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Am 5. und 10. Dezember gingen Hunderttausende von Demonstrierenden aus allen Bereichen und Generationen gemeinsam gegen die "Rentenreform" auf die Straße. In den Demos waren Wut und Kampfgeist eindeutig zu spüren. Seit den Kämpfen von 2003 und 2010 gegen die Rentenreform haben wir in Frankreich nicht mehr eine solche soziale Atmosphäre, einen solchen Enthusiasmus gesehen, so viele zu sein, um uns alle gemeinsam gegen diesen Angriff zu wehren, der die gesamte Klasse der Ausgebeuteten betrifft: öffentliche und private Angestellte, Aktive und Rentner*innen, Arbeitslose, prekär Beschäftigte, Student*innen. Die Solidarität im Kampf zeigt sich auch heute noch durch den Willen, nicht nur für uns selbst, sondern auch für zukünftige Generationen und für andere Bereiche zu kämpfen. Heute Dienstag, den 17. Dezember, sind wir nach der abstoßenden Rede von Édouard Philippe und seinen Maßnahmen, in denen längere Arbeitszeiten und mehr Elend für alle Rentner*innen angekündigt wurden, wieder massiv mobilisiert. Wir müssen diesen Tag nutzen, um gemeinsam in den Demonstrationen zu diskutieren und zu reflektieren.
Der Premierminister, Édouard Philippe, und seine Regierung können ihre Reden mit allen möglichen trickreichen Lügen verkleiden; ihr Ziel ist klar: ihre "Rentenreform" zielt darauf ab, dem Staat Geld zu sparen, indem sie die Renten weiter kürzen. Niemand wird getäuscht, ihre "soziale Gerechtigkeit" heißt Senkung unserer Einkommen, die Verarmung aller.
Die Regierung verbirgt (schlecht) ihr wahres Ziel: Aufgrund von Zeiten der Arbeitslosigkeit oder wegen des Verschleisses durch die Arbeit werden die Arbeiter*innen am Ende in den Ruhestand gehen, ohne ihre gesamte Rente (oder alle ihre Punkte) zu haben, und müssen sich mit eingeschränkten Renten abfinden. Viele werden nicht einmal in der Lage sein, das bereits versprochene elende Minimum von 1.000 Euro zu erhalten, weil es dies nur für die volle Beitragszahlung gibt.
Um diese allgemeine Verschlechterung der Lebensbedingungen zu verbergen, um die Arbeiter und ihren Kampf zu spalten, wendet die Regierung jeden erdenklichen Trick an. Sie stellt die Eisenbahner und RATP-Beschäftigten (Pariser-Nahverkehrsbetriebe) als "privilegierte Egoisten" und sogar "Geiselnehmer" dar. Mit der Begleitung von lautstark verbreiteten Stellungnahmen im Fernsehen und in der Presse macht die Regierung Versprechungen für diesen oder jenen Bereich, verhandelt in jeder Branche oder sogar in jedem Unternehmen getrennt. Die Lehrer*innen erhalten ein paar Krümel an Bonuszahlungen. Die Eisenbahner*innen erhalten einige Zugeständnisse bei den Anrechnungn der Arbeitszeiten/-tage. Die Regierung gibt vor, die vor 1975 geborenen Beschäftigten zu verschonen, um uns zwischen Jung und Alt zu spalten. Die Regierung gibt vor, Frauen bevorzugen zu wollen, während arbeitende Frauen wie alle anderen auch ärmer sein werden, wenn sie das Rentenalter erreichen.
Diese "Reform" ist nur ein gewalttätiger Angriff unter vielen. Überall, in Fabriken und Verwaltungen, in allen Unternehmen, in allen Bereichen, im privaten und im öffentlichen Sektor, setzt die Bourgeoisie dieselben unerträglichen Arbeitsbedingungen durch. Überall drohen prekäre Arbeitsbedingungen. Überall kündigen die neuen "Reformen" eine noch härtere Zukunft an. Ziel der Regierung ist es, die französische Wirtschaft international so wettbewerbsfähig wie möglich zu machen in einer Zeit, in welcher der Wettbewerb zwischen den Nationen durch die Verschärfung der Weltwirtschaftskrise immer härter wird. Sie schlägt immer wieder zu – jeweils im Namen der "notwendigen" Rentabilität, der "obligatorischen" Wettbewerbsfähigkeit, der "unvermeidlichen" Notwendigkeit von ausgeglichenen Haushalten, während die Einkommen und Privilegien der Kapitalisten skrupellos weiter zunehmen.
Bei der Demonstration am 10. Dezember in Paris sagte uns ein Bahnarbeiter der SNCF: "Man sagt, wir kämpfen für unsere Privilegien. Ich bin über 50 Jahre alt. Ich werde von der Reform nicht betroffen sein. Aber ich streike und beteilige mit seit 15 Tagen an den Vollversammlungen. Ich kämpfe nicht für mich. Ich kämpfe für die Jüngeren. Und das nicht nur für die Beschäftigten der SNCF. Für alle anderen, in allen Berufen. Wir müssen alle zusammenhalten. Wir dürfen uns nicht damit abfinden, auf diese Weise verachtet zu werden."
Und dies ist keine isolierte Aussage. Ganz im Gegenteil. Diese Solidarität zwischen den Generationen und zwischen den Bereichen, dieses Gefühl der Zugehörigkeit zum Lager der Ausgebeuteten, das Gefühl, gemeinsam kämpfen zu müssen, ist in den Köpfen aller präsent. Das ist die Besonderheit der gegenwärtigen Bewegung: Nach Jahren der Trägheit, des Rückzugs in sich selbst, beginnen die ArbeiterInnen ihre Fähigkeit wieder zu entdecken, sich zu vereinen, sich gegenseitig zu unterstützen und gemeinsam, in Solidarität und Einheit zu kämpfen.
Die Gewerkschaften haben diese aufkommende Dynamik wahrgenommen, und deshalb präsentieren sie sich heute schamlos als Förderer der Solidarität, während sie in Wirklichkeit ständig die Arbeitnehmer spalten.
Édouard Philippe schloss seine Rede vom 11. Dezember mit den heuchlerischen Worten: "Meine Hand ist ausgestreckt, und unsere Tür bleibt offen." Aber offen für wen? Für die "Sozialpartner", d.h. die Gewerkschaften, die in keiner Weise die Interessen der Arbeiter*innen vertreten.
In der Tat wurde seit diesem Datum eine ganze Reihe von Verhandlungen mit diesen "Sozialpartnern" geführt, insbesondere über die Frage des auf 64 Jahre festgelegten "Referenz-Alters", das es der CFDT erlaubt, sich ein kämpferischeres Image zu geben. Hier taucht eine erste Falle auf: In naher Zukunft könnte die Regierung so tun, als würde sie bei diesem speziellen Aspekt ihrer Reform, auf den die Medien die ganze Aufmerksamkeit richten, vorübergehend einen Rückzieher machen, um vom Ganzen abzulenken. Die als "reformistisch" eingestuften Gewerkschaften können dann für sich in Anspruch nehmen, dass sie zufriedengestellt wurden. Die gewerkschaftliche Arbeit der Spaltung der Bewegung kann also beginnen!
Eine weitere Falle ist zu erwarten: Während bereits im September die Kampfbereitschaft in vielen Bereichen stark war, beschlossen die Gewerkschaften, die Bewegung erst am ... 5. Dezember zu starten. Warum mehr als drei Monate warten? Ganz einfach, wegen der Weihnachts- und Neujahrsfeiertage Ende Dezember! In Frankreich sind das Jahresende sowie die Sommerferien die schlechteste Zeit für die Entwicklung einer sozialen Bewegung aller Arbeiter*innen. Es ist ein klassisches Manöver der Gewerkschaften. Die Chancen stehen gut, dass die Eisenbahner*innen der SNCF und der RATP während dieser zwei Wochen, gedrängt von CGT und SUD, den Kampf allein und isoliert fortsetzen werden. Das Ziel der Gewerkschaften ist es, die Bewegung zu zerstückeln, die Kampfbereitschaft zu erschöpfen und die Beschäftigten der Verkehrsbetriebe zu isolieren, während die Medien eine intensive Kampagne gegen diese so genannten "Geiselnehmer“ führen, „die die Arbeiter daran hindern, zu reisen und ihren wohlverdienten Urlaub zu genießen".
Auch in seiner Rede vom 11. Dezember hat Édouard Philippe stolz erklärt: "Es gibt eine ganze Reihe von Punkten, an denen wir die Reform verbessern können, insbesondere bei den besonders schwierigen Arbeitsbedingungen." Darin liegt die dritte Falle: Die Regierung verhandelt mit jeder Branche separat, eine nach der anderen, um uns zu spalten. Aber mit wem verhandelt sie? Immer wieder mit – den Gewerkschaften! Während die "Sozialpartner" laut und deutlich erklären, dass diese Reform ein Angriff auf alle Arbeiter*innen ist, finden sie sich gleichzeitig am Verhandlungstisch mit der Regierung wieder (wie immer hinter unserem Rücken), um "gemeinsam zu untersuchen", wie Arbeiter*innen im Bildungswesen, im Transportwesen, in Krankenhäusern (oder in jeder anderen schwierigen Arbeit) teilweise und vorübergehend von diesem oder jenem Aspekt der Reform verschont bleiben könnten. Kurz gesagt, Regierung und Gewerkschaften spielen das Spiel der branchenmäßigen Spaltung gemeinsam, Hand in Hand!
Erinnern wir uns daran, dass die Gewerkschaften seit Jahren mehr und mehr branchenspezifische Aktionstage veranstalten, dass sie, wann immer sie können, die isologiert kämpfenden Arbeiter*innen in ihrer Branche gewissermaßen einsperren, jede*r in seinem/ihren Betrieb und mit seiner/ihrer eigenen Parole und seinen/ihren spezifischen Forderungen. Und je isolierter der Kampf ist, desto länger lassen die Gewerkschaften ihn dauern, bis die Streikenden völlig erschöpft sind.
Eine Karikatur dieser Sabotage war der Aufruf der "Kollektive" Inter-urgence und Inter-hôpitaux (krankenhausübergreifende Notdienste), sich nicht dem Streik vom 5. Dezember anzuschließen, und zwar im Namen der "Besonderheit der Krankenhausforderungen", um nicht "in einer Sammelbewegung verwässert zu werden". So hatten diese (von den Gewerkschaften und trotzkistischen Gruppen beherrschten) "Kollektive" die Krankenhausbeschäftigten aufgefordert, sich für einen besonderen, separaten Aktionstag am 30. November zu mobilisieren.
Aber dank dem Nachdenken der Arbeiter*innen über die Notwendigkeit, vereint und solidarisch zu kämpfen, gelang es, dem branchenmäßigen Spaltungsmanöver entgegenzuwirken, das von diesen "Kollektiven" orchestriert wurde: Am Ende folgten viele Krankenschwestern, Notärzt*innen und Praktikant*innen nicht den Anweisungen der Gewerkschaft und demonstrierten am 5. und 10. Dezember!
Seien wir nicht naiv, heute brüsten sich die Gewerkschaften mit ihrer neu gefundenen Einheit und Radikalität, indem sie verkünden, dass es keinen "Waffenstillstand am Jahresende" geben werde, um den Streik bei der RATP und der SNCF "unpopulär" zu machen. Dieses Manöver hat nur ein Ziel: uns zu spalten und in eine Niederlage und Demoralisierung zu führen!
Alle Ausgebeuteten haben die gleichen Interessen zu verteidigen. Sie kämpfen den gleichen Kampf. Nur durch Einheit und Solidarität, über Branchen und Unternehmen hinweg, können wir stark sein. Diese notwendige Einheit im Kampf bedeutet, dass wir uns nicht mehr als Eisenbahnarbeiter, Krankenschwestern, Kassierer, Lehrerinnen oder Computerspezialisten sehen dürfen, sondern als ausgebeutete Arbeiter und Arbeiterinnen. Das beweisen einmal mehr die massiven Demonstrationen im Dezember! Das ist es, was die französische Bourgeoisie heute beunruhigt!
Aber wenn wir unseren Kampf weiterhin den Gewerkschaften anvertrauen, werden diese sozialen Feuerwehrleute die Entwicklung unserer Kampffähigkeit und Solidarität sabotieren. Im Namen der Einheit werden sie uns spalten. Im Namen des Radikalismus werden sie uns erschöpfen. Wir können uns nur auf uns selbst verlassen. Um unsere Kämpfe voranzutreiben, müssen wir lernen, uns zu organisieren, indem wir massenhafte, für alle offene Vollversammlungen einberufen und Delegationen in die Betriebe schicken, die unserem Arbeitsplatz geographisch am nächsten liegen. Es ist möglich, wir haben es bereits getan. Erinnern wir uns:
1968, als die Weltwirtschaftskrise erneut zuschlug und mit ihr die Arbeitslosigkeit zurückkehrte, schlossen sich die Arbeiter*innen in Frankreich im Kampf zusammen. Nach den gewaltigen Demonstrationen am 13. Mai aus Protest gegen die polizeiliche Repression gegen die Student*innen breiteten sich die Streiks und Vollversammlungen wie ein Lauffeuer in den Betrieben aus. Dies gipfelte mit 9 Millionen Streikenden im größten Streik in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung. Sehr oft entwickelte sich diese Dynamik der Ausdehnung und der Einheit außerhalb der Gewerkschaften, und viele Arbeiter*innen zerrissen nach den Grenelle-Vereinbarungen vom 27. Mai zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgebern ihre Gewerkschaftskarte. Es handelte sich um Vereinbarungen, die die Bewegung zu Grabe trugen.
Im Frühjahr 2006 musste die Regierung angesichts der Entwicklung der Solidarität zwischen den arbeitenden Generationen ihren "Contrat Première Embauche" (CPE) zurückziehen. Prekär beschäftigte Student*innen hatten in den Universitäten massenhaft Vollversammlungen organisiert, die für Arbeiter*innen, Arbeitslose und Rentner*innen offen waren. Sie hatten eine verbindende Parole aufgestellt: den Kampf gegen Prekarität und Arbeitslosigkeit. Diese Vollversammlungen waren sozusagen die Lunge der Bewegung, das Zentrum, wo Debatten geführt, Entscheidungen getroffen wurden, insbesondere über die Mittel zur Ausweitung des Kampfes. Ergebnis: Jedes Wochenende brachten die Demonstrationen immer mehr Bereiche zusammen. Unter dem Motto "Junger Speck, alte Croutons, alles derselbe Salat" schlossen sich Angestellte und Rentner*innen den Studenten*innen an. Die französische Bourgeoisie, die Arbeitgeber und die Regierung von Villepin hatten angesichts dieser Ausweitung und der von den Student*innen begonnenen Tendenz zur Vereinheitlichung der Bewegung keine andere Wahl, als den CPE zurückzuziehen.
Heute fehlt den Angestellten, Arbeitslosen, Rentner*innen und Studierenden noch das Vertrauen in sich selbst, in ihre kollektive Stärke, um ihren Kampf in die Hand zu nehmen. Aber es gibt keinen anderen Weg. Alle von den Gewerkschaften vorgeschlagenen "Aktionen" führen zu Spaltung, Niederlage und Demoralisierung. Nur das Zusammenkommen in offenen, massiven und autonomen Vollversammlungen, die wirklich über die Richtung der Bewegung entscheiden, kann die Grundlage für einen vereinigten und solidarischen Kampf aller Bereiche, aller Generationen sein. Vollversammlungen, die es jedem und jeder ermöglichen, an der Bewegung teilzunehmen. Vollversammlungen, die gemeinsame Forderungen stellen. Vollversammlungen, in denen wir uns vereint fühlen und auf unsere gemeinsame Stärke vertrauen. Vollversammlungen, die es uns ermöglichen, die Manöver der Gewerkschaften zu vereiteln und die Führung in unserem eigenen Kampf zu übernehmen.
Wenn diese Bewegung aufhört, weil sie irgendwann mal zu Ende gehen wird, müssen sich die kämpferischsten und entschlossensten Arbeiter neu zusammenfinden. Diese Arbeiter müssen zusammenkommen, um "Kampfkomitees" zu bilden, um gemeinsam zu diskutieren, die Lehren dieser sozialen Bewegung zu ziehen, sich die der vergangenen Bewegungen wieder anzueignen und sich auf zukünftige Kämpfe vorzubereiten.
Nur das Proletariat wird auf lange Sicht in der Lage sein, die Türen der Zukunft für die zukünftigen Generationen zu öffnen, angesichts dieses dekadenten kapitalistischen Systems, das immer mehr Elend, Ausbeutung und Barbarei in sich trägt, das Krieg und Massaker mit sich bringt, wie die Wolke den Sturm trägt. Ein System, das die Umwelt zerstört und das Überleben der Menschheit bedroht.
Nur der massive, vereinigte und selbstorganisierte Kampf der ausgebeuteten Klasse kann die gegenwärtigen Angriffe der Bourgeoisie bremsen und zurückschlagen.
Nur die Entwicklung dieses Kampfes kann den Weg für den grundlegenden und historischen Kampf der Arbeiterklasse für die Abschaffung der Ausbeutung und des Kapitalismus ebnen.
Internationale Kommunistische Strömung, 15. Dezember 2019
Nach der gezielten Ermordung des führenden iranischen Militärstrategen Qaseem Soleimani durch die USA ging es in vielen Hauptstädten der Welt, vor allem in Westeuropa – unabhängig davon, ob sie sich explizit für die US-Aktion aussprachen oder nicht – um die Notwendigkeit, eine "Eskalation" der militärischen Spannungen im Mittleren Osten zu vermeiden. In Bezug auf die begrenzte Art der ersten Reaktion des Iran – ein Raketenangriff auf die US-Luftwaffenstützpunkte im Irak, der offenbar nur geringe Schäden oder Verluste an Menschenleben verursacht hat – atmeten dieselben Stimmen auf und hofften, dass der Iran nun Halt machen würde.
Aber die Eskalation der militärischen Konfrontationen im Nahen Osten – und der besondere Beitrag der USA dazu – hat tiefere und breitere Wurzeln als die derzeitige Konfrontation zwischen dem Iran und der Trump-Regierung in den USA. Bereits in der Zeit des Kalten Krieges war die strategisch wichtige Region Schauplatz einer Reihe von Stellvertreterkriegen zwischen dem US-amerikanischen und dem russischen Block, insbesondere mit den arabisch-israelischen Kriegen von 1967 und 1973 und den "Bürgerkriegen", die den Libanon und Afghanistan heimsuchten, oder dem Krieg zwischen Iran und Irak in den 1980er Jahren. Mit dem Zusammenbruch des russischen Blocks am Ende jenes Jahrzehnts versuchten die USA, sich als einzige Supermacht der Welt durchzusetzen, indem sie von ihren ehemaligen Partnern des westlichen Blocks verlangten, sich 1991 dem ersten Krieg der "Neuen Weltordnung" von Bush Senior gegen Saddams Irak anzuschließen. Aber diese „Neue Weltordnung“ erwies sich bald als eine Illusion. Anstatt eine neue globale Stabilität zu erreichen – eine, die natürlich von den USA dominiert werden sollte – beschleunigte nur jedes neue amerikanische Militärabenteuer das Abgleiten ins Chaos: der gegenwärtige Zustand der beiden Länder, Afghanistan und Irak, die sie zu Beginn des neuen Jahrhunderts besetzten, liefert dafür reichlich Beweise. Unter Obama haben die USA in diesen Ländern einen Rückschlag erlitten und die Notwendigkeit, sich auf den Konflikt im Fernen Osten zu konzentrieren, um sich der wachsenden Herausforderung durch China zu stellen, hat den abnehmenden Einfluss des amerikanischen Imperialismus im Mittleren Osten noch weiter verdeutlicht. In Syrien mussten sie immer mehr Boden an Putins Russland abtreten, das nun ein Bündnis mit der Türkei (einem NATO-Mitglied) eingegangen ist, um die kurdischen Kräfte, die zuvor mit Unterstützung der USA den Norden Syriens gehalten hatten, zu zerstreuen.[1]
Aber obgleich die USA auf dem Rückzug sind, behaupten sie weiterhin, dass sie sich keineswegs aus der Region zurückgezogen haben. Stattdessen haben sie ihre Strategie auf die unerschütterliche Unterstützung ihrer beiden zuverlässigsten Verbündeten in der Region – Israel und Saudi-Arabien – ausgerichtet. Unter Trump haben die USA praktisch jeden Schein aufgegeben, Schiedsrichter zwischen Israel und den Palästinensern zu sein, und Netanjahus offen annektierendes Vorgehen ohne jeden Einwand unterstützt. Ebenso scheut sie keine Skrupel, das saudische Regime zu unterstützen, das im Jemen einen brutalen Krieg führt und dreist Sprecher der Opposition wie den Journalisten Jamal Khashoggi ermordet, der in der saudischen Botschaft in Istanbul getötet und zerstückelt wurde. Und vor allem übt es Druck auf seinen Hauptfeind in der Region, den Iran, aus.
Der Iran ist den USA seit der sogenannten Islamischen Revolution, die 1979 den stark pro-amerikanischen Schah stürzte, ein Dorn im Auge. In den 80er Jahren unterstützten sie Saddams Krieg gegen den Iran, um das neue Regime zu schwächen. Doch der Sturz Saddams im Jahr 2003 hat einen großen Teil des Irak für den iranischen Einfluss geöffnet: Die schiitisch dominierte irakische Regierung in Bagdad ist eng mit dem Teheraner Regime verbunden. Dies hat die eigenen imperialistischen Ambitionen des Iran im gesamten Nahen Osten erheblich verstärkt: Er hat über die Hisbollah im Libanon eine Art „Staat im Staat“ gegründet und ist die Hauptstütze der Huthi-Kräfte, welche gegen Saudi-Arabien und seine Stellvertreter im Jemen kämpfen. Und Soleimani war der Hauptarchitekt des iranischen Imperialismus bei diesen und anderen Abenteuern.
Die Entscheidung von Trump, die Ermordung Soleimanis in Angriff zu nehmen, basierte daher nicht auf einer bloßen Laune dieses zugegebenermaßen unberechenbaren US-Präsidenten, sondern ist Teil einer imperialistischen Strategie, die von einem beträchtlichen Teil der US-Bourgeoisie unterstützt wird – auch wenn die Verfolgung ihrer Logik sicherlich die Spaltungen innerhalb des militärisch-politischen Apparates der US-Herrscherklasse verschärft hat. Insbesondere hat sie diejenigen verärgert, die Obamas versöhnlichere Annäherung an den Iran unterstützten, wie sie in der Vereinbarung über das iranische Atomprogramm verkörpert wird, eine der ersten diplomatischen Vereinbarungen, die Trump bei seiner Amtsübernahme fallen gelassen hat. Dieser Versuch, Brücken zum Iran zu bauen, war auch die Vorgehensweise der wichtigsten europäischen Mächte, einschließlich Großbritanniens, die erneut ihre Bedenken gegen Trumps Politik nach der Ermordung Soleimani zum Ausdruck gebracht haben.
Diese bürgerlichen Kritiker von Trump haben sich beschwert, dass sie die "langfristige Strategie" hinter Soleimanis Ermordung nicht sehen können, dass Trump die Dinge nicht durchdacht hat. Sie bekräftigen weiterhin ihr Engagement für rationale, politische, diplomatische Lösungen für die kriegsähnlichen Konflikte und Rivalitäten, die sich auf der ganzen Welt ausbreiten. Aber das Abgleiten des Kapitalismus in den Militarismus ist nicht das Produkt von Trump oder anderen schlechten Führern, sondern der historischen Sackgasse des kapitalistischen Systems, und diese „verantwortlichen" bürgerlichen Fraktionen sind nicht weniger auf die Militärmaschine angewiesen als Trump und andere Populisten. Der Einsatz von Drohnen im Mittleren Osten und den umliegenden Regionen wurde unter Obama eingeführt.
Trumps Regierung basiert auf der Erkenntnis, dass sowohl die alte Ordnung der disziplinierten Militärbündnisse, die während des Kalten Krieges herrschte, als auch das Projekt der neuen Weltordnung nach 1989 gleichermaßen tot sind und dass die wahre Dynamik in der Welt seit 1989 darin besteht, dass "jeder für sich selbst schaut und der Teufel den Letzten schnappt": das ist die wahre Bedeutung von Trumps Slogan "America first". Und dies wiederum ist auf der Ebene der internationalen Beziehungen der Ausdruck der dahinter steckenden Fäulnis der kapitalistischen Gesellschaft selbst – der letzten Phase des Niedergangs des Kapitalismus als Produktionsweise, die erstmals durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs deutlich in Erscheinung getreten ist. In diesem Zusammenhang sind die USA nicht mehr der Gendarm der Welt, sondern der Hauptfaktor für den Abstieg ins Chaos. Trump ist lediglich die Personifizierung dieser unerbittlichen Tendenz. Deshalb kann das "langfristige Vorgehen", das hinter der Ermordung Soleimanis steckt, unabhängig von den subjektiven Vorstellungen Trumps oder seinen Gefolgsleuten und Anhängern, nur ein Ergebnis haben: die Eskalation der militärischen Barbarei, ob diese nun kurz- oder langfristig stattfindet. Und wie der Alptraum in Syrien klar vor Augen führt, wird das erste Opfer dieser Eskalation die Masse der Bevölkerung sein, der "Kollateralschaden" des Militarismus. In diesem Sinne zeigt der Abschuss des ukrainischen Flugzeugs über Teheran am selben Tag wie der iranische Raketenangriff auf die US-Luftwaffenstützpunkte, ob beabsichtigt oder nicht, den wahren menschlichen Preis dieser militärischen Konfrontationen.
Der linke Flügel der kapitalistischen politischen Maschinerie – die Demokraten und „demokratischen Sozialisten" in den USA, die Corbynisten in Großbritannien, die Trotzkisten überall – haben ihre eigene Agenda, wenn sie das Anheizen der Spannungen im Nahen Osten auf Trump oder den US-Imperialismus schieben. Das rührt von der Idee her, dass Amerika oder die Westmächte die einzigen Imperialisten seien und dass sie von nicht-imperialistischen oder sogar antiimperialistischen Ländern wie Russland, China – oder dem Iran – bekämpft würden. Das ist eine Lüge: In dieser Epoche sind alle Länder imperialistisch, von den größten und einflussreichsten Staaten bis hin zu den kleineren und weniger globalen Mächten. Der Iran hat (nicht weniger als Israel) seine eigenen imperialistischen Bestrebungen, die sich in seinen Versuchen ausdrücken, Stellvertreterkräfte einzusetzen, um die führende Macht im Nahen und Mittleren Osten zu werden. Und hinter ihnen lauern die größeren imperialistischen Staaten Russland und China. Im Gegensatz dazu haben diejenigen, die vom Kapital ausgebeutet werden, egal welcher Nationalstaat über ihre Ausbeutung herrscht, kein Interesse daran, sich mit den imperialistischen Abenteuern ihrer eigenen herrschenden Klasse zu identifizieren.
Die Linken fordern zwar die Verteidigung der so genannten "unterdrückten" Nationen und Nationalstaaten, behaupten aber gleichzeitig, auf der Seite der Ausgebeuteten und Unterdrückten in diesen Ländern zu stehen, wo die lange Herrschaft der Kriegswirtschaft zusammen mit den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise – zu der wir das Gewicht der US-Sanktionen in einem Land wie dem Iran hinzufügen können – sicherlich zu einer massiven Anhäufung von sozialer Unzufriedenheit und Widerstand gegen die bestehenden Regime im gesamten Nahen und Mittleren Osten geführt hat.[2] Das haben die Volksaufstände in Ländern wie dem Libanon, dem Irak und dem Iran in den vergangenen zwei Jahren gezeigt. Aber während die Linken ihre Unterstützung für diese Bewegungen hinausposaunen, untergraben sie in Wirklichkeit die Möglichkeit der Entstehung einer unabhängigen Klassenbewegung in diesen Ländern, weil sie sich weigern, die Schwächen dieser Aufstände zu kritisieren, bei denen verschiedene Klasseninteressen miteinander verschmolzen werden. In der Tat können die Linken mit ihrer Unterstützung für den "Nationalismus der Unterdrückten" die Tendenz dieser Aufstände, eine nationalistische Richtung einzuschlagen, nur noch verstärken (wie bei den antiiranischen Parolen, die bei den Protesten im Irak erhoben wurden, oder mit dem Schwenken der libanesischen Flagge als falsche Lösung für die zahlreichen Spaltungen im Libanon). Und jetzt, wo die Regime im Iran und im Irak versuchen, die Unzufriedenheit mit den Regierungen in einer hysterischen Kampagne der antiamerikanischen nationalen Einheit zu ertränken, betätigen sich die Linken, indem sie die anti-amerikanischen Parolen aufgreifen, als Cheerleader der Kriegsanstrengungen der Ayatollahs. Und es ist eine Ironie der Situation, dass die Ermordung Soleimanis durch die USA es dem Teheraner Regime ermöglicht, diese Kampagnen zu nutzen, um seine Glaubwürdigkeit als Verteidiger der iranischen "nationalen Interessen" zu stärken.
Und doch bezweifeln wir trotz der weit und breit publizierten Bilder von Hunderttausenden auf den Straßen, die um Soleimani weinen, dass die Ausgebeuteten und Unterdrückten im Iran und im Irak vollständig vom Regime vereinnahmt wurden: Es ist schließlich derselbe Soleimani, dessen Elitekräfte bei der gnadenlosen Unterdrückung der Proteste gegen das Regime, das Hunderte von Leichen auf den Straßen hinterlassen hat, an vorderster Front stehen. Die wütenden regierungsfeindlichen Demonstrationen, die im Iran unmittelbar nach dem Eingeständnis der Behörden, das ukrainische Flugzeug abgeschossen zu haben, ausbrachen, zeigen, dass die vom Regime nach der Ermordung Soleimanis fabrizierte "Heilige Allianz" keine wirkliche Festigkeit besitzt.
Die Arbeiterklasse im Iran hat in den vergangenen zwei Jahren einige mutige Kämpfe geführt und dabei wieder einmal gezeigt, dass sie – wie wir in bestimmten Momenten in den Jahren 1978-79 gesehen haben – das Potenzial hat, der Masse der Bevölkerung eine Führung zu geben, ihre Unzufriedenheit in eine authentisch proletarische Bewegung zu integrieren.
Aber damit dies geschehen kann, müssen die Arbeiter*innen des Iran, des Irak und anderer Länder an der Frontlinie des imperialistischen Konflikts die Fähigkeit entwickeln, alle Fallen, die ihnen in den Weg gelegt werden, sei es in der Form von Nationalismus oder Illusionen in die Überlegenheit der „westlichen Demokratie“, zu vermeiden. Und sie werden nicht in der Lage sein, diesen wichtigen Schritt nach vorne zu machen ohne die aktive Solidarität der internationalen Arbeiterklasse, vor allem in den zentralen Ländern des Systems. Die gegenwärtigen Kämpfe der Arbeiterklasse in Frankreich zeigen, dass dies keine verlorene Hoffnung ist.
Gegen die Eskalation der militärischen Barbarei liegt der einzige Weg nach vorne für die Menschheit in der Eskalation des internationalen Klassenkampfes gegen das Kapital, seine nationalen Rivalitäten, seine Repression und seine Kriege.
