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Vorwort
Die Kongresse der IKS und die Treffen ihres internationalen Zentralorgans befassen sich in der Regel mit drei Hauptthemen, die die internationale Lage betreffen und die größte Bedeutung für unsere Intervention haben: die wirtschaftlichen Widersprüche des Kapitalismus, die imperialistischen Konflikte und die Entwicklung des Klassenkampfes. Die Untersuchung des politischen Lebens des Klassenfeindes, der Bourgeoisie, darf jedoch niemals vernachlässigt werden, nicht zuletzt, weil sie unser Wissen über die kapitalistische Gesellschaft, die wir bekämpfen, vervollständigt und auch Schlüssel zum Verständnis der drei genannten Hauptthemen liefern kann. In einer völlig reduktionistischen und daher falschen Sichtweise des Marxismus ist der Ausgangspunkt die wirtschaftliche Situation des Kapitalismus, die die imperialistischen Konflikte und das Niveau der Klassengegensätze bestimme. Wir haben oft gezeigt, dass die Realität nicht so einfach ist, insbesondere indem wir Engels' Zitate über den Platz der Wirtschaft im Leben der Gesellschaft aufgreifen.
Diese Notwendigkeit, das politische Leben der Bourgeoisie zu untersuchen, findet sich in vielen Schriften von Marx und Engels. Einer der bekanntesten und bemerkenswertesten Texte zu diesem Thema ist Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte. In diesem Dokument geht Marx zwar kurz auf die wirtschaftliche Situation in Frankreich und Europa ein, versucht aber, eine Art Rätsel zu lösen: Wie und durch welchen Prozess konnte die Revolution von 1848 zum Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 führen, der einem Abenteurer, Louis-Napoléon, volle Macht verlieh? Damit zeichnet Marx ein anschauliches und tiefgründiges Bild der politischen Funktionsweise der französischen Gesellschaft und der Zukunft. Natürlich wäre es absurd, die Analyse von Marx direkt auf die heutige Zeit zu übertragen. Vor allem die Rolle des Parlaments ist heute nicht mehr mit derjenigen von Mitte des 19. Jahrhunderts vergleichbar. Die von Marx angewandte Methode jedoch, der historische und dialektische Materialismus, ist eine wesentliche Inspirationsquelle bei der Analyse der heutigen Situation.
Die Bedeutung einer systematischen Untersuchung des politischen Lebens der Bourgeoisie für das Verständnis der heutigen Welt wurde von der IKS mehrfach bestätigt, aber es lohnt sich, eine besonders wichtige Episode hervorzuheben: den Zusammenbruch des Ostblocks und der Sowjetunion 1989/90. Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 kam für die meisten proletarischen politischen Gruppen und bürgerlichen "Spezialisten", die bis zum Vorabend dieses Datums weit davon entfernt waren, zu glauben, dass die Schwierigkeiten der Länder des Ostblocks zu seinem plötzlichen Zusammenbruch führen würden, sehr überraschend. Die IKS hatte dieses große Ereignis jedoch bereits zwei Monate zuvor, Anfang September 1989, vorausgesehen, als sie die Thesen zur ökonomischen und politischen Krise in der UdSSR und den osteuropäischen Ländern (Internationale Revue Nr. 12)[1] verabschiedete. Dort heißt es klar:
- "... Da der praktisch einzige Faktor des Zusammenhalts des russischen Blocks die Armee ist, trägt in der Tat jede Politik, die diesen Faktor zurückdrängt, die Gefahr des Auseinanderbrechens des Blocks in sich. Schon jetzt bietet uns der Ostblock ein Bild des Zerfalls. (...).
Ein ähnliches Phänomen kann man in den Randrepubliken der UdSSR beobachten. (...) Die nationalistischen Bewegungen, die sich dort, begünstigt durch die Lockerung der zentralen Kontrolle durch die russische Partei, heute entwickeln (...) gehen einher mit einer Dynamik der Loslösung von Rußland. Letztlich werden wir, wenn die Zentralmacht in Moskau nicht reagiert, nicht nur die Explosion des russischen Blocks erleben, sondern auch die Explosion seiner Vormacht. In einer solchen Dynamik würde die russische Bourgeoisie, die heute noch die zweitgrößte Weltmacht stellt, nur noch eine zweitrangige Stellung einnehmen, weitaus schwächer als Deutschland beispielsweise.“ (Punkt 18)
- "Aber unabhängig von der zukünftigen Entwicklung der Lage in den osteuropäischen Ländern bedeuten die gegenwärtigen Ereignisse die historische Krise, den endgültigen Zusammenbruch des Stalinismus, diesem monströsen Symbol der schlimmsten Konterrevolution, die das Proletariat je erlebt hat. Diese Länder sind in einen Zeitraum beispielloser Instabilität, Erschütterungen und des Chaos eingetreten, deren Auswirkungen weit über ihre eigenen Grenzen hinaus wirken. Insbesondere wird der Zusammenbruch des russischen Blocks die Tür zu einer Destabilisierung des Systems der internationalen Beziehungen, der imperialistischen Konstellationen öffnen, wie sie aus dem Zweiten Weltkrieg nach dem Abkommen von Jalta hervorgegangen waren.“ (Punkt 20)
- "Die Ereignisse, die heute die "sozialistischen" Länder erschüttern, die faktische Auflösung des russischen Blocks, das offensichtliche und endgültige Scheitern des Stalinismus auf ökonomischer, politischer und ideologischer Ebene stellen neben dem internationalen Wiederauftauchen des Proletariats Ende der 60er Jahre das bedeutendste historische Ereignis seit dem Zweiten Weltkrieg dar.“ (Punkt 22)
Diese Fähigkeit, die Entwicklung im Ostblock vorauszusehen, war nicht das Ergebnis einer besonderen Begabung für das Lesen von Kristallkugeln, sondern einer regelmäßigen Beobachtung und eingehenden Analyse der Situation[2]. Aus diesem Grund wurde im ersten Teil der Thesen an das erinnert, was wir bereits zu dieser Frage geschrieben hatten, um die Ereignisse von 1989 in den Kontext dessen zu stellen, was wir zuvor erkannt hatten, besonders während der Arbeiterkämpfe in Polen im Jahr 1980. In den Thesen werden insbesondere drei in der Internationalen Revue in 1980-81 veröffentlichte Artikel zitiert:
- Die internationale Dimension der Arbeiterkämpfe in Polen, Internationale Revue Nr. 6;
- One Year of Workers’ Struggles in Poland (Ein Jahr der Arbeiterkämpfe in Polen), International Review Nr. 27, englischsprachige Ausgabe[3];
- Eastern Europe: Economic crisis and the bourgeoisie's weapons against the proletariat (Osteuropa: Die Wirtschaftskrise und die Waffen der Bourgeoisie gegen das Proletariat), International Review Nr. 34, englischsprachige Ausgabe).[4]
Es ist hier nicht der Ort, diese Texte zu wiederholen, die auf unserer Website leicht zugänglich sind. Wir möchten nur zwei wichtige Gedanken in Erinnerung rufen, die unter anderem unsere Analyse des Zusammenbruchs des Ostblocks ein Jahrzehnt später dann geleitet haben:
- "Die proletarischen Kämpfe in Polen haben einen lebendigen Widerspruch geschaffen, indem sie die osteuropäische Bourgeoisie in eine Arbeitsteilung zwangen, gegen die sie strukturell resistent ist. Es ist noch zu früh, um vorherzusagen, wie er sich entwickeln wird. Angesichts einer historisch beispiellosen Situation ... besteht die Aufgabe der Revolutionäre darin, die sich entfaltenden Ereignisse mit Besonnenheit anzugehen." (Internationale Revue Nr. 27, englischsprachige Ausgabe)
