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Internationale Revue - 2025

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Trump 2: Neue Schritte ins kapitalistische Chaos

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In den jüngsten Artikeln zu den ersten Tagen von Donald Trumps zweiter Präsidentschaft in den USA haben wir bereits erklärt, dass das gefährliche Chaos und die Zerwürfnisse, die er seit seinem Einzug ins Weiße Haus über die Welt gebracht hat, keine von seiner Person abhängige Ausnahme in einem ansonsten stabilen System ist, sondern Ausdruck des Zusammenbruchs des kapitalistischen Systems als Ganzes und seiner mächtigsten Nation. Das unberechenbare Gangstertum der Trump-Administration ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Ordnung in Trümmern. Darüber hinaus ist die liberal-demokratische Fraktion der US-Bourgeoisie, die sich mit aller Kraft gegen die neue Präsidentschaft wehrt, ebenso Teil dieses Zusammenbruchs und in keiner Weise ein „kleineres Übel“ oder eine Alternative zur populistischen MAGA-Bewegung (Make America Great Again), die von der Arbeiterklasse unterstützt werden sollte.

Welche politische Form der Kapitalismus heute auch immer annimmt, auf der Tagesordnung stehen nur Krieg, Krise und Verarmung der Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse muss für ihre Klasseninteressen gegen alle Teile der herrschenden Klasse kämpfen. Das Wiederaufleben des Klassenkampfs zur Verteidigung der Löhne und Arbeitsbedingungen, wie es kürzlich bei Boeing und in den Docks an der Ostküste der USA geschah, sowie das Wiederaufleben der Kampfbereitschaft in Europa sind das einzige Versprechen für die Zukunft.

In diesem Artikel wollen wir näher darlegen, warum und wie Trump für eine zweite Amtszeit gewählt wurde, warum er extremer und gefährlicher ist als in der ersten Amtszeit, um das selbstmörderische Schicksal der bürgerlichen Ordnung, die er kennzeichnet, und die proletarische Alternative dazu deutlicher aufzuzeigen.

Trumps erste Amtszeit, eine Zusammenfassung

Ende 2022, in der Mitte von Bidens Amtszeit im Weißen Haus, zog die IKS diese Bilanz der ersten Trump-Präsidentschaft:

  • „Der Ausbruch des Populismus im mächtigsten Land der Welt, der durch den Triumph von Donald Trump im Jahr 2016 gekrönt wurde, brachte vier Jahre widersprüchlicher und erratischer Entscheidungen, eine Verunglimpfung internationaler Institutionen und Abkommen, die das globale Chaos verstärkte und zu einer Schwächung und Diskreditierung der amerikanischen Macht führte und ihren historischen Niedergang weiter beschleunigte.“

Die Präsidentschaft Bidens, die auf Trumps erste Amtszeit folgte, war nicht in der Lage, diese sich verschlechternde Situation umzukehren:

  • „...egal wie sehr die Biden-Mannschaft es in ihren Reden verkündet, es ist keine Frage der Wünsche, es sind die Charakteristika dieser letzten Phase des Kapitalismus, die die Tendenzen bestimmen, denen er folgen muss und die unaufhaltsam in den Abgrund führen, wenn das Proletariat nicht durch eine kommunistische Weltrevolution ein Ende setzt.“[1]

Das Leitmotiv von Trumps erster Amtszeit und seiner Wahlkampagne – „America First“ – hat sich in seiner zweiten Amtszeit fortgesetzt. Dieser Leitspruch bedeutet, dass Amerika nur im eigenen nationalen Interesse und zum Nachteil anderer, sowohl von „Verbündeten“ als auch von Feinden, mit wirtschaftlicher, politischer und militärischer Gewalt handeln soll. In dem Maße, in dem die USA mit anderen Ländern „Deals“ – statt Verträge – abschließen können (die nach der „Philosophie“ hinter diesem Slogan ohnehin jederzeit gebrochen werden können), machen sie ausländischen Regierungen „ein Angebot, das sie nicht ablehnen können“ - gemäß der berühmten Zeile aus dem Gangsterfilm Der Pate. Wie Marco Rubio, der von Trump zum US-Außenminister ernannt wurde, den ausländischen Regierungen offenbar mitteilte, werden die USA mit ihnen nicht mehr über globale Interessen und die globale Ordnung sprechen, sondern nur noch über ihre eigenen Interessen. „Might is right" ist jedoch keine Parole für die amerikanische Führung.

America First war die Erkenntnis eines Teils der US-Bourgeoisie, dass die bis dahin verfolgte Außenpolitik, sich als Weltpolizist aufzuspielen, um nach dem Zusammenbruch des russischen Blocks 1989 eine neue Weltordnung zu schaffen, bis 2016 nur zu einer Reihe kostspieliger, unpopulärer und blutiger Misserfolge geführt hatte.

Die neue Politik spiegelte die endgültige Einsicht wider, dass die nach 1945 geschaffene Pax Americana[2], die bis zum Fall der Berliner Mauer die Welthegemonie der USA garantierte, in keiner Form wiederhergestellt werden konnte. Schlimmer noch, nach Trumps Interpretation bedeutete die Fortsetzung der Pax Americana – das heisst die Abhängigkeit der Verbündeten vom wirtschaftlichen und militärischen Schutz der Vereinigten Staaten -, dass die USA nun von diesen ehemaligen Mitgliedern ihres imperialistischen Blocks „ungerechtfertigt“ ausgenutzt wurden.

Die Hintergründe von Trumps erster Amtszeit

Die Operation „Wüstensturm“ im Jahr 1990 war der massive Einsatz militärischer Macht durch die USA am Persischen Golf mit dem Ziel, der zunehmenden weltweiten Unordnung in der Geopolitik nach dem Zerfall der UdSSR entgegenzuwirken. Er richtete sich insbesondere gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen ihrer ehemaligen Hauptverbündeten in Europa.

Doch nur wenige Wochen nach diesem grausamen Massaker brach im ehemaligen Jugoslawien ein neuer blutiger Konflikt aus. Deutschland erkannte im Alleingang die neue Republik Slowenien an. Erst mit der Bombardierung Belgrads und dem Dayton-Abkommen von 1995 gelang es den USA, ihre Autorität in dieser Situation durchzusetzen. Der Wüstensturm hatte die zentrifugalen Tendenzen des Imperialismus nicht abgeschwächt, sondern eher verstärkt. In der Folge entwickelte sich der islamische Dschihadismus, Israel begann, den von den USA mühsam eingefädelten palästinensischen Friedensprozess zu sabotieren, und der Völkermord in Ruanda hinterließ eine Million Tote, wobei die mitschuldigen westlichen Mächte für ihre unterschiedlichen Interessen handelten. Die 1990er-Jahre waren trotz der Bemühungen der USA kein Beispiel für die Schaffung einer neuen Weltordnung, sondern für die Betonung der Eigeninteressen in der Außenpolitik und damit für die Schwächung der Führungsrolle der USA.

Die US-Außenpolitik der „Neo-Konservativen“ unter George W. Bush, der im Jahr 2000 Präsident wurde, führte zu noch katastrophaleren Misserfolgen. Nach 2001 wurde mit der US-Invasion in Afghanistan und Irak im Namen des „Kriegs gegen den Terror“ eine weitere massive Militäroperation im Nahen Osten gestartet. Doch bis 2011, als sich die USA aus dem Irak zurückzogen, war keines der angestrebten Ziele erreicht. Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen – ein erfundener Vorwand für die Invasion – erwiesen sich als nicht existent. Demokratie und Frieden wurden im Irak nicht anstelle der Diktatur errichtet. Der Terrorismus wurde nicht zurückgedrängt, im Gegenteil: Al-Qaida erhielt einen massiven Auftrieb, der in Westeuropa blutige Spuren hinterließ. In den USA selbst waren die militärischen Abenteuer, die sowohl Geld als auch Blut gekostet hatten, unpopulär. Vor allem gelang es dem Krieg gegen den Terror nicht, die europäischen und anderen imperialistischen Mächte auf eine Linie mit den USA zu bringen. Frankreich und Deutschland haben sich, anders als 1990, nicht an den US-Invasionen beteiligt.

Aber auch die Rückkehr zum „Multilateralismus“ anstelle des „Unilateralismus“ der Neo-Konservativen während der Präsidentschaft von Barack Obama (2009–2016) konnte die Führungsrolle der USA in der Welt nicht wiederherstellen. In dieser Zeit explodierten Chinas imperialistische Ambitionen, wie die geostrategische Entwicklung der Neuen Seidenstraße nach 2013 zeigt. Frankreich und Großbritannien verfolgten ihre eigenen imperialistischen Abenteuer in Libyen, während Russland und der Iran den Halbrückzug der USA aus den syrischen Operationen ausnutzten. Russland besetzte die Krim und begann 2014 mit seiner Aggression in der ukrainischen Donbass-Region.

Nach dem Scheitern des monströsen Gemetzels der Neo-Konservativen kam das diplomatische Scheitern von Obamas Politik der „Zusammenarbeit“.

Wie konnten die Schwierigkeiten der USA, ihre Hegemonie aufrechtzuerhalten, noch schlimmer werden? Die Antwort kam in Form von Präsident Donald Trump.

Die Folgen von Trumps erster Präsidentschaft

In seiner ersten Präsidentschaft begann Trumps „America First“-Politik, den Ruf der Vereinigten Staaten als verlässlicher Verbündeter und als Weltführer mit verlässlicher Politik und moralischem Kompass zu zerstören. Außerdem traten während seiner Amtszeit innerhalb der amerikanischen Führungsschicht ernsthafte Differenzen über Trumps vandalische Außenpolitik auf. In der US-Bourgeoisie traten entscheidende Meinungsverschiedenheiten darüber auf, welche imperialistische Macht ein Verbündeter und wer ein Feind im Kampf der USA um ihre Weltherrschaft ist.

Trump kündigte den transpazifischen Pakt, das Pariser Abkommen zum Klimawandel und den Atomvertrag mit dem Iran. Die USA wurden zum wirtschaftlichen und handelspolitischen Ausreißer, d.h. Einzelgänger in der G7 und der G20 und isolierten sich damit in diesen Fragen von ihren wichtigsten Verbündeten. Gleichzeitig führte die Weigerung der USA, sich im Nahen Osten direkt zu engagieren, zu einem freien Spiel der regionalen Imperialismen in dieser Region: Der Iran, Saudi-Arabien, die Türkei, Israel und Russland sowie Katar versuchten alle einzeln, vom militärischen Vakuum und Chaos zu profitieren.

Trumps Diplomatie hat diese Spannungen eher noch verschärft, z. B. durch die Verlegung der US-Botschaft in Israel in die umstrittene Stadt Jerusalem, was seine westlichen Verbündeten verärgerte aber auch die arabischen Führer verärgerte, die die USA immer noch als „ehrlichen Makler“ in der Region betrachteten.

Mit der Anerkennung Chinas als dem wahrscheinlichsten Anwärter auf die Vormachtstellung der USA stimmte Trumps Regierung jedoch mit der Auffassung des übrigen Washington überein. Der bereits von Obama angekündigte „Neuorientierung“ nach Asien sollte verstärkt werden, der globale Krieg gegen den Terror offiziell ausgesetzt und eine neue Ära des „Wettbewerbs der Großmächte“ eingeläutet werden, wie es in der nationalen Verteidigungsstrategie vom Februar 2018 heißt. Ein umfangreiches, jahrzehntelanges Programm zur Aktualisierung des US-Atomwaffenarsenals und zur „Beherrschung des Weltraums“ wurde angekündigt.

In Bezug auf die Notwendigkeit, Russlands Ambitionen und militärische Fähigkeiten zu reduzieren (und sein Potenzial zu schwächen, Chinas eigene globale Manöver zu unterstützen), ist jedoch eine Diskrepanz zwischen Trumps zweideutiger Politik gegenüber Moskau und derjenigen der rivalisierenden Fraktion der amerikanischen Bourgeoisie entstanden, die Russland wegen seiner Bedrohung der amerikanischen Hegemonie in Westeuropa immer als historischen Feind betrachtet hat.

Gleichzeitig zeichnete sich im Zusammenhang mit der Frage der Russlandpolitik eine andere Haltung gegenüber der Bedeutung der NATO ab, dem ehemaligen Kernbündnis des amerikanischen Blocks, insbesondere in Bezug auf die im Vertrag verankerte Verpflichtung aller NATO-Mitglieder, jedem anderen Mitglied zu Hilfe zu kommen, das militärisch angegriffen wird (d. h. die USA würden sie vor einer russischen Aggression schützen). Trump hat diese entscheidende Zusicherung in Frage gestellt. Die besorgniserregenden Folgen, die dies für die Aufgabe der Verbündeten der USA in Westeuropa hatte, blieben in den Regierenden in London, Paris und Berlin nicht verborgen.

Diese außenpolitischen Differenzen traten während der Biden-Administration, die auf die erste Trump-Präsidentschaft folgte, noch deutlicher zutage.

Das Biden-Zwischenspiel: 2020-2024

Die Ablösung Trumps durch Biden im Weißen Haus sollte eine Rückkehr zur Normalität in der US-Politik einläuten, und zwar in dem Sinne, dass versucht wurde, alte Allianzen neu zu schmieden und Verträge mit anderen Ländern zu schließen, um die Schäden zu beheben, die durch die rücksichtslosen Abenteuer Trumps in seiner ersten Amtszeit entstanden waren. Biden erklärte: „Amerika ist zurück“. Die Ankündigung eines historischen Sicherheitspakts zwischen den USA, Großbritannien und Australien im asiatisch-pazifischen Raum im Jahr 2021 und die Stärkung des Vierer-Sicherheitsdialogs zwischen den USA, Indien, Japan und Australien signalisierten unter anderem das Bestreben, einen Cordon-Sanitaire (d.h. einen Sperrring) gegen den Aufstieg des chinesischen Imperialismus im Fernen Osten zu schaffen.

Die neue Regierung rief zu einem globalen demokratischen Kreuzzug gegen „revisionistische“ und „autokratische“ Mächte – Iran, Russland, Nordkorea und insbesondere China – auf.

Die russische Invasion in der Ukraine im Jahr 2022 bot Biden die Möglichkeit, den widerspenstigen NATO-Mächten in Europa erneut die militärische Autorität der USA aufzuzwingen und sie, insbesondere Deutschland, zu zwingen, ihre Verteidigungshaushalte aufzustocken und den bewaffneten Widerstand der Ukraine zu unterstützen. Sie hat auch dazu beigetragen, die militärische und wirtschaftliche Macht Russlands in einem Zermürbungskrieg zu erschöpfen und die weltweite militärische Überlegenheit der USA in Bezug auf Waffen und Logistik, die sie an das ukrainische Militär geliefert haben, zu demonstrieren. Vor allem aber haben die USA, indem sie dazu beigetragen haben, einen Großteil der Ukraine in rauchende Ruinen zu verwandeln, China vor Augen geführt, wie gefährlich es ist, in Russland einen potenziellen Verbündeten zu sehen, und welche gefährlichen Folgen sein eigener Wunsch hat, Gebiete wie Taiwan zu annektieren.

Es war jedoch für die Welt offensichtlich, dass die US-Bourgeoisie nicht geeint hinter Bidens Russland-Politik stand, da die Republikanische Partei im Kongress, die immer noch unter der Fuchtel von Trump steht, deutlich machte, dass sie nicht bereit ist, die notwendigen Milliarden für die ukrainischen Kriegsanstrengungen bereitzustellen.

War die Unterstützung für die Ukraine zumindest kurzfristig ein Erfolg für die Wiedererlangung der Führungsrolle durch den amerikanischen Imperialismus, so wurde dieses Projekt durch die Beteiligung an Israels Krieg in Gaza nach dem Oktober 2023 getrübt. Die USA gerieten in die Zwickmühle zwischen der Notwendigkeit, ihren wichtigsten Verbündeten Israel im Nahen Osten angesichts der iranischen Terroristenakte zu unterstützen, und der rücksichtslosen Entschlossenheit Israels, sein eigenes Spiel zu spielen und eine friedliche Lösung der Palästinenserfrage abzulehnen, wodurch das militärische Chaos in der Region noch vergrößert wurde.

Das Abschlachten Zehntausender wehrloser Menschen im Gazastreifen mit Hilfe von US-Munition und Geld widerlegte das Selbstbild der moralischen Rechtschaffenheit der USA, das Biden bei der Verteidigung der Ukraine vermittelte.

Der Sturz des Assad-Regimes in Syrien und die Niederlage der Hisbollah im Libanon haben dem iranischen Regime, dem erklärten Feind der USA, zwar einen schweren Schlag versetzt, doch hat dies die Instabilität in der Region nicht verringert, nicht zuletzt in Syrien selbst. Im Gegenteil, die USA mussten weiterhin einen beträchtlichen Teil ihrer Marine ins östliche Mittelmeer und den Persischen Golf verlegen, ihre Kontingente im Irak und in Syrien verstärken und sich mit dem heftigen Widerstand der Türkei und der arabischen Länder gegen die US-Politik auseinandersetzen.

Vor allem die Gefahr weiterer militärischer Konvulsionen im Nahen Osten hat dazu geführt, dass die Ausrichtung der USA auf Asien, ihr Hauptaugenmerk, unterbrochen wurde.

Trumps zweite Amtszeit

Wir haben beschrieben, wie die Probleme bei der Bewältigung des imperialistischen Chaos, das sich nach 1989 entwickelt hat, zu Spaltungen innerhalb der amerikanischen herrschenden Klasse über die zu verfolgende Politik geführt haben, und haben die Entwicklung der populistischen Politik von „America First“ gegenüber einem rationaleren Kurs aufgezeigt, der versucht, die Bündnisse der Vergangenheit zu bewahren. Die Wiederwahl Trumps nach dem Debakel seiner ersten Präsidentschaft ist ein Zeichen dafür, dass die Bourgeoisie diese internen Spaltungen nicht in den Griff bekommen hat und dass sie nun die Fähigkeit der USA, eine kohärente und konsistente Außenpolitik zu verfolgen, wieder ernsthaft beeinträchtigen, sogar so sehr, dass sie ihr Hauptanliegen, die Position Chinas zu blockieren oder ihr zuvorzukommen, gefährden.

Zur gefährlichen Ungewissheit dieses Bumerang-Effekts des politischen Chaos auf die imperialistische Politik kommt hinzu, dass sich der Handlungsspielraum der USA auf der imperialistischen Weltbühne seit Trumps erster Amtszeit deutlich verringert hat und seine zweite Amtszeit in die Zeit fällt, in der zwei große Konflikte in Osteuropa und im Nahen Osten toben.

Wir werden hier nicht auf die tieferen Ursachen der politischen Verwirrung innerhalb der amerikanischen Bourgeoisie und ihres Staates eingehen, die Trumps erste Handlungen auf dramatische Weise demonstriert haben. Dies wird in einem weiteren Artikel erläutert werden.

Aber in weniger als einem Monat hat Trump angedeutet, dass sich die Tendenz seiner „America First“-Politik, die Pax Americana, die die Grundlage für die Weltherrschaft der USA nach 1945 war, aufzulösen, viel schneller und tiefgreifender beschleunigen wird als in seiner ersten Amtszeit, nicht zuletzt deshalb, weil der neue Präsident darauf bedacht ist, die Absicherungen zu überwinden, die damals seinen Handlungsspielraum in Washington begrenzten, indem er seine Gefolgsleute, ob kompetent oder nicht, zu Leitern von Staatsämtern ernannt hat.

Das Hauptanliegen der US-Bourgeoisie nach 1989, das Ende ihrer Weltherrschaft im allgemeinen imperialistischen Handgemenge des jeder-für-sich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zu verhindern, scheiterte. Das „Alle gegen Alle“ ist faktisch zur „Strategie“ der neuen Regierung geworden. Eine Strategie, die von einer neuen, weitsichtigeren Regierung schwerer rückgängig zu machen sein wird, wie es schon nach Trumps erster Amtszeit der Fall war.

Das Ziel, die Kontrolle über Panama zurückzuerlangen, der Vorschlag, Grönland zu „kaufen“, der barbarische Vorschlag, den Gazastreifen ethnisch von den Palästinensern zu säubern und diesen in eine Riviera zu verwandeln - all diese ersten Äußerungen des neuen Präsidenten richten sich sowohl gegen seine ehemaligen Verbündeten als auch gegen seine strategischen Feinde. Der Vorschlag für den Gazastreifen, der dem Verbündeten Israel bei der Beseitigung einer Zweistaatenlösung für Palästina zugutekäme, würde nur den Widerstand anderer arabischer Mächte sowie der Türkei und des Irans schüren. Großbritannien, Frankreich und Deutschland haben sich bereits gegen Trumps Vorschlag für Gaza ausgesprochen.

Aber es ist wahrscheinlich, dass die USA unter Trump der Ukraine einen Friedensvertrag aufzwingen werden, der wahrscheinlich 20 % ihres Territoriums an Russland abtreten würde, wogegen sich die westeuropäischen Mächte bereits vehement wehren, und der das NATO-Bündnis, die bisherige Achse der internationalen Vorherrschaft der USA, weiter zerschlagen wird. Der neue Präsident fordert, dass die stagnierenden europäischen Volkswirtschaften der NATO ihre Militärausgaben mehr als verdoppeln sollen, um sich ohne die USA verteidigen zu können.

Ein großer Teil der „Soft Power“ des amerikanischen Imperialismus, d. h. seines moralischen Hegemonieanspruchs, wird fast auf einen Schlag zunichte gemacht: USAID, die weltweit größte Hilfsorganisation für den „globalen Süden“, wurde von Elon Musk „dem Holzhacker“ schon wesentlich zerschlagen. Die USA haben sich aus der Weltgesundheitsorganisation zurückgezogen und sogar ein Verfahren gegen den Internationalen Strafgerichtshof wegen dessen Voreingenommenheit gegenüber den USA und Israel vorgeschlagen.

Der von der neuen US-Regierung eingefädelte protektionistische Handelskrieg würde auch der verbleibenden wirtschaftlichen Stabilität des internationalen Kapitalismus, die die militärische Macht der USA untermauert hat, einen massiven Schlag versetzen und wird zweifellos auf die US-Wirtschaft selbst in Form einer noch höheren Inflation, von Finanzkrisen und der Verringerung des eigenen Handels zurückschlagen. Die massenhafte Abschiebung billiger eingewanderter Arbeitskräfte aus den Vereinigten Staaten hätte selbstzerstörerische negative Folgen für die Wirtschaft und die soziale Stabilität der USA.

Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels (23. Februar 2025) ist nicht absehbar, ob die Lawine von Vorschlägen und Entscheidungen des neuen Präsidenten in Kraft treten wird oder ob es sich dabei um ausgefallene Verhandlungsinstrumente handelt, die vielleicht zu vorübergehenden Vereinbarungen oder geringeren Zugeständnissen führen werden. Aber die Richtung der neuen Politik ist klar. Schon die Ungewissheit der Maßnahmen hat zur Folge, dass frühere und künftige potenzielle Verbündete beunruhigt und verärgert sind und sich gezwungen sehen, selbst zu handeln und anderweitig Unterstützung zu suchen. Dies allein wird den Hauptfeinden der USA mehr Möglichkeiten eröffnen. Das vorgeschlagene Friedensabkommen in der Ukraine kommt Russland bereits zugute. Der merkantilistische Handelskrieg ist ein Geschenk an China, das sich als besserer Wirtschaftspartner positionieren kann als die USA.

Trotz der langfristig selbstzerstörerischen Politik des „America First“ werden die USA die militärische Überlegenheit gegenüber ihrem Hauptfeind China nicht aufgeben, das noch weit davon entfernt ist, den USA direkt und auf Augenhöhe gegenübertreten zu können. Und die neue Außenpolitik ruft bereits starken Widerstand innerhalb der US-Bourgeoisie selbst hervor.

Die Perspektive ist also ein massives Wettrüsten und eine weitere chaotische Verschärfung der imperialistischen Spannungen auf der ganzen Welt, wobei sich die Konflikte zwischen den Großmächten in Richtung der Zentren des Weltkapitalismus verlagern und seine globalen strategischen Punkte weiter anheizen.

Fazit: Trump und die soziale Frage

Donald Trumps MAGA-Bewegung kam an die Macht, indem sie den Wählern mehr Arbeitsplätze, höhere Löhne und Weltfrieden versprach – anstelle der sinkenden Lebensstandards und der „endlosen Kriege“ der Biden-Administration.

Politischer Populismus ist keine Ideologie der Kriegsmobilisierung wie der Faschismus. Tatsächlich beruhen das Wachstum und die Wahlerfolge des politischen Populismus in den letzten zehn Jahren, dessen amerikanischer Ausdruck Trump ist, im Wesentlichen auf dem zunehmenden Versagen der etablierten alten Parteien der liberalen Demokratie, sich in den Regierungen abzuwechseln, um der tiefen Unpopularität des schwindelerregenden Wachstums des Militarismus einerseits und den pauperisierenden Auswirkungen einer unlösbaren Wirtschaftskrise auf die Lebensbedingungen der Masse der Bevölkerung andererseits zu begegnen.