Amos, 12.01.20
[1] Der "Orientierungswechsel" von Erdogans Türkei funktioniert jedoch in beide Richtungen, wie die meisten Bündnisse in dieser Zeit: Im Nahen Osten hat sie sich gegen die USA in Richtung Russland geschlängelt, aber in Libyen hat sie Truppen zur Unterstützung der von der UNO anerkannten Regierung der Nationalen Übereinkunft (GNA) gegen die von Russland unterstützten Kräfte unter Khalifa Haftar geschickt ...
[2] Erinnern wir uns auch daran, dass derselbe Trump, der sich heuchlerisch zugunsten der Proteste der iranischen Bevölkerung gegen Armut und Arbeitslosigkeit äußert, jetzt droht, ihre Lebensbedingungen noch verzweifelter zu machen, indem er dem Iran noch lähmendere Wirtschaftssanktionen auferlegt. Nicht weniger heuchlerisch ist Trumps Vorwand, die Proteste nach dem Abschuss des Flugzeugs zu unterstützen; ein Versuch, den Irrtum des Iran zu instrumentalisieren und Illusionen über die moralische Überlegenheit der Westmächte zu verbreiten.
Nach Jahren der Trägheit zeigt die soziale Bewegung gegen die Rentenreform ein Erwachen der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse in Frankreich. Trotz all ihrer Schwierigkeiten hat die Arbeiterklasse begonnen, die Stirn zu bieten. Während vor einem Jahr das gesamte soziale Terrain von der interklassistischen Gelbe-Westen-Bewegung besetzt war, haben heute die Ausgebeuteten aus allen Bereichen und Generationen die von den Gewerkschaften organisierten Aktionstage genutzt, um auf die Straße zu gehen, entschlossen, auf ihrem eigenen Klassenterrain gegen diesen massiven Frontalangriff der Regierung gegen alle Ausgebeuteten zu kämpfen.
Während die ArbeiterInnen fast zehn Jahre lang gelähmt und völlig isoliert in ihrer eigenen Ecke an ihren Arbeitsplatzes geblieben sind, ist es ihnen in den letzten Wochen gelungen, den Weg zurück zum Weg des kollektiven Kampfes zu finden.
Die Bestrebungen nach Einheit und Solidarität im Kampf zeigen, dass die Arbeiter in Frankreich beginnen, sich wieder als Teil ein und derselben Klasse mit den gleichen Interessen zu erkennen, die es zu verteidigen gilt. So konnte man in mehreren Demonstrationszügen, besonders in Marseille, hören: "Die Arbeiterklasse existiert!" In Paris sangen Gruppen von Demonstranten, die nicht hinter Gewerkschaftsfahnen marschierten, "Wir sind hier, wir sind hier für die Ehre der Arbeiter und für eine bessere Welt". Bei der Demonstration am 9. Januar sangen sogar Schaulustige, die am Rande des Gewerkschaftsumzugs auf den Bürgersteigen gingen, das alte Lied der Arbeiterbewegung: "Die Internationale", während Studenten und Gymnasiasten mit ihren eigenen Spruchbändern riefen: "Die Jungen in der Galeere, die Alten im Elend!“
Indem die Arbeiterklasse sich weigert, vor den Bedürfnissen des Kapitals auf die Knie zu gehen, kann sie ihre Würde zurückgewinnen.
Ein weiteres, für eine Veränderung der sozialen Situation sehr bedeutsames Element war die Einstellung und die Haltung der Reisenden während der Streiks im Nah- und Fernverkehr. Dies ist das erste Mal seit der Bewegung vom Dezember 1995, dass ein Transportstreik nicht "unpopulär" ist, trotz aller von den Medien orchestrierten Kampagnen wegen der Unannehmlichkeiten der Reisenden, um zur Arbeit, nach Hause oder während der Weihnachtsferien in den Urlaub zu fahren. Nirgendwo, außer in den dem Kapital ergebenen Medien, war zu hören, dass die Eisenbahner der SNCF oder der RATP die Reisenden "als Geiseln" nähmen. Auf den Bahnsteigen oder in den überfüllten Zügen und RER warteten die Menschen geduldig. In der Hauptstadt schafften es die Leute ohne groß über die streikenden Eisenbahnarbeiter zu klagen, mittels Fahrgemeinschaften, Fahrräder, Roller.an ihr Ziel zu gelangen. Aber mehr als das, die Unterstützung und Wertschätzung für die Eisenbahner zeigte sich auch in Gestalt zahlreicher Spenden für Solidaritätskassen (mehr als drei Millionen Euro wurden in wenigen Wochen gesammelt!) für die Streikenden, die selbst mehr als ein Monatsgehalt opferten, indem sie nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere kämpften.
Doch nach anderthalb Monaten Streik, nach wöchentlichen Demonstrationen mit Hunderttausenden von Menschen, ist es dieser Bewegung nicht gelungen, die Regierung zum Rückzug zu bewegen.
Von Anfang an hatten die Bourgeoisie, ihre Regierung und ihre "Sozialpartner" eine Strategie entwickelt, um den Angriff auf die Renten durchzusetzen. Die Frage des "Renteneintrittsalters ohne Abzüge“ war eine Karte, die sie in der Hinterhand hatten, um den Widerstand der Arbeiterklasse zu sabotieren und die "Reform" durch die klassische Strategie der Spaltung der "Gewerkschaftsfront" durchzusetzen.
Darüber hinaus rüstete die Bourgeoisie ihren Polizeistaat im Namen der Aufrechterhaltung der "republikanischen Ordnung" auf. Die Regierung setzt besessen ihre Repressionskräfte ein, um uns einzuschüchtern. Mit Rückendeckung durch die Medien reagieren die Bullen mit Tränengas und verprügeln blindlings Arbeiter (einschließlich Frauen und Rentner). Die Medien schmeißen alle in einen Topf: die ausgebeutete Klasse, die schwarzen Blöcke und andere "Randalierer". Um zu verhindern, dass die Arbeiter am Ende der Demonstrationen zu Diskussionen zusammenkommen, treiben die CRS-Trupps sie auf Befehl der Präfektur mit Granaten auseinander (Entkesselung heißt das in der Polizeisprache). Die Polizeigewalt ist keineswegs das Ergebnis von einfachen individuellen "Fehlern" einiger weniger aufgeregter und unkontrollierbarer CRS. Sie gibt einen Vorgeschmack von der rücksichtslosen und grausamen Unterdrückung, die die herrschende Klasse auch in Zukunft nicht zögern wird, gegen die Proletarier zu entfesseln (wie sie es in der Vergangenheit z.B. während der "blutigen Woche" der Pariser Kommune 1871 getan hat).
Um der herrschenden Klasse entgegenzutreten und die Regierung zum Rückzug zu zwingen, müssen die Arbeiter ihren Kampf selbst in die Hand nehmen. Sie dürfen sie nicht den Gewerkschaften, diesen "Sozialpartnern", anvertrauen, die immer hinter ihrem Rücken und hinter verschlossenen Türen in den Ministerien verhandelt haben.
Wenn wir weiterhin die Gewerkschaften bitten, uns zu "vertreten", wenn wir weiterhin darauf warten, dass sie den Kampf für uns organisieren, dann ja, dann sind wir "verkauft“ und werden verlieren.
Um unseren Kampf in die Hand nehmen zu können, ihn zu erweitern und zu vereinheitlichen, müssen wir uns massenhaft in Vollversammlungen organisieren, die selbständig sind und der ganzen Arbeiterklasse offenstehen. In diesen Vollversammlungen können wir gemeinsam diskutieren, gemeinsam über die zu ergreifenden Maßnahmen entscheiden, Streikkomitees mit gewählten Delegierten bilden, die jederzeit abgewählt werden können.
Die jungen ArbeiterInnen, die sich im Frühjahr 2006, als sie noch Studenten oder Gymnasiasten waren, an der Bewegung gegen den "Erstanstellungsvertrag" beteiligt haben, müssen sich an diese Erfahrung erinnern und sie an ihre ArbeitskollegInnen, jung und alt, weitergeben. Wie konnten sie die Regierung Villepin zum Rückzug zwingen, als diese den "CPE" zurückzog? Dank ihrer Fähigkeit, ihren Kampf selbst in ihren massiven Vollversammlungen in allen Universitäten und ohne jede Gewerkschaft zu organisieren. Der Zugang zu den Vollversammlungen war nicht versperrt. Im Gegenteil: Die Studenten hatten alle ArbeiterInnen, aktive und pensionierte, aufgerufen, mit ihnen in ihren Vollversammlungen zu diskutieren und sich an der Bewegung in Solidarität mit den jungen Generationen, die mit Arbeitslosigkeit und Prekarität konfrontiert sind, zu beteiligen. Die Regierung Villepin musste den CPE ohne jegliche "Verhandlung" zurückziehen. Studenten, junge prekäre Arbeitnehmer und zukünftige Arbeitslose waren nicht durch die "Sozialpartner" vertreten, und sie haben gewonnen.
Die Eisenbahner, die an der Spitze dieser Mobilisierung standen, können ihren Streik nicht allein fortsetzen, ohne dass die anderen Teile der Arbeiterklasse sich ihnen im Kampf anschließen. Trotz ihres Mutes und ihrer Entschlossenheit können sie nicht "an Stelle" der gesamten Arbeiterklasse kämpfen. Man kann die Regierung nicht mit einem „Stellvertreterkampf“ zum Rückzug zwingen, egal wie entschlossen die Beteiligten auch sein mögen.
Heute ist die Arbeiterklasse noch nicht bereit, massiv in den Kampf zu treten, auch wenn viele Arbeiter aus allen Branchen, aus allen Berufsgruppen (vor allem aus dem öffentlichen Dienst), aus allen Generationen anwesend waren, um bei den von den Gewerkschaften seit dem 5. Dezember organisierten Demonstrationen auf die Straße zu gehen. Um die Angriffe der Bourgeoisie einzudämmen, müssen wir eine aktive Solidarität im Kampf entwickeln und es reicht nicht nur die Solidaritätskassen aufzufüllen, um den Streikenden "Durchhaltevermögen" zu ermöglichen.
Die Wiederaufnahme der Arbeit, die im Transportwesen schon in einigen Bereichen in Gang gekommen ist (insbesondere bei der SNCF) ist keine Kapitulation! Eine "Pause" im Kampf zu machen, ist auch eine Möglichkeit, sich nicht in einem langen und isolierten Streik zu erschöpfen, was nur zu einem Gefühl der Ohnmacht und Bitterkeit führen kann.
Die überwiegende Mehrheit der mobilisierten ArbeiterInnen ist der Meinung, dass wir "am Arsch" sind, wenn wir diesen Kampf verlieren, wenn wir die Regierung nicht zwingen, ihre Reform zurückzuziehen. Das ist nicht wahr! Die derzeitige Mobilisierung und die massive Ablehnung dieses Angriffs sind nur der Anfang, eine erste Schlacht, die morgen andere ankündigen wird. Denn die Bourgeoisie, ihre Regierung und ihre Arbeitgeber werden uns weiterhin ausbeuten, um unsere Kaufkraft anzugreifen, um uns in wachsende Armut und Elend zu stürzen. Der Zorn kann nur so lange wachsen, bis er zu neuen Explosionen, neuen Kampfbewegungen führt.
Selbst, wenn die Arbeiterklasse diese erste Schlacht verliert, hat sie den Krieg nicht verloren. Sie darf der Demoralisierung nicht nachgeben!
Der "Klassenkampf" besteht aus einem Vorankommen und einem Zurückweichen, Momenten der Mobilisierung und Pausen, um dann umso heftiger wieder zu aufzuflammen. Es ist nie ein "geradliniger Kampf", bei dem man sofort beim ersten Versuch gewinnt. Die gesamte Geschichte der Arbeiterbewegung hat gezeigt, dass der Kampf der ausgebeuteten Klasse gegen die Bourgeoisie erst nach einer Reihe von Niederlagen zum Sieg führen kann.
Die einzige Möglichkeit, den Kampf zu stärken, ist, die Zeit des Rückzugs zu nutzen, um gemeinsam nachzudenken und zu diskutieren, indem wir uns überall, an unseren Arbeitsplätzen, in unseren Vierteln und an allen öffentlichen Orten versammeln.
Die kämpferischsten und entschlossensten Arbeiter, ob aktiv oder arbeitslos, Rentner oder Studenten, müssen versuchen, berufsübergreifende "Kampfkomitees" zu bilden, die allen Generationen offenstehen, um sich auf zukünftige Kämpfe vorzubereiten. Es wird notwendig sein, die Lehren aus dieser Bewegung zu ziehen, zu verstehen, was ihre Schwierigkeiten waren, um sie in den nächsten Kämpfen überwinden zu können.
Diese soziale Bewegung ist trotz all ihrer Beschränkungen, Schwächen und Schwierigkeiten bereits ein erster Sieg. Nach Jahren der Lähmung, Verwirrung und Atomisierung hat sie Hunderttausenden von Arbeitern erlaubt, auf die Straße zu gehen, um ihren Kampfwillen gegen die Angriffe des Kapitals zum Ausdruck zu bringen. Diese Mobilisierung erlaubte es ihnen, ihr Bedürfnis nach Solidarität und Einheit auszudrücken. Es erlaubte ihnen auch, die Manöver der Bourgeoisie zu erleben, um diesen Angriff zu überstehen.
Nur durch den Kampf und im Kampf wird das Proletariat erkennen können, dass es die einzige Kraft in der Gesellschaft ist, die in der Lage ist, die kapitalistische Ausbeutung abzuschaffen, um eine neue Welt zu errichten. Der Weg zur proletarischen Weltrevolution, zum Sturz des Kapitalismus, wird lang und schwierig sein. Er wird mit Fallen und Niederlagen übersät sein, aber es gibt keinen anderen Weg.
Die Zukunft gehört mehr denn je, der Arbeiterklasse!
Internationale Kommunistische Strömung,
13. Januar 2020
"Der längste Streik in der Geschichte der SNCF". Dies ist nun die gängige Bezeichnung dieser Bewegung, die im Dezember und Januar von EisenbahnerInnen durchgeführt wurde. Die ArbeiterInnen der RATP, die ebenfalls wochenlang unermüdlich mitwirkten, zeigten dieselbe Kampfbereitschaft und Entschlossenheit. Und sie waren nicht allein. Im Dezember und Januar versammelten sich während mehrerer Aktionstage Hunderttausende von Demonstranten gegen diese rücksichtslose „Rentenreform", die zum Symbol für die ständige Verschlechterung unserer Lebensbedingungen geworden ist, für uns alle, die Ausgebeuteten, ArbeiterInnen im öffentlichen Dienst oder im privaten Sektor, prekär oder mit unbefristeten Verträgen, jung oder alt. Nach Jahren der Trägheit leitet diese soziale Bewegung das Erwachen der Kampfbereitschaft des Proletariats in Frankreich ein. Die Arbeiterklasse hat begonnen, die Stirn zu bieten. Durch den Kampf für ihre Würde und durch das Zusammenhalten zwischen verschiedenen Bereichen, zwischen verschiedenen Generationen, konnten die ArbeiterInnen sehen, dass sie gemeinsam, vereint und solidarisch kämpfen können. Die Wiedergeburt dieses Gefühls der Zugehörigkeit zur selben Klasse, dass wir alle ausgebeutet werden, denselben schändlichen Angriffen der jeweiligen Regierungen ausgesetzt zu sein, sich endlich auf den Straßen mit denselben Parolen, denselben Forderungen versammeln zu können, durch Schilder, Parolen, in Diskussionen auf den Straßen, dieses Bedürfnis und diesen Wunsch, im Kampf vereint zu sein, zum Ausdruck zu bringen... all das stellt den wesentlichen Sieg dieser Bewegung dar. Es ist nur ein kleiner, zerbrechlicher Samen, aber es ist ein Versprechen für die Zukunft. Trotz des Ausmaßes dieser Mobilisierung konnte die Regierung dennoch die Reaktion der ArbeiterInnen abwehren. Nach wochenlangen Streiks, nach wöchentlichen Demonstrationen, an denen Hunderttausende von Menschen teilnahmen, konnte die Regierung an ihrem Plan festhalten.
Die Bewegung hat es nicht geschafft, das Kräftegleichgewicht zugunsten der ArbeiterInnen zu drehen. In Anbetracht der sich vertiefenden Weltwirtschaftskrise und dem anhaltenden Wettlauf um Gewinne wird die Regierung immer wieder angreifen. Um diese Angriffe einzudämmen, müssen die nächsten Kämpfe weiter gehen. Sie müssen sich dabei insbesondere auf den letzten Sieg des Proletariats in Frankreich, den von 2006, besinnen. Präsident Chirac und die Regierung von Villepin mussten damals tatsächlich ihren „Vertrag zur Ersteinstellung“/CPE zurückziehen. Warum haben sie das getan? Was haben sie bei dieser Bewegung bemerkt, was sie so beunruhigt hat? Damals begriffen die Studenten schnell, dass dieser "Contrat Poubelle Embauche" (Einstellungsvertrag für den Mülleimer) allen jungen ArbeiterInnen eine neue Verschärfung der Prekarität und Armut auferlegen würde. Empört über diese unerträgliche Zukunft, mobilisierten sie massiv. Sie organisierten dann, in allen Universitäten und ohne die Hilfe irgendeiner Gewerkschaft, massive Vollversammlungen, die allen ArbeiterInnen, ob aktiv oder im Ruhestand, offen standen. Ihre Vollversammlungen, die in Hörsälen stattfanden, standen allen ArbeiterInnen, ob aktiv oder im Ruhestand, offen. Sie verkörperten die Stärke der Bewegung und waren die Triebkraft des Kampfes. In diesen Vollversammlungen wurden fast täglich die durchzuführenden Aktionen, die Mittel zur Koordinierung des Kampfes von einer Universität zur anderen, die Organisation der jeden Samstag stattgefundenen Demonstrationen diskutiert, damit möglichst viele ArbeiterInnen daran teilnehmen konnten. Dank der intensiven Debatten in ihren Reihen beschlossen die Studenten (zumeist junge prekäre ArbeiterInnen), die Solidarität der Beschäftigten zu suchen, indem sie massive Delegationen in die Bahnhöfe, in die Depots der RATP, in bestimmte Fabriken (wie Citroën) schickten. Woche für Woche wuchs die Bewegung mit immer größeren wöchentlichen Demonstrationen weiter an. Die Gewerkschaften (und insbesondere die CGT) standen nicht an der Spitze der Demonstrationen. Sie waren nicht diejenigen, die diese massive Bewegung organisierten. Die CGT-Ballons wurden am Ende der Demonstrationen von den Studenten sogar abgewiesen. Die Regierung gab schließlich nach, weil sie die Gefahr dieser Dynamik erkannte; sie musste diesen in Gang gekommenen Prozess stoppen, als diese jungen prekären ArbeiterInnen, die noch zur Schule gingen, die beschäftigten ArbeiterInnen in ihren Kampf und in ihre Vollversammlungen hineinzogen. Die Entwicklung hin zur Entfaltung dieser Solidarität musste beendet werden, die durch die Parole "Junger Speck, alte Croutons, alles derselbe Salat" (“Jeunes lardons, vieux croûtons, tous la même salade”) symbolisiert wurde. Die Bewegung des Frühjahrs 2006 war somit ein gigantischer Schlag gegen eine andere Parole, welche die Bourgeoisie lanciert und vom ehemaligen Premierminister Raffarin in die Worte gefasst wurde: "Die Straße darf nicht regieren, sie darf nicht das Sagen haben“.
Im Moment ist die Arbeiterklasse nicht in der Lage, solch ein Niveau des Kampfes zu erreichen.
Aber die Studierenden von gestern sind die ArbeiterInnen von heute. Sie müssen sich an diese Erfahrung erinnern und sie an ihre Kollegen, jung und alt, weitergeben. Gerade die Älteren tragen in ihrem Gedächtnis eine immense Erfahrung als ArbeiterInnen: die Erfahrung des Mai 68. Diese Bewegung zeigte die Fähigkeit der ArbeiterInnen, ihren Kampf auszuweiten, von Fabrik zu Fabrik, von Stadt zu Stadt. Es ist notwendig, dass die heutigen pensionierten ArbeiterInnen dieses Kapitel der Geschichte weitergeben. Ab 1967 verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation in Frankreich ernsthaft und drängte das Proletariat in den Kampf. Seit Anfang 1967 kam es zu wichtigen Auseinandersetzungen in Bordeaux (in der Flugzeugfabrik Dassault), in Besançon und in der Region Lyon (Besetzungsstreik in Rhodia, Streik in Berliet), in den lothringischen Bergwerken, in den Werften von Saint-Nazaire, in Caen... Diese Streiks ließen erahnen, was ab Mitte Mai 1968 im ganzen Land geschehen sollte. Man konnte nicht sagen, dass der Sturm völlig unerwartet ausgebrochen war. Zwischen dem 22. März und dem 13. Mai 1968 sorgte die heftige Repression gegen die Studenten dafür, dass zunehmend die Arbeiterklasse auf den Plan trat, die von ihren instinktiven Impulsen der Solidarität getragen wurde. Am 14. Mai begannen junge ArbeiterInnen in Nantes eine Streikbewegung. Am 15. Mai erreichte die Bewegung das Renault-Werk in Cléon in der Normandie sowie zwei weitere Werke in der Region. Am 16. Mai schlossen sich die anderen Renault-Werke der Bewegung an: rote Fahnen in Flins, Sandouville und Le Mans. Der Eintritt der Beschäftigten von Renault-Billancourt in den Kampf stellte ein Signal wichtiges dar: es war das größte Werk in Frankreich (35.000 ArbeiterInnen) und das schon seit langem. Damals gab es ein Sprichwort: "Wenn Renault niest, erkältet sich Frankreich". Am 17. Mai begann der Streik in ganz Frankreich. Es war eine völlig spontane Bewegung. Überall standen junge ArbeiterInnen an der Spitze. Es gab keine präzisen Forderungen: eine allgemeine Unzufriedenheit brach sich Bahn. Am 13. Mai kamen zu einer Großdemonstration 9 Millionen Menschen auf der Straße zusammen. Das war eine echte Flutwelle! Am 18. Mai streikten mittags eine Million ArbeiterInnen. Am 22. Mai waren es 8 Millionen. Es war damit der größte Streik in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung. Alle Wirtschaftsbereiche waren betroffen: Industrie, Verkehr, Energie, Post und Telekommunikation, Bildung, Verwaltung, Medien, Forschungslabors usw. In dieser Zeit wurden die besetzten Fakultäten, einige öffentliche Gebäude wie das Théâtre de l'Odéon in Paris, die Straßen und die Arbeitsplätze zu Orten permanenter politischer Diskussion. "Wir reden miteinander und hören einander zu" wurde zu einem weitverbreiteten Slogan. Dasselbe Bedürfnis nach Solidarität belebt die Arbeiterklasse heute. Wie oft hören wir in den Demonstrationen Parolen wie: "Wir müssen alle gemeinsam kämpfen", oder "Wir kämpfen nicht nur für uns, sondern auch für alle anderen Teile und die kommenden Generationen". Der Enthusiasmus, jede Woche gemeinsam auf der Straße zu demonstrieren, vereint und solidarisch zu sein, über Branchengrenzen und Unternehmen hinweg, zeugt davon.
Nach einem Jahrzehnt der sozialen Trägheit konnte die aktuelle Bewegung nur ein erster kleiner Schritt auf dem langen Weg zu Massenkämpfen sein. Um die nächsten Schritte zu unternehmen, um erfolgreich ein Gegengewicht gegen die Regierung aufzubauen und ihre Angriffe einzudämmen, wird es notwendig sein, die Falle der Stellvertreterstreiks zu vermeiden. Wir müssen es schaffen, die Bewegung von Anfang an auf alle Bereiche auszudehnen, unsere Kämpfe in die Hand zu nehmen, uns selbst zu organisieren, allgemein massive, souveräne und autonome Versammlungen zustande zu bringen, um gemeinsam zu debattieren und Entscheidungen zu treffen, um als Klasse zu kämpfen. Die gegenwärtige Bewegung trägt trotz aller Schwächen den Keim dieser zukünftigen Dynamik in sich, denn sie hat die Tatsache, dass alle ArbeiterInnen unter der gleichen Ausbeutung und den gleichen Angriffen leiden und vor allem, dass sie gemeinsam einen Kampf führen können, der von der Notwendigkeit der Einheit und Solidarität angetrieben wird, wieder deutlich auf die Tagesordnung gestellt. Mehr denn je gehört die Zukunft dem Klassenkampf!
Claudine, 13. Januar 2020
Die Bewegung gegen die Rentenreform stand von Anfang an bei jedem Schritt unter der Kontrolle der Gewerkschaften. Sie waren diejenigen, die zum Streik aufriefen, sie waren diejenigen, die die Aktionstage wählten und organisierten, sie waren diejenigen, die die wenigen Vollversammlungen leiteten. Und sie sind diejenigen, die uns absichtlich in die Niederlage geführt haben. Seien wir nicht naiv, die Regierung und die Gewerkschaften haben sich 2 Jahre lang abgestimmt um diese Reform vorzubereiten und erfolgreich durchzusetzen!
Die Regierung musste sicherstellen, dass dieser Großangriff, der von Macron 2017 als ein echter "Big Bang" angekündigt wurde, keine massive Reaktion der gesamten Arbeiterklasse hervorrufen würde. Premierminister Philippe hat sich auf die Zusammenarbeit der "Sozialpartner", also der Gewerkschaften, verlassen, um die unvermeidliche Explosion der Wut aller Arbeiter zu sabotieren. Dieser allgemeine Angriff gegen die gesamte Arbeiterklasse konnte nur eine Reaktion der Empörung und der spontanen Wut in einem besonders kämpferischen Bereich, dem Transportsektor, auslösen.
Für die Eisenbahner hieß es "zu viel ist zu viel": Nachdem sie in den letzten Jahren mehrere Bewegungen, insbesondere die "Nadelstichtaktik" von 2018, gegen die Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen, gegen die Infragestellung ihres Status praktiziert aber nichts erreicht hatten, konnte der Angriff auf ihr Rentensystem nur das Gefühl hervorbringen, noch entschlossener zu kämpfen mit dem Motto: "Jetzt reicht es! Wir geben nicht nach!". Diese Kampfbereitschaft im Transportsektor hätte zu einer unkontrollierbaren Explosion mit der Gefahr eines Flächenbrandes führen können, weil der breite, alle Beschäftigten treffende Angriff auf die Renten den allgemeinen Zorn der gesamten Arbeiterklasse geweckt hatte. Die herrschende Klasse verfügt über mehrere Mittel, um den „Puls" der sozialen Unzufriedenheit zu fühlen (in einem Land, in dem Macron, der „Präsident der Reichen", zur meistgehassten Figur in der Mehrheit der Bevölkerung geworden ist): Meinungsumfragen, polizeiliche Untersuchungen, um die Stimmung in den „Risikogebieten“ zu sondieren, und in erster Linie die Reaktionsbereitschaft der Arbeiterklasse. Das wichtigste Instrument dieses "Sozialthermometers" ist jedoch der Gewerkschaftsapparat, der noch effektiver ist als die Soziologen der Meinungsforschungsinstitute oder die Ermittler der Polizei. Die Funktion dieses Apparates besteht nämlich darin, das Instrument par excellence der Überwachung der Ausgebeuteten im Dienste der Verteidigung der Interessen des Kapitals zu sein. Der Gewerkschaftsapparat des kapitalistischen Staates hat fast ein Jahrhundert Erfahrung. Er ist besonders „empfindsam“ für die Stimmung der Arbeiter, für ihren Willen und ihre Fähigkeit, sich an den Kämpfen gegen die Bourgeoisie zu beteiligen. Diese Kontrollinstrumente der Arbeiterklasse sind dafür verantwortlich, die Bosse und die Regierung ständig vor der Gefahr des Klassenkampfes zu warnen. Dazu dienen die regelmäßigen Treffen und Konsultationen zwischen den Gewerkschaftsführern und den Arbeitgebern oder der Regierung: gemeinsam, Hand in Hand, die beste Strategie auszuarbeiten, damit die Regierung und die Arbeitgeber ihre Angriffe gegen die Arbeiterklasse mit maximaler Effizienz durchführen können. Die Gewerkschaften haben sehr wohl verstanden, dass die Arbeiterklasse in Frankreich nicht mehr bereit war, wieder still zu halten und neue Angriffe zu akzeptieren, ohne mit der Wimper zu zucken. Die herrschende Klasse weiß auch, dass das Proletariat heute nicht mehr die geringste Illusion hat, dass wir jetzt am Ende der „Durststrecke“ angekommen wären. Alle Arbeiter sind sich jetzt bewusst, dass es immer schlimmer und schlimmer werden wird, dass sie keine andere Wahl haben werden, als gemeinsam mit allen zusammen zu kämpfen, um ihre Lebensbedingungen und die Zukunft ihrer Kinder zu verteidigen. So war die Popularität der Gelbe-Westen-Bewegung gegen "hohe Lebenshaltungskosten" und Verarmung vor einem Jahr ein guter Indikator für den Zorn, der in der Gesellschaft gärt: 80% der Bevölkerung gaben an, diese gegen Macron gerichtete Welle der Wut und Proteste zu unterstützen, zu verstehen oder Sympathie für sie zu haben, auch wenn die Arbeiterklasse sich nicht in den Protestmethoden dieser inter-klassistischen Bewegung, die von kleinen Firmeninhabern initiiert wurde, die unter den Treibstoffsteuern leideten, wiedererkannte.[1] Die Bourgeoisie hatte also in den letzten zwei Jahren einen echten Anstieg der Kampfbereitschaft der Arbeiter durchaus wahrgenommen. Auch die Hartnäckigkeit der seit Monaten streikenden Notfalldienste oder der Postbeschäftigten war ein Indiz dafür. Die Zunahme der Kämpfe im Einzelhandel, bei Busfahrern oder in der Luftfahrtindustrie war ein weiterer Hinweis in dieser Richtung.
Angesichts der Anhäufung von Unzufriedenheit der Ausgebeuteten musste die französische Bourgeoisie die Durchsetzung der Rentenreform mit einer "Firewall" "begleiten", um die unvermeidliche Reaktion des Proletariats zu kanalisieren, zu kontrollieren zu spalten und zu erschöpfen. ...
Die CFDT und die UNSA, die heute bei den Demonstrationszügen gehasst werden, weil sie "der Bewegung in den Rücken gefallen sind“, haben ihre Rolle als "verantwortliche und reformistische Gewerkschaften" perfekt gespielt. Es war ein echtes Theaterstück [2]:
September
Anfang September wird die Kampagne zur Rentenreform offiziell gestartet. FO, Solidaires und die CGT schießen aus allen Löchern. Wie machen sie das? Durch die Erhöhung der Anzahl der branchenspezifischen Aktionstage. Jedes Unternehmen hat seinen eigenen Streiktag und spezifische Forderungen.