- "... während der amerikanische Block durchaus in der Lage ist, die 'Demokratisierung' eines faschistischen oder militärischen Regimes zu 'managen', wenn dies nützlich ist (Japan, Deutschland, Italien in der Nachkriegszeit; Portugal, Griechenland, Spanien in den 70er Jahren), kann die UdSSR keine 'Demokratisierung' innerhalb ihres Blocks zulassen. (...) Ein politischer Regimewechsel in einem "Satelliten"-Staat birgt die unmittelbare Gefahr, dass dieses Land Teil des gegnerischen Blocks wird.“ (Internationale Revue Nr. 34, englischsprachige Ausgabe)
Heute hat die Untersuchung des politischen Lebens der Bourgeoisie nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt. Das methodologische Werkzeug, das wir für diese Untersuchung verwenden, ist natürlich unsere Analyse des Zerfalls, insbesondere die Frage des Kontrollverlusts der herrschenden Klasse über ihr politisches Spiel, dessen wichtigster Ausdruck der Aufstieg des Populismus ist. Dieser Bericht wird sich aus zwei Gründen auf die Frage des Populismus konzentrieren:
- Zum einen hat sich dieser Populismus in den letzten Jahren noch verstärkt;
- Zum anderen sind die bisherigen Analysen zu diesem Thema nicht ohne Schwächen, die es zu erkennen und zu beheben gilt.
Der Aufstieg des Populismus: der spektakulärste Ausdruck des Kontrollverlusts der Bourgeoisie über ihren politischen Apparat
a) Populismus, ein reines Produkt des Zerfalls des Kapitalismus
Erst spät, auf dem 22. Kongress von Révolution Internationale (Sektion der IKS in Frankreich) im Mai 2016, begann die IKS, die Bedeutung der Erscheinung des Populismus auf internationaler Ebene zu analysieren. Auf demselben Kongress hatte die Diskussion über die Resolution zur Lage in Frankreich gezeigt, dass es an Sicherheit und Klarheit in dieser Frage mangelt. Es wurde ein Antrag angenommen, in dem die Notwendigkeit betont wurde, eine Debatte in der gesamten IKS aufzunehmen. Ein Jahr später heißt es in der vom 22. Kongress der IKS verabschiedeten Resolution zum internationalen Klassenkampf (Internationale Revue Nr. 55)[5] über das Phänomen des Populismus: "Der gegenwärtige populistische Aufschwung ist somit von all diesen Faktoren genährt worden – vom Crash von 2008, vom Terrorismus und von der Flüchtlingskrise – und erscheint als ein konzentrierter Ausdruck des Zerfalls des Systems, der Unfähigkeit beider Hauptklassen in der Gesellschaft, der Menschheit eine Perspektive für die Zukunft anzubieten." Diese Aussage enthielt zwar eine stichhaltige Analyse, doch wurde in anderen Punkten der Resolution der Schwerpunkt stärker auf die Fähigkeit des Populismus gelegt, die Arbeiterklasse zu beeinflussen, da dies ein entscheidender Faktor für die Entwicklung des Populismus ist. Außerdem wurde das Phänomen des Populismus nicht wirklich vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten der Bourgeoisie seit dem Eintritt in die Phase des kapitalistischen Zerfalls bewertet.
Diese Unklarheiten spiegeln den Mangel an Homogenität wider, der mit einer Tendenz innerhalb der IKS einherging, den in den Thesen zum Zerfall (Internationale Revue Nr. 13)[6] verteidigten Rahmen zu ignorieren, um das politische Leben der Bourgeoisie in der aktuellen historischen Periode zu verstehen. Dieses Abdriften wurde besonders deutlich im Text Über das Problem des Populismus (Internationale Revue Nr. 54)[7] und auch im Artikel Brexit, Trump, Rückschläge für die Bourgeoisie, die kein gutes Omen für das Proletariat sind[8], der in Weltrevolution Nr. 181 veröffentlicht wurde. Formal stellen diese beiden Texte den Populismus tatsächlich als Ausdruck des "Zerfalls der bürgerlichen Welt" dar: "Als solcher ist er das Produkt der bürgerlichen Welt und ihrer Weltsicht – vor allem aber ihres Zerfalls."[9] Dabei fällt auf, wie sehr die Thesen nicht den Ausgangspunkt der Analyse bilden, sondern nur ein Element der Reflexion unter anderen.[10] In diesen beiden Texten wird nämlich ein anderer Faktor in den Mittelpunkt der Analyse gestellt: "Der Aufstieg des Populismus ist gefährlich für die herrschende Klasse, weil er ihre Fähigkeit beeinträchtigt, ihren Politapparat zu kontrollieren und gleichzeitig die demokratische Mystifikation aufrechtzuerhalten, die einer der Pfeiler ihrer gesellschaftlichen Vorherrschaft ist. Doch er hat dem Proletariat ebenfalls nichts zu bieten. Im Gegenteil, es ist eben jene Schwäche des Proletariats, seine Unfähigkeit, irgendeine alternative Perspektive zum den Kapitalismus bedrohenden Chaos zu bieten, die den Aufstieg des Populismus heute erst ermöglicht hat. Allein das Proletariat kann einen Ausweg aus der Sackgasse anbieten, in der sich die Gesellschaft heute befindet, doch wird es nie dazu im Stande sein, wenn ArbeiterInnen sich von den Sirenenklängen der populistischen Demagogen bezirzen lassen, die eine unmögliche Rückkehr zur Vergangenheit versprechen, die nie so existiert hat."[11]
Der Artikel Über das Problem des Populismus zieht eine Parallele zwischen dem Aufstieg des Populismus und dem Aufstieg des Nazismus in den 1930er Jahren: "wenn das Proletariat unfähig ist, seine eigene revolutionäre Alternative gegen den Kapitalismus vorzubringen, [führt] der Vertrauensverlust in die Fähigkeiten der herrschenden Klasse, „ihren Job zu machen“, möglicherweise zu einer Revolte (…), einem Protest, einer Explosion ganz anderer Art, eine, die nicht bewusst ist, sondern blind, nicht der Zukunft, sondern der Vergangenheit zugewandt ist, die nicht auf Vertrauen, sondern auf Angst basiert, nicht auf Kreativität, sondern auf Zerstörungswut und Hass“. Mit anderen Worten: Der Hauptfaktor für die Entwicklung und den Aufstieg des Populismus in der bürgerlichen Politik sei die politische Niederlage der Arbeiterklasse.[12]
In der Tat sind alle Aspekte, die den populistischen "Katechismus" nähren (Ablehnung von Ausländern, Ablehnung der "Eliten", Verschwörungstheorie, Glaube an den "starken und allmächtigen Mann", Suche nach Sündenböcken, Rückzug in die "heimische" Gemeinschaft ... ), in erster Linie das Produkt des Misstrauens und der ideologischen Fäulnis, die durch die Perspektivlosigkeit der kapitalistischen Gesellschaft vermittelt werden (erläutert in Punkt 8 der Thesen zum Zerfall) und die vor allem die Bourgeoisie betreffen. Aber der Durchbruch und die Entwicklung des Populismus im politischen Leben der Bourgeoisie wurden vor allem durch eine der wichtigsten Erscheinungsformen des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft bestimmt: "Unter den Hauptkennzeichen des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft muß man die zunehmenden Schwierigkeiten der Bourgeoisie hervorheben, die Entwicklung der Lage auf politischer Ebene zu kontrollieren. An der Wurzel dieses Phänomens liegt natürlich der immer größere Kontrollverlust der herrschenden Klasse über ihren Wirtschaftsapparat, der die Infrastruktur der Gesellschaft bildet.(...) Die mangelnde Perspektive (außer der Flickschusterei, um die Wirtschaft zu stützen), in der sie sich als Klasse mobilisiert, und die Tatsache, daß die Arbeiterklasse noch keine Bedrohung für ihr Überleben darstellt, bewirkt in der herrschenden Klasse und insbesondere in ihrem politischen Apparat eine wachsende Tendenz zur Disziplinlosigkeit und zum Rette-wer-sich-kann" (These 9).
