Die Empörung und Besorgnis der Arbeiterklasse angesichts der Ausbreitung immer zerstörerischerer imperialistischer Kriege findet ihren Ausdruck in kleinen Minderheiten, die eine internationalistische Antwort suchen.
Aber was ist Internationalismus? Im Namen des Internationalismus fordern uns die linken Gruppen – hauptsächlich die Trotzkisten – auf, uns für ein Lager unter den imperialistischen Gangstern zu entscheiden. Für sie wäre die Wahl Palästinas im Namen der „nationalen Befreiung der Völker“ die internationalistischste Antwort! Sie verkaufen uns also einen „Internationalismus“, der sein Gegenteil ist, denn Internationalismus bedeutet, gegen alle imperialistischen Lager zu kämpfen, für den internationalen Klassenkampf, für die Perspektive der Weltrevolution, die allein den Krieg beenden kann. Es gibt andere Auffassungen von Internationalismus: Anarchisten neigen dazu, ihn auf eine Ablehnung zu reduzieren: Ablehnung von Armeen, Ablehnung von Militärdienst, Ablehnung von Kriegen im Allgemeinen. Diese Visionen gehen nicht an die Wurzel des Problems, nämlich die Dekadenz des Kapitalismus und seine Dynamik der Zerstörung des Planeten und der gesamten Menschheit. Es ist daher notwendig, zunächst zu klären, was Internationalismus ist, und sich dabei auf die historische Erfahrung des Proletariats zu stützen.
Der Kampf gegen den Krieg kann nicht Menschen guten Willens oder „friedliebenden, klugen“ Politikern überlassen werden... der Kampf gegen den Krieg ist eine Klassenfrage. Nur die Arbeiterklasse trägt die kommunistische Perspektive, die Kraft und die Interessen in sich, die es ihr ermöglichen, dem Krieg ein Ende zu setzen. Deshalb sagen wir in unserem Dritten Internationalen Manifest: „Von allen Klassen der Gesellschaft ist das Proletariat am meisten und am stärksten vom Krieg betroffen. Der ‚moderne‘ Krieg wird von einer gigantischen industriellen Maschinerie geführt, die eine große Intensivierung der Ausbeutung des Proletariats erfordert. Das Proletariat ist eine internationale Klasse, die KEIN VATERLAND hat, aber der Krieg ist die Tötung der Arbeiter für das Vaterland, das sie ausbeutet und unterdrückt. Das Proletariat ist die Klasse des Bewusstseins; der Krieg ist die irrationale Konfrontation, der Verzicht auf jedes bewusste Denken und Nachdenken. Das Proletariat hat ein Interesse daran, die klarste Wahrheit zu suchen; in Kriegen ist das erste Opfer die Wahrheit, gefesselt, geknebelt, erstickt von den Lügen der imperialistischen Propaganda. Das Proletariat ist die Klasse der Einheit über die Schranken von Sprache, Religion, Rasse oder Nationalität hinweg; die tödliche Konfrontation des Krieges erzwingt das Auseinanderreißen, die Spaltung, die Konfrontation zwischen Nationen und Völkern.“
Der Internationalismus ist der konsequenteste Ausdruck des Bewusstseins und des historischen Interesses des Proletariats. Den Grundstein des Internationalismus finden wir in den Grundsätzen des Kommunismus von 1847, wo Friedrich Engels in Punkt XIX fragt: „Wird diese Revolution in einem einzigen Lande allein vor sich gehen können?“ und seine Antwort ist eindeutig:
„Antwort: Nein. Die große Industrie hat schon dadurch, dass sie den Weltmarkt geschaffen hat, alle Völker der Erde, und namentlich die zivilisierten, in eine solche Verbindung miteinander gebracht, dass jedes einzelne Volk davon abhängig ist, was bei einem andern geschieht. Sie hat ferner in allen zivilisierten Ländern die gesellschaftliche Entwicklung so weit gleichgemacht, dass in allen diesen Ländern Bourgeoisie und Proletariat die beiden entscheidenden Klassen der Gesellschaft, der Kampf zwischen beiden der Hauptkampf des Tages geworden. Die kommunistische Revolution wird daher keine bloß nationale, sie wird eine in allen zivilisierten Ländern, d.h. wenigstens in England, Amerika, Frankreich und Deutschland gleichzeitig vor sich gehende Revolution sein. Sie wird sich in jedem dieser Länder rascher oder langsamer entwickeln, je nachdem das eine oder das andre Land eine ausgebildetere Industrie, einen größeren Reichtum, eine bedeutendere Masse von Produktivkräften besitzt. Sie wird daher in Deutschland am langsamsten und schwierigsten, in England am raschesten und leichtesten durchzuführen sein. Sie wird auf die übrigen Länder der Welt ebenfalls eine bedeutende Rückwirkung ausüben und ihre bisherige Entwicklungsweise gänzlich verändern und sehr beschleunigen. Sie ist eine universelle Revolution und wird daher auch ein universelles Terrain haben.“ (Marx-Engels Werke, Band 4, Seite 361-380; Dietz Verlag Berlin, 1974). Das Kommunistische Manifest bekräftigt und vertieft diesen Grundsatz und verkündet: „Das Proletariat hat kein Vaterland, Proletarier der Welt vereinigt euch!“
In den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts bekämpften Marx und Engels den Panslawismus, der sich gegen die internationale Einheit der Arbeiterklasse wandte, und argumentierten, dass die Unterstützung bestimmter nationaler Kriege die Bedingungen für die Weltrevolution beschleunigen könne, aber nicht im Namen eines sogenannten „nationalen Rechts“. Dies war der Fall beim Bürgerkrieg in den USA und dem deutsch-französischen Krieg von 1870. Wie Lenin in seiner Broschüre Sozialismus und Krieg, die er kurz vor der Zimmerwalder Konferenz von 1915 schrieb, sagte: „Der Krieg von 1870 war ein ‚fortschrittlicher Krieg‘ wie die Kriege der französischen Revolution, die zwar zweifellos alle Elemente der Plünderung und Eroberung mit sich brachten, aber die historische Funktion hatten, den Feudalismus und Absolutismus im gesamten alten, noch auf der Leibeigenschaft beruhenden Europa zu zerstören oder zu erschüttern.“1
Die Zweite Internationale sah sich mit einer deutlichen Veränderung der Kriege konfrontiert, die zunehmend einen imperialistischen Charakter annahmen. So nahm sie 1900 auf dem Pariser Kongress den Standpunkt an, dass: „Die sozialistischen Parlamentsabgeordneten aller Länder müssen gegen alle Ausgaben für Militär und Marine und gegen koloniale Expeditionen stimmen.“
Aber die zunehmende Schwere der imperialistischen Spannungen, die den Ausgangspunkt der Dekadenz des Kapitalismus und die Notwendigkeit einer proletarischen Weltrevolution zum Ausdruck brachte, machte es notwendig, den Internationalismus nicht nur zu einer defensiven Position der Ablehnung des Krieges zu machen – eine Position, in der die Mehrheit der Zweiten Internationale zu verharren pflegte – sondern den Kampf gegen den Krieg zum Kampf für die Zerstörung des Kapitalismus zu machen. Deshalb schlugen Lenin, Rosa Luxemburg und Martow auf dem Stuttgarter Kongress (1907) angesichts einer von August Bebel vorgeschlagenen Resolution zum Krieg, die zwar formal korrekt, aber zu zaghaft und begrenzt war, einen Änderungsantrag vor, der schließlich angenommen wurde und in dem sie auf der Notwendigkeit bestanden, „Falls der Krieg dennoch ausbrechen solle, sind sie verpflichtet, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, um die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur politischen Aufrüttelung der Volksschichten und zur Beschleunigung des Sturzes der kapitalistischen Klassenherrschaft auszunutzen.“ (Protokoll des Stuttgarter Kongresses, S. 102)
Ebenso prangerte der Außerordentliche Kongress von Basel (1912) einen möglichen europäischen Krieg als „verbrecherisch“ und „reaktionär“ an und erklärte, dass dieser nur „den Sturz des Kapitalismus beschleunigen kann, indem er die proletarische Revolution unweigerlich provoziert“.
Die Mehrheit der Parteien der 2. Internationale hingegen „prangerte den Krieg vor allem wegen seiner Schrecken und Grausamkeiten an, weil das Proletariat das Kanonenfutter für die herrschende Klasse darstelle. Der Antimilitarismus der II. Internationale war rein negativ (...) Insbesondere das Verbot, Kriegskredite abzustimmen, löste nicht das Problem der ‚Verteidigung des Landes‘ gegen den Angriff einer ‚Aggressor-Nation‘. Das ist die Bresche, durch die die Meute der Sozialchauvinisten und Opportunisten schlug“2.
Angesichts der Beschränkungen der Mehrheitsposition in den Parteien der Zweiten Internationale, ihrer Verwirrungen in der nationalen Frage und sogar des Kolonialismus von Hyndman von der Sozialdemokratischen Föderation in Großbritannien, verteidigten nur die Linken der Zweiten Internationale, insbesondere die Bolschewiki und Rosa Luxemburg, den Internationalismus gegen den imperialistischen Krieg und waren für die proletarische Weltrevolution. Sie machten deutlich, dass der Internationalismus die Grenze ist, die die Kommunisten von allen Parteien und Organisationen trennt, die den kapitalistischen Krieg verteidigen.
Die Reaktion auf den Ersten Weltkrieg brachte eine klare Abgrenzung zwischen dem Internationalismus einer kleinen Minderheit in den sozialdemokratischen Parteien und dem Chauvinismus der Mehrheit, der die Zweite Internationale zerstörte. Die Internationalisten schlossen sich zu den Zimmerwalder Konferenzen zusammen, die im September 1915 begannen.
Aber Zimmerwald war nur ein Ausgangspunkt, denn es war auch Ausdruck einer großen Verwirrung. Die Zimmerwalder Bewegung war aus den Parteien der 1914 zusammengebrochenen Zweiten Internationale hervorgegangen und vereinte daher ein völlig heterogenes Spektrum von Kräften, die nur durch eine allgemeine Ablehnung des Krieges geeint waren, denen aber ein echtes internationalistisches Programm fehlte.
Es gab die Befürworter einer unmöglichen Rückkehr zu einem Kapitalismus von vor dem Ersten Weltkrieg, die zum „Frieden“ aufriefen und den Kampf auf das Parlament beschränken wollten, indem sie sich der Stimme enthielten oder sich weigerten, über Kriegskredite abzustimmen (Ledebour von der SPD). Es gab diejenigen, die einfach nur Pazifisten waren; es gab einen schwankenden zentristischen Flügel (Trotzki, Spartakisten) und schließlich die klare und entschlossene Minderheit um Lenin und die Bolschewiki, die Zimmerwalder Linke.
In unserem Artikel in der Internationalen Revue 155 heißt es: „Im Zusammenhang mit der Zimmerwalder Konferenz ist es korrekter zu sagen, dass die Rechte nicht durch die „Sozialchauvinisten“ vertreten war, um den Ausdruck von Lenin zu gebrauchen, sondern durch Kautsky und Konsorten – die später die Rechte in der USPD bildeten –, dass sich die Linke aus den Bolschewiki und das Zentrum aus Trotzki und den Spartakusbund von Rosa Luxemburg zusammensetzte. Der Prozess, der zur Revolution in Russland und Deutschland führte, war ja gerade dadurch gekennzeichnet, dass ein großer Teil des 'Zentrums' für die Positionen der Bolschewiki gewonnen werden konnte.“3.
Von Anfang an brachten nur die Bolschewiki eine echte und konsequente internationalistische Antwort vor, die drei zentrale Punkte verteidigte:
Sie führten einen hartnäckigen und unerschütterlichen Kampf um diese drei Punkte. Sie waren sich der Verwirrung bewusst, die in der „Zimmerwalder Bewegung“ herrschte, und dass dieses sumpfige Terrain des Eklektizismus, der Koexistenz von „Feuer und Wasser“, zur Entwaffnung des Antikriegskampfes und zur Schwächung der heranreifenden revolutionären Perspektive führte, mit den Arbeitern in Russland an ihrer Spitze.
Es stimmt, dass die Bolschewiki 1915 das durch Kompromisse geprägte Zimmerwalder Manifest unterzeichneten, aber das bedeutete nicht die Akzeptanz dieser Verwirrung, insbesondere des pazifistischen Tons des Manifests, sondern die Erkenntnis, dass es, indem es die Sozialpatrioten vor der gesamten Arbeiterklasse anprangerte, ein erster Schritt zur Annahme einer unnachgiebigen internationalistischen Linie sein konnte, die zu einer neuen Internationale führte. Indem sie ihre Kritik am Zimmerwalder Zentrismus beibehielten, konnten die Bolschewiki den notwendigen Prozess der Abgrenzung fortsetzen. Angesichts der Ergebnisse der Zimmerwalder Konferenz fassten die Bolschewiki die folgenden Beschlüsse:
Heute geben die Internationalistische Kommunistische Tendenz (IKT – Englisch: ICT) und bestimmte parasitäre Gruppen vor, Anhänger von Zimmerwald zu sein. Sie geben Zimmerwald eine Menge „Likes“. Seine Bedeutung wurde jedoch von der ICT und parasitären Elementen, die sich als Internationalisten tarnen, absichtlich verdunkelt oder sogar ins Gegenteil verkehrt. Für die ICT war das Ziel von Zimmerwald angeblich, möglichst viele der Kriegsgegner als praktisches Mittel zur Organisierung der Massen zu gruppieren. „Dies ist nicht der Zeitpunkt, um unter den Kriegsgegnern auf der Grundlage eines revolutionären Programms zu selektieren. In erster Linie sind, wie vor Zimmerwald, alle revolutionären und internationalistischen Energien die Mühe der Umgruppierung wert. Aber darüber hinaus war das Beispiel Frankreichs mit dem Komitee für die Wiederaufnahme der internationalen Beziehungen (Comité pour la Reprise des Relations Internationales–CRRI), das die meisten Aktivitäten anführte und das Herzstück der Arbeiteropposition gegen den Krieg war, bedeutend. In ihm waren von Anfang an revolutionäre Syndikalisten sowie Aktivisten der Sozialistischen Partei, der gescheiterten Sektion der Internationale, zusammengeschlossen. In der Tat war die Daseinsberechtigung des CRRI die Opposition gegen den Krieg und gegen die Heilige Allianz, um verschiedene Gegner zusammenzubringen, die aus dem Syndikalismus, dem Sozialismus und dem Anarchismus kamen.“4 Diese Verzerrung und Missachtung der Tatsachen zielt eindeutig darauf ab, den Opportunismus des Unternehmens No War But the Class War (NWBCW) zu rechtfertigen.5 Im Gegensatz zu den Bolschewiki, die, obwohl sie in einer kleinen Minderheit waren, auf der Ablehnung des Pazifismus, der Ablehnung des Versuchs, die Zweite Internationale wiederzubeleben, und auf dem Kampf für die Weltpartei bestanden. Das Leitmotiv der Bolschewiki war es, eine „Arbeitslinie“ für die Arbeiterklasse in der Epoche der imperialistischen Kriege zu entwickeln, gegen den Morast der zentristischen Verwirrung, auch wenn dies damals eine zahlenmäßige Isolierung bedeutete.
Zimmerwald war keine Ansammlung von „Anti-Kriegs“-Elementen, wie die ICT und die Parasiten behaupten, auch wenn sie anfangs noch als Gruppierung innerhalb der sozialdemokratischen Parteien gedacht war, zu einer Zeit, als diese noch der politische Bezugspunkt des gesamten Proletariats waren. Die von den Bolschewiki eingeschlagene Richtung war der Kampf um die Überwindung dieser Verwirrung und der Weg zur Bildung der Dritten Internationale. Zimmerwald befand sich auf einem Klassenterrain. Dennoch fand ein Prozess der Abgrenzung statt, der die Zentristen in die Konterrevolution und damit zur Unterstützung der eigenen nationalen Bourgeoisie führte, während die unnachgiebige Linke als einzige internationalistische proletarische Strömung übrig blieb.
Der Kampf der Zimmerwalder Linken wurde in der Praxis durch die proletarische Oktoberrevolution von 1917 bestätigt, die die internationalistische Losung „den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg verwandeln“ zur Realität werden ließ. Der sofortige Austritt des neuen Sowjetregimes aus dem imperialistischen Entente-Bündnis mitten im Ersten Weltkrieg und die Veröffentlichung der Geheimverträge darüber, wer im Falle ihres Sieges was gewinnen würde, versetzte die Weltbourgeoisie in Schockstarre, während der revolutionäre Aufschwung der europäischen Arbeiterklasse einen enormen Impuls erhielt, der sich im Beinahe-Erfolg der deutschen Revolution und in der Gründung der Kommunistischen Internationale 1919 widerspiegelte.
Wenn der Weg des Internationalismus im Ersten Weltkrieg über den Kampf der Linken gegen den Opportunismus der Sozialchauvinisten und Zentristen führte, so bestand die Kontinuität dieses Weges in den 20er- und 30er-Jahren im Kampf der Kommunistischen Linken gegen die Degeneration der Kommunistischen Internationale in den 20er-Jahren und später gegen die der Linken Opposition Trotzkis in den 30er-Jahren. Die Komintern kapitulierte aufgrund der Isolation und der Entartung der Revolution in Russland mehr und mehr vor den Sozialchauvinisten der untergegangenen Sozialdemokratie, was sich in der Politik der Einheitsfront und der Arbeiterregierungen ausdrückte. Die Politik der Dritten Internationale wurde immer mehr zur Ausweitung der Interessen des russischen Staates anstelle der Bedürfnisse der internationalen Revolution, was zu deren Niederlagen in Deutschland, Großbritannien und China beitrug. Eine Politik, die sich in der Annahme der nationalistischen Losung „Sozialismus in einem Land“ durch die Komintern im Jahr 1928 und in der vollständigen Kapitulation des russischen Staates vor dem Treiben des Weltimperialismus mit dem Beitritt Russlands zum Völkerbund im Jahr 1934 verfestigte.
Die Kommunistische Linke war die erste, die sich dieser Tendenz entgegenstellte, insbesondere die Tradition der Italienischen Kommunistischen Linken, die schließlich aus der Kommunistischen Partei Italiens und der Kommunistischen Internationale ausgeschlossen wurde. Sie bildet eine Fraktion im Exil und später eine internationale Fraktion der Kommunistischen Linken.
Die Niederlage der internationalen revolutionären Welle von 1928 öffnete den Weg zu einem weiteren imperialistischen Weltkrieg, und es war nur die Kommunistische Linke, die dem internationalistischen Kampf des revolutionären Proletariats treu blieb, sowohl im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs als auch während und nach dem Krieg selbst.
Bilan zog in der Schlüsselfrage der Verteidigung der UdSSR eine klare Abgrenzung gegen die Linke Opposition um Trotzki, eine Position, die dazu beitrug, die trotzkistische Strömung in die Unterstützung des imperialistischen Krieges zu ziehen:
„Wir sind der Meinung, dass im Falle eines Krieges das Proletariat aller Länder, einschließlich Russlands, die Pflicht hätte, seine Kräfte zu konzentrieren, um den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln. Die Teilnahme der UdSSR an einem Räuberkrieg würde ihren wesentlichen Charakter nicht verändern und der proletarische Staat könnte nur unter den Schlägen der sozialen Widersprüche, die eine solche Teilnahme mit sich bringen würde, untergehen. Die Bolschewiki-Leninisten verlassen das Terrain des Marxismus, wenn sie das Proletariat auffordern, seinen Kampf für die Weltrevolution im Austausch für die Verteidigung der UdSSR zu opfern" (Bilan, Nr. 10, August 1934)
Der internationalistische Lackmustest für die revolutionären Gruppen und Fraktionen, die aus der degenerierten Komintern ausgeschlossen worden waren, war jedoch der Krieg in Spanien ab 1936, wo der Konflikt zwischen dem republikanischen und dem faschistischen Flügel der spanischen Bourgeoisie zum Schauplatz einer Stellvertreterschlacht zwischen den konkurrierenden imperialistischen Mächten Großbritannien und Frankreich, Russland, Deutschland und Italien wurde. Doch die Trotzkisten, die vor allem wegen ihrer Versuche, den Internationalismus zu verteidigen, aus den kommunistischen Parteien ausgeschlossen worden waren, verteidigten nun im Namen des Antifaschismus „kritisch“ die republikanische Seite und verrieten damit das Proletariat, das sie dazu ermutigten, sich in dieser imperialistischen Generalprobe für den Zweiten Weltkrieg, die zwischen verschiedenen Flügeln der Bourgeoisie stattfand, für eine Seite zu entscheiden.
Bilan musste diese Tendenz zur Kapitulation, die die proletarischen Gruppen in den Abgrund riss, bekämpfen. Seine kompromisslose Loyalität zum Internationalismus führte zu einer dramatischen Isolierung: nur kleine Gruppen in Belgien oder Mexiko schlossen sich seinem Kampf an.
Aber auch die Kommunistische Linke selbst war nicht vor den Gefahren des Opportunismus gefeit. Eine Minderheit der Italienischen Fraktion brach mit ihr und ihren internationalistischen Prinzipien und schloss sich dem antifaschistischen Krieg in Spanien an.
Während des Zweiten Weltkriegs geriet die Italienische Fraktion in Verwirrung, und ihr bedeutendster Vertreter, Vercesi, behauptete, das Proletariat sei verschwunden und der politische Kampf für den Internationalismus sei nicht mehr lebensfähig. Nur unter großen Schwierigkeiten–zwischen der Gestapo und dem Widerstand–gelang es einem Teil der Italienischen Fraktion, sich in Südfrankreich neu zu formieren und die internationalistischen Positionen der Kommunistischen Linken zu verkünden, d.h. gegen beide imperialistischen Lager, ob „faschistisch“ oder „antifaschistisch“ in der Ideologie.
Unabhängig davon wurde 1943, nach dem Sturz Mussolinis, in Norditalien der Partito Comunista Internazionalista (PCInt) gegründet, die die internationalistische Politik der Kommunistischen Linken fortsetzte. Indem sie jedoch die Kritik der Italienischen Fraktion im Exil am Opportunismus der Komintern vernachlässigte und das Ziel ignorierte, die Lehren aus einer Periode der Niederlage des Proletariats zu ziehen, einschließlich der internationalistischen Unnachgiebigkeit gegenüber dem Krieg in Spanien, kehrte die PCInt zu der Politik zurück, „zu den Massen zu gehen“, und stellte sich vor, dass sie die Partisanen in Italien, d. h. jene antifaschistischen Kräfte, die im Namen des verbündeten Imperialismus arbeiteten, zu echten Internationalisten machen könnte.6
Während die PCInt die notwendige internationale Fraktionsarbeit gegen diese opportunistische Strömung vorzeitig aufgab, setzte die Kommunistische Linke Frankreichs (Gauche Communiste de France, die Internationalisme herausgab) die Arbeit der Fraktion entschlossen fort und arbeitete die Positionen aus, die Bilan zu entwickeln begonnen hatte. Die GCF prangerte eindeutig den falschen Gegensatz Faschismus gegen Demokratie an, der das Banner der Mobilisierung für die imperialistischen Schlächtereien gewesen war, während sie nach dem Zweiten Weltkrieg und angesichts der neuen imperialistischen Konfiguration (der Kampf zwischen den USA und der UdSSR) das zusätzliche Mittel der Rekrutierung für den Krieg anprangerte: die „nationale Befreiung“ der „unterdrückten Völker“ (Vietnam, Palästina usw.).
Daraus können wir schließen, dass nur die kommunistische Linke dem Proletariat treu geblieben ist, indem sie den Internationalismus gegen die unzähligen militärischen Massaker verteidigt hat, die seit 1914 auf der Welt stattgefunden haben, weshalb wir in unserem Dritten Internationalen Manifest sagen: „In ernsten historischen Situationen wie etwa in weitreichenden Kriegen wie dem in der Ukraine kann das Proletariat erkennen, wer seine Freunde sind und wer seine Feinde. Diese Feinde sind nicht nur die großen Figuren wie Putin, Zelensky oder Biden, sondern auch die Parteien der extremen Rechten, der Rechten, der Linken und der extremen Linken, die mit einer breiten Palette von Argumenten, einschließlich des Pazifismus, den Krieg und die Verteidigung eines imperialistischen Lagers gegen ein anderes unterstützen und rechtfertigen.“
„Die einzige politische Strömung, die die Niederlage dieser revolutionären Welle überlebt und die militante Verteidigung des internationalistischen Prinzips beibehalten hat, ist die Kommunistische Linke. In den dreißiger Jahren bewahrte sie diese grundlegende Linie der Arbeiterklasse während des spanischen Krieges und des chinesisch-japanischen Krieges, während andere politische Strömungen wie die Stalinisten, Trotzkisten oder Anarchisten ihr imperialistisches Lager wählten, das diese Konflikte anzettelte. Die Kommunistische Linke behielt ihren Internationalismus während des Zweiten Weltkriegs bei, während diese anderen Strömungen sich an dem imperialistischen Gemetzel beteiligten, das als Kampf zwischen ‚Faschismus und Antifaschismus‘ und/oder Verteidigung der ‚Sowjetunion‘ verkleidet wurde.“ (Aufruf an die Kommunistische Linke).
Die kritische historische Kontinuität der kommunistischen Positionen, die im letzten Jahrhundert von der Kommunistischen Linken verteidigt und entwickelt wurden, ist die einzige, die in der Lage ist, eine Gesamtheit von Analysen (Wesen des Kapitalismus, Dekadenz, Imperialismus, Kriegswirtschaft, kapitalistischer Zerfall usw.), eine Kontinuität in den Debatten und in der Intervention in der Klasse, eine Kohärenz zu liefern, die die Waffen des Kampfes für die kommunistische Weltrevolution gegen alle Erscheinungsformen der kapitalistischen Barbarei und vor allem des imperialistischen Krieges liefert.
Gegen das schändliche Gemetzel in der Ukraine schlug die IKS eine gemeinsame Erklärung der Kommunistischen Linken vor, die von drei anderen Gruppen unterzeichnet wurde. Angesichts der neuen imperialistischen Barbarei in Gaza haben wir einen Aufruf zu einer gemeinsamen Erklärung gegen alle imperialistischen Mächte, gegen die Aufrufe zur nationalen Verteidigung hinter den Ausbeutern, gegen die heuchlerischen Plädoyers für „Frieden“ und für den proletarischen Klassenkampf, der zur kommunistischen Revolution führt, gemacht.
Alle Kräfte der Bourgeoisie (Parteien, Gewerkschaften, Institutionen wie die Kirchen, die UNO usw.) rufen die Proletarier dazu auf, sich für ein Lager unter den imperialistischen Banditen zu entscheiden, die schrecklichen Opfer zu akzeptieren, die die Kriegsdynamik des Kapitalismus auferlegt, kurz, sich selbst in die Maschinerie des Krieges und der Zerstörung zu begeben, die zur Vernichtung des Planeten und der gesamten Menschheit führt. Nur die Stimme der Kommunistischen Linken erhebt sich deutlich gegen dieses Konzert der Toten.
Die Gemeinsame Erklärung und der Appell der IKS an das sektiererische und opportunistische proletarische politische Milieu von heute steht in der Kontinuität der Haltung der Bolschewiki in Zimmerwald gegenüber den Zentristen. Die Gruppen der Kommunistischen Linken sind heute das einzige Minimum an solidem Klassenterrain für eine internationalistische Perspektive. Dennoch weigerten sich die von der PCInt abstammenden Gruppen der Kommunistischen Linken, die gemeinsamen Vorschläge zu unterzeichnen. Hätten diese Gruppen jedoch die gemeinsamen Erklärungen unterzeichnet, wäre dies ein politisches Signal für die aufstrebenden revolutionären Kräfte gewesen und hätte einen intensiveren Prozess der politischen Abgrenzung einleiten können. Die Gemeinsame Erklärung und der Appell7 sollten ein erster Schritt auf dem Weg zu der notwendigen politischen Abgrenzung sein, die die Bildung der zukünftigen Partei erfordern wird.
Die Bourgeoisie muss die internationalistische Stimme der kommunistischen Linken zum Schweigen bringen. Zu diesem Zweck führt sie einen verdeckten, heimlichen Krieg. In diesem Krieg setzt sie nicht offen die Repressionsorgane des Staates oder die großen Medien ein. Angesichts der geringen Größe, des geringen Einflusses, der Spaltung und der Zersplitterung der Gruppen der kommunistischen Linken bedient sich die Bourgeoisie der Dienste der Parasiten.
Die Parasiten behaupten, internationalistisch zu sein, und lehnen die verschiedenen Seiten mit großspurigen Erklärungen ab, aber alle ihre Bemühungen konzentrieren sich darauf, wirklich internationalistische Gruppen wie die IKS zu verunglimpfen, zu verleumden und zu denunzieren. Wir sprechen von Spitzeln und Gangstern wie der „Internationalen Gruppe der Kommunistischen Linken“ (IGCL), die „internationalistische“ Formulierungen als ihren Persilschein benutzen, um kommunistische Organisationen anzugreifen. Ihre Methoden sind Verleumdung, Denunziation, Provokation, Anschuldigungen des „Stalinismus“ gegen die IKS. Sie verkünden, dass unsere Organisation „außerhalb der kommunistischen Linken“ steht, und um „das Vakuum zu füllen“, schmeicheln sie der ICT schamlos, indem sie ihr den Titel der „Avantgarde der kommunistischen Linken“ anbieten. Es geht also darum, eine Spaltung innerhalb der Kommunistischen Linken herbeizuführen und das Sektierertum und den Opportunismus der ICT schamlos auszunutzen, um sie noch stärker gegen die klarste und konsequenteste Organisation der Kommunistischen Linken, die IKS, aufzubringen.
Die parasitäre Klüngelei, ein chaotisches Durcheinander von Gruppen und Persönlichkeiten, benutzt einen unverdaulichen Aufguss der Positionen der Kommunistischen Linken, um die eigentliche Kommunistische Linke anzugreifen, sie zu verfälschen und zu verunglimpfen. Dieser Angriff kommt in verschiedenen Varianten daher.
Auf der einen Seite gibt es den Blog, der sich zunächst Neuer Kurs (Nuevo Curso) nannte und dann als Comunia getarnt wurde, der versucht, uns hinters Licht zu führen: Er benutzt die verworrenen Positionen eines echten Revolutionärs, Munís8, die auf einen unvollständigen Bruch mit dem Trotzkismus zurückzuführen sind, um uns eine falsche, völlig verfälschte kommunistische Linke zu präsentieren. Dieses von dem Abenteurer Gaizka9 geförderte Unternehmen der Nachahmung wurde eine Zeit lang von der parasitären IGCL vorbehaltlos unterstützt.
Eine weitere Front im Krieg gegen die kommunistische Linke ergibt sich aus der Farce einer in Brüssel abgehaltenen Konferenz, auf der mehrere parasitäre Persönlichkeiten und Gruppierungen eine „Gemeinsamkeit haben, die sie zweifellos lieber geheim halten würden: Es ist die Überzeugung, dass der Marxismus und die Errungenschaften der kommunistischen Linken der letzten hundert Jahre veraltet sind und durch den Rückgriff auf verschiedene anarcho-rätistische, modernistische oder radikal-ökologische Theorien ‚ergänzt‘ oder sogar ‚übertroffen‘ werden müssen. Deshalb bezeichnen sie sich als ‚pro-revolutionär‘ und sehen sich als eine Art ‚befreundete Vereinigung zur Verbreitung der Idee der Revolution‘. Ihre Botschaft lautet, dass die Arbeiterklasse 'neu anfangen' muss und unter dem Lärm der Kriege, den Wellen der Inflation und des Elends, der Orgie der Zerstörung geduldig darauf warten muss, dass diese 'pro-revolutionären' Salonbewohner ihren unglaublichen Verstand einsetzen, um eine Idee zu entwickeln, 'wie man den Kapitalismus bekämpfen kann‘“.10
Der Krieg der Bourgeoisie gegen den Internationalismus findet in der sektiererischen und opportunistischen Position der ICT einen Anknüpfungspunkt.
Die ICT prangern den imperialistischen Krieg an, lehnen alle Seiten in den Konflikten ab und verteidigen die proletarische Revolution als einzigen Ausweg. Aber dieser Internationalismus läuft Gefahr, nur Worte zu bleiben, weil sie sich einerseits weigern, gemeinsam mit den anderen Gruppen der Kommunistischen Linken gegen den Krieg zu kämpfen (indem sie sich zum Beispiel weigern, an der gemeinsamen Erklärung teilzunehmen, die die IKS seit Beginn des Krieges in der Ukraine vorgeschlagen hat, oder indem sie auch den Appell ablehnen, den wir angesichts des Krieges in Gaza gemacht haben). Auf die gleiche Weise, indem sie dem Internationalismus eine Elastizität verleiht, die ihn letztendlich bricht oder verwässert, befürwortet sie Fronten (z.B. die NWBCW), die zu linken Gruppen passen können, die angesichts eines militärischen Konflikts ‚internationalistisch‘ sind, aber chauvinistisch als Reaktion auf einen anderen, oder zu verwirrten Gruppen, die eine falsche Vorstellung von Internationalismus haben.
Diese sektiererische und opportunistische Position ist nicht neu–sie hat eine fast 80-jährige Geschichte, wie wir oben im Zusammenhang mit den Ursprüngen der PCInt gesehen haben. Mit dem historischen Aufschwung des Proletariats seit 1968 zeigen sowohl die bordigistischen Gruppen, die aus der PCInt hervorgegangen sind, als auch der damenistische Zweig, der Vorgänger der heutigen ICT, einerseits das Sektierertum, indem sie jede Erklärung oder gemeinsame Aktion gegen den von der IKS vorgeschlagenen imperialistischen Krieg ablehnen, und andererseits die Zusammenarbeit mit verwirrten Gruppen oder Gruppen, die eindeutig auf dem Terrain der Bourgeoisie stehen.
So hat die ICT mit dem Sektierertum und Opportunismus, die in ihren Genen liegen, alle gemeinsamen Aktionen der Kommunistischen Linken, die von der IKS gegen den imperialistischen Krieg vorgeschlagen wurden, abgelehnt–seit der russischen Invasion in Afghanistan 1979 - bis hin zu den Kriegen in der Ukraine und in Gaza!
Gleichzeitig hat sie „Fronten“ wie „No War But the Class War“ geschaffen mit dem Argument, dass das Feld der Kommunistischen Linken zu eng sei und dass sie die Arbeiterklasse kaum erreiche.
Die angebliche „Enge“ der Kommunistischen Linken veranlasst die ICT dazu, „das Feld des Internationalismus zu erweitern“, indem sie anarchistische, halbtrotzkistische, parasitäre Gruppen aus einem mehr oder weniger links verseuchten Sumpf aufruft, sich der NWBCW anzuschließen. So wird die programmatische Identität, die historische Tradition, der erbitterte Kampf von mehr als einem Jahrhundert, der von der Kommunistischen Linken geführt wurde, durch eine „Erweiterung“ verleugnet, die in Wirklichkeit Verwässerung und Verwirrung bedeutet.
Aber gleichzeitig wird der wirkliche Internationalismus mit Füßen getreten, denn diese „Internationalisten“ sind nicht immer Internationalisten, sie sind Internationalisten gegen einige Kriege, während sie gegen andere schweigen oder sie mehr oder weniger offen unterstützen. Ihre Argumente gegen den Krieg enthalten zahlreiche Illusionen in Pazifismus, Humanismus, Interklassismus. Dies zeigt sich auch in der Haltung der ICT gegenüber der Anarchist Communist Group in Britain (ACG). Sie begrüßt die Haltung dieser Gruppe zum Krieg in der Ukraine, „bedauert“ aber gleichzeitig ihre gegenteilige Position zum Krieg in Gaza.
Die ICT verwischt in ihrem opportunistischen Eifer, all jene zu „vereinen“, die „etwas gegen den Krieg“ sagen, die Abgrenzung, die zwischen der kommunistischen Linken, die tatsächlich gegen den Krieg kämpft, und der ganzen anderen Fauna bestehen muss:
Die ICT will die Verwirrung aufrechterhalten, weil sie argumentiert: „Wir sind nicht der Meinung, dass sich InternationalistInnen gegenseitig angreifen sollten. Wir haben immer die Ansicht vertreten, dass alte Polemiken durch das Auftauchen einer neuen Klassenbewegung gelöst oder irrelevant werden können.“11
Nein! Ein solcher Ansatz steht im krassen Gegensatz zu dem der Bolschewiki in Zimmerwald. Lenin betrachtete dieses Treffen der „Internationalisten im Allgemeinen“ als einen „Sumpf“ und führte einen kompromisslosen Kampf, um die wirklich internationalistische Position von diesem Sumpf der Verwirrung zu trennen, die den konsequenten Kampf gegen den Krieg blockierte.
Lenin und die Bolschewiki zeigten, dass die „Zimmerwalder Mehrheit“ einen „Fassadeninternationalismus“ praktizierte; ihre Opposition gegen den Krieg war mehr leere Pose als wirklicher Kampf. Aus dem gleichen Grund müssen wir vor dem gegenwärtigen Internationalismus der ICT warnen. Zwar hat die ICT den Internationalismus nicht verraten, aber ihr Internationalismus wird immer formeller und abstrakter und tendiert dazu, zu einer leeren Hülle zu werden, mit der die ICT ihre Sabotage des Kampfes für die Partei, ihre Komplizenschaft mit dem Parasitentum, ihre Zusammenarbeit mit den Spitzeln und ihre wachsende Verbundenheit mit der Linken verdeckt.
Como & C. Mir 22-12-23
1 Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass Marx nach der Pariser Kommune und der Kollaboration der französischen und preußischen Bourgeoisie bei ihrer Niederschlagung zu dem Schluss kam, dass dies das Ende der fortschrittlichen nationalen Kriege in den zentralen Ländern des Kapitalismus bedeutete.
2 Bilan, Nr. 21, August 1936
3 Konferenz von Zimmerwald: Die zentristischen Strömungen innerhalb der Organisationen des Proletariats [2], IKSonline,26. Februar, 2016
4 NWBCW and the real international bureau of 1915 [3], Leftcom.org, July 2022. (dieser Text wurde von der deutschen Sektion der IKT, der GIK, nicht übersetzt!)
5 Die ICT und die Initiative NWBTCW: ein opportunistischer Bluff der die Kommunistische Linke schwächt [4], Weltrevolution, Nr. 186
6 The ambiguities of the Internationalist Communist Party over the ‘partisans’ in Italy in 1943 [5], International Review, Nr. 8 (englische Ausgabe), siehe auch auf deutsch: Debatte mit dem IBRP [6], Internationale Revue, Nr. 26
7 Gemeinsame Erklärung von Gruppen der internationalen Kommunistischen Linken zum Krieg in der Ukraine [7], Internationale Revue, Nr. 58 und der Aufruf an die Kommunistische Linke: Schluss mit den Massakern, keine Unterstützung für irgendein imperialistisches Lager! Nein zu pazifistischen Illusionen! Proletarischer Internationalismus! [8], IKSonline, 18. Oktober 2023
8 Nuevo Curso und eine „Kommunistische Linke Spaniens“: Was sind die Ursprünge der Kommunistischen Linken? [9], IKSonline, 14. Dezember 2019
9 Wer ist wer bei „Nuevo Curso“? [10], Internationale Revue, 28. Januar, 2020
10 A"conference of left communism" in Brussels? A decoy for those who want to take part in the revolutionary struggle! [11], ICC online, September 2023
11 Die Aufgaben der RevolutionärInnen angesichts der kapitalistischen Kriegstreiberei [12], leftcom.org, 28. Oktober 2023
Die Kongresse der IKS und die Treffen ihres internationalen Zentralorgans befassen sich in der Regel mit drei Hauptthemen, die die internationale Lage betreffen und die größte Bedeutung für unsere Intervention haben: die wirtschaftlichen Widersprüche des Kapitalismus, die imperialistischen Konflikte und die Entwicklung des Klassenkampfes. Die Untersuchung des politischen Lebens des Klassenfeindes, der Bourgeoisie, darf jedoch niemals vernachlässigt werden, nicht zuletzt, weil sie unser Wissen über die kapitalistische Gesellschaft, die wir bekämpfen, vervollständigt und auch Schlüssel zum Verständnis der drei genannten Hauptthemen liefern kann. In einer völlig reduktionistischen und daher falschen Sichtweise des Marxismus ist der Ausgangspunkt die wirtschaftliche Situation des Kapitalismus, die die imperialistischen Konflikte und das Niveau der Klassengegensätze bestimme. Wir haben oft gezeigt, dass die Realität nicht so einfach ist, insbesondere indem wir Engels' Zitate über den Platz der Wirtschaft im Leben der Gesellschaft aufgreifen.
Diese Notwendigkeit, das politische Leben der Bourgeoisie zu untersuchen, findet sich in vielen Schriften von Marx und Engels. Einer der bekanntesten und bemerkenswertesten Texte zu diesem Thema ist Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte. In diesem Dokument geht Marx zwar kurz auf die wirtschaftliche Situation in Frankreich und Europa ein, versucht aber, eine Art Rätsel zu lösen: Wie und durch welchen Prozess konnte die Revolution von 1848 zum Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 führen, der einem Abenteurer, Louis-Napoléon, volle Macht verlieh? Damit zeichnet Marx ein anschauliches und tiefgründiges Bild der politischen Funktionsweise der französischen Gesellschaft und der Zukunft. Natürlich wäre es absurd, die Analyse von Marx direkt auf die heutige Zeit zu übertragen. Vor allem die Rolle des Parlaments ist heute nicht mehr mit derjenigen von Mitte des 19. Jahrhunderts vergleichbar. Die von Marx angewandte Methode jedoch, der historische und dialektische Materialismus, ist eine wesentliche Inspirationsquelle bei der Analyse der heutigen Situation.
Die Bedeutung einer systematischen Untersuchung des politischen Lebens der Bourgeoisie für das Verständnis der heutigen Welt wurde von der IKS mehrfach bestätigt, aber es lohnt sich, eine besonders wichtige Episode hervorzuheben: den Zusammenbruch des Ostblocks und der Sowjetunion 1989/90. Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 kam für die meisten proletarischen politischen Gruppen und bürgerlichen "Spezialisten", die bis zum Vorabend dieses Datums weit davon entfernt waren, zu glauben, dass die Schwierigkeiten der Länder des Ostblocks zu seinem plötzlichen Zusammenbruch führen würden, sehr überraschend. Die IKS hatte dieses große Ereignis jedoch bereits zwei Monate zuvor, Anfang September 1989, vorausgesehen, als sie die Thesen zur ökonomischen und politischen Krise in der UdSSR und den osteuropäischen Ländern (Internationale Revue Nr. 12)[1] verabschiedete. Dort heißt es klar:
- "... Da der praktisch einzige Faktor des Zusammenhalts des russischen Blocks die Armee ist, trägt in der Tat jede Politik, die diesen Faktor zurückdrängt, die Gefahr des Auseinanderbrechens des Blocks in sich. Schon jetzt bietet uns der Ostblock ein Bild des Zerfalls. (...).