"Jeder für sich, die Gewerkschaften für alle". Das Ziel ist es, die Kampfbereitschaft auszulaugen, bevor eine breitere Bewegung in Gang gesetzt wird. Nur wird diese geplante organisierte Zerstreuung stark kritisiert. Bei den Demonstrationen hört man ArbeiterInnen, die ihre Unzufriedenheit mit dieser Spaltung zum Ausdruck bringen, nicht selten; sie wollen, dass sich die Gewerkschaften vereinigen, denn "wir sitzen alle im selben Boot, wir müssen alle gemeinsam kämpfen". Die Ankündigung am 20. September über eine geplante große Einheitsdemonstration am 5. Dezember war eine Reaktion auf diesen Druck. Wieder einmal wurde nichts dem Zufall überlassen: dieses Datum wurde gewählt, weil es weit genug entfernt war (mehr als zwei Monate), um während dieser Zeit die Zerstreuung und Erschöpfung fortzusetzen. Es ist auch kurz vor den Feiertagen am Jahresende mit den Ruhetagen zwischen Weihnachten und Neujahr, was dazu beiträgt, jede Blockade im Transportwesen unpopulär zu machen und die kämpferischsten zu isolieren.
Oktober
In den Monaten Oktober und November setzen die "radikalen" Gewerkschaften ihr Werk durch ihre isolierten und sektoralen Streiks fort. Während die Wut der ArbeiterInnen in vielen Sektoren spürbar ist, achten sie darauf, keine weitgehend allen offen stehenden Vollversammlungen vorzuschlagen, die Beiträge der ArbeiterInnen zu vereinigen, oder dass die Beschäftigen der unterschiedlichen Betriebe und Branchen zusammenkommen, indem man massive Delegationen bildet, die den Kontakt untereinander herstellen und den Streik ausdehnen. Nichts davon! Nur Streiks und vereinzelte Aktionen werden angekündigt, während man auf die angekündigte große Demonstration am 5. Dezember warten soll. Aber diese Strategie der Erschöpfung und Demoralisierung ist wieder einmal unzureichend. Die Arbeiterklasse drängt weiter, und die Kampfbereitschaft steigt weiter an. Am 16. Oktober stellen die Eisenbahner nach einem Eisenbahnunfall in den Ardennen spontan ihre Arbeit ein. Spontan kommunizieren sie über das Telefonnetz der Eisenbahn, dehnen den Streik auf einen ganzen Abschnitt der SNCF aus. Die Beschäftigten der Region Île-de-France waren besonders kämpferisch. Die RER-Strecken werden blockiert. Die Gewerkschaften sprangen auf den fahrenden Zug auf und stellten sich an die Spitze der Streiks, indem sie auf die Beibehaltung der Rentenregelung pochen. Mit anderen Worten: Sie kleben an der beginnenden Mobilisierung fest, laufen der in Gang gekommenen Bewegung hinterher, um sie in die von ihnen gewünschten Bahnen zu lenken.
Der Bourgeoisie geht diese Autonomie der ArbeiterInnen und diese Dynamik, den Kampf in die Hand zu nehmen und auszuweiten, gegen den Strich, so dass die Regierung und die Arbeitgeber die Illegalität dieses "wilden Streiks" anprangern und den Streikenden mit Sanktionen drohen. Dies wird es den Gewerkschaften ermöglichen, die Kontrolle über die Situation definitiv wiederzuerlangen, indem sie sich als Beschützer der Streikenden und Verteidiger des Streikrechts aufstellen. In diesem Monat Oktober kommt es bei der SNCF zu einer Reihe von wilden Streiks, vor allem im Wartungszentrum von Châtillon, wo sich ohne Zustimmung der Gewerkschaften 200 von 700 Beschäftigte versammeln, um gegen Maßnahmen zu protestieren, die die Arbeitsbedingungen verschlechtern. Diese Maßnahmen werden schnell zurückgezogen, um den Streik sofort zu beenden und so zu verhindern, dass die Bewegung bekannt wird und den Arbeitern als Beispiel dienen könnte.[3]
November
Die Gewerkschaften sind daher gewarnt: Sie müssen kämpferischer auftreten und an der Bewegung kleben, um sie vollständig zu kontrollieren. Am 9. November schließt sich die CGT dem Aufruf von UNSA-Eisenbahn[4] und Sud/Solidaires zu einem erneuten Streik am 5. Dezember an. Sie kündigt an, dass diese Aktion auch bei der SNCF durchgeführt wird. Dann verkündet die CFDT-Eisenbahner, dass sie ebenfalls Teil der Bewegung werde.[5]
Aber hinter der "Gewerkschaftsfront" und den Reden über die Einheit aller Bereiche setzen sie alle hinter den Kulissen ihre gleiche Arbeit der Untergrabung und Spaltung fort. Ihre Sabotage der Einheit der Bewegung im Krankenhaussektor ist besonders charakteristisch: Seit März führen die Gewerkschaften und ihr ‚collectifs interurgences‘ (Kollektiv Notdienste) vollkommen auf diesen Bereich beschränkte (korporatistische) Aktionen durch, welche den Kampf der Notdienste von allen anderen Krankenhausdiensten trennen. Aber unter dem wachsenden Druck des Willens, "alle zusammen zu kämpfen", ändern sie ihren Diskurs und rufen zu zwei "einheitlichen" Demonstrationen auf, am 14. und 30. November, Aber die Einheit soll lediglich die der …. Krankenhausbeschäftigten sein.
Dies, um diesen Kampf besser von der allgemeinen Bewegung gegen die Rentenreform im Namen der "Besonderheit der Krankenhäuser" zu trennen (und damit vor allem besser zu spalten). Dieser Gewerkschaftsbeschluss ruft eine gewaltige Wut in den Vollversammlungen des Krankenhauspersonals hervor, aber viele von ihnen werden sich dennoch am 5. Dezember, entgegen den gewerkschaftlichen Ausrichtungen mobilisieren.
Dezember
Während der großen Demonstrationen im Dezember wird die Notwendigkeit der Solidarität zwischen den verschiedenen Branchen und Generationen, dass alle gemeinsam kämpfen, in den Parolen, die aus den Lautsprechern der Gewerkschaftswagen hallen, aufgegriffen. Aber um was zu tun? Nichts! Nur um diese Slogans an jedem Aktionstag immer wieder zu wiederholen. Aber konkret hieß dies, die Beschäftigten aus jeder Branche wurden aufgerufen, sich hinter ihre gewerkschaftliche Abteilung zu scharen. Manchmal kam es sogar vor, dass die Beschäftigten durch Seile voneinander getrennt wurden, die von den gewerkschaftlichen Ordnern gespannt und getragen wurden. Am Ende der Demonstration gibt es keine großen Versammlungen, um zu diskutieren, obwohl viele Arbeiter den Wunsch geäußert haben, dies zu tun. Die Gewerkschaften und die Bullen zerstreuen die Menschenmassen. „Die Zeit wird knapp: Die Busse müssen los“. Mitte Dezember sind sich die streikenden Eisenbahner der SNCF und der RATP bewusst, dass die Bewegung, wenn sie isoliert bleibt, zur Niederlage verurteilt ist. Was machen die Gewerkschaften? Sie organisieren eine Scheinausdehnung: ein paar CGT-Vertreter treffen ein paar andere CGT-Vertreter eines anderen Unternehmens. Während der Samstagsdemonstrationen, die offiziell von den Gewerkschaften organisiert werden, um den Beschäftigten des privaten Sektors die Teilnahme an der Bewegung zu ermöglichen, unternehmen die CGT, die FO und die Solidaires keinerlei Anstrengungen, um die Mobilisierung auf die Beschäftigten der anderen Betriebe auszudehnen. Im Gegenteil, alle ihre Reden konzentrieren sich auf „den Mut der Eisenbahner, die für uns alle kämpfen", auf die Blockadekraft dieser Beschäftigten (was impliziert, dass andere Arbeiter machtlos sind) und die Notwendigkeit, sie zu unterstützen, indem vor allem für die von der CGT organisierten Solidaritätskassen Geld gespendet werden soll, anstatt die aktive Solidarität der Arbeiter im Kampf und die Ausweitung der Bewegung zu fördern (auch wenn es verständlich war, dass alle das Bedürfnis verspürten, den Eisenbahnbeschäftigten wegen des Verlustes eines Monatslohnes finanziell zu helfen!). Den ganzen Dezember über haben die Gewerkschaften den Stellvertreterstreik propagiert! So werden die Eisenbahner, die allein "unbegrenzt" streiken sollten, dazu ermutigt, "koste es, was es wolle", während der letzten zwei Wochen des Jahres durchzuhalten, mit dem Motto: kein Waffenstillstand während der Feiertage.
Januar
Die Medien prangern "die Geiselnahme von Familien an, die einfach nur zu Weihnachten zusammenkommen". Diese zwei Wochen "Waffenstillstand", in denen die Eisenbahner alleine kämpfen, reichen nicht aus, um die Wut und die allgemeine Kampfbereitschaft zu begraben und den Streik "unpopulär" zu machen. Am 9. Januar, dem neuen Tag der branchenübergreifenden Mobilisierung, strömen erneut Hunderttausende von Demonstranten herbei, die nach wie vor entschlossen sind, die Reform abzulehnen. Am 10. Januar verhandelt Premierminister Phillipe mit den Gewerkschaften und kündigt einen "konstruktiven und fortschrittlichen Dialog" an und versprach, Präsident Macron am nächsten Tag zu fragen, ob es möglich wäre, das „allgemeine Renteneintrittsalter“ zurückzuziehen. Alle Gewerkschaften begrüßen diesen Sieg, diesen großen Sieg für die CFDT und die UNSA, diesen kleinen Schritt nach vorne für die CGT, FO und Solidaire, der zeigt, dass die Regierung unter dem Druck der Straßen und der Streikenden im Transportsektor den Rückzug antreten wird. Am nächsten Tag also eine weitere Demonstration. An diesem Samstag, dem 11. Januar, organisieren die Gewerkschaften in Marseille am Ende der Demonstration ein Unterhaltungsprogramm, um jede Diskussion unmöglich zu machen. In Paris lassen sie der Polizei freie Hand, um mit Hilfe von Tränengas die Demonstranten zu zerstreuen und zu verprügeln. Es sollen unter den Demonstranten keine Diskussionen zugelassen werden. Vor allem aber ist die Teilnehmerzahl an diesem Tag sehr deutlich rückläufig. Viele Züge rollen wieder an diesem Tag. Die Ermüdung ist spürbar, die Stimmung innerhalb der weniger massiven Demonstrationen ist weniger kämpferisch. Der Schachzug gelingt. Premierminister Philippe verkündet den Rückzug des „allgemeinen Renteneintrittalters“ ... vorübergehend. Das Timing ist perfekt. Der Aufruf der Gewerkschaften zur Ausdehnung der ... Niederlage! Jetzt, wo der Bewegung die Luft ausgeht, die streikenden Eisenbahner erschöpft sind, finanziell angeschlagen sind, sie langsam wieder die Arbeit aufnehmen, was machen die "radikalen" Gewerkschaften? Natürlich fordern sie die Ausweitung der Bewegung, die sich in einer Dynamik des Rückzugs befindet, prangern jetzt die „Stellvertreterstreiks“ an und rufen jetzt die Beschäftigten der Privatwirtschaft dazu auf den Stab zu übernehmen! Am 9. Januar war Herr Mélenchon auf allen Kanälen zu hören und meinte: "Der Stellvertreterstreik, das reicht jetzt; davon haben wir genug; es müssen alle mitmachen". Und dann hört man nur noch aus ihrem Mund: „souveräne Vollversammlungen", um die Leute glauben zu machen, dass sie nur die Sprecher der Arbeiter sind und dass, wenn einige sich weiterhin allein durch den Streik erschöpfen, sie nichts dagegen tun können. "Es ist die Vollversammlung und die Basis, die entscheiden, ob die Eisenbahner den Lohn weiterer Streiktage verlieren wollen" (so der CGT-Führer Philippe Martinez im Fernseher). Jetzt vervielfachen sie die Aktionen, um lauter zu betonen, dass es den Arbeitern nicht gelingt, mehr Druck zu machen und diese für die Niederlage verantwortlich seien! In jener Woche gibt es nicht weniger als drei Aktionstage, am 14., 15. und 16. Januar, zu denen die Gewerkschaften aufrufen, auch wenn die Eisenbahner allmählich wieder an die Arbeit gehen. Nun ist der Führer der CGT, Herr Martinez, in Anlehnung an die Partei La France Insoumise von Herrn Mélenchon in allen Radiosendern und mitten unter den Streikenden zu sehen, um die Polizeigewalt anzuprangern... die seit Monaten andauert! Während die Gewerkschaften (an der Spitze die CGT) bisher das Verprügeln von Demonstranten, die Auflösung der Demonstrationen mit Tränengasgranaten ohne mit der Wimper zu zucken und ohne zu protestieren, zugelassen haben. Erst nachdem Mélenchon anfing, den Rücktritt des Pariser Polizeipräfekten zu fordern, fingen auch die Gewerkschaften an, gegen die Repression der Streikenden zu motzen.
Jetzt werden alle Gewerkschaften die Nummer der Verhandlungen mit der Regierung für die "Berücksichtigung der erschwerten Arbeitsbedingungen" auflegen, ein neuer Schritt für ein Zerbröckeln der Bewegung in verschiedene Branchen, denn in Wirklichkeit müssen die Beschäftigten aller Branchen unter einem enormen Druck arbeiten, und die Ausbeutungsbedingungen machen alle krank! Dieser "Teil der Verhandlungen" wird mit einem einzigen Ziel verfolgt: die Arbeitnehmer in Verhandlungen, die im Vorfeld verloren gegangen sind, Branche für Branche zu spalten oder sie sogar in Konkurrenz zueinander zu setzen, um festzustellen, ob einige Arbeiten "anstrengender" sind als andere. Die "Gewerkschaftsfront" wird zweifellos zerstritten erscheinen, wenn die Eisenbahner der CGT und die bei der CFDT organisierten Beschäftigten von Carrefour sich die Augen ausstechen, um herauszufinden, wer den "härtesten" Job hat! Die Gewerkschaften hatten während des Streiks der Eisenbahner im Winter 1986 dasselbe getan, indem sie am Ende der Bewegung, als die Eisenbahner begannen, wieder an die Arbeit zu gehen, eine Verlängerung des Streiks forderten[6]. In Wirklichkeit versuchen diese professionellen sozialen Feuerwehrleute, die Niederlage auszuweiten und zu vertiefen, um der Arbeiterklasse das Rückgrat zu brechen. Soll es der Regierung ermöglicht werden, diese Reform ohne Schwierigkeiten durch das Parlament zu boxen (und damit die Regierung weitere Angriffe durchsetzen kann)! Nein, die Arbeiterklasse muss sich nicht von den Gewerkschaften beschuldigen lassen! Nein, diejenigen, die wieder arbeiten, sind keine Streikbrecher! Nein, die Beschäftigten der Branchen, die den Kampf nicht wieder aufgenommen haben, fehlte es nicht an Mut und Solidarität! Es waren die Gewerkschaften, Hand in Hand mit der Regierung, die diese Niederlage geplant und orchestriert haben! Es waren die Gewerkschaften, Hand in Hand mit der Regierung, die jede mögliche Einheit, jede wirkliche Ausweitung der Bewegung verhinderten! Die Arbeiterklasse muss sich im Gegenteil über den Schritt, den sie gemacht hat, im Klaren sein. Nach zehn Jahren der Trägheit, nach der langen, anstrengenden Phase des Gefühls der Machtlosigkeit, haben die Arbeiter begonnen, wieder das Haupt zu erheben und gezeigt, dass sie gemeinsam kämpfen, sich zusammenschließen wollen, und sich einer Klasse zugehörig fühlen.
Diese letzten Monate waren geprägt von der Entwicklung der Solidarität zwischen den Branchen und zwischen den Generationen! Das ist der Sieg dieser Bewegung, denn der wirkliche Gewinn des Kampfes ist der Kampf selbst, in dem sich alle Berufsgruppen, alle Generationen endlich im selben Kampf auf der Straße gegen eine Reform wiederfinden, die ein Angriff auf alle Ausgebeuteten ist! Und das ist es, was die Regierung und die Gewerkschaften in den kommenden Wochen und Monaten versuchen werden, auszulöschen. Es liegt an uns, zusammenzukommen, um zu debattieren, zu diskutieren, Lehren zu ziehen, nicht zu vergessen und in den zukünftigen Kämpfen noch zahlreicher und stärker zu werden, wenn wir beginnen, die Gewerkschaften, diese Fachleute... der Niederlage zu durchschauen und deren Tricks zu vereiteln. Sie werden immer die letzten Befestigungswälle des Staates in den Reihen der Arbeiter zur Verteidigung der kapitalistischen Ordnung sein!
Léa, 14. Januar 2020
[1] Die Besetzung von Kreisverkehren, die zur Schau getragene Aufregung um angebliche republikanische und nationalistische Symbole wie die Nationalfahne oder die Marseillaise.
[2] vgl. unsere Flugblätter, in denen wir das Manöver Anfang Dezember vorhergesehen haben.
[3]) Die Erklärung der Arbeiter von Châtillon wurde in unserer Zeitung Révolution Internationale Nr. 479 veröffentlicht. Hier ein ganz kurzer Auszug: "Wir, die streikenden Mitarbeiter der Ausrüstungsabteilung des Technikzentrums Châtillon im TGV-Atlantique-Netz, haben seit Montagabend, dem 21. Oktober, massiv die Arbeit eingestellt, ohne uns gegenseitig zu konsultieren oder von den Gewerkschaften überwacht zu werden. (...) Unser Zorn ist real und tief, wir sind entschlossen, bis zum Ende unserer Forderungen, für Respekt und Würde zu kämpfen. (...) Wir haben genug von Umstrukturierungen, niedrigen Löhnen, Stellenabbau und Unterbesetzung! Wir rufen alle Eisenbahner auf, aufzustehen, denn die heutige Situation in Châtillon ist in der Tat das Ergebnis einer nationalen Politik".
[4]. Während die UNSA der anderen Sektoren nicht zum Streik aufruft! Tatsächlich ist die Gewerkschaft UNSA-Bahn auch dort gezwungen, die Kampfbereitschaft der Beschäftigten des Bereichs verbal zu unterstützen, denn sonst würde sie völlig diskreditiert werden.
[5] Während die CFDT auf Landesebene nicht mehr zum Streik aufruft.
[6] Wir veröffentlichen erneut einen Artikel, der die Lehren aus diesem Kampf zieht: "SNCF Dezember 1986: Die Arbeiter können ohne die Gewerkschaften kämpfen". Siehe Révolution Internationale 480
Das Auftauchen dieses neuen Virus und die Reaktion der Bourgeoisie zeigen, wie die Entwicklung der Produktivkräfte mit Tod und Zerstörung, die durch den Kapitalismus verursacht werden, verbunden ist. Während sich China zur zweiten Wirtschaftsmacht der Welt entwickelt hat, ist es von einer Virusepidemie erfasst worden; und während die medizinische Wissenschaft fortschreitet, kann der Kapitalismus seine Bevölkerung ebenso wenig vor Krankheiten schützen wie vor einer Wirtschaftskrise oder vor Krieg oder Umweltzerstörung.
Covid-19 ist eine von vielen neuen Infektionskrankheiten, die vor allem in den letzten 50 Jahren aufgetreten sind, darunter HIV (AIDS), Ebola, SARS, MERS, Lassa-Fieber, Zika. Wie so viele neue Krankheiten ist auch Covid-19 eine Infektion mit einem Virus, das zunächst Tiere befallen hat und nun auch Menschen infiziert und sich verbreitet. Sie ist ein Ergebnis der veränderten Bedingungen, die der Kapitalismus hervorgebracht hat.
Es sind zunehmend globale Versorgungsketten entstanden und die Urbanisierung ist weiter fortgeschritten; zum ersten Mal in der Geschichte lebt die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten, oft mit einer auf engstem Raum zusammengedrängten Bevölkerung und einer unzureichenden, die Hygiene beeinträchtigenden Infrastruktur (Kanalisation, sanitäre Anlagen). Und wie in China gibt es viele Arbeiter und Arbeiterinnen, die nicht nur in Städten, sondern auch in überfüllten Fabrikschlafsälen zusammengepfercht sind; z.B. leben die Arbeiter von Foxcon zu acht in einem Zimmer. Hinzu kommt die Verwendung von Buschfleisch (Wildfleisch, d.h. veterinärmedizinisch unkontrolliertes Fleisch), und in Wuhan wurde ein illegaler Wildfleischmarkt als Quelle der Neuinfektion ausgemacht. Darüber hinaus treiben die Zerstörung der natürlichen Umwelt und die Auswirkungen des Klimawandels immer mehr Tiere auf der Suche nach Nahrung in die Städte. Überfüllte Städte sind ein potentieller Nährboden für Epidemien, wie Wuhan zeigt, und die zunehmenden internationalen Verbindungen der Weg, auf dem sie sich weiltweit ausbreitet. Diese Zustände sind das Ergebnis des dekadenten kapitalistischen Systems, das dazu getrieben wird, jeden Winkel des Planeten zu zerstören und zu verschmutzen, um seiner Krise der Überproduktion zu begegnen. Die zerstörerische Wirkung dieser globalen Expansion zeigte der Ersten Weltkrieg deutlich, der den Beginn dieser Epoche des Niedergangs markierte. Am Ende des Krieges entfaltete sich die tödliche Pandemie der Spanischen Grippe, die schätzungsweise etwa ein Drittel der Weltbevölkerung infiziert und in drei Phasen über 50 Millionen Menschen getötet hat. Die hohe Opferzahl stand in Zusammenhang mit den Bedingungen des imperialistischen Krieges, darunter Hunger und Unterernährung, schlechte Hygiene und die Transporte kranker Soldaten aus den Schützengräben, die ein tödlicheres Virus für die zweite Welle hervorbrachten. In der jüngeren Vergangenheit haben wir gesehen, dass das HIV 32 Millionen Menschen getötet hat, vor allem in Afrika, und jetzt endemisch geworden ist. Trotz der medizinischen Fortschritte, die HIV von einer tödlichen zu einer chronischen Krankheit gemacht haben, starben 2018 770.000 Menschen an AIDS, weil sie keinen Zugang zu medizinischer Versorgung hatten.[1] Viele andere Krankheiten, die die Medizin verhindern kann, verursachen weiterhin Krankheit und Tod. Wir hören von den Masernfällen in den USA, vielleicht in Samoa, und von der Bedeutung von Impfungen, um die Übertragung zu verhindern. Aber die Medien schweigen zu den fast 300.000 Masernfällen in der Demokratischen Republik Kongo, wo fast 6.000 Kinder[2] starben und die miserabel ausgestatteten Gesundheitseinrichtungen auch versuchen, mit Ebola fertig zu werden. Diese Todesfälle sind für die herrschende Klasse nicht von großem Interesse, da sie im Gegensatz zur Schweinegrippe-Pandemie 2009 oder der aktuellen Covid-19-Epidemie in China nicht in gleichem Maße ihre Produktion und ihre Gewinne bedrohen. Aber der Kapitalismus ist für die Bedingungen verantwortlich, die zu diesen Epidemien führen: in diesem Fall in Kongo, einem instabilen Land, das das Ergebnis der Zerstückelung Afrikas durch die imperialistischen Mächte ist und ständig durch Kämpfe um seine natürlichen Ressourcen (Gold, Diamanten, Öl und Kobalt) verwüstet wird, die Millionen von Menschenleben gefordert haben. 50% der Exporte der DRK gehen nach China. Dies ist ein besonders anschauliches Beispiel dafür, was wir unter dem Zerfallsprozess des Kapitalismus verstehen, der Periode, in der die herrschende Klasse über nicht genügend Kontrolle verfügt, um ihre kaltblütige Antwort auf die Krise, einen neuen Weltkrieg, durchzuführen, denn die Arbeiterklasse ist nicht besiegt, aber ebenso wenig hat die Arbeiterklasse die Kraft, ihren Kampf auf ein Niveau zu heben, das den Kapitalismus bedrohen kann. Dieser Zerfallsprozess wurde durch den Zusammenbruch des russischen imperialistischen Blocks angekündigt und ist unter anderem durch chaotische, lokal begrenzte Kriege gekennzeichnet.[3]
Das Fortbestehen der Kinderlähmung steht auch in direktem Zusammenhang mit dem Zerfallsprozess, wenn die kriegerischen Auseinandersetzungen oder der Fundamentalismus eine Impfung verhindern, denn Mitarbeiter des Gesundheitswesens werden zum Beispiel in Pakistan von Dschihadisten ermordet. Jede Medienberichterstattung darüber ist völlig heuchlerisch. Die Großmächte, die dies verurteilen, sind durchaus bereit, irreguläre und terroristische Kämpfer einzusetzen – so wie der Westen die Mudschaheddin in Afghanistan in den 1980er Jahren und seitdem in vielen anderen Konflikten gegen die Russen eingesetzt hat. In der Tat ist der Aufstieg des Terrorismus ein Merkmal der imperialistischen Konflikte in der Periode des Zerfalls. Anstatt mehr Geld für Gesundheit oder Bildung auszugeben sind die globalen Verteidigungsausgaben im Jahr 2019 gegenüber 2018 um 4% gestiegen. In den USA und China stiegen sie um mehr als 6% und in Deutschland um mehr als 9%. Um eine Vorstellung von den ‚kalten‘, brutalen Prioritäten der Bourgeoisie zu vermitteln: Während das Budget des CDC (Centre for Disease Control) in den USA von 10,8 Milliarden Dollar im Jahr 2010 auf 6,6 Milliarden Dollar im Jahr 2020 gekürzt wurde, haben die USA gerade einen Militärhaushalt mit Aufrüstungsplänen von 738 Milliarden Dollar verabschiedet. Chinas jährliches Verteidigungsbudget wird auf 250 Milliarden Dollar geschätzt. Die WHO hatte in den Jahren 2016-2017 ein Budget von nur 5,1 Milliarden Dollar.
Es gibt viele Krankheiten, die derzeit mehr Todesfälle verursachen als Covid-19, doch die Bourgeoisie nimmt dieses als Bedrohung ernst, ebenso wie jede neue Krankheit, die zu einer Pandemie werden kann und daher ihre Produktivität und ihre Profite stärker bedroht, zum Beispiel durch vermehrten Krankenstand – etwas, das wir bei diesem neuen Virus in China sehen und auch eine Bedrohung für die Gesundheit und das Leben der Menschen darstellt. Es gibt viele Aspekte der Krankheit, die zu ihrem Pandemiepotenzial beitragen können – Infektiosität, die Art der Krankheit. Es ist auch wichtig, dass sie in einer großen Stadt mit 11 Millionen Einwohner*innen in einem Land entstanden ist, das durch Handel und Tourismus international gut vernetzt ist, was es schwieriger macht, die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Es ist schwieriger einzudämmen, als wenn es wie Ebola in Afrika mit weit weniger Möglichkeiten für Auslandsreisen aufgetreten wäre oder wenn es wie 2003 die SARS-Epidemie aufgetreten wäre, als Chinas Wirtschaft und Verbindungen mit der Welt nicht so umfassend waren. Ein Großteil der ersten Reaktion des chinesischen Staates auf dieses neue Virus war kriminell fahrlässig und skrupellos. Während der Staat bereits am 26. Dezember vorläufige genetische Daten erhalten hatte, die auf ein SARS-ähnliches Virus hindeuteten, bedrängten und bedrohten die chinesischen Behörden am 30. Dezember Dr. Li Wenliang, der vor der Gefahr warnte. Gleichzeitig warnten die chinesischen Behörden die WHO vor dem Virus. Dennoch unterdrückten die Behörden in Wuhan weiterhin Informationen über die Epidemie und veranstalteten am 18. und 19. Januar ein riesiges gemeinsames Essen und eine Neujahrsfeier nach chinesischem Mondkalender, wobei sie so taten, als könnte die Krankheit nicht von Mensch zu Mensch übertragen werden, bevor sie die Stadt am 23. Januar abriegelten, als 5 Millionen Menschen, fast die Hälfte der Bevölkerung, bereits im Rahmen des Neujahrsfestes abgereist waren.
All dies hat in der Bevölkerung einen enormen Zorn ausgelöst, die wütend darüber war, dass die Regierung die Krankheit vor der Öffentlichkeit verheimlichen wollte und einen Arzt dazu gebracht hat, ein falsches Geständnis zu unterschreiben, wonach er „Gerüchte“ verbreitet habe, um vor dieser zu warnen. Dies hat eine Kampagne für die Redefreiheit in China ausgelöst. Medien und Politiker in westlichen Ländern haben diese Kampagne mit Predigten über die Vorteile von Demokratie und Redefreiheit begleitet. Wir sollten jedoch keinen Augenblick daran denken, dass unsere eigene herrschende Klasse größere moralische Skrupel hat zu lügen und Informationen zu vertuschen, wenn es ihr passt, selbst wenn dadurch Menschenleben gefährdet werden. Die Arzneimittelfirmen unterdrücken klinische Studien, die ihre Profite gefährden, selbst wenn dies bedeutet, dass sie nicht davor warnen, dass bestimmte Antidepressiva ein erhöhtes Selbstmordrisiko für Jugendliche und junge Erwachsene haben (siehe Bad Pharma von Ben Goldacre, ein Buch über solche Unterdrückung der Wahrheit). Und die Regierungen der USA und Großbritanniens haben in schamlos über Massenvernichtungswaffen gelogen, um die Invasion des Irak im Jahr 2003 zu rechtfertigen.
Der chinesische Staat war völlig kaltblütig, als er seine Sorge um die Aufrechterhaltung seiner Autorität über die Sorge um die Gesundheit und das Leben der Bevölkerung stellte, ein Ergebnis seiner starren hierarchischen stalinistischen Bürokratie, die ihn dazu veranlasste, den Beginn einer Epidemie zu vertuschen, als rechtzeitiges Handeln erforderlich war, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen und zu verlangsamen. Dies zeigt die Brutalität des Regimes, das wenig Rücksicht auf menschliches Leben nimmt, aber auch seine Irrationalität, denn ein rechtzeitiges Eingreifen als Reaktion auf die Epidemie hätte nicht nur Leben gerettet, sondern auch einen Großteil der zu erwartenden wirtschaftlichen Verluste und einen großen Teil des Schadens, den Chinas Ansehen als wachsende Macht in der Welt mit seiner ehrgeizigen "One-Belt-One-Road"-Initiative erlitten hat. Diese Irrationalität des chinesischen Regimes in seiner Reaktion auf die Epidemie hängt mit seiner Paranoia über jeden Macht- oder Kontrollverlust zusammen, eine Paranoia, die sich in seinen großen Arbeits- und "Umerziehungs"-Lagern für Uiguren und andere zeigt, in seiner Vorliebe für Gesichtserkennungstechnologie und in seinem Sozialkreditsystem, mit dem es die Bevölkerung in Schach hält. Um seine Autorität zu bewahren, wagt das Regime es nicht, irgendwelche Gefahren oder Probleme zuzugeben.