Der Zerfall des politischen Apparats findet also seine Hauptantriebskraft in der ständigen Verschärfung der Wirtschaftskrise und der Unfähigkeit der Bourgeoisie, die Gesellschaft für den Weltkrieg zu mobilisieren. Diese historische Entwicklung hat sich in einer zunehmenden Tendenz zur Disziplinlosigkeit, zur Spaltung, zum "Jeder für sich" und schließlich zur Verschärfung der Kämpfe zwischen den Cliquen innerhalb des politischen Apparats niedergeschlagen. Dieses Ferment hat einen fruchtbaren Boden für die Entstehung von bürgerlichen Fraktionen mit einem zunehmend irrationalen Diskurs geschaffen, die in der Lage sind, auf den widerlichsten Ideen und Gefühlen zu surfen, und deren Anführer sich wie wahre Bandenchefs verhalten, die die politischen Beziehungen mutwillig zerstören, mit dem Ziel, ihre eigenen Interessen um jeden Preis durchzusetzen, zum Nachteil der Interessen des nationalen Kapitals.
So kann die Unfähigkeit des Proletariats, eine andere Perspektive als die des Chaos und der kapitalistischen Barbarei zu eröffnen, zwar Erscheinungen des Zerfalls wie den Populismus verstärken, sie ist aber nicht der aktive Faktor. Im Übrigen haben die letzten zwei Jahre eine solche Analyse auf das Schärfste widerlegt. Einerseits haben wir eine sehr bedeutende Wiederbelebung der Arbeiterkämpfe erlebt, die eine Entwicklung der Reflexion und der Reifung des Bewusstseins beinhaltet. Andererseits hat sich der Aufstieg des Populismus unter dem Eindruck des noch nie dagewesenen Zerfalls voll bestätigt. Letztendlich steht die in Zur Frage des Populismus aufgestellte These in völligem Widerspruch zur Analyse der IKS, die zwei Pole in der gegenwärtigen historischen Situation identifiziert. Mehr noch, sie läuft auch darauf hinaus, die Analyse des historischen Bruchs im Klassenkampf zu leugnen und/oder zu glauben, dass die Entwicklung des Arbeiterkampfes populistische Tendenzen zurückgehen lassen kann. Schließlich führt sie auch dazu, dass wir die Tatsache unterschätzen, dass die Bourgeoisie den Populismus gegen die Arbeiterklasse ausnutzen wird.
b) Die Ausweitung des populistischen Phänomens
Der Sieg des Brexits in Großbritannien im Juni 2016, gefolgt von Trumps Machtübernahme in den Vereinigten Staaten einige Monate später, bedeutete einen spektakulären Durchbruch des Populismus im politischen Leben der Bourgeoisie. Dieser Trend hat sich seither fortgesetzt und den Populismus zu einem entscheidenden und unumkehrbaren Faktor in der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft gemacht.
Mehrere europäische Länder werden heute ganz oder teilweise von populistischen Gruppierungen regiert (Niederlande, Slowakei, Ungarn, Italien, Finnland und Österreich), während im übrigen Europa populistische und rechtsextreme Parteien in den Umfragen und bei den Wählerstimmen weiter zulegen, insbesondere in Westeuropa. Einigen Studien zufolge könnten populistische Parteien bei den Europawahlen im Juni 2024 in 9 EU-Ländern an der Spitze stehen. Aber das Phänomen geht eindeutig über Europa hinaus. In Südamerika ist nach Brasilien nun Argentinien mit dem Amtsantritt von Javier Milei an der Reihe. Aber wenn der Populismus ein allgemeines Phänomen ist, ist es für unsere Analyse wichtig, vor allem seinen Durchbruch innerhalb der Kernländer zu würdigen, da eine solche Dynamik nicht nur eine destabilisierende Wirkung auf die Situation in den betroffenen Ländern, sondern auch auf die kapitalistische Gesellschaft insgesamt hat. Gegenwärtig sollten vor allem zwei Länder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen: Frankreich und die Vereinigten Staaten.