Doch die populistischen Versprechen von „Butter statt Waffen“ wurden und werden zunehmend von der Realität widerlegt und stoßen auf eine Arbeiterklasse, die beginnt, ihre Kampfbereitschaft und Identität wiederzuentdecken.

Die Arbeiterklasse hat im Gegensatz zu den fremdenfeindlichen Ausbrüchen des politischen Populismus kein Land, keine nationalen Interessen und ist tatsächlich die einzige internationale Klasse mit gemeinsamen Interessen über Grenzen und Kontinente hinweg. Ihr Kampf zur Verteidigung ihrer Lebensbedingungen, der heute international angelegt ist – die Kämpfe der Arbeiterklasse in Belgien bestätigen den Klassenwiderstand in allen Ländern –, bildet daher die Grundlage für eine Alternative zur selbstmörderischen Zukunft des Kapitalismus, die auf imperialistischen Konflikten zwischen den Nationen beruht.

In dieser Klassenperspektive muss sich die Arbeiterklasse jedoch auch den anti-populistischen und populistischen Kräften der Bourgeoisie stellen, die eine Rückkehr zur demokratischen Form des Militarismus und der Verelendung vorschlagen. Die Arbeiterklasse darf sich weder in diesen falschen Alternativen verfangen noch den radikaleren Kräften folgen, die behaupten, die liberale Demokratie sei ein kleineres Übel als der Populismus. Stattdessen muss sie auf ihrem eigenen Klassenterrain kämpfen. Die New York Times, das normalerweise nüchterne Sprachrohr der liberalen amerikanischen Bourgeoisie, startete in einer redaktionellen Erklärung vom 8. Februar 2025 den folgenden radikalen Mobilisierungsaufruf an die Bevölkerung zur Verteidigung des bürgerlich-demokratischen Staates gegen den autokratischen Staat Trump:

  • „Lassen Sie sich nicht ablenken. Lassen Sie sich nicht überwältigen. Lassen Sie sich nicht lähmen und in das Chaos hineinziehen, das Präsident Trump und seine Verbündeten absichtlich schaffen: mit der Menge und Geschwindigkeit von Exekutivverordnungen; dem Versuch, die Bundesregierung zu zerschlagen; den performativen Angriffen auf Einwanderer, Transgender und das Konzept der Vielfalt selbst; den Forderungen, dass andere Länder Amerikaner als ihre neuen Oberherren akzeptieren; und dem schwindelerregenden Gefühl, dass das Weiße Haus jederzeit alles tun oder sagen könnte. All dies zielt darauf ab, das Land in Bedrängnis zu halten, damit Präsident Trump sein Streben nach maximaler Exekutivmacht vorantreiben kann, damit niemand die dreiste, schlecht durchdachte und oft illegale Agenda seiner Regierung stoppen kann. Um Himmels willen, schalten Sie nicht ab.“[3]

Dies ist nur eine Bestätigung dafür, dass die gesamte Bourgeoisie ihre eigenen ernsthaften Spaltungen nutzt, um die Arbeiterklasse zu spalten und sie dazu zu bringen, eine Form kapitalistischen Krieges oder einer anderen kapitalistischen Konfrontationslinie gegen eine andere zu wählen, um sie ihre eigenen Klasseninteressen vergessen zu lassen. Die Arbeiterklasse darf nicht in die inneren oder äußeren Kriege der herrschenden Klasse hineingezogen werden, sondern muss für sich selbst kämpfen.

Como 23. Februar 2025

 

 

 

[1] “The superpower in capitalist decadence is now the epicentre of social decomposition” International Review 169, 2023

[2] Die Pax Americana nach dem Zweiten Weltkrieg war nie eine Ära des Friedens, sondern eines nahezu permanenten imperialistischen Krieges. Dieser Begriff bezeichnet vielmehr die relative Stabilität imperialistischer Weltkonflikte mit den USA als größter Macht bei der Vorbereitung zweier Blöcke auf einen Weltkrieg vor 1989.

[3] 2003 wiederholte die New York Times, die für ihre objektive Berichterstattung bekannt ist, dennoch die Lüge, Saddam Hussein habe über Massenvernichtungswaffen verfügt, als Vorwand für die US-Invasion im Irak.

Leute: 

  • Trump [1]

Rubric: 

Folgen des US-amerikanischen Wahlausgangs

Resolution zur internationalen Lage (Mai 2025)

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Vorwort

Diese Resolution wurde Anfang Mai 2025 vom 26. Kongress der IKS verabschiedet. Als solche kann sie nur Ereignisse und Situationen berücksichtigen, die vor diesem Datum stattgefunden haben. Dies gilt natürlich für jede Stellungnahme zur internationalen Lage, aber hier ist es besonders wichtig, darauf hinzuweisen, da wir derzeit mit einer raschen Anhäufung besonders spektakulärer und unvorhersehbarer Ereignisse von großer Bedeutung auf drei Hauptebenen konfrontiert sind: imperialistische Spannungen, die wirtschaftliche Lage des globalen Kapitalismus und das Kräfteverhältnis zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Aufgrund der Art des „Tsunamis“, der derzeit die Welt erschüttert, können einige der in dieser Resolution vertretenen Positionen zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung bereits überholt sein. Deshalb ist es wichtig, dass diese Resolution über die darin erwähnten Fakten hinaus, die durch neue Entwicklungen überschattet werden können, einen Rahmen für das Verständnis der Ursachen, der Bedeutung und der Herausforderungen der Ereignisse liefert, die sich vor unseren Augen abspielen.

Einer der Hauptfaktoren für die aktuellen Umwälzungen ist die Amtseinführung von Donald Trump am 20. Januar 2025, die zu einer spektakulären Trennung zwischen den USA und fast allen europäischen NATO-Mitgliedstaaten geführt hat. Alle „Experten“ und bürgerlichen Politiker sind sich einig, dass die neue internationale Politik der amerikanischen Bourgeoisie, insbesondere im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine, ein bedeutendes Ereignis ist, das das Ende der „Atlantischen Allianz“ und des „amerikanischen Schutzschildes“ markiert und diejenigen, die zuvor unter dem „Schutz“ Washingtons standen, dazu zwingt, ihre Militärstrategie neu zu organisieren und einen hektischen Rüstungswettlauf zu beginnen. Die andere wichtige Entscheidung der Trump-Regierung ist die Auslösung eines Handelskrieges von einer Intensität, wie sie seit fast einem Jahrhundert nicht mehr gesehen wurde. Sehr schnell, insbesondere angesichts der Panikwelle, die die Börsen und Finanzkreise erfasste, war Trump gezwungen, teilweise zurückzurudern, aber seine brutalen und widersprüchlichen Entscheidungen können sich nur negativ auf die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage des globalen Kapitalismus auswirken. Diese beiden grundlegenden Entscheidungen der Trump-Regierung sind ein sehr wichtiger Faktor für die chaotische Entwicklung der globalen Lage. Aber diese Entscheidungen müssen auch und vor allem als Ausdruck einer Reihe tiefgreifender historischer Tendenzen verstanden werden, die derzeit weltweit in der Gesellschaft dominieren. Schon vor dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Sowjetunion (1989–1991) stellte die IKS die Analyse auf, dass der Kapitalismus in eine neue Phase seines Niedergangs eingetreten sei, „die letzte Phase (...), in der der Zerfall zu einem entscheidenden, wenn nicht zum entscheidenden Faktor in der Entwicklung der Gesellschaft wird“. Und die chaotischen Ereignisse der letzten Monate bestätigen diese Realität. Die Wahl Trumps mit ihren katastrophalen Folgen für die amerikanische Bourgeoisie selbst ist ein Paradebeispiel für die wachsende Unfähigkeit der Bourgeoisie, ihr politisches Spiel zu kontrollieren, wie wir es vor 35 Jahren erkannt haben. Ebenso bestätigt die Trennung zwischen den USA und ihren ehemaligen NATO-Verbündeten einen weiteren Aspekt unserer Analyse des Zerfalls: die große Schwierigkeit, wenn nicht gar die Unmöglichkeit, in der gegenwärtigen Periode neue imperialistische Blöcke zu bilden, die eine Voraussetzung für einen neuen Weltkrieg sind. Schließlich hat ein weiterer Aspekt, den wir insbesondere seit unserem 22. Kongress 2017 betont haben, weitere Bestätigung gefunden: nämlich die wachsenden Auswirkungen des Chaos, das zunehmend den politischen Bereich der Bourgeoisie erfasst, auf der wirtschaftlichen Ebene; dies wurde ersichtlich anhand der wirtschaftlichen Umwälzungen, die durch die Entscheidungen des Populisten Trump verursacht wurden.

Im Rahmen unserer Analyse des Zerfalls untersucht diese Resolution daher die Fragen, die in der gegenwärtigen historischen Periode auf dem Spiel stehen. Diese Analyse muss notwendigerweise auch die Konsequenzen der chaotischen Ereignisse, die die Welt insgesamt erschüttern, für den Kampf der Arbeiterklasse berücksichtigen.

Resolution zur internationalen Lage, 26. IKS-Kongress, Mai 2025

1. „So wie der Kapitalismus verschiedene Perioden in seinem historischen Verlauf kennt – Entstehung, Aufstieg, Niedergang –, so beinhaltete im Grunde jede dieser Perioden auch unterschiedliche und voneinander abgegrenzte Phasen. Beispielsweise umfaßte die Aufstiegsphase die nacheinanderfolgenden Phasen des Freihandels, der Aktiengesellschaften, der Monopole, des Finanzkapitals, der kolonialen Eroberungen, der Etablierung des Weltmarkts. Ähnlich hat auch die Dekadenzperiode ihre Geschichte: Imperialismus, Weltkriege, Staatskapitalismus, permanente Krise und heute der Zerfall. Es handelt sich dabei um verschiedene, aufeinanderfolgende  Manifestationen im Leben des Kapitalismus, mit jeweils typischen Charakteristiken (…).“[1] Dasselbe gilt für die Phase des Zerfalls selbst, die einen qualitativen Schritt in der Entwicklung der Dekadenz markiert; diese Phase befindet sich nun in ihrem vierten Jahrzehnt und hat seit Beginn der 2020er-Jahre mit dem Ausbruch der Covid-Pandemie und der Entfesselung mörderischer Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten eine Beschleunigung erreicht, die einen weiteren bedeutenden Schritt markiert, in dem alle ihre verschiedenen Erscheinungsformen in einem von uns als „Wirbelsturm“-Effekt bezeichneten Prozess aufeinander einwirken und sich gegenseitig verstärken.

2. Diese Einschätzung hat sich seit dem 25. Kongress der IKS 2023 voll bestätigt: Wirtschaftskrise, imperialistischer Krieg, ökologischer Zusammenbruch und ein wachsender Kontrollverlust der Bourgeoisie über ihren eigenen politischen Apparat verbinden sich und verschärfen sich gegenseitig und bergen die eindeutige Gefahr der Vernichtung der Menschheit. Diese „Poly-Krise“ wird bereits von einigen der wichtigsten Institutionen der herrschenden Klasse erkannt, wie wir im Bericht über den Zerfall, der vom 25. Kongress der IKS angenommen wurde, gezeigt haben, aber sie sind machtlos, Lösungen anzubieten. Stattdessen sind die „irrationalsten“ Elemente der herrschenden Klasse auf dem Vormarsch, was sich am deutlichsten im Sieg Trumps bei den US-Präsidentschaftswahlen zeigt. Trump ist ein deutliches Produkt des Zerfalls des Systems, aber der „Shitstorm“ an Maßnahmen, die unmittelbar nach seiner Machtübernahme ergriffen wurden, zeigt auch, dass die Übernahme der Regierungsgeschäfte durch eine populistische Fraktion unter der Führung eines narzisstischen Abenteurers im mächtigsten Land der Welt ein aktiver Faktor für die Beschleunigung des Zerfalls und den allgemeinen Kontrollverlust der Bourgeoisie über ihr eigenes System ist.

3. Der Faktor des imperialistischen Wettbewerbs und Krieges steht im Zentrum dieses tödlichen Strudels. Aber entgegen den Argumenten der meisten Gruppen im Proletarischen Politischen Milieu bringt dieser Strudel nicht einen disziplinierten Marsch hin zu neuen Blöcken und einem dritten Weltkrieg mit sich. Vielmehr verschärft er die Tendenz zum „Jeder für sich“, die bereits nach dem Zusammenbruch des russischen imperialistischen Blocks und dem endgültigen Beginn der Periode des Zerfalls Anfang der 1990er Jahre vorherrschend wurde. Wie wir in einer Reihe grundlegender Texte aus dieser Zeit unterstrichen haben, führte der Untergang des Ostblocks zum Zerfall des von den USA dominierten Blocks, dies trotz verschiedener Bemühungen des amerikanischen Imperialismus, seine Autorität über seine ehemaligen Verbündeten durchzusetzen. Wir haben darauf bestanden, dass diese neue Weltunordnung die Form von sich ausbreitenden, hartnäckigen und zunehmend zerstörerischen Kriegen annimmt, die gerade wegen des Fehlens jeglicher Blockdisziplin nicht weniger gefährlich sind als ein Kurs in Richtung Weltkrieg. Die jüngsten Schritte der USA unter Trump verkörpern eine neue Stufe des zunehmenden Chaos, das die imperialistischen Rivalitäten in der Phase des Zerfalls beherrscht. Und während die globale Unordnung, die durch den Zusammenbruch des russischen Blocks 1989–91 ausgelöst wurde, sich um eine schwächere wirtschaftliche und militärische Macht drehte, lässt die Tatsache, dass die „neue Unordnung“ die weltweit führende Macht in ihrem Zentrum hat, noch tiefere Stürze ins Chaos in der kommenden Periode erwarten.

4. Die zentrale Achse des globalen imperialistischen Konflikts bleibt der Antagonismus zwischen den USA und China. Auf dieser Ebene gibt es eine starke Kontinuität mit den Regierungen Obama und Biden, die China als Hauptkonkurrenten der US-Dominanz betrachteten. Diese Verlagerung des Schwerpunkts der imperialistischen Antagonismen von Westeuropa, wie es während des Kalten Krieges der Fall war, hin zum Pazifikraum ist ein wichtiger Faktor für Trumps Bereitschaft, die „Verteidigung Europas“ in der US-Strategie auf einen viel niedrigeren Platz zu verweisen. Im Allgemeinen wird die Politik der Eindämmung Chinas durch die Einkreisung mit regionalen Bündnissen und die Beschränkung seiner wirtschaftlichen Expansion fortgesetzt werden, auch wenn die taktischen und konkreten Mittel unterschiedlich sind. Die Unberechenbarkeit von Trumps Vorgehen kann jedoch zu wilden Schwankungen zwischen Versuchen, Peking zu beschwichtigen, und offen provokativen Aktionen rund um Taiwan führen. Im Allgemeinen trägt gerade diese Unberechenbarkeit als weiterer Faktor zur Destabilisierung der internationalen Beziehungen bei.

5. Im Gegensatz dazu stellt Trumps Politik gegenüber der Ukraine einen echten Bruch mit der „traditionellen“ Außenpolitik der USA dar, die auf einer energischen Opposition gegen den russischen Imperialismus beruhte. Der Versuch, mit Russland eine Einigung über den Ukraine-Krieg zu erzielen, die Europa und die Ukraine ausschließt, begleitet von der öffentlichen Demütigung Selenskys im Weißen Haus, markiert eine wichtige neue Stufe in der Spaltung zwischen den USA und den Hauptmächten Europas und zeigt, wie weit wir von der Bildung eines neuen „westlichen Blocks“ entfernt sind. Diese Trennung ist kein zufälliges Ereignis, sondern hat viel tiefere Wurzeln. Ein direkter Konflikt zwischen den USA und Europa zeichnete sich bereits in den 1990er Jahren im Jugoslawienkrieg ab, als Frankreich und Großbritannien Serbien unterstützten, Deutschland Kroatien und die USA Bosnien. In der heutigen Eskalation dieses Prozesses, in dem sich 2003 auch europäische Mächte wie Frankreich und Deutschland weigerten, den USA in den Irak-Krieg zu folgen, werden die USA zunehmend als neuer Feind angesehen, symbolisiert durch die Abstimmung der USA mit Weißrussland, Nordkorea und Russland gegen eine UN-Resolution vom 24. Februar 2025, die die russische Invasion verurteilt, und durch die offenen Drohungen, Kanada, Grönland und Panama notfalls mit militärischer Gewalt einzuverleiben. Zumindest werden die USA als unzuverlässiger Verbündeter wahrgenommen, was die europäischen Mächte dazu zwingt, sich zu einer Reihe von Krisentreffen zusammenzufinden, um zu beraten, wie sie ihre imperialistische „Verteidigung“ ohne den militärischen Schutzschirm der USA sichern können. Die tatsächlichen Spaltungen zwischen diesen Mächten – beispielsweise zwischen Regierungen, die von populistischen oder rechtsextremen Parteien geführt werden und Russland zugeneigt sind, und vor allem zwischen Frankreich und Deutschland im Kern der Europäischen Union – sollten jedoch als weiteres Hindernis für die Bildung eines stabilen europäischen Bündnisses nicht unterschätzt werden. Und die derzeitige US-Regierung wird sicherlich alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Spaltungen zwischen den Ländern der EU zu vertiefen, die Trump ausdrücklich als eine Formation angegriffen hat, die gegründet wurde, um „die USA zu schikanieren“.

6. Gleichzeitig steht die Trump-Regierung in klarer Abkehr von der Politik der vorherigen US-Regierung und der wichtigsten europäischen Mächte, die eine „Zweistaatenlösung“ für den Konflikt in Israel/Palästina befürwortet haben. Die Trump-Regierung unterstützt offen die Annexionspolitik der rechten israelischen Regierung, indem sie Sanktionen gegen die gewalttätigen Aktionen der Siedler im Westjordanland aufhebt, Mike Huckabee – der erklärt, dass „Judäa und Samaria“ vor 3000 Jahren von Gott an Israel gegeben wurden – zum US-Botschafter in Israel ernennt und vor allem die ethnische Säuberung von fast zwei Millionen Palästinensern aus dem Gazastreifen fordert und die gesamte Region in ein Paradies für Immobilienspekulationen verwandeln will. Diese Politik, trotz ihrer starken Fantasieanteile, kann die Konflikte, die bereits eskalieren und sich im gesamten Nahen Osten ausbreiten, nur fortsetzen und verschärfen. Am deutlichsten wird dies im Jemen, im Libanon und in Syrien, wo der interne Krieg trotz des Sturzes des Assad-Regimes noch lange nicht vorbei ist und wo Israel immer tödlichere Luftangriffe fliegt, die allgemein als Warnung an die Türkei verstanden werden. Insbesondere der Blankoscheck, den Trump der Regierung Netanjahu ausgestellt hat, birgt auch die Wahrscheinlichkeit weiterer direkter Zusammenstöße zwischen Israel und dem Iran.

7. Unterdessen brauen sich andere imperialistische Konflikte zusammen oder verschärfen sich bereits, insbesondere in Afrika, wo der Kongo, Libyen und der Sudan zu regelrechten Schauplätzen von Massakern und Hungersnöten geworden sind. Afrika ist ein weiteres Beispiel dafür, wie lokale Konflikte durch eine verwirrende Vielfalt regionaler Staaten (wie Ruanda im Kongo) und größerer imperialistischer Akteure (USA, Frankreich, China, Russland, Türkei usw.) angeheizt werden, die in einem Konflikt Verbündete und in einem anderen Feinde sein können. Auch wenn die Jagd nach lebenswichtigen Rohstoffen ein zentraler Aspekt vieler dieser Konflikte ist, besteht das Hauptmerkmal all dieser Kriege darin, dass sie für alle ihre Protagonisten immer weniger wirtschaftliche oder strategische Vorteile bringen. Vor allem weisen sie nicht auf eine Lösung der Weltwirtschaftskrise durch die Abwertung des Kapitals oder den Wiederaufbau ruinierter Volkswirtschaften hin, wie es viele Gruppen des Proletarischen Politischen Milieus behaupten. Die ökonomistische Sichtweise dieser Gruppen ignoriert die tatsächliche Richtung des Kapitalismus in seiner Endphase – die in die Zerstörung der Menschheit und nicht in eine neue Phase des Akkumulationszyklus führt.

8. Die zunehmende Wechselwirkung zwischen Wirtschaftskrise und imperialistischer Rivalität sowie die Auswirkungen des Zerfalls auf die Weltwirtschaft werden durch die Lawine von Zöllen, die von der Trump-Regierung verhängt wurden, deutlich illustriert. Diese „Kriegserklärung“ an die übrigen Volkswirtschaften der Welt, die sich gegen enge Nachbarn und ehemalige Verbündete ebenso richtet wie gegen erklärte Feinde, kann als Versuch der USA gesehen werden, ihre Macht als imperialistischer Gigant zu demonstrieren, der in der Lage ist, allein zu stehen, ohne sich gegenüber anderen Staaten oder internationalen Gremien verantworten zu müssen. Sie basiert aber auch auf einer wirtschaftlichen „Strategie“, die davon ausgeht, dass die USA am besten prosperieren können, wenn sie alle ihre wirtschaftlichen Rivalen untergraben oder ruinieren. Dies ist ein rein selbstmörderischer Ansatz, der durch steigende Preise, Versorgungsengpässe, Werksschließungen und Entlassungen unmittelbar auf die US-Wirtschaft und die Verbraucher zurückfallen wird. Und natürlich hätte ein schwerer default (Zahlungsschwierigkeiten) in den USA weltweite Auswirkungen. Insbesondere haben eine Reihe von Ökonomen vor der Gefahr gewarnt, dass die USA ihre enormen Staatsschulden, die zum Großteil von Japan und ihrem Hauptkonkurrenten China „besessen“ werden, nicht zurückzahlen können. Es ist offensichtlich, dass ein Zahlungsausfall der USA nicht nur der Weltwirtschaft unkalkulierbaren Schaden zufügen würde, sondern unweigerlich auch auf den Bereich der imperialistischen Rivalität zwischen den USA und China übergreifen würde. All dies zeigt, dass die „America First“-Politik der Trump-Regierung in völligem Widerspruch zum „globalisierten“ Charakter der Weltwirtschaft steht, in der die USA selbst die aktivste Kraft waren, insbesondere nach dem Zusammenbruch des Ostblocks Anfang der 1990er Jahre. Sie markiert auch eine Rückkehr zu protektionistischen Maßnahmen, die die mächtigsten Bourgeoisien weitgehend aufgegeben haben, seit sie sich in den 1930er Jahren als Mittel zur Bewältigung der Weltwirtschaftskrise als völliger Fehlschlag erwiesen haben. Der derzeitige Versuch der USA, die letzten politischen und militärischen Überreste der 1945 errichteten imperialistischen Weltordnung zu zerstören, geht einher mit Maßnahmen, die eindeutig alle globalen Institutionen bedrohen, die nach der Weltwirtschaftskrise und dem Zweiten Weltkrieg zur Regulierung des Welthandels und zur Eindämmung der Überproduktionskrise geschaffen wurden.

9. Es überrascht daher nicht, dass die Börsen weltweit mit wachsender Panik auf Trumps Zölle reagiert haben, während zahlreiche Wirtschaftsexperten eine weltweite Rezession, erbitterte Handelskriege (die sich insbesondere zwischen den USA und China bereits abzeichnen), eine galoppierende Inflation und sogar einen „wirtschaftlichen nuklearen Winter“[2] prophezeien. Diese Reaktionen zwangen Trump, von einigen seiner wirtschaftlichen Drohungen Abstand zu nehmen, aber es existiert wenig Vertrauen, dass die neue US-Regierung noch als Garant für wirtschaftliche Stabilität angesehen werden kann – im Gegenteil. Die von den „Märkten“ geäußerten Befürchtungen sind durchaus berechtigt, aber Revolutionäre müssen auch klarstellen, dass diese Massnahmen sicherlich ein stark verschärfender Faktor in der sich verschärfenden Wirtschaftskrise sind, aber nicht deren letztendliche Ursache. Die Grundkrankheit der Weltwirtschaft ist in der globalen Überproduktionskrise zu suchen, die im Wesentlichen seit 1914 permanent besteht und dass hinter dem Höhepunkt, den sie jetzt erreicht, eine lange Geschichte steht. Schon lange vor der Ankündigung der Trump-Zölle waren die führenden Volkswirtschaften der Welt, insbesondere Deutschland und China, aber auch die USA, in eine wirtschaftliche Krise geraten, die sich in Fabrikschließungen in führenden Industriezweigen, unkontrollierbaren Schulden, steigenden Preisen in vielen Ländern, wachsender Jugendarbeitslosigkeit usw. äußerte. Das Ende des chinesischen „Wirtschaftswunders“ ist besonders bedeutsam, weil China im Gegensatz zur Situation nach der Finanzkrise von 2008 nicht mehr in der Lage sein wird, die Rolle der „Lokomotive für die Weltwirtschaft“ zu spielen.

