernen wissenschaftlichen Sozialisten, voran Marx und Engels, leiten das sozialistische Ziel historisch aus dem bisherigen Verlauf der Geschichte und der Erkenntnis der gegenwärtigen Verhältnisse her. Es gibt für sie keine „natürliche", über Zeit und Raum erhabene Ordnung, sondern jeder Epoche ist die ihr eigene Ordnung „natürlich", und: „Alles was besteht, ist welt, dass es zugrunde geht". Der Marxismus stellt keine moralischen Forderungen auf, sondern er sagt, was nach wissenschaftlicher Einsicht kommen muss. Marx ist kein Erfinder bisher nicht existierender Dinge, sondern ein Entdecker von Zuständen, die zwar bisher unbekannt waren, aber doch schon im Keime in der bestehenden Gesellschaft schlummerten. Kurz: der wissenschaftliche moderne Sozialismus sagt, was notwendig ist und daher kommen muss und kommen wird. 3. Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen utopischen und wissenschaftlichen Sozialismus liegt in der Taktik, der Anschauung über den Weg zum Ziel. Dieser Gegensatz ergibt sich mit Notwendigkeit aus dem obigen:
a) Die Utopisten, soweit sie überhaupt die Frage nach dem Weg zum Ziel aufwerfen (was keineswegs durchgehend der Fall ist), wollen den Sozialismus sozusagen „machen", künstlich herbeiführen. Sie glauben, dass es nur des Planes eines klugen Kopfes bedürfe, um alle Menschen von der Vortrefflichkeit der sozialistischen Ordnung zu überzeugen und die Reichen und Großen dieser Welt zum freiwilligen Aufgeben ihrer Vorrechte, ja sogar zur Hilfeleistung zu bewegen. Als Mittel dazu dient ihnen neben der Überredung vor allem das soziale Experiment: die Utopisten haben zahlreiche kommunistische Gemeinwesen nach ihren Plänen errichtet, um durch die Macht des Beispiels Anhänger für ihre Ideen zu gewinnen und zugleich den Keim für die künftige Gesellschaft zu legen. Alle diese Versuchskolonien haben sich nicht lange behaupten können innerhalb einer ganz anders gearteten Welt. Klassenkampf und revolutionäre Betätigung als Mittel zum Ziel lehnen die Utopisten ab: sie stützen sich überhaupt nicht auf das Proletariat als Klasse, sie treten nicht als Interessenvertreter der Lohnarbeiterschaft auf, sondern als Vertreter aller Armen und Bedrängten. Auch das ist erklärlich; denn zu der Zeit, als der Utopismus in Blüte stand. gab es noch gar keine zum Bewusstsein ihrer selbst gelangte Lohnarbeiterklasse. Das moderne Proletariat steckte noch in den Kinderschuhen: als es erst zum Klassenbewusstsein erwacht war, da war notwendig auch die Zeit des unklaren Utopismus vorbei.
b) Der wissenschaftliche moderne Sozialismus will keine künstlichen Gebilde schaffen, sondern erwartet alles von der notwendigen Entwicklung, die durch menschliches Eingreifen zwar gefördert oder gehemmt werden kann. Nicht das „Genie" wird die künftige Gesellschaft durch Erfindung eines klugen Planes herbeiführen: denn es übersteigt die Kraft eines einzelnen, der Weltgeschichte ohne weiteres die Bahn zu weisen. Auch die Hoffnung auf Hilfe seitens der Reichen und Mächtigen wird als utopistisch abgelehnt; denn nie werden sich die herrschenden Klassen dazu bequemen, freiwillig das Feld zu räumen. Soweit es menschlichen Eingreifens bedarf, um die kommende Entwicklung zu fördern und Hindernisse aus dem Weg zu räumen, erwartet der Sozialismus dieses Eingreifen nur von unten her, von der unterdrückten Klasse: von dem Proletariat. Er appelliert an die Proletarier, die sich damals (zurzeit von Marx) allmählich von der Bevormundung durch dass Bürgertum lossagten und nun nicht mehr als unterste Stufe, als „Anhängsel" dieses Bürgertums, sondern als ständige Klasse zu fühlen begannen. Das Proletariat soll durch seinen Klassenkampf (von dem ja bekanntlich die Utopisten nichts wissen wollten) nicht nur in der kommenden Entwicklung von sich aus richtunggebend wirken, sondern auch seine Klasseninteressen während dieses Umbildungsprozesses wahrnehmen. Aus dem Gesagten folgt bereits, dass der moderne wissenschaftliche Sozialismus grundsätzlicher Gegner jedes utopistischen Experiments ist; er erkennt klar die Unmöglichkeit, in einer von Kapitalismus beherrschten Umwelt sozialistische Eilande zu schaffen, wie er überhaupt in der sozialen Entwicklung nur die Daseinsberechtigung des natürlich Gewordenen anerkennt.
Alles in allem kann man den Unterschied zwischen utopischem und wissenschaftlichem Sozialismus dahin zusammenfassen: Die Utopischen erwünschen und erhoffen das Gute und Schöne, Marx erforscht das Wirkliche und erkennt das Notwendige. Aus dem Gesagten ergeben sich nun folgende Begriffsbestimmungen: Unter utopischem Sozialismus verstehen wir diejenige Spielart des Kommunismus oder Sozialismus, die sich in erster Reihe mit der Ausmalung eines Zukunftsstaates beschäftigt, ihr Ziel naturrechtlich begründet und den Weg zu diesem Ziel entweder gar nicht oder in wirklichkeitsfremder Weise behandelt. Unter dem modernen wissenschaftlichen Sozialismus oder Kommunismus verstehen wir diejenige Art des Sozialismus, die unter Verzicht auf die nähere Ausmalung des Zukunftsstaates ihr Ziel historisch begründet und die Entwicklung selbst sowie den Klassenkampf des Proletariats als die Hebel zur sozialistischen Gesellschaft betrachtet.
Die bisherige Betrachtung hat uns zwei große Gruppen von sozialistischen Systemen erkennen lassen. Der utopische Sozialismus 1st heute praktisch überwunden, d.h. es gibt keine ernst zu nehmende sozialistische Bewegung. die noch heute auf den Lehren der Plato, Morus. Fourier usw. fußt. Wir wollen aber nicht verkennen, dass der Utopismus in der sozialistischen Geistesgeschichte Jahrhunderte hindurch eine große und eine - damals - notwendige Aufgabe erfüllt hat: Das Fundament einer über Ziel und Weg klaren sozialistischen Bewegung hat er nicht werden können, wohl aber haben die Utopisten durch die sittliche Kraft ihrer Gedanken die Geister erst einmal aufgerüttelt. Zudem knüpft der moderne Sozialismus geistig unmittelbar an sie an, und - auch darüber wollen wir uns klar sein - so mancher Gedanke, den Vertreter des utopischen Sozialismus zum ersten Male ausgesprochen haben. ist als unveräußerlicher Besitz in den Ideenansatz der modernen Arbeiterbewegung übergegangen.
All das macht es notwendig, dass wir nach der zusammenfassenden Kennzeichnung der Eigenart des Utopismus auch noch einige der bedeutsamsten utopistischen Systeme kurz besprechen.
„Die marxistische Methode gibt die Möglichkeit, die Entwicklungsbedingungen der neuen Kunst zu beurteilen, alle ihre Veränderungen zu verfolgen und durch kritische Verfolgung der Wege die fortschrittlichsten zu fördern – aber auch nicht mehr. Ihre Wege muß die Kunst auf eigenen Füßen zurücklegen.“ (Trotzki, Parteipolitik in der Kunst, 1923; in „Literatur und Revolution“, 1924).
1. Kunst im Kapitalismus
Der Aufstieg des Kapitalismus entfesselt eine beispiellose, bis dato unvorstellbare Produktivkraft, die neue Gefühle und Ideen ins Leben ruft, zusammen mit neuen künstlerischen Mitteln, um ihnen Ausdruck zu verleihen. Die Ausweitung dieser neuen Produktionsweise über den gesamten Globus und ihre Durchdringung aller Bereiche menschlicher Erfahrungen löst die Barrieren zwischen den Nationalkulturen und lokal fixierten Stilarten auf, indem sie erstmals eine einzige Weltkultur schafft.
Durch die ständige Revolutionierung der Produktion und den Anstieg in der Produktivität zerstört der Kapitalismus auch die alten, engstirnigen Gesellschaftsverhältnisse und wandelt alles, einschließlich der Kunst, in eine Ware um. War der Künstler bis dahin eine geachtete und geehrte Person, die direkt für den Kunden produzierte, so ist er nun mehr oder weniger auf eine bezahlte Lohnarbeitskraft reduziert, deren Produkte auf einen anonymen Markt geworfen und den Gesetzen der Konkurrenz unterworfen werden.
Einmal abgesehen davon, dass die Kunst vom einzelnen Kapitalisten gern als Investition oder zur Ausschmückung seines Privatlebens verwendet wird, steht der Kapitalismus im Grunde der Kunst als Ablenkung von seiner einzigen Triebkraft, der Kapitalakkumulation um ihrer selbst willen, feindlich gegenüber. Mehr noch, als ein ausbeuterisches System, verhält sich der Kapitalismus grundsätzlich unversöhnlich gegenüber den Interessen der Humanität und daher zu den humanistischen Idealen der besten Art. Je bewusster sich die Kunst darüber ist, desto mehr führt sie zum Protest gegen die Unmenschlichkeit der kapitalistischen Gesellschaft. Auf diese Weise sind die größten Künstler in der Lage, über die Grenzen ihrer Epoche und Klassenherkunft hinauszugehen, um wortgewaltige Anklagen gegen die Verbrechen und menschlichen Tragödien des Kapitalismus zu erheben (Goethe, Balzac, Goya).
Diese Antagonismen zwischen Kapitalismus und Humanität kommen in den frühesten Stufen der neuen Produktionsweise noch nicht völlig zum Vorschein, da die Bourgeoisie noch in einem revolutionären Kampf gegen den feudalen Absolutismus steckt. Die schöne Kunst ist imstande, die fortschrittliche Moral und die geistigen Werte dieser neuen ausbeutenden Klasse zu reflektieren, deren Energie und Selbstvertrauen – sowie generöse Patronage – die künstlerischen Errungenschaften der Renaissance ermöglichten, lange bevor ihre eigene Herrschaft etabliert ist.
2. Kunst in der Ära der bürgerlichen Revolutionen
In der Ära der bürgerlich-demokratischen Revolutionen (ca. 1776-1848) ist die Kunst noch in der Lage, die revolutionären Ziele der Bourgeoisie auszudrücken, doch die schmutzige Realität des Kapitalismus wird bereits deutlich. Die Romantik (Blake, Goethe, Goya, Puschkin, Shelley, Turner) spiegelt die widersprüchliche Natur dieser Periode wider, indem sie feudale und aristokratische Werte in der Kunst ablehnt, aber auch leidenschaftlich gegen die brutalen Auswirkungen der kapitalistischen Industrialisierung auf die Kunst und das Individuum protestiert.
Entgegen der „Rationalität“ der neuen ausbeutenden Klasse streitet die Romantik für die Macht der subjektiven Erfahrung, Vorstellungskraft und die Erhabenheit der Natur, indem sie ihre Inspirationen aus dem Mittelalter, der Mythologie und der volkstümlichen Kunst bezieht. Politisch nimmt sie häufig eine reaktionäre, rückwärtsgewandte Form an, führt aber auch zu eindeutig revolutionären Tendenzen, die eine internationalistische, kommunistische Vision zum Ausdruck bringen (Heine, Blake, Byron, Shelley).( 1) Die profundesten unter den dichterischen Einblicken dieser Tendenz nehmen nicht nur die späteren künstlerischen Ideen des Expressionismus und Surrealismus, sondern auch die theoretischen Entwicklungen des Marxismus und der Psychoanalyse vorweg.
Sobald sie an die Macht gekommen und das Proletariat auf der historischen Bühne erschienen ist, kehrt die Bourgeoisie ihren fortschrittlichen Werten den Rücken zu und begräbt die ganze Idee der Revolution, stellt diese doch eine tödliche Gefahr für ihre Klassenherrschaft dar. Von da an treten die Versuche der Kunst, die Wirklichkeit zu verstehen und die Interessen der Humanität auszudrücken, unvermeidlich mit der kapitalistischen Ideologie in Konflikt.
3. Die Geburt der modernen bürgerlichen Kunst
Das bestimmende Kennzeichen der modernen bürgerlichen Kunst besteht darin, dass sie just zu dem Zeitpunkt erscheint, als die Bedingungen für die Weiterentwicklung des Kapitalismus ihren Zenit erreicht haben.
Der entscheidende Triumph des Industriekapitalismus Mitte des 19. Jahrhunderts in den am meisten fortgeschrittenen Ländern Europas und Amerikas spiegelt sich im Wachstum rationalistischer, positivistischer und materialistischer Ideologien in den Wissenschaften und in der Philosophie sowie in den realistischen oder naturalistischen Annäherungen der Künste wider. Marx und Engels betrachten den Realismus in der Literatur (Flaubert, Balzac, Elliot) als die höchste Errungenschaft in der Weltkunst. Der Realismus in den visuellen Künsten (Courbet, Millet, Degas) ist die Reaktion sowohl auf die klassische Kunst als auch auf den Emotionalismus und Subjektivismus der Romantik und bekräftigt an Stelle dessen die Ziele der Wahrhaftigkeit und Präzision sowie der Schilderungen des Alltags, einschließlich der bis dahin ignorierten rauen Realität des ArbeiterInnenlebens. Für die Bourgeoisie ist jede Kunst, die die hässliche Wirklichkeit des Lebens im Kapitalismus akkurat schildert, per se revolutionär und somit abzulehnen.
Diese Periode erblickt auch den Aufschwung der Arbeiterbewegung, und es ist daher nicht überraschend, dass der Realismus einer revolutionären Tendenz zum Leben verhilft, die sich ausdrücklich mit der Arbeiterklasse und dem Kampf für den Sozialismus identifiziert. Courbet, Anführer der realistischen Bewegung in Frankreich, bekräftigte: „Ich bin nicht nur ein Sozialist, sondern auch ein Demokrat und Republikaner, mit einem Wort: ein Anhänger der Revolution und vor allem ein Realist, das heißt, ein aufrichtiger Freund der wirklichen Wahrheit.“ (2)
Der Impressionismus (Picasso, Manet, Degas, Cézanne, Monet) ist die künstlerische Antwort auf das Wachstum der industriellen und urbanen Gesellschaft, auf neue technologische Entwicklungen und wissenschaftliche Entdeckungen (Photographie und Optiken), auf die Globalisierung des Handels (ersichtlich beispielsweise im Einfluss japanischer Drucke) und auf das Wachstum der Mittelschichten als eine Klientel für die neuen Künste. Er stützt sich auf die Hingabe zur Wahrheit und Akkuratesse, aber konzentriert sich auf die subjektive Wahrnehmung von Bewegung und Licht: „Während der alte akademische Stil sagte: ‚Hier sind die Regeln (oder Bilder), denen zufolge die Natur beschrieben werden muss‘, und der Naturalismus sagte: ‚Hier ist die Natur‘, sagte der Impressionismus: ‚So sehe ich die Natur‘.“ (3). Impressionistische Ideen und Einflüsse befinden sich auch in der Musik (Debussy, Ravel) und in der Literatur (Lawrence, Conrad).
Als echte moderne bürgerliche Kunstbewegung ist der Impressionismus eine widersprüchliche Bewegung. Während die klassische Kunst der Renaissance einen grundlegenden Sinn für die Einheit ausdrückt, der aus der Vision und dem Selbstvertrauen der revolutionären Bourgeoisie herrührt, reflektiert der Impressionismus den Triumph des Kapitalismus und die Atomisierung des Einzelnen in der Industriegesellschaft. Indem er sich auf subjektive und Sinneswahrnehmungen stützt, repräsentiert er die Realität entsprechend als ein Flickwerk:
„Und so war der Impressionismus in einem gewissen Sinne ein Symptom des Niedergangs, der Fragmentierung und Entmenschlichung der Welt. Doch gleichzeitig war er in der langen ‚Schonzeit‘ des bürgerlichen Kapitalismus (…) ein glorreicher Gipfel der bürgerlichen Kunst, ein goldener Herbst, eine späte Ernte, eine enorme Bereicherung der dem Künstler zur Verfügung stehenden Ausdrucksmittel.“ (4)
4. Die Kunst am Ende des kapitalistischen Aufstiegs
Der Zeitraum zwischen ca. 1890 und 1914 – die so genannte Belle Epoque bzw. das Goldene Zeitalter – erlebt den Kapitalismus am optimistischsten und technologisch am weitesten fortgeschritten, besonders mit einem mächtigen Wirtschaftswachstum, das fruchtbare Bedingungen für künstlerische und wissenschaftliche Entwicklungen schafft (Freuds Theorie des Unbewussten, die Quanten- und Relativitätstheorie). Doch unter der Oberfläche der Gesellschaft machen sich nagende Zweifel und Ungewissheiten breit, kommt es zum Anstieg des Militarismus und der imperialistischen Spannungen, zu den wachsenden staatlicher Eingriffen in die Gesellschaft und zu massiven Arbeiterkämpfen – alles Anzeichen einer wachsenden Krise im Herzen des Kapitalismus.
Die künstlerischen Bewegungen, die in dieser Periode entstehen (Kubismus, Expressionismus, Symbolismus) spiegeln diese Widersprüche notgedrungen wider, indem sie sowohl ein letztes Aufblühen fortschrittlicher bürgerlicher Kunst als auch die ersten Symptome ihres Endes zum Ausdruck bringen. Der Kubismus (Picasso, Braque), der den Einfluss der jüngsten wissenschaftlichen und philosophischen Theorien zeigt, wendet sich ab von Schilderung von Objekten aus einer Perspektive, analysiert die Objekte, zerlegt sie und setzt sie aus mannigfaltigen Perspektiven neu zusammen. Der Expressionismus lehnt den Realismus gänzlich ab, indem er subjektive Bedeutungen oder emotionale Erfahrungen statt der physischen Realität schildert. Er übt auch auf die Literatur (Kafka) und Musik (Schönberg, Webern, Berg) großen Einfluss aus, wo er die traditionelle Tonalität zugunsten einer A-Tonalität und Dissonanz aufgibt. Der Symbolismus (Baudelaire, Verlaine) ist eine poetische Reaktion gegen Realismus und Naturalismus zugunsten des Mystizismus und der Vorstellungskraft, die später als „träumerischer Rückzug in absterbende Gebiete“ (5) beschrieben wurde.
Innerhalb der modernen bürgerlichen Kunst gibt es eine radikale Tendenz, die sich selbst als Avantgarde einer neuen fortschrittlichen Gesellschaft mit neuen künstlerischen Werten betrachtet; diese Tendenz argumentiert, dass Kunst eine große Rolle bei der Modernisierung der kapitalistischen Gesellschaft spielt. Diese „modernistische“ Avantgarde erscheint ausgerechnet in dem Moment, als die Möglichkeiten einer Reformierung des Kapitalismus nahezu ausgeschöpft sind. Der Futurismus (Marinetti, Majakowski, Malewitsch), dessen Einfluss sich in der Malerei, Poesie, Architektur und Musik im frühen 20. Jahrhundert niederschlägt, besonders in Italien und Russland, glorifiziert Themen und Symbole des kapitalistischen Fortschritts wie die Jugend, die Geschwindigkeit, den Dynamismus und die Macht. Doch andere modernistische Elemente, besonders in Deutschland, verhalten sich kritischer gegenüber der kapitalistischen „Modernität“ und artikulieren die Entfremdung des Lebens in der bürgerlichen Gesellschaft (Munchs „Der Schrei“).
5. Der Tod der modernen bürgerlichen Kunst
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs spaltet diese modernistische Avantgarde in einerseits die Glorifizierer des kapitalistischen Fortschritts, wie Marinetti und die italienischen Futuristen, die begeistert Partei ergreifen für die Barbarei (und später für den Faschismus), und andererseits in radikalere Tendenzen wie die russischen Futuristen und die deutschen Expressionisten, die gegen den Krieg sind und auf eine mehr oder weniger konfuse, bruchstückhafte Weise beginnen, sich auf die proletarische Bewegung zu beziehen.
Die erste spezifisch künstlerische Reaktion auf den Krieg ist Dada. Als internationale Antikriegs- und antikapitalistische Bewegung erblickt Dada im Gemetzel auf dem Schlachtfeld einen Beweis für den Bankrott aller bürgerlichen Kultur. Sein „Programm“ steht dem Anarchismus nahe: die Zertrümmerung der Kultur und die Abschaffung der Kunst; und seine Praxis begrüßt das Chaos und die Irrationalität (Gedichte, die sich aus wahllos zusammengewürfelten Worten aus Zeitungsausschnitten, etc. zusammensetzen). Die Berliner Dadaisten (Heartfield, Grosz, Dix, Ernst), die den proletarischen Kämpfen gegen den Krieg näher stehen, nehmen eher ausdrücklich kommunistische Positionen ein, ja bilden ihre eigene politische Partei und unterstützen aktiv die deutsche Revolution. (6)
Die russische Revolution im Oktober 1917 war der Höhepunkt der revolutionären Welle nach dem Krieg und der Versuche der modernistischen Avantgarde, eine befreiende Kunst zu kreieren. Für eine kurze Zeit im Anschluss an die Machtergreifung durch die Sowjets gibt es eine riesige Flut von künstlerischen Experimenten und Aktivitäten, von denen sich viele ausdrücklich mit der Revolution identifizieren. Unter dem Schutz des jungen Sowjetstaates und mit kritischer Unterstützung durch die bolschewistische Partei geben Bereiche der russischen Avantgarde (Futuristen, Produktivisten, Konstruktivisten), angeregt von Majakowskis Erklärung „Straßen sind unsere Pinsel, die Plätze unsere Paletten" die „reine“ Kunst zugunsten der Industrieproduktion auf, begrüßen Architektur, Industriedesign, Kino, Werbung, Möbel, Verpackung und Bekleidung, mit dem erklärten Ziel, Kunst zu benutzen, um den Alltag umzuwandeln. Es gibt hitzige Debatten über Kultur und die Zukunft der Kunst. Die einflussreiche Proletkult-Bewegung neigt dazu, alle frühere Kultur abzulehnen, und will eine neue revolutionäre, proletarische Ästhetik schaffen, wohingegen andere wie Trotzki das gesamte Konzept der proletarischen Kultur ablehnen, jedoch das Aufkommen einer neuen revolutionären Kunst unterstützen, die sie unmittelbar erwarten. (7)
Im Kontext der revolutionären Welle, die den Kapitalismus in den Jahren 1917 bis 1923 bis in seine Grundfeste erschütterte, erscheint dies nicht unrealistisch zu sein. Das Urteil, das Dada über die gesamte bürgerliche Kultur und Kunst fällt, scheint nun vom Weltproletariat in Deutschland, Großbritannien, Amerika, etc. ausgeführt zu werden….
Doch mit der Isolation der russischen Bastion und des Scheiterns des revolutionären Ansturms des Proletariats in Europa wird der anfängliche Rückhalt des modernistischen Experimentierens durch die Bolschewiki durch die Unterdrückung des Dissens‘ und durch eine wachsende staatliche Kontrolle ersetzt, als die stalinistische Konterrevolution ihren Griff verstärkt. Auf internationaler Ebene endet der Modernismus letztendlich damit, dass er von den reaktionären staatskapitalistischen Regimes, gleich ob stalinistisch, faschistisch (besonders in Italien) oder sozialdemokratisch, zum offiziellen Architekturstil auserwählt wird.
6. Kunst und die kapitalistische Konterrevolution
In der sich ausbreitenden bürgerlichen Konterrevolution sieht sich die russische Kunstavantgarde im Wesentlichen mit derselben Wahl konfrontiert wie die überlebende kommunistische Minderheit: entweder Unterordnung unter dem stalinistischen Totalitarismus mit seiner Durchsetzung des „sozialistischen Realismus“, Schweigen oder Exil. Mit dem Aufstieg des Faschismus ist auch die europäische künstlerische Avantgarde immer mehr dazu gezwungen, auszuwandern und/oder einen ausdrücklich oppositionellen politischen Standpunkt zu vertreten.
Der Surrealismus (Breton, Aragon, Ernst, Péret, Dali, Miró, Duchamp) entstand aus Dada und wurde erst zu einer eigenen Bewegung, als die praktische Möglichkeit für eine Revolution bereits am Zurückweichen war. Er ist eine ausdrücklich revolutionäre Kunstrichtung, die sich eng mit der politischen Opposition gegen den Stalinismus verband. (8) Der Surrealismus bezieht seine Ideen aus der Freudschen Psychoanalyse wie aus dem Marxismus und betont den Nutzen der freien Assoziation, der Traumanalyse, der Gegenüberstellung und des Automatismus, um das Unbewusste zu befreien. Seine Versuche, eine permanente revolutionäre künstlerische Praxis innerhalb des Kapitalismus aufrechtzuerhalten, und dies in einer Zeit tiefer Niederlagen, macht ihn anfällig gegenüber Zerfall und schließlicher Vereinnahmung, doch üben surrealistische Ideen einen großen Einfluss auf die visuellen Künste, die Literatur, den Film und die Musik wie auch auf die philosophischen, politischen und gesellschaftlichen Theorien aus.
Mit dem Triumph der bürgerlichen Konterrevolution in den 1930er Jahren – die „Mitternacht des Jahrhunderts“ (Victor Serge) – erleben wir ein volles Aufblühen all der klassischen Symptome der Dekadenz in der kapitalistischen Kultur:
„Die Ideologie zerfällt, die alten moralischen Werte brechen auseinander, die künstlerische Schöpferkraft stagniert oder sie nimmt stagnierende Formen an, Obskurantismus und philosophischer Pessimismus blühen auf (…) Was den Bereich der Kunst angeht, so hat sich die Dekadenz hier schon lange gewalttätig ausgedrückt (…) Wie in anderen dekadenten Perioden wiederholt die Kunst, wenn sie nicht stagniert, ständig alte Formen, und sie erhebt den Anspruch, eine Haltung gegen das System einzunehmen, oder stellt sehr oft einen Ausdruck des Erschreckens dar.“ (9)
Unter diesen Umständen sieht sich Kunst, die „den Anspruch erhebt, Stellung gegen die herrschende Ordnung zu beziehen“, in wachsendem Maße isoliert oder wird von der einen oder anderen reaktionären politischen Fraktion zu propagandistischen Zwecken vereinnahmt (Picassos „Guernica“). Auch die Kunst, die den Schrei des Entsetzens über die kapitalistische Barbarei zum Ausdruck bringt, ist immer ohnmächtiger durch das schiere Ausmaß der Gräuel dieser Barbarei geworden: der Zweite Weltkrieg (über 60 Millionen Tote, zumeist Zivilisten, im Vergleich zu den 20 Millionen im Ersten Weltkrieg), die Todeslager der Nazis, Hiroshima und Nagasaki, Hamburg, Dresden, die Massenverbrechen des Stalinismus… Um Adorno frei zu übersetzen, ist es nach Auschwitz unmöglich, Poesie zu verfassen, ohne einen weiteren Beitrag zu einer bereits barbarischen Kultur zu leisten.
Doch die kapitalistische Dekadenz bedeutet nicht, dass die Produktivkräfte zu einem Halt gekommen sind. Um zu überleben, muss das System weiterhin versuchen, die Produktion zu revolutionieren und die Produktivität zu steigern. Stattdessen sehen wir, was Marx die „Entwicklung als Zerfall“ nannte. Auch in der Kunstsphäre sehen wir weiterhin eine Entwicklung von Kunstrichtungen, zum Teil als Antwort auf neue technologische Entwicklungen und den gesellschaftlichen Wandel. Doch dies zeichnet sich immer mehr durch ein rasendes Recyceln früherer Stilrichtungen, durch abrupte Stimmungswechsel zwischen Hoffnung und Verzweiflung, durch eine Fragmentierung, Zersplitterung und Auflösung jeder Richtung aus, noch bevor sie ihre volle Reife erreicht hat. Die menschliche Kreativität hört niemals auf zu existieren, doch sieht sie sich zunehmend erdrosselt, kanalisiert, blockiert und korrumpiert. Wir erleben noch immer künstlerische Weiterentwicklungen (Jazz) und die Einführung neuer Techniken und Stilarten, doch spiegeln diese Entwicklungen in wachsendem Maße den Zerfall einer Gesellschaft wider, die den Gang zur Exekution vermieden hat und nun nur noch überlebt, indem sie sich selbst kannibalisiert.
Dies wird durch den abstrakten Expressionismus veranschaulicht, der einflussreichsten Kunstrichtung (zumindest in der Malerei und Bildhauerei), die im „Nachkriegsboom“ auftritt. Der abstrakte Expressionismus ist zum Teil eine Reaktion auf den ausdrücklich politischen Inhalt des gesellschaftlichen Realismus der 1930er Jahre (Rivera). Beeinflusst durch den Surrealismus und der europäischen Avantgarde betont er den Ausdruck unbewusster Ideen und Emotionen durch spontane, improvisierte oder automatische Techniken, um Bilder von mannigfaltigen Abstraktionsausmaßen zu kreieren (Pollock, Rothko, Newman, Still). Beeinflusst durch das Trauma des II. Weltkriegs und der repressiven Nachkriegsatmosphäre in den USA, vermeidet er offen politische Inhalte, indem er sich der primitiven Kunst, der Mythologie und dem Mystizismus als Inspirationsquelle zuwendet. Dies und sein Streben nach reiner Abstraktion erleichtert die Promotion des abstrakten Expressionismus durch den US-Staat im Kalten Krieg als eine kulturelle Waffe gegen den „sozialistischen Realismus“ seines imperialistischen Rivalen aus Russland.