In Frankreich hatte das RN (Rassemblement National) bei den Parlamentswahlen im Juni 2022 mit 89 Abgeordneten auf den Bänken der Nationalversammlung ein historisches Ergebnis erzielt. Laut einer "geheimen Umfrage", die von der rechten Partei Les Républicains Ende 2023 in Auftrag gegeben wurde, könnte das RN bei vorgezogenen Neuwahlen nach einer möglichen Auflösung der Nationalversammlung zwischen 240 und 305 Sitze erringen. Auch ein Sieg des RN bei den Präsidentschaftswahlen 2027 ist ein zunehmend glaubwürdiges Szenario. Eine solche Situation würde sicherlich die politische Krise der französischen Bourgeoisie verschärfen. Vor allem aber würde sie angesichts der Nähe des RN zur Putin-Fraktion die Spaltung der Europäischen Union verschärfen und deren Fähigkeit zur Umsetzung ihrer pro-ukrainischen Politik schwächen. Im Gegensatz zur deutschen Bourgeoisie, die im Moment die Mittel gefunden zu haben scheint, um das Risiko einer Machtübernahme durch die AfD (Alternative für Deutschland) einzudämmen (trotz des zunehmenden Einflusses dieser Formation im deutschen politischen Spiel), scheint die französische Bourgeoisie ihren Handlungsspielraum aufgrund der starken Diskreditierung der Macron-Fraktion, die seit sieben Jahren an der Macht ist, aber vor allem aufgrund der Verschärfung der Spaltungen innerhalb des politischen Apparats, zunehmend eingeschränkt zu sehen.[13]
Aber vor allem die mögliche Rückkehr von Trump ins Weiße Haus bei den Präsidentschaftswahlen im November 2024 [dieser Artikel wurde vor den Wahlen in den USA und vor dem Rückzug von Biden geschrieben] würde eine tiefgreifende Zuspitzung der Situation nicht nur in den USA, sondern in der gesamten internationalen Lage bedeuten. Die Verstärkung der Zentrifugalkräfte und die Tendenz zum Verlust der globalen Führungsrolle belasten seit vielen Jahren die Fähigkeit der USA, sich mit der geeignetsten Fraktion zur Verteidigung ihrer Interessen auszustatten, wie es der Fall war, als die Neokonservativen in den frühen 2000er Jahren an die Macht kamen. Die Obama-Ära hat diesen Trend nicht gestoppt, denn Trumps Machtantritt 2017 hat ihn nur noch verschärft. Am Tag nach seiner Niederlage im Januar 2021 sagte Adam Nossiter, der Pariser Büroleiter der New York Times: "In sechs Monaten werden wir nichts mehr von ihm hören, er wird nicht mehr an der Macht sein". In den letzten vier Jahren ist es den „verantwortungsvollsten“ Fraktionen der amerikanischen Bourgeoisie nicht gelungen, Trump aus dem Verkehr zu ziehen. Trotz zahlreicher juristischer Anfechtungen, Verleumdungskampagnen und Versuchen, die ihm am nächsten stehenden Personen zu destabilisieren, ist Trumps Rückkehr ins Weiße Haus bei den Präsidentschaftswahlen im November 2024 ein immer wahrscheinlicheres Szenario. Sein Sieg bei den letzten republikanischen Vorwahlen hat sogar die Stärkung des „Trumpismus“ innerhalb der konservativen Partei zum Nachteil der verantwortungsbewussteren Ränder der Partei gezeigt.
In jedem Fall würde ein Sieg Trumps Schockwellen durch die internationale Lage schicken, insbesondere an der imperialistischen Front. Indem er die weitere Unterstützung für die Ukraine in Frage stellt oder damit droht, den Schutz der NATO-Länder durch die USA von deren Kreditwürdigkeit abhängig zu machen, würde die politische Linie der USA die EU schwächen und das Risiko einer Verschärfung des russisch-ukrainischen Konflikts mit sich bringen. Was den Gaza-Krieg angeht, so scheinen Trumps jüngste "kritische" Äußerungen über Netanjahu die bedingungslose Unterstützung der religiösen Rechten unter den Republikanern für die von der israelischen Regierung verfolgte Politik der verbrannten Erde nicht in Frage zu stellen. Welche Folgen hätte ein Sieg Trumps in dieser Hinsicht?
Ganz allgemein hätte die Rückkehr der populistischen Fahne nach Washington erhebliche Auswirkungen auf die Fähigkeit der Bourgeoisie, mit den Erscheinungsformen des Zerfalls ihres eigenen Systems umzugehen. Trumps Sieg könnte also bedeuten:
- Ein weiterer Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen durch die zweitgrößte CO2-emittierende Macht.
- Eine zunehmend isolationistische und wirtschaftlich aggressive Politik.
- Eine Verschärfung der sozialen Gewalt und die Zersetzung des sozialen Gefüges durch den Kreuzzug gegen "Minderheiten".
- Ein sich verschlimmerndes politisches Chaos, das von Rachegelüsten und dem Wunsch, Rechnungen zu begleichen, sowohl innerhalb der republikanischen Partei als auch allgemein im politischen Apparat genährt wird. Wie Trump letzten Dezember auf Fox News sagte: "Ich werde kein Diktator sein, außer am ersten Tag"!
Wir müssen uns jedoch davor hüten, zu glauben, dass alle Wetten verloren sind. Im Gegenteil, der Ausgang der Präsidentschaftswahlen ist angesichts des Grades der Destabilisierung des politischen Systems der USA und der tiefen und dauerhaften Spaltung der amerikanischen Gesellschaft, die sowohl durch die populistische Rhetorik als auch durch die Anti-Trump-Kampagne der demokratischen Regierung Biden noch verstärkt wird, unvorhersehbarer denn je.
Die verschiedenen Strategien der Bourgeoisie zur Eindämmung des Populismus
Anders als der Aufstieg des Faschismus in den 1930er Jahren ist der Populismus nicht das Ergebnis eines bewussten Willens der dominierenden Teile der Bourgeoisie. Die „verantwortungsvollsten“ Teile der Bourgeoisie versuchen immer noch, Strategien zu seiner Eindämmung zu entwickeln. Der Bericht über die Auswirkungen des Zerfalls auf das politische Leben der Bourgeoisie für den 23. Kongress der IKS im Jahr 2019 (Internationale Revue Nr. 164, englische Ausgabe) hat diese verschiedenen Strategien analysiert:
- die antipopulistische Politik
- die Adaption populistischer Ideen
- die Bildung von populistischen Regierungen
- die Wiederherstellung der Kluft zwischen links und rechts.
Wie hat sich die Situation in den letzten fünf Jahren entwickelt? Wie es in der Resolution des 25. Kongresses der IKS zur internationalen Lage heißt: "Der Aufstieg des Populismus, der durch die völlige Perspektivlosigkeit des Kapitalismus und die Entwicklung des „Jeder für sich“ auf internationaler Ebene genährt wird, ist wahrscheinlich der deutlichste Ausdruck dieses Kontrollverlusts. Diese Tendenz hat sich trotz der Gegenbewegungen anderer, „verantwortungsvolleren“ Fraktionen der Bourgeoisie fortgesetzt (z.B. die Ablösung von Trump und die rasche Absetzung von Truss in Großbritannien)" (Internationale Revue Nr. 59).[14] Auch wenn die „verantwortungsvolleren“ Fraktionen nicht untätig geblieben sind, haben sich diese verschiedenen Strategien als immer weniger wirksam erwiesen und können keine tragfähige und nachhaltige Antwort darstellen.