Ein ähnliches Phänomen kann man in den Randrepubliken der UdSSR beobachten. (...) Die nationalistischen Bewegungen, die sich dort, begünstigt durch die Lockerung der zentralen Kontrolle durch die russische Partei, heute entwickeln (...) gehen einher mit einer Dynamik der Loslösung von Rußland. Letztlich werden wir, wenn die Zentralmacht in Moskau nicht reagiert, nicht nur die Explosion des russischen Blocks erleben, sondern auch die Explosion seiner Vormacht. In einer solchen Dynamik würde die russische Bourgeoisie, die heute noch die zweitgrößte Weltmacht stellt, nur noch eine zweitrangige Stellung einnehmen, weitaus schwächer als Deutschland beispielsweise.“ (Punkt 18)
- "Aber unabhängig von der zukünftigen Entwicklung der Lage in den osteuropäischen Ländern bedeuten die gegenwärtigen Ereignisse die historische Krise, den endgültigen Zusammenbruch des Stalinismus, diesem monströsen Symbol der schlimmsten Konterrevolution, die das Proletariat je erlebt hat. Diese Länder sind in einen Zeitraum beispielloser Instabilität, Erschütterungen und des Chaos eingetreten, deren Auswirkungen weit über ihre eigenen Grenzen hinaus wirken. Insbesondere wird der Zusammenbruch des russischen Blocks die Tür zu einer Destabilisierung des Systems der internationalen Beziehungen, der imperialistischen Konstellationen öffnen, wie sie aus dem Zweiten Weltkrieg nach dem Abkommen von Jalta hervorgegangen waren.“ (Punkt 20)
- "Die Ereignisse, die heute die "sozialistischen" Länder erschüttern, die faktische Auflösung des russischen Blocks, das offensichtliche und endgültige Scheitern des Stalinismus auf ökonomischer, politischer und ideologischer Ebene stellen neben dem internationalen Wiederauftauchen des Proletariats Ende der 60er Jahre das bedeutendste historische Ereignis seit dem Zweiten Weltkrieg dar.“ (Punkt 22)
Diese Fähigkeit, die Entwicklung im Ostblock vorauszusehen, war nicht das Ergebnis einer besonderen Begabung für das Lesen von Kristallkugeln, sondern einer regelmäßigen Beobachtung und eingehenden Analyse der Situation[2]. Aus diesem Grund wurde im ersten Teil der Thesen an das erinnert, was wir bereits zu dieser Frage geschrieben hatten, um die Ereignisse von 1989 in den Kontext dessen zu stellen, was wir zuvor erkannt hatten, besonders während der Arbeiterkämpfe in Polen im Jahr 1980. In den Thesen werden insbesondere drei in der Internationalen Revue in 1980-81 veröffentlichte Artikel zitiert:
- Die internationale Dimension der Arbeiterkämpfe in Polen [14], Internationale Revue Nr. 6;
- One Year of Workers’ Struggles in Poland [15] (Ein Jahr der Arbeiterkämpfe in Polen), International Review Nr. 27, englischsprachige Ausgabe[3];
- Eastern Europe: Economic crisis and the bourgeoisie's weapons against the proletariat [16] (Osteuropa: Die Wirtschaftskrise und die Waffen der Bourgeoisie gegen das Proletariat), International Review Nr. 34, englischsprachige Ausgabe).[4]
Es ist hier nicht der Ort, diese Texte zu wiederholen, die auf unserer Website leicht zugänglich sind. Wir möchten nur zwei wichtige Gedanken in Erinnerung rufen, die unter anderem unsere Analyse des Zusammenbruchs des Ostblocks ein Jahrzehnt später dann geleitet haben:
- "Die proletarischen Kämpfe in Polen haben einen lebendigen Widerspruch geschaffen, indem sie die osteuropäische Bourgeoisie in eine Arbeitsteilung zwangen, gegen die sie strukturell resistent ist. Es ist noch zu früh, um vorherzusagen, wie er sich entwickeln wird. Angesichts einer historisch beispiellosen Situation ... besteht die Aufgabe der Revolutionäre darin, die sich entfaltenden Ereignisse mit Besonnenheit anzugehen." (Internationale Revue Nr. 27, englischsprachige Ausgabe)
- "... während der amerikanische Block durchaus in der Lage ist, die 'Demokratisierung' eines faschistischen oder militärischen Regimes zu 'managen', wenn dies nützlich ist (Japan, Deutschland, Italien in der Nachkriegszeit; Portugal, Griechenland, Spanien in den 70er Jahren), kann die UdSSR keine 'Demokratisierung' innerhalb ihres Blocks zulassen. (...) Ein politischer Regimewechsel in einem "Satelliten"-Staat birgt die unmittelbare Gefahr, dass dieses Land Teil des gegnerischen Blocks wird.“ (Internationale Revue Nr. 34, englischsprachige Ausgabe)
Heute hat die Untersuchung des politischen Lebens der Bourgeoisie nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt. Das methodologische Werkzeug, das wir für diese Untersuchung verwenden, ist natürlich unsere Analyse des Zerfalls, insbesondere die Frage des Kontrollverlusts der herrschenden Klasse über ihr politisches Spiel, dessen wichtigster Ausdruck der Aufstieg des Populismus ist. Dieser Bericht wird sich aus zwei Gründen auf die Frage des Populismus konzentrieren:
- Zum einen hat sich dieser Populismus in den letzten Jahren noch verstärkt;
- Zum anderen sind die bisherigen Analysen zu diesem Thema nicht ohne Schwächen, die es zu erkennen und zu beheben gilt.
Erst spät, auf dem 22. Kongress von Révolution Internationale (Sektion der IKS in Frankreich) im Mai 2016, begann die IKS, die Bedeutung der Erscheinung des Populismus auf internationaler Ebene zu analysieren. Auf demselben Kongress hatte die Diskussion über die Resolution zur Lage in Frankreich gezeigt, dass es an Sicherheit und Klarheit in dieser Frage mangelt. Es wurde ein Antrag angenommen, in dem die Notwendigkeit betont wurde, eine Debatte in der gesamten IKS aufzunehmen. Ein Jahr später heißt es in der vom 22. Kongress der IKS verabschiedeten Resolution zum internationalen Klassenkampf (Internationale Revue Nr. 55)[5] über das Phänomen des Populismus: "Der gegenwärtige populistische Aufschwung ist somit von all diesen Faktoren genährt worden – vom Crash von 2008, vom Terrorismus und von der Flüchtlingskrise – und erscheint als ein konzentrierter Ausdruck des Zerfalls des Systems, der Unfähigkeit beider Hauptklassen in der Gesellschaft, der Menschheit eine Perspektive für die Zukunft anzubieten." Diese Aussage enthielt zwar eine stichhaltige Analyse, doch wurde in anderen Punkten der Resolution der Schwerpunkt stärker auf die Fähigkeit des Populismus gelegt, die Arbeiterklasse zu beeinflussen, da dies ein entscheidender Faktor für die Entwicklung des Populismus ist. Außerdem wurde das Phänomen des Populismus nicht wirklich vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten der Bourgeoisie seit dem Eintritt in die Phase des kapitalistischen Zerfalls bewertet.
Diese Unklarheiten spiegeln den Mangel an Homogenität wider, der mit einer Tendenz innerhalb der IKS einherging, den in den Thesen zum Zerfall (Internationale Revue Nr. 13)[6] verteidigten Rahmen zu ignorieren, um das politische Leben der Bourgeoisie in der aktuellen historischen Periode zu verstehen. Dieses Abdriften wurde besonders deutlich im Text Über das Problem des Populismus (Internationale Revue Nr. 54)[7] und auch im Artikel Brexit, Trump, Rückschläge für die Bourgeoisie, die kein gutes Omen für das Proletariat sind[8], der in Weltrevolution Nr. 181 veröffentlicht wurde. Formal stellen diese beiden Texte den Populismus tatsächlich als Ausdruck des "Zerfalls der bürgerlichen Welt" dar: "Als solcher ist er das Produkt der bürgerlichen Welt und ihrer Weltsicht – vor allem aber ihres Zerfalls."[9] Dabei fällt auf, wie sehr die Thesen nicht den Ausgangspunkt der Analyse bilden, sondern nur ein Element der Reflexion unter anderen.[10] In diesen beiden Texten wird nämlich ein anderer Faktor in den Mittelpunkt der Analyse gestellt: "Der Aufstieg des Populismus ist gefährlich für die herrschende Klasse, weil er ihre Fähigkeit beeinträchtigt, ihren Politapparat zu kontrollieren und gleichzeitig die demokratische Mystifikation aufrechtzuerhalten, die einer der Pfeiler ihrer gesellschaftlichen Vorherrschaft ist. Doch er hat dem Proletariat ebenfalls nichts zu bieten. Im Gegenteil, es ist eben jene Schwäche des Proletariats, seine Unfähigkeit, irgendeine alternative Perspektive zum den Kapitalismus bedrohenden Chaos zu bieten, die den Aufstieg des Populismus heute erst ermöglicht hat. Allein das Proletariat kann einen Ausweg aus der Sackgasse anbieten, in der sich die Gesellschaft heute befindet, doch wird es nie dazu im Stande sein, wenn ArbeiterInnen sich von den Sirenenklängen der populistischen Demagogen bezirzen lassen, die eine unmögliche Rückkehr zur Vergangenheit versprechen, die nie so existiert hat."[11]
Der Artikel Über das Problem des Populismus zieht eine Parallele zwischen dem Aufstieg des Populismus und dem Aufstieg des Nazismus in den 1930er Jahren: "wenn das Proletariat unfähig ist, seine eigene revolutionäre Alternative gegen den Kapitalismus vorzubringen, [führt] der Vertrauensverlust in die Fähigkeiten der herrschenden Klasse, „ihren Job zu machen“, möglicherweise zu einer Revolte (…), einem Protest, einer Explosion ganz anderer Art, eine, die nicht bewusst ist, sondern blind, nicht der Zukunft, sondern der Vergangenheit zugewandt ist, die nicht auf Vertrauen, sondern auf Angst basiert, nicht auf Kreativität, sondern auf Zerstörungswut und Hass“. Mit anderen Worten: Der Hauptfaktor für die Entwicklung und den Aufstieg des Populismus in der bürgerlichen Politik sei die politische Niederlage der Arbeiterklasse.[12]
In der Tat sind alle Aspekte, die den populistischen "Katechismus" nähren (Ablehnung von Ausländern, Ablehnung der "Eliten", Verschwörungstheorie, Glaube an den "starken und allmächtigen Mann", Suche nach Sündenböcken, Rückzug in die "heimische" Gemeinschaft ... ), in erster Linie das Produkt des Misstrauens und der ideologischen Fäulnis, die durch die Perspektivlosigkeit der kapitalistischen Gesellschaft vermittelt werden (erläutert in Punkt 8 der Thesen zum Zerfall) und die vor allem die Bourgeoisie betreffen. Aber der Durchbruch und die Entwicklung des Populismus im politischen Leben der Bourgeoisie wurden vor allem durch eine der wichtigsten Erscheinungsformen des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft bestimmt: "Unter den Hauptkennzeichen des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft muß man die zunehmenden Schwierigkeiten der Bourgeoisie hervorheben, die Entwicklung der Lage auf politischer Ebene zu kontrollieren. An der Wurzel dieses Phänomens liegt natürlich der immer größere Kontrollverlust der herrschenden Klasse über ihren Wirtschaftsapparat, der die Infrastruktur der Gesellschaft bildet.(...) Die mangelnde Perspektive (außer der Flickschusterei, um die Wirtschaft zu stützen), in der sie sich als Klasse mobilisiert, und die Tatsache, daß die Arbeiterklasse noch keine Bedrohung für ihr Überleben darstellt, bewirkt in der herrschenden Klasse und insbesondere in ihrem politischen Apparat eine wachsende Tendenz zur Disziplinlosigkeit und zum Rette-wer-sich-kann" (These 9).
Der Zerfall des politischen Apparats findet also seine Hauptantriebskraft in der ständigen Verschärfung der Wirtschaftskrise und der Unfähigkeit der Bourgeoisie, die Gesellschaft für den Weltkrieg zu mobilisieren. Diese historische Entwicklung hat sich in einer zunehmenden Tendenz zur Disziplinlosigkeit, zur Spaltung, zum "Jeder für sich" und schließlich zur Verschärfung der Kämpfe zwischen den Cliquen innerhalb des politischen Apparats niedergeschlagen. Dieses Ferment hat einen fruchtbaren Boden für die Entstehung von bürgerlichen Fraktionen mit einem zunehmend irrationalen Diskurs geschaffen, die in der Lage sind, auf den widerlichsten Ideen und Gefühlen zu surfen, und deren Anführer sich wie wahre Bandenchefs verhalten, die die politischen Beziehungen mutwillig zerstören, mit dem Ziel, ihre eigenen Interessen um jeden Preis durchzusetzen, zum Nachteil der Interessen des nationalen Kapitals.
So kann die Unfähigkeit des Proletariats, eine andere Perspektive als die des Chaos und der kapitalistischen Barbarei zu eröffnen, zwar Erscheinungen des Zerfalls wie den Populismus verstärken, sie ist aber nicht der aktive Faktor. Im Übrigen haben die letzten zwei Jahre eine solche Analyse auf das Schärfste widerlegt. Einerseits haben wir eine sehr bedeutende Wiederbelebung der Arbeiterkämpfe erlebt, die eine Entwicklung der Reflexion und der Reifung des Bewusstseins beinhaltet. Andererseits hat sich der Aufstieg des Populismus unter dem Eindruck des noch nie dagewesenen Zerfalls voll bestätigt. Letztendlich steht die in Zur Frage des Populismus aufgestellte These in völligem Widerspruch zur Analyse der IKS, die zwei Pole in der gegenwärtigen historischen Situation identifiziert. Mehr noch, sie läuft auch darauf hinaus, die Analyse des historischen Bruchs im Klassenkampf zu leugnen und/oder zu glauben, dass die Entwicklung des Arbeiterkampfes populistische Tendenzen zurückgehen lassen kann. Schließlich führt sie auch dazu, dass wir die Tatsache unterschätzen, dass die Bourgeoisie den Populismus gegen die Arbeiterklasse ausnutzen wird.
b) Die Ausweitung des populistischen Phänomens
Der Sieg des Brexits in Großbritannien im Juni 2016, gefolgt von Trumps Machtübernahme in den Vereinigten Staaten einige Monate später, bedeutete einen spektakulären Durchbruch des Populismus im politischen Leben der Bourgeoisie. Dieser Trend hat sich seither fortgesetzt und den Populismus zu einem entscheidenden und unumkehrbaren Faktor in der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft gemacht.
Mehrere europäische Länder werden heute ganz oder teilweise von populistischen Gruppierungen regiert (Niederlande, Slowakei, Ungarn, Italien, Finnland und Österreich), während im übrigen Europa populistische und rechtsextreme Parteien in den Umfragen und bei den Wählerstimmen weiter zulegen, insbesondere in Westeuropa. Einigen Studien zufolge könnten populistische Parteien bei den Europawahlen im Juni 2024 in 9 EU-Ländern an der Spitze stehen. Aber das Phänomen geht eindeutig über Europa hinaus. In Südamerika ist nach Brasilien nun Argentinien mit dem Amtsantritt von Javier Milei an der Reihe. Aber wenn der Populismus ein allgemeines Phänomen ist, ist es für unsere Analyse wichtig, vor allem seinen Durchbruch innerhalb der Kernländer zu würdigen, da eine solche Dynamik nicht nur eine destabilisierende Wirkung auf die Situation in den betroffenen Ländern, sondern auch auf die kapitalistische Gesellschaft insgesamt hat. Gegenwärtig sollten vor allem zwei Länder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen: Frankreich und die Vereinigten Staaten.
In Frankreich hatte das RN (Rassemblement National) bei den Parlamentswahlen im Juni 2022 mit 89 Abgeordneten auf den Bänken der Nationalversammlung ein historisches Ergebnis erzielt. Laut einer "geheimen Umfrage", die von der rechten Partei Les Républicains Ende 2023 in Auftrag gegeben wurde, könnte das RN bei vorgezogenen Neuwahlen nach einer möglichen Auflösung der Nationalversammlung zwischen 240 und 305 Sitze erringen. Auch ein Sieg des RN bei den Präsidentschaftswahlen 2027 ist ein zunehmend glaubwürdiges Szenario. Eine solche Situation würde sicherlich die politische Krise der französischen Bourgeoisie verschärfen. Vor allem aber würde sie angesichts der Nähe des RN zur Putin-Fraktion die Spaltung der Europäischen Union verschärfen und deren Fähigkeit zur Umsetzung ihrer pro-ukrainischen Politik schwächen. Im Gegensatz zur deutschen Bourgeoisie, die im Moment die Mittel gefunden zu haben scheint, um das Risiko einer Machtübernahme durch die AfD (Alternative für Deutschland) einzudämmen (trotz des zunehmenden Einflusses dieser Formation im deutschen politischen Spiel), scheint die französische Bourgeoisie ihren Handlungsspielraum aufgrund der starken Diskreditierung der Macron-Fraktion, die seit sieben Jahren an der Macht ist, aber vor allem aufgrund der Verschärfung der Spaltungen innerhalb des politischen Apparats, zunehmend eingeschränkt zu sehen.[13]
Aber vor allem die mögliche Rückkehr von Trump ins Weiße Haus bei den Präsidentschaftswahlen im November 2024 [dieser Artikel wurde vor den Wahlen in den USA und vor dem Rückzug von Biden geschrieben] würde eine tiefgreifende Zuspitzung der Situation nicht nur in den USA, sondern in der gesamten internationalen Lage bedeuten. Die Verstärkung der Zentrifugalkräfte und die Tendenz zum Verlust der globalen Führungsrolle belasten seit vielen Jahren die Fähigkeit der USA, sich mit der geeignetsten Fraktion zur Verteidigung ihrer Interessen auszustatten, wie es der Fall war, als die Neokonservativen in den frühen 2000er Jahren an die Macht kamen. Die Obama-Ära hat diesen Trend nicht gestoppt, denn Trumps Machtantritt 2017 hat ihn nur noch verschärft. Am Tag nach seiner Niederlage im Januar 2021 sagte Adam Nossiter, der Pariser Büroleiter der New York Times: "In sechs Monaten werden wir nichts mehr von ihm hören, er wird nicht mehr an der Macht sein". In den letzten vier Jahren ist es den „verantwortungsvollsten“ Fraktionen der amerikanischen Bourgeoisie nicht gelungen, Trump aus dem Verkehr zu ziehen. Trotz zahlreicher juristischer Anfechtungen, Verleumdungskampagnen und Versuchen, die ihm am nächsten stehenden Personen zu destabilisieren, ist Trumps Rückkehr ins Weiße Haus bei den Präsidentschaftswahlen im November 2024 ein immer wahrscheinlicheres Szenario. Sein Sieg bei den letzten republikanischen Vorwahlen hat sogar die Stärkung des „Trumpismus“ innerhalb der konservativen Partei zum Nachteil der verantwortungsbewussteren Ränder der Partei gezeigt.
In jedem Fall würde ein Sieg Trumps Schockwellen durch die internationale Lage schicken, insbesondere an der imperialistischen Front. Indem er die weitere Unterstützung für die Ukraine in Frage stellt oder damit droht, den Schutz der NATO-Länder durch die USA von deren Kreditwürdigkeit abhängig zu machen, würde die politische Linie der USA die EU schwächen und das Risiko einer Verschärfung des russisch-ukrainischen Konflikts mit sich bringen. Was den Gaza-Krieg angeht, so scheinen Trumps jüngste "kritische" Äußerungen über Netanjahu die bedingungslose Unterstützung der religiösen Rechten unter den Republikanern für die von der israelischen Regierung verfolgte Politik der verbrannten Erde nicht in Frage zu stellen. Welche Folgen hätte ein Sieg Trumps in dieser Hinsicht?
Ganz allgemein hätte die Rückkehr der populistischen Fahne nach Washington erhebliche Auswirkungen auf die Fähigkeit der Bourgeoisie, mit den Erscheinungsformen des Zerfalls ihres eigenen Systems umzugehen. Trumps Sieg könnte also bedeuten:
- Ein weiterer Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen durch die zweitgrößte CO2-emittierende Macht.
- Eine zunehmend isolationistische und wirtschaftlich aggressive Politik.
- Eine Verschärfung der sozialen Gewalt und die Zersetzung des sozialen Gefüges durch den Kreuzzug gegen "Minderheiten".
- Ein sich verschlimmerndes politisches Chaos, das von Rachegelüsten und dem Wunsch, Rechnungen zu begleichen, sowohl innerhalb der republikanischen Partei als auch allgemein im politischen Apparat genährt wird. Wie Trump letzten Dezember auf Fox News sagte: "Ich werde kein Diktator sein, außer am ersten Tag"!
Wir müssen uns jedoch davor hüten, zu glauben, dass alle Wetten verloren sind. Im Gegenteil, der Ausgang der Präsidentschaftswahlen ist angesichts des Grades der Destabilisierung des politischen Systems der USA und der tiefen und dauerhaften Spaltung der amerikanischen Gesellschaft, die sowohl durch die populistische Rhetorik als auch durch die Anti-Trump-Kampagne der demokratischen Regierung Biden noch verstärkt wird, unvorhersehbarer denn je.
Anders als der Aufstieg des Faschismus in den 1930er Jahren ist der Populismus nicht das Ergebnis eines bewussten Willens der dominierenden Teile der Bourgeoisie. Die „verantwortungsvollsten“ Teile der Bourgeoisie versuchen immer noch, Strategien zu seiner Eindämmung zu entwickeln. Der Bericht über die Auswirkungen des Zerfalls auf das politische Leben der Bourgeoisie für den 23. Kongress der IKS im Jahr 2019 (Internationale Revue Nr. 164, englische Ausgabe) hat diese verschiedenen Strategien analysiert:
- die antipopulistische Politik
- die Adaption populistischer Ideen
- die Bildung von populistischen Regierungen
- die Wiederherstellung der Kluft zwischen links und rechts.
Wie hat sich die Situation in den letzten fünf Jahren entwickelt? Wie es in der Resolution des 25. Kongresses der IKS zur internationalen Lage heißt: "Der Aufstieg des Populismus, der durch die völlige Perspektivlosigkeit des Kapitalismus und die Entwicklung des „Jeder für sich“ auf internationaler Ebene genährt wird, ist wahrscheinlich der deutlichste Ausdruck dieses Kontrollverlusts. Diese Tendenz hat sich trotz der Gegenbewegungen anderer, „verantwortungsvolleren“ Fraktionen der Bourgeoisie fortgesetzt (z.B. die Ablösung von Trump und die rasche Absetzung von Truss in Großbritannien)" (Internationale Revue Nr. 59).[14] Auch wenn die „verantwortungsvolleren“ Fraktionen nicht untätig geblieben sind, haben sich diese verschiedenen Strategien als immer weniger wirksam erwiesen und können keine tragfähige und nachhaltige Antwort darstellen.
Wie bereits erwähnt, hat die Kampagne zur Diskreditierung und Eliminierung von Trump aus dem Rennen um die Präsidentschaft noch keine Früchte getragen. Im Gegenteil, die verschiedenen gegen ihn angestrengten Gerichtsverfahren haben seine Popularität bei einem großen Teil der amerikanischen Wählerschaft erhöht. Gleichzeitig ist die erneute Kandidatur des 81-jährigen Biden, der in der Öffentlichkeit deutliche Anzeichen von Senilität gezeigt hat, eindeutig kein Gewinn für die amerikanische Bourgeoisie. Dies gilt umso mehr, als die wirtschaftlichen Angriffe der Regierung ihre Diskreditierung noch verstärkt haben. Allerdings ist diese Vorauswahl (trotz Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Demokratischen Partei) Ausdruck einer Krise bei der Erneuerung der Parteiführung und vor allem einer tiefen Spaltung innerhalb des politischen Apparats der Partei, die sich auf die Wählerschaft auswirkt. So bedeutet beispielsweise die Unzufriedenheit der arabischen Gemeinschaft mit der Haltung der USA zum Krieg in Gaza, dass eine Niederlage im Swing State Michigan droht. Ebenso könnte der wachsende Einfluss der vom linken Flügel der Partei vertretenen wokistischen und identitätsbasierten Ideologie zu einer Abkehr von einigen Minderheiten und jungen Menschen führen, die sich mehr Sorgen über die Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen machen. Insbesondere scheinen Umfragen zu zeigen, dass sich ein Teil der afroamerikanischen Wählerschaft von Trump verführen lassen könnte.
In Frankreich gelang es der Bourgeoisie zwar erneut, das Rassemblement National (RN) bei den Präsidentschaftswahlen 2022 durch die Wiederwahl von Macron zurückzudrängen, doch blieb dieser Kraftakt nicht ohne Nebenwirkungen. Die mehrfachen Angriffe auf die Arbeiterklasse seit 2017 sowie die mangelnde Erfahrung und der Dilettantismus, die sich regelmäßig zeigen, haben die bereits rollende Diskreditierung der Exekutive nur noch verstärkt. Die reale Gefahr eines großen RN-Sieges bei den Europawahlen zwang Macron zu einem Regierungswechsel, indem er einen jungen und loyalen Premierminister (G. Attal) ernannte, der den Anti-RN-Kreuzzug bis Juni anführen sollte. Diese Regierung hat jedoch mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen wie die vorherige, obwohl die Rhetorik gegen das RN verschärft wurde und sogar die Mehrheit versucht, rechtsextremes Gedankengut wieder aufzugreifen.
Die größte Schwäche liegt jedoch in der Spaltung und der "Jeder für sich"-Haltung, die das politische Spiel immer mehr dominiert, auch innerhalb der verschiedenen Parteien, vor allem im Lager des Präsidenten. Die relative Mehrheit, die die Regierungspartei bei den Parlamentswahlen erlangt hat, hat die Tendenz zu zentrifugalen Kräften verstärkt. Angesichts der Schwierigkeiten, stabile Bündnisse für wichtige Reformen zu schmieden, ist die Regierung gezwungen, regelmäßig von Artikel 49.3 Gebrauch zu machen, der es ihr erlaubt, auf die Abstimmung der Abgeordneten in der Versammlung zu verzichten Auch die traditionellen Parteien, die bei den Wahlen 2017 von der der Mehrheit der Bourgeoisie weitgehend fallen gelassen wurden, bleiben zersplitterter denn je, wie im Fall der Rechtspartei Les Républicains. Die Nachfolgepartei der gaullistischen Partei, die seit der Gründung der Fünften Republik im Jahr 1958 die meiste Zeit an der Macht war, hat heute nur noch 62 Abgeordnete und setzt sich aus mindestens drei zunehmend zersplitterten Strömungen zusammen.
Diese politische Krise könnte die Fähigkeit der Bourgeoisie, einen glaubwürdigen Kandidaten aufzustellen, der in der Lage ist, Marine Le Pen abzuwehren, deren Chancen auf einen Sieg bei den Wahlen 2027 noch nie so groß waren, ernsthaft beeinträchtigen. In der Zwischenzeit könnte die französische Bourgeoisie mit anderen Hindernissen konfrontiert werden. Was würde passieren, wenn die Macron-Liste bei den Europawahlen eine herbe Niederlage erleiden würde? Auch die Rechte droht jetzt damit, einen Misstrauensantrag einzureichen, wenn die Regierung beschließt, die Steuern zu erhöhen. Die anderen Oppositionsparteien, vor allem das RN, würden sich dem anschließen. Ein solches Ergebnis würde zu vorgezogenen Parlamentswahlen mit einem unvorhersehbaren Szenario führen, abgesehen von der Tatsache, dass es das politische Chaos, in dem sich die französische Bourgeoisie befindet, noch verstärken würde.
In Bezug auf Deutschland kommt der Bericht von 2019 zu dem Schluss: "Die Situation ist komplex und Merkels Verzicht auf den CDU-Vorsitz (und damit auf das Amt der Bundeskanzlerin) läutet eine Phase der Unsicherheit und Instabilität für die dominierende Bourgeoisie in Europa ein." Der Ausbruch des Krieges in der Ukraine hat die traditionelle politische Linie der herrschenden Klasse in Deutschland besonders betroffen. Intern hat sich die Schwächung der traditionellen Parteien (SPD, CDU) fortgesetzt, was die Bildung von Koalitionen zwischen den drei großen Parteien in einer Zeit, in der die Beziehungen immer konfliktreicher werden, erforderlich macht. Gleichzeitig ist auch Deutschland nicht vom Aufstieg des Populismus und der extremen Rechten ausgenommen. Tatsächlich ist die populistische AfD zur zweitstärksten Partei in Deutschland geworden. Im Gegensatz zum RN in Frankreich, dessen Positionen noch teilweise Anzeichen von Verantwortungsbewusstsein zeigen, stehen die politischen Positionen der AfD (Ablehnung der EU, Fremdenfeindlichkeit, Offenheit gegenüber Russland usw.) derzeit zu sehr im Widerspruch zu den Interessen des nationalen Kapitals, als dass sie sich auf höchster Regierungsebene engagieren könnte. Ihre Haltung gegenüber der Regierungselite und ihre Verurteilung als Totalgegner der Integrität des föderalen Staates werden sie jedoch noch lange Zeit zu einem Sammelbecken für Protestwähler machen.
"Der Brexit ging einher mit der Verwandlung der jahrhundertealten Tory-Partei in ein populistisches Sammelsurium, das erfahrene Politiker an den Rand drängte und Regierungsposten an ehrgeizige, engstirnige Querulanten vergab, die dann die Kompetenz der von ihnen geleiteten Ressorts erschütterten. Die rasche Abfolge der konservativen Premierminister seit 2016 ist ein Beweis für die Unsicherheit an der politischen Spitze."[15] Die 44 Tage des politischen Chaos unter der Regierung von Liz Truss im September/Oktober 2022 waren ein anschauliches Beispiel dafür. Auch wenn diese Wahl eine Abkehr von der populistischen Selbstüberschätzung bedeutet haben mag, so war sie doch vor allem durch die Verteidigung einer radikal ultraliberalen Politik und die Fantasie eines "globalen Britanniens" gekennzeichnet, das in völligem Widerspruch zu den globalen Interessen des britischen Kapitals steht.
Sunaks Machtantritt bedeutete jedoch den Versuch, die demokratische Glaubwürdigkeit der staatlichen und regierungsamtlichen Institutionen zu bewahren: "Seine Regierung änderte trotz des Einflusses des Populismus einige Aspekte des Nordirland-Protokolls, um einige der Widersprüche des Brexit zu umgehen, und trat dem europäischen Projekt Horizon bei, ohne die Flucht der Wirtschaft überwinden zu können. König Charles wurde als Botschafter nach Frankreich und Deutschland entsandt, um die Reste der britischen Würde zu zeigen. Schließlich ist die Entlassung von Suella Braverman und die Ernennung von Lord Cameron zum Außenminister ein weiterer Ausdruck dieses Versuchs, den wachsenden populistischen Virus innerhalb der Partei einzudämmen, aber ihre zukünftige Richtung und Stabilität bleiben zutiefst ungewiss, nicht zuletzt, weil derselbe Virus eine internationale Realität ist, vor allem innerhalb der amerikanischen herrschenden Klasse."
Im "Bericht über die Auswirkungen des Zerfalls auf das Leben der Bourgeoisie" heißt es: "Die dritte vorgesehene Strategie, die Neuformierung der Links-Rechts-Opposition, um dem Populismus den Wind aus den Segeln zu nehmen, scheint von der Bourgeoisie nicht wirklich umgesetzt worden zu sein. Im Gegenteil, die letzten Jahre waren durch einen unumkehrbaren Trend zum Niedergang der sozialistischen Parteien gekennzeichnet." Diese Tendenz hat sich in den letzten Jahren bestätigt. Auch wenn diese Entwicklung in einigen Ländern (insbesondere in Spanien und Großbritannien) aufgehalten wird, führt der unumkehrbare Niedergang der Sozialdemokratie und generell der traditionellen Regierungsparteien sowie die Schwierigkeit in vielen europäischen Ländern, neue linke Formationen (La France Insoumise in Frankreich, Podemos in Spanien, Die Linke in Deutschland) aufzubauen, aufgrund der Kämpfe zwischen den Cliquen, die auch diese Formationen erleben, tendenziell zur Entwicklung von immer fragileren Koalitionen. Dies ist zum Beispiel in Spanien der Fall, wo sich die PSOE auf gegensätzliche Kräfte stützt, um an der Macht zu bleiben. Auf der einen Seite die chauvinistische katalanische Rechte und auf der anderen die linksextreme Partei SUMAR, deren stellvertretende Ministerpräsidentin Yolanda Diaz ist. Diese "Frankenstein"-Regierung spiegelt die Fragilität der PSOE wider, die als einzige Kraft in der Lage ist, separatistische Tendenzen innerhalb des Zentralstaates zu kontrollieren.
Die Machtübernahme populistischer und rechtsextremer Parteien ist ein Szenario, das in den kommenden Jahren zu einem wichtigen Element der politischen Situation der Bourgeoisie werden könnte, ohne jedoch überall die gleichen Folgen hervorzurufen. In den Jahren, in denen Trump, Bolsonaro und Salvini an der Macht sind, hat sich zwar die politische Instabilität verschärft, aber andere Teile des Staatsapparats waren in der Lage, ihre irrationalsten und weit hergeholten Bestrebungen zu kanalisieren oder zu bremsen. Dies war zum Beispiel unter Trump der Fall, als ein Teil der US-Regierung unablässig darum kämpfte, die Unberechenbarkeit der Entscheidungen des Präsidenten zu kontrollieren. Große Teile der Bourgeoisie, insbesondere innerhalb der staatlichen Strukturen, konnten sich der Versuchung einer Annäherung oder gar eines Bündnisses mit Russland widersetzen und so sicherstellen, dass die Option der dominierenden Fraktionen der Bourgeoisie triumphierte. Wie wir im Falle Italiens mit der Regierung Salvini gesehen haben, ist es auch möglich, dass die Populisten zustimmen, ihren "Wein zu verwässern", indem sie bestimmte Maßnahmen aufgeben oder ihre Versprechen, insbesondere im sozialen Bereich, zurückschrauben. Dies hat auch die Entscheidung des PVV-Vorsitzenden Geert Wilder in den Niederlanden gezeigt, auf die Machtübernahme zu verzichten, als es ihm nicht gelang, eine Koalition zu bilden.
Die Möglichkeit, dass populistische Parteien an die Macht kommen, und die Realität eines solchen Ereignisses wie in Italien machen deutlich, dass Populismus und extreme Rechte nicht gleichzusetzen sind. Italien Land wird von einem Bündnis zwischen der traditionellen Rechten (der von Berlusconi gegründeten Forza Italia), Salvinis populistischer Lega und Melonis neofaschistisch inspirierter Partei Fratelli d'Italia (Brüder Italiens) regiert, deren Symbol nach wie vor die dreifarbige Flamme des früheren, offen an Mussolini ausgerichteten MSI (Movimento Sociale Italiano) ist. Natürlich gibt es große Ähnlichkeiten zwischen der Lega und Melonis Partei, insbesondere die fremdenfeindliche Rhetorik gegen Einwanderer, hauptsächlich Muslime, die sie zu Konkurrenten auf der Wählerbühne macht. Gleichzeitig verrät das Motto der Fratelli d'Italia (FI), "Gott, Vaterland und Familie", die traditionalistische Inspiration dieser Partei, die sie von der Lega unterscheidet. Letztere beruft sich zwar auf traditionelle Werte, ist aber eher antiklerikal und "systemfeindlicher" als die FI.
In Frankreich gibt es diesen Unterschied zwischen der populistischen extremen Rechten, die von Marine Le Pens Rassemblement National vertreten wird, und der traditionellen extremen Rechten, die von der Partei "Reconquête!" repräsentiert wird.[16] Es ist übrigens kein Zufall, dass Éric Zemmour von Reconquête in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 2022 in den "Nobelvierteln" von Paris den zweiten Platz belegte (hinter Macron, der zum beliebtesten Politiker der Bourgeoisie geworden ist) und dreimal so viele Stimmen wie Marine Le Pen erhielt, während letztere Zemmour in den "volkstümlichen" Ortschaften völlig niedermachte. Und es stimmt, dass Le Pens Reden gegen die Wirtschaftspolitik Macrons, wie die Abschaffung der Vermögenssteuer und die Rentenreform, bei der klassischen Bourgeoisie sehr schlecht ankommen. In der Tat erleben wir – mit unterschiedlichem Erfolg in den verschiedenen Ländern – einen Versuch bestimmter Teile der Bourgeoisie, aus den Ängsten rund um die Themen Einwanderung, Unsicherheit und islamischer Terrorismus, die bisher die Hauptstütze des Populismus waren, Kapital zu schlagen, um einer extremen Rechten neues Leben einzuhauchen, die aus Sicht der herrschenden Klasse "vorzeigbar" ist und ein Programm hat, das mit ihren Interessen besser vereinbar ist. Zemmour hat immer behauptet, dass sein Wirtschaftsprogramm dasselbe sei wie das der klassischen Rechten, die in Frankreich bisher von der Partei "Les Républicains", der Nachfolgerin der gaullistischen Partei, vertreten wurde. Bei den Präsidentschaftswahlen 2022 schlug er ein Bündnis mit dieser Partei vor, mit dem Argument, dass Marine Le Pen die Wahlen niemals allein gewinnen könne. Die Politik von Zemmour ist bisher gescheitert, da das RN in den Umfragen an die Spitze gerückt ist und die Präsidentschaftswahlen 2027 gewinnen könnte, was für die Bourgeoisie ein großes Problem darstellt. Andererseits ist es eine Politik, die in Italien erfolgreich war, da Meloni eine bemerkenswerte Fähigkeit bewiesen hat, eine Politik im Einklang mit den bürgerlichen Interessen zu verfolgen, und weit vor Salvini liegt.
Der Populismus ist keine politische Strömung, die von den weitsichtigsten und „verantwortungsbewusstesten“ Sektoren der Bourgeoisie gefördert wird, und er hat den Interessen dieser Klasse bereits geschadet (insbesondere in Großbritannien), aber zu den Karten, die der herrschenden Klasse zur Verfügung stehen, um zu versuchen, diesen Schaden zu begrenzen, gehört genau diese Betonung einer "traditionellen" extremen Rechten, die mit dem Populismus konkurrieren oder ihn schwächen soll.
Seit Ende der 1980er Jahre sind das Gangstertum und die Kriminalität, die vor allem durch den Drogenhandel angeheizt werden, weltweit explodiert. Dieses Phänomen, auf das bereits in den Thesen zum Zerfall hingewiesen wurde, geht mit einer unglaublichen Korruption im politischen Apparat einher: "Gewalt und die städtische Kriminalität [sind] in vielen Ländern Lateinamerikas und auch in den Vororten einiger europäischer Städte – teilweise im Zusammenhang mit dem Drogenhandel, aber nicht nur dort – explodiert (...). Was diesen Handel und sein enormes Gewicht in der Gesellschaft, auch auf wirtschaftlicher Ebene, betrifft, so kann man sagen, dass es sich um einen ständig wachsenden „Markt“ handelt, da das Unbehagen und die Verzweiflung, die jede Schicht der Bevölkerung trifft, zunehmen. Was die Korruption und all die Machenschaften – in anderen Worten „Wirtschaftskriminalität“ – angeht, so sind in den letzten Jahren viele Fälle aufgedeckt worden (wie die „Panama-Papiere“, die nur eine winzige Spitze des Eisbergs des Gangstertums sind, in dem der Finanzsektor immer mehr Fuß fassen muss)." (Bericht über den Zerfall heute, Mai 2017, International Revue Nr. 56)[17]
Es ist wichtig, die Auswirkungen dieses Phänomens auf das politische Leben der Bourgeoisie zu erkennen. Die immer offensichtlicheren Absprachen zwischen dem Verbrechen und den politischen Fraktionen des Staatsapparats haben die Tendenz, das politische Spiel in einen regelrechten Bandenkrieg zu verwandeln, manchmal vor dem Hintergrund einer Tendenz zum Zusammenbruch der politischen Institutionen. Dies ist sicherlich die akuteste und ungebremste Form der Tendenz, die Spaltung und Zersplitterung des bürgerlichen politischen Apparats zu verstärken. Die politische Situation in Haiti ist sicherlich das karikaturistischste Beispiel. Aber auch viele andere Länder in Mittel- und Südamerika sind seit Jahrzehnten von diesem Phänomen besonders betroffen. So wie der interne Krieg, der Anfang Januar am helllichten Tag zwischen dem ecuadorianischen Staat und kriminellen Banden ausbrach: "Die derzeitige bürgerliche Fraktion, die den Staatsapparat kontrolliert, ist direkt mit der mächtigsten agroindustriellen Import-Export-Gruppe Ecuadors verbunden. Ihr triumphaler Einzug in den Carondelet-Palast begann mit Finanzgesetzen, die dieser Gruppe direkt zugutekamen, mit Zustimmung der PSC und der RC5 (Correistas). Das Ergebnis war ein Land, das in bitterer Armut und endemischer Korruption auf allen Regierungsebenen versinkt und von allen Seiten von den mexikanischen Drogenkartellen (Jalisco Nueva Generación und Sinaloa) durchdrungen ist, die mit peruanischen und kolumbianischen Drogenhändlern zusammenarbeiten. Auch die albanische, chinesische, russische und italienische Mafia sind sehr präsent. Und eine Gesellschaft, die von der nationalen organisierten Kriminalität, den ODGs, überschwemmt wird, die mit den mexikanischen Kartellen oder den vorgenannten Mafias in Verbindung stehen".
Es sei auch darauf hingewiesen, dass die überstürzte Abrechnung zwischen den einzelnen Fraktionen der herrschenden Klasse zu einer Verschärfung der Spannungen zwischen den Nationalstaaten führt. So war beispielsweise die Stürmung der mexikanischen Botschaft in Quito durch die ecuadorianische Polizei am 5. April, um den ehemaligen Vizepräsidenten, der von der Regierung Noboa der Korruption beschuldigt wurde, zu vertreiben, ein wahrer Akt des Vandalismus, der gegen die Regeln des „bürgerlichen Anstands“ verstieß und zur diplomatischen Instabilität in diesem Teil der Welt beitrug.