Kunst und die „Kulturindustrie“
Auch wenn die Kunst ab Mitte des 20. Jahrhunderts die klassischen Symptome der Dekadenz in allen Klassengesellschaften abbildet, so gibt es dennoch auch besondere Entwicklungen, insbesondere während des „Wirtschaftswunders“ nach dem II. Weltkrieg, die nicht allein die Art und Weise umwandeln, in der Kunst in der kapitalistischen Gesellschaft produziert und verteilt wird, sondern auch, wie dies von den Massen der Arbeiterklasse „erlebt“ wird. Der sich aus diesen Entwicklungen ergebende Effekt: die Bedingungen für das Aufkommen revolutionärer Kunst werden untergraben und das Verschwinden der überlebenden künstlerischen Avantgarde beschleunigt. Viele dieser Entwicklungen sind dieselben Symptome der Dekadenz oder Versuche des Kapitalismus, die Widersprüche seiner historischen Krise zu überwinden. Sie umschließen:
Infolgedessen ist der Kapitalismus zum ersten Mal in der Geschichte in der Lage, künstlerische Waren (Musik, Filme, etc.) billig für den Konsum durch die Masse der Arbeiterklasse zu produzieren, wobei er seine ihm innewohnende Feindseligkeit gegenüber der Kunst als eine unnötige Ablenkung von seinem Streben zur Akkumulation überwindet. Dies erleichtert größtenteils die Verwendung der künstlerischer Waren für ideologische Zwecke, nicht nur um die Reproduktion der Arbeit durch die Schaffung von Mitteln für das „Freizeitvergnügen“ der ArbeiterInnen sicherzustellen, sondern auch um jeglichen künstlerischen Ausdruck des Dissenses zu vereinnahmen.
Als das Proletariat in den Kämpfen vom Mai 68 auf die Bühne der Geschichte zurückkehrt, erleben wir durchaus das Auftreten radikaler Kunstrichtungen (Arte Povera), jedoch nicht in einem Umfang, den man erwarten konnte. Stattdessen werden die radikalsten Nachfahren der europäischen Avantgarde, die Situationisten, festgemacht an ihrer Kritik der „Gesellschaft des Spektakels“, d.h. der bürokratischen, kapitalistischen Umwandlung der Kultur in Waren und der Verwendung der Massenmedien durch den Kapitalismus, um subversive Ideen zu vereinnahmen , und an ihren Vorschlägen zur praktischen Aktion für „eine revolutionäre Neuordnung des Lebens, der Politik und der Kunst“. Die Situationisten übertreiben die Macht dieses „Spektakels“ genau zu dem Zeitpunkt, als die historische Krise des Kapitalismus zurückkehrt, doch sind sie näher an der Realität, wenn sie die Unfähigkeit selbst der radikalsten künstlerischen Aktivitäten deutlich machen, ihre Vereinnahmung zu verhindern, es sei denn, sie sind ausschließlich politisch, das heißt in dieser Periode: revolutionär.
7. Kunst und Zerfall
Mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine finale Phase, jene des Zerfalls, besteht die ganz reelle Möglichkeit der Zerstörung sämtlicher menschlicher Kultur, zusammen mit der Kunst, die in Trotzkis Worten unvermeidlich dahin rotten werde „wie griechische Kunst unter den Ruinen einer auf der Sklaverei gegründeten Kultur dahin rottete“. (10) Ab den 1970er Jahren ist die moderne Kunst Teil der offiziellen staatskapitalistischen Kultur in Amerika und Europa, unterstützt und subventioniert von Korporationen und Regierungsagenturen sowie sicher aufgebahrt in den Museen. Trotz fortwährender Wellen von ArbeiterInnenkämpfen bis hin zum Kollaps des russischen Blocks 1989-91 erleben wir einen weiteren Verfall der Kunst, beschleunigt durch den falschen Wirtschaftsboom in den 1980er Jahren und genährt von einer Explosion der Verschuldung, die zu einem Goldrausch von spekulativen Investitionen in die Kunst als ungemünztes Gold führt. Die Exzesse auf dem Markt beenden, was die Konterrevolution, der Nachkriegsboom und der Aufstieg der „Kulturindustrie“ begonnen hatten.
Das Erscheinen des „Post-Modernismus“ besonders ab den 1980er Jahren ist in gewissem Sinn lediglich die letzte unvermeidliche Anerkennung dieses sich lange hinziehenden Todes des Modernismus. Der „Post-Modernismus“ hat seine Ursprünge in den ausgedörrten Regionen der linksbürgerlichen Intelligentsia (Derrida et all) als ein „demokratisierendes Projekt“. Er theoretisiert die Aufgabe nicht nur jeglicher weiteren Avantgarderolle der Kunst, sondern auch jeglichen Konzepts für eine nach vorn gerichtete Bewegung in der Geschichte. Er passt somit perfekt zu all den bürgerlichen ideologischen Kampagnen in den 1990er Jahren über das „Ende des Kommunismus“ und das „Ende der Geschichte“ und fügt dem Ganzen lediglich die allgemeine Demoralisierung und Verzweiflung hinzu.
Noch vor dem Eintritt des dekadenten Kapitalismus in seine letzte Phase, jene des Zerfalls, können wir daher auf den fortgeschrittenen Zerfall der Kunst hinweisen, d.h. „die Leere und Käuflichkeit sämtlicher künstlerischer Produktion: Literatur, Musik, Malerei, Architektur sind außerstande, anderes auszudrücken als Angst, Verzweiflung, den Zusammenbruch allen kohärenten Denkens, die Leere“ (11). Tatsächlich geht diese Schilderung nicht weit genug. Wir können dem noch hinzufügen, dass ein Trend in der Kunst darin besteht, sich selbst zu zerstören, um – in den Worten des deutschen Künstlers Anselm Kiefer – zur „Anti-Kunst“ zu werden. Im zerfallenden Kapitalismus ist selbst Anti-Kunst… Kunst: „Die Kunst hat etwas, was ihre eigenen Zelle zerstört. Damien Hirst ist ein großartiger Anti-Künstler. Um zu Sotheby’s zu gehen und sein eigenes Werk direkt zu verkaufen heißt, Kunst zu zerstören. Doch indem er dies auf solch übertriebene Weise tut, wird es zur Kunst (…) die Tatsache, dass dies zwei Tage vor dem Crash (von 2008) geschah, macht die Sache noch besser“ (12).
Neben den zynischen Manipulationen von „Künstler/Unternehmer“ wie Hirst, dessen Schriften mittlerweile als ein weiteres Symptom der Spekulationsblase des Kapitalismus vor 2007 erscheinen, gibt es eine grundsätzlichere Wahrheit. Der expressionistische Dichter Rainer Maria Rilke (1875-1926) vergleicht den Künstler mit einem „ein Tänzer, dessen Bewegung sich bricht an dem Zwang seiner Zelle. Was in seinen Schritten und dem beschrankten Schwung seiner Arme nicht Raum hat, kommt in der Ermattung von seinen Lippen, oder er muss die noch ungelebten Linien seines Leibes mit wunden Fingern in die Wände ritzen.“ (13). Wenn der Künstler in der Tat ein Gefangener in der Zelle ist, dann sind im zerfallenden Kapitalismus die besten Künstler mehr und mehr dazu gezwungen, wieder auf das Äquivalent eines „schmutzigen Protests“ unter den unerträglichen Bedingungen des kapitalistischen Lebens und auf die Unmöglichkeit eines authentischen künstlerischen Ausdrucks zurückzufallen. Jedoch ist selbst das Beschmieren der Zellenwände mit dem eigenen Kot, so scheint’s, nicht mehr genug, um die Verdinglichung und Verwertung zu verhindern. 1961 produzierte der italienische Künstler ein Werk, das aus 90 Dosen eigener Scheiße bestand. 2007 verkaufte Sotheby’s eine davon für 124.000 Euros. MH 6.12.2011
(1) Siehe Heinrich Heine: Die Revolution und das Fest der Nachtigallen, IKSonline. (https://en [67]. Internationalism.org/icconline/2007/march/heine) (1)
(2) Courbet, ein Unterstützer Proudhons, wurde wegen seiner aktiven Rolle in der Pariser Kommune eingekerkert.
(3) Culture and Revolution in the Thought of Leon Trotsky, Revolutionary History, Bd. 7, Nr. 2, Porcupine Press. London 1999, S. 102, eigene Übersetzung (2)
(4) Ernst Fischer, Von der Notwendigkeit der Kunst (eigene Übersetzung). Der Impressionist Cézanne war sich dieses Rückschritts sehr wohl bewusst: Im Werk der alten Meister sei es, sagt er, als „könne man die ganze Melodie im Kopf hören, einerlei, welches Detail man vergönnt ist zu studieren. Man kann alles aus dem Ganzen reißen (…) Sie malten kein Flickwerk, wie wir es taten…“ (E. Fischer).
(5) Edmund Wilson, Axels’Castle (3), 1931. Die Symbolisten waren damals auch als die „Dekadenten“ bekannt.
(6) Anfang 1919 gebildet, rief der „Zentralrat von Dada (4) für die Weltrevolution“ zu Folgendem auf: „die internationale revolutionäre Gewerkschaft aller kreativen und intellektuellen Männer und Frauen auf der Grundlage des radikalen Kommunismus (…) Die sofortige Enteignung des Eigentums (…) und die kommunale Ernährung Aller (…) Einführung des simultanen Gedichts als kommunistisches Staatsgebet“ (Wikipedia).
(7) Trotzki, Parteipolitik in der Kunst. 1923. Mehr über die Proletkult-Bewegung und die Debatten innerhalb der bolschewistischen Partei über die Kultur siehe die Reihe „Der Kommunismus ist nicht nur eine schöne Idee“ in der Internationalen Revue.
(8) Obgleich einige Surrealisten wie Aragon zu Apologeten des Stalinismus wurden, während Dali den Faschismus unterstützte. Führende Surrealisten nahmen Kontakt zu Trotzki auf, und die Bewegung verband sich eng mit der Linksopposition, doch der führende surrealistische Dichter Benjamin Péret brach 1948 mit der trotzkistischen IV. Internationalen wegen deren reaktionären politischen Positionen und arbeitete eng mit der Munis-Gruppe zusammen.
(9) Die Dekadenz des Kapitalismus, IKS-Broschüre.
(10) Trotzki, Kunst und Politik in unserer Zeit, 1938, in Kunst und Revolution, in: Lev Trockij: Literaturtheorie und Literaturkritik, München 1973, S.149. Der Text über Rivera befindet sich in Fußnote 10 auf Seite 182f.
(11) „Thesen über den Zerfall, der letzten Phase in der Dekadenz des Kapitalismus“, Internationale Revue, Nr. 107, 2001 (engl., franz. Und span. Ausgabe). Man könnte dem die ganze Krise des Bildungssystems und ihre Auswirkungen auf traditionelle Kunstfertigkeiten, -kenntnisse, –techniken, etc. hinzufügen.
(12) The Guardian, 9.12.2011.
(13) Zitiert aus: Norman O. Brown, Life against death. The psychoanalytical meaning of history, S. 66, 1959, Rilke “Über Kunst”, https://www.rilke.de/phpBB3/viewtopic.php?f=14&t=4007&sid=36bfec8dfa5043... [68]
Die Bergarbeiter in Asturien verkörpern eine stolze Tradition innerhalb der Arbeiterbewegung, so beim Aufstand von 1934, und es ist nicht verwunderlich, dass sie am 31. Mai entschlossen in den Streik traten. Ihre Courage ist unübersehbar in zahlreichen Straßenblockaden, bei denen sie auch mit improvisierten Waffen die anrückenden Polizeieinheiten fernhielten wie auf der Nationalstraße N-360, oder als sie auf dem Weg nach Madrid mit Polizeigewalt, Verhaftungen und Gummigeschossen konfrontiert waren. Dies war Anstoß für die Beiträge auf den Internetforen libcom (https://libcom.org/news/coal-mines-ignite-asturias-10062012?page=1 [73]https://libcom.org/article/coal-mines-ignite-asturias-updates?page=1 [74]) und der IKT (Internationale Kommunistische Tendenz) (https://www.leftcom.org/en/articles/2012-06-19/the-struggle-of-the-asturian-miners [75]).
Alles erinnert stark an den Bergarbeiterstreik von 1984/85 in Großbritannien, als dieser kämpferische Sektor, der den Respekt der ganzen Arbeiterklasse genoss und in vielen Belangen deren Hoffnungen ausdrückte, in einen beherzten und bitteren Streik trat und dabei zahlreiche Konfrontationen mit der Polizei hatte, als er mit jeder Arten der Repression konfrontiert war. Wie heute in Spanien waren die Bergarbeiter mit geplanten Minenschließungen in einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit konfrontiert. Der Kampf endete in einer Niederlage, die zwei Jahrzehnte lang schwer auf den Schultern der britischen Arbeiterklasse lastete.
In der Diskussion auf dem Internetforum libcom warf Fingers Malone die Schwierigkeiten der spanischen Bergarbeiter angesichts des Wesens des Angriffs auf, in einem Industriesektor, der sowieso abgebaut wird: „nur der Streik an sich führt zu nichts“. Er sieht dies als Grund für die Errichtung der Straßenblockaden und auch die verzweifelten unterirdischen Minenbesetzungen, die unter ungesündesten und unangenehmsten Bedingungen stattfinden. Hilft dies für einen wirkungsvollen Kampf? In unseren Augen liegt das Problem nicht darin, dass zu streiken allein nicht genügt, sondern dass allein zu kämpfen, isoliert von anderen Sektoren der Arbeiterklasse, die Bergarbeiter angesichts der Staatsmacht in eine Position der Schwäche versetzt und der Kampf meist in einer Niederlage endet. Der Generalstreik vom 18. Juni, der von den Gewerkschaften CCOO und UGT und von den linken Parteien PCE (Stalinisten) und PSOE (Sozialdemokraten) organisiert wurde, durchbrach ihre Isolation keineswegs, sondern begrenzte den Kampf auf die Gebiete und Branchen, die von den Subventionskürzungen betroffen sind. Ihre Forderung nach einem „Kohleplan“ für Spanien, der an den Slogan “Kohle statt Almosen” der Bergarbeitergewerkschaft NUM in Großbritannien in den 80er Jahren erinnert, verschärfte die Isolation des Streiks noch mehr.
In diesem Sinne verkörpert der Slogan „Wir sind nicht empört, sondern angepisst“ die Grenzen des Kampfes mit all seinen Illusionen in ihre Stärke als Bergarbeiter, die fähig sind, sich gegen die Polizei durchzusetzen. In gewisser Weise betrachten sich die Bergarbeiter als Ausdruck eines radikaleren Standpunktes als die Indignados, deren Kampf eine der Schlüsselauseinandersetzungen des letzten Jahres war, dies nicht nur in Spanien sondern weltweit. Trotz all ihrer starken Klassenidentität ist gerade die Isolierung der Bergarbeiter in Asturien eine entscheidende Schwäche, welche die Kämpfe insgesamt zurückwerfen kann.
Auch wenn die herrschende Klasse ihre liebe Mühe hat, die Ökonomie im Griff zu behalten, so sollten wir nie ihre Erfahrung unterschätzen, die sie in der Konfrontation mit der Arbeiterklasse hat. Dies zeigten eben gerade die Isolierung der Bergarbeiter und der gewerkschaftlich organisierte Generalstreik vom 29. März auf, dem unmittelbar die Ankündigung von Sparmaßnahmen in der Höhe von 27 Milliarden Euros folgte.
Das „Zelebrieren“ des Jahrestages der 15M-Bewegung durch die herrschende Klasse ist ein weiteres Beispiel einer Parodie mit dem Zweck, die ursprünglichen Ereignisse zu verwischen oder mindestens die Erinnerung an die Ursprünge der Bewegung vollständig zu verzerren – gerade dann, wenn wir eigentlich darüber nachdenken, diskutieren und uns der Lehren daraus bewusst werden sollten. Im Mai 2012 wurde zum Jahrestag von einem Kartell linker und gewerkschaftlicher Organisationen mobilisiert, und nicht von den Vollversammlungen, die es leider nicht mehr gibt, und es wurde nun prompt die demokratische und reformistische Sichtweise des „Bürgers“ in den Vordergrund gestellt als Gegenpol zu derjenigen der Arbeiterklasse.
Die falschen politischen Alternativen, die von der rechten Regierung des Partido Popular (PP) auf der einen Seite und den Linken auf der anderen Seite angeboten werden, ergänzen sich sehr gut. Erstere hatten eine aggressive Repression durchgezogen und beschuldigten die Indignados, ein „Unterseeboot“ der sozialdemokratischen Partei PSOE zu sein. Während die PSOE, die ein Jahr zuvor die 15M-Bewegung noch als kleinbürgerlich, als hoffnungslose Leute, als Hund auf den Hinterpfoten dargestellt hatte, sie jetzt ehrte als ein „Triumpf“ mit großer Zukunft und mit einem Gewicht innerhalb der Gesellschaft. Die herrschende Klasse verunglimpft eine wirkliche soziale Bewegung immer, doch sie liebt es auch, die Erinnerungen an deren Mythos zu pflegen, wenn sie sie damit in eine leere Hülle verwandeln kann.
Die Jahrestags-Demonstrationen 2012 waren massiv, doch bei weitem nicht so wie beim Höhepunkt der Bewegung im Juni, Juli und Oktober 2011. Vollversammlungen fanden in Madrid, Barcelona, Sevilla, Valencia, Alicante und anderswo statt. Doch auch wenn die Vollversammlungen am Samstag mit Interesse und Neugier besucht waren, bröckelten sie danach schnell ab und es gab keinen Elan in der Bewegung, sich gegen die Kontrolle durch linke Organisationen zu wehren. Die Leute zogen es vor, nach Hause zu gehen. Dennoch gab es Zeichen des Lebens der Arbeiterklasse: die massive Beteiligung von jungen Leuten, eine gesunde und fröhliche Atmosphäre und auch gute Beiträge in den Diskussionen. In Madrid gab es eine gute Diskussion über Fragen des Gesundheitswesens; es waren Stimmen zu hören, die wir selber als Ausdruck des proletarischen Flügels der Bewegung sehen, auch wenn sie nicht so selbstbewusst auftraten wie im letzten Jahr. Trotz alledem konnte die Mobilisierung die Fesseln, die ihnen die herrschende Klasse angelegt hatte, nicht sprengen, und sie blieb mehr eine Karikatur der M15-Bewegung, bei der die Luft nach einem Tag des Wochenendes draußen war und wieder der Alltag einkehrte.
Die sozialen Bewegungen, die 2011 stattgefunden haben, waren für die Arbeiterklasse eine wichtige Erfahrung – mit ihrer internationalen Ausbreitung, der Besitznahme der Straßen und Plätze, den Versammlungen im Zentrum der Bewegung, wo lebendige Debatten geführt wurden (vgl. 2011: Von der Empörung zur Hoffnung in Weltrevolution Nr. 171). In Spanien gab es massive Mobilisierungen im Bildungswesen in Madrid und Barcelona, im Gesundheitswesen in Barcelona wie auch unter der Jugend in Valencia. Der Gewerkschaftsstreik vom 29. März und der Bergarbeiterstreik sind auch wichtige Erfahrungen, über die wir nachdenken sollten. (Vgl. die Artikel dazu auf unserer spanisch- oder englischsprachigen Webseite, z.B. General strike in Spain: radical minorities call for independant workers‘ action in World Revolution Nr. 353)
Unsere Genoss_innen in Spanien haben festgestellt, dass nach all diesen Erfahrungen in der Bewegung ein Gefühl der Prüfung aufgekommen ist – Prüfung ihrer Schwächen und der Schwierigkeit, einen Kampf zu entfalten, welcher der Ernsthaftigkeit der Lage und der Stärke der Angriffe entspricht. Dieser Prozess der Hinterfragung ist absolut wesentlich, ein lebendiger Beitrag für die Entwicklung eines Verständnisses in der Arbeiterklasse, das den Boden vorbereitet für eine Antwort, die einerseits von einer breiteren Bewegung kommen und andererseits tiefer gehen wird bei der Infragestellung des Kapitalismus insgesamt.
Die Erkenntnis, dass der Kapitalismus ein bankrottes System ist, greift langsam um sich; dass es keine Zukunft hat, dass die herrschende Klasse nach fünf Jahren Krise keine Antwort hat und dass das System ausgewechselt werden muss. So ergriff beispielsweise in einer Versammlung in Valencia eine Frau das Wort und unterstützte einen Beitrag der IKS, der argumentiert hatte, in der 15M-Bewegung gebe es einen revolutionären und einen reformistischen Flügel und es gehe darum, jenen zu unterstützen. Aber es gibt auch eine Suche nach unmittelbaren Antworten und Aktionen, die zu unfruchtbaren oder sogar lächerlichen Vorschlägen führen können wie die Idee, wir sollten alle unsere Guthaben bei der verstaatlichen Bankia abheben, das werde „den Kapitalismus wirklich treffen“.
Während also die Frage der Notwendigkeit, den Kapitalismus zu ersetzen, aufgeworfen wird, gibt es die Schwierigkeit zu sehen, wie dies umgesetzt werden kann, und auch die Hoffnung, dass der Bankrott des Systems vielleicht doch noch abgewendet werden könne. Da haben die Linken und Linksextremen alle möglichen „Lösungen“ zur Reformierung des Kapitalismus zur Hand wie die höhere Besteuerung der Reichen, die Beseitigung der Korruption, Verstaatlichungen usw. Tatsächlich können sich die Mitte- und Rechtsparteien diesen „radikalen“ Kampagnen gegen Korruption und Steuerflucht sogar anschließen.
Wir dürfen nicht in die Falle der reformistischen Alternativen gehen. Aber ebenso wichtig ist es, dass uns der Ekel vor den Politikern insgesamt und vor den Lügen der Linken im Besonderen nicht dazu verleiten, uns in lokale Aktivitäten oder isolierte Gruppen zurück zu ziehen, die jedem Außenstehenden gegenüber misstrauisch sind. Nur wenn wir diesen Fallen aus dem Weg gehen, können wir den Prozess des Nachdenkens über die Krise des Kapitalismus, über die Notwendigkeit seiner Überwindung, über die Mittel und Wege der Arbeiterklasse zu diesem Ziel voran bringen. Diese Reflexion ist wesentlich für die Vorbereitung auf die zukünftigen Kämpfe.
Alex 30.06.12
Mit schamloser Arroganz rechtfertigen die Beschützer des Regimes die blutigen Belagerungen, behaupten, dass "bewaffnete terroristische Gruppen" diese Städte übernommen hätten. Sehr oft werfen sie die in der Öffentlichkeit bekannt gewordenen Massaker an Frauen und Kindern diesen Gruppen vor, die angeblich darauf abzielen, den Ruf der Regierung zu schädigen. Aber die ruchlosen, dreisten Verbrechen und Lügen der syrischen Regierung sind alles andere als ein Beleg dafür, dass das Regime festen Boden unter den Füßen hat. In Wirklichkeit spiegeln diese Massaker die Verzweiflung eines Regimes wider, dessen Tage gezählt sind.
In Anbetracht der sich immer mehr ausdehnenden Proteste gegen seine Herrschaft, die durch die Massenbewegungen in Nordafrika und im Nahen & Mittleren Osten angespornt wurden, versucht Assad jun. in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. 1982 wurde auch Hafez al-Assad mit einem Aufstand konfrontiert, der seinerzeit von der Muslimbruderschaft angeführt wurde und dessen Zentrum in Hama lag. Das Regime entsandte die Armee, die einen Großteil der Bevölkerung abschlachtete: Man geht von ca. 17.000-40.000 Toten aus. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, und die Assad-Dynastie konnte ihre Herrschaft über das Land während der letzten zweieinhalb Jahrzehnte mehr oder weniger unangefochten aufrechterhalten.
Doch einfach schnell zum unbarmherzigen Terror zu greifen reicht nicht mehr aus, weil sich die Geschichte seit den 1980er Jahren weiterentwickelt hat. Zunächst wurde die relative Stabilität des alten Blocksystems (in dem Syrien der konsequenteste Verbündete der UdSSR in der Region war) durch den Zusammenbruch des Ostblocks und dem darauf folgenden Auseinanderbrechen des von Washington angeführten westlichen Blocks untergraben. Diese tiefgreifende Umwälzung der internationalen Beziehungen öffnete das Tor für die Konfrontation zwischen den imperialistischen Ambitionen einer ganzen Reihe von Staaten (sowohl kleiner, mittelgroßer als auch größerer), die nun nicht mehr von den alten Supermächten beherrscht wurden. Im Mittleren Osten war der Iran schon vor dem Zusammenbruch der Blöcke ein Unruhestifter. Seine Ambitionen haben seit der Besetzung des Irak durch die von den USA angeführten Truppen mächtig Auftrieb erhalten. War der Irak unter Saddam Hussein noch ein wichtiges Gegengewicht zu Teherans Ambitionen in der Region gewesen, so wurde nach dem Sturz Saddams das Land durch innere Unruhen erschüttert. Seitdem wird auch der Irak von einer schwachen schiitischen Fraktion beherrscht, die iranischen Einflüssen sehr offen gegenübersteht. Die Türkei, einst ein zuverlässiger Verbündeter der USA, hat begonnen, ihr eigenes Spiel zu betreiben; sie tritt zunehmend als Führer des muslimischen Nahen Ostens auf. Selbst Israel macht immer mehr Unabhängigkeit gegenüber seinem Zahlmeister, den USA, geltend. Die Stimmen im israelischen Staat, die auf einen Angriff gegen die iranischen Atomkraftanlagen drängen, unterstreichen dies. Die USA schrecken jedoch vor solch einem Schritt zurück, weil er das große Risiko eines gewaltigen Chaos mit unabsehbaren Konsequenzen beinhaltet.
Auf diesem Tummelplatz nationaler Ambitionen wurde das, was einst als unbewaffneter Protest gegen das Assad-Regime begann, sehr schnell zu einem Stellvertreterkrieg zwischen regionalen und globalen imperialistischen Mächten. Der Iran, Syriens mächtigster Verbündeter in der Region, hat sich entschlossen auf die Seite des Assad-Regimes geschlagen. Es gibt Berichte von iranischen Revolutionswächtern oder anderen Handlangern der islamischen Republik, die vor Ort als Komplizen des Terrors aktiv sind, der von den Schergen Assads ausgeübt wird. Assad genießt auch weiterhin den Schutz Russlands und Chinas, die im UN-Sicherheitsrat eine Reihe von Resolutionen blockiert haben, in denen das Assad-Regime verurteilt und zu Sanktionen gegen das Land aufgerufen werden sollte. In Anbetracht der sehr starken Kritik musste Russland seine Haltung etwas abschwächen und kritisierte zum ersten Mal, wenn auch moderat die vom Assad-Regime verübten Massaker. Seine Unterstützung einer „Nicht-Interventionspolitik" läuft darauf hinaus, sicherzustellen, dass die Rebellen keine Waffen erhalten, während die regierungstreuen Kräfte weiterhin über ein gewaltiges Waffenarsenal verfügen. US-Außenministerin Hilary Clinton beschuldigte neulich Russland, Damaskus Kampfhubschrauber zu liefern, woraufhin der russische Außenminister Sergej Lawrow entgegnete, die Hubschrauber dienten lediglich "Verteidigungszwecken", und schließlich liefere der Westen über geheime Kanäle ja auch Waffen an die Rebellen.
Dies war die erste öffentliche Beschuldigung dieser Art durch die Russen, aber die Tatsache der Waffenlieferungen an die Rebellen war schon seit langem bekannt. Nachdem die Opposition zu einer größeren politischen bürgerlichen Kraft herangewachsen war und sich um die Freie Syrische Armee und den Syrischen Nationalrat zusammengeschlossen hatte, erfolgten Waffenlieferungen aus Saudi-Arabien und Qatar. Die Türkei hat in der Zwischenzeit eine Kehrtwende vollzogen und ist von der vormals freundschaftlichen Haltung gegenüber dem Assad-Regime zur Verurteilung des unmenschlichen Vorgehens des Regimes übergegangen. In der Zwischenzeit hat sie Flüchtlingen aus Syrien Unterkunft angeboten. Auf militärischer Ebene hat sie beträchtliche Kräfte an der syrischen Grenze zusammengezogen. In der gleichen Rede, in der H. Clinton Moskau die Lieferung von Kampfhubschraubern an Syrien vorwarf, meinte sie, dass der „Aufmarsch von syrischen Truppen um Aleppo, das nahe der türkischen Grenze liegt, vitale strategische oder nationale Interessen der Türkei verletzen könnte“ (The Guardian, 13. Juni 2012). Der jüngste Abschuss einer türkischen Militärmaschine, die angeblich syrischen Luftraum verletzt hatte, hat die Spannungen zwischen Ankara und Damaskus weiter verschärft.