Die Quarantäne einer Stadt mit 11 Millionen Einwohnern durch die Blockade aller Verkehrsverbindungen und die Errichtung von Straßensperren ist eine Premiere. Dies zu tun, nachdem die Hälfte der Bevölkerung die Stadt verlassen durfte, macht die Sache noch schlimmer. Der Bau von zwei neuen Krankenhäusern zur Aufnahme von 2.600 zusätzlichen Patienten in 10 Tagen ist ein beeindruckendes Stück Propaganda und sogar eine beeindruckende Leistung der Fertigbautechnik (auch wenn sie zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme noch nicht fertig waren). Aber es wurden weder die Ausrüstung noch die Ärzte und Ärztinnen sowie Krankenschwestern und -pfleger bereitgestellt, die nötig gewesen wären – auch wenn man Armeeärzte und Freiwillige aus anderen Regionen herangekarrt hatte. Die Krankenhäuser in Wuhan waren überfordert, ebenso wie die Quarantänezentren mit 10.000 Betten. Kranke Menschen mit dem Coronavirus konnten nicht in Quarantänezentren, geschweige denn in Krankenhäusern untergebracht werden. Patientinnen mit anderen Krankheiten, darunter auch Krebs, können keine Krankenhausbehandlung erhalten, da alle Betten voll sind. Kranke und sterbende Patienten in den Quarantänezentren haben keine oder keine ausreichende pflegerische Betreuung. In den Quarantänezentren sind Hunderte von Kranken in Betten oder auf Matratzen auf dem Boden zusammengepfercht, die kleine Papiermasken von zweifelhaftem Wert tragen, mit unzureichenden Toilettenausstattungen und Waschmöglichkeiten, manchmal mit tragbaren Toiletten und Duschen im Freien. Es ist ganz klar, dass jede Person, die eine Quarantänestation betritt, ohne selbst schon vom Virus angesteckt zu sein, es da bald bekommen wird. Diejenigen, die unter Verdacht standen, den Virus in sich zu tragen, wurden gewaltsam in Quarantänestationen gebracht – ein behinderter Junge verhungerte, nachdem den Verwandten, die ihn betreut hatten, nicht gestattet worden war, ihn zu begleiten. Es handelt sich ebensosehr um eine polizeiliche Übung wie um eine Gesundheitsmaßnahme.
Das Zusammenführen von Menschen in Quarantänezentren, die nur zu Zentren für die Weitergabe des Virus werden können, erinnert an die Armenkrankenhäuser in Europa bis zum 19. Jahrhundert, die ebenfalls Infektionsquellen waren, z.B. die steigende Müttersterblichkeit durch Kindbettfieber vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Damals hatte man noch nicht die Notwendigkeit von entsprechenden Hygienemaßnahmen verstanden.
Es fehlt an Ausrüstung, einschließlich Schutzkleidung für das Krankenhauspersonal; Ärzt*innen und Krankenpflegende arbeiten extrem lange, was sie alle anfälliger für Krankheiten macht. 1700 von ihnen haben sich infiziert und 6 sind gestorben.
Unter diesen Umständen ist es klar, dass viele Patienten sterben werden, die mit einer angemessenen medizinischen Versorgung hätten gerettet werden können. Covid-19 scheint deshalb in Wuhan eine mehr als doppelt so hohe Sterblichkeit zu haben wie anderswo. Unabhängig davon, ob die chinesischen Behörden weiterhin über die Zahl der Infizierten lügen oder nicht, sind die Zahlen verdächtig, da nicht alle Fälle bestätigt werden können. Daher stieg die Zahl der am 11. Februar in Wuhan gemeldeten Fälle, die klinisch – ohne Test – diagnostiziert wurden, sprunghaft an, so dass die Gesamtzahl der registrierten Fälle auf über 60.000 stieg.
Nicht nur in China dürften die Krankheitszahlen ungenau sein. Im Gegensatz zu Singapur, einem reichen Land mit zahlreichen Verbindungen, das sich seit SARS im Jahr 2003 auf eine Epidemie vorbereitet, sind viele andere ärmere Länder nicht darauf vorbereitet. "Jedes Land, das in erheblichem Umfang Flugverbindungen mit China hat und keine Fälle gemeldet hat, sollte sich Sorgen machen", sagt ein Harvard-Professor für Epidemiologie.[4] Indonesien beispielsweise hat 238 Bürger aus Wuhan evakuiert und zwei Wochen lang unter Quarantäne gestellt, sie aber nicht auf die Krankheit getestet, weil dies zu teuer ist. Und was ist mit Chinas afrikanischem Handel und den Kunden der Neuen Seidenstraße? Es gibt viele Orte ohne die Gesundheitsinfrastruktur, an denen Patient*innen mit dem Virus diagnostiziert und versorgt werden könnten. Beeindruckend ist, dass das neue Virus bis zum 12. Januar sequenziert wurde. Im Anschluss daran hat die Koalition für Epidemievorsorge-Innovation (CEPI), die 2017 nach dem westafrikanischen Ebola-Ausbruch gegründet wurde, an einem Impfstoff gearbeitet in der Hoffnung, dass dieser bei einer Ausbreitung von Covid-19 und insbesondere dann, wenn es sich zu einer saisonalen Krankheit wie Grippe entwickelt, zur Verfügung stehen kann. Während wir diesen Artikel schreiben, wird an dem Impfstoff gearbeitet, wobei eine neue Methode auf der Grundlage der Gensequenzierung verwendet wird, die sicherer ist als der Umgang mit einem tödlichen Virus und die bereits die Produktion von Impfstoffen für Zika, Ebola, SARS und MERS beschleunigt hat. Natürlich muss er auf Sicherheit und Wirksamkeit getestet werden, bevor er eingesetzt werden kann, und das wird Zeit brauchen.
Doch dieses erstaunliche Potenzial für die Produktivkräfte ist nicht das Ende der Geschichte. Es mangelt an Fabriken, um ausreichend Impfstoff zu produzieren, und da die Regierungen angesichts der Gefahr einer Pandemie den Impfstoff erst dann exportieren werden, wenn sie "unter Berufung auf die nationale Verteidigung oder Sicherheit"[5] genug für den eigenen Gebrauch gehortet haben, hat die CEPI geplant, ihn an mehreren Standorten herstellen zu lassen.
Chinas Wirtschaft ist nahezu zum Stillstand gekommen, da das Land zur Eindämmung des neuen Virus abgeriegelt wurde. Als Reaktion darauf pumpt die Regierung Geld in die Wirtschaft, die Bankenaufsicht lockert die Regeln für uneinbringliche Forderungen. Allerdings steht China jetzt für 16% des globalen BIP, viermal mehr als 2003 zur Zeit der SARS-Epidemie, die damals für einen Rückgang des BIP um 1% gesorgt hat. Seine Wirtschaft ist viel stärker in globale Lieferketten integriert als noch vor 17 Jahren.
Dies hat Hyundai bereits dazu gezwungen, Autofabriken in Südkorea zu schließen, Nissan hat eine in Japan geschlossen und Fiat-Chrysler warnt davor, dass es möglicherweise einige europäische Produktionstätten schließen werde. Die Smartphone-Produktion könnte in diesem Jahr um bis zu 10% zurückgehen. Textilien (China produziert 40% der weltweiten Exporte), Möbel und Arzneimittel könnten betroffen sein. Wie auch der Tourismus. Und China macht inzwischen fast 20% der weltweiten Bergbauimporte aus und versucht, Lieferungen von Öl, Gas und Kohle, die es nicht braucht, zu streichen. Die Aktien von US-Firmen, die in hohem Maße von chinesischen Verkäufen abhängig sind, sind um 5% gesunken. Da der Handelskrieg mit den USA nicht gelöst, ist dies ein schlechter Zeitpunkt – für China und die Weltwirtschaft.
Längerfristig könnte dies China zu einem weniger zuverlässigen Handelspartner für multinationale Unternehmen, die ihr Geld investieren wollen, werden lassen. Sicher leidet Chinas Ansehen als mächtiger Handelspartner und imperialistischer Geldgeber für seine Kunden an der Neuen Seidenstraße. Viel hängt davon ab, wie schnell es seine Wirtschaft wieder „normalisieren“ kann.
Was auch immer mit diesem neuen Covid-19-Virus geschieht, ob es zu einer neuen Pandemie wird, oder ob es wie SARS aussterben oder sich als neues saisonales Atemwegsvirus etablieren wird, diese neue Krankheit ist eine weitere Warnung, dass der Kapitalismus zu einer Gefahr für die Menschheit und das Leben auf diesem Planeten geworden ist. Die enorme Fähigkeit der Produktivkräfte einschließlich der medizinischen Wissenschaft, uns vor Krankheiten zu schützen, trifft auf die mörderische Suche nach Profit, das Zusammenpferchen eines immer größeren Teils der Bevölkerung in riesigen Städten, mit allen Risiken für neue Epidemien. Die Gefahren des Kapitalismus enden nicht hier, hinzu kommen vielmehr auch die Drohungen der Umweltverschmutzung, der Umweltzerstörung und der immer chaotischeren imperialistischen Kriege.
Alex, 15.2.20
[2] stories.msf.org.uk/contagion-in-congo/index.html?gclid=EAIaIQobChMI5_WRhNvR5wIVA7TtCh0WeQDxEAAYASAAEgL-hvD_BwE.
[3] Siehe unsere Thesen zum Zerfall, /content/748/der-zerfall-die-letzte-phase-der-dekadenz-des-kapitalismus [3]
[4] Zitiert in The Economist 15.2.20
[5] The Economist 8.2.20
Seit mehreren Monaten wird die Region Idlib im Norden Syriens von den Streitkräften Baschar Al Assads und der russischen Armee in allen möglichen Formen angegriffen. Fast drei Millionen Zivilisten (darunter eine Millionen Kinder) sind in dieser letzten Bastion der Rebellion gefangen, wie in Aleppo oder im östlichen Ghuta[1]. Das von Assad regierte Regime versucht, dieses Gebiet durch Terror und eine verabscheuungswürdige Politik der verbrannten Erde zurückzuerobern. Die von der russischen Luftwaffe abgeworfenen Bomben treffen unterschiedslos Häuser, öffentliche Gebäude (Schulen, Krankenhäuser...), Märkte und Felder. Seit Ende April 2018 sind laut UNO mehr als tausend Menschen umgekommen, und fast eine Millionen Menschen versuchen, vor den Massakern zu fliehen. Sie hungern, sind obdachlos und den eisigen Temperaturen des Winters ausgesetzt. Angesichts dieser Barbarei und Chaos hat die verzweifelte Bevölkerung tatsächlich nur einen Ausweg: die Flucht vor dem Tod! Sie versuchen in Richtung türkische Grenze zu fliehen oder die griechische Grenze zu erreichen, das nächstgelegene Tor, um nach Europa zu gelangen.
Aber die Grenze zwischen Syrien und der Türkei ist abgeriegelt. Während der türkische Staat seit 2015 den europäischen Demokratien (gegen ein Bezahlung!) einen Dienst erweist, indem er die Millionen Flüchtlinge, die diese nicht aufnehmen wollen, abfängt, sie zurückhält und diese dabei wie an der Pest Erkrankte behandelt, hat die türkische Offensive im Norden Syriens die Situation verändert. Die drei Millionen Menschen in der Region Idlib sind jetzt Geiseln, Gefangene der imperialistischen Mächte in der Region. Wie wir gesehen haben, sind die Türkei, Russland und Syrien zu allem bereit! Dazu gehört, die Menschen aus ganzen Landstrichen zu verjagen, sie zu terrorisieren, abzuschlachten, um ihre Blutrunst zu stillen. Heute ist die Region Idlib die makabre Spielwiese des Imperialismus, die blutige Theaterbühne des sterbenden Kapitalismus, wo nur noch Elend und Tod vorherrschen!
Wenn Erdogan sich weigert, neue Flüchtlinge aufzunehmen, dann auch weil er die dreieinhalb Millionen, die sich bereits auf türkischem Boden befinden, loswerden will. Für den Führer des Regimes sind sie nichts anderes als Geiseln, die er rücksichtslos beim Feilschen zur Erfüllung seiner politischen Ziele einsetzt. Innerhalb der Türkei sind Migranten nun die Zielscheibe einer ekelhaften Hetzkampagne, die darauf abzielt, die Popularität der AKP in der türkischen Bevölkerung zu erhöhen. Aber gerade auf der imperialistischen Bühne sind die Flüchtlinge für die AKP am nützlichsten.
Tatsächlich werden sie als Spielball bei den Erpressungsmanövern gegenüber der Europäischen Union (EU) eingesetzt. Erdogan drohte schon seit Monaten damit, die Westgrenze des Landes nach Europa zu öffnen, um die europäischen Mächte zu zwingen, seinen militärischen Feldzug in Nordsyrien zu unterstützen und ihm finanziell unter die Arme zu greifen. Am 28. Februar setzte er seine Drohungen in die Tat um, und Zehntausende von Flüchtlingen versuchten unter beträchtlichem Risiko über Griechenland nach Europa zu gelangen, obwohl die Behörden des Landes sich kategorisch dagegen stemmen und dabei von der EU und ihren ‚großen Demokratien‘ unterstützt werden. Mindestens 13.000 Migranten sind jetzt an der Grenze zusammengeströmt, eingepfercht von vorne und hinten, und sie fallen den Grausamkeiten aller Seiten zum Opfer. Andere versuchen, die Inseln Chios oder Lesbos auf dem Seeweg zu erreichen, wo die gleichen Bedingungen auf sie warten: festgehalten, eingesperrt und isoliert wie Tiere, ohne Wasser, Heizung, Nahrung und die grundlegendsten sanitären Einrichtungen. Auf der Insel Lesbos im Lager Moria, das für 2.300 Menschen ausgelegt ist, sind beispielsweise 20.000 Menschen zusammengepfercht, umgeben von Stacheldraht. „La Repubblica“ gibt diese abscheuliche Beschreibung: "Die Ersten, die ertrinken, sind die Kinder. Hier gibt es nichts für sie, nicht einmal ein Bett, eine Toilette oder Licht. Hier gibt es für sie nur Schlamm, Kälte und Warten. Ein nasses und absurdes Fegefeuer, in dem man verrückt werden kann. So dass – während Europa und die damit verbundenen Hoffnungen immer mehr in weite Ferne rücken, - den Zerbrechlichsten unter ihnen nichts anderes übrig bleibt, als zu versuchen, Selbstmord zu begehen (...), aber da sie Angst haben, schaffen sie es selten, es durchzuziehen. Von Zeit zu Zeit klopft ein Erwachsener am Fuße des Hügels an die Tür der Klinik und hält ein Kind in den Armen mit entsprechenden Spuren am Körper. Jeder weiß, was gerade geschehen ist. Er wird es in einigen Monaten wieder tun". Mehr als ein dreiviertel Jahrhundert nach Auschwitz ist es die gleiche düstere und entsetzliche Realität, die der Kapitalismus für die überall als "unerwünscht" angesehene Bevölkerung bereithält.
Diejenigen, die versuchen, in dieses "Eldorado" zu gelangen, werden von den griechischen Behörden mit größter Gewalt und Brutalität aufgehalten. Wir haben unerträgliche und abstoßende Bilder gesehen, wo die griechische Küstenwache auf See versucht, ein Schlauchboot voller Migranten zu durchbohren und sie mit Gewehrfeuer zu vertreiben. In der Region Evros patrouillieren Polizei und Armee in dem Gebiet. Die 212 Kilometer der Grenze sind unpassierbar. Migranten, die versuchen, die Grenze zu überqueren, werden mit Tränengas und sogar mit scharfer Munition angegriffen, was Berichten aus der Türkei zufolge zu mehreren Verletzungen und sogar einem Todesfall geführt haben soll. Die Verhafteten werden geschlagen, ausgeraubt, gedemütigt und in die Türkei zurückgetrieben. Sie denken, dass sie nur wenige Meter vom „Paradies“ entfernt sind, aber in Wirklichkeit sind sie mit der kalten Grausamkeit der Festung Europa konfrontiert, für die sie unerwünschte, abscheuliche oder verirrte Gestalten bleiben, um die sich kein Staat kümmern will. Jeder von ihnen tut so als würde er den anderen die Schuld zuschieben, aber sie alle teilen den gleichen Willen: die kategorische Weigerung, diese Flüchtlinge aufzunehmen, die Opfer der Barbarei sind, die die imperialistischen Mächte selbst mit unglaublichem Zynismus und grenzenloser Heuchelei geschaffen haben![2]
Unmittelbar nach der Ankündigung des türkischen Regimes, die Grenzen für die Flüchtlinge nach Europa zu öffnen, war die Reaktion der großen EU-Staaten gnadenlos: Alle Vertreter der europäischen Bourgeoisie schrien laut gegen Erdogans "inakzeptable" (Originalton Angela Merkel) Politik. Der vor allem aufgrund seiner Anti-Immigrationspolitik gewählte österreichische Regierungschef Sebastian Kurz gab vor, sich um "jene Menschen zu sorgen, die benutzt werden, um Druck auf die EU auszuüben".
Europas „große Demokratien" mögen zwar heuchelnd ihr Mitleid bekunden, aber so sehr sie auch versuchen, die Schuld auf ihre russischen und türkischen Konkurrenten abzuwälzen, die Realität der europäischen Flüchtlingspolitik offenbart die Heuchelei und Schmach, die sie an den Tag legen. Es ist im Übrigen das "Vaterland der Menschenrechte", das die wahren Absichten der EU-Staaten am besten zum Ausdruck gebracht hat: "Die Europäische Union wird dieser Erpressung nicht nachgeben. (...) Die Grenzen Griechenlands und des Schengen-Raums sind geschlossen, und wir werden dafür sorgen, dass sie geschlossen bleiben, das muss klar sein!", erklärte Jean-Yves Le Drian, der französische Außenminister, kategorisch. Egal, wie verzweifelt die vielen Millionen Menschen versuchen werden, ihrem Schicksal zu entfliehen, die europäischen Staaten werden nichts für sie tun, außer es ihnen noch schwerer zu machen, indem sie noch mehr Absperrungen und Truppen aufbieten, um die griechische Grenze noch undurchlässiger zu machen. Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, garantierte, dass dem griechischen Staat "alle notwendige Unterstützung" gewährt werde. Die Agentur Frontex hat bereits Polizeiverstärkungen entsandt und 700 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Die Unnachgiebigkeit der europäischen Führer spiegelt ihren Wunsch wider, den populistischen Regierungen und Bewegungen den Boden zu entziehen, die nicht zögern werden, diesen neuen Exodus zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen.
Die europäischen Mächte mögen sich als Opfer des bösen Manipulators Erdogan ausgeben oder Krokodilstränen über das Schicksal der Flüchtlinge vergießen, indem sie die Maske der Ohnmacht überziehen, aber sie sind ebenso verantwortlich und tragen, ohne es zuzugeben, die Verantwortung dafür, dass diese Millionen von Zivilisten unter russischen Granaten, griechischen Kugeln und türkischem Zynismus zugrunde gehen.
Ihre ekelerregenden Tiraden über die Menschenrechte und ihre vorgetäuschte Empörung sind nichts anderes als Versuche der Vernebelung ihrer flüchtlingsfeindlichen Politik. Die Abschiebung bis an die Grenzen, die Jagd nach Flüchtlingen und der Abriss der Elendslager, die Errichtung von Mauern und Stacheldraht, die Militarisierung der Grenzen, die Verstärkung der Personenkontrollen und der Reisebeschränkungen usw., all diese Maßnahmen werden in erster Linie von den demokratischen Staaten[3], in denen die Diktatur des Kapitals auf die perverseste und zynischste Weise zum Ausdruck kommt, mit größter Entschlossenheit und Eifer umgesetzt und angewendet. Die westlichen Demokratien, sowohl das linke als auch das rechte Lager, die so sehr von der Propaganda gepriesen werden, sind nicht nur mitschuldig, sondern praktizieren auch genau die gleiche verachtenswerte, erniedrigende und unwürdige Behandlung der Flüchtlinge wie die "Schurken" der Geschichte (die Erdogan, Putin und andere) - allerdings mit einer gehörigen Dosis an Heuchelei!
Nachdem etwa 30 türkische Soldaten bei einem Angriff der Truppen von Baschar Al Assad getötet wurden, was die Angst vor einer Eskalation der Spannungen schürte, vereinbarten Moskau und Ankara am 5. März einen Waffenstillstand. Eine Farce, der man keinen Glauben schenken kann in Anbetracht der jeweiligen Bestrebungen der beiden Mächte, die ihre Interessen hemmungslos verfolgen, und die früher oder später das Pulverfass in Brand setzen und die Kämpfe erneut wieder aufflammen lässt. Es gibt keine Anzeichen für eine Stabilisierung im Nahen Osten. Der fortgesetzte Rückzug der Vereinigten Staaten und damit auch Frankreichs und Deutschlands wird letztlich eine Reihe von Gefahren mit sich bringen, deren erstes Opfer wie immer die Zivilbevölkerung sein wird. Es ist unbestreitbar, dass Assad entschlossen ist, das gesamte Gebiet, das er vor 2011 kontrollierte, zurückzuerobern. Um dies zu tun, wird er nicht zögern, das Blut von Millionen unschuldiger Menschen fließen zu lassen, um sein Ziel zu erreichen. Zumal Putin, der als einziger in der Lage ist, die Bestrebungen des "Schlächters von Damaskus" zu kanalisieren, diesem Ziel nicht völlig entgegengesetzt zu sein scheint. Der "Herrscher des Kremls" hat ein Interesse daran, gute Beziehungen zu Erdogan zu unterhalten, um Druck auf die NATO auszuüben und seinen wertvollen Marinestützpunkt in Tartus, im Westen Syriens, zu erhalten. Die Türkei ihrerseits hat freie Hand, um die Kurden auszuschalten, deren autonomes Gebiet sie sich weigert zu erhalten, da sie befürchtet, dass es als Basis für die nationalistischen Ansprüche der Kurden der Türkei dienen könnte. Im Oktober letzten Jahres gelang es ihr, nach gewaltsamen Kämpfen eine "Sicherheitszone" einzurichten und damit die territoriale Integrität Rojavas zu brechen. Wenn die amerikanische Präsenz den Kurden bisher eine Schutzgarantie gegeben hat, so ist der Abzug der US-Truppen aus Syrien höchstwahrscheinlich ein Zeichen dafür, dass sie zum Tode verurteilt sind. Dies trifft um so mehr zu, als europäische Mächte wie Frankreich und Großbritannien viel an Boden verloren haben und nicht mehr wirklich in der Lage sind, ihre Strategie des Kampfes gegen den IS und das Assad-Regime durch Bündnisse mit den Rebellen und den Kurden umzusetzen. Damit sind nun alle Voraussetzungen für neue Massaker gegeben, die für Millionen weiterer Menschen Elend und Vertreibung bedeuten werden.
Was an der griechisch-türkischen Grenze geschieht, ist keine Ausnahme, sondern ein Beispiel unter vielen anderen für den Schrecken, den der dahinsiechende Kapitalismus für Hunderte von Millionen Menschen mit sich bringt. Das Schicksal der afrikanischen Migranten an der marokkanischen Grenze, das Inferno in Libyen oder das der Lateinamerikaner zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten ist ähnlich. Alle sind auf der Flucht vor Krieg, Gewalt, Kriminalität und Umweltkatastrophen. Man spricht davon, dass sich heute fast sieben Millionen Menschen in dieser Situation des Umherirrens ohne jegliche Überlebensmöglichkeiten befinden. Sie fliehen vor der Barbarei des Kapitals und sind die Spielbälle und Opfer der nationalen Bourgeoisien, die sie ständig hin und herjagen und die "Flüchtlingsfrage" im Namen ihrer finsteren imperialistischen Interessen instrumentalisieren.
Vinzenz, 8. März 2020.
[1]Die Rebellen gegen das Assad-Regime sind nur eine rivalisierende Fraktion innerhalb der syrischen Bourgeoisie. Sie werden von den USA, Saudi-Arabien, der Türkei und anderen imperialistischen Mächten als Schachfiguren für die Verteidigung ihrer imperialistischen Interessen benutzt.
[2]siehe zum Beispiel https://en.internationalism.org/icconline/201510/13468/syria-russian-intervention-escalates-chaos [4]
[3]Siehe dazu unsere französische Webseite https://fr.internationalism.org/content/9934/droit-dasile-arme-dresser-des-murs-contre-immigres [5]
Am Ende unseres ersten Artikels über die Covid-19-Pandemie wiesen wir darauf hin: "Ob dieses neue Covid-19-Virus zu einer neuen Pandemie wird, wie es bei SARS geschehen ist, oder ein neues saisonales Atemwegsvirus bleibt, diese neue Krankheit ist eine weitere Warnung, dass der Kapitalismus zu einer Gefahr für die Menschheit und das Leben auf diesem Planeten geworden ist. Die enormen Fähigkeiten der Produktivkräfte, einschließlich der medizinischen Wissenschaft, uns vor Krankheiten zu schützen, kollidieren mit diesem kriminellen Profitstreben, mit der Überbevölkerung eines großen Teils der Weltbevölkerung in unbewohnbaren Städten und den damit verbundenen Risiken neuer Epidemien.“
Heute ist diese Pandemie zu einem großen Problem in der ganzen Welt geworden und hat zu einem regelrechten wirtschaftlichen "Tsunami" mit katastrophalen Folgen geführt. Aus Platzgründen werden wir hier nicht auf diese Dimension der wirtschaftlichen Auswirkungen eingehen. Wir werden dies in einem zukünftigen Artikel tun. Im folgenden Artikel konzentrieren wir uns auf die Analyse, wie diese Epidemie die Krankheit des Kapitalismus offenbart.
Die finstersten Vorhersagen werden heute bestätigt, und die WHO muss anerkennen, dass es sich um eine globale Pandemie handelt, die sich bereits auf 117 Länder auf allen Kontinenten ausgebreitet hat, dass die Zahl der betroffenen Menschen laut offiziellen Statistiken 120.000 übersteigt, dass die Zahl der Todesfälle in diesen ersten Wochen der Pandemie mehr als 4.000 betrug usw. Was in China als "ein Problem" begann, ist heute zu einer sozialen Krise in den wichtigsten kapitalistischen Mächten des Planeten (Japan, USA, Westeuropa usw.) geworden. Allein in Italien übersteigt die Zahl der Todesfälle bereits die Zahl der durch die SARS-Epidemie von 2002-2003 weltweit verursachten. Und die drakonischen Maßnahmen zur Kontrolle der Bevölkerung, die vor einem Monat von den "tyrannischen" chinesischen Behörden ergriffen wurden, wie z.B. die Quarantäne von Millionen von Menschen[1] und die Maßnahmen, die typisch für einen echten "Sozialdarwinismus" sind, der darin besteht, all jene von der Krankenhausversorgung auszuschließen, die im Kampf um die Eindämmung der Krankheit nicht "vorrangig" sind, sind heute in vielen der wichtigsten Städte all der betroffenen Länder auf allen Kontinenten an der Tagesordnung.
Die bürgerlichen "Medien" bombardieren uns ständig massenweise mit Daten, Empfehlungen und "Erklärungen" zu dem, was sie uns als eine Art Plage, als eine neue "Natur"-Katastrophe darstellen wollen. Aber es gibt nichts "Natürliches" an dieser Katastrophe; sie ist das Ergebnis der erstickenden Diktatur der senilen und überholten kapitalistischen Produktionsweise über die Natur und der menschlichen Spezies als ein Teil dieser Natur.
Wir Revolutionäre haben keine Kompetenz, epidemiologische Studien oder Prognosen über den Verlauf von Krankheiten zu erstellen. Unsere Aufgabe ist es, auf einer materialistischen Grundlage die sozialen Bedingungen zu erklären, die das Auftreten dieser katastrophalen Ereignisse möglich und unvermeidlich machen. Damit haben wir deutlich gemacht, dass das Wesen des kapitalistischen Systems darin besteht, Ausbeutung, Profit und Akkumulation über die menschlichen Bedürfnisse zu stellen. Und dass ein anderer Kapitalismus nicht möglich ist. Aber auch, dass dieselben kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte einen enormen Fortschritt der Produktivkräfte (der Wissenschaft, einer gewissen Beherrschung der Natur, um die Leiden, die sie den Menschen auferlegte, einzudämmen ...) ermöglichen konnten, heute zu einem Hindernis für ihre Entwicklung geworden sind. Wir haben auch erklärt, wie die jahrzehntelange Verlängerung dieser Phase der kapitalistischen Dekadenz in Ermangelung einer revolutionären Lösung zum Eintritt in eine neue Phase geführt hat: zum gesellschaftlichen Zerfall[2], wo all diese zerstörerischen Tendenzen noch stärker konzentriert sind und in einer Vervielfachung von Chaos, Barbarei, dem fortschreitenden Zusammenbruch eben jener sozialen Strukturen, die ein Minimum an sozialem Zusammenhalt garantieren, das Überleben des Lebens auf dem Planeten Erde selbst bedrohen.
Sind das Gehirngespinste von ein paar in der Vergangenheit lebenden Marxisten? Sicherlich nicht. Die Wissenschaftler, die mit wissenschaftlicher Sorgfalt über die aktuelle Covid-19-Pandemie sprechen, behaupten, dass die Ausbreitung dieser Art von Epidemie ihre Ursache unter anderem in der beschleunigten Umweltzerstörung hat, die zu einer größeren Ansteckung durch Tiere (Zoonosen) führt, die sich den menschlichen Ballungsräumen nähern, um zu überleben, und dass gleichzeitig die Überbevölkerung von Millionen von Menschen in Megacities die wirklich schwindelerregenden Ansteckungskurven verursachen. Wie wir bereits in unserem vorherigen Artikel über Covid-19 erklärten,[3] hatten einige Ärzte in China tatsächlich schon ab Dezember 2019 versucht, vor einer neuen Epidemiegefahr durch das SARS-Coronavirus zu warnen, aber sie wurden direkt vom Staat zensiert und unterdrückt, weil dies das Bild einer der führenden Weltmächte, die das chinesische Kapital vermitteln möchte, bedrohte.
Die IKS ist auch nicht die erste, die eine der Hauptantriebskräfte für die Ausbreitung dieser Pandemie in der abnehmenden Koordinierung der Maßnahmen zwischen den verschiedenen Länder ausmacht, was eines der Merkmale des Kapitalismus ist, aber in immer stärkerem Maße durch das Vordringen des "Jeder für sich" und den "Rückzug auf sich selbst" verstärkt wird. Diese Triebkräfte stehen hinter der Tendenz der Staaten und Kapitalisten in der Phase des Zerfalls des Systems und neigen dazu, alle sozialen Beziehungen zu durchdringen.
Wir entdecken nichts Neues, wenn wir darauf hinweisen, dass die Gefahr dieser Krankheit nicht so sehr im Virus selbst liegt, sondern in der Tatsache, dass diese Pandemie vor dem Hintergrund einer enormen Verschlechterung der Gesundheitsinfrastrukturen über Jahrzehnte und im globalen Maßstab stattfindet. Dass es in der Tat die "Verwaltung" dieser immer knapper werdenden und nicht mehr funktionierenden Strukturen ist, die die Politik der verschiedenen Staaten diktiert, um das Auftreten neuer Fälle zu verhindern, auch wenn dies bedeutet, dass die Auswirkungen dieser Pandemie zeitlich verlängert werden müssen. Und deutet diese unverantwortliche Verschlechterung des Zustands der Ressourcen - von Wissen, Technologie usw. -, die sich durch Jahrzehnte menschlicher Arbeit angesammelt haben, nicht darauf hin, dass ein neuer Ansatz für das Problem notwendig ist? Dies offenbart eine absolute Perspektivlosigkeit, ein völliges Fehlen der Sorge um die Zukunft der Gattung Mensch. All das ist charakteristisch für eine im Zerfall begriffene Gesellschaft.