Auch das politische System in Russland ist in besonderem Maße von der Gangsterisierung der politischen Beziehungen geprägt. Klientelismus, Korruption und Vetternwirtschaft sind die wichtigsten Rädchen im "System Putin". Dies ist ein Faktor, der bei der Analyse der Risiken für die Zukunft der Russischen Föderation berücksichtigt werden muss: "Von Putins politischem Überleben bis hin zum Überleben der Russischen Föderation und deren imperialistischem Status steht nach der Niederlage in der Ukraine viel auf dem Spiel: Wenn Russland in Problemen versinkt, wird es wahrscheinlich zu Abrechnungen und sogar zu blutigen Zusammenstößen zwischen rivalisierenden Fraktionen kommen." (Bericht des 25. Kongresses über die imperialistischen Spannungen, Internationale Revue Nr. 59).[18] Der Aufstand der Wagner-Gruppe im Juni 2023, gefolgt von der Liquidierung ihres Anführers Prigoschin zwei Monate später, und die schweren Repressionen, denen die pro-demokratische Fraktion ausgesetzt war (die Ermordung von Nawalny), haben das Ausmaß der internen Spannungen und die Zerbrechlichkeit Putins und seines inneren Kreises, der nicht zögert, seine Interessen in der Art eines echten Mafiabosses mit allen Mitteln zu verteidigen, voll bestätigt. Die zentrale Rolle, die das Gangstertum im politischen System Russlands spielt, trägt somit aktiv zum Risiko eines Auseinanderbrechens der Russischen Föderation bei. Ebenso hat die bewaffnete Abrechnung innerhalb der ehemaligen sowjetischen Nomenklatura zu der tiefgreifenden Destabilisierung beigetragen, die aus der Implosion des Ostblocks resultierte. Doch nach mehr als drei Jahrzehnten des Zerfalls könnten die Folgen einer solchen Dynamik zu einer weitaus chaotischeren Situation führen. Das Auseinanderbrechen der Föderation in mehrere Mini-Russland und die Verbreitung von Atomwaffen in den Händen unkontrollierbarer Kriegsherren würden einen regelrechten Sturzflug ins Chaos auf internationaler Ebene darstellen.
Doch während diese Erscheinungsformen des ideologischen und politischen Zerfalls der Gesellschaft in den Randzonen des Kapitalismus besonders weit fortgeschritten sind, ist diese Tendenz auch in den zentralen Ländern zunehmend zu beobachten:
- In den Demokratien sind die (mitunter gewaltsamen) Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Gruppierungen zwar nichts Neues und werden im Allgemeinen im Rahmen der Institutionen und der "Achtung der Ordnung" ausgetragen, doch nehmen sie zunehmend besonders chaotische und gewalttätige Formen an: "Der Angriff von Trump-Anhängern auf das Kapitol am 6. Januar hat deutlich gemacht, dass die Spaltungen innerhalb der herrschenden Klasse selbst im mächtigsten Land der Welt immer tiefer werden und in gewaltsame Auseinandersetzungen, ja sogar in Bürgerkriege auszuarten drohen." (Resolution zur internationalen Lage, Internationale Revue Nr. 59)
- Wie die Skandale um die "Panama Papers" und Qatargate (in die Abgeordnete des Europäischen Parlaments, parlamentarische AssistentInnen, NGO-VertreterInnen und GewerkschafterInnen verwickelt waren) gezeigt haben, wird die gesamte Politik bis in die höchsten Regierungsebenen von Korruption und Veruntreuung heimgesucht. Dies dient nur dazu, die verschiedenen politischen Fraktionen weiter zu diskreditieren, insbesondere diejenigen, die sich selbst als die Aufrichtigsten darstellen, und so dem populistischen Anti-Elite-Diskurs "Sie sind alle verkommen" Glaubwürdigkeit zu verleihen.
Im 19. Jahrhundert wies Marx darauf hin, dass das fortschrittlichste Land seiner Zeit, England, die Richtung vorgibt, in die sich die anderen europäischen Länder entwickeln werden. Heute finden wir in den am wenigsten entwickelten Ländern die bizarrsten Manifestationen des Chaos, das über den Planeten hinwegfegt und zunehmend auch die am weitesten entwickelten Länder betrifft. Die Beobachtung, die Marx zu seiner Zeit machte, war eine Veranschaulichung der Tatsache, dass sich die kapitalistische Produktionsweise noch in ihrer aufsteigenden Phase befand. Die heutige Feststellung, dass das Chaos in der Gesellschaft voranschreitet, ist ein weiterer Beleg für die historische Sackgasse, in der sich der Kapitalismus befindet, für seine Dekadenz und seinen Zerfall.
IKS, Dezember 2023
[1] https://de.internationalism.org/content/871/thesen-zur-oekonomischen-und-politischen-krise-der-udssr-und-den-osteuropaeischen [17]
[2] Den Rahmen dieser Analysen übermittelte der IKS im Wesentlichen der Genosse MC (Marc, Teil 1: Von der Oktoberrevolution 1917 bis zum Zweiten Weltkrieg [18]; Marc, Teil 2: Vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart [19], Internationale Revue 65 und 66, englischsprachige Ausgabe). Dies auf der Grundlage von Überlegungen, die bereits in der GCF stattgefunden hatten, aber auch auf der Grundlage von Überlegungen, die der Genosse im Laufe der Ereignisse gemacht hatte.
[4] https://en.internationalism.org/content/2957/eastern-europe-economic-crisis-and-bourgeoisies-weapons-against-proletariat [16]
[5] https://de.internationalism.org/iksonline/kongress-der-iks-resolution-zum-internationalen-klassenkampf [20]
[6] https://de.internationalism.org/content/748/der-zerfall-die-letzte-phase-der-dekadenz-des-kapitalismus [21]
[8] https://de.internationalism.org/rueckschlaege-fuer-die-bourgeoisie-nichts-gutes-fuer-das-proletariat [23]
[9] siehe Fußnote 8
[10] Der Absatz "Populismus und Zerfall" ist erst im letzten Drittel des Beitrags.
[11] Brexit, Trump: Rückschläge für die Bourgeoisie, nichts Gutes für das Proletariat, Weltrevolution Nr. 181, siehe Fußnote 8
[12] Es ist anzumerken, dass diese Analyse auch in anderen von der IKS erstellten und verabschiedeten Dokumenten zum Ausdruck kam. Im "Bericht über die Auswirkungen des Zerfalls auf das politische Leben der Bourgeoisie" (Internationale Revue Nr. 164, englische Ausgabe) heißt es zum Beispiel, dass die entscheidende Ursache für den Populismus "die Unfähigkeit des Proletariats ist, seine eigene Antwort, seine eigene Alternative zur Krise des Kapitalismus zu formulieren", https://en.internationalism.org/content/16711/report-impact-decomposition-political-life-bourgeoisie-23rd-icc-congress [24].
[13] Siehe Kapitel 3 des Berichts. Mittlerweile haben wir einen aktuellen Artikel zum Vormarsch des Populismus veröffentlicht: https://de.internationalism.org/content/3216/populismus-auf-dem-vormarsch-europa-das-rassemblement-national-der-schwelle-zur-macht [25]
[14] https://de.internationalism.org/content/3120/resolution-des-25-internationalen-kongresses-der-iks-zur-internationalen-lage [26]
[15] Resolution zur Lage in Großbritannien, intern veröffentlicht
[16] Paradoxerweise wird diese Partei von Éric Zemmour angeführt, dessen Name auf seine sephardisch-jüdische Herkunft hinweist. Um dieses "Handicap" gegenüber seiner traditionalistischen Klientel zu überwinden, die immer noch Sympathien für Marschall Pétain, den Anführer der Kollaboration mit Nazi-Deutschland, hegt, zögerte Zemmour nicht, zu erklären, dass Pétain jüdisches Leben gerettet habe (was von allen seriösen Historikern bestritten wird).
"Großbritannien wird von einem historischen Streik erschüttert" (Le Parisien, August 2022)
"Rentenreform in Frankreich: historische Mobilisierung" (Midi libre, Januar 2023)
"Historischer Streik im deutschen Verkehrswesen für bessere Löhne" (Euronews, März 2023)
"Kanada: Ein historischer Streik der Beamten für eine Lohnerhöhung" (France 24, April 2023)
"Vereinigte Staaten: historischer Streik in der Automobilbranche" (France Info, September 2023)
"Island: historischer Streik gegen Lohnungleichheit" (Tf1, Oktober 2023)
"In Bangladesch: historischer Streik der Textilarbeiter" (Libération, November 2023)
"In Schweden: historische Streikbewegung über die Berufsgruppen hinweg" (Libération, November 2023)
"Historischer Streik im öffentlichen Dienst in Quebec" (Le Monde, Dezember 2023)
Die Schlagzeilen lassen keinen Zweifel: Seit Juli 2022 tut sich etwas in der Arbeiterklasse. Die Arbeiterinnen und Arbeiter sind auf den Weg des proletarischen Kampfes zurückgekehrt, und zwar auf internationaler Ebene. Und das ist in der Tat ein "historisches" Ereignis. Das IKS bezeichnete dies als einen "Bruch". Wir glauben, dass dies eine vielversprechende neue Dynamik für die Zukunft ist. Warum ist das so?
Im Januar 2022, als die Covid-Krise noch nicht vorbei war, schrieben wir in einem internationalen Flugblatt: „In allen Ländern, in allen Branchen erfährt die Arbeiterklasse eine unerträgliche Verschlechterung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen. Alle Regierungen, ob rechts oder links, traditionell oder populistisch, greifen unerbittlich an. Die Angriffe prasseln unter der Last der sich verschärfenden Weltwirtschaftskrise nieder. Trotz der Angst vor einer überwältigenden Gesundheitskrise beginnt die Arbeiterklasse zu reagieren. In den letzten Monaten haben sich in den USA, im Iran, in Italien, Korea, Spanien und Frankreich Kämpfe entwickelt. Zwar handelt es sich dabei nicht um Massenbewegungen: Die Streiks und Demonstrationen sind noch zu schwach, zu vereinzelt. Dennoch werden sie von der Bourgeoisie wie Milch auf dem Herd überwacht, da sie sich des Ausmaßes der aufkommenden Wut bewusst ist. Wie können wir den Angriffen der Bourgeoisie begegnen? Isoliert und gespalten bleiben, jeder in "seinem" Unternehmen, in "seiner" Branche? Das bedeutet mit Sicherheit, machtlos zu sein! Wie kann man also einen vereinten und massiven Kampf entwickeln?“[1]
Wenn wir uns entschlossen hatten, dieses Flugblatt bereits im ersten Monat des Jahres 2022 zu schreiben und zu verteilen, dann deshalb, weil wir uns des aktuellen Potenzials unserer Klasse bewusst waren. Im Juni, kaum 5 Monate später, brach in Großbritannien der "Summer of Anger" aus, die größte Streikwelle im Land seit 1979 und dem damaligen "Winter of Discontent"[2], einer Bewegung, die eine ganze Reihe "historischer" Kämpfe in der ganzen Welt einleitete. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts breitet sich jene Streikwelle auf Quebec aus.
Um zu verstehen, wie tiefgreifend der Prozess ist und was auf dem Spiel steht, müssen wir einen historischen Ansatz wählen, der es uns ermöglicht hat, diesen "Bruch" bereits im August 2022 zu erkennen.
Im August 1914 kündigte der Kapitalismus seinen Eintritt in die Dekadenz auf die erschütterndste und barbarischste Weise an, die man sich vorstellen kann: Der Erste Weltkrieg brach aus. Vier entsetzliche Jahre lang mussten sich Millionen von Proletariern im Namen des Vaterlandes in den Schützengräben gegenseitig abschlachten, während die Zurückgebliebenen – Männer, Frauen und Kinder – Tag und Nacht schufteten, um "die Kriegsanstrengungen zu unterstützen". Die Kanonen spuckten Kugeln, die Fabriken spuckten Gewehre. Überall verschlingt der Kapitalismus Metall und Leben.
Angesichts dieser unerträglichen Bedingungen erhebt sich die Arbeiterklasse. Verbrüderung an der Front, Streiks im Hintergrund. In Russland kam es zu einer revolutionären Bewegung: dem Oktoberaufstand. Die Machtergreifung des Proletariats war ein Hoffnungsschrei, den die Ausgebeuteten auf der ganzen Welt hörten. Die revolutionäre Welle schwappte nach Deutschland über. Diese Ausbreitung beendete den Krieg. Die Bourgeoisien zogen es aus Angst vor dieser „roten Epidemie“ vor, dem Gemetzel ein Ende zu setzen und sich gegen ihren gemeinsamen Feind zu vereinen: die Arbeiterklasse. Hier hat das Proletariat seine Stärke bewiesen, seine Fähigkeit, sich massenhaft zu organisieren, die Zügel der Gesellschaft in die Hand zu nehmen und der gesamten Menschheit eine andere Perspektive zu bieten als die, die der Kapitalismus verspricht. Auf der einen Seite Ausbeutung und Krieg, auf der anderen internationale Solidarität und Frieden. Auf der einen Seite der Tod, auf der anderen das Leben. Wenn dieser Sieg möglich war, dann deshalb, weil die Klasse und ihre revolutionären Organisationen in jahrzehntelangen politischen Kämpfen seit den ersten Arbeiterstreiks in den 1830er Jahren eine lange Erfahrung gesammelt hatten.
In Deutschland wurden in den Jahren 1919, 1921 und 1923 Aufstandsversuche der Arbeiterklasse blutig niedergeschlagen (von den damals regierenden Sozialdemokraten!). Nach der Niederlage in Deutschland war die revolutionäre Welle gebrochen und das Proletariat fand sich in Russland isoliert. Diese Niederlage war natürlich eine Tragödie, aber vor allem eine unerschöpfliche Quelle von Lehren für die Zukunft (wie man mit einer starken, organisierten Bourgeoisie, ihrer Demokratie, ihrer Linken umgeht; wie man sich in ständigen Vollversammlungen organisiert; welche Rolle die Partei hat und welches Verhältnis sie zur Klasse, zu den Arbeiterversammlungen und Arbeiterräten hat ...).
Da der Kommunismus nur im Weltmaßstab möglich ist, bedeutete die Isolierung der Revolution in Russland zwangsläufig eine Degeneration. So verkommt die Situation "von innen" bis zum Triumph der Konterrevolution. Die Tragödie bestand darin, dass diese Niederlage es auch ermöglichte, die Revolution in betrügerischer Weise mit dem Stalinismus zu identifizieren, der sich fälschlicherweise als Erbe der Revolution darstellte, während er sie in Wirklichkeit ermordete. Nur wenige sehen den Stalinismus als Konterrevolution. Die Anderen verteidigen ihn entweder oder lehnen ihn ab, aber alle verbreiten sie die Lüge einer "Kontinuität" zwischen Marx, Lenin und Stalin und schütten damit die unschätzbaren Lehren der Revolution zu.
Das Proletariat wurde auf internationaler Ebene besiegt. Es war nicht mehr in der Lage, auf die neuen Verheerungen der Wirtschaftskrise zu reagieren: die galoppierende Inflation in Deutschland in den 1920er Jahren, der Zusammenbruch von 1929 in den Vereinigten Staaten, die Massenarbeitslosigkeit überall. Die Bourgeoisie konnte ihre Ungeheuer entfesseln und auf einen neuen Weltkrieg zusteuern. Nazismus, Franquismus, Faschismus, Antifaschismus – auf allen Seiten der Grenzen machten die Regierungen mobil und beschuldigten "den Feind", ein Barbar zu sein. In diesen dunklen Jahrzehnten wurden internationalistische Revolutionäre gejagt, deportiert und ermordet. Die Überlebenden gaben auf, verängstigt oder moralisch am Boden zerstört. Wieder andere, verwirrt und Opfer der Lüge "Stalinismus = Bolschewismus/Kommunismus", verwarfen alle Lehren der revolutionären Welle und einige sogar die Theorie der Arbeiterklasse als revolutionäre Klasse. Es war "Mitternacht im Jahrhundert".[3] Nur einige wenige hielten an ihrem Kurs fest, indem sie ein tiefes Verständnis dessen hatten, was die Arbeiterklasse ist, was ihr Kampf für die Revolution ist, was die Rolle der proletarischen Organisationen ist – sie verkörperten die historische Dimension, die Kontinuität, die Erinnerung und die fortlaufenden theoretischen Bemühungen der revolutionären Klasse. Diese Strömung wird als Kommunistische Linke bezeichnet.
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs gaben die großen Streiks in Norditalien und in geringerem Maße in Frankreich Anlass zu der Annahme, dass die Arbeiterklasse im Begriff war, zu erwachen. Auch Churchill und Roosevelt glaubten daran. Sie zogen ihre Lehren aus dem Ende des Ersten Weltkriegs und der revolutionären Welle und bombardierten "präventiv" alle Arbeiterviertel des besiegten Deutschlands, um jeglicher Gefahr eines Aufstands vorzubeugen: Dresden, Hamburg, Köln ... – all diese Städte wurden mit Brandbomben in Schutt und Asche gelegt, wobei Hunderttausende ums Leben kamen. Doch in Wirklichkeit war diese Generation viel zu sehr von der Konterrevolution und ihrer ideologischen Zerschlagung seit den 1920er Jahren geprägt. Die Bourgeoisie konnte weiterhin von den Ausgebeuteten verlangen, sich zu opfern, ohne eine Reaktion zu riskieren: Sie musste wiederaufbauen und die Produktionsraten erhöhen. Die sogenannte Kommunistische Partei Frankreichs forderte das Volk dazu auf, "die Ärmel hochzukrempeln".
Vor diesem Hintergrund bricht der größte Streik der Geschichte aus: Der Mai 68 in Frankreich. Fast die gesamte Kommunistische Linke ignorierte die Bedeutung dieses Ereignisses und verstand nicht, dass sich die historische Situation grundlegend verändert hatte. Eine sehr kleine Gruppe der Kommunistischen Linken, die in Venezuela scheinbar an den Rand gedrängt wurde, verfolgte einen völlig anderen Ansatz. Ab 1967 verstand Internacionalismo (die Gruppe, welche eine Zeitung mit diesem Namen veröffentlichte), dass sich die Situation veränderte. Einerseits bemerkten ihre Mitglieder einen leichten Anstieg der Streiks und fanden in der ganzen Welt Menschen, die an einer Diskussion über die Revolution interessiert waren. Hinzu kamen die Reaktionen auf den Krieg in Vietnam, die zwar zu pazifistischen Zwecken verzerrt wurden, aber zeigten, dass die Passivität und Akzeptanz der vorangegangenen Jahrzehnte zu schwinden begann. Andererseits erkannten sie, dass die Wirtschaftskrise mit der Abwertung des Pfunds und dem Wiederauftreten der Massenarbeitslosigkeit ein Comeback erlebte. So sehr, dass sie im Januar 1968 schrieben: "Wir sind keine Propheten, und wir geben nicht vor, zu erraten, wann und wie sich zukünftige Ereignisse entfalten werden. Aber wir sind uns sicher und wissen, dass der Prozess, in dem sich der Kapitalismus derzeit befindet, nicht aufzuhalten ist (...) und dass er direkt in die Krise führt. Und wir sind auch sicher, dass der entgegengesetzte Prozess der Entwicklung der Kampfkraft der Klasse, den wir jetzt im Allgemeinen erleben, die Arbeiterklasse zu einem blutigen und direkten Kampf für die Zerstörung des bürgerlichen Staates führen wird." (Internacionalismo Nr. 8)
Fünf Monate später lieferte der Generalstreik vom Mai 68 in Frankreich eine durchschlagende Bestätigung dieser Einschätzung. Es war eindeutig noch nicht die Zeit für einen "direkten Kampf für die Zerstörung des bürgerlichen Staates", sondern für eine historische Wiederbelebung des Weltproletariats, aufgewühlt durch die ersten Manifestationen der offenen Krise des Kapitalismus nach der tiefgreifendsten Konterrevolution der Geschichte. Diese Vorhersagen waren kein Ausdruck von Hellseherei, sondern einfach das Ergebnis der bemerkenswerten Beherrschung des Marxismus durch Internacionalismo und des Vertrauens, das diese Gruppe selbst in den schlimmsten Momenten der Konterrevolution in die revolutionären Fähigkeiten der Klasse bewahrt hatte. Der Ansatz von Internacionalismo basierte auf vier Elementen, die es ihr ermöglichten, den Mai 68 zu antizipieren und dann, in der Hitze des Gefechts, die historische Zäsur zu verstehen, die dieser Streik mit sich brachte, d.h. das Ende der Konterrevolution und die Rückkehr des proletarischen Kampfes auf die internationale Bühne. Diese vier Elemente waren ein tiefgreifendes Verständnis:
1. der historischen Rolle des Proletariats als revolutionäre Klasse;
2. der Ernsthaftigkeit der Wirtschaftskrise und ihre Auswirkungen auf die Klasse als Ansporn zum Handeln;
3. der kontinuierlichen Entwicklung des Bewusstseins innerhalb der Klasse, die sich in den Fragen zeigt, die in den Diskussionen von Minderheiten aufgeworfen werden, die revolutionäre Positionen anstreben;
4. der internationalen Dimension dieser allgemeinen Dynamik, der Wirtschaftskrise und des Klassenkampfes.
Auf diesem Hintergrund vertrat Internacionalismo die Position, dass eine neue politische Generation im Entstehen begriffen war, eine Generation, die nicht unter der Konterrevolution gelitten hatte, eine Generation, die mit der Rückkehr der Wirtschaftskrise konfrontiert war und gleichzeitig ihr ganzes Reflexions- und Kampfpotenzial bewahrt hatte, eine Generation, die in der Lage war, die Rückkehr des Proletariats im Kampf in den Vordergrund zu stellen. Und genau das war der Mai 68, der den Weg für eine ganze Reihe von Kämpfen auf internationaler Ebene ebnete. Außerdem änderte sich die gesamte gesellschaftliche Atmosphäre: Nach den Jahren der Niederlage waren die Arbeiterinnen und Arbeiter, insbesondere die Jugend, begierig darauf, zu diskutieren, sich Fragen zu stellen und "die Welt neu zu gestalten". Das Wort Revolution war allgegenwärtig. Texte von Marx, Lenin, Luxemburg und der Kommunistischen Linken kursierten und lösten endlose Debatten aus. Die Arbeiterklasse versucht, sich ihre Vergangenheit und ihre Erfahrungen wieder anzueignen. Diesem Bemühen stand eine ganze Reihe von Strömungen gegenüber – Stalinismus, Maoismus, Trotzkismus, Castroismus, Modernismus usw. –, konzentriert darauf, die Lehren von 1917 zu entstellen. Die große Lüge vom Stalinismus = Kommunismus wurde in all ihren Formen ausgenutzt.
Die erste Welle von Kämpfen war zweifellos die spektakulärste: der Heiße Herbst in Italien 1969, der gewaltige Aufstand in Cordoba in Argentinien im selben Jahr und der große Streik in Polen 1970, große Bewegungen in Spanien und Großbritannien 1972 ... Vor allem in Spanien begannen die Arbeiterinnen und Arbeiter, sich in Massenversammlungen zu organisierten, ein Prozess, der 1976 in Vitoria seinen Höhepunkt erreichte. Die internationale Dimension der Welle fand ihren Widerhall bis nach Israel (1969) und Ägypten (1972) und später in den Aufständen in den Townships Südafrikas, die von Kampfkomitees (den "Civics") angeführt wurden. Während dieser ganzen Zeit arbeitete Internacionalismo daran, revolutionäre Kräfte zusammenzubringen. Eine kleine Gruppe in Toulouse, die eine Zeitung namens Révolution Internationale herausgab, schloss sich diesem Prozess an. Gemeinsam gründeten sie 1975 die Internationale Kommunistische Strömung, die noch heute unsere Organisation ist. Unsere Artikel verkündeten: "Willkommen der Krise", denn, um es mit den Worten von Marx zu sagen, wir dürfen "im Elend nicht nur das Elend sehen, sondern im Gegenteil die revolutionäre, subversive Seite, die die alte Gesellschaft umstürzen wird." (Das Elend der Philosophie, 1847)
Nach einer kurzen Pause Mitte der 1970er Jahre setzte eine zweite Streikwelle ein: Streiks der iranischen Ölarbeiter und der Stahlarbeiter in Frankreich 1978, der "Winter of Discontent" in Großbritannien, Streiks der Hafenarbeiter in Rotterdam (angeführt von einem unabhängigen Streikkomitee) und der Stahlarbeiter in Brasilien 1979 (die ebenfalls die gewerkschaftliche Kontrolle in Frage stellten). Diese Welle von Kämpfen gipfelte 1980 im Massenstreik in Polen, der von einem unabhängigen überbetrieblichen Streikkomitee (dem MKS) angeführt wurde und sicherlich die wichtigste Episode im Klassenkampf seit 1968 war. Die schwere Repression gegen die polnische Arbeiterklasse stoppte diese Welle, aber es dauerte nicht lange, bis eine neue Bewegung einsetzte: die Kämpfe in Belgien 1983 und 1986, der Generalstreik in Dänemark 1985, der Bergarbeiterstreik in England 1984-85, die Kämpfe der Eisenbahner und der Beschäftigten im Gesundheitswesen in Frankreich 1986 und 1988 und die Bewegung der Beschäftigten im Bildungswesen in Italien 1987. Insbesondere die Kämpfe in Frankreich und Italien – wie auch der Massenstreik in Polen – zeigen eine echte Fähigkeit zur Selbstorganisation mit Generalversammlungen und Streikkomitees.
Es ist nicht nur eine Liste von Streiks. Diese Bewegung von Kampfwellen drehte sich nicht im Kreis, sondern machte echte Fortschritte im Klassenbewusstsein. Wie wir im April 1988 in einem Artikel mit dem Titel 20 Jahre nach Mai 1968 schrieben: "Der einfache Vergleich der Kennzeichen der Kämpfe vor 20 Jahren mit denen von heute legt das Ausmaß der Entwicklung offen, das langsam in der Arbeiterklasse stattgefunden hat. Neben der katastrophalen Entwicklung des kapitalistischen Systems hat es ihre eigene Erfahrung ermöglicht, ein viel tiefergreifendes Verständnis der Wirklichkeit ihrer Kämpfe zu entfalten. Dies kam insbesondere zum Ausdruck durch:
- einen Verlust der Illusionen über die politischen Kräfte der Linke des Kapitals und an erster Stelle über die Gewerkschaften, gegenüber denen die Illusionen gewichen sind und ein Misstrauen entstanden ist, das immer mehr durch eine offene Feindschaft innen gegenüber abgelöst wird;
- die immer deutlichere Aufgabe von wirkungslosen Kampfformen, in die die Gewerkschaften die Kampfbereitschaft der Arbeiter so oft haben verstricken wollen, wie z.B. Aktionstage, Demonstrationsspaziergänge, lange und isolierte Streiks ...
Aber die Erfahrung dieser 20 Jahre Kämpfe hat nicht nur ‚negative‘ Lehren (d.h. was man nicht tun soll) für die Arbeiterklasse zutage gebracht. Sie hat auch aufgezeigt, wie man
- die Kämpfe ausdehnen kann (insbesondere Belgien 1986 war sehr aufschlussreich);
- wie man die Kämpfe unter eigener Kontrolle halten kann, indem man Vollversammlungen einberuft und Streikkomitees wählt, die jeweils vor der Vollversammlung verantwortlich und abwählbar sind (insbesondere Frankreich Ende 1986, Italien 1987)."
Es war diese Stärke der Arbeiterklasse, die verhinderte, dass der Kalte Krieg zu einem dritten Weltkrieg wurde. Während die Bourgeoisien zu zwei kampfbereiten Blöcken zusammengeschweißt wurden, war die Arbeiterklasse nicht bereit, ihr Leben millionenfach im Namen des Vaterlandes zu opfern. Dies zeigte sich auch im Vietnamkrieg. Angesichts der Verluste der US-Armee (58.281 Soldaten) schwoll der Protest in den Vereinigten Staaten an und zwang die amerikanische Bourgeoisie 1973 zum Rückzug aus dem Konflikt. Die herrschende Klasse konnte die Ausgebeuteten eines jeden Landes nicht zu einer offenen Konfrontation mobilisieren. Anders als in den 1930er Jahren wurde das Proletariat nicht besiegt.
Bereits in den 1980er Jahren zeigten sich Schwierigkeiten der Arbeiterklasse, ihren Kampf weiterzuentwickeln, ihr revolutionäres Projekt voranzutreiben:
- Der Massenstreik in Polen im Jahr 1980 war außergewöhnlich in Bezug auf sein Ausmaß und die Fähigkeit der Arbeiterklasse, sich im Kampf zu organisieren. Er zeigte aber auch, dass im Osten die Illusionen in die westliche Demokratie sehr groß waren. Schlimmer noch, angesichts der Repression gegen die Streikenden reduzierte sich die Solidarität des Proletariats im Westen auf platonische Erklärungen, unfähig zu erkennen, dass es sich auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs in Wirklichkeit um ein und denselben Kampf der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus handelte. Dies war der erste Hinweis auf die Unfähigkeit des Proletariats, seinen Kampf zu politisieren und sein revolutionäres Bewusstsein weiterzuentwickeln.
- 1981 entließ US-Präsident Ronald Reagan 11.000 Fluglotsen mit der Begründung, ihr Streik sei illegal. Diese Fähigkeit der amerikanischen Bourgeoisie, einen Streik mit der Waffe der Repression niederzuschlagen, zeigte, wo das Kräfteverhältnis lag.
- Die Repression in Polen und der Streik in den Vereinigten Staaten wirkten fast zwei Jahre lang wie ein schwerer Schlag für das internationale Proletariat.
- Im Jahr 1984 ging die britische Premierministerin Margaret Thatcher noch viel weiter. Zu dieser Zeit galt die britische Arbeiterklasse als die kämpferischste der Welt und stellte Jahr für Jahr einen Rekord bei der Zahl der Streiktage auf. Die Eiserne Lady provozierte die Bergarbeiter, und Hand in Hand mit den Gewerkschaften isolierte sie sie vom Rest der Klasse. Ein Jahr lang kämpften sie allein, bis sie erschöpft waren (Thatcher und ihre Regierung hatten ihren Coup vorbereitet, indem sie heimlich Kohlevorräte angehäuft hatten). Die Demonstrationen wurden blutig niedergeschlagen (drei Tote, 20.000 Verletzte, 11.300 Festnahmen). Das britische Proletariat brauchte 40 Jahre, um sich von diesem Schlag zu erholen, und es blieb bis zum Sommer 2022 träge und unterwürfig (wir werden später darauf zurückkommen). Diese Niederlage zeigt vor allem, dass es dem Proletariat nicht gelungen ist, die Falle zu verstehen und die gewerkschaftliche Sabotage und Spaltung zu durchbrechen. Die Politisierung der Kämpfe blieb weitgehend unzureichend, was ein zunehmendes Handicap darstellte.
Ein kleiner Satz aus unserem Artikel von 1988, den wir bereits zitiert haben, bringt das entscheidende Problem des Proletariats zu dieser Zeit auf den Punkt: "Man verwendet 1988 vielleicht weniger leicht den Begriff der Revolution als 1968". Damals haben wir selbst die volle Bedeutung dieser Feststellung nicht ausreichend verstanden, wir haben sie nur geahnt. In der Tat konnte die Generation, die ihre Aufgabe mit der Beendigung der Konterrevolution im Mai 1968 erfüllt hatte, nicht auch das revolutionäre Projekt des Proletariats entwickeln.
Diese Perspektivlosigkeit begann sich auf die gesamte Gesellschaft auszuwirken: Nihilismus und Drogensucht breiteten sich überall aus. Es ist kein Zufall, dass zu dieser Zeit zwei kleine Worte aus einem Lied der Punkband The Sex Pistols an die Wände Londons gesprüht wurden: No future.
In diesem Zusammenhang, als sich die Grenzen der 68er-Generation und der Zerfall der Gesellschaft abzuzeichnen begannen, wurde unserer Klasse ein schrecklicher Schlag versetzt: Der Zusammenbruch des stalinistischen Ostblocks 1989-91 löste eine ohrenbetäubende Kampagne über den "Tod des Kommunismus" aus. Die große Lüge "Stalinismus = Kommunismus" wurde wieder einmal voll ausgeschlachtet; alle abscheulichen Verbrechen dieses Regimes, das in Wirklichkeit kapitalistisch war, wurden der Arbeiterklasse und "ihrem" System angelastet. Schlimmer noch, es wurde Tag und Nacht getrompetet: "Dahin führt der Kampf der Arbeiter, in die Barbarei und den Bankrott! Dahin führt der Traum von der Revolution: in einen Albtraum!" Das Ergebnis war schrecklich: Die Arbeiterinnen und Arbeiter schämten sich für ihren Kampf, für ihre Klasse, für ihre Geschichte. Ihrer Perspektive beraubt, verleugnen sie sich selbst und verlieren ihr Klassengedächtnis. Alle Lehren und Errungenschaften der großen sozialen Bewegungen der Vergangenheit wurden vergessen. Diese historische Veränderung der Weltlage stürzte die Menschheit in eine neue Phase des kapitalistischen Niedergangs: die Phase des Zerfalls.
Der Zerfall ist kein flüchtiger, oberflächlicher Moment, sondern eine tiefgreifende Dynamik, die die Gesellschaft beherrscht. Der Zerfall ist die letzte Phase des dekadenten Kapitalismus, eine Phase der Agonie, die mit dem Tod der Menschheit oder der Revolution enden wird. Sie ist die Frucht der Jahre 1970-1980, in denen weder die Bourgeoisie noch das Proletariat in der Lage waren, ihre Perspektive durchzusetzen: Krieg für die einen, Revolution für die anderen. Der Zerfall bringt diese historische Sackgasse zwischen den Klassen zum Ausdruck:
- Die Bourgeoisie hat der Arbeiterklasse keine entscheidende historische Niederlage beigebracht, die es ihr ermöglicht hätte, für einen neuen Weltkrieg zu mobilisieren.
- Die Arbeiterklasse war trotz 20-jähriger Kämpfe, die den Marsch in den Krieg verhinderten und in denen sich das Klassenbewusstsein stark entwickelt hat, nicht in der Lage, eine revolutionäre Perspektive zu entwickeln und eine eigene politische Alternative zur Krise des Systems zu formulieren.
Infolgedessen hat der dekadente Kapitalismus, der keinen Ausweg mehr hat und immer mehr in der Wirtschaftskrise versinkt, begonnen, an seinen Grundfesten zu verfaulen. Diese Fäulnis wirkt sich auf allen Ebenen der Gesellschaft aus, wobei das Fehlen von Perspektiven und einer Zukunft wie ein regelrechtes Gift wirkt: Zunahme von Individualismus, Irrationalität, Gewalt, Selbstzerstörung usw. Angst und Hass nehmen allmählich überhand. In Südamerika entstanden Drogenkartelle, der Rassismus war allgegenwärtig ... Das Denken wird geprägt von der Unfähigkeit, vorausschauend zu denken, von einer kurzsichtigen und engen Sichtweise; die Politik der Bourgeoisie beschränkte sich immer mehr auf ein Stückwerk. Dieser tägliche Abwasch dringt unweigerlich zu den Proletariern durch, zumal sie nicht mehr an die Zukunft der Revolution glauben, sich ihrer Vergangenheit schämen und sich nicht mehr als Klasse fühlen. Zerstäubt, auf einzelne Bürger reduziert, tragen sie die volle Last der Fäulnis der Gesellschaft. Das größte Problem ist sicherlich die Amnesie über die Errungenschaften und Fortschritte der Jahre 1968-1989.
Die Wirtschaftspolitik der herrschenden Klasse greift bewusst jedes Gefühl der Klassenidentität an, indem sie die alten industriellen Zentren des Widerstands der Arbeiterklasse zerschlägt und viel stärker atomisierte Formen der Arbeit einführt, wie die so genannte "Gig-Economy", in der ArbeiterInnen regelmäßig als "Selbständige" behandelt werden.
Für einen ganzen Teil der jungen Generation der Arbeiterklasse sind die Folgen katastrophal: die Tendenz zur Bildung von Banden in den städtischen Zentren, die sowohl Ausdruck des Mangels an wirtschaftlichen Perspektiven als auch der verzweifelten Suche nach einer alternativen Gemeinschaft sind, was zu mörderischen Spaltungen zwischen Jugendlichen führt, die auf Rivalitäten zwischen verschiedenen Vierteln und unterschiedlichen Bedingungen, auf dem Wettbewerb um die Kontrolle der lokalen Drogenwirtschaft oder auf rassischen oder religiösen Unterschieden basieren.
Während die 68er-Generation diesen Rückschlag erlitt, schien die Generation, die 1990 mit der Lüge vom "Tod des Kommunismus" und der Dynamik des sozialen Zerfalls ins Erwachsenenalter kam, für den Klassenkampf verloren.
1999 trat auf einer WTO-Konferenz (Welthandelsorganisation) in Seattle eine neue politische Bewegung in den Vordergrund: die Antiglobalisierungsbewegung. 40.000 Demonstrierende, die überwiegende Mehrheit von ihnen junge Menschen, erhoben sich gegen die Entwicklung einer kapitalistischen Gesellschaft, die den gesamten Planeten zur Ware macht. Beim G8-Gipfel in Genua im Jahr 2001 waren es 300.000.
Was zeigt die Entstehung dieser Entwicklung? 1990 versprach US-Präsident George Bush-senior eine "neue Weltordnung" des "Friedens und des Wohlstands", doch die Realität des Jahrzehnts danach sah ganz anders aus: der Golfkrieg 1991, der Krieg in Jugoslawien 1993, der Völkermord in Ruanda 1994, die Krise und der Zusammenbruch der "Asiatischen Tiger" 1997 und überall steigende Arbeitslosigkeit, Arbeitsplatzunsicherheit und "Flexibilität". Kurzum, der Kapitalismus versank immer weiter in der Dekadenz. Dies veranlasste die Arbeiterklasse und alle Teile der Gesellschaft unweigerlich dazu, sich Sorgen zu machen, Fragen zu stellen und nachzudenken. Jeder in seiner eigenen Ecke. Die Entstehung der Antiglobalisierungsbewegung war das Ergebnis dieser Dynamik: ein "bürgerlicher" Protest gegen die "Globalisierung", der einen "gerechten" globalen Kapitalismus fordert. Es handelt sich um eine Sehnsucht nach einer anderen Welt, allerdings auf einem nicht von der Arbeiterklasse beherrschten, nicht revolutionären Terrain, sondern auf dem bürgerlichen Terrain des Glaubens an die Demokratie.
In den Jahren 2000-2010 gab es eine Reihe von Kampfversuchen, die alle an dieser entscheidenden Schwäche scheiterten, die mit dem Verlust der Klassenidentität zusammenhing.
Am 15. Februar 2003 fand die größte (bis heute) registrierte Demonstration der Welt statt. 3 Millionen Menschen in Rom, 1 Million in Barcelona, 2 Millionen in London, usw. Ziel war es, gegen den drohenden Krieg im Irak zu protestieren – ein Konflikt, der im März tatsächlich ausbrechen sollte. Unter dem Vorwand, den Terrorismus zu bekämpfen, dauerte er 8 Jahre und tötete 1,2 Millionen Menschen. Die Reaktion darauf ist die Abscheu vor dem Krieg, während die aufeinander folgenden Kriege der 1990er Jahre keinen Widerstand hervorgerufen hatten. Vor allem aber handelte es sich um eine Bewegung, die sich auf bürgerliche und pazifistische Werte stützte; es war nicht die Arbeiterklasse, die gegen die kriegerischen Absichten ihrer Staaten kämpfte, sondern eine Masse von Bürgern, die von ihren Regierungen eine Politik des Friedens forderten.
Im Mai-Juni 2003 kam es in Frankreich zu einer Reihe von Demonstrationen gegen eine Reform des Rentensystems. Im staatlichen Bildungswesen wurde gestreikt, und die Gefahr eines "Generalstreiks" war groß. Letztendlich kam es jedoch nicht dazu, und die Lehrerinnen und Lehrer blieben isoliert. Diese sektorale Eingrenzung war natürlich das Ergebnis einer bewussten Spaltungspolitik der Gewerkschaften, aber die Sabotage war erfolgreich, weil sie auf einer großen Schwäche der Klasse beruhte: Die Lehrkräfte sahen sich selbst als getrennt, nicht als Mitglieder der Arbeiterklasse. Der Begriff der Arbeiterklasse selbst war noch in der Schwebe, abgelehnt, überholt und beschämend.
Im Jahr 2006 mobilisierten die Studentinnen und Studenten in Frankreich massenhaft gegen einen prekären Sondervertrag für junge Menschen: den CPE. Die Bewegung zeigte ein Paradoxon: Die Reflexion in der Klasse geht weiter, aber die Klasse weiß nichts davon. Die Studentinnen und Studenten entdeckten eine echte Form des Kampfes für die Arbeiterklasse wieder: die Vollversammlungen. Sie waren offen für Arbeiterinnen und Arbeiter, Arbeitslose und Rentnerinnen und Rentner, und die Interventionen der Älteren fanden Beifall. Der Slogan, der bei den Demonstrationen verwendet wurde, lautete: "Junge Schmalzstullen, alte Croutons, alles derselbe Salat". So entstand die Solidarität der Arbeiterklasse zwischen den Generationen und die Einsicht, dass alle betroffen sind und alle an einem Strang ziehen müssen. Diese Bewegung, die über den gewerkschaftlichen Rahmen hinausging, barg die "Gefahr" (für die Bourgeoisie), Angestellte und Arbeiterinnen und Arbeiter auf einen ähnlich "unkontrollierten" Weg zu bringen. Die Regierung zog ihren Gesetzentwurf zurück. Dieser Sieg bedeutete einen Fortschritt in den Anstrengungen, die die Arbeiterklasse seit Anfang der 2000er Jahre unternommen hat, um aus der Flaute der 1990er Jahre herauszukommen. In der Hitze des Gefechts veröffentlichten und verteilten wir in Frankreich eine Beilage mit der Schlagzeile "Willkommen seien die neuen Generationen der Arbeiterklasse!“ – Und in der Tat zeigte diese Bewegung das Entstehen einer neuen Generation, die weder den Schwung der Kämpfe der 1980er Jahre und manchmal deren Unterdrückung noch direkt die große Lüge "Stalinismus = Kommunismus", "Revolution = Barbarei" erlebt hatte, eine neue Generation, die von der Entwicklung der Krise und der Prekarität betroffen war, eine neue Generation, die bereit war, die auferlegten Opfer abzulehnen und zu kämpfen. Aber auch diese Generation wuchs in den 1990er Jahren auf, und was sie am meisten kennzeichnet, ist die scheinbare Abwesenheit der Arbeiterklasse, das Verschwinden ihres Projekts und ihrer Erfahrung. Diese neue Generation musste sich "neu erfinden" und übernahm daher die Kampfmethoden des Proletariats, aber – und das "aber" ist ein großes "aber" – auf unbewusste Weise, instinktiv, indem sie sich in der Masse der "Bürger" auflöste. Es ist ein bisschen wie in dem Stück von Molière, wo Monsieur Jourdain Prosa macht, ohne es zu wissen. Das erklärt, warum die Bewegung, nachdem sie verschwunden war, keine offensichtlichen Spuren hinterließ: keine Gruppen, keine Zeitungen, keine Bücher ... Die Protagonisten selbst schienen sehr schnell zu vergessen, was sie erlebt hatten.
Die "Bewegung der Plätze" (der so genannte Arabische Frühling, Occupy usw.), die einige Jahre später die Welt erschütterte, sollte eine eklatante Demonstration dieser widersprüchlichen Kräfte, dieser Dynamik und dieser tiefgreifenden und historischen Schwächen sein. Die Kampfbereitschaft entwickelte sich, ebenso wie die Reflexion, jedoch ohne Bezug zur Arbeiterklasse und ihrer Geschichte, ohne ein Gefühl der Zugehörigkeit zum Proletariat, ohne eine Klassenidentität.