So hat die Politik der Terrorisierung der Bevölkerung nicht die Kontrolle Assads über das Land verstärkt, sondern das Land in einen zunehmend unberechenbaren imperialistischen Konflikt getrieben, in dem auch die religiösen und ethnischen Spaltungen im Land vertieft werden. So unterstützt der Iran die dominierende alawitische Minderheit, während die Saudis versuchen, ein sunnitisches Regime durchzuboxen; gleichzeitig streifen Dschihad-Terroristen wie Hyänen durchs Land, um ihre Terrorangriffe auszuführen. Hinzu kommen Spaltungen zwischen Christen und Muslimen, Kurden und Arabern, die alle noch an Schärfe zunehmen und das Land in ein noch größeres Chaos treiben werden, wie wir es schon aus dem Irak kennen.
Je mehr Syrien zu einem gescheiterten Staat zu werden droht, je weniger die UN-Sanktionen und Beobachtermissionen sich als fähig erweisen, dem Töten ein Ende zu setzen, desto lauter werden die Rufe nach einer “humanitären” militärischen Intervention durch die westlichen Mächte werden. Schließlich, so sagen deren Befürworter, habe das doch auch in Libyen „funktioniert“, wo Frankreich und Großbritannien die Verantwortung übernommen hatten, eine Flugverbotszone durchzusetzen. Ihr militärisches Eingreifen ermöglichte letztendlich den Sieg der Rebellen und den Sturz des Gaddafi-Regimes. Doch im Falle Syriens sind Staaten wie Großbritannien, Frankreich und die USA weitaus vorsichtiger, auch wenn sie Assad immer lauter auffordern, seinen Platz zu räumen. Es gibt eine Reihe von Gründen für ihr Zögern: Die Geographie des Landes eignet sich, anders als in Libyen, das zum Großteil aus Wüste besteht, nicht für eine Kriegsführung aus der Luft. Und während Gaddafi in seinen letzten Tagen an der Macht international zunehmend isoliert wurde, pflegt Syrien viel engere Bande zu Russland, China und zum Iran. Vor dem Hintergrund, dass Israel die USA bereits dazu drängt, den Iran anzugreifen, und droht, dass es andernfalls allein vorpreschen werde, könnte eine Eskalation in Form eines Krieges in Syrien auch einen Krieg mit dem Iran auslösen, der noch viel größere Folgen nach sich ziehen würde. Zudem ist die Armee Assads viel besser ausgerüstet und gedrillt als Gaddafis Soldaten. Kurzum, die westlichen Truppen laufen Gefahr, in Syrien und seinem Umfeld in ein völlig unkontrollierbares Schlamassel zu geraten, so wie schon in Afghanistan und im Irak. Im Gegensatz zu Libyen gibt es keine Gefahr, dass wertvolle Ölreserven in die falschen Hände geraten, denn Syrien ist mit keinerlei Ölquellen gesegnet. Die sozialen und politischen Konsequenzen eines weiteren Kriegsschauplatzes mit Beteiligung der Großmächte in dieser von Kriegen übersäten Region sind - zumindest im Augenblick – nicht abzuwägen, um ein solches Risiko einzugehen. Auch die Türkei, die am stärksten durch die Folgen einer humanitären Katastrophe in Syrien betroffen wäre, geht gegenwärtig sehr vorsichtig mit ihren Karten um.
Man kann von einer Art imperialistischem Patt in Syrien sprechen, während gleichzeitig die Opfer –Tote und Verwundete - nicht mehr zu zählen sind. Das heißt nicht, dass ein westliches militärisches Eingreifen auszuschließen ist. Wie die Erfahrung im Irak und Afghanistan (und Libyen, wo die Konflikte nach einiger Zeit sich auch auf die Nachbarländer Libyens ausgedehnt haben) zeigt, sind die Folgen des militärischen Eingreifens des Westens alles andere als „humanitär“. Auch wenn es ihren imperialistischen Interessen entspricht, eine gewisse Ordnung in der Region herzustellen und die Konflikte in einigen Gebieten einzudämmen, besteht die vorherrschende Tendenz darin, dass Chaos, Gewalt und „Unordnung“ noch mehr zunehmen werden. Wie die Wirtschaftskrise, vor der der Kapitalismus wie vor einer unüberwindbaren Mauer steht, beweist die Zunahme von Kriegen und imperialistischen Spannungen auf der Welt, dass der Kapitalismus zu einer Sackgasse für die Menschheit geworden ist.
Amos 4.7.2012
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Zunächst einmal ist es das Thema der Ausstellung: die Suche nach einer neuen Bauweise, die einer klassenlosen und damit menschlicheren Gesellschaft Ausdruck verleihen soll. Kernstück bilden die beeindruckenden Fotografien von Richard Pare, der 1993-2010 auf der Suche nach Gebäuden der Avantgarde durch die ehemalige UdSSR reiste. So wird man in vier Räume zur Architektur und Malerei Avantgarde geführt. Den Kontrapunkt setzt der fünfte und letzte Raum der Ausstellung, der die neue Ära des sogenannten Sozialistischen Realismus in der Architektur unter Stalin in den 1930ern repräsentiert.
Zwischen 1905 und 1920 entstanden zahlreiche künstlerische Strömungen, die Teil einer dynamischen sozialen Bewegung waren.[2] Es waren ihrer viele und oft hatten sie sehr unterschiedliche Visionen und Ausdrucksweisen. Eines war ihnen jedoch gemeinsam: Ihre ästhetischen Aktivitäten waren eine Reaktion auf die damaligen Verhältnisse, die sie massiv kritisierten. Ihre neuen Kunstformen stellten eine Suche nach einer besseren Welt dar. Und sie waren keineswegs auf Russland beschränkt, sondern ein internationales Phänomen.
Während der Russischen Revolution positionierten sich die Bolschewiki zur Kunst, indem der Volkskommissar für Kunst, Lunascharski, folgende Grundsätze entwickelte: 1. Erhaltung der Kunstwerke der Vergangenheit (als Erbe der Menschheit), 2. Bereitstellung der Kunst für die Massen, 3. Nutzung der Kunst für die Propaganda des Kommunismus, 4. eine objektive Einstellung zu allen künstlerischen Strömungen (d.h. keine Einschränkung), 5. die Demokratisierung aller Kunstschulen.
Es brannten leidenschaftliche Debatten darüber, wie der „neue Mensch“ sich entwickeln werde, wie die revolutionäre Gesellschaft kollektiv organisiert werden müsse und schließlich, welche Rolle die Kunst hier zu spielen habe. Der Kreativität wurde freien Lauf gelassen. Allerdings sind die meisten Konzepte und Ideen bislang nicht realisiert worden, denn die siegreiche Russische Revolution 1917 bildete ja „nur“ den Auftakt der Weltrevolution und wurde sogleich von der weißen Armee bis ca. 1921 in einen blutigen Bürgerkrieg verwickelt. Es war eine Zeit des unendlichen Leids, des Hungers und des allgemeinen Mangels. Die Verwaltung des Mangels setzte sich in den Folgejahren des NEPs fort. Umso erstaunlicher ist, dass auch unter diesen Bedingungen die Avantgarde unbeirrt versuchte, Funktionalität und Schönheit für die neue Gesellschaft zu verbinden. Ein Beispiel ist der Funkturm von Schuchow, der 1919-1922 als Sendeturm für den sowjetischen Rundfunk errichtet wurde. Bereits 1919 präsentierte Schuchow einen Entwurf für einen Turm, der 350 Meter hoch sein sollte, doch der Mangel an Stahl ließ letztlich nur den Bau eines 150 Meter hohen Turms zu. Der filigrane Funkturm ist noch heute in Moskau in Betrieb und löst(e) damals wie heute Begeisterung aus. Er wurde schon bald das Symbol der Überwindung des Alten und Schweren gesehen. Vor allem aber brauchte die junge Sowjetrepublik Wohnraum, Industrieanlagen, Arbeiterclubs und Großküchen. In der Ausstellung wird der von Ginsburg und Milinis entworfene und 1930 in Moskau gebaute Narkomin-Wohnblock präsentiert. Er war einer der experimentellsten Projekte dieser Ära. Neben Wohnungen und kollektiven Wohneinheiten umfasste der Gebäudekomplex eine Mensa, einen Kindergarten, einen Ruheraum, einen Dachgarten sowie eine Sporthalle und eine Waschküche.
Tragisch aber auch bezeichnend ist die Tatsache, dass sich diese experimentelle Phase in der sowjetischen Architektur letztlich nur so lange hielt, wie die Chance oder zumindest die Hoffnung auf eine weltweite Ausbreitung der Revolution bestand. Mit der Machtübernahme Stalins und der im Gegensatz dazu stehenden Doktrin des „nationalen Sozialismus“ (Sozialismus in einem Land), die ab den 1930ern mit aller Gewalt und Repression durchgesetzt wurde, bekamen auch die avantgardistischen Architekten die Repression zu spüren. So erklärt der Fotograf Richard Pare in einem Interview: „Das Regime wurde immer repressiver, es war unmöglich, von der stalinistischen Norm abzuweichen. Man spürt direkt, wie etwa ab 1932 der Optimismus in den Arbeiten der Architekten verloren geht. Danach wurden die vom stalinistischen Regime immer stärker bevormundet und gegängelt.“[3] Dies wird z.B. an dem Architekten Konstantin Melnikows deutlich– an seinem 1925 Aufsehen erregenden sowjetischen Pavillon in der Pariser Kunstgewerbeausstellung, seinem Entwurf für den Sarkophag Lenins und an dem Gosplan-Parkhaus von 1936. Der Architekt, der die Oktoberrevolution 1917 noch als Arbeiter in der AMO-Fabrik in Moskau erlebte, war einer der wichtigsten Vertreter der Avantgarde. Als Anerkennung erhielt Melnikow sogar ein Grundstück, um sich ein Heim darauf zu errichten. Ein Kleinod des Lichtes, das übersät ist mit sechseckigen Fenstern, die flexibel zu handhaben sind. Wenn man die Räume umgestaltet, kann man problemlos die Fenster mit Backsteinziegeln verschließen oder wieder freilegen – dies vermittelt ein Gefühl von Dynamik, Flexibilität und organischem Leben. Der Bau passt sich stets den Bedürfnissen des Lebens an. Doch zur Zeit der stalinistischen Säuberungen Mitte der 30er Jahre fiel Melnikow in Ungnade; zwar blieb er am Leben, aber er musste seine Lehrtätigkeit aufgeben und erhielt keine Bauaufträge mehr. Er zog sich enttäuscht zurück.
An diesem abrupten Bruch in Melnikows Leben zeigt sich, dass der Wind sich nun endgültig gedreht hatte: von der Hoffnung auf das Ausbreiten der internationalen Revolution auf den Schrecken der stalinistischen Konterrevolution. Stalin hatte seine Macht gefestigt. Nun hatte die Architektur einem anderem Zweck zu dienen: weg mit dem Experimentellen und Modernistischen. Es sollten staatstragende Bauten errichtet werden. Sie sollten den „sozialistischen Realismus“ Ausdruck verleihen, der am Klassizismus angelehnt war. Es sollten protzige, überdimensionierte Monumentalbauten sein, die die allumfassende Macht des stalinistischen Staatsapparates symbolisieren sollten. Dieser Bruch, ja Gegensatz wird im fünften Raum der Ausstellung sofort deutlich. Es ist sicher kein Zufall, dass dieser Raum im Gegensatz zu den anderen Räumen dunkler und damit (be)drückend ist.
Zurück zu der Ausgangsfrage, weshalb „die Baumeister der Revolution“ als Ausstellung auf ein solch großes Interesse gestoßen sind. Auf die Frage, ob Architektur einen Beitrag zur Entwicklung einer besseren Gesellschaft leisten kann, antwortet Richard Pare: „Man möchte das zumindest glauben. Es gehört zu den großen Katastrophen in der Geschichte der Architektur des 20. Jahrhunderts, dass die Architekten in Russland nicht die Chance hatten, ihre Ideen weiter zu entwickeln und zu größerer Reife zu bringen. Obwohl es nur eine kurze Zeitspanne dauerte, stellten die Debatten, die geistige Gärung und die Bautätigkeit selbst eine heroische Leistung dar (…). Sie kämpften darum, eine ideale Lebensweise zu schaffen, merkten aber auch ziemlich schnell, glaube ich, dass sie auf verlorenem Posten standen (…). Es war das radikalste Experiment bis heute. Es war nicht erfolgreich, doch lag es nicht am fehlendem Willen.“[4] Es stimmt, das revolutionäre Experiment von damals ist gescheitert, musste scheitern, als die Weltrevolution ausblieb. Genau diese Botschaft senden die Bauten der russischen Avantgarde den nachfolgenden Generationen, also uns! Deshalb ist es wichtig, dass diese Gebäude nicht weiter dem Verfall überlassen werden und in Vergessenheit geraten. Gegen dieses Vergessen ist die Ausstellung ein Beitrag. Deshalb ist der Blick in die Vergangenheit wichtig. Aber ebenso wichtig ist der Blick in die Zukunft, denn gerade, weil die revolutionäre Welle scheiterte, leiden wir heute mehr denn je unter diesem kapitalistischen System und der Schwindel erregenden Beschleunigung der Krise. Welche Zukunft wollen wir? In welch einer Gesellschaft wollen wir gemeinsam leben? Was für Gebäude wollen wir für dieses Leben kreieren? Die Suche geht weiter…
Juli 2012, Anna
[1] „Baumeister[n] der Revolution. Sowjetische Kunst und Architektur 1915-1935“. Leider ist die Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin bereits am 9.Juli 2012 zu Ende gegangen. Allerdings gibt es einen sehr lohnenden Ausstellungskatalog.
[2] Dadaismus, Expressionismus, Futurismus, Bauhaus etc.
[3] Interview Richard Pare www.wsws.org [78]
[4] Ebenda.
Die Währungsunion: ein Mittel zur Domestizierung des deutschen Imperialismus
Mit dem Ende des Kalten Krieges 1989 war nicht nur der Nato, sondern auch der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als Bollwerk gegen den sowjetischen Imperialismus der Sinn abhanden gekommen. Für das durch die Wiedervereinigung endgültig zur stärksten Macht Europas aufgestiegene Deutschland Anlass genug, Europa neu zu interpretieren, d.h. nach der wirtschaftlichen nun auch die politische Vereinigung Europas anzustreben. Der Zeitpunkt schien günstig, einen europäischen Bundesstaat zu schaffen, dessen Strukturen „dem politischen System der Bundesrepublik nachgebildet“ (SPIEGEL, Nr. 36/2012) sind. Die neu erwachten imperialistischen Avancen Deutschlands stießen jedoch auf heftigen Widerstand seitens Großbritanniens und besonders Frankreichs. Die engen Kontakte der deutschen Bourgeoisie, die sich im Zuge der Abwicklung der DDR mit Jelzins Russland ergaben, die Expansion der deutschen Wirtschaft nach Mittel- und Osteuropa, die Einführung der „Deutschmark“ als heimliche Ersatzwährung in etlichen mitteleuropäischen Ländern und nicht zuletzt das emsige Treiben deutscher Dienste auf dem Balkan Anfang der 90er Jahre – all dies weckte in Paris, London und anderswo die alten Gespenster der „teutonischen Gefahr“.
Das jahrelange Ringen um die Deutungshoheit über Europa – gemeinsamer Wirtschaftsraum oder Vereinigte Staaten von Europa (was natürlich nicht die Überwindung oder gar Aufhebung der nationalen Grenzen bedeutet, sondern eine Neuordnung Europas nach deutschem Gusto) – endete schließlich 1993 mit der Erkenntnis für den deutschen Imperialismus, dass die Trauben höher hängen als erwartet – und mit Maastricht und der Währungsunion. „Wieder einmal hat ein französischer Präsident demonstriert, dass der Euro nicht primär ein großer Schritt zum vereinten Europa ist, sondern ein Instrument, um die Dominanz der D-Mark zu beseitigen“, äußerte Hans-Peter Schwarz in seiner Kohl-Biographie. In der Tat gelang es den Rivalen Deutschlands, mit der Gründung der EZB als obersten Währungshüter des Euro die Abhängigkeit der restlichen EU von den Entscheidungen der zumeist auf Stabilität der D-Mark bedachten Bundesbank zu lösen.
Das Fehlen einer politischen Dimension für die europäische Einheit, das hierzulande immer wieder als „Geburtsfehler“ der Währungsunion beklagt wurde, war aus der Sicht der Rivalen des deutschen Kapitals durchaus kein Versäumnis, sondern Kalkül. Maastricht war der goldene Käfig, in dem der deutsche Imperialismus eingeschlossen werden sollte.
Die politische Union: Der deutsche Imperialismus zwischen Wohl und Wehe
Kaum geriet die EU in die aktuelle „Schuldenkrise“, witterte die deutsche Bourgeoisie eine neue Chance. Zunächst hatte es den Anschein, als sei der Merkel-Regierung ein gewisser Erfolg bei ihren Bemühungen beschieden, den „Konstruktionsfehler“ des Maastrichter Vertrages zu beheben. So wurde die Aushandlung des Fiskalpaktes Anfang dieses Jahres hierzulande als Erfolg der deutschen Politik verbucht. Schließlich bedeutet er einen ersten substanziellen Schritt zu einer gemeinsamen europäischen Haushaltspolitik und einen kleinen Schritt zur politischen Union. Und nicht zuletzt die deutsch-französische Liaison unter Merkel/Sarkozy trug zur zeitweisen Stärkung der deutschen Stellung bei.
Spätesten mit dem Antritt des Sozialisten Hollande zum französischen Staatspräsidenten drehte sich der Wind wieder und bläst seither der deutschen Bourgeoisie ins Gesicht. Der beispiellose Absturz der griechischen Wirtschaft machte deutlich, dass das Spardiktat, das die Euro-Gruppe unter deutscher Federführung Griechenland aufzwang, die Lage nur noch weiter verschlimmerte. Allerorten geht das Gespenst der Rezession um, allein Deutschland weist noch ein geringes Wachstum auf. So stimmte Hollande in den Chor jener ein, die mehr „Solidarität“ Deutschlands mit den Südstaaten – die Schuldenunion - und eine Lockerung der strikten Geldpolitik der EZB – die Monetarisierung - fordern. Auf dem Euro-Krisengipfel Ende Juni war die Isolation Deutschlands innerhalb der Euro-Zone mit Händen zu greifen; es stand einer Phalanx der Südstaaten, mit Frankeich an der Spitze, gegenüber, die sich scheinbar erfolgreich gegen den deutschen Kurs stemmte. In den hiesigen Medien herrschte mehrheitlich die Meinung vor, dass Merkel in Brüssel einen weiteren Schritt in Richtung einer Vergemeinschaftung der Schulden gemacht habe. Den nächsten Kontrapunkt zum deutschen „Kurs“ der Geldstabilität setzte EZB-Präsident Draghi, als er ankündigte, „alles zu tun, um den Euro zu erhalten“, was von den Finanzmärkten prompt so verstanden wurde, dass die EZB italienische und spanische Staatsanleihen aufkaufen werde. Der Aufschrei war groß in Deutschland, allerdings nicht so sehr im politischen Berlin, sondern vielmehr in der Finanzhochburg Frankfurt. Während deutsche Finanzexperten, allen voran Bundesbankchef und EZB-Mitglied Weidmann, offen vor einem inflationären Sündenfall warnten, hielt sich die politische Klasse in Deutschland bedeckt, ja, übernahmen Schäuble und Merkel nahezu wortgleich die Formulierung Draghis.
Wenn Merkel und Schäuble sich jetzt „bewegen“ und ihre bisherigen Positionen etwas aufzuweichen scheinen, dann geschieht dies jedoch nicht, weil die deutsche Bourgeoisie plötzlich von der Alternative überzeugt ist, die die Südstaaten favorisieren: Die Vergemeinschaftung der Schulden via Eurobonds führt - neben der finanziellen Belastung Deutschlands – ohne deutsches Diktat möglicherweise zur Auflockerung der Sparpolitik in den besonders betroffenen Euro-Ländern. Und die Monetarisierung, sprich: die Herausgabe frischen Geldes durch die Notenpresse beschwört die Gefahr der Inflation herauf. Nein, sie tun dies, weil ihnen keine andere Wahl bleibt. Ein weiteres Beharren auf Schuldenabbau und Geldstabilität könnte einen verhängnisvollen Prozess in Gang setzen, in dessen Verlauf der Ausstieg Griechenlands aus der Euro-Zone nur der Anfang vom Ende der Euro-Zone, wenn nicht sogar der Europäischen Union ist.
Die Schuldenunion: Hintergründe für die deutsche Kursänderung
Allen Planspielen in deutschen Konzernen für den Fall einer Auflösung der Euro-Zone zum Trotz wäre ein Rückfall in den Zustand vor der Währungsunion aus wirtschaftlicher Sicht für den deutschen Kapitalismus eine Katastrophe - sowohl für den Finanzsektor, für Banken und Versicherungen, die Kredite in astronomischer Höhe in den Wind schreiben könnten, als auch für die sog. Realwirtschaft, für die die Euro-Zone und die EU insgesamt immer noch der größte Absatzmarkt darstellt.
Doch daneben spielen auch die Befürchtungen der deutschen Bourgeoisie vor dem eigenen Bedeutungsverlust in den globalen imperialistischen Auseinandersetzungen eine wichtige Rolle bei ihrem Abwägen zwischen den verschiedenen Alternativen. Eine Auflösung der Euro-Zone und schlimmstenfalls der gesamten Union würde den imperialistischen Ambitionen der deutschen Bourgeoisie ein jähes Ende setzen. Ohne europäisches Hinterland drohte dem deutschen Imperialismus das Los, zum Spielball der interimperialistischen Auseinandersetzungen in einer - nach dem Aufstieg Chinas - zunehmend multipolaren Welt zu werden. So handelt es sich bei der „Kursänderung“ der deutschen Politik eher um einen taktischen Rückzug, um nicht die langfristige Strategie des deutschen Imperialismus zu gefährden: die Schaffung eines Europas unter deutscher Regie.
Doch das vielleicht wichtigste Motiv für das Einlenken der Merkel-Regierung ist die Furcht vor… der Arbeiterklasse. Das mag sich verwegen anhören, ist doch die Antwort der Arbeiterklasse auf die beispiellosen Angriffe besonders der spanischen, italienischen, portugiesischen, irischen und griechischen Bourgeoisie bisher alles andere als adäquat. Dennoch treibt die europäischen, insbesondere aber die deutsche Bourgeoisie die Sorge vor der sozialen Unruhe um. Auch wenn die Erinnerung immer mehr verblasst, wirkt das Trauma der revolutionären Welle von 1917-23 noch immer nach. Sicher, der verzweifelte Kampf der schwachen Arbeiterklasse Griechenlands gegen die existenzbedrohenden Angriffe hat den Herrschenden keinen großen Schrecken eingejagt. Anders verhält es sich dagegen, wenn die italienischen oder spanischen ArbeiterInnen auf den Plan treten, die mit ihrer zahlenmäßigen Stärke, ihrer Kampfkraft und nicht zuletzt dank ihrer historischen Erfahrung ein ganz anderes Gewicht im internationalen Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit darstellen. Und nicht auszumalen, wenn das französische Proletariat in Aktion tritt. Mit seiner Strahlkraft gerade gegenüber der deutschen Arbeiterklasse kann sein Kampf die Initialzündung für einen grenzüberschreitenden Widerstand der Arbeiterklasse gegen den Generalangriff auf seine Lebensbedingungen sein. Wahrhaftig Grund genug für die Herrschenden, Kreide zu fressen.
9.9.2012
In Syrien kommt es jeden Tag zu neuen Massakern. Nun ist auch dieses Land im Sumpf der imperialistischen Kriege im Nahen Osten versunken. Nach Palästina, Irak, Afghanistan und Libyen ist nun Syrien an der Reihe. Leider wirft diese Entwicklung sofort eine sehr besorgniserregende Frage auf. Was wird in der Zukunft passieren? Der Nahe und Mittlere Osten stehen vor einem Flächenbrand, dessen Ausgang schwer vorherzusehen ist. Hinter Syrien zieht der Iran die Fäden. Der Iran ruft selbst die größten Ängste hervor und facht die imperialistischen Appetite an; alle großen imperialistischen Räuber sind fest entschlossen, ihre Interessen in der Region zu verteidigen. Auch hier befinden wir uns am Rande des Krieges, dessen dramatischen Konsequenzen völlig wahnsinnig und zerstörerisch für das kapitalistische System selbst wären.
Massive Zerstörungen und Chaos in Syrien. Wer ist verantwortlich?
Aus der Sicht der internationalen Arbeiterbewegung wie für alle Ausgebeuteten der Erde kann die Antwort auf diese Frage nur folgende sein: Verantwortlich ist das Kapital, und nur dieses allein. Dies war schon bei den Massakern im Ersten und Zweiten Weltkrieg der Fall. Und auch bei all den endlosen Kriegen, die seitdem mehr Tote hinterlassen haben als die beiden Weltkriege zusammen. Vor mehr als 20 Jahren erklärte der damalige Präsident George Bush lange bevor sein Sohn ins Weiße Haus einzog, triumphierend, dass „die Welt nun eine neue Weltordnung“ erleben werde. Der Sowjetblock war sprichwörtlich zusammengebrochen. Die UdSSR befand sich in der Auflösung, und mit ihrem Verschwinden sollten gleichzeitig alle Kriege und Massaker verschwinden. Dank des siegreichen Kapitalismus und unter dem Schutz der USA würde jetzt Frieden auf der Welt einkehren. Natürlich handelte es sich nur um Lügen, die sofort von der Wirklichkeit bloßgestellt wurden. So löste zum Beispiel G.Bush eine kurze Zeit nach dieser zynischen und heuchlerischen Rede den ersten Irak-Krieg Anfang 1991 aus.
1982 hat die syrische Armee die Erhebung der Bevölkerung in der Stadt Hama blutig niedergeschlagen. Die Zahl der Opfer konnte nie zuverlässig ermittelt werden: man schätzt zwischen 10.000 und 40.000 Ermordete.[1] Niemand sprach seinerzeit davon, dort einzugreifen um der Bevölkerung zu helfen; niemand verlangte damals den Rücktritt von Hafez Al-Assad, dem Vater des gegenwärtigen syrischen Präsidenten. Der Gegensatz zur gegenwärtigen Lage ist nicht unerheblich. Der Grund liegt darin, dass 1982 die Weltlage noch beherrscht wurde durch die Rivalitäten zwischen den beiden großen imperialistischen Blöcken. Trotz des Sturzes des Schahs von Persien und seine Ersetzung durch das Regime der Ajatollahs Anfang 1979 und der russischen Invasion in Afghanistan ein Jahr später wurde damals die US-Vorherrschaft in der Region noch nicht durch die anderen imperialistischen Mächte herausgefordert und die USA waren damals noch in der Lage, eine relative Stabilität zu garantieren.
Seitdem hat sich die Lage geändert: Der Zusammenbruch der Blöcke und die Schwächung der US-“Führerschaft” haben den imperialistischen Bestrebungen der Regionalmächte wie Iran, Türkei, Ägypten, Syrien, Israel usw. freien Lauf gelassen. Die Zuspitzung der Wirtschaftskrise treibt die Bevölkerung in die Armut und verstärkt das Gefühl der Verzweiflung und der Revolte gegenüber den Machthabern.
Während heute kein Kontinent der Zuspitzung der inter-imperialistischen Spannungen ausweichen kann, bündeln sich die Gefahren im Nahen und Mittleren Osten mit am gefährlichsten. Im Mittelpunkt der Spannungen steht gegenwärtig Syrien, nachdem zuvor monatelang gegen Arbeitslosigkeit und Armut von allen Ausgebeuteten protestiert worden war. Daran beteiligten sich gemeinsam Drusen, Sunniten, Christen, Kurden, Männer, Frauen, Kinder, denn sie alle hoffen auf ein besseres Leben. Aber die Lage ist schnell umgeschlagen. Die Sozialproteste wurden schnell auf ein verhängnisvolles Terrain gedrängt, so dass die ursprünglichen Forderungen alle begraben und die Bewegung vereinnahmt wurde. In Syrien ist die Arbeiterklasse sehr schwach, die imperialistischen Appetite sind sehr stark; deshalb war in Anbetracht des gegenwärtigen Kräfteverhältnisses und dem Niveau der Arbeiterkämpfe diese Perspektive nahezu unvermeidbar.