10. Die weltweite Überproduktionskrise resultiert, wie Rosa Luxemburg vorausgesagt hatte, aus dem Schrumpfen des „Außenbereichs“, in den der Kapitalismus expandieren kann. Diese Bereiche der vorkapitalistischen Wirtschaft waren noch beträchtlich, als Luxemburg ihre These aufstellte, und sie bargen in der Phase der „Globalisierung“ noch einige Möglichkeiten, insbesondere durch die Kapitalisierung Chinas und anderer fernöstlicher Volkswirtschaften. Aber selbst wenn die Kapitalisten weiterhin hungrige Blicke auf die verbleibenden vorkapitalistischen Wirtschaftsräume, insbesondere in Indien und Afrika, werfen, wird es aufgrund der Beschleunigung des Zerfalls durch lokale Kriege und ökologische Zerstörung immer schwieriger werden, diese zu auszubeuten. Andere „Überbau“ Elemente tragen ebenfalls zur historischen Sackgasse des Systems bei:

a) Das enorme Gewicht der globalen Verschuldung, das Medikament gegen die Überproduktion, das den Patienten schlussendlich nur vergiften kann und wie 2008 ständig in Form massiver finanzieller Instabilität zu explodieren droht. Und wie die IKS bereits in den 1980er Jahren feststellte, erleben wir das Wachstum einer „Casino-Ökonomie“, die in Form von ungezügelter Spekulation auftritt und eine wachsende Kluft zwischen realem Wert und fiktivem Kapital zum Ausdruck bringt. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist die Verbreitung von Bitcoin und ähnlichen „Kryptowährungen“, die der zentralen Kontrolle entzogen sind und somit als weiterer potenziell destabilisierender Faktor für die Weltwirtschaft wirken.

b) Die zunehmenden Auswirkungen ökologischer Katastrophen, die zu immer zerstörerischeren „Produktionskosten“ geworden sind.

c) Das exponentielle Wachstum des Flüchtlingsproblems, das häufig das Ergebnis von Kriegen und ökologischen Katastrophen ist und die Bourgeoisie vor ein unlösbares Problem stellt, da sie es sich einerseits nicht leisten kann, diese Massen von Migranten in eine schwächelnde Wirtschaft zu integrieren, andererseits aber auch nicht auf diese Quelle billiger Arbeitskräfte verzichten kann und feststellen wird, dass eine Politik der Zwangsabschiebungen, wie sie die Trump-Regierung nun in Gang gesetzt hat, Milliarden kosten wird.

d) Vor allem aber wird die Weltwirtschaft mit der Verschärfung der Tendenz hin zum Krieg immer mehr gezwungen, die enorme Last der wachsenden Auswirkungen des Militarismus zu tragen, die zwar zeitweise die Illusion von „Wirtschaftswachstum“ erwecken kann, aber, wie die ‘Gauche Communiste de France’ bereits nach dem Zweiten Weltkrieg aufgezeigt hat, einen reinen Verlust für das globale Kapital darstellt. Und offene Kriegshandlungen haben direkte Auswirkungen auf die Weltwirtschaft, wie heute die Erhöhung der Transportkosten aufgrund direkter Angriffe auf Schiffe im Schwarzen Meer und im Roten Meer zeigt.

Die unvermeidliche Folge der sich verschärfenden Krise und insbesondere der Entwicklung einer Kriegswirtschaft werden beispiellose Angriffe auf die Lebensbedingungen des Proletariats und der verarmten Massen sein. Die Bourgeoisie in den europäischen Ländern spricht bereits offen über die Notwendigkeit weiterer Kürzungen im sozialen Bereich, um die „Verteidigungsausgaben“ zu finanzieren.

11. Was die ökologische Krise betrifft, so haben die endlosen internationalen Konferenzen die Welt nicht näher an ihre Verpflichtungen zur Reduzierung der CO2-Emissionen gebracht, im Gegenteil: Das 1,5-Grad-Ziel zur Begrenzung des Temperaturanstiegs wurde bereits von einer Reihe von Klimaforschern für gescheitert erklärt. Jahr für Jahr liefern solide wissenschaftliche Untersuchungen eindeutige Hinweise darauf, wieweit die Klimakrise bereits da ist: Jedes Jahr wird zum „wärmsten seit Beginn der Aufzeichnungen“ erklärt, das Abschmelzen der Polkappen erreicht neue und wirklich alarmierende Ausmaße, immer mehr Pflanzen- und Tierarten verschwinden, darunter Insekten, die für die Nahrungskette und die Bestäubung der Pflanzen unverzichtbar sind. Darüber hinaus ist die Krise nicht nur in den Ländern der „Peripherie“ offensichtlich, wo sie die globale Flüchtlingskrise verschärft, da immer mehr Regionen der Erde durch Dürren oder Überschwemmungen unbewohnbar werden. Sie breitet sich nun von der Peripherie ins Zentrum aus, wie die Waldbrände in Kalifornien und die Überschwemmungen in Deutschland und Spanien zeigen. Trumps Leugnung der Klimakrise hat sofort Eingang in die Arbeit der neuen Regierung gefunden: Der Begriff „Klimawandel“ wurde aus Regierungsdokumenten gestrichen, die Mittel für die Forschung zu diesem Problem wurden drastisch gekürzt, Beschränkungen für Emissionen und Projekte zur Förderung fossiler Brennstoffe wurden unter dem Motto „Drill, baby, drill“ aufgehoben, und die USA sind aus internationalen Klimaabkommen ausgestiegen. All dies wird der Weltanschauung der „Leugner”, die ein zentraler Bestandteil der überall auf dem Vormarsch befindlichen populistischen Parteien ist, weltweit neuen Auftrieb geben. Das Gleiche gilt für den Austritt der USA aus der Weltgesundheitsorganisation WHO und die Ernennung von Robert Kennedy, einem überzeugten Impfgegner, zum Leiter des US-Gesundheitsministeriums in einer Zeit, in der wir mit der Gefahr neuer Pandemien (wie der Vogelgrippe) konfrontiert sind. Solche Pandemien sind ein weiteres Produkt des Zusammenbruchs der Beziehung zwischen Mensch und Natur, den der Kapitalismus in seiner Geschichte auf die Spitze getrieben hat. Diese Maßnahmen, die den Kopf in den Sand stecken, werden die Gefahr nur noch vergrößern. Aber die selbstmörderische Haltung der Populisten gegenüber der sich verschärfenden ökologischen Krise ist im Grunde nur ein Spiegelbild der völligen Ohnmacht aller Fraktionen der herrschenden Klasse angesichts der Zerstörung der Natur, da keine von ihnen ohne das Bekenntnis zu endlosem „Wachstum“ (d. h. Akkumulation um jeden Preis) existieren kann, auch wenn sie vorgibt, dass es keinen Widerspruch zwischen kapitalistischem Wachstum und grüner Politik gibt. Die Bourgeoisie als Klasse kann keine wirklich globalen Lösungen für die ökologische Krise anbieten, das einzige, das Sinn machen würde. Keine Fraktion der herrschenden Klasse kann den nationalen Rahmen überwinden, genauso wenig wie sie ein Ende der Kapitalakkumulation einführen kann. Daher kann das Voranschreiten der ökologischen Krise nur die Tendenz zu chaotischen militärischen Konflikten beschleunigen, da jede Nation versucht, angesichts schwindender Ressourcen und zunehmender Katastrophen sich unter den Nagel zu reissen was sie kann. Und das Gegenteil ist ebenfalls wahr: Krieg ist, wie bereits in den Konflikten in der Ukraine und im Nahen Osten zu beobachten ist, selbst ein wachsender Faktor der ökologischen Katastrophe, sei es durch die enormen CO2-Emissionen, die für die Herstellung und Wartung von militärischer Ausrüstung erforderlich sind, oder durch die Vergiftung der Luft und des Bodens durch den Einsatz immer zerstörerischer Waffen, was in vielen Fällen eine bewusste Taktik ist, um die Nahrungsversorgung oder andere Ressourcen des Feindes zu schwächen. Unterdessen droht im Hintergrund stets die Gefahr einer nuklearen Katastrophe – entweder durch die Zerstörung von Kernkraftwerken oder durch den tatsächlichen Einsatz taktischer Atomwaffen. Die Wechselwirkung zwischen Krieg und ökologischer Krise ist ein weiteres offensichtliches Beispiel für den Effekt der tödlichen Spirale.

12. Die Rückkehr Trumps ist ein klassischer Ausdruck des politischen Versagens jener Fraktionen der herrschenden Klasse, die ein klareres Verständnis für die Bedürfnisse des nationalen Kapitals haben; sie ist somit ein deutlicher Ausdruck eines allgemeineren Verlusts der politischen Kontrolle durch die US-Bourgeoisie. Aber dies ist eine weltweite Tendenz, und es ist besonders bedeutsam, dass die populistische Welle auch in anderen zentralen Ländern des Kapitalismus Auswirkungen hat: Wir haben den Aufstieg der AfD in Deutschland, des Rassemblement National von Le Pen in Frankreich und Reform-UK in Großbritannien beobachten können. Der Populismus ist Ausdruck einer bestimmten Fraktion der Bourgeoisie, aber seine inkohärente und widersprüchliche Politik drückt einen wachsenden Nihilismus und eine Irrationalität aus, die nicht den Gesamtinteressen des nationalen Kapitals dienen. Der Fall Großbritanniens, das von einer der intelligentesten und erfahrensten Bourgeoisien regiert wurde und sich mit dem Brexit selbst ins Knie geschossen hat, ist ein klares Beispiel dafür. Trumps Innen- und Außenpolitik wird für den US-Kapitalismus nicht weniger schädlich sein: auf außenpolitischer Ebene, indem er Konflikte mit seinen ehemaligen Verbündeten schürt und gleichzeitig seine traditionellen Feinde umwirbt, aber auch im Inland durch die Auswirkungen seines selbstzerstörerischen Wirtschaftsprogramms. Vor allem die Rachekampagne gegen den „Deep State“ und die „liberalen Eliten“, die gezielte Verfolgung von Minderheiten und der „Krieg gegen die Woke“ werden Konfrontationen zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse schüren, die in einem Land, in dem ein großer Teil der Bevölkerung Waffen besitzt, einen extrem gewalttätigen Charakter annehmen könnten. Der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 würde im Vergleich dazu verblassen. Und wir können bereits im Keim die Anfänge einer Reaktion von Teilen der Bourgeoisie erkennen, die am meisten unter Trumps Politik zu verlieren haben (zum Beispiel der Bundesstaat Kalifornien, die Harvard-Universität usw.). Solche Konflikte bergen die Gefahr, die breitere Bevölkerung mitzureißen, und stellen eine extreme Gefahr für die Arbeiterklasse dar, ihre Klasseninteressen zu verteidigen und ihre Einheit gegen alle Spaltungen zu schmieden, die ihr durch den Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft auferlegt wurden. Die jüngsten „Hands Off“-Demonstrationen, die vom linken Flügel der Demokratischen Partei organisiert wurden, sind ein klares Beispiel für diese Gefahr, da es ihnen gelang, bestimmte Sektoren der Arbeiterklasse und deren Forderungen in eine allgemeine Verteidigung der Demokratie gegen die Diktatur von Trump und Konsorten zu kanalisieren. Auch wenn diese inneren Konflikte in den USA besonders scharf ausgeprägt sind, sind sie doch das Ergebnis eines viel umfassenderen Prozesses. Der dekadente Kapitalismus stützt sich seit langem auf den Staatsapparat, um zu verhindern, dass solche Antagonismen die Gesellschaft zerreißen, und in der Phase des Zerfalls ist der kapitalistische Staat gleichermaßen gezwungen, zu den diktatorischsten Maßnahmen zu greifen, um seine Herrschaft aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig jedoch, wenn der Staatsapparat selbst von gewaltsamen inneren Konflikten zerrissen ist, gibt es eine starke Tendenz zu einer Situation, in der „die Mitte nicht mehr hält und bloße Anarchie die Welt beherrscht“, wie es der Dichter WB Yeats formulierte. Die „gescheiterten Staaten“, die wir am deutlichsten im Nahen Osten, in Afrika oder in der Karibik sehen, sind ein Abbild dessen, was sich bereits in den am weitesten entwickelten Zentren des Systems zusammenbraut. In Haiti beispielsweise ist der offizielle Staatsapparat angesichts konkurrierender krimineller Banden zunehmend machtlos, und in Teilen Afrikas hat die Konkurrenz zwischen den Banden den Höhepunkt eines „Bürgerkriegs“ erreicht. Aber auch in den USA selbst ähnelt die derzeitige Herrschaft des Trump-Clans über den Staat mit seiner offenen Befürwortung von Erpressung und Drohungen immer mehr der Herrschaft einer Mafia.

13. Die Irrationalität, die sich im Populismus äußert, ist im Grunde genommen Ausdruck der Irrationalität eines Systems, das seine Nützlichkeit für die Menschheit längst überlebt hat. Es ist daher unvermeidlich, dass die gesamte zerfallende bürgerliche Gesellschaft zunehmend von einer Seuche psychischer Erkrankungen befallen wird, die sich häufig in mörderischer Gewalt äußert. Die Ausbreitung terroristischer Gräueltaten von den großen Kriegsgebieten auf die Hauptstädte des Westens war eines der ersten Anzeichen für den Beginn der Phase des Zerfalls, aber die Verknüpfung terroristischer Aktivitäten mit den irrationalsten Ideologien ist mit dem Fortschreiten und der Beschleunigung dieser Phase immer deutlicher geworden. So sind die Ideologien, die terroristische Handlungen am häufigsten inspirieren, sei es durch radikale Islamisten oder Neonazis, nur ein konzentrierter Ausdruck weit verbreiteter Überzeugungen, insbesondere des Glaubens an alle möglichen Verschwörungstheorien und an eine bevorstehende Apokalypse, die alle ein gefährlich verzerrtes Bild von der tatsächlichen Funktionsweise des Kapitalismus und seinem tatsächlichen Absturz in den Abgrund vermitteln. Bezeichnend ist auch, dass einige der jüngsten Massenmorde – wie der Einsatz von Autos als Waffen in deutschen Städten oder die schrecklichen Morde an Kindern in Southport, die im Sommer 2024 rassistische Ausschreitungen in Großbritannien auslösten – mehr oder weniger losgelöst von konkreten terroristischen Organisationen und sogar von einer rechtfertigenden Ideologie waren und vielmehr den Selbstmordimpulsen zutiefst gestörter Individuen Ausdruck verliehen. Anderswo äußern sich solche Impulse in zunehmender Gewalt gegen Frauen, sexuelle Minderheiten und Kinder. Es ist offensichtlich, dass die Arbeiterklasse gegen diese Tendenz nicht immun ist und dass sie den Bedürfnissen des Klassenkampfes direkt entgegenwirkt: dem Bedürfnis nach Solidarität und Einheit und nach einem kohärenten Denken, das zu einem wirklichen Verständnis der Funktionsweise und der Entwicklung des Kapitalismus führen kann.

14. Der Pol, der in Chaos und Zusammenbruch führt, wird somit immer sichtbarer. Aber es gibt noch einen anderen Pol, den des Klassenkampfes, der sich seit 2022 in einer „Zäsur“ manifestiert, die keine Eintagsfliege ist, sondern eine historische Tiefe hat, die darin beruht, dass das Proletariat in den Hauptzentren des Systems nicht geschlagen ist, sowie der Realität eines langen Prozesses der unterirdischen Reifung. Aber er nimmt auch weiterhin eine viel offenere Form an, wie das Beispiel Belgien zeigt. In den USA wird Trumps Politik zu einem raschen Anstieg der Inflation führen und damit insbesondere die Versprechen gegenüber dem Proletariat untergraben; und der Versuch, Stellen im öffentlichen Dienst abzubauen, führt bereits zu ersten Anfängen von Klassenwiderstand. In Europa wird die Forderung der Bourgeoisie nach Opfern im Namen der Aufrüstung sicherlich auf ernsthaften Widerstand einer ungeschlagenen Arbeiterklasse stoßen. Die Klassenbewegungen, die den Bruch kennzeichnen, bekräftigen die zentrale Bedeutung der Wirtschaftskrise als Hauptantriebskraft des Klassenkampfs. Gleichzeitig werden jedoch die Ausbreitung des Krieges und die steigenden Kosten der Kriegswirtschaft, vor allem in den wichtigsten Ländern Europas, ein wichtiger Faktor für die künftige Politisierung des Kampfes sein, in dem die Arbeiterklasse einen klaren Zusammenhang zwischen den von der Kriegswirtschaft geforderten Opfern und den zunehmenden Angriffen auf ihren Lebensstandard herstellen und schließlich alle anderen Bedrohungen, die vom Zerfall ausgehen, in einen Kampf gegen das gesamte System integrieren kann.

15. Trotz der Tiefe der neuen Phase im Klassenkampf ist es von entscheidender Bedeutung, seine Entwicklung nicht parallel und unabhängig vom Pol des Chaos und der Zerstörung zu betrachten. Dies zeigt sich am deutlichsten in der realen Gefahr, dass die Arbeiterklasse durch die Auswirkungen der sozialen Atomisierung, der wachsenden Irrationalität und des Nihilismus zunehmend desorientiert wird und es ihr schwerfallen wird, sich nicht von der tief empfundenen Wut und Frustration einer breiten Bevölkerung mitreißen zu lassen, die auf Katastrophen, Repression, Korruption, soziale Unsicherheit und Gewalt reagiert, wie wir es in den jüngsten Protesten in den USA, Serbien, der Türkei, Israel und anderswo gesehen haben. Die herrschende Klasse ist durchaus in der Lage, die Auswirkungen des Zerfalls ihres eigenen Systems gegen die Arbeiterklasse zu nutzen: Ausnutzung „kultureller“ Spaltungen (Woke versus Anti-Woke usw.); partielle Kämpfe als Reaktion auf die Verschärfung der Unterdrückung und Diskriminierung bestimmter Schichten der Gesellschaft; Anti-Migrationskampagnen usw. Besonders gefährlich sind die erneuten „demokratischen Widerstandskampagnen“ gegen die „Gefahr des Faschismus, Autoritarismus und der Oligarchien“, deren Ziel es ist, die Wut gegen ein untergehendes System auf die Trumps, Musks, Le Pens und den Rest der Populisten und der extremen Rechten zu lenken, die lediglich ein karikaturhafter Ausdruck der Verwesung des Kapitalismus sind. Die rechte Bourgeoisie kann sich angesichts der Machenschaften des „deep states“ auch auf die Demokratie berufen, eines der Lieblingsthemen Trumps, das nun in Frankreich nach der gerichtlichen Entscheidung, Le Pen von der nächsten Präsidentschaftswahl auszuschließen, Widerhall findet. Die „Verteidigung der Demokratie“ ist jedoch die besondere Spezialität des linken und linksradikalen Flügels des politischen Apparats der Bourgeoise. Darüber hinaus haben die extreme Linke und die Gewerkschaften in Erwartung der Entwicklung des Klassenkampfs ihre Sprache und Haltung radikalisiert: Wir sehen, wie die Trotzkisten und offiziellen Anarchisten angesichts der Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen die Fahne eines falschen „Internationalismus” hochhalten, und manchmal hat die Linke die Führung der Gewerkschaften übernommen, wie dies bei den Kämpfen in Großbritannien der Fall war. Wir werden in den kommenden Jahren auch eine Erneuerung ihres Diskurses und ihrer Aktivitäten erleben, die darauf abzielt, das Potenzial für die Reifung des proletarischen Bewusstseins, das notwendigerweise einen ungleichmäßigen Prozess von Vorstößen und Rückschlägen durchläuft, auf ein bürgerliches Terrain zu lenken, das nur zu Niederlagen und Demoralisierung führen kann.

16. Der Bruch mit der Passivität der letzten Jahrzehnte regt auch den Reflexionsprozess auf internationaler Ebene in verschiedenen Schichten der Klasse an, was sich besonders deutlich in der Entstehung suchender Minderheiten zeigt. In diesem Bereich lässt sich am deutlichsten die Fähigkeit der Arbeiterklasse beobachten, weiterreichende Fragen zur Zukunft dieses Systems zu stellen, insbesondere zur Frage des Krieges und des Internationalismus. Das Potenzial dieser Minderheiten, sich zu revolutionären Positionen zu entwickeln, bleibt jedoch aufgrund einer Reihe von Gefahren fragil:

  • Die Radikalisierung einer Reihe linker Tendenzen, insbesondere der Trotzkisten.
  • Der Einfluss des politischen Parasitismus als destruktive Kraft, die darauf abzielt, einen Schutzwall gegen die Kommunistische Linke zu errichten, indem sie vorgibt, „von innen“ zu agieren, und sich aus dem Klima des Zerfalls nährt.
  • Der anhaltende Einfluss des Opportunismus im realen Proletarischen Politischen Milieu, der die Rolle der Organisation verzerrt und den Weg für die Toleranz gegenüber dem Eindringen fremder Ideologien in das Proletariat ebnet.

Revolutionäre Aktivität ist sinnlos ohne den Kampf für den Aufbau einer politischen Organisation, die in der Lage ist, die herrschende Ideologie in all ihren Formen zu bekämpfen. Die vor uns liegende Periode erfordert eine klare Analyse der Entwicklung der internationalen Lage, die Fähigkeit, die zentralen Gefahren für das Proletariat zu antizipieren, aber auch die reale Entwicklung des Kampfes und des Klassenbewusstseins zu erkennen, insbesondere wenn sich Letzteres weitgehend „unterirdisch“ entwickelt und von denen übersehen wird, die sich auf unmittelbare Erscheinungen fixieren.

Revolutionäre Organisationen müssen als Anziehungspunkt für suchende Elemente und als Wegweiser programmatischer und organisatorischer Klarheit fungieren, basierend auf den historischen Errungenschaften der Kommunistischen Linken. Sie müssen verstehen, dass die Arbeit zum Aufbau einer Brücke zur zukünftigen Weltpartei ein Kampf ist, der über einen langen Zeitraum geführt werden muss und einen beharrlichen Kampf gegen die Auswirkungen des kapitalistischen Zerfalls in den eigenen Reihen durch Zugeständnisse an Demokratismus, Lokalismus, Egoismus usw. erfordert. Das Fortbestehen eines tiefen Opportunismus und Sektierertums im proletarischen Milieu unterstreicht die einzigartige Verantwortung der IKS bei der Vorbereitung der Bedingungen für das Entstehen der Partei der kommunistischen Revolution.