Am 15. September 2008 löste der größte Konkurs der Geschichte, der der Investmentbank Lehman Brothers, eine Welle internationaler Panik aus; es war die so genannte Subprime-Krise. Millionen von ArbeiterInnen verloren ihre spärlichen Investitionen und Renten, und Sparmaßnahmen stürzten ganze Bevölkerungen ins Elend. Sofort wurde die Propagandawalze in Gang gesetzt: Nicht das kapitalistische System zeige wieder einmal seine Grenzen, sondern die korrupten und gierigen Banker seien die Ursache allen Übels. Der Beweis dafür sei, dass es einigen Ländern gut gehe, namentlich den BRICS-Staaten, China insbesondere. Die Form, die diese Krise annahm, nämlich eine "Kreditklemme" mit einem massiven Verlust von Ersparnissen für Millionen von Lohnabhängigen, machte es noch schwieriger, auf einer Klassenbasis zu reagieren, da die Auswirkungen eher einzelne Haushalte als eine zusammenhängende Klasse zu betreffen schienen. Genau das ist die Achillesferse des Proletariats seit 1990: zu vergessen, dass es existiert und dass es sogar die wichtigste Kraft in der Gesellschaft ist.
Im Jahr 2010 nutzte die französische Bourgeoisie diesen Kontext großer Verwirrung in der Klasse, um mit ihren Gewerkschaften eine Reihe von vierzehn Aktionstagen zu inszenieren, die mit einem Sieg der Regierung (der Verabschiedung einer weiteren Rentenreform), Erschöpfung und Demoralisierung endeten. Durch die Beschränkung des Kampfes auf Gewerkschaftsmärsche ohne Leben und Diskussion in den Prozessionen gelang es der Bourgeoisie, die große politische Schwäche der ArbeiterInnen auszunutzen, um die wichtigste positive Lehre der Anti-CPE-Bewegung von 2006 noch weiter auszulöschen: Vollversammlungen als Lebensnerv des Kampfes.
Am 17. Dezember 2010 musste ein junger ambulanter Obst- und Gemüsehändler in Tunesien zusehen, wie Polizisten seine spärlichen Waren beschlagnahmten, während sie ihn gleichzeitig verprügelten. In seiner Verzweiflung zündete er sich selbst an. Was folgte, war ein wahrer Schrei der Wut und Empörung, der das ganze Land erschütterte und die Grenzen überschritt. Die entsetzliche Armut und die Unterdrückung im gesamten Maghreb trieben die Menschen zum Aufstand. Die Massen versammelten sich, zuerst auf dem Tahrir-Platz in Ägypten. Die kämpfenden Arbeiterinnen und Arbeiter fanden sich in der Menge verwässert wieder, inmitten all der anderen nicht ausbeutenden Klassen der Gesellschaft. "Mubarak raus", "Gaddafi raus" und so weiter. Die Protagonisten forderten Demokratie und die Aufteilung des Reichtums. Die weit verbreitete Wut führte zu diesen illusorischen, bürgerlichen Slogans.
Im Jahr 2011 ließ sich in Spanien eine ganze Generation prekarisierte Menschen, die gezwungen waren, bei ihren Eltern zu Hause zu bleiben, von dem inspirieren, was heute als "Arabischer Frühling" bekannt ist, und besetzte den Hauptplatz von Madrid. Die Parole lautete: "Vom Tahrir-Platz zur Puerta del Sol". Die Bewegung der "Indignados" war geboren und breitete sich im ganzen Land aus. Obwohl sie wie in Nordafrika alle Gesellschaftsschichten zusammenbrachte, war hier die Arbeiterklasse in der Mehrheit. Die Versammlungen fanden daher in Form von großen Zusammenkünften statt, um zu debattieren und zu organisieren. Als wir teilnahmen, bemerkten wir eine Art internationalistischen Impuls in der Form von zahlreichen Reaktionen auf Solidaritätsbekundungen aus allen Teilen der Welt. Die Losung "Weltrevolution" wurde ernst genommen, man erkannte, dass "das System veraltet ist", und es gab einen starken Wunsch, über die Möglichkeit einer neuen Form der gesellschaftlichen Organisation zu diskutieren.
In den Vereinigten Staaten, Israel und dem Großbritannien nahm diese "Bewegung der Plätze" den Namen "Occupy" an. Die Teilnehmer sprachen von ihrem Leiden unter der Unsicherheit und Flexibilität, die es fast verunmöglichten, echte, feste Kollegen oder auch nur ein soziales Leben zu haben. Diese Destrukturierung und unerbittliche Ausbeutung individualisiert, isoliert und atomisiert. Die Protagonisten von Occupy waren froh, dass sie sich zusammenfinden und eine Gemeinschaft bilden konnten, dass sie sich unterhalten und sogar als Teil eines Kollektivs leben konnten. Hier gibt es also schon eine Art Rückschritt gegenüber den Indignados, denn es geht bei Occupy weniger um den Kampf als um das Zusammensein. Vor allem aber ist Occupy in den Vereinigten Staaten entstanden, dem Land der Arbeiterunterdrückung unter Reagan, dem Land, das den Sieg des Kapitalismus über den "Kommunismus" symbolisierte, dem Land, das die Ersetzung der Arbeiterklasse durch Selbstständige, Freiberufler usw. propagierte. Diese Bewegung war also in hohem Maße durch den Verlust der Klassenidentität, durch die Auslöschung der gesamten gesammelten, aber verdrängten Erfahrung der Arbeiterklasse gekennzeichnet. Occupy konzentrierte sich auf die Theorie der 1 % (der Minderheit, die den Reichtum besitzt, d.h. der Bourgeoisie), um mehr Demokratie und eine bessere Verteilung der Güter zu fordern. Mit anderen Worten: gefährliches Wunschdenken und Illusionen über einen besseren, gerechteren, humaneren Kapitalismus. Außerdem wurde die Hochburg der Bewegung in der Wall Street, bei der New Yorker Börse, eingerichtet (Occupy Wall Street), um zu symbolisieren, dass der Feind die korrupte Finanzwelt sei.
Diese Schwäche zeichnete die Indignados letztlich aber auch aus: Die Tendenz, sich eher als "Bürger" denn als Proletarier zu sehen, machte die gesamte Bewegung anfällig für die demokratische Ideologie, die es schließlich bürgerlichen Parteien wie Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien ermöglichte, sich als die wahren Erben dieser Revolten zu präsentieren. "Democracia Real Ya" (Echte Demokratie jetzt!) wurde zur Parole der Bewegung.
Letztendlich hat das Abflauen dieser "Bewegung der Plätze" den allgemeinen Rückzug des Klassenbewusstseins weiter vertieft. In Ägypten ebneten Illusionen über die Demokratie den Weg für die Wiederherstellung der gleichen Art von autoritärer Regierung, die der ursprüngliche Auslöser für den "Arabischen Frühling" war; in Israel, wo Massendemonstrationen einst den internationalistischen Slogan "Netanjahu, Mubarak, Assad, derselbe Feind" in die Welt setzten, übernimmt nun wieder die brutale militaristische Politik der Netanjahu-Regierung die Macht; in Spanien stecken viele junge Menschen, die an der Bewegung teilgenommen hatten, in der absoluten Sackgasse des katalanischen oder spanischen Nationalismus. In den Vereinigten Staaten schürt die Konzentration auf die „1 %“ die populistische Stimmung gegen "die Eliten", "das Establishment" ...
Der Zeitraum 2003-2011 steht also für eine ganze Reihe von Bemühungen unserer Klasse, gegen die fortschreitende Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen im krisengeschüttelten Kapitalismus anzukämpfen, doch ohne Klassenidentität endete sie (vorübergehend) in einem noch größeren Absturz. Und der sich verschärfende Zerfall in den 2010er Jahren sollte diese Schwierigkeiten noch vergrößern: Entwicklung des Populismus mit all der Irrationalität und dem Hass, den diese bürgerliche politische Strömung in sich birgt, Ausbreitung terroristischer Anschläge auf internationaler Ebene, Machtergreifung ganzer Regionen durch Drogenhändler in Lateinamerika, durch Kriegsherren im Nahen Osten, in Afrika und im Kaukasus, riesige Wellen von Migrierenden, die vor dem Schrecken des Hungers, des Krieges und der Barbarei fliehen, Wüstenbildung im Zusammenhang mit der globalen Erwärmung. – Das Mittelmeer wird zu einem Wasserfriedhof.
Diese verkommene und tödliche Dynamik führt dazu, dass der Nationalismus verstärkt wird, dass man sich auf den "Schutz" des Staates verlässt, dass man sich von der falschen Systemkritik des Populismus (und für eine Minderheit vom Dschihadismus) beeinflussen lässt, dass man sich der "Identitätspolitik" anschließt ... Das Fehlen einer Klassenidentität wird durch die Tendenz zur Aufsplitterung in rassische, sexuelle und andere Identitäten verschärft, was wiederum Ausgrenzung und Spaltung verstärkt, während nur das für seine eigenen Interessen kämpfende Proletariat wirklich integrativ sein kann.
Kurz gesagt, die kapitalistische Gesellschaft verrottet in ihren Grundfesten.
Aber die derzeitige Situation ist nicht nur eine des Zerfalls. Andere Kräfte sind am Werk: Mit der Dekadenz verschärft sich die Wirtschaftskrise und mit ihr die Notwendigkeit zu kämpfen; der Schrecken des Alltags wirft in den Köpfen der Arbeiterinnen und Arbeiter ständig Fragen auf; die Kämpfe der letzten Jahre haben begonnen, einige Antworten zu geben, und diese Erfahrungen graben ihre Furche, ohne dass wir es bemerken. Um es mit den Worten von Marx zu sagen: "Wir erkennen unseren alten Freund, unseren alten Maulwurf, der so gut weiß, wie man im Untergrund arbeitet, um dann plötzlich aufzutauchen."
Im Jahr 2019 entwickelt sich in Frankreich eine soziale Bewegung gegen eine neue "Rentenreform" (sic!). Mehr noch als der Kampfgeist, der sehr groß ist, fällt uns der Trend zur Solidarität zwischen den Generationen auf, der in den Demonstrationen zum Ausdruck kommt: Viele ArbeiterInnen in den Sechzigern – und damit nicht direkt von der Reform betroffen – streiken und demonstrieren, um sicherzustellen, dass die jüngeren nicht unter diesem Angriff der Regierung leiden. Die Solidarität zwischen den Generationen, die im Jahr 2006 sehr ausgeprägt war, scheint wieder aufzutauchen. Wir haben Leute auf den Demonstrationen gehört, die "Die Arbeiterklasse existiert" skandierten, die "Wir sind hier, wir sind hier für die Ehre der Arbeiterklasse und für eine bessere Welt" sangen und die Idee des "Klassenkampfes" verteidigten. Auch wenn es sich um eine Minderheit handelt, ist die Idee wieder in der Luft, etwas, das seit 30 Jahren nicht mehr passiert ist!
In den Jahren 2020 und 2021, während der Covid-Pandemie und ihren zahlreichen Einschränkungen, stellen wir fest, dass es in den Vereinigten Staaten, im Iran, in Italien, Südkorea, Spanien und Frankreich Streiks gibt, die, auch wenn sie verstreut sind, von der Tiefe des Zorns zeugen, da es besonders schwierig ist, in diesen Zeiten der staatlich geführten Kampagnen im Namen der "Gesundheit für alle" zu kämpfen.
Aus diesem Grund haben wir im Januar 2022, als die Inflation nach fast 30 Jahren wirtschaftlicher Flaute ein Comeback feierte, beschlossen, ein internationales Flugblatt zu verfassen:
"Die Preise steigen, vor allem für die Grundbedürfnisse: Lebensmittel, Energie, Transport ... die konkrete Realität ist, dass immer mehr Menschen Schwierigkeiten haben, sich zu ernähren, eine Wohnung zu finden, sich warm zu halten, zu reisen."
Und in diesem Flugblatt kündigen wir an: "In jedem Land, in jedem Sektor leidet die Arbeiterklasse unter einer unerträglichen Verschlechterung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen (...) Unter der Last der sich verschärfenden Weltwirtschaftskrise regnet es Angriffe. (...) Trotz der Angst vor einer bedrückenden Gesundheitskrise beginnt die Arbeiterklasse zu reagieren (...) Zugegeben, es handelt sich nicht um massive Bewegungen: Streiks und Demonstrationen sind noch zu selten. Aber die Bourgeoisie beobachtet sie mit Argusaugen und ist sich des Ausmaßes der wachsenden Wut bewusst. (...) Wie können wir also einen vereinten und massiven Kampf entwickeln?"
Der Ausbruch des Krieges in der Ukraine einen Monat später löste Alarm aus; in der Klasse geht die Angst um, dass sich der Konflikt ausweiten und er ausarten würde. Doch gleichzeitig verschärft der Krieg die Inflation erheblich. Großbritannien, das schon unter den katastrophalen Auswirkungen des Brexits leidet, ist am stärksten betroffen.
Angesichts dieser unerträglichen Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen kam es in Großbritannien zu Streiks in einer Vielzahl von Sektoren (Gesundheit, Bildung, Verkehr usw.): Es war das, was die Medien als "Sommer der Wut" bezeichneten, in Anlehnung an den "Winter der Unzufriedenheit" im Jahr 1979, der nach dem Mai 1968 in Frankreich die massivste Bewegung eines Landes bleibt!
Indem sie diese Parallele zwischen diesen beiden großen Bewegungen ziehen, die 43 Jahre auseinander liegen, sagen die Journalisten viel mehr aus, als ihnen bewusst ist. Denn hinter diesem Ausdruck der "Wut" verbirgt sich eine äußerst tiefgreifende Bewegung. Zwei Parolen gehen von Streikposten zu Streikposten weiter: "Genug ist genug" und "Wir sind Arbeiter". Mit anderen Worten: Wenn sich die britischen Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Inflation wehren, dann nicht nur, weil ihre Situation unhaltbar ist. Die Krise ist ein notwendiger Ansporn, aber kein hinreichender. Es liegt auch daran, dass das Bewusstsein in den Köpfen der Arbeiterinnen und Arbeiter gereift ist, dass der Maulwurf, der jahrzehntelang gegraben hat, jetzt ein kleines Stück seines Rüssels herausstreckt. Indem wir die Methode unserer Vorfahren von Internationalismo aufgreifen, die es ihnen ermöglichte, das Kommen des Mai 1968 vorauszusehen und dann seine historische Bedeutung zu verstehen, können wir seit August 2022 in unserem internationalen Flugblatt darauf hinweisen, dass das Erwachen des britischen Proletariats eine globale und historische Bedeutung hat; deshalb schließt unser Flugblatt mit: "Die massiven Streiks in Großbritannien sind ein Aufruf zum Handeln für das Proletariat überall". Die Tatsache, dass das Proletariat, das 1864 in London zusammen mit dem französischen Proletariat die Erste Internationale gründete, das in den Jahren 1970-80 am kämpferischsten war, das 1984-85 eine schwere Niederlage gegen Thatcher erlitt und das seitdem nicht mehr in der Lage war, zu reagieren, jetzt verkündet, dass "genug genug" sei, zeigt, was in den Tiefen unserer Klasse heranreift: Das Proletariat beginnt, seine Klassenidentität wiederzufinden, sich selbstbewusster zu fühlen, sich als soziale und kollektive Kraft zu empfinden.
Zumal diese Streiks zu einer Zeit stattfinden, in der der Krieg in der Ukraine mit all seiner patriotischen Rhetorik wütet. Wie wir in unserem Flugblatt von Ende August 2022 sagten:
"Die Bedeutung dieser Bewegung beschränkt sich nicht nur auf die Tatsache, dass sie eine lange Periode der Passivität beendet. Diese Kämpfe entwickeln sich zu einer Zeit, in der die Welt mit einem imperialistischen Krieg großen Ausmaßes konfrontiert ist, einem Krieg, der vor Ort zwischen Russland und der Ukraine geführt wird, der aber eine globale Reichweite hat, wobei insbesondere die NATO-Mitgliedsländer mobilisiert werden. Eine Mobilisierung in Form von Waffen, aber auch in wirtschaftlicher, diplomatischer und ideologischer Hinsicht. In den westlichen Ländern wird in den Reden der Regierungen zu Opfern aufgerufen, um "Freiheit und Demokratie zu verteidigen". Konkret heißt das, dass das Proletariat in diesen Ländern den Gürtel noch enger schnallen sollen, um "ihre Solidarität mit der Ukraine zu bezeugen", in Wirklichkeit mit der ukrainischen Bourgeoisie und der Bourgeoisie der westlichen Länder (...) Die Regierungen rufen nach "Opfern, um die Inflation zu bekämpfen". Das ist eine finstere Farce, während sie diese durch die Explosion der Kriegsausgaben nur noch verschlimmern. Das ist die Zukunft, die der Kapitalismus und seine konkurrierenden nationalen Bourgeoisien versprechen: mehr Kriege, mehr Ausbeutung, mehr Zerstörung, mehr Elend. Das ist auch das, was die Streiks des Proletariats in Großbritannien im Keim tragen, auch wenn die Arbeiter sich dessen nicht immer voll bewusst sind: die Weigerung, sich immer und immer mehr für die Interessen der herrschenden Klasse zu opfern, die Weigerung, Opfer für die nationale Wirtschaft und für die Kriegsanstrengungen zu bringen, die Weigerung, die Logik dieses Systems zu akzeptieren, das die Menschheit in die Katastrophe und schließlich in ihre Vernichtung treibt."
Während in Großbritannien die Streiks fortgesetzt wurden und immer mehr Sektoren betrafen, fand in Frankreich eine große soziale Bewegung gegen die Rentenreform statt. Auf beiden Seiten des Ärmelkanals sind die gleichen Merkmale zu erkennen. Auch in Frankreich betonen die Demonstrierenden ihre Zugehörigkeit zum Lager der Arbeiterklasse, und die Parole "Genug ist genug" wird in Form von "ça suffit" aufgegriffen. Natürlich brachte das französische Proletariat in diese internationale Dynamik seine Gewohnheit ein, massenhaft auf die Straße zu gehen, was im Gegensatz zu den verstreuten Streikposten stand, die von den Gewerkschaften in Großbritannien auferlegt wurden. Noch bedeutsamer für den Beitrag, den diese Episode des Kampfes zum globalen internationalen Prozess leistete, war die Parole, die überall auf den Kundgebungen zu hören war: "Ihr gebt uns 64, wir geben euch 68" (die Regierung wollte das gesetzliche Renteneintrittsalter auf 64 Jahre heraufsetzen, und die Demonstranten konterten mit ihrem Wunsch, den Mai 68 wieder zu beleben). Abgesehen von dem ausgezeichneten Wortspiel (der Erfindungsreichtum der Arbeiterklasse im Kampf) zeigt dieser sofort populäre Slogan, dass das Proletariat, indem es beginnt, sich als Klasse zu erkennen, indem es beginnt, seine Klassenidentität wiederzuerlangen, auch beginnt, sich zu erinnern, sein schlummerndes Gedächtnis zu reaktivieren. Wir waren im Übrigen überrascht, Hinweise auf die Bewegung von 2006 gegen den CPE zu sehen. Wir haben sofort ein neues Flugblatt herausgegeben und verteilt, in dem wir die Chronologie der Bewegung und ihre Lehren (die Bedeutung offener und souveräner Vollversammlungen, d.h. wirklich von der Versammlung und nicht von den Gewerkschaften organisiert und geleitet) dargelegt haben. Als sie den Titel sahen, kamen die Demonstrierenden zu uns und baten uns um das Papier, und einige bedankten sich, nachdem sie es gelesen hatten, als sie uns auf dem Bürgersteig wiedersahen.
Es ist also nicht nur der Faktor "Bruch mit der Vergangenheit", der die Fähigkeit der gegenwärtigen neuen Generation erklärt, das gesamte Proletariat in den Kampf zu führen. Im Gegenteil, der Gedanke der Kontinuität ist vielleicht sogar noch wichtiger. Deshalb haben wir im Jahr 2020 zu Recht geschrieben: "Die Errungenschaften der Kämpfe zwischen 1968 und 89 sind nicht verloren gegangen, auch wenn sie von vielen ArbeiterInnen (und Revolutionären) vergessen wurden: der Kampf für die Selbstorganisation und die Ausweitung der Kämpfe; die Anfänge eines Verständnisses der arbeiterfeindlichen Rolle der Gewerkschaften und Parteien der kapitalistischen Linken; der Widerstand dagegen, in den Krieg hineingezogen zu werden; das Misstrauen gegenüber dem Wahlzirkus und dem parlamentarischen Geschacher usw. Künftige Kämpfe müssen auf der kritischen Aneignung dieser Errungenschaften beruhen, sie weiterführen und dürfen sie auf keinen Fall verwerfen oder vergessen." (Internationale Revue Nr. 56) Die Erfahrungen, die die vorangegangenen Generationen seit 68 und sogar seit den Anfängen der Arbeiterbewegung gesammelt haben, sind nicht ausgelöscht, sondern in einem schlummernden Gedächtnis begraben; die Rückgewinnung der Klassenidentität bedeutet, dass sie reaktiviert werden kann und dass die Arbeiterklasse sich auf den Weg machen kann, ihre eigene Geschichte zurückzuerobern.
Konkret: Die Generationen, die 68 und die Konfrontation mit den Gewerkschaften in den 70er und 80er Jahren erlebt haben, leben heute noch und können ihre Geschichte erzählen und weitergeben. Auch die "verlorene" Generation der 90er Jahre wird einen Beitrag leisten können. Die jungen Leute der Versammlungen von 2006 und 2011 werden verstehen können, was sie getan haben, was ihre Selbstorganisation bedeutet, und der neuen Generation davon erzählen. Einerseits hat diese neue Generation der 2020er Jahre weder die Niederlagen der 1980er Jahre (unter Thatcher und Reagan) noch die Lüge von 1990 über den Tod des Kommunismus und das Ende des Klassenkampfes, noch die darauf folgenden Jahre der Finsternis erlebt; andererseits ist sie in einer permanenten Wirtschaftskrise und einer Welt im Untergang aufgewachsen, weshalb sie einen unverminderten Kampfgeist in sich trägt. Diese neue Generation kann alle anderen hinter sich herziehen, wobei sie ihnen zuhören und aus ihren Erfahrungen, ihren Siegen und ihren Niederlagen lernen muss. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft können wieder zueinander finden. Darin liegt das ganze Potenzial der gegenwärtigen und zukünftigen Bewegungen, darin liegt das Konzept des "Bruchs": eine neue Dynamik, die mit der Apathie und der Amnesie bricht, die seit 1990 vorherrschen, eine neue Dynamik, die sich die Geschichte der Arbeiterbewegung auf kritische Weise wieder aneignet, um sie viel weiter zu bringen. Die Streiks, die sich heute entwickeln, sind die Frucht der unterirdischen Reifung der vergangenen Jahrzehnte und können ihrerseits zu einer viel größeren Reifung führen.
Und natürlich haben diejenigen, die diese historische Kontinuität und Erinnerung repräsentieren, die revolutionären Organisationen, eine große Rolle in diesem Prozess zu spielen.
Seit 2020 und der Covid-Pandemie hat sich der Zerfall des Kapitalismus auf der ganzen Welt beschleunigt. Alle Krisen dieses dekadenten Systems – Gesundheits-, Wirtschafts-, Klima-, Sozial- und Kriegskrisen – greifen ineinander und bilden einen verheerenden Strudel.[4] Diese Dynamik droht, die gesamte Menschheit in den Untergang zu reißen.
Die Arbeiterklasse steht daher vor der großen Herausforderung, ihr revolutionäres Projekt zu entwickeln und ihre kommunistische Perspektive in diesem Kontext der allgemeinen Verrottung zu vertreten. Dazu muss sie in der Lage sein, allen zentrifugalen Kräften zu widerstehen, die unaufhörlich Druck auf sie ausüben; sie muss in der Lage sein, der sozialen Zersplitterung zu widerstehen, die den Rassismus, die Konfrontation zwischen rivalisierenden Banden, den Rückzug und die Angst begünstigt; sie muss in der Lage sein, dem Geheul des Nationalismus und des Krieges zu widerstehen (angeblich humanitär, antiterroristisch, "Widerstand" usw. – die Bourgeoisie bezichtigt den Feind immer der Barbarei, um ihre eigene Barbarei zu rechtfertigen). Sich gegen diese Fäulnis zu wehren, die allmählich die ganze Gesellschaft zerfrisst, und ihren Kampf und ihre Perspektiven erfolgreich zu entwickeln, setzt notwendigerweise voraus, dass die gesamte Arbeiterklasse ihren Bewusstseins- und Organisationsgrad anhebt, dass es ihr gelingt, ihre Kämpfe zu politisieren und Räume für Debatten, für die Ausarbeitung und Kontrolle von Streiks durch die Arbeiter selbst zu schaffen.
Was sagen uns also all diese Streiks, die von den Medien als "historisch" bezeichnet werden, über die aktuelle Dynamik und die Fähigkeit unserer Klasse, ihre Anstrengungen fortzusetzen, obwohl sie von einer Welt im Untergang umgeben ist?
Die Solidarität, die in allen Streiks und sozialen Bewegungen seit 2022 zum Ausdruck kommt, zeigt, dass die Arbeiterklasse, wenn sie sich wehrt, nicht nur in der Lage ist, dieser sozialen Fäulnis zu widerstehen, sondern auch die Anfänge eines Gegenmittels, die Verheißung einer anderen möglichen Perspektive initiiert: proletarische Solidarität. Ihr Kampf ist die Antithese zum Krieg Aller gegen Alle, auf den der Zerfall zusteuert.
Auf den Streikpostenketten und auch in den Demonstrationszügen in Frankreich und Island sind die häufigsten Ausdrücke "Wir sitzen alle im selben Boot" und "Wir müssen gemeinsam kämpfen".
Selbst in den Vereinigten Staaten, einem Land, das von Gewalt, Drogen und Rassentrennung geplagt ist, konnte die Arbeiterklasse die Frage der Solidarität der Lohnabhängigen zwischen den Sektoren und zwischen den Generationen aufwerfen. Die Ergebnisse des "historischen" Streiks dieses Sommers, in dessen Mittelpunkt die Beschäftigten der Automobilindustrie standen, zeigen sogar, dass dieser Prozess weiter voranschreitet und sich vertieft:
- "Wir müssen sagen: Genug ist genug! Nicht nur wir, sondern die gesamte Arbeiterklasse dieses Landes muss irgendwann sagen, dass es genug ist (...) Wir haben alle genug: Leiharbeiter haben genug, langjährige Mitarbeiter wie ich haben genug ... denn diese Leiharbeiter sind unsere Kinder, unsere Nachbarn, unsere Freunde" (Littlejohn, Instandhaltungsleiter im Ford-Stanzwerk Buffalo in den USA).
- "All diese Gruppen sind nicht einfach getrennte Bewegungen, sondern ein kollektiver Schlachtruf: Wir sind eine Stadt der Arbeiter - Arbeiter und Angestellte, gewerkschaftlich und nicht-gewerkschaftlich, Einwanderer und Einheimische" (Los Angeles Times).
- "Der Stellantis-Komplex in Toledo, Ohio, war zu Beginn des Streiks von Jubel und Hupen erfüllt" (The Wall Street Journal).
- "Hupen zur Unterstützung der Streikenden vor dem Werk des Automobilherstellers in Wayne, Michigan" (The Guardian).
Diese Solidarität beruht ausdrücklich auf der Idee, dass "wir alle Teil der Arbeiterklasse sind"!
Welch ein Gegensatz zu den versuchten Pogromen gegen Einwanderer in Dublin (Irland) und Romans-sur-Isère (Frankreich). In beiden Fällen gab ein Teil der Bevölkerung nach einer tödlichen Messerstecherei den Einwanderern die Schuld an den Morden und forderte Rache, indem man auf die Straße ging und Menschen lynchte. Es handelt sich dabei nicht um isolierte und unbedeutende Vorfälle, sondern im Gegenteil um eine allgemeine gesellschaftliche Tendenz. Schlägereien zwischen Jugendbanden, Überfälle, Morde, die von unausgeglichenen Individuen begangen werden, und nihilistische Krawalle häufen sich und werden immer weiter zunehmen.
Die Kräfte des Zerfalls werden allmählich die soziale Zersplitterung vorantreiben; die Arbeiterklasse wird sich inmitten eines wachsenden Hasses wiederfinden. Um dieser Fäulnis zu widerstehen, muss sie ihre Bemühungen fortsetzen, ihren Kampf und ihr Bewusstsein zu entwickeln. Der Instinkt für Solidarität wird nicht ausreichen; die Arbeiterklasse wird auch auf die Einheit hinarbeiten müssen, mit anderen Worten, auf die bewusste Kontrolle ihrer Verbindungen und ihrer Organisation im Kampf. Das bedeutet unweigerlich die Konfrontation mit den Gewerkschaften und ihrer permanenten Sabotage der Spaltung. Hier kommen wir also auf die Notwendigkeit zurück, sich die Lehren aus den Kämpfen der 1970er und 1980er Jahre wieder anzueignen.
Dass der Aufschrei "Genug ist genug" den Atlantik überquert hat, zeigt den zutiefst internationalen Charakter unserer Klasse und ihres Kampfes. Die Streiks in den Vereinigten Staaten sind das direkte Ergebnis der Streiks in Großbritannien. Auch hier hatten wir also Recht, als wir im Frühjahr 2023 schrieben: "Da Englisch außerdem die Sprache der Weltkommunikation ist, übersteigt der Einfluss dieser Bewegungen notwendigerweise die möglichen Auswirkungen von Kämpfen in Frankreich oder Deutschland. In diesem Sinne weist das britische Proletariat nicht nur den europäischen Arbeitern und Arbeiterinnen den Weg, die an der Spitze des Aufstiegs des Klassenkampfes stehen müssen, sondern auch dem Weltproletariat, und insbesondere dem amerikanischen Proletariat." (Bericht zum Klassenkampf für den 25. IKS-Kongress, Internationale Revue Nr. 59, 2023).
Während des Streiks der Big Three (Ford, Chrysler, General Motors) in den Vereinigten Staaten begann das Gefühl, eine internationale Klasse zu sein, zu entstehen. Neben diesem ausdrücklichen Bezug auf die Streiks in Großbritannien versuchten die Arbeiterinnen und Arbeiter, den Kampf auf beiden Seiten der amerikanisch-kanadischen Grenze zu vereinen. Die Bourgeoisie irrte sich nicht: Sie erkannte die Gefahr einer solchen Dynamik, und die kanadische Regierung unterzeichnete sofort ein Abkommen mit den Gewerkschaften, um dieses Überbleibsel eines gemeinsamen Kampfes vorzeitig zu beenden und so jede Möglichkeit einer Vereinigung zu verhindern.
Auch während der Bewegung in Frankreich kam es zu internationalen Solidaritätsbekundungen. Wie wir in unserem Flugblatt vom April 2023 schrieben[5]: "Die Proletarier beginnen, sich über die Grenzen hinweg die Hände zu reichen, wie wir beim Streik der Beschäftigten einer belgischen Raffinerie in Solidarität mit den Beschäftigten in Frankreich oder beim Streik des 'Mobilier national' in Frankreich vor dem (verschobenen) Besuch Charles‘ III. in Versailles in Solidarität mit den englischen Arbeiterinnen und Arbeitern, die seit Wochen für Lohnerhöhungen streiken, gesehen haben". Durch diese noch in den Kinderschuhen steckenden Solidaritätsbekundungen begannen die Beschäftigten, sich als eine internationale Klasse zu begreifen: "Wir sitzen alle im selben Boot!"
In der Tat hat die Rückkehr der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse seit dem Sommer 2022 eine internationale Dimension, die vielleicht noch stärker ist als in den 1960er/70er/80er Jahren. Warum ist das so?
- Weil die "Globalisierung", dieses extrem engmaschige globale Wirtschaftsgeflecht, der Wirtschaftskrise eine ebenso unmittelbare globale Dimension verleiht.
- Da es keine Gebiete mehr gibt, die sich der Wirtschaftskrise "widersetzen", sind im Gegensatz zu 2008 nun auch China und Deutschland betroffen (was viel über die Schwere dieser anhaltenden offenen Krise aussagt).
- Weil das Proletariat überall mit denselben sich verschlechternden Lebensbedingungen konfrontiert ist.
- Und nicht zuletzt, weil die Verbindungen zwischen den Proletarisierten in den verschiedenen Ländern viel enger geworden sind (wirtschaftliche Zusammenarbeit über multinationale Unternehmen, intensive internationale Migration, globalisierte Informationen usw.).
In China verlangsamt sich das "Wachstum" weiter und die Arbeitslosigkeit steigt an. Offizielle Zahlen der chinesischen Regierung zeigen, dass ein Viertel der jungen Menschen arbeitslos ist! Als Reaktion darauf entwickeln sich Kämpfe: "Der Auftragsrückgang hat dazu geführt, dass Fabriken, die sehr viele Arbeiter beschäftigen, ihren Standort verlagern und Arbeiter entlassen. Streiks gegen nicht gezahlte Löhne und Demonstrationen gegen Entlassungen ohne Entschädigung haben zugenommen." Solche Streiks in einem Land, in dem die Arbeiterklasse unter dem ideologischen und repressiven Deckmantel eines sog. "Kommunismus" steht, sind besonders bezeichnend für das Ausmaß der sich zusammenbrauenden Wut. Da der wahrscheinliche Zusammenbruch des Immobiliensektors unmittelbar bevorsteht, müssen wir die möglichen Reaktionen der Arbeiterklasse im Auge behalten.
Im übrigen ist in Asien das Proletariat vor allem in Südkorea mit einem großen Generalstreik im Juli 2023 wieder in den Kampf getreten.
Diese zutiefst internationale Dimension des Klassenkampfes, diese beginnende Einsicht, dass alle streikenden Arbeiterinnen und Arbeiter für die gleichen Interessen kämpfen, unabhängig davon, auf welcher Seite der Landesgrenze sie sich befinden, stellt das genaue Gegenteil des inhärent imperialistischen Charakters des Kapitalismus dar. Vor unseren Augen entwickelt sich der Gegensatz zwischen zwei Polen: der eine besteht aus internationaler Solidarität, der andere aus zunehmend barbarischen und mörderischen Kriegen.
Allerdings ist die Arbeiterklasse noch weit davon entfernt, stark, bewusst und organisiert genug zu sein, um sich explizit gegen den Krieg oder auch nur gegen die Auswirkungen der Kriegswirtschaft zu wenden:
- In Westeuropa und Nordamerika scheinen die beiden großen Kriege, die derzeit geführt werden, die Kampffähigkeit der Arbeiterklasse vorerst nicht wesentlich zu beeinträchtigen. Die Streiks in Großbritannien begannen kurz nach Beginn des Krieges in der Ukraine, der Streik in der Automobilindustrie in den Vereinigten Staaten wurde trotz des Ausbruchs des Konflikts in Gaza fortgesetzt, und andere Streiks haben sich seitdem in Kanada, Island und Schweden entwickelt ... Aber es bleibt die Tatsache, dass es den Beschäftigten noch nicht gelungen ist, den Zusammenhang zwischen der Inflation, den Schlägen der Bourgeoisie und dem Krieg in ihren Kampf einzubeziehen – in ihren Slogans und ihren Debatten. Diese Schwierigkeit ist auf das mangelnde Selbstvertrauen der Arbeiterklasse zurückzuführen, auf ihr fehlendes Bewusstsein für die Stärke, die sie als Klasse darstellen. Sich gegen den Krieg und seine Folgen zu stellen, scheint eine viel zu große Herausforderung zu sein, überwältigend, unerreichbar. Das Knüpfen dieser Verbindung hängt von einem höheren Grad an Bewusstsein ab. Das internationale Proletariat hat angesichts des Ersten Weltkriegs drei Jahre gebraucht, um diese Verbindung herzustellen. In der Periode 1968-1989 war das Proletariat nicht in der Lage, die beiden Enden zu verbinden, was einer der Faktoren war, die seine Fähigkeit zur Entwicklung seiner Politisierung behinderten. Nach 30 Jahren des Rückzugs sollten wir also nicht erwarten, dass das Proletariat diesen grundlegenden Schritt sofort vollzieht. Es ist ein zutiefst politischer Schritt, der einen entscheidenden Bruch mit der bürgerlichen Ideologie markiert. Es ist ein Schritt, der die Einsicht voraussetzt, dass der Kapitalismus eine militärische Barbarei ist, dass der permanente Krieg nicht etwas Zufälliges ist, sondern ein Merkmal des dekadenten Kapitalismus.
- In Osteuropa hingegen hat der Krieg eine absolut katastrophale Auswirkung; es gibt keinen Widerstand – nicht einmal pazifistische Demonstrationen – gegen den Krieg. Obwohl der Konflikt bereits 500.000 Menschenleben gefordert hat (250.000 auf jeder Seite) und die jungen Menschen in Russland und der Ukraine vor der Mobilisierung fliehen, um ihre Haut zu retten, gibt es keinen kollektiven Protest. Der einzige Ausweg scheint, dass der Einzelne desertiert und untertaucht. Das Ausbleiben einer Klassenreaktion bestätigt, dass 1989 zwar ein Schlag gegen das gesamte Proletariat auf Weltebene war, die Arbeiterklasse der stalinistischen Länder aber noch härter getroffen wurden. Die extreme Schwäche der osteuropäischen Arbeiterklasse ist nur die Spitze des Eisbergs der Schwäche der Arbeiterklasse in den Ländern der gesamten ehemaligen UdSSR. Die Kriegsgefahr, die über den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens schwebt, ist teilweise durch diese tiefgreifende Schwäche des dort lebenden Proletariats bedingt.
- Was China betrifft, so ist es schwierig, genau zu beurteilen, wo die Arbeiterklasse in diesem Land in Bezug auf den Krieg steht. Wir müssen die Situation und ihre Entwicklung genau beobachten. Das Ausmaß der kommenden Wirtschaftskrise wird einen großen Einfluss auf die Dynamik des Proletariats haben. Abgesehen davon wird der Stalinismus (tot oder lebendig) wie in Osteuropa weiterhin seine Rolle gegen unsere Klasse spielen. Wenn man in der Schule total entstellte und verzerrte Ideen von Karl Marx studieren muss, kann man sich nur vor dem Marxismus ekeln.
In der Tat wird jeder Krieg – der unweigerlich ausbrechen wird – das Weltproletariat vor andere Probleme stellen. Der Krieg in der Ukraine wirft nicht die gleichen Probleme auf wie der Krieg in Gaza, der nicht die gleichen Probleme aufwirft wie der drohende Krieg um Taiwan. Der israelisch-palästinensische Konflikt zum Beispiel schafft auch in anderen und zentralen Ländern eine verkommene Situation des Hasses zwischen der jüdischen und der muslimischen Gemeinschaft, die es der Bourgeoisie ermöglicht, einen riesigen Hype der Spaltung zu erzeugen.
Im Westen wie im Osten, im Norden wie im Süden können wir dennoch erkennen, dass der Prozess der Bewusstseinsentwicklung in der Frage des Krieges im Allgemeinen sehr schwierig sein wird und es keine Garantie dafür gibt, dass es dem Proletariat gelingen wird, ihn durchzusetzen. Wie wir bereits vor 33 Jahren feststellten:
"(…) daß im Gegensatz zur Vergangenheit die Entfaltung einer nächsten revolutionären Welle nicht aus dem Krieg, sondern aus der Verschärfung der Wirtschaftskrise hervorgehen wird (…) die Mobilisierungen der Arbeiterklasse, Ausgangspunkt der großen Klassenkämpfe, werden sich aus der Reaktion auf die ökonomischen Angriffe entwickeln. Ebenso wird auf der Ebene der Bewusstseinsentwicklung die Verschärfung der Krise ein grundlegender Faktor in der Offenlegung der historischen Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise sein. Doch auf eben dieser Ebene der Bewusstseinsentwicklung wird die Frage des Krieges wiederum eine vorrangige Rolle spielen:
- indem die fundamentalen Konsequenzen dieser historischen Sackgasse aufgezeigt werden: die Zerstörung der Menschheit;
- indem der Krieg die einzige objektive Konsequenz aus der Krise, der Dekadenz und dem Zerfall darstellt, den die Arbeiterklasse jetzt schon (im Gegensatz zu den anderen Manifestationen des Zerfalls) eingrenzen kann, weil sie sich in den zentralen Ländern gegenwärtig nicht hinter den nationalistischen Fahnen mobilisieren lässt."
(Orientierungstext Militarismus und Zerfall, Internationale Revue Nr. 13, 1991).
Auch hier zeigt sich, dass die Fähigkeit des Proletariats, seine Kämpfe zu politisieren, der Schlüssel für die Zukunft sein wird.
Die Verschärfung des Zerfalls legt der Arbeiterklasse eine ganze Reihe von Hindernissen auf dem Weg zur Revolution in den Weg. Neben sozialer Zersplitterung, Krieg und Chaos wird auch der Populismus gedeihen.
Javier Milei ist zum Präsidenten Argentiniens gewählt worden. Die 23. Weltmacht sieht sich mit einem Mann an der Spitze ihres Staates konfrontiert, der behauptet, die Erde sei flach! Er hält seine Sitzungen mit einer Kettensäge in der Hand ab. Kurzum, er lässt Trump wie einen Mann der Wissenschaft aussehen. Über die Anekdote hinaus zeigt dies, wie sehr der Zerfall voranschreitet und immer größere Teile der herrschenden Klasse in ihrer Irrationalität und ihrer Fäulnis verschlingt:
- In den Vereinigten Staaten ist Trump der Favorit für die nächsten Präsidentschaftswahlen.
- In Frankreich wird zum ersten Mal die Möglichkeit einer Machtübernahme durch die extreme Rechte glaubhaft, ja sogar sehr wahrscheinlich.
- Italien wird die Regierung von Meloni angeführt.
- In den Niederlanden kam der Sieg von Geert Wilde, einem bekennenden Islamophoben und Euroskeptiker, für alle Experten überraschend.
- Auch in Deutschland ist der Populismus auf dem Vormarsch, angeheizt vor allem durch Hassreden angesichts der massiven Flüchtlingsströme.
Bislang hat all diese Fäulnis die Arbeiterklasse nicht daran gehindert, ihre Kämpfe und ihr Bewusstsein zu entwickeln. Aber wir müssen unseren Geist und unsere Augen weit offenhalten, um die Entwicklungen zu verfolgen und das Gewicht des Populismus auf das rationale Denken zu bewerten, das das Proletariat entwickeln muss, um sein revolutionäres Projekt durchzusetzen.
Dieser entscheidende Schritt in der Politisierung der Kämpfe fehlte in den 1980er Jahren. Heute muss er dem Proletariat unter den viel schwierigeren Bedingungen des Zerfalls gelingen, sonst wird der Kapitalismus die gesamte Menschheit in die Barbarei, das Chaos und letztlich in den Tod reißen.
Der siegreiche Ausgang einer Revolution ist noch möglich. Nicht nur der Zerfall schreitet voran, sondern auch die objektiven Bedingungen für eine Revolution: eine immer verheerendere Weltwirtschaftskrise, die uns zum Kampf drängt; eine immer zahlreichere, konzentriertere und international vernetzte Arbeiterklasse; eine Anhäufung von historischen Erfahrungen der Arbeiterklasse.