Innerhalb der syrischen Bourgeoisie haben sich alle wie Geier auf die revoltierende und verzweifelte Bevölkerung gestürzt. Für die herrschende Regierung und die Bachir Al-Assad unterstützende Armee geht es darum, die Macht mit allen Mitteln zu erhalten. Und die Opposition, deren verschiedene Flügel bereit sind sich gegenseitig umzubringen und die nur über die Notwendigkeit einig sind, Bachir Al-Assad zu stürzen, versucht die Macht an sich zu reißen. Vor kurzem gab es Versammlungen dieser Opposition in Paris und London. Niemand wollte die Zusammensetzung dieser Opposition näher aufschlüsseln. Wofür stehen der syrische Nationalrat oder das Nationale Koordinationskomitee oder die Freie syrische Armee? Welche Macht haben die Kurden, die Muslimbrüder oder die salafistischen Jihadisten in ihren Reihen? Es handelt sich um einen Haufen zusammengewürfelter bürgerlicher Cliquen, von denen jede mit den anderen rivalisiert. Einer der Gründe, weshalb das Regime Assads noch nicht gestürzt ist, besteht darin, dass Assad die Machtkämpfe innerhalb der syrischen Gesellschaft zu seinen Gunsten ausnutzen konnte. So reagieren die Christen ablehnend gegenüber dem Machtzuwachs der Islamisten und befürchten das gleiche Schicksal zu erleiden wie die Kopten in Ägypten. Ein Teil der Kurden versucht mit dem Regime zu verhandeln. Die Regierung selbst wird noch teilweise von der religiösen Minderheit der Alawiten unterstützt, welcher die Präsidentenclique angehört.
Jedenfalls könnte der Nationalrat militärisch und politisch nicht wirklich bestehen, wenn er nicht von ausländischen Kräften unterstützt würde, wobei jeder auf seine eigenen Vorteile erpicht ist. Dazu gehören die Arabische Liga, Saudi-Arabien an führender Stelle, die Türkei, aber ebenso Frankreich, Großbritannien, Israel und die USA.
All diese imperialistischen Haie nehmen das unmenschliche Verhalten des Regimes als Vorwand zur Kriegsvorbereitung in Syrien. Die russische Medienstimme „Voice of Russia“, welche wiederum das öffentliche Fernsehen des Irans Press TV zitierte, brachte Informationen in Umlauf, denen zufolge die Türkei sich mit US-Hilfe anschickte, Syrien anzugreifen. Zu diesem Zweck habe die Türkei Truppen und Material an der syrischen Grenze zusammengezogen. Seitdem wurde diese Information von allen westlichen Medien aufgegriffen. In Syrien wurden in Russland produzierte Boden-Boden-Raketen in der Region von Kamechi und Deir ez-Zor entlang der irakischen Grenze installiert. Und das Regime Al-Assads wird selbst wiederum von ausländischen Mächten unterstützt, insbesondere von China, Russland und Iran.
Dieser Machtkampf zwischen den stärksten imperialistischen Geiern der Erde um Syrien wird ebenso in der Räuberversammlung namens UNO ausgetragen. In der UNO hatten Russland und China schon zweimal ihr Veto gegenüber Resolutionsprojekten gegen Syrien eingelegt. Das letzte Resolutionsprojekt unterstützte zum Beispiel den Vorschlag der Arabischen Liga, der die Absetzung Bachir Al-Assads vorsah. Nach tagelangen schmutzigen Verhandlungen ist die Heuchelei aller Beteiligten noch einmal offen zutage getreten. Der UN-Sicherheitsrat hat mit russischer und chinesischer Zustimmung am 21. März eine Erklärung verabschiedet, in welcher die Beendigung der Gewalt gefordert wird, weil ein berühmter Sondergesandter der UNO, Kofi Annan, im Land eintraf. Natürlich war diese Erklärung in keiner Weise bindend. Das bedeutet, nur diejenigen sind verpflichtet, die sich zu irgendetwas verpflichtet fühlen. All das ist ein schmutziges Manöver.
Wir stehen somit vor einer anderen Frage. Wie ist es möglich, dass bislang noch keine in diesem Konflikt involvierte ausländische imperialistische Macht direkt eingegriffen hat – natürlich zugunsten ihrer eigenen nationalen Interessen – wie zum Beispiel vor einigen Monaten in Libyen? Hauptsächlich weil die Flügel der syrischen Bourgeoisie, die sich gegenüber Bachir Al-Assad in Opposition befinden, dies offiziell nicht wollen. Sie wenden sich gegen eine massive militärische ausländische Intervention, und sie haben das lautstark verkündet. Jeder dieser Flügel hat sicherlich verständlicherweise Angst davor, in diesem Fall von der Machtbeteiligung ausgeschlossen zu werden. Aber dies schließt nicht aus, dass die Gefahr des totalen imperialistischen Krieges, die an den Grenzen Syriens lauert, gebannt werden kann. Der Krieg kann dort weiterhin Einzug halten, auch wenn der Schlüssel für die weitere Entwicklung der Lage woanders liegt.
Man muss sich die Frage stellen, warum dieses Land heute die imperialistischen Appetite so auf sich zieht. Die Antwort liegt woanders – im Osten Syriens – im Iran.
Der Iran im Zentrum der weltweiten imperialistischen Spannungen
Am 7. Februar 2012 erklärte die New York Times: “Syrien war der Anfang des Krieges mit dem Iran.” Ein Krieg, der zwar noch nicht direkt ausgelöst wurde, der im Schatten des Konfliktes in Syrien weiter schwelt.
Das Regime Bachir Al-Assads ist der Hauptverbündete Teherans in der Region, und Syrien ist für den Iran ein strategischer Dreh- und Angelpunkt. Die Allianz mit Syrien ermöglicht Teheran einen direkten Zugang zum strategisch wichtigen Mittelmeerraum und gegenüber Israel zu erlangen, mit der Möglichkeit einer direkten militärischen Auseinandersetzung mit Israel. Aber diese Kriegsgefahr, die sich eher verdeckt entwickelt, hat ihre tieferliegenden Wurzeln in dem Machtkampf, der im Mittleren Osten stattfindet, wo erneut alle kriegerischen Spannungen, die in dem verfaulenden System stecken, aufbrechen.
Dieser Teil der Welt ist ein großes Drehkreuz an dem Berührungspunkt zwischen Ost und West. Europa und Asien stoßen in Istanbul aufeinander. Russland und Europa werden durch das Mittelmeer vom afrikanischen Kontinent und den Weltmeeren getrennt. Und während die Weltwirtschaft immer mehr erschüttert wird, wird das schwarze Gold zu einer herausragenden wirtschaftlichen und militärischen Waffe. Jeder muss versuchen, die Transportwege des Öls zu kontrollieren. Ohne Öl kämen alle Fabriken zum Stillstand, kein Jagdflugzeug könnte vom Boden abheben. Diese Tatsachen erklären, weshalb alle Imperialismen im Machtkampf in dieser Region mitmischen. Aber all diese Betrachtungen sind nicht die wichtigsten Faktoren, welche diese Region in den Krieg treiben.
Seit mehreren Jahren standen die USA, GB, Israel und Saudi-Arabien an der Spitze einer gegen den Iran gerichteten ideologischen Kampagne. Diese Kampagne ist in der jüngsten Zeit noch einmal verstärkt worden. Der jüngste Bericht der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) hat verlautbaren lassen, dass der Iran möglicherweise militärische Absichten hinter seinem Atomprogramm verbirgt. Und ein mit Atomwaffen bewaffneter Iran ist aus der Sicht vieler imperialistischer Länder der Region unerträglich. Der Aufstieg des Irans als eine Atommacht, die sich überall in der Region durchsetzen könnte, ist für all diese imperialistischen Haie undenkbar. Zudem bleibt der israelisch-palästinensische Konflikt weiterhin ein Schwelbrand. Der Iran ist militärisch völlig umzingelt. Die US-Armee verfügt über Stützpunkte entlang all der Grenzen Irans. Im Persischen Golf treiben sich so viele Kriegsschiffe aller Größenordnungen herum, dass man – wenn man sie aneinanderreiht – den Golf nahezu trockenen Fußes überqueren könnte. Der israelische Staat erklärt unaufhörlich, dass er den Iran nie in den Besitz der Atombombe kommen lassen würde; israelischen Quellen zufolge würde der Iran spätestens innerhalb eines Jahres zu einer Atommacht werden. Diese in der ganzen Welt verbreitete Aussage ist angsteinjagend, denn diese Konfrontation birgt viele Gefahren in sich. Der Iran ist nicht Irak und nicht Afghanistan. Es gibt mehr als 70 Millionen Einwohner mit einer „respektabel“ ausgerüsteten Armee.
Große, katastrophale Auswirkungen
Auf wirtschaftlicher Ebene:
Aber der Einsatz von Atomwaffen durch den Iran ist nicht die einzige Gefahr und auch nicht das Wichtigste. In der jüngsten Zeit haben die politischen und religiösen Führer Irans behauptet, dass sie mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mittel reagieren würden, wenn ihr Land angegriffen würde. Tatsächlich verfügt der Iran über Waffen, deren Wirkung niemand richtig einschätzen kann. Wenn der Iran sich dazu entschließen würde, die Straße von Hormus zu blockieren, selbst wenn er dabei eigene Boote versenken müsste, würde der Schiffsverkehrt dort unterbrochen. Das hätte weltweit katastrophale Auswirkungen.
Ein beträchtlicher Anteil der Weltölförderung würde nicht mehr die Abnehmer erreichen. Die jetzt schon offen ausgebrochene Weltwirtschaftskrise würde dann noch einmal neue Ausmaße erreichen. Die Schäden wären in Anbetracht einer jetzt schon kranken Wirtschaft noch einmal beträchtlich.
Ökologisch
Die ökologischen Konsequenzen könnten unumkehrbar sein. Ein Angriff auf iranische Atomanlagen, die unter Tausenden Tonnen von Beton und Kubikmetern Erde geschützt liegen, würde einen taktischen Luftschlag mit gezielten Atomwaffeneinsätzen erforderlich machen. Dies ist jedenfalls die Meinung von Militärexperten aus allen imperialistischen Staaten. Wenn es dazu käme, was würde aus der gesamten Region des Mittleren Osten werden? Welche Auswirkungen könnte man auf die Bevölkerung und das Ökosystem weltweit erwarten? All das sind keine Überlegungen eines völlig verrückt gewordenen Wahnsinnigen. Das ist auch nicht irgendwie ein Szenario eines neuen Horrorfilms. Dieser Angriffsplan ist ein integraler Bestandteil der Strategie, welche der israelische Staat sich ausgedacht und geplant hat – unter Beteiligung der USA, die sich aber bislang noch zurückhaltend verhalten. Der israelische Generalstab plant jedenfalls im Falle eines Scheiterns eines klassischen israelischen Luftangriffs den Übergang zu solch einer höheren Stufe der Zerstörung. Der Wahnsinn breitet sich immer mehr aus in diesem niedergehenden System.
Humanitär
Seit der Auslösung der Kriege im Irak, Afghanistan, Libyen während der letzten Jahre hat ein immer größeres Chaos in diesen Ländern Einzug gehalten. Der Krieg hat sich festgefressen. Jeden Tag gibt es neue, immer mörderischere Anschläge. Die Bevölkerung kämpft jeden Tag verzweifelt um ihr Überleben. Die bürgerliche Presse bestätigt es: „Jeder ist Afghanistan überdrüssig. Dem Überdruss der Afghanen entspricht der Überdruss des Westens“ (Le Monde, 21.3.2012). Während die bürgerliche Presse von einem Überdruss hinsichtlich der endlosen Fortsetzung des Krieges in Afghanistan spricht, ist die Bevölkerung verbittert und entkräftet. Wie kann man im Krieg und dem ständigen kriegerischen Chaos überleben? Und falls es zu einem Krieg im Iran käme, wäre die menschliche Katastrophe noch unvorstellbarer. Die Bevölkerungsdichte, die eingesetzten Zerstörungsmittel lassen das Schlimmste befürchten. Und so lautet das Szenario – Krieg mit all seinen Zerstörungen im Iran, ein im Chaos versinkender Mittlerer Osten. Keiner der zivilen oder militärischen Staatsführer, die alle zu Massenmorden fähig sind, kann sagen, wo der Krieg im Iran aufhören würde. Was würde in der arabischen Bevölkerung der Region passieren? Wie würden die Schiiten reagieren? Diese Vorstellung ist einfach katastrophal für die Menschen.
Gespaltene bürgerliche Cliquen, imperialistische Bündnisse am Rande einer großen Krise
Auch nur an einen kleinen Teil der Folgen zu denken, jagt schon den Teilen der Herrschenden Angst ein, die noch ein wenig klarer sehen. Die kuwaitische Zeitung Al-Jarida ließ eine Information durchsickern, welche die israelischen Geheimdienste in Umlauf bringen wollten. Ihr letzter Chef, Meir Dagan, meinte nämlich, dass „die Perspektive eines Angriffs gegen den Iran die dümmste Idee sei, die er jemals gehört habe“. Diese Auffassung vertritt wohl auch ein anderer Flügel der Geheimdienste, der israelische Auslandsgeheimdienst – Shin Bet.
Es ist allseits bekannt, dass ein ganzer Teil des israelischen Generalstabs diesen Krieg nicht möchte. Aber ebenso bekannt ist, dass ein Teil der politischen Klasse Israels, die sich um Netanjahu schart, dessen Auslösung zu einem für Israel günstigen Zeitpunkt anstrebt. In Israel schwelt eine politische Krise in Anbetracht der einzuschlagenden Ausrichtung der imperialistischen Politik. Im Iran prallt der religiöse Führer Ali Chamenei ebenso wegen dieser Frage mit dem Präsidenten des Landes, Mahmud Ahmadinejad zusammen. Aber am spektakulärsten erscheint der Machtkampf zwischen den USA und Israel wegen dieser Frage. Gegenwärtig möchte die US-Administration keinen offenen Krieg mit dem Iran. Tatsächlich ist die Erfahrung der USA im Irak und in Afghanistan keine Ermunterung, und die Obama-Administration hat bislang immer heftigere Sanktionen befürwortet. Der Druck der USA auf Israel, dass das Land sich geduldig verhält, ist gewaltig. Aber die historische Schwächung der US-Führungsrolle ist eben auch bei seinem traditionellen Verbündeten im Nahen und Mittleren Osten zu spüren. Denn Israel behauptet lautstark, es werde den Besitz von Atomwaffen in den Händen des Irans nicht zulassen, was immer seine ihm am stärksten verbündeten Alliierten auch meinen. Der Druck der USA auf Israel ist nicht mehr so wirkungsvoll; sogar Israel fordert jetzt die Autorität der USA offen heraus. Aus der Sicht einiger bürgerlicher Kommentatoren könnte es sich um erste Bruchstellen des Bündnisses zwischen den USA und Israel handeln, das bislang als unzerbrechlich galt.
Die Haupttriebkraft in der unmittelbaren Nachbarschaft ist die Türkei, die über die größte Zahl Soldaten im Nahen Osten verfügt (mehr als 600.000). Während das Land zuvor ein unzertrennlicher Verbündeter der USA und einer der seltenen Freunde Israels war, ist die türkische Bourgeoisie mit dem Aufstieg des Erdogan-Regimes danach bestrebt, ihre eigene Karte des „demokratischen“ und „gemäßigten“ Islamismus zu spielen. Sie versucht, die Erhebungen in Ägypten und Tunesien zu ihren Gunsten auszuschlachten. Und dies erklärt auch den Kurswechsel ihrer Beziehungen zu Syrien. Früher verbrachte Erdogan seine Ferien mit den Assads, aber von dem Zeitpunkt an, als der syrische Führer sich weigerte, den Forderungen Ankaras nachzugeben und mit der Opposition Verhandlungen aufzunehmen, zerbrach das Bündnis. Die Bemühungen der Türkei, ihre eigenes „Modell“ des „gemäßigten“ Islams zu exportieren, stehen in direktem Gegensatz zu den Bemühungen Saudi-Arabiens, seinen eigenen Einfluss in der Region mit Hilfe des erzkonservativen Wahabismus zu vergrößern.
Die Möglichkeit der Auslösung eines Krieges in Syrien und vielleicht später im Iran hat sich dermaßen zugespitzt, dass die Führer Chinas und Russlands immer stärker reagieren. Der Iran ist für China von großer Bedeutung, da China aus dem Iran 11% seiner Energieimporte erhält.[2] Seit dem industriellen Aufstieg Chinas ist das Land zu einem wichtigen Player in der Region geworden. Im letzten Dezember warnte China vor der Gefahr eines weltweiten Konfliktes um Syrien und Iran. In der Global Times[3] erklärte China: „Der Westen leidet unter einer Wirtschaftskrise, aber seine Bestrebungen des Umsturzes von nicht-westlichen Regierungen aufgrund von politischen und militärischen Interessen haben einen neuen Höhepunkt erreicht. China wie auch sein großer Nachbar Russland müssen wachsam bleiben und notwendige Gegenmaßnahmen ergreifen.“[4] Auch wenn eine direkte Konfrontation zwischen den imperialistischen Großmächten der Welt unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht denkbar erscheint, lassen solche Erklärungen den Ernst der Lage deutlich werden.
Der Kapitalismus treibt geradewegs auf den Abgrund zu
Der Mittlere Osten ist ein Pulverfass – einige sind bereit, dort das Feuer zu legen. Einige imperialistische Staaten sind bereit und planen kaltblütig den Einsatz von bestimmten Atomwaffen in einem möglichen Krieg gegen den Iran.
Die Militärmaschinerie ist gerüstet und hat sich strategisch auf dieses Szenario eingestellt. Da im dahinsiechenden Kapitalismus bei dessen Todeszuckungen das Schlimmste am wahrscheinlichsten ist, können wir solch einen Krieg nicht ausschließen. Jedenfalls treibt die Flucht nach vorn des Kapitalismus, der völlig senil und morsch geworden ist, die Irrationalität dieses Systems auf immer neue Höhen. Sollte es zu einem eskalierenden Konflikt in der Region kommen, wird der Zerstörungsdrang des Kapitalismus eine neue Stufe erreichen. Wenn der Kapitalismus, der durch die Geschichte verdammt ist, verschwindet, wird die Arbeiterklasse und die Menschheit ihm keine Träne nachweinen. Aber leider birgt der Zerstörungsdrang des Systems die Gefahr einer vollständigen Zerstörung der Menschheit in sich. Die Feststellung, dass der Kapitalismus dabei ist die ganze Zivilisation mit in den Abgrund zu reißen, darf uns nicht den Mut nehmen, nicht in Verzweiflung treiben oder in Passivität verfallen lassen. Wir schrieben zu Anfang des Jahres: „Die Wirtschaftskrise ist keine endlose Geschichte. Sie kündigt das Ende eines Systems und den Kampf für eine neue Gesellschaft an.“ Diese Behauptung stützt sich auf die Entwicklung des Klassenkampfes auf internationaler Ebene.
Dieser weltweite Kampf für eine andere Gesellschaft hat eben erst begonnen. Er verläuft sicher noch sehr langsam und mit großen Schwierigkeiten, aber er ist in Gang gesetzt worden. Diese in Gang gekommene Bewegung, deren beeindruckendster Ausdruck bislang die Bewegung der „Empörten“ letztes Jahr in Spanien war, erlaubt uns zu sagen, dass es potentiell die Mittel gibt, all diese kapitalistische Barbarei von diesem Planeten hinwegzufegen. Tino, 11.4.2012
[3] Zeitung zur internationalen Aktualität, die zur offiziellen “Volkszeitung” gehört.
Am 16. August fielen in den Minen von Marikana im Nord-Westen von Johannesburg 34 Arbeiter unter den Schüssen der südafrikanischen Polizei, die darüber hinaus noch weitere 78 Arbeiter verletzte. Mehrere Hundert Demonstranten wurden verhaftet. Sofort gingen die Bilder von diesen Erschießungen um die Welt. Aber wie immer verzerrten die Herrschenden und ihre Medien den Klassencharakter dieses Streiks und reduzierten ihn auf schmutzige Auseinandersetzungen zwischen den beiden größten Bergarbeitergewerkschaften, was an die dunkelsten Zeiten während der Zeit der Rassentrennung erinnerte.
Südafrika – auch von der Krise erfasst
Trotz der Investitionen von Hunderten von Milliarden Euros zur Unterstützung der Wirtschaft ist das Wachstum schwach geblieben und die Arbeitslosigkeit weiterhin massiv angestiegen[1] [91]. Ein Teil des Reichtums des Landes basiert auf dem Export von Rohstoffen wie Platin, Chrom, Gold und Diamanten, die in Minen gefördert werden. Diese Wirtschaftsbranche, die mehr als 10 Prozent des BIP erwirtschaftet, 15 Prozent des Exportes und mehr als 800.000 Jobs umfasst, litt 2011 unter einer starken Rezession. Der Kurs des Platins, von dem Südafrika ca. 80 Prozent der Weltreserven besitzt, ist seit Anfang des Jahres stark rückläufig.
Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bergarbeiter, die ohnehin schon extrem schlecht sind, haben sich weiter verschlechtert. Sie erhalten Hungerlöhne (ungefähr 400 Euro im Monat), wohnen in Elendshütten, schuften oft neun Stunden in sehr heißen und stickigen Schächten. Jetzt stehen sie vor Entlassungen, Produktionsstillständen und Arbeitslosigkeit. Deshalb fanden in Südafrika zahlreiche Streiks statt. Bereits seit Februar befanden sich die Arbeiter der größten Platinmine der Welt, die von Impala Platinum betrieben wird, im Ausstand. Die von Präsident Zuma, dem Nachfolgers des berühmten Nelson Mandela, geführte Regierung wollte in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften diese Dynamik kippen. Denn die Entwicklung von Arbeiterkämpfen in Südafrika ist ein Teil der weltweiten Reaktionen der Arbeiterklasse auf die Weltwirtschaftskrise.
Das Massaker von Marikana – eine von den Gewerkschaften errichtete Falle
Vor diesem Hintergrund beschlossen am 10. August 3.000 Bergarbeiter Marikanas, die Arbeit niederzulegen, um anständige Löhne durchzusetzen, d.h. ca. 1250 Euros. „Wir werden ausgebeutet, weder die Regierung noch die Gewerkschaften haben uns geholfen […] Die Bergwerksgesellschaften verdienen dank unserer Arbeit Geld, aber man zahlt uns Hungerlöhne. Wir können nicht anständig leben. Aufgrund der miserablen Löhne zwingt man uns dazu, wie Tiere zu hausen.“[2] Die Bergarbeiter traten in einen wilden Streik. Zwei Gewerkschaften, die National Union of Mineworkers (NUM) und die Gewerkschaft der Berg- und Bauarbeiter (AMCU) prallten gewaltsam aufeinander, um ihre jeweiligen Interessen zu verteidigen, wobei sie die Arbeiter in die Mausefalle gewaltsamer Zusammenstöße trieben.
Die NUM ist eine völlig korrupte Gewerkschaft und mit dem Machtapparat des Präsidenten Jacob Zuma verwoben. Die offene Zusammenarbeit und die systematische Unterstützung für die Regierungspartei, den African National Congress (ANC), hat diese Gewerkschaft schließlich in den Augen zahlreicher Beschäftigter diskreditiert. Dieser Glaubwürdigkeitsverlust führte zur Bildung einer Gewerkschaft, die radikalere Töne anschlug: die AMCU.
Aber wie die NUM kümmert sich die AMCU genauso wenig um die Interessen der Bergarbeiter. Nach einer sehr aggressiven Rekrutierungskampagne hat die Gewerkschaft den Streik ausgenutzt, um mit ihren Schlägertrupps Auseinandersetzungen mit der NUM anzuzetteln. Dabei wurden mehr als zehn Bergarbeiter ermordet, mehrere verletzt. Abgesehen davon haben die Auseinandersetzungen zwischen den Gewerkschaften den Ordnungskräften auch einen Vorwand zum Eingreifen geliefert. Sie verübten ein wahres Massaker, mit dem die Dynamik der Arbeiterkämpfe gebrochen werden sollte.
Nach tagelangen Zusammenstößen forderte Frans Baleni, Generalsekretär der NUM, den Einsatz der Armee: “Wir verlangen den Einsatz von Sonderkräften oder der südafrikanischen Armee, bevor die Lage ganz außer Kontrolle gerät.“[3] Warum eigentlich nicht gleich die Mine aus der Luft bombardieren, Herr Baleni? Aber die Arbeiter steckten schon in der Falle. Am nächsten Tag schickte die Regierung Tausende von Polizisten, gepanzerte Fahrzeuge und zwei Hubschrauber, um die Ordnung wiederherzustellen – d.h. natürlich die bürgerliche Ordnung!
Mehreren Zeugenaussagen zufolge, die in Anbetracht des Rufs der südafrikanischen Repressionskräfte vermutlich authentisch sind, hat die Polizei die Arbeiter ständig zu provozieren versucht, sie mit Flashballs, Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen angegriffen, unter dem Vorwand, dass die Streikenden über Schusswaffen verfügten.
Am 16. August wagten einige verbitterte und wütende Bergarbeiter nach Tagen erschöpfender Auseinandersetzungen und aufgestachelt durch die Gewerkschaftsvertreter, die – glücklicher Zufall! – an diesem Tag von der Bildfläche verschwunden waren, die Polizei mit Stöcken anzugreifen. Was? Der Mob „greift“ die Polizeikräfte an? Welche Frechheit! Und was konnten Tausende Polizisten mit ihren Schusswaffen, ihren Schutzschilden, ihren gepanzerten Fahrzeugen, ihren Wasserwerfern, ihren Tränengasgranaten, ihren Hubschraubern gegenüber einer Horde von 34 ‚Wilden’ tun, die sie mit Schlagstöcken angriffen? Auf die Menge schießen, um „ihr eigenes Leben zu retten“.[4] [91]
So tauchten bald diese ekelhaften, empörenden Bilder von dem Massaker auf. Die Arbeiterklasse muss ihre Empörung über solch eine Barbarei zum Ausdruck bringen muss; sie muss ferner begreifen, dass die Verbreitung dieser Bilder auch darauf abzielt, das Gefühl in den ArbeiterInnen der „demokratischen“ Länder zu erwecken, froh darüber zu sein, dass sie „frei“ mit gewerkschaftlichen Spruchbändern und Fahnen demonstrieren können. Und es ist eine implizite Warnung an all diejenigen auf dieser Welt, die gegen das Elend und das dafür verantwortliche System ankämpfen wollen.
Die Herrschenden wollen die Bewegung entstellen
Sofort nach dem Massaker erhoben sich überall Stimmen, um den „Dämon der Apartheid“ zu beschwören und leidenschaftliche Erklärungen abzugeben. Die Herrschenden wollen den wahren Anlass dieser Streikbewegung verschleiern und Fragen ethnischer und nationalistischer Konflikte in den Vordergrund drängen. Julius Malenna, im April aus dem ANC ausgeschlossen, kam regelmäßig nach Marikana, um die ausländischen Firmen an den Pranger zu stellen, die Verstaatlichung der Minen und die Ausweisung der „reichen weißen Großgrundbesitzer“ zu fordern.
Der Präsident Zuma erklärte heuchlerisch vor der Presse: „Wir müssen die Wahrheit über die Ereignisse ans Licht bringen, deshalb habe ich entschieden, eine Untersuchungskommission zur Aufklärung der wahren Ursachen dieses Vorfalls einzusetzen“. Die Wahrheit besteht darin, dass die Herrschenden die Arbeiterklasse hinters Licht zu führen versuchen, indem sie den Klassenkampf mit dem Schleier des Rassenkampfes verhüllen. Doch der Verdummungsversuch ist zu offensichtlich. War es nicht eine „schwarze“ Regierung, die dem Verlangen einer „schwarzen“ Gewerkschaft nach einem Polizeieinsatz Folge leistete? Und hat nicht eine „schwarze“ Regierung alles in ihrer Macht Stehende getan, um die Bergarbeiter weiterhin unter unmöglichen Bedingungen schuften zu lassen? Hat nicht eine „schwarze“ Regierung Polizisten eingesetzt, die in der Zeit der Apartheid ausgebildet wurden, und Gesetze verabschiedet, die Polizisten zum gezielten Todesschuss ermächtigen? Ist diese „schwarze“ Regierung nicht aus den Reihen des ANC hervorgegangen, die von Nelson Mandela angeführt wird, der in der ganzen Welt als der Vorkämpfer der Demokratie und der Toleranz gepriesen wird?
Die Streiks dehnen sich aus
In der Nacht vom 19. auf den 20. August hat die Geschäftsleitung der Mine Lonmin den „3000 wild streikenden Beschäftigen befohlen, die Arbeit am 20. August wieder aufzunehmen, sonst droht ihnen die Entlassung."[5] Aber die Wut und die Lebensbedingungen der Bergarbeiter sind derart, dass sie dieser Aufforderung nicht nachgekommen sind, auf die Gefahr hin, entlassen zu werden. „Werden sie auch auf die schießen, die im Krankenhaus oder in der Leichenhalle liegen? Es ist besser auf die Straße zu fliegen, anstatt hier weiter zu leiden. Unser Leben wird sich nicht verbessern. Lonmin schert sich einen Dreck um unsere Arbeitsbedingungen; sie haben sich geweigert mit uns zu reden, sie haben die Polizei auf uns gehetzt."[6] Während Lonmin schnell nachgeben musste, dehnte sich der Streik am 22. August mit den gleichen Forderungen auf andere Minen aus, die von Royal Bafokeng Platinum und Amplats betrieben werden. Als dieser Artikel verfasst wurde, war es noch nicht absehbar, ob die Streiks in Auseinandersetzungen zwischen den Rassen übergehen oder sich weiter ausdehnen. Aber das Massaker von Marikan hat klar aufgezeigt, was hinter der Gewalt eines demokratischen Staates steckt. Ob schwarz oder weiß, die Regierungen sind zu allen möglichen Massakern gegen die Arbeiterklasse bereit. El Generico, 22.8.2012
[1] Die Arbeitslosigkeit betrug Ende 2011offiziell 35,4 Prozent.