Natürlich hat es in der Geschichte der Menschheit auch andere extrem tödliche Epidemien gegeben. Heutzutage ist es leicht, in den bürgerlichen "Medien" Berichte und Beilagen darüber zu finden, wie Pocken und Masern, Cholera oder die Pest Millionen von Todesfällen verursacht haben. Was dabei fehlt, ist eine Erklärung dafür, dass die Ursache für diese Todesfälle im Wesentlichen die schlechten Lebensbedingungen der Menschheit waren, sowohl was die materiellen Lebensbedingungen als auch das Wissen über die Natur betrifft. Der Kapitalismus bietet und erfordert die historische Möglichkeit, diese Phase der materiellen Entbehrung zu überwinden und durch die Entwicklung der Produktivkräfte die Grundlage für einen Überfluss zu legen, der eine echte Vereinigung und Befreiung der Menschheit in einer kommunistischen Gesellschaft ermöglichen kann. Wenn man das 19. Jahrhundert, also die Phase der maximalen kapitalistischen Expansion, betrachtet, kann man sehen, wie Gesundheit und damit Krankheit nicht mehr als Schicksal empfunden wurden, wie nicht nur in der Forschung, sondern auch in der Kommunikation zwischen verschiedenen Forschern ein Fortschritt erzielt wurde, wie es eine wirkliche Verschiebung hin zu einem wissenschaftlicheren Ansatz in der Medizin gab. Und all dies fand eine Anwendung im täglichen Leben der Menschen: von Maßnahmen zur Verbesserung der öffentlichen Hygiene bis hin zur Entwicklung und dem Einsatz von Impfstoffen, von der Ausbildung medizinischer Experten bis hin zur Einrichtung von Krankenhäusern. Der Anstieg der Bevölkerung (von einer auf zwei Milliarden Menschen) und vor allem der Lebenserwartung (von 30 bis 40 Jahren zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf 50-65 Jahre im Jahr 1900) ist im Wesentlichen auf diesen Fortschritt in Wissenschaft und Hygiene zurückzuführen. Nichts davon gaben die Herrschenden aus Altruismus zum Wohle der Bedürfnisse der Bevölkerung. Das „Kapital [ist] von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend« zur Welt gekommen, wie Marx sagte.
Aber inmitten dieses Grauens ist es sein Ziel, eine maximale Rentabilität der Arbeitskräfte und des Wissens, das seine Lohnsklaven in den Jahrzehnten des Erlernens neuer Produktionsverfahren erworben haben, zu erreichen, die Stabilität des Transports von Lieferungen und Gütern zu gewährleisten usw. Dadurch ist die Ausbeuterklasse danach bestrebt, das Arbeitsleben ihrer Beschäftigten möglichst kostengünstig zu verlängern, die Reproduktion der Ware Arbeitskraft zu sichern, den relativen Mehrwert durch die Steigerung der Produktivität der ausgebeuteten Klasse zu erhöhen.
Diese Situation hat sich durch den Übergang der historischen Periode von der aufsteigenden Periode des Kapitalismus zu seiner Dekadenz, welche die Revolutionäre seit der Kommunistischen Internationale im Ersten Weltkrieg [4] festgemacht haben, in ihr Gegenteil gedreht. Es ist kein Zufall, dass um 1918 eine der tödlichsten Epidemien in der Geschichte der Menschheit stattfand: die so genannte "Spanische Grippe" von 1918-19. Im Rahmen dieser Pandemie zeigte sich, dass weniger die Virulenz des Erregers, sondern vielmehr die für den imperialistischen Krieg charakteristischen sozialen Bedingungen in der kapitalistischen Dekadenz (weltweite Dimension des Konflikts, Auswirkungen des Krieges auf die Zivilbevölkerung der wichtigsten Nationen usw.) das Ausmaß der Katastrophe erklärten: 50 Millionen Tote, fast doppelt so viele wie in den Schützengräben.
Dieser Krieg und dieser Horror erreichten eine zweite, noch schrecklichere Episode im Zweiten Weltkrieg. Die Gräueltaten des ersten imperialistischen Gemetzels wie die Verwendung von Giftgasen nahmen zwischen den beiden Weltkrieg ab, bis im 2. Weltkrieg die Barbarei wieder ihren freien Lauf nahm: von Experimenten an Menschen durch die Deutschen und Japaner bis zum Einsatz biologischer Waffen (die Briten experimentierten mit Anthrax, die US-Amerikaner begannen mit ihren Versuchen mit Napalm gegen Japan bzw. Amphetaminen gegen die eigenen Soldaten), über die systematische Vernichtungsmaschinerie in den KZs bis schließlich zum Einsatz der Atombombe durch die Amerikaner am Ende des Krieges.
Und im anschließenden "Frieden"? Es stimmt, dass die großen kapitalistischen Mächte Gesundheitssysteme nach dem Vorbild des 1948 geschaffenen britischen NHS - das als eines der Gründungsmerkmale des so genannten "Wohlfahrtsstaates" gilt - eingerichtet haben, um eine "allgemeine" Gesundheitsversorgung zu gewährleisten, die unter anderem darauf abzielte, Epidemien wie die Spanische Grippe zu verhindern. War der humanitäre Kapitalismus zu einem Fortschritt, zu einem Gewinn für die Arbeiter geworden? Sicherlich nicht. Das Ziel dieser Gesundheitssysteme bestand u.a. darin, die Reparatur der Arbeitskraft (ein ‚knappes‘ Gut, nachdem im Krieg Millionen Arbeiter gestorben sind) zu möglichst niedrigen Kosten zu gewährleisten und den gesamten Produktionsprozess beim Wiederaufbau zu sichern. Dies bedeutet nicht, dass die eingesetzten "Heilmittel" nicht zu neuen Leidensquellen werden. Das zeigt sich zum Beispiel in der Antibiotika-Therapie, die zur Eindämmung von Infektionen verschrieben wird, die aber in Anbetracht der Bedürfnisse der kapitalistischen Produktivität dazu missbraucht wird, Zeiten der Arbeitsunfähigkeit zu verkürzen. Und das hat zu einem großen Problem bakterieller Resistenzen geführt - den so genannten "Superbugs" - die letztendlich das therapeutische Arsenal reduzieren, um die Infektionen anzugreifen. Es zeigt sich auch in der Zunahme von Krankheiten wie Fettleibigkeit und Diabetes, die durch eine Verschlechterung der Ernährung der Arbeiterklasse - d.h. die Verbilligung der Reproduktion der ausgebeuteten Klasse - und der ärmeren Schichten der Gesellschaft bis zu dem Punkt verursacht werden, dass die Nutzung der Lebensmitteltechnologie durch den Kapitalismus Fettleibigkeit im Elend produziert. Und wir können auch sehen, wie die Medikamente, die ausgegeben wurden, um den wachsenden Schmerz, den dieses Ausbeutungssystem der arbeitenden Bevölkerung zufügt, erträglicher zu machen, zu Phänomenen wie der so genannten "Opioid-Epidemie" geführt haben, die bis zur Ankunft des Coronavirus zum Beispiel Gesundheitsproblem Nr. 1 in den Vereinigten Staaten war und mehr Tote als alle Opfer des Vietnamkrieges verursacht hat.
Die Covid-19-Pandemie kann nicht von den übrigen Problemen, die die Gesundheit der Menschheit plagen, getrennt werden. Im Gegenteil: Die Probleme zeigen, dass es nur noch schlimmer werden kann, wenn wir weiterhin der entmenschlichten und den Marktgesetzen folgenden Gesundheitsfürsorge unterworfen bleiben. Der Ursprung von Krankheiten ist heute nicht so sehr der Mangel an Wissen oder Technologie. Der gegenwärtige Wissensstand der Epidemiologie sollte es ermöglichen, eine neue Epidemie einzudämmen. Ein Beispiel: Kaum zwei Wochen nach der Entdeckung der Krankheit konnten die Forschungslabors bereits das Virus sequenzieren, das Convid-19 verursacht hat.
Das Hindernis, welches die Bevölkerung überwinden muss, besteht darin, dass die Gesellschaft einer Produktionsweise unterworfen ist, die einer ausbeuterischen sozialen Minderheit zugute kommt und zu einer Fessel für die Entwicklung der Menschheit geworden ist. Man kann sehen, dass der Wettlauf um die Einführung eines Impfstoffs, anstatt eine kollektive und koordinierte Anstrengung zu sein, in Wirklichkeit ein Wirtschaftskrieg zwischen den Labors ist. Echte menschliche Bedürfnisse sind den Gesetzen des kapitalistischen Dschungels unterworfen. Das Gesetz des harten Wettbewerbs um den Markt, wo es darum geht, als erster einen Teil des Markts zu erobern und entsprechend Gewinn einzuheimsen, steht im Mittelpunkt der Interessen der Kapitalisten.
Auf unserem letzten 23. Internationalen Kongress haben wir eine Resolution über die internationale Lage verabschiedet, in der wir das, was wir in unseren Thesen über den Zerfall geschrieben haben, wieder aufgegriffen und für bestätigt betrachtet haben: "Die Thesen über den Zerfall vom Mai 1990 heben eine ganze Reihe von Merkmalen in der Entwicklung der Gesellschaft hervor, die sich aus dem Eintritt des Kapitalismus in diese letzte Phase seiner Existenz ergeben. Der vom 22. Kongress angenommene Bericht stellte fest, dass sich all diese Merkmale verschlechtern, wie z.B.:
„die Ausbreitung von Hungersnöten in den Ländern der ‚Dritten Welt‘ (...);
die Verwandlung der ‚Dritten Welt‘ in einen riesigen Slum, in dem Hunderte von Millionen Menschen wie Ratten in der Kanalisation überleben;
die Entwicklung des gleichen Phänomens im Herzen der Großstädte in den ‚fortgeschrittenen‘ Ländern (...);
die jüngste Zunahme von ‚zufälligen‘ Katastrophen (...), die immer verheerenderen Auswirkungen von ‚Naturkatastrophen‘ auf menschlicher, sozialer und wirtschaftlicher Ebene (...);
die Zerstörung der Umwelt, die verheerende Ausmaße erreicht“ (Thesen über den Zerfall, Punkt 7).“.[5]
Was wir heute sehen können, ist, dass diese Erscheinungen zum entscheidenden Faktor in der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft geworden sind und dass nur auf der Grundlage dieses Rahmens die Entstehung und Entwicklung von gesellschaftlichen Ereignissen solch gigantischen Ausmaßes interpretiert werden kann. Wenn wir uns ansehen, was mit der Covid-19-Pandemie geschieht, können wir die Bedeutung des Einflusses zweier Elemente erkennen, die für diese Schlussphase des Kapitalismus charakteristisch sind.
Erstens: China, das nicht nur den geographischen Ursprungsort der jüngsten Epidemien (SARS-Epidemie 2002-2003 oder Covid-19) bildet. Es ist notwendig, die Merkmale der Entwicklung des chinesischen Kapitalismus im Stadium des Zerfalls des Weltkapitalismus und seinen Einfluss auf die gegenwärtige Situation zu verstehen. China ist in wenigen Jahren zur zweiten Weltmacht mit einer enormen Bedeutung im Welthandel und in der Weltwirtschaft geworden, indem es zunächst die Unterstützung der USA nach dem Wechsel des imperialistischen Blocks (1972) und nach dem Verschwinden dieser Blöcke 1989 als Hauptnutznießer der so genannten Globalisierung ausnutzte. Aber gerade deshalb "trägt Chinas Macht alle Stigmata des Kapitalismus im Endstadium: sie basiert auf der Überausbeutung der proletarischen Arbeitskraft, der ungezügelten Entwicklung der Kriegswirtschaft des nationalen Programms der "militärisch-zivilen Fusion" und geht mit der katastrophalen Zerstörung der Umwelt einher, während der "nationale Zusammenhalt" auf der polizeilichen Kontrolle der Massen beruht, die der politischen Erziehung der Ein-Partei unterworfen sind (...) Tatsächlich ist China nur eine gigantische Metastase des weit verbreiteten militaristischen Krebsgeschwürs des gesamten kapitalistischen Systems: Seine Militärproduktion entwickelt sich in rasantem Tempo, sein Verteidigungshaushalt hat sich in 20 Jahren versechsfacht und seit 2010 steht es weltweit an zweiter Stelle.“
Diese Entwicklung Chinas, die so oft als Beispiel für die fortdauernde Stärke des Kapitalismus dient, ist in der Tat ein Hauptmerkmal seines Zerfallsprozesses. Der "Glanz" seiner technologischen Erneuerungen oder der Ausdehnung seines weltweiten Einflusses durch Initiativen wie die neue Seidenstraße darf uns nicht aus den Augen verlieren lassen, unter welch enormen Ausbeutungsbedingungen (lange, erschöpfende Arbeitstage, miserable Löhn usw.) Hunderte von Millionen von Arbeitern überleben. All das sind Bedingungen, die im Bereich Wohnen, Ernährung und Kultur enorm rückständig sind und immer mehr an ihre Grenzen stoßen. Beispielsweise waren die ohnehin schon geringen Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben um 2,3% gesunken. Zum Beispiel bei Lebensmitteln, die mit sehr wenigen Hygienestandards produziert werden oder direkt durch Missachtung dieser Standards, wie beim Verzehr des Fleisches von Wildtieren. In den letzten zwei Jahren hat sich in China die schlimmste Epidemie in der Geschichte der so genannten "Afrikanischen Schweinegrippe" ausgebreitet, infolgedessen 30 % dieser Tiere geschlachtet werden mussten und zu einem Anstieg der Schweinefleischpreise um 70 % führte.
Das zweite Element, das die wachsenden Auswirkungen des kapitalistischen Zerfalls zeigt, ist das Zerbröckeln eines Minimums an Koordination zwischen den verschiedenen nationalen Kapitalien. Es stimmt zwar, dass, wie der Marxismus analysierte, die höchstmögliche Einheit, die der Kapitalismus (wenn auch nur gegen große Widerstände) erlangen kann, der Nationalstaat ist und ein Superimperialismus nicht möglich ist. Das schloss aber nicht aus, dass in der Phase der Aufteilung der Welt in imperialistische Blöcke eine ganze Reihe von Strukturen geschaffen wurden, von der UNESCO bis zur Weltgesundheitsorganisation, die versuchten, ein Minimum an gemeinsamen Interessen der verschiedenen Länder zu verwalten. Aber die Tendenz des Auseinanderbrechens eines Mindestmaßes an Koordination spitzt sich mit dem Fortschreiten des kapitalistischen Zerfalls weiter zu. Wie wir auch in der oben erwähnten Resolution zur internationalen Situation unseres 23. Kongresses analysiert haben: "Die sich vertiefende Krise (sowie die Forderungen der imperialistischen Rivalität) stellen multilaterale Institutionen und Mechanismen auf eine harte Probe.“ (Punkt 20)
Dies hat sich zum Beispiel in der Rolle der Weltgesundheitsorganisation gezeigt. Die internationale Koordination angesichts der SARS-Epidemie in den Jahren 2002-2003 sowie die Schnelligkeit, mit der einige Befunde in Labors auf der ganzen Welt gemacht werden konnten,[6] erklärt die geringen Folgen eines Virus aus einer Familie, die der des aktuellen Covid-19 sehr ähnlich ist. Diese Rolle wurde jedoch durch die unverhältnismäßige Reaktion der WHO auf die Influenza-A-Epidemie von 2009 in Frage gestellt, bei der der Alarmismus der Institution dazu diente, massive Verkäufe des antiviralen Medikaments "Tamiflu" zu begünstigen, das von einem Labor hergestellt wurde, an dem der ehemalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld direkter Anteilshaber war. Seitdem ist die WHO fast in die Rolle einer NGO gedrängt worden, die "seligmachende" Empfehlungen ausspricht, aber nicht in der Lage ist, den jeweiligen Ländern ihre Anweisungen aufzuzwingen. Sie sind nicht einmal in der Lage, die statistischen Kriterien für die Erfassung der Infizierten zu vereinheitlichen, was es jedem Land ermöglicht, die Auswirkungen der Epidemie „bei sich zu Hause“ so lange wie möglich zu verbergen. Dies ist nicht nur in China geschehen, das versucht hat, die ersten Anzeichen der Epidemie zu verbergen, sondern auch in den USA, die versuchen, die Zahl der Betroffenen unter den Teppich zu kehren, um die Auswirkungen eines auf Privatversicherungen basierenden Gesundheitssystems, zu dem 30% der amerikanischen Bürger praktisch keinen Zugang haben, nicht aufzudecken. Die Heterogenität der Kriterien für die Anwendung von diagnostischen Tests oder die Unterschiede in den Protokollen für das Vorgehen in den verschiedenen Phasen haben zweifellos negative Auswirkungen auf die Eindämmung der Ausbreitung einer globalen Pandemie. Noch schlimmer ist, dass jedes nationale Kapital protektionistische Maßnahmen ergreift, wenn es um die Bereitstellung von Schutzmaterial für Toiletten oder Atemschutzgeräte geht, wie es z.B. Merkels Deutschland tut.
Die Medienpropaganda bombardiert uns ständig mit Aufrufen zur Eigenverantwortung der Bürger, um den Zusammenbruch der Gesundheitssysteme zu verhindern, die in vielen Ländern Anzeichen von Überforderung zeigen (Erschöpfung der Arbeitskräfte, Mangel an materiellen und technischen Ressourcen usw.). Als erstes muss angeprangert werden, dass wir vor der „Chronik eines angekündigten Zusammenbruchs“ stehen. Und das nicht wegen der "Verantwortungslosigkeit" der Bürger, sondern wegen der jahrzehntelangen Kürzungen der Gesundheitsausgaben, der Zahl der Beschäftigten im Gesundheitswesen und der Budgets für Krankenhausunterhalt und medizinische Forschung.[7] In Spanien zum Beispiel, eines der Länder, das diesem "Zusammenbruch", am nächsten steht, haben aufeinander folgende Kürzungspläne das Verschwinden von 8000 Krankenhausbetten[8] zur Folge gehabt, insgesamt gibt es weniger Intensivpflegebetten als im europäischen Durchschnitt und mehr veraltetes Material (67% der Atemschutzgeräte sind älter als 10 Jahre).
Eine sehr ähnliche Lage ist in Italien und Frankreich zu beobachten. Im oben erwähnten Großbritannien, das als Modell für die allgemeine Gesundheitsversorgung dargestellt wurde, hat sich die Qualität der Versorgung in den letzten 50 Jahren kontinuierlich verschlechtert, da mehr als 100.000 Stellen im Gesundheitswesen nicht mehr besetzt wurden. Und das war vor dem Brexit!
Und es sind dieselben Beschäftigten im Gesundheitswesen, die miterlebt haben, wie sich ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen systematisch verschlechtert haben, die mit immer weniger Personal unter zunehmendem Druck bei der Versorgung (einer größeren Bevölkerung und mehr Krankheiten) stehen und die nun durch den Zusammenbruch der Gesundheitsdienste infolge der Pandemie unter zusätzlichen Druck geraten sind. Dieselben Gesundheitsbehörden, die jetzt zynischerweise um Lob für diese öffentlichen Bediensteten bitten, sind diejenigen, die sie in die Erschöpfung treiben, indem sie ihnen die vorgeschriebenen Pausen vorenthalten, sie von einem Arbeitsplatz zum nächsten treiben oder sie - angesichts einer Pandemie unbekannten Ausmaßes - ohne individuelle Schutzausrüstung (Masken, Kleidung, Einwegartikel für die Geräte) oder die entsprechende Ausbildung arbeiten lassen. Indem man die Beschäftigten des Gesundheitswesen zwingt, unter solchen Bedingungen zu arbeiten, werden sie selbst noch mehr der Gefahr der Ansteckung durch das Virus ausgesetzt, wie es z.B. in Italien geschehen ist, wo mindestens 10% der Beschäftigten infiziert wurden.
Und um die Arbeitnehmer zu zwingen, diese Auflagen zu befolgen, greifen sie auf ein repressives Arsenal von "Ausnahmezuständen" zurück, die alle Arten von Sanktionen, Geldstrafen androhen und die Verfolgung derjenigen beinhalten, die sich weigern, diese zu befolgen: Befehle von Behörden, die in vielen Fällen die direkte Ursache für ein solches Chaos waren.
Angesichts dieser Situation, die das Personal des Gesundheitswesens vor vollendete Tatsachen stellt, sind auch die Beschäftigten dieses Bereichs gezwungen, sich bei der Anwendung Eugenik-ähnlicher Methoden dafür zu entscheiden, die knappen Ressourcen auf die Patienten mit den größten Überlebenschancen zu richten, wie man bei den von der Vereinigung italienischer Anästhesisten und Intensivmediziner empfohlenen Leitlinien[9] gesehen hat, die von Kriegszuständen sprechen. In der Tat, ein Krieg gegen die menschlichen Bedürfnisse durch die Logik des Kapitals, in dem die Beschäftigten des Gesundheitswesens selbst immer mehr unter Ängsten leiden, da sie unter diesen unmenschlichen Bedingungen arbeiten müssen. Die von vielen dieser Beschäftigten zum Ausdruck gebrachte Angst ist das Ergebnis der Tatsache, dass sie sich nicht einmal gegen solche Kriterien auflehnen oder sich weigern können, unter unwürdigen Bedingungen zu arbeiten und all dies auf ihrem Rücken auszutragen, weil z.B. Streiks ihren Klassenbrüdern und -schwestern, den übrigen Ausgebeuteten, sehr schaden würden. Sie können sich nicht einmal in Versammlungen treffen, sich mit anderen Kollegen/Innen zusammensetzen und die Solidarität unter den Beschäftigten körperlich wahrnehmen, weil das gegen die Regeln der "sozialen Zerstreuung" verstößt, die die Eindämmung der Epidemie erfordert.
Sie, unsere Kollegen/Innen im Gesundheitswesen, können in der gegenwärtigen Situation nicht offen kämpfen, aber der Rest der Arbeiterklasse darf sie nicht alleine stehen lassen. Alle Arbeitnehmer sind Opfer dieses Systems, und alle Arbeitnehmer werden früher oder später die Kosten dieser Epidemie tragen müssen. Sei es wegen der "nicht vorrangigen" Kürzungen im Gesundheitswesen (Aussetzung von Operationen, Konsultationen usw.) oder wegen der zehntausenden von Kündigungen von Zeitverträgen oder wegen der Kürzung von Löhnen aufgrund von krankheitsbedingten Fehlzeiten usw... Und dies wird das Warnzeichen für neue und brutalere Angriffe auf die Arbeiter sein. Wir müssen also weiterhin mit Entschlossenheit die Waffe der Arbeitersolidarität schärfen, wie wir es kürzlich bei den Kämpfen in Frankreich gegen die Kürzung der Renten gesehen haben.[10]
Diese Zusammenbrüche sind eindeutige Symptome der unheilbaren Senilität des kapitalistischen Systems. So wie Viren mehr abgenutzte Organismen befallen und schwerere Krankheitsschübe verursachen, so ist auch das Gesundheitssystem unwiderruflich erschüttert durch Jahre der Einsparungen und Kürzungen durch das "Management", das nicht auf den Bedürfnissen der Bevölkerung, sondern auf den Forderungen eines völlig verfaulenden Kapitalismus basiert. Und das Gleiche gilt für die kapitalistische Wirtschaft, die durch die Manipulationen des kapitalistischen Wertgesetzes und mit Hilfe von Verschuldung künstlich gestützt wird und die so zerbrechlich ist, dass eine Epidemie dabei ist eine neue und brutalere Weltrezession auszulösen.
Aber das Proletariat ist nicht nur das Opfer dieser Katastrophe für die Menschheit, die der Kapitalismus ist. Es ist auch die Klasse, die die historische Möglichkeit hat, sie mit ihrer Revolution endgültig auszulöschen. Das erfordert, die menschlichen Beziehungen, die auf Spaltung und Wettbewerb beruhen, durch solche zu ersetzen, die auf Solidarität beruhen sowie die Produktion, die Arbeit, die Ressourcen der Menschheit und der Natur nach den menschlichen Bedürfnissen und nicht nach den Gesetzen des Profits einer ausbeutenden Minderheit zu organisieren.
Valerio, 12. März 2020
[1]Es liegt auf der Hand, dass es notwendig ist, Menschen daran zu hindern, zu reisen oder dass sie zu Hause bleiben, um die Ausbreitung der Infektion zu verhindern. Aber die Art und Weise, in der dies auferlegt wird (mit unzureichender Unterstützung für die Betreuung von Kindern oder älteren Menschen durch den Staat; zudem geschieht dies in selektiver Weise - sie betreffen z.B. nicht die Arbeit in den Fabriken - und gleichzeitig hat man eine regelrechte polizeiliche Überwachung der Bevölkerung entwickelt), trägt die Handschrift des modus operandi des kapitalistischen Staatstotalitarismus. In künftigen Artikeln werden wir auch auf die Auswirkungen dieser Aktionen auf das tägliche Leben der Ausgebeuteten auf der ganzen Welt zurückkommen.
[2]Thesen über den Zerfall und „Resolution über die internationale Situation des 23. Kongresses der IKS“
[4]Wir haben dazu einige Artikel veröffentlicht, siehe u.a. https://de.internationalism.org/content/2845/100-jahre-nach-der-gruendun... [7]
[6]Zum Beispiel führte die Rolle der Panzerwanze als Zwischenüberträger der Krankheit auf den Menschen zu einer blitzschnellen Eliminierung dieser Tiere in China, was die Ausbreitung der Krankheit sehr schnell stoppte.
[7]In Frankreich beispielsweise wurden die Untersuchungen von Viren der Corona-Familie nach der Epidemie von 2002-2003 im Jahr 2005 aufgrund von Haushaltskürzungen abrupt gestoppt.
[8]Dieser Trend ist ein Prozess, der in jedem Land und bei Regierungen aller Couleur stattfindet, wie man hier sehen kann Grafik der Euroestat [9]
[9] Empfehlungen der UCI.
Nachdem sich die Epidemie in Europa und insbesondere in Italien bereits weit verbreitet hatte, begann die französische Bourgeoisie erst mit großer Verspätung zaghaft Maßnahmen zum "Schutz" der Bevölkerung zu ergreifen. Erst als die Situation in bestimmten Regionen wie der Picardie oder dem Elsass katastrophal war, wachte die Regierung von Macron auf und traf drastische Entscheidungen: Quarantäne, Grenzschließungen, Polizeikontrollen, Mobilisierung der Armee, um den völlig überforderten Gesundheitsteams zu Hilfe zu kommen.
"Wir befinden uns im Krieg", erklärte Präsident Macron in seiner Rede vom 16. März. Seither hört man die Kriegsrhetorik aus den Mündern von Ministern und Politikern aller Couleur: "Der Feind ist hier"! "Nationale Einheit"! "Stellungskrieg"! "Allgemeine Mobilisierung"! Die Regierung hat sogar die „glorreiche Vergangenheit“ ins Rampenlicht gerückt: die "Helden des Zweiten Weltkriegs", werden bemüht, um zu erklären, dass "in den Ellbogen husten" ein "Akt des Widerstands" sei.
Wenn "der Feind" "unsichtbar" und "schwer fassbar" bleibt, ähnelt der Kampf gegen diese Pandemie in der Tat einem wirklichen Krieg: die Regierung verbreitet massenhaft Lügen und Halbwahrheiten; unverantwortlicher Weise schickt sie Millionen Arbeiterinnen an die Arbeitsfront, und ruft den Bürger zu Kommunalwahlen auf.
"Wir stehen bereit und sind voll gerüstet. Würde der Krieg zwei Jahre dauern, würde unseren Soldaten (in weißen Kitteln) keine Maske fehlen, nicht eine Flasche Desinfektionsmittel", hätte General Macron erklären können! Aber die Wirklichkeit sah breits ganz anders aus: Angesichts der Nachlässigkeit des Staates und des Dilettantismus von Macron segelt die Regierung auf Sicht und verlässt sich nun ganz auf die Ärzte, um die Bevölkerung zu "schützen". Während also Jupiter, der "Kriegsherr" [Macron wird als Jupiter verspottet] und seine Minister ihre kleine Theatralik spielen, opfert sich das Krankenhauspersonal, um Leben zu retten, indem es mit weitgehend unzureichenden Mitteln tut, was es kann.
Heute, angesichts des COVID-19, werden die Arbeitszeiten in allen Stationen wahnsinnig überzogen, und erschöpfte Pfleger schuften mehr als vierzehn Stunden, was das Risiko dramatischer Fehler weiter erhöht. Erschöpfte Pfleger schreien ihre Wut heraus; sie ist gar bis ins Fernsehen zu vernehmen! Im Elsass musste der Staat angesichts der Höhe der Todesfälle und der Patienten mit Atemnot ein "militärisches Feldlazarett" in einem noch nie dagewesenen logistischen Chaos improvisieren, um die zivilen Krankenhäuser zu unterstützen, die durch den Mangel an Betten und Mitteln dem Kollaps nahe stehen.
Was die Vorräte an Masken, Desinfektionsmitteln, Kopfbedeckungen, Kitteln, Atemschutzmasken betrifft: überall mangelt es an Material und Personal! Im Jahr 2005 verfügte der Staat über einen strategischen Bestand von 723 Millionen Masken (1,4 Milliarden im Jahr 2011 nach der H1N1-Krise). Doch infolge der 2013 beschlossenen Haushaltsbeschränkungen sank der Bestand auf 150 Millionen. Angesichts von Rationierungen, der Verwendung veralteter Masken und sogar der Wiederverwendung gebrauchter Masken hat die Regierung nach mehrwöchiger Krise gerade erst 12 Millionen davon aus den ohnehin schon unzureichenden staatlichen Reserven aufgetrieben... für 1,1 Millionen Krankenhausmitarbeiter, die sie alle vier Stunden in den Müll werfen sollen. Genug für ein paar Tage für die Krankenhäuser, die das Glück haben, beliefert zu werden! Was die "nicht lebenswichtigen" Dienste und die Labors betrifft, die täglich Tausende von Tests durchführen, so ist dies ebenfalls Alltag. Keine Masken mehr![1] Das Pflegepersonal, "an der Front" (sic!), ist somit direkt der Krankheit ausgesetzt. Ein Notarzt in Compiègne ist soeben an dem Virus gestorben, und andere werden ihm wahrscheinlich ins Grab folgen! Wie kann Macron sich selbst in den Spiegel schauen, wenn er zu sagen wagt, dass die Gesundheit vor allem anderen kommen muss?