Während wir immer tiefer in die Dekadenz abgleiten, wird die Notwendigkeit einer Weltrevolution immer offensichtlicher. Um dies zu erreichen, müssen die gegenwärtigen Anstrengungen unserer Klasse fortgesetzt werden, insbesondere die Wiederaneignung der Lehren aus der Vergangenheit (die Kampfwellen der 1970er und 80er Jahre, die revolutionäre Welle der 1910er und 20er Jahre). Die heutige Generation, die sich erhebt, gehört zu einer ganzen Kette, die uns mit den ersten Kämpfen, den ersten Kämpfen unserer Klasse seit den 1830er Jahren verbindet.
Letztendlich werden wir auch mit der großen Lüge brechen müssen, die seit der Konterrevolution über uns hängt, nämlich dass Stalinismus = Kommunismus sei.
In der Hitze der kommenden Kämpfe, im politischen Kampf gegen die gewerkschaftliche Sabotage, gegen die raffinierten Fallen der großen Demokratien, indem wir es schaffen, in Versammlungen, in Komitees, in Zirkeln zusammenzukommen, um zu debattieren und zu entscheiden, wird unsere Klasse all diese notwendigen Lektionen lernen. Denn, wie Rosa Luxemburg in einem Brief an Mehring schrieb: "Der Sozialismus ist eben nicht ein Brot- und Butterproblem, sondern eine Kulturbewegung, eine große und mächtige Weltanschauung." (Rosa Luxemburg, Brief an Franz Mehring).
Ja, dieser Weg wird schwierig, zerklüftet und unsicher sein, aber es gibt keinen anderen Weg.
Januar 2024, Gracchus
[1] https://de.internationalism.org/content/3033/gegen-die-angriffe-der-bourgeoisie-brauchen-wir-einen-vereinten-und-massiven-kampf [29], IKSonline 06.02.2022
[2] Wie Shakespeare es in Richard III. ausdrückte
[3] Titel eines Buches des Journalisten und Revolutionärs Victor Serge
[4] Siehe: Die Beschleunigung des kapitalistischen Zerfalls wirft offen die Frage der Zerstörung der Menschheit auf [30] (Internationale Revue 2022, online 06.01.2023)
[5] Seit dem „Sommer der Wut“ 2022 haben wir 7 verschiedene Flugblätter geschrieben, von denen allein in Frankreich über 130.000 Exemplare verteilt wurden.
Die Kriege nehmen immer mehr zu und stürzen immer mehr Regionen der Welt in die schrecklichste Barbarei: Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen, Libanon, Ukraine, Gaza ... Hinter dieser wachsenden Liste von Ländern, die sich im Krieg befinden, stehen Millionen von Menschen, die sterben, hungern oder versuchen zu fliehen. Morgen könnten der Kosovo oder Taiwan an der Reihe sein.
Auch das Gangstertum schlägt zu und wütet. Im Norden Mexikos, in Venezuela und Haiti floriert der Drogen- und Prostitutionshandel, der eine unheilvolle Spur von Massenmord und Vergewaltigung hinterlässt.
Die Armut nimmt überall zu. In nicht irgendeinem Land, sondern in Großbritannien hat ein großer Teil der Bevölkerung keinen Zugang mehr zu zahnärztlicher Versorgung. In der Presse ist ein schrecklicher Ausdruck aufgetaucht, um diese Menschen zu beschreiben, deren Zahl in die Millionen geht: "die Zahnlosen".
Um es auf den Punkt zu bringen: Der Kapitalismus bedroht das Überleben der Menschheit. Wenn es der Arbeiterklasse nicht gelingt, den Kapitalismus zu stürzen, wird dieses dekadente System in Barbarei und Tod versinken. Die einzige Alternative ist die proletarische Weltrevolution. Um dies zu erreichen, muss unsere Klasse ihre Kämpfe, ihre Organisation und ihr Bewusstsein auf internationaler Ebene entwickeln.
Seit dem Sommer 2022, unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise, hat die Arbeiterklasse begonnen zu reagieren. Die Streiks, die im Großbritannien ausgebrochen sind, haben die Rückkehr des Proletariats auf das Terrain des Kampfes eingeläutet. Innerhalb von zwei Jahren fanden in Frankreich, den Vereinigten Staaten, Kanada, Schweden, Deutschland, Island, Bangladesch und weiteren Ländern Streiks statt, die von den Medien als "historisch" bezeichnet wurden. Aber das ist nur der Anfang, der erste Schritt. Die Arbeiterklasse hat noch einen sehr langen Weg zur Revolution vor sich. Es wird im Kampf lernen müssen, sich zu vereinigen und zu organisieren, die Fallen der Bourgeoisie zu erkennen, ihre "falschen Freunde" zu identifizieren: die Gewerkschaften und die Organisationen der Linken des Kapitals, die alles tun werden, um den revolutionären Prozess von "innen" zu sabotieren. Die Bourgeoisie ist eine durchtriebene machiavellistische Klasse; sie ist sogar die intelligenteste herrschende Klasse der Geschichte. Um ihre Privilegien zu bewahren, ist sie zu jedem Verbrechen, zu jeder Manipulation, zu jeder Lüge bereit. Die Arbeiterklasse wird ihren Bewusstseins- und Organisationsgrad erhöhen müssen, um diesem Gegner gewachsen zu sein. Mehr noch, sie wird ihren Bewusstseins- und Organisationsgrad auf das Niveau der neu zu errichtenden Gesellschaft anheben müssen, einer Weltgesellschaft, die mit der Zeit klassen- und grenzenlos sein wird, ohne Ausbeutung und Konkurrenz, ohne Staat. Die proletarische Revolution ist zweifelsohne der größte Schritt, den die Menschheit tun muss.
Die "Emanzipation der Arbeiterklasse [muss] durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden" (Karl Marx, Statuten der Internationalen Arbeiterassoziation, 1864).
"[…] dass die Arbeiterklasse gegen diese Gesamtgewalt der besitzenden Klassen nur als Klasse handeln kann, indem sie sich selbst als besondere politische Partei konstituiert […], dass diese Konstituierung der Arbeiterklasse als politische Partei unerlässlich ist für den Triumph der sozialen Revolution und ihres Endziels – Abschaffung der Klassen“ (Beschlüsse der Delegiertenkonferenz der Internationalen Arbeiterassoziation, abgehalten zu London vom 17. bis 23. September 1871).
Seitdem hat sich diese Formulierung durch die historische Erfahrung des Proletariats präzisiert, die gezeigt hat, dass die politische Partei die Form einer Minderheit, der Partei der Vorhut der Klasse, annehmen wird.
Die grundlegende Schwierigkeit der sozialistischen Revolution liegt in dieser komplexen und widersprüchlichen Situation: Einerseits kann die Revolution nur durch die bewusste Aktion der großen Mehrheit der Arbeiterklasse verwirklicht werden; andererseits stößt diese Verwirklichung auf die Bedingungen, die den Lohnabhängigen in der kapitalistischen Gesellschaft auferlegt werden, Bedingungen, die die Verwirklichung der historischen revolutionären Mission der Arbeiter und Arbeiterinnen ständig verhindern und zerstören. Die Kämpfe der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Bedingungen der kapitalistischen Ausbeutung können, wenn sie ihrer eigenen inneren Entwicklung überlassen werden, zu Explosionen von Aufständen führen, Reaktionen, die für eine gesellschaftliche Transformation absolut unzureichend sind. Über die Erfahrungen einzelner Kämpfe hinauszugehen, die historischen Erfahrungen des Proletariats zu sammeln, das Bewusstsein für die Ziele der Bewegung zu verteidigen und zu verbreiten, ist in erster Linie die entscheidende politische Aufgabe der revolutionären Partei. Die Partei bezieht ihre theoretische Substanz nicht aus den Zufälligkeiten und dem Partikularismus der wirtschaftlichen Lage der Arbeiterklasse, sondern aus der Bewegung der historischen Möglichkeiten und Notwendigkeiten. Nur das Eingreifen dieses Faktors ermöglicht es der Klasse, von der Revolte zur Revolution überzugehen. Die Partei ist die unverzichtbare Waffe des Proletariats für den Erfolg seiner Revolution.
Im Moment kann es diese Partei nicht geben: Die Arbeiterklasse ist zu weit von einem revolutionären Prozess entfernt, ihr Bewusstsein und ihre Fähigkeit zur Organisation sind zu schwach. Der entschlossenste und klarste Teil des Proletariats, der sich seiner allgemeinen und historischen Ziele bewusst ist, kann sich nur in Form von kleinen revolutionären Organisationen zusammenschließen.
Diese kleinen revolutionären Organisationen haben jedoch eine immense und entscheidende Rolle für die Zukunft zu spielen. Sie müssen sich auf der Grundlage der historischen Interessen des Proletariats organisieren, um der Bewegung eine klare politische Orientierung zu geben und die Entwicklung des Klassenbewusstseins aktiv zu fördern. Sie müssen auch jetzt daran arbeiten, das Fundament der zukünftigen Partei vorzubereiten. Dazu müssen sie den Wahrheitsgehalt ihrer Analysen angesichts der sich wandelnden Ereignisse ständig überprüfen, ihre Positionen diskutieren und weiterentwickeln, wesentliche Lehren aus der Geschichte der Arbeiterbewegung ziehen, gegen das Eindringen der herrschenden Ideologie kämpfen und die Kräfte und Positionen verteidigen, um die herum die künftige Partei aufgebaut werden soll.
Die Geschichte hat gezeigt, wie schwierig es ist, eine Partei aufzubauen, die ihrer Verantwortung gerecht wird, eine Aufgabe, die viele und vielfältige Anstrengungen erfordert. Sie erfordert vor allem eine größtmögliche Klarheit über die programmatischen Fragen und die Prinzipien der organisatorischen Arbeit, eine Klarheit, die sich notwendigerweise auf alle bisherigen Erfahrungen der Arbeiterbewegung und ihrer politischen Organisationen stützt.
In jeder Phase der Geschichte der Arbeiterbewegung hat sich die kommunistische Linke als beste Vertreterin dieser Klarheit hervorgetan und einen entscheidenden Beitrag für die Zukunft des Kampfes geleistet. “Es war die Linke in Gestalt der marxistischen Strömung, die die Kontinuität zwischen der Ersten und Zweiten Internationalen gegen proudhonistische, bakunistische, blanquistische und andere korporatistische Strömungen sicherstellte. Es war ebenfalls die Linke, die, indem sie den Kampf gegen die reformistische Strömung und dann gegen die "Sozialpatrioten" aufnahm, während des Krieges mit der Gründung der Kommunistischen Internationale die Kontinuität zwischen der Zweiten und Dritten Internationale sicherstellte. Und es war wieder die Linke, die "Linkskommunisten", die sich die revolutionären Errungenschaften, welche von der sozialdemokratischen und stalinistischen Konterrevolution mit Füßen getreten worden waren, wieder aneignete und weiterentwickelte.“ (Internationale Revue Nr. 50, 1987, englischsprachige Ausgabe)
Die kommunistische Weltpartei, die an der Spitze der proletarischen Revolution von morgen stehen wird, muss sich auf die Erfahrungen und das Denken all dieser linken Strömungen, auf all diese historischen Wurzeln stützen. Gerade weil die Kommunistische Linke in dieser Tradition verwurzelt ist, weil sie stets bestrebt ist, die wesentlichen Prinzipien dieser Strömungen zu respektieren, war sie angesichts der Nagelprobe des Zweiten Weltkriegs die einzige, die dem Internationalismus treu blieb.
Bereits 1920 entstehen in verschiedenen Ländern (Russland, Deutschland, Italien, Holland, Großbritannien, Belgien usw.) Gruppen der Kommunistischen Linken. Sie erreichten nicht alle das gleiche Maß an Klarheit und Kohärenz, und die meisten von ihnen waren nicht in der Lage, der schrecklichen kapitalistischen Konterrevolution zu widerstehen. Sie verschwanden als Opfer des Zusammenwirkens von stalinistischer und faschistischer Unterdrückung, Demoralisierung und Verwirrung. In den 1930er Jahren überlebten nur die kohärentesten Gruppen, und unter ihnen war die Italienische Kommunistische Linke die klarste und konsequenteste. Die Gruppe Internationalisme (Publikation der Gauche Communiste de France, 1945-52), die aus ihr hervorging, schaffte eine kritische und kohärente Synthese der weit verstreuten Arbeit der verschiedenen Gruppen der Kommunistischen Linken:
- Das Wesen der UdSSR: Es gab nichts Proletarisches oder "Sozialistisches" am russischen Staat, der keine Kontinuität mit der Oktoberrevolution von 1917 zum Ausdruck brachte, sondern im Gegenteil der Vollstrecker der Konterrevolution war. Die UdSSR war genauso kapitalistisch wie die Vereinigten Staaten oder Großbritannien, eine Karikatur (totale Verstaatlichung der Wirtschaft) der weltweiten Tendenz zum Staatskapitalismus.
- Die Dekadenz des Kapitalismus: Das in der UdSSR eingeführte System war keineswegs eine neue Produktionsweise oder eine "fortschrittlichere" Form des Kapitalismus, sondern im Gegenteil Ausdruck der historischen Dekadenz des Kapitalismus, die durch eine infernalische Kette von zwei Weltkriegen gekennzeichnet war, zwischen denen es zur tiefsten wirtschaftlichen Rezession der Geschichte kam, gefolgt von der Rückkehr der Weltwirtschaftskrise Ende der 60er Jahre, die sich seitdem nur noch verschärft hat. Für Internationalisme sind der "liberale" Kapitalismus des Westens und der extreme, staatlich kontrollierte Kapitalismus des Ostens die beiden Facetten desselben dekadenten Systems, das das Proletariat beider Seiten zerstören muss.
- "Demokratie" und "liberaler" Kapitalismus: Internationalisme war sich darüber im Klaren, dass die Alternative nicht zwischen "Demokratie" und Faschismus oder zwischen "Demokratie" und stalinistischem Totalitarismus besteht, sondern zwischen kapitalistischer Barbarei und kommunistischer Weltrevolution, d.h. zwischen dem kapitalistischen Staat, ob totalitär oder "demokratisch", und der weltweiten Macht der Arbeiterräte, die die direkte und kollektive Macht der arbeitenden Massen errichtet. Internationalisme unterstrich die Tatsache, dass der "liberale" Kapitalismus im Westen eine effizientere und subtilere Form des Staatskapitalismus war. Der Großteil der Produktion wurde in die Kriegswirtschaft gelenkt, jedoch mit größerer Flexibilität, indem der "freie" Markt durch alle möglichen Manipulationen (steuerlich, monetär, durch Kredite...) genutzt wurde.
- Die Autonomie des Proletariats, der Kampf für die kommunistische Revolution: Aus all diesen Positionen leitete Internationalisme ab, dass der Kapitalismus keine wirklichen und dauerhaften Verbesserungen der Lebensbedingungen des Proletariats mehr bieten konnte. Die Aufgabe des Proletariats sei es, für die kommunistische Revolution zu kämpfen. Die notwendigen Kämpfe des Widerstands gegen die Ausbeutung konnten nicht mehr im Kontext der Erlangung politischer und wirtschaftlicher Reformen innerhalb des Kapitalismus geführt werden (wie es zur Zeit der Zweiten Internationale der Fall war, als solche Ziele insofern gültig waren, als sie als eine notwendige historische Etappe und nicht als das endgültige Ziel des Kampfes der Arbeiterklasse verstanden wurden), sondern in der Perspektive einer revolutionären Offensive für die Zerstörung des Kapitalismus in allen Ländern und die Errichtung des Kommunismus im Weltmaßstab. Um seine eigene Perspektive durchsetzen zu können, muss das Proletariat jederzeit seine Klassenautonomie bewahren, ohne die es zum Spielball der verschiedenen konkurrierenden kapitalistischen Banden werden und der grausamsten Ausbeutung und brutalsten Unterdrückung ausgesetzt sein wird. Ebenso wird es durch die gewerkschaftlichen und parlamentarischen Formen, die es an den Kapitalismus ketten, immer wieder auf Ohnmacht, Spaltung und Niederlage reduziert. Das Proletariat muss sich, auch in seinen unmittelbaren Kämpfen, auf dem Terrain des direkten Massenkampfes, seiner Solidarität und Klasseneinheit, der unnachgiebigen Verteidigung seiner Forderungen gegen die Interessen des nationalen Kapitals behaupten.
Diese Positionen der Kommunistischen Linken sind der notwendige Ausgangspunkt für den gesamten kommenden revolutionären Prozess. Als Ausdruck des historischen Kampfes des Proletariats ist ihre Wiederaneignung durch die arbeitenden Massen die unabdingbare Voraussetzung für ihren Kampf um eine revolutionäre Lösung der hoffnungslosen Krise des Weltkapitalismus. Die künftige Weltpartei muss, wenn sie einen wirklichen Beitrag zur kommunistischen Revolution leisten will, ihr Programm und ihre Arbeit auf die Erfahrungen und das Erbe der Kommunistischen Linken stützen.
Wir greifen damit die Worte unserer Vorgänger auf: "Die historische Kontinuität zwischen der alten und der neuen Klassenpartei kann nur durch den Weg der Fraktion erreicht werden, deren historische Funktion darin besteht, eine politische Bestandsaufnahme der Erfahrungen vorzunehmen, durch marxistische Kritik die Fehler und Unzulänglichkeiten des gestrigen Programms zu sichten, aus der Erfahrung die politischen Prinzipien zu extrahieren, die das alte Programm vervollständigen und die Voraussetzung für eine fortschrittliche Position des neuen Programms sind, eine unabdingbare Voraussetzung für die Bildung der neuen Partei. So wie die Fraktion ein Ort der ideologischen Gärung ist, das Laboratorium des revolutionären Programms in der Zeit des Rückzugs, so ist sie auch das Lager, in dem die Kader geschmiedet werden, in dem das menschliche Material geformt wird, die Kämpfer der zukünftigen Partei" (L'Etincelle, Zeitung der GCF, Nr. 10, Januar 1946).
Deshalb hat die IKS als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine zusammen mit Internationalist Voice und dem Istituto Onorato Damen einen gemeinsamen Aufruf an alle Organisationen der Kommunistischen Linken gerichtet. Ausgehend vom Erbe der Zimmerwalder Konferenz wollte die IKS mit diesem Appell nicht nur das internationalistische Banner hochhalten, sondern auch ganz allgemein die historische Linie, die Prinzipien und die Arbeitsweise der Kommunistischen Linken verteidigen. Dieser Appell sollte ein Meilenstein auf dem Weg zur Revolution und zur Partei sein und ist es auch. Ein Meilenstein zur Vorbereitung auf die Zukunft.
Dieser gemeinsame Aufruf wurde vom Rest der Kommunistischen Linken abgelehnt. Die verschiedenen "Internationalen Kommunistischen Parteien" (Programma Comunista, Il Partito Comunista, Le Prolétaire/Il Comunista) haben ihn aus Sektierertum ignoriert. Die zweitwichtigste Organisation der Kommunistischen Linken, die Internationalistische Kommunistische Tendenz ICT, zog das Abenteuer der Komitees "No war but the class war" diesem Aufruf vor, weil es ihrer Meinung nach "notwendig war, über die 'Kommunistische Linke' hinauszuschauen".
Die Weigerung, mit anderen Gruppen der Kommunistischen Linken zusammenzuarbeiten, die die historischen Prinzipien dieser Strömung verteidigen, zugunsten einer Zusammenarbeit mit den Kräften des "Sumpfes" (der verworrenen Zone zwischen proletarischen Positionen und denen der Linken der Bourgeoisie) hat einen Namen: Opportunismus. Diese Politik ist besonders gefährlich, weil sie dazu führt, dass alle organisatorischen Lehren, die die Kommunistische Linke für sich in Anspruch nimmt, zunichte gemacht werden. Sie wendet sich von der Hauptverantwortung ab, die uns zukommt, nämlich den Aufbau einer zukünftigen Partei vorzubereiten, die mit dem Besten aus der Tradition der Arbeiterbewegung und dem Kampf aller ihrer aufeinander folgenden kommunistischen Linken ausgestattet ist.
Diese opportunistische Dynamik der Gruppe Internationalistische Kommunistische Tendenz ICT führt auch dazu, dass sie heute die entscheidenden Lehren aus dem Kampf der marxistischen Strömung innerhalb der Ersten Internationale gegen das tödliche Gift des politischen Parasitismus, das historisch von Bakunin repräsentiert wurde, beiseiteschiebt, um ihre Öffnung für die aktuellen parasitären Gruppen zu rechtfertigen. Schlimmer noch, sie zögert nicht mehr, offen mit einer Organisation zusammenzuarbeiten, die eine systematische Politik der Verräterei betreibt, der, wie sich großartig nennen, Internationalen Gruppe der Kommunistischen Linken (IGCL, ex-FICCI).
Der Opportunismus, der in der Vergangenheit die größte Gefahr für proletarische Organisationen darstellte, ist Ausdruck des Eindringens fremder, bürgerlicher und vor allem kleinbürgerlicher Ideologien. Er zeichnet sich durch die Neigung aus, die allgemeinen und historischen Interessen des Proletariats zugunsten von illusorischen unmittelbaren und punktuellen "Erfolgen" zu opfern. Eine der Triebkräfte des Opportunismus ist die Ungeduld, die die Sicht einer Gesellschaftsschicht zum Ausdruck bringt, die in sich selbst zur Ohnmacht verurteilt ist und im Maßstab der Geschichte keine Zukunft hat. "Der Opportunismus will den gesellschaftlichen Verhältnissen Rechnung tragen, die noch nicht ausgereift sind. Er will den 'sofortigen Erfolg'. Der Opportunismus versteht es nicht, zu warten, und deshalb kommen ihm große Ereignisse immer unerwartet", schrieb Trotzki 1905.
Der Opportunismus ist ein tödliches Gift, das ständig versucht, die Reihen der revolutionären Organisationen zu unterwandern. Um ihm zu widerstehen, müssen wir daher einen ebenso ständigen und entschlossenen Kampf dagegen führen und die Waffe der Theorie ständig schärfen:
- Nach der Pariser Kommune von 1871 erhob sich die revolutionäre Linke gegen die wachsenden Kräfte des Opportunismus, die von Lassalles Strömung verkörpert wurden, indem sie die Organisationsprinzipien der Arbeiterklasse verteidigte, vor allem durch Karl Marx' Kritik des Gothaer Programms und Friedrich Engels Anti-Dühring. Nach dem Erfurter Kongress von 1891 schrieb Engels: "Die Dinge müssen vorangetrieben werden. Wie notwendig dies ist, zeigt heute der Opportunismus, der sich in einem großen Teil der sozialdemokratischen Presse zu verbreiten beginnt. [...] Dieses Vergessen der großen wesentlichen Erwägungen vor den flüchtigen Interessen des Tages, dieser Wettlauf um flüchtige Erfolge und den Kampf, der ringsum geführt wird, ohne Rücksicht auf die späteren Folgen, dieses Aufgeben der Zukunft der Bewegung, die der Gegenwart geopfert wird, all das mag ehrliche Motive haben. Aber es ist und bleibt Opportunismus. Und der 'ehrliche' Opportunismus ist vielleicht der gefährlichste von allen".
- Um 1900 wehrte sich die revolutionäre Linke gegen den Opportunismus, der die Zweite Internationale durch die Strömung Bernsteins oder der Menschewiki weiterhin plagte, mit einem kompromisslosen und tiefgreifenden Kampf, wie er in Rosa Luxemburgs Sozialreform oder Revolution oder in Lenins Was tun? und Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück zum Ausdruck kommt. Während dieses Kampfes schrieb Lenin seinen berühmten Satz "Ohne revolutionäre Theorie kann er auch keine revolutionäre Bewegung geben", der Rest ist weniger bekannt: "Dieser Gedanke kann nicht genügend betont werden in einer Zeit, in der die zur Mode gewordene Predigt des Opportunismus sich mit der Begeisterung für die engsten Formen der praktischen Tätigkeit paart." Es war dieser Opportunismus, der den späteren Verrat der sozialdemokratischen Parteien bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs weitgehend erklärte.
- Ab den 1920er Jahren fiel die bolschewistische Partei allmählich dem Opportunismus zum Opfer, den sie anfangs so vehement bekämpft hatte. Die Isolierung der Russischen Revolution und das Erstarken der konterrevolutionären Kräfte im Innern sollten sich vor allem in diesem Opportunismus manifestieren, der sich in der Dritten Internationale ausbreitete. Aber auch dort führte ein revolutionärer linker Flügel den Kampf an. Genau hier hat unsere Strömung, die Kommunistische Linke, ihre Wurzeln. Bordiga war damals der höchste Vertreter dieses Kampfes für proletarische Organisationsprinzipien. So sagte er 1926 vor der Exekutive der Kommunistischen Internationale: "Nein, die Erfahrung zeigt, dass der Opportunismus stets unter dem Schein der Einigkeit in unsere Reihen eindringt. Es liegt in seinem Interesse, eine möglichst große Klasse zu beeinflussen, er macht seine gefährlichen Vorschläge stets hinter dem Schein der Einigkeit."[1]
Indem sich die Internationale Kommunistische Tendenz heute im Opportunismus suhlt, indem sie den aufeinanderfolgenden Kämpfen der revolutionären Linken seit Marx und Engels den Rücken kehrt, steht sie in einer langen Tradition, die immer in die Katastrophe geführt hat. Sie hat diese verhängnisvolle Politik verfolgt, weil sie sich bis heute geweigert hat, ihre ursprünglichen Fehler zu kritisieren, und sich damit selbst dazu verdammt hat, denselben opportunistischen Ansatz immer wieder zu wiederholen, nur schlimmer. Als ihre Vorgängerin, die Internationalistische Kommunistische Partei (IKP), 1943 gegründet wurde, nahm sie unkritisch Mitglieder der Minderheit der italienischen Arbeiterpartei in ihre Reihen auf:
- Mitglieder der Minderheit der Italienischen Fraktion, die an der Seite der Republikaner im Spanischen Krieg 36-38 gekämpft hatten;
- Vercesi und all jene, die während des Zweiten Weltkriegs im Brüsseler Komitee der Antifaschistischen Koalition mitgearbeitet hatten.
Um den Aufbau der zukünftigen Partei vorzubereiten, die eine unverzichtbare Waffe für den Erfolg der Revolution ist, muss der Kampf des linken Flügels gegen den Opportunismus fortgesetzt werden. Dazu dient die Veröffentlichung dieser von uns vorgestellten Artikelserie. Dies ist ein kompromissloser politischer Kampf, der innerhalb des revolutionären Lagers stattfindet. Wir rufen daher alle unsere Leserinnen und Leser auf, sich mit den historischen Wurzeln dieses Kampfes auseinanderzusetzen, sich diese Tradition und die Verteidigung proletarischer Organisationsprinzipien zu eigen zu machen und sich an dieser Vorbereitung auf die Zukunft zu beteiligen. Wir rufen auch die Internationale Kommunistische Tendenz auf, sich diesen von Rosa Luxemburg so gut dargelegten proletarischen Grundsatz zu eigen zu machen: "Der Marxismus ist eine revolutionäre Weltanschauung, die immer nach neuen Entdeckungen streben muss, die die Starrheit einmal gültiger Thesen völlig verachtet und deren lebendige Kraft am besten im intellektuellen Kampf der Selbstkritik und im Durcheinander der Geschichte bewahrt wird" (Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, eine Antikritik, 1915).
Erinnern wir uns daran, wie Lenin 1903 humorvoll auf den lächerlichen verletzten Stolz der zukünftigen Menschewiki hinwies: "Die Mentalität des Zirkelwesens und einer erstaunlichen Unreife in Parteidingen, die außerstande ist, den frischen Wind in aller Öffentlichkeit geführter Diskussionen zu ertragen, offenbarte sich hier anschaulich […] Man stelle sich bloß vor, dass in der deutschen Partei ein solcher Unsinn, ein solches Gezänk möglich wäre wie die Beschwerde über eine ‚falsche Beschuldigung des Opportunismus‘! Proletarische Organisation und Disziplin haben dort längst mit der intelligenzlerischen Waschlappigkeit Schluss gemacht […] Nur das verknöchertste Zirkelwesen mit seiner Logik: Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag’ ich dir den Schädel ein, konnte wegen einer gegen die Mehrheit der Gruppe ‚Befreiung der Arbeit‘ erhobenen ‚falschen Beschuldigung des Opportunismus‘ zu Hysterie, Gezänk und Parteispaltung führen.“[2]
Internationale Kommunistische Strömung, März 2024
[1] Amadeo Bordiga, Rede vor dem Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale, 23.02.1926, veröffentlicht unter https://www.sinistra.net/lib/bor/art/borerekkid.html#u2 [31]
[2] Wladimir I. Lenin, Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, Kapitel Die unschuldigen Opfer der falschen Beschuldigung des Opportunismus, Werke Bd. 7, S. 284/285
„Die Krise, die sich bereits seit Jahrzehnten abzeichnet, wird die schwerste der gesamten Dekadenzperiode werden, und ihre historische Bedeutung wird sogar die erste Krise dieser Epoche, die Krise, die 1929 begann, übertreffen. Nach mehr als 100 Jahren Zuspitzung kapitalistischer Dekadenz, mit einer Wirtschaft, die durch den Militärsektor verwüstet, durch die Auswirkungen der Umweltzerstörung geschwächt, in ihren Reproduktionsmechanismen durch Verschuldung und staatliche Manipulationen tiefgreifend verändert, der Pandemie zum Opfer gefallen ist und zunehmend unter allen anderen Auswirkungen der Zersetzung leidet, ist es eine Illusion zu glauben, dass es unter diesen Bedingungen eine dauerhafte Erholung der Wirtschaft geben wird.“ (Resolution zur internationalen Lage, Internationale Revue Nr. 57, 2021)
Das proletarisch-politische Milieu unterschätzt seinerseits die Tiefe der Krise: Für die verschiedenen IKPs (Internationale Kommunistische Partei), die sich im Wesentlichen auf ihre finanziellen Aspekte konzentriert, scheint die gegenwärtige Krise im Wesentlichen eine Wiederholung der Krise von 1929 zu sein. Was die IKT (Internationale Kommunistische Tendenz) betrifft, so kann sie zwar empirisch bestimmte Phänomene der Verschärfung der Krise erkennen, aber ihr ökonomistischer Ansatz, der sich ausschließlich auf den Rückgang der Profitrate stützt, verschleiert das Ausmaß des Niedergangs des kapitalistischen Systems und die Schwere der Krise. Indem sie die Krise weiterhin als die für die aufsteigende Phase des Kapitalismus typische Abfolge von Zyklen begreift, verkennt sie die Formen, die sie in der Dekadenz annimmt, und letztlich auch ihre Folgen und die sich daraus ergebenden Auswirkungen für das Proletariat. Sie meint vor allem, dass das Kapital "... Kriege als Mittel zur Fortführung des Prozesses der Akkumulation und der Erpressung des Mehrwerts, der die Grundlage seiner Existenz ist, erzeugt".[1]
Unser Bericht stützt seine Einschätzung der gegenwärtigen Schwere der Wirtschaftskrise auf die Errungenschaften des Marxismus und die Elemente seiner Entwicklung seit den späten 1960er Jahren, wie sie in verschiedenen IKS-Publikationen dargestellt sind.
Die Krise, die 1967 ausbrach und bis heute andauert, ist eine Krise der Überproduktion. Ihr Grund ist der Hauptwiderspruch des Kapitalismus von seinen Anfängen an, der zu einem endgültigen Hindernis wurde, als die Produktivkräfte ein bestimmtes Entwicklungsniveau erreichten: Die kapitalistische Produktion schafft nicht automatisch die für ihr Wachstum notwendigen Märkte. Das Kapital produziert mehr Waren, als von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen aufgenommen werden können: ein Teil der Verwertung seiner Profite, der dazu bestimmt ist, die Reproduktion des Kapitals zu erweitern (d. h. weder von der Bourgeoisie noch von der proletarischen Klasse konsumiert wird), muss außerhalb dieser Verhältnisse, auf außerkapitalistischen Märkten, realisiert werden. Historisch gesehen fand der Kapitalismus die für seine Expansion notwendigen zahlungsfähigen Absatzmärkte zunächst unter den Bauern und Handwerkern der kapitalistischen Länder und kompensierte dann seine Unfähigkeit, eigene Absatzmärkte zu schaffen, damit, dass er seinen Markt durch die Schaffung des Weltmarktes auf die ganze Welt ausdehnte.
"Der Kapitalismus entwickelte sich zunächst in einer nichtkapitalistischen Welt, worin er die für seine Entfaltung notwendigen Märkte fand. Nachdem er aber seine Produktionsverhältnisse auf die ganze Erde ausgedehnt und in einem einzigen Weltmarkt vereinigt hatte, erreichte der Kapitalismus Anfang des 20. Jahrhunderts die Schwelle zur Sättigung derselben Märkte, die im 19. Jahrhundert noch seine ungeheure Ausdehnung ermöglicht hatten. Darüber hinaus wurde durch die wachsende Schwierigkeit des Kapitals, Märkte zu finden, wo sein Mehrwert realisiert werden kann, der Druck auf die Profitrate verstärkt und ihr tendenzieller Fall bewirkt. Dieser Druck wird durch den ständigen Anstieg des konstanten, “toten” Kapitals (Produktionsmittel) zu Lasten des variablen, lebendigen Kapitals, die menschliche Arbeitskraft, ausgedrückt. Anfangs nur als Tendenz wirkend, wird der Fall der Profitrate schließlich immer spürbarer und zu einer zusätzlichen Bremse für den Akkumulationsprozess des Kapitals, also für die Funktionsweise des gesamten Systems." (Plattform der IKS[3]). "Damit wird klarer, dass die beiden von Marx aufgespürten Widersprüche sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern zwei Seiten des einen Gesamtprozesses der Wertproduktion sind. Dies macht es letztlich möglich, dass die 'zwei' Krisentheorien zu einer einzigen werden".[4]
Auf einer unmittelbareren Ebene beendete die offene Krise Ende der 1960er Jahre zwei Jahrzehnte der Prosperität, die auf der Wiederaufnahme der Ausbeutung der außerkapitalistischen Märkte (die sich während und zwischen den beiden Weltkriegen verlangsamt hatte) und auf der Modernisierung des Produktionsapparats (fordistische Methoden, Einführung der Informationstechnologie usw.) beruhte. Die Rückkehr der Krise öffnete erneut den Weg zu der historischen Alternative eines Weltkriegs oder einer allgemeinen Klassenkonfrontation, die zu einer proletarischen Revolution führt.
Angesichts des Wiederaufflammens der Krise in den 1970er Jahren hielt die Organisation an drei Kriterien fest, um die Schwere der Krise zu belegen: die Entwicklung des Staatskapitalismus, die zunehmende Sackgasse der Überproduktion und die Vorbereitung des Krieges durch die Entwicklung der Kriegswirtschaft.
2.1. Die Entwicklung des Staatskapitalismus
Als Ausdruck des Widerspruchs zwischen der globalen Vergesellschaftung und der nationalen Basis der gesellschaftlichen Verhältnisse der kapitalistischen Produktion spiegelt die weltweite Tendenz zur Stärkung des kapitalistischen Staates in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens im Grunde die endgültige Untauglichkeit der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse für die von den Produktivkräften erreichte Entwicklung wider. Der Staat ist die einzige Kraft, die in der Lage ist:
- die Widersprüche innerhalb der herrschenden Klasse einzudämmen, um die für die Verteidigung des nationalen Kapitals notwendige Einheit zu erzwingen;
- den Betrug am Wertgesetz auf nationaler Ebene zu organisieren und voll zu entfalten, um seinen Anwendungsbereich zu bestimmen und so den Zerfall der nationalen Wirtschaft angesichts der unüberwindbaren Widersprüche des Kapitalismus zu verlangsamen;
- die Wirtschaft in den Dienst des Krieges zu stellen und das nationale Kapital im Hinblick auf die Vorbereitung des imperialistischen Krieges zu organisieren;
- die Stärkung des inneren Zusammenhalts einer Gesellschaft, die durch den zunehmenden Zerfall ihrer wirtschaftlichen Grundlagen von der Auflösung bedroht ist, durch ihre repressiven Kräfte und eine immer stärkere Bürokratie; die Aufrechterhaltung einer sozialen Struktur, die immer weniger in der Lage ist, die menschlichen Beziehungen automatisch zu regeln (Beziehungen, die immer weniger akzeptiert werden und die vom Standpunkt des Überlebens der Gesellschaft aus gesehen immer absurder werden) durch allgegenwärtige Gewalt.
2.2. Die wachsende Sackgasse der Überproduktion
Im Kapitalismus gibt es keine Lösung für die Überproduktion. Alle Maßnahmen, die zur Abmilderung ihrer Auswirkungen ergriffen werden, sind zum Scheitern verurteilt, und der Kapitalismus ist ständig mit diesem unüberwindbaren Grundwiderspruch konfrontiert. Im Grunde kann dieser Widerspruch nur durch die Abschaffung von Lohnarbeit und Ausbeutung beseitigt werden. Die Bourgeoisie kann allenfalls versuchen, die Gewalt der Krise zu mildern, indem sie sie abbremst.
"Die gegenwärtige Situation zeigt deutlich, was die IKS immer über das Wesen der Krise gesagt hat: dass wir es mit einer allgemeinen Krise der Überproduktion zu tun haben, die in den kapitalistischen Metropolen die Form einer Überproduktion von Waren, Kapital und Arbeitskraft annimmt." [5]
Diese Sackgasse drückt sich in der Entwicklung der Inflation aus, die sich aus der Last der unproduktiven Kosten speist, die durch die Notwendigkeit, ein Minimum an Zusammenhalt in einer zerfallenden Gesellschaft aufrechtzuerhalten (Staatskapitalismus), und durch die Sterilisierung des Kapitals durch die Kriegswirtschaft und die Rüstungsproduktion mobilisiert werden. Die Inflation, die auch durch die Umgehung des Wertgesetzes (Verschuldung, Geldschöpfung usw.) angeheizt wird, ist ein ständiges Merkmal der Dekadenz des Kapitalismus und gewinnt in Kriegszeiten noch mehr an Bedeutung. Eine enorme Masse an Kapital, das nicht mehr gewinnbringend angelegt werden kann, nährt dann die Spekulation.
"Die gesamte Periode der Dekadenz zeigt, dass die Überproduktionskrise eine Verlagerung der Produktion in die Kriegswirtschaft impliziert. Dies als "wirtschaftliche Lösung" zu betrachten, und sei es auch nur eine vorübergehende, wäre ein schwerer Fehler. Die Wurzeln dieses Fehlers liegen in der Unfähigkeit zu verstehen, dass die Überproduktionskrise ein Prozess der Selbstzerstörung ist. Der Militarismus ist der Ausdruck dieses Prozesses der Selbstzerstörung, der das Ergebnis der Revolte des Produktionsprozesses gegen die Produktionsverhältnisse ist." [6]
2.3. Kriegsvorbereitung und Aufbau der Kriegswirtschaft
"In der dekadenten Phase des Imperialismus kann der Kapitalismus die Gegensätze seines Systems nur auf ein Ergebnis ausrichten: Krieg. Die Menschheit kann einer solchen Alternative nur durch eine proletarische Revolution entkommen." [7] In dem Maße, wie sich die Wirtschaftskrise verlängert und vertieft, verschärft sie die inter-imperialistischen Antagonismen. Für das Kapital gibt es nur eine "Lösung" für seine historische Krise: den imperialistischen Krieg. Je schneller sich also die verschiedenen Besänftigungsmaßnahmen als nutzlos erweisen, desto gezielter muss sich jeder imperialistische Block auf eine gewaltsame Neuaufteilung des Weltmarktes vorbereiten.
2.4. Verschärfung der Ausbeutung des Proletariats
Der Aufbau einer Kriegswirtschaft impliziert die Entwicklung einer Produktion (insbesondere der Rüstungsproduktion), die nicht zur Steigerung des Kapitalwerts eingesetzt werden kann, d. h. nicht in die Produktion neuer Waren integriert werden kann. In diesem Sinne impliziert sie eine Sterilisierung des Kapitals, die durch eine Erhöhung des extrahierten Mehrwerts kompensiert werden muss. Diese Kompensation wird im Wesentlichen durch eine Verschärfung der Ausbeutung der Arbeiterklasse erreicht.
Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre geriet der Kapitalismus in eine Sackgasse: Im Westblock schlug sich die Überproduktion von Gütern im Rückgang der Industrieproduktion nieder, die vor allem in den USA ihren Höhepunkt erreichte, wo Rezessionen die Stahlproduktion auf das Niveau von 1967 zurückwarfen. Im Ostblock herrschte Kapitalmangel, die Industrieproduktion war unterentwickelt und rückständig, und das Kapital war auf dem Weltmarkt überhaupt nicht wettbewerbsfähig.[8] Der Mythos, dass die so genannten "sozialistischen" Länder der allgemeinen Krise des Systems entkommen könnten, brach in den 1980er Jahren endgültig zusammen. Viele der ärmsten Länder der so genannten "Dritten Welt" waren bereits Mitte der 1970er Jahre zusammengebrochen.
Im amerikanischen Block beschleunigte die Wirtschaftskrise den Trend zur Stärkung des Staatskapitalismus. Keynesianische Konjunkturmaßnahmen in der Größenordnung der Krise von 1929 waren nicht nur nicht mehr durchführbar, sondern auch die nachfolgenden Konjunkturmaßnahmen scheiterten. Eine Rezession folgte auf die andere und wurde immer tiefer.
Jeder Block verstärkte seine Vorbereitungen für einen dritten Welt-Holocaust, insbesondere durch eine beträchtliche Erhöhung der Rüstungsausgaben zur Unterstützung des imperialistischen Wettbewerbs. Die Kriegsvorbereitungen wurden auch im Hinblick auf die politische Stärkung der Blöcke im Hinblick auf eine imperialistische Konfrontation (aber auch auf eine Konfrontation mit der Arbeiterklasse) intensiviert.
Aber für das Kapital "haben die Rüstungsaufträge zwar die imperialistische Vorherrschaft der USA gestärkt, aber die amerikanische Industrie nicht gerettet. Ganz im Gegenteil. Zwischen 1980 und 1987 ist der Anteil der drei wichtigsten Industriesektoren – Werkzeugmaschinen, Automobile und Computertechnik – am Weltmarkt von 12,7 auf 9 %, von 11,5 auf 9,4 % bzw. von 31 auf 22 % zurückgegangen. Die Rüstungsproduktion reproduziert weder Arbeitskraft noch neue Maschinen. Sie stellt eine Vernichtung von Kapital und Reichtum dar, eine unproduktive Lücke, die die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft beeinträchtigt. Die beiden nach Jalta entstandenen Blockführer haben erlebt, wie ihre Volkswirtschaften weniger wettbewerbsfähig wurden als die ihrer Verbündeten. Dies ist das Ergebnis der Ausgaben, die sie für die Stärkung ihrer militärischen Macht aufwenden mussten, die die Garantie für ihre Position als imperialistische Führer und in letzter Instanz auch für ihre wirtschaftliche Stärke ist".[9]
Zu Beginn der 1980er Jahre, als sich die beiden grundlegenden und antagonistischen Klassen der Gesellschaft gegenüberstanden, ohne dass es ihnen gelang, ihre eigene entschiedene Antwort durchzusetzen, verschwanden die Widersprüche und Erscheinungsformen des moribunden Kapitalismus nicht mit der Zeit. Vielmehr wurden sie aufrechterhalten, akkumuliert und vertieft und gipfelten in der Phase des allgemeinen Zerfalls des kapitalistischen Systems, die ein Dreivierteljahrhundert der Agonie einer von der Geschichte verdammten Produktionsweise abschließt und krönt.