[2] Zitiert aus Le Monde 16.8.2012.
[3] Kommuniqué der NUM vom 13.8.2012
[4] Erklärung der Polizei nach dem Massaker. Der Sprecher der Polizei wagte gar zu behaupten: „Die Polizei wurde feige von einer Gruppe angegriffen, die verschiedene Waffen benutzt hat, u.a. Schusswaffen. Die Polizisten mussten zum Schutz ihres eigenen Lebens gewaltsam vorgehen.“
[5] Kommuniqué von Lonmin 19..8.2012
[6] www.jeuneafrique.com [92], 19.8 2012.
Bei der Lektüre von Harpers Buch über Lenin wird deutlich, dass es sich um eine ernsthafte und tiefgehende Studie über Lenins philosophische Arbeit handelt, getragen von einer klaren Struktur der materialistischen Dialektik, mit der er Lenins philosophisches Konzept abgleicht.
Für Harper stellt sich das Problem folgendermaßen: Statt Lenins Konzeption der Welt von seiner politischen Aktivität zu trennen, besteht der beste Weg, sich das Handeln dieses Revolutionärs anzuschauen, darin, die dialektischen Ursprünge seiner Aktivität zu begreifen. Für Harper ist „Materialismus und Empiriokritizismus” das Werk, das Lenins Denken am besten beschreibt. Hier startet Lenin seinen Angriff auf den ausgeprägten Idealismus, den große Teile der russischen Intelligentsia, beeinflusst durch das philosophische Konzept Machs, angenommen hatten. Sein Ziel war es, dem Marxismus neues Leben einzuflößen, da dieser litt nicht nur unter dem Revisionismus Bernsteins sondern auch unter dem Machs itt.
Ausgehend von Marx und Dietzgen leitet Harper das Problem mit einer tiefgreifenden und scharfsinnigen Analyse der Dialektik ein. Mehr noch, Harper macht in seiner Untersuchung einen deutlichen Unterschied zwischen dem frühen Marx mit seinen ersten philosophischen Studien und dem späteren Marx, der mit der bürgerlichen Ideologie gebrochen hatte und den Klassenkampf „entdeckt“ hatte. Diese Unterscheidung erlaubt ihm den Widerspruch zwischen dem bürgerlichen Materialismus der prosperierenden kapitalistischen Epoche – verkörpert durch die Naturwissenschaft – und des revolutionären Materialismus, konkretisiert in der Wissenschaft der Gesellschaftsentwicklung, hervorzuheben. Harper bemüht sich, verschiedene, von Lenin entwickelte Konzeptionen zu widerlegen, die sich nach seiner Meinung weniger auf die Auseinandersetzung mit Machs Ideen bezogen als eher aus polemischen Gründen benutzt wurden, um die Einheit der russischen sozialdemokratischen Partei zu festigen.
Interessant ist Harpers Arbeit in Bezug auf sein Studium der Dialektik, wichtig seine Behandlung der Art und Weise, wie Lenin Machs Ideen korrigiert, doch der unbestreitbar interessanteste Teil (da er die wichtigsten Konsequenzen nach sich zieht) ist die Analyse der Quellen des Materialismus Lenins und ihr Einfluss auf seine Aktivitäten in der internationalen sozialistischen Diskussion und der Revolution 1917 in Russland.
Der erste Teil der Kritik beginnt mit einer Studie der philosophischen Ahnen Lenins, von Holbach über verschiedene französische Materialisten wie Lametrie bis hin zu Avenarius. Das gesamte Problem dreht sich um die Erkenntnistheorie. Selbst Plechanow entkam nicht der Sogwirkung des bürgerlichen Materialismus. Feuerbach ging Marx voran. All dies erschwerte das soziale Denken des gesamten russischen Marxismus, allen voran Lenins.
Harper betont korrekterweise den statischen Blick auf die Welt, der die Erkenntnistheorie des bürgerlichen Materialismus kennzeichnet, und kontrastiert dies mit der Natur und Orientierung des revolutionären Materialismus.
Die Bourgeoisie betrachtet die Erkenntnis als ein rein empfangendes Phänomen (nach Harper teilt auch Engels diese Sicht). Für sie bedeutet Erkenntnis einfach Vorstellung und Empfindung der externen Welt - als ob wir nicht mehr als ein Spiegel seien, der mehr oder weniger zuverlässig die externe Welt widerspiegeln würde. Darin erkennen wir, warum die Naturwissenschaften das Schlachtross der bürgerlichen Welt waren. In ihren ersten Ausformungen basierten Physik, Chemie und Biologie mehr auf einem Versuch, die Phänomene der externen Welt festzuschreiben, als auf den Versuch, die Realität zu interpretieren und zu analysieren. Die Natur schien ein großes Buch zu sein und das Ziel war es, natürliche Äußerungen in verständliche Zeichen zu übertragen. Alles schien geordnet, rational zu sein; Ausnahmen von dieser Ansicht konnten nicht zugelassen werden, es sei denn, sie würden als Unvollkommenheiten unserer Wahrnehmungsmittel erklärt werden. Zusammengefasst wurde Wissenschaft zu einem Abbild der Welt, deren Gesetze unabhängig von Zeit und Raum immer die gleichen waren – jedoch abhängig von dem jeweiligen separaten Gesetz.
Das natürliche Objekt der ersten Bemühungen dieser Wissenschaft war dem Menschen äußerlich: Diese Wahl ist Ausdruck dafür, dass es einfacher war, die externe sinnliche Welt zu erfassen als die weit konfusere menschliche Welt, deren Gesetze sich den einfachen Gleichungen der Naturwissenschaft entziehen. Wir müssen auch an die Bedürfnisse der aufstrebenden Bourgeoisie denken, die schnell und empirisch Zugriff auf alles außerhalb ihrer selbst benötigte, um dies für die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte zu benutzen. Schnell, da die Grundlagen ihres sozial-ökonomischen Systems noch nicht so sicher waren. Empirisch, da der Kapitalismus mehr an Ergebnissen und Schlussfolgerungen als an dem Weg, diese zu erreichen, interessiert war.
Die Naturwissenschaften, die sich im Rahmen des bürgerlichen Materialismus entwickelten, beeinflussten das Studium anderer Bereiche und bewirkten den Aufstieg der Geisteswissenschaften wie Geschichte, Psychologie und Soziologie, die die gleichen Methoden der Erkenntnis anwandten.
Der erste Gegenstand der menschlichen Erkenntnis, der den menschlichen Geist beschäftigte, war die Religion. Diese wurde zum ersten Mal als historisches und nicht als philosophisches Problem behandelt. Dahinter stand auch die Notwendigkeit einer jungen Bourgeoisie, sich vor religiösen Festschreibungen zu hüten, die die natürliche Rationalität des kapitalistischen Systems in Frage stellten. Dies drückte sich in dem Aufkommen einer ganzen Reihe von bürgerlichen Denkern wie Renan, Strauss, Feuerbach usw. aus. Aber was versucht wurde, war stets eine methodische Zergliederung: Sie kritisierten die ideologische Figur Religion nicht auf ihrer gesellschaftlichen Grundlage, sondern verfolgten das Ziel, ihre menschlichen Grundlagen zu entdecken. Dadurch reduzierten sie die Untersuchungen auf ein naturwissenschaftliches Niveau, als ginge es darum, historische Dokumente und ihre Veränderung über die Jahrhunderte fotografisch genau nachzuzeichnen. Letztendlich normalisierte der bürgerliche Materialismus den gegenwärtigen Stand der Dinge und schrieb diesen auf ewig und unveränderbar fest. Er behandelte die Natur als unbestimmte Wiederholung rationaler Ursachen. Der bürgerliche Mensch reduzierte die Natur auf das Verlangen nach einer konservativen Unbeweglichkeit. Er spürte, dass er die Natur bis zu einem gewissen Punkt beherrschen würde, doch er begriff nicht, dass die Instrumente seiner Beherrschung dabei waren, sich vom Menschen zu befreien und sich gegen diesen zu wenden. Bürgerlicher Materialismus war ein Fortschritt in der Entwicklung des menschlichen Wissens. Er wurde konservativ – was so weit ging, dass er von der Bourgeoisie selbst abgelehnt wurde –, als das kapitalistische System seinen Höhepunkt erreicht hatte und sein Untergang eingeläutet wurde.
Diese Denkweise begegnet uns auch in Marx‘ frühen Werken. Doch Harper sah den Weg, der Marx zum revolutionären Materialismus führte, erst durch die Bewusstwerdung der Arbeiterklasse als Reaktion auf die ersten schweren Widersprüche des kapitalistischen Systems eröffnet.
Harper beharrt darauf, dass der revolutionäre Marxismus nicht einfach das Produkt reiner Vernunft sei. Der bürgerliche Materialismus wuchs in einem bestimmten sozio-ökonomischen Umfeld auf; entsprechend war auch für den revolutionären Materialismus ein bestimmtes sozio-ökonomisches Milieu erforderlich. Marx wurde bewusst, dass die Existenz ein Prozess permanenter Veränderung war. Und wo die Bourgeoisie nur Rationalismus, die Wiederholung von Ursache und Wirkung sah, entdeckte Marx das sich entwickelnde sozio-ökonomische Milieu als neues Element, das in die Sphäre der Erkenntnis integriert werden müsse. Für ihn war das Bewusstsein nicht ein Abbild der äußeren Welt. Sein Materialismus wurde durch all die natürlichen Faktoren angeregt – zuallererst durch den Menschen selbst.
Die Bourgeoisie konnte den menschlichen Anteil an der Erkenntnis vernachlässigen, da zu Beginn ihr System mit einer präzisen Regelmäßigkeit - wie die Gesetze der Astronomie - zu funktionieren schienen. Ihr Wirtschaftssystem hatte keinen Platz für den Menschen.
Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts machte sich die Nachlässigkeit des Systems gegenüber dem Menschen in den gesellschaftlichen Beziehungen langsam bemerkbar: Revolutionäres Bewusstsein begann zu reifen und mit diesem wurde deutlich, dass die Erkenntnis nicht ein Spiegel der äußeren Welt war, wie der bürgerliche Materialismus behauptete: Die menschliche Erkenntnis ist nicht nur ein empfangender, sondern auch ein aktiver und verändernder Faktor.
Für Marx war demnach die Erkenntnis sowohl das Produkt der Empfindung der äußeren Welt als auch das der Ideen und Handlungen des Menschen, der Mensch war also selbst ein Faktor und Motor der Erkenntnis.
Die Wissenschaft der Gesellschaftsentwicklung war damit geboren; diese eliminierte die alten Geisteswissenschaften und war Ausdruck eines deutlichen Fortschritts. Auch die Naturwissenschaften durchbrachen ihre engen Grenzen. Die bürgerliche Wissenschaft des 19. Jahrhunderts kollabierte aufgrund ihrer eigenen Blindheit.
Dieses falsche Verständnis der Rolle der menschlichen Handlung für die Erkenntnis gibt Lenins philosophischer Arbeit einen ideologischen Charakter. Wie bereits angedeutet, untersucht Harper Lenins philosophische Quellen und misst diesen einen entscheidenden Einfluss auf Lenins politische Tätigkeit zu.
Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein. Lenin kam aus einem rückschrittlichen Gesellschaftsmilieu. Hier herrschte noch der Feudalismus, die Bourgeoisie war schwach und ließ jede revolutionäre Energie missen. In Russland entwickelte sich der Kapitalismus zu einer Zeit, als die reife Bourgeoisie des Westens bereits in ihren Niedergang trat. Russland wurde ein kapitalistisches Land, ohne dass die eigene nationale Bourgeoisie gegen den feudalen Absolutismus des Zaren aufbegehrte. Diese Leistung fiel dem ausländischen Kapital zu, das die gesamte kapitalistische Struktur in Russland dominierte. Da der bürgerliche Materialismus durch die Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie und ihrer Widersprüche immer unbedeutender wurde, musste die russische Intelligentsia in ihrem Kampf gegen den Absolutismus ihr Heil im revolutionären Materialismus suchen. Für diesen revolutionären Materialismus galt der Kampf dem Feudalismus, nicht dem Kapitalismus, der keine wirkungsvolle Kraft darstellte. Lenin war Teil dieser Intelligentsia – deren Grundlage die revolutionäre Klasse des Proletariats war –, deren Aufgabe die verspätete kapitalistische Umwandlung des feudalen Russlands war.
So interpretiert Harper die Fakten.
Harper sieht die russische Revolution als Ausdruck der objektiven Reife der Arbeiterklasse, jedoch hat diese für ihn einen bürgerlichen politischen Inhalt. Nach Harper wird dieser bürgerliche politische Inhalt von Lenin ausgedrückt. Lenins Bewusstsein sei geprägt von den unmittelbaren Aufgaben Russlands, ein Land, das mit seiner sozio-ökonomischen Struktur wie eine Kolonie ohne nationale Bourgeoisie erschien. Die einzig entscheidenden Kräfte seien die Arbeiterklasse und der Absolutismus.
Das Proletariat könne sich also nur unter diesen rückständigen Bedingungen ausdrücken, daher sei Lenins materialistische Ideologie bürgerlich. So sagt Harper über Lenin und die russische Revolution:
„Diese materialistische Philosophie war gerade die richtige Lehre für die Masse der neuen russischen Intelligenz, die voll Begeisterung in Naturwissenschaft und Technik die Basis einer von ihnen geleiteten Produktion erkannte – mit den noch religiösen Bauern als einzigen Widerstand – und die als neue herrschende Klasse eines Riesenreichs die Zukunft vor sich offen sah.“ (Pannekoek, Lenin als Philosoph, in: Pannekoek, Arbeiterräte, Texte zur sozialen Revolution, S. 362)
Harpers Methode in „Lenin als Philosoph” gehört, wie auch seine Darstellung des Problems der Erkenntnis, zu den besten Arbeiten des Marxismus. Jedoch führen seine politischen Schlussfolgerungen zu solchen Konfusionen, dass er uns zwingt, seine politischen Schlussfolgerungen, die uns fehlerhaft erscheinen und unter dem Niveau der übrigen Arbeit liegen, deutlich von der Formulierung des Problem zu trennen.
Harper schreibt:
“Der Materialismus hat nur kurze Zeit die Weltanschauung der bürgerlichen Klasse beherrscht…“ (ebenda, S. 311).
Dies führt ihn nach seiner Feststellung, dass Lenins Philosophie in „Materialismus und Empiriokritizismus“ in ihren Grundzügen bürgerlicher Materialismus sei, dazu, dass die bolschewistische Revolution vom Oktober 1917 :
„ … eine bürgerliche Revolution, die auf dem Proletariat fußt.“
Hier verfängt sich Harper in seiner eigenen Dialektik und versäumt es, eine wichtige Frage zu beantworten: Wie kann es zu einer Zeit, in der der Kapitalismus in die tiefste Krise seiner Geschichte stürzt, eine bürgerliche Revolution geben? Die dazu noch ihre eigene Ideologie – entsprechend der revolutionären Periode der Bourgeoisie eine materialistische - produziert? Die Krise von 1914 – 20 scheint Harper überhaupt nicht zu berühren.
Noch einmal, wie konnte diese Revolution bürgerlich sein, und dies zumal in dieser Situation? Vorangetrieben von den fortschrittlichsten und bewusstesten Arbeitern und Soldaten Russlands, solidarisch begrüßt von den Arbeitern und Soldaten der ganzen Welt, insbesondere in jenem Land, in dem der Kapitalismus am meisten fortgeschritten war, d.h. Deutschland? Wie konnte es sein, dass genau in diesem Moment die Marxisten, die gründlichsten Dialektiker, die besten Theoretiker des Sozialismus, die materialistische Geschichtsauffassung wie Lenin selbst – wenn nicht gar besser – verteidigten? Wie konnte es sein, dass ausgerechnet Leute wie Plechanow und Kautsky sich auf der Seite der Bourgeoisie gegen die revolutionären Arbeiter und Soldaten der gesamten Welt und insbesondere gegen Lenin und die Bolschewiki wiederfanden?
Harper stellte sich nicht einmal diese Fragen, wie sollte er also Antworten finden? Umso überraschender ist es, dass er diese Fragen nicht stellt.
Weiterhin fällt auf, dass Harpers grundsätzlich richtige philosophische Studie einige Behauptungen enthält, die Erstere wiederum in ein anderes Licht stellt. Nach Harper gibt es unter den marxistischen Theoretikern zum Problem der Erkenntnis zwei fundamental entgegengesetzte Tendenzen. Diese Trennung, die er bereits im Leben und Werk von Marx selbst sieht, ist etwas vereinfachend und schematisch. Harper sieht in Marx‘ Werk zwei Perioden:
1. Vor 1848 Marx, der fortschrittliche bürgerliche Materialist: „Religion ist das Opium des Volkes“, eine Aussage, die später von Lenin aufgegriffen wurde; weder Stalin noch die russische Bourgeoisie haben es für notwendig gehalten, die Parole von den Denkmälern der offiziellen Parteipropaganda zu verbannen.
2. Dann Marx, der revolutionäre Materialist und Dialektiker: der Angriff auf Feuerbach, das Kommunistische Manifest usw., „das Sein bestimmt das Bewusstsein“.
Für Harper ist es kein Zufall, dass Lenins Werk („Materialismus und Empiriokritizismus“) im Grunde genommen ein Beispiel für die erste Periode des Marxismus darstellt. Ausgehend von der Vorstellung, dass Lenins Ideologie durch die historische Bewegung, an der er teilnahm, bestimmt ist, behauptet Harper, dass sich der grundlegende Charakter dieser Bewegung als eine Variation des bürgerlichen Materialismus in Lenins Ideologie ausdrückt (Harper berücksichtigt hier allein „Materialismus und Empiriokritizismus“).
Dies führt Harper zu der Schlussfolgerung, dass “Materialismus und Empiriokritizismus” nun die Bibel der russischen Intellektuellen, Techniker usw. – der Repräsentanten der neuen staatskapitalistischen Klasse – sei. Aus seiner Sicht sind die russische Revolution im Allgemeinen und die Bolschewiki im Besonderen die Vorwegnahme einer allgemeineren revolutionären Entwicklung: die Evolution des Kapitalismus zum Staatskapitalismus, die revolutionäre Mutation der liberalen Bourgeoisie zu einer bürokratischen Staats-Bourgeoisie, von der der Stalinismus der vollkommenste Ausdruck sei.
Harpers Vorstellung ist, dass diese Klasse, die überall „Materialismus und Empiriokritizismus“ als ihre Bibel ansieht (Stalin und seine Freunde verteidigen weiterhin das Buch), das Proletariat als Basis für ihre staatskapitalistische Revolution benutzt. Deshalb ist die neue Klasse auf die marxistische Theorie angewiesen.
Daher ist es Ziel dieser Ausführungen, nachzuweisen, dass diese erste Ausformung des Marxismus über Lenin direkt zu Stalin führt. Ähnliches haben wir bereits von bestimmten Anarchisten gehört, wobei diese dies gleich auf den gesamten Marxismus beziehen. Stalin ist danach das logische Ergebnis des Marxismus – nach anarchistischer „Logik“ ist es das tatsächlich!
Dieser Ansatz versucht ebenfalls zu zeigen, dass eine neue – sich auf das Proletariat stützende - revolutionäre Klasse genau in dem Moment auf der Bühne der Geschichte erscheint, wo der Kapitalismus selbst, aufgrund der Hyperentwicklung der Produktivkräfte innerhalb einer Gesellschaft, die auf der Ausbeutung der menschlichen Arbeit (Mehrwertabpressung) basiert, in seine permanente Krise eingetreten ist.
Diese zwei Ideen, die Harper in „Lenin als Philosoph“ vor dem Krieg von 1939 – 45 entwickelt, wurden bereits von Anderen mit unterschiedlichstem sozialem und politischem Hintergrund vorgetragen. Die erste Vorstellung wird von den meisten Anarchisten vertreten, die zweite von vielen reaktionären bürgerlichen Schreiberlingen, wie James Burnham.
Es ist nicht überraschend, dass Anarchisten solch mechanistische und schematische Konzepte vorbringen, die behaupten, dass der Marxismus die Quelle des Stalinismus und der staatskapitalistischen Ideologie oder der neuen herrschenden Management-/Bürokraten-Klasse sei. Sie sind das Problem der Philosophie nie in der Form angegangen, wie Revolutionäre es getan haben: Für sie stammen Marx und Lenin von Auguste Comte ab und alle marxistischen Strömungen werden ausnahmslos mit der „bolschewistisch-stalinistischen Ideologie“ in einen Topf geworfen. Zwischenzeitlich orientiert sich die anarchistische Version des philosophischen Denkens an der letzten Mode des Idealismus, von Nietzsche zum Existenzialismus, von Tolstoi zu Sartre.
Harpers These ist, dass Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus“ als philosophische Untersuchung des Problems der Erkenntnis nicht weiter geht als die Interpretationsmethoden, die typisch für den mechanistischen, bürgerlichen Materialismus sind. Doch von hier zu der Schlussfolgerung zu kommen, dass weder die Bolschewiki noch der Bolschewismus oder die russische Revolution über das Stadium der bürgerlichen Revolution hinaus kommen konnten, lässt Harper in derselben Position wie die Anarchisten oder Vertreter der Bourgeoisie, wie Burnham, enden. Darüber hinaus widerspricht diese Schlussfolgerung einer anderen korrekten Aussage von Harper:
„Der Materialismus hat nur kurze Zeit die Weltanschauung der bürgerlichen Klasse beherrscht. Nur solange diese glauben konnte, dass die bürgerliche Gesellschaftsordnung, mit ihrem Privateigentum, ihrer persönlichen Freiheit und ihrem freien Wettbewerb, durch die Entwicklung der Produktion unter dem endlosen Fortschritt der Wissenschaft und der Technik die praktischen Probleme des Lebens für jeden lösen würde, nur solange konnte sie glauben, dass mittels der Naturwissenschaft die theoretischen Probleme gelöst wurden, und brauchte sie keine übernatürlichen geistigen Mächte mehr. Als die Tatsache, dass der Kapitalismus die Frage der Existenz für die Massen nicht lösen konnte, hervortrat in dem emporkommenden Klassenkampf des Proletariats, verschwand die zuversichtliche materialistische Betrachtung der Welt. Die Welt erschien nun voll der Unsicherheit und der unlösbaren Widersprüche, voll unheimlich drohender Mächte.“ (ebenda, S. 311)
Wir werden im weiteren Verlauf dieses Problem vertiefen, hier sehen wir uns – in der Hoffnung, nicht in eine sterile Polemik hineingezogen zu werden – jedoch veranlasst, auf diesen unlösbaren Widerspruch, in den Harper sich selbst bringt, hinzuweisen - auf der einen Seite ein solch komplexes Problem so simpel anzugehen und auf der anderen Seite unter Berücksichtigung der Schlussfolgerungen, die er über Bolschewismus und Stalinismus zieht.
Noch einmal fragen wir: Wie erklärt man die Tatsache, dass genau zu dem Zeitpunkt, als der Klassenkampf beispiellose Höhen erklomm, innerhalb der Bourgeoisie eine materialistische Strömung geboren wurde, die eine neue bürgerlich-kapitalistische Klasse hervorbrachte - wenn wir gleichzeitig Harpers These folgen, dass die Bourgeoisie idealistisch wurde, als der proletarische Klassenkampf auf der Bühne erschien? Harper erkennt in Lenins Philosophie den Aufstieg einer bürgerlichen materialistischen Strömung genau zu dem Zeitpunkt, als die Bourgeoisie eigentlich vollständig idealistisch sein sollte. Und falls, nach Harper, Lenin „gezwungen war, materialistisch zu sein, um die Arbeitern hinter sich zu sammeln“, müssen wir folgende Frage stellen: Nahmen die Arbeiter die Ideologie Lenins an, oder passte sich Lenin den Bedürfnissen des Klassenkampfes an? Harper präsentiert uns diesen erstaunlichen Widerspruch: Entweder folgte das Proletariat einer bürgerlichen Strömung, oder eine Bewegung der Arbeiterklasse scheidet eine bürgerliche Ideologie aus.
In beiden Fällen würde das Proletariat nicht mit einem eigenen Blick auf die Welt auf der Bühne erscheinen. Es ist eine merkwürdige Version des marxistischen Materialismus, die uns zu solchen Schlussfolgerungen verleiten kann: Das Proletariat lässt sich auf unabhängige Aktionen ein, aber produziert dabei eine bürgerliche Ideologie. Das ist exakt das Ergebnis von Harpers These.
Des Weiteren ist es nicht ganz richtig zu behaupten, dass die Bourgeoisie in einer bestimmten Phase rein materialistisch und in einer anderen rein idealistisch war. In der bürgerlichen Revolution von 1789 ersetzte der Kult der Vernunft in Frankreich den Gotteskult. Dies ist typisch für den dualen Charakter der Konzepte– materialistisch und idealistisch zugleich -, die die gegen Feudalismus, Religion und die Macht der Kirche kämpfende Bourgeoisie benötigte (ein Kampf im Übrigen, der sehr heftige Formen annahm, wie die Verfolgung von Priestern und das Niederbrennen von Kirchen zeigt). Wir werden später auf diesen permanenten dualen Aspekt der bürgerlichen Ideologie zurückkommen, der selbst in seinen höchsten Ausschlägen der „Großen Revolution“ nie über das Stadium von „Religion ist das Opium des Volkes“ hinauskam.
Wir haben jedoch noch längst nicht alle Schlussfolgerungen gezogen, zu denen uns Harpers Arbeit bringt. Dazu müssen wir all jenen einige historische Tatsachen in Erinnerungen zurückrufen, die die Oktoberrevolution dem bürgerlichen Lager zuschreiben wollen. Die erste Untersuchung von Harpers philosophischen Schlussfolgerungen und Theorien hat uns dazu gebracht, bestimmte Fragen, die wir später entwickeln werden, zu reflektieren. Darüber hinaus gibt es andere Fakten, die Harper wohl nicht übergehen wollte. Seitenlang spricht er über bürgerliche Philosophie und Lenins Philosophie und kommt zu Schlussfolgerungen, die, gelinde gesagt, gewagt sind und die eine ernsthafte und tiefere Untersuchung verlangen. Welcher marxistische Materialist kann eine Person, eine politische Gruppe oder Partei in dieser Weise anklagen, wie Harper Lenin und die bolschewistische Partei dafür anklagt, dass sie eine bürgerliche Strömung und Ideologie - „… auf dem Proletariat basierend“ (Harper) - repräsentieren würden, ohne zuerst die historische Bewegung, der sie angehörten, zu untersuchen?
Es war die Bewegung der internationalen und russischen Sozialdemokratie, die die bolschewistische Fraktion und alle anderen links-sozialistischen Fraktionen hervorgebracht hat. Wie wurde diese Fraktion gebildet? Welche ideologischen Kämpfe hatte diese zu führen, um sich als separate Gruppe, dann als Partei, schließlich als Avantgarde einer internationalen Bewegung herauszuschälen?
Der Kampf gegen den Menschewismus, Lenins Iskra und „Was tun?“, die Revolution von 1905 und die Rolle Trotzkis; Trotzkis Theorie der permanenten Revolution, die ihm dazu brachte, zwischen dem Februar und dem Oktober 1917 mit den Bolschewiki zu fusionieren; der revolutionäre Prozess zwischen Februar und Oktober; die rechten Sozialdemokraten und die Sozialrevolutionäre; Lenins Aprilthesen; die Konstitution der Sowjets und der Arbeitermacht; Lenins Position zum imperialistischen Krieg - Harper verliert hierzu nicht ein Wort. Dies ist keineswegs zufällig.
(wird fortgesetzt)
Mousso und Phillipe
Source URL: https://en.internationalism.org/node/3102 [99]
Französisches Original: https://fr.internationalism.org/rinte25/lenine.htm [100]Oder so: „Nach Libyen soll nun auch in Syrien ein imperialistisches Lakaienregime errichtet werden. Auch hier gilt: die fortschrittlichen Kräfte stützen und den Kampf gegen die imperialistischen Mächte führen.“ (aus Aufbau Nr. 68, März/April 2012)?
Weshalb dieser Artikel?
Wenn wir in die linken Zeitungen oder Internetpublikationen schauen, um uns über den blutigen Konflikt in Syrien zu informieren, stellen wir fest, dass es kaum grundsätzliche Stellungnahmen zum Charakter dieses Krieges gibt. Auf dem Diskussionsforum undergrounddogs.net beispielsweise, wo täglich Beiträge zu allen Fragen in den Bereichen Politik, Wirtschaftskrise, Klassenkampf etc. gepostet werden, steht der Thread „Syrien“ seit dem 24. Juni 2012 still. Die Diskussion wird nicht weiter geführt; schon vorher ging es kaum um den Charakter dieses Krieges, geschweige denn um eine internationalistische Haltung gegenüber diesem Krieg.