Außerdem lügt der Staat ähnlich einer Bananenrepublik schamlos, um seine Verantwortung und die Wirklichkeit zu verbergen. Die Zahl der Patienten wird daher weitgehend klein gespielt, da die Regierung und die regionalen Gesundheitsbehörden seit einigen Tagen die Tatsache ignorieren, dass das Screening "nicht mehr systematisch" ist, so die bewundernswerte Untertreibung des Gesundheitsministers. In ähnlicher Weise suggerieren die Behörden (mit zunehmender Schwierigkeit), dass die „Überforderung“ der Krankenhäuser sich auf einige wenige Abteilungen beschränkt. Schamlose Lüge! In der Presse und sogar in den sozialen Netzwerken wimmelt es von ergreifenden Zeugenaussagen von Pflegekräften, die manchmal unter Tränen das Ausmaß der Katastrophe beschreiben.
Es muss deutlich gemacht werden: Dieses Chaos ist das Produkt der Dekadenz des kapitalistischen Systems, der Haushaltskürzungen, die der Staat seit Jahrzehnten vornehmen muss, um das nationale Kapital über Wasser zu halten!
Bereits 2004 beschloss der Staat, die Grundlagenforschung zum Coronavirus aus Haushaltsgründen drastisch zu reduzieren![2] Die herrschende Klasse wusste sehr wohl, dass ihre Krankenhäuser, die angesichts der einfachen saisonalen Grippe bereits überfordert waren, dem Schock einer großen Epidemie nicht standhalten würden![3] Der bürgerliche Staat hat sich bewusst dafür entschieden, die Menschen in Massen sterben zu lassen, um seine Finanzen zu "sanieren"!
Mit einem unerträglich paternalistischen Ton lobt General Macron heute den Mut und den Heldenmut der Ärzte, Sanitäter, Krankenpfleger und Krankenwagenfahrer und verschweigt dabei tunlichst zu sagen, dass er seine CRS (das deutsche Pendant ist die Bundespolizei) schickte, um sie ein ganzes Jahr lang mit Tränengas auf den Protestveranstaltungen auseinanderzujagen, während die "Soldaten in weißen Kitteln" mehr Mittel und Personal für die Behandlung der Patienten verlangten! Während eines Jahres voller Streiks und Demonstrationen hörte die Bourgeoisie nicht auf, die Notärzte zu verachten, und als einzige Antworten gab es einen völlig unbedeutenden "Krankenhausplan"[4] und ekelhafte Unterstellungen über ihre angeblichen Privilegien als Beamte. Macron mag ihnen vielleicht Medaillen verleihen, indem er das Pflegepersonal als "Helden" bezeichnet, ihre Gehälter werden nicht steigen und ihre Arbeitsbedingungen werden sich weiter verschlechtern!
Das Gesundheitssystem in Frankreich, wie überall auf der Welt, liegt in Trümmern, zerschlagen mit der Axt auf dem Altar der "strengen Haushaltsdisziplin", die Minister Darmanin, einem der besten Schwertkämpfer von General Macron, so sehr am Herzen liegt. In etwa zwanzig Jahren ist die Zahl der Krankenhausbetten um 100.000 gesunken! Die Zahl der Krankenhäuser und Kliniken ist von 1.416 im Jahr 2014 auf 1.356 im Jahr 2018 gesunken.[5] Als Symbol für die Zerstörung des Gesundheitssystems beschloss die Regierung 2014 den Verkauf des Militärkrankenhauses Val de Grâce, das effizienteste und am besten ausgestattete der französischen Krankenhäuser.
Frankreich verfügte im Jahr 2017 über 309 Intensivpflegeplätze pro 100.000 Einwohner, verglichen mit 601 Betten in Deutschland,[6] das (O Wunder!) bislang eine viel niedrigere Sterblichkeitsrate durch Covid-19 hat als seine Nachbarn. In einigen Regionen wie Ostfrankreich oder Korsika spürt man auf die grausamste Weise wie sehr es an Material mangelt, dort hat die Triage der Patienten bereits begonnen. Echte "Kriegsmedizin", bei der die am schwersten Verwundeten und Krüppel (vor allem ältere Menschen) im Stich gelassen werden, wenn sie nicht für die Rentabilität der Volkswirtschaft wiedergewonnen werden können!
All dies geht offensichtlich mit einem chronischen Personalmangel einher sowie einem mörderischen Arbeitstempo, Tausenden von Überstunden und miserablen Löhnen.[7] Die Demontage des Gesundheitssystems hat auch zu der so genannten Numerus-Clausus-Politik geführt, die auf Studenten an Medizin- und Krankenpflegeschulen angewandt wird. 50 Jahre lang wurden Ärzte und Krankenschwestern auf Wettbewerbsbasis ausgewählt, wobei die Anzahl der erfolgreichen Kandidaten willkürlich per Ministerialverordnung festgelegt wurde, und zwar, wie zu erwarten, gemäß der strengsten Logik der Haushaltsdisziplin. Dies hat die zweitgrößte europäische Wirtschaft gezwungen, buchstäblich Niedriglohn-Ärzte und Krankenschwestern aus Spanien, dem Maghreb und Osteuropa zu "importieren".
Um die Auswirkungen der Gesundheitskrise auf den "französischen Produktionsapparat" abzufedern, beschloss der Krisenstab des Staates eine Reihe von Sofortmaßnahmen, darunter eine sehr späe angeordnete Quarantäne. Während die Epidemie in Europa Anfang Februar begann, kündigte General Macron erst am 16. März endlich Eindämmungsmaßnahmen an. Bis dahin bestand, während die Epidemie weiter voranschritt, seine Priorität darin, Sparmaßnahmen gegen die Arbeiterklasse zu ergreifen, einschließlich der Verabschiedung seiner Rentenreform.
Doch die Regierung war sich der Gefahr, die von Covic-19 ausgeht, sehr wohl bewusst. Es war die ehemalige Gesundheitsministerin, der "weiße Engel" Agnes Buzyn, die öffentlich die Katze aus dem Sack ließ, indem sie (zweifellos verbittert durch ihre schlechten Wahlergebnisse im Rennen um das Amt des Bürgermeisters von Paris) erklärte, dass sie das Staatsoberhaupt schon sehr früh vor der bevorstehenden Katastrophe gewarnt habe: "Ich wusste, dass die Tsunami-Welle vor uns lag". "Am 30. Januar habe ich [Premierminister] Édouard Philippe gewarnt, dass die Wahlen wahrscheinlich nicht stattfinden können. Wir hätten alles stoppen sollen, es war eine Maskerade".[8]
Die "Maskerade" hat stattgefunden! Die Regierung verschlimmerte wissentlich die Ausbreitung der Epidemie, indem sie Millionen von Bürgern in die Wahllokale schickte, um der großen demokratischen Messe beizuwohnen! Die eklatante Unfähigkeit einer der Großmächte der Welt, die Bevölkerung mit wirksamen Schutzmitteln (Masken, Handschuhe und Desinfektionsmitteln) zu versorgen, zwingt jedoch zu drastischen Einschränkungen der Bewegungsfähigkeit und weiteren Eindämmungsmaßnahmen.
Die "Maskerade" beschränkt sich nicht auf die waghalsige, verbrecherische Durchführung von Wahlen inmitten der zunehmenden Epidemie – Macron forderte in derselben Rede vom 16. März seine "lieben Landsleute" auf, nicht auf die Straße zu gehen, "außer um zu wählen und Besorgungen zu machen".
Angesichts dieser paradoxen Anordnung (geht raus aus dem Haus, aber kommt nicht heraus!) verschlossen viele die Augen vor der Realität und sahen nicht den Ernst dieser Pandemie. Es war daher nicht verwunderlich, dass viele "Bürger" keinen "Bürgersinn" zeigten und das gute Wetter nutzten, um an den Ufern der Seine und in öffentlichen Gärten spazieren zu gehen.
Macrons Rede, die nichts Halbes und nichts Ganzes war, sowie seine Entscheidung, die erste Runde der Kommunalwahlen aufrechtzuerhalten, waren immer noch eine Steilvorlage für Marine Le Pen, die diese für sich ausschlachtete.
Unter dem Druck der Warnungen der Ärzte trafen Macron und sein Innenminister Christophe Castaner die Entscheidung, allgemeines Ausgehverbot zu fordern. Eine Armee von 100.000 Polizisten und Soldaten wurde im ganzen Land eingesetzt, um die Kontaktsperre und die zunehmende Zahl der Ausgangssperren durchzusetzen. Angesichts der Schwere der Pandemie bleibt der herrschenden Klasse nichts anderes übrig, als mit Zwang ein massenhaftes Sterben zu verhindern.
An der Côte d'Azur überfliegt eine mit einem Lautsprecher ausgestattete Drohne sogar die Gemeinden Nizza und Cannes und befiehlt den Passanten, zu Hause zu bleiben: "Erinnerung an die Anweisungen bezüglich der Covid-19-Epidemie: Jeder Aufenthalt außerhalb des Hauses ist verboten, außer mit Sondergenehmigungen. Bitte halten Sie einen Sicherheitsabstand von mindestens einem Meter zu anderen Personen ein", so wiederholt es die Stimme aus der Drohne immer wieder.
Die Polizei, mit ihrem üblichen Sinn für Unterscheidungsvermögen, zögerte nicht, die Maßnahmen der Regierung anzuwenden, indem sie die Mittellosesten und Obdachlosen ins Visier nahm: "Mehrere Obdachlose wurden in Frankreich von der Polizei mit einer Geldstrafe belegt, weil sie sich nicht an die Ausgangssperren hielten. ...] Fälle wurden vor allem in Paris, Lyon und Bayonne registriert"![9] Die Polizisten zögerten auch nicht, vier Trauernde am Tor eines Friedhofs zu bestrafen, weil sie "die Regeln des Kontaktverbotes nicht respektierten", und behaupteten, dass "eine Beerdigung nicht zwingend erforderlich ist"! Die Bourgeoisie hat keine andere Wahl, als ihre Ordnungskräfte einzusetzen, aber sie nutzt auch die Situation aus, um die Bevölkerung an die Militarisierung der Gesellschaft zu gewöhnen, wenn der "innere Feind" nicht mehr der Virus, sondern die kämpfende Arbeiterklasse sein wird!
Auf allen Fernsehgeräten werden täglich die an der "Front" mobilisierten Ärzte interviewt, um die Bevölkerung zur strikten Einhaltung des Ausgehverbots und sozialen Distanzierung zu drängen. Denn es ist (leider) heute die einzige Möglichkeit, die Gefahren des Coronavirus zu bekämpfen und die Ansteckung zu begrenzen.
Die "Maskerade" sind auch die Millionen von Menschen, die täglich in den öffentlichen Verkehrsmitteln zusammengepfercht sind. In den Fabrikhallen und Supermärkten, werden die Beschäftigten in großen Zahlen ‚eingesperrt‘. Die kriminelle "Maskerade" der Bourgeoisie und ihrer Regierung sind die tausenden noch offenen Unternehmen, deren Betrieb nur dem Namen nach "wesentlich" ist. Während Bauarbeiter sich weigerten, sich unnötig Gefahren auszusetzen, wagte der Arbeitsminister Pénicaud von "Defätismus" zu sprechen.
Um die unweigerlich sich sträubenden Beschäftigten zu zwingen zur Arbeit zu fahren, hat die Regierung ihre gefährlichsten Waffen eingesetzt: Repression und Propaganda. Der Staat kann natürlich auf seine Wachhunde der Gewerkschaften zählen, die für Disziplin sorgen. Letztere fordern ständig die Umsetzung "der Mittel, die für den Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer, die arbeiten müssen, unerlässlich sind" und "begrüßen das Engagement der Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes".[10] Mit anderen Worten: Gehen Sie zur Arbeit, wir kümmern uns um Ihren Schutz durch den "sozialen Dialog" mit dem Management und dem Chef! Wenn ArbeiterInnen ihre Zurückhaltung zu offen äußern, machen die Gewerkschaften schnell von dem "Recht auf Rückzug" in "ihrem" Unternehmen Gebrauch. (In Frankreich haben Beschäftigte Anspruch auf einen „Rückzug“ (Recht auf Arbeitsverweigerung (bei drohender Gefahr für Gesundheit u. Leben))
Der "Gesundheitsnotstand" hat die Regierung nicht daran gehindert, die Beschäftigten zu drängen, sich nicht an die Ausgangssperre zu halten, wenn Homeoffice nicht möglich ist. Aber von nun an werden Polizisten, falls die Arbeiter sich weigern, zur Arbeit zu gehen, und es vorziehen, ihre Gesundheit und die ihrer ihnen Nahestehenden zu schützen, geschickt, um die widerspenstigen Arbeiter zur Arbeit zu zwingen und Strafen für alles zu verhängen, was der Staat als Hindernis für das reibungslose Funktionieren der nationalen Wirtschaft ansieht! Arbeitgeber können auch automatisch Zwangsurlaub verhängen, falls Beschäftigte von der Arbeit fernblieben. Selbst die Beamten bestimmter Finanzämter sind verpflichtet, ihre Arbeitsplätze nicht zu verlassen! Selektive Ausgangsperre ist Teil der Logik des Kapitals: Diese tödliche Pandemie darf den „reibungslosen Betrieb" der Volkswirtschaft nicht behindern.
"Meine Priorität ist es, die französische Wirtschaft zu retten", sagte der Wirtschaftsminister Bruno Le Maire mit dem Schwert in der Hand. Wie der Journalist der Zeitung Atlantico, Jean-Sébastien Ferjou, es formulierte: "Die eigentliche Frage, [...] ist: ziehen wir es vor, unsere alten und geschwächten Menschen zu opfern, oder ziehen wir es vor, zwei Punkte des BIP zu opfern?“ Die Regierung hat sich entschieden: Wir werden die alten Menschen opfern!
Die französische Bourgeoisie hat, wie ihre Nachbarn, bei der ungeheuerlichen Propaganda nicht gespart! Mit dem Aufruf zur "allgemeinen Mobilisierung" und "nationalen Einheit" hat die Bourgeoisie eine höchst verabscheuungswürdige nationalistische Kampagne entfesselt!
Die Bourgeoisie bereitet sich bereits auf die wirtschaftlich ruinösen Folgen vor, die der "Gesundheitskrieg" hervorbringen wird; und es ist die Arbeiterklasse, die die Rechnung bezahlen wird! Der "Geist des Opferbringens", der in einer Zeit des "Wiederaufbaus" vorherrscht, ist schon an der Tagesordnung. Jetzt schon haben die prekärsten Arbeiterinnen und Arbeiter mit wenigen Stunden ihre Jobs verloren, mit deren Hilfe sie überleben. Schon jetzt werden diejenigen, die Kurzarbeit ausüben, entgegen den Versprechungen der Regierung schlussendlich nicht ihren vollen Lohn erhalten! Die Propaganda ist in vollem Gange, um den Menschen klarzumachen, dass wegen der Epidemie in Zukunft alle den Gürtel enger schnallen müssen. Genau so wie man uns eintrichtern wollte, dass "korrupte Banker" und "verrückte Finanzen" die Ursache der Wirtschaftskrise von 2008 waren, versucht die herrschende Klasse nun, die Leute glauben zu machen, dass Covid-19 die Ursache der Wirtschaftskrise ist. Aber die Realität ist ganz anders: Die Epidemie ist nicht nur ein Katalysator, ein Beschleuniger der Krise des kapitalistischen Systems, sondern sie ist selbst ein reines Produkt dieser Krise!
In der Presse und in sozialen Netzwerken, im Fernsehen und auf YouTube werden diejenigen, die immer noch allein joggen, als unverantwortlich dargestellt, die für die Ausbreitung der Epidemie verantwortlich seien. Ist es den Journalisten und ihren "youtube"-Gehilfen nicht in den Sinn gekommen, dass diese unklugen Jogger das Verbot des Joggens im Freien völlig lächerlich fanden, nachdem sie in großen Menschenmengen in der RER, (öffentlichen Nahverkehr), in ihren Bahnhöfen und am Tag zuvor in den Wahllokalen eingepfercht waren?
Der Staat betreibt eine Kampagne der individuellen Schuldzuweisungen, um seine eigene Nachlässigkeit und seine Unfähigkeit, die Pandemie einzudämmen, besser zu verbergen!
Aber am verhängnisvollsten ist die ideologische Kampagne der Bourgeoisie mit ihren Aufrufen, den Mitarbeitern des Gesundheitswesens stehenden Beifall zu spenden. Die Fernsehsender zeigen immer wieder die Bilder des erleuchteten Eiffelturms und der reichen Viertel mit den jeden Abend um 20 Uhr an den Fenstern und Balkonen applaudierenden Leuten, die den Ärzten und Krankenschwestern - manchmal sogar mit der Kulisse der Marseillaise - Beispiel spenden. Die Bourgeoisie scheut weder Zynismus noch Unanständigkeit, indem sie die Bevölkerung auffordert, nach dem Tod des ersten Arztes ihren Applaus zu verdoppeln. Die "Soldaten, die für Frankreich gestorben sind" werden unter dem Jubel des Volkes geehrt! Es ist nicht mehr und nicht weniger eine Perversion der Solidarität der Arbeiterklasse, wenn General Macron eine Kriegsrede hält, in der er den "Heldentum" der Ärzte lobte. Obwohl dieser Applaus ein wenig Balsam in die Herzen bringt, braucht das Pflegepersonal für seinen guten und loyalen Dienst an der "Nation" keine Medaillen. Sie brauchen zusätzliches Personal und Ausrüstung, sie brauchen Masken und Schutz! Sie brauchen die "Anerkennung" durch Ausbeuter in Form von Lohnerhöhungen[11] und Personalaufstockungen, damit sie nicht unter der Last des höllischen Arbeitspensums zusammenbrechen!
Angesichts der Nachlässigkeit der Bourgeoisie und des Zusammenbruchs des Gesundheitssystems, der die Versorgung der Kranken immer schwieriger macht, steigt der Zorn in den Reihen der Arbeiter. Die Verachtung der herrschenden Klasse für das menschliche Leben spornt die Wut der Ausgebeuteten an. Viele können den erklärten Wunsch der Regierung nicht mehr ertragen, die „Drückeberger“ aufzuscheuchen oder sich am Arbeitsplatz in Gefahr zu begeben, wenn es keine Rechtfertigung für ihre Präsenz am Arbeitsplatz gibt. Lieferanten bei Deliveroo und Uber-Eats, die Beschäftigten der SNF-Fabrik in Andrézieux, die Beschäftigten von La Redoute und Saverglass in der Region Oise streikten, um gegen ihre gefährlichen Arbeitsbedingungen zu protestieren. Auch bei Amazon und bei der Post streikten die Beschäftigten. An vielen Orten brachten viele Proletarier ihre Solidarität an ihren Fenstern schnell zum Ausdruck, indem sie mehr Geld für die Pfleger forderten, nicht mit stehenden Ovationen an die "Helden der Nation", sondern mit dem Ruf von: "Geld! Geld, für das öffentliche Krankenhaus!"
Aber einstweilen herrschen Angst und Erstaunen vor angesichts dieser gesundheitlichen Katastrophe, die die herrschende Klasse nicht kontrollieren kann. Die Unmöglichkeit, in größeren Massen zusammen zu kommen, erlaubt es der Arbeiterklasse heute nicht, den Weg des Kampfes auf ihrem eigenen Klassenterrain wieder aufzunehmen.
All diese Äußerungen des Zornes zeigen jedoch, dass die Kampfbereitschaft noch sehr lebendig ist, dass die Proletarier nicht resigniert die tödliche Nachlässigkeit derer, die sie ausbeuten, als akzeptieren. "Wir sind kein Kanonenfutter", hört man unter dem Pflegepersonal.
Sobald diese Gesundheitskrise überwunden ist, wird der "schützende" Staat wieder sein wahres Gesicht zeigen. Die Angriffe auf die Lebensbedingungen der Proletarier, (verschärft durch den Absturz der Wirtschaft in den Abgrund der Rezession) können auf Dauer nur zu neuen Explosionen von Wut und Empörung führen – und nicht zum „Burgfrieden“ der Ausgebeuteten mit ihren Ausbeutern.
Diese globale Gesundheitskatastrophe kann nur zum Nachdenken in der Arbeiterklasse beitragen und damit zur Erkenntnis, dass der Kapitalismus ein völlig verrottetes System ist, eine wahre Geißel, die das Überleben der menschlichen Spezies bedroht.
EG, 22. März 2020
[1] General Macron kann zumindest auf eine Expeditionstruppe, das Chinesische Rote Kreuz, zählen, das dem Alten Kontinent gerade mehrere Millionen Masken und Geräte zur Beatmung und Intubation von Kranken "gespendet" hat. Natürlich sind die "Spenden" aus Peking nicht nur anekdotisch, sie sind auch kein altruistischer und selbstloser Akt. Während die Staaten nicht in der Lage sind, ihr Handeln in einem Mindestmaß abzustimmen, ist Chinas "Großzügigkeit" eher Ausdruck des immer mehr um sich greifenden "jeder für sich", das den verrottenden Kapitalismus kennzeichnet, wofür die COVID-19-Pandemie ein spektakuläres Beispiel ist. Wir werden in einem zukünftigen Artikel auf diese Fragen zurückkommen.
[2] Vgl. das Interview mit Professor Bruno Canard, Forschungsdirektor des CNRS und Spezialist für Koronaviren, das in Le Monde veröffentlicht wurde: “Face aux coronavirus, énormément de temps a été perdu pour trouver des médicaments [11]” (29. Februar 2020).
[3] Darüber hinaus ist COVID-19 bei weitem nicht die virulenteste Krankheit, die die Menschheit je befallen hat. Die apokalyptischen Auswirkungen einer MERS-CoV-Pandemie mit einer Todesrate von 30% sind bereits jetzt ohne allzu große Schwierigkeiten vorhersehbar! (MERS-CoV avec son taux de létalité à 30 % [12] !)
[4] In welchem Maße das ein Witz ist, lässt sich ermessen, wenn man diese "sehr wichtige Investition" von 300 Millionen Euro (laut der ehemaligen Gesundheitsministerin Agnès Buzyn) mit dem Hilfsplan von etwa 750 Milliarden Euro vergleicht, den die EZB gerade freigegeben hat, um "die Wirtschaft zu retten".
[5] Vgl. das Panorama der DRESS von 2019 und einen im gleichen Jahr veröffentlichten DRESS-Bericht (le Panorama de la DRESS de 2019 [13] et un rapport de la DRESS publié la même année [13]).
[6] Siehe "Pflegebetten in Krankenhäusern". “Curative care beds in hospitals [14]”. Diese Zahlen stammen aus dem Jahr 2017. Zweifel an der kontinuierlichen Verschlechterung der Aufwendungen in den letzten zwei Jahren sind kaum zulässig.
[7] Darüber hinaus hat der Staat die Misere noch verschlimmert, indem er die Stellen von Krankenpflegern durch Pflegehelferinnen ersetzt hat, die Hungerlöhne erhalten.
[8] “Les regrets d’Agnès Buzyn [15]”, Le Monde (17. März 2020).
[9] “Coronavirus : des SDF verbalisés pour non-respect du confinement” AFP (20 mars 2020). "Coronavirus: Obdachlose wegen Nichteinhaltung der Ausgangssperre bestraft", AFP (20. März 2020).
[10] Communiqué intersyndical du 19 mars 2020 [16] "Communiqué intersyndical vom 19. März 2020", das die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen zusammen unterzeichneten.
[11] Die Zusage einer Prämie von 1.000 Euro für Pflegekräfte ist nicht einmal ein 13. Monatsgehalt des Mindestlohns; diese Krümel sind eine echte Beleidigung.
Heute werden in den Straßen von Madrid eine Unmenge Krankenwagen rasen, es wird ein Chaos in den Notaufnahmen der Krankenhäuser, Schmerzen und Leid geben, vergleichbar mit den Anschlägen auf den Bahnhof Atocha im Jahr 2004 (193 Tote und mehr als 1400 Verletzte). Aber dieses Mal wird es ein nur weiterer Tag dieser Pandemie sein, die bereits 2300 Todesfälle und fast 35.000 Infizierte (offiziell) in Spanien verursacht hat, die sich noch schneller als in Italien ausbreitet, das vor einigen Tagen alle Rekorde in Bezug auf die täglichen Todesfälle (651) und die tödlichen Auswirkungen der Epidemie (mehr als 7000 Tote) gebrochen hat. Schon jetzt erweist sich die Covid-19 Pandemie als die schlimmste Gesundheitskatastrophe in den beiden Ländern seit dem 2. Weltkrieg. Und diese Länder liefern nur einen Vorgeschmack von dem, was wahrscheinlich die Bevölkerung der Metropolen wie New York, Los Angeles, London usw. erwartet. Und die Zahlen werden noch horrender sein, wenn man die Auswirkungen dieser Epidemie in Lateinamerika und Afrika berücksichtigt, wo die Gesundheitssysteme noch prekärer sind oder diese gar nicht existieren.
Aber seit Wochen schon konnten sich die Herrscher dieser Länder – und zweifellos auch anderer kapitalistischer Mächte wie Frankreich, wie wir in unseren Publikationen[1] gezeigt haben – eine Vorstellung von den zu erwartenden Folgen dieser Pandemie machen. Dessen ungeachtet beschlossen die Herrschenden wie die Regierungen der anderen kapitalistischen Staaten - und nicht nur Populisten wie Johnson in Großbritannien oder Trump in den USA usw.- die Bedürfnisse der kapitalistischen Wirtschaft über die Gesundheit der Bevölkerung zu stellen. Nun behaupten dieselben Herrscher in ihren theatralischen und heuchlerischen Reden, dass sie bereit seien, alles zu tun, um die Gesundheit ihrer Bürger zu schützen, und schieben die Schuld dafür auf den "Virus", dem sie den "Krieg" erklären. Aber der Schuldige kann nicht etwas sein, das nicht einmal ein Lebewesen ist. Die Verantwortung für die durch diese Pandemie verursachte Sterblichkeit ist ganz und gar auf die sozialen Bedingungen zurückzuführen; auf eine Produktionsweise, die, anstatt die Produktivkräfte, die natürlichen Ressourcen, den Fortschritt des Wissens zu nutzen, um das Leben zu begünstigen, das menschliche Leben und die Natur auf dem Altar der kapitalistischen Gesetze der Akkumulation und des Profits opfert.
Man sagt uns immer wieder, dass diese Pandemie jeden betrifft, ohne Unterschied zwischen Arm und Reich. Sie berichten über die Fälle einiger "Prominenter", die von Covid-19 betroffen oder sogar getötet wurden. Aber das sind Anekdoten, um die Tatsache zu verschleiern, dass die Ausbeutungsbedingungen der Beschäftigten für den Anstieg und die Ausbreitung dieser Pandemie verantwortlich sind.
Erstens wegen der dicht zusammen gedrängten Menschen in überfüllten und ungesunden Wohnvierteln, die einen Nährboden für die Ausbreitung von Epidemien bieten. Dies lässt sich leicht überprüfen, wenn man sieht, dass diese Pandemie in Industrieregionen mit hoher Bevölkerungsdichte (Lombardei, Venetien und Emilia Romagna in Italien, Madrid, Katalonien und Baskenland in Spanien) häufiger auftritt als in Regionen, die aufgrund der industriellen Entwicklung weniger stark besiedelt sind (Sizilien, Andalusien). Die Zuspitzung der Wohnungsnot insbesondere für die Arbeiter hat diese Ausbreitung noch begünstigt. Im Fall von Madrid befinden sich die Krankenhäuser, die am stärksten unter der hohen Patientenzahl leiden und die völlig überfordert sind, im Wesentlichen in den Stadtteilen, die die Beschäftigten aus den südlichen Industriegebieten versorgen. Und in diesen minderwertigen Wohngegenden ist es schwieriger, die von den Gesundheitsbehörden verordnete Quarantäne zu ertragen. In den "Chalets" von Somosierra oder der Villa Niza, wo Berlusconi mit seinen Kindern Zuflucht gesucht hat, ist die Enge erträglicher. Dieser Realität entgegengesetzt täuschen die Ausbeuter zynischerweise einen „Bürgersinn“ vor.
Ganz zu schweigen von den Auswirkungen auf diese Bevölkerung mit prekären Arbeitsplätzen, die sich zusätzlich um kleine Kinder oder ältere Menschen kümmern muss, zusammen gepfercht auf engstem Raum in minderwertigen Wohnungen. Besonders empörend ist dies im Fall der älteren Menschen, die ihr ganzes Leben lang ausgebeutet wurden und heute gezwungen sind, allein zu leben, oder die in Heimen vernachlässigt werden, die denselben Gesetzen des kapitalistischen Profits unterliegen. Mit einem Pfleger für je 18 Patienten in den Abteilungen der stark Pflegebedürftigen sind die Altenheime zu einer der Hauptquellen für die Ausbreitung der Pandemie geworden, wie man in Spanien nicht nur bei den so genannten "Bürgern", sondern auch bei den Beschäftigten selbst gesehen hat, die mit befristeten Verträgen und miserablen Gehältern gezwungen waren, gefährdete Patienten zu betreuen, wobei in vielen Fällen minimale Maßnahmen zum Selbstschutz fehlten.[2] Aber dieselbe Situation ist auch in Frankreich zu beobachten, das bis vor kurzem noch als Musterbeispiel des Sozialstaates dargestellt wurde. In Spanien ist es inzwischen so, dass hospitalisierte Patienten isoliert in ihren Zimmern neben den Leichen ihrer Mitbewohner ausharren müssen, da die Leichenhallen überfüllt sind oder nicht ausreichend geschützte Beschäftigte der Bestattungsunternehmer nicht mehr nachkommen, um all die Verstorbenen einzusammeln. Ebenso werden Einlieferungen in Krankenhäuser verzögert, da die Aufnahmekapazitäten längst erschöpft sind. Meist erwartet die neu Eingelieferten dort eine Einstufung in Patienten der dritten oder vierten Kategorie, d.h. den Regeln der "Triage" zufolge, wodurch der Einsatz von materiellen Ressourcen und Personal auf der Grundlage von Kosten-Nutzen-Kriterien bestimmt wird. All das stellt einen Angriff auf die Würde und das Leben der Menschen und all das dar, was die Menschheit bisher erreicht hat. In Spanien[3], Italien, Frankreich wurde diese Triage von den Behörden verordnet.
Wir können hier die bekannten Überausbeutung und Überbelastung der Beschäftigten im Gesundheitswesen hinzufügen. Auf sie entfallen allein 8 und 12% der Ansteckungen. Allein in Spanien sind mehr als 5.000 Beschäftigte des Gesundheitswesens infiziert. Doch diese Statistiken sind ziemlich irreführend, da ein beträchtlicher Teil der Beschäftigten noch nicht auf eine Coronavirusinfektion getestet wurde. Dennoch sind sie gezwungen, ohne die notwendigen Handschuhe, Masken und Schutzkittel zu arbeiten, da diese eine "entbehrliche" Ausgabe für die kapitalistische Gesundheit und Wirtschaft darstellten. Wie Krankenhäuser, Intensivbetten, Beatmungsgeräte, die Forschung an Coronaviren und möglichen Heilmitteln und Impfstoffen - all dies wurde der Rentabilität der Ausbeutung geopfert.