Der Ausbruch des Zerfalls führte zu einem noch nie dagewesenen Phänomen: dem Zusammenbruch eines ganzen Blocks außerhalb der Bedingungen eines Weltkriegs oder einer proletarischen Revolution.
"Dieser Zusammenbruch ist im Wesentlichen eine der Konsequenzen aus der Weltkrise des Kapitalismus; wir sollten allerdings auch nicht versäumen, in unseren Analysen die Besonderheiten der stalinistischen Regimes zu berücksichtigen, die das Ergebnis der historischen Umstände ihres Entstehens waren (Thesen zur ökonomischen und politischen Krise in der UdSSR und den osteuropäischen Ländern, Internationale Revue, Nr. 12). Jedoch kann man diesen historisch beispiellosen Zustand des Zusammenbruchs eines ganzen imperialistischen Blocks von innen heraus, in Abwesenheit einer Revolution oder eines Weltkrieges, nur verstehen, wenn man dieses andere, noch nicht dagewesene Element in der Analyse berücksichtigt, das der Eintritt der Gesellschaft in eine Zerfallsphase bildet. Die extreme Zentralisierung und vollständige Verstaatlichung der Wirtschaft, die Verschmelzung zwischen wirtschaftlichem und politischem Apparat, die permanenten und großformatigen Tricksereien mit dem Wertgesetz, die Mobilisierung aller ökonomischen Ressourcen für den militärischen Bereich, all diese für die stalinistischen Regime typischen Merkmale waren zwar dem Kontext eines imperialistischen Krieges (dieses Regime ist gestärkt aus dem Zweiten Weltkrieg, als Sieger, hervorgegangen) angepasst, aber sie stießen brutal und radikal auf ihre Grenzen, als die Bourgeoisie jahrelang mit der Zuspitzung der Wirtschaftskrise konfrontiert war, ohne diese wie in der Vergangenheit in eben diesen imperialistischen Krieg enden zu lassen." (Der Zerfall: Die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus[10])
"Nach jahrzehntelanger staatskapitalistischer Politik unter der Peitsche der imperialistischen Blöcke stellt der gegenwärtige Prozess der Auflösung der Bündnisse, die den Planeten bisher aufgeteilt haben, in gewisser Weise einen Sieg des Marktes dar, eine brutale Anpassung der imperialistischen Rivalitäten an die wirtschaftlichen Realitäten. Er symbolisiert die Unfähigkeit der staatskapitalistischen Maßnahmen, die unerbittlichen Gesetze des kapitalistischen Marktes nach außen zu unterbrechen. Dieses Scheitern, das weit über die Grenzen des ehemaligen russischen Blocks hinausgeht, ist Ausdruck der Unfähigkeit der Weltbourgeoisie, mit der chronischen Krise der Überproduktion, mit der katastrophalen Krise des Kapitals fertig zu werden. Sie zeigt die zunehmende Unwirksamkeit der statistischen Maßnahmen, die seit Jahrzehnten immer massiver und im Maßstab der Blöcke eingesetzt werden und die seit den 30er Jahren als Allheilmittel für die unüberwindbaren Widersprüche des Kapitalismus, wie sie in seinem Markt zum Ausdruck kommen, präsentiert wurden." [11]
"Die mangelnde Perspektive (außer der Flickschusterei, um die Wirtschaft zu stützen), in der sie sich als Klasse mobilisiert, und die Tatsache, daß die Arbeiterklasse noch keine Bedrohung für ihr Überleben darstellt, bewirkt in der herrschenden Klasse und insbesondere in ihrem politischen Apparat eine wachsende Tendenz zur Disziplinlosigkeit und zum Rette-wer-sich-kann. Dieses Phänomen erklärt den Zusammenbruch des Stalinismus und des gesamten imperialistischen Ostblocks." (Der Zerfall: Die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus[12]) Die IKS erkannte, dass das westliche Modell des Staatskapitalismus, das das Privatkapital in eine staatliche Struktur einbindet und unter seine Kontrolle stellt, weitaus effizienter, flexibler, geeigneter, mit einem ausgeprägteren Verantwortungsbewusstsein für die Verwaltung der nationalen Wirtschaft ausgestattet, einlullender, weil verhüllter ist und vor allem eine Wirtschaft und einen Markt kontrolliert, die weitaus mächtiger sind als die der osteuropäischen Länder. Wir haben aber auch darauf hingewiesen, dass der Bankrott des Ostblocks, nach dem der "Dritten Welt", den zukünftigen Bankrott des Kapitalismus in seinen am weitesten entwickelten Gebieten ankündigt. "Die allgemeinen Absetzbewegungen innerhalb des Staatsapparats, das Entgleiten der Kontrolle über die eigene politische Strategie wie in der UdSSR und ihren Satelliten heute sind in Wirklichkeit (aufgrund der Besonderheiten der stalinistischen Regimes) nur die Karikatur eines viel allgemeineren Phänomens, das die gesamte Weltbourgeoisie betrifft, ein Phänomen, das typisch für die Zerfallsphase ist." (Der Zerfall: Die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus[13])
In der Zeit danach bestätigte sich auch, dass weite Teile der Welt, wie z. B. Afrika, auf dem Weltmarkt wirtschaftlich marginalisiert waren. Obwohl die Aussicht auf einen dritten Weltkrieg in weite Ferne rückte, ging der Militarismus unvermindert weiter, und die Verwüstungen des Krieges stürzten immer größere Gebiete ins Chaos – auf direkte Veranlassung der Großmächte, allen voran der USA mit ihren katastrophalen Interventionen im Irak (1991 und 2003) und in Afghanistan (2001).
Im chaotischen Kontext dieser neuen historischen Situation des Zerfalls und in einer kapitalistischen Welt, die durch die Auswirkungen ihrer Dekadenz tiefgreifend verändert wurde, bot das Verschwinden der Blöcke jedoch eine Gelegenheit, die insbesondere von den Großmächten unter der Führung der USA (als einzige verbliebene Supermacht in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht) genutzt wurde, um das Überleben des kapitalistischen Systems zu verlängern.
Die durch die Globalisierung unternommenen Versuche, die Auswirkungen des Widerspruchs des Kapitalismus zwischen dem sozialen und globalen Charakter der Produktion und dem privaten Charakter der Aneignung des Mehrwerts durch konkurrierende kapitalistische Nationen zu begrenzen, basierten im Wesentlichen auf den folgenden Faktoren:
- Die bessere Ausbeutung bereits bestehender Märkte durch das Verschwinden ihrer Konkurrenten, die von der Krise, die dem Zusammenbruch der Ostblockländer zugrunde lag, hinweggefegt wurden, auch wenn diese Märkte weit davon entfernt waren, das Eldorado zu sein, als das sie damals von den bürgerlichen Kampagnen dargestellt wurden.
- Die Ausbeutung der verbliebenen außerkapitalistischen Märkte in einer Welt, in der das Verschwinden der Blöcke den Wegfall der wichtigsten Hindernisse zu ihnen bedeutete, solange sie unter der Vormundschaft des Feindes standen. Allerdings sind nicht alle Märkte notwendigerweise zahlungsfähig, d. h. in der Lage, die zum Verkauf stehenden Waren zu bezahlen.
- Staatliches Handeln. Es ist nicht mehr so, dass der Blockführer im Namen der notwendigen Einheit des Blocks die von den einzelnen nationalen Hauptstädten zu ergreifenden Maßnahmen vorschreibt. Aber die wirtschaftliche und politische Macht der USA ermöglicht es ihnen nach wie vor, jeden Staat zu erpressen, damit er die neuen Spielregeln akzeptiert, andernfalls wird ihm der für das Überleben in der kapitalistischen Arena notwendige finanzielle Sauerstoff entzogen. Die Staaten waren die wichtigsten Instrumente zur Organisation der Globalisierung und spielten eine entscheidende Rolle bei der Festlegung von Vorschriften, die eine maximale Rentabilität begünstigen, bei der Festlegung einer attraktiven Steuerpolitik usw.
- Die Ausweitung des Betrugs am Wertgesetz auf die ganze Welt durch die Verallgemeinerung der Maßnahmen und Mechanismen, die unter der Ägide der USA im Rahmen des westlichen Blocks im letzten Jahrzehnt seines Bestehens entwickelt worden waren. Damit sollten – mittels einer künstlich durch Schulden finanzierten Nachfrage – die Folgen der Knappheit an Märkten bekämpft werden, die sich unweigerlich auf die Rentabilität des Kapitals auswirken.
Die neue internationale Organisation von Produktion und Handel, die von der führenden Weltmacht durchgesetzt wurde, nahm im Wesentlichen zwei Formen an: den freien Kapitalverkehr und die freie Verfügbarkeit der Arbeitskraft. Diese beiden Faktoren stehen in engem Zusammenhang mit dem Kampf gegen das Sinken der Profitrate im Kontext eines Mangels an zahlungsfähigen Märkten.
Es ist dieses Gesetz, das die Erklärung für den Kapitalexport liefert, der als eines der spezifischen Merkmale des dekadenten Kapitalismus erscheint: "Der Kapitalexport, sagt Marx, wird nicht durch die Unmöglichkeit verursacht, es im Inland einzusetzen, sondern durch die Möglichkeit, es im Ausland zu einer höheren Profitrate unterzubringen. Lenin bestätigt diese Idee (in seinem Buch Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus), indem er sagt, dass die Notwendigkeit, Kapital zu exportieren, aus der übermäßigen Reife des Kapitalismus in bestimmten Ländern resultiert, in denen „vorteilhafte“ Investitionen seltener werden." (Bilan[14]) Gleichzeitig hatte dies den Effekt, den industriellen Apparat der zentralen Länder zu zerstören, sobald die Möglichkeit bestand, ihn zu profitableren Bedingungen in andere Teile der Welt zu verlagern.
Auch der Produktivitätswettlauf, der darauf abzielt, den tendenziellen Fall der Profitrate durch die Masse des erzielten Profits zu kompensieren, verschärfte sich.
Die Frage der "Ware Arbeitskraft" (die lebendige Arbeitskraft, aus deren Ausbeutung der Kapitalismus seinen Mehrwert zieht) hat eine zentrale Rolle gespielt. Das Verschwinden der Blöcke ermöglichte die Suche nach verfügbarer Arbeitskraft, die profitabler ausgebeutet werden konnte, und begünstigte auch die Ausdehnung der kapitalistischen Klassenverhältnisse auf Bereiche, die bisher außerhalb des kapitalistischen Produktionsfeldes lagen. Infolge der Proletarisierung riesiger Massen von Kleinproduzenten, die von ihren Produktionsmitteln getrennt wurden, stieg die Zahl der Lohnabhängigen weltweit auf insgesamt 1,9 Milliarden Arbeiter und Angestellte im Jahr 1980 und überstieg im Jahr 1995 3 Milliarden. Die immer drastischere Ausbeutung der Arbeitskraft des Proletariats (durch direkte oder indirekte Senkung der Löhne, Intensivierung der Arbeit oder Verlängerung der Arbeitszeit) in allen Teilen der Welt in Konkurrenz zueinander sowie die Integration neuer Arbeitskräfte in die kapitalistischen gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse ermöglichten es den Großmächten, eine Zeit lang eine erweiterte Akkumulation durch Kapitalexport in Zonen der Verlagerung besser zu erreichen. Befreit von dem imperialistischen Korsett, das die Welt in Blöcke teilte, dehnte der Kapitalismus seine Produktionsverhältnisse auf den gesamten Planeten aus, bis hin zu seinen endgültigen Grenzen.
Andererseits haben der Kampf ums Überleben und das ungezügelte Streben nach maximalem Profit auch zu einer noch verheerenderen und zerstörerischen Ausbeutung der anderen Grundlage des kapitalistischen Reichtums geführt: der Natur. Die Ausplünderung und der Raubbau an der Natur, die durch die Notwendigkeit, die Rohstoffpreise zu senken, verursacht wurden, haben ein solches Ausmaß erreicht, dass die "große Beschleunigung" der Umweltzerstörung, die der dekadente Kapitalismus vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg hervorgerufen hat, sich seit dem Eintritt des Kapitalismus in seine letzte Phase des Zerfalls noch mehr verschärft hat.
Die herrschende Klasse hat buchstäblich jedes Mittel zur Profitmaximierung eingesetzt:
1. Die Mechanismen des Finanzkapitals, die eine Schlüsselposition einnehmen, haben die Logik, einen immer größeren Teil des weltweit geschaffenen Reichtums an die herrschende Klasse in den zentralen Ländern abfließen zu lassen.
2. Die Politik der Ausplünderung, insbesondere der anderen produzierenden Klassen (Kleinbürgertum), ein typisches Phänomen der Dekadenz, nimmt eine neue Ausdehnung an und wird allgemeiner: "die Notwendigkeit für das Finanzkapital, einen Extraprofit anzustreben, und zwar nicht durch die Produktion von Mehrwert, sondern durch die Beraubung sowohl der Verbraucher (durch Erhöhung der Warenpreise über ihren Wert) als auch der kleinen Produzenten (durch Aneignung eines Teils ihrer Arbeit). Der Extraprofit stellt somit eine indirekte Steuer dar, die auf die Warenzirkulation erhoben wird. Der Kapitalismus neigt dazu, im absoluten Sinne des Wortes parasitär zu werden" (Bilan[15]).
3. Die von offiziellen Institutionen und Regierungen vorangetriebene Spekulation nimmt einen neuen Umfang und eine neue Bedeutung an: Sie heizt die Verschuldung auf allen Ebenen der Wirtschaft an, indem sie immer üppigere Mengen an fiktivem Kapital in Umlauf bringt (2007 erreichte es das Zehnfache des weltweiten BIP[16]), das in "Blasen" gefangen ist, die "glücklicherweise" die Staatsschulden aus den Büchern verschwinden zu lassen, die Inflation verschleiern und ihre negativen Auswirkungen verwischen.
4. Die Gangsterisierung der Wirtschaft: Betrug, illegaler Handel, Schmuggel, Fälschungen usw. nehmen mit der Korruption von Teilen des Staates oder sogar auf Veranlassung von Staaten (wie Serbien, Nordkorea usw.) ein noch nie dagewesenes Ausmaß an.
Der Aufstieg Chinas wurde durch die beispiellosen Umstände des Verschwindens der imperialistischen Blöcke ermöglicht. "Die Phasen des Aufstiegs Chinas sind untrennbar mit der Geschichte der imperialistischen Blöcke und ihrem Verschwinden 1989 verbunden: Die Position der Kommunistischen Linken über die ‘Unmöglichkeit der Entstehung neuer Industrienationen’ in der Zeit der Dekadenz und die Verurteilung von Staaten, ‘die ihren industriellen Rückstand vor dem Ersten Weltkrieg nicht wettmachen konnten, dazu, ‘in totaler Unterentwicklung zu stagnieren oder in eine chronische Abhängigkeit gegenüber den hochindustrialisierten Ländern zu geraten’, galt im Zeitraum von 1914 bis 1989. Es war die Zwangsjacke der Organisation der Welt in zwei gegnerische imperialistische Blöcke (andauernd zwischen 1945 und 1989) zur Vorbereitung auf den Weltkrieg, die jede größere Umwälzung der Hierarchie zwischen den Mächten verhinderte. Chinas Aufstieg begann mit der amerikanischen Hilfe, die seine imperialistische Annäherung an die Vereinigten Staaten im Jahr 1972 belohnte. Er setzte sich nach dem Verschwinden der Blöcke im Jahr 1989 entschlossen fort. China scheint der Hauptnutznießer der ‘Globalisierung’ zu sein, nachdem es 2001 der WTO beigetreten und zur Werkstatt der Welt geworden war; dorthin wurden immer mehr Produktionsstandorte aus dem Westen verlagert und seitens des Westens immer mehr investiert, so dass es schließlich zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt wurde. Es bedurfte der beispiellosen Umstände der historischen Epoche des Zerfalls, um China den Aufstieg zu ermöglichen; ohne diese Umstände des Zerfalls wäre es nicht dazu gekommen.
Chinas Macht trägt alle Stigmata der Endphase des Kapitalismus: Sie basiert auf der extremen Ausbeutung der proletarischen Arbeitskräfte, auf der ungezügelten Entwicklung der Kriegswirtschaft durch das nationale Programm der ‘militärisch-zivilen Fusion’ und wird von der katastrophalen Zerstörung der Umwelt begleitet, während der ‘nationale Zusammenhalt’ auf der polizeilichen Kontrolle der Massen beruht, die der politischen Bildung der Einheitspartei und in Xinjiang und Tibet brutaler physischer Unterdrückung unterworfen sind. Tatsächlich ist China nur eine riesige Metastase des generalisierten militärischen Krebsgeschwürs des gesamten kapitalistischen Systems: Seine Rüstungsproduktion entwickelt sich in rasendem Tempo, sein Verteidigungshaushalt hat sich in 20 Jahren versechsfacht und liegt seit 2010 an zweiter Stelle der Welt." [17]
Der Zeitraum 1989-2008 war durch eine Reihe von Schwierigkeiten gekennzeichnet, die zeigen, dass die Globalisierung trotz der spektakulären Umwälzungen in der Hierarchie zwischen den Wirtschaftsmächten die Tendenz zur Überproduktion und zur Stagnation des Kapitalismus nicht beseitigt hat, was sich in folgenden Punkten zeigt:
- ein schwächeres Wachstum;
- die Unterbeschäftigung oder die Vernichtung riesiger Mengen an Produktionsgrundlagen;
- die enorme Menge an überschüssigen Arbeitskräften (schätzungsweise ein Drittel bis die Hälfte aller Erwerbstätigen weltweit), die arbeitslos oder unterbeschäftigt sind und die der Kapitalismus nicht in die Produktion integrieren kann und die dazu verdammt sind, im informellen Sektor oder am Rande der kapitalistischen Wirtschaft zu schmachten;
- die große Instabilität und die Unfähigkeit, Krisen abzuwenden: die Krise des europäischen Währungssystems 1993, die mexikanische Krise 1994, die asiatische Krise 1997-98, die Krise in Argentinien 2001, das Platzen der Internetblase 2002 ... – mit dem ständigen und wachsenden Risiko der Implosion des internationalen Finanzsystems (auch wenn es dem Kapitalismus zwei Jahrzehnte lang gelungen ist, Krisen auf bestimmte Teile der Welt zu beschränken, um den Preis exorbitant steigender Kosten und Schäden für das System);
- die Tatsache, dass das Krebsgeschwür des Militarismus nicht verschwunden ist, das weiterhin den Lebenssaft aus der globalen Produktion saugt, wobei die wichtigsten Teile der Welt auf unterschiedliche Weise betroffen sind: Die europäischen Länder konnten ihre Militärausgaben im Vergleich zu 1989 etwa halbieren; China hat sich in diesem Zeitraum nicht an Konflikten beteiligt und seine wirtschaftliche Stärke für seinen Aufstieg zur zweitgrößten Weltmacht aufgespart; aber die langen und kostspieligen Kriege (Irak, Afghanistan usw.), die der US-Imperialismus geführt hat, haben dazu beigetragen, seine Wirtschaft im Vergleich zu seinen Rivalen zu schwächen.
In Wirklichkeit war diese Periode nur ein Zwischenspiel, das es dem kapitalistischen System ermöglichte, seine Wirtschaft einigermaßen vor den Auswirkungen des Zerfalls zu bewahren.
So führten die Verschlechterung des realen Zustands der Wirtschaft und die Rache des Wertgesetzes zur Finanzkrise von 2008, der schwersten Finanzkrise seit der Großen Depression von 1929. Sie begann in den USA, dem Herzstück des globalen Kapitalismus, und breitete sich auf den Rest der Welt aus. Die Schwächung der Globalisierungsdynamik, die Verringerung des Spielraums für eine breit angelegte Akkumulation, die Last der Militärausgaben und der imperialistischen Interventionen sowie die Sackgasse der Überproduktion führen dazu, dass die gigantische Ponzi-Pyramide des internationalen Finanzgerüsts, das auf der unbegrenzten allgemeinen Verschuldung des US-Staates beruht, implodiert und zerbricht, wobei die Spekulation als Ersatz für das globale Wachstum dient, um das kapitalistische System am Leben zu erhalten.
Die gigantischen, historisch beispiellosen Rettungspläne der Zentralbanken der Großmächte und die Rolle Chinas als treibender Kraft konnten zwar das System stabilisieren und die Liquiditätskrise eindämmen, aber die Wirtschaft nicht wirklich wiederbeleben. Das Jahr 2008 markiert einen Wendepunkt in der Geschichte des Versinkens der kapitalistischen Produktionsweise in ihrer historischen Krise.
Diese heftige Explosion der Krise, die mehr als zwei Jahrzehnte der Überausbeutung im Weltmaßstab abschließt und keinen Einflussbereich in der Welt, keinen Markt – auch nicht die außerkapitalistischen Märkte – ausspart, bestätigt, dass das kapitalistische System nun noch stärker in einer Situation gefangen ist, in der die universelle Hegemonie der Klassenverhältnisse eine erweiterte Reproduktion zunehmend erschwert. Nachdem sich der Weltmarkt konstituiert hatte und unter den Mächten aufgeteilt war, bedeutete die bloße Tendenz zu diesem Ziel den Eintritt des Kapitalismus in seine Dekadenzphase, wie Rosa Luxemburg hervorhob:
"So breitet sich der Kapitalismus dank der Wechselwirkung mit nichtkapitalistischen Gesellschaftskreisen und Ländern immer mehr aus, indem er auf ihre Kosten akkumuliert, aber sie zugleich Schritt für Schritt zernagt und verdrängt, um an ihre Stelle selbst zu treten. Je mehr kapitalistische Länder aber an dieser Jagd nach Akkumulationsgebieten teilnehmen und je spärlicher die nichtkapitalistischen Gebiete werden, die der Weltexpansion des Kapitals noch offenstehen, um so erbitterter wird der Konkurrenzkampf des Kapitals um jene Akkumulationsgebiete, umso mehr verwandeln sich seine Streifzüge auf der Weltbühne in eine Kette ökonomischer und politischer Katastrophen: Weltkrisen, Kriege, Revolutionen.
Durch diesen Prozeß bereitet das Kapital aber in zweifacher Weise seinen Untergang vor. Indem es einerseits durch seine Ausdehnung auf Kosten aller nichtkapitalistischen Produktionsformen auf den Moment lossteuert, wo die gesamte Menschheit in der Tat lediglich aus Kapitalisten und Lohnproletariern besteht und wo deshalb eben weitere Ausdehnung, also Akkumulation, unmöglich wird. Zugleich verschärft es, im Maße wie diese Tendenz sich durchsetzt, die Klassengegensätze, die internationale wirtschaftliche und politische Anarchie derart, daß es, lange bevor die letzte Konsequenz der ökonomischen Entwicklung – die absolute, ungeteilte Herrschaft der kapitalistischen Produktion in der Welt – erreicht ist, die Rebellion des internationalen Proletariats gegen das Bestehen der Kapitalsherrschaft herbeiführen muss." (Rosa Luxemburg, Antikritik[18])
Viele der bereits in der Dekadenz vorhandenen Phänomene nehmen in der Periode des Zerfalls eine qualitativ neue Dimension an, insbesondere wegen der Unmöglichkeit des Kapitals, eine Perspektive zu bieten: "Die Bourgeoisie ist völlig unfähig, die verschiedenen Bestandteile der Gesellschaft, auch innerhalb der herrschenden Klasse, für ein anderes gemeinsames Ziel zu mobilisieren als den schrittweisen, aber zum Scheitern verurteilten Widerstand gegen die fortschreitende Krise (…). Deshalb unterscheidet sich die heutige Situation der offenen Krise radikal von ihrer Vorgängerin in den 1930er Jahren." (Der Zerfall: Die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus[19])
Solange jede Nation von der Globalisierung profitieren konnte, ist es dem Kapitalismus im Allgemeinen gelungen, die kapitalistische Wirtschaft vor den Auswirkungen des Zerfalls zu bewahren. Insbesondere wurde das "Jeder für sich" eingedämmt und das Recht des Stärkeren stillschweigend geduldet. Ganz anders war die Situation nach 2008, als sich die "Chancen" der Globalisierung schlossen: Die noch offensichtlichere Unfähigkeit der herrschenden Klasse, die Krise ihrer Produktionsweise zu überwinden, führte zu einer Explosion des "Jeder für sich", sowohl in den Beziehungen zwischen den Nationen (mit der schrittweisen Rückkehr des Protektionismus und der einseitigen Infragestellung durch die beiden Hauptmächte des Multilateralismus und die Institutionen der Globalisierung) als auch innerhalb jeder Nation.
In den 2020er Jahren haben die Auswirkungen des Zerfalls ein neues Ausmaß und eine neue Bedeutung erlangt, die für die kapitalistische Wirtschaft äußerst zerstörerisch sind. Den Anfang machte die globale Pandemie von Covid-19, ein reines Produkt des Zerfalls, das die Weltwirtschaft zum Stillstand brachte und massive staatliche Interventionen und eine steigende Verschuldung erforderte. Auf die Pandemie folgte 2022 die Rückkehr des Krieges nach Europa in der Ukraine, dessen Schockwellen die kapitalistische Welt weiterhin erschüttern. Die durch die Pandemie ausgelöste Entwicklung eines noch nie dagewesenen Alleingangs und die Abkehr von jeglicher Form der Zusammenarbeit zwischen den Nationen untergraben das gesamte kapitalistische System und stehen damit im Widerspruch zu den Lehren, die aus der Krise von 1929 hinsichtlich der Notwendigkeit einer relativen Zusammenarbeit zwischen den großen Nationen gezogen wurden.
Die Auswirkungen des Zerfalls beschleunigen sich nicht nur, sie kehren auch wie ein Bumerang zurück, um sich am stärksten im Herzen des Kapitalismus zu manifestieren, da sich die kombinierten Auswirkungen der Wirtschaftskrise, der ökologischen/klimatischen Krise und des imperialistischen Krieges akkumulieren, interagieren und ihre Auswirkungen vervielfachen, um eine verheerende Spirale mit unabsehbaren Folgen für den Kapitalismus zu erzeugen, die die kapitalistische Wirtschaft und ihre Produktionsinfrastruktur immer stärker trifft und destabilisiert. Während jeder einzelne Faktor, der diesen "Strudel" des Zerfalls antreibt, den Zusammenbruch von Staaten bewirken kann, übersteigt seine kombinierte Wirkung bei weitem die Summe der einzelnen Faktoren.
Die globale Störung des Wasserkreislaufs ist ein typisches Beispiel dafür. Als Folge der globalen Erwärmung, die dem kapitalistischen System zuzuschreiben ist, sind extreme und langanhaltende Dürren die Ursache von Megabränden; sie führen zur Versteppung ganzer Landstriche auf dem Globus, machen sie unbewohnbar und führen häufig zu Kriegen. Sie zwingen die Bevölkerung zur Migration; sie waren eine der Ursachen für den Zusammenbruch der arabischen Staaten im Nahen Osten nach 2010[20]. In den Vereinigten Staaten, China und Europa sind die Produktivität und sogar die Landwirtschaft ins Wanken geraten. Extreme Regenfälle und Überschwemmungen ruinieren ganze Regionen oder sogar Staaten (Pakistan), zerstören lebenswichtige Infrastrukturen und bringen die industrielle Produktion zum Erliegen. Der Anstieg des Meeresspiegels bedroht 10 % der Weltbevölkerung sowie Ballungsräume und industrielle Infrastrukturen in den Küstenregionen zentraler Länder. Der Zugang zu Wasser wird zu einer entscheidenden strategischen Frage, die zu Spannungen und Konflikten zwischen Staaten um die Kontrolle des Wassers führt.
Wie die Entfesselung des Militarismus in der Ukraine zeigt, ist der Krieg (als bewusste Entscheidung der herrschenden Klasse) der entscheidende Beschleuniger von Chaos und Wirtschaftskrise, der zu den verschiedenen Faktoren des "Strudel-Effekts" gehört: zunehmende Hungersnöte weltweit, Unterbrechung der Versorgungsketten, Engpässe, Zerstörung der ukrainischen Wirtschaft, Umweltzerstörung usw.
Der Zerfall wirkt sich auch auf die Art und Weise und in dem Maß aus, wie die herrschende Klasse versucht, mit der Sackgasse in ihrem System umzugehen.
Der Ausbruch des Krieges in der Ukraine stellt eine "epochale Veränderung" für den Kapitalismus und die zentralen Länder dar. Der Krieg mit seinem zunehmend irrationalen Charakter, bei dem jede Seite sich selbst ruiniert und schwächt, ist nicht mehr nur eine ferne Aussicht. Er rückt immer näher an die Zentren des Weltkapitalismus heran und betrifft die meisten Großmächte. Er hat weiterhin tiefgreifende negative Auswirkungen auf die Weltwirtschaftslage und stört alle Beziehungen zwischen den kapitalistischen Nationen.
Während sich das Chaos in seinem Gefolge weiter ausbreitet (mit dem Konflikt zwischen Israel und der Hamas), bereiten sich alle Staaten auf einen Krieg "hoher Intensität" vor: Jedes nationale Kapital reorganisiert seine Volkswirtschaft, um seine Militärindustrie zu stärken und seine strategische Unabhängigkeit zu gewährleisten. Die Militärausgaben steigen überall rasant an und erreichen oder übertreffen sogar den Anteil des nationalen Reichtums, der auf dem Höhepunkt der Blockkonfrontation für die Rüstung aufgewendet wurde.
Die allgemeine Verschärfung der imperialistischen Spannungen, und innerhalb derselben des großen Konfliktes zwischen China und den USA, hat tiefgreifende Auswirkungen auf die wirtschaftliche Stabilität des kapitalistischen Systems. Infolge des Bestrebens der USA, die industrielle Macht Chinas zu torpedieren (die die Grundlage des Aufstiegs der militärischen Macht Chinas und seines Strebens nach globaler Expansion bildet) und ihre Verbündeten in die Abkopplung der westlichen Volkswirtschaften von China durch die Förderung des "Friend-shoring" einzubeziehen, entwickelt sich eine Tendenz zur Fragmentierung des Weltmarktes. Die wirtschaftlichen Entscheidungen der Großmächte werden zunehmend von strategischen Überlegungen bestimmt, die den imperialistischen Bruchstellen folgen und zu erheblichen Störungen des weltweiten Angebots und der Nachfrage führen.
Die Mechanismen des Staatskapitalismus und seine Effizienz neigen zu Stagnation. Die Schwere der kapitalistischen Sackgasse und die Notwendigkeit, eine Kriegswirtschaft aufzubauen, schüren die Konfrontationen innerhalb jeder nationalen Bourgeoisie, während die Auswirkungen des Zerfalls auf die Bourgeoisie und die Gesellschaft in der Tendenz zum Ausdruck kommen, dass die herrschende Klasse die Kontrolle über ihr politisches Spiel verliert. Die Tendenz zu Instabilität und politischem Chaos innerhalb der herrschenden Klasse, wie sie in der amerikanischen und britischen Bourgeoisie zu beobachten ist, beeinträchtigt die Kohärenz, die langfristige Vision und die Kontinuität der Verteidigung der globalen Interessen des nationalen Kapitals. Die Machtübernahme durch unverantwortliche populistische Gruppierungen (mit für ihr nationales Kapital unrealistischen Programmen) schwächt die Wirtschaft und die Maßnahmen, die der Kapitalismus seit 1945 ergriffen hat, um einen unkontrollierten Ausbruch der Wirtschaftskrise zu verhindern.
Wenn die westliche Form des Staatskapitalismus ihren stalinistischen Rivalen überleben konnte, dann so, wie ein Organismus mit einer stärkeren Konstitution dieselbe Krankheit länger übersteht. Auch wenn sich die Bourgeoisie immer noch auf "verantwortungsbewusstere" Fraktionen mit größerem Staatsverständnis stützen kann, zeigt der Kapitalismus heute ähnliche Tendenzen wie jene, die den Untergang des stalinistischen Staatskapitalismus verursachten. Im Falle des chinesischen Staatskapitalismus, der trotz der Vermischung seiner Wirtschaft mit dem Privatsektor durch stalinistische Rückständigkeit gekennzeichnet und von Spannungen innerhalb der herrschenden Klasse geprägt ist, ist die Versteifung des Staatsapparats ein Zeichen der Schwäche und ein Anzeichen für zukünftige Instabilität.
Die Verschuldung, das wichtigste Mittel zur Linderung der historischen Krise des Kapitalismus, verliert nicht nur an Wirksamkeit, sondern die Last der Verschuldung verurteilt den Kapitalismus zu immer verheerenderen Erschütterungen. Indem sie die Möglichkeit, die Gesetze des Kapitalismus zu überlisten, immer mehr einschränkt, verringert sie den Handlungsspielraum jedes Kapitals zur Unterstützung und Wiederbelebung der nationalen Wirtschaft. Die Rolle des "Zahlers der letzten Instanz", die die Regierungen seit 2008 übernommen haben, schwächt die Währungen, während der Schuldendienst die Investitionsmöglichkeiten der Regierungen stark einschränkt.
Das Bild, das das kapitalistische System zeichnet, bestätigt die Vorhersagen von Rosa Luxemburg. Der Kapitalismus wird keinen rein wirtschaftlichen Zusammenbruch erleben, sondern in Chaos und Konvulsionen versinken:
- Das fast völlige Fehlen außerkapitalistischer Märkte verändert nun die Bedingungen, unter denen die wichtigsten kapitalistischen Staaten eine erweiterte Akkumulation erreichen müssen. Als Bedingung für ihr eigenes Überleben kann dies zunehmend nur auf direktem Wege auf Kosten der gleichrangigen Konkurrenten erreicht werden, indem deren Wirtschaft geschwächt wird. Die Vorhersage des IKS aus den 1970er Jahren, dass die kapitalistische Welt nur überleben kann, wenn sie sich auf eine kleine Anzahl von Mächten reduziert, die noch in der Lage sind, ein Minimum an Akkumulation zu erreichen, wird immer mehr zur Realität.
- Die Sackgasse der Überproduktion in Verbindung mit der der kapitalistischen Produktion innewohnenden Anarchie und der zunehmenden Zerstörung der Ökosysteme führt zu immer mehr Engpässen oder Störungen (Medikamente, Landwirtschaft usw.), weil nicht genug Profit für deren Produktion erwirtschaftet werden kann.
- Ein Ausdruck dieser Sackgasse ist die durch die Wiederkehr des Krieges ausgelöste Inflation, die die Wirtschaft destabilisiert und ihr die nötige langfristige Perspektive raubt.
- Die verzweifelte Suche nach neuen Standorten für die Verlagerung von Kapital (z. B. in Afrika, im Nahen Osten) und die Ausbeutung billigerer Arbeitskräfte stößt auf die höllischen Bedingungen des Chaos und der Unterentwicklung; ein Hindernis für die westlichen Mächte wie für das chinesische Seidenstraßenprojekt, das vor dem Kollaps steht.
- Auch Indien bietet keine tragfähige langfristige Alternative, die eine ähnliche Rolle spielen könnte wie China in den 1990er und 2000er Jahren; die Umstände, die das "Wunder des Aufstiegs Chinas" ermöglichten, sind nicht mehr gegeben, und eine solche Perspektive ist heute verschlossen.
- Die enormen Kosten für die Bewältigung der ökologischen Krise und die Dekarbonisierung der Wirtschaft übersteigen bei weitem die Fähigkeit des Kapitals, die erforderlichen Investitionen zu tätigen. Viele Ökoprojekte werden einfach aufgegeben, weil die Kreditkosten ihre Rentabilität zunichtemachen, sowohl in Europa als auch in den USA.
- Trotz der beträchtlichen Verlangsamung der Entwicklung der Produktivkräfte ist der Kapitalismus immer noch in der Lage, einige Fortschritte zu machen, zum Beispiel in der Medizin, der Biotechnologie, der künstlichen Intelligenz usw. Aber diese Fortschritte, die durch den Gebrauch, den das Kapital von ihnen macht, zutiefst pervertiert sind, wenden sich gegen die Arbeiterklasse und die Menschheit. Abgesehen von der Gefahr, dass Tausende von Arbeitsplätzen vernichtet werden, ohne dass die Arbeitskräfte anderswo Arbeit finden, wird die Künstliche Intelligenz von den Regierungen als Instrument zur Kontrolle der Bevölkerung oder zur Destabilisierung ihrer imperialistischen Konkurrenten und vor allem als Kriegswaffe und Zerstörungswerkzeug betrachtet (Israel beispielsweise, das sich rühmt, den ersten "KI-Krieg" zu führen, sieht in ihr den "Schlüssel zum modernen Überleben"). Einige ihrer Entwickler haben davor gewarnt, dass die KI ein Risiko für die Auslöschung der Menschheit darstellt, das mit anderen Risiken wie Pandemien und Atomkrieg vergleichbar ist.
- Der massive Arbeitskräftemangel in vielen westlichen Ländern ist das Ergebnis der Anarchie des Kapitalismus, die sowohl Überkapazitäten als auch Engpässe hervorruft, aber auch der Tendenz zur demografischen Krise, zum Zusammenbruch der Reproduktion der Bevölkerung, von welcher Krise die westlichen Länder und China betroffen sind. Die Überalterung der Bevölkerung in den am weitesten entwickelten Ländern führt zu einem Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, so dass jedes Land auf Einwanderung angewiesen ist. Der massive Arbeitskräftemangel spiegelt auch die zunehmende Unfähigkeit der Bildungssysteme wider, dem Markt ausreichend ausgebildete Arbeitskräfte für die in der Produktion erforderlichen technischen Fertigkeiten zur Verfügung zu stellen, während viele Sektoren aufgrund der herrschenden Ausbeutungs- und Entlohnungsbedingungen verlassen werden.
Der 25. Kongress der IKS 2023 hat die Folgen dieser historischen Situation für die großen Nationen klar benannt:
"Nicht nur, dass die Fähigkeit der wichtigsten kapitalistischen Mächte zur Zusammenarbeit, um die Auswirkungen der Wirtschaftskrise einzudämmen, mehr oder weniger verschwunden ist, sondern die USA haben angesichts der Verschlechterung ihrer Wirtschaft und der Verschärfung der globalen Krise und um ihre Position als führende Weltmacht zu bewahren, zunehmend bewusst versucht, ihre Konkurrenten zu schwächen. Dies ist ein offener Bruch mit einem großen Teil der Regeln, die sich die Staaten seit der Krise von 1929 gegeben haben. Er öffnet den Weg in eine Ungewissheit, die mehr und mehr von Chaos und unvorhersehbaren Folgen beherrscht wird.
In der Überzeugung, dass die Wahrung ihrer Führungsposition gegenüber dem Aufstieg Chinas in hohem Maße von ihrer Wirtschaftsmacht abhängt, die durch den Krieg politisch und militärisch gestärkt wurde, gehen die USA auch auf wirtschaftlicher Ebene gegen ihre Rivalen in die Offensive. Diese Offensive geht in mehrere Richtungen. Die USA sind der große Gewinner des gegen Russland geführten ‘Gaskriegs’ zum Nachteil der europäischen Staaten, die gezwungen sind, die russischen Gasimporte einzustellen. Nachdem die USA dank der unter Obama eingeleiteten langfristigen Energiepolitik die Selbstversorgung mit Öl und Gas erreicht haben, hat der Krieg die Vormachtstellung der USA im strategischen Bereich der Energie bestätigt. Die USA haben ihre Rivalen auf dieser Ebene in die Defensive gedrängt: Europa musste sich mit seiner Abhängigkeit von amerikanischem Flüssigerdgas abfinden. China, das in hohem Maße von importierten Kohlenwasserstoffen abhängig ist, wurde dadurch geschwächt, dass die USA nun in der Lage sind, Chinas Versorgungswege zu kontrollieren. Die USA verfügen nun über eine noch nie dagewesene Fähigkeit, auf dieser Ebene Druck auf den Rest der Welt auszuüben.
Die verschiedenen geldpolitischen, finanziellen und industriellen Initiativen (von Trumps Konjunkturprogrammen bis hin zu Bidens massiven Subventionen für Produkte ‘Made in the USA’, dem Inflation Reduction Act, usw.) haben die ‘Widerstandsfähigkeit’ der US-Wirtschaft erhöht, was Kapitalinvestitionen und Industrieverlagerungen auf amerikanisches Territorium anlockt. Die USA begrenzen die Auswirkungen der derzeitigen weltweiten Konjunkturabschwächung auf ihre Wirtschaft und schieben die schlimmsten Auswirkungen von Inflation und Rezession auf den Rest der Welt ab.
Um ihren entscheidenden technologischen Vorsprung zu sichern, streben die USA außerdem die Verlagerung strategischer Technologien (Halbleiter) in die USA bzw. die internationale Kontrolle über diese Technologien an, von denen sie China ausschließen wollen, während sie gleichzeitig mit Sanktionen gegen jeden Konkurrenten um ihr Monopol drohen.
Das Bestreben der USA, ihre wirtschaftliche Macht zu erhalten, hat zur Folge, dass das kapitalistische System insgesamt geschwächt wird. Der Ausschluss Russlands vom internationalen Handel, die Offensive gegen China und die Abkopplung der beiden Volkswirtschaften, kurzum der erklärte Wille der USA, die Weltwirtschaftsbeziehungen zu ihren Gunsten umzugestalten, markiert einen Wendepunkt: Die USA erweisen sich als Faktor der Destabilisierung des Weltkapitalismus und der Ausweitung des Chaos auf wirtschaftlicher Ebene.
Europa wurde durch den Krieg, der es seiner wichtigsten Stärke, nämlich seiner Stabilität, beraubt hat, besonders hart getroffen. Das Kapital Europas leidet unter der beispiellosen Destabilisierung seines ‘Wirtschaftsmodells’ und läuft Gefahr, infolge des Drucks des ‘Gaskriegs’ und des amerikanischen Protektionismus in einen Prozess der Deindustrialisierung und der Rückverlagerung von Produktionsstätten in den amerikanischen oder asiatischen Raum zu geraten.
Vor allem in Deutschland konzentrieren sich alle Widersprüche dieser beispiellosen Situation explosionsartig. Das Ende der russischen Gaslieferungen bringt Deutschland in eine Situation wirtschaftlicher und strategischer Fragilität, die seinen Wettbewerbsvorteil und seine gesamte Industrie bedroht. Das Ende des Multilateralismus, von dem das deutsche Kapital mehr als jede andere Nation profitiert hat (und der es auch von der Last der Militärausgaben befreit hat), wirkt sich direkter auf seine vom Export abhängige Wirtschaftskraft aus. Es läuft auch Gefahr, bei der Energieversorgung von den USA abhängig zu werden, während letztere ihre ‘Verbündeten’ dazu drängen, sich dem wirtschaftlichen/strategischen Krieg gegen China anzuschließen und auf ihre chinesischen Märkte zu verzichten. Da China ein so wichtiger Absatzmarkt für das deutsche Kapital ist, stellt dies Deutschland vor ein großes Dilemma, das von anderen europäischen Mächten in einer Zeit geteilt wird, in der die EU selbst von der Tendenz ihrer Mitgliedstaaten bedroht ist, ihre nationalen Interessen über die der Union zu stellen.