Was die Situation in Syrien betrifft, gibt es im Vergleich zu Konflikten während des Kalten Krieges, deren Stellvertretercharakter meist offensichtlich war (z.B. Vietnam), das Problem, die Hintergründe zu durchschauen. Doch auch in Syrien mischen andere Staaten mit (siehe dazu: „Die imperialistischen Mächte fachen den Krieg in Syrien weiter an“ in dieser Ausgabe). Im Vergleich zu früheren Konflikten ist es in Syrien aber schwieriger vorauszusagen, was bei einem Sturz des aktuellen Regimes geschehen wird. Die „Oppositionskräfte“ und ihre Mäzene vertreten z.T. gegensätzliche Positionen, das Trennende überwiegt das Verbindende bei weitem.
Im Frühjahr 2011 schien es, als sei in Syrien ein ähnlicher Prozess in Gang gekommen wie in Tunesien und Ägypten. Doch bald darauf wurden die sozialen Proteste gegen die Unterdrückung und die schlechten Lebensbedingungen in Syrien in einen blutigen Krieg zwischen verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse gezogen.
Es ist nicht absehbar, dass sich so etwas wie ein proletarischer Widerstand in Syrien noch äußern könnte. Jede Regung des gesellschaftlichen Lebens ist von der Logik des Krieges bestimmt, hinter dem die größeren und kleineren Mächte stehen. Der Krieg in Syrien ist ein imperialistischer, in dem es um die Vorherrschaft in einem bürgerlichen Nationalstaat bzw. um die Neuaufteilung des Territoriums zugunsten von neuen Nationalstaaten geht.
Das Proletariat hat dabei nichts zu gewinnen. Weder die Unterstützung des Assad-Regimes, noch diejenige des Syrischen Nationalrats, der Freien Syrischen Armee oder sonst einer Oppositionskraft bieten eine Perspektive.
Aber seien wir realistisch: Vor Ort hat die Arbeiterklasse momentan keine Chance, sich auf ihrem eigenen Terrain, mit Streiks und Massendemonstrationen zur Wehr zu setzen. Eine Umpolung der bürgerlichen Kriegslogik in eine proletarische, revolutionäre Dynamik ist nur unter einem veränderten internationalen Kräfteverhältnis zwischen der Arbeiterklasse und dem Kapital möglich. Jeder Teil des Proletariats, der in nationalen Grenzen gefangen bleibt, kann für sich allein nichts ausrichten (vgl. Griechenland).
Die linken Freunde Assads
In der Schweiz berichtet der so genannte Revolutionäre Aufbau ab und zu über Syrien, teilweise mit Artikeln aus der deutschen Tageszeitung Junge Welt. In der Nr. 69 (Mai/Juni 2012) publizierte der Aufbau einen Artikel unter dem Titel „Waffenhandel und Kriegshetze“, in dem etwas versteckt das Assad-Regime als die bessere Seite dargestellt wird: „Für den französischen Präsidenten Sarkozy war der Tod von zwei JournalistInnen Grund genug, um den Sturz des syrischen Präsidenten Assad zu fordern (…) Mit Geldern aus den Golfstaaten werden Söldner angeheuert, sicherlich nicht, um den von der UNO geforderten Waffenstillstand einzuhalten. Für die Hardliner der Golfstaaten, Israel und die USA geht es einzig und allein um den Sturz von Assad. Mit verstärkten militärischen Angriffen auf die syrische Armee sabotieren daher die ‚Rebellen‘ mit allen Mitteln eine mögliche Waffenruhe.“ Als ob das Assad-Regime dies anstrebt…
In demselben Geist stand schon in Nr. 68 unter dem Titel „Hände weg von Syrien“: „Das syrische Regime antwortete auf die Demonstrationen keineswegs nur mit Gewalt, sondern leitete zahlreiche Reformen ein. Gerade aus kommunistischer Sicht kann man sich damit sicherlich nicht begnügen. Nur, die Antwort der imperialistischen Mächte auf jeden Reformschritt war die Verschärfung der Boykottmaßnahmen und der Kriegshetze gegen die syrische Regierung.“
Der Aufbau bleibt seiner „antiimperialistischen“ Logik treu, dass es in der aktuellen Staatenwelt einerseits die imperialistischen und andererseits die „fortschrittlichen“ Mächte gebe. Und er lässt keinen Zweifel, dass die imperialistischen Mächte die USA, die EU-Staaten, die Türkei, Israel, die reichen Golfstaaten sind, nicht aber Syrien.
Die linken Freunde der syrischen „Opposition“
Schon vor einem Jahr schlugen sich aber Linke auch auf die andere Seite des Krieges in Syrien. Indymedia berichtete am 23.07.2011 über eine Solidaritätsdemo für den Aufstand in Syrien: „In Berlin haben heute 300 Menschen an einer Demonstration auf dem Kudamm teilgenommen. Aufgerufen hatte das Netzwerk 'Gemeinsam für ein freies Syrien‘. Es waren überwiegend in Deutschland lebende Menschen aus den arabischen Raum vertreten, einige wenige deutsche Linke nahmen auch teil, darunter mehrere Vertreter der Partei ‚Die Linke‘, die auch mit Fahnen ihrer Partei auftraten.“
In der Schweiz versuchten Linke im Sommer 2012, ebenfalls eine „Solidaritätsdemonstration mit dem syrischen Volk“ zu organisieren. Ob daraus etwas wird, ist zurzeit unklar. Aus den ersten Verlautbarungen dazu ging hervor, dass sich die Demo gegen das Assad-Regime richten und die „Selbstwehrgruppen“ unterstützen soll. Ähnliche „moralische“ Unterstützung für Teile der Opposition gegen Assad ist auch auf Blogs zu finden, die sich als libertär verstehen.
Welche Logik steckt hinter diesen Positionen? Wahrscheinlich sind sie von der Hoffnung geleitet, dass die „demokratischen“ Kräfte das geringere Übel seien. Dabei wird aber nicht gefragt, ob diese Kräfte tatsächlich etwas mit unserem Ziel zu tun haben, den Kapitalismus zu überwinden. Die Unterstützung der „Opposition“ in Syrien bedeutet die Parteinahme für eine andere bürgerliche Fraktion im Krieg, die unabhängig von ihrer Truppenstärke ein imperialistischer ist. So etwa waren die Linken mit ihrer Kampagne des „geringeren Übels“ während des Libyenkrieges 2011die besten Helfer der französischen Bourgeoisie, um den Widerstand im eigenen Land gegen den militärischen Feldzug so klein wie möglich zu halten.
Was ist das Prinzip des Internationalismus?
Die Rede von den „fortschrittlichen Kräfte“, auf die man sich stützen müsse, erinnert stark an die alte Leier der Trotzkisten, die unter dem gleichen Vorwand in jedem Krieg nach dem „geringeren Übel“ suchen, um dieses zu unterstützen. Unsere politischen Vorfahren, die Genossen von Internationalisme, schrieben 1947 zur Haltung der Trotzkisten im Zweiten Weltkrieg: „Ausgehend von dieser ewigen Wahl zwischen dem ‚geringeren Übel‘ haben sich die Trotzkisten am imperialistischen Krieg beteiligt. Die Notwendigkeit der Verteidigung der UdSSR stand keineswegs im Vordergrund. Bevor diese verteidigt wurde, hatten sie sich schon am Spanienkrieg (1936-1938) im Namen der Verteidigung des republikanischen Spaniens gegen Franco beteiligt. Dann verteidigten sie das China Chiang Kai-Sheks gegen Japan.“
(/content/1977/internationalisme-1947-was-die-revolutionaere-von-den-trotzkisten-unterscheidet [113])
Die konsequent proletarische Haltung in einem Krieg zwischen verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie um die Macht im kapitalistischen Nationalstaat ist der Internationalismus: Verbrüderung der ProletarierInnen über die Schützengräben hinweg – Kampf auf dem Klassenterrain weltweit gegen jede Bourgeoisie. Nur die Vereinigung der proletarischen Kämpfe über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg kann mit der imperialistischen Kriegslogik brechen.
Eine internationalistische Position zu vertreten heißt nicht, sich der Illusion hinzugeben, dass die Arbeiterklasse in einem Krieg zwangsläufig die Waffen niederlegen. Revolutionär zu sein bedeutet, konsequent internationalistisch zu handeln – meist gegen den Strom. Dies bedeutet heute angesichts der Situation in Syrien, sich über den wahren Charakter dieses Krieges bewusst zu werden; ihn als Ausdruck der Barbarei des Kapitalismus zu bekämpfen, indem wir unsere Stimme innerhalb der Arbeiterklasse erheben. Vor allem dann, wenn die Kriegspropaganda von politischen Gruppen verbreitet wird, die sich auf die Arbeiterklasse berufen. Eine Demonstration gegen den Krieg auf der Grundlage des proletarischen Klassenkampfes wäre eine gute Sache. Solche Demonstrationen gab es während des Ersten Weltkriegs z.B. in Deutschland und Russland. Wenn aber die bürgerliche Linke zu Antikriegs-Demos aufruft, geht es meist um die Unterstützung einer Kriegspartei, d.h. es ist Kriegspropaganda im pazifistischen Schafspelz.
Die proletarischen Kämpfe brechen spontan aus. Revolutionäre spielen dabei nur selten eine auslösende Rolle. Hingegen hängt es von unserer Intervention ab, welche Inhalte in den Kämpfen zum Ausdruck kommen und ob Strukturen der Selbstorganisierung entstehen. Deshalb ist eine klare Haltung notwendig – auch zum Krieg in Syrien.
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Wo wird das enden? Wie können wir antworten?
1984 setzte die damalige Regierung der PSOE
(Sozialistische Partei) die erste Arbeitsmarkt-Reform durch. Vor kaum drei
Monaten hat die jetzige PP-Regierung (des rechten Partido Popular) mit der
Umsetzung der schwersten Arbeits-Reformen begonnen, die es bisher je gegeben
hat. 1985 setzte die PSOE-Regierung die erste Renten-Reform durch; im Jahr 2011
kam es zu einer weiteren. Wann wird die nächste folgen? In den letzten 30
Jahren haben sich die Lebensbedingungen für die Arbeiter allmählich verschlechtert,
aber seit 2010 hat sich der Rhythmus der Verschlechterungen gewaltig
beschleunigt, und mit den neuen Maßnahmen der PP-Regierung werden Stufen
erreicht, die leider noch nichts sind im Vergleich zu den Angriffen, die uns
erwarten. Es gab aber zudem eine Verschärfung der Polizeirepression: Gewalt
gegen die Studenten in Valencia im vergangenen Februar; Knüppel gegen die Bergarbeiter;
der Einsatz von Gummischrot, der unter anderem bei einem Mädchen zu einem
riesigen Bluterguss am Rücken führte; die Schließung des Kongresses durch die
Polizei angesichts der spontanen Demonstrationen, die in der ersten Juli-Hälfte
ausgebrochen sind ...
Wir, die UNGEHEURE MEHRHEIT, nicht nur ausgebeutet und unterdrückt, sondern
auch empört, wir Arbeiter_innen des
öffentlichen und des privaten Sektors, Arbeitslose, Student_innen, Rentner_innen,
Einwanderer_innen... wir haben eine Menge Fragen zu allem, was da passiert.
Wir müssen diese Fragen gemeinsam auf den Straßen und Plätzen stellen, an den Arbeitsplätzen, um zusammen Antworten zu finden – um eine massenhafte, überzeugende und nachhaltige Antwort zu geben.
Der Zusammenbruch des Kapitalismus
Die Regierungen wechseln sich ab, aber die Krise wird immer schlimmer, und wir werden je länger je härter getroffen. Jedes Gipfeltreffen der EU, der G20 usw. wird dargestellt als die „endgültige Lösung“... und schon am Tag darauf entpuppt sie sich als Totalausfall. Sie sagen uns, dass die Einschnitte nötig seien, um die Risiken für die bedrohte Wirtschaft zu verringern, und am Tag darauf sehen wir, dass das genaue Gegenteil wahr ist. Nach so vielen Einschnitten in unseren Lebensstandard bekennt der IMF, dass wir bis 2025 (!) warten müssen, um wieder den Lebensstandard von 2007 zu erreichen. Die Krise rückt unerbittlich und unaufhaltsam vor und lässt in ihrem Kielwasser Millionen von zerstörten Existenzen zurück.
Natürlich sind einige Länder besser dran als andere, aber wir müssen die Welt als Ganzes betrachten. Das Problem ist nicht begrenzt auf Spanien, Griechenland oder Italien, noch kann es reduziert werden auf eine „Euro-Krise“. Deutschland ist am Rande der Rezession und hat 7 Millionen Mini-Jobs (mit Löhnen von 400 Euro pro Monat). In den USA steigt die Arbeitslosigkeit mit der gleichen Geschwindigkeit wie die Zahl der Wohnungsräumungen. In China hat sich das Wirtschaftswachstum während nun schon 7 Monaten verlangsamt trotz der wahnsinnigen Immobilien-Blase, die dazu geführt hat, dass allein in Peking 2 Millionen Wohnungen leer stehen.
Wir erleben am eigenen Leib die weltweite und historische Krise des kapitalistischen Systems, zu dem alle Staaten gehören – unabhängig von deren offizieller Ideologie, ob sie sich „kommunistisch“ nennen wie China oder Kuba, „sozialistisch“ wie Frankreich, „demokratisch“ wie die USA, „liberal“ wie Spanien und Deutschland oder ob sie sich auf den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ berufen wie Ecuador oder Venezuela.
Der Kapitalismus hat den Weltmarkt geschaffen, aber vor bald 100 Jahren hat er sich in ein reaktionäres System verwandelt, das die Menschheit in die schlimmste Barbarei geführt hat: zwei Weltkriege, unzählige regionale Kriege, die Zerstörung der Umwelt ... und während es Momente eines künstlichen Wirtschaftswachstums gegeben hat, auf der Grundlage von Spekulation und Blasen aller Art, stürzt es heute und seit 2007 in die schlimmste Krise seiner Geschichte mit der Pleite von Staaten, Firmen und Banken, die sich vor einer ausweglosen Insolvenz befinden. Das Ergebnis eines solchen Debakels ist eine gigantische menschliche Katastrophe. Während sich die Hungersnot und die Armut in Afrika, Asien und Lateinamerika ausbreiten, verlieren in den sogenannten reichen Ländern Millionen von Menschen ihre Jobs, Hunderttausende werden aus ihren Häusern vertrieben und die Mehrheit der Lohnarbeitenden weiß nicht, wie sie es bis zum Monatsende schaffen soll mit den steigenden Kosten und der geringeren Verfügbarkeit von sozialen Dienstleistungen, so dass das Leben je länger je prekärer wird, und dazu kommt schließlich das erdrückende Gewicht der direkten und indirekten Steuern.
Der demokratische Staat ist die Diktatur der kapitalistischen Klasse
Der Kapitalismus teilt die Gesellschaft in zwei Pole: den Minderheitspol der kapitalistischen Klasse, die alles besitzt und nichts produziert; und den Mehrheitspol der ausgebeuteten Klassen, die alles produzieren und immer weniger davon erhalten.
Die kapitalistischen Klasse, dieses 1% der Bevölkerung, wie die Occupy-Bewegung in den USA gesagt hat, tritt immer korrupter, arroganter und beleidigender auf. Sie häuft schamlos Reichtum an; sie zeigt sich ganz gefühllos gegen das Leiden der Mehrheit; und überall, wo es nötig zu sein scheint, lässt sie ihr politisches Personal Kürzungen und Sparmaßnahmen umsetzen. Warum denn kann sie trotz der großen Bewegungen der sozialen Empörung, die sich 2011 entfaltet haben (in Spanien, Griechenland, den USA, Ägypten, Chile, etc.), immer noch eine Politik gegen die Interessen der Mehrheit durchziehen? Warum ist unser Kampf trotz der wertvollen Erfahrungen, die er uns gebracht hat, bei Weitem ungenügend gemessen an dem, was erforderlich wäre?
Eine erste Antwort liegt im Betrug des demokratischen Staates. Dieser stellt sich dar als „Ausdruck aller Bürger“, aber in Wirklichkeit ist er das ausschließliche und ausschließende Organ der kapitalistischen Klasse. Er dient völlig deren Interessen und kann sich auf zwei Hände verlassen: die Rechte bestehend aus Polizei, Gefängnissen, Gerichten, Gesetzen, Bürokratie, die es in Bewegung setzt, um uns zu unterdrücken und jeden Versuch des Aufstands niederzuschlagen. Und die Linke bestehend aus den politischen Parteien mit allen möglichen Ideologien, den scheinbar unabhängigen Gewerkschaften und verschiedensten Institutionen, die angeblich den sozialen Zusammenhalt zu unserem Wohl schützen sollen ... – eine ganzes Arsenal, das uns Luftschlösser malt, damit wir uns täuschen, spalten und demoralisieren lassen.
Was haben uns all die Wahlen alle vier Jahre gebracht? Haben die Regierungen je ihre Wahlversprechen gehalten? Welches immer auch ihre Ideologie war: Auf wessen Seite standen sie? Auf derjenigen ihrer Wähler_innen oder auf derjenigen des Kapitals? Was haben all die Reformen und Änderungen gebracht, die bei der Bildung, der sozialen Sicherheit, in der Wirtschaft, der Politik, etc. umgesetzt wurden? Waren sie nicht ein großer Betrug im Stile: „Alles muss sich ändern, damit alles beim Alten bleibt“? Wie die Bewegung des 15. Mai (15M) seinerzeit sagte: „Sie nennen es Demokratie, und sie ist es nicht – es ist eine Diktatur, und wir sehen sie nicht“.
Angesichts der weltweiten Elends: Weltrevolution gegen das Elend!
Der Kapitalismus führt zum verallgemeinerten Elend. Aber wir sollten im Elend nicht nur das Elend sehen! In diesem System befindet sich die wichtigste ausgebeutete Klasse, das Proletariat, die mit ihrer assoziierten Arbeit – die nicht beschränkt ist auf Industrie und Landwirtschaft, sondern die Arbeit in der Bildung, Gesundheit, im öffentlichen Dienst usw. mitumfasst – das Funktionieren der ganzen Gesellschaft gewährleistet. Deshalb hat diese Klasse die Fähigkeit, die kapitalistische Maschine zu lähmen und öffnet die Tür zur Schaffung einer Gesellschaft, wo das Leben nicht auf dem Altar des kapitalistischen Profits geopfert wird, wo die Wirtschaft der Konkurrenz durch eine Produktion ersetzt wird, die auf Solidarität beruht und der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse dient. Kurz, eine Gesellschaft, welche die Widersprüche, in die der Kapitalismus die Menschheit verwickelt, aufhebt.
Dies ist nicht bloß ein Wunschtraum, sondern die historische und weltweite Erfahrung von 200 Jahren des Kampfes der Arbeiterbewegung, aber das Ziel erscheint noch als weit entfernt und schwierig zu erreichen. Einen Grund dafür haben wir schon erwähnt: Man betrügt uns ständig mit der Illusion des demokratischen Staates. Aber es gibt tieferliegende Gründe: Die Mehrheit der Arbeiter_innen verstehen sich nicht als solche. Wir haben nicht das nötige Selbstvertrauen, um uns als selbständige gesellschaftliche Kraft zu begreifen. Und vor allem die Lebensweise dieser Gesellschaft, die auf der Konkurrenz, auf dem Kampf eines Jeden gegen Jeden beruht, führt uns in die Vereinzelung, jeder für sich, zur Trennung voneinander und zur Konfrontation gegeneinander, statt miteinander.
Das Bewusstsein über diese Probleme, die offene und brüderliche Debatte über sie, die kritische Wiederaneignung der Erfahrung von mehr als zwei Jahrhunderten des Kampfes sind die Mittel, um diese Situation zu überwinden und auf die Angriffe zu reagieren. Am gleichen Tag, als Premierminister Rajoy die neuen Maßnahmen ankündigte (11. Juli), begannen schon Antworten aufzutauchen. Viele Menschen gingen nach Madrid, um ihre Solidarität mit den Bergarbeitern zum Ausdruck zu bringen. Diese Erfahrung der Einheit und Solidarität wurde in den darauf folgenden Tagen konkretisiert mit spontanen Demonstrationen, zu denen über die sozialen Netzwerke aufgerufen wurde. Es war eine Initiative von Beschäftigten im öffentlichen Dienst, außerhalb der Gewerkschaften. Die Frage ist, wie wir weitermachen, wohl wissend, dass der Kampf lang und schwierig sein wird? Hier einige Vorschläge:
Vereinter Kampf: Arbeitslose, Beschäftigte im öffentlichen und privaten Sektor, Lehrlinge und Ausgebildete, Rentner_innen, Student_innen, Einwanderer_innen: Zusammen schaffen wir es. Kein Sektor darf isoliert und abseits stehen bleiben. Angesichts einer Gesellschaft der Spaltung und der Vereinzelung müssen wir die Kraft der Solidarität zeigen.
Offene Vollversammlungen: Das Kapital wird stark bleiben, solange wir alles in den Händen von Berufspolitikern und Spezialisten der gewerkschaftlichen Vertretung lassen, die uns ständig verraten. Vollversammlungen zum kollektiven Nachdenken, für die Diskussion und zum gemeinsamen Entscheid. Damit wir alle Verantwortung übernehmen für die Umsetzung dessen, was wir beschlossen haben; damit wir Freude daran haben, zusammen zu sein; damit wir die Barrieren der Einsamkeit und Isolation durchbrechen und Einfühlungsvermögen und Vertrauen kultivieren können.
Suchen wir die internationale Solidarität: Die Verteidigung der Nation macht aus uns Kanonenfutter für den Krieg, schafft Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, trennt uns und stellt uns gegeneinander. Doch die Arbeiter_innen der ganzen Welt sind die einzigen, denen wir vertrauen können, um die Kraft zu schaffen, die es braucht, um die Angriffe des Kapitals zurück zu schlagen.
Kommen wir zusammen an den Arbeitsplätzen, in den Vierteln, im Internet, in Kollektiven, um über alles nachzudenken, das vor sich geht; organisieren wir Treffen und Debatten, welche die kommenden Kämpfe befruchten und vorbereiten. Es genügt nicht, bloß zu kämpfen! Wir müssen mit dem klarst möglichen Bewusstsein darüber, was passiert, was unsere echten Waffen sind, wer unsere Freunde und wer unsere Feinde sind, kämpfen!
Jede gesellschaftliche Veränderung ist unausweichlich auch eine individuelle Veränderung. Unser Kampf kann sich nicht auf eine einfache Änderung der politischen und wirtschaftlichen Strukturen beschränken. Vielmehr geht es um eine radikale Änderung des gesellschaftlichen Systems und somit unseres eigenen Lebens, unserer Sicht der Dinge, unserer Wünsche. Nur so können wir die nötige Kraft entwickeln, um den unzähligen Fallen zu widerstehen, die man uns in den Weg stellen wird, den physischen und moralische Schlägen, die auf uns niedergehen werden. Es braucht eine Änderung in der Mentalität hin zur Solidarität, zum kollektiven Bewusstsein, die nicht nur der Kitt unsere Einheit sind, sondern das Fundament einer zukünftigen Gesellschaft jenseits der wilden Konkurrenz und der alles durchdringenden Kommerzialisierung in der kapitalistischen Gesellschaft.
Internationale Kommunistische Strömung, 16.07.12
Am 18. Juli starb der marxistische Wirtschaftstheoretiker Robert „Bobby“ Kurz aufgrund eines ärztlichen Behandlungsfehlers, als er - statt an den Nieren – an der Bauchspeicheldrüse operiert wurde. Damit ging mit 68 Jahren vorzeitig eine wissenschaftliche Forschungstätigkeit zu Ende, die die Ergebnisse seiner theoretischen Annahmen nicht mehr weiter verifizieren konnte. Er hinterlässt aber als Autor oder Co-Autor mit den Büchern wie zum Beispiel „Der Kollaps der Modernisierung“, „Honeckers Rache“, „Schwarzbuch Kapitalismus“, „Der Dritte Weg in den Bürgerkrieg“, „Weltordnungskrieg“ und zahllosen anderen Beiträgen in den Theoriezeitschriften „Krisis“ und „Exit!“ eine große Menge an anschaulichem Material, mit dem er eine Art Zusammenbruchstheorie in allen ihren gesellschaftlichen Schattierungen auf Basis kapitalistischer Wertvergesellschaftung skizzierte.
Robert Kurz war einer der Wenigen, denen schon in den siebziger Jahren die theoretische Enge bzw. Theorielosigkeit des Kommunistischen Arbeiterbundes Deutschlands (KABD) und anderer K-Gruppen zuwider war und die deshalb begannen, eigene theoretische Analysen auf marxistischer Grundlage zu entwickeln. Es gelang ihm, noch in den achtziger Jahren revolutionär gestimmte Abtrünnige der niedergehenden K-Gruppen und andere politisch Interessierte um sich zu sammeln und mit ihnen – jenseits tagesaktueller Kampagnenpolitik - ein theoretisches Fundament zu erarbeiten, was die Stagnation kapitalistischer Entwicklungsvorhaben der Jetztzeit auf der Basis der Marxschen Arbeitswertlehre und Wertkritik erklären konnte. Der Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“, des Ostblocks, war eine erste zentrale Bestätigung seiner Annahmen und die Initialzündung für weitergehende ökonomische und gesellschaftliche Analysen auf Grundlage des „doppelten Marx“, wie Kurz es formulierte. Darunter versteht er den vom alten Arbeiterbewegungsmarxismus fast gänzlich unbeachteten, das kapitalistische Gesamtsystem transzendierenden Marxschen Theoriearm um Begriffe wie „Wertsubstanz“, „automatisches Subjekt“ und „Fetischcharakter des warenproduzierenden Systems“.
Robert Kurz wandte sich gegen das Hochjubeln der „Arbeiterklasse“ durch die K-Gruppen und die durch die „Linke“ und Parteien verstandene positive Besetzung des „Arbeitsbegriffs“. Er ersetzte ihn in den Folgejahren durch eine Perspektive des „produktiven Müßiggangs“, also einer Kategorie, die jeglichen Arbeiterstolz, Fleiß, Opfer, Genügsamkeit und jegliche Form des Proletenkults negiert. Hinzu kommt seine Feststellung, dass Arbeiter wie Angestellte, Manager wie Kapitalisten gleichermaßen einem subjektlosen und fetischisierten – aber mit Feuerwaffen und Staat über die Jahrhunderte durchgesetzten Wertverwertungszusammenhang von Waren und Geld ausgesetzt waren, den sie heute wie eine „zweite Natur“ anerkennen und den sie nicht hintergehen wollen. So war für Robert Kurz die Reduktion auf den „Klassenkampf“ eine zu einseitige Spielart der Marxschen Analyse, weil für ihn selbst über die Lohnkämpfe und durch die Revolution von 1917 die Wert- und Fetischform des Kapitals nicht überwunden wurden.
Weiter sind für Robert Kurz der Niedergang der so genannten „3. Welt“, dann des Ostblocks und das Hineinfressen der Krise in die imperialistischen Kernzentren untrügliche Zeichen dafür, dass die Ausdünnung der Wertsubstanz der Produkte (der variable Teil des Kapitals plus Mehrwert) durch aufeinanderfolgende produktivere Zyklen aufgrund der mikroelektronischen Revolution seit Mitte der siebziger Jahre immer größere und schnellere Rationalisierungspotenziale nach sich ziehen musste, die nicht durch Neueinstellungen kompensiert werden konnten. Die Folge: genau wie immer größere Massen an Lohnarbeitern außer Kurs gesetzt oder monetär degradiert werden, so versucht das Kapital nun, neue und höhere Profite im „finanzspekulativen Überbau“ zu generieren, also sich zunächst als realwirtschaftlicher Betrieb über die Börsen in die „schwarzen Zahlen“ zu zocken, um genügend Kapital für den nächsten Akkumulationszyklus zu haben. So wie hier für Robert Kurz der Grund für die Finanzblasen und Börsenkräche liegt, fehlen den Staaten mangels Besteuerungsmöglichkeiten die liquiden Mittel, um eine Gesundheits- und Infrastruktur aufrecht zu erhalten, die den Namen noch verdient. Die weitere Folge: die fetischistische Zurichtung der Akteure auf Ware, Wert, Geld, Zins und Kapital führt in einer nicht enden wollenden Abfolge zu absurden Verteilungskämpfen, neuen Krisen, Kriegen, Staatszerfall und Barbarisierung der Gesellschaft, ohne dass es noch irgendeine Hoffnung auf ein Anspringen der Weltkonjunktur mit Vollbeschäftigung geben könnte. Das heißt auch: Es gibt keinen plötzlichen Zusammenbruch, nicht den „großen Kladderadatsch“, was Robert Kurz als „Untergangspropheten“ permanent untergeschoben wurde, sondern eine länger andauernde Zersetzungsgeschichte des warenproduzierenden Systems mit katastrophalen Folgen, falls es nicht gelingt, den selbstdestruktiven Prozess umzukehren.