a) Anti-populistische Politik (Frankreich/Deutschland/USA)
Wie bereits erwähnt, hat die Kampagne zur Diskreditierung und Eliminierung von Trump aus dem Rennen um die Präsidentschaft noch keine Früchte getragen. Im Gegenteil, die verschiedenen gegen ihn angestrengten Gerichtsverfahren haben seine Popularität bei einem großen Teil der amerikanischen Wählerschaft erhöht. Gleichzeitig ist die erneute Kandidatur des 81-jährigen Biden, der in der Öffentlichkeit deutliche Anzeichen von Senilität gezeigt hat, eindeutig kein Gewinn für die amerikanische Bourgeoisie. Dies gilt umso mehr, als die wirtschaftlichen Angriffe der Regierung ihre Diskreditierung noch verstärkt haben. Allerdings ist diese Vorauswahl (trotz Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Demokratischen Partei) Ausdruck einer Krise bei der Erneuerung der Parteiführung und vor allem einer tiefen Spaltung innerhalb des politischen Apparats der Partei, die sich auf die Wählerschaft auswirkt. So bedeutet beispielsweise die Unzufriedenheit der arabischen Gemeinschaft mit der Haltung der USA zum Krieg in Gaza, dass eine Niederlage im Swing State Michigan droht. Ebenso könnte der wachsende Einfluss der vom linken Flügel der Partei vertretenen wokistischen und identitätsbasierten Ideologie zu einer Abkehr von einigen Minderheiten und jungen Menschen führen, die sich mehr Sorgen über die Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen machen. Insbesondere scheinen Umfragen zu zeigen, dass sich ein Teil der afroamerikanischen Wählerschaft von Trump verführen lassen könnte.
In Frankreich gelang es der Bourgeoisie zwar erneut, das Rassemblement National (RN) bei den Präsidentschaftswahlen 2022 durch die Wiederwahl von Macron zurückzudrängen, doch blieb dieser Kraftakt nicht ohne Nebenwirkungen. Die mehrfachen Angriffe auf die Arbeiterklasse seit 2017 sowie die mangelnde Erfahrung und der Dilettantismus, die sich regelmäßig zeigen, haben die bereits rollende Diskreditierung der Exekutive nur noch verstärkt. Die reale Gefahr eines großen RN-Sieges bei den Europawahlen zwang Macron zu einem Regierungswechsel, indem er einen jungen und loyalen Premierminister (G. Attal) ernannte, der den Anti-RN-Kreuzzug bis Juni anführen sollte. Diese Regierung hat jedoch mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen wie die vorherige, obwohl die Rhetorik gegen das RN verschärft wurde und sogar die Mehrheit versucht, rechtsextremes Gedankengut wieder aufzugreifen.
Die größte Schwäche liegt jedoch in der Spaltung und der "Jeder für sich"-Haltung, die das politische Spiel immer mehr dominiert, auch innerhalb der verschiedenen Parteien, vor allem im Lager des Präsidenten. Die relative Mehrheit, die die Regierungspartei bei den Parlamentswahlen erlangt hat, hat die Tendenz zu zentrifugalen Kräften verstärkt. Angesichts der Schwierigkeiten, stabile Bündnisse für wichtige Reformen zu schmieden, ist die Regierung gezwungen, regelmäßig von Artikel 49.3 Gebrauch zu machen, der es ihr erlaubt, auf die Abstimmung der Abgeordneten in der Versammlung zu verzichten Auch die traditionellen Parteien, die bei den Wahlen 2017 von der der Mehrheit der Bourgeoisie weitgehend fallen gelassen wurden, bleiben zersplitterter denn je, wie im Fall der Rechtspartei Les Républicains. Die Nachfolgepartei der gaullistischen Partei, die seit der Gründung der Fünften Republik im Jahr 1958 die meiste Zeit an der Macht war, hat heute nur noch 62 Abgeordnete und setzt sich aus mindestens drei zunehmend zersplitterten Strömungen zusammen.
Diese politische Krise könnte die Fähigkeit der Bourgeoisie, einen glaubwürdigen Kandidaten aufzustellen, der in der Lage ist, Marine Le Pen abzuwehren, deren Chancen auf einen Sieg bei den Wahlen 2027 noch nie so groß waren, ernsthaft beeinträchtigen. In der Zwischenzeit könnte die französische Bourgeoisie mit anderen Hindernissen konfrontiert werden. Was würde passieren, wenn die Macron-Liste bei den Europawahlen eine herbe Niederlage erleiden würde? Auch die Rechte droht jetzt damit, einen Misstrauensantrag einzureichen, wenn die Regierung beschließt, die Steuern zu erhöhen. Die anderen Oppositionsparteien, vor allem das RN, würden sich dem anschließen. Ein solches Ergebnis würde zu vorgezogenen Parlamentswahlen mit einem unvorhersehbaren Szenario führen, abgesehen von der Tatsache, dass es das politische Chaos, in dem sich die französische Bourgeoisie befindet, noch verstärken würde.
In Bezug auf Deutschland kommt der Bericht von 2019 zu dem Schluss: "Die Situation ist komplex und Merkels Verzicht auf den CDU-Vorsitz (und damit auf das Amt der Bundeskanzlerin) läutet eine Phase der Unsicherheit und Instabilität für die dominierende Bourgeoisie in Europa ein." Der Ausbruch des Krieges in der Ukraine hat die traditionelle politische Linie der herrschenden Klasse in Deutschland besonders betroffen. Intern hat sich die Schwächung der traditionellen Parteien (SPD, CDU) fortgesetzt, was die Bildung von Koalitionen zwischen den drei großen Parteien in einer Zeit, in der die Beziehungen immer konfliktreicher werden, erforderlich macht. Gleichzeitig ist auch Deutschland nicht vom Aufstieg des Populismus und der extremen Rechten ausgenommen. Tatsächlich ist die populistische AfD zur zweitstärksten Partei in Deutschland geworden. Im Gegensatz zum RN in Frankreich, dessen Positionen noch teilweise Anzeichen von Verantwortungsbewusstsein zeigen, stehen die politischen Positionen der AfD (Ablehnung der EU, Fremdenfeindlichkeit, Offenheit gegenüber Russland usw.) derzeit zu sehr im Widerspruch zu den Interessen des nationalen Kapitals, als dass sie sich auf höchster Regierungsebene engagieren könnte. Ihre Haltung gegenüber der Regierungselite und ihre Verurteilung als Totalgegner der Integrität des föderalen Staates werden sie jedoch noch lange Zeit zu einem Sammelbecken für Protestwähler machen.
b) Die Übernahme populistischer Ideen durch traditionelle Parteien: politische Entwicklungen im Vereinigten Königreich.
"Der Brexit ging einher mit der Verwandlung der jahrhundertealten Tory-Partei in ein populistisches Sammelsurium, das erfahrene Politiker an den Rand drängte und Regierungsposten an ehrgeizige, engstirnige Querulanten vergab, die dann die Kompetenz der von ihnen geleiteten Ressorts erschütterten. Die rasche Abfolge der konservativen Premierminister seit 2016 ist ein Beweis für die Unsicherheit an der politischen Spitze."[15] Die 44 Tage des politischen Chaos unter der Regierung von Liz Truss im September/Oktober 2022 waren ein anschauliches Beispiel dafür. Auch wenn diese Wahl eine Abkehr von der populistischen Selbstüberschätzung bedeutet haben mag, so war sie doch vor allem durch die Verteidigung einer radikal ultraliberalen Politik und die Fantasie eines "globalen Britanniens" gekennzeichnet, das in völligem Widerspruch zu den globalen Interessen des britischen Kapitals steht.