China, das vor zwei Jahren noch als der große Gewinner der Covid-Krise dargestellt wurde, ist eine der charakteristischsten Ausprägungen des Strudeleffekts. Das Land, das bereits unter einer wirtschaftlichen Verlangsamung leidet, steht nun vor großen Turbulenzen.
Seit Ende 2019 lähmen die Pandemie, die wiederholten Schließungen und die Flut von Infektionen, die auf die Abkehr von der ‘Null-Covid’-Politik folgten, die chinesische Wirtschaft.
China ist in die globale Krisendynamik verwickelt, sein Finanzsystem ist durch das Platzen der Immobilienblase bedroht. Der Niedergang des russischen Partners und die Unterbrechung der ‘Seidenstraßen’ nach Europa durch bewaffnete Konflikte oder das herrschende Chaos richten erheblichen Schaden an. Der starke Druck der USA verschärft die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes weiter. Und angesichts der wirtschaftlichen, gesundheitlichen, ökologischen und sozialen Probleme stellt die angeborene Schwäche der stalinistischen Staatsstruktur ein großes Handicap dar. China ist weit davon entfernt, die Rolle einer Lokomotive der Weltwirtschaft spielen zu können, es stellt eine tickende Zeitbombe dar, deren Destabilisierung unvorhersehbare Folgen für den Weltkapitalismus hat."[21]
Russland scheint eine gewisse Widerstandsfähigkeit gegenüber den Sanktionen zu zeigen, die seine Wirtschaft ausbluten lassen sollen. Paradoxerweise konnte es von der Rückständigkeit seiner Wirtschaft profitieren (die bereits vor 1989 zu beobachten und typisch für die Dekadenz war), die vor allem auf der Gewinnung und dem Export von Rohstoffen, insbesondere von Kohlenwasserstoffen, beruht. Ebenso hat es die Mentalität des "Jeder für sich" in den Beziehungen zwischen den Nationen auszunutzen verstanden, um Rohstoffe an China oder Indien zu verkaufen und so die Auswirkungen der Sanktionen teilweise abzumildern. Dieser zerbrechliche und zeitlich begrenzte "Aktivposten" wird jedoch der schrittweisen Strangulierung seiner industriellen Kapazitäten nicht ewig standhalten können.
Viele Länder stehen am Rande des Bankrotts, können ihre Schulden aufgrund steigender Zinsen nicht mehr bedienen und sind Opfer der Kapitalflucht in die USA. Die Erweiterung der BRICS von 5 auf 11 Mitglieder (darunter Argentinien, Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate) stellt einen Versuch dar, sich von den USA zu emanzipieren und der Strangulierung ihrer Volkswirtschaften zu entkommen. Die Einführung einer gemeinsamen Währung oder die Verwendung der chinesischen Währung als Alternative zum Dollar sind aufgrund der zahlreichen Differenzen zwischen diesen Ländern, insbesondere in Bezug auf ihre Beziehungen zum chinesischen Staat, unwahrscheinlich.
Die drei großen Teile des Kapitalismus versinken in einer Stagflation, ohne Hoffnung auf eine wirkliche Erholung der kapitalistischen Wirtschaft; es besteht die Gefahr eines Abgleitens in eine Rezession, an deren Rand die EU und möglicherweise China bereits stehen, während die USA versuchen, sich auf Kosten ihrer Rivalen zu retten.
"Die kapitalistische Krise berührt die Grundfesten dieser Gesellschaft. Inflation, Prekarität, Arbeitslosigkeit, höllische Arbeitsrhythmen und Arbeitsbedingungen, die die Gesundheit der ArbeiterInnen zerstören, unbezahlbarer Wohnraum zeugen von einer unaufhaltsamen Verschlechterung des Lebens der Arbeiterklasse, und obwohl die Bourgeoisie versucht, alle erdenklichen Spaltungen zu schaffen, indem sie bestimmten Kategorien von ArbeiterInnen "privilegiertere" Bedingungen zugesteht, sehen wir im Ganzen einerseits, was möglicherweise die schwerste Krise in der Geschichte des Kapitalismus sein wird, und andererseits die konkrete Realität der absoluten Verelendung der Arbeiterklasse in den zentralen Ländern, jene Ankündigung, die Marx für die historische Perspektive des Kapitalismus gemacht hat und über die sich die Ökonomen und andere Ideologen der Bourgeoisie so sehr mokiert haben." [22]
Nach jahrzehntelangem Druck auf den Preis der Arbeitskraft ist der Anteil der Arbeit am geschaffenen Reichtum seit Ende der 1970er Jahre weltweit stetig gesunken. Die Reallöhne sind auf das Niveau von vor 1980 zurückgegangen. Ein großer Teil der Arbeiterklasse lebt heute unter der Armutsgrenze oder knapp an der Armutsgrenze.
Die Bourgeoisie rühmt sich, dass es ihr gelungen sei, die Inflation einzudämmen, aber gemessen an der Kaufkraft der Arbeiterklasse muss jede ProletarierIn viel mehr für Treibstoff, Lebensmittel und die Rückzahlung ihrer Kredite bezahlen, während ihr Lohn durch den "Fortschritt" weit unter die Inflationsrate gesenkt wurde, was bedeutet, dass die elementarsten Bedürfnisse nicht befriedigt werden können.
Die Ausbeutung des relativen Mehrwerts geht zunehmend Hand in Hand mit der Ausbeutung des absoluten Mehrwerts, die Intensivierung der Arbeit geht einher mit der Verlängerung des Arbeitstages und der Dauer der Ausbeutungszeit im Leben jeder Arbeiterin und jedes Arbeiters.
Die Ausbeutungsbedingungen tendieren sogar immer mehr dazu, die physiologischen Grenzen des Proletariats zu überschreiten, indem sie die Arbeiterinnen und Arbeiter bei der Arbeit buchstäblich umbringen.
Einige amerikanische Bundesstaaten haben versucht, die Arbeitenden zu zwingen, während Hitzewellen zu schuften, was zu einem Anstieg der Todesfälle und Unfälle führte. In Korea, wo der Tod am Arbeitsplatz ein weit verbreitetes Phänomen ist (wie im übrigen Südostasien), wurde der Wunsch des Staates, die Wochenarbeitszeit von 52 auf 69 Stunden zu erhöhen, durch die Reaktion der Klasse vereitelt.
Jedes Jahr verursachen Arbeitsunfälle ein Massaker: Offiziell werden weltweit fast zwei Millionen Arbeitskräfte getötet und 270 Millionen verletzt oder verstümmelt.
In vielen Produktionsbereichen erleiden die überlasteten Arbeitskräfte einen derart beschleunigten nervlichen und muskuloskelettalen Verschleiß, dass sie ausgemustert werden und zu den arbeitsunfähigen ProletarierInnen gehören, lange bevor das gesetzliche Rentenalter erreicht ist.
Schließlich sind Situationen, in denen die Arbeitskräfte quasi versklavt werden (insbesondere in den landwirtschaftlichen Sektoren der Industrieländer), Schuldknechtschaft oder Zwangsarbeit (z. B. im industriellen Fischereisektor in China) an der Tagesordnung, vor allem bei Wanderarbeitern.
Da sich die Krise weiter verschärfen wird, werden die wirtschaftlichen Angriffe auf die arbeitenden und arbeitslosen Klassen weitergehen.
Aber genug ist genug! In den letzten zwei Jahren hat die Arbeiterklasse begonnen, sich zu wehren und den Kampf in allen Zentren der Weltwirtschaft aufzunehmen. Diese historische Rückkehr zum Klassenkampf nach mehreren Jahrzehnten proletarischer Passivität bestätigt die Bedeutung der Krise und der Verteidigungskämpfe für die Zukunft des Kampfes der Arbeiterklasse in der marxistischen Theorie: "… die ökonomischen Attacken (Lohnsenkungen, Entlassungen, Verschärfung der Arbeitshetze, etc.) im Gegensatz zu den Auswirkungen des Zerfalls (z. B. die Umweltverschmutzung, die Drogensucht, die Unsicherheit usw.), die relativ unterschiedslos alle Gesellschaftsschichten erfassen und einen günstigen Nährboden für klassenübergreifende Kampagnen und Mystifikationen bilden (wie Ökologie, Anti-AKW-Bewegungen, antirassistische Mobilisierungen usw.), direkt aus der Krise herrühren, die ganz spezifisch das Proletariat (das heißt, die Mehrwert produzierende und auf diesem Terrain das Kapital konfrontierende Klasse) betrifft. Die Wirtschaftskrise ist im Gegensatz zum gesellschaftlichen Zerfall, der hauptsächlich den Überbau betrifft, ein Phänomen, das direkt die Infrastruktur der Gesellschaft selbst ergreift, auf denen dieser Überbau ruht. Daher stellt die Krise die ultimativen Ursachen der gesamten Barbarei bloß, unter der die Gesellschaft leidet, und ermöglicht somit der Arbeiterklasse, sich der Notwendigkeit einer radikalen Umwälzung dieses Systems bewußt zu werden, ohne zu versuchen, einige Teilaspekte zu verbessern.“[23]
IKS, Dezember 2023
[1] https://www.leftcom.org/en/articles/2009-11-24/the-fall-in-the-average-rate-of-profit-the-crisis-and-its-consequences [32] (aufgerufen im September 2024)
[2] Der Kapitalismus kann den Markt, der für den Verkauf seiner Produktion notwendig ist, nicht selber bilden, weshalb er den Überschuss immer an außerkapitalistische Märkte verkaufen musste, entweder innerhalb der von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen beherrschten Länder oder außerhalb.
[3] Im Punkt 3: Die Dekadenz des Kapitalismus
[4] Marxismus und Krisentheorien, International Review Nr. 13, 1978, Englisch
[5] Resolution zur Krise, International Review Nr. 26, 1981, Englisch
[6] Die Bedingungen für die Revolution: Die Überproduktionskrise, der Staatskapitalismus und die Kriegswirtschaft, International Review Nr. 31, 1982, Englisch
[7] Krisen und Zyklen in der Wirtschaft des sterbenden Kapitalismus – Teil 1, Bilan Nr. 10, August-September 1934
[8] Dazu: Die kapitalistische Krise im Ostblock, International Review Nr. 23, 1980, Englisch
[9] Die Krise des Staatskapitalismus: Die Weltwirtschaft versinkt im Chaos, International Review Nr. 61, 1990, Englisch
[10] Internationale Revue Nr. 13, 1991
[11] Die Krise des Staatskapitalismus: Die Weltwirtschaft versinkt im Chaos, International Review Nr. 61, 1990, Englisch
[12] Internationale Revue Nr. 13, 1991
[13] Internationale Revue Nr. 13, 1991
[14] Krisen und Zyklen in der Wirtschaft des sterbenden Kapitalismus – Teil 1, Bilan Nr. 10, August-September 1934
[15] Krisen und Zyklen in der Wirtschaft des sterbenden Kapitalismus – Teil 2, Bilan Nr. 11, Oktober-November 1934, wiederveröffentlicht in International Review Nr. 103, 2000, Englisch
[16] Laurent Carroué, Didier Collet, Claude Ruiz, La Mondialisation, Edition Bréal 2006, S. 107
[17] Resolution zur internationalen Lage (2019): imperialistische Spannungen, Leben der Bourgeoisie, Wirtschaftskrise; in Internationale Revue Nr. 56
[18] Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals oder Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben, Eine Antikritik, Gesammelte Werke Bd. 5 S. 430
[19] Internationale Revue Nr. 13, 1991
[20] Vgl. dazu: Jean-Michel Valantin, Géopolitique d‘une planète, Seuil, 2017, S. 240-249, die Kapitel: Die „Arabischen Frühlinge“: politische Krise, geophysikalische Krise; Extreme Wetterereignisse und politische Krisen; Klima, Agrarkrise und Bürgerkrieg: der Fall Syrien.
[21] Resolution des 25. Internationalen Kongresses der IKS zur internationalen Lage, Internationale Revue Nr. 59, 2023
[22] Der Kapitalismus führt zur Zerstörung der Menschheit, nur die Weltrevolution des Proletariats kann dem ein Ende setzen [33], Drittes Manifest der IKS (als PDF und online unter: Internationale Revue 2022)
[23] Der Zerfall: Die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus, Internationale Revue Nr. 13, 1991
Seit dem 7. Oktober 2023 ist der Nahe Osten erneut in eine Eskalation barbarischer Gewalt verwickelt, die jegliche Vorstellung übersteigt. Nach dem Überfall von Hunderten von Hamas-Terroristen, die so viele Menschen wie möglich auf israelischem Gebiet massakrierten und entführten, und dem Abschuss von Tausenden von Raketen aus Gaza war die Reaktion der israelischen Armee verheerend: systematische Bombardierung und Zerstörung von Bevölkerungszentren, Tod von Zehntausenden von Menschen, hauptsächlich Frauen und Kindern, und weitere Vertreibung der gesamten Bevölkerung des Gazastreifens, wobei ganze Familien gezwungen sind, auf der Straße zu schlafen. Die palästinensische Bevölkerung wird sowohl von der Hamas als auch von der israelischen Armee als Geisel gehalten, und die umliegenden arabischen Staaten (Ägypten, Jordanien) tun alles, um die vertriebenen Palästinenserinnen und Palästinenser daran zu hindern, in ihre Gebiete zu fliehen. Von der Hisbollah im Norden bis zu den Huthis am Roten Meer bedroht eine schleichende Ausweitung des Krieges die gesamte Region.
Angesichts dieses Gemetzels reichen Empörung und Wut nicht aus. Vor allem müssen wir den historischen Kontext analysieren und verstehen, der zu diesen Massakern geführt hat. Hinter den Behauptungen pro-zionistischer Demokraten über das „heilige Recht der Juden, ihren Staat zu gründen und zu verteidigen“ oder den Parolen der pro-palästinensischen Linken, die ein „freies Palästina vom Fluss bis zum Meer“ befürworten, verbirgt sich eine Mobilisierung der Bevölkerung der Region, insbesondere der Arbeiterklasse, mit dem Ziel, das Blutbad zugunsten abscheulicher imperialistischer Manöver und Konfrontationen zu vervielfachen, die seit mehr als einem Jahrhundert andauern: „Die geopolitische Landschaft des heutigen Nahen Ostens ist ohne Kenntnis der imperialistischen Manöver der letzten hundert Jahre nicht zu verstehen“ (Walter Auerbach, Zionismus und Marxismus, Intransigence Website[1], 2018).
Als der Kapitalismus in seine dekadente Phase überging, die der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verdeutlichte, verlor die Bildung neuer Nationalstaaten jegliche fortschrittliche Funktion und diente nur noch dazu, brutale ethnische Säuberungen, Massenvertreibungen von Bevölkerungsgruppen und systematische Diskriminierung von Minderheiten zu rechtfertigen. Wir müssen uns nur daran erinnern, wie es fast zeitgleich mit der Gründung des zionistischen Staates in den späten 1940er Jahren – und auch als Folge des doppelzüngigen britischen Imperialismus – zu erzwungenen Massenfluchten von Muslimen aus Indien und von Hindus aus Pakistan kam, die durch schreckliche Pogrome auf beiden Seiten ausgelöst wurden. In jüngerer Zeit führte der Zerfall Jugoslawiens zu blutigen Bürgerkriegen und Massakern. Der israelisch-palästinensische Konflikt mit seinen Massakern und Flüchtlingen ist also, obwohl er seine spezifischen Aspekte hat, kein außergewöhnliches Übel, sondern ein klassisches Produkt der Dekadenz des Kapitalismus. In diesem Zusammenhang lehnt eine internationalistische Position, die von der Kommunistischen Linken verteidigt wird, jegliche Unterstützung für einen kapitalistischen Staat oder Protostaat und die großen imperialistischen Kräfte, die sie unterstützen, ab. Heute steht die Aufhebung aller kapitalistischen Staaten auf der Tagesordnung, und zwar durch ein einziges Mittel: die internationale proletarische Revolution. Jedes andere „strategische“ oder „taktische“ Ziel ist eine Unterstützung für die mörderische Logik des imperialistischen Krieges.
Die Geschichte der Konfrontation zwischen der jüdischen und der arabischen herrschenden Klasse in Palästina zeigt, wie die „nationalen“ Bewegungen sowohl der Juden als auch der Araber, die zwar durch die Tortur der Unterdrückung und Verfolgung entstanden sind, untrennbar mit der Konfrontation rivalisierender Imperialismen verbunden sind und wie diese Bewegungen beide dazu benutzt wurden, die gemeinsamen Klasseninteressen der arabischen und jüdischen Proletarierinnen und Proletarier in den Hintergrund zu drängen, was dazu führte, dass sie sich gegenseitig für die Interessen ihrer Ausbeuter abschlachteten.
Seit dem Wechsel vom 19. zum 20. Jahrhundert, nachdem der Globus unter den europäischen Großmächten aufgeteilt worden war, nahmen die imperialistischen Konflikte eine qualitativ neue Form an, mit immer offeneren und gewalttätigeren Konfrontationen zwischen Mächten in verschiedenen Teilen der Welt: zwischen Frankreich und Italien in Nordafrika, zwischen Frankreich und Großbritannien in Ägypten und im Sudan, zwischen Großbritannien und Russland in Zentralasien, zwischen Russland und Japan im Fernen Osten, zwischen Japan und Großbritannien in China, zwischen den Vereinigten Staaten und Japan im Pazifik, zwischen Deutschland und Frankreich um Marokko usw. Von diesem Zeitpunkt an hatten verschiedene Mächte, wie Deutschland, Russland und Großbritannien, auch Teile des im Niedergang begriffenen Osmanischen Reiches im Visier.[2]
Der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg bot weder auf dem Balkan noch im Nahen Osten die Möglichkeit, eine große Industrienation zu schaffen, die auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig gewesen wäre. Im Gegenteil, der Druck der Konfrontation zwischen den bedeutenden Imperialismen führte zur Fragmentierung und zur Entstehung von embryonalen Staaten. So wie die Kleinstaaten auf dem Balkan bis heute Gegenstand imperialistischer Machenschaften sind, war und ist der asiatische Teil der Ruinen des Osmanischen Reiches, der Nahe Osten, Schauplatz permanenter imperialistischer Konflikte. Bereits während des Ersten Weltkriegs teilten Frankreich und Großbritannien die Kontrolle über die „verlassenen“ arabischen Gebiete unter sich auf (Sykes-Picot-Abkommen von 1916), wobei sie sich die Niederlage Deutschlands und den Sturz Russlands von der imperialistischen Bühne (angesichts der damaligen revolutionären Bewegung) zunutze machten. Infolgedessen erhielt Großbritannien im April 1920 vom Völkerbund ein „Mandat“ über Palästina, Transjordanien, den Iran und den Irak, während Frankreich eines über Syrien und den Libanon erhielt. Praktisch alle anhaltenden ethnisch-religiösen Konflikte, von denen wir heute in der Region hören – zwischen Juden und Arabern in Israel/Palästina, Sunniten und Schiiten im Jemen und im Irak, Christen und Muslimen im Libanon, Christen, Sunniten und Schiiten in Syrien, den Kurden im türkischen, iranischen, irakischen und syrischen Kurdistan –, lassen sich auf die Art und Weise zurückführen, wie der Nahe Osten um 1920 aufgeteilt wurde. Was Palästina betrifft, so wurde es, solange das Osmanische Reich existierte, immer als Teil Syriens betrachtet. Aber jetzt, mit dem britischen Mandat über Palästina, schufen die großen imperialistischen Mächte eine neue „Entität“, die von Syrien getrennt war. Wie all diese neuen „Entitäten“, die während der Dekadenz des Kapitalismus geschaffen wurden, war es dazu bestimmt, ein permanenter Schauplatz von Konflikten und Intrigen zwischen verschiedenen bedeutenden imperialistischen Mächten zu werden.
In keinem der arabischen Länder oder Protektorate verfügte die lokale Bourgeoisie über die Mittel, um wirtschaftlich und politisch solide Staaten aufzubauen, die frei von der Kontrolle der „Schutzmächte“ gewesen wären, und der Ruf nach „nationaler Befreiung“ war in Wirklichkeit nichts weiter als eine reaktionäre Forderung. Während Marx und Engels im 19. Jahrhundert noch bestimmte nationale Bewegungen unterstützen konnten – unter der einzigen Bedingung, dass die Bildung von Nationalstaaten das Wachstum der Arbeiterklasse beschleunigen und sie stärken könnte, damit sie als Totengräberin des Kapitalismus fungieren könnte –, zeigte die wirtschaftliche und imperialistische Realität im Nahen Osten, dass es keinen Raum mehr für die Bildung einer neuen arabischen oder palästinensischen Nation gab. Wie überall auf der Welt konnte keine nationale Fraktion des Kapitals mehr eine fortschrittliche Rolle spielen, sobald der Kapitalismus in seine Phase des Niedergangs eintrat, was die Analyse bestätigte, die Rosa Luxemburg bereits im Ersten Weltkrieg angestellt hatte: „Der Nationalstaat, nationale Einheit und die Unabhängigkeit, das war das ideologische Schild, unter dem sich die bürgerlichen Großstaaten in Mitteleuropa im vorigen Jahrhundert konstituierten. (...) Bevor der Kapitalismus zur erdumspannenden Weltwirtschaft sich auswachsen konnte, suchte er sich in den nationalen Grenzen eines Staates ein geschlossenes Gebiet zu schaffen. (...) [Die nationale Phrase] fungiert [heute] nur noch als notdürftiger Deckmantel imperialistischer Bestrebungen und als Kampfschrei imperialistischer Rivalitäten, als einziges und letztes ideologisches Mittel, womit die Volksmassen für ihre Rolle des Kanonenfutters in den imperialistischen Kriegen eingefangen werden können.“ (Die Krise der Sozialdemokratie [Junius-Broschüre])
Während des Ersten Weltkriegs hatten die beiden Mandatsmächte den unterjochten Völkern, die damals unter der Knute des Sultans von Istanbul standen, Versprechungen gemacht. Insbesondere Großbritannien hatte bei den Arabern Hoffnungen auf Unabhängigkeit und sogar auf die Bildung einer großen arabischen Nation geweckt (siehe den McMahon-Hussein-Briefwechsel von 1915-1916) und es war Großbritannien gelungen, einen Aufstand arabischer Stämme gegen die Osmanen zu entfachen (unter der gemeinsamen Führung von T. E. Lawrence, „Lawrence von Arabien“). Gleichzeitig stellte Palästina für Großbritannien eine strategische Position zwischen dem Suezkanal und dem zukünftigen britischen Mesopotamien dar, die für die Verteidigung seines Kolonialreichs, das von anderen Mächten begehrt wurde, von entscheidender Bedeutung war. Aus dieser Sicht war der britische Staat nicht abgeneigt, die aus Europa „importierte“ Kolonisierung zu unterstützen, die eine Art Kontrollmacht für die Region darstellte, nach dem Vorbild der Buren in Südafrika oder der Protestanten in Irland. Daher die Balfour-Erklärung von 1917, in der sich die britische Regierung für eine jüdische nationale Heimstätte in Palästina einsetzte („Die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“). Darüber hinaus kämpfte eine jüdische Legion, das Zion Mule Corps, während des Ersten Weltkriegs als Teil der britischen Armee im Nahen Osten. Kurz gesagt, das „perfide Albion“ (als das Britannien seinen Rivalen galt) spielte auf beiden Brettern.
Am Ende des Ersten Weltkrieges war die Situation der herrschenden Klasse Palästinas prekär. Getrennt von ihren historischen Verbindungen zu Syrien war sie noch schwächer als die arabischen Bourgeoisien in anderen Regionen. Da sie aufgrund ihrer wirtschaftlichen Rückständigkeit weder über eine bedeutende industrielle Basis noch über Finanzkapital verfügte, konnte sie sich bei der Verteidigung ihrer Interessen nur auf eine politisch-militärische Mobilisierung verlassen. Bereits 1919, auf dem ersten Palästina-Arabischen Kongress in Jerusalem, forderten palästinensische Nationalisten, Palästina als „integralen Bestandteil ... der unabhängigen arabischen Regierung von Syrien innerhalb einer arabischen Union, frei von jeglichem ausländischen Einfluss oder Schutz“[3], einzubeziehen. Palästina sollte Teil eines unabhängigen syrischen Staates sein, der von Faysal regiert werden sollte, der im März 1920 vom Syrischen Nationalrat zum verfassungsmäßigen König von Syrien-Palästina ernannt wurde: „Wir betrachten Palästina als Teil des arabischen Syrien und es war zu keinem Zeitpunkt davon getrennt. Wir sind durch nationale, religiöse, sprachliche, moralische, wirtschaftliche und geografische Grenzen verbunden.“[4] Ab 1919 wurden in ganz Palästina Demonstrationen organisiert, und im April 1920 forderten Unruhen in Jerusalem etwa zehn Tote und fast 250 Verletzte. Die nationalistische Bewegung wurde jedoch schnell von der britischen Armee in Palästina niedergeschlagen, während französische Truppen im Juli 1920 die Streitkräfte des arabischen Königreichs Syrien zerschlugen und nicht zögerten, ihre Luftwaffe zur Bombardierung der Nationalisten einzusetzen. Bereits im März 1918 wurden in Ägypten Demonstrationen ägyptischer Nationalisten, aber auch von Arbeitern und Bauern, die soziale Reformen forderten, sowohl von der britischen als auch von der ägyptischen Armee niedergeschlagen, wobei mehr als 3.000 Demonstranten getötet wurden. 1920 schlug Großbritannien eine Protestbewegung in Mossul, Irak, blutig nieder.
Zur gleichen Zeit sah sich die herrschende Klasse Palästinas, die von ihren syrischen, ägyptischen und libanesischen Pendants verachtet wurde und ihre Autonomie in einer Welt proklamierte, in der es keinen Platz mehr für einen neuen Nationalstaat gab, mit einem neuen „Rivalen“ von außen konfrontiert. Aufgrund der Unterstützung Englands für die Errichtung einer jüdischen Heimstätte in Palästina stieg die Zahl der jüdischen Einwanderer stark an, und England setzte die jüdischen Nationalisten zunächst sowohl gegen seinen Hauptkonkurrenten Frankreich als auch gegen die arabischen Nationalisten ein. Es ermutigte die Zionisten, im Völkerbund zu argumentieren, dass sie weder französischen Schutz in Palästina (als Teil von „Großsyrien“) noch internationalen Schutz, sondern britischen Schutz wollten. In Palästina selbst ermöglichten die Gelder der europäischen und amerikanischen jüdischen Bourgeoisie eine rasche Ausbreitung der Siedlungen, was zu immer gewalttätigeren Zusammenstößen mit der ursprünglichen palästinensischen Bevölkerung vor Ort führte. Zu Beginn des britischen Mandats über Palästina im Jahr 1922 waren 85.000 der 650.000 Einwohner Palästinas Juden, d. h. 12 % der Bevölkerung, gegenüber 560.000 Muslimen oder Christen. Nach einer massiven Einwanderungswelle, die mit dem zunehmenden Antisemitismus in Mitteleuropa und Russland zusammenhing – eine Folge der Niederlage der revolutionären Welle von 1917-23 in diesen Regionen – hatte sich die jüdische Bevölkerung bis 1931 mehr als verdoppelt (175.000). Zwischen 1931 und 1936 sollte sie um weitere 250.000 anwachsen, sodass sie 1939 30 % der Bevölkerung ausmachte.
Die starke Zunahme der jüdischen Einwanderung nach Palästina und die Vervielfachung der Siedlungen, die arabisches Land aufkauften, sowie die jüdischen Stadtviertel wurden von den beiden Nationalismen ausgenutzt, um die Spannungen zu verschärfen und die Konfrontation zwischen den Gemeinschaften zu fördern. Die palästinensischen BäuerInnen und ArbeiterInnen sowie die jüdischen ArbeiterInnen standen vor der falschen Alternative, sich auf die Seite der einen oder anderen Fraktion der Bourgeoisie (palästinensisch oder jüdisch) zu stellen. Dies wurde bereits 1931 in der Zeitschrift Bilan, dem Organ der Italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken, deutlich hervorgehoben: „Die Enteignung der Ländereien zu lächerlichen Preisen hat die arabischen Proletarier in eine rabenschwarze Armut gestürzt und hat sie in die Arme der arabischen Nationalisten, der Grundstückbesitzer und der aufkommenden Bourgeoisie gestoßen. Letztere profitieren offensichtlich davon und um ihre Ausbeutungspläne auszuweiten, richten die Unzufriedenheit der Fellahs und der Proletarier auf die jüdischen Arbeiter in der gleichen Weise, wie die zionistischen Kapitalisten die Unzufriedenheit der jüdischen Arbeiten gegen die Araber richten. Aus diesen Gegensätzen der jüdischen und arabischen Ausgebeuteten, können der britische Imperialismus und die arabische und jüdische herrschende Klasse nur gestärkt hervorgehen.“[5] Tatsächlich bedeutete diese falsche Alternative, dass die Arbeiterklasse ausschließlich im Interesse der Bourgeoisie in bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Gemeinschaften verwickelt wurden. In den 1920er und 1930er Jahren kam es in ganz Palästina zu antijüdischen Ausschreitungen, bei denen viele Menschen getötet und verletzt wurden: 1921 in Jaffa, dann während der „Massaker von 1929“ in Jerusalem, Hebron und Safed, bei denen vereinzelte jüdische Dörfer geplündert und niedergebrannt und oft vollständig zerstört wurden und Vergeltungsangriffe auf arabische Stadtviertel verübt wurden, bei denen 133 Juden und 116 Araber getötet wurden.
Nach diesen Unruhen spielte Großbritannien Anfang der 1930er Jahre die Befriedungskarte gegenüber den Arabern aus, indem sie die jüdischen Selbstverteidigungskräfte einschränkten. Die anhaltenden Spannungen und Provokationen zwischen den Gemeinschaften führten jedoch Ende 1936 zu einem weit verbreiteten Aufstand palästinensischer Nationalisten gegen die britischen Streitkräfte und die jüdischen Gemeinden, der mehr als drei Jahre andauerte (bis zum Ende des Winters 1939). Angesichts dieser Explosion des arabischen Aufstands verhängten die Behörden der jüdischen Gemeinde zunächst eine Politik der Nichtvergeltung und Zurückhaltung gegenüber der Haganah, der jüdischen Selbstverteidigungsmiliz, um einen Ausbruch von Gewalt zu verhindern. Doch innerhalb dieser Selbstverteidigungskräfte wurde der Ruf nach Vergeltung als Reaktion auf die zunehmende Zahl arabischer Angriffe immer lauter. Infolgedessen beschloss die Irgun, eine bewaffnete Organisation, die mit der zionistischen Rechten und der „Revisionistenpartei“ von V. Jabotinsky verbunden war, wahllose Vergeltungsangriffe gegen die Araber zu starten, die sich schließlich zu einer Terrorkampagne entwickelten, bei der Hunderte von Arabern getötet wurden. Der arabische Aufstand veranlasste die Briten auch dazu, die paramilitärischen zionistischen Streitkräfte zu stärken (Aufbau einer jüdischen Polizeitruppe und jüdischer Spezialeinheiten – die „Special Night Squads“ der Haganah und das Fosh-Kommando).
1939 spaltete sich die Irgun in zwei Gruppen, und ihr radikalster Flügel gründete die Lehi (auch bekannt als „Stern-Gruppe“ oder „Stern-Bande“), die eine Welle von Angriffen startete, die sich auch gegen die Briten richtete. Ab den 1930er Jahren tendierten arabische Aufständische dazu, in ländlichen Gebieten Guerilla-Methoden und in städtischen Gebieten terroristische Methoden wie Bombenanschläge und Attentate anzuwenden. Gruppen, oft vom Typ Dschihadisten, zerstörten Telefon- und Telegrafenleitungen und sabotierten dann die Ölpipeline Kirkuk-Haifa, wobei sie Soldaten, Mitglieder der britischen Verwaltung und Juden ermordeten. Die Briten reagierten gewaltsam, insbesondere auf arabische Terrorakte, und ergriffen Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung, wie die Zerstörung arabischer Dörfer und Stadtviertel (wie in Jaffa im August 1936).
Letztendlich scheiterte der arabische Aufstand militärisch und führte zur Auflösung der paramilitärischen arabischen Streitkräfte und zur Verhaftung oder Verbannung ihrer Anführer (darunter der Großmufti von Jerusalem, Amin al-Husseini). Bei den Kämpfen wurden mehr als 5.000 Araber, 300 Juden und 262 Briten getötet. Der Aufstand führte auch zu internen Auseinandersetzungen zwischen Fraktionen der palästinensischen Bourgeoisie, wobei die Fraktion von Amin al-Husseini die gemäßigteren Elemente angriff – die als „Verräter“ galten, weil sie nicht nationalistisch genug für den Geschmack der Rebellen waren und weil sie Land an Juden verkauften – und die arabischen Polizisten ermordete, die den Briten treu geblieben waren. Diese Aktionen lösten wiederum einen Rachezyklus aus, der zur Bildung von arabischen Dorfmilizen zur Terrorismusbekämpfung und zur Tötung von mindestens tausend Menschen führte. Anfang 1939 herrschte in der arabischen Bevölkerung ein weit verbreitetes Klima des Terrors zwischen den Stämmen, das auch nach dem Ende des Aufstands anhielt.
Obwohl die palästinensischen Araber militärisch besiegt wurden, erhielten sie von den Briten, die befürchteten, dass diese von Deutschland unterstützt werden, große politische Zugeständnisse („Weißbuch“ von 1939). Großbritannien setzte eine Obergrenze für die jüdische Einwanderung und die Übertragung von arabischem Land an Juden fest und versprach die Schaffung eines Einheitsstaates innerhalb von zehn Jahren, in dem Juden und Araber die Regierung gemeinsam führen würden. Dieser Vorschlag wurde von der jüdischen Gemeinschaft und ihren paramilitärischen Kräften abgelehnt, die daraufhin einen allgemeinen Aufstand auslösten, der durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vorübergehend zum Erliegen kam.
Da sie zu schwach waren, um unabhängig zu handeln und einen eigenen Nationalstaat zu gründen, mussten sowohl die jüdisch-zionistische Bourgeoisie als auch die palästinensisch-arabische Bourgeoisie die Unterstützung imperialistischer Sponsoren suchen, deren Einmischung die Flammen der Konfrontation nur weiter anfachte.
Angesichts der Niederschlagung der nationalistischen Bewegung für ein Großsyrien durch Großbritannien (und Frankreich) und des Zustroms jüdischer Siedler aus Europa blieb den herrschenden palästinensischen Fraktionen keine andere Wahl, als sich an andere imperialistische Mächte zu wenden, um Unterstützung gegen ihren zionistischen Rivalen zu erhalten. So suchte der Mufti von Jerusalem zunächst Unterstützung bei Mussolinis Italien, bevor er sich in den 1930er Jahren an Nazideutschland wandte, den großen Rivalen Großbritanniens. Bereits im März 1933 informierten deutsche Beamte in der Türkei die nationalsozialistischen Behörden über die Unterstützung des Muftis für ihre „Judenpolitik“. Nach dem Scheitern des arabischen Aufstands von 1936 bis 1939 und der Spaltung mit den gemäßigteren Fraktionen innerhalb der arabischen Bourgeoisie gingen die radikalsten nationalistischen Führer, darunter der Großmufti von Jerusalem, ins Exil und entschieden sich am Vorabend des Zweiten Weltkriegs für das Lager von Nazi-Deutschland. Nachdem er sich 1941 an dem von Deutschland angezettelten Aufstand im Irak gegen die Briten beteiligt hatte, floh der Mufti schließlich nach Italien und Nazideutschland, in der Hoffnung, von ihnen die Unabhängigkeit der arabischen Staaten zu erlangen.
Die Situation der jüdischen Führungsgruppen war insofern komplexer, als sich politische Differenzen zwischen den linken und den gemäßigten Fraktionen auf der einen Seite und den „revisionistischen“ Rechten auf der anderen Seite abzeichneten. Die von der Linken in Verbindung mit den Zentristen dominierte Zionistische Weltorganisation entschied sich dafür, relativ gute Beziehungen zu den Briten zu unterhalten (zumindest bis 1939) und das Ziel einer „jüdischen nationalen Heimstätte“ offiziell zu unterstützen, ohne sich zur Frage der Unabhängigkeit oder Autonomie unter dem britischen Mandat zu äußern.[6] Die irredentistische Rechte (eine Politik, die darauf abzielt, die Angehörigen einer Ethnie innerhalb der Grenzen eines Staates zusammenzuführen), vertreten durch die Revisionistische Partei und die Irgun, forderte hingegen sofort die Unabhängigkeit und distanzierte sich daher von den Briten.
In diesem Sinne unterhielt der charismatische Anführer der ultranationalistischen Rechten, Vladimir Jabotinsky, in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre freundschaftliche Beziehungen zu diktatorischen und sogar antisemitischen Regimes wie den faschistischen Behörden Polens und Italiens, um Druck auf die Briten auszuüben. 1936 startete die polnische Regierung eine groß angelegte anti-jüdische Kampagne und förderte die Auswanderung von Juden. Als Vladimir Jabotinsky 1938 offiziell erklärte, dass er „eine erhebliche Reduzierung der Zahl der Juden in Polen“[7] wünsche, beschloss er, die revisionistische Partei dazu zu verpflichten, die autoritäre polnische Regierung zu unterstützen, die kein Hehl aus ihrem heftigen Antisemitismus machte. Jabotinskys Ziel war, die Regierung davon zu überzeugen, die aus Polen vertriebenen Juden nach Palästina umzusiedeln. Die Zusammenarbeit der Revisionisten mit Polen hatte auch eine militärische Dimension: Waffen und Geld wurden an die Irgun übergeben und Offiziere der Irgun erhielten in Polen eine militärische Sabotageausbildung. Die revisionistische Fraktion hatte auch einen offen faschistischen Flügel, den zuerst die Birionim-Gruppe (eine zionistische faschistische Gruppe, die 1931 von Radikalen der revisionistischen Partei gegründet worden war) verkörperte, die offen mit Mussolini sympathisierte, und nach dessen Tod im Jahr 1943 durch einige Militante weiter existierte, wie Avraham Stern, einen Irgun-Führer in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre und Gründer von Lehi, der mit den europäischen faschistischen Regimes sympathisierte und Kontakt zu Nazi-Deutschland aufnahm. Für diesen faschistischen Flügel des Revisionismus war Deutschland zweifellos ein „Gegner“, aber der britische Besatzer war der wahre „Feind“, der die Gründung eines jüdischen Staates verhinderte!
Die unerbittliche Logik des Imperialismus im dekadenten Kapitalismus trieb die verschiedenen bürgerlichen Fraktionen in Palästina dazu, die Unterstützung ausländischer Mächte zu suchen, und konnte nur zu einer Vervielfachung imperialistischer Intrigen führen. Die zionistische Bewegung wurde erst zu einem realistischen Projekt, nachdem sie die machiavellistische Unterstützung des britischen Imperialismus erhalten hatte, der sich dadurch eine bessere Kontrolle über die Region erhoffte. Doch während Großbritannien das zionistische Projekt unterstützte, spielte es auch ein doppeltes Spiel: Es musste die sehr große arabisch-muslimische Komponente in seinem Kolonialreich berücksichtigen und hatte daher der arabischen Bevölkerung Palästinas und der übrigen Region alle möglichen Versprechungen gemacht. Die „arabische Befreiungsbewegung“ war zwar gegen die britische Unterstützung des Zionismus, aber keineswegs gegen den Imperialismus an sich, ebenso wenig wie es diejenigen zionistischen Fraktionen waren, die bereit waren, Großbritannien anzugreifen, denn alle suchten sie die Unterstützung dieser oder jener imperialistischen Macht, wie die des triumphierenden amerikanischen Imperialismus, des faschistischen Italiens oder Nazi-Deutschlands.
In einem Kapitalismus, der sich historisch im Niedergang befindet und von der wachsenden Barbarei mörderischer imperialistischer Konfrontationen beherrscht wird, war die einzige Perspektive, die von Revolutionären verteidigt werden konnte, die, die bereits 1930–1931 von Bilan verteidigt worden war: „Für den wirklichen Revolutionär gibt es natürlich keine palästinensische Frage, sondern einzig den Kampf aller Ausgebeuteten, einschließlich Araber und Juden. Dieser Kampf ist Teil des allgemeineren Kampfes aller Ausgebeuteten auf der Welt für die kommunistische Revolution.“[8] Für die arabischen und jüdischen Proletarierinnen und Proletarier Palästinas, die in den Netzen der „Befreiung der Nation“ gefangen waren, waren die 1920er und 1930er Jahre düstere Jahre des Terrors, der Massaker und der ständigen Angst vor Aufständen, Angriffen, Repressalien und Gegenrepressalien durch barbarische Banden und nationalistische Terroristen auf beiden Seiten.
Die zionistischen Organisationen hatten die Richtlinien des neuen britischen Plans („Weißbuch“ von 1939) kategorisch abgelehnt, der eine Begrenzung der jüdischen Einwanderung und die Übertragung von arabischem Land an Juden sowie die Schaffung eines Einheitsstaates innerhalb von zehn Jahren vorsah. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte dieser Widerstand zu einer direkten Konfrontation mit der Mandatsmacht. Die Briten verhängten eine Seeblockade über die palästinensischen Häfen, um zu verhindern, dass neue jüdische Einwanderer in das „Mandatsgebiet“ Palästina gelangten, und hofften, auf diese Weise die palästinensisch-arabische Bourgeoisie zu beschwichtigen. Die Zionisten ihrerseits nutzten die Sympathie und das Mitgefühl der Welt für das Schicksal der Tausenden von Flüchtlingen, die den Konzentrationslagern der Nazis entkommen waren, um Druck auf die Briten auszuüben und die Türen Palästinas für alle Einwanderer zu öffnen.
Bis 1945 hatte sich das Gleichgewicht der großen imperialistischen Mächte jedoch verschoben: Die USA hatten ihre Position auf Kosten Großbritanniens gefestigt, das durch den Krieg ausgeblutet und am Rande des Bankrotts stand und nun zum Schuldner der Amerikaner geworden war. Ab 1942 wandten sich die zionistischen Organisationen daher an die USA, um Unterstützung für ihr Projekt zur Schaffung einer jüdischen Heimstätte in Palästina zu erhalten. Im November lehnte der Jüdische Notstandrat bei seinem Treffen in New York das britische Weißbuch von 1939 ab und formulierte als Hauptforderung die Umwandlung Palästinas in einen unabhängigen zionistischen Staat, was den britischen Interessen direkt zuwiderlief. Frankreich und Großbritannien, die Hauptnutznießer des Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg, sahen sich nun vom amerikanischen und sowjetischen Imperialismus überholt, die beide darauf abzielten, den kolonialen Einfluss der ehemaligen Platzhirsche zu verringern. Die UdSSR bot allen Bewegungen, die die englische Vorherrschaft schwächen wollten, ihre Unterstützung an und lieferte über die Tschechoslowakei Waffen an die zionistischen Guerillas. Die Vereinigten Staaten, der Hauptgewinner des Zweiten Weltkriegs, waren ebenfalls daran interessiert, den Einfluss der „Stellvertreter“-Länder im Nahen Osten zu verringern, und versorgten die Zionisten mit Waffen und Geld, während diese gegen ihren britischen Kriegsverbündeten kämpften.
