Wir veröffentlichen hier eine Kritik des Artikels "Towards a communist electoral strategy" (Auf zu einer kommunistischen Wahlstrategie), der jüngst auf der Website des Communist League of Tampa (Florida, USA) erschien. Wir haben bereits die vorausgegangene Korrespondenz zwischen uns und dem CLT publiziert, in der wir begrüßten, dass der CLT die Notwendigkeit einer kommunistischen Weltpartei anerkennt, in der wir aber auch einige der Hauptunterschiede zwischen unserer Strömung und dem CLT hinsichtlich der Konzeption der "Massenpartei", der Frage, ob die kommunistische Partei die Macht übernimmt oder nicht, und der Relevanz der alten sozialdemokratischen Programme für das kommunistische Projekt heute aufzeigten.[1]
Mit der Veröffentlichung des Artikels "Towards a communist electoral strategy" von Donald Parkinson[2] scheinen sich diese Differenzen noch vertieft zu haben oder zumindest klarer geworden zu sein. Ein vergleichbarer Prozess scheint auch in den Beziehungen zwischen der Gruppe aus Tampa und ihrer Zweigniederlassung in Miami im Gange zu sein, die ihren Namen nun in "Workers Offensive Group" umgeändert und eine Stellungnahme zu ihren Positionen verabschiedet hat, die weitaus mehr in Einklang mit den Positionen der kommunistischen Linken stehen. Gleichzeitig hat die Gruppe aus Miami erklärt, dass sie die Diskussion mit der Gruppe in Tampa aufrechterhalten möchte.[3] Wir unterstützen diese Entscheidung und möchten ebenfalls die Diskussion mit Tampa fortsetzen; daher dieser Beitrag, mit dem wir hoffen, die Gruppe aus Tampa und andere zu einer Antwort zu animieren.
Wir denken, dass diese Debatte über die Wahlen besonders wichtig ist, nicht zuletzt weil im gegenwärtigen politischen Klima in den USA ein gewaltiger Druck auf all jene lastet, die sich selbst zu sehr in Gegnerschaft zum kapitalistischen System sehen, um ihre Prinzipien beiseitezuschieben und ihre Stimme zu benutzen, um Donald Trumps Griff nach der Präsidentschaft zu verhindern. In diesem Artikel wollen wir erklären, warum die Teilnahme an bürgerlichen Wahlen im Allgemeinen nicht mehr den Interessen des Klassenkampfes dient, sondern ihm direkt widerspricht.
Der Text von DP beginnt mit der Behauptung, dass "die Beteiligung an der Wahlpolitik und damit eine Wahlstrategie wichtig ist, wenn Kommunisten sich anschicken, öffentliche Legitimität als eine ernsthafte politische Kraft zu erlangen". Der Text erkennt an, dass Wahlkampfzeiten "ohne Ende widerlich sind, besonders dieses Jahr in den USA mit dem widerwärtigen Trump vs. der neoliberalen Imperialistin Clinton". Doch bezieht er sich auf von Marx und Engels verfasste Passagen, um die Ansicht zu untermauern, dass Kommunisten nichtsdestotrotz ihre eigenen Kandidaten aufstellen sollen, um, wie Marx es in seinen Adresse an den Kommunistischen Bund 1850 formulierte, "ihre Selbständigkeit zu bewahren, ihre Kräfte zu zählen, ihre revolutionäre Stellung und Parteistandpunkte vor die Öffentlichkeit zu bringen." DP ist sich durchaus der Existenz von Kommunisten wie Pannekoek und Bordiga bewusst, die unter den neuen, von Krieg und Revolution nach 1914 geschaffenen Bedingungen alle parlamentarischen Aktivitäten ablehnten, doch seine Hauptsorge gilt, die Tatsache zu missbilligen, dass ihre Ansichten einen übermäßigen Einfluss auf die zeitgenössische "Linke" gehabt hätten, der in großem Maße "rein auf der direkten Aktion basierte". Er räumt ein, dass die Anziehungskraft einer solchen Vorgehensweise verständlich sei angesichts dessen, dass "der bürgerliche Staat sich selbst eine Art Leviathan darstellt", doch solle man nicht daraus schließen, dass "alles, was von ihm berührt wird, todgeweiht ist". Der Text skizziert dann die Hauptelemente in der neu belebten kommunistischen Wahlstrategie:
"Jedoch verbergen sich hinter der Frage, ob man den Staat zerschmettern muss oder ob man sich an Wahlen beteiligen soll, zwei unterschiedliche Fragen. Der bürgerliche Staat kann zerschmettert werden, und dennoch können wir uns innerhalb seiner Institutionen beteiligen mit dem Ziel, die Arbeiterklasse zu agitieren und zu trainieren. Wahlkampagnen dienen, selbst wenn sie kein Erfolg haben, dem Zweck, Kommunisten dazu zu veranlassen, sich ausführlich in der Öffentlichkeit zu engagieren und für ihre Positionen zu streiten. Doch was, wenn Kommunisten tatsächlich Wahlen gewinnen? Würden wir nicht nur den bürgerlichen Staat managen?
Die erste Klarstellung, die wir machen wollen, ist, dass wir nicht an die Macht kommen, es sei denn, wir bekämen das Mandat, unser volles Minimalprogramm auszuführen und im Kern den bürgerlichen Staat zu zerschlagen sowie die Diktatur des Proletariats zu erschaffen. Die Partei würde eine Partei in Opposition sein und würde keine Koalitionsregierung mit bürgerlichen Parteien bilden. Im Unterschied zu anderen Organisationen wie Syriza, die handelt, als ob sie nichts bewirken könne, solange sie nicht an der Macht ist, würde eine echte marxistische Partei in der Opposition bleiben und keine Regierung formen, bis die Bedingungen für die Revolution reif sind.
Eine weitere Klarstellung: wir sind nicht dabei, die Exekutivgewalten anzustreben, die wir realistischerweise nicht erlangen können. In dem Ausmaß, in dem Kommunisten verantwortlich für das Managen des Staates sind, werden sie gezwungen sein, Kompromisse mit der bürgerlichen Legalität zu machen. Statt für Ämter wie den Gouverneur oder Präsidenten zu kandidieren, sollten wir Ämter in der Legislative wie im Repräsentantenhaus, aber auch in den bundesstaatlichen Parlamenten und Versammlungen anstreben. In diesen Positionen können wir für oder gegen die Gesetzgebung (oder auch mit Enthaltung) stimmen und unsere Partei als eine 'Tribüne für das Volk' etablieren, die dieses Machtzentrum nutzt, um gegen den bürgerlichen Staat und den Kapitalismus Propaganda zu betreiben. Indem wir gegen reaktionäre Gesetze stimmen, können wir, selbst wenn Demokraten und Republikaner in der Überzahl sind, demonstrieren, dass unsere Partei fest gegen die Interessen des bürgerlichen Staates und des Kapitalismus antritt, und eine Massenlegitimität für radikale Positionen entwickeln."
Was in diesem Absatz sofort ins Auge sticht, ist der Umstand, dass er außerhalb der Geschichte zu existieren scheint. Es fehlt jeglicher Hinweis auf die tiefgehenden Änderungen, die im Leben des Kapitalismus und der Arbeiterklasse seit den Tagen der Zweiten Internationalen stattgefunden haben, als solche Dilemmas, wie Arbeiterrepräsentanten sich selbst in den parlamentarischen Körperschaften verhalten sollten, noch von echter Relevanz waren. DP's Text nimmt uns dagegen mit zu einem Universum, wo es keine Tendenzen in den Massenparteien und Gewerkschaften der Arbeiterklasse gegeben hat, vom kapitalistischen Staat absorbiert zu werden; kein qualitatives Wachstum des totalitären, leviathanischen Staat in Reaktion auf die neue Epoche von Kriegen und Revolutionen; keine traumatischen Jahrzehnte der stalinistischen, faschistischen und demokratischen Konterrevolution, die eine ganze Generation von Revolutionären korrumpierte oder auslöschte und nur einige kleine internationalistische Gruppen übrig ließ, die gegen den Strom ankämpften; keine Neigung in den nach dem Zurückweichen der Konterrevolution aufkommenden Generationen, der Politik und den politischen Organisationen jeglicher Art abgrundtief zu misstrauen. Das Resultat dieses realen historischen Prozesses ist mit Händen zu greifen: Die Kommunisten, die erklärtermaßen immer eine Minderheit in den Grenzen der kapitalistischen Gesellschaft bleiben mussten, wurden nun zu einer verschwindenden Minderheit, selbst wenn man eine ziemlich weitgefasste Vorstellung davon hat, was eine politische Kraft der Arbeiterklasse heute bildet. In diesem tatsächlichen Universum gibt es keine Partei der Arbeiterklasse, geschweige denn eine Massenpartei.
Der CLT behauptet sicherlich nicht, eine Partei zu sein, und geht auch nicht davon aus, dass sie unmittelbar vor ihrer Gründung steht; auch beabsichtigt er nicht, "demnächst irgendwelche Kandidaten aufzustellen, da wir eine kleine Sekte mit wenig Unterstützung und begrenzten Ressourcen sind". Doch die Abwendung von der Realität, die wir in Bezug auf die Vergangenheit sahen, gilt auch für eine mögliche Wahlstrategie in der Zukunft, weil es keinen wie auch immer gearteten Versuch gibt zu überlegen, welche Veränderungen stattfinden müssten, damit es "kleinen Sekten mit wenig Unterstützung und begrenzten Ressourcen" ermöglicht wird, sich selbst zu einer respekteinflößenden kommunistischen Partei zu mausern, die in der Lage ist, eine respektable Anzahl von Sitzen im Kongress oder ähnlichen Parlamenten zu erringen oder gar möglicherweise "das Mandat zu erhalten, den bürgerlichen Staat zu zerschmettern und die Diktatur des Proletariats zu etablieren".[4] Solch eine Transformation kann nur das Ergebnis eines massiven Aufschwungs im Klassenkampf auf weltweiter Ebene sein, einer Bewegung, die nicht nur einer neuen Generation von Revolutionären Leben einhauchen und eine massive Stärkung der kommunistischen Minderheit bedeuten würde, sondern auch neue Formen der Massenorganisation erzeugen würde, die sich auf die Prinzipien der Vollversammlungen und der Arbeiterräte stützen. Diese Perspektive ist nicht nur von den Sowjets der ersten internationalen revolutionären Welle bestätigt worden, sondern auch in jüngeren Massenbewegungen - zum Beispiel in den Fabrik übergreifenden Streikkomitees, die 1980 in Polen entstanden, in den Vollversammlungen, die der Schwerpunkt der Diskussionen und Entscheidungsfindung im Kampf gegen den CPE in Frankreich 2006 waren, oder in der Indignados-Bewegung in Spanien 2011.
1918, Die deutsche Revolution: Auf dem Plakat steht: "Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten". Aber im Dezember 1918 beging der nationale Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte Selbstmord, indem er die Macht dem neuen deutschen Parlament abgab.
Es ist schon bezeichnend, dass der Text überhaupt nichts zur Frage der Räte sagt und sogar mit der Aussicht aufwartet, dass die kommunistische Partei via bürgerlicher Wahlen an die Macht gelangt. Doch was noch bezeichnender ist, ist die Tatsache, dass der Text nicht die Rolle des Parlaments und der Wahlen unter der Voraussetzung untersucht, dass die Arbeiterräte gebildet sind und die Frage der Diktatur des Proletariats direkt gestellt worden ist, wie in Deutschland 1918, wo demokratische Wahlen als Waffe gegen die Räte benutzt wurden, ein Mittel, die Arbeiter_innen zur Idee zu verleiten, dass die parlamentarische Demokratie und die Arbeiterräte irgendwie ko-existieren können (vorausgesetzt, Letztere wären auf den Status eines zahmen gewerkschaftsähnlichen Gremiums gestutzt, das sich auf den einzelnen Arbeitsplatz beschränkt...). Zusammengefasst: Kommunisten werden nur in einem vor-revolutionären Aufschwung in der Lage sein, als eine Partei, als eine Organisation zu handeln, die einen realen Einfluss auf die Entwicklung des Klassenkampfes ausübt, und dann wird es offensichtlicher denn je werden, dass sie ihre Energien auf die Stärkung der Räte oder räte-ähnlichen Organisationen gegen die tödlichen Mystifikationen der bürgerlichen Demokratie richten wird.
Und wir sollten uns im Klaren darüber sein, wie tief diese Mystifikationen in den Köpfen der Arbeiter_innen einschließlich der Revolutionäre eingepflanzt sind. Die Vorstellung, dass der Triumph der Demokratie und des politischen Sieges der Arbeiterklasse auf dasselbe hinauslaufen, ist bereits im Kommunistischen Manifest von 1848 präsent. Die Erfahrungen aus der Kommune verhalfen Marx und Engels zum Verständnis, dass die Arbeiterklasse nicht die existierenden parlamentarischen Gremien benutzen kann, um an die Macht zu gelangen... Und dennoch: wie fragil dieses Verständnis war, zeigte sich, als Marx kurz nach dem Verfassen von "Der Bürgerkrieg in Frankreich", wo er mit großartiger Klarheit die Lehren aus der Kommune gezogen hatte, noch immer in Erwägung zog, dass die Arbeiterklasse in einigen bürgerlich-demokratischen Ländern wie Großbritannien oder Holland "friedlich" an die Macht gelangen könnte, oder als Theoretiker wie Kautsky - zu Zeiten einer Sozialdemokratie, die den Anschein erweckte, dass die Arbeiterklasse Schritt für Schritt ihre Parteien und Gewerkschaften innerhalb des Rahmens der bürgerlichen Gesellschaft aufbauen kann - keinen anderen "Weg zur Macht" sahen als den parlamentarischen.[5] Jene in der marxistischen Bewegung, die begannen, Kautskys Orthodoxie anzufechten, hatten einen harten Kampf auszufechten; sie versuchten, die Folgen der neuen Kampfformen zu erschließen, die aufkamen, als die Aufstiegsepoche des Kapitalismus sich dem Ende entgegenneigte: der Massenstreik in Russland, das Auftreten der Sowjets, die Ausdehnung von wilden Streiks in Westeuropa. Durch die Untersuchung dieser neuen Formen und Methoden des Kampfes waren Pannekoek, Bucharin und schließlich Lenin in der Lage, den sozialdemokratischen Konsens zu durchbrechen und ihr Programm auf die klarsten Einsichten von Marx und Engels zu begründen - auf die Erkenntnis, dass der bürgerliche Staat aufgelöst werden muss, nicht per parlamentarischem Dekret, sondern durch die neuen Organe der politischen Macht des Proletariats, die durch die Revolution geschaffen werden. Diese theoretischen Weiterentwicklungen fanden neben Rosa Luxemburgs Analyse des Massenstreiks statt (oder waren, wie im Falle Pannekoek, von Letzterer stark beeinflusst), die die alte sozialdemokratische (und im weiteren Sinne die anarchosyndikalistische) Praxis in Frage stellte, Schritt für Schritt die Massenorganisationen zu bilden, die schließlich die Leitung der Gesellschaft übernehmen; in der neuen Konzeption von Luxemburg und Pannekoek ist die revolutionäre Massenorganisation der Arbeiterklasse das Produkt der Massenbewegung und kann nicht durch die kommunistische Minderheit in Abwesenheit einer solchen Bewegung erschaffen werden.
DP möchte, dass wir die Idee des "Anti-Elektoralismus als ewiges Prinzip" fallen lassen. Doch keiner der Mitstreiter der sozialdemokratischen und dann kommunistischen Linksfraktionen betrachtete den Anti-Elektoralismus als ewiges Prinzip. Sie waren Marxisten, nicht Anarchisten, und sie erkannten, dass in einer früheren Epoche, in jener Zeit, die den Kommunistischen Bund und die ersten beiden Internationalen miteinschloss, die Strategie, Arbeiterkandidaten in bürgerlichen Wahlen aufzustellen, durchaus einer Art "ewigen Prinzips" für Revolutionäre diente: die Notwendigkeit, die Autonomie der Arbeiterklasse gegenüber allen anderen Klassen zu entwickeln. So befürworteten von Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts Marxisten die Beteiligung an bürgerlichen Wahlen und Parlamenten, weil sie erkannten, dass das Parlament immer noch ein Schlachtfeld zwischen Parteien, die einer überholten feudalen Ordnung anhingen, und jenen war, die die Vorwärtsbewegung des Kapitals zum Ausdruck brachten, und somit von den Arbeiterorganisationen kritisch unterstützt werden konnten. In dieser Periode war es angebracht, anzuerkennen, dass solche Bündnisse im Interesse der Arbeiterklasse und sogar ein Momentum in der Weiterentwicklung ihrer politischen Klassenunabhängigkeit sein konnten. Als der Kapitalismus als Faktor des Fortschritts seine Grenzen erreicht hatte, wurde die Unterscheidung zwischen fortschrittlichen und reaktionären bürgerlichen Parteien zunehmend belanglos, so dass die Rolle der Revolutionäre in bürgerlichen Parlamenten sich mehr und mehr darauf fokussierte, gegen all die unterschiedlichen bürgerlichen Fraktionen zu opponieren - mithin darauf, die Rolle der "Tribüne" als einsame Stimme in einer rein bürgerlichen Arena zu spielen. Doch genau in dieser Phase, der Phase der reifen Sozialdemokratie, wurden die führenden Strömungen in vielen Arbeiterparteien in alle möglichen Arten von Kompromissen mit der kapitalistischen Klasse gezogen, sogar bis zu dem Punkt, Regierungsposten anzunehmen.
Für die Linkskommunisten bedeutete die Ankunft einer Periode des offenen, revolutionären Kampfes und des damit einhergehenden Triumphes des Opportunismus in den Parteien der alten Internationalen - ein Prozess, der von ihrer Rolle im Krieg von 1914 und von der folgenden revolutionären Welle abgeschlossen wurde -, dass alle alten Taktiken, selbst der begrenzteste Gebrauch der Wahlen und des Parlaments als eine Tribüne auf den Prüfstand gestellt werden mussten. Pannekoek akzeptierte 1920, als er noch fest von der Notwendigkeit einer kommunistischen Partei überzeugt war, dass die Beteiligung am Parlament und an den Wahlen in der vorherigen Epoche berechtigt war, doch wies er auf ihre schädlichen Auswirkungen unter den neuen Bedingungen hin:
"Anders wird es, wenn der Kampf des Proletariats in ein revolutionäres Stadium tritt. Wir reden hier nicht über die Frage, weshalb der Parlamentarismus als Regierungssystem nicht zur Selbstregierung der Massen taugt und dem Sowjetsystem weichen muss, sondern über die Benutzung des Parlamentarismus als Kampfmittel für das Proletariat. Als solche ist der Parlamentarismus die typische Form des Kampfes mittels Führer, wobei die Massen selbst eine untergeordnete Rolle spielen. Seine Praxis besteht darin, dass Abgeordnete, einzelne Personen, den wesentlichen Kampf führen; es muss dies daher bei den Massen die Illusion wecken, dass andere den Kampf für sie führen können. Früher war es der Glauben, die Führer könnten für die Arbeiter wichtige Reformen im Parlament erzielen; oder gar trat die Illusion auf, die Parlamentarier könnten durch Gesetzbeschlüsse die Umwälzung zum Sozialismus durchführen. Heute, da der Parlamentarismus bescheidener auftritt, hört man das Argument, im Parlament könnten die Abgeordneten Großes für die Propaganda des Kommunismus leisten. Immer fällt dabei das Hauptgewicht auf die Führer, und es ist selbstverständlich dabei, dass Fachleute die Politik bestimmen - sei es auch in der demokratischen Verkleidung der Kongressdiskussionen und Resolutionen —; die Geschichte der Sozialdemokratie ist eine Kette vergeblicher Bemühungen, die Mitglieder selbst ihre Politik bestimmen zu lassen. Wo das Proletariat parlamentarisch kämpft, ist das alles unvermeidlich, solange die Massen noch keine Organe der Selbstaktion geschaffen haben, also, wo die Revolution noch kommen muss. Sobald die Massen selbst auftreten, handeln und dadurch bestimmen können, werden die Nachteile des Parlamentarismus überwiegend.
Das Problem der Taktik ist - wir führten es oben aus — wie in der proletarischen Masse die traditionelle bürgerliche Denkweise auszurotten ist, die ihre Kraft lähmt; alles, was die überlieferte Anschauung neu stärkt, ist von Übel. Der zäheste, festeste Teil dieser Denkweise ist ihre Unselbständigkeit Führern gegenüber, denen sie die Entscheidung allgemeiner Fragen, die Leitung ihrer Klassenangelegenheiten überlässt. Der Parlamentarismus hat die unvermeidliche Tendenz, die eigene, zur Revolution notwendige Aktivität der Massen zu hemmen. Mögen da schöne Reden zur Weckung der revolutionären Tat gehalten werden, so entspringt das revolutionäre Handeln nicht solchen Worten, sondern nur der harten, schweren Notwendigkeit, wenn keine andere Wahl mehr bleibt.
Die Revolution erfordert auch noch etwas mehr als die massale Kampftat, die ein Regierungssystem stürzt und von der wir wissen, dass sie nicht von Führern bestellt, sondern nur aus dem tiefen Drang der Massen emporspringen kann. Die Revolution erfordert, dass die großen Fragen der gesellschaftlichen Rekonstruktion in die Hand genommen, dass schwierige Entscheidungen getroffen werden, dass das ganze Proletariat in schaffende Bewegung gebracht wird - und das ist nur möglich, wenn zuerst die Vorhut, dann eine immer größere Masse sie selbst zur Hand nimmt, sich selbst dafür verantwortlich weiß, sucht, propagiert, ringt, versucht, nachdenkt, wägt, wagt und durchführt. Aber das ist alles schwer und mühsam; solange daher die Arbeiterklasse glaubt, einen leichteren Weg zu sehen, indem andere für sie handeln - von einer hohen Tribüne Agitation führen, Entscheidungen treffen, Signale für die Aktionen geben, Gesetze machen — wird sie zögern und durch die alten Denkgewohnheiten und die alten Schwächen passiv bleiben."[6]
Hier gelangt Pannekoek zur Ursache, warum der Kampf um die Räte den parlamentarischen Aktivitäten in all ihren Formen diametral entgegengesetzt ist. Um eine Revolution zu machen, muss das Proletariat mit alten Gewohnheiten im Denken und Handeln, mit der Entfremdung seiner eigenen Kräfte durch die Wahl von Repräsentanten in bürgerlichen Parlamenten radikal brechen. Für ihn konnte die Taktik des "revolutionären Parlamentarismus", die von den Parteien der Kommunistischen Internationalen verabschiedet wurde (und die der von DP befürworteten Wahlstrategie sehr ähnlich ist), lediglich dazu dienen, die vorherrschenden und lähmenden Illusionen in die bürgerliche Demokratie weiter zu verstärken. Und wir können hinzufügen, dass auch wenn die Statuten der Kommunistischen Parteien eine Reihe von Vorsichtsmaßnahmen gegen Korruption enthielten, diese Regeln die offiziellen Parteien nicht daran hinderten, sich selbst ziemlich schnell in Stimmenjagd-Maschinen zu verwandeln.
Für Pannekoek und andere Linkskommunisten traf dasselbe auch auf die Gewerkschaftsform zu, die zwar ursprünglich als eine Form der Selbstorganisation der Arbeiterklasse entstanden war, aber mittlerweile hoffnungslos im bürgerlichen Staat und seiner Bürokratie verstrickt ist. Die konterrevolutionäre Rolle, die von den alten Parteien und Gewerkschaften im imperialistischen Krieg und in der darauffolgenden proletarischen Revolution gespielt wurde, machte klar, dass die neuen Organisationsformen sich nicht innerhalb der Hülle der alten Gesellschaft entwickeln werden, sondern durch eine Eruption, die diese Hülle in Stücke schlägt. In einem gewissen Sinne war dies eine Rückkehr zu Marx' Beobachtung, dass die Arbeiterklasse eine Klasse der Zivilgesellschaft ist, die gleichzeitig keine Klasse der Zivilgesellschaft ist, eine vogelfreie Klasse, die erklärtermaßen niemals eine "öffentliche Legitimität" in den normalen Aktivitäten der kapitalistischen Gesellschaft erlangen kann. Die Vorstellung, nach öffentlicher Legitimität zu streben, nach "Popularität" und den größten Anteil an Stimmen zu trachten, ist eine grobe Entstellung der Rolle der Kommunisten, deren Aufgabe es stets ist, die zukünftigen Ziele in der Bewegung der Gegenwart zu vertreten, die Wahrheit auszusprechen, so unangenehm sie klingen mag und selbst wenn dies bedeutet, gegen den Strom zu schwimmen, wie es Revolutionäre vom Schlage eines Lenin oder einer Luxemburg angesichts der Welle der nationalistischen Hysterie getan hatten, die 1914 zeitweilig über die Arbeiterklasse geschwappt war. Bordiga, der in den Debatten in der Dritten Internationalen die Frage des Abstentionismus als eine taktische Frage betrachtete, erläuterte gleichwohl die Gründe, warum die "Wahlmentalität" uns an die bürgerliche Gesellschaft bindet. In Das Demokratische Prinzip[7] zeigt er zum Beispiel, dass das Prinzip der bürgerlichen Demokratie, das Prinzip: "Ein Mann, eine Stimme" im Wirken der Warenbeziehungen verwurzelt ist. Eine Bewegung für den Kommunismus ist erklärtermaßen eine Bewegung, die die Vorstellung des atomisierten Individuums, das seine Rechte in der Wahlkabine ausübt, überwindet, und dies als Teil eines breiteren Kampfes gegen die verdinglichten Gesellschaftsverhältnisse, die uns von der Warenform aufgedrängt werden.
Wir denken, dass die Genossen vom CLT zurück zu diesen theoretischen Beiträgen gehen und sich noch eingehender mit den Gründen befassen sollten, warum diese Genossen alle Formen der Wahlbeteiligung abgelehnt hatten. Es ist wahr, der Text von DP räumt ein, dass - wie die Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten 1914 bestätigt hatte - die Gefahr besteht, dass Parteirepräsentanten Interessen entwickeln würden, die unabhängig von der Arbeiterklasse sind. Doch seine Antwort lautet, dass diesem Problem "begegnet werden kann, ohne sich der Wahlaktivitäten zu enthalten. Zum Beispiel kann von Wahlvertretern verlangt werden, einen bestimmten prozentualen Anteil ihrer Diäten der Partei zu spenden, und sie könnten der Abberufung durch eine Volksabstimmung unterworfen werden". Lässt man einmal den spekulativen, ja träumerischen Charakter dieses ganzen Szenarios beiseite, bleibt eine rein formale Antwort, die nicht den Kern der Kritik trifft, die von Pannekoek, Bordiga u.ä. erhoben wurde.
Wie wir bemerkt haben, befindet sich der CLT nicht in der unmittelbaren Gefahr, sich in die Wahlpraxis zu stürzen. Doch sein Widerwille, die realen historischen Bedingungen anzuerkennen, denen sich die kommunistische Minderheit gegenübersieht, scheint ihn einerseits in eine Art von syndikalistischem Aktivismus zu drängen (nachdem sie gesagt haben, dass sie bis jetzt keinen Kandidaten aufstellen wollen, äußern sie nun, dass "unsere Energie im Augenblick in das Unterfangen hineingesteckt wird, uns zu einer effektiveren Organisation zu machen und mitzuhelfen, eine Allgemeine Ortsgruppe des IWW zum Laufen zu bekommen".[8] Gefährlicher sind ihre Zweideutigkeiten über den Charakter der "Linken", die im Anfangsteil des Textes zu sehen sind und die die Türen zu einem Bündnis mit offen linkskapitalistischen Organisationen wie der Red Party zu öffnen scheinen, die wie das amerikanische Äquivalent der Communist Party of Great Britain/Weekly Worker in the UK[9] aussieht, eine Organisation, die ihre historischen Ursprünge als Fraktion innerhalb des Stalinismus nie kritisch hinterfragt hat. Möglicherweise betrachtet der CLT solche Bündnisse als ein Mittel, um aus seiner Lage als eine "kleine Sekte ohne Unterstützung" auszubrechen, doch ist es wahrscheinlicher, dass die Gruppe in einem Meer des Linksextremismus ertrinken wird.
DP's Artikel bedauert, wie wir gesehen haben, die Tatsache, dass "große Sektionen der Linken" den direkten Aktionismus favorisieren und eine machbare Wahlstrategie ausschließen. In Wahrheit werden in Zeiten beträchtlicher Schwierigkeiten für die Arbeiterklasse, wenn Streiks und "die Bewegung auf der Straße" auf dem Rückzug sind, viele erst neuerdings politisierten Elemente für die Unterstützung einer "Linken" im neuen Look von Podemos in Spanien, Syriza in Griechenland, Corbyn in Großbritannien und Sanders in den USA mobilisiert. Diese Strömungen stellen allesamt den offensichtlichen Versuch dar, militante Energie in die Sackgasse von Wahlen und den "langen Marsch durch die Institutionen" zu zerren. Kommunisten können nur gegen die falschen Hoffnungen einstehen, die diese anbieten, indem sie eine klare Kritik der bürgerlichen Demokratie und ihres heimtückischen Einflusses innerhalb der revolutionären Klasse anbieten.
Amos, Oktober 2016
[1] https://en.internationalism.org/icconline/201510/13503/communist-league-tampa-and-question-party [1]; communistleaguetampa.org/2016/01/11/debate-on-the-world-party-a-response-to-the-icc; https://en.internationalism.org/icconline/201604/13893/once-again-party-and-its-relation-class [2]
[2] communistleaguetampa.org/?s=communist+electoral+strategy&submit=Search. Wir denken, dass dies ein signierter Artikel ist und möglicherweise nicht die Ansichten aller Mitglieder von CLT wiedergibt, doch Posts vom CLT-Mitglied Pennoid in einem Thread auf libcom, die voll und ganz der Vorgehensweise des Artikels zustimmen, und die Abwesenheit von Gegenargumenten von CLT-Mitgliedern auf ihrer Website scheinen anzudeuten, dass der Artikel von DP breite Unterstützung innerhalb der Gruppe genießt. Siehe: https://libcom.org/forums/organise/communist-electoral-strategy-22082016 [3]
[3] workersoffensivegroup.wordpress.com/points-of-unity; workersoffensivegroup.wordpress.com/category/official-statements. Über Wahlen sagt die Workers' Offensive Group in ihren Punkten der Übereinstimmung mit der CLT: "Alle Wahlen sind nur zum Schein. Politische Macht ist im Kern eine Frage der Gewalt, nicht der Stimmen. Das Ritual der Massenselbsttäuschung, das ein Teil der Wahlpolitik bildet, fungiert als ein sicheres Ventil, in das der Unmut der ausgebeuteten Klasse gefahrlos umgelenkt werden kann. Die Teilnahme an Wahlen hilft die geistige Vorherrschaft des Kapitalismus über die Arbeiterklasse aufrechtzuerhalten, indem die große Lüge wiederaufgefrischt wird, dass die Arbeiter*innen eine Stimme innerhalb dieses Systems haben. Pathetisch zu Füßen der Ausbeuter zu betteln und einer winzigen Minderheit zu vertrauen, die alle ihre Schlachten kämpfen soll, erzeugt keine Unabhängigkeit und Selbstbehauptung in der Arbeiterklasse, nur Kraftlosigkeit und Unterwerfung."
[4] Der Hauch der Irrealität schwebt auch über die Sichtweise von DP, wie die Massenpartei sich auf dem Feld der direkten Aktion betätigen soll: "Eine Massenpartei wird eine große Anzahl von Arbeiter_innen durch 'außerparlamentarische' Mittel auf sich ziehen müssen, ehe sie eine Chance hat, in einem Wahlkampf zu gewinnen. Der Aufbau von Klassengewerkschaften, Solidaritätsnetzwerken, Beistandsvereinen, Waffenvereinen, Sportmannschsaften, etc. darf nicht zugunsten der Wahlaktion abgelehnt werden." Dies hört sich sehr stark wie Nostalgie nach den guten alten Tagen der Sozialdemokratie an, als die Arbeiterklasse ihre eigenen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Organismen für eine langandauernde Periode pflegen konnte, ohne dass diese in die Hände des bürgerlichen Staates fallen konnten.
[5] Siehe unser Artikel über die parlamentaristischen Irrtümer Engels' und Kautskys: https://en.internationalism.org/internationalreview/199701/1619/revolutionary-perspective-obscured-parliamentary-illusions [4].
[6] Weltrevolution und kommunistische Taktiken, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/pannekoek/1920/xx/weltrevolution.htm [5].
[8] Auch in der Gewerkschaftsfrage nehmen die Punkte der Übereinstimmung, die von der Workers' Offensive Group veröffentlicht wurden, eine klare Position ein: "Arbeiterverbände sind ungeachtet ihrer internen Strukturen keine Arbeitergewerkschaften, sondern Organe des kapitalistischen Staates, die den Widerstand der Arbeiterklasse gegen das ausbeuterische System durch Verhandlungen und die Geltendmachung von Verträgen mit dem Kapital ersticken und in Grenzen halten. In der Hitze des Klassenkampfes müssen die Arbeiter_innen die Gewerkschaften zerstören und ihre eigenen Massen- und Einheitsorganisationen bilden, um ihren Kampf gegen den Kapitalismus zu leiten und durchzuführen."
[9] red-party.com.
Wie ist es möglich, dass sich heute Rassismus, Sexismus und Homophobie derart verbreiten, die Entfesselung der gesellschaftlichen Gewalt erklären, die diese Vorurteile beinhalten, die aus einem längst vergangenen Zeitalter des Aberglaubens zu kommen scheinen?
(Über das Buch von Patrick Tort, "Sexe, Race & Culture")
Die Diskussionen rund um das vorgeschlagene Gesetz für die Legalisierung von gleichgeschlechtlichen Ehen in Frankreich 2013 haben für viel Aufregung, schwülstige Reden und Dummheiten gesorgt, und dies umso mehr, als "Genderstudien" als Totschlag-Argumente der einen gegen die andere Seite verbreitet wurden. Dann, Themawechsel, nahmen die leidenschaftlichen Kontroversen eine dramatische Wendung, als Tausende von Flüchtlingen, von Elend und Krieg aus ihrer Heimat vertrieben, an die Tür der entwickelten Länder klopften oder als wir das Geräusch von Kalaschnikows vernahmen, die darauf abzielten, junge Leute in Paris wegen ihres Lebensstils oder die Jugend von Orlando wegen ihrer sexuellen Orientierung zu vernichten. Die Linke, die Rechte, die Rechtsextremisten, die Linksextremisten, all die Elemente des politischen Apparats der Bourgeoisie machten sich auf der medialen Theaterbühne gegenseitig zur Schnecke - manche von ihnen verkündeten: "Je suis Charlie", andere: "Je ne suis pas Charlie" - und verdoppelten die Demagogie, um nicht von der Konkurrenz überflügelt zu werden.
Lassen wir einmal das Theater der offiziellen Politik beiseite und kehren zur eigentlichen Frage zurück, die sich angesichts von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Sexismus und Homophobie, aller sozialer Verhaltensweisen stellt, die die menschliche Entfremdung enthüllen und bis zum Mord gehen können. Wie kann man solch eine Entfesselung der gesellschaftlichen Gewalt erklären, wie diese Vorurteile begreifen, die aus einem längst vergangenen Zeitalter des Aberglaubens zu kommen scheinen? Wie kann man sich angesichts dieser Art von Problemen vor dem ideologischen Denken schützen, das die bürgerliche Gesellschaft im Übermaß verbreitet, um die Realität zu kaschieren und die Spaltungen zu vertiefen, die ihren historischen Gegner, die Klasse der Proletarier_innen, schwächen?
Selbstverständlich kann man die tieferen Ursachen dieser Phänomene erahnen. In einer Gesellschaft, die in antagonistische Klassen gespalten ist, die auf Ausbeutung des Menschen durch den Menschen basiert, wo die Waren ihre Tyrannei auf allen Ebenen der Existenz, einschließlich der intimsten, durchsetzen, in einer Gesellschaft schließlich, in der ein monströser, kalter Staat dominiert, der jeden Einzelnen überwacht, ist es keine Überraschung, dass die gesellschaftliche Gewalt äußerst hoch ist. In dieser Art von Gesellschaft wird der Andere, das Individuum vor uns auf Anhieb als suspekt wahrgenommen, als eine potenzielle Gefahr, bestenfalls als Konkurrent, schlimmstenfalls als Feind. Er wird aus tausend Gründen stigmatisiert, sei es, dass er nicht dieselbe Hautfarbe hat, das gleiche Geschlecht, dieselbe Kultur, Religion, Nationalität oder dieselbe sexuelle Orientierung. So erzeugen die mannigfachen Facetten der Konkurrenz, die sich auf der Grundlage der kapitalistischen Gesellschaft gründet, regelmäßig Verarmung, Krieg und Völkermord und auf einer anderen Ebene Stress, Aggression, sexuelle Belästigung und psychisches Leid, die Pogrommentalität, Aberglauben, Nihilismus sowie die Auflösung der elementarsten sozialen Bande.[1]
Doch diese Erklärung bleibt zu allgemein und ist unzureichend; es ist weiterhin notwendig, die Dynamik zu identifizieren, die diese Vorurteile und die von ihr gerechtfertigten Handlungen generiert, sowie ihr Überleben und sowohl ihre unmittelbaren als auch entfernteren Ursachen zu erklären. Dies ist eine höchst wichtige Frage für die Arbeiterklasse. Erstens, weil sie in ihren Kämpfen pausenlos konfrontiert ist mit der Notwendigkeit, zusammenzukommen, für ihre Einheit zu kämpfen. Der Kampf, um Vorurteile, die ihre Kräfte spalten, wie Rassismus, Sexismus oder Chauvinismus zum Beispiel, abzuweisen, ist unerlässlich, und sein Ausgang ist keineswegs so gut wie sicher. Zweitens, weil die revolutionäre Perspektive, die von der Arbeiterklasse transportiert wird, eine Gesellschaft ohne Klassen, ohne Grenzen zum Ziel hat, das heißt die Schaffung der menschlichen Gemeinschaft, die endlich auf einer globalen Ebene vereint ist. Dies bedeutet, dass die proletarische Revolution beabsichtigt, eine ganze Periode der menschlichen Geschichte abzuschließen, von den Horden, Vermischungen und Allianzen in der primitiven Gesellschaft bis zu den Kämpfen des 19. Jahrhunderts für die nationale Einheit, ein Prozess, der auf der Entwicklung der Arbeitsproduktivität basierte und zu den Revolutionen in den Produktionsverhältnissen und zu einer Erweiterung auf gesellschaftlicher Ebene führte.
Auch wenn die Arbeiterklasse als eine historische Klasse, die in sich das kommunistische Projekt trägt, bereits in ihrer Praxis als Repräsentant par excellence des aktiven Prinzips der Solidarität dazu gedrängt wird, diese Spaltungen zu überwinden, bleiben Rassismus, Sexismus und Fremdenfeindlichkeit ein reelles Problem, das den subjektiven Faktor der Revolution tangiert. Objektive Bedingungen sind nicht ausreichend, damit die Revolution gelingt. Es ist noch immer notwendig, dass die Klasse subjektiv in der Lage ist, ihre historische Aufgabe bis zum Ende durchzuführen, die Fähigkeit im Laufe ihrer Kämpfe zu erlangen, sich selbst zu vereinen und zu organisieren und ein tiefes intellektuelles und moralisches Verständnis zu entwickeln. Was die kommunistische Minderheit angeht, so muss sie in der Lage sein, klare und überzeugende politische Orientierungen zu geben und eine Weltpartei zu bilden, wenn die Bedingungen des Klassenkampfes es zulassen.
Das kleine Buch von Patrick Tort, "Sexe, Race et Culture", kann uns dabei helfen, diese Fragen besser zu durchdringen, und bildet eine wirkliche Anregung für die bewusstesten Arbeiter_innen. Wir kennen die wissenschaftliche Sorgfalt dieses Autors bereits aus anderen Werken[2], die nicht leicht zu lesen sind, doch denen der Wille, diese Art von Problematiken allgemein zugänglich zu machen, deutlich anzumerken ist. Abgefasst in der Form eines Interviews, setzt sich das Buch aus zwei Teilen zusammen: Der erste bespricht die Frage des Rassismus und bezieht Stellung zur Entscheidung, die von etlichen staatlichen und wissenschaftlichen Institutionen in Frankreich kürzlich getroffen wurde, nach der auf den Gebrauch des Wortes "Rasse" verzichtet werden soll; der zweite Teil spricht die Frage des Sexismus an und versucht, die Beziehungen zwischen dem Geschlecht und der "Gattung" zu definieren. All diese Fragen finden sich an der Schnittstelle von Biologie und Gesellschaftswissenschaften und können ohne eine Kritik am alten, starren Gegensatz zwischen "Natur" und "Kultur" nicht geklärt werden.
Hier ist der Beitrag von Darwin bedeutsam. Auf seinem eigenen Gebiet, der Wissenschaft des Lebens, stellte Darwin eine ganze Reihe von theoretischen Werkzeugen und eine wissenschaftliche Vorgehensweise vor, die es ermöglichten, eine materialistische Vision vom Übergang der Natur zur Kultur, vom Tierreich zur sozialen Welt des Menschen zu konstruieren. Patrick Tort ist international einer der angesehensten Darwin-Experten und hat nun in den Slatkine (Genf)- und Champion-Editions seine vollständigen Werke auf Französisch veröffentlicht. Die Veröffentlichung eines monumentalen Dictionaire du Darwinisme et de l'évolution, von ihm erstellt, hat uns ein unschätzbares Werkzeug zur Verfügung gestellt. Besonders mit der Idee von der Umkehrwirkung der Evolution hat er einen großen Beitrag geleistet, um Elemente im anthropologischen Werk Darwins verständlich zu machen, die wegen ihres subversiven Inhalts kaschiert wurden.[3] Diese Auseinandersetzung ist auch heute in vollem Gange, stoßen wir doch noch immer auf Widerstände gegen die fundamentalen Fortschritte, die von Darwin erzielt wurden. Da gibt es jene, die die fundamentalen Fragen zu umgehen versuchen und Überraschung heucheln: "Was sieht du bloß in Darwin? Ist dies ein neuer Kult eines mittlerweile modischen Wissenschaftlers?"[4] Und da gibt es jene, die Patrick Tort "die voreiligen Totengräber" nennt und die, vergessend, dass Darwin kein Sozialist war, dass er ein Kind seiner Zeit war und somit einige der damaligen Vorurteile teilte, sorgfältig isolierte Zitate als Trophäen benutzen, die die ganze Logik seines Werkes angeblich disqualifizierten.[5]
Natürlich befinden wir uns nicht zwangsläufig in Übereinstimmung mit all den politischen Positionen, die im Text von Patrick Tort zum Ausdruck kommen. Die Hauptsache ist, dass wir uns auf die Beiträge unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen stützen, um den Vorstellungen mehr Konkretisierung, mehr Klarheit zu verleihen, die der Marxismus zum größten Teil und seit langem in sein theoretisches Vermächtnis integriert hatte. Die großen Qualitäten dieses Autors sind, neben einer streng materialistischen Methode, die Fähigkeit, unterschiedliche Disziplinen zusammenzubringen, seine Kritik an allgemein anerkannten Vorstellungen und am gesunden Menschenverstand, Produkte sowohl des, wie er es nennt, "liberalen Rechts" als auch "der dominanten progressiven Ideologie". Es ist diese kritische Herangehensweise, die ihn in die Lage versetzt, Distanz zur Rumpelkammer der Medien, diesem "großen Beeinflussungsapparat", zu bewahren.
Der fundamentale Beitrag der Anthropologie Darwins besteht in einer kohärenten und materialistischen Beschreibung des Auftauchens der menschlichen Spezies durch den Mechanismus der natürlichen Selektion, die es Individuen mit vorteilhaften Mutationen erlaubt, besser angepasste und zahlreichere Nachkommen hervorzubringen. Der Prozess ist prinzipiell derselbe für alle Arten. Im Existenzkampf werden die am wenigsten Angepassten eliminiert, was, wenn bestimmte Bedingungen zusammenkommen, in der Umwandlung einer Art durch andauernde Selektion von vorteilhaften Mutationen und im Erscheinen neuer Arten gipfelt. Was im Falle höherer Tiere[6] an die Nachkommen weitergegeben wird, sind nicht nur vorteilhafte biologischen Abweichungen, sondern auch soziale Instinkte, Empfindungen wie Mitgefühl und Altruismus, die selbst dazu dienen, die Entwicklungen von rationalen Fähigkeiten und moralischen Gefühlen zu erweitern. Was mit dem Menschen geschieht, ist eben der Umstand, dass die Herausbildung von Mitgefühl und Altruismus auf die Eliminierung der Schwächsten stößt und sich ihr widersetzt. Der Schutz der Schwachen, Beistand für die Ausgestoßenen, Mitgefühl gegenüber dem Fremden, der trotz Unterschieden in der Kultur und im äußeren Erscheinungsbild als gleichartig erscheint, wie auch all die gesellschaftlichen Institutionen, die für die Ermutigung dieser Reaktionen verantwortlich sind - all dies nennt Darwin Zivilisation. Tort ruft kurz den Inhalt in Erinnerung:
"Durch soziale Instinkte (und ihre Konsequenzen für die Entwicklung rationaler und moralischer Kapazitäten) wählt die natürliche Selektion die Zivilisation aus, die sich der natürlichen Selektion entgegenstellt. Dies ist die vereinfachte und geläufige Formulierung dessen, was ich den Umkehreffekt genannt habe" (S. 21). Es ist eine vollkommen materialistische und dialektische Konzeption. Mit dem Erscheinen des Menschen, der mehr und mehr die Umwelt seinen Bedürfnissen anpasst, statt umgekehrt sich selbst seiner Umwelt anzupassen, und so sich selbst vom eliminatorischen Einfluss der Natur befreit, findet eine Umkehrung statt: Zu Beginn des Prozesses herrscht die Eliminierung der Schwächsten vor; dann, durch eine fortschreitende Umkehrung, setzt sich schließlich der Schutz der Schwachen durch, ein bedeutendes Zeichen der Solidarität der Gruppe. Der ursprüngliche Irrtum der Sozio-Biologie bestand darin, die menschliche Gesellschaft als eine Ansammlung von Organismen im Kampf zu betrachten; sie ging also von einer simplen Kontinuität zwischen dem Biologischen (reduziert auf einen hypothetischen Wettbewerb der Gene) und dem Sozialen aus. Dies ist bei Darwin nicht der Fall. Nach ihm gibt es eine Kontinuität, aber es ist eine umgekehrte (reversive) Kontinuität. In der Tat bewirkt die Umkehrung, die wir gerade beschrieben haben, keinen Bruch zwischen dem Biologischen und dem Sozialen, sondern eine neue Synthese. Laut Tort erlaubt uns diese Vorstellung, die theoretische Autonomie der Wissenschaften des Menschen und der Gesellschaft zu begreifen und gleichzeitig die materielle Kontinuität zwischen Natur und Kultur aufrechtzuerhalten. Es ist eine Ablehnung jeglichen Dualismus, jeglichen starren Gegensatzes zwischen dem Inneren und dem Erworbenen, zwischen Natur und Kultur.
Darwins Entdeckungen, denen wir den Umkehreffekt als unverzichtbaren Schlüssel zum Verständnis seines Werkes hinzufügen können, stellten eine wahrhaftige Umwälzung unserer wissenschaftlichen Auffassungen über das Erscheinen der menschlichen Gesellschaft dar. Indem er alte Gewissheiten (den Fixismus) und die scheinbare Stabilität der lebenden Welt in Frage stellte und indem er sich die Perspektive ihres tatsächlichen Stammbaums zu eigen machte, eröffnete Darwin neue Horizonte. Genau dieselbe Art der Umwälzung wurde von Anaximander im antiken Griechenland ausgelöst, als er die vorherrschende Sichtweise in Frage stellte, dass unser Planet zwangsläufig auf irgendetwas ruhen müsse. In Wirklichkeit, so behauptete er, treibe die Erde im Himmel; in diesem Sinne gebe es kein Oben und Unten. Indem er einfach die Sichtweise wechselt, mit der die sinnliche Realität betrachtet wird, öffnete Anaximander die Tür zur Entdeckung der Erde als eine Kugel - wo die Menschen, die auf der anderen Seite der Erde leben, nicht kopfstehen - und zu all den wissenschaftlichen Fortschritten, die sich daraus ergaben.[7]
Die Konsequenzen von Darwins Entdeckungen werden von Patrick Tort in Erinnerung gerufen:
Wir wollen hier nicht in Gänze das berühmte Zitat in Kapitel IV von Die Abstammung des Menschen... wiedergeben, sondern lediglich zwei Sätze, die fundamental sind für das Verständnis der Bedeutung von Darwins Schlussfolgerungen über den Menschen auf der gegenwärtigen Stufe der "Zivilisation": "Wenn er einmal an diesem Punkte angekommen ist, kann ihn nur noch eine künstliche Schranke hindern, seine Sympathien auf die Menschen aller Nationen und aller Rassen auszudehnen. Wenn diese Menschen sich in ihrem Äußeren und ihren Gewohnheiten bedeutend von ihm unterscheiden, so dauert es, wie uns leider die Erfahrung lehrt, lange, bevor er sie als seine Mitmenschen betrachten lernt."
Wenn man die Autobiographie[8] liest, die Darwin allein seinen engsten Freunden vorbehalten hatte, bemerkt man, dass er sich des revolutionären Charakters seiner Entdeckungen völlig bewusst war, besonders der Tatsache, dass er den Glauben an Gott in Frage stellte: Er selbst wurde Atheist. Doch er zeigte sich äußerst besonnen und vermied es im puritanisch-religiösen, viktorianischen England, dass sein Buch auf den Index gesetzt wurde. Man findet in diesen Zeilen dieselbe tiefsinnige und revolutionäre Vision des menschlichen Werdens wieder: Nationale Grenzen sind künstliche Schranken, die die Zivilisation zu durchbrechen und abzuschaffen haben wird. Ohne Kommunist zu sein, ohne ausdrücklich die Zerstörung der Grenzen zu erwägen, schloss Darwin in seiner Hypothese das Verschwinden des nationalen Rahmenwerks mit ein. In diesem Sinne ist die Zivilisation kein (fest stehender) Tatbestand, sie ist eine ständige und schmerzvolle Bewegung ("so dauert es lange, bevor..."), ein kontinuierlicher Bewältigungsprozess, der mit dem Erreichen der Vereinigung der Menschheit über den Menschen hinaus in Richtung eines Mitgefühls mit allen empfindungsfähigen Wesen fortgesetzt werden muss.
Die Perspektiven von Darwin und Marx zusammenführend, ruht, so denken wir, auf den Schultern des Proletariats und seiner wiederhergerichteten Solidarität die schwere Aufgabe, die bürgerliche Zivilisation zu stürzen, um die freie Entfaltung der menschlichen Zivilisation zu ermöglichen.
Eine andere wichtige Konsequenz ist die Weise, in der man die berühmte "menschliche Natur" begreift. Wir kennen den Irrtum der utopischen Sozialisten. Trotz all ihrer Verdienste waren sie aufgrund ihrer Zeit nicht in der Lage, die Voraussetzungen zu definieren, die den Sturz der bürgerlichen Gesellschaftsordnung und die Errichtung einer kommunistischen Gesellschaft begünstigen. Es war daher notwendig, eine ganze Gesellschaft zu erfinden, eine ideale Gesellschaft, die sich einer menschlichen Natur als absolutes Kriterium fügte. Somit griffen die utopischen Sozialisten die damals vorherrschende, idealistische Vision auf, die heute noch größtenteils existent ist und derzufolge die menschliche Natur unveränderlich und ewig ist. Das Problem, antwortete Marx, ist, dass die menschliche Natur im Verlaufe der Geschichte ständig verändert wird. In dem Augenblick, in dem der Mensch die äußere Natur verändert, wandelt er auch seine eigene Natur um.
Die Auffassung, die Darwin über die Beziehungen zwischen Natur und Kultur vertrat, gestattet uns, weit über eine einfache, abstrakte Vision einer menschlichen Natur hinauszugehen, die vergänglich und fließend ist. Es existiert eine Kontinuität zwischen dem Biologischen und dem Kulturellen, die die Existenz eines konstanten Kerns in der menschlichen Natur beinhaltet, ein Produkt der Gesamtheit der Evolution. Marx teilte diese Vision. Dies geht vor allem aus dieser Stelle im Kapital hervor, wo er auf den Utilitarismus von Jeremy Bentham antwortet: "Wenn man z.B. wissen will, was ist einem Hunde nützlich?, so muss man die Hundenatur ergründen. Diese Natur selbst ist nicht aus dem 'Nützlichkeitsprinzip' zu konstruieren. Auf den Menschen angewandt, wenn man alle menschliche Tat, Bewegung, Verhältnisse usw. nach dem Nützlichkeitsprinzip beurteilen will, handelt es sich erst um die menschliche Natur im allgemeinen und dann um die in jeder Epoche historisch modifizierte Menschennatur".[9]
Auch wenn die tiefen Wurzeln der Menschennatur erkannt worden sind, bleibt die irrtümliche Interpretation durch die utopischen Sozialisten noch heute vorherrschend. Patrick Tort zeigt ihre Natur klar auf: "Der Irrtum besteht nicht darin, die Existenz einer 'Natur' im menschlichen Wesen zu beteuern, sondern sie sich als ein allmächtiges Vermächtnis vorzustellen, das den Menschen infolge des unantastbaren Gesetzes eines eindeutigen und erduldeten Determinismus beherrscht" (S. 83). Dieser eindeutige und erduldete Determinismus gehört zum mechanischen Materialismus. Wohingegen der moderne Materialismus eine aktive Entschlossenheit hinzufügt, wie Epikur in seiner Theorie der Clinamen (die Unvorhersehbarkeit oder "Abweichungen" von Atomen) gut verstanden hat. In seiner Doktorarbeit "Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie"[10] erkannte Marx den beträchtlichen Beitrag von Epikur, der über den reduktionistischen Atomismus von Lukrez und Demokrit hinausging und die Freiheit in die Materie einführte. Diese Freiheit bedeutete, dass in der Natur nichts als absoluter Determinismus, wie behauptet, vorbestimmt ist und dass es Raum für die Spontaneität von Akteuren gibt. Sie bedeutet, dass bei Organismen, die eine gewisse Autonomie erlangt haben, "ich jederzeit über eine Handlung, eine Gegen-Handlung oder eine Nicht-Handlung entscheiden kann, ohne 'programmiert' sein zu müssen" (S. 83).
Dieser aktive - nicht passive und unterwürfige - Materialismus, der von Patrick Tort vertreten wird, führt zu einer Definition, der in alle Erinnerungen geätzt werden sollte: "... die 'menschliche Natur' ist die unkalkulierbare Summe aller Möglichkeiten der Menschheit. Oder nochmals auf eine bewusst existenzielle Weise: die 'menschliche Natur' ist, was wir selbst in unseren Händen halten" (S. 86).
Wir haben oben gesehen, dass das Fortdauern von Rassismus, Sexismus und Homophobie Produkt einer Gesellschaft ist, die in Klassen gespalten ist. Es ist wichtig, dies vor Augen zu haben, weil es dann möglich ist zu verstehen, warum der Kampf des Proletariats, da es die einzige Klasse ist, die zur Abschaffung von Klassen führt, den Kampf gegen diese unterschiedlichen Phänomene miteinschließt. Wohingegen die Umkehrung nicht zutrifft. Sobald der Anti-Rassismus oder der Feminismus den Anspruch erhebt, einen autonomen Kampf zu führen, werden sie schnell zu einer Waffe gegen die Arbeiterklasse und nehmen einen Platz in der vorherrschenden Ideologie ein. Dasselbe mit dem Pazifismus, der, wenn er nicht ausdrücklich mit dem revolutionären Kampf des Proletariats gegen den Kapitalismus verknüpft ist, in eine gefährliche Mystifikation umgewandelt wird.
Doch es handelt sich um echte Probleme für das Proletariat, und wir müssen, mit Tort, die Analyse verfeinern. Die Fremdenfeindlichkeit ist nicht einfach eine Ablehnung des Anderen wegen der Wahrnehmung von völlig unterschiedlichen Merkmalen. Dieses Element ist offenkundig im Fall von Rassismus, aber es muss und kann viel tiefgehender erklärt werden: "Rassismus ist die Ablehnung dessen, was man entäußert, was man am meisten an sich selbst hasst" (S. 22). Im Grunde ist das, was man im Fremden ablehnt, nicht der Unterschied, sondern das, was man von sich selbst verbannen möchte. "In den extremsten Versionen definiert sich der Rassismus schließlich selbst weniger als eine schlichte 'Ablehnung des Anderen' als die Negation der Gleichartigkeit durch die Fabrizierung des 'Anderen' als widerwärtig und bedrohlich" (S. 23).
Die Person oder Bevölkerung, auf die abgezielt wird, stellt keine unbekannte Gefahr dar; sie wird als Bedrohung betrachtet, weil sie eben Teil unser selbst ist, der Teil, den wir als verachtenswert betrachten. Wie Patrick Tort sagt, lebten deutsche Juden und Christen mehr als sechzehn Jahrhunderte lang zusammen. Es ist der Eine, der am gleichartigsten ist, welcher das Opfer wird, das getötet werden muss. Im Alten Testament ist "das Ritual des 'Sündenbocks' (...) ein Ritual der Sühne, das den schuldigen Teil in einem selbst entäußert und es dem Dämon und dem symbolischen Nichts der Wüste weiht" (S. 28). Wir wissen, dass die bürgerliche Gesellschaft sehr häufig die Bühne von Pogromen oder Völkermorden gewesen ist und dass die dominante Klasse die gesamte Verantwortung für sie trägt. Doch es ist notwendig, unser Verständnis dieser Phänomene zu erweitern und nicht bei ihren spektakulärsten Manifestationen stehenzubleiben. Wir sollten untersuchen, bis zu welchem Punkt die Suche nach einem Sündenbock und die Pogrommentalität, mit der extremen Gewalt, die sie enthält, im Humus der kapitalistischen Gesellschaft verwurzelt sind, wo sie stets die Nahrung findet, die sie benötigt.
Wenn man die o.g. Passage von Die Abstammung des Menschen erneut liest, versteht man besser, was Darwin mit diesen Worten unterstreichen wollte: "... so dauert es lange, bevor er sie als seine Mitmenschen betrachten lernt". Das eigentliche Prinzip der Zivilisation ist der Prozess der Herausbildung von Mitgefühl, das heißt, der Anerkennung der Gleichartigkeit im Anderen. Da diese Zivilisation das Produkt der natürlichen Auswahl ist, ehe sie gestürzt wird, ist der Prozess der Eliminierung der Eliminierung (der Umkehreffekt laut Tort) immer im Gange, und eine rückwärtsgewandte Wendung ist zeitweise stets möglich. Aber aus dem oben Gesagten ergibt sich, dass wir nicht über eine immer noch primitive "menschliche Natur" sprechen können. "Die von Darwin beeinflusste Anthropologie hat nie aufgehört, einen methaphorischen Gebrauch vom biologischen Konzept zu machen, um das Wiederauftauchen von ererbten Verhaltensweisen innerhalb der Zivilisation zu deuten, die den Menschen in seine tierischen Ursprünge zurückversetzen: Dies ist das Konzept der primitiven Rückkehr, das leider in der französischen Vererbungs-Psychatrie des 19. Jahrhunderts und in der italienischen Kriminalanthropologie, die es anregte, aufgeblasen und besudelt wurde, das aber dennoch von Nutzen ist, um darüber nachzudenken, was bleibt und das Potenzial hat, wiederzuerscheinen, ein dauerhaftes Vermächtnis unserer Vorfahren zu sein" (S. 27).
Das am häufigsten benutzte Argumente, um den Rassismus zu bekämpfen, besteht darin zu erklären, dass das, was als großer Unterschied im äußeren Erscheinungsbild der menschlichen Wesen erscheinen mag, auf genetischer oder molekularer Ebene objektiv vernachlässigbar ist. Wir wissen sehr wenig über die "Rasse", so fährt das Argument fort, weil sie im Grunde für eine Scheinrealität benutzt werde, und was wir über sie wüssten, erscheint ausreichend, um den Schluss zu ziehen, dass sie nicht existent ist. Es ist somit lächerlich, ein Rassist zu sein. Dieses Argument sei unausführbar, sagt Patrick Tort. Wenn morgen wissenschaftliche Untersuchungen dank neuer Entdeckungen bestätigten, dass "Rassen" biologisch existieren, würde dies dann den Rassismus rechtfertigen? Die Schwäche dieses Arguments rührt aus der Tatsache her, dass der Rassismus sich auf Phänotypen[11] biologischer und kultureller Art bezieht und nicht auf Genotypen[12], auf die Gesamtheit der Individuen mit ihren erkennbaren Merkmalen und nicht auf ihre Moleküle. Es ist somit leicht für den auf der Identität basierenden Konservatismus (Alain de Benoist, Zemmour, Le Pen) und für alle Rassisten, an den gesunden Menschenverstand zu appellieren: Die Rassen sind eine Offenkundigkeit, die alle Welt sehen kann; es reicht aus, einen Skandinavier mit einem Inder zu vergleichen.
Gewiss disqualifiziert der nicht-wissenschaftliche Gebrauch, der von dem Wort "Rasse" gemacht wird, völlig seinen Gebrauch und zwingt uns, es zumindest in Anführungszeichen zu setzen. Doch in Wirklichkeit existieren "Rassen" und korrespondieren als solche mit den "Mutationen", die die identifizierbaren Unterteilungen innerhalb einer Spezies unterscheiden. Gewiss ist es eine sehr schwere Vorstellung, abzugrenzen; die Spezies ist nicht homogen und bleibt noch mehr im Fluss als die Vorstellung von Spezien, weil die Lebenden sich unter den Auswirkungen pausenloser Mutationen und der Veränderungen ihres Milieus weiterentwickeln. So sind die Arten nicht dauerhafte Gebilde, sondern Gruppen, die die Klassifizierung unter Kategorien einordnet. Sie existieren dennoch. Darwin wies darauf hin, dass Arten sich in dauernder Umwandlung befinden, dass es aber gleichzeitig möglich ist, zwischen ihnen zu unterscheiden, weil sie einer Stabilisierung - sicherlich einer relativen bzw. zeitweiligen, gemessen an den geologischen Zeiträumen, in denen sie stattfinden - entsprechen, die von der Präsenz anderer Arten, welche sich im Existenzkampf in Konkurrenz zu ihnen befinden, und vom Bedürfnis nach Einordnung erzwungen wird. Es gibt in der Regelmäßigkeit spezifischer Formen eine wirksame Kombination im Verhältnis zu einem entsprechenden Milieu und zu einer ökologischen Nische, die erklärt, warum Individuen derselben Art ähnlich aussehen. "Auch wenn es heißt, dass in der Geschichte der Wissenschaft der Organismen die klassifizierenden Unterteilungen nur einen zeitweiligen und technischen Wert besitzen, gibt es immer noch ein naturalistisches Verständnis, das besagt, dass es eine einzige menschliche Spezies gibt und dass diese Spezies wie schätzungsweise alle biologischen Arten Mutationen in sich einschließt. In der Tradition der Naturkundler ist 'Rasse' ein Synonym für 'Mutation'" (S. 33).
Der Rassismus ist ein gesellschaftliches Phänomen, und auf dieser Ebene muss auf ihn reagiert werden. Von diesem Standpunkt aus hat die koloniale Vergangenheit weiterhin gefährliche Konsequenzen; das Proletariat muss nachdrücklich "eine Ideologie, die menschliche Merkmale in Anzeichen einer angeborenen und dauerhaften Minderwertigkeit umdeutet, genauso wie eine Bedrohung anderer menschlicher Wesen" (S. 41) bekämpfen.
Dasselbe gilt im Allgemeinen für den Sexismus. Das Geschlecht (sexus) ist eine biologische Realität, doch die "Art" ist tatsächlich eine konstruierte kulturelle Realität und somit ein Werden, eine Möglichkeit, die offen bleibt. Das radikale Verhalten mancher Feminist_innen oder gewisser "Gender-Studien", die das Geschlecht "denaturalisieren" wollen, ist genauso dumm wie jenes, das die Realität sichtbarer interrassischer Unterschiede bestreitet. Der Kampf für die gesellschaftliche Gleichheit von Mann und Frau, die im Kapitalismus nie eintreten wird, der Kampf um Mitgefühl gegenüber dem Anderen, das heisst, für die Anerkennung des Anderen als trotz aller kulturellen Differenzen gleichartiges Wesen - all diese Kämpfe stehen im Zentrum von Darwins Anthropologie. Die proletarische Ethik setzt dieses Vermächtnis fort. Daher ist der Kampf für den Kommunismus nicht das Werk robotisierter und unterschiedsloser Individuen und hat nichts mit einer Negation kultureller Unterschiede zu tun. Er definiert sich selbst als eine Vereinigung in der Diversität, der Inklusion des Anderen in einer Assoziation, die Schaffung einer Gemeinschaft, die des Reichtums aller Kulturen bedarf.[13]
Die Kritik am Dualismus und die Forderung nach einer umgekehrten (reversiven) Kontinuität zwischen Natur und Kultur, zwischen Biologie und Gesellschaft führt uns zu einer exakten Definition der menschlichen Natur und greift den Darwinschen Zivilisationsbegriff als einen noch unvollendeten Prozess auf. Worin bestehen die Konsequenzen für den revolutionären Kampf? Im Kapitalismus ist dieser Kampf vor allen anderen Dingen ein Kampf für die Emanzipation des Proletariats, auch wenn er in sich die Emanzipation der gesamten Menschheit trägt. Das Proletariat muss bereit sein für einen besonders schwierigen Bürgerkrieg angesichts einer Bourgeoisie, die niemals freiwillig ihre Macht hergibt. Jedoch wird das Proletariat diese Entscheidung nicht hauptsächlich mit Waffengewalt erzwingen. Die Essenz seiner Stärke rührt aus seiner Fähigkeit zur Organisation, aus seinem Klassenbewusstsein und seiner natürlichen Neigung, einerseits Einheit anzustreben und andererseits all die nicht-ausbeutenden Schichten hinter sich zu scharen oder zumindest in Zeiten der Unentschiedenheit über den Ausgang des Kampfes zu neutralisieren. Geht dieser Prozess der Vereinigung und Integration automatisch vor sich - nach dem Motto, dass der Mensch ein soziales Wesen ist und dass die menschliche Natur den evolutionären Vorteil enthält, den ihm die Verallgemeinerung der Empfindung von Mitgefühl verschafft? Selbstverständlich nicht. Doch die Resultate der wissenschaftlichen Annäherung, die im Buch von Patrick Tort dargelegt werden, bestätigen die marxistische Vision von der Bedeutung des subjektiven Faktors für das Proletariat, namentlich des Bewusstseins und, allgemeiner gefasst, der Kultur. Sie bekräftigen die Gültigkeit der Kommunistischen Linken gegen den Fatalismus der degenerierenden Sozialdemokratie, die die opportunistische Position eines allmählichen, automatischen und friedlichen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus vertraten. Sie bestätigen, dass die Zukunft der Menschheit in den Händen des Proletariats liegt.
Avrom Elberg
[1] Über das Wesen der Gewalt innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft siehe unseren Artikel: "Terror, Terrorismus und Klassengewalt" in: /content/1366/terror-terrorismus-und-klassengewalt [11].
[2] Tort demonstriert dies durch und durch in den 1000 Seiten von "Qu'est que le materialisme?", Paris, Berlin, 2006. Wir empfehlen dieses Buch von Patrick Tort zur Vertiefung der hier behandelten Fragen.
[3] Wir haben das Werk dieses Autors und die Idee des Umkehreffektes der Evolution im Artikel "Der Darwin-Effekt: eine materialistische Auffassung des Ursprungs der Moral und der Zivilisation [12]" auf unserer Website vorgestellt.
[4] Auf France Culture scheute Jean Gayon, ein auf die Geschichte der Wissenschaften und die Erkenntnistheorie spezialisierter Philosoph, nicht davor zurück, sich in Banalitäten zu flüchten, als er zu Darwin erklärte, dass "er weder Jesus noch Marx ist" (La Marche des Sciences, Rundfunksendung vom 4. Februar 2016, mit dem Titel "Darwin unter Beschuss durch die heutige Realität").
[5] Die Internationale Kommunistische Partei, die LE PROLETAIRE herausgibt, gehört zweifellos zu den "voreiligen Totengräbern". Man kann sich davon überzeugen, wenn man ihre Zeitschrift PROGRAMME COMMUNISTE, Nr. 102, Februar 2014 liest. In einer Polemik, die sich gegen die IKS richtete, unternahm diese Gruppe, geblendet durch die malthusianische Legende über Darwin, einen wahren Parforceritt, bei dem sie nicht nur Darwin mit dem Sozialdarwinismus Spencers, sondern auch in demselben Anfall Darwin mit der Soziobiologie verwechselte.
[6] Mit "höheren Tierarten" in der Naturgeschichte sind die warmblütigen Wirbeltiere gemeint - die Vögel und die Säugetiere.
[7] Siehe unseren Artikel auf der englisch-sprachigen Website der IKS: https://en.internationalism.org/icconline/201203/4739/reading-notes-science-and-marxism [13].
[9] www.mlwerke.de/me/me23/me23_605.htm#Kap_22_5 [15] (Fußnote 63).
[10] www.zeno.org/Philosophie/M/Marx,+Karl/Differenz+der+demokritischen+und+epikureischen+Naturphilosophie [16]
[11] Phänotyp: in der Genetik alle wahrnehmbaren Merkmale eines Individuums.
[12] Genotyp: die Gesamtheit der Gene eines Individuums.
[13] Die proletarische Vision vom Reichtum der Kultur, die als ein positiver Faktor im Kampf um die Einheit im Kampf betrachtet wird - in völligem Gegensatz zum Multikulturalismus und dem bürgerlichen Kommunalismus, die die Ideologie der Identitätspolitik reproduzieren - wird mit zahllosen historischen Beispielen in unserem Artikel "Immigration and the workers' movement" auf unserer Website https://en.internationalism.org/ir/140/immigration [17] entwickelt.
Mit großem Interesse haben wir die Artikel der letzten Ausgabe von Kosmoprolet gelesen (Kosmoprolet Nr. 4, 2015), einer Publikation, die von drei Gruppen des politischen Milieus im deutschsprachigen Raum herausgegeben wird, nämlich Eiszeit, Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft und La Banda Vaga.
Obwohl darin viele wichtige Themen behandelt werden, die eine vertiefte Antwort verdienten, haben wir uns entschieden, dass wir uns in diesem Artikel auf das Thema der Gewalt konzentrieren, das in verschiedenen Beiträgen vorkommt. Wir werden uns insbesondere mit den Texten “Reflexionen über das Surplus-Proletariat: Phänomene, Theorie, Folgen” von den Freundinnen und Freunden der klassenlosen Gesellschaft (FFKG) und “Zwischen Eigentor und Aufstand: Ultras in den gegenwärtigen Revolten” von Ralf Heck (RH) auseinandersetzen, da sie beide die Frage der Gewalt ausdrücklich stellen.
Das Thema der Gewalt nahm in der Arbeiterbewegung immer eine wichtige Stelle ein. Eine Klassengesellschaft ist notwendigerweise gewalttätig. Ausbeutung und Unterdrückung können ohne Gewalt nicht aufrechterhalten werden. „Den Klassenkampf anzuerkennen bedeutet, die Gewalt direkt als eines seiner grundlegenden und ihm innewohnenden Elemente zu akzeptieren. Die Existenz von Klassen heißt, dass die Gesellschaft durch antagonistische Interessen, durch unversöhnliche Konflikte zerrissen ist. Die Klassen gründen sich auf der Basis dieser Antagonismen. Die zwischen den Klassen bestehenden gesellschaftlichen Beziehungen sind deshalb zwangsläufig Verhältnisse des Widerstands und der Antagonismen, d.h. des Kampfes.“[1] Der Kampf des Proletariats, wie jeder gesellschaftliche Kampf, ist notwendigerweise gewalttätig, aber die Praxis seiner Gewalt ist so verschieden von derjenigen anderer Klassen, wie ihre Ziele es sind.
Welche Art der Gewalt kann den Kapitalismus beenden? Sind alle Formen der Gewalt zulässig auf dem Weg zum kommunistischen Ziel? Welches sind die politischen und moralischen Triebkräfte hinter der revolutionären Gewalt des Proletariats? Dies sind die Fragen, denen wir hier näher rücken möchten.
Schauen wir uns zunächst der Artikel von RH an. Er fasst das Ziel seines Textes wie folgt zusammen:
“Im letzten Zyklus der Kämpfe betrat eine neue Kraft die Bühne: Organisierte Fußballfans haben sich an vielen Unruhen rund um den Globus beteiligt (…) Der folgende Text versucht zu erklären, wie dieser oft im besten Fall als völlig unpolitisch oder kommerzabhängig bewertete Akteur entstehen konnte und wie sein Wirken in den Klassenkämpfen einzuschätzen ist.”[2]
Der Artikel tut dies, indem er kurz die Geschichte des britischen Hooliganism zwischen den 1960er und 1990er Jahren und der italienischen Ultrabewegung in den 1970er und 1980er Jahren erzählt, mit einem anschließenden Blick auf die Auswirkungen der Ultras in Ägypten während des Arabischen Frühlings (2011), in der Türkei während der Gezi-Park-Bewegung (2013) und in der Ukraine während der Euromaidan-Bewegung (2013-2014).
RH beschreibt den Aufstieg der “Hooligan-Kultur” in Großbritannien ab den 1960ern bis in die 1990er Jahre, wie sie immer verbunden war, mit den Gemeinschaften der armen Teile der Arbeiterklasse, wie sie geprägt wurde von der Idee der Armen gegen die Reichen und wie sie stark von der Skinhead-Ideologie beeinflusst wurde. Welche Dynamik beherrschte diese Gruppen? Was hielt sie zusammen? RH zeigt auf, dass die Hooligan-Kultur nichts anderes war und ist als eine Clankultur, garniert mit blinder Gewalt, Rassismus, Nationalismus und Sexismus. So kommt RH zum Schluss: “Das Ende der Hooligan-Kultur sollte nicht betrauert werden. Das Bandenwesen, ihre Gewaltaffinität, Männerbündelei sowie ihr Stammesgehabe standen der Emanzipation schon immer im Weg.” Wir schließen uns dieser Schlussfolgerung an.
Dann diskutiert Heck den Aufstieg der Ultras, einer extremen Fußballfan-Subkultur, die in den 1960er Jahren in Italien entstand. Nach Heck liegen die Hauptunterschiede zwischen den Hooligans und den Ultras einerseits in ihrem gesellschaftlich-wirtschaftlichen Ursprung, andererseits im geschichtlich-politischen Kontext:
“Erst unter Einbeziehung der historischen Bedingungen und der jeweils besonderen Klassenzusammensetzung lässt sich der Übergang von den Hooligans zur Ultra-Bewegung verstehen. Setzte sich der Übergang von den Hooligans zur Ultra-Bewegung größtenteils aus den eher abgehängten Segmenten der Arbeiterklasse – Hauptschüler, Hilfsarbeiter und manuelle Arbeiter – zusammen, so bestanden die kurze Zeit später in Italien aufkommenden Ultras aus wesentlich vielfältigeren Gruppen von klassischen Arbeitern, Schülern, Studenten und Arbeitslosen, die durch die große Weigerung im damaligen Italien oftmals stark politisiert waren. (…) Genau hier liegt ein, wenn nicht sogar der entscheidende Unterschied – weniger in der durchaus unterschiedlichen Art des Supports und schon gar nicht in der Anwendung von Gewalt, bei der die Ultras ihrem Pendant von der Insel in nichts nachstanden und –stehen.” [3]
Heck beschreibt dann, wie die Ultras – „prekäre Arbeiter, Schüler und unterbeschäftigte Intellektuelle“ – einen großen Teil von Parolen, Liedern, Symbolen der damals in Italien laufenden Arbeiterkämpfe übernahmen und wie viele Ultras der operaistischen Gruppe Lotta Continua nahestanden[4].
Wir haben dann aber große Schwierigkeiten, Hecks Position zu den Ultras zu verstehen. Auf der einen Seite schreibt er:
“Die Wut der Ultras wird sich allerdings nicht in Luft auflösen und ihre zu beobachtende Beteiligung an den gegenwärtigen Unruhen ist vielleicht bereits ein Indiz dafür, dass hinter der meist spielerisch ausgetragenen Rebellion auf den Zuschauerrängen mehr stecken könnte, als es der zelebrierte Gemeinschaftskult testosterongesteuerter Männer im ersten Moment vermuten lässt.”
Aber gleich zu Beginn des Artikels warnt uns der Autor, dass wir die Rolle, die solche Fußball-Gruppierungen in der Bewegung proletarischer Kämpfe spielen können, nicht überschätzen sollten:
“Nichts liegt uns allerdings ferner, als der Ultra-Bewegung eine zentrale Rolle zuzuschreiben – sei es in den derzeitigen oder den kommenden Aufständen. Die Fokussierung auf einen angeblich besonders revolutionären Typus, je nach politischer Couleur Massenarbeiter, Jobber, Frau oder Migrant, war schon immer ebenso fragwürdig wie das Beharren auf einem im Voraus festgelegten Ort für die Revolte. Alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, in denen Lohnabhängige zusammenkommen, können sich zu Kampfzonen entwickeln, egal ob es sich dabei um Stadtteile, Suppenküchen, Fabriken oder eben Fußballstadien handelt.” [5]
So fragen wir uns, weshalb RH einen so langen Artikel über diese “radikalen” Fußballfans schreibt? Was ist seine Sorge? Es scheint, dass Heck denkt, dass die Ultra-Bewegung in der einen oder anderen Art doch Beiträge zum revolutionären Kampf der Arbeiter_innen leisten kann.
“Entscheidend ist (…) dass Ultras in den letzten Jahren an vielen Unruhen maßgeblich beteiligt waren. Was sie in den 1970er Jahren von politischen Bewegungen übernommen haben – Phantasie, Erfahrungen in der Konfrontation mit den Sicherheitsorganen, autonome Kommunikationsstrukturen, finanzielle und organisatorische Unabhängigkeit – fließt so wieder in Aufstände ein und verlässt den abgesteckten Rahmen der Stadionkurven, wie im Folgenden anhand von Ägypten, der Türkei und der Ukraine gezeigt wird. Namentlich der Fall Ukraine lässt allerdings keinen Raum für Begeisterung. Die gegenwärtigen Unruhen sind ziemlich konfus und am Beispiel der Ukraine zeigt sich, dass sie auch nach rechts kippen können. Ultras treten heute nicht nur bei fortschrittlichen Bewegungen hervor, sondern auch als nationalistische Schlägertrupps.”[6]
Somit wären die “Stärken” der Ultras, die sie der Arbeiterklasse und ihren Kämpfen anzubieten haben – ihre Muskeln und ihre Taktik! Doch, sagt RH uns gleichzeitig, müssten wir aufpassen, denn die Muskeln seien schwierig zu zähmen und können sich leicht gegen die Arbeiter_innen wenden. Was will uns Heck eigentlich sagen? Wir können sagen, dass seine Position im besten Fall zwiespältig ist. Schauen wir die sich aufdrängenden Fragen etwas genauer an.
Die Praxis der Arbeiterklasse ist die Massenaktion – das betrifft auch den Einsatz von Gewalt. Auch wenn die revolutionäre Klassengewalt des Proletariats durch spezielle Organe ausgeübt werden kann, die zum Zwecke der Konfrontation mit der Staatsmacht ausgebildet worden sind – z.B. die Nationalgarde der Pariser Commune 1871, das militärische Revolutionskomitee in der Oktober Revolution 1917 – so sollten diese Organe unter der strengsten und engsten Kontrolle der organisierten Arbeiter_innenmassen stehen. Solche Kampforgane können nur aus der massenhaften Bewegung der Arbeiter_innen entstehen, was verknüpft ist mit der Frage des Bewusstseins in der Klasse: Je tiefer und je breiter die Entwicklung des Klassenbewusstseins, desto klarer und massenhafter die Bewegung. Nur in diesem Fall können diese Organe die Gewalt im Namen der ausgebeuteten Mehrheit der Gesellschaft (der Arbeiter_innen) gegen die ausbeuterische Minderheit der Gesellschaft (die Bourgeoisie) ausüben.[7]
Vom “praktischen” Standpunkt aus könnte es dem Proletariat sinnvoll erscheinen, solche “Schlägerverbände” als trainierte Truppen mit Erfahrung in der Konfrontation mit der Polizei in seine Reihen zu integrieren. Doch dies ist nicht die Art von Spezialisierung und Erfahrung, die das Proletariat braucht. Die proletarische Revolution ist nicht einfach eine militärische Angelegenheit, und ebenso wenig kann Klassengewalt auf Konfrontationen mit der Polizei reduziert werden. “Gewalttätige Aktionen sind nie als ein Ausdruck der politischen Stärke der Bewegung betrachtet worden, sondern müssen in einem allgemeineren Kontext gesehen werden. Selbst wenn sie sich gegen die Ordnungskräfte richten, sind sie häufig nicht mehr als individuelle Antworten, die die Gefahr der Unterminierung der Klasseneinheit enthalten.”[8] Die Gewalt des Proletariats steht in Funktion einer ständig zunehmenden Einheit und Solidarität in der Arbeiterklasse. Die Gewalt des Proletariats ist innig verwoben mit seinem Endziel, d.h. einer klassenlosen Gesellschaft, der Befreiung der großen Mehrheit von den Ketten der Ausbeutung und Unterdrückung, einer neuen Weltordnung, die auf Solidarität gründet.
Betrachten wir uns näher das, was die Ultras politisch kennzeichnet, und stellen wir uns die Frage, inwiefern diese Charakteristika sich mit den Zielen der kommunistischen Revolution vertragen.
RH ist klar der Meinung, dass die gesellschaftlich-wirtschaftliche Herkunft und Zusammensetzung der Hooligans und der Ultras entscheidend sind für die Beantwortung der Frage, ob sie einen proletarischen Charakter haben oder nicht. Wir meinen umgekehrt, dass es zwar stimmt, dass ein Kampf nur dann im Wesen proletarisch sein kann, wenn er von Arbeiter_innen geführt wird, dass aber die Schlussfolgerung falsch ist, dass jeder Kampf, der von Arbeiter_innen geführt wird, schon deshalb notwendig proletarisch wäre. Auch wenn der “soziologische” Hintergrund hilfreich sein kann bei der Bestimmung des Klassencharakters einer Bewegung oder eines anderen sozialen Phänomens, kann das revolutionäre Potential derselben nicht allein aus diesen sozioökonomischen Daten abgeleitet werden. Wichtiger ist, inwieweit dieses soziale Phänomen die Perspektive des Kommunismus beinhaltet, d.h. wie weit es auf einem Klassenterrain agiert und somit wie weit Solidarität, Einheit und Klassenbewusstsein auf dieser Grundlage wachsen können. Beispiel: Ein von A bis Z gewerkschaftlich aufgezogener Streik heute mag zwar in der Klassenzusammensetzung durchaus im Wesentlichen proletarisch sein, politisch ist er aber auf bürgerlichem Terrain.
Selbst wenn sich Ultras an den proletarischen Kämpfen in Italien in den 1960er und 1970er Jahren beteiligten, wie sie auch Teile der Protestbewegungen in Ägypten (2011) und in der Türkei (2013) waren, selbst wenn einige Individuen daraus und einige Splittergruppen aus dem Ultra-Milieu auf das proletarische Terrain gezogen wurden, so geschah dies eher trotz ihrer Mitgliedschaft in Ultragruppen, und nicht ihretwegen. Wir gehen deshalb nicht einig mit RH, wenn er schreibt: “Wie kaum eine andere Kraft verstehen es vor allem die nord-afrikanische Ultras aber, verschiedene Teile des Proletariats in einer eher rebellischen Perspektive zu vereinen.” Wir denken, dass es genau umgekehrt ist. Wenn sich die Ultras punktuell auf das Terrain der Arbeiterklasse zu bewegen konnten, so geschah dies dank des weltweiten Umfelds eines Wiederauflebens der Klassenkämpfe nach 1968 und – in bescheidenerem Grad – zwischen 2003 und 2013. Das proletarische Element der Kampfbewegungen gibt den Massen eine Perspektive, die sie auf ein Klassenterrain zieht und aus der Bewegung eine Bewegung für den Kommunismus macht. Die Perspektive des Kommunismus baut nicht auf “Rebellentum” als solchem, sondern hat wirtschaftliche, politische, theoretische und moralische Quellen.
Auch wenn zu Beginn die Hooligans und die Ultras eine Art Protest gegen die intensive Vermarktung des Fußballs verkörperten, so war es ein Protest ohne jede auch nur einigermaßen klare Klassengrundlage. Deshalb konnten sie auch so leicht manipuliert und von der Bourgeoisie zu ihren Zwecken eingesetzt werden, wie mit den Hooligans und in der Ukraine 2014 geschehen. Mangels einer klaren proletarischen Klassengrundlage können diese “rebellischen” Gefühle sehr leicht manipuliert und in Träger von bürgerlicher oder Lumpen-Ideologie verwandelt werden. RH scheint dies in der folgenden Passage zu erkennen: “Ultra per se ist ein recht fragiles Konstrukt, vollkommen abhängig von der sich verändernden Zusammensetzung der Gruppen wie auch den politischen und sozialen Rahmenbedingungen.”
Es ist nicht einzusehen, weshalb die Ultras als Bewegung dem politischen Schicksal entgehen sollten, das in den totalitären Systemen des dekadenten Kapitalismus jeder solchen gesellschaftlichen Erscheinung droht – die Integration ins bürgerliche Spektakel, die Verwandlung in Werkzeuge der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse (wie es mit den Gewerkschaften geschehen ist).
Wenden wir uns nun dem Artikel der Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft (FFKG) zu. Dieser Artikel behandelt die Frage, wie der Kapitalismus prekäre Arbeitsbedingungen für große Teile der Weltbevölkerung schafft, wie der Kapitalismus mit diesen Teilen der Bevölkerung umgeht und wie dieses so genannte „Surplus-Proletariat“ (die prekär angestellten Arbeiter_innen, die Arbeitslosen) Widerstand leisten und sich auflehnen gegen diese Lebensbedingungen. Die FFKG gehen davon aus, dass die gesellschaftlich-wirtschaftliche Stellung dieser Art von Arbeiter_innen sie zu Formen des Widerstands führt, die sich von den klassischen Formen des Arbeiterkampfs wie Streiks unterscheiden.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, was die FFKG für die typischen Formen des Widerstands des “Surplus-Proletariats” halten:
“Jenseits spektakulärer Aufstände führen die von regulärer Arbeit weitgehend Ausgeschlossenen nicht anders als die klassische Arbeiterklasse schnöde Kämpfe um ihre materielle Existenzbedingungen. Dass ihnen das Mittel des Streiks nicht zur Verfügung steht, heißt nicht, dass sie eine ohnmächtige Masse von Verelendeten wären. In den Slums des Südens finden allenthalben Kämpfe statt, etwa gegen Verdrängung oder für Zugang zu Wasser und Strom, und sie werden entgegen dem Klischeebild einer disparat-desparaten Menge teilweise von organisierten Basisbewegungen wie den süd-afrikanischen Abahlali baseMjondolo (“Barackenbewohner”) geführt, die Wahlen boykottieren und stattdessen auf direkte Aktionen setzen. Häufig sind dabei Riots für die tendenziell Überflüssigen, was der Streik für Lohnarbeiter ist. (…) Mit der Herausbildung eines weltweiten Surplus-Proletariats nehmen auch die Riots wieder zu und mit den Unruhen in der französische Banlieue 2005 und in England 2010 haben sie auch das zwischenzeitlich befriedete Europa wieder erreicht.”[9]
Sind Krawalle wie diejenigen in den Vorstädten Frankreichs (2005) oder in England (2011) wegweisend für das Proletariat in seinem Bestreben, der Ausbeutung Widerstand entgegen zu setzen? Oder können sie sogar Waffen der Offensive in der Überwindung des Kapitalismus sein?
Die FFKG stellen folgendes fest:
“Biedere Marxisten, die sie im Chor mit bürgerlichen Kommentatoren als sinnlose Gewaltausbrüche verteufeln, liegen genauso daneben wie vermeintlich Radikale, die sie zum Vorschein der Revolution stilisieren, weil sie angeblich keine partikularen Forderungen mehr beinhalten, sondern schlechterdings alles negieren. Meistens ist das gar nicht der Fall, insofern sich recht präzise Ziele des Aufruhrs ausmachen lassen, sei es das Ende rassistischer Polizeigewalt, seien es Lebensmittelsubventionen; und wäre es der Fall, wäre damit wenig gewonnen, weil sich ein Produktionsverhältnis nicht durch eingedengelte Schaufensterscheiben und brennende Telefonzellen aus der Welt schaffen lässt. Solcher Sachschaden kann nie mehr sein als eine Art Verhandlungsmasse, wenn es um das Ausmaß tolerierbarer Staatsgewalt oder den Brotpreis geht, also um alles Mögliche, aber nicht um die Weltrevolution.”[10]
Zunächst halten wir fest, dass wir mit einigen Sorgen, welche die FFKG zu haben scheinen, übereinstimmen: Man kann nicht Teilnehmer_innen an Hungerrevolten, Opfer rassistischer Gewalt, Kinder in Armut … für ihre Wut und Verzweiflung anklagen oder verurteilen. Man kann sie nicht moralisch dafür verurteilen, dass sie Widerstand gegen das Elend leisten. Ihre Schwierigkeiten sind Teil der Schwierigkeiten der gesamten Arbeiterklasse, die sich gegen ihre Ausbeutung wehren – und eine Alternative zur kapitalistischen Welt vorschlagen muss.[11]
Wir sind auch einverstanden mit den FFKG im Punkt, dass die Krawalle nicht die kapitalistischen Produktionsverhältnisse angreifen, und wir möchten noch mehr Argumente nennen, um dies zu begründen.
Krawalle scheinen in der Tat mit der alltäglichen kapitalistischen Logik von Handel und Ausbeutung zu brechen. Ein Teil der Bevölkerung übertritt dabei das Verbot der Gewalt, welche normalerweise das Monopol des Staates ist. Ob dieser Bruch tief oder nur oberflächlich ist, muss genauer geprüft werden. Wenn das Hauptmotiv hinter den Krawallen eine Art Rache an der Gesellschaft ist, ein Moment der Befriedigung und der Lust, ein „Heimzahlen“ der Ungerechtigkeit und Gewalt, denen die Protagonisten ausgesetzt sind, dann – so denken wir – handelt es sich nicht um einen wirklichen Bruch mit der kapitalistischen Logik. Rache ist eine alte Praxis, die schon in der Bibel aufgegriffen wird („Aug um Aug, Zahn um Zahn“) und Gemeinsamkeiten hat mit dem Äquivalententausch, auf dem auch der Kapitalismus beruht. Sie ist weit entfernt von einer proletarischen Moral.
Ein anderer Aspekt, der oft mit Krawallen verknüpft ist, ist das Plündern (Wirbelsturm Katrina 2005, Hungerkrawalle 2008, Krawalle in England 2011)[12]. Im Falle von Nahrungsmittel-Krawallen ist die Aneignung von Essen das Hauptziel. Wie Robin Hood stehlen die Krawallanten von den Reichen, um den Armen (oft den Krawallanten selber) zu geben. Das Motiv für diese Art von Diebstahl ist das reine Überleben. Es soll aber klar sein, dass damit die Trennung der Produzierenden, der Arbeiterklasse, von den Produktionsmitteln nicht aufgehoben ist.
In den wenigen Fällen, wo die Krawallanten auch Fernseher oder ähnliches stehlen, für den eigenen Gebrauch oder zum Weiterverkauf, ist die Verbindung mit dem bloßen Überleben weniger klar, obwohl sie meistens noch da sein dürfte. Es ist der Bourgeoisie aber in solchen Fällen leichter, die Krawallanten als reine Diebe, unabhängig von den gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, darzustellen und so jede Art von Solidarität im Proletariat zu untergraben.
Außer dem Überleben kann es noch einen weiteren Beweggrund für Plünderung geben: das Gefühl, dass man endlich mal hat, was man vorher nicht haben konnte, oder die Illusion, dass man auch wie die „Reichen“ leben kann. Diese Beweggründe führen aber in eine Sackgasse, weil sie nicht brechen mit der Logik des Kapitalismus. Es könnte sogar der Wunsch dahinter stecken, selbst mal Kapitalist zu werden. Hier ist nur individueller Neid gegenüber den Reichen und keine Empörung. Hier ist kein fruchtbares Terrain für die Entwicklung eines Klassenbewusstseins.
Ist Plündern ein “halbwegs intelligenter Angriff auf die Warenbeziehungen”[13], wie RH es darstellt? Uns ist nicht klar, warum das so wäre. Marx war es überaus wichtig zu beweisen, dass die proletarische Revolution nicht darin besteht, dass die Armen die Reichen bestehlen, sondern in der Expropriation der Expropriateure. Das Proletariat ist die einzige Klasse der Gesellschaft, die das „Prinzip“ des Raubs ablehnt. Damit die Produktionsmittel in die Hände und unter die Kontrolle der assoziierten Produzenten kommt, damit die Produktivkräfte für die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse eingesetzt werden können, reicht es nicht, die Produktionsmittel einfach zu nehmen oder zu „rauben“, wie die Bourgeoisie es gemacht hat (und noch immer macht) in ihrer sogenannten ursprünglichen Akkumulation, oder nur die Fabriken zu besetzen. Die politische Dimension des proletarischen Kampfes wäre damit negiert.[14]
Wie wir zuvor versucht haben aufzuzeigen, waren die Krawalle der letzten Jahre meist verwirrte und unbewusste Formen eines gewalttätigen Widerstands ohne klare Klassengrundlage. Oft zerstörten die Krawallanten Autos und Fensterscheiben im “eigenen” Stadtteil. Das Einwerfen von Scheiben einer Bankfiliale kann gerade knapp als “symbolischer Akt” gegen den Kapitalismus durchgehen, scheint aber im Grund eher durch eine Art Neid auf “die Reichen und Berühmten” angetrieben zu sein.
Es gibt eine andere implizite Idee im obigen Zitat („…weil sie angeblich keine partikularen Forderungen mehr beinhalten, sondern schlechterdings alles negieren. Meistens ist das gar nicht der Fall, insofern sich recht präzise Ziele des Aufruhrs ausmachen lassen…“) - nämlich die Idee, dass Krawalle als Druckmittel dienen können, um konkrete Ziele zu erreichen. An anderer Stelle sagen die FFKG: ”Häufig sind dabei Riots für die tendenziell Überflüssigen, was der Streik für Lohnarbeiter ist.” Diese Position enthält die Idee, dass der Krawall zwar nicht der revolutionäre Hebel ist, aber doch die normale Funktionsweise des Kapitalismus unterbricht und so zur Sabotage des Kapitalismus und zur Druckausübung auf die Bourgeoisie dient. Wir müssen dem widersprechen. Sabotage und Streik sind zwar beide „Druckmittel. Aber der Druck oder die Schadenszufügung der einen gegenüber den anderen sind keine revolutionären oder emanzipatorischen Mittel, sondern kapitalistischer Alltag und Faktoren seiner Reproduktion. Die Staaten sind Meister in der Sabotage im Kampf gegen ihre Konkurrenten, die Unternehmen teilen Tiefschläge links und rechts aus. Die Gewalt des Proletariats bedeutet umgekehrt zwar Kraft, Durchsetzung, Schläge, aber mit radikal verschiedenen Mitteln, nämlich solchen, die in sich die Perspektive der Befreiung der Menschheit tragen: Es ist die Gewalt der Massenhaftigkeit, der Einheit, der Solidarität, der Ausübung der Fähigkeit, zusammen nachzudenken und gemeinsam zu entscheiden, als selbstorganisierte Klasse zu handeln, die mit Kraft und Entschlossenheit ihre Ziele durchzusetzen weiß.“[15] Gewalt ist für das Proletariat mehr als eine taktische Frage. Der Streik ist ein Mittel, um Druck gegenüber den Kapitalisten und dem Staat aufzusetzen, aber noch wichtiger: Es ist das Mittel, um die Solidarität und die Einheit unter den Arbeiter_innen zu stärken.
Wir möchten den wesentlichen Unterschied der proletarischen Druckmittel, die gesellschaftlich einschließend und bewusst sind, anhand des Beispiels der Anti-CPE-Bewegung 2006 aufzeigen, die in Frankreich ein halbes Jahr nach den Krawallen in den französischen Vorstädten ausbrach. 2006 gab es eine aktive und bewusste Suche der Studierenden und Schüler_innen nach Solidarität der Jugendlichen in den Banlieues, die ein paar Monate zuvor noch Autos in Brand gesteckt hatten. Die Anti-CPE-Generation verurteilt die Krawalle nicht, aber anerkannte, dass die Gründe für die Revolte 2005 dieselben waren, die sie zum Widerstand trieben. „Auch hier bezeugten die Studenten aber ihre Reife und Bewusstsein. Vielerorts entschieden sie, Delegationen zu bestimmen, welche in die besonders vernachlässigten Quartiere gehen sollten, um mit den dortigen Jugendlichen über den Kampf der Studenten und Gymnasiasten zu diskutieren, auch im Sinne der verzweifelten, der Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung ausgesetzten Jugendlichen. Ganz anders war das Vorgehen der Gewerkschaften, welche gewaltsame Aktionen provozierten: Ihre Ordnungsdienste haben an der Demonstration vom 28. März die Jugendlichen aus den Banlieues mit Knüppeln den Polizeikräften in die Hände getrieben. Die Mehrheit der Studenten hingegen hat mehr durch Intuition als aufgrund von angeeignetem Wissen eine der wichtigsten Lehren aus der Erfahrung der früheren Arbeiterbewegung praktisch umgesetzt: keine Gewalt innerhalb der Arbeiterklasse. Sofern es nicht um bloße Anhängsel des bürgerlichen Staates geht (wie etwa die Kommandos der Streikbrecher), sind Überzeugungsarbeit und Appell an das Klassenbewusstsein das bedeutsame Aktionsmittel, um auch jene Teile des Proletariats für die Sache der Arbeiterklasse zu gewinnen, die sich leicht in Aktionen verstricken lassen, die unseren Interessen zuwider laufen.”[16]
Bis jetzt haben wir damit argumentiert, dass der historische und internationale Kampf der Arbeiterklasse eine bewusste und massenhafte Tätigkeit sein muss. Wir haben versucht, konkret aufzuzeigen, mit welchen Ideen, die in Kosmoprolet 4 verteidigt werden, wir einverstanden sind, und wo nicht. Diese Aufgabe ist umso schwieriger zu bewerkstelligen, als in beiden Artikeln überaus zweideutige Gedanken zu finden sind, von denen wir schon einige Beispiele gegeben haben.
Sehr problematisch und aus unserer Sicht unvereinbar mit dem kommunistischen Ziel ist die Macho-Kultur, welche die Gewalt verherrlicht und zelebriert und in welcher sich die verschiedenen Autoren von Kosmoprolet zu baden scheinen.
RH schreibt folgendes über die Hooligans:
“Angewidert vom hohlen Glücksversprechen der Hippies wollten sie die vermeintlich echten und verloren geglaubten Ideale einer Working Class verkörpern, die von solidarischem Zusammenhalt geprägt war. Auf diese Weise setzten sie sich gegen ihren drohenden Absturz zur Wehr und bewegten sich in einer Szene, die ihnen Anerkennung jenseits materieller Erfolge bot. Allerdings war dieser Widerstand immer schon rückwärtsgewandt. Er orientierte sich an einer schon fast karikaturartig mystifizierten Arbeiterklasse, die es so nie gegeben hat und deren Ausdrucksformen auch nicht als erstrebenswert gelten können und ihren überholten Idealen: Rückbesinnung auf die Gemeinschaft, lokalistisches Denken mit einem starken Bezug zum eigenen Territorium, das sich wahlweise in Kämpfen Stadtteil gegen Stadtteil, Süden gegen Norden oder England gegen ein anderes Nationalteam ausdrückte, Männlichkeitskult, sinnlose Gewalt und auch Rassismus. Dass für Frauen in dieser Welt lediglich ein untergeordneter Platz vorgesehen war, versteht sich von selbst. Ob sich die Gewalt nun dumpf gegen andere Fans richtete, rassistisch gegen die asiatische Community (“Paki-Bashing”), mit berechtigtem Hass gegen Autoritäten oder in Riots, Plünderungen und der Verteidigung von Streiks zeigte, war schlechterdings unkalkulierbar (…)”[17]
Für uns ist unklar, wie weit sich RH und die anderen von solchem Verhalten distanzieren. Schauen wir uns zum Beispiel das folgende Zitat an:
“Die Wut der Ultras wird sich allerdings nicht in Luft auflösen und ihre zu beobachtende Beteiligung an den gegenwärtigen Unruhen ist vielleicht bereits ein Indiz dafür, dass hinter der meist spielerisch ausgetragenen Rebellion auf den Zuschauerrängen mehr stecken könnte, als es der zelebrierte Gemeinschaftskult testosterongesteuerter Männer im ersten Moment vermuten lässt.”
Was meint RH mit “spielerisch ausgetragener Rebellion”? Er schreibt:
„Neben dem Wettbewerb um die schönsten Banner, den lautstärksten Support sowie die kreativste Ausgestaltung der Kurve gehörten auch gewalttätige Auseinandersetzungen mit gegnerischen Fans dazu. Auch wenn sie sich zu Beginn noch auf wenige Vorkommnisse pro Jahr beschränkten, kündigte sich hier schon die bis zum Fetisch aufgeblasene Praxis an hingebungsvoll Feind- und Freundschaften zu pflegen.”
Wo liegt der qualitative Unterschied zur Macho-Kultur der Hooligans, die Heck selber ablehnt? Uns entgeht da das „Spielerische“.
Noch ein Beispiel, diesmal von den FFKG:
“In der europäischen Sozialgeschichte verschwand mit dem krassen Pauperismus auch der ungezügelte Aufruhr weitgehend aus dem Klassenkampf, um zum riskanten Freizeitspaß für Jugendliche zu werden. Die Herrschenden hatten es nun mit teilweise mächtigen und manchmal lästigen Gewerkschaften zu tun, aber die setzten sich lieber an den Verhandlungstisch, anstatt alles kurz und klein zu hauen.”[18]
Wir gehen hier nicht weiter auf die völlig unklare Position zu den Gewerkschaften und die neblige Formulierung vom “ungezügelte Aufruhr” ein, die nicht weiter erklärt sind. Was meinen die FFKG mit “riskantem Freizeitspaß für Jugendliche”? Auch hier wird die Gewalt als Hobby, als Freizeitspaß umschrieben.
Aber die Artikel von RH und FFKG haben kein Exklusivrecht an der Macho-Sichtweise. Sogar das Editorial von Kosmoprolet 4 ist davon gezeichnet:
„Die Debatten der Linken sind überhaupt etwas weniger weltabgewandt-gespenstisch als vor der Krise. Aber es klemmt weiter vor allem bei dem, was traditionell Praxis heißt. Dass uns die großen Mobilisierungen zu Aktionstagen, auf dass es wenigstens mal wieder scheppere, die riesige Mühe nicht wert zu sein scheinen, haben wir schon öfter bekundet, und die mehr oder weniger linksradikalen Organisationen, die seit einiger Zeit mit Eifer aufgebaut werden, suchen offenbar vor allem in solchen Mobilisierungen ihre Daseinsberechtigung. Darauf herumzuhacken ist aber langweilig und verdeckt oft nur die eigene Ratlosigkeit.“[19]
Wir weisen dieses verantwortungslose Kokettieren („die Mühe nicht wert“, „langweilig“) mit der Gewalt zurück. Die hier beschriebene Gewalt ist verknüpft mit einer schlecht kaschierten Verherrlichung des „Rebellischen“ an sich, mit der Idee, dass Gewaltanwendung an sich etwas Revolutionäres sei.
Wie wir argumentiert haben, sind wir nicht gegen die Anwendung von Gewalt durch das Proletariat. Aber ein schlechter Gebrauch führt sehr schnell zu Rückschlägen bei seiner Einheit und beim Bewusstsein.
Durch den Nebel von virilen Bemerkungen hindurch können wir aber im letzten Zitat einen Sinn für Ehrlichkeit erkennen. Es gibt zu, dass eine gewisse Ratlosigkeit das Milieu um Kosmoprolet quält, was wir als Schwierigkeit interpretieren, in den eigenen Debatten voranzukommen, die gegenwärtige Zeit zu definieren, die eigene Rolle zu verstehen. Wir lesen daraus den Wunsch, weiter zu kommen, und begrüßen diesen.
Die Suche nach der Wahrheit ist ein langer und anstrengender Prozess, aber Revolutionäre haben keine andere Wahl, als die Herausforderung anzunehmen. Der einzige Weg hinaus aus der Ratlosigkeit, der Zweideutigkeit, der unklaren Zone zwischen bürgerlichen und proletarischen Positionen ist die Fortsetzung der möglichst breiten und tiefen Diskussionen. Die IKS ist willens, ihren Beitrag darin zu leisten.
Pan, 29.08.2017
[1] IKS, Terror, Terrorismus und Klassengewalt [11]
[2] Ralf Heck. Zwischen Eigentor und Aufstand: Ultras in den gegenwärtigen Revolten. Kosmoprolet 4, 2015 S. 159.
[3] RH. ibid. S. 160, 171.
[5] RH. ibid. S. 159-160.
[6] RH. ibid. S. 181-182.
[7] “In diesen Sinn müssen wir der Idee eines “Arbeiterterrorismus” entgegen treten, der als Aufgabe von gewissen Abteilungen des Proletariats dargestellt wird, von Spezialisten der bewaffneten Aktion, oder als Wegbereiter der zukünftigen Schlachten, indem dem Rest der Klasse ein Vorbild des gewaltsamen Kampfes geboten werde, oder als ‘Schwächung’ des kapitalistischen Staats durch ‘vorläufige Angriffe’. Das Proletariat kann durchaus gewisse Abteilungen zu dieser oder jener Aktion beauftragen (Streikposten, Patrouillen, usw.), aber dies geschieht unter der Kontrolle der Bewegung als ganzer; im Rahmen dieser Bewegung können entschlossene Aktionen der am weitesten fortgeschrittenen Teile dazu dienen, den Kampf der breiten Massen zu katalysieren, aber dies kann nie über konspirative und individualistische Methoden geschehen, die dem Terrorismus wesentlich sind.” IKS, Resolution zu Terror, Terrorismus und Klassengewalt, veröffentlicht auf Englisch, Französisch und Spanisch (Resolution on terror, terrorism and class violence [28])
[9] Freundinnen und Freunde der Klassenlose Gesellschaft. Reflexionen über das Surplus-Proletariat: Phänomene, Theorie, Folgen. Kosmoprolet 4, 2015. S. 56 – 57.
[10] FFKG. Ibid. S. 57
[11] Vgl. Unseren Artikel auf der englischen Webseite: The UK riots and the class struggle: reflections on the riots of August 2011 part 1 [30]
[12] Siehe unsere Artikel: Hurricane Katrina: a capitalist-made crisis [31], Food crisis, hunger riots: Only the proletarian class can put an end to famine [32], The UK riots and the class struggle: reflections on the riots of August 2011 Teil 1 [30] und Teil 2 [33], Polemic: Revolutionaries and hunger riots [34]
[13] RH. ibid. S. 170.
[14] Siehe unser Artikel über die Besetzungen der Fabriken in Italien 1920: Revolution and counter-revolution in Italy (1919-1922) [35]
[15] IKS. Débat sur la violence (II): il est nécessaire de dépasser le faux dilemme: pacifisme social-démocrate ou violence minoritaire [36].
[17] RH. ibid. S. 165.
[18] FFKG. Ibid. S. 56-57.
[19] Eiszeit, Freundinnen und Freunde der Klassenlose Gesellschaft, La Banda Vaga. Editorial. Kosmoprolet 4, 2015. S. 8.
"Zäsur" war das mit Abstand meist genutzte Wort in den Medien und Stellungnahmen der etablierten Parteien am Tag nach den Wahlen zum Bundestag am 24. September, um die Folgen des Ausgangs dieser Wahlen zu beschreiben. In der Tat stellt das Ergebnis dieser Wahlen einen erheblichen Einschnitt in der Geschichte des Nachkriegsparlamentarismus in Deutschland dar. Zum ersten Mal seit der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 und ihrer "Wiedervereinigung" 1990 ist es mit der "Alternative für Deutschland" (AfD) einer unverhohlen rechtsradikalen Partei gelungen, in den deutschen Bundestag einzuziehen. Dieser Partei, von denen viele Mitglieder nicht davor zurückschrecken, Geschichtsfälschungen und verteidigende Worte für die Machenschaften der Nazis zuerst zu verbreiten und danach wieder zu dementieren, wird auf Anhieb drittstärkste Kraft, mit knapp 13% hinter der CDU/CSU und SPD, die ihrerseits erdrutschartige Verluste hinnehmen mussten.
Nein, dieses Resultat passt der deutschen Bourgeoisie und ihren politischen Stellvertretern überhaupt nicht in den Kram. Abgesehen von der Unvereinbarkeit der "völkischen" Ideologie von wichtigen Teilen der AfD mit dem Prinzip der "offenen Gesellschaft" des exportorientierten deutschen Kapitalismus ist es vor allem der politische Flurschaden, den der Einzug der AfD in den deutschen Bundestag anrichtet und der die herrschende Klasse seither umtreibt. Schon sprechen ausländische Kommentatoren vom "Verlust der politischen Unschuld" Deutschlands. Tatsächlich war und ist die deutsche Bourgeoisie mehr als jede andere Bourgeoisie in den alten Industrieländern darum bemüht, das Phänomen des Rechtspopulismus so klein wie möglich zu halten; schließlich ging von ihrem Boden einst der Holocaust aus. "Nie wieder Faschismus" ist eine der großen Propagandakeulen der deutschen Bourgeoisie seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Tatsache, dass sie sich als einsichtiger und geläuterter Sünder gab, verschaffte ihr mitsamt ihrer Erinnerungskultur, die ihre Verbrechen im "III. Reich" nicht leugnete, internationales Lob und Gewicht. So war es nicht weiter verwunderlich, dass die herrschenden Kreise der deutschen Bourgeoisie, von den Unternehmensverbänden über die Kirchen bis hin zu den Gewerkschaften, und ihre Massenmedien im Vorfeld der Wahlen einhellig Stimmung gegen die AfD und ihre Exponenten machten. Dies ging so weit, dass der Chef des Kanzleramts und enge Vertraute Merkels, Peter Altmaier, gar dazu aufrief, lieber nicht wählen zu gehen, als seine Stimme der AfD zu geben.
Der Erfolg der Rechtspopulisten hat sich schon seit einiger Zeit angekündigt. Nachdem die AfD in den letzten Bundestagswahlen knapp an der Fünfprozenthürde - eine Hürde, die nach den negativen Erfahrungen aus der Weimarer Republik in den westdeutschen Parlamentarismus eingeführt wurde, um den Einzug von Splittergruppen ins deutsche Parlament zu verhindern - gescheitert war und scheinbar unaufhaltsam ihrem frühen Niedergang entgegenstrebte, erlebte sie infolge der massiven Flüchtlingswelle vor zwei Jahren einen zweiten Frühling. Aller öffentlichen Entrüstung über den Nazi-Jargon etlicher ihrer Protagonisten zum Trotz blieben ihre Umfrageergebnisse stabil im zweistelligen Prozentbereich. Die politische Klasse in Deutschland wusste also gut, was da auf sie zukommt, und hatte genügend Zeit, um sich vorzubereiten. Wenn es ihr schon nicht gelang, den Einzug der AfD in den Bundestag zu verhindern, so wollte sie wenigstens alles tun, um ihr Treiben einzudämmen und einzuhegen.
Ein wichtiger Baustein in dieser Strategie ist sicherlich der Rückzug der SPD aus der Großen Koalition. Es gibt einige deutliche Hinweise darauf, dass das Ausmaß dieser historischen Niederlage der deutschen Sozialdemokraten - noch nie in ihrer Geschichte hatte die SPD so wenig Stimmen in einer Bundestagswahl erhalten (20,5 Prozent) - durchaus ins Kalkül breiter Parteikreise passte: der späte Verzicht des damaligen SPD-Vorsitzenden und Wirtschaftsministers Gabriel auf den Parteivorsitz und damit auf die Kanzlerkandidatur zugunsten des damaligen EU-Ratsvorsitzenden Martin Schulz, die viel zu späte Formulierung eines Wahlprogramms, der nur halbherzig geführte Wahlkampf. Geradezu frenetisch war der Beifall der anwesenden SPD-Mitglieder, als Schulz in der Parteizentrale noch am Abend der Wahlniederlage den Gang der SPD in die Opposition ankündigte.
Mit dieser Entscheidung, die auch in der Öffentlichkeit auf breite Zustimmung stieß, soll zweierlei bezweckt werden. Zum einen soll mit dem Gang der SPD in die Opposition schlicht und einfach vermieden werden, dass der AfD als stärkste Oppositionspartei, die sie im Falle einer Fortsetzung der Großen Koalition wäre, das Recht eingeräumt wird, als erste der Oppositionsparteien auf die Regierungserklärungen zu antworten sowie Parlamentsausschüsse einzuberufen. Zum anderen soll, und das ist noch viel wichtiger, rechtzeitig einem freien Fall der SPD in die Marginalität vorgebeugt werden. Immerhin hat Letztere seit dem rotgrünen Wahlsieg von 1998 mehr als die Hälfte der Wählerstimmen eingebüßt; in einigen Regionen Ostdeutschlands ist sie mittlerweile nur noch viertstärkste Partei hinter der CDU, "Linke" und der AfD. Die besonders aggressive Rolle der SPD anfangs des neuen Jahrtausends, mit der Schröder-Regierung und ihrer Agenda 2010, hat bei vielen Wählern aus der Arbeiterklasse zu einer Abkehr von dieser Partei geführt. Auch die nachfolgende große Koalitionsregierung, welche die Angriffe weiterführte, damit Deutschland sich vom „kranken Mann“ Europas in den Nuller-Jahren wieder zur Exportweltmeisternation mauserte, hat die SPD viele Wählerstimmen gekostet, da sie durch diese Angriffe die Armut bei den Arbeiter_innen und Angestellten zu verantworten hat. Ihr Anspruch, wie früher als Oppositionspartei die Interessen der arbeitenden Bevölkerung zu schützen, verlor immer mehr an Glaubwürdigkeit. Die Wahlverluste der SPD bei Arbeiter_innen und Angestellten (was wir als Arbeiterklasse bezeichnen) sind dafür ein vielsagender Indikator.
Das Schicksal der französischen und griechischen Sozialisten vor Augen, die in die politische Versenkung verschwunden sind (in Parteikreisen wird mittlerweile offen über die Gefahr der "Verzwergung" der SPD gesprochen), hat die SPD die Reißleine gezogen, um sich in der Opposition zu "erneuern". Ihre Hauptaufgabe in den nächsten Jahren wird es sein, der AfD als Opposition den Rang abzulaufen, um jenen Teil der Wählerschaft, der die AfD nicht aus Überzeugung, sondern aus Protest gegen die sog. Altparteien gewählt hat, zurückzugewinnen und so die AfD zu stutzen. Es ist jedoch keineswegs ausgemacht, ob ihr dies gelingt.
Wie der Rückzug der SPD aus der Großen Koalition, so steht auch die Wiedererweckung der FDP, jener Partei, die bis weit in die 1980er Jahre als Korrektiv der großen Parteien SPD und CDU/CSU maßgeblich an der Ausrichtung der deutschen Außenpolitik (Stichworte: Westbindung Westdeutschlands, Entspannungspolitik) beteiligt gewesen war, in einem direkten Zusammenhang mit dem Aufstieg der Populisten. Nachdem die Liberalen in den Wahlen von 2013 zum ersten Mal in ihrer Geschichte aus den Bundestag gewählt worden waren, schien ihr Schicksal besiegelt. Mit der Erweiterung der deutschen Parteienlandschaft auf zunächst vier (mit dem Einzug der Grünen ins Parlament) und dann, mit der Etablierung der Partei "Die Linke", auf fünf Parteien war die bisherige Existenzgrundlage der FDP als Zünglein an der Waage entfallen.
Doch Totgesagte leben länger: Von den Medien halbwegs geschont, wenn nicht gar gefördert, präsentierte sich die FDP in einem ganz auf ihren Hauptkandidaten, Christian Lindner, zugeschnittenen Wahlkampf - ganz nach dem Vorbild des österreichischen Außerministers Kurz mit seiner "Liste Sebastian Kurz" - als die Partei der Modernisierer (Bildung, Digitalisierung) und wurde mit über zehn Prozent der Stimmen als viertstärkste Partei in den neuen Bundestag gewählt. Was die runderneuerte FDP allerdings so wertvoll macht, sind weniger ihre Wahlversprechen, ihre sog. Trendwenden, als ihre künftige Rolle als Weichensteller für eine Koalitionsregierung jenseits einer großen oder rot-rot-grünen Koalition. Ihr Wiedereinzug ins deutsche Parlament ermöglicht erst den Gang der SPD in die Opposition.
Doch neben diesen Manövern lässt die Bourgeoisie nichts unversucht, um die zentrifugalen Tendenzen innerhalb der AfD selbst zu forcieren, die zweifellos in diesem Sammelsurium von Wertkonservativen, Antisemiten, Rassisten, Putinsympathisanten, Geschichtsrevisionisten, Verschwörungstheoretikern und anderen Spinnern (wie den sog. Reichsbürgern) herrschen. Seit einiger Zeit wurden Gerüchte über eine bevorstehende Abspaltung der eher gemäßigten Elemente vom Rest der AfD gestreut. Und doch war es ein Paukenschlag, als auf der ersten Pressekonferenz der AfD am Tag nach den Wahlen die AfD-Vorsitzende Frauke Petry vor den Kameras der Weltpresse den ebenfalls anwesenden designierten Fraktionsvorsitzenden der AfD ihren Rücktritt aus der AfD-Parlamentsfraktion erklärte; tags darauf erklärte sie zusammen mit ihrem Mann auch ihren Austritt aus der Partei selbst, dem vor einigen Tagen der Austritt eines weiteren Fraktionsmitglieds aus der AfD folgte. Die nächste Zeit wird zeigen, ob diesen Austritten noch weitere folgen.
Es verstößt durchaus nicht gegen das Interesse der deutschen Bourgeoisie, wenn es zur Bildung einer rechtsnationalen Partei käme, die in der Lage wäre, einen Teil derjenigen aufzufangen, die durch Merkels sog. Sozialdemokratisierung der CDU verprellt wurden und werden. Nach Merkels Abkehr von der Wehrpflicht, der Kernkraft und - zuletzt - ihrer faktischen Zustimmung zur "Ehe für alle" (d.h. auch für homosexuelle Paare) hat sich eine Menge Unmut innerhalb des konservativen Milieus angestaut, der sich jederzeit Bahn brechen und noch mehr Elemente zur AfD spülen könnte. Die Bildung einer rechtsnationalen, aber gemäßigten Partei rechts von der CSU, wie sie Petry und ihrem Mann Pretzell vorschwebt, wäre aber vor allem insofern im Sinn der Bourgeoisie, als auf diese Weise der AfD das Wasser abgegraben und die Anwesenheit von Neo-Nazis und Rassisten im deutschen Bundestag möglicherweise auf ein Intermezzo beschränkt werden könnte.
Die Weichen für eine "Jamaika"-Koalition aus CDU/CSU, FDP und Grüne ("Jamaika" deswegen, weil die Farben der beteiligten Parteien den Farben der jamaikanischen Nationalflagge entsprechen) sind also gestellt. Und dennoch: der Teufel steckt bekanntlich im Detail. So steht der FDP eine Zerreißprobe bevor, wenn es in den Koalitionsverhandlungen z.B. um die Frage der Europapolitik geht. Es gibt in dieser Partei, die sich dem "Liberalismus" verschrieben hat, einen starken euro-kritischen Flügel, der keinen Hehl aus seinem Misstrauen gegenüber dem "bürokratischen Monster" in Brüssel macht. Es wird sich zeigen, welchen Einfluss die "Euroskeptiker" auf die Politik der künftigen Regierung gegenüber der EU haben werden; der französische Staatspräsident jedenfalls soll sich angeblich schon vor den Wahlen mit den Worten geäußert haben: "Wenn (Merkel) sich mit den Liberalen verbündet, bin ich tot."[1]
Noch viel stärker steckt allerdings die bayrische Schwesterpartei der CDU, die CSU, in der Zwickmühle. Sie erlitt mit Abstand die schlimmsten Verluste aller drei Regierungsparteien und erzielte mit 38,5 Prozent in Bayern ihr schlechtestes Ergebnis seit ihrer Gründung 1949. Setzt sich dieser Trend in den Wahlen zum bayrischen Landtag im Herbst 2018 fort, ist die CSU ihre absolute Mehrheit in Bayern los, was erst ein Mal vorkam, als die CSU zwischen 2008 - 2013 eine Koalition mit der FDP eingehen musste.
Der Aufstieg der rechtspopulistischen AfD und der drohende Verlust ihres Alleinvertretungsanspruchs in einem der wirtschaftlich stärksten Bundesländer sind in zweierlei Hinsicht fatal für die CSU. Zum einen bedroht eine dauerhafte Einschränkung ihrer absoluten Regierungsgewalt, eine Teilung oder gar Abgabe der Regierungsgewalt in Bayern ihren einmaligen Status als regionale Partei mit überregionalem Einfluss. Einen Status, den sie mit ihrer Hegemonie in Bayern begründet, die beispiellos ist unter den sechzehn Bundesländern. Ihr überproportionaler Einfluss drückt sich auch darin aus, dass sie, abgesehen von den zwanzig Jahren, in denen eine sozialliberale bzw. rotgrüne Koalition die Regierungsgeschäfte führte, in jeder Bundesregierung seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 mindestens einen Minister gestellt hat.
Zum anderen bringt die Etablierung einer rechtspopulistischen Partei im Bundestag ein Anspruch, ja ein Dogma ins Wanken, das zur CSU dazugehört wie die Lederhosen zum Oktoberfest. Es war seit ihrer Gründung erklärte Absicht, keine Partei rechts von ihr zuzulassen, nicht auf Bundesebene und schon gar nicht in Bayern. Doch in jüngster Zeit gelingt der Führung der CSU der Spagat zwischen ihrer Regierungsbeteiligung in Berlin einerseits und ihren Bemühungen andererseits, eine "offene rechte Flanke" zu vermeiden, immer weniger. Dies wird besonders in der Flüchtlingspolitik der Großen Koalition deutlich: Weder ihre Proteste gegen Merkels Politik der offenen Tür im Sommer 2015, noch die Drohung ihres Parteivorsitzenden, gegen Merkels Flüchtlingspolitik vor das höchste Gericht Deutschlands, das Bundesverfassungsgericht, zu ziehen, noch die Forderung nach einer "Obergrenze" bei der Aufnahme von Kriegsflüchtlingen und politisch, religiös oder anderweitig Verfolgten konnten verhindern, dass in Bayerrn mehr Wähler als in jedem anderen westdeutschen Bundesland die AfD wählten.
Kommt es also zur "Jamaika"-Koalition - die Verhandlungen zwischen CDU/CSU, Grüne und FDP beginnen erst Mitte Oktober -, so wird sie möglicherweise instabiler sein, als es je eine Regierung in der Geschichte der Bundesrepublik zuvor war. Darüber hinaus ist die geringe politische Stabilität, die sich die deutsche Bourgeoisie mit der "Jamaika"-Koalition sichert, teuer erkauft; es besteht die Gefahr, dass sich auch in Deutschland der Rechtspopulismus eher länger in den Parlamenten einnistet und die großen "Volksparteien" auf dem absteigenden Ast sind.
Kurz vor den Wahlen in Deutschland ist das Ergebnis einer Studie vom Rheingold-Institut in Köln bekannt geworden, das sich bereits seit Jahren den "deutschen Befindlichkeiten" auf dem Wege der sog. Tiefenanalyse annähert. In einem Interview mit dem SPIEGEL zog der Leiter dieser Studie, Stephan Grünewald, ein Fazit; er äußerte: "Der Bürger ist labil, in ihm brodelt und rumort es (...) Ich habe solches Toben und Wüten, so viel Hass unter den Probanden noch nie erlebt." (Nr. 36, September 2017) Nichts beschreibt treffender den Gemütszustand, in dem sich bedeutende Teile der Bevölkerung, darunter auch der Arbeiterklasse in Deutschland (und anderswo) heute befinden. Diese Wut, diese Raserei, die sich im Internet in Form von Hassmails entlädt, die in einigen Regionen Deutschlands, vor allem Ostdeutschlands, allem Fremden und Andersartigen entgegenschlägt, die sich gegen (zumeist) schwächere Menschengruppen, statt gegen die materiellen, gesellschaftlichen Ursachen ihres eigenen elenden Lebens richtet, ist in ihrem Kern ein Ausfluss der gefühlten Ohnmacht ihrer Protagonisten.
Wenn man eine Momentaufnahme der Situation macht, könnte man meinen, der Arbeiterklasse in den alten Industrieländern und Deutschland sei der Mut und das Selbstvertrauen zu kämpfen abhanden gekommen. Die Streiks im Jahre 2015[2] oder andere Protestaktionen von Beschäftigten in jüngster Zeit änderten an dieser Grundstimmung nichts. Dies hat auch mit dem Umstand zu tun, dass es der Arbeiterklasse weltweit in den vergangenen Jahrzehnten nicht gelungen ist, die rein ökonomische Ebene ihrer Kämpfe hinter sich zu lassen und den politischen Kampf für sich wieder zu entdecken. Wir erleben heute die Situation, dass einerseits immer weniger Arbeiter_innen bereit sind, dem Märchen der herrschenden bürgerlichen Ideologie zu folgen, die "Wohlstand für alle", gesellschaftlichen Aufstieg, ein besseres Leben für die künftigen Generationen etc. versprechen, dass aber andererseits auch die proletarische Perspektive - einer kommunistischen Gesellschaft, die von Ausbeutung und materiellen Nöten befreit ist - nahezu keine Beachtung in unserer Klasse findet. Die gegenwärtige Perspektivlosigkeit der Arbeiterklasse ist förmlich greifbar.
Es ist exakt diese historisch einmalige, buchstäblich un-entschiedene Hängepartie zwischen den beiden historischen Klassen, der Bourgeoisie und dem Proletariat, die die kapitalistische Gesellschaft bei lebendigem Leib zerfallen lässt und die den Populismus als die politische Manifestation dieses Zerfalls schlechthin zum Aufstieg verholfen hat. Die Wahlen zum Bundestag haben bewiesen, dass nun auch Deutschland von dieser Wirklichkeit eingeholt worden ist. Und noch etwas ist deutlich geworden: Derzeit wird das Handeln der herrschenden Cliquen nicht vom Gespenst einer proletarischen Revolution bestimmt, sondern vom Spuk der populistischen Reaktion. Konkret: der ostentative Rückzug der SPD aus der Regierung ist eine Antwort auf den Triumph des kleinbürgerlichen Mobs der AfD und nicht auf den Klassenkampf der Arbeiter_innen, der fast momentan zum Erliegen gekommen ist. Der Klassenwiderspruch ist aber in einer bürgerlich dominierten Gesellschaft immer vorhanden, so ist ein Rückzug der SPD auch ein mittel- und langfristiges Mittel, sich auch auf der linken Flanke nicht völlig zu entblößen. Der Klassenkampf ist zwar auf dem Rückzug, aber es ist nicht abgemacht, dass es so bleiben wird.
In Anbetracht der vielen kriegerischen Konflikte, der gigantischen Flüchtlingswelle nach Europa in den letzten beiden Jahren, der Ausbreitung des Terrors in vielen europäischen Staaten, einer nicht überwundenen Finanzkrise usw., kurzum der vielen Angst verbreitenden Faktoren, kann man davon ausgehen, dass die herrschende Klasse in Deutschland weiterhin – trotz alledem – ein relativer „Stabilitätsanker“ in Europa und weltweit bleiben wird.
Weltrevolution, 16. Oktober 2017
[1] Le Monde vom 7. September beruft sich auf einen mysteriösen Besucher des Elysées-Palasts unter der Überschrift „Macrons Albtraum“, dem gegenüber Macron diese Aussage gemacht haben soll.
[2] Vgl. Weltrevolution Nr. 180: 2015 – Streiks in Deutschland: Geschwächte Arbeiterklasse, aber mit bedeutenden Fragen für die Zukunft [42]
Für die "verantwortungsvollsten" Fraktionen der Weltbourgeoisie hat der weltweite Aufschwung des Populismus, nicht zuletzt der Brexit und die unvorhergesehene Herrschaft Trumps in den USA, eine Kaskade von Problemen und Hindernissen geschaffen. In den letzten paar Monaten haben wir einige energische Versuche erlebt, sich der populistischen Welle entgegenzustemmen, am deutlichsten zum Ausdruck gekommen in den französischen Präsidentschaftswahlen im letzten April/Mai, als international gewichtige Leute wie Merkel und Obama plus die französische Sozialistische Partei und Andere dem Pro-EU-Kandidaten Emmanuel Macron, der weithin als die wirksamste Barriere gegen den populistischen, gegen die EU eingestellten Front National betrachtet wurde, uneingeschränkten Rückhalt gewährten. Jedoch sind die grundlegenden gesellschaftlichen Kräfte, die die populistische Welle erzeugen, keineswegs verschwunden; ihre politischen Ausdrücke üben weiterhin einen schwerwiegenden Einfluss auf das politische Leben der Bourgeoisie aus. Das Resultat der allgemeinen Wahlen in Österreich - unmittelbar den spektakulären Erfolgen der rechten AfD in Deutschland folgend - liefert eine weitere Bestätigung dafür, dass der Populismus weitaus mehr ist als eine politische Blase und eine reale Dysfunktion an den Wurzeln der kapitalistischen Gesellschaft artikuliert.
Der Gewinner der jüngsten Nationalratswahlen in Österreich ist zum neuen, jungen Shooting Star in der europäischen Politik ernannt worden: der Christdemokrat Sebastian Kurz. Seine "Liste Kurz - neue ÖVP" errang 31,49 Prozent der Stimmen, gefolgt von der sozialdemokratischen SPÖ mit 26,86 Prozent und den Rechtspopulisten der FPÖ mit 25,97 Prozent. Zum ersten Mal überhaupt gewann ein ÖVP-Führer eine allgemeine Wahl gegen einen amtierenden SPÖ-Kanzler. Es ist auch erst das zweite Mal seit Beginn der Kanzlerschaft des berühmten Bruno Kreisky 1971, dass die ÖVP in einer allgemeinen Wahl mehr Stimmen errang als die SPÖ.
Sebastian Kurz hat vom österreichischen Bundespräsidenten Van der Bellen das Mandat erhalten, eine neue Regierung zu bilden. Wenn er reüssiert, wird er im Alter von 31 Jahren Europas jüngster Regierungschef sein. Kurz wird mit dem neuen französischen Präsidenten Emmanuel Macron verglichen, nicht nur aufgrund seiner Jugendlichkeit, sondern auch weil er - wie sein französischer Gegenpart - einen erfolgreichen Wahlkampf führte, der sich im Kern rund um seine eigene Person und seines eigenen "Charismas" drehte.
Doch neben diesen Ähnlichkeiten gibt es auch wichtige Unterschiede zwischen diesen beiden Politikern. Während Macron eine Art neue politische Bewegung um sich selbst (République En Marche) schuf, nutzte Kurz die existierenden Strukturen der ÖVP für seinen Wahlkampf. Wie er dies tat, unterscheidet sich deutlich von der Art und Weise, wie Donald Trump in den Vereinigten Staaten die Republikanische Partei für seine eigenen Ziele kaperte. Die einst so stolze ÖVP, eine der beiden Hauptparteien im österreichischen Staat der Nachkriegsepoche, akzeptierte glücklich, auf den Status eines Wahlhelfers ihres Führers degradiert zu werden. Sie tat dies, weil sich Kurz ihr mit Erfolg als ihre einzige Hoffnung verkaufte, nicht nur um mehr Wählerstimmen zu erringen als die Sozialdemokraten, sondern auch um zu vermeiden, dass sie in der Wählergunst von der populistischen FPÖ überholt wird. Mit anderen Worten, was die ÖVP antrieb, war keine politische Strategie im Interesse des bürgerlichen Nationalstaates (die sichtlich eines der Motive Macrons und seiner Anhänger war), sondern die Bewahrung der Sonderinteressen, des Einflusses und der Privilegien der ÖVP.
Das Risiko hat sich gelohnt. Im Sommer provozierte Kurz, der Anführer der ÖVP als Juniorpartner in der sozialdemokratisch geführten Koalition unter dem SPÖ-Kanzler Christian Kern war, aktiv eine Regierungskrise und rief zu Neuwahlen auf. Im Grunde bereitete Kurz diesen Coup bereits seit der "Flüchtlingskrise" im Herbst 2015 Schritt für Schritt vor. Ursprünglich hatte die Kern-Regierung die sogenannte "Willkommenspolitik" der deutschen Bundeskanzlerin Merkel unterstützt. Dies war kein Problem, da die Rolle Österreichs im Wesentlichen darin bestand, die Flüchtlinge auf ihrer Route vom Balkan nach Deutschland durchzuwinken. Plötzlich initiierte Kurz, der offensichtlich ein sehr feines Gespür für Stimmungswechsel in der Wählerschaft hat, eine radikale Umkehr in der Flüchtlingspolitik der österreichischen Regierung: die Schließung der österreichischen Grenze, aktiver Beistand für Ungarn und andere Staaten bei der Versiegelung der Balkan-Route. Kurz profitierte von seiner Rolle als Außenminister, um diese neue Politik zu fördern, die mit seiner Person assoziiert wurde. Die Flüchtlingsfrage war und ist im Kapitalismus mit außenpolitischen Interessen verschränkt. Das Ende der österreichischen Unterstützung für Merkels Flüchtlingspolitik führte ein Element der Konfrontation in den Beziehungen Wiens zu Deutschland und auch zur Türkei ein. Berlin möchte, dass die Türkei und auch die Staaten der nordafrikanischen Küsten eine führende Rolle dabei spielen, Flüchtlinge daran zu hindern, nach Europa zu fliehen. Auf diese Weise hofft man auch Einfluss in diesen Ländern zu erlangen und dem Einfluss von Mächten wie Russland oder China dort entgegenzuwirken. Indem es sich darauf konzentriert, die Balkan-Route zu schließen, ist Österreich, angetrieben von Kurz, noch entschlossener, seine Interessen auf der Balkan-Halbinsel zu verfolgen, die denen der Türkei diametral entgegengesetzt sind. Doch in diesem Punkt könnte das Denken von Kurz etwas kurzsichtig sein. Anders als Ungarn beispielsweise ist Österreich nicht nur ein Nachbar des Balkan, es ist auch ein alpines Land. Mit der Schließung der Balkan-Route landeten die Flüchtlinge aus Nordafrika nun über Italien in Österreich. Indem er das eine Loch stopfte, half Kurz mit, ein neues zu öffnen. Als Antwort darauf kündigte die Regierung in Wien die Mobilisierung der Armee gegen die halbverhungerten und hilflosen Männer, Frauen und Kinder an (es wurde gar vom Einsatz von Panzern gesprochen). Regierungskreise in Rom waren bestürzt über diesen plötzlichen Einsatz des österreichischen Militärs nahe der österreichisch-italienischen Grenze. Doch selbst österreichische Diplomaten begannen ihre Konsternierung über Österreich zum Ausdruck zu bringen, das in Reaktion auf die Flüchtlingsfrage eine Verschlechterung der Beziehungen zu beiden wichtigsten Nachbarn, Deutschland im Norden, Italien im Süden, in Kauf nahm. Dennoch gab es für Kurz kein Innehalten, da es ihm mit seiner Außenpolitik gegen Flüchtlinge gelang, eine Welle des Nationalismus in Teilen der Bevölkerung zu entfachen. Unter den Ingredenzien dieses Nationalismus befanden sich neben der Angst vor den Flüchtlingen und der Islamophobie alte anti-deutsche und anti-italienische Ressentiments, die plötzlich Wiederauferstehung feierten.
Zusätzlich zur Flüchtlingsfrage begann Kurz in wachsendem Maße die Koalitionsregierung selbst in Frage zu stellen, die zu einer Stagnation und Blockade verurteilt war, welche er zum Teil selbst zu verursachen mitgeholfen hatte. Letztendlich waren alle Beteiligten erleichtert, als die Koalition beendet wurde und Neuwahlen ausgerufen wurden. Noch in der Regierung begann Kurz seinen Wahlkampf und entwickelte die Rhetorik eines Oppositionsführers. Er profitierte von seiner Jugend, um sich als Verfechter einer Revolte gegen "das Establishment", dem er selbst angehört, zu präsentieren. Sein Erfolg mit dieser Masche ist umso erstaunlicher, wenn man das Scheitern der benachbarten bayrischen CSU in Deutschland unter Seehofer berücksichtigt, der als Mitglied der Großen Koalition in Berlin versuchte, sich ebenfalls als Oppositionskraft in der Flüchtlingsfrage zu präsentieren. Die CSU verlor mehr Stimmen in den jüngsten Bundestagswahlen als jede andere Partei in der Regierungskoalition. Auf dieser Ebene scheint Kurz noch etwas Anderes mit Macron gemeinsam zu haben: eine hochentwickelte Fähigkeit, politische Macht zu erringen und zu handhaben. Doch während für Macron die Macht nicht ein Selbstzweck ist, sondern Mittel zur Verwirklichung eines politischen Programms für das nationale Kapital, ist es überhaupt noch nicht klar, was Kurz erreichen will. Abgesehen vom vagen Versprechen, Steuern zu senken und Österreich zu einem sicheren und heimeligen Ort zu machen, scheint niemand zu wissen, was er zu beabsichtigen gedenkt. Ob er es selbst weiß?
Neben der "Liste Kurz" ist der Hauptgewinner dieser Wahlen die rechtspopulistische FPÖ. Unter ihrem Führer Christian Strache (ein rhetorisches Talent) erreichte sie fast das Rekordergebnis, das von den "Freiheitlichen" unter dem berüchtigten Jörg Haider vor einem Vierteljahrhundert erzielt worden war. Sie erhielt fast genauso viele Stimmen wie die seit Jahrzehnten führende Partei des österreichischen Staates, die SPÖ. Heute ist die FPÖ eine der erfahrensten, bestorganisierten und etablierten rechtspopulistischen Parteien in Europa. Es gelingt ihr, viele Fehler ähnlicher Parteien in anderen EU-Ländern zu vermeiden. Zum Beispiel kritisierte sie Madame Le Pen und ihren Front National heftig dafür, mit dem Gedanken zu spielen, die Europäische Union oder die Eurozone zu verlassen. Stattdessen ruft die FPÖ Österreich dazu auf, eine führende Rolle dabei zu spielen, die EU "mehr zu einer Union der Vaterländer" und den Euro zu einer eher "nordischen" Währung (die sich Griechenland und möglicherweise anderer südeuropäischer Mitglieder entledigt) zu machen. Sie verurteilte auch den Vorschlag von Geert Wilders in den Niederlanden als lächerlich, den Koran zu verbieten. All dies bedeutet nicht, dass die Positionen und Mitglieder der FPÖ weniger "extremistisch" sind als in den Tagen Jörg Haiders. Doch es sollte daran erinnert werden, dass sich Haider vor seinem Tod in einem Autounfall von der FPÖ abgespalten und seine eigene Partei, die BZÖ (die nicht mehr im Parlament vertreten ist), gegründet hatte. Die FPÖ von heute ist nicht mehr die FPÖ Haiders. Sie ist professioneller, "marktliberaler", und vor allen Dingen ist eine Strömung verschwunden, die unter Haider eine herausragende Rolle gespielt hatte: die "Deutschnationalen". Dies war die Strömung gewesen, die zum Teil aus Nostalgie für das Dritte Reich ihre Symphathie für die Idee einer "Wiedervereinigung" Österreichs mit Deutschland bekundet hatte. Diese Option ist zurzeit ein Non-Thema für die Hauptfraktionen der österreichischen (und auch der deutschen) Bourgeoisie. Im vergangenen Vierteljahrhundert ist es der FPÖ gelungen, sich sowohl der österreichischen als auch der europäischen Bourgeoisie genehmer zu machen. Als Jörg Haiders FPÖ im Jahr 2000 eine Regierung mit der ÖVP bildete, gab es heftige Proteste auf den Straßen Österreichs und Europas, und die Europäische Union erzwang eine Art von diplomatische Halb-Isolation gegen ihr österreichisches Mitglied. Heute könnte die Situation kaum unterschiedlicher sein. Nicht nur die ÖVP, sondern auch die SPÖ hat ihre Bereitschaft signalisiert, mit der FPÖ zu regieren; es sind keinerlei Einwände aus den anderen europäischen Staaten hören, und bis jetzt gibt es auch keine Demonstrationen.
Der gegenwärtige Erfolg der FPÖ ist eine weitere Bekräftigung des Scheiterns der Politik des früheren ÖVP-Kanzlers Schüssel, der die Bildung einer Regierung mit Jörg Haider im Jahr 2000 mit dem Argument gerechtfertigt hatte, dass die Einbeziehung der Populisten in die Macht ihnen ihren Anti-Establishment-Nimbus rauben werde. Jetzt ist die FPÖ nicht nur stärker denn je, sie ist auch imstande geblieben, ihr Image als Protestpartei aufrechtzuerhalten. Sie hat dies zum Teil auf der Länder- und Gemeindeebene und zum Teil, wie die FPÖ selbst sagt, vom ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban gelernt. Obwohl Orban seit mittlerweile sieben Jahren der Chef der ungarischen Regierung ist, gelingt es ihm zum Teil noch immer, sich als eine Oppositionskraft darzustellen: in Opposition gegen "Brüssel", gegen das "Finanzkapital" oder gegen die "Open Society Foundation" seines Lieblingsfeindes, des US-ungarischen Hedge Fond-Milliardärs George Soros. Im Grunde stützt sich die "Anti-Establishment"-Reputation von Parteien wie der FPÖ auf ihre Bereitschaft, Maßnahmen zu befürworten - und umzusetzen -, die einigen Interessen der "Eliten" und selbst der Wahrung der Interessen des nationalen Kapitals in seiner Gesamtheit widersprechen, die aber in Teilen der Wählerschaft populär sind. Die "Business as usual"-Reaktion der Bourgeoisie in Österreich und im Rest Europas bedeutet nicht, dass man nun denkt, die FPÖ sei zu einem verlässlichen Repräsentanten ihrer Interessen geworden. Sie spiegelt in erster Linie eine gewisse Resignation angesichts des Unvermeidlichen wider. Unfähig, das Problem des "Populismus" zu lösen, der die Frucht der Verrottung ihres eigenen Systems ist, muss die Bourgeoisie das Beste daraus machen und seine negativen Auswirkungen so weit wie möglich begrenzen.
Das gegenwärtige Steckenpferd der FPÖ ist, dass Österreich sich der "Visegrad"-Gruppe anschließen soll, einer informellen Umgruppierung Ungarns, der Tschechischen Republik, Slowakei und Polens, ursprünglich gebildet, um dem Übergewicht der alten westlichen Mitglieder in den Institutionen der Europäischen Union entgegenzuwirken. Zunächst nicht mehr als eine lose Koordinierung, erlangte sie durch die gegenwärtige Flüchtlingskrise und durch den Aufstieg des Populismus in Europa einen neuen Anstoß und eine neue Bedeutung. Ungarn und Polen haben bereits rechts-"populistische" Regierungen. Die ANO von Andrej Babis (bekannt als "der Donald Trump der Tschechischen Republik" - tatsächlich ist er Slowake) hat jüngst die Wahlen in Prag gewonnen. Alle vier Länder verweigern am lautesten die Aufnahme von Flüchtlingen und Muslimen in ihren Ländern. Nach seinem Wahlsieg erklärte Babis, dass er davon ausgeht, dass Österreich und Sebastian Kurz sich der "anti-liberalen Front", wie er sie bezeichnet, innerhalb der EU anschließen. Die "Visegrad-Bewegung", wie sie mittlerweile genannt wird, tendiert dazu, dem Populismus eine zusätzliche Dimension zu verleihen, indem sie eine Politik der "populären Provokation" als Bestandteil der Beziehungen zwischen den Regierungen der Europäischen Union etabliert. Doch die FPÖ hat eine weitere Provokation im Ärmel: Sie möchte die Frage Südtirols "neu stellen", gegenwärtig eine norditalienische Provinz, deren Rückkehr nach Österreich viele in der FPÖ möchten. Abhängig davon, ob die FPÖ in die Regierung tritt oder nicht und wie weit sie in dieser Frage zu gehen beabsichtigt, könnte dies zur ersten Infragestellung von Grenzen zwischen zwei Mitgliedern der Europäischen Union führen (die Regel ist, dass die EU keine Mitgliedschaft von Ländern zulässt, die Grenzen mit EU-Ländern anfechten).
Die Anhänger der politischen Stabilität nicht nur in Österreich selbst hätten es vorgezogen, wenn die vorherige Koalition unter Christian Kern ihre Arbeit hätte fortsetzen können. Die SPÖ und selbst die ÖVP haben noch den Ruf, die zwei verantwortungsvollsten und verlässlichsten Staatsparteien zu sein. Beide zusammen haben eine stabile Mehrheit, um eine neue Koalition zu bilden, diesmal unter der Führung von Sebastian Kurz. Doch genau diese Option erscheint in vielerlei Hinsicht als die problematischste. Weil Kurz einen Wahlkampf gegen die Große Koalition geführt hatte, erscheinen nicht nur die Stimmen der FPÖ, sondern auch die der ÖVP als Stimmen gegen die Große Koalition. Dies zu ignorieren würde bedeuten, die politische Führung des Landes in einen eklatanten Widerspruch zu ihrer demokratischen Ideologie zu setzen. Das Dilemma der österreichischen Bourgeoisie heute besteht darin, dass die machbaren Alternativen zu einer Großen Koalition beide die FPÖ in der Regierung vorsehen.
Einige Wochen vor den österreichischen Wahlen war die deutsche Bourgeoisie bei ihren Bundestagswahlen in der Lage, auf den Aufstieg der rechts-"populistischen" Alternative für Deutschland zu antworten, indem sie eine neue Sechs-Parteien-Konstellation im Parlament schuf. Die Option, die Große Koalition (Christ- und Sozialdemokraten) in Berlin zu beenden, wurde eröffnet, indem die liberale FDP zurück in den Bundestag gebracht wurde. Wenn die Etablierung einer so genannten Jamaika-Koalition zwischen den Christdemokraten, den Liberalen und den Grünen (gegenwärtig in der Verhandlung) gelingt, wird die AfD in Deutschland nicht nur auf Distanz von der Regierungsverantwortung gehalten, sie wird (durch die SPD) auch nicht die größte Oppositionspartei im neuen Bundestag sein. In Österreich wurden keine solchen Vorkehrungen getroffen. Im Gegenteil. Der Wahlkampf dort war von einem brutalen Machtkampf zwischen der SPÖ und der ÖVP dominiert, der so weit ging, dass Kern und Kurz völlig blind gegenüber allem Anderen zu sein schienen. Die Auseinandersetzung zwischen den beiden nahm solch skandalöse Ausmaße an (eklatante Verleumdungen und Intrigen), dass die FPÖ (normalerweise der Provokateur par excellence) in der Lage war, ruhig an der Seitenlinie zu bleiben und sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Unter diesen Umständen achtete niemand großartig auf die Tatsache, dass die Grünen (die einzige etablierte Partei, die den Slogan "Refugees welcome" aufrechthielt) unter einem monströsen fremdenfeindlichen Wahlkampf aller drei größeren Parteien begraben wurde und sich wegen eines Machtkampfes in ihren Reihen spaltete. Das Resultat war, dass die Grünen nicht mehr im neuen Parlament vertreten sind. Es ist eine Partei, der die österreichische Bourgeoisie seit Jahren als eine zusätzliche Regierungsoption, als eine mögliche Alternative zur FPÖ wohlgesonnen war.
Noch nach dem Ersten Weltkrieg war Wien eines der großen Zentren des kulturellen Lebens und des Wissens in Europa gewesen. Eines der Hauptzentren des intellektuellen Lebens in jenen Jahren dort war der regelmäßige öffentliche Ein-Mann-Dialog der meist gefeierten Figur im Wiener Kulturleben damals gewesen. Diese Person war nicht Sigmund Freud (der Vater der Psychoanalyse) oder Robert Musil (einer der Schöpfer des modernen Romans) oder Arnold Schönberg (der die moderne "klassische" Musik revolutionierte). Es war ein Mann namens Karl Kraus. Kraus war imstande, auf der Grundlage einer Analyse der Veränderungen im lokalen Wiener Slang oder der Art und Weise, wie Schlagzeilen in der Sensationspresse oder Todesanzeigen formuliert wurden, ein Gespür dafür zu zu bekommen, was in der Gesellschaft vor sich geht - und dies nicht nur in Österreich. Er war wie jemand, der einen einzigen Regentropfen betrachtete und in ihm die ganze ihn umgebende Landschaft detailliert widergespiegelt sah. Statt diese Details zu ignorieren oder in ihnen verloren zu gehen, strebte er danach, die allgemeinen Wahrheiten zu entschlüsseln, die in den charakteristischen Besonderheiten enthalten waren. Es ist klar, dass die Analyse der Wahlen in Österreich heute uns ebenfalls zu einem besseren Verständnis der politischen Weltlage insgesamt verhelfen kann. Österreich ist eines der Länder in Europa, wo sich der zeitgenössische Rechtspopulismus am frühesten und am stärksten entwickelt hatte. Heute ist die FPÖ auf Augenhöhe mit den beiden traditionellen, etablierten Parteien in Österreich. Wie die Brexiteers in Großbritannien, die Trumpisten in den Vereinigten Staaten oder die Unabhängigkeitsanhänger in Katalonien sind sie bereit, Dinge zu tun, die die Leute hinter ihnen mobilisieren, selbst wenn diese Dinge gelegentlich den Interessen des Kapitals und selbst ihren eigenen Partikularinteressen widersprechen.
Die vielleicht auffälligste Besonderheit Österreichs, die die Entwicklung des Populismus dort befördert hat und die gleichzeitig eine allgemeine Tendenz im zeitgenössischen Kapitalismus repräsentiert, ist der Niedergang des parteipolitischen Apparates. Die SPÖ und die ÖVP hatten ein solch unumstrittenes Monopol der parteipolitischen Macht über ein dreiviertel Jahrhundert lang gehabt, dass sie sich zumeist um die Wahrung ihrer eigennützigen Interessen kümmerten, statt ihren Job fürs Kapital zu verrichten. Sie sind auch in den Augen eines bedeutenden Teils der Bevölkerung immer unglaubwürdiger geworden. Genau in dieser Frage hat Sebastian Kurz so etwas wie ein eigenes politisches Projekt vorgeschlagen: die "Rationalisierung",die "Größenreduzierung" des Parteiapparates der ÖVP. Wenn er dies ernst meint, wird es zur Folge haben, dass Parteimitglieder ihre Privilegien und gar ihre Jobs verlieren. Dies würde unweigerlich neue Konflikte schaffen, diesmal in der ÖVP selbst. Aufgrund ihrer Unfähigkeit, der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit eine Perspektive vorzustellen, hat die herrschende Klasse enorme Schwierigkeiten bei der Erneuerung ihres parteipolitischen Apparates. Mit den jüngsten Wahlen scheint Österreich tiefer in den Sumpf seiner politischen Krise im Kontext des kapitalistischen Zerfalls zu sinken.
Steinklopfer, 23.10.2017
Vor 72 Jahren, im August 1945, wurden die beiden ersten Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen. Nach den massiven Zerstörungen, die im Zweiten Weltkrieg bereits mit allen Arten von Waffen, insbesondere Brandbomben, angerichtet worden waren, leitete der Gebrauch von Atombomben eine neue Stufe potenzieller Zerstörungskraft ein, die den ganzen Planeten bedroht.
Am 9. September 2017 zeigten nordkoreanischen Medien anlässlich des Gedenkens an die Etablierung des nordkoreanischen Regimes ein riesiges, staatlicherseits organisiertes Fest mit einem strahlenden Kim Jong-un, der die Wasserstoffbombe als "eine außergewöhnliche Leistung und ein großes Ereignis in der Geschichte unseres Volkes" pries.
Nordkorea hat erfolgreich eine Nuklearexplosion durchgeführt, deren Stärke alle vorherigen Tests weit übertraf. Nordkorea ist damit in den exklusiven Klub der Atommächte der Welt eingetreten. Die Nachrichten über diesen jüngsten Schritt im Abstieg der bürgerlichen Gesellschaft in die Barbarei kamen nicht aus heiterem Himmel. Der makabre Triumph der Massenzerstörungstechnologie seitens des stalinistischen Regimes in Pjöngjang ist der Höhepunkt monatelanger gegenseitiger Drohungen der Vereinigten Staaten von Amerika und der Demokratischen Volksrepublik Korea. Nordkorea hat bereits 17 Raketentests in diesem Jahr durchgeführt - mehr als alle früheren Tests zusammengenommen. Mit der Drohung, die zu den USA gehörende Pazifikinsel Guam oder Ziele auf dem amerikanischen Festland anzugreifen, hat der Showdown zwischen Nordkorea und den USA eine neue Stufe erreicht. Die USA drohen mit ihrem gesamten Arsenal militärischer, wirtschaftlicher und politischer Waffen: Präsident Trump spricht darüber, Nordkorea mit "Feuer und Zorn" heimzusuchen, falls die USA oder irgendeiner ihrer Verbündeten von diesem Regime angegriffen wird. Das Risiko, dass dabei Atomwaffen eingesetzt werden, erhöht die Einsätze wie nie zuvor und stellt eine direkte Bedrohung für einige der größten Metropolen Asiens - Seoul, Tokio, etc. - dar. Die jüngsten militärischen Schritte der USA und ihrer Verbündeten Korea und Japan (namentlich die Installierung des neuen THAAD-Raketensystems in Südkorea) haben die Konfrontation zwischen den USA und China verschärft und andere Länder in diesen Mahlstrom gezogen.
Jahrzehntelang, während des Kalten Krieges, waren hauptsächlich die Großmächte mit Atomwaffen ausgerüstet. Doch nach 1989 hat eine Reihe von weiteren Ländern Zugang zur Atombombe erlangt oder versucht es, was die Gefahr der gegenseitigen Zerstörung noch unkalkulierbarer macht. Es müssen unterschiedliche Faktoren berücksichtigt werden, um zu verstehen, warum "Underdogs" wie Nordkorea die Fähigkeit entwickelt haben, eine atomare Bedrohung darzustellen. Diese Entwicklungen können nur in einem breiteren historischen und internationalen Kontext verstanden werden.
Infolge der Verheerungen durch den Zweiten Weltkrieg und des Korea-Krieges, der einige Jahre später folgte, mussten sich sowohl der Norden als auch der Süden beim Wiederaufbau auf ihre "Schutzmächte" stützen. Nordkorea wurde von China und Russland abhängig, zwei Länder, die von stalinistischen Regimes beherrscht wurden, die unfähig waren, auf dem Weltmarkt zu bestehen, und den fortgeschritteneren kapitalistischen Ländern hinterherhinkten. Russland war infolge der Niederlage von Nazi-Deutschland Blockführer geworden, doch war es durch den Krieg aufs Schwerste ausgezehrt und musste nun den größeren Teil seiner Ressourcen dem neuen Rüstungswettlauf im Kalten Krieg widmen. Der Gegensatz zwischen den beiden Blöcken lässt sich in der Tatsache zusammenfassen, dass ein erschöpftes Russland Fabriken in Ost- und Mitteleuropa demontieren musste, während die USA große Geldbeträge besonders in den deutschen und koreanischen Wiederaufbau pumpten (Marshallplan).
Der nordkoreanische Wiederaufbau folgte dem stalinistischen Modell. Obwohl er vor 1945 wirtschaftlich entwickelter als der Süden und besser ausgestattet mit Rohstoffen und Energiequellen war, litt der Norden unter einer ähnlichen Rückständigkeit - typisch für Regimes, die im Würgegriff des Militarismus waren und von einer stalinistischen Clique angeführt wurden. So wie die Sowjetunion nicht imstande war, wirtschaftlich konkurrenzfähig auf dem Weltmarkt zu werden, und stark vom Einsatz (oder seiner Androhung) ihrer militärischen Kapazitäten abhing, so war auch Nordkorea unfähig, auf wirtschaftlicher Ebene Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt zu erlangen. Seine Hauptexporterzeugnisse sind Waffen, einige Rohstoffe und seit jüngerem billige Textilien und Teile seiner Arbeitskräfte, die das nordkoreanische Regime in Gestalt von "Vertragsarbeiter_innen" an Unternehmen anderer Länder verkauft.[1]
Gleichzeitig ist die Abhängigkeit von seinen Verteidigern China und Russland stark gestiegen; 90 Prozent des nordkoreanischen Handels beschränkt sich auf China. Beherrscht von einer Parteidiktatur, die eine straffe Kontrolle über die Armee ausübt und in der jegliche rivalisierende bürgerliche Fraktion eliminiert worden ist, hat das Regime dieselben angeborenen Schwächen wie alle Regimes unter stalinistischer Kontrolle[2], dennoch hat es Jahrzehnte des Mangels, Hungers und der Repression überlebt. Der militärische und politische Apparat war in der Lage gewesen, jegliche Erhebung der Bevölkerung, insbesondere der Arbeiterklasse, zu verhindern. Im Vergleich zur jahrzehntelangen Herrschaft anderer Dynastien in unterentwickelten Ländern hält Nordkorea den Rekord mit einem Familienclan (Kim Il-sung, Kim Jong-il und Kim-Jong-un), der seine Bevölkerung nun schon seit mehr als sechzig Jahren terrorisiert und sie dazu zwingt, sich seinem groteskesten Personenkult zu beugen.[3]
Angesichts der nationalistischen Ambitionen des Südens und der imperialistischen Interessen der US A und unfähig, auf irgendeine wirtschaftliche Stärke zu bauen, kann das Regime nur mit extremer Repression nach innen und mit militärischer Erpressung nach außen überleben. Und im Zeitalter der Atomwaffen ist die Erpressung furchterregend genug, um seine Feinde abzuschrecken.
Kim Jong-un sieht in der Atombombe seine Lebensversicherung. Wie er selbst öffentlich erklärte, hat er die Lehre daraus gezogen, was in der Ukraine und in Libyen einerseits und in Pakistan andererseits geschah. Nach der Auflösung der UdSSR war der neu gebildete ukrainische Staat - unter massivem Druck nicht nur aus Moskau, sondern auch aus Washington - gezwungen worden, die Atomwaffen auf seinem Territorium an die Russen auszuhändigen. Was Libyen angeht, so willigte es ein, im Austausch für eine Beendigung der internationalen Isolation des Gaddafi-Regimes in Tripolis seine Versuche aufzugeben, eine Atombombe zu erlangen. Ein ähnliches Schicksal ereilte den Irak, wo Saddam Husseins Regime sein Atomprogramm infolge der Drohungen vor allem aus den USA fallenließ.[4] Dagegen gelang es Pakistan, in den Besitz "der Bombe" zu kommen. Was an diesen Beispielen auffällt, ist die Tatsache, wie unterschiedlich Länder behandelt werden, abhängig davon, ob sie eine atomare Kapazität besitzen oder nicht. Bis zum heutigen Tag haben die Vereinigten Staaten Pakistan noch nie militärisch bedroht. Und dies trotz der Tatsache, dass das Regime in Lahore immer noch ein bedeutender Unterstützer der Taliban in Afghanistan ist, Bin Laden Unterschlupf gewährt hat und sich China, dem Hauptrivalen der USA, immer mehr annähert. Im Gegensatz dazu wurden die Ukraine, ihrer Atomwaffen entledigt, von Russland und Libyen von Frankreich und Großbritannien (mit den USA im Hintergrund) militärisch angegriffen. Die Lektion ist klar: In den Augen ihrer Führer ist "die Bombe" vielleicht das wirksamste Mittel für schwächere Mächte, um zu verhindern, dass sie zu sehr herumgeschoben oder gar von den stärkeren gestürzt werden. Diese Politik wird freilich von den Großmächten als inakzeptabel betrachtet, die seit Jahrzehnten über ein atomares Arsenal verfügen und die atomare Bedrohung für ihre eigenen imperialistischen Interessen nutzen. Obwohl der Kalte Krieg vorüber ist, halten alle existierenden Atommächte (USA, Russland, China, Frankreich, Großbritannien) gigantische Arsenale von Atomwaffen - geschätzte 22.000 Atombomben. Und die USA - als die einzige verbliebene Supermacht, auch wenn geschwächt und überall in der Welt herausgefordert - haben es ihrem langjährigen Verbündeten Israel und einem Land wie Indien gestattet, sich selbst mit Atomwaffen auszurüsten, solange sie für die USA von Nutzen sind (im Falle Indiens ist es sein Gegengewicht zu China und Pakistan). So haben die USA selbst zur Weiterverbreitung von Atomwaffen beigetragen. Unter den existierenden Atommächten können bis jetzt nur russische und chinesische Raketen US-Territorium erreichen, iranische Raketen (ob mit Atomsprengköpfen ausgerüstet oder nicht) nicht. Nordkorea wäre der erste "Schurkenstaat", der dazu in der Lage ist. Dies ist unerträglich für die USA.
In Zeiten des Kalten Krieges beschränkte sich die Androhung, Atomwaffen einzusetzen, auf die Großmächte. Seit 1989 bedeutete die Weiterverbreitung von Kernwaffen, dass immer mehr Länder Zugang zu ihnen erlangen bzw. sie schnell herstellen können; und niemand kann die Gefahr ausschließen, dass diese Waffen in die Hände von terroristischen Gruppierungen gelangen können. Die Drohung eines „bipolaren" nuklearen Holocausts hat dem noch schlimmeren Albtraum eines "multi-polaren" Genozids Platz gemacht.
Doch die neue Eskalation kann nicht allein mit den Besonderheiten des nordkoreanischen Regimes und seines Überlebenskampfes erklärt werden. Der Konflikt in Korea selbst verleiht wegen der geostrategischen Lage Koreas und seine Bedeutung für die USA und China ihrer globalen imperialistischen Rivalität eine weitere Qualität.
Korea war immer das Objekt imperialistischer Ambitionen seiner Nachbarn gewesen. In der Sonderausgabe unserer INTERNATIONALEN REVUE (engl., franz., span. Ausgabe) über den Fernen Osten schrieben wir: "Die Gründe liegen auf der Hand: Umgeben von Russland, China und Japan, machte Koreas geographische Lage es zu einem Sprungbrett für eine Expansion von einem Land in das andere. Korea sitzt unentrinnbar gefangen in der Klemme zwischen dem japanischen Inselreich und den beiden kontinentalen Imperien Russland und China. Die Kontrolle über Korea ermöglicht die Kontrolle über drei Meere - das Japanische Meer, das Gelbe Meer und das Ostchinesische Meer. Unter der Kontrolle eines Landes könnte Korea als Messer im Rücken anderer Länder dienen. Seit den 1890er Jahren war Korea das Objekt der imperialistischen Ambitionen der größten Räuber in dieser Region gewesen, die anfangs nur zu dritt waren: Russland, Japan und China - mit der entsprechenden Unterstützung resp. des jeweiligen Widerstandes der europäischen und US-amerikanischen Räuber, die im Hintergrund agierten. Auch wenn besonders der nördliche Teil Koreas einige wichtige Rohstoffe besitzt, ist es vor allem seine strategische Lage, die das Land zu einem unverzichtbaren Eckpfeiler für den Imperialismus in der Region macht."[5]
Besonders seit der Aufteilung des Landes im Korea-Krieg dient Nordkorea als Puffer zwischen China und Südkorea und somit zwischen China und den USA. Wenn das Regime im Norden fällt, wären nicht nur südkoreanische, sondern auch US-Truppen näher denn je an der chinesischen Grenze stationiert - ein Albtraum für China. So ist China dazu verdammt, das Regime in Nordkorea zu unterstützen, um seine eigenen Grenzen vor allem gegen die USA zu schützen. Angesichts der Neigung des nordkoreanischen Regimes, unvorhersehbar und eigenwillig zu handeln, musste China zwar einigen Sanktionen gegen Pjöngjang zustimmen, lehnte aber eine völlige Strangulierung des Regimes ab. Für China ist die aggressive Politik des nordkoreanischen Regimes ein zweischneidiges Schwert: Einerseits provoziert sie eine stärkere, militärische Reaktion der USA, Südkoreas und Japans und schwächt die chinesische Position an der Nordflanke, wobei es jedoch möglicherweise mehr Raum für Manöver an seiner Südflanke (zum Beispiel das Südchinesische Meer) lässt. Aber der Zusammenbruch des nordkoreanischen Regimes würde China gegenüber den USA und seinem Erzfeind Japan weitaus verwundbarer machen. Und die Konsequenzen eines möglichen Kollapses des nordkoreanischen Regimes sowie die Welle von Flüchtlingen, die dann nach China oder über China fliehen, sind äußerst beängstigend für Peking.
Obwohl in ihrer Position bedroht und untergraben, können die USA - paradoxerweise - von den nordkoreanischen Drohungen auch profitieren, weil sie eine willkommene Rechtfertigung für ihre eigene militärische Präsenz oder die ihrer Verbündeten rund um China sind. Wir können davon ausgehen, dass, wenn Nordkorea nicht so provokant agiert hätte, die USA nicht so leicht das THAAD-Waffensystem in Südkorea hätten installieren können. Jede Waffe, die in Südkorea aufgestellt wird, kann leicht gegen China genutzt werden; was sich für Südkorea als "defensive" Waffe darstellt, ist eine "offensive" Waffe gegen China.
Der Konflikt zwischen Nordkorea und Südkorea sowie den USA wird durch die neue Konstellation im Fernen Osten verschlimmert. Fast zeitgleich mit seinem ökonomischen Aufstieg in den 1990er Jahren begann China auch neue imperialistische Ambitionen zu entwickeln. So haben wir die Modernisierung seiner Armee gesehen, die Etablierung der "Perlenschnur"-Marinebasen rund um sein Territorium und in den Gewässern des Indischen Ozeans und Südostasiens - eine Art militärische Besetzung zumindest eines Teils des Südchinesischen Meeres; der Aufbau von Militärbasen in Dschibuti; wachsendes ökonomisches Gewicht in Afrika und Lateinamerika; kombinierte Manöver mit den Russen in der Ostsee, im Mittelmeer und im Fernen Osten, etc. Die USA haben China zur Nummer eins unter den Gefahren erklärt, die in Schach gehalten werden müssen. Daher ist der Prozess der Wiederbewaffnung Japans (möglicherweise sogar die Gestattung von Atomwaffen) wie auch der wachsenden militärischen Anstrengungen in Südkorea Teil einer globalen Strategie sowohl zum Schutz Südkoreas als auch zur Eindämmung Chinas. Natürlich hat dies der US-Rüstungsindustrie einen zusätzlichen Schub gegeben. Zusammen mit Saudi-Arabien ist Südkorea zum wichtigsten Kunden der US-Waffenindustrie geworden. Sein Beitrag zur Finanzierung des enormen Militärapparates der USA heute ist beträchtlich.
Gleichzeitig erschwert Nordkoreas Fähigkeit zu Nuklearschlägen es dem US-Imperialismus, militärisch in dieser Region zurückzuschlagen, und es ist wahrscheinlich, dass dies seine Entschlossenheit stärken wird, in anderen Hotspots gegen China zu antworten.
Jegliche direkte militärische Konfrontation mit Nordkorea würde eine Kette von Verwüstungen auf beiden Seiten auslösen. Die Hälfte der südkoreanischen Bevölkerung lebt im Gebiet von Seoul, und viele der 250.000 US-Amerikaner in Südkorea leben in der Region - leicht erreichbar von nordkoreanischen Raketen. Trumps "Feuer und Zorn"-Drohungen würden zum Tod nicht nur einer sehr hohen Zahl von Koreanern, sondern auch vieler US-Bürger führen. Die Auslöschung des Regimes in Nordkorea kann nur auf Kosten gigantischer Zerstörungen in Südkorea erreicht werden - ganz zu schweigen von der Eskalation, die dies auf globaler imperialistischer Ebene bedeuten würde.
Die herrschende Ansicht in der Mainstream-Presse über diese Entwicklungen ist, dass sie die Folge daraus sind, dass ein Verrückter in Pjöngjang an der Macht sitzt oder dass hier Narzissmus und Irrationalität sowohl von Kim Jong-un als auch von Trump Hand in Hand gehen. Es ist richtig, dass beide viele aufschlussreiche Muster für eine psychoanalytische Untersuchung präsentieren und dass die Art, wie sie sprechen und handeln, der Eskalation einen spektakulären und nahezu hysterischen Tonfall verleihen. Doch wir haben bereits gesehen, dass vom Standpunkt der Verteidigung seines nationalen Kapitals die Atompolitik Kim Jong-uns sehr wohl einen Sinn macht. Die wahre Irrationalität liegt viel tiefer - in der Irrationalität der nationalen Konkurrenz in einer Ära des fortgeschrittenen kapitalistischen Verfalls. Der Rüstungswettlauf im Fernen Osten ist nur ein Ausdruck des sich verbreitenden Krebsgeschwürs des Militarismus, seinerseits das zwangsläufige Produkt eines Gesellschaftssystems, das in einer historischen Sackgasse gefangen ist. Kein Politiker, welches psychologische Profil er auch immer hat, kann der tödlichen Logik dieses Systems entkommen. Der sehr intelligente und wortgewandte Obama versprach, das katastrophale Engagement der Bush-Administration im Nahen Osten herunterzufahren; doch kaum hatte er Truppen aus Afghanistan und dem Irak zurückgezogen, war er gezwungen, die Präsenz der USA im Fernen Osten zu erhöhen. Trump kritisierte seine Vorgänger für ihre Unfähigkeit, Verwicklungen in "ausländische Kriege" zu vermeiden, besonders im Nahen Osten, doch muss er nun die Militärpräsenz der USA fast überall erhöhen, einschließlich des Nahen Ostens. In Wahrheit haben sowohl Obama als auch Trump demonstriert, dass der Einfluss des Militarismus stärker ist als die Deklarationen und Wünsche einzelner Politiker.
Die Geschichte hat gezeigt, dass China einen hohen Preis im Kampf um Korea gezahlt hat. Im Koreakrieg trugen Maos Truppen ihre erste ausländische Invasion aus und erlitten hohe Verluste. Seit dem Zweiten Weltkrieg und erst recht nach dem Koreakrieg waren die USA in der Lage gewesen, die Unterhaltung riesiger Stützpunkte in der Region mit der chinesischen Gefahr zu rechtfertigen. Hinzu kommt Chinas Rivalität mit Japan. In solch einem Kontext, wo es im Moment nicht darum geht, Waffen gegen Südkorea einzusetzen, spielt China die ökonomische Karte. Sein Ziel ist es, Südkorea so weit wie möglich von der chinesischen Wirtschaft abhängig zu machen. Schon heute ist der Hauptexportmarkt Südkoreas China (um die 23 Prozent), nicht mehr die Vereinigten Staaten (rund 12 Prozent). Und Südkorea ist der viertgrößte Exportmarkt für chinesische Produkte. Die Aufstellung des THAAD-Raketenabwehrsystems in Südkorea steht symbolhaft für den herben Rückschlag, den diese Politik erlitten hat. Peking sah sich veranlasst, sofort mit der Androhung wirtschaftlicher Sanktionen gegen Seoul zu reagieren. Die Politik Pekings gegenüber Pjöngjang war es seit einiger Zeit, zu versuchen, es zu überreden, dem Beispiel Chinas oder Vietnams zu folgen: Privatisierung von Staatsunternehmen und die Öffnung für ausländische Investitionen, während die stalinistische Partei an der Macht bleibt. Kim Jong-un hat sich selbst als viel offener gegenüber solcher Idee erwiesen als sein Vater. Zwischen 30 und 50 Prozent der Wirtschaft, heißt es, befinden sich heute in privater Hand, was, wie die Erfahrung aus den osteuropäischen Ländern, aus Russland und China gezeigt hat, bedeutet, hauptsächlich in den Händen von Cliquen, die der Partei angehören oder der Partei und der Armee loyal gegenüber sind. Auch wenn diese Privatisierungen nicht offiziell sind (sie haben keine gesetzliche Grundlage, so dass sie jederzeit widerrufen werden können), scheinen sie einige Wirtschaftszweige effizienter gemacht zu haben. Selbst ein eigenes Fernsprechsystem, mit einer Million Benutzer, ist (mit der Hilfe eines ägyptischen Unternehmens) eingerichtet worden. Doch trotz alledem haben sich die Beziehungen zwischen Peking und Pjöngjang in den letzten Jahren stetig verschlechtert, und der Einfluss, den China auf Letzteres ausübt, schwindet deutlich. Der Hauptkonfliktherd ist das Atomprogramm. Auch wenn er auf die chinesischen Vorschläge für eine wirtschaftliche Weiterentwicklung bis zu einem gewissen Umfang eingeht, hat Kim Jong-un nie einen Hehl daraus gemacht, dass seine erste Priorität "die Bombe" ist, nicht die Wirtschaft. Für ihn ist die Bombe die Garantie für das Überleben seines Regimes. Sobald dies erreicht ist, sagt er, werden wir uns um die Wirtschaft kümmern. Kims Bombe ist also nicht nur das Symbol für die Grenzen des chinesischen Einflusses, sie zeigt auch, wie sehr militärische Interessen gegenüber den ökonomischen Interessen überwiegen.
Die Tatsache, dass China kein Blockführer ist, der Nordkorea "disziplinieren könnte, ist ein zusätzliches Element in der Tendenz des "Jeder für sich" und macht die Situation noch unkalkulierbarer. Schließlich muss betont werden, dass, während Kim Jong-un und seine Armee mithilfe der Bombe um ihr Überleben spielen und darauf spekulieren, dass die USA einen atomaren Konflikt vermeiden möchten, solch eine Kalkulation die Herrscher des Kapitalismus noch nie dabei gestoppt hat, eine Politik der verbrannten Erde zu betreiben und ihre eigene Auslöschung zu riskieren, um an der Macht zu bleiben oder schlicht aus Rachelust. Zögerte Hitler etwa, Massaker und Exekutionen bis zu seinem letzten Atemzug anzuordnen? Hat Assad nicht die Zerstörung großer Gebiete seines eigenen Landes in Kauf genommen, um die Kontrolle zu behalten?
Wir erleben im Fernen Osten also eine Verschärfung der Spannungen zwischen den Hauptrivalen USA und China, mit Russland und Japan, die sich hinter diesen beiden führenden Mächten zusammenrotten. Doch keine dieser führenden Mächte hat einen militärischen Block hinter sich geschart. Japan und Südkorea unterstützen die USA soweit, wie die USA einen gewissen Grad an Schutz gegen Nordkorea und China anbieten können, doch sie sind keine Lakaien der USA, und sie suchen beständig nach Raum für eigene Manöver. Und Südkorea sowie Japan haben auch wegen einiger Inseln territoriale Konflikte untereinander. Unterdessen haben andere Länder, die in der Vergangenheit die USA unterstützt haben, wie die Philippinen, die beim Kampf gegen Terroristen aller Art in diesem Land auf die militärische Unterstützung der USA gebaut hatten, damit gedroht, im Konflikt im Südchinesischen Meer Partei für China zu ergreifen; und Duterte hat auch über die Möglichkeit getönt, russische und chinesische Waffen statt jene zu kaufen, die die westlichen Länder liefern. Und in Korea selbst können die Amerikaner, auch wenn die USA ein unerlässlicher Bodyguard bleiben, nicht auf die bedingungslose Loyalität der herrschenden Fraktionen Südkoreas zählen, von denen einige das Gefühl haben, dass sie lediglich Figuren auf dem Schachbrett für die USA sind.
Weil sie beide als unverzichtbare Puffer gegen die größeren Rivalen dienen, haben all die imperialistischen Räuber der Region ein Interesse daran, Korea geteilt zu halten. Dasselbe trifft auf das Regime in Pjöngjang zu. Die herrschende Klasse Südkoreas hat jedoch stets von einer Wiedervereinigung geträumt und sie regelmäßig angestrebt. Die so genannte "Sonnenschein"-Politik, die eine wachsende Zusammenarbeit mit Pjöngjang befürwortet, ist ein Versuch, den Weg zu einer langfristigen Vereinbarung mit der Hoffnung auf eine letztendliche Wiedervereinigung zu ebnen.
Dieser Traum in der herrschenden Klasse Südkoreas ist nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 stärker geworden. Dies verlieh den Bestrebungen des Südens einen Schub, die Vereinigung Koreas zurück auf die Tagesordnung der Weltpolitik zu setzen. Dem deutschen Beispiel folgend, begannen südkoreanische Politiker ihre "Sonnenschein"-Politik als eine Art koreanische Version der Ostpolitik des westdeutschen Bundeskanzlers Willy Brandt in den 1970er Jahren zu formulieren. Ihr Ziel war es, eine ökonomische und "humanitäre" Abhängigkeit des Nordens von Südkorea als Mittel zur Vorbereitung der Wiedervereinigung zu schaffen. Sobald die beiden koreanischen Staaten sich gegenseitig diplomatisch anerkannt hatten, wurden sie beide im September 1991 Mitglieder der Vereinten Nationen. Drei Monate später unterzeichneten der Norden und der Süden ein Abkommen über "Wiederversöhnung, Nicht-Aggression, Handel und Zusammenarbeit". Wenngleich noch kein Friedensvertrag, beendete dieses Abkommen offiziell den Kriegszustand zwischen den beiden Koreas. Wie die südkoreanische Regierung damals betonte, wurde der Friedensvertrag, zu dem sie aufgerufen hatte, von der Weigerung der Vereinigten Staaten unterbunden, Nordkorea diplomatisch anzuerkennen. Diese Haltung Washingtons unterminierte die "Sonnenschein"-Politik, so dass der neue Präsident, Kim Young Sam, mit der Unterstützung des US-Präsidenten Bill Clinton zur Politik der aggressiven Eindämmung des Nordens zurückkehrte. Diese Politik des Letztgenannten nahm sich zum Vorbild der so genannten Kennan-Doktrin, die im Verlauf des Kalten Krieges von den USA gegen die UdSSR entwickelt wurde. Sie besteht aus der militärischen Umzingelung und ökonomischen Strangulierung des Feindes, um dessen Regime in die Knie zu zwingen. 1994 zog US-Präsident Clinton als Reaktion auf die nordkoreanischen Fortschritte bei der Entwicklung von Atomwaffen einen Präventivschlag gegen die Atomkraftwerke des Regimes in Betracht: Trotz des Verzichts auf Atomwaffen durch Nordkorea im Genfer Rahmenabkommen im Herbst 1994 verhärteten die USA ihre Haltung gegenüber Nordkorea. Die abermalige Verschärfung des innerkoreanischen Konflikts, die daraus resultierte, trug sicherlich mit zum Ausmaß der Hungersnot bei, die Nordkorea zwischen 1995 und 1998 heimsuchte. Diese Katastrophe wiederum wurde von den "Sonnenschein"-Politikern genutzt, aufs Neue nach der Macht zu greifen.
Der Gründer des Giganten Hyundai Chung Ju Yung hat, so heißt es, die Politik der ökonomischen Strangulierung, die die Seouler Regierung praktizierte, 1998 in Frage gestellt, indem er dem Norden eintausend Kühe spendete. Anfang 2000 traf Kim Dae-jung, der prominenteste Befürworter der "Sonnenschein"-Politik, der auf dieser Grundlage die Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte, seinen nordkoreanischen Gegenpart Kim Jong Il (dem Vater vom Kim Jong-un). Dabei musste das Sträuben des Nordens, sich an diesem "historischen Gipfel" zu beteiligen, mithilfe einer Zahlung von 186 Millionen Dollar überwunden werden, die vom Hyundai-Konzern gestellt wurde - ein Deal, der mit der Hilfe der Spitze des südkoreanischen Geheimdienstes abgeschlossen wurde. Dem folgte 2004 ein wichtiges wirtschaftliches Projekt: die Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone in Kaesong nach dem chinesischen Modell, wo südkoreanische Unternehmen billige nordkoreanische Arbeitskräfte einstellen und ausbeuten konnten. Für seine "Sonnenschein"-Politik wurde Kim Dae-jung mit dem Friedensnobelpreis belohnt. Aber sie trug ihm und seinem Nachfolger Roh Moo-hyun auch die Opposition ihrer südkoreanischen Rivalen und der Vereinigten Staaten ein.
Nordkorea war über die triumphale Rückkehr der "Sonnenschein"-Politiker im Süden aufgebracht. Um zu begreifen, warum, muss man einen Blick darauf werfen, was in Deutschland geschah. Dort wurde das stalinistisch beherrschte Ostdeutschland 1990 ganz und gar geschluckt. In solch einer Lage würden die nordkoreanischen Stalinisten nicht nur ihre Macht verlieren, wie es in Ostberlin geschah, sondern auch ihr Leben. Die konzilianteren Töne aus dem Süden konnte die Ängste der Stalinisten in Pjöngjang, dass dies der Anfang vom Ende Nordkoreas sein könnte, nicht zerstreuen. Die Hoffnung der "Sonnenschein"-Politiker, dass das Regime im Norden ihre Politik der "Wandlung durch Zusammenarbeit" unterstützen würde, schien zunichte gemacht worden zu sein. Auch erhielt die "Sonnenschein"-Politik keinerlei Rückendeckung aus Washington.
Nach dem Intermezzo der ihres Amtes enthobenen Park Geun-hye, die für einen eher konfrontativen Kurs gegenüber dem Norden gestanden hatte, übernahm 2017 Moon die Regierungsgeschäfte.[6] Moon kam als unerschütterlicher Vertreter der "Sonnenschein"-Doktrin, die eher auf Dialog und Kooperation denn auf Konfrontation mit dem Norden setzt, an die Macht. Er war angeblich empört über die neue Eskalation zwischen Nordkorea und den Vereinigten Staaten. Er stellte zumindest anfangs die Entscheidung von Donald Trump (die dieser offensichtlich ohne Konsultation der Moon-Regierung traf) in Frage, das amerikanische THAAD-Raketenabwehrsystem in Südkorea aufzustellen, ein Schritt, der bereits unter Park Geun-hye, der des Amtes enthobenen Präsidentin, geplant worden war. Statt sich auf die Seite von Donald Trump im jüngsten Konflikt zu stellen, rief Seoul anfangs zur Mäßigung auf beiden Seiten auf. Doch nach den jüngsten Raketentests und Drohungen bat Moon plötzlich um die Aufstellung von US-Atomwaffen und peitschte die Installierung dieses Raketensystems in Südkorea durch. Zusätzlich soll die Reichweite südkoreanischer Raketen (bis jetzt auf 800 km Reichweite beschränkt) und ihre Trägerkapazität von 500 kg deutlich erhöht werden. Es ist zu früh, den Schluss zu ziehen, dass all dies eine unumkehrbare Kehrtwende der "Sonnenschein"-Politik bedeutet, aber all dies setzt sie mit Sicherheit aufs Spiel.
In all diesen Ländern versucht die herrschende Klasse, die Arbeiterklasse auf ein nationalistisches Terrain zu ziehen. Doch die Arbeiterklasse darf sich nicht in diese Falle locken lassen. Richtig, die Kampfbereitschaft und das Bewusstsein der Arbeiterklasse in Nordkorea sind schwer einzuschätzen. Angesichts der täglichen Überwachung und des Terrors müsste der Widerstand massenhaft sein und sofort den Staat und seinen Militär- und Polizeiapparat konfrontieren. Dies erscheint im Moment als unwahrscheinlich. Darüber hinaus werden die Auswirkungen der UN-Sanktionen das nordkoreanische Regime nicht die Luft abschneiden; sie werden vor allem die Arbeiterklasse treffen. Jedes Mal, wenn ihre Herrscher erfolgreiche Raketentests verkünden, wissen die Arbeiter_innen und Bauern /Bäuerinnen, dass neue Sanktionen im Anmarsch sind, für die sie die Zeche zahlen müssen. Und sie wissen, dass ihre Herrscher sich einen Dreck um die Gefahren einer Hungersnot scheren.
Umso mehr Gewicht liegt daher auf den Schultern der Arbeiterklasse in Südkorea und China. Obwohl jahrzehntelange "antikommunistische Kampagnen" den Blick vieler Arbeiterinnen auf den Kommunismus verstellt haben, haben sich südkoreanische und chinesische Arbeiter_innen in den letzten Jahrzehnten an vielen militanten und massenhaften Kämpfen beteiligt, was ein Anzeichen dafür ist, dass sie nicht gewillt sind, sich selbst in einem imperialistischen Krieg für ihre Ausbeuter zu opfern. Und wie groß auch immer der Widerstand der Arbeiterklasse ist, um den Kriegskurs zu konfrontieren, es ist wichtig, dass es innerhalb der Klasse eine Stimme gibt, die das älteste Prinzip und Motto der Arbeiterklasse vertritt - "Arbeiter_innen haben kein Vaterland". Daher unterstützen wir das internationalistische Flugblatt, das die Genossen der koreanischen Gruppe Internationale Kommunistische Perspektive geschrieben haben und das wir hier veröffentlichen.
Wir haben einige Kritik an dieser Stellungnahme, insbesondere an ihrem Fokus auf die Aufstellung von THAAD, was der Idee Auftrieb verleihen könnte, dass Ein-Punkt-Kampagnen gleichwertig wie der Arbeiterkampf seien, um ihre Interessen gegen die Erfordernisse der Kriegsmaschinerie zu verteidigen. Die Arbeiterklasse kann ihr Bewusstsein nicht durch die Agitation gegen diese oder jene Waffe weiterentwickeln. Die Aufgabe der Revolutionäre ist es, die Sackgasse des gesamten Systems zu enthüllen und sich an den Kämpfen für Klassenforderungen zu beteiligen, die die Illusionen über eine "nationale Einheit" auseinandernehmen und eine echte Solidarität mit Arbeiter_innen in anderen Ländern entwickeln können. Jedoch sollten unterschiedliche Ansichten unter Internationalisten debattiert werden und sie nicht daran hindern, sich zusammenzuschließen, um ihre gemeinsam geteilten Prinzipien zu verteidigen. Wir möchten daran erinnern, dass Lenin und Rosa Luxemburg nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zusammen gegen den imperialistischen Konflikt kämpften, aber hitzig über die nationale Frage debattierten. Wir stehen also in Solidarität mit den Genossen der IKP und all jenen, die für einen echten Internationalismus in dieser Region kämpfen.
Internationale Kommunistische Strömung
18.9.2017
[1]Die Arbeiter_innen erhalten zwischen 120-150 Pfund und arbeiten wie Sklaven mit nur einem oder zwei freien Tagen im Monat.
[2]Siehe "Thesen zur ökonomischen und politischen Krise in der UdSSR und den osteuropäischen Ländern"; /content/871/thesen-zur-oekonomischen-und-politischen-krise-der-udssr-und-den-osteuropaeischen [45]
[3]Die Liste der Titel der Führer ist endlos; siehe [14].
[4] Der US-Außenminister Powell und der britische Premierminister Blair warnten beide davor, dass Atomwaffen bereits für Saddam Hussein verfügbar waren; wie sich herausstellte, waren dies "Fake News" und ein Vorwand für die Invasion des Irak 2003.
[6]Die Gründe für die Amtsenthebung von Park Geun-hye waren vielfältiger Art: Einerseits gab es den Machtkampf zwischen den "Sonnenschein"-Politikern und den "Konfrontationisten", und wir können davon ausgehen, dass Erstere einige Fäden in der großen Welle von Protesten gegen Park Geun-Hye zogen. Gleichzeitig trug auch die Wut in der Bevölkerung über das große Ausmaß der Korruption zu ihrem Sturz bei. Jedenfalls war all dies benutzt worden, um das Ansehen der Demokratie zu steigern.
Links
[1] https://en.internationalism.org/icconline/201510/13503/communist-league-tampa-and-question-party
[2] https://en.internationalism.org/icconline/201604/13893/once-again-party-and-its-relation-class
[3] https://libcom.org/forums/organise/communist-electoral-strategy-22082016
[4] https://en.internationalism.org/internationalreview/199701/1619/revolutionary-perspective-obscured-parliamentary-illusions
[5] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/pannekoek/1920/xx/weltrevolution.htm
[6] https://www.sinistra.net/lib/upt/kompro/cipo/cipobfibud.html
[7] https://de.internationalism.org/tag/geographisch/vereinigte-staaten
[8] https://de.internationalism.org/tag/6/1295/parlamentarismusantiparlamentarismus
[9] https://de.internationalism.org/tag/politische-stromungen-und-verweise/von-der-kommunistischen-linken-beeinflusst
[10] https://de.internationalism.org/tag/2/31/der-parlamentarische-zirkus
[11] https://de.internationalism.org/content/1366/terror-terrorismus-und-klassengewalt
[12] https://de.internationalism.org/Welt154_patricktort
[13] https://en.internationalism.org/icconline/201203/4739/reading-notes-science-and-marxism
[14] https://en.wikipedia.org/wiki/The_Autobiography_of_Charles_Darwin
[15] http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_605.htm#Kap_22_5
[16] http://www.zeno.org/Philosophie/M/Marx,+Karl/Differenz+der+demokritischen+und+epikureischen+Naturphilosophie
[17] https://en.internationalism.org/ir/140/immigration
[18] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/rassismus
[19] https://de.internationalism.org/tag/6/1298/sexismus
[20] https://de.internationalism.org/tag/6/1299/altruismus
[21] https://de.internationalism.org/tag/6/1300/egoismus
[22] https://de.internationalism.org/tag/6/1301/natur-und-kultur
[23] https://de.internationalism.org/tag/6/1302/die-natur-des-menschen
[24] https://de.internationalism.org/tag/leute/darwin
[25] https://de.internationalism.org/tag/leute/patrick-tort
[26] https://de.internationalism.org/italien69teil1
[27] https://de.internationalism.org/content/2118/1969-heisser-herbst-italien-2-teil
[28] https://en.internationalism.org/node/2649
[29] https://de.internationalism.org/content/2685/die-repression-zeigt-das-wahre-gesicht-der-demokratie
[30] https://en.internationalism.org/icconline/201112/4622/uk-riots-and-class-struggle-reflections-riots-august-2011
[31] https://en.internationalism.org/internationalismusa/200509/1458/hurricane-katrina-capitalist-made-crisis
[32] https://en.internationalism.org/ir/134/food-riots
[33] https://en.internationalism.org/worldrevolution/201201/4653/reflections-riots-august-2011-part-2
[34] https://en.internationalism.org/node/3306
[35] https://en.internationalism.org/node/2510
[36] https://fr.internationalism.org/icconline/2009/debat_sur_la_violence_2.html
[37] https://de.internationalism.org/content/876/thesen-ueber-die-studentenbewegung-frankreich-im-fruehling-2006
[38] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/gewaltfrage
[39] https://de.internationalism.org/tag/6/1310/ultras
[40] https://de.internationalism.org/tag/6/1311/hooligans
[41] https://de.internationalism.org/tag/2/35/teilbereichsk-mpfe
[42] https://de.internationalism.org/content/2528/2015-streiks-deutschland-geschwaechte-arbeiterklasse-aber-mit-bedeutenden-fragen-fuer
[43] https://de.internationalism.org/tag/geographisch/osterreich
[44] https://de.internationalism.org/tag/6/1317/parlamentarischer-zirkus
[45] https://de.internationalism.org/content/871/thesen-zur-oekonomischen-und-politischen-krise-der-udssr-und-den-osteuropaeischen
[46] https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Kim_Jong-il%27s_titles
[47] https://de.internationalism.org/tag/6/1296/usa
[48] https://de.internationalism.org/tag/6/1315/korea
[49] https://de.internationalism.org/tag/6/1316/konflikte
[50] https://de.internationalism.org/tag/3/43/imperialismus