Internationale Kommunistische Strömung, 10.5.2025

 

[1] Der Zerfall: die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus. Internationale Revue Nr. 13, 1990 [2]

[2] Milliardär und Trump-Unterstützer warnt vor „wirtschaftlichem nuklearem Winter“ wegen Zöllen, BBC News online, 7.4.2025

 

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26. IKS Kongress

Die nationale Frage in der „bordigistischen“ Sichtweise

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Vorwort

Am 29. August 1953 (merkt euch dieses Datum) legte Amadeo Bordiga (1889–1970) in Triest dem interregionalen Treffen seiner Gruppe, die sich gerade vom Partito Comunista Internazionalista abgespalten hatte und vorübergehend denselben Namen beibehielt, einen Bericht vor. Das Protokoll dieser Versammlung, das später unter dem Titel Facteurs de race et de nation dans la théorie marxiste (Die Faktoren der Rasse und der Nation in der marxistischen Theorie) veröffentlicht wurde, enthält eine begeisterte Passage über den Kongress der Völker des Ostens, der kurz nach dem Zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale im September 1920 in Baku stattgefunden hatte: „Es war der Präsident der Kommunistischen Internationale, Sinowjew (dessen Auftreten jedoch alles andere als kämpferisch war), der das Schlussmanifest des Kongresses verlas; und die farbigen Männer antworteten auf seinen Ruf mit einem einzigen Schrei und schwangen ihre Schwerter und Säbel. Die Kommunistische Internationale ruft die Völker des Ostens auf, die westlichen Unterdrücker mit Waffengewalt zu stürzen; sie ruft ihnen zu: 'Brüder! Wir rufen euch zum heiligen Krieg auf, zum heiligen Krieg vor allem gegen den englischen Imperialismus!"[1]

Sieben Jahre später, am 12. November 1960, wurde in Bologna eine neue Generalversammlung derselben politischen Gruppe, die nun den Namen Partito Comunista Internazionale angenommen hatte, eröffnet, eine Versammlung, die diese Ausrichtung auf koloniale Bewegungen voll und ganz bestätigte. Das Protokoll dieser Versammlung mit dem pompösen Titel „Das glühende Erwachen der farbigen Völker in der marxistischen Vision“ lautet wie folgt: „Aus marxistischer Sicht nehmen die kolonialen Bewegungen eine andere Position ein als die passiver, mechanischer Agenten der proletarischen Wiederbelebung. Je nach historischer Periode und konkretem Kräfteverhältnis kann die proletarische Strategie dem Proletariat der Metropolen erlauben, von Beginn der Krise an die Initiative in der weltweiten Bewegung zu ergreifen, oder sie kann die Aktion der Massen in den „rückständigen“ Ländern dazu nutzen, die Agitation des Proletariats in den „entwickelten“ Ländern in Gang zu setzen. In beiden Fällen ist jedoch die Verbindung, die hergestellt werden muss, von entscheidender Bedeutung, und genau darin liegt die Schwierigkeit."[2]

Nach dem ersten Kongress der Kommunistischen Internationale, der einen großen Schritt nach vorne bedeutet hatte, war der zweite Kongress von einer Reihe programmatischer Rückschritte geprägt. Der Kongress der Völker des Ostens bestätigte die opportunistische Abweichung, in die die Internationale geraten war. Nach dem Scheitern des ersten Revolutionsversuchs in Deutschland isoliert und von weißen Armeen umzingelt, die von starken Kontingenten aus allen entwickelten bürgerlichen Nationen unterstützt wurden, befand sich die Russische Revolution in einer gefährlichen Lage. Das russische Proletariat brauchte eine Rettungsleine. Was Lenin zunächst als Verwirrung über die nationale Frage ansah, die eine ganze Debatte innerhalb der Arbeiterbewegung – insbesondere mit Rosa Luxemburg – ausgelöst hatte, wurde 1920 aufgrund der Isolation der Russischen Revolution zu einer starken opportunistischen Haltung unter den Bolschewiki. Es liegt in der Natur des Opportunismus, nach einer Abkürzung, einer illusorischen Lösung für ein grundlegendes politisches Problem zu suchen. Aus dieser Sicht ist der Kongress der Völker des Ostens in Baku mit seinem Aufruf zum „heiligen Krieg“ das Symbol für eine Verschärfung des Degenerierungsprozesses der Russischen Revolution.

Die nachfolgenden Ereignisse bewiesen die katastrophalen Folgen der Unterstützung nationaler Befreiungskämpfe. In Finnland, der Türkei, der Ukraine, China, den baltischen Staaten und im Kaukasus führten die Forderungen der Bolschewiki nach nationaler Selbstbestimmung überall zur Förderung des Nationalismus, zur Stärkung der lokalen Bourgeoisie und zum Massaker an kommunistischen Minderheiten.[3]

Wie wir sehen können, wurde diese Position von der bordigistischen Strömung bei ihrer Gründung in den 1950er Jahren übernommen. Die Suche nach einer Abkürzung ist hier ein Produkt der Ungeduld, einer der Hauptfaktoren des Opportunismus. Inmitten einer Periode der Konterrevolution – es war die Phase des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg – glaubten die Bordigisten, in den bewaffneten Kämpfen an der Peripherie des Kapitalismus einen Auslöser für die proletarische Weltrevolution finden zu können. Sie verwechselten die Entkolonialisierung und die daraus resultierenden Konfrontationen zwischen den beiden imperialistischen Blöcken mit den nationalen bürgerlichen Revolutionen der Zeit des kapitalistischen Aufstiegs. Sie stürzten sich dann in schlimmste Zweideutigkeiten, wie die Verteidigung demokratischer Rechte, und schlimmste Verirrungen, wie die Apologie der Massaker der Roten Khmer in Kambodscha, die sie als Ausdruck des „jakobinischen Radikalismus“ betrachteten, oder wie ihre Beteiligung an den stalinistischen und trotzkistischen Chören der Ernest-Mandel-Variante, um Che Guevara zu huldigen, dem angeblich lebenden Symbol der „demokratischen antiimperialistischen Revolution“, der feige vom „Yankee-Imperialismus und seinen proamerikanischen Lakaien“ ermordet worden war.[4]

Geblendet vom Opportunismus und in Erwartung dieses schwierigen „Übergangs“ ignorierten die Bordigisten schlicht und einfach die historische Wiederbelebung des Klassenkampfs Ende der 1960er Jahre und konzentrierten sich weiterhin auf die sogenannten „antiimperialistischen“ Kämpfe. Folglich verfehlten sie es, zu erkennen, dass alle ihre militanten Rekruten aus den peripheren Ländern in Wirklichkeit den nationalistischen Positionen des Maoismus nachhängten. Dieses Pulverfass explodierte 1982 und reduzierte den Partito Comunista Internazionale von der zahlenmäßig wichtigsten Kraft der Kommunistischen Linken international auf einen winzigen Kern von wenigen Militanten.[5]

Warum die Position des Partito Comunista Internazionale ein spaltender Faktor innerhalb der Arbeiterklasse darstellt

Der Partito Comunista Internazionale (Il Comunista-Le Prolétaire) hat kurz auf unseren Artikel reagiert, der sich mit der katastrophalen Anwendung der bordigistischen Position zu nationalen Befreiungskämpfen auf die dramatische Situation in Palästina befasst; ein Artikel, der in unserer Révolution Internationale Nr. 501 (Mai-August 2024) erschien[6]. So lesen wir in Le Prolétaire Nr. 553 (Mai-Juli 2024), dass „die IKS [eine] buchstäbliche Konzeption einer reinen Revolution verteidigt, in der nur Bourgeoisie und Proletariat aufeinandertreffen“. Es ist ganz richtig, dass wir versuchen, den marxistischen Prinzipien und allen Werken, in denen diese Prinzipien von kommunistischen Militanten verteidigt werden, treu zu bleiben. Es ist auch wahr, dass wir den grundlegenden Rahmen der Konfrontation zwischen den beiden historischen Klassen der Gesellschaft, dem Proletariat und der Bourgeoisie, verteidigen, von der die Zukunft der Menschheit abhängt. Wir haben gerade gesehen, dass dies bei den Bordigisten nicht ganz der Fall ist, für die die Welt nicht mehr im Wesentlichen in Klassen, sondern in Farben unterteilt ist, von denen ein „glühendes Erwachen“ erwartet wird.

Mit der verzerrenden Brille der nationalen Unterdrückung fasziniert den Partito Comunista Internazionale (Il Comunista-Le Prolétaire) die verzweifelte Revolte der Palästinenser, die seit Jahrzehnten vom Imperialismus unterdrückt werden. Er glaubt, darin eine subversive Kraft, ein Beispiel für die Kämpfe der Arbeiter weltweit oder sogar einen Weg zur Proletarisierung der Massen von Arbeitslosen zu finden, die von einem senilen Kapitalismus ins Elend gestürzt wurden. Dabei verliert er die internationalistische Grundposition der Kommunisten aus den Augen, die zur Verbrüderung der in den imperialistischen Krieg eingezogenen Arbeiter aufrufen. Er lehnt das einzige Mittel zur Erreichung dieser Verbrüderung, dieser Vereinigung der israelischen und palästinensischen Proletarier, ab: den Bruch mit dem Gefängnis des Nationalismus. Er fördert diesen Nationalismus sogar, indem er das „Recht auf Selbstbestimmung“ fordert: „Unter diesen Bedingungen die Vereinigung der palästinensischen und israelischen (jüdischen) Proletarier zu fordern, ohne die nationale Unterdrückung der Ersteren zu berücksichtigen, kann nur wie eine leere Phrase klingen: Diese Vereinigung wird niemals möglich sein, solange sich die israelischen Proletarier nicht von der nationalen Unterdrückung distanzieren, die in ihrem Namen von „ihrem“ Staat ausgeübt wird, solange sie das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser nicht anerkennen.“

Das Ergebnis dieser Strategie des Partito Comunista Internazionale (Il Comunista-Le Prolétaire) ist nicht die Radikalisierung des Kampfes oder die Einheit des Proletariats, sondern vielmehr dessen Spaltung. Überall auf der Welt nutzt die Bourgeoisie diesen Glücksfall und ist bestrebt, die Spaltung zwischen Proletariern, die sich als pro-palästinensisch bekennen, und denen, die sich als anti-palästinensisch bekennen, zu vertiefen, um den Nationalismus zu verschärfen, der sich gegenseitig nährt, in einem Kontext, in dem die globale Arbeiterklasse noch nicht die Kraft hat, sich den heutigen regionalen imperialistischen Kriegen direkt zu widersetzen, sondern deren negative Auswirkungen mit einem Gefühl der Fassungslosigkeit, der Ohnmacht und des Fatalismus erdulden muss.

Der Schaden, den diese Politik unter politisierten Elementen insbesondere aus peripheren Ländern angerichtet hat, ist enorm. Auf einer Veranstaltung des Partito Comunista Internazionale (Il Comunista-Le Prolétaire) in den 1980er Jahren antwortete beispielsweise einer ihrer Anhänger auf unseren Beitrag zur Verteidigung des Prinzips des Internationalismus: „Wenn man uns Waffen gibt, wäre es sehr dumm, sie abzulehnen!“ Dies zeigt deutlich eine absolute Unkenntnis der Natur des Imperialismus, die nur in eine Katastrophe führen kann. Und dies war angesichts aller wichtigen Ereignisse der Nachkriegszeit der Fall. 1949 in China und 1962 in Algerien[7] förderte die Politik der bordigistischen Gruppen die Rekrutierung unerfahrener Proletarier für den bewaffneten Kampf hinter einer Fraktion der lokalen Bourgeoisie, die, um ihre rivalisierenden Fraktionen zu vernichten, gezwungen war, sich mit der einen oder anderen Bourgeoisie der großen westlichen oder sowjetischen Länder zu verbünden. All diese militärischen Konflikte und Guerillakriege führten aufgrund ihres imperialistischen Charakters zur Zerschlagung des jungen Proletariats in diesen Regionen.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere während der Entkolonialisierung, waren die Führer der beiden imperialistischen Blöcke, die UdSSR[8] und die Vereinigten Staaten, die behaupteten, niemals ein Land kolonialisiert zu haben, darauf bedacht, ihre Ordnung durchzusetzen, nachdem sie die Welt unter sich aufgeteilt hatten, während die Vereinigten Staaten ihren zweitrangigen Akteuren die Rolle des Polizisten in ihren ehemaligen Kolonien zuwiesen. Um diese blutige Spirale zu durchbrechen, konnte nur die Ausweitung des Kampfes des Proletariats der zentralen Länder den Druck des Imperialismus auf das Proletariat der peripheren Länder schwächen. Mit dem Wiederaufflammen der Wirtschaftskrise Ende der 1960er Jahre wurde der imperialistische Wettbewerb zwischen den beiden Blöcken noch blutiger. Die Auflösung der beiden Blöcke nach 1989 bedeutete nicht das Ende dieses imperialistischen Wettbewerbs zwischen großen und kleinen Nationen, im Gegenteil, er nahm mit der Umsetzung einer Politik der verbrannten Erde und der systematischen Massakrierung der Zivilbevölkerung überall eine noch barbarischere Wendung. Die Kommunisten müssen ihrerseits den Boden für die zukünftige Vereinigung der Proletarier der ganzen Welt bereiten, indem sie einen Bruch mit dem imperialistischen Krieg und mit dem Nationalismus fordern, wie Lenin es 1914 gegenüber den Sozialchauvinisten getan hat.

Es trifft zwar zu, dass der Partito Comunista Internazionale (Il Comunista-Le Prolétaire) keine „buchstäbliche Auffassung von Revolution“ hat, aber er verlässt sie in dem Sinne, dass er Werke des Marxismus als Fußabtreter misshandelt. Zum Beispiel das Manifest der Kommunistischen Partei, in dem es heißt: „Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben.“

Wir haben zahlreiche Polemiken mit den verschiedenen bordigistischen Organisationen geführt, auf theoretischer Ebene, indem wir den marxistischen Ansatz zur nationalen Frage,[9] oder auf historischer Ebene, indem wir die Lehren aus den Niederlagen des Proletariats analysiert haben.[10] In diesem Artikel wollen wir untersuchen, wie die Entwicklung des Partito Comunista Internazionale erklärt, warum er sich in eine Position zur nationalen Frage manövrieren ließ, die längst überholt ist. Die Falle wurde in zwei Etappen gestellt: erstens 1943 und 1944–1945 mit der opportunistischen Gründung des Partito Comunista Internazionalista[11], aus der der Partito Comunista Internazionale hervorging, und zweitens 1952 mit der Liquidierung des Erbes der italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken während der Gründung dieses Partito.

1943 – Bruch mit der Linken Fraktion der Kommunistischen Partei Italiens

Bordiga machte den ersten Schritt zur Aufgabe der Fraktionsarbeit, indem er sich aus dem politischen Leben zurückzog, als die Linke gerade die Führung der Kommunistischen Partei Italiens (Partito Comunista d‘Italia) verloren hatte. Ende 1926, nachdem sein Haus von den Faschisten durchsucht worden war, wurde er verhaftet und zu drei Jahren Exil verurteilt, zunächst in Ustica und dann in Ponza. Es gibt einige Spuren seiner politischen Tätigkeit im Gefängnis, als er sich mit einer Minderheit kommunistischer Häftlinge gegen die Anti-Trotzki-Kampagne aussprach. Im März 1930 wurde er von der stalinistischen Führung des Partito Comunista d‘Italia, die in Paris Zuflucht gefunden hatte, ausgeschlossen. Er zog sich daraufhin aus dem politischen Leben zurück, um sich seinem Beruf als Bauingenieur zu widmen. In einem Gespräch erklärte er 1936: „Ich bin glücklich, außerhalb der kleinlichen und unbedeutenden Ereignisse der politischen Militanz zu leben (...) Ihre täglichen Geschehnisse interessieren mich nicht mehr.“[12] Erst 1944, mehr als 15 Jahre später, tauchte er in Süditalien wieder auf, in einer Fraktion italienischer Sozialisten und Kommunisten.

Damit brach er mit anderen linken Militanten, die, von der Polizei Mussolinis und Stalins verfolgt, größtenteils ins Exil gingen, vor allem nach Frankreich und Belgien.[13] Sie waren entschlossen, den Kampf gegen das opportunistische Abdriften der Kommunistischen Internationale fortzusetzen. 1928 gründeten sie die Linke Fraktion der Kommunistischen Partei Italiens. Ihre große Stärke lag darin, zwei wesentliche Fragen zu klären und zu untersuchen: erstens den Rückzug und die Niederlage der revolutionären Welle, d. h. den Beginn einer Periode der Konterrevolution, die den Weg für einen neuen Weltkrieg ebnete, sowie zweitens das Wesen der Aufgaben revolutionärer Organisationen in einer solchen Situation, d. h. die Arbeit einer Fraktion, wie sie Marx und Lenin in anderen ungünstigen Perioden der Arbeiterbewegung gegen den Opportunismus geleistet hatten.

Die Hauptaufgabe der Fraktion bestand darin, Lehren aus der revolutionären Welle der 1920er Jahre zu ziehen, um festzustellen, welche Positionen durch die historische Erfahrung bestätigt worden und welche falsch waren oder mit der Entwicklung des Kapitalismus ihre Gültigkeit verloren hatten. Im Gegensatz zur Linken Opposition Trotzkis, die die ersten vier Kongresse der Kommunistischen Internationale voll und ganz unterstützte, lehnte die Italienische Linke einige der auf dem 3. und 4. Kongress beschlossenen Positionen ab, insbesondere die Taktik der „Einheitsfront“. Wenn die Partei nach dem Zerfall der Internationale ihren degenerierten Kurs fortsetzte und schließlich auf die Seite der Bourgeoisie überging, bedeutete dies nicht, dass die Situation reif war für die Entstehung einer neuen Partei. Die Fraktion musste ihre Arbeit fortsetzen, um die Voraussetzungen für die zukünftige Partei zu schaffen, und diese konnte nur unter zwei Bedingungen wieder entstehen: dass die Fraktion ihre politische Aufarbeitung abgeschlossen hatte, indem sie einen neuen programmatischen Rahmen entwarf, der der neuen Situation entsprach, und dass eine Situation entstand, die nicht nur einen Bruch mit der Konterrevolution bedeutete, sondern eine neue Periode einleitete, die zur Revolution führte, wie dies bereits in den Thesen von Rom (1922) festgelegt worden war.[14]

Während dieser gesamten Zeit führte die Fraktion ein bemerkenswertes Arbeitsprogramm durch und war zusammen mit einigen Militanten des niederländischen Linkskommunismus die einzige Organisation, die angesichts des Spanischen Kriegs von 1936-38, der eine Generalprobe für den Zweiten Weltkrieg war, eine kompromisslose Klassenposition beibehielt. Mit der Zeit wurde jedoch das Gewicht der Konterrevolution immer größer, und die Fraktion selbst geriet in eine Phase der Degeneration. Unter der Führung von Vercesi, ihrem wichtigsten Theoretiker und Organisator, begann sie eine neue Theorie zu entwickeln, nach der lokale Kriege nicht mehr Vorbereitungen für ein neues Weltgemetzel darstellten, sondern durch die Massakrierung der Arbeiter die wachsende proletarische Gefahr verhindern sollten. Die Welt stand für Vercesi daher am Vorabend einer neuen revolutionären Welle. Trotz des Kampfes einer Minderheit gegen diese neue Ausrichtung war die Fraktion bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs völlig desorientiert. Sie befand sich in völliger Zerrissenheit, abgesehen von der Minderheit, der es 1941 vor allem in Marseille gelang, die Fraktion wiederaufzubauen.

Als 1942-43 in Norditalien große Arbeiterstreiks ausbrachen,[15] die zum Sturz Mussolinis führten, glaubte die wiederaufgebaute Fraktion, dass gemäß ihrer langjährigen Position „der Weg für die Umwandlung der Fraktion in eine Partei in Italien offen ist“ (Konferenz vom August 1943). Auf der Konferenz vom Mai 1945 jedoch, nachdem sie von der Gründung des PCInt in Italien unter der Führung der angesehenen Persönlichkeiten Onorato Damen und Amadeo Bordiga erfahren hatte, beschloss die Fraktion ihre Auflösung und den individuellen Beitritt ihrer Mitglieder zum PCInt. Das war der endgültige Schlag. Die geschwächte Fraktion brach zusammen, trotz der Warnungen von Marc Chirik[16], der die Fraktion aufforderte, zunächst die programmatische Grundlage dieser neuen Partei zu überprüfen, über die sie keine Unterlagen hatte.

Die Gründung des Partito Comunista Internazionalista im Jahr 1943 wurde mit dem Wiederaufleben der Klassenkämpfe in Norditalien begründet und beruhte auf der falschen Vorstellung, dass diese die ersten einer neuen revolutionären Welle waren, die wie nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Krieg hervorgehen würde. Sobald klar wurde, dass sich diese Perspektive nicht verwirklichen würde, hätte der Partito Comunista Internazionalista sich zurückziehen und als Fraktion weiterarbeiten müssen, um die Arbeit der italienischen Linken im Exil fortzusetzen und sich darauf vorzubereiten, gegen den Strom in einem feindlichen Umfeld der Konterrevolution zu arbeiten.[17] Er tat jedoch genau das Gegenteil und schlug einen opportunistischen Kurs ein, indem er ohne große Unterschiede aus trotzkistischen und stalinistischen Zirkeln rekrutierte, um gegen alle Widrigkeiten die Gründung der Partei zu rechtfertigen. Es wurde alles getan, um sich den wachsenden Illusionen einer sich auf dem Rückzug befindenden Arbeiterklasse anzupassen.

So hatte der Partito Comunista Internazionalista beispielsweise von Anfang an sehr klar zum Ausdruck gebracht, dass der Widerstand ein Moment des imperialistischen Krieges und eine nationalistische Falle sei. Doch bald wandte er sich der Agitationsarbeit unter Partisanengruppen zu mit der Illusion, diese „in Organe der proletarischen Selbstverteidigung zu verwandeln, die bereit sind, in den revolutionären Kampf um die Macht einzugreifen“ (Manifest vom Juni 1944). Er ging sogar so weit, an den Wahlen von 1946 teilzunehmen – er, der sich auf die Abstentionistischen Fraktion bezog. Diese opportunistische Politik ist noch offensichtlicher in Bezug auf die Gruppen in Süditalien. Die Frazione di sinistra dei comunisti e socialisti (Fraktion der Linken der Kommunisten und Sozialisten), die sich in Neapel um Bordiga und Pistone gebildet hatte, praktizierte bis Anfang 1945 den Entrismus in der stalinistische Partito Comunista Italiano und war besonders vage in der Frage des politischen Charakters der UdSSR. Der Partito Comunista Internazionalista öffnete seine Türen, geblendet von der Anwesenheit Bordigas, auch gegenüber Leuten des POC (Parti Ouvrier Communiste), der eine Zeit lang die italienische Sektion der trotzkistischen Vierten Internationale gebildet hatte. All dies ohne Überprüfung, ohne eingehende Diskussion mit diesen Elementen, ohne kritische Untersuchung.

Der Partito Comunista Internazionalista hatte in seinen Reihen einige Militante der Fraktion, die zu Beginn des Krieges nach Italien zurückgekehrt waren. Er war daher von den Positionen der Fraktion beeinflusst, wie die ersten Ausgaben von Prometeo zeigen. Aber auf der Turiner Konferenz Ende 1945 nahm er den Programmentwurf an, den Bordiga – der noch kein Mitglied der Partei war – gerade zugeschickt hatte, ein Programm, das diese Positionen völlig ignorierte. Dies war kennzeichnend für den Bruch mit dem organisatorischen Rahmen, den die Fraktion im Exil entwickelt hatte. Die Fortsetzung der Parteiarbeit in einer konterrevolutionären Periode bedeutete, dem Opportunismus Tür und Tor zu öffnen, bedeutete, Klarheit zu verunmöglichen, wenn die herrschende Ideologie in die Organisation eindrang. Dies ist der gemeinsame Punkt, der einerseits die Onorato-Damen-Strömung des Partito Comunista Internazionalista und andererseits den Bordigismus, der einige Jahre später entstehen sollte, verbindet.

1952, Bruch mit dem programmatischen Rahmen der Linken Fraktion

Eine so heterogene Gruppierung konnte nicht von Dauer sein. Die Spaltung erfolgte bereits 1952 und markierte die Geburt der bordigistischen Strömung. Nachdem Bordiga einer der Initiatoren des Bruchs mit dem Rahmen der Fraktion gewesen war, ging er noch einen Schritt weiter und brach mit dem programmatischen Rahmen, den die Fraktion der Italienischen Linken im Exil selbst formuliert hatte. In der neuen Partei, die bald den Namen Partito Comunista Internazionale annahm, waren die drei Jahre 1951, 1952 und 1953 Jahre revisionistischer Raserei. Das Ziel ist klar: „Es ging nicht mehr nur darum, die verstreuten Fäden einer marxistischen Opposition gegen den Stalinismus wieder zusammenzufügen, sondern sie von Grund auf neu aufzubauen, an allen Fronten von Null anzufangen.“[18] Das heißt, indem alle Beiträge der drei Internationalen und der Kommunistischen Linken der 1920er und 1930er Jahre beseitigt wurden. Nämlich:

1. Bordiga begann zunächst damit, die von der Dritten Internationale vertretene Dekadenztheorie abzulehnen. Der Kapitalismus expandiere ständig, und hier und da könnten einige junge Kapitalismen entdeckt werden.

2. Bordiga „entdeckte“, dass das Proletariat nicht in der Lage ist, sein Bewusstsein vor der Machtergreifung zu entwickeln. Bis dahin sei nur innerhalb der Partei das Bewusstsein ein aktiver Faktor, was er als „Umkehrung der Praxis“ bezeichnete.[19] Damit war ein weiteres grundlegendes Werk des Marxismus, Trotzkis Geschichte der Russischen Revolution, im Papierkorb gelandet.