Sunaks Machtantritt bedeutete jedoch den Versuch, die demokratische Glaubwürdigkeit der staatlichen und regierungsamtlichen Institutionen zu bewahren: "Seine Regierung änderte trotz des Einflusses des Populismus einige Aspekte des Nordirland-Protokolls, um einige der Widersprüche des Brexit zu umgehen, und trat dem europäischen Projekt Horizon bei, ohne die Flucht der Wirtschaft überwinden zu können. König Charles wurde als Botschafter nach Frankreich und Deutschland entsandt, um die Reste der britischen Würde zu zeigen. Schließlich ist die Entlassung von Suella Braverman und die Ernennung von Lord Cameron zum Außenminister ein weiterer Ausdruck dieses Versuchs, den wachsenden populistischen Virus innerhalb der Partei einzudämmen, aber ihre zukünftige Richtung und Stabilität bleiben zutiefst ungewiss, nicht zuletzt, weil derselbe Virus eine internationale Realität ist, vor allem innerhalb der amerikanischen herrschenden Klasse."
c) Eine neue Teilung zwischen links und rechts?
Im "Bericht über die Auswirkungen des Zerfalls auf das Leben der Bourgeoisie" heißt es: "Die dritte vorgesehene Strategie, die Neuformierung der Links-Rechts-Opposition, um dem Populismus den Wind aus den Segeln zu nehmen, scheint von der Bourgeoisie nicht wirklich umgesetzt worden zu sein. Im Gegenteil, die letzten Jahre waren durch einen unumkehrbaren Trend zum Niedergang der sozialistischen Parteien gekennzeichnet." Diese Tendenz hat sich in den letzten Jahren bestätigt. Auch wenn diese Entwicklung in einigen Ländern (insbesondere in Spanien und Großbritannien) aufgehalten wird, führt der unumkehrbare Niedergang der Sozialdemokratie und generell der traditionellen Regierungsparteien sowie die Schwierigkeit in vielen europäischen Ländern, neue linke Formationen (La France Insoumise in Frankreich, Podemos in Spanien, Die Linke in Deutschland) aufzubauen, aufgrund der Kämpfe zwischen den Cliquen, die auch diese Formationen erleben, tendenziell zur Entwicklung von immer fragileren Koalitionen. Dies ist zum Beispiel in Spanien der Fall, wo sich die PSOE auf gegensätzliche Kräfte stützt, um an der Macht zu bleiben. Auf der einen Seite die chauvinistische katalanische Rechte und auf der anderen die linksextreme Partei SUMAR, deren stellvertretende Ministerpräsidentin Yolanda Diaz ist. Diese "Frankenstein"-Regierung spiegelt die Fragilität der PSOE wider, die als einzige Kraft in der Lage ist, separatistische Tendenzen innerhalb des Zentralstaates zu kontrollieren.
d) Die Bildung von populistischen Regierungen
Die Machtübernahme populistischer und rechtsextremer Parteien ist ein Szenario, das in den kommenden Jahren zu einem wichtigen Element der politischen Situation der Bourgeoisie werden könnte, ohne jedoch überall die gleichen Folgen hervorzurufen. In den Jahren, in denen Trump, Bolsonaro und Salvini an der Macht sind, hat sich zwar die politische Instabilität verschärft, aber andere Teile des Staatsapparats waren in der Lage, ihre irrationalsten und weit hergeholten Bestrebungen zu kanalisieren oder zu bremsen. Dies war zum Beispiel unter Trump der Fall, als ein Teil der US-Regierung unablässig darum kämpfte, die Unberechenbarkeit der Entscheidungen des Präsidenten zu kontrollieren. Große Teile der Bourgeoisie, insbesondere innerhalb der staatlichen Strukturen, konnten sich der Versuchung einer Annäherung oder gar eines Bündnisses mit Russland widersetzen und so sicherstellen, dass die Option der dominierenden Fraktionen der Bourgeoisie triumphierte. Wie wir im Falle Italiens mit der Regierung Salvini gesehen haben, ist es auch möglich, dass die Populisten zustimmen, ihren "Wein zu verwässern", indem sie bestimmte Maßnahmen aufgeben oder ihre Versprechen, insbesondere im sozialen Bereich, zurückschrauben. Dies hat auch die Entscheidung des PVV-Vorsitzenden Geert Wilder in den Niederlanden gezeigt, auf die Machtübernahme zu verzichten, als es ihm nicht gelang, eine Koalition zu bilden.
e) Die Unterscheidung zwischen Populismus und der extremen Rechten
Die Möglichkeit, dass populistische Parteien an die Macht kommen, und die Realität eines solchen Ereignisses wie in Italien machen deutlich, dass Populismus und extreme Rechte nicht gleichzusetzen sind. Italien Land wird von einem Bündnis zwischen der traditionellen Rechten (der von Berlusconi gegründeten Forza Italia), Salvinis populistischer Lega und Melonis neofaschistisch inspirierter Partei Fratelli d'Italia (Brüder Italiens) regiert, deren Symbol nach wie vor die dreifarbige Flamme des früheren, offen an Mussolini ausgerichteten MSI (Movimento Sociale Italiano) ist. Natürlich gibt es große Ähnlichkeiten zwischen der Lega und Melonis Partei, insbesondere die fremdenfeindliche Rhetorik gegen Einwanderer, hauptsächlich Muslime, die sie zu Konkurrenten auf der Wählerbühne macht. Gleichzeitig verrät das Motto der Fratelli d'Italia (FI), "Gott, Vaterland und Familie", die traditionalistische Inspiration dieser Partei, die sie von der Lega unterscheidet. Letztere beruft sich zwar auf traditionelle Werte, ist aber eher antiklerikal und "systemfeindlicher" als die FI.