Heute versuchen die Stimmen, die in den Medien über die Entwicklung des Gesundheitswesens „trauern“, vor allem die linken Kräfte, den Zorn der Bevölkerung auf die "Privatisierung" des Gesundheitswesens zu lenken. Aber wer auch immer das Krankenhaus, das pharmazeutische Labor oder das Pflegeheim besitzt, die Wahrheit ist, dass die Gesundheit der Bevölkerung dem Profitstreben einer ausbeuterischen Minderheit in der gesamten Gesellschaft unterliegt.
Diese Diktatur der Gesetze des Kapitals über die Bedürfnisse der Menschen hat sich deutlich bei der Durchführung der Quarantäne in Italien, Spanien und Frankreich gezeigt, die drakonische Einschränkungen beim Einkaufen und beim Besuch älterer Menschen vorsieht, Kindern oder behinderte Patienten wegsperrt, die aber dennoch die Augen zudrückte und die Beschäftigten nicht daran hindern wollte, auf Baustellen zu schuften, Schiffe mit Containern zu be- und entladen und die Produktion in Textil-, Haushaltsgeräte- und Automobilfabriken aufrechtzuerhalten. Und um diese Ausbeutungsbedingungen "abzusichern" und gleichzeitig ein paar "Jogger" oder Arbeiter zu jagen, die in kleinen Gruppen mit dem Auto zur Arbeit fahren (und einen Teil der Reisekosten sparen), wird die Nutzung von U- oder S-Bahnen oder Pendlerzügen erlaubt, um den Produktionsprozess am Laufen zu halten. Viele Arbeiter sind über diesen verbrecherischen Zynismus der Bourgeoisie empört und drücken ihre Wut in sozialen Netzwerken aus, da es unter den gegenwärtigen Bedingungen unmöglich ist, dies gemeinsam auf der Straße, in Versammlungen usw. zu tun. So wurde gegen die Kampagne, die von den wichtigsten "Medien" mit der Parole "Bleib zu Hause" ausgebrütet wurde, ein ebenso sehr populärer Hashtag #YoNoPuedoQuedarmeEnCasa (Ich kann nicht zu Hause bleiben) ins Leben gerufen, in dem sich "Lieferanten" (Deliveroo, Uber), HauspflegerInnen, ArbeiterInnen im riesigen Bereich der Niedriglöhner usw. äußern.
Es hat auch Proteste, Kundgebungen und Streiks gegen die Fortsetzung der Arbeit unter diesen Bedingungen gegeben, die das Leben und die Sicherheit der Beschäftigten missachten. So wie es bei den Protesten in Italien lauthals verkündet wurde. "Ihre Gewinne sind mehr wert als unser Leben."
In Italien streikten die Beschäftigten bei FIAT in Pomigliano, wo täglich 5.000 Beschäftigte arbeiten, seit der Woche vom 10. März, um gegen die unsicheren Arbeitsbedingungen zu protestieren. In anderen Fabriken des Metallsektors, zum Beispiel in Brescia, wurde den Unternehmen ein Ultimatum gestellt, die Produktion an die Bedürfnisse des Arbeitnehmerschutzes anzupassen, oder sie würden streiken. Letztendlich beschlossen die Unternehmen, die Werke zu schließen. Und als vor kurzem, am 23. März, ein späterer Erlass von Premierminister Conte die Erlaubnis für die Fortsetzung der Arbeit in nicht lebensnotwendigen Industriezweigen gab, brachen erneut spontane Streiks aus, die die Gewerkschaft CGIL dazu veranlassten, einen "Generalstreik" anzudrohen.
In Spanien gab es ähnliche Reaktionen zunächst bei den Mercedes-Werken in Vitoria, denn dort beschlossen die Arbeiter, als ein mit Covid19 infizierter Beschäftigter aufgetaucht war, die Arbeit sofort einzustellen. Dasselbe geschah in der Haushaltsgerätefabrik Balay in Saragossa (1000 Arbeiter) oder bei Renault in Valladolid. Es muss gesagt werden, dass in vielen Fällen das Unternehmen selbst die Aussperrung eingeleitet hat (Airbus in Madrid, SEAT in Barcelona oder FORD in Valencia und später PSA in Saragossa oder Michelin in Vitoria), so dass die Staatskasse - also der Mehrwert, der der gesamten Arbeiterklasse entzogen wurde - für die Zahlung eines Teils der Löhne und Gehälter der Arbeiter einspringen musste, während es in Wirklichkeit schon vor der Pandemie Pläne für Entlassungen gab (bei FORD oder Nissan in Barcelona).
Aber es gibt auch offene Demonstrationen von Kampfbereitschaft, wie der wilde Streik (d.h. außerhalb und gegen den Willen der Gewerkschaften) der Busfahrer in Lüttich (Belgien), der sich gegen die Verantwortungslosigkeit des Unternehmens wandte. Dieses hatte nämlich seine Angestellten unter Bedingungen arbeiten lassen, unter denen sie völlig der Ansteckungsgefahr ausgesetzt waren und das zu einem Zeitpunkt, als Belgien als eines der ersten Länder eine Ausgangssperre verordnet hatte. Gleiches geschah beispielsweise bei den Beschäftigten einer Bäckerei und der Werft Neuhauser in Nantes oder den Beschäftigten von SNF in Andrézieux (Frankreich).[4]
In Frankreich gab es sehr starke Proteste auf den Werften von Saint Nazaire. Ein Werftarbeiter sagte dem Fernsehen: "Sie zwingen mich, mit zwei oder drei Kollegen auf engem Raum in Kabinen von kaum 9 Quadratmetern und ohne jeden Schutz zu arbeiten. Dann gehe ich zurück nach Hause, wo meine Frau und meine Kinder abgeschottet durch die Ausgangsbeschränkungen leben. Und ich frage mich mit großer Sorge, ob ich keine Gefahr für sie darstelle. Das kann ich nicht akzeptieren.“
Während sich die Epidemie und ihre schädlichen Auswirkungen auf die ArbeiterInnen ausbreitet, hört man immer mehr von vereinzelten Protesten der ArbeiterInnen gegen diese Maßnahmen und die Bedürfnisse der kapitalistischen Ausbeutung: z.B. bei FIAT Chrysler in den Werken in Tripton (Indiana/USA), wo die Beschäftigten gegen die Tatsache protestierten, dass sie zur Arbeit gehen müssen, während es verboten ist, sich außerhalb der Fabriken zu versammeln. Ähnliche Reaktionen gab es auch in den Werken der Firma Lear in Hammond, und ebenfalls in Indiana, in den Fiat-Werken in Windsor (Ontario/Kanada) oder in der Lkw-Fabrik Warren am Stadtrand von Detroit. Auch die Busfahrer in der Stadt Detroit stellten ihre Arbeit ein, bis das Unternehmen ihnen ein Mindestmaß an Sicherheit in ihren Arbeitsbedingungen zusicherte. Es ist sehr bezeichnend, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter bei diesen Kämpfen in den Vereinigten Staaten ihre Entscheidung zur Einstellung der Arbeit aufgrund der von der Gewerkschaft - in diesem Fall der UAW - festgelegten Richtlinie durchsetzen mussten, die sie dazu ermutigte, weiter zu arbeiten, um dem Unternehmen nicht zu schaden.
Und auch im Hafen von Santos (Brasilien) gab es Proteste der Arbeiter gegen die Auflagen der Behörden zur Fortsetzung der Arbeit. Auch in diesem Land wächst die Besorgnis der Arbeiter der Fabriken von Volkswagen, Toyota, GM usw. gegen die Fortsetzung der Produktion, als ob es keine Pandemie gäbe.
So begrenzt diese Proteste auch waren, sie sind ein wichtiger Teil der Klassenreaktion des Proletariats auf die Pandemie, die zweifellos kapitalistischen Klassencharakter hat. Selbst wenn diese Proteste auf rein defensivem Terrain stattfinden, stelle sie doch eine deutliche Verweigerung der Ausgebeuteten dar, als Kanonenfutter der Ausbeuter zu dienen.
Die Bourgeoisie selbst ist sich des Potenzials für die Entwicklung der Kampfbereitschaft und des Bewusstseins des Proletariats bewusst, das in dieser Anhäufung von Unruhe, Entrüstung und Opfern, die von den Arbeitern gefordert werden, enthalten ist. Jetzt nehmen sogar die Hauptverfechter von harten Sparmaßnahmen (wie Merkel, oder Berlusconi, oder der spanische Luis de Guindos) den Mund voll mit Versprechungen von Sozialleistungen. Aber die Waffen der Ausbeuterklasse bleiben die traditionellen Waffen in der gesamten Geschichte des Klassenkampfes: Täuschung und Unterdrückung.
- Die Scheinheiligkeit der Beifallskundgebungen für die Beschäftigten des Gesundheitswesens. Natürlich verdienen die Beschäftigten des Gesundheitswesens die ganze Anerkennung und Solidarität, denn sie sind es im Wesentlichen, die mit ihrem Einsatz und ihrer Unterstützung die Gesundheitsversorgung auf einem Mindestmaß aufrechterhalten. Sie tun dies seit Jahren auf dem Hintergrund von Personalabbau und der Verschlechterung der materiellen Ressourcen. Es ist widerwärtiger Zynismus zu sehen, wie die Behörden, die genau diese Bedingungen der Überausbeutung und Ohnmacht der Beschäftigten des Gesundheitswesens gefördert haben, sich dieser "Solidarität" der Bevölkerung anschließen wollen, mit der Botschaft, dass wir alle im selben Boot sitzen, die Nationalhymne singen und die patriotischen Werte als Heilmittel (?) gegen die Ausbreitung der Pandemie preisen. Der abstoßende Nationalismus vieler dieser vom Staat selbst geförderten "Mobilisierungen" versucht zu verbergen, dass es keine Interessengemeinschaft geben kann zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten; zwischen Nutznießern und durch die Verschlechterung der Gesundheitsinfrastruktur geschädigten Personen; zwischen denen, die die Produktion und die Wettbewerbsfähigkeit des nationalen Kapitals aufrechterhalten, und denen, die das Leben und die menschlichen Bedürfnisse an die erste Stelle setzen. Das Gerede vom Vaterland ist ein Schwindel für die Arbeiter und Arbeiterinnen, egal ob Salvini und Vox oder Podemos, Macron oder Conte dies sagen.
Unter Berufung auf genau diese "nationale Solidarität" werden die Bürger aufgefordert, diejenigen zu melden, die angeblich die Quarantäne "brechen", wodurch ein Klima der "Hexenjagd" geschaffen wird, für das manchmal Mütter mit autistischen Kindern, ältere Leute, die einkaufen gehen, oder sogar Gesundheitspersonal, das auf dem Weg zur Arbeit in den Krankenhäuser ist, büßen soll. Es ist besonders zynisch, die Ausbreitung der Pandemie, die durch sie verursachten Todesfälle oder den Stress, unter dem das Gesundheitspersonal leidet, auf einige wenige "Täter" zu schieben. Es gibt nichts Antisozialeres - d.h. im Gegensatz zur menschlichen Gemeinschaft – als den kapitalistischen Staat, der genau die Klasseninteressen der ausbeutenden Minderheit verteidigt, und genau dies wird durch das Feigenblatt dieser angeblichen Solidarität verdeckt. Und es ist doppelt heuchlerisch und kriminell, die durch die Nachlässigkeit des Staates, der die Interessen der feindlichen Klasse verteidigt, verursachte Katastrophe als Mittel zu benutzen, um einige Arbeiter gegen andere aufzuwiegeln. Wenn die Krankenhausmitarbeiter sich weigern, ohne Schutzmaßnahmen zu arbeiten, werden sie als ‚unsolidarisch‘[5] abgestempelt und mit Sanktionen bedroht, wie kürzlich die Entlassung des ärztlichen Direktors des Krankenhauses in Vigo (Galizien) gezeigt hat, weil er es gewagt hat, das "Bla-bla-bla" der bürgerlichen Politiker bezüglich der Schutzmaßnahmen anzuprangern. Die Regionalregierung von Valencia (der die gleichen Parteien angehören wie die "progressive" Koalition, die Spanien regiert) droht damit, Bilder zu zensieren, die den katastrophalen Zustand der Gesundheitsversorgung[6] in dieser Region zeigen, und beruft sich dabei auf das Recht auf "Privatsphäre" der Patienten, wenn sie in Notfalldienste im Massenbetrieb auf Behandlung warten oder behandelt werden.
Wenn die Beschäftigten der städtischen Bestattungsbetriebe sich weigern, ohne Schutzausrüstung den Leichnam der durch das Coronavirus gestorbenen Menschen abzuholen, werden sie beschuldigt, die Angehörigen daran zu hindern, den Tod des Verwandten, Freundes ... zu betrauern. Wer kennt nicht die Bedingungen in den Billigwohnungen, die beengten Bedingungen des öffentlichen Personenverkehrs im Berufsverkehr, die Bedingungen am Arbeitsplatz, die nur nach den Bedürfnissen der Produktivität und nicht gemäß den Bedürfnissen der Beschäftigten gestaltet wurden…
Mittlerweile ist die Zahl der Toten so stark angestiegen, dass die Leichen im Eispalast in Madrid aufbewahrt werden müssen.
All diese unmenschliche Brutalität wird als Ausdruck der Einheit der gesamten Gesellschaft dargestellt. Es ist kein Zufall, dass in den Pressekonferenzen der spanischen Regierung ohne jegliche Reue gelogen wird, wenn es um Fragen geht wie: Wann kommen die Tests an? Und die Masken? Und die Beatmungsgeräte? Die immer wiederholte Antwort des Gesundheitsministers: "in den nächsten Tagen". Dabei wird er unterstützt von den mit ihm auftretenden Generälen der Armee, der Polizei, der Guardia Civil mit all ihren Medaillen. Es geht darum, der Bevölkerung den bekannten militärischen Geist einzuflößen: "Gehorchen, ohne zu klagen". Es geht auch darum, die Bevölkerung dazu zu bringen, sich an alle Arten von Einschränkungen der eigenen Bürgerfreiheiten zu gewöhnen, die im Ermessen der Behörde liegen, mit der Folge, dass sie mit einer sehr zweifelhaften Wirkung[7] angewandt werden, die aber, wie wir zuvor gesehen haben, soziale Selbstdisziplin und Abgrenzung fördern und die als einziger Schutzschild gegen Krankheit und soziales Chaos verkauft werden. Es ist kein Zufall, dass die westliche Bourgeoisie heute eine unverhohlene Bewunderung für die Kontrolle ausdrückt, die bestimmte Tyranneien, wie die des chinesischen Kapitalismus[8] über die Bevölkerung ausüben. Wenn sie heute den Erfolg des "chinesischen Weges" gegen das Coronavirus loben, dann nur, um ihre Bewunderung für die Instrumente dieser totalitären Kontrolle des Staates zu übertünchen (Gesichtserkennung, Verfolgung und Überwachung der Bewegungen und Treffen der Menschen, Nutzung dieser Informationen, um die Bevölkerung in Kategorien ihrer sozialen Gefahr einzuordnen).
Wir haben gezeigt, wie sich angesichts einer sozialen Krise die Existenz zweier antagonistischer Klassen offenbart: des Proletariats und der Bourgeoisie. Die erste ist diejenige, die das Beste der Menschheit vertritt, um zu versuchen, die Auswirkungen dieser Epidemie zu stoppen. Es ist im Wesentlichen diese Arbeit der Beschäftigten des Gesundheitswesens, im Transportbereich, der Supermarktbeschäftigten und der Lebensmittelindustrie, die es uns ermöglicht hat, zu überleben oder versorgt zu werden. Es hat sich einmal mehr gezeigt, dass das Proletariat auf weltweiter Ebene die Klasse ist, die den sozialen Reichtum produziert, und dass die Bourgeoisie eine parasitäre Klasse ist, die diese Zurschaustellung von Hartnäckigkeit, Kreativität und Teamarbeit nutzt, um ihren Reichtum zu vergrößern. Jede dieser antagonistischen Klassen bietet eine völlig unterschiedliche Perspektive auf das Weltchaos, in das der Kapitalismus die Menschheit heute gestürzt hat: Das Regime der kapitalistischen Ausbeutung stürzt die Menschheit in noch mehr Kriege, Epidemien, Elend und ökologische Katastrophen; die revolutionäre Perspektive befreit die menschliche Spezies von ihrer Unterwerfung unter die Gesetze ihrer privaten Aneignung durch eine ausbeuterische Minderheit.
Aber die Ausgebeuteten können dieser Diktatur nicht einzeln entkommen. Sie können sich nicht durch bestimmte Aktionen den chaotischen Direktiven eines Staates entziehen, der faktisch zugunsten einer Produktionsweise handelt, die die ganze Welt beherrscht. Individuelle Sabotage oder Ungehorsam ist der unrealistische Traum von Klassen, die keine Zukunft für die Menschheit als Ganzes zu bieten haben. Die Arbeiterklasse ist keine Klasse von hilflosen Opfern. Sie ist eine Klasse, die die Möglichkeit einer neuen Welt mit sich bringt, die von der Ausbeutung, von den Spaltungen zwischen Klassen und Nationen, von der Unterwerfung der menschlichen Bedürfnisse unter die Gesetze der Akkumulation befreit ist.
Ein Philosoph (Buyng Chul Han), der in seiner Beschreibung des Chaos der gegenwärtigen kapitalistischen Sozialbeziehungen sehr in Mode ist, hat kürzlich erklärt, dass "wir die Revolution nicht dem Virus überlassen können“. Das ist wahr. Nur die bewusste Aktion einer Weltklasse, die bewusst die Wurzeln der Klassengesellschaft ausreißt, kann eine wirkliche Revolution vollbringen.
Valerio, 24. März 2020
[2]https://elpais.com/espana/madrid/2020-03-21/el-dano-del-coronavirus-en-las-residencias-de-mayores-sera-imposible-de-conocer.html [18]
[3]https://www.elespanol.com/espana/20200320/criterios-decidir-prioridad-falten-camas-uci/475954325_0.html [19]
[4]https://de.internationalism.org/content/2931/pandemie-des-covid-19-frankreich-die-kriminelle-fahrlaessigkeit-der-bourgeoisie [17]
[5]https://www.elconfidencial.com/espana/2020-03-24/sanitarios-ramon-cajal-plante-mascarillas_2513959/ [20]
[7]Wie z.B. das Verbot, in den Parks zu joggen oder sich zu bewegen. Maßnahmen, die von Regierungen mit einer niedrigeren Covid-19-Sterblichkeitsrate nicht angewandt wurden. Die Erfahrung anderer Länder zeigt, dass der effektive Weg zur Begrenzung der Ausbreitung in massiven Tests für die Bevölkerung, der Verfügbarkeit von ausreichend Krankenhausbetten und -personal, Betten auf der Intensivstation usw. im Verhältnis zu den eigenen Empfehlungen der Europäischen Union besteht, und dass die meisten Staaten der EU diese missachten.
[8]Offensichtlich sind Russland, China, Kuba und ihre Varianten aus der Sicht des wahren Kommunismus nur Ausdruck einer Version des Kapitalismus: des Staatskapitalismus.
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Eine gewaltige Zahl von Toten! Täglich sterben Tausende von Menschen, völlig überfüllte und überforderte Krankenhäuser, eine abscheuliche "Triage" zwischen den kranken Jüngeren und Älteren; ein erschöpftes, oft angestecktes Krankenhauspersonal, von denen viele schon gestorben sind. Überall Mangel an medizinischer Ausrüstung. Regierungen, die im Namen des "Krieges gegen das Virus" einen entsetzlichen Konkurrenzkampf führen, Finanzmärkte in Not, surreale Plünderungsszenen, in denen sich die Staaten gegenseitig Maskenlieferungen klauen, zig Millionen Beschäftigte, die im Inferno der Arbeitslosigkeit landen, Berge von Lügen, die von den Staaten und ihren Medien verbreitet werden ...
Das ist das erschreckende Schauspiel, das die heutige Welt liefert! Die Covid-19-Pandemie stellt die schwerste globale Gesundheitskatastrophe seit der Spanischen Grippe von 1918-19 dar, obwohl die Wissenschaft seither außerordentliche Fortschritte gemacht hat. Warum eine solche Katastrophe? Wie ist es dazu gekommen?
Man sagt uns, dass dieses Virus anders ist, dass es viel ansteckender ist als die anderen, dass seine Auswirkungen viel schädlicher und tödlicher sind. All dies ist wahrscheinlich wahr, erklärt aber nicht das Ausmaß der Katastrophe. Die grundlegende Ursache dieses weltweiten Chaos, dieser Hunderttausende von Toten ist der Kapitalismus selbst. Die Produktion für den Profit, und nicht für menschliche Bedürfnisse, das ständige Streben nach größerer Rentabilität um den Preis der brutalen Ausbeutung der Arbeiterklasse, die immer heftigeren Angriffe auf die Lebensbedingungen der Ausgebeuteten, der zügellose Wettbewerb zwischen Unternehmen und Staaten, all dies sind Merkmale des kapitalistischen Systems, die zusammen die gegenwärtige Katastrophe hervorgebracht haben.
Diejenigen, die die Gesellschaft steuern, die bürgerliche Klasse mit ihren Staaten und ihren Medien, sagen uns mit Bestürzung, dass die Epidemie "unvorhersehbar" gewesen sei. Dies ist eine reine Lüge, ähnlich wie die, welche die "Klimaskeptiker" verbreiteten. Wissenschaftler haben die Bedrohung durch eine Pandemie wie Covid-19 schon lange in Betracht gezogen. Aber die Regierungen haben sich geweigert, auf sie zu hören. Sie haben sich sogar geweigert, einen CIA-Bericht von 2009 ("Wie wird die Welt von morgen aussehen") zur Kenntnis zu nehmen, der mit erstaunlicher Genauigkeit die Merkmale der aktuellen Pandemie vorhersagte. Es ist nichts unternommen worden, um auf eine solche Bedrohung vorbereitet zu sein. Warum diese Blindheit auf Seiten der Staaten und der bürgerlichen Klasse, der sie dienen? Aus einem ganz einfachen Grund: Investitionen müssen einen Gewinn abwerfen, und zwar so schnell wie möglich. Investitionen in die Zukunft der Menschheit bringen nichts ein, lassen die Aktienkurse nicht steigen. Es ist auch notwendig, dass Investitionen dazu beitragen, die Positionen jeder nationalen Bourgeoisie gegenüber den anderen auf imperialistischer Ebene zu stärken. Wären die wahnsinnigen Summen, die in militärische Forschung und Rüstungsausgaben investiert wurden, für die Gesundheit und das Wohlergehen der Menschen eingesetzt worden, hätte sich eine solche Epidemie nie entwickeln können. Doch anstatt angesichts dieser vorhergesagten gesundheitlichen Katastrophe Maßnahmen zu ergreifen, haben die Regierungen die Gesundheitssysteme unerbittlich angegriffen, sowohl was die Forschung als auch was die technischen und personellen Ressourcen betrifft.
Warum sterben die Menschen heute wie die Fliegen, mitten im Herzen der am meisten entwickelten Länder? In erster Linie deshalb, weil die Regierungen überall die Budgets für die Erforschung neuer Krankheiten gekürzt haben! So schaffte Donald Trump im Mai 2018 eine Sondereinheit des Nationalen Sicherheitsrates ab, die sich aus herausragenden Experten zusammensetzte und für die Bekämpfung von Pandemien zuständig war. Aber Trumps Haltung ist nur eine Karikatur dessen, was alle führenden Politiker getan haben. So wurden beispielsweise wissenschaftliche Studien über Coronaviren vor etwa 15 Jahren überall aufgegeben, weil die Entwicklung des Impfstoffs als – "unprofitabel" eingestuft wurde!
Und es ist vollkommen widerlich zu sehen, wie bürgerliche Repräsentanten und Politiker sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite scheinheilig die Überforderung der Krankenhäuser und die katastrophalen Bedingungen beklagen, unter denen die Beschäftigten im Gesundheitswesen arbeiten müssen, während die Staaten in den letzten fünfzig Jahren, insbesondere seit der großen Rezession von 2008, systematisch eine „Rentabilisierung“ des Gesundheitswesens vorangetrieben haben. Überall haben sie den Zugang der Menschen zur medizinischen Versorgung eingeschränkt, die Zahl der Krankenhausbetten reduziert und das Arbeitspensum und die Ausbeutung der Beschäftigten des Gesundheitswesens verstärkt! Und was ist mit dem weit verbreiteten Mangel an Masken und anderen Schutzmitteln, Desinfektionsmitteln, Screeningtests. In den letzten Jahren sind die meisten Staaten dazu übergegangen, dieses lebenswichtige Material nicht mehr zu lagern, um Geld zu sparen. In den letzten Monaten haben sie keine vorbeugenden Maßnahmen ergriffen, um der Ausbreitung von Covid-19, die seit November 2019 festgestellt wurde, entgegenzutreten, einige von ihnen gingen so weit, wochenlang zur Vertuschung ihrer kriminellen Verantwortungslosigkeit zu behaupten, dass das Tragen von Masken völlig unnötig sei für Menschen, die nicht im Gesundheitswesen arbeiteten.
Und was ist mit chronisch benachteiligten Regionen der Welt wie dem afrikanischen Kontinent oder Lateinamerika? In Kinshasa (DRC) werden die 10 Millionen Einwohner auf 50 Atemschutzmasken angewiesen sein! In Zentralafrika werden Flugblätter verteilt, die Anweisungen zum Händewaschen geben, obgleich die Bevölkerung nicht einmal Zugang zu Trinkwasser hat! Überall ertönt derselbe Hilferuf: „Es fehlt uns an allem, um der Pandemie zu begegnen!“
Der weltweite brutale Wettbewerb zwischen den Staaten verhindert auch nur ein Minimum an Zusammenarbeit zur Eindämmung der Pandemie. Als die Epidemie begann, war es in den Augen der chinesischen Bourgeoisie wichtiger, alles zu tun, um den Ernst der Lage zu verschleiern sowie ihre Wirtschaft und ihren Ruf zu schützen, denn der Staat zögerte nicht, den ersten Arzt, der Alarm geschlagen hatte, zu verfolgen und dann sterben zu lassen! Sogar der Schein einer internationalen Regulierung, die sich die Bourgeoisie selbst gegeben hatte, um mit dem Mangel fertig zu werden, ist völlig zerbrochen, wie die Ohnmacht der WHO, verbindliche Richtlinien vorzuschreiben, und die Unfähigkeit der EU, konzertierte Maßnahmen zu ergreifen, verdeutlichen. Dieser Konkurrenzkampf und die damit verbundene Spaltung verschlimmert das Chaos erheblich und führt zum totalen Verlust der Kontrolle über die Entwicklung der Pandemie. Die Dynamik des Jeder-für-sich und die Zuspitzung des Konkurrenzkampfes sind eindeutig zum vorherrschenden Merkmal der Reaktionen der Herrschenden geworden.
Der "Krieg um die Masken", wie die Medien ihn nennen, ist ein erschütterndes Beispiel für den zynischen und hemmungslosen Konkurrenzkampf, in dem sich alle Staaten befinden. Heute schnappt sich jeder Staat diese überlebenswichtige Ausrüstung durch Bieterwettbewerb und sogar durch regelrechten Diebstahl! Die Vereinigten Staaten stehlen ganze Flugzeugladungen von Schutzmasken aus Flugzeugen, die schon abflugbereit nach Frankreich auf chinesischen Startbahnen stehen. Frankreich beschlagnahmt Maskenlieferungen aus Schweden nach Spanien auf seinen Flughäfen. Die Tschechische Republik beschlagnahmt an ihren Zollgrenzen Atemschutzgeräte und Masken, die für Italien bestimmt sind. Deutschland lässt für Kanada bestimmte Masken inkognito verschwinden. Und man kann dieses sich gegenseitige Wegreißen sogar zwischen verschiedenen Regionen und Teilen desselben Landes sehen, wie in Deutschland und den Vereinigten Staaten. Dies ist das wahre Gesicht der "großen Demokratien": Das Grundgesetz des Kapitalismus, der Wettbewerb, der Krieg aller gegen alle, hat eine Klasse von Piraten hervorgebracht, Schlägertypen der schlimmsten Sorte!
Der Bourgeoisie "sind ihre Profite mehr wert als unser Leben!", wie es die Streikenden in der Automobilindustrie in Italien riefen. Überall, in jedem Land, hat sie die Umsetzung von Maßnahmen zur Eindämmung des Virus und zum Schutz der Bevölkerung so lange wie möglich verzögert, um die Wirtschaft um jeden Preis am Laufen zu halten, um international konkurrenzfähig zu bleiben. Es war nicht die heraufziehende Gefahr der Anhäufung von Toten, die sie schließlich dazu veranlasste, die Ausgangssperren und Abschottung zu verordnen. Die zahlreichen imperialistischen Massaker seit mehr als einem Jahrhundert im Namen desselben nationalen Interesses haben die Verachtung der herrschenden Klasse für das Leben der Ausgebeuteten endgültig bewiesen. Nein, sie scheren sich einen Dreck um unser Leben! Zumal dieses Virus für die Herrschenden den "Vorteil" hat, vor allem die in ihren Augen "unproduktiven" Alten und Kranken aus der Welt zu schaffen! Den Virus sich ausbreiten zu lassen und sein „natürliches Werk zu verrichten“ im Namen der „Herdenimmunität“ war übrigens die ursprüngliche Wahl von Boris Johnson und anderen Führern. Was in jedem Land für die Einführung von allgemeinen Kontaktsperren den Ausschlag gegeben hat, war die Angst vor Chaos und Zerrüttung in der Wirtschaft, und in einigen Ländern vor gesellschaftlichem Chaos, und der Zunahme der Wut über die kriminelle Fahrlässigkeit und die zahlreichen Toten. Obwohl mittlerweile die Hälfte der Menschheit von den Zwangsmaßnahmen betroffen sind, sind diese oft reine Augenwischerei: Millionen von Menschen sind gezwungen, sich täglich in Zügen, U-Bahnen und Bussen, in Werkstätten und Supermärkten auf engstem Raum aufzuhalten. Und schon jetzt versuchen die Herrschenden überall, so schnell wie möglich die Schutzmaßnahmen zu entschärfen, obwohl die Pandemie ihren Höhepunkt noch nicht erreicht hat, indem sie darüber nachdenken, wie man so wenig Aufruhr und Protest wie möglich provozieren kann, indem man z.B. plant, die Beschäftigten branchenweise, Unternehmen für Unternehmen wieder an die Arbeit zu schicken.
Die Herrschenden setzten ihre Angriffe fort und bereiten neue Angriffe vor, noch schärfere Ausbeutungsbedingungen. Die Pandemie hat bereits Millionen von Beschäftigten arbeitslos werden lassen: zehn Millionen in drei Wochen in den Vereinigten Staaten. Viele von ihnen wurden aufgrund unregelmäßiger, prekärer oder befristeter Arbeitsverhältnisse jeglicher Art von Einkommen beraubt. Andere, die nur über geringe Unterstützung oder Sozialhilfe verfügen, um zu überleben, laufen Gefahr, ihre Miete nicht mehr bezahlen zu können und keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu erhalten. Die wirtschaftlichen Verwüstungen haben infolge der sich abzeichnenden globalen Rezession bereits begonnen: explodierende Lebensmittelpreise, Massenentlassungen, Lohnkürzungen, zunehmende Unsicherheit usw. Alle Staaten ergreifen brutale „Anpassungsmaßnahmen“ und fordern die Annahme dieser Opfer im Namen der "nationalen Einheit im Krieg gegen das Virus".