Als die UNO Ende November 1947 über einen Plan zur Teilung Palästinas abstimmte, kam es zu verstärkten Zusammenstößen zwischen jüdischen zionistischen Organisationen und palästinensischen Arabern, während die Briten, die eigentlich für Sicherheit sorgen sollten, einseitig ihren Rückzug organisierten und nur gelegentlich intervenierten. In allen gemischten Wohngebieten der beiden Gemeinschaften, insbesondere in Jerusalem und Haifa, wurden Angriffe, Vergeltungsmaßnahmen und Gegenmaßnahmen immer gewalttätiger. Aus vereinzelten Schießereien wurden regelrechte Gefechte, aus Angriffen auf den Verkehr wurden Hinterhalte. Es kam zu immer blutigeren Zwischenfällen, die wiederum zu Unruhen, Vergeltungsmaßnahmen und anderen Angriffen führten.
Die jüdischen bewaffneten Organisationen begannen eine neue, intensive und besonders tödliche Bombardierungskampagne gegen die Briten und auch gegen die Araber. Am 12. Dezember 1947 zündete die Irgun eine Autobombe in Jerusalem, die 20 Menschen tötete. Am 4. Januar 1948 sprengte die Lehi einen Lastwagen vor dem Rathaus von Jaffa, in dem sich das Hauptquartier einer arabischen paramilitärischen Miliz befand, in die Luft. Dabei wurden 15 Menschen getötet und 80 verletzt, 20 davon schwer. Am 18. Februar explodierte eine Bombe der Irgun auf dem Markt von Ramallah, wobei 7 Menschen getötet und 45 verletzt wurden. Am 22. Februar organisierten die Männer von Amin al-Husseini in Jerusalem mit Hilfe britischer Deserteure einen dreifachen Autobombenanschlag auf die Büros der Zeitung „The Palestine Post“, den Markt in der Ben-Yehuda-Straße und den Hinterhof der Büros der Jewish Agency, bei dem 22, 53 bzw. 13 Juden getötet und Hunderte verletzt wurden. Das Massaker an Dorfbewohnern in Deir Jassin am 9. April, das von der Irgun und der Lehi begangen wurde, forderte schließlich zwischen 100 und 120 Tote. Die Kampagne gipfelte am 17. September 1948 in Jerusalem, als ein Lehi-Kommando den Grafen Folke Bernadotte, den Vermittler der Vereinten Nationen für Palästina, und den Leiter der UN-Militärbeobachter, den französischen Oberst Sérot, ermordete. In den zwei Monaten Dezember 1947 und Januar 1948 wurden fast tausend Menschen getötet und zweitausend verwundet. Ende März wurde die Zahl in einem Bericht auf über zweitausend Tote und viertausend Verwundete geschätzt.
Ab Januar führte der Bürgerkrieg zwischen den Gemeinschaften unter den gleichgültigen Augen der Briten zu Operationen, die zunehmend militärische Züge annahmen. Bewaffnete arabische Milizen drangen in Palästina ein, um die palästinensischen Milizen zu unterstützen und jüdische Siedlungen und Dörfer anzugreifen. Die Haganah ihrerseits führte immer mehr Offensivoperationen durch, um jüdische Gebiete zu erschließen, indem sie arabische Milizen vertrieb, arabische Dörfer zerstörte, deren Bewohner massakrierte und Hunderttausende in die Flucht schlug (insgesamt flohen in diesem Zeitraum und während des arabisch-israelischen Krieges, der auf die Erklärung der Gründung des Staates Israel folgte, fast 750.000 arabische Palästinenser aus ihren Dörfern). Die arabischen Länder bereiteten sich darauf vor, in Palästina einzumarschieren, um angeblich „ihre palästinensischen Brüder zu verteidigen“.
Am 15. Mai 1948 endete das britische Mandat über Palästina und am selben Tag wurde in Tel Aviv der Staat Israel ausgerufen. Weniger als 24 Stunden später begannen Ägypten, Syrien, Jordanien und der Irak mit einer Invasion. Der Krieg, der bis März 1949 andauerte, kostete mehr als 6.000 jüdischen Soldaten und Zivilisten, 10.000 palästinensisch-arabischen Soldaten und etwa 5.000 Soldaten der verschiedenen arabischen Militärkontingente das Leben.
Wenn die palästinensische Bourgeoisie zum Zeitpunkt des Untergangs des Osmanischen Reiches am Ende des Ersten Weltkriegs nicht in der Lage war, einen eigenen Staat zu gründen, so bedeutete die Ausrufung des Staates Israel durch die Zionisten zwangsläufig, dass dieser neue Staat nur überleben konnte, indem er seine Wirtschaft in eine permanente Kriegsmaschine verwandelte, seine Nachbarn erdrosselte, die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung terrorisierte und vertrieb und vor allem die Unterstützung des Imperialismus suchte. Der neue Staat konnte sich auf die Vereinigten Staaten, die die Gründung des Staates Israel sofort unterstützten, und auf die UdSSR, die hoffte, dass die Gründung eines israelischen Staates den britischen Imperialismus in der Region schwächen würde, verlassen, da er mit der ehemaligen „Schutzmacht“ Großbritannien konfrontiert war, die sich anfangs gegen die Gründung eines israelischen Staates aussprach, um ihre Position gegenüber der arabischen Welt nicht zu gefährden.
Die palästinensischen Nationalisten, die nicht in der Lage waren, sich allein gegen den neu gegründeten Staat Israel zu behaupten, mussten ihrerseits bei den Feinden dieses Staates Unterstützung suchen, wie bei den Bourgeoisien der Nachbarländer Jordanien, Syrien, Ägypten und Irak, die ihre Truppen gegen Israel entsandten. Dieser Krieg, der erste von einem halben Dutzend Kriegen und zahlreichen Militäroperationen gegen seine Nachbarn, an denen Israel seit 1948 beteiligt war, dauerte von Mai 1948 bis März 1949. Aufgrund der schlechten Ausrüstung der arabischen Truppen gelang es den israelischen Streitkräften, die Offensive abzuwehren und die den Zionisten von den Briten vor 1947 zugewiesenen Gebiete nicht nur zu behalten, sondern sogar zu erweitern. Abgesehen von den großen Solidaritätsbekundungen spielten die arabischen Nachbarbourgeoisien vor allem ihre eigenen imperialistischen Karten aus, indem sie „ihren palästinensischen Brüdern zu Hilfe kamen“. Nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg 1948 besetzten Jordanien das Westjordanland und Ägypten den Gazastreifen. In den darauffolgenden Jahren versuchten die arabischen Staaten auch, die verschiedenen Flügel der palästinensischen Nationalisten unter ihren Einfluss zu bringen. Kurz nach seiner Gründung im Jahr 1964 begann Saudi-Arabien, die PLO zu finanzieren; Ägypten versuchte ebenfalls, die Fatah (die politische Bewegung der PLO) zu vereinnahmen; Syrien gründete die As-Saiqa-Gruppe und der Irak unterstützte die ALF (Arabische Befreiungsfront, gegründet 1969). Trotz all der schönen Reden über die „vereinte arabische Nation“ standen und stehen die Bourgeoisien der verschiedenen arabischen Länder in heftiger Konkurrenz zueinander und zögern nicht, die palästinensische Bevölkerung für ihre eigenen schmutzigen Interessen zu benutzen und wenn nötig zu opfern.
Seit seiner Gründung ist der Staat Israel nicht nur in anhaltende bilaterale Konflikte mit palästinensischen Arabern und seinen arabischen Nachbarn verstrickt, sondern diese Auseinandersetzungen waren auch immer Teil der Dynamik der globalen imperialistischen Konfrontation: Israels strategische Lage macht es zum Zentrum regionaler Spannungen im Nahen Osten, aber auch und vor allem zum Mittelpunkt globaler Konfrontationen zwischen den großen imperialistischen Haien. Seit Ende der 1950er Jahre spielte der Staat Israel die Rolle der Avantgarde für den amerikanischen Block in der Region.
Der Beginn des Kalten Krieges zwischen dem amerikanischen und dem sowjetischen Block rückte den Nahen Osten in den Mittelpunkt der imperialistischen Rivalitäten. Nach dem Koreakrieg (1950–1953), der ersten großen Konfrontation zwischen den beiden Blöcken, verschärfte sich der Kalte Krieg, und der russische Imperialismus versuchte, seinen Einfluss in den Ländern der „Dritten Welt“ zu vergrößern, was dem Nahen Osten für die Führer der beiden Blöcke zunehmend Gewicht verlieh. Obwohl die Spannungen in der Region es den Vereinigten Staaten anfangs vor allem ermöglichten, ihre europäischen Verbündeten zu „disziplinieren“, indem sie sie daran hinderten, ihre eigenen imperialistischen Interessen zu intensiv zu verfolgen (die französisch-britische Operation in Suez 1956 und der israelisch-ägyptische Krieg), entwickelte sich der Konflikt im Nahen Osten in den folgenden 35 Jahren im Kontext der Ost-West-Konfrontation, wobei Palästina ein zentraler Schauplatz der Konfrontation war.
Der Krieg von 1948 war nur der Beginn eines endlosen Zyklus militärischer Konflikte. Ab den 1950er Jahren begann angesichts der Unfähigkeit der Truppen der Arabischen Liga, ihren viel kleineren, aber besser organisierten und bewaffneten Feind zu besiegen, ein Wettrüsten, bei dem Israel massive Waffenlieferungen aus den Vereinigten Staaten erhielt und die arabischen Rivalen sich dem sowjetischen Imperialismus zuwandten, der beharrlich versuchte, in der Region Fuß zu fassen, indem er den arabischen Nationalismus unterstützte: Ägypten, Syrien und den Irak, die sich vorübergehend zur Vereinigten Arabischen Republik zusammenschlossen, wurden eine Zeit lang Verbündete des Ostblocks, der auch die palästinensischen Fedaijin und die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) unterstützte. 1968 schlossen sich die verschiedenen palästinensischen Widerstandsbewegungen unter der Ägide von Arafat zusammen. Im Kontext des Kalten Krieges, in dem Israel ein wichtiger Verbündeter der Vereinigten Staaten war, musste sich die PLO an die UdSSR und ihre „arabischen Brüder“ wenden. Hinter den großen Reden über die „Einheit des arabischen Volkes“ entsandten die arabischen Staaten jedoch erneut ihre Truppen nicht nur gegen Israel, sondern auch gegen die palästinensischen Nationalisten, die oft als Störfaktor innerhalb dieser Staaten fungieren. Sie haben nie gezögert, Massaker zu begehen, die denen der israelischen Bourgeoisie gegen palästinensische Flüchtlinge ähneln. Im Jahr 1970, während des „Schwarzen Septembers“, wurden in Jordanien 30.000 Palästinenser von der jordanischen Armee getötet. Im September 1982 drangen libanesische christliche Milizen mit stillschweigender Zustimmung Israels in zwei palästinensische Lager in Sabra und Schatila ein und massakrierten 10.000 Zivilisten.
Diese Versuche des Ostblocks, in der Region Fuß zu fassen, stießen auf starken Widerstand der Vereinigten Staaten und des Westblocks, die den Staat Israel zu einer der Speerspitzen ihrer Politik machten. Die Unterstützung der USA für Israel war bei allen Konflikten in der Region ein ständiger Begleiter, ebenso wie die finanzielle Unterstützung Deutschlands.[9] Diese Unterstützung ist nicht im Wesentlichen auf das beträchtliche Gewicht der jüdischen Wählerschaft in den Vereinigten Staaten oder auf den Einfluss der „zionistischen Lobby“ auf die amerikanischen Politiker zurückzuführen. Obwohl Israel nicht über bedeutende Ölvorkommen oder andere wichtige Rohstoffe verfügt, ist das Land aufgrund seiner geografischen Lage von großer strategischer Bedeutung für die Vereinigten Staaten. Darüber hinaus ist Israel in seiner Konfrontation mit einer Reihe lokaler imperialistischer Mächte finanziell und militärisch vollständig von den Vereinigten Staaten abhängig, sodass die imperialistischen Interessen Israels das Land dazu zwingen, den Schutz von Uncle Sam zu suchen. Kurz gesagt konnten die Vereinigten Staaten bis 1989 immer auf Israel als ihren bewaffneten Arm zählen. Darüber hinaus war die israelische Armee in einer Reihe von Kriegen mit ihren arabischen Rivalen – von denen die meisten mit russischen Waffen ausgerüstet waren – ein Testfeld für amerikanische Waffen.
Ende der 1970er und in den 1980er Jahren sicherte sich der amerikanische Block allmählich die Kontrolle über den gesamten Nahen Osten und reduzierte den Einfluss des Sowjetblocks, obwohl der Sturz des Schahs und die „Iranische Revolution“ 1979 nicht nur den amerikanischen Block einer wichtigen Bastion beraubten, sondern auch durch die Machtübernahme des rückschrittlichen Mullah-Regimes die Ausbreitung des Zerfalls des Kapitalismus einläuteten. Das Ziel dieser Offensive des amerikanischen Blocks war es, „die UdSSR vollständig zu umzingeln und sie aller Positionen zu berauben, die sie außerhalb ihres direkten Puffers innehatte. Die Priorität dieser Offensive ist die endgültige Vertreibung der UdSSR aus dem Nahen Osten, die Unterwerfung des Iran und die Wiedereingliederung dieses Landes in den amerikanischen Block als wichtiger Teil seines strategischen Systems.“[10] In dieser offensiven Politik des Westblocks spielte Israel eine Schlüsselrolle in den arabisch-israelischen Kriegen von 1967 („Sechs-Tage-Krieg“) und 1973 („Jom-Kippur-Krieg“), der Bombardierung und Zerstörung eines Kernreaktors in Bagdad im Jahr 1981 und der Invasion des Libanon im Jahr 1982. Die Militäraktion Israels führte in Kombination mit dem wirtschaftlichen und militärischen Druck des amerikanischen Blocks zur Niederlage der Verbündeten des Ostblocks in der Region, zur Hinwendung Ägyptens und später des Iraks zum westlichen Block und zu einer drastischen Einschränkung der Kontrolle Syriens über den Libanon.
Gestärkt durch die Entspannung der Beziehungen zu Ägypten bekräftigte die israelische Bourgeoisie jedoch im Juli 1980 die Verlegung ihrer Landeshauptstadt von Tel Aviv nach Jerusalem und die Eingliederung der Altstadt von Jerusalem (ehemals jordanisch) in das israelische Staatsgebiet. Zu dieser Zeit beschloss die israelische Regierung auch, die jüdische Kolonisierung des Westjordanlands zu intensivieren. Dies verschärfte die Spannungen zwischen der israelischen und der palästinensischen Bourgeoisie, und insbesondere ab 1987 eskalierte die Spirale der Gewalt stark. Das Signal wurde durch die erste Intifada (oder „Aufstand“) im Jahr 1987 gegeben. Als Reaktion auf die zunehmende Unterdrückung durch die israelische Armee im Westjordanland und im Gazastreifen führte die Intifada zu einer massiven Kampagne des zivilen Ungehorsams, zu Streiks und Demonstrationen. Von Linken als Modell für revolutionären Kampf gepriesen, war sie immer vollständig in den nationalen und imperialistischen Rahmen des arabisch-israelischen Konflikts eingebettet.
Wenn die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts im Nahen Osten zeigte, dass nationale Befreiung unmöglich geworden war und dass sich alle Fraktionen der lokalen Bourgeoisien in den globalen Konflikten, die die großen imperialistischen Haie untereinander führten, dem einen oder anderen Hai unterwarfen, markierte die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 fast vierzig Jahre einer weiteren Periode blutiger Konfrontationen, die in die gnadenlose Konfrontation zwischen dem Ost- und dem Westblock eingeschrieben waren. Mehr als siebzig Jahre Konflikt im Nahen Osten haben unwiderlegbar gezeigt, dass das zerfallende kapitalistische System nichts anderes zu bieten hat als Kriege und Massaker und dass das Proletariat nicht davon profitieren kann, wenn es sich für ein imperialistisches Lager entscheidet.
Nach dem Zusammenbruch des Sowjetblocks Ende 1989 waren die 1990er Jahre von der spektakulären Ausweitung der Erscheinungsformen der Verfaulung des Kapitalismus, seines Zerfalls, geprägt, und in diesem Zusammenhang wurde im „Bericht über imperialistische Spannungen“ des 20. Kongresses der IKS im Jahr 2013 festgestellt: „Der Nahe Osten ist eine schreckliche Bestätigung unserer Analysen über die Sackgasse des Systems und die Flucht in den Egoismus“. Es ist ein eindrucksvolles Beispiel für die zentralen Merkmale dieser Zeit:
- Die Explosion des imperialistischen „Jeder für sich“ manifestiert sich im uneingeschränkten Ausdruck des hegemonialen Appetits einer Vielzahl von Staaten. Der Iran hat seine imperialistischen Ambitionen zunächst im Irak durch die Unterstützung der schiitischen Milizen, die einen fragmentierten Staatsapparat beherrschen, und dann in Syrien durch die Unterstützung des Regimes von Baschar al-Assad aus der Ferne zum Ausdruck gebracht, als es kurz davor stand, von der Revolte der sunnitischen Mehrheit hinweggefegt zu werden. Durch seine Verbündeten – von der libanesischen Hisbollah bis zu den jemenitischen Huthis – hat sich Teheran als eine mächtige Regionalmacht etabliert. Aber auch die Türkei – mit ihren Interventionen im Irak und in Syrien –, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, die im Jemen, in Libyen und Ägypten präsent sind, und sogar Katar, das Basislager von Gruppen, die mit der Muslimbruderschaft in Verbindung stehen, verbergen ihre imperialistischen Ambitionen nicht.
- Die mörderischen Reaktionen der amerikanischen Supermacht, um dem Niedergang ihrer Vorherrschaft entgegenzuwirken, führten zu zwei blutigen Kriegen im Nahen Osten (Operation Wüstensturm von Bush Senior im Jahr 1991 und Operation Iraqi Freedom von Bush Junior im Jahr 2003), die letztendlich nur zu mehr Chaos und Barbarei führten.
- Das schreckliche Chaos, das aus blutigen Bürgerkriegen (Syrien, Jemen, Libyen, Sudan) resultierte, führte zum Zusammenbruch staatlicher Strukturen, zu fragmentierten und gescheiterten Staaten (Irak, Libanon), traumatisierten Bevölkerungen und Millionen von Flüchtlingen.
In dieser Dynamik der zunehmenden Konfrontation im Nahen Osten spielt der Staat Israel eine Schlüsselrolle. Als erster Stellvertreter der Amerikaner in der Region war Tel Aviv durch die Abkommen von Oslo und Jericho-Gaza von 1993, einen der größten Erfolge der amerikanischen Diplomatie in der Region, dazu bestimmt, zum Schlüssel einer befriedeten Region zu werden. Diese Abkommen gewährten den Palästinensern den Beginn der Autonomie und integrierten sie so in die von Uncle Sam konzipierte regionale Ordnung. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, nach dem Scheitern der israelischen Invasion im Südlibanon, kam jedoch die „harte“ israelische Rechte an die Macht (die erste Regierung Netanjahu von 1996 bis 1999), gegen den Willen der amerikanischen Regierung, die Schimon Peres unterstützt hatte. Von da an tat die Rechte alles, um den Friedensprozess mit den Palästinensern zu sabotieren:
- durch die Ausweitung der Siedlungen im Westjordanland und die Unterstützung der Siedler, die immer arroganter und gewalttätiger wurden: Bereits im Februar 1994 ermordete ein jüdischer Terrorist, ein Siedler, der der von Rabbi Meir Kahane gegründeten rassistischen Bewegung angehörte, 29 Muslime in der Höhle der Patriarchen in Hebron; im November 1995 ermordete ein junger religiöser Zionist den Premierminister Yitzhak Rabin;
- durch geheime Unterstützung der Hamas und ihrer Terroranschläge, um die Autorität der PLO zu untergraben und eine Politik des „Teile und herrsche“ zu verfolgen, die eine zunehmende Überwachung der palästinensischen Gebiete rechtfertigt.
Der provokative Besuch des Oppositionsführers Ariel Sharon auf dem Tempelberg im September 2000 führte zu einer zweiten Intifada, in deren Verlauf die Zahl der Selbstmordanschläge gegen Israelis stark zunahm. Ebenso war der einseitige Abbau der Siedlungen im Gazastreifen durch die Regierung Sharon im Jahr 2004 keineswegs eine versöhnliche Geste, wie es die israelische Propaganda darstellte, sondern im Gegenteil das Ergebnis einer zynischen Berechnung, um die Verhandlungen über eine politische Lösung des Konflikts einzufrieren: Der Rückzug aus dem Gazastreifen „bedeutet das Einfrieren des politischen Prozesses. Und wenn man diesen Prozess einfriert, verhindert man die Schaffung eines palästinensischen Staates und jegliche Diskussion über Flüchtlinge, Grenzen und Jerusalem“.[11] Da Islamisten die Existenz eines jüdischen Staates in islamischen Ländern ebenso ablehnen wie messianische Zionisten die Existenz eines palästinensischen Staates im Land Israel, das Gott den Juden gegeben habe, sind diese beiden Fraktionen außerdem objektive Verbündete bei der Sabotage der „Zwei-Staaten-Lösung“. Die rechten Teile der israelischen Bourgeoisie haben auch alles in ihrer Macht Stehende getan, um den Einfluss und die Ressourcen der Hamas zu stärken, da diese Organisation wie sie die Oslo-Abkommen vollständig ablehnte: 2006 untersagten die Premierminister Sharon und Olmert der Palästinensischen Autonomiebehörde, ein zusätzliches Polizeibataillon nach Gaza zu entsenden, um sich der Hamas entgegenzustellen, und ermächtigten die Hamas, bei den Wahlen 2006 Kandidaten aufzustellen. Als die Hamas 2007 in Gaza einen Staatsstreich inszenierte, um „die Palästinensische Autonomiebehörde zu beseitigen“ und ihre absolute Macht zu etablieren, weigerte sich die israelische Regierung, die palästinensische Polizei zu unterstützen. Was die Finanzmittel aus Katar betrifft, die die Hamas benötigte, um regieren zu können, so erlaubte der hebräische Staat, dass sie regelmäßig unter dem Schutz der israelischen Polizei nach Gaza transferiert wurden.
Die Strategie Israels war klar: Gaza an die Hamas übergeben, die Palästinensische Autonomiebehörde schwächen, mit begrenzter Macht im Westjordanland. Netanjahu selbst hat diese Politik offen befürwortet: „Jeder, der die Schaffung eines palästinensischen Staates vereiteln will, muss die Stärkung der Hamas unterstützen und Geld an die Hamas überweisen. Das ist Teil unserer Strategie.“[12] Der Staat Israel und die Hamas versinken zu unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlichen Mitteln in der schlimmsten Art einer völlig irrationalen Politik, die unweigerlich den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt beschleunigt hat, der zu den heutigen grausamen Massakern geführt hat. Tatsächlich ist das derzeitige Blutbad in Gaza die Fortsetzung einer ganzen Reihe von Angriffen und Gegenangriffen, die von der Hamas und der israelischen Armee durchgeführt wurden:
- Juni 2006: Die Hamas nimmt Gilad Shalit, einen Wehrpflichtigen der israelischen Armee, während eines grenzüberschreitenden Überfalls aus Gaza gefangen, was zu israelischen Luftangriffen und Einfällen führt.
- Dezember 2008: Israel startet eine 22-tägige Militäroffensive in Gaza, nachdem Raketen auf die Stadt Sderot im Süden Israels abgefeuert wurden. Rund 1.400 Palästinenser und 13 Israelis werden getötet, bevor ein Waffenstillstand vereinbart wird.
- November 2012: Israel tötet den Stabschef der Hamas, Ahmad Jabari, worauf acht Tage lang israelische Luftangriffe auf Gaza folgen.
- Juli/August 2014: Die Entführung und Ermordung von drei israelischen Jugendlichen durch die Hamas löst einen siebenwöchigen Krieg aus.
Da die palästinensische Bourgeoisie weder über eine traditionelle Staatsstruktur noch über die finanziellen Mittel verfügt, um eine strukturierte Armee aufzubauen, die mit der Tsahal, der israelischen Armee, konkurrieren kann, war sie schon immer auf Terroranschläge angewiesen, wie es die Zionisten vor der Ausrufung des Staates Israel waren. Von Anfang an wandte die PLO terroristische Taktiken an, die zwangsläufig die meisten zivilen Opfer forderten, wie Entführungen, Liquidierungen, Flugzeugentführungen und Angriffe auf Sportmannschaften (Massaker an der israelischen Olympiamannschaft bei den Olympischen Spielen 1972 in München). Seitdem haben Selbstmordattentate zugenommen. Sie werden von verzweifelten jungen Palästinensern verübt und zielen nicht auf militärische Ziele ab, sondern sollen einfach nur Terror unter israelischen Zivilisten in Diskotheken, Supermärkten und Bussen verbreiten. Sie sind Ausdruck einer totalen Sackgasse, von Verzweiflung und Hass. Die Massaker vom 7. Oktober 2023 sind eine Fortsetzung dieser Politik, jedoch mit einem noch höheren Maß an Brutalität und Zerstörung.
Die derzeitige erschreckende Entwicklung muss auch als Fortsetzung der unverantwortlichen Politik des Populisten Trump in der Region gesehen werden. Im Einklang mit der Priorität, den Iran einzudämmen, verfolgte Trump eine Strategie der bedingungslosen Unterstützung des israelischen rechten Flügels und sicherte dem hebräischen Staat und seinen jeweiligen Führern unerschütterliche Unterstützung an allen Fronten zu, einschließlich der Lieferung der neuesten militärischen Ausrüstung, der Anerkennung Ost-Jerusalems als Hauptstadt und der israelischen Souveränität über die syrischen Golanhöhen. Diese Ausrichtung unterstützte die Abkehr vom Oslo-Abkommen und von der „Zwei-Staaten-Lösung“ (Israel und Palästina) im „Heiligen Land“.
Die Einstellung der amerikanischen Hilfe für die Palästinenser und die PLO und die Aushandlung der „Abraham-Abkommen“ – ein Vorschlag für einen „großen Deal“, der die Aufgabe jeglichen Anspruchs auf die Schaffung eines palästinensischen Staates und die Annexion großer Teile Palästinas durch Israel im Austausch gegen „riesige“ amerikanische Wirtschaftshilfe beinhaltete – zielten im Wesentlichen darauf ab, die faktische Annäherung zwischen den saudischen und israelischen Handlangern der USA zu erleichtern: „Für die Golfmonarchien ist Israel nicht länger der Feind. Diese große Allianz wurde vor langer Zeit hinter den Kulissen geschmiedet, ist aber noch nicht zum Tragen gekommen. Die einzige Möglichkeit für die Amerikaner, sich in die gewünschte Richtung zu bewegen, besteht darin, grünes Licht von der arabischen Welt zu erhalten, genauer gesagt von ihren neuen Führern, MBZ (Emirate) und MBS (Arabien), die dieselbe strategische Vision für den Golf haben und für die der Iran und der politische Islam die Hauptbedrohungen darstellen. In dieser Vision ist Israel nicht länger ein Feind, sondern ein potenzieller regionaler Partner, mit dem es einfacher sein wird, der iranischen Expansion in der Region entgegenzuwirken. (...) Für Israel, das seit Jahren versucht, seine Beziehungen zu den sunnitischen arabischen Ländern zu normalisieren, ist die Gleichung einfach: Es geht darum, den israelisch-arabischen Frieden zu suchen, ohne unbedingt Frieden mit den Palästinensern zu erreichen. Die Golfstaaten ihrerseits haben ihre Forderungen in der Palästinafrage gesenkt. Dieser „ultimative Plan“ (...) scheint darauf abzuzielen, eine neue Realität im Nahen Osten zu schaffen. Eine Realität, die darauf basiert, dass die Palästinenser ihre Niederlage akzeptieren, im Austausch für ein paar Milliarden Dollar, und in welcher die Israelis und arabische Länder, hauptsächlich aus der Golfregion, endlich ein neues Bündnis bilden könnten, unterstützt von den Vereinigten Staaten, um der Bedrohung durch die Ausbreitung eines modernen persischen Reiches entgegenzuwirken.“[13]
Wie wir jedoch bereits 2019 betont haben, konnten diese Abkommen, die sowohl auf internationaler Ebene (Verzicht auf internationale Abkommen und UN-Resolutionen) als auch auf regionaler Ebene eine reine Provokation darstellten, nur die ungelöste Palästinafrage reaktivieren, eine Situation, die von allen regionalen Imperialisten (natürlich dem Iran, aber auch der Türkei und sogar Ägypten) aufgegriffen und gegen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten eingesetzt wurde. Darüber hinaus haben sie nur den Annexionsappetit Israels selbst beflügelt und die Konfrontationen, beispielsweise mit dem Iran, verschärft: „(...) weder Israel, das der Stärkung der Hisbollah im Libanon und in Syrien feindlich gegenübersteht, noch Saudi-Arabien, das sich gegen den Aufstieg des Irans mit anderen zusammenschließt, können diesen iranischen Fortschritt tolerieren“.[14] Die Abraham-Abkommen haben unwiderruflich den Grundstein für die aktuelle Tragödie in Gaza gelegt.
Der ungestüme Drang der rechten Fraktionen der israelischen Bourgeoisie an der Macht – genauer gesagt der aufeinanderfolgenden Netanjahu-Regierungen von 2009 bis heute –, ihrer eigenen imperialistischen Politik zu folgen, steht immer offener im Widerspruch zu den Interessen der verantwortungsvollsten Fraktionen in Washington und ist eine Karikatur des Zerfalls, der am politischen Apparat der Bourgeoisie nagt. Der Streit zwischen den verschiedenen politischen Fraktionen in Israel über die zu verfolgende Politik – die Auseinandersetzungen zwischen Netanjahu und seinem Verteidigungsminister oder den Chefs der Tsahal, die offene Konfrontation zwischen Netanjahu und der derzeitigen amerikanischen Regierung über die Kriegsführung – führen zu einer erheblichen Unsicherheit und Unvernunft hinsichtlich des Ausgangs der aktuellen Phase des Konflikts, insbesondere da der Schatten einer möglichen Rückkehr Trumps ins Amt des US-Präsidenten über dem Nahen Osten hängt, was der israelischen Kriegspolitik einen Freibrief erteilen und damit jegliche Hoffnung auf eine Form von Stabilität in der Region durch die Vereinigten Staaten zunichte machen würde.
Wieder einmal ist es die Arbeiterklasse, die am meisten unter den Folgen der imperialistischen Politik der herrschenden Klassen leidet. Israelische und palästinensische Arbeiterinnen und Arbeiter sind täglich dem Terror palästinensischer Anschläge und israelischer Militär- und Luftangriffe ausgesetzt. Während der endlose Terror, den ihre herrschenden Klassen entfesseln, bei den meisten Arbeitern und Arbeiterinnen tiefe Verzweiflung ausgelöst hat, vergiftet der Nationalismus ihrer Herrscher auch ihre Stimmung. Die herrschenden Klassen auf beiden Seiten tun alles, um Nationalismus und Hass gegeneinander zu schüren.
In materieller Hinsicht leiden die ArbeiterInnen auf beiden Seiten des imperialistischen Konflikts enorm unter der erdrückenden Last der Militarisierung. Israelische ArbeiterInnen werden für 30 Monate (Männer) und 24 Monate (Frauen) eingezogen. Die Last der israelischen Kriegswirtschaft hat das Elend der israelischen ArbeiterInnen noch verschlimmert. Palästinensische ArbeiterInnen erhalten, wenn sie das Glück haben, eine Arbeit zu finden, sehr niedrige Löhne. Über 80 % der Bevölkerung leben in extremer Armut. Die einzige Perspektive für die meisten ihrer Kinder besteht darin, Opfer israelischer Kugeln und Bulldozer zu werden. Und wenn sie gegen ihr Schicksal protestieren, sind die Palästinensische Autonomiebehörde und die Hamas-Polizei bereit, hart gegen sie durchzugreifen.
Ein Jahrhundert imperialistischer Konflikte um Israel herum hat gezeigt, dass weder israelische noch palästinensische ArbeiterInnen etwas gewinnen können, wenn sie ihre eigene Bourgeoisie unterstützen. Während der israelische Staat nur durch Terror und Zerstörung überlebt hat, würde die Schaffung eines echten palästinensischen Staates nur einen neuen Friedhof für israelische und palästinensische ArbeiterInnen bedeuten. Daher ist dieser Ruf nach einem palästinensischen Staat eine völlig reaktionäre Parole, die KommunistInnen ablehnen müssen.
Für KommunistInnen ist es absolut unerlässlich, sich über die Perspektiven der Arbeiterklasse im Klaren zu sein. Während alle Linken die Intifada von 1987 und die folgenden als soziale Revolten darstellten, die zur Befreiung führen könnten, waren diese Kämpfe in Wirklichkeit nur Ausdruck der Verzweiflung, wobei die Flammen von den Nationalisten entfacht wurden. Bei all diesen Auseinandersetzungen mit dem israelischen Staat kämpfen die palästinensischen ArbeiterInnen nicht für ihre Klasseninteressen, sondern dienen nur als Kanonenfutter für ihre nationalistischen palästinensischen Anführer.
Andererseits kam es gelegentlich zu kämpferischen Reaktionen palästinensischer ArbeiterInnen, die für ihre Klasseninteressen kämpften. 2007 und erneut 2015 streikten Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in Gaza gegen die Hamas-Regierung wegen ausstehender Löhne. Das Gleiche gilt für Israel, wo es in der Vergangenheit Streiks gegen steigende Lebenshaltungskosten gab, wie z. B. 2018 bei den Hafenarbeitern und 2021 bei den Kleinkinderbetreuerinnen. Im Jahr 2011 gab es während der Demonstrationen und Versammlungen gegen die Wohnungskrise in Israel sogar erste Anzeichen dafür, dass israelische und palästinensische ArbeiterInnen zusammenkommen, um ihre gemeinsamen Interessen zu besprechen. Aber immer wieder hat die Rückkehr zu militärischen Konflikten dazu geführt, dass diese elementaren Ausdrucksformen des Klassenkampfes erstickt wurden.
KommunistInnen müssen sich über die Natur und die Auswirkungen des Nationalismus im Klaren sein, der die alltägliche Gewalt anheizt. Darüber hinaus haben wir jedoch gesehen, wie Kampagnen zur Unterstützung der einen oder anderen Seite im jüngsten Konflikt zu echten Spaltungen in der Arbeiterklasse in den Zentren des Kapitalismus geführt haben. Gerade jetzt, wo die Arbeiterklasse nach Jahren der Passivität und Resignation wieder aufsteht, werden die Straßen der Städte in den für das System zentralen Ländern von Demonstrationen für ein freies Palästina oder „gegen Antisemitismus“ eingenommen, die die Arbeiter lautstark dazu aufrufen, ihre Klasseninteressen aufzugeben und in einem imperialistischen Krieg Partei zu ergreifen.
Während die jüdische Bevölkerung Europas eines der Hauptopfer des nationalsozialistischen Völkermordregimes war, zeigt die Politik des israelischen Staates, dass diese barbarischen Verbrechen keine Frage der Rasse oder der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit sind. Keine Fraktion der Bourgeoisie hat ein Monopol auf ethnische Säuberungen, Vertreibungen, Terror und die Vernichtung ganzer ethnischer Gruppen. In Wirklichkeit sind die „Verteidigungsmechanismen“ des israelischen Staates und die palästinensischen Methoden der Kriegsführung ein integraler Bestandteil der blutigen Barbarei, die von allen Regimen im verrottenden Kapitalismus praktiziert wird.
R. Havanais / 15.07.2024
[1] Intransigence war eine Online-Publikation, die von der IKT und einer Reihe anderen Gruppen erstellt wurde, um die Diskussion zu erleichtern. Sie wurde inzwischen geschlossen und kann nicht mehr online abgerufen werden.
[2] Siehe: Anmerkungen zur Geschichte der imperialistischen Konflikte im Nahen Osten [34], Teil 1, Internationale Revue Nr. 34, 2004
[3] Adnan A. Musallam, From Wars to Nakbeh: Developments in Bethlehem, Palestine, 1917-1949, https://web.archive.org/web/20110719154704/http:/admusallam.bethlehem.edu/bethlehem/From_Wars_to_Nakbeh.htm [35] (aufgerufen im September 2024)
[4] Meir Litvak: Palestinian Collective Memory and National Identity, 2009
[5] Der Arabisch-Jüdische Konflikt: Die Positionen der Internationalisten in den 30er Jahren [36]: Bilan Nr. 30 und 31, wieder veröffentlicht in Internationale Revue Nr. 31
[6] Die Unabhängigkeit wurde erst im Mai 1942 auf der Biltmore-Konferenz offiziell gefordert.
[7] Politisches Programm der OZON, der in Polen an der Macht befindlichen Partei, Mai 1938, berichtet in Marius Schatner: Histoire de la droite israélienne, Éditions Complexe, 1991, Seite 140.
[8] Bilan Nr. 31 (Juni-Juli 1936), wieder veröffentlicht in Internationale Revue Nr. 31
[9] Kurz nach der Gründung Israels begann Deutschland, das Land finanziell mit einem jährlichen „Ausgleichsfonds“ von 1 Milliarde DM zu unterstützen.
[10] Resolution zur internationalen Lage, 6. IKS-Kongress, International Review Nr. 44, 1986, Englisch.
[11] Dov Weissglas, enger Berater von Premierminister Sharon, in der Tageszeitung Haaretz, 8. Oktober 2004. Zitiert in Ch. Enderlin, L'erreur stratégique d'Israël, Le Monde diplomatique, Januar 2024.
[12] Netanjahu erklärte dies am 11. März 2019 vor Likud-Abgeordneten, wie die israelische Tageszeitung Haaretz am 9. Oktober berichtete.
[13] Auszug aus der libanesischen Tageszeitung L'Orient-Le Jour vom 18. Juni 2019.
[14] 23. Internationaler Kongress der IKS, Resolution zur internationalen Lage (2019): imperialistische Spannungen, Leben der Bourgeoisie, Wirtschaftskrise [37], Internationale Revue Nr. 56, 2019.
Links
[1] https://de.internationalism.org/files/de/internationale_revue_60-web.pdf
[2] https://de.internationalism.org/content/2665/konferenz-von-zimmerwald-die-zentristischen-stroemungen-innerhalb-der-organisationen
[3] https://www.leftcom.org/en/articles/2022-07-22/nwbcw-and-the-real-international-bureau-of-1915
[4] https://de.internationalism.org/content/3150/die-ict-und-die-initiative-nwbtcw-ein-opportunistischer-bluff-der-die-kommunistische
[5] https://en.internationalism.org/internationalreview/197701/9333/ambiguities-internationalist-communist-party-over-partisans-italy-19
[6] https://de.internationalism.org/content/864/debatte-mit-dem-ibrp
[7] https://de.internationalism.org/content/3043/gemeinsame-erklaerung-von-gruppen-der-internationalen-kommunistischen-linken-zum-krieg
[8] https://de.internationalism.org/content/3144/schluss-mit-den-massakern-keine-unterstuetzung-fuer-irgendein-imperialistisches-lager
[9] https://de.internationalism.org/content/2897/nuevo-curso-und-eine-kommunistische-linke-spaniens-was-sind-die-urspruenge-der
[10] https://de.internationalism.org/content/2917/wer-ist-wer-bei-nuevo-curso
[11] https://en.internationalism.org/content/17400/conference-left-communism-brussels-decoy-those-who-want-take-part-revolutionary
[12] https://www.leftcom.org/de/articles/2023-10-28/die-aufgaben-der-revolution%C3%A4rinnen-angesichts-der-kapitalistischen
[13] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/kommunistische-linke
[14] https://de.internationalism.org/content/2008/die-internationale-dimension-der-kaempfe-polen
[15] https://en.internationalism.org/content/3114/one-year-workers-struggles-poland
[16] https://en.internationalism.org/content/2957/eastern-europe-economic-crisis-and-bourgeoisies-weapons-against-proletariat
[17] https://de.internationalism.org/content/871/thesen-zur-oekonomischen-und-politischen-krise-der-udssr-und-den-osteuropaeischen
[18] https://en.internationalism.org/ir/065/marc-01
[19] https://en.internationalism.org/ir/066/marc-02
[20] https://de.internationalism.org/iksonline/kongress-der-iks-resolution-zum-internationalen-klassenkampf
[21] https://de.internationalism.org/content/748/der-zerfall-die-letzte-phase-der-dekadenz-des-kapitalismus
[22] https://de.internationalism.org/content/2715/ueber-das-problem-des-populismus
[23] https://de.internationalism.org/rueckschlaege-fuer-die-bourgeoisie-nichts-gutes-fuer-das-proletariat
[24] https://en.internationalism.org/content/16711/report-impact-decomposition-political-life-bourgeoisie-23rd-icc-congress
[25] https://de.internationalism.org/content/3216/populismus-auf-dem-vormarsch-europa-das-rassemblement-national-der-schwelle-zur-macht
[26] https://de.internationalism.org/content/3120/resolution-des-25-internationalen-kongresses-der-iks-zur-internationalen-lage
[27] https://de.internationalism.org/content/2926/bericht-ueber-den-zerfall-heute-mai-2017
[28] https://de.internationalism.org/content/3123/bericht-des-25-kongresses-ueber-die-imperialistischen-spannungen
[29] https://de.internationalism.org/content/3033/gegen-die-angriffe-der-bourgeoisie-brauchen-wir-einen-vereinten-und-massiven-kampf
[30] https://de.internationalism.org/content/3091/die-beschleunigung-des-kapitalistischen-zerfalls-wirft-offen-die-frage-der-vernichtung
[31] https://www.sinistra.net/lib/bor/art/borerekkid.html#u2
[32] https://www.leftcom.org/en/articles/2009-11-24/the-fall-in-the-average-rate-of-profit-the-crisis-and-its-consequences
[33] https://de.internationalism.org/files/de/beilage-manifest-digital_0.pdf
[34] https://de.internationalism.org/internationalerevue/200508/65/anmerkungen-zur-geschichte-der-imperialistischen-konflikte
[35] https://web.archive.org/web/20110719154704/http:/admusallam.bethlehem.edu/bethlehem/From_Wars_to_Nakbeh.htm
[36] https://de.internationalism.org/content/632/der-arabischjuedische-konflikt-die-positionen-der-internationalisten-den-30er-jahren
[37] https://de.internationalism.org/content/2861/resolution-zur-internationalen-lage-2019-imperialistische-spannungen-leben-der