3. Die Negation des Bewusstseins innerhalb des Proletariats erlaubte es, die revolutionären Aufgaben, die der in Arbeiterräten organisierten Masse des Proletariats zukamen, auf die Partei – und nur auf die Partei – zu übertragen. Nach dieser substituierenden Vision organisiert und leitet die Partei technisch die gesamte Klasse. Sie ist monolithisch, einzigartig und hierarchisch, wie eine Pyramide mit dem Zentralkomitee der Partei an der Spitze.[20]

4. Zusammen mit der Partei wurde so der Staat zum revolutionären Organ par excellence für die Diktatur des Proletariats. Er gründet seine Macht auf den „Roten Terror“.[21] Mit diesen beiden Punkten versenkte Bordiga zwei der wichtigsten Fortschritte der Linken Fraktion des Partito Comunista d‘Italia. Damit wurde nicht nur die Kontinuität mit der programmatischen Arbeit der Linken gebrochen, sondern die gesamte Kontinuität der marxistischen Bewegung. Es war eine Ablehnung der Methode zur Analyse der wichtigsten Erfahrungen des Proletariats, wie sie Marx und Engels beispielsweise zur Zeit der Pariser Kommune entwickelt hatten und die sie zu folgendem Schluss führte: „In Wirklichkeit aber ist der Staat nichts als eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andre, und zwar in der demokratischen Republik nicht minder als in der Monarchie; und im besten Fall ein Übel, das dem im Kampf um die Klassenherrschaft siegreichen Proletariat vererbt wird und dessen schlimmste Seiten es ebensowenig wie die Kommune umhin können wird, sofort möglichst zu beschneiden, bis ein in neuen, freien Gesellschaftszuständen herangewachsenes Geschlecht imstande sein wird, den ganzen Staatsplunder von sich abzutun."[22]

5. Um das Ganze noch zu krönen, verkündete Bordiga auf einer Versammlung in Mailand im September 1952 (einem für den Partito Comunista Internazionalista schicksalhaften Jahr!) die Unveränderlichkeit des Marxismus. Während das kommunistische Programm und die ihm zugrunde liegende marxistische Theorie ein kumulativer Prozess sind, in dem Lehren aus Revolutionen und Konterrevolutionen gezogen werden, in dem das Proletariat Erfahrungen sammelt und die Kommunisten ihr theoretisches Verständnis vertiefen, verwandelt Bordiga sie in ein totes Dogma, einen Katechismus. So behauptet Bordiga, gegen Revisionisten und Modernisierer zu kämpfen, indem er selbst beide Kostüme anzieht, dasjenige des Revisionisten und das des Priesters: „Das theoretische Gut der revolutionären Arbeiterklasse ist weder eine Offenbarung noch ein Mythos, noch eine idealistische Ideologie, wie es für die vorhergehenden Klassen zutraf. Es ist eine positive Wissenschaft, und bedarf einer festen und dauerhaften Formulierung ihrer Prinzipien und ihrer Aktionsregeln. Diese Formulierung soll die gleiche Rolle spielen und die gleiche bestimmende Wirksamkeit haben wie in der Vergangenheit die Dogmen, der Katechismus, die Tafeln, die Verfassungen, die Leitbücher der Vedas, der Talmut, die Bibel, der Koran und die Erklärung der Menschenrechte. Die grundlegenden Irrtümer in der Substanz oder der Form, die in diesen Sammelwerken enthalten waren, haben ihnen nichts von ihrer außerordentlichen organisatorischen und sozialen Kraft genommen; sie waren in dialektischer Folge zuerst revolutionär, dann konterrevolutionär – aber es war oft gerade diese feste Systematisierung, selbst wenn sie diese Irrtümer enthielt, die zu ihrer Kraft beigetragen hat."[23]

Nachdem diese Arbeit der systematischen Zerstörung des Erbes der Arbeiterklasse abgeschlossen war,[24] musste der Partito Comunista Internazionale (Il Comunista-Le Prolétaire) bitter feststellen, dass die IKS heute die einzige Erbin der programmatischen Positionen ist, die die Italienische Fraktion in den 1930er Jahren entwickelt hatte. Sie musste dies öffentlich in einem Artikel anerkennen, der – sehr verspätet – der Geschichte der „Linken Fraktion im Ausland“ gewidmet war, wie sie sie nennt, und geht sogar so weit, einen Bruch in der theoretischen Kontinuität der Italienischen Linken anzuerkennen: „In der Frage des Krieges, in der Frage der globalen Krise des Kapitalismus, in der Kolonialfrage, in all diesen Fragen begann die Fraktion ab 1935, sich Positionen anzunähern, die, wie wir leider sagen müssen, heute von der Internationalen Kommunistischen Strömung vertreten werden. […] Wir müssen in der Tat offen sagen, ohne die geringste Absicht, die Genossen deshalb anzuklagen – wie es unserer Tradition entspricht –, dass die 1952 gegründete Partei nicht mit dem theoretischen Erbe der Fraktion in Verbindung steht.“[25]

Als Waisenkind der Arbeiterbewegung und gefangen in einer idealistischen, ja mystischen Spirale versuchte der Partito Comunista Internazionale, eine Art politische Kontinuität wiederherzustellen, die auf individueller Kontinuität beruhte, d. h. auf dem Konzept des „genialen Führers“, einem Konzept, das bereits 1947 von der Gauche Communiste de France (GCF) kritisiert worden war[26]. Dieses idealistische Konzept ist bei den heutigen „Erben“ des Partito Comunista Internazionale noch immer gültig, wie das folgende Beispiel zeigt. In demselben Artikel, aus dem wir gerade zitiert haben, werden uns gelehrt die Ursachen der Spaltung von 1952 erklärt. Um die wahre Partei zu bilden, musste der „geniale Führer“ seine Überlegungen abschließen: „In dieser Zeit, die in Italien das Jahr 1952 war – man kann sich natürlich fragen, ob dies nicht eher 1950 als 1952 hätte geschehen können, aber das ist in Wirklichkeit ohne Bedeutung –, war die Neugründung der Partei möglich, weil nur dann eine Bestandsaufnahme möglich war. Amadeo [Bordiga] selbst hätte diese Arbeit zehn Jahre zuvor nicht leisten können. Wir konnten zeigen, dass in Amadeos Denken 1945 einige Dinge noch nicht klar waren, aber 1952 klar geworden waren."[27]

Die Kommunistische Linke und die nationale Frage

Kehren wir aber zu unserem Ausgangspunkt zurück, der nationalen Frage, indem wir die Methode der Kommunistischen Linken erläutern. Anhand des folgenden Zitats aus Bilan, dem Organ der italienischen Fraktion, lässt sich leicht die Kluft ermessen, die sie von der verknöcherten Methode der bordigistischen Strömung trennt:

„Unsere Epoche wird von einer Vergangenheit revolutionären Wachstums und von den dunklen Niederlagen beherrscht, die das Proletariat gerade weltweit erlitten hat. Das marxistische Denken, das sich um diese beiden Achsen dreht, tut sich schwer, nutzlosen Ballast und überholte Formeln abzulegen, sich aus der ‚Totenbeschwörung‘ zu befreien, um in der Ausarbeitung des neuen Materials, das für die Kämpfe von morgen notwendig ist, voranzukommen. Die revolutionäre Ebbe führt vielmehr zu einer Verarmung des Denkens, zu einer Rückkehr zu Bildern einer Vergangenheit, ‚in der wir gesiegt haben‘; und so verwandelt sich das Proletariat, die Klasse der Zukunft, in eine Klasse ohne Hoffnung, die ihre Schwäche mit Deklamationen, einem Mystizismus leerer Formeln tröstet, während sich der Griff der kapitalistischen Repression immer mehr verschärft.

Es muss erneut verkündet werden, dass das Wesen des Marxismus nicht in der Verehrung proletarischer Führer oder Formeln besteht, sondern in einer lebendigen und ständig fortschreitenden Erforschung, so wie die kapitalistische Gesellschaft immer weiter in Richtung der Unterdrückung der Auflehnung der Produktivkräfte voranschreitet. Den doktrinären Beitrag der früheren Phasen des proletarischen Kampfes nicht zu vervollständigen, bedeutet, die Arbeiter angesichts der neuen Waffen des Kapitalismus machtlos zu machen. Dieser Beitrag besteht jedoch sicherlich nicht in der Summe von zufälligen Positionen, von vereinzelten Phrasen, von allen Schriften und Reden derer, deren Genie den Bewusstseinsgrad der Massen in einer bestimmten historischen Periode zum Ausdruck brachte, sondern vielmehr in der Substanz ihrer Arbeit, die durch die schmerzliche Erfahrung der Arbeiter befruchtet wurde. Wenn das Proletariat in jeder historischen Periode eine neue Stufe erklimmt, wenn dieser Fortschritt in den grundlegenden Schriften unserer Meister festgehalten ist, so ist es nicht weniger wahr, dass die Summe der Hypothesen, Schemata und Wahrscheinlichkeiten, die angesichts noch embryonaler Probleme aufgestellt werden, der strengsten Kritik durch diejenigen unterzogen werden muss, die, wenn sie dieselben Phänomene sich entfalten sehen, Theorien nicht auf dem „Wahrscheinlichen“, sondern auf dem Zement neuer Erfahrungen aufbauen können. Darüber hinaus hat jede Epoche ihre Grenzen, eine Art Bereich von Hypothesen, die, um gültig zu sein, noch durch die Ereignisse bestätigt werden müssen. Aber selbst wenn sich soziale Phänomene vor unseren Augen abspielen, wollen Marxisten manchmal Argumente für ihre Interventionen aus dem alten Arsenal historischer Fakten entlehnen.

Der Marxismus ist jedoch keine Bibel, sondern eine dialektische Methode; seine Stärke liegt in seiner Dynamik, in seiner permanenten Tendenz zur Weiterentwicklung der Formulierungen, die das zur Revolution schreitende Proletariat erworben hat. Wenn revolutionäre Umwälzungen Erinnerungen rücksichtslos hinwegfegen, wenn sie tiefe Gegensätze zwischen proletarischen Positionen und dem Lauf der Ereignisse hervorbringen, fleht der Marxist die Geschichte nicht an, seine überholten Formeln zu übernehmen, zurückzufallen: Er versteht, dass zuvor ausgearbeitete Grundsatzpositionen weiterentwickelt werden müssen, dass die Vergangenheit den Toten überlassen werden muss. Und es ist Marx, der seine Formeln von 1848 über die fortschrittliche Rolle der Bourgeoisie verwirft, es ist Lenin, der im Oktober 1917 seine Septemberhypothesen über den friedlichen Verlauf der Revolution, über die Enteignung mit Abfindung der Banken mit Füßen tritt; beide, um weit über diese Positionen hinauszugehen: um sich den wirklichen Aufgaben ihrer Zeit zu stellen. (...)

Was uns betrifft, so werden wir uns nicht scheuen zu zeigen, dass Lenins Formulierung zum Problem der nationalen Minderheiten von den Ereignissen überholt ist und dass seine in der Nachkriegszeit vertretene Position im Widerspruch zu den grundlegenden Elementen stand, die ihr Urheber ihr gegeben hatte: der Weltrevolution zum Aufblühen zu verhelfen.

Aus allgemeiner Sicht hatte Lenin während des Krieges vollkommen recht, wenn er die Notwendigkeit betonte, die wichtigsten kapitalistischen Staaten mit allen Mitteln zu schwächen, da ihr Sturz den Verlauf der Weltrevolution sicherlich beschleunigt hätte. Die Unterstützung der unterdrückten Völker bedeutete für ihn, bürgerliche Aufstandsbewegungen zu bestimmen, von denen die Arbeiter hätten profitieren können. All dies wäre unter einer Bedingung perfekt gewesen: dass die Gesamtlage des Kapitalismus, die Ära des Imperialismus, noch fortschrittliche nationale Kriege und gemeinsame Kämpfe der Bourgeoisie und des Proletariats zugelassen hätte. Was den zweiten Aspekt des von Lenin aufgeworfenen Problems betrifft, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, so hat die Russische Revolution bewiesen, dass die proletarische Revolution, wenn sie nicht mit ihrer Proklamation zusammenfällt, nur ein Mittel zur Kanalisierung revolutionärer Unruhen darstellt, eine Waffe der Unterdrückung, die alle Imperialismen 1919, von Wilson bis zu den Vertretern des französischen, italienischen und englischen Imperialismus, zu handhaben wussten."[28]

Die Schranken der Selbstkritik von 1989

Während des gesamten Prozesses, der 1975 zur Gründung der Internationalen Kommunistischen Strömung führte, war es unerlässlich, das Erbe der Kommunistischen Linken aufzunehmen, das infolge des organischen Bruchs aufgegeben worden war. Die Hauptaufgabe der IKS bestand darin, diese politische Kontinuität nach dem Bruch in der Verbindung zwischen den aufeinanderfolgenden kommunistischen Organisationen wiederherzustellen. Dank der militanten Aktion und der Kommentare der Französischen Kommunistischen Linken (GCF) und von Internacionalismo sowie der Wiederbelebung der Klasse Ende der 1960er Jahre wurde es möglich, die Beiträge der verschiedenen Strömungen der Kommunistischen Linken zu einem kohärenten Ganzen auf der Grundlage des Rahmens der Dekadenz des Kapitalismus zusammenzufassen. In dieser Arbeit war der Beitrag der Italienischen Linken von zentraler Bedeutung, und wie wir oben gesehen haben, anerkennt der Partito Comunista Internazionale (Il Comunista-Le Prolétaire) mit einer ihm zur Ehre gereichenden Offenheit, dass die wichtigsten Lehren aus der revolutionären Welle und der Konterrevolution, die von der Fraktion, die Bilan auf Französisch veröffentlichte, ausgearbeitet wurden, heute von der IKS verteidigt werden. Umgekehrt versucht der Partito Comunista Internazionale (Il Comunista-Le Prolétaire) nur sehr zaghaft, die Lehren aus seiner internen Krise zu ziehen, die durch diese opportunistische Position in der nationalen Frage verursacht wurde.

Beginnend mit Le Prolétaire Nr. 401 vom Mai-Juni 1989, also 7 Jahre nach ihrer verheerenden inneren Krise, anerkennt der Partito Comunista Internazionale (Il Comunista-Le Prolétaire), dass „die Komplexität der Situation und die Entwicklung des palästinensischen Widerstands eine gewisse Unsicherheit und falsche Positionen innerhalb der Partei verursacht haben; dies war beispielsweise der Fall bei der Hoffnung, dass die Kerne der zukünftigen proletarischen Avantgarde in der Region aus Organisationen links von der PLO hervorgehen würden. (...) Die Krise, die die Partei seit Anfang der 1980er Jahre erschütterte, wurde gerade durch die ‚Palästinafrage‘ ausgelöst.“ Unter diesen falschen Positionen nennt sie die Forderung nach einem „Mini-Palästinenserstaat, der ein Ghetto für palästinensische Proletarier wäre“ und geht sogar so weit zu verkünden – welch ein Sakrileg! – „Palästina wird nicht siegen, die proletarische Revolution wird siegen!“

Aber die Ernüchterung lässt nicht lange auf sich warten, die Grenzen dieser Selbstkritik werden schnell deutlich. Wir erfahren beispielsweise, dass „der Faktor des arabischen Nationalismus seit dem Zweiten Weltkrieg jegliches Potenzial für historischen Fortschritt in dem riesigen Gebiet vom Nahen Osten bis zum Atlantik und einschließlich Nordafrika erschöpft hat“. Das bedeutet, dass der Partito Comunista Internazionale (Il Comunista-Le Prolétaire) Gefangener seiner Theorie der geohistorischen Räume bleibt, d. h. der Vorstellung, dass es hie und da auf der Welt Gebiete gibt, in denen der Kapitalismus noch in den Kinderschuhen steckt, obwohl die Arbeiten von Rosa Luxemburg und Lenin zum Imperialismus die Vollendung des Weltmarktes seit 1914 gezeigt haben. Seit diesem Zeitpunkt befindet sich der Kapitalismus weltweit in einem senilen Zustand, und die Aufgabe des Proletariats ist überall dieselbe: den Kapitalismus zu zerstören und neue Produktionsverhältnisse zu errichten. Hierhin führt diese Zweideutigkeit über geohistorische Räume, die nationale Interessen wieder in den Kampf des Proletariats einführt: „Nach dem Marxismus besteht die richtige Herangehensweise insbesondere für Gebiete, in denen die bürgerliche Revolution nicht mehr auf der Tagesordnung steht (wo es also keine doppelten Revolutionen mehr geben kann), aber die nationale Frage noch nicht gelöst ist, darin, diese und den nationalen Kampf in den revolutionären Klassenkampf einzubeziehen. Das Ziel des revolutionären Klassenkampfs ist die Eroberung der politischen Macht, nicht die Errichtung eines Nationalstaats, sondern der Staat der Diktatur des Proletariats, das Instrument der internationalen proletarischen Revolution.“ Die Moral der Geschichte ist demnach: Der revolutionäre Klassenkampf kann geführt werden, indem die nationale Frage in seine Methode und Ziele einbezogen wird, was notwendigerweise Zugeständnisse an die nationale Frage bedeutet!

Die großartigen Erklärungen über die „internationale proletarische Revolution“ können die Position des Partito Comunista Internazionale (Il Comunista-Le Prolétaire) zur nationalen Frage nicht retten. Um kohärent zu bleiben, ist er ständig gezwungen, den Kampf für demokratische Rechte und die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung wieder aufzunehmen. Damit provoziert er eine chauvinistische Abwehrreaktion unter den israelischen Proletariern, während sie die palästinensischen Proletarier mit nationalistisch gefärbten Reden (wieder Opportunismus) betäubt: „Um mit ihrer Bourgeoisie zu brechen, müssen sich die jüdischen israelischen Proletarier von der nationalen Unterdrückung der Palästinenser distanzieren. Es gibt kein schlimmeres Unglück für ein Volk, als ein anderes zu unterwerfen, sagte Marx über die englische Unterdrückung Irlands. Um ihrer aus Sicht des Klassenkampfs unglücklichen Lage zu entkommen, müssen die israelischen jüdischen Proletarier den doppelten Standpunkt einnehmen: den Kampf gegen die Diskriminierung der palästinensischen und arabischen Proletarier in ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen (d. h. gegen den Konfessionalismus des israelischen Staates) und die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volkes, d. h. des Rechts aller Palästinenser, ihren Staat in Palästina zu errichten."[29]

Somit sieht der Partito Comunista Internazionale (Il Comunista-Le Prolétaire) immer noch nicht, dass unsere Zeit nicht dieselbe ist wie die von Marx. Er wird sein Problem niemals klären können, solange er nicht anerkennt, dass im Zeitalter des Imperialismus (oder der kapitalistischen Dekadenz) das alte bürgerlich-demokratische Programm zusammen mit dem nationalen Programm begraben wurde, dass die Nation nicht mehr als Rahmen für die Entwicklung der Produktivkräfte dienen kann. Wie Rosa Luxemburg sagte: „Die nationale Phrase freilich ist geblieben. Ihr realer Inhalt, ihre Funktion ist aber in ihr Gegenteil verkehrt; sie fungiert nur noch als notdürftiger Deckmantel imperialistischer Bestrebungen und als Kampfschrei imperialistischer Rivalitäten, als einziges und letztes ideologisches Mittel, womit die Volksmassen für ihre Rolle des Kanonenfutters in den imperialistischen Kriegen eingefangen werden können.“[30]

Wenn das Proletariat einen neuen Kurs in Richtung Revolution einschlägt, wird es noch einige Zeit mit den Fallstricken des Demokratismus und Nationalismus konfrontiert sein. An diesem Punkt wird die Präsenz einer kommunistischen Partei, die ihre programmatische Klarheit in diesen beiden Fragen längst unter Beweis gestellt hat, entscheidend sein, um das Proletariat auf den Aufstand auszurichten. Aber der politische Rahmen, auf dem die Plattform des Partito Comunista Internazionale (Il Comunista-Le Prolétaire) beruht, ist in der nationalen Frage und in vielen anderen Punkten überholt. Der Grund dafür liegt in dem Bruch, der in der Kontinuität der Arbeit der Kommunistischen Linken Italiens entstanden ist. Da er diese Kontinuität mit der Vergangenheit gebrochen hat, ist der Partito Comunista Internazionale) nicht mehr in der Lage, die Zukunft aufzubauen, d. h. zur Bildung der zukünftigen Weltpartei beizutragen, einer Partei, die weder sektiererisch noch hierarchisch noch monolithisch noch substitutionistisch ist. Sondern eine führende Partei, nicht im Sinne einer technischen Führung der Klasse, sondern einer politischen Führung, einer militanten Orientierung innerhalb der Klasse, einer Orientierung, die auf dem endgültigen kommunistischen Ziel und einer vollständigen Analyse der historischen Situation basiert.

Die Bedeutung der Varianten unter den bordigistischen Gruppen in der nationalen Frage

Der Partito Comunista Internazionale (Il Comunista-Le Prolétaire), dessen Positionen wir gerade untersucht haben, ist nur einer der Ausdrucksformen der gegenwärtigen bordigistischen Diaspora. Nach der Explosion von 1982 wandten sich die wenigen überlebenden französischen Militanten an diejenigen in Italien, die Il Comunista herausgaben, um eine neue Organisation zu gründen, die behauptete, die Arbeit der vorherigen fortzusetzen. Es wäre mühsam, die Zahl der über mehrere Kontinente verstreuten Partiti Comunisti Internazionali zu zählen, die alle behaupten, Anhänger des Bordigismus zu sein, wie er sich seit 1952 entwickelt hat. Wir erwähnen nur einen anderen wesentlichen Zweig, der in Italien um Bruno Maffi (1909-2003) geblieben war und Il Programma Comunista auf Italienisch und Cahiers Internationalistes auf Französisch veröffentlicht.

Unter all diesen Gruppen, einschließlich ihrer Spaltungen und Ausschlüsse, haben mehrere die Gültigkeit der ursprünglichen Position des Partito Comunista Internazionale zur nationalen Frage in Frage gestellt, die durch die Tatsachen so entkräftet zu sein scheint. Sie entdeckten dann wieder, dass „die Arbeiter kein Vaterland haben“ und dass die Aufgabe des Proletariats überall dieselbe sei, nämlich die Bourgeoisie zu stürzen und die Macht zu ergreifen. Aber die Gründe für diesen Positionswechsel mussten erklärt werden. Alle Partiti Comunisti Internazionali hatten darauf eine vorgefertigte Antwort parat: „Das Ende des Zyklus der antikolonialen bürgerlichen Revolutionen in Asien und Afrika“, wie es in einem Flugblatt der Madrider Gruppe El Comunista vom September 2024 verkündet wurde.

Aber diese Proklamation änderte nichts an der Substanz. Wir haben gesehen, was aus der Selbstkritik von 1989 geworden ist. Der Kampf gegen die nationale Unterdrückung war ein unantastbares Dogma. Es hatte bereits Ende der 1970er Jahre eine lange Reihe von Generalversammlungen des Partito Comunista Internazionale gegeben, die „Das Ende der bürgerlich-revolutionären Phase in der ‚Dritten Welt‘“ festschreiben sollten, wie es der Titel des Artikels in Programme Communiste Nr. 83 (1980) ankündigte. Dies war die Prämisse der falschen Selbstkritik von 1989, da grundlegende Aspekte wie der sogenannte bürgerliche Charakter der chinesischen „Revolution“ von 1949 und der algerischen „Revolution“ von 1962 sowie die angebliche „Doppelrevolution“ von 1917 in Russland nicht in Frage gestellt werden. Dieser Artikel behauptet, dass das Ende der bürgerlichen Revolutionen 1975 gekommen sei, also 61 Jahre nach dem tatsächlichen Beginn der Periode des Niedergangs des Kapitalismus, wie es der Erste Kongress der Kommunistischen Internationale betont hatte. Diese Veränderung der historischen Situation sei auf den Rückzug der Amerikaner aus Vietnam und das Ende der revolutionären Periode der chinesischen Bourgeoisie zurückzuführen, die sich, wie wir wissen, lieber mit dem „großen amerikanischen Satan“ verbündet habe. Eine sensationelle Entdeckung, wenn man bedenkt, dass die chinesische maoistische Bourgeoisie lange Zeit die Speerspitze der stalinistischen Konterrevolution war!

Die Haltung der verschiedenen Partiti Comunisti Internazionali erinnert an die Strategie der geschicktesten bürgerlichen Fraktionen der Geschichte: „Alles ändern, damit alles beim Alten bleibt.“ Urteilt selbst: „Es geht nun darum, die allgemeinen Grenzen festzustellen, wo das Proletariat, das schon die für die Massen günstigste Verwirklichung dieser Reformen an seine eigene Revolution knüpft, praktisch nur noch allein die Geschichte vorwärtstreiben kann und somit der Erbe der noch nicht verwirklichten bürgerlichen Aufgaben wird.“[31] Aus der Tür gejagt, kommt die bürgerliche Revolution durch das Fenster zurück. Deshalb können die Cahiers Internationalistes erneut gelassen behaupten, dass die Enteignung der palästinensischen Bauern seit der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 an die Zeit der ursprünglichen Akkumulation des Kapitalismus erinnert: „Die Geschichte dieser Enteignung ähnelt der der englischen Bauern, von denen Marx sprach: ‚Die Geschichte dieser Enteignung ist in den Annalen der Menschheit mit Blut und Feuer geschrieben‘“.