In Frankreich gibt es diesen Unterschied zwischen der populistischen extremen Rechten, die von Marine Le Pens Rassemblement National vertreten wird, und der traditionellen extremen Rechten, die von der Partei "Reconquête!" repräsentiert wird.[16] Es ist übrigens kein Zufall, dass Éric Zemmour von Reconquête in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 2022 in den "Nobelvierteln" von Paris den zweiten Platz belegte (hinter Macron, der zum beliebtesten Politiker der Bourgeoisie geworden ist) und dreimal so viele Stimmen wie Marine Le Pen erhielt, während letztere Zemmour in den "volkstümlichen" Ortschaften völlig niedermachte. Und es stimmt, dass Le Pens Reden gegen die Wirtschaftspolitik Macrons, wie die Abschaffung der Vermögenssteuer und die Rentenreform, bei der klassischen Bourgeoisie sehr schlecht ankommen. In der Tat erleben wir – mit unterschiedlichem Erfolg in den verschiedenen Ländern – einen Versuch bestimmter Teile der Bourgeoisie, aus den Ängsten rund um die Themen Einwanderung, Unsicherheit und islamischer Terrorismus, die bisher die Hauptstütze des Populismus waren, Kapital zu schlagen, um einer extremen Rechten neues Leben einzuhauchen, die aus Sicht der herrschenden Klasse "vorzeigbar" ist und ein Programm hat, das mit ihren Interessen besser vereinbar ist. Zemmour hat immer behauptet, dass sein Wirtschaftsprogramm dasselbe sei wie das der klassischen Rechten, die in Frankreich bisher von der Partei "Les Républicains", der Nachfolgerin der gaullistischen Partei, vertreten wurde. Bei den Präsidentschaftswahlen 2022 schlug er ein Bündnis mit dieser Partei vor, mit dem Argument, dass Marine Le Pen die Wahlen niemals allein gewinnen könne. Die Politik von Zemmour ist bisher gescheitert, da das RN in den Umfragen an die Spitze gerückt ist und die Präsidentschaftswahlen 2027 gewinnen könnte, was für die Bourgeoisie ein großes Problem darstellt. Andererseits ist es eine Politik, die in Italien erfolgreich war, da Meloni eine bemerkenswerte Fähigkeit bewiesen hat, eine Politik im Einklang mit den bürgerlichen Interessen zu verfolgen, und weit vor Salvini liegt.
Der Populismus ist keine politische Strömung, die von den weitsichtigsten und „verantwortungsbewusstesten“ Sektoren der Bourgeoisie gefördert wird, und er hat den Interessen dieser Klasse bereits geschadet (insbesondere in Großbritannien), aber zu den Karten, die der herrschenden Klasse zur Verfügung stehen, um zu versuchen, diesen Schaden zu begrenzen, gehört genau diese Betonung einer "traditionellen" extremen Rechten, die mit dem Populismus konkurrieren oder ihn schwächen soll.
Die Auswirkungen der "Gangsterisierung" der Gesellschaft und ihre Unterwanderung des Staates
Seit Ende der 1980er Jahre sind das Gangstertum und die Kriminalität, die vor allem durch den Drogenhandel angeheizt werden, weltweit explodiert. Dieses Phänomen, auf das bereits in den Thesen zum Zerfall hingewiesen wurde, geht mit einer unglaublichen Korruption im politischen Apparat einher: "Gewalt und die städtische Kriminalität [sind] in vielen Ländern Lateinamerikas und auch in den Vororten einiger europäischer Städte – teilweise im Zusammenhang mit dem Drogenhandel, aber nicht nur dort – explodiert (...). Was diesen Handel und sein enormes Gewicht in der Gesellschaft, auch auf wirtschaftlicher Ebene, betrifft, so kann man sagen, dass es sich um einen ständig wachsenden „Markt“ handelt, da das Unbehagen und die Verzweiflung, die jede Schicht der Bevölkerung trifft, zunehmen. Was die Korruption und all die Machenschaften – in anderen Worten „Wirtschaftskriminalität“ – angeht, so sind in den letzten Jahren viele Fälle aufgedeckt worden (wie die „Panama-Papiere“, die nur eine winzige Spitze des Eisbergs des Gangstertums sind, in dem der Finanzsektor immer mehr Fuß fassen muss)." (Bericht über den Zerfall heute, Mai 2017, International Revue Nr. 56)[17]
Es ist wichtig, die Auswirkungen dieses Phänomens auf das politische Leben der Bourgeoisie zu erkennen. Die immer offensichtlicheren Absprachen zwischen dem Verbrechen und den politischen Fraktionen des Staatsapparats haben die Tendenz, das politische Spiel in einen regelrechten Bandenkrieg zu verwandeln, manchmal vor dem Hintergrund einer Tendenz zum Zusammenbruch der politischen Institutionen. Dies ist sicherlich die akuteste und ungebremste Form der Tendenz, die Spaltung und Zersplitterung des bürgerlichen politischen Apparats zu verstärken. Die politische Situation in Haiti ist sicherlich das karikaturistischste Beispiel. Aber auch viele andere Länder in Mittel- und Südamerika sind seit Jahrzehnten von diesem Phänomen besonders betroffen. So wie der interne Krieg, der Anfang Januar am helllichten Tag zwischen dem ecuadorianischen Staat und kriminellen Banden ausbrach: "Die derzeitige bürgerliche Fraktion, die den Staatsapparat kontrolliert, ist direkt mit der mächtigsten agroindustriellen Import-Export-Gruppe Ecuadors verbunden. Ihr triumphaler Einzug in den Carondelet-Palast begann mit Finanzgesetzen, die dieser Gruppe direkt zugutekamen, mit Zustimmung der PSC und der RC5 (Correistas). Das Ergebnis war ein Land, das in bitterer Armut und endemischer Korruption auf allen Regierungsebenen versinkt und von allen Seiten von den mexikanischen Drogenkartellen (Jalisco Nueva Generación und Sinaloa) durchdrungen ist, die mit peruanischen und kolumbianischen Drogenhändlern zusammenarbeiten. Auch die albanische, chinesische, russische und italienische Mafia sind sehr präsent. Und eine Gesellschaft, die von der nationalen organisierten Kriminalität, den ODGs, überschwemmt wird, die mit den mexikanischen Kartellen oder den vorgenannten Mafias in Verbindung stehen".
Es sei auch darauf hingewiesen, dass die überstürzte Abrechnung zwischen den einzelnen Fraktionen der herrschenden Klasse zu einer Verschärfung der Spannungen zwischen den Nationalstaaten führt. So war beispielsweise die Stürmung der mexikanischen Botschaft in Quito durch die ecuadorianische Polizei am 5. April, um den ehemaligen Vizepräsidenten, der von der Regierung Noboa der Korruption beschuldigt wurde, zu vertreiben, ein wahrer Akt des Vandalismus, der gegen die Regeln des „bürgerlichen Anstands“ verstieß und zur diplomatischen Instabilität in diesem Teil der Welt beitrug.