Das nationale Interesse, auf das sich die Herrschenden heute berufen, ist nicht das unsere! Es sind die gleiche Verteidigung der nationalen Wirtschaft und der gleiche weltweite Konkurrenzkampf, der ihnen in der Vergangenheit dazu gedient hat, Haushaltskürzungen und Angriffe auf die Lebensbedingungen der Ausgebeuteten durchzuführen. Morgen werden sie die gleichen Lügen verbreiten, wenn sie nach den wirtschaftlichen Verwüstungen durch das Coronavirus verlangen, dass die Ausgebeuteten den Gürtel noch enger schnallen und noch mehr Ausbeutung und Elend akzeptieren!
Diese Pandemie ist ein Ausdruck des dekadenten Charakters der kapitalistischen Produktionsweise, eine der vielen Erscheinungsweisen der Zuspitzung des Zerfalls der heutigen Gesellschaft, ersichtlich anhand z.B. der Zerstörung der Umwelt und der Verschmutzung der Natur, des Klimawandels, der Zunahme der imperialistischen Kriegsschauplätze und Massaker, des unaufhaltsamen Absturzes eines wachsenden Teils der Menschheit ins Elend, des Ausmaßes der Flüchtlingsmigration, des Aufstieg der populistischen Ideologie und des religiösen Fanatismus usw. (vgl. dazu unsere „Thesen über den Zerfall“ auf /content/748/der-zerfall-die-letzte-phase-der-dekadenz-des-kapitalismus [3]). Sie deckt auf, in welcher Sackgasse der Kapitalismus steckt, und in welche Richtung dieses System und seine Aufrechterhaltung die gesamte Menschheit zu treiben drohen: in Chaos, Elend, Barbarei, Zerstörung und Tod.
Einige Regierungen und die bürgerlichen Medien behaupten, dass die Welt nie wieder so sein wird wie vor dieser Pandemie, dass die Lehren aus der Katastrophe gezogen werden, dass die Staaten endlich zu einem humaneren und besser gesteuerten Kapitalismus übergehen würden. Sie alle bliesen während der Rezession von 2008 ins gleiche Horn, als Staaten und führende Politiker der Welt einen "Krieg gegen die Finanzen" erklärten und versprachen, dass die Opfer, die erforderlich seien, um aus der Krise herauszukommen, sich lohnen würden. Man braucht nur die wachsende Ungleichheit in der Welt zu betrachten, um zu erkennen, dass diese Versprechungen der "Erneuerung" des Kapitalismus reine Lügen waren, um uns eine weitere Verschlechterung unserer Lebensbedingungen aufzuhalsen.
Die Ausbeuterklasse kann die Welt nicht so verändern, dass sie das Leben und die sozialen Bedürfnisse der Menschheit über die gnadenlosen Gesetze ihrer Wirtschaft stellt: Der Kapitalismus ist ein Ausbeutungssystem, bei dem eine herrschende Minderheit ihre Profite und Privilegien aus der Arbeit der Mehrheit bezieht. Der Schlüssel zur Zukunft, das Versprechen einer anderen Welt, einer wirklich humanen Welt ohne Nationen und Ausbeutung, liegt nur in der Einheit und internationalen Solidarität der Arbeiter im Kampf!
Das Impuls der spontanen Solidarität, den unsere gesamte Klasse heute angesichts der unhaltbaren Situation, die den Beschäftigten im Gesundheitswesen auferlegt wurde, verspürt, wird von den Regierungen und den Politikern in der ganzen Welt vereinnahmt, indem man zum Applaus an den Fenstern und Balkonen aufruft.
Der Beifall rührt sicherlich die Herzen dieser Arbeiterinnen und Arbeiter, die mit Mut und Hingabe unter dramatischen Arbeitsbedingungen Kranke pflegen und Menschenleben retten. Aber die Solidarität unserer Klasse, die der Ausgebeuteten, lässt sich nicht auf eine fünfminütige Runde Applaus reduzieren.
Es geht in erster Linie darum, die Nachlässigkeit der Regierungen anzuprangern, in allen Ländern, unabhängig von ihrer politischen Couleur! Wir müssen Masken und alle notwendigen Schutzmittel fordern! Wir müssen, wenn es möglich ist, in den Streik treten, indem man fordert, dass die nicht in den Krankenhäusern Beschäftigten nicht arbeiten werden, solange die Beschäftigten des Gesundheitswesens keine ausreichende Ausrüstung haben und damit ohne Schutzausrüstung sehenden Auges direkt in den Tod getrieben werden!
Heute können wir wegen der Ausgangsbeschränkungen keine massiven Kämpfe gegen dieses mörderische System führen. Wir können uns wegen dieser Kontaktsperren vorübergehend nicht zusammenschließen, nicht unseren Zorn zum Ausdruck bringen und unsere Solidarität auf einer Klassengrundlage durch massive Kämpfe, Streiks, Demonstrationen und Versammlungen zeigen. Aber nicht nur deshalb geht dies im Augenblick nicht. Denn unsere Klasse muss sich auch eine Kraft wieder aneignen, die sie schon viele Male in der Geschichte entwickelt hatte, die sie aber vergessen hat: sich im Kampf zu vereinigen, eine massive Bewegung zu entfalten angesichts unverschämter Angriffe der Herrschenden.
Die Streiks, die im Automobilsektor in Italien oder in den Supermärkten in Frankreich, vor den Krankenhäusern in New York oder denen in Nordfrankreich ausbrachen, sowie die enorme Empörung der Arbeiter und Arbeiterinnen, die sich weigern, als "Virusfutter" zu dienen, können heute nur verstreute Reaktionen sein, abgeschnitten von der Kraft einer ganzen vereinten Klasse. Dennoch zeigen sie, dass die Proletarierinnen und Proletarier nicht resignieren, und die kriminelle Verantwortungslosigkeit derer, die sie ausbeuten, nicht als Schicksal akzeptieren!
Es ist diese Perspektive des Klassenkampfes, die wir vorbereiten müssen. Denn nach Covid-19 wird es die Weltwirtschaftskrise, die massive Arbeitslosigkeit, neue "Reformen" geben, die nichts anderes als neue "Opfer" sein werden. Bereiten wir also von nun an unsere zukünftigen Kämpfe vor. Wie können wir das tun? Durch Diskussionen, durch Austausch in den Netzwerken, in den Foren, am Telefon, wann immer es möglich ist. Indem man versteht, dass die größte Geißel nicht Covid-19, sondern der Kapitalismus ist, dass die Lösung nicht darin besteht, sich hinter dem mörderischen Staat zu vereinen, sondern im Gegenteil gegen ihn aufzustehen, dass die Hoffnung nicht in den Versprechungen dieses oder jenes Politikers liegt, sondern in der Entwicklung der Solidarität der Arbeiterinnen und Arbeiter im Kampf, dass die einzige Alternative zur kapitalistischen Barbarei die Weltrevolution ist!
DIE ZUKUNFT GEHÖRT DEM KLASSENKAMPF!
Internationale Kommunistische Strömung
10. April 2020
e-mail: [email protected] [24]
„Jeder von uns muss sich an dieser massiven Anstrengung zur Erhaltung der globalen Sicherheit beteiligen“, sagte der WHO-Direktor am 16. März in einer Pressemitteilung. Am 27. März erklärte der französische Staatspräsident Macron: „Wir werden diese Krise nicht ohne eine starke europäische Solidarität auf der Gesundheits- und Haushaltsebene überwinden.“ Und die deutsche Bundeskanzlerin Merkel forderte angesichts der Gesundheitskrise: „mehr Europa, ein stärkeres Europa und ein Europa, das gut funktioniert“! Die Politiker fordern die Bevölkerung auf, Solidarität, Bürgersinn und Einigkeit zu zeigen, um den „unsichtbaren Feind“ zu bekämpfen. In einer Zeit, in der der Bedarf an Masken und medizinischer Ausrüstung aufgrund eines skandalösen Mangels immens ist, haben Politiker und Medien Diebstähle aus Krankenhäusern, Apotheken und sogar aus den Autos von Mitarbeitern des Gesundheitswesens angeprangert. Die Bourgeoisie zeigt mit dem Finger auf sie und macht weithin das egoistische Verhalten dieser „berüchtigten und abscheulichen“ Diebe publik, zu einer Zeit, in der die ganze Welt „im Krieg“ steht und angeblich gegen die Covid-19-Pandemie vereint ist.
Während die Bourgeoisie einerseits ihre Empörung und Verachtung für Diebstahl zeigt, wendet sie in Wirklichkeit andererseits international kalt die gleichen Räubermethoden an: Unterschlagung und „Requisition“ von Aufträgen aus anderen Ländern, Preisüberbietung und Kauf von medizinischer Ausrüstung – sogar direkt vom Rollfeld. So drückt die Bourgeoisie ihre „Solidarität“ „zur Erhaltung der Weltsicherheit“ aus!
So schickte China, das aus diplomatischen Gründen großes Interesse an der Durchführung solcher Deals hatte, zu Beginn der Epidemie in Europa Masken und Atemschutzgeräte nach Italien, die jedoch sofort von der Tschechischen Republik bei einem Zwischenstopp abgefangen wurden. Mit umwerfender Heuchelei bestritt diese jeden Diebstahl und sprach von einem bedauerlichen „Missverständnis“!
Anfang März war es Frankreich, das auf seinem Territorium in Schweden produzierte und für Spanien und Italien bestimmte Masken „requirierte“, Masken für Länder also, die von der Epidemie sehr stark betroffen sind. Erst nach der Intervention der schwedischen Regierung erklärte sich die französische Regierung unter Druck bereit, „nur“ die Hälfte der gestohlenen Bestände zu behalten. Einen Monat später, als die Affäre an Umfang zunahm (es handelte sich natürlich um ein „Missverständnis“), plädierte Macron für mehr „Kohärenz“ und ließ den Empfängern widerwillig alle Masken aushändigen.
Den Vereinigten Staaten wird auch vorgeworfen, medizinische Geräte für Deutschland, Kanada und Frankreich in die USA umgeleitet zu haben. Trump sprach im Gegensatz zu seinen zivilisierteren ausländischen Kollegen Klartext: „Wir brauchen diese Masken, wir wollen nicht, dass andere Leute sie bekommen!“
In Afrika warnte kürzlich ein Epidemiologe vor einer sehr besorgniserregenden Situation auf dem Kontinent: Krankenhäuser können nicht mit Testmaterial beliefert werden. Vorrang haben die Großen, die stärksten Gangster: die Vereinigten Staaten oder Europa. Die „großen Demokratien“ halten das Testmaterial, das zu einer viel gefragten Ware geworden ist, zurück und benutzen es für sich selbst. Kein Wunder, dass Afrika von Covid-19 kaum betroffen zu sein scheint! Es gibt einfach kein Testmaterial. Die Liste der zynischen Akte der Piraterie der Staaten ist immer noch lang![1]
Selbst auf nationaler Ebene fällt es der Bourgeoisie schwer, nicht in den Krieg aller gegen alle abzugleiten. So wie die Staaten noch an den Startbahnen der Flugzeuge um die medizinischen Schutzausrüstungen ringen, so reißen sich auch Bundesländer, Bundesstaaten, Regionen und sogar Städte um die wenigen Lieferungen, um „ihre“ Einwohner zu schützen.
In ähnlicher Weise brach in Spanien, wo das Gewicht des Regionalismus schwer wiegt, eine Kontroverse aus, als die Zentralregierung in Madrid entschied, Masken zu requirieren und ihre Lagerung zu zentralisieren. Die Unfähigkeit der spanischen Behörden trieb die Regionalregierungen dazu, je ihre eigenen Vorräte anzulegen und dabei mit den anderen zu konkurrieren. Torra, der Präsident der katalanischen Generalitat, beschuldigte den Zentralstaat, Spannungen und sogar eine „Invasion“ angeheizt zu haben. Alles ist ein Vorwand, um kleinliche „regionale“ Interessen durchzusetzen, wo man Herr im eigenen Hause sein will! Auch in Mexiko übt der Gouverneur von Jalisco Druck auf die Bundesregierung aus, keine Tests mehr für die Region Mexiko-Stadt zurück zu behalten.
Die Bourgeoisie schwingt schöne moralisierende Reden, ruft zur internationalen Solidarität auf, ermahnt ihre „Truppen“, sich um den schützenden Staat zu scharen. Das sind alles Lügen! Die „Solidarität“, die die Bourgeoisie fordert, ist nur ein Ausdruck des Jeder-für-sich, eine Verstärkung des Chaos und der kapitalistischen Barbarei auf Weltebene!
Wenn man angesichts der Krise zulässt, dass der Nationalstaat anderen, ausländischen Rivalen Masken entreißt, verschärft man das Übel nur noch. Der Kapitalismus, zynisch und tödlich, hat der Menschheit keine andere Perspektive zu bieten als das, was dieses beklagenswerte Schauspiel der Plünderung heute illustriert: Elend und Zerstörung!
Die einzige gesellschaftliche Kraft, die ein historisches Projekt trägt, das dem Krieg aller gegen alle ein Ende setzen kann, ist die Arbeiterklasse, die kein Vaterlandland zu verteidigen hat, deren Interessen die Bedürfnisse der ganzen Menschheit sind und nicht die der „Nation“ (oder ihrer „regionalistischen“ Version)! Es ist die Arbeiterklasse, die heute durch die Beschäftigten im Gesundheitswesen Leben rettet und dabei ihr eigenes Leben riskiert. Obwohl der Kontext der Pandemie gegenwärtig jede massive Mobilisierung verhindert und Solidaritätsbekundungen im Kampf einschränkt, ist es die Arbeiterklasse, die in vielen Bereichen und in mehreren Ländern versucht, der Nachlässigkeit der Bourgeoisie und der Anarchie des Kapitalismus zu widerstehen. Unsere Klasse ist Trägerin einer Gesellschaft ohne Grenzen und ohne Wettbewerb, in der die Krankenhausangestellten nicht mehr gezwungen sein werden, einen abscheulichen Unterschied zwischen „produktiven“ und „unproduktiven“ Kranken (Rentner*innen oder Behinderten) zu machen, in der der Wert eines Lebens nicht mehr nach den Wirtschaftlichkeitskriterien von Staatshaushalten gemessen wird!
Olive, 7. April 2020
[1]Aber im Gegensatz zu den Piraten von einst, die Gold und wertvolle Waren stahlen, kämpfen diese Räuber auch um typische Waren des Kapitalismus: minderwertige Produkte – Schutzkittel, die in Fetzen fallen, sobald sie ausgepackt werden, verschimmelte Masken, Atemgeräte mit unpassenden Steckern usw.!
Gegenüber unserem Artikel: Wer ist wer bei „Nuevo Curso“[1], der die Zusammenarbeit des Individuums namens Gaizka mit hohen Beamten und Institutionen des bürgerlichen Staates anprangert, hat sich diese Person bisher in absolutes Schweigen gehüllt. „Kein Kommentar“. Schweigen als Antwort. Und es fällt uns schwer zu glauben, dass er nicht gehört hat, was wir sagen, da seine Freunde sofort seine Verteidigung übernommen haben[2]. Aber weder der eine noch die anderen haben auch nur eine einzige der Tatsachen geleugnet, die wir auf den Tisch gelegt haben: Nichts, absolut nichts.
Dieses Schweigen ist eine eklatante Bestätigung von Gaizkas auf Aufstieg bedachten Werdegang als Abenteurer. Sie sagen dazu nichts, weil es nichts dagegen zu sagen gibt.
Dass Schweigen nur als Bestätigung der gestellten Fragen verstanden werden kann, ist bekannt. In diesem Zusammenhang zitiert Paul Frölich[3] in seiner Autobiographie eine Anekdote über einen der Redakteure der Leipziger Volkszeitung Lensch: „Dabei hatte er Instinkt für taktisches Verhalten. Einmal war ich sehr verwundert, dass er auf wiederholte Angriffe eines anderen Parteiblattes nicht antwortete. ‚Sehr einfach‘, meinte er, ‚ich habe in einem wichtigen Punkt unrecht gehabt. Jetzt lasse ich sie bellen, bis sie heiser sind und die Geschichte vergessen. Solange bin ich taub.‘„[4]
Wann immer Revolutionäre jedoch der Provokation oder Kollaboration mit der Bourgeoisie oder einfach nur eines unwürdigen Verhaltens beschuldigt wurden, verwendeten sie ihre ganze Energie darauf, dies zu widerlegen. Marx verbrachte ein Jahr damit, ein ganzes Buch als Antwort auf Herrn Vogts[5] Beschuldigungen vorzubereiten, er sei ein geheimer Polizeiagent, und zusammen mit Engels setzte er ein ganzes Arsenal an rechtlichen Maßnahmen gegen Versuche ein, den Bund der Kommunisten und sich selbst zu diskreditieren.[6] Bebel wurde beschuldigt, Geld aus der ADAV-Kasse gestohlen zu haben, und dieser hörte erst auf, dagegen vorzugehen, als sich die Vorwürfe als falsch erwiesen. Trotzki, völlig isoliert und von Stalin schikaniert, sammelte immer noch Kräfte um sich, um den geringen Raum, der ihm noch blieb, zu nutzen und die Dewey-Kommission[7] zu seiner Verteidigung einzuberufen usw. Die echten Abenteurer und Provokateure haben dagegen alles getan, um sich zu verdrücken und in Deckung zu gehen.
Tatsächlich erkannte zum Beispiel Bakunin zunächst angesichts des internen Zirkulars der I. Internationale über „Die angeblichen Spaltungen in der Internationale“ unter dem Anschein eines skandalösen Tons an, dass er sich nur durch – ein längeres Schweigen wehren konnte:
„Zweieinhalb Jahre lang haben wir diese schmutzigen Angriffe stillschweigend ertragen. Unsere Verleumder begannen zunächst mit vagen Anschuldigungen, vermischt mit feiger Zurückhaltung und giftigen Unterstellungen, aber gleichzeitig so dumm, dass mangels anderer Gründe zum Schweigen der schlechte Geschmack, vermischt mit Verachtung, den sie in meiner Kur provoziert hatten, ausgereicht hätte, um mein Schweigen zu erklären und zu legitimieren“.[8]
In dem gesamten Brief sucht man vergeblich nach irgendeinem Argument. Bakunin kündigte jedoch an, dass er ein Ehrengericht einberufen und vor dem nächsten Kongress einen Artikel schreiben werde (NdR: Den Haag, 1872): „Andererseits habe ich mir immer das Recht vorbehalten, alle meine Verleumder vor ein Ehrengericht zu bestellen, was mir der nächste Kongress zweifellos nicht verweigern würde ... Die Wahrheit wiederherzustellen, indem ich so weit wie möglich zur Zerstörung des von Marx und seinen Gefolgsleuten errichteten Lügensystems beitrage, das wird das Ziel eines Papiers sein, das ich vor der Sitzung des Kongresses veröffentlichen will.“ (ebenda, S. 356)
Selbstverständlich hat er nie ein solches Ehrengericht einberufen und auch keine Artikel geschrieben. Stattdessen war das, was er in einem Brief vom 25. September 1873 an das Journal de Genève schrieb (zusätzlich zu den Beleidigungen gegen Marx, „Kommunist, Deutscher und Jude“ zu sein), eine Kapitulation, sobald er von der Veröffentlichung des „Berichts über das Treiben Bakunins und der Allianz der sozialistischen Demokratie“ („Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiter-Association“) erfuhr (MEW 18, S. 327)[9].
„Ich gestehe, dass mich all dies gegenüber dem öffentlichen Leben zutiefst verärgert hat. Ich habe die Nase voll von all dem. Nachdem ich mein ganzes Leben lang gekämpft habe, bin ich müde. Ich bin über sechzig Jahre alt, und ein Herzleiden, das sich mit dem Alter verschlimmert, macht mein Leben immer schwieriger. Lassen Sie andere junge Menschen an die Arbeit gehen. Was mich betrifft, so fühle ich nicht mehr die Kraft oder vielleicht die Zuversicht, den Sisyphos-Stein gegen die triumphierende Reaktion überall zu drücken. Deshalb ziehe ich mich aus dem Kampf zurück und bitte meine lieben Zeitgenossen nur um eines: Vergessen.“[10]
Und wie man sieht, wendet Bakunin auch hier eine weitere klassische Strategie der Abenteurer an, nämlich sich als Opfer darzustellen, das Opfer, das leidet, wenn sein persönliches Verhalten entlarvt wird.
Als Schweitzer[11] beschuldigt wurde, kranken Arbeitern, die nicht zur Arbeit gehen konnten, Geld unterschlagen zu haben, um es für Champagner und andere „Gelüste“ auszugeben, konnte er sich im Gegensatz zu Bebel nie verteidigen:
„Schweitzer wurde mehr als einmal öffentlich dieser schändlichen Handlung beschuldigt, aber er hat es nie gewagt, sich zu verteidigen.“[12]
Als Bebel und Liebknecht ihn auf dem Kongress in Barmen-Elberfeld (Wuppertal) als Regierungsagenten bezeichneten, sprach er, der direkt hinter ihnen auf der gleichen Bühne saß, kein Wort und überließ es seinen Gefolgsleuten, mit Beleidigungen und Drohungen zu reagieren:
„Unsere Anklagen enthielten zusammengedrängt, was ich bisher hier gegen Schweitzer vorgebracht habe. Mehrere Male erfolgten heftige Unterbrechungen, namentlich als ich Schweitzer als Regierungsagent bezeichnete. Ich solle das Wort zurücknehmen. Dessen weigerte ich mich. (…) Schweitzer, der während unserer Reden auf dem Podium hinter uns saß, erwiderte kein Wort. So verließen wir den Saal, wobei einige Delegierte vor und hinter uns gingen, um uns vor Tätlichkeiten der fanatisierten Anhänger Schweitzers zu schützen. Aber Schmeichelworte wie Schufte, Verräter, Lumpe, euch sollte man die Knochen im Leibe zerschlagen usw., bekamen wir bei dem Gange durch das lebende Spalier in Menge zu hören. Auch machte einer der Anwesenden den Versuch, mich beim Heruntersteigen vom Podium durch einen Stoß in die Kniekehle zu Fall zu bringen. Vor der Tür nahmen uns unsere Freunde in Empfang, um uns als Schutzgarde nach unserem Hotel zu geleiten.“[13]
Und man kann noch das Beispiel von Parvus erwähnen, dem Gorki vorwarf, Geld für die Rechte an seiner Arbeit in Deutschland erschwindelt zu haben. Und Parvus wurde von Trotzki[14], der anfangs sein Freund gewesen war, als Abenteurer und Sozialpatriot angeprangert. Derselbe Parvus wurde von Rosa Luxemburg, Clara Zetkin und Leo Jogiches abgelehnt, die ihn als eine Person sahen, die vom deutschen Imperialismus gekauft worden war. Lenin hinderte Parvus daran, nach der Revolution nach Petrograd zurückzukehren, weil er „schmutzige Hände“ hatte; und Parvus, der nie seine Verteidigung gegen all diese Vorwürfe aufnahm, überließ es anderen (insbesondere Radek), ihn inmitten der Exilanten in der Schweiz zu verteidigen (1915).
Und wir könnten die Liste fortsetzen mit Lassalle, Asew ..., usw.; alle versuchten sie, die Anschuldigungen gegen sie mit einer Mauer des Schweigens vergessen zu machen, unterzutauchen oder zu tun, als ob nichts geschehen wäre (wie Parvus).
Aber es besteht keine Notwendigkeit, soweit zurückzugehen; 2005 konnten wir sehen, wie „Bürger B“, der sich „einstimmig“ (er war schließlich auch das einzige Mitglied) als „Kreis der Internationalistischen Kommunisten“ (Círculo de Comunistas Internacionalistas) Argentiniens proklamierte und sich in den Dienst der IFIKS[15] (jetzt die Internationale Gruppe der Kommunistischen Linken – GIGC –) stellte, um die IKS zu verunglimpfen, um von der Bühne zu verschwinden, sobald wir seinen Betrug anprangerten.[16] Es gibt auch Beispiele für ‚Krisen‘ des Schweigens, wenn die IKS Abenteurer in unseren Reihen angeprangert hat. Dies war der Fall bei der Entblößung und Bestrafung des als Simon[17] bekannten Mitglieds der IKS, auf die er mit einem hartnäckigen Schweigen reagierte, das uns damals dazu bewog, eine „Resolution über das Schweigen des Genossen Simon“ zu verfassen, in der es hieß: „1) Seit Genosse Simon Ende August 1994 sich aus dem Leben der IKS zurückzog, ist er nie der Forderung der Organisation nachgekommen, die Meinungsverschiedenheiten, die er mit unseren Analysen und Stellungnahmen hatte und die seiner Meinung nach zum Teil seinen Rückzug motivierten, schriftlich zu formulieren ... Dieses Schweigen Simons ist umso unzulässiger, als er grundlegende Meinungsverschiedenheiten mit den beiden Resolutionen hatte, die von der erweiterten Sitzung des Internationalen Sekretariats am 3. Dezember 1994 angenommen wurden.“
Aber dieses hartnäckige Schweigen der Abenteurer und zwielichtigen Leute, wenn sie auf frischer Tat ertappt werden, ist nicht nur eine Bestätigung der gegen sie erhobenen Vorwürfe oder ihr Versuch, sie vergessen zu machen, sondern auch eine Strategie, die andere zu ihrer Verteidigung bewegen soll.
Während Gaizka seit der Veröffentlichung unserer Entblößung nicht gesagt hat: „Das bin ich“, haben seine Freunde keine Zeit verloren, ihn zu verteidigen. Und so veröffentlichte die oben erwähnte GIGC nur 4 Tage später eine Erklärung: Neuer IKS-Angriff auf das internationale proletarische Lager (1. Januar - sic - 2020)[18].
Es überrascht uns nicht, dass eine Parasitengruppe mit Gangster- und polizeiähnlichem Verhalten einen Abenteurer in Schutz nimmt. Sie tat dies bereits 2005, als sie sich für den argentinischen Bürger B einsetzte. Und vielleicht sollten wir uns an den Gedanken gewöhnen, dass die GIGC eine Art Sehergabe hat, wenn sie damals ein Kommuniqué des „Círculo“ Argentiniens veröffentlichte und verbreitete – bevor Bürger B es auf seiner Website kundtat. Bedauerlich ist, dass die GIGC (damals FICCI=IFIKS) das IBRP[19](heute die IKT) überlistet hat, denn damals hat das IBRP wenn auch diskret, ohne direkt das Wort zu ergreifen, die Kommuniqués der IFIKS / des Bürgers B veröffentlicht, in denen die IKS verunglimpft worden ist, und so ein inakzeptables, für Kommunisten unwürdiges Verhalten der einen wie des anderen gefördert.
Natürlich leugnet die GIGC in ihrem Kommuniqué nicht, was wir in unserem Artikel anprangern, mit Ausnahme der Aussage, dass sie „nichts bemerkt haben“: „Wir müssen darauf hinweisen, dass wir bisher keine Provokationen, Manöver, Verunglimpfungen, Verleumdungen oder Gerüchte bemerkt haben, die von den Mitgliedern von Nuevo Curso, auch nicht in individueller Eigenschaft, ausgegangen wären, noch eine Politik der Zerstörung gegen andere Gruppen oder revolutionäre Kämpfer.“ Verweilen wir einen Moment bei dieser Bemerkung.
In Wirklichkeit will die GIGC mit ihrem Kommuniqué die IKS angreifen, da aus der Sicht der GIGC es die IKS gewesen sei, „die diese Praktiken unter dem Deckmantel ihrer Theorie des Zerfalls und des Parasitismus entwickelt hat und nun zu ihr zurückkehrt“. Und darüber hinaus hätte sich die IKS „auf den ekelhaften Pfad der Personalisierung politischer Themen“ begeben.
Auf der Pantópolis-Website des Herrn Doktor Bourrinet[20]wurde der Artikel sofort weiter veröffentlicht. Dazu wurde eine Einleitung verfasst, die mit der GIGC in deren Hass auf die IKS noch wetteifert und diesen sogar noch übersteigt.
Die andere Gruppe, die unsere Gaizka-Entblößung verurteilte, war die GCCF[21], die sagte[22]: „Wir können dieses empörende und unmoralische Stück erstklassigen Klatsches, das völlig personalisiert ist und nicht auf politischen Gründen beruht, nur verurteilen“[23].
Kurz gesagt, zwei Vorwürfe: 1) dass nicht Gaikza, sondern die IKS sich basierend auf Verunglimpfung und Provokation unwürdig gegenüber dem Proletariat, verhalten würde; 2) dass in unserer Entblößung die Ebene der politischen Fragen durch die Auseinandersetzung um Personen ersetzt würden.
Es ist nicht das erste Mal, dass angesichts der unnachgiebigen Verteidigung des proletarischen Milieus und der Anprangerung unwürdigen Verhaltens revolutionäre Organisationen mit Verleumdungen wegen ihres „Autoritarismus“ und ihrer „Manöver“ angegriffen werden, als wären sie diejenigen, die die gleichen Mittel wie die entlarvten Abenteurer und Provokateure einsetzten. Das war in der IAA der Fall: „Nachdem sie die historische Gefahr begriffen hat, die die von der Ersten Internationalen gezogenen Lehren für ihre eigenen Klasseninteressen darstellen, unternahm die Bourgeoisie in Erwiderung auf die Enthüllungen des Haager Kongresses alles, um diese Bemühungen zu diskreditieren. Die bürgerliche Presse und bürgerliche Politiker erklärten, daß der Kampf gegen den Bakunismus nicht ein Kampf ums Prinzip, sondern ein schmutziger Machtkampf innerhalb der Internationalen gewesen sei. Demnach ging es Marx nur darum, seinen Rivalen Bakunin durch eine Lügenkampagne auszuschalten. Mit anderen Worten, die Bourgeoisie versuchte die Arbeiterklasse davon zu überzeugen, daß ihre Organisationen auf genau dieselbe Weise funktionierten und somit nicht besser seien als jene der Ausbeuter. Die Tatsache, daß die große Mehrheit der Internationalen Marx unterstützte, wurde dem ''Triumph des Autoritätsglaubens'' in ihren Reihen und der angeblichen Neigung ihrer Mitglieder zugeschrieben, überall Feinde der Assoziation lauern zu sehen. Die Bakunisten und die Lassalleaner verbreiteten Gerüchte, wonach Marx selbst ein Agent Bismarcks gewesen sei.“[24]
Bakunin selbst zögerte nicht, den Kampf der Internationale zur Verteidigung ihrer Statuten und ihrer Funktionsweise gegen den Sektengeist und ihre Intrigen als „Kampf der Sekten“ darzustellen: „So behauptet Bakunin in seinem ''Brief an die Brüder in Spanien'', daß die Resolution der Londoner Konferenz von 1872 gegen Geheimgesellschaften, die insbesondere gegen die Allianz gerichtet war, von der Internationalen nur angenommen worden sei, ''um den Weg für ihre eigene Verschwörung freizumachen, für die Geheimgesellschaft, die seit 1848, gegründet von