Die Einführung der Theorie der geohistorischen Räume durch den Partito Comunista Internazionale steht in völligem Widerspruch zum Marxismus. Für diesen muss die Realität in ihrer Gesamtheit, in ihrer Totalität betrachtet werden. Und aus dieser Totalität heraus können ihre verschiedenen Teile analysiert werden. Das Gleiche gilt für die kapitalistische Produktionsweise. Ausgehend vom Standpunkt des Gesamtkapitals ist dies die dialektische Methode, die Marx in seinem Werk tausendmal bekräftigt hat. Nehmen wir nur ein Beispiel aus den Theorien über den Mehrwert: „Es ist aber nur der foreign trade, die Entwicklung des Marktes zum Weltmarkt, die das Geld zum Weltgeld und die abstrakte Arbeit zur gesellschaftlichen Arbeit entwickelt. Der abstrakte Reichtum, Wert, Geld – hence die abstrakte Arbeit entwickelt sich in dem Maße, worin die konkrete Arbeit zu einer den Weltmarkt umfassenden Totalität verschiedener Arbeitsweisen entwickelt. Die kapitalistische Produktion beruht auf dem Wert oder der Entwicklung der im Produkt enthaltenen Arbeit als gesellschaftlicher. Dies aber nur auf der Basis des Foreign trade und des Weltmarkts. Dies also sowohl Voraussetzung als Resultat der kapitalistischen Produktion."[32]

Eine echte Klärung der nationalen Frage, die den verschiedenen Partiti Comunisti Internazionali so viel Schwierigkeiten bereitet, bedeutet, dass insbesondere folgende Fragen behandelt werden müssen:

- Die Entstehung eines hoch entwickelten Kapitalismus ist eine der materiellen Voraussetzungen für die Verwirklichung des Kommunismus. Aber zunächst einmal machen seine eigenen spezifischen Widersprüche eine Ausdehnung einer solchen kapitalistischen Entwicklung auf die ganze Welt unmöglich. Darüber hinaus bleibt der Kapitalismus eine Mangelwirtschaft, weil er aufgrund des Lohnverhältnisses und des Wettbewerbs ein gelähmtes System ist. Er schafft die Keime des Kommunismus, aber nicht den Kommunismus selbst. Auf diese Weise müssen die wirtschaftlichen Maßnahmen, die das Proletariat ergreifen kann, zwar auf den Kommunismus ausgerichtet sein, aber zunächst begrenzt bleiben, bis die internationale Macht der Arbeiterräte gesichert ist. Dies gilt umso mehr, als der Zerfall des Kapitalismus zu großen Zerstörungen geführt haben wird, auch während des revolutionären Bürgerkriegs. Diese Begrenzung ist sowohl in den entwickelten Ländern als auch in den Ländern an der Peripherie des Kapitalismus unvermeidlich und hat nichts mit bürgerlichen Forderungen zu tun, wie die verschiedenen Partiti Comunisti Internazionali behaupten.

- Marx und Engels waren die ersten, die in der Adresse des Zentralkomitees der Kommunistischen Liga vom März 1850 den Begriff der „permanenten Revolution“ in Frage stellten.[33] Wir schreiben das Jahr 1848 und nicht mehr 1789, die proletarische Bedrohung hat die revolutionären Ansprüche der Bourgeoisie vollständig abgekühlt. Die Hypothese der „permanenten Revolution“[34] erwies sich ebenfalls als falsch, ebenso wie die von den Bordigisten erfundene „doppelte Revolution“[35]. Wie die oben zitierte Zeitschrift Bilan zeigt, hat die italienische Fraktion sehr wohl verstanden, dass die historischen Aufgaben einer Klasse nicht von einer anderen Klasse übernommen werden können, die Bordigisten jedoch nicht.

- Es gibt keine antiimperialistischen Kämpfe, wie die Maoisten behaupten, es gibt nur interimperialistische Konflikte. Die antikolonialen Kämpfe endeten mit der Entkolonialisierung. Die koloniale Unterwerfung hat sich in eine imperialistische Unterwerfung verwandelt, die die am weitesten entwickelten bürgerlichen Mächte den schwächeren Ländern in ihrem blutigen Wettstreit um die Kontrolle über die strategischen Zonen des Planeten aufzwingen. All dies in einem Kontext, in dem Imperialismus, Militarisierung, Staatskapitalismus, Chaos und Krieg zum Lebensinhalt aller Nationen geworden sind, ob groß oder klein.

- Die Aufgaben des Proletariats sind heute überall dieselben: die Machtergreifung und die Errichtung der Diktatur des Proletariats durch seinen Kampf als Klasse, seine internationale Vereinigung und die Verallgemeinerung der Revolution. Diese Dynamik, bei der die kommunistische Welt-Partei eine entscheidende Rolle spielen muss, beruht auf der Fähigkeit des Proletariats, die nicht ausbeutenden sozialen Schichten – die Masse der Arbeitslosen, die arme Bauernschaft und das Kleingewerbe – hinter sich zu bringen oder notfalls zu neutralisieren, ein Prozess, der nur unter der Führung der erfahrensten Arbeiterklasse, derjenigen des alten Europa, durchführbar ist.

Zu diesem Zweck müssen die Kommunisten überall das Prinzip der Klassenautonomie und des proletarischen Internationalismus verteidigen, d. h. unter dem schönen Gerede von der nationalen Unterdrückung das hässliche Gesicht des Chauvinismus entlarven.

März 2025, A. Elberg


[1] Die Webseite von einigen übriggebliebenen Bordigisten nach der Explosion des Partito Comunista Internazionale 1982, die auch die deutsche Sektion hinwegfegte, hat Bordigas Studie in drei Teilen neu übersetzt: https://alter-maulwurf.de/download/720/ [3]; https://alter-maulwurf.de/download/723/ [4]; https://alter-maulwurf.de/download/726/ [5].

[2] Dieser Bericht wurde in Il Programma Comunista, Ausgaben 1, 2 und 3 (1961) und dann in Le fil du temps, Ausgabe 12 (1975) veröffentlicht. Das Zitat stammt aus der letztgenannten Zeitschrift, S. 216, und die Übersetzung ist von uns.

[3] Siehe unseren historischen Beitrag zu diesem Phänomen in den Ausgaben 66, 68 und 69 (1991-1992) der International Review, „How the revolutionary wave of 1917-23 was weakened by support for ‚national liberation‘ movements“. Auf Deutsch siehe auch Kommunisten und die nationale Frage (aus International Review, engl. Ausgabe Nr. 42, 1985) [6], auf unserer Webseite, Januar 2007.

[4] Programme Communiste, Nr. 75 (1977), S. 51.

[5] Schon vorher hatte es v.a. in Florenz 1978 eine bedeutende Abspaltung gegeben, die sich auch Partito Comunista Internazionale nennt und die Zeitschrift Il Partito Comunista veröffentlicht, bis heute besteht und eine der drei wesentlichen bordigistischen Organisationen ist.

[6] Der Krieg im Nahen Osten: Der veraltete theoretische Rahmen der bordigistischen Gruppen [7], IKSonline April 2024

[7] Alle diese neuen Nationen waren keineswegs Ausdruck eines expandierenden Kapitalismus, sondern ein reines Produkt des Imperialismus. Sie offenbarten sofort ihre wahre Natur, indem sie ihre eigenen Proletarier unterdrückten und ihren Nachbarn den Krieg erklärten.

[8] Noch heute beruft sich Russland gegenüber den afrikanischen Ländern auf seine antikoloniale Reinheit.

[9] Siehe insbesondere unsere Broschüre Nation oder Klasse.

[10] Siehe The International Communist Party (Communist Programme) at a turning point in its history [8] in International Review (engl./frz./span. Ausgabe) Nr. 32 (1983); The proletarian political milieu faced with the Gulf War [9] in International Review Nr. 64 (1991); How not to understand the development of chaos and imperialist conflicts [10] in International Review Nr. 72 (1993); Rejecting the notion of decadence demobilises the proletariat in the face of war [11] in International Review Nr. 77 und 78 [12].

[11] Die erste Ausgabe von Prometeo erschien im November 1943. Dank der Streikbewegung entwickelte sich die Partei in den Zirkeln der Arbeiterklasse rasch und hatte Ende 1944 mehrere Föderationen gebildet, von denen die wichtigsten in Turin, Mailand und Parma waren. Im selben Jahr veröffentlichte sie einen Programmentwurf. Im Dezember 1945 und Januar 1946 hielt sie in Turin eine erste Konferenz der gesamten Partei ab.

[12] Siehe unser Buch Die Italienische Kommunistische Linke, 2007, S. 43

[13] Für diesen Teil fassen wir einige Passagen aus unserem Artikel „Polemik: Die Wurzeln der IKS und des IBRP“ zusammen, der in der Internationalen Revue Nr. 22 und 23 (1997) veröffentlicht wurde. Teil eins: Die Italienische Fraktion und die Französische Kommunistische Linke [13]; Teil zwei: Die Gründung des Partito Comunista Internazionalista [14].

[14] “Défense de la continuité du programme communiste“ (Verteidigung der Kontinuität des kommunistischen Programms), Éditions Programme Communiste, 1972, S. 43 und 44 (französische Ausgabe)

[15] Unter ihnen befanden sich die letzten internationalistischen Militanten, die 1934 aus dem stalinistischen Partito Comunista d‘Italia ausgeschlossen worden waren, der die Sache des Proletariats verraten hatte. Dazu gehörten insbesondere Onorato Damen und andere, die ihre militante Tätigkeit im Untergrund in Mussolinis Gefängnissen fortgesetzt hatten.

[16] Marc Chirik (1907–1990), ein Militant der italienischen Fraktion, war 1942 einer der Gründer des Noyau Français de la Gauche Communiste (NFGC), der 1944 zur Fraction Française de la Gauche Communiste (FFGC) und 1945 zur Gauche Communiste de France (GCF) wurde. Er war auch einer der Gründer der Gruppe Internacionalismo 1964, der Gruppe Révolution Internationale 1968 und der Internationalen Kommunistischen Strömung 1975.

[17] Nach dem Ende der sozialen Unruhen in Italien und dem Verlust der Hälfte der Militanten wurde auf dem zweiten Kongress des Partito Comunista Internazionalista 1948 die Möglichkeit einer Wiederaufnahme der Arbeit einer Fraktion angesprochen. Damen unterband jedoch jede Diskussion, indem er die klassische trotzkistische Position vertrat: Der Tod der alten Partei schaffe sofort die Voraussetzungen für die Entstehung einer neuen. Siehe den Artikel in Internationalisme (GCF) Nr. 36 (1948), „Der zweite Kongress der Internationalistischen Kommunistischen Partei“, wiederveröffentlicht in International Review Nr. 36 (1984), engl./frz./span. Ausgabe.

[18] „La portée de la scission de 1952 dans le Partito Comunista Internazionalista“, Programme Communiste Nr. 93 (März 1993), S. 64 (französische Ausgabe, unsere Übersetzung).

[19] Die „Umkehrung der Praxis“ wird in Programme Communiste Nr. 56 (1972) erläutert. Ein Diagramm des sich ständig ausweitenden Kapitalismus findet sich ebenfalls auf S. 58 (französische Ausgabe, unsere Übersetzung).

[20] Das Diagramm dieser Pyramide findet sich in Programme Communiste Nr. 63 (1974), S. 35 (französische Ausgabe, unsere Übersetzung). Es handelt sich um einen Bericht über eine Parteiversammlung am 1. September 1951 in Neapel (https://www.pcint.org/40_pdf/04_PC-pdf/PC_063-w.pdf [15]).

[21] Die Forderung nach „Rotem Terror“ ist erneut ein Zeichen für die Verwirrung zwischen bürgerlicher und proletarischer Revolution unter den Bordigisten. Was die Rolle des Staates in der Revolution angeht, so spielt er, abgesehen von der Organisation des bewaffneten Kampfes gegen den Widerstand der gestürzten Klasse, bereits in der bürgerlichen Revolution keine dynamische revolutionäre Rolle, wie wir in unserer Studie State and dictatorship of the proletariat [16] in der International Review Nr. 11 (1977), engl./frz./span. Ausgabe, gezeigt haben.

[22] F. Engels, Einleitung zu Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 22, S. 199

[23] „L'invariance historique du marxisme“, Programme Communiste Nr. 53-54 (1971-1972), S. 3, französische Ausgabe, hier nach der deutschen Übersetzung zitiert: https://www.sinistra.net/lib/upt/kompro/ciou/ciouhbebod.html [17] (Punkt 12)

[24] Obwohl zutiefst vom Opportunismus geprägt, bleiben die drei Organisationen, alle mit dem Namen Partito Comunista Internazionale, dennoch eine Strömung der Kommunistischen Linken, d. h. eine proletarische politische Gruppe, da sie angesichts imperialistischer Kriege im Allgemeinen eine internationalistische Position vertreten. Die Forderung nach Selbstbestimmung für das palästinensische Volk ist zwar eine erhebliche Schwäche, aber sie ist anderer Natur als die Position der Linken (Trotzkisten, Maoisten, einige Anarchisten), die eine „Arbeiter- und Bauernrepublik im Nahen Osten“ für die Palästinenser fordern. Wir sollten uns daran erinnern, dass Opportunismus eine Krankheit innerhalb der Arbeiterbewegung ist, die ständig mit der Gefahr der Unterwanderung durch die herrschende Ideologie konfrontiert ist. Nur in außergewöhnlichen historischen Perioden (Krieg, Revolution) geht der Opportunismus ins Lager der Bourgeoisie über, noch bevor es zum Verrat der Partei kommt. In diesem Fall ist es in der Regel die Mehrheit der Führung, die in Zusammenarbeit mit den anderen Kräften der bürgerlichen Demokratie zur Umwandlung der Partei in eine Kraft im Dienste des Kapitalismus beiträgt. Wir sind sicher, dass die Bourgeoisie, auch wenn sie alle revolutionären Gruppen genau im Auge behält, derzeit nicht die Absicht hat, den Partito Comunista Internazionale (bzw. seine wesentlichen drei seriösen „Erben“) in ihren Dienst zu stellen, da das Spektrum der bürgerlichen Gruppen, die behaupten, Teil der proletarischen Revolution zu sein (Linksextremismus), heute ausreichend vielfältig ist.

[25] „Éléments de l'histoire de la Fraction de gauche à l'étranger (de 1928 à 1935)“ in Programme Communiste, Nr. 97 französische Ausgabe, unsere Übersetzung, (September 2000), Nr. 98 (März 2003), Nr. 100 (Dezember 2009) und Nr. 104 (März 2017).

[26] Gegen das Konzept des ‚genialen Führers‘ [18], Internationalisme Nr. 25, August 1947, veröffentlicht in International Review (englische Ausgabe) Nr. 33 (1983). Auf Deutsch siehe auch den zweiten Teil dieses Artikels: Gegenwärtige Probleme der Arbeiterbewegung - Internationalisme Nr. 25 – August 1947 [19], IKSonline Oktober 2007

[27] „Éléments de l'histoire de la Fraction de gauche à l'étranger (de 1928 à 1935)“, Programme Communiste Nr. 104 (2017), S. 49, französische Ausgabe, unsere Übersetzung.

[28] „Le problème des minorités nationales“, Bilan Nr. 14 (Dezember 1934–Januar 1935), unsere Übersetzung nach dem frz. Original.

[29] Alle diese Zitate stammen aus der Broschüre des Partito Comunista Internazionale (Il Comunista-Le Prolétaire), Le marxisme et la question palestinienne [20]“ (zu finden auf www.pcint.org [21]), unsere Übersetzung.

[30] Rosa Luxemburg, Die Junius-Broschüre, Kapitel VII, Gesammelte Werke, Band 4, online: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1916/junius/teil7.htm [22]

[31] „Der Abschluss der bürgerlich-revolutionären Phase in der „Dritten Welt“, Kommunistisches Programm https://www.sinistra.net/lib/upt/kompro/ciqe/ciqemhobid.html [23]

[32] Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26.3 S. 250

[33] Siehe die Vorworte zum Manifest der Kommunistischen Partei und die Einleitung zu Marx' Buch Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in denen Engels erklärt, warum „die Geschichte uns und allen, die ähnlich dachten, unrecht gegeben“ hat. Die klarste Erklärung dafür, dass die historischen Aufgaben einer Klasse nicht von einer anderen Klasse übernommen werden können, gibt Marx in den Enthüllungen über den Kommunisten-Prozess zu Köln (Basel, 1853)

[34] „Als Lenin 1917 die Aprilthesen schrieb, lehnte er alle überholten Vorstellungen von einer Zwischenstufe zwischen proletarischer und bürgerlicher Revolution, alle Überreste rein nationaler Vorstellungen von revolutionärer Veränderung ab. Tatsächlich machten die Thesen den zweideutigen Begriff der permanenten Revolution überflüssig und bekräftigten, dass die Revolution der Arbeiterklasse kommunistisch und international ist oder gar nichts.“ („Der Kommunismus ist keine schöne Idee, sondern eine materielle Notwendigkeit – Die Revolutionen von 1848: Die kommunistische Perspektive wird klarer [24]“. International Review Nr. 73 (engl./frz./span. Ausgabe).

[35] Dies entsprach überhaupt nicht Lenins Vision, für ihn „kann diese ganze Revolution überhaupt nur verstanden werden als ein Glied in der Kette der sozialistischen proletarischen Revolutionen, die durch den imperialistischen Krieg hervorgerufen werden“ („Vorwort zu Staat und Revolution“, 1917, zitiert nach LW Bd. 25). Siehe auch: „Die russische Revolution und die bordigistische Strömung: schwerwiegende Fehler...“, Russland 1917: Die größte revolutionäre Erfahrung der Arbeiterklasse [25], International Review Nr. 131 (englisch).

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Debatte im proletarischen politischen Milieu

Antisemitismus, Zionismus, Antizionismus: Alle sind Feinde des Proletariats, Teil 1

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Vorwort

Seit dem 7. Oktober 2023 hat die Barbarei des Krieges im Nahen Osten ein beispielloses Ausmaß erreicht. Vor diesem Datum gab es zahlreiche Anschläge nationalistischer Terroristen gegen die Bevölkerung Israels, aber nichts ist vergleichbar mit der Grausamkeit und dem Ausmaß der Gräueltaten, die die Hamas am 7. Oktober verübt hat. Und obwohl die israelischen Streitkräfte in der Vergangenheit zahlreiche brutale Vergeltungsmaßnahmen gegen die Bevölkerung im Gazastreifen durchgeführt haben, ist nichts vergleichbar mit der systematischen Zerstörung von Häusern, Krankenhäusern, Schulen und anderer lebenswichtiger Infrastruktur im gesamten Gazastreifen und mit der schrecklichen Zahl von Toten und Verwundeten, die Israels Rachefeldzug für den 7. Oktober gefordert hat – ein Feldzug, der immer offener die Form einer ethnischen Säuberung des gesamten Gebiets annimmt, ein Projekt, das nun auch von der Trump-Regierung in den USA offen unterstützt wird. Der Konflikt zwischen Israel und der Hamas hat sich nicht nur auf die Dezimierung der Hisbollah im Libanon, auf Angriffe auf die Houthis im Jemen und auf Militäroperationen gegen den Iran selbst ausgeweitet, sondern die Region wird auch von parallelen Konflikten erschüttert, die nicht weniger unlösbar scheinen: beispielsweise zwischen den Türken und Kurden in Syrien oder zwischen Saudi-Arabien und dem Iran und seinen Houthi-Agenten um die Kontrolle über den Jemen. Der Nahe Osten, eine der wichtigsten Wiegen der Zivilisation, ist zu einem Vorboten ihrer zukünftigen Zerstörung geworden.

In dem Artikel Mehr als ein Jahrhundert imperialistischer Konfrontationen in Israel/Palästina [26] in der Internationalen Revue Nr. 60 haben wir einen historischen Überblick über den „Israel-Palästina“-Konflikt vor dem Hintergrund der umfassenderen imperialistischen Kämpfe um die Kontrolle über den Nahen Osten gegeben. In den beiden folgenden Artikeln werden wir uns auf die ideologischen Rechtfertigungen konzentrieren, mit denen die verfeindeten imperialistischen Lager diese „Spirale der Gräueltaten“ rechtfertigen. So beruft sich der Staat Israel immer wieder auf die Erinnerung an frühere Wellen der Judenverfolgung, allen voran den Holocaust, um die zionistische Kolonisierung Palästinas als legitime nationale Befreiungsbewegung darzustellen und vor allem seine mörderischen Offensiven als nichts anderes als die Verteidigung des jüdischen Volkes gegen einen zukünftigen Holocaust zu rechtfertigen. Der palästinensische Nationalismus und seine linken Unterstützer stellen das Massaker an israelischen und anderen Zivilisten vom 7. Oktober als legitimen Akt des Widerstands gegen jahrzehntelange Unterdrückung und Vertreibung dar, die bis zur Gründung des israelischen Staates zurückreichen. Und mit seinem Slogan „Vom Fluss bis zum Meer, Palästina wird frei sein“ bietet der palästinensische Nationalismus ein finsteres Spiegelbild der Forderung der zionistischen Rechten nach der Errichtung eines Großisraels: In der dunklen Utopie, die der erste Slogan entwirft, wird das Land frei von Juden sein, während das Projekt eines Großisraels durch die Massenvertreibung der arabischen Bevölkerung aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland verwirklicht werden soll.

Diese Ideologien sind nicht nur passive Reflexe der „materiellen“ Bedürfnisse des Krieges: Sie dienen aktiv dazu, die Bevölkerung der Region und weltweit hinter die verschiedenen kriegführenden Lager zu mobilisieren.  Ihre Analyse und Entmystifizierung sind daher eine notwendige Aufgabe für alle, die sich internationalistisch gegen alle imperialistischen Kriege stellen. Wir beabsichtigen, weitere Beiträge zu verfassen, die die Wurzeln anderer Ideologien aufdecken, die in der Region eine ähnliche Rolle spielen, wie beispielsweise der Islamismus und der kurdische Nationalismus.

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Teil 1: Antisemitismus und die Ursprünge des Zionismus

Die bürgerliche Revolution gegen den Feudalismus im Europa des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts nahm im Allgemeinen die Form von Kämpfen um nationale Einheit oder Unabhängigkeit gegen die kleinen Königreiche und größeren Reiche an, die von zerfallenden Monarchien und Aristokratien beherrscht wurden. Die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung (zum Beispiel für Polen gegen das Zarenreich) konnte daher ein eindeutig fortschrittliches Element enthalten, das von Marx und Engels beispielsweise im Kommunistischen Manifest nachdrücklich unterstützt wurde. Nicht weil sie diese Forderung als Konkretisierung eines abstrakten „Rechts” aller nationalen oder ethnischen Gruppen sahen, sondern weil sie die politischen Veränderungen beschleunigen konnte, die für die Entwicklung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse in einer Zeit notwendig waren, in der der Kapitalismus seine historische Aufgabe noch nicht erfüllt hatte. Nach der Pariser Kommune von 1871, dem ersten Beispiel für die Machtübernahme durch das Proletariat, begann Marx jedoch bereits zu hinterfragen, ob es zumindest in den Zentren des weltweiten kapitalistischen Systems noch wirklich nationale Kriege geben könne. Denn die herrschenden Klassen Preußens und Frankreichs hatten gezeigt, dass die nationalen Bourgeoisien angesichts der proletarischen Revolution bereit waren, ihre Differenzen zu begraben, um die Gefahr durch die ausgebeutete Klasse zu ersticken, und so die „Verteidigung der Nation“ als Vorwand benutzten, um das Proletariat zu zerschlagen. Zum Zeitpunkt des Ersten Weltkriegs, der den Eintritt des Kapitalismus in seine Epoche des Niedergangs markierte, kam Rosa Luxemburg in der Junius-Broschüre zu dem Schluss, dass die nationalen Befreiungskämpfe jeglichen progressiven Inhalt verloren hatten, da sie in die Machenschaften konkurrierender imperialistischer Mächte verstrickt waren. Nicht nur das: Die kleinen Nationen waren selbst imperialistisch geworden, und die „unterdrückten“ Nationen von gestern waren zu Unterdrückern noch kleinerer Nationen geworden, denen sie dieselbe Politik der Ausbeutung, Vertreibung und Massakrierung auferlegten, die sie selbst erlebt hatten. Die Geschichte des Zionismus hat Rosa Luxemburgs Analyse voll und ganz bestätigt. Er war als bedeutende nationale Bewegung als Reaktion auf das „Wiederaufleben“ des Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden und somit ebenso wie diese neue Welle des Antisemitismus im Wesentlichen ein Produkt einer kapitalistischen Gesellschaft, die bereits ihrem Niedergang entgegen ging. Wie wir in den folgenden Artikeln zeigen werden, hat er immer wieder bewiesen, dass er ein „falscher Messias“[1] ist, der wie alle Nationalismen nicht nur stets als Akteur in größeren imperialistischen Spielen agierte, sondern auch konsequent die schreckliche Unterdrückung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung in Europa und im Nahen Osten instrumentalisierte, um die Vertreibung und Massaker an der „einheimischen“ Bevölkerung Palästinas zu rechtfertigen.