Dieses Szenario der Publikationen von „Marxistische Kritik“ über „Krisis“ bis „Exit!“ erlangte in den letzten 20 Jahren im In- und Ausland eine hohe Wertschätzung, was viele Einladungen zu Vorträgen nach sich zog. Dem kam Robert Kurz gerne nach; Reisen führten ihn bis nach Brasilien, Artikel von ihm wurden in viele Sprachen übersetzt. Nie gab er seine Unabhängigkeit auf, arbeitete lieber des Nachts in der Expedition der „Nürnberger Nachrichten“, als auf eine wie auch immer geartete Karriere zu schielen. Damit hatte er einen genügend großen Zeitfonds für sich, um seinen eigentlich wichtigen Forschungs- und Schreibarbeiten nachgehen zu können. Er ging seinen eingeschlagenen Weg unbeirrt weiter, Anfeindungen beantwortete er scharfzüngig, scheute sich aber auch nicht, Brüche und Spaltungen hinzunehmen, um sich neu zu organisieren und seine Wert- und Abspaltungstheorie weiter ausformulieren zu können. Der Bruch der „Exit!“ von der „Krisis“ und Trennung von seinen langjährigen Weggefährten war eine Etappe in seinem Kampf um die Etablierung seiner theoretischen Annahmen ohne weitere Reibungsverluste.
Unbeirrbar seinen Weg zu gehen machte ihn aber blind für mögliche Verbündete, die theoretisch auf ähnlichen politisch-ökonomischen Feldern operieren. So war ihm Organisation und Theorie der „IKS“ faktisch nicht bekannt. Er hielt eine progressive Organisationsstruktur mit ähnlichen theoretischen Ansätzen (Arbeiterräte, Dekadenztheorie der IKS, staatskapitalistischer Ostblock) für nicht möglich oder wies die IKS - ohne sie direkt zu erwähnen - in seinem Artikel „Antiökonomie und Antikritik“ pauschal einer Unterabteilung des für ihn überkommenen „Arbeitermarxismus“ zu: „Der neuere Linkskommunismus wiederum mit seinen teils maoistischen, teils aus dem italienischen ‚Operaismus‘ stammenden Ingredienzien ist über eine bestenfalls platonische Kritik der ‚Ware-Geld-Beziehungen‘ ohne philosophiekritisch und anti-ökonomisch fundierte Kritik der Wertform nie hinausgekommen und bei ganz kruden Vorstellungen stehen geblieben, die in der Praxis nicht viel mehr als eine hedonistische Maskierung der alten Arbeiterbewegungs-Ideologie waren…, d.h. sie schweigen wie das Grab über die konkrete Aufhebung der fetischistischen, vom Wert gesetzten Formbestimmtheit kapitalistischer Reproduktion.“
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Die Präsidentschaftswahlen von 2012 haben sich als positiv für die Hauptfraktionen der US-Bourgeoisie erwiesen. Präsident Obama hat die Wiederwahl erreicht und den Republikaner Mitt Romney in die Schranken gewiesen, was bedeutet, dass die Demokratische Partei auch die nächsten vier Jahre die Geschicke des Staates lenken wird.
Die Reaktion der Medien nach den Wahlen war ohrenbetäubend. Obama habe einen Erdrutschsieg errungen, erzählten sie uns, habe er doch 332 Wahlmännerstimmen gegenüber 206 für Romney für sich gewonnen und mit mehr als drei Millionen Stimmen Mehrheit an den Urnen seinen Rivalen geschlagen. Obama besitzt nun ein nationales Mandat zum Regieren. Die Republikaner, die sich nach der Wahlschlappe, die sie auch im Senat Sitze einbüßen ließ, noch immer die Wunden lecken, werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ihre Rhetorik ändern und an den Verhandlungstisch zurückkehren müssen, um ein allgemeines Übereinkommen über die Defizitreduzierung auszuhandeln, dem die US-Bourgeoisie während der ersten Amtszeit Obamas ausgewichen war.
Die eher optimistischen Experten erwarten, dass diese Wahlen das Ende des Aufstandes der Tea Party innerhalb der Republikanischen Partei einläuten werden. Sie meinen, dass die vernünftigeren Elemente in der Grand Old Party (GOP) nun in der Lage sein werden, die Kontrolle über die Partei wiederzuerlangen. Andere Experten sagen dagegen einen Bürgerkrieg in der GOP voraus, da diese darum kämpft, mit der neuen demographischen Realität zu Rande zu kommen, erlaubte doch eine Beibehaltung des alten Kurses mit seinem latenten Rassismus, seiner rückwärtsgewandten Sexualpolitik, den anti-wissenschaftlichen Verschwörungstheorien und ihr Niedermachen der Einwanderer ihr niemals mehr, einen Präsidenten zu stellen.
Das Wahlergebnis und die vorherige Kampagne haben die Analyse bestätigt, die eine galoppierende „politische Krise“ der US-amerikanischen Bourgeoisie ausgemacht hat:
- Die Auswirkungen des gesellschaftlichen Zerfalls haben Zentrifugalkräfte in der Bourgeoisie freigesetzt, die zur wachsenden Unfähigkeit bestimmter Fraktionen in ihrer Mitte führen, im allgemeinen Interesse des nationalen Kapitals zu handeln. Jedoch hat dieser Prozess nicht alle Fraktionen der Bourgeoisie gleichermaßen in Mitleidenschaft gezogen. So hat die Republikanische Partei eine unverhältnismäßig starke ideologische Degeneration erlitten, die ihre Regierungsfähigkeit in Frage stellt.
- Die Unfähigkeit der Bourgeoisie, irgendeine Lösung für die anhaltende Wirtschaftskrise zu finden, hat die Tendenzen zu heftigen fraktionellen Gerangel innerhalb der Bourgeoisie weiter gestärkt. Der ideologische Zerfall der Republikanischen Partei bedeutet, dass sie auf völlig diskreditierte konservative Wirtschaftsdogmen zurückfällt und eine aggressive Anti-Gewerkschaftspolitik verfolgt, die Gefahr läuft, den Staat seines besten Bollwerks gegen die Arbeiterklasse zu berauben.
- Angesichts dessen ist es für die Hauptfraktionen der Bourgeoisie zu riskant, die Republikanische Partei mit der nationalen Regierung zu betrauen. Dies trotz der Tatsache, dass die anhaltende Wirtschaftskrise und die sich daraus ergebende Notwendigkeit, eine Sparpolitik zu verordnen, eigentlich nahelegt, dass die Bourgeoisie die Linke ihres politischen Apparats lieber in der Opposition sehen würde, wo diese den Zorn der Arbeiterklasse in Sackgassen lenken könnte, die für die kapitalistische Gesellschaftsordnung ungefährlich sind.
- Infolge der Degeneration der Republikanischen Partei bleibt es den Demokraten überlassen, die notwendige Sparpolitik durchzuführen. Dies droht die traditionelle ideologische Arbeitsteilung innerhalb der Bourgeoisie durcheinanderzubringen, sodass die Demokraten für die schmerzhaften Einschnitte in Sozialprogramme verantwortlich sind und die Republikaner gegen die Rhetorik des Wirtschaftsaufschwungs Sturm laufen.
- Nachdem sie anfangs für eine Revitalisierung des Wahlmythos in einer Bevölkerung gesorgt hat, die sich nach acht Jahren Bush-Präsidentschaft abgewendet hatte, hat Obamas Präsidentschaft lediglich eine noch intensivere und dauerhaftere rechte Gegenreaktion entzündet. Der ideologische Zerfall der Republikanischen Partei wird von einer ideologischen Verhärtung der Gesellschaft als Ganzes begleitet. Die Nation spaltet sich immer mehr in zwei – im Großen und Ganzen gleichgroße – politische Blöcke auf. Angesichts der Verschwörungstheorien und rassistischen Stereotypen, mit denen der erste schwarze Präsident in der Geschichte der USA belegt wurde, sah sich seine Präsidentschaft von Anbeginn Zweifeln an seiner Legitimation ausgesetzt.
Bedeutet Obamas Wiederwahl das Ende der politischen Krise? Haben die Hauptfraktionen der Bourgeoisie recht, wenn sie glauben, dass dies die Rückkehr zur politischen Normalität markieren werde? Welche Rolle spielte die Arbeiterklasse in dieser Wahl? War die Bourgeoisie fähig, den Schwung von 2008 mitzunehmen und die Bevölkerung im Glauben zu lassen, dass die Wahldemokratie der beste Weg ist, um ihre Interessen zu schützen? Was bedeutet Obamas Sieg für die Arbeiterklasse?
Wir sollten uns keine Illusionen darüber machen, was Obamas zweite Amtszeit für die Arbeiterklasse bedeuten wird. Wir können es in einem Wort zusammenfassen: Austerität. Trotz all der Rhetorik, die vom Obama-Team, unterstützt von seinen gewerkschaftlichen und „fortschrittlichen“ Verbündeten, über den Schutz der Sozialversicherung und von Medicare gegen den „bösen Geist“ Paul Ryan ausgespuckt wurden, ist es klar, dass Einschnitte in beide Programme stets auf der Tagesordnung für Obamas zweite Amtszeit gestanden hatten. Die einzige Frage ist, wie tief die Einschnitte sein werden und wie schnell sie umgesetzt werden.
Die US-Bourgeoisie ist sich einig darin, dass der finanzpolitische Kurs der Nation einfach untragbar ist, dass „Reformen“ bei den Sozialausgaben unabdingbar sind, um zu versuchen, das Defizit unter Kontrolle zu bekommen. Es ist richtig, dass die Politik, die von Romneys Vizepräsidentschafts-Kandidaten Ryan befürwortet wurde, schlicht zu drakonisch war, um sie gegenwärtig zu verordnen. Es ist auch richtig, dass die Hauptfraktionen der Bourgeoisie das rechte Mantra ablehnen, wonach die sozialen Sicherungssysteme privatisiert werden müssten, um sie zu „retten“. Dennoch heißt all dies nicht, dass sie darum bemüht sind, diese Programme so, wie sie derzeit sind, zu erhalten. Im Gegenteil, schmerzhafte Kürzungen sind im Anzug.
Präsident Obama hat bereits seine Bereitschaft signalisiert, diese Programme drastisch zu kürzen. Dies war ein Hauptbestandteil des so genannten grand bargain (etwa: große Übereinkunft), den er mit dem republikanischen Sprechers des Repräsentantenhauses John Boehner an der Spitze auszuhandeln im Begriff war, um der Krise der Schuldenobergrenze im Sommer 2011 beizukommen. Der einzige wirkliche Unterschied zwischen beiden Kontrahenten in dieser Angelegenheit war das Begehren des Präsidenten, die Kürzungen mit einigen Steuererhöhungen für die Wohlhabenden zu bündeln, damit er der Bevölkerung den Deal als „gemeinsames Opfer“ verkaufen konnte. Erst die Unnachgiebigkeit der Tea Party hinderte Boehner daran, dem grand bargain zuzustimmen, was letztendlich die Gefahr des so genannten fiscal cliff heraufbeschwor: automatische Steuererhöhungen und drakonische Ausgabenkürzungen, die zu Beginn des neuen Jahres wirksam werden.
Tatsächlich haben die politischen Experten bereits geäußert, dass dies der wahre Sinn der Wahlen gewesen sei. Obama hat nun das politische Kapital, das er benötigt, um die Republikaner zu einem allgemeinen Übereinkommen zu zwingen, das wenigstens einige Steuererhöhungen für die Wohlhabenden beinhaltet. Die Linke in der Demokratischen Partei kann schreien, was sie will, aber am Ende wird sie uns die fixe Idee einreden, dass alles noch viel schlimmer gekommen wäre, wenn die Republikaner das Weiße Haus übernommen hätten und dass so zumindest auch die Milliardäre zur Kasse gebeten werden.
Jene ArbeiterInnen, die noch immer Illusionen in Obamas Präsidentschaft haben und glauben, dass er den Mittelstand wiederbeleben kann oder dass er irgendeine Art von Sachwalter der „Arbeiterrechte“ ist, müssen sich nur die Ereignisse rund um den Chicagoer LehrerInnenstreik vergegenwärtigen, um eine Ahnung zu bekommen, wo der Präsident in diesen Fragen steht. Es waren die Chicagoer Kumpane des Präsidenten, die diese Angriffe gegen die LehrerInnen durchführten. Kann es irgendeinen Zweifel darüber geben, dass dieser Blick auf den Bildungssektor – ja sogar auf die gesamte Arbeiterklasse – letztendlich vom Präsidenten selbst geteilt wird? Der ursprüngliche Architekt für den Plan von Bürgermeister Emanuel, das Chicagoer Schulsystem zu reformieren, war kein anderer als der frühere Chicagoer Schulrat (School Chancellor) Arne Duncan – Obamas aktueller Bildungssekretär!
Entgegen aller möglichen Wahlspekulationen sagen wir, dass die einzige Perspektive der Arbeiterklasse in ihren autonomen Kämpfen zur Verteidigung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen besteht. Es ist verständlich, dass ArbeiterInnen die drakonischen Angriffe der Republikaner fürchten. Doch sollen wir deshalb bei den Demokraten Zuspruch suchen? Der einzige wirkliche Unterschied zwischen den Parteien in diesem Punkt besteht in der Frage, wie schnell und wie dramatisch die Kürzungen ausfallen werden. Im Endeffekt führen beide Wege zum gleichen Ziel. Wenn wir für die Demokraten stimmen, sind wir Arbeiter es, die das Problem vor sich herschieben.
Wird Obamas Wiederwahl all den Rankünen innerhalb der herrschenden Klasse ein Ende bereiten, wie die bürgerlichen Medien uns mitteilen? Wird die „Wahlschlappe“ der Republikaner ihre rationaleren Fraktionen dazu veranlassen, die Partei den Irren der Tea Party zu entreißen? Bahnt sich eine neue Ära der Kooperation an, in der beide Parteien ihre Aufmerksamkeit den Interessen der Nation zuwenden?
Um diese Fragen zu beantworten, ist es notwendig, sich mit der Frage der angeblichen „Wahlschlappe“ zu beschäftigen. Es trifft zu, dass Obama mit großem Vorsprung bei den Wahlmännern gewann, doch nur im Kontext der jüngsten amerikanischen Politik kann ein 51 zu 48%-Vorsprung bei der Volksabstimmung als „Erdrutschsieg“ bezeichnet werden. Die Wahlergebnisse scheinen lediglich die Realität zu bestätigen, dass die USA ein tief gespaltenes Land sind. Die Bevölkerung ist so tief gespalten, dass selbst monatelange, schonungslose Propagandakampagnen, die Romney als einen gierigen Aasgeier-Kapitalisten und Obama als einen un-amerikanischen Sozialisten zeichneten, kaum etwas an den Mehrheitsverhältnissen änderten. So verhärtet sind die ideologischen Fronten in der Gesellschaft, dass die Aufgabe, ein nationales Narrativ schaffen, so schwierig ist wie noch nie zuvor.
Es ist wahrscheinlich richtig, dass die aufkommenden demographischen Trends innerhalb des Stimmvolkes ernsthafte Probleme für die GOP bedeuten. Doch wird die GOP in der Lage sein, ihren Kurs zu berichtigen, wie es die Medien vorhersagen? Dies erscheint unwahrscheinlich. Nachdem sie die Flammen der weißen, männlichen Gegenreaktion geschürt hatte, ist kaum zu erwarten, dass diese Elemente nun widerstandslos in der Versenkung verschwinden. Sollte die republikanische Führung einen Kompromiss mit Obama über eine umfassende Einwanderungsreform erzielen, kann es durchaus zu einer Spaltung der Republikanischen Partei kommen – mit beträchtlichen Schäden am Zwei-Parteien-System in den USA. Zwar können wir nicht mit Sicherheit sagen, dass dies passieren wird, doch die Bruchstellen innerhalb der GOP sind klar. Sie wird noch eine geraume Zeit zerrissen sein in einen Parteiflügel, der ihr Image wieder aufmöbeln möchte, um die Erfolgsaussichten bei Wahlen zu bessern, und einen anderen Flügel, der die Absicht verfolgt, die ideologische Reinheit zu bewahren.
Jedoch sind die Republikaner nicht die einzigen, die ein demographisches Problem haben. Obama verlor bedeutend bei den weißen Wählern. Zwar konnte er unter den Schwarzen, Latinos, alleinstehenden Frauen und den jungen Wählern punkten, doch hatte er dafür erhebliche Defizite unter den weißen Fabrikarbeitern (besonders Männern) zu verzeichnen. Während eine hohe Beteiligung an den Präsidentschaftswahlen die Demokraten begünstigt, bleibt es ungewiss, ob dies auch auf die Gouverneurs- und lokalen Wahlen mit ihrer geringen Wahlbeteiligung übersetzt werden kann. Die GOP wird auf dieser Ebene wahrscheinlich weiterhin eine Macht darstellen. Tatsächlich war die GOP selbst im Jahr der Präsidentschaftswahlen – größtenteils aufgrund von korrupten Wahlkreisschiebungen – in der Lage, die Kontrolle über das Repräsentantenhaus zu behalten.
Auf einer anderen Ebene wird die US-Bourgeoisie auch weiterhin von der praktischen „Umkehrung“ ihrer traditionellen ideologischen Arbeitsteilung gepeinigt werden. Wenn sie gezwungen werden würde, die Demokraten auf unbestimmte Zeit an der Macht zu halten, bis hin zur Auflösung der Republikanischen Partei, würde dies ernste Probleme für die Legitimation der Demokratischen Partei selbst bedeuten. Was für ein seltsamer Anblick war es, den demokratischen Kandidaten dabei zuzuschauen, wie er inmitten einer fürchterlichen Rezession die Illusion nährte, dass der Zustand der Wirtschaft sich bessere, während der republikanische Kandidat als Stimme der Langzeit-Arbeitslosen auflief, denen der Präsident seine Hilfe versagt habe! Wie lange kann diese Situation anhalten? Die einzige Antwort der Demokraten darauf besteht lediglich in dem Argument, dass unversöhnliche GOP-Kräfte sie zu dieser Politik zwängen. Auch wenn sie mit dieser Taktik bis jetzt einigen Erfolg hatten, stellt sich die Frage, wie lange sie sie noch beibehalten können, ehe die Demokraten als Partei der Austerität betrachtet werden.
Wir sollten ebenfalls bedenken, dass Obamas erste Amtszeit vom Auftauchen einer waschechten außer-parlamentarischen Bewegung gekennzeichnet war, die in Gestalt der Occupy-Bewegung im Herbst und Winter 2011 die öffentliche Aufmerksamkeit fesselte. Es scheint, als sei die US-Bourgeoisie in der Lage gewesen, im Rahmen derselben Logik des „kleineren Übels“, die viele ArbeiterInnen dazu veranlasste, die Demokraten zu wählen, viel von der Energie dieser Bewegung in Obamas Wiederwahl-Kampagne einzuverleiben. Doch falls die Demokraten erst einmal als Partei der Austerität betrachtet werden, werden sie dann weiterhin imstande sein, die Energie künftiger außer-parlamentarischer Gesellschaftsbewegungen in die Sackgasse der Wahlen zu lenken?
Im Bereich der Außenpolitik ist klar, dass die Obama-Administration auch weiterhin wachsenden Bedrohungen der US-Hegemonie ausgesetzt ist, deren Abwendung ihr immer größere Schwierigkeiten bereitet. Obgleich die Außenpolitik kein Hauptthema in den Kampagnen der Präsidentschaftswahlen war, bedeutet dies nicht, dass es keine Spannungen in der US-Bourgeoisie in diesen Fragen gibt. Schon eine Woche nach den Wahlen musste sich Präsident Obama mit dem großen PR-Debakel bezüglich der sexuellen Indiskretionen des CIA-Direktors Petraeus befassen.
Auch wenn noch nicht klar ist, welche Tragweite diese Krise haben wird, scheint es, als witterten die Republikaner Morgenluft und benutzten diesen Skandal, um ihre Untersuchungen über die falsche Handhabung des Angriffs auf das Konsulat in Bengasi, der den Tod des US-Botschafters in Libyen nach sich zog, zu intensivieren. Wie immer dies ausgeht, die US-Bourgeoisie wird sich auch weiterhin ernsten Herausforderungen ihrer imperialistischen Hegemonie ausgesetzt sehen, einschließlich der Möglichkeit eines breiteren Krieges infolge der Syrien-Krise, der fortdauernden Spannungen mit dem Iran, wachsender Schwierigkeiten, Israel auf Linie zu bringen, und der wachsenden Bedrohung ihrer Hegemonie durch einen immer aggressiveren chinesischen Imperialismus.
Auch wenn die Hauptfraktionen der US-Bourgeoisie mit Obamas Wiederwahl einen Sieg errungen hat, bedeutet dies nicht die völlige Abwendung der politischen Krise, die die US-Bourgeoisie seit über einem Jahrzehnt im Griff hält. Es ist aufschlussreich, dass einige politische Experten, die die US-Politik begutachten, davon ausgehen, dass wir kurz vor einer Neuordnung der Parteienlandschaft stehen. Die Realität des Zerfalls erschwert es, vorauszusagen, welche Gestalt sie annehmen wird.
Für die Arbeiterklasse liegt die Schlussfolgerung auf der Hand: Es gibt keine Erlösung aus diesem Chaos der bürgerlichen Wahlpolitik. Wir können unsere eigenen Interessen nur auf einem grundsätzlich unterschiedlichen Terrain verfolgen – auf jenem unserer autonomen Kämpfe.
Henk 14.11.2012
Der Artikel wurde schon als IKSonline veröffentlicht.
Hier der Link:
https://de.internationalism.org/IKSonline2012_Libyen1112 [120]Gegenwärtig werden in aller Deutlichkeit die Auswirkungen des Kapitalismus in seiner Dekadenz illustriert. Insbesondere verschärft die Krise seit 2008 die Ausformungen des Zerfalls des Kapitalismus.
Das Ausmaß der Krise reißt nun auch die kapitalistischen Kernländer Europas, Amerikas und Japans in das ökonomische Elend und verstärkt die hohe Arbeitslosigkeit (besonders unter der Jugend) zu einer allgemeinen Perspektivlosigkeit. Insbesondere in Spanien und Griechenland wehrt sich die Arbeiterklasse mit massenhaften Protesten – doch wir mussten lernen, dass dieser Funke noch nicht auf zentrale europäische Länder wie Frankreich und Deutschland übergesprungen ist. Auch in den USA regt sich vermehrt Widerstand gegen die fürchterlichen Angriffe, unter denen die Arbeiterklasse zu leiden hat. Die Kämpfe reichen vom öffentlichen Sektor (besonders sei an die Kämpfe an Wisconsin/USA erinnert) über die Hafenarbeiter bis hin zu der Occupy Wallstreet-Bewegung. Wir veröffentlichen in diesem Zusammenhang einen Artikel unserer amerikanischen Sektion zum Streik der Chicagoer LehrerInnen („Solidarität mit den Chicagoer LehrerInnen“).
Besonders hoffnungsfroh stimmen die Nachrichten über den sozialen Aufruhr auf dem afrikanischen Kontinent. Die Krise und die folgenden Massenproteste in Tunesien und Ägypten haben etliche Regimes in Nordafrika ins Taumeln gebracht. Die ganze arabische Region war und ist ein Tummelplatz im imperialistischen Gerangel der großen und kleinen Mächte, stark beeinträchtigt von verheerenden ideologischen Spaltungen. Und dennoch haben diese Massenproteste gezeigt, dass in Zeiten anschwellender Klassenkämpfe selbst waffenstarrende Regimes unversehens zu Papiertigern schrumpfen. Dabei sind die Massenproteste in Israel im letzten Jahr von ähnlicher Bedeutung wie die aktuellen Proteste in Westbank/Palästina; sie beweisen, dass die Arbeiterklasse Israels und Ägyptens immer weniger bereit ist, sich vor den Karren ihrer imperialistischen Ausbeuter spannen zu lassen. Besonders vor dem Hintergrund eines neuerlichen Krieges, der zwischen Israel und der Hamas drohte, als dieser Zeilen verfasst wurden, erscheint es uns als wichtig, den Kampf der palästinensischen ArbeiterInnen gegen die Autonomiebehörde eines Artikels zu würdigen („Massenproteste in der Westbank gegen hohe Lebenshaltungskosten, die Arbeitslosigkeit und die palästinensische Autonomiebehörde“). Seit einigen Monaten brennt nun auch auf der anderen Seite des afrikanischen Kontinents die Luft; weder brutale staatliche Repression noch gewerkschaftliche Spaltungsmanöver hat die südafrikanischen Bergarbeiter davon abhalten können, massenhaft in wilde Streiks zu treten („Die Streikwelle in Südafrika: Gegen den ANC und die Gewerkschaften“).
Es ist bezeichnend für die Epoche, in der wir leben, dass mit der offenkundigen Verschärfung des Klassenkampfes weltweit auch eine Eskalation der imperialistischen Spannungen einhergeht. Nichts spiegelt die Pattsituation zwischen den beiden historischen Klassen, zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat, besser wider als die „Koexistenz“ beider historischer Alternativen. Weder die Kapitalisten noch die ArbeiterInnen können ihren Kurs entscheidend durchsetzen. So gab es auch in Libyen anfangs soziale Proteste und die Hoffnung, das soziale Elend und die politische Enge abschütteln zu können. Doch war die Arbeiterklasse in Libyen weitaus schwächer als beispielsweise das ägyptische Proletariat und durch einen hohen Anteil an migrantischen Arbeiter/innen geprägt, die schnell durch eine ekelerregende Kampagne libyscher Nationalisten außer Landes vertrieben wurden. Das Resultat: Das Land wurde zum Schauplatz eines blutigen Bürgerkriegs und zum Spielball imperialistischer Ranküne. In dem Artikel „Ein Jahr nach der ‚Befreiung‘: Libyen versinkt im Chaos“ ziehen wir Bilanz. In Syrien fällt darüber hinaus noch viel mehr das Wirken von (regionalen) imperialistischen Mächten ins Gewicht. Neben den imperialistischen Big-Playern USA, China, Russland tummeln sich hier Frankreich, Saudi-Arabien ebenso wie die Türkei und der Iran. Der Artikel unserer türkischen Sektion „Die Türkei, Syrien und der Krieg“ beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, inwieweit die Kriegspropaganda der Herrschenden die türkische Arbeiterklasse in Mitleidenschaft gezogen hat.
Mit der Zuspitzung der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise werden die Zerfallserscheinungen des am lebendigen Leib verfaulenden Kapitalismus immer zerstörerischer. Neben dem aufflammenden Klassenkampf in aller Welt und dem verstärkten Suchen von proletarischen Minderheiten nach einem Ausweg aus dem Elend des Kapitalismus lauert in unmittelbarer Nachbarschaft die „Lösung“ des zerfallenden Kapitalismus: Bomben, Raketen, Drohnen und Massaker. Solange es den Ausgebeuteten nicht gelingt, ihre Kämpfe mit einer gesellschaftlichen Perspektive zu rüsten, wird der Kapitalismus ein gefährliches und gewalttätiges Hindernis für die Weiterentwicklung der Menschheit bleiben. 20.11.2012
In letzter Zeit sind die Schweizer Banken stark unter Beschuss gekommen, weil sie Steuerflüchtlingen bisher Schutz gewährten. Deutschland und die USA stehen an vorderster Front, wenn es darum geht, Druck gegen die Schweiz auszuüben. Wieso ist das so?
Seit 1935 das Bankengesetz in der Schweiz eingeführt wurde, gibt es eine lange Reihe von politischen Anfeindungen und Auseinandersetzungen mit anderen Ländern. Das Bankengesetz war eine Folge der in allen entwickelten Industrieländern seit Anfangs des 20. Jahrhunderts einsetzenden staatskapitalistischen Entwicklung. Selbst in der im Vergleich zu ihren Nachbarn Ländern liberalen Schweiz war es notwendig geworden, den Staat schon kurz vor dem Ersten Weltkrieg, insbesondere aber nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 und der darauffolgenden Bankenkrise 1931 stärker als Regulativ und Kontrollorgan einzusetzen. Durch die Abhängigkeit vom deutschen Kapital traf die Krise einige zu dieser Zeit wichtige Banken, die vom Staat gestützt werden mussten (z.B. Schweizerische Volksbank). Robert U. Vogler, ein Historiker der eng mit der UBS und der Bankenwelt verbunden ist, erläutert in seiner Broschüre Das Schweizer Bankgeheimnis: Entstehung, Bedeutung, Mythos, dass das Bankgeheimnis als Teil des damaligen Bankengesetzes mehr ein Nebenprodukt dieser Situation gewesen sei, als das es explizit zur Anziehung fremdem Geldes ins Gesetz aufgenommen wurde. Wir wollen hier nicht weiter darauf eingehen, was der wirkliche Grund der Kodifizierung des Bankgeheimnisses war, sondern versuchen zu verstehen, warum gerade heute dieser Konflikt mit dieser Heftigkeit auftaucht.