Auch das politische System in Russland ist in besonderem Maße von der Gangsterisierung der politischen Beziehungen geprägt. Klientelismus, Korruption und Vetternwirtschaft sind die wichtigsten Rädchen im "System Putin". Dies ist ein Faktor, der bei der Analyse der Risiken für die Zukunft der Russischen Föderation berücksichtigt werden muss: "Von Putins politischem Überleben bis hin zum Überleben der Russischen Föderation und deren imperialistischem Status steht nach der Niederlage in der Ukraine viel auf dem Spiel: Wenn Russland in Problemen versinkt, wird es wahrscheinlich zu Abrechnungen und sogar zu blutigen Zusammenstößen zwischen rivalisierenden Fraktionen kommen." (Bericht des 25. Kongresses über die imperialistischen Spannungen, Internationale Revue Nr. 59).[18] Der Aufstand der Wagner-Gruppe im Juni 2023, gefolgt von der Liquidierung ihres Anführers Prigoschin zwei Monate später, und die schweren Repressionen, denen die pro-demokratische Fraktion ausgesetzt war (die Ermordung von Nawalny), haben das Ausmaß der internen Spannungen und die Zerbrechlichkeit Putins und seines inneren Kreises, der nicht zögert, seine Interessen in der Art eines echten Mafiabosses mit allen Mitteln zu verteidigen, voll bestätigt. Die zentrale Rolle, die das Gangstertum im politischen System Russlands spielt, trägt somit aktiv zum Risiko eines Auseinanderbrechens der Russischen Föderation bei. Ebenso hat die bewaffnete Abrechnung innerhalb der ehemaligen sowjetischen Nomenklatura zu der tiefgreifenden Destabilisierung beigetragen, die aus der Implosion des Ostblocks resultierte. Doch nach mehr als drei Jahrzehnten des Zerfalls könnten die Folgen einer solchen Dynamik zu einer weitaus chaotischeren Situation führen. Das Auseinanderbrechen der Föderation in mehrere Mini-Russland und die Verbreitung von Atomwaffen in den Händen unkontrollierbarer Kriegsherren würden einen regelrechten Sturzflug ins Chaos auf internationaler Ebene darstellen.
Doch während diese Erscheinungsformen des ideologischen und politischen Zerfalls der Gesellschaft in den Randzonen des Kapitalismus besonders weit fortgeschritten sind, ist diese Tendenz auch in den zentralen Ländern zunehmend zu beobachten:
- In den Demokratien sind die (mitunter gewaltsamen) Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Gruppierungen zwar nichts Neues und werden im Allgemeinen im Rahmen der Institutionen und der "Achtung der Ordnung" ausgetragen, doch nehmen sie zunehmend besonders chaotische und gewalttätige Formen an: "Der Angriff von Trump-Anhängern auf das Kapitol am 6. Januar hat deutlich gemacht, dass die Spaltungen innerhalb der herrschenden Klasse selbst im mächtigsten Land der Welt immer tiefer werden und in gewaltsame Auseinandersetzungen, ja sogar in Bürgerkriege auszuarten drohen." (Resolution zur internationalen Lage, Internationale Revue Nr. 59)
- Wie die Skandale um die "Panama Papers" und Qatargate (in die Abgeordnete des Europäischen Parlaments, parlamentarische AssistentInnen, NGO-VertreterInnen und GewerkschafterInnen verwickelt waren) gezeigt haben, wird die gesamte Politik bis in die höchsten Regierungsebenen von Korruption und Veruntreuung heimgesucht. Dies dient nur dazu, die verschiedenen politischen Fraktionen weiter zu diskreditieren, insbesondere diejenigen, die sich selbst als die Aufrichtigsten darstellen, und so dem populistischen Anti-Elite-Diskurs "Sie sind alle verkommen" Glaubwürdigkeit zu verleihen.
Im 19. Jahrhundert wies Marx darauf hin, dass das fortschrittlichste Land seiner Zeit, England, die Richtung vorgibt, in die sich die anderen europäischen Länder entwickeln werden. Heute finden wir in den am wenigsten entwickelten Ländern die bizarrsten Manifestationen des Chaos, das über den Planeten hinwegfegt und zunehmend auch die am weitesten entwickelten Länder betrifft. Die Beobachtung, die Marx zu seiner Zeit machte, war eine Veranschaulichung der Tatsache, dass sich die kapitalistische Produktionsweise noch in ihrer aufsteigenden Phase befand. Die heutige Feststellung, dass das Chaos in der Gesellschaft voranschreitet, ist ein weiterer Beleg für die historische Sackgasse, in der sich der Kapitalismus befindet, für seine Dekadenz und seinen Zerfall.
IKS, Dezember 2023
[1] https://de.internationalism.org/content/871/thesen-zur-oekonomischen-und-politischen-krise-der-udssr-und-den-osteuropaeischen
[2] Den Rahmen dieser Analysen übermittelte der IKS im Wesentlichen der Genosse MC (Marc, Teil 1: Von der Oktoberrevolution 1917 bis zum Zweiten Weltkrieg; Marc, Teil 2: Vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Internationale Revue 65 und 66, englischsprachige Ausgabe). Dies auf der Grundlage von Überlegungen, die bereits in der GCF stattgefunden hatten, aber auch auf der Grundlage von Überlegungen, die der Genosse im Laufe der Ereignisse gemacht hatte.
[4] https://en.internationalism.org/content/2957/eastern-europe-economic-crisis-and-bourgeoisies-weapons-against-proletariat
[5] https://de.internationalism.org/iksonline/kongress-der-iks-resolution-zum-internationalen-klassenkampf
[6] https://de.internationalism.org/content/748/der-zerfall-die-letzte-phase-der-dekadenz-des-kapitalismus
[8] https://de.internationalism.org/rueckschlaege-fuer-die-bourgeoisie-nichts-gutes-fuer-das-proletariat
[9] siehe Fußnote 8
[10] Der Absatz "Populismus und Zerfall" ist erst im letzten Drittel des Beitrags.
[11] Brexit, Trump: Rückschläge für die Bourgeoisie, nichts Gutes für das Proletariat, Weltrevolution Nr. 181, siehe Fußnote 8
[12] Es ist anzumerken, dass diese Analyse auch in anderen von der IKS erstellten und verabschiedeten Dokumenten zum Ausdruck kam. Im "Bericht über die Auswirkungen des Zerfalls auf das politische Leben der Bourgeoisie" (Internationale Revue Nr. 164, englische Ausgabe) heißt es zum Beispiel, dass die entscheidende Ursache für den Populismus "die Unfähigkeit des Proletariats ist, seine eigene Antwort, seine eigene Alternative zur Krise des Kapitalismus zu formulieren", https://en.internationalism.org/content/16711/report-impact-decomposition-political-life-bourgeoisie-23rd-icc-congress.
[13] Siehe Kapitel 3 des Berichts. Mittlerweile haben wir einen aktuellen Artikel zum Vormarsch des Populismus veröffentlicht: https://de.internationalism.org/content/3216/populismus-auf-dem-vormarsch-europa-das-rassemblement-national-der-schwelle-zur-macht
[14] https://de.internationalism.org/content/3120/resolution-des-25-internationalen-kongresses-der-iks-zur-internationalen-lage
[15] Resolution zur Lage in Großbritannien, intern veröffentlicht
[16] Paradoxerweise wird diese Partei von Éric Zemmour angeführt, dessen Name auf seine sephardisch-jüdische Herkunft hinweist. Um dieses "Handicap" gegenüber seiner traditionalistischen Klientel zu überwinden, die immer noch Sympathien für Marschall Pétain, den Anführer der Kollaboration mit Nazi-Deutschland, hegt, zögerte Zemmour nicht, zu erklären, dass Pétain jüdisches Leben gerettet habe (was von allen seriösen Historikern bestritten wird).