Aber Luxemburgs Ablehnung aller Formen des Nationalismus wird ebenso durch die Geschichte der verschiedenen Ausdrucksformen des „Antizionismus“ bestätigt. Ob sie nun die grüne Flagge des Dschihadismus oder die rote Flagge der linken Kapitalisten trägt, diese angeblich „antiimperialistische“ Ideologie ist ebenso reaktionär wie der Zionismus selbst und dient dazu, ihre Anhänger an die Fronten des Kapitals zu treiben, hinter andere imperialistische Mächte, die keine Lösung für die schreckliche Notlage der palästinensischen Bevölkerung haben. Wir werden darauf im zweiten Teil des Artikels zurückkommen.

Das Wiederaufleben des Antisemitismus in Westeuropa im späten 19. Jahrhundert

Die Arbeiter-Zeitung Nr. 19 vom 9. Mai 1890 veröffentlichte den folgenden Brief von Engels, der ursprünglich an ein Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Isidor Ehrenfreund, geschrieben worden war. Er war Teil einer allgemeineren Erkenntnis des marxistischen Flügels der Arbeiterbewegung, dass es notwendig war, den Aufstieg des Antisemitismus zu bekämpfen, der Auswirkungen auf die Arbeiterklasse und sogar auf Teile ihrer politischen Avantgarde, die sozialdemokratischen Parteien, hatte.[2]

„Ob Sie aber mit dem Antisemitismus nicht mehr Unglück als Gutes anrichten werden, muß ich Ihnen zu bedenken geben. Der Antisemitismus ist das Merkzeichen einer zurückgebliebenen Kultur und findet sich deshalb auch nur in Preußen und Österreich resp. Rußland. Wenn man hier in England oder Amerika Antisemitismus treiben wollte, so würde man einfach ausgelacht, und Herr Drumont erregt in Paris mit seinen Schriften – die an Geist denen der deutschen Antisemiten unendlich überlegen sind – doch nur ein bißchen wirkungslose Eintagssensation.

Zudem muß er ja jetzt, da er als Stadtratskandidat auftritt, selbst sagen, er sei gegen das christliche Kapital ebensosehr wie gegen das jüdische! Und Herrn Drumont würde man lesen, wenn er auch die gegenteilige Meinung verträte.

Es ist in Preußen der Kleinadel, das Junkertum, das 10000 Mark einnimmt und 20000 Mark ausgibt und daher den Wucherern verfällt, das in Antisemitismus macht, und in Preußen und Österreich ist es der dem Untergang durch die großkapitalistische Konkurrenz verfallene Kleinbürger, Zunfthandwerker und Kleinkrämer, der den Chor dabei bildet und mitschreit. Wenn aber das Kapital diese Klassen der Gesellschaft vernichtet, die durch und durch reaktionär sind, so tut es, was seines Amtes ist, und tut ein gutes Werk, einerlei, ob es nun semitisch oder arisch, beschnitten oder getauft ist; es hilft den zurückgebliebenen Preußen und Österreichern vorwärts, daß sie endlich auf den modernen Standpunkt kommen, wo alle alten gesellschaftlichen Unterschiede aufgehen in den einen großen Gegensatz von Kapitalisten und Lohnarbeitern. Nur da, wo dies noch nicht der Fall, wo noch keine starke Kapitalistenklasse existiert, also auch noch keine starke Lohnarbeiterklasse, wo das Kapital noch zu schwach ist, sich der gesamten nationalen Produktion zu bemächtigen, und daher die Effektenbörse zum Hauptschauplatz seiner Tätigkeit hat, wo also die Produktion noch in den Händen von Bauern, Gutsherren, Handwerkern und ähnlichen aus dem Mittelalter überkommenen Klassen befindet – nur da ist das Kapital vorzugsweise jüdisch und nur da gibt's Antisemitismus.

In ganz Nordamerika, wo es Millionäre gibt, deren Reichtum sich in unseren lumpigen Mark, Gulden oder Franken sich kaum ausdrücken läßt, ist unter diesen Millionären nicht ein einziger Jude, und die Rothschilds sind wahre Bettler gegen diese Amerikaner. Und selbst hier in England ist Rothschild ein Mann von bescheidenen Mitteln z.B. gegenüber dem Herzog von Westminster. Selbst bei uns am Rhein, wo wir mit Hilfe der Franzosen den Adel vor 95 Jahren zum Land hinausgejagt und uns eine moderne Industrie geschaffen haben, wo sind da die Juden?

Der Antisemitismus ist also nichts als eine Reaktion mittelalterlicher, untergehender Gesellschaftsschichten gegen die moderne Gesellschaft, die wesentlich aus Kapitalisten und Lohnarbeitern besteht, und dient daher nur reaktionären Zwecken unter scheinbar sozialistischem Deckmantel; er ist eine Abart des feudalen Sozialismus, und damit können wir nichts zu schaffen haben. Ist er in einem Lande möglich, so ist das ein Beweis, daß dort noch nicht genug Kapital existiert. Kapital und Lohnarbeit sind heute untrennbar. Je stärker das Kapital, desto stärker auch die Lohnarbeiterklasse, desto näher also das Ende der Kapitalistenherrschaft. Uns Deutschen, wozu ich auch die Wiener rechne, wünsche ich also recht flotte Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft, keineswegs deren Versumpfen im Stillstand.

Dazu kommt, daß der Antisemitismus die ganze Sachlage verfälscht. Er kennt nicht einmal die Juden, die er niederschreit. Sonst würde er wissen, daß hier in England und in Amerika, dank den osteuropäischen Antisemiten, und in der Türkei, dank der spanischen Inquisition, es Tausende und aber Tausende jüdischer Proletarier gibt; und zwar sind diese jüdischen Arbeiter die am schlimmsten ausgebeuteten und die allerelendsten. Wir haben hier in England in den letzten zwölf Monaten drei Streiks jüdischer Arbeiter gehabt, und da sollen wir Antisemitismus treiben als Kampf gegen das Kapital?

Außerdem verdanken wir den Juden viel zuviel. Von Heine und Börne zu schweigen, war Marx von stockjüdischem Blut; Lasalle war Jude. Viele unserer besten Leute sind Juden. Mein Freund Victor Adler, der jetzt seine Hingebung für die Sache des Proletariats im Gefängnis in Wien abbüßt, Eduard Bernstein, der Redakteur des Londoner 'Sozialdemokrat', Paul Singer, einer unserer besten Reichstagsmänner – Leute auf deren Freundschaft ich stolz bin, und alles Juden! Bin ich doch selbst von der 'Gartenlaube' zum Juden gemacht worden, und allerdings, wenn ich wählen müßte, dann lieber Jude als 'Herr von'.“

Es war nicht das erste Mal, dass die Arbeiterbewegung und vor allem ihre kleinbürgerlichen Randgruppen von dem befallen waren, was August Bebel einmal als „Sozialismus der dummen Kerle“ bezeichnet hatte – im Wesentlichen die Ablenkung eines embryonalen Antikapitalismus auf die Sündenbockrolle der Juden und insbesondere der „jüdischen Finanzen“, die als einzige Ursache für das Elend der kapitalistischen Gesellschaft angesehen wurden. Proudhons Antisemitismus war bösartig und offen,[3] und Bakunins stand ihm in nichts nach. Und tatsächlich waren selbst Marx und Engels nicht völlig immun gegen diese Krankheit. Marx' Zur Judenfrage von 1843 war ausdrücklich für die politische Emanzipation der Juden in Deutschland gegen die Sophistereien von Bruno Bauer geschrieben, wies aber auch auf die Grenzen einer rein politischen Emanzipation innerhalb der Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft hin.[4] Gleichzeitig enthielt der Aufsatz jedoch einige Zugeständnisse an antisemitische Motive, die seitdem von den Feinden des Marxismus genutzt wurden; und die private Korrespondenz von Marx und Engels, insbesondere zum Thema Ferdinand Lassalle, enthält eine Reihe von „Witzen” über dessen jüdische Herkunft (und sogar über seine „negroiden” Züge), die bestenfalls nur Verlegenheit hervorrufen können. Und in einigen seiner früheren öffentlichen Schriften scheint sich Engels einiger antisemitischer Verunglimpfungen in Publikationen, an denen er aktiv mitwirkte, mehr oder weniger nicht bewusst zu sein.[5] Wir werden einige der Fragen, die diese Narben aufwerfen, in einem späteren Artikel aufgreifen.

Als Engels den Brief an Ehrenfreund schrieb, hatte sein Verständnis der gesamten Frage jedoch eine grundlegende Entwicklung durchlaufen. Diese Entwicklung hatte mehrere Ursachen, von denen einige im Brief zum Ausdruck kommen.

Erstens hatte Engels in der Zeit der Ersten Internationale und danach eine Reihe politischer Kämpfe durchlebt, in denen Gegner der marxistischen Strömung nicht gezögert hatten, antisemitische Angriffe gegen Marx selbst zu verwenden – insbesondere Bakunin, der Marx' „Autoritarismus“ mit der Tatsache begründete, dass er sowohl Jude als auch Deutscher sei.[6] Und in Deutschland äußerte Eugen Dühring, dessen angebliches „Alternativsystem” zum marxistischen theoretischen Rahmen Engels zu seiner berühmten Polemik „Anti-Dühring” veranlasste, einen tiefen Hass auf die Juden, der in späteren Schriften die Nazis vorwegnahm, indem er ihre buchstäbliche Ausrottung forderte.[7] So konnte Engels erkennen, dass der „Sozialismus der dummen Kerle“ mehr als ein Produkt von Dummheit oder theoretischen Irrtümern war – er war eine Waffe gegen die revolutionäre Strömung, die er zu entwickeln suchte. So beendet er den Brief mit einem klaren Bekenntnis zur Solidarität gegen die rassistischen Angriffe, die in der antisemitischen Presse gegen die vielen Revolutionäre mit jüdischem Hintergrund veröffentlicht worden waren.

Gleichzeitig, so erklärt Engels in dem Brief, sei im späten 19. Jahrhundert in den Städten Westeuropas „dank den osteuropäischen Antisemiten“ ein jüdisches Proletariat entstanden. Mit anderen Worten: Die zunehmende Verarmung der Juden im Russischen Reich und der wachsende Rückgriff des zerfallenden zaristischen Regimes auf Pogrome hatten Hunderttausende von Juden dazu getrieben, in Westeuropa und den USA Zuflucht zu suchen, wobei die meisten von ihnen nur mit den Kleidern am Leib kamen und keine andere Wahl hatten, als sich den Reihen des Proletariats anzuschließen, insbesondere in der Bekleidungsindustrie. Dieser Zustrom war, ähnlich wie heute die „Flüchtlingswelle“ aus Afrika und dem Nahen Osten nach Westeuropa oder aus Lateinamerika in die USA, ein entscheidender Faktor für den Aufstieg rassistischer Parteien, aber für Engels gab es keinen Moment des Zögerns, die Kämpfe dieser eingewanderten Proletarier zu unterstützen, die, wie es in dem Brief hieß, ihren kämpferischen Geist in einer Reihe von Streiks unter Beweis gestellt hatten (und wir könnten hinzufügen, durch einen recht hohen Grad an Politisierung). Tatsächlich hatte Engels zusammen mit Marx' Tochter Eleonor aus erster Hand Erfahrungen mit den Streikbewegungen jüdischer Arbeiter im Londoner East End gesammelt. Es war daher völlig klar, dass Revolutionäre unter keinen Umständen „Antisemitismus treiben sollen als Kampf gegen das Kapital“.

Die größte Schwäche des Briefes ist die Vorstellung, dass Antisemitismus im Wesentlichen mit dem Fortbestehen feudaler Verhältnisse verbunden sei und dass die weitere Entwicklung des Kapitalismus seine Grundlagen untergraben und ihn sogar lächerlich machen werde.

Natürlich hatte der Antisemitismus tiefe Wurzeln in vorkapitalistischen Gesellschaftsformen. Er reichte mindestens bis in die Antike zurück, wo er durch die anhaltende Tendenz der Bevölkerung Israels, sich gegen die politischen und religiösen Diktate der griechischen und römischen Imperien aufzulehnen, angeheizt wurde. Und er spielte im Feudalismus eine noch wichtigere Rolle. Die zentrale Ideologie des feudalen Europas, das katholische Christentum, beruhte auf der Stigmatisierung der Juden als Mörder Christi, als verfluchtes Volk, das ständig darauf aus sei, den Christen Unglück zu bringen – sei es durch das Vergiften von Brunnen, die Verbreitung der Pest oder die Opferung christlicher Kinder in ihren Passahritualen. Die Entwicklung des Mythos von der weltweiten jüdischen Verschwörung, der nach der Veröffentlichung der Ochrana-Fälschung Protokolle der Weisen von Zion in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts Auftrieb erhielt, hatte zweifellos ihre Wurzeln in diesen dunklen mittelalterlichen Mythologien.

Auf materieller Ebene muss dieser anhaltende Hass auf die Juden außerdem im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Rolle verstanden werden, die den Juden im Feudalsystem zugeschrieben wurde, vor allem als Wucherer – eine Praxis, die Christen formell verboten war. Diese Rolle machte sie zwar zu nützlichen Handlangern der feudalen Monarchen (die sich oft als „Beschützer der Juden” präsentierten), setzte sie aber auch regelmäßigen Massakern aus, die praktisch die Tilgung königlicher oder aristokratischer Schulden mit sich brachten – und schließlich zur Vertreibung aus vielen westeuropäischen Ländern, als das langsame Aufkommen des Kapitalismus eine „einheimische” Finanzelite hervorbrachte, die die Konkurrenz durch die jüdische Finanzwelt ausschalten musste.[8]

Es war auch wahr, dass die Hauptzielgruppe des Antisemitismus die Überreste der Klassen waren, die durch den Vormarsch des Kapitals zum Untergang verurteilt waren – die im Niedergang begriffene Aristokratie, das Kleinbürgertum und so weiter. Dies waren weitgehend die Schichten, an die sich die neue Generation antisemitischer Demagogen wandte – Dühring und Marr in Deutschland (letzterem wird die Erfindung des Begriffs „Antisemitismus” zugeschrieben, der als Abzeichen mit Stolz getragen wurde), Drumont in Frankreich, Karl Lueger, der 1897 Bürgermeister von Wien wurde, usw. Und schließlich hatte Engels Recht, als er darauf hinwies, dass der Vormarsch der bürgerlichen Revolution in Europa zu Beginn des Jahrhunderts einen gewissen Fortschritt in der politischen Emanzipation der Juden mit sich gebracht hatte. Aber Engels' Ansicht, dass die „flotte Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft“ alle verfallenden feudalen Überreste und mit ihnen alle Formen des „feudalen Sozialismus“ wie den Antisemitismus in den Mülleimer der Geschichte werfen würde, unterschätzte das Ausmaß, in dem das Kapital auf seine eigene Verfallsphase zusteuerte. Dies wird bereits in dem Brief angedeutet, in dem Engels schreibt, dass je stärker der Kapitalismus werde, „desto näher also das Ende der Kapitalistenherrschaft“ sei. Und in anderen Schriften hatte Engels tiefgreifende Einsichten darüber entwickelt, wie dieser Untergang aussehen würde:

- Auf wirtschaftlicher Ebene würde gerade die Eroberung der Welt und das Bestreben, alle vorkapitalistischen Regionen in den Kreis der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse zu integrieren, die Schleusen der weltweiten Überproduktion öffnen, und diese Perspektive zeichnete sich bereits am Ende des zehnjährigen Zyklus von „Hochkonjunktur und Krisen“ und zu Beginn der „langen Depression“ der 1880er Jahre ab. Hinzu kam, dass die Auswirkungen der Depression auch zum Aufkommen antisemitischer Agitation in Europa beitrugen, die oft darauf abzielte, die „jüdischen Geldkönige“ für die nun offensichtlichen wirtschaftlichen Missstände verantwortlich zu machen.[9]

- Auf militärischer Ebene war sich Engels sehr wohl bewusst, dass diese Eroberung der Welt, die Jagd nach Kolonien, kein friedlicher Prozess sein würde, und in einer seiner bemerkenswertesten Vorhersagen sah er voraus, dass der interimperialistische Wettbewerb letztendlich zu einem verheerenden europäischen Krieg führen würde.[10] Der Imperialismus lieferte auch eine „modernere” Form des Rassismus, indem er einen verzerrten Darwinismus benutzte, um die Vorherrschaft der „weißen Rasse” über die „minderwertigen Rassen” zu rechtfertigen, unter denen die Juden als besonders bösartige Kraft angesehen wurden.

- Auf der Ebene der Organisation des Kapitals konnte Engels bereits erkennen, dass der Staat eine zentrale Rolle in der Verwaltung der Volkswirtschaften übernahm, eine Tendenz, die in der Zeit des Niedergangs des Kapitalismus ihre volle Entfaltung finden sollte.[11]

Weit davon entfernt, den Antisemitismus in den Mülleimer der Geschichte zu werfen, sollten die weitere Entwicklung des Weltkapitals, sein beschleunigter Lauf in eine Ära historischer Krisen, dem antijüdischen Rassismus und der Verfolgung vor allem nach der Niederlage der proletarischen Revolutionen von 1917–1923 neuen Auftrieb geben.

Namentlich

- in der Revolution von 1905 in Russland – bereits ein Vorbote der bevorstehenden Epoche der proletarischen Revolution – wurde das Pogrom vom zaristischen Regime als direktes Mittel zur Niederschlagung der Revolution und zur Spaltung der Arbeiterklasse eingesetzt. Diese konterrevolutionäre Strategie wurde von den Weißen Armeen in Russland in noch größerem Umfang als Waffe gegen die Revolution eingesetzt. Daher die unnachgiebige Ablehnung Lenins und der Bolschewiki gegenüber jeder Form von Antisemitismus, der Gift für den Kampf der Arbeiter ist. In Deutschland wurde die Niederlage im Ersten Weltkrieg mit der Legende vom „Dolchstoß“ durch eine Verschwörung von Marxisten und Juden erklärt, was dem Wachstum faschistischer Gruppen und Parteien, allen voran Hitlers Nationalsozialistischer Arbeiterpartei, einen starken Auftrieb gab. Es versteht sich von selbst, dass diese Banden eng mit den militärischen Formationen verbunden waren, die auf Geheiß der sozialdemokratischen Regierung die brutale Unterdrückung der Arbeiteraufstände in Berlin, München und anderswo durchgeführt hatten. In anderen europäischen Ländern der 1920er Jahre, wie Polen und Ungarn, wurde die Niederlage der Revolution durch antisemitische Gesetze gefestigt, die das vorwegnahmen, was in Deutschland unter den Nazis kommen sollte.

- Die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, das Produkt unpersönlicher kapitalistischer Widersprüche, die selten sichtbar und schwer zu verstehen sind, wurde von den faschistischen und nationalsozialistischen Parteien ebenfalls bis zum Äußersten ausgenutzt, um eine „einfachere“ Erklärung mit einem leicht identifizierbaren Sündenbock zu liefern: den reichen jüdischen Finanzier, der sich mit den blutbefleckten Bolschewiken zu einer finsteren Verschwörung gegen die arische Zivilisation verbündet hatte.

Vor dem Hintergrund dieser schrecklichen Entwicklungen kam ein junges Mitglied der trotzkistischen Bewegung, Avram Leon, der im von den Nazis besetzten Belgien versuchte, einige Erkenntnisse von Marx zu einem historischen Verständnis der Judenfrage[12] zu entwickeln, zu dem Schluss, dass dies eine Frage war, die der dekadente Kapitalismus völlig unfähig war zu lösen.  Dies galt nicht weniger für die sogenannten „sozialistischen“ Regime in der UdSSR und in ihrem Block. Unter Stalins Herrschaft wurden antisemitische Kampagnen oft dazu benutzt, um innerhalb der Bürokratie Rechnungen zu begleichen und einen Sündenbock für die Miseren des stalinistischen Systems zu liefern. Besonders berüchtigt ist die „Ärzteverschwörung“ von 1953, die an die alte Legende von den Juden als heimliche Giftmischer erinnert. Die stalinistische Version der „jüdischen Selbstbestimmung“ nahm hingegen die Form der „autonomen Region“ Birobidschan in Sibirien an, die Trotzki zu Recht als „bürokratische Farce“ bezeichnete. Diese Verfolgungen, oft unter dem Banner des „Antizionismus“, setzten sich in der Nachstalinzeit fort und führten zur Massenauswanderung russischer Juden nach Israel.

Wenn der Aufschwung des modernen Antisemitismus und die Wiederbelebung völlig reaktionärer, aus dem Feudalismus stammender Mythen ein Zeichen für die nahende Senilität des Kapitalismus waren, gilt das Gleiche für den modernen Zionismus, der in den 1890er Jahren als direkte Reaktion auf die antijüdische Welle entstand.

Dreyfus, Herzl und die Entwicklung des Zionismus

Wie wir in der Einleitung zu diesem Artikel dargelegt haben, war der Zionismus das Produkt einer allgemeineren Entwicklung des Nationalismus im 19. Jahrhundert, der ideologischen Reflexion der aufstrebenden Bourgeoisie und ihrer Ersetzung der feudalen Zersplitterung durch einheitlichere Nationalstaaten. Die Vereinigung Italiens und die Befreiung von der österreichischen Vorherrschaft waren eine der heroischen Errungenschaften dieser Zeit, die einen entscheidenden Einfluss auf die ersten Theoretiker des Zionismus hatten (zum Beispiel Moses Hess – siehe unten). Die Juden passten sich jedoch nicht den Hauptströmungen des bürgerlichen Nationalismus an, da ihnen ein einheitliches Territorium und sogar eine gemeinsame Sprache fehlten. Dies war einer der Faktoren, die den Zionismus daran hinderten, eine Massenanziehungskraft zu entfalten, bis er durch den aufkommenden Antisemitismus des späten 19. Jahrhunderts vorangetrieben wurde.

Die zionistische Ideologie stützte sich auch auf die seit langem bestehenden „Besonderheiten” der jüdischen Bevölkerung, deren getrenntes Dasein sowohl durch die spezifische wirtschaftliche Rolle der Juden in der feudalen Wirtschaft als auch durch mächtige politische und ideologische Faktoren geprägt war: einmal durch die staatlich verordnete Ghettoisierung der Juden und ihren Ausschluss aus wichtigen Bereichen der feudalen Gesellschaft; zum anderen durch die Selbstauffassung der Juden als „auserwähltes Volk”, das nur dann „Licht für die Völker” sein könne, wenn es sich von ihnen absonderte, zumindest bis zum Kommen des Messias und der Errichtung des Reiches Gottes auf Erden; diese Vorstellungen waren natürlich geprägt von der Mythologie des Exils und der versprochenen Rückkehr nach Zion, die den biblischen Hintergrund der jüdischen Geschichte durchzieht.

Während jedoch viele orthodoxe Juden aus der „Diaspora“ über Jahrhunderte hinweg individuelle Pilgerreisen ins Land Israel unternahmen, lautete die Hauptlehre der Rabbiner, dass der Wiederaufbau des Tempels und die Gründung eines jüdischen Staates nur durch das Kommen des Messias erreicht werden könnten. Einige orthodoxe jüdische Sekten, wie beispielsweise Neturei Karta, halten noch heute an solchen Vorstellungen fest und sind vehement antizionistisch, selbst diejenigen, die in Israel leben.

Die Entwicklung des Säkularismus im Laufe des 19. Jahrhunderts ermöglichte es einer nicht-religiösen Form der „Rückkehr”, unter der jüdischen Bevölkerung Anhänger zu gewinnen. Das vorherrschende Ergebnis des Niedergangs des orthodoxen Judentums und seiner Ablösung durch modernere Ideologien wie Liberalismus und Rationalismus war jedoch, dass die Juden in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern begannen, ihre einzigartigen Merkmale zu verlieren und sich in die bürgerliche Gesellschaft zu assimilieren. Einige Marxisten, insbesondere Kautsky,[13] sahen in diesem Assimilationsprozess sogar die Möglichkeit, das Problem des Antisemitismus innerhalb der Grenzen des Kapitalismus zu lösen.[14] Das Wiederaufleben des Antisemitismus in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts stellte diese Annahmen jedoch in Frage und gab gleichzeitig der Fähigkeit des modernen politischen Zionismus einen entscheidenden Impuls, eine Alternative zur Verfolgung der Juden und zur Verwirklichung der nationalen Bestrebungen der jüdischen Bourgeoisie anzubieten.