Vom Gesichtspunkt des internationalen Proletariats ausgehend, spielt das Bankengeheimnis praktisch keine Rolle. Die deutsche Sozialdemokratie hatte 1918, nachdem sie von der deutschen Bourgeoisie im Anschluss an die Novemberrevolution 1918 als Schutzwall gegen die gegen den Kapitalismus anstürmende Arbeiterklasse eingesetzt worden war, eine verbalradikale Forderung nach kategorischer Aufhebung des damalig noch existierenden Bankgeheimnisses in Deutschland aufgestellt. Die nach 1918/19 eingeleiteten Massnahmen gegen die Steuerflucht und Kapitalverheimlichung haben aber das grundsätzliche Ausbeutungsverhältnis zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat nicht aufgehoben. So haben diese Massnahmen die Lage der Arbeiter_innenklasse um keinen Deut verbessert, vielmehr war es gerade die Sozialdemokratie in Deutschland, die die revolutionär gesinnte Arbeiterklasse mit grösster Brutalität niederschlug. Eine solche protektionistische Forderung, wie sie dann am konsequentesten in den 30er Jahren von den Nazis umgesetzt wurde, hatte überhaupt keinen Wert für das Proletariat und nährte nur die Illusion, dass es einen gerechten Kapitalismus geben könne. Wir sagen dies in aller Ausdrücklichkeit, weil gerade heute wieder die deutsche Sozialdemokratie an vorderster Front gegen das Bankgeheimnis steht, sehr wahrscheinlich um vergessen zu machen, dass gerade sie es war, die mit den Hartz4-Reformen die Bedingungen der Angestellten und Arbeiterinnen in Deutschland massiv verschlechtert hat. Ganz abgesehen davon, dass die heutige Sozialdemokratie solche Forderungen nur aufstellt, wenn sie gerade in der Opposition ist, um danach sich wieder genauso zu verhalten, wie es die vorherrschende Meinung in der jeweiligen nationalen Bourgeoisie erforderlich findet. Die markigen Sprüche eines Steinbrücks über das Entsenden der Kavallerie gegen die Schweiz oder erst kürzlich vom SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel ( „Was die machen, ist eine bandenmässige Steuerhinterziehung“), sind billige populistische Floskeln, um sich wieder bei dem von ihnen geschlagenen und geschundenen Proletariat einzuschmeicheln. Dazu kommt noch, dass eine solche Personifizierung allen kapitalistischen Übels auf die (Schweizer)Banken Vorschub für rechtsextreme Ideologen leistet, die dies dann (wie schon in den 30er-Jahren) dankbar aufgreifen und mit ihrer Sündenbocktheorie verwursten.
Natürlich geht es uns auch nicht darum, die Machenschaften der Schweizer Banken, gleichgültig ob legal oder illegal, zu verharmlosen. Im Gegenteil, das Bankensystem ist ein Teil des Kapitalismus und trägt somit bei, die Ausbeutung der Angestellten und Arbeiter ständig zu verschärfen. Mit der Spiegelung der deutschen und internationalen Propaganda um das Bankgeheimnis und den Banken versucht die Schweizer Bourgeoisie, die Arbeiter_innenklasse hinter die Banken und den Staat zu scharen. Neben dem ideologischen gibt es auch einen realen Hintergrund, der die Herrschenden in der Schweiz dazu veranlasst, ihren Finanzstandort vehement zu verteidigen. Die Schweizer Banken sind, gemessen an der Bevölkerungszahl aber vor allem auch an der Wirtschaftsleistung insgesamt, zu gross, um pleite zu gehen. Allein die UBS und die CS hatten noch 2011 ca. eine 6-fache Schuldenanhäufung, gemessen am Schweizer Bruttoinlandprodukt: „Besonders extrem ist es in der Schweiz, wo sich alleine die Schulden der UBS auf fast das Vierfache der dortigen Wirtschaftsleistung belaufen. Auch die Außenstände der Credit Suisse belaufen sich auf immerhin noch das Zweifache des schweizerischen BIP. Zusammen also mehr als das 6-fache des BSP“ (Die schweizerische Schuldenbombe, Artur Schmidt, 01.01.2011). Die Behauptung, der allgemeine Lebensstandard in der Schweiz sei so hoch, weil die Banken so erfolgreich und gross seien, ist natürlich ein Mythos. Die Arbeitsbedingungen in der Schweiz sind ausserordentlich hart, was sich an der Ausbeutungsrate zeigt (d.h. das was die Arbeiter_innenklasse über ihre unmittelbare Reproduktion hinaus an Mehrwert für das Kapital erzeugt). Die starke Ausbeutung der Arbeiter_innenklasse hat dazu geführt, dass der Industriestandort Schweiz trotzt verschiedener Krisen bis jetzt überlebt hat. Da es aber der Schweiz wie anderen Ländern auch an weiteren lukrativen Industriezweigen fehlt, wo die Bourgeosie ihr Geld investieren könnte, kommt neben der Gefahr, die der überdimensionierte Bankensektor darstellt, noch die Gefahr einer Immobilienblase hinzu. In den 90er Jahren konnte die Immobilienkrise durch einige grosse Banken, die die meisten krisenanfälligen Banken aufkauften, noch einmal zurückgestutzt werden. Es fand eine grosse Bankenkonzentration statt. Da 2007/2008 die Banken selber vom Staat gerettet werden mussten, ist eine solche Stabilisierungsaktion seitens der Banken heute undenkbar.
Seit einiger Zeit ist ein Umbruch in der schweizerischen Bankenlandschaft in Gang. Dieser Umbruch ist nicht freiwillig vonstattengegangen, sondern findet unter stetig erhöhtem Druck der grösseren kapitalistischen Haifische statt.
Seit der sog. Finanzkrise 2007 ist festzustellen, dass die verschiedenen Länder darauf bedacht sind, die Steuerflucht besser in den Griff zu bekommen. Gegenseitig werfen sich die Schweiz und die sie attackierenden Länder wie die USA, Deutschland, Frankreich, Italien usw. illegale Praktiken vor.
Beispielsweise gab die französische Ex-Finanzministerin und heutige Chefin des IWF, Lagarde. eine Liste über steuerhinterziehende Millionäre an Griechenland weiter, aus der deutlich wurde, dass ein beträchtlicher Teil dieser Gelder in der Schweiz geparkt wurde. Pikantes Detail: die damals regierenden Sozialdemokraten haben diese Liste nie gegen ihre Steuersünder verwendet. Die verschiedenen Skandale um die illegal erworbenen CD’s mit Informationen über Steuersünder aus Deutschland und Frankreich sind hinlänglich bekannt. Das ist im Übrigen auch keine neue Praxis dieser Länder. Schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts operieren diese und andere Länder mit geheimdienstlicher Informationsbeschaffung gegen die Banken. Neu ist, dass seit dem Zusammenbruch des Ostblocks die Toleranz gegenüber den Praktiken der Schweizer Banken gesunken ist. So drohen die USA immer wieder mit einem Ausschluss der sich nach ihren Gesetzen strafbar machenden Schweizer Banken aus dem US-Finanzmarkt, wenn diese nicht die Informationen über Steuerflüchtlinge an die US-Justizbehörden weitergeben. Die Reaktion der herrschenden Klasse in der Schweiz war diesmal prompt: Anders als in der Vergangenheit gewährte sie den USA Einsicht in verdächtige Akten, was faktisch eine Beugung der herrschenden Rechtsprechung in der Schweiz ist und einer Aufweichung des Bankgeheimnisses gleichkommt. Auch Deutschland lässt nicht locker; am 23. November wurde das bilaterale Steuerabkommen, das der deutsche Finanzminister Schäuble mit der Schweizer Regierung ausgehandelt hatte, vom deutschen Bundesrat, der Länderkammer, mehrheitlich abgelehnt. All diese Angriffe deuten darauf hin, dass die Schweiz, die während der Ost/West-Blockkonfrontation einen gewissen Freiraum genoss, in der aktuellen Situation parieren muss, wenn sie nicht mit ernsteren Konsequenzen rechnen will.
Die UBS hat das heute schon begriffen; nur so lässt sich erklären, warum der neue Konzernchef Ermotti in verschiedenen Interviews gesagt hat, dass das Bankgeheimnis in der Schweiz keine Zukunft mehr hat.
Letztlich sind die Stabilität und der gute Ruf das wichtigere Merkmal für gute Bankgeschäfte. Durch die Eurokrise hat die Schweiz wieder an Attraktivität gewonnen. Nach Presseangaben verliert die Schweiz bis 2014 ca. 200 Milliarden Euro. Es werden aber schon wieder neue Bankgeschäfte und Steuereinnahmen generiert, beispielsweise durch die internationalen Rohstoffkonzerne oder Coca Cola, die vom niedrigen Steuersatz angelockt werden.
Diese ganze Entwicklung ist aber höchst fragwürdig, da die für das kleine Land Schweiz viel zu grossen Banken im Falle einer künftigen Banken- oder Finanzkrise arg gebeutelt werden. Zusätzlich kommt die Hypothekenblase, die den Finanzsektor noch mehr aufbläst und fragilisiert. Letztlich ist für die Schweiz auch das ständige Aufkaufen von Fremd- vor allem Eurowährung, damit der Frankenkurs nicht ständig steigt, eine Zeitbombe. Wie die USA druckt sie einfach Geld, aber der Unterschied ist, dass der Franken keine Weltwährung ist und die Schweiz daher bei einer Verschärfung der Krise eines der am meisten gefährdeten Länder ist. Dass sie trotzdem noch so ein hohes Ansehen in Industrie- und Finanzkreisen geniesst, ist schwer verständlich und langfristig gesehen ziemlich irrational. Das ist aber eine weitere Tendenz, die der Kapitalismus immer stärker an die Oberfläche bringt. Die Irrationalität, die Anfang des 20. Jahrhunderts mit staatskapitalistischen Massnahmen eingedämmt werden sollte, hat zu zwei Weltkriegen und einer fast 50-jährigen Ost/West-Blockkonfrontation geführt. Der weitere Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft manifestiert sich auch durch ständig verschärfende Wirtschaftskriege, wie sie jetzt mit dieser Anekdote um das Bankgeheimnis auftritt. Zu vermuten ist aber, dass es nicht bei so einem relativ harmlosen Wirtschaftskrieg bleiben wird.
Die Arbeiterklasse sollte sich nicht hinter die jeweiligen ideologischen Konstrukte - hier die „gierigen Schweizer Banken“, dort die „arroganten Amerikaner und Deutschen“ - stellen. Dies sind nur die jeweiligen Ideologien, welche die herrschenden Klassen eines jeden Landes vorbringt, um die wahren Ursachen der Krise zu verschleiern. Die eigenen Interessen als ausgebeutete Klasse wahrzunehmen heisst, den Klassenkampf gegen die gesamte Bourgeoisie, gegen dieses marode und immer irrationaler werdende System führen.
Seit dem Ende der Ost-West-Konfrontation versucht die Türkei systematisch ihre Vormachtstellung im Nahen und Mittleren Osten auszubauen. Gegenüber den Ländern des „arabischen Frühlings“ ist Ankara bestrebt, als „säkulare“, „moderne“, „demokratische“, wirtschaftlich erfolgreiche (islamische) Macht eine Führungsrolle zu übernehmen. Dies treibt die Türkei notwendigerweise in einen Konflikt mit Israel, mit dem sie zuvor als Verbündeter der USA intensiv militärisch zusammengearbeitet hatte. Auch die Hamas lobte im jüngsten Konflikt mit Israel die Unterstützung durch die Türkei. Die Türkei hat gegenüber dem Assad-Regime in Syrien eine große Kehrtwende vollzogen. Nach anfänglich engen Beziehungen - insbesondere zwischen dem türkischen Präsidenten Erdogan und dem Assad-Clan - trat die Türkei kurz nach Beginn der Kämpfe als Schutzherr der syrischen Zivilbevölkerung auf. Tatsache ist, dass die Türkei ein Großteil der auf mehr als Hunderttausend angewachsenen Zahl syrischer Flüchtlinge, die entweder schon aus Syrien geflüchtet sind oder versuchen in die Türkei zu gelangen, entweder in Flüchtlingslagern festsetzt oder sie durch verstärkte Kontrollen im Grenzgebiet auf syrischem Gebiet selbst zurückhält. Und welch große „Schutzmacht“ die Türkei für die kurdische Bevölkerung ist, hat sie jahrelang unter Beweis gestellt. In Wirklichkeit hofft die Türkei, im Falle eines Sturzes des Assad-Regimes und eines eventuellen Auseinanderbrechens Syriens ein Beutestück aus syrischem Territorium herausreißen zu können.
Nachdem sich die syrische Opposition Mitte November neu formiert und eine Exilregierung ernannte hatte, die ihr Hauptquartier in Nordsyrien errichten möchte, deutet sich eine Intensivierung der Kampfhandlungen entlang der syrisch-türkischen Grenze an. Bislang verfügt die syrische Luftwaffe noch über die Lufthoheit im Grenzgebiet. Flugverbotszonen würden das Assad-Regime entscheidend schwächen. Diese Flugverbotszonen werden vom türkischen und amerikanischen Militär im Augenblick als eine wichtige Stufe in der Militärstrategie der Assad-Gegner vorbereitet. Die Durchsetzung solcher Flugverbotszonen ist aber nur mit entsprechend hochentwickelten NATO-Waffen denkbar. „Patriot"-Radaranlagen würden es ermöglichen, syrische Hubschrauber und Kampfflieger zu erfassen. Unter den NATO-Mitgliedsländern besitzen nur die USA, die Niederlande und Deutschland solche Waffensysteme.
Die Stationierung von "Patriot"-Raketen wäre auch deshalb von besonderer Brisanz, weil die PKK im Windschatten des Syrienkrieges ihre separatistischen Aktivitäten ausgeweitet hat. Das Assad-Regime hat die kurdischen Nationalisten im Norden Syriens längst nicht mehr im Griff. Weil PKK-nahe Kräfte im Norden Syriens nahe der Grenze zur Türkei die Zügel an sich gerissen haben, muss Ankara ein weiteres Anwachsen des kurdischen Separatismus und damit eine Destabilisierung im türkischen Grenzgebiet zu Syrien durch kurdische Nationalisten fürchten. Seitdem legt das türkische Militär wieder eine härtere Gangart gegenüber der PKK an den Tag. Die entlang der syrisch-türkischen Grenze von Ankara gewünschten Patriot-Raketen wären somit im Kampfgebiet zwischen PKK und Ankara stationiert.
Auch wenn die Türkei sich nun als Opfer syrischer Raketen- und Granatenangriffe darstellt, ist Ankara selbst längst zum Kriegstreiber in der Region geworden. Die zu erwartende Eskalation in der Region – sowohl im Konflikt mit Syrien als auch mit den Kurden – bekommt mit der türkischen Anforderung von NATO-Truppen eine neue Dimension.
Dass dabei Deutschland und seine High-Tech-Waffen eine neue Rolle übernehmen soll, ist keineswegs verwunderlich. Zum einen ist Deutschland im Mittelmeerraum insgesamt, insbesondere aber im südöstlichen Mittelmeer gegenüber Griechenland mit all seinen finanziellen und wirtschaftlichen Druckmitteln schon längst zur Ordnungsmacht aufgestiegen. Militärisch würde Deutschland mit dem Einsatz der Patriot-Waffen eine weitere Stufe in der imperialistischen Hierarchie erklimmen.
Des Weiteren steht dieser Schritt in Kontinuität mit der vom deutschen Imperialismus seit den 1990er Jahren systematisch eingeleiteten Wende. Mit der Beteiligung der Bundeswehr im Balkankrieg und der Bombardierung Serbiens hatte Rot-Grün kurz nach ihrer Machtübernahme 1999 schon ein historisches Kapitel beendet. Die deutsche „Isolation“, d.h. Nichtbeteiligung an wichtigen Kriegseinsätzen der Nato, war überwunden worden. Und seitdem mischt die Bundeswehr in unterschiedlicher Stärke bei nahezu jedem Konflikt weltweit mit. In Afghanistan hat die Bundeswehr das zweitgrößte Kontingent nach den USA stationiert. Am Horn von Afrika beteiligt man sich auf hoher See und unterstützt auch in den Küstengebieten die Jagd auf Piraten. Vor der libanesischen Küste sind Horchboote der Marine im Einsatz. Im Kosovo sind weitere Truppen stationiert. Und was Mali angeht, so soll nun auch deutsches Militär „Hilfe“ bei dem Versuch leisten, diesen auseinanderbrechenden Staat zu stabilisieren. Im jüngsten Konflikt zwischen Israel und Hamas konnte Deutschland seine besondere „Verantwortung“ gegenüber Israel in die Waagschale werfen. Deutschland hat zudem Israel die für einen Militärschlag gegen den Iran wichtigen U-Boote geliefert. Bereits 1991, im ersten Golfkrieg, hat die Bundeswehr Israel Patriot-Batterien ausgeliehen, um damit irakische „Scud“-Raketen abzufangen. Aufgrund seiner besonders guten Beziehungen zu Israel und den palästinensischen Behörden versuchte der deutsche Außenminister Westerwelle, sich als Vermittler zu profilieren.
Beim Militäreinsatz westlicher und anderer Staaten unter US-Führung in Libyen vor mehr als einem Jahr hatte sich Deutschland aus taktischen Gründen nicht beteiligt. Erstens ist Libyen strategisch nicht so wichtig wie die viel bedeutsamere Region des Nahen und Mittleren Ostens. Zweitens hätte man sich im Libyen-Feldzug der westlichen Mächte angesichts der militärischen Schwäche der Bundeswehr dem Kommando insbesondere der USA, Frankreichs und Großbritanniens unterwerfen müssen. Dies hätte zu einem Gesichtsverlust des deutschen Imperialismus geführt. Im Fall des jetzt angeforderten Einsatzes von Patriot-Batterien kann man sich auf die Nato-Strukturen berufen, in denen natürlich die USA eine führende Rolle spielen und auch der türkische Präsident Erdogan das Oberkommando über die Bundeswehrtruppen beansprucht. Für die strategischen Planer des deutschen Militärs geht es darum, ihr Operationsgebiet auszudehnen und wichtige Erfahrungen in solchen Kampfeinsätzen zu sammeln. Da die Assad-Regierung zur Zeit besonders entschlossen von dem Putin-Regime unterstützt wird, geht man mit dem Einsatz von deutschen Soldaten in der Türkei zwar ein weiteres besonderes Wagnis ein, werden sich doch die Reibereien mit dem heftig Widerstand leistenden russischen Imperialismus verstärken. Dabei ist Deutschland im Vergleich zu anderen westlichen Staaten das Land, das beste, ja besonders privilegierte Beziehungen zu Russland unterhält. Aber die gesamte Gemengelage im Nahen und Mittleren Osten lässt es aus der Sicht des deutschen Imperialismus nicht zu, den anderen Rivalen wie den USA, Frankreich oder GB das Feld zu überlassen. Dass der Einsatz von Patriot-Batterien aber nur eine Stufe zu einer weiteren Eskalation ist, verschweigt das deutsche Kapital tunlichst. Di. 23.11.12
Seit der Krise, die von der Reaktion auf den Wirbelsturm Katrina 2005 ausgelöst wurde, hatte sich die herrschende Klasse entschlossen, das Image ihres Staates wieder aufzupolieren. Bei dem Versuch, das Vertrauen der Massen in ihren Apparat wiederherzustellen, muss sie die Idee eines Staates entwerfen, der in der Lage ist, das Wohlergehen seiner Bevölkerung sicherzustellen.
Doch schon eine schnellere und bessere Kommunikation zwischen den vielen Behörden, die damit beauftragt waren, vor den potenziellen Gefahren eines Sturmes zu warnen, ist eine Aufgabe, die den kapitalistischen Staat offensichtlich vor unüberwindliche Hindernissen stellt. Laut Bryan Norcross, einem hoch geachteten Meteorologen, machte die Nationale Ozeanische und Atmosphärische Administration (NOAA) „hervorragende Vorhersagen. Ihre Vorhersagen über die Windstärke waren im Grunde genommen perfekt, und ihre Sturmflutvorhersage für New York City war so gut, wie sie dieser Tage nur sein kann.“ In der Tat können bereits eine Woche, bevor sie aufs Land treffen, ziemlich genaue Vorhersagen über potenziell zerstörerische Stürme gemacht werden. Doch das National Hurricane Center entschied sich, erst einen Tag vor seinem Eintreffen auf Land eine Sturmwarnung zum Wirbelsturm Sandy herauszugeben, weil es Informationen erhalten hatte, wonach der Sturm seinen Kurs ändern und sich zu einem tropischen Sturm abschwächen könnte. Als klar wurde, dass der Sturm nicht seinen Kurs ändert und sich auch nicht abschwächt, gab es für die Menschen nicht genug Zeit, um sich entsprechend vorzubereiten. In Anbetracht des Ausmaßes des Sturms und der Tatsache, dass er sich in Richtung des am dichtesten bevölkerten Landesteil zubewegte, war es auf Seiten der Behörden und Obrigkeiten nicht wirklich vernünftig zu entscheiden, die Sturmwarnung nicht früher herauszugeben.
Jedoch kann die Entscheidung, erst einen Tag vor dem Eintreffen des Sturms eine Warnung herauszugeben, nicht allein mit der verknöcherten Bürokratie erklärt werden. Es öffnet auch den Blick auf die ruinierte Infrastruktur der kapitalistischen Metropolen und wirft die Frage auf, welche Lösung, falls überhaupt, die Herrschenden haben, um mit solchen Stürmen in Zukunft fertig zu werden. Es scheint unter den gegenwärtigen Bedingungen der urbanen „Entwicklung“ im Kapitalismus aus mehreren Gründen unmöglich, einen vernünftigen Schutz und einen Flächenevakuierungsplan zu organisieren: 1. die schiere Anzahl von Menschen, die in diesen Gebieten leben; 2. der Mangel an einer Infrastruktur, die für die Evakuierung und Unterbringung der Menschen nach einem solchen Sturm erforderlich ist; 3. die Zerstörung der natürlichen Umwelt und die fortgesetzte Verstädterung in Gebieten, die für die Besiedelung ungeeignet sind; 4. die Verausgabung finanzieller, humaner, technologischer Ressourcen für militärische Zwecke.
Nun wo Supersturm Sandy wütete und jedermann realisierte, wie verwundbar die City und Millionen ihrer Einwohner sind, beginnt die unvermeidliche Kakophonie darüber, was in Zukunft zu tun ist, von neuem. Einige dieser Vorschläge sind ziemlich interessant und kreativ. Sie zeigen, dass die Menschheit auf der technologischen und wissenschaftlichen Ebene die potenzielle Fähigkeit entwickelt hat, die Wissenschaft in den Dienst der menschlichen Bedürfnisse zu stellen. Rund um St. Petersburg in Russland, Providence, Rhode Island und an der niederländischen Küste sind Sturmflutwehren gebaut worden. Das technologische Know-how ist vorhanden. Auch was die geographischen Besonderheiten von New York City anbetrifft, ist es nicht unmöglich, dass eine technologische Lösung gefunden wird. Doch angesichts der Realität der Wirtschaftskrise ist es nicht an den Haaren herbeigezogen, wenn man davon ausgeht, dass New York City eher auf das ausweichen wird, was die Ingenieurswissenschaft „Resilienz“ nennt, ein System, das kleinteilige Interventionen vorsieht, wie die Einrichtung von Schleusentoren an Kläranlagen und die Anhebung des Bodenniveaus in bestimmten Gebieten von Queens. In Anbetracht dass New York City ist Multimillionen-Stadt ist, die Teile der Weltwirtschaft am Laufen hält und deren Infrastruktur sehr komplex, alt und umfangreich ist, widersprechen kleine Eingriffe dieser Art jedoch dem gesunden Menschenverstand.
Präsident Obama erblickte im Wirbelsturm Sandy eine Gelegenheit, den Disput zwischen dem konservativen und dem liberaleren Flügel der herrschenden Klasse über die Rolle der Regierung neu aufzuwärmen. Es ist behauptet worden, dass die Reaktion der gegenwärtigen Administration wirksamer gewesen sei als die Reaktion der Bush-Administration im Anschluss an den Wirbelsturm Katrina. Die Bilder vom Convention Center in New Orleans, wo Tausende tagelang gestrandet waren und wo die entsetzlichsten Bedingungen geherrscht hatten, sind den Bildern von der Nationalgarde gegenübergestellt worden, die einen Tag nach dem Sturm in Hoboken, New Jersey, eintraf, um Nahrungsmittel und Wasser zu verteilen und gestrandete Anwohner zu bergen. Die Botschaft war klar: Die Regierung ist da, um den Menschen in Not zu helfen, und kann einen besseren Job verrichten, wenn Demokraten am Ruder sind.
Doch jeder kann die Nachrichten lesen, um sich ein Bild von den katastrophalen Bedingungen zu machen, unter denen Hunderttausende von Menschen noch zwei Wochen nach dem Sturm hausen. Von der Wiedereröffnung der Schulen, die als Schutzräume dienen, über die Stromengpässe in ganzen Landstrichen bis hin zur Rationierung von Treibstoff – die Tatsachen zeigen, dass die herrschende Klasse und ihr überbordender bürokratischer Staatsapparat in eine Sackgasse gelandet sind und unfähig sind, sich effizient und sinnvoll den dringenden und langfristigen Bedürfnissen der Bevölkerung zuzuwenden.
Aber wir schließen daraus nicht, wie es die rechten Konservativen tun, die Regierung durch Wohltätigkeiten zu ersetzen und die Menschen zu veranlassen, für die schlechten Tage zu sparen. Dies würde die Massen an die Launen der herrschenden Klasse ketten, indem sie entweder vom Großmut philanthropischer und religiöser Organisationen oder vom Schwanken des kapitalistischen Marktes zwischen Zeiten der Vollbeschäftigung und der Arbeitslosigkeit abhängig gemacht werden. Dies trägt nicht zur Hebung des Bewusstseins der ausgebeuteten Massen aus der Resignation gegenüber dem Ausbeutungssystem bei, dem sie unterworfen sind, da es keinen Unterschied macht, ob wir direkt vom Staat oder vom Markt oder vom einzelnen Kapitalisten, der durchaus auch ein Philanthrop sein kann, unterdrückt und ausgebeutet werden. Was unserer Auffassung nötig ist, ist die revolutionäre und autonome Aktion der Massen mit dem Ziel, die politische Macht zu ergreifen. Dies ist der einzige Weg, um sicherzustellen, dass all wichtigen Entscheidungen im Interesse dessen getroffen werden, was getan werden muss, um die Ressourcen der Gesellschaft für die eigenen Bedürfnisse der Gesellschaft zu schaffen, zu verwalten, auszuliefern und zu verteilen, und nicht für die Bedürfnisse des Profits, des Kapitals, der Regierung oder der Philanthropen.
Es ist die Bevölkerung, die – wahrscheinlich gewitzt aus den Erfahrungen der jüngsten klimatischen Ereignisse, dass die herrschende Klasse und ihre vielfältigen Behörden, wie die FEMA, nicht helfen bzw. nicht genug oder schnell genug helfen – ihre Ressourcen, ihre Zeit, ihr Geld zur Verfügung stellt. Dies zeigt das fundamentale und bedeutende Gespür für die Identität, die unter den Ausgebeuteten existiert, und dass es sie sind, die das Potenzial besitzen, eine neue Welt zu schaffen.
Ana, 10. November 2012
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[7] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/bewegung-der-emporten
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[9] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/demokratisierung-kapitalismus
[10] https://de.internationalism.org/files/de/flugblattpdf.pdf
[11] https://es.internationalism.org/node/3349#_ftn2
[12] https://es.internationalism.org/node/3349#_ftnref1
[13] https://es.internationalism.org/node/3349#_ftnref2
[14] http://www.time.com/time/specials/packages/article/0,28804,2101745_2102132_2102373,00.html
[15] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/sozialproteste-weltweit
[16] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/bilanz-proteste-2011
[17] https://www.stern.de/wirtschaft/news/tarifvertraege-unter-mindestloehnen-so-billig-sind-deutsche-arbeitskraefte-3146648.html
[18] https://www.stern.de/wirtschaft/job/einkommen-in-deutschland-jeder-vierte-arbeitet-fuer-einen-niedriglohn-1799559.html
[19] https://www.manager-magazin.de/politik/artikel/a-821203.html
[20] https://www.manager-magazin.de/politik/weltwirtschaft/a-806026.html
[21] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/streiks-indien
[22] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/arbeiterkampfe-indien
[23] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/vollversammlungen-indien
[24] https://en.internationalism.org/icconline/201203/4703/mass-poverty-greece-it-s-what-awaits-us-all#_ftn1
[25] https://en.internationalism.org/icconline/201203/4701/workers-take-control-kilkis-hospital-greece
[26] https://en.internationalism.org/icconline/201203/4699/order-liberate-ourselves-debt-we-must-destroy-economy
[27] https://en.internationalism.org/icconline/201203/4703/mass-poverty-greece-it-s-what-awaits-us-all#_ftnref1
[28] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/massenverarmung
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[33] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/proteste-russland
[34] http://www.arbeitsalltag.de/Texte/Silver.pdf
[35] https://de.internationalism.org/content/1396/der-operaismus-eine-oekonomistische-und-soziologische-betrachtungsweise-des
[36] https://de.internationalism.org/content/1428/der-operaismus-eine-oekonomistische-und-soziologische-betrachtungsweise-2
[37] https://de.internationalism.org/content/1479/der-operaismus-eine-oekonomistische-und-soziologische-betrachtungsweise-des
[38] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/spartengewerkschaften
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[40] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/streiks-spartengewerkschaften
[41] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/gdl
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