Der Titel „Gründervater” dieser Form des Zionismus wird gewöhnlich Theodor Herzl verliehen, der 1897 den ersten Zionistenkongress einberief. Aber es gab Vorläufer. 1882 veröffentlichte Leon Pinsker, ein in Odessa im Russischen Reich lebender jüdischer Arzt, Autoemancipation! – Mahnruf an meine Stammesgenossen von einem russischen Juden, in dem er die Auswanderung der Juden nach Palästina befürwortete. Pinsker war ein Assimilationist gewesen, bis sein Glaube an die Möglichkeit, dass Juden in der „nichtjüdischen” Gesellschaft Sicherheit und Würde finden könnten, durch die brutalen Pogrome in Odessa im Jahr 1881 erschüttert wurde.

Noch merkwürdiger war vielleicht die Entwicklung von Moses Hess, der in den frühen 1840er Jahren ein Genosse von Marx und Engels gewesen war und tatsächlich eine bedeutende Rolle in deren Übergang von der radikalen Demokratie zum Kommunismus und in ihrer Anerkennung des revolutionären Charakters des Proletariats gespielt hatte. Aber als das Kommunistische Manifest entstand, hatten sich ihre Wege getrennt, und Marx und Engels ordneten Hess den „deutschen“ oder „wahren“ Sozialisten zu. In den 1860er Jahren hatte Hess jedenfalls einen ganz anderen Kurs eingeschlagen. Wiederum wahrscheinlich beeinflusst durch die ersten Anzeichen einer antisemitischen Reaktion auf die formale Emanzipation der Juden in Deutschland, wandte sich Hess immer mehr der Idee zu, dass nationale und sogar rassische Konflikte als soziale Determinanten nicht weniger wichtig seien als der Klassenkampf, und in seinem Buch Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätsfrage (1862) befürwortete er eine frühe Form des Zionismus, die von der Errichtung eines jüdischen sozialistischen Gemeinwesens in Palästina träumte. Bezeichnenderweise hatte Hess bereits erkannt, dass ein solches Projekt die Unterstützung einer der Weltmächte benötigen würde, und für ihn kam dafür nur das republikanische Frankreich in Frage.

Wie Pinsker war auch Herzl ein mehr oder weniger assimilierter Jude, ein Anwalt aus Österreich, der den neuen Aufbruch der Judenfeindlichkeit und die Wahl von Karl Lueger zum Bürgermeister der Stadt miterlebt hatte. Aber es war wahrscheinlich die Dreyfus-Affäre in Frankreich, die den größten Einfluss auf Herzl hatte und ihn davon überzeugte, dass es keine Lösung für die Verfolgung der Juden geben könne, solange sie keinen eigenen Staat hätten. Im Jahr 1894 war das republikanische Frankreich, wo die Revolution den Juden Bürgerrechte gewährt hatte, Schauplatz eines inszenierten Prozesses wegen Hochverrats gegen einen jüdischen Offizier, Alfred Dreyfus, der zu lebenslanger Haft verurteilt und auf die Strafkolonie Teufelsinsel in Französisch-Guayana verbannt wurde, wo er die nächsten fünf Jahre unter sehr harten Bedingungen verbrachte. Spätere Beweise dafür, dass Dreyfus Opfer einer Verschwörung geworden war, wurden von der Armee unterdrückt, und die Affäre führte zu einer scharfen Spaltung der französischen Gesellschaft, in der sich die katholische Rechte, die Armee und die Anhänger Drumonts gegen die Dreyfusards stellten, zu deren führenden Persönlichkeiten Emile Zola und Georges Clemenceau gehörten. Schließlich (aber erst 1906) wurde Dreyfus rehabilitiert, doch die Spaltungen innerhalb der französischen Bourgeoisie verschwanden nicht, sondern traten mit dem Aufstieg des Faschismus in den 1930er Jahren und in der „nationalen Revolution“ Pétains nach der Eroberung Frankreichs durch Nazi-Deutschland 1941 wieder zutage.

Herzls Zionismus war gänzlich säkular, auch wenn er sich auf die alten biblischen Motive des Exils und der Rückkehr in das Gelobte Land stützte, das, wie die Mehrheit der Zionisten erkannte, eine viel größere ideologische Kraft hatte als andere potenzielle „Heimatländer“, die damals diskutiert wurden (Uganda, Südamerika, Australien usw.).

Vor allem aber verstand Herzl, dass er seine Utopie den Reichen und Mächtigen seiner Zeit verkaufen musste. So wandte er sich nicht nur an die jüdische Bourgeoisie, von der einige bereits die jüdische Auswanderung nach Palästina und anderswo finanziert hatten, sondern auch an Herrscher wie den osmanischen Sultan und den deutschen Kaiser; 1903 erhielt er sogar eine Audienz beim notorisch antisemitischen Innenminister Plehve in Russland, der an der Provokation des schrecklichen Pogroms von Kischinew im selben Jahr beteiligt gewesen war.  Plehve erklärte Herzl, die Zionisten könnten in Russland frei agieren, solange sie sich darauf beschränkten, Juden zur Auswanderung nach Palästina zu ermutigen. Hatte nicht der Minister des Zaren, Pobedonostsev, erklärt, das Ziel seiner Regierung in Bezug auf die Juden sei, dass „ein Drittel aussterben, ein Drittel das Land verlassen und ein Drittel vollständig in der umgebenden Bevölkerung aufgehen“? Und nun boten die Zionisten an, die Klausel über die „Auswanderung aus dem Land“ in die Tat umzusetzen ... Diese Gemeinsamkeit der Interessen zwischen dem Zionismus und den extremsten Formen des Antisemitismus war somit von Anfang an in die Bewegung eingebunden und sollte sich im Laufe ihrer Geschichte immer wieder zeigen. Herzl war der festen Überzeugung, dass der Kampf gegen den Antisemitismus Zeitverschwendung sei – nicht zuletzt, weil er in gewisser Weise der Meinung war, dass die Antisemiten Recht hatten, wenn sie die Juden als Fremdkörper in ihrer Mitte betrachteten.[15]

„In Paris also gewann ich ein freieres Verhältnis zum Antisemitismus, den ich historisch zu verstehen und zu entschuldigen anfing. Vor allem erkannte ich die Leere und Nutzlosigkeit der Bestrebungen ‚zur Abwehr des Antisemitismus’“ (Tagebücher, Band 1, S. 6 f., Mai-Juni 1895).

Von Anfang an also galt:

- Der Antisemitismus war ein zentraler Faktor für den Aufstieg und die Entwicklung einer bedeutenden zionistischen Bewegung, aber sie beruhte auf der Überzeugung, dass es unmöglich sei, den Judenhass zu überwinden, solange die Juden keinen eigenen Staat oder zumindest keine eigene „nationale Heimstätte“ hatten.

- Der Zionismus schlug daher vor, seine Energien nicht auf die Bekämpfung des Antisemitismus in der „Diaspora“ zu konzentrieren, und befürwortete sogar die Zusammenarbeit mit dessen Hauptvertretern.

- Von Anfang an benötigte das zionistische Projekt die Unterstützung der herrschenden imperialistischen Mächte, was 1917 mit der Balfour-Erklärung Großbritanniens noch deutlicher werden sollte. Dies war eine Vorwegnahme dessen, was in der Epoche des kapitalistischen Niedergangs zur Realität aller nationalen Bewegungen werden sollte: Sie konnten nur vorankommen, indem sie sich an die eine oder andere der imperialistischen Mächte banden, die in dieser Epoche die Welt beherrschten.

Das Streben nach Unterstützung durch die imperialistischen Mächte war insofern völlig logisch, als der Zionismus in einer Zeit entstand, in der der Imperialismus noch sehr stark mit der Eroberung neuer Kolonien in den Randgebieten der Welt beschäftigt war und sich als Versuch sah, eine Kolonie in einem Gebiet zu schaffen, das entweder für unbewohnt erklärt worden war (mit der Losung „Land ohne Menschen für Menschen ohne Land“ von zweifelhafter Herkunft) oder von rückständigen Stämmen bewohnt war, die nur von einer neuen Zivilisierungsmission durch eine fortgeschrittenere westliche Bevölkerung profitieren konnten.[16] Herzl selbst schrieb eine Art utopischen Roman mit dem Titel Altneuland, in dem palästinensische Landbesitzer einen Teil ihres Landes an Juden verkaufen, in moderne landwirtschaftliche Maschinen investieren und so den Lebensstandard der palästinensischen Bauern verbessern. Problem gelöst!

„Arbeiter Zions“: die unmögliche Verschmelzung von Marxismus und Zionismus

Herzls politischer Zionismus war eindeutig ein bürgerliches Phänomen, ein Ausdruck des Nationalismus in einer Zeit, in der der Kapitalismus seinem Niedergang entgegen ging und damit auch der progressive Charakter nationaler Bewegungen zu Ende ging.

Und doch drangen gerade in Russland zur gleichen Zeit andere Formen des jüdischen Separatismus in die Arbeiterbewegung ein, einerseits in Form des Bundismus, andererseits in Form des „sozialistischen Zionismus“. Dies war eine Folge der materiellen und ideologischen Segregation der jüdischen Arbeiterklasse unter dem Zarismus.

„Die Struktur der jüdischen Arbeiterklasse entsprach einer schwachen organischen Zusammensetzung des Kapitals innerhalb des Ansiedlungsgebiets, was eine Konzentration in den Endstufen der Produktion mit sich brachte. Die kulturellen Besonderheiten des jüdischen Proletariats, die in erster Linie mit seiner Religion und Sprache zusammenhingen, wurden durch die strukturelle Trennung vom russischen Proletariat noch verstärkt. Die Konzentration der jüdischen Arbeiter in einer Art sozioökonomischem Ghetto war der materielle Ursprung für die Entstehung einer spezifischen jüdischen Arbeiterbewegung“.[17]

Der Bund – der Allgemeine Jüdischer Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland – wurde 1897 als explizit sozialistische Partei gegründet und spielte eine bedeutende Rolle in der Entwicklung der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, der er sich zugehörig fühlte. Er lehnte religiöse und zionistische Ideologien ab und trat für eine Form der „nationalen kulturellen Autonomie“ für die jüdischen Massen in Russland und Polen als Teil eines umfassenderen sozialistischen Programms ein. Er strebte auch danach, der einzige Vertreter der jüdischen Arbeiter in Russland zu sein, und genau dieser Aspekt seiner Politik wurde von Lenin am schärfsten kritisiert, da er eine föderalistische Vision implizierte, eine Art „Partei innerhalb der Partei“, die die Bemühungen um den Aufbau einer zentralisierten revolutionären Organisation im gesamten Reich untergraben würde.[18] Diese Meinungsverschiedenheit führte 1903 zum Bruch auf dem Zweiten Kongress der SDAPR, was jedoch nicht das Ende der Zusammenarbeit und sogar der Versuche einer Wiedervereinigung in den folgenden Jahren bedeutete. Die Arbeiter des Bund standen oft an der Spitze der Revolution von 1905 in Russland. Aber die Fähigkeit jüdischer und nichtjüdischer Arbeiter, sich in den Sowjets zu vereinen und Seite an Seite zu kämpfen – auch bei der Verteidigung jüdischer Viertel gegen Pogrome –, wies bereits über alle Formen des Separatismus hinaus und auf die zukünftige Vereinigung des gesamten Proletariats, sowohl in seinen allgemeinen, einheitlichen Organisationen als auch in seiner politischen Avantgarde.

Was den „sozialistischen Zionismus“ betrifft, haben wir bereits die Ansichten von Moses Hess erwähnt. In Russland gab es die Gruppe um Nachman Syrkin, die Sozialistische Arbeiterpartei Zion, deren Positionen denen der Sozialrevolutionäre nahe standen. Syrkin war einer der ersten Befürworter kollektiver Siedlungen – der Kibbuzim – in Palästina. Aber es war die Gruppe Poale Zion (Arbeiter Zions) um Ber Borochov, die den Versuch unternahm, den Zionismus mit marxistischen theoretischen Konzepten zu rechtfertigen. Nach Borochov konnte die Judenfrage nur gelöst werden, wenn die jüdischen Bevölkerungsgruppen weltweit eine „normale“ Klassenstruktur hatten, in der die „umgekehrte Pyramide“ mit ihrem überwiegenden Anteil an mittleren Schichten abgeschafft war; und dies konnte nur durch die „Eroberung der Arbeit“ in Palästina erreicht werden. Dieses Projekt sollte in der Idee der „jüdischen Arbeit allein” in den neuen landwirtschaftlichen und industriellen Siedlungen verwirklicht werden, die im Gegensatz zu anderen Formen des Kolonialismus nicht direkt auf der Ausbeutung der einheimischen Arbeitskräfte beruhen sollten. So würde schließlich ein jüdisches Proletariat einer jüdischen Bourgeoisie gegenüberstehen und bereit sein, zur sozialistischen Revolution in Palästina überzugehen. Im Wesentlichen handelte es sich hierbei um eine Form des Menschewismus, eine „Stufentheorie“, nach der jede Nation zunächst eine bürgerliche Phase durchlaufen musste, um die Voraussetzungen für eine proletarische Revolution zu schaffen – während sich die Welt in Wirklichkeit rasch auf eine neue Epoche zubewegte, in der die einzige Revolution auf der Tagesordnung der Geschichte die weltweite proletarische Revolution war, auch wenn zahlreiche Regionen noch nicht in die bürgerliche Entwicklungsphase eingetreten waren. Darüber hinaus wurde die Politik der „jüdischen Arbeit allein“ in Wirklichkeit zum Sprungbrett für eine neue Form des Kolonialismus, in der die einheimische Bevölkerung schrittweise enteignet und vertrieben werden sollte. Und tatsächlich zeigte Borochow, wenn er die bestehende arabische Bevölkerung Palästinas überhaupt berücksichtigte, dieselbe kolonialistische Haltung wie die Mainstream-Zionisten. „Die Ureinwohner Palästinas werden sich wirtschaftlich und kulturell mit demjenigen assimilieren, der Ordnung in das Land bringt und die Entwicklung der Produktionskräfte Palästinas in Angriff nimmt.“[19]

Der Borochowismus war somit eine völlige Sackgasse, was sich im späteren Schicksal der Poale Zion widerspiegelte. Obwohl ihr linker Flügel 1914–1920 seinen proletarischen Charakter unter Beweis gestellt hatte, indem er sich gegen den imperialistischen Krieg stellte, die Arbeiterrevolution in Russland unterstützte und sogar erfolglos um die Aufnahme in die Komintern in ihren Anfangsjahren bemühte, führte die Lebensrealität in Palästina zu unüberbrückbaren Spaltungen, sodass sich die Mehrheit der Linken vom Zionismus lossagte und 1923 die Palästinensische Kommunistische Partei gründete.[20] Der rechte Flügel (zu dem auch der spätere israelische Ministerpräsident David Ben Gurion gehörte) wandte sich der Sozialdemokratie zu und spielte eine führende Rolle in der Verwaltung des Proto-Staates Yishuv vor 1948 und des Staates Israel nach dem „Unabhängigkeitskrieg“.

In den frühen 70er Jahren erlebte der Borochowismus, der mehr oder weniger verschwunden war, eine Art Wiederbelebung – als Instrument der israelischen Staatspropaganda. Angesichts einer neuen Generation jüdischer Jugendlicher im Westen, die vor allem nach dem Krieg von 1967 und der Besetzung des Westjordanlands und des Gazastreifens Israels Politik kritisch gegenüberstanden, setzten die linken zionistischen Parteien, die ihre Wurzeln in der Poale Zion hatten, ihre ganze Energie darauf, diese jungen Juden, die vom Antizionismus der „Neuen Linken“ angezogen waren, für sich zu gewinnen. Als Köder diente ihnen das Versprechen, dass man gleichzeitig Marxist und Zionist sein könne und dass der Zionismus eine nationale Befreiungsbewegung sei, die ebenso berechtigt sei wie die vietnamesische oder palästinensische Befreiungsbewegung.

In diesem ersten Teil des Artikels haben wir genau das Gegenteil begründet: dass der Zionismus, der in einer Zeit entstand, in der „nationale Befreiung” immer unmöglicher wurde, nicht umhin kam, sich an die damals herrschenden imperialistischen Mächte anzubinden. Im zweiten Teil werden wir nicht nur zeigen, dass seine gesamte Geschichte von dieser Realität geprägt war, sondern auch, dass er unweigerlich seine eigenen imperialistischen Projekte hervorgebracht hat. Wir werden aber auch argumentieren, dass dies, im Gegensatz zum linken Flügel des Kapitals, der den Zionismus als eine Art einzigartiges Übel darstellt, das Schicksal aller nationalistischen Projekte in der Epoche der kapitalistischen Dekadenz war und dass die antizionistischen Nationalismen, die er ebenfalls hervorgebracht hat, keine Ausnahme von dieser allgemeinen Regel sind.

Amos, Februar 2025

 

[1] Zionism, False Messiah ist der Titel eines 1969 erstmals erschienenen Buches von Nathan Weinstock. Es enthält eine sehr detaillierte Geschichte des Zionismus und belegt eindrucksvoll die Richtigkeit des Titels. Es ist jedoch aus einer trotzkistischen Perspektive geschrieben, die eine differenzierte Argumentation zugunsten „antiimperialistischer“ nationaler Kämpfe liefert. Wir werden im zweiten Artikel darauf zurückkommen. Ironischerweise hat Weinstock seine früheren Ansichten aufgegeben und bezeichnet sich nun selbst als Zionist, wie der Jewish Chronicle genüsslich hervorhebt (Meet the Trotskyist anti-Zionist who saw the errors of his ways [27], Jewish Chronicle 4. Dezember 2014).

[2] In seinem Buch The Socialist Response to Anti-Semitism in Imperial Germany (Cambridge 2007) liefert Lars Fischer zahlreiche Belege dafür, dass selbst die fähigsten Führer der deutschen Sozialdemokratischen Partei – darunter Bebel, Kautsky, Liebknecht und Mehring – in dieser Frage eine gewisse Verwirrung an den Tag legten. Interessanterweise hebt er Rosa Luxemburg hervor, die die klarste und unnachgiebigste Position zum Aufstieg des Judenhasses und seiner antiproletarischen Rolle vertreten habe.

[3] Zum Beispiel: „Wir müssen die Ausweisung [der Juden] aus Frankreich fordern, mit Ausnahme derjenigen, die mit französischen Frauen verheiratet sind; die Religion muss verboten werden, weil der Jude der Feind der Menschheit ist, man muss diese Rasse nach Asien zurückschicken oder ausrotten. Heine, (Alexandre) Weill und andere sind nur Spione; Rothschild, (Adolph) Crémieux, Marx, (Achille) Fould sind böse, unberechenbare, neidische Wesen, die uns hassen.“ Dreyfus, François-Georges. 1981. Antisemitismus in der Dritten Französischen Republik. In Bernd Marin und Ernst Schulin, Hrsg., Die Juden als Minderheit der Geschichte, München, DTV

[4] Vgl. 160 Jahre nach der Veröffentlichung des Aufsatzes Zur Judenfrage [28], Internationale Revue Nr. 32

[5] Siehe beispielsweise Mario Kessler, Engels’ position on anti-Semitism in the context of contemporary socialist discussions (Engels’ Position zum Antisemitismus im Kontext zeitgenössischer sozialistischer Diskussionen), Science & Society, Band 62, Nr. 1, Frühjahr 1998, 127–144, für einige Beispiele sowie einige fragwürdige Aussagen von Engels selbst über Juden in seinen Schriften zur nationalen Frage.

[6] Zum Beispiel in „An die Brüder der Allianz in Spanien“, 1872. Siehe auch https://libcom.org/article/translation-antisemitic-section-bakunins-letter-comrades-jura-federation [29]

[7] Vgl. Kessler, a.a.O.

[8] Dies schloss jedoch nicht aus, dass später, insbesondere nach der politischen „Emanzipation“ der europäischen Juden infolge der bürgerlichen Revolution, eine echte jüdische Bourgeoisie in Europa entstand, vor allem im Finanzbereich. Die Rothschilds sind das offensichtlichste Beispiel dafür.

[9] Siehe unseren Artikel Dekadenz des Kapitalismus (VI) Die Theorie des kapitalistischen Niedergangs und der Kampf gegen den Revisionismus [30], Internationale Revue Nr. 47. Die Beteiligung bestimmter jüdischer Bankiers am Börsencrash, der die Depression auslöste, lieferte dieser Demagogie weiteren Zündstoff.

[10] Ebda.

[11] In Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft

[12] Abraham Léon: Die jüdische Frage – Eine marxistische Darstellung (zuerst veröffentlicht auf Französisch, 1946; auf Deutsch u.a. hier: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/leon/1946/judenfrage/index.htm [31]. Siehe auch 160 Jahre nach der Veröffentlichung des Aufsatzes Zur Judenfrage [28], Internationale Revue Nr. 32

[13] Vgl. insbesondere Rasse und Judentum (1914)

[14] In den 1930er Jahren gab Trotzki ein Interview, in dem er sagte: „In meiner Jugend neigte ich eher zu der Prognose, dass die Juden verschiedener Länder assimiliert würden und dass die Judenfrage somit quasi automatisch verschwände. Die historische Entwicklung des letzten Vierteljahrhunderts hat diese Perspektive nicht bestätigt. Der niedergehende Kapitalismus hat überall zu einem verschärften Nationalismus geführt, zu dem auch der Antisemitismus gehört. Die Judenfrage ist in dem am höchsten entwickelten kapitalistischen Land Europas, in Deutschland, am größten geworden“ https://www.marxists.org/archive/trotsky/1940/xx/jewish.htm [32]. Angesichts seines allgemeineren politischen Rahmens führte dies Trotzki zu der Argumentation, dass nur der Sozialismus den Juden (und übrigens auch den Arabern) echte „nationale Selbstbestimmung“ bieten könne.

[15] Diese Sichtweise kommt noch deutlicher in einer Aussage des deutschen politischen Zionisten Jacob Klatzkin zum Ausdruck, der schrieb: „Wenn wir die Rechtmäßigkeit des Antisemitismus nicht anerkennen, leugnen wir die Rechtmäßigkeit unseres eigenen Nationalismus. Wenn unser eigenes Volk es verdient und bereit ist, sein eigenes nationales Leben zu führen, dann ist es ein Fremdkörper, der in die Nationen, unter denen es lebt, hineingedrängt wird, ein Fremdkörper, der auf seiner eigenen unverwechselbaren Identität besteht ... Es ist daher richtig, dass sie für ihre nationale Integrität gegen uns kämpfen“ (zitiert nach Lenni Brenner, Zionism in the Age of the Dictators: A Reappraisal, London 1983).

[16] Es gab einige Ausnahmen in der zionistischen Bewegung zu dieser paternalistischen Haltung. Asher Ginsberg, besser bekannt unter seinem Pseudonym Ahad Ha'am, stand dieser „kolonialistischen“ Haltung gegenüber den Einheimischen sehr kritisch gegenüber und schlug anstelle eines jüdischen Staates eine Art Netzwerk lokaler jüdischer und arabischer Gemeinschaften vor. Kurz gesagt, eine Art anarchistische Utopie.

[17] Enzo Traverso, Die Marxisten und die jüdische Frage. Geschichte einer Debatte (1843–1943), zit. nach der englischen Ausgabe 1994 (und von uns übersetzt)

[18] Siehe insbesondere Lenin, Die Stellung des „Bund“ in der Partei, Iskra 51, 22. Oktober 1903, LW Band 7 S. 82 ff., verfügbar auch im Marxist Internet Archive. Siehe auch 1903-4: the birth of Bolshevism [33], International Review Nr. 116 (engl./frz./span. Ausgabe)

[19] Borochov, On the Question of Zion and Territory, 1905, zit. (und von uns übersetzt) nach The Other Israel, The Radical Case against Zionism, Hrsg. Arie Bober1972

[20] Dies geschah nach einem komplexen Prozess der Spaltung und Wiedervereinigung, der sich im Wesentlichen um die Haltung zum Zionismus und zum arabischen Nationalismus drehte, und führte später zu weiteren Spaltungen um dieselben Themen. Es ist hier anzumerken, dass die Übernahme der Position der Komintern zur nationalen Frage – Ablehnung des Zionismus zugunsten der Unterstützung des aufkommenden arabischen Nationalismus – keinen Schritt in Richtung eines echten Internationalismus bedeutete. Wie wir in unserem Artikel über unseren Genossen Marc Chirik (Marc, Part 1: From the Revolution of October 1917 to World War II [34], International Review Nr. 65 – engl./frz/span. Ausgabe) berichten: Marc, dessen Familie nach Palästina geflohen war, um den Pogromen zu entgehen, die gegen die proletarische Revolution in Russland angezettelt worden waren, half im Alter von 12 Jahren bei der Gründung der Jugendorganisation der KP in Palästina – wurde aber bald wegen seiner Ablehnung jeglicher Form von Nationalismus ausgeschlossen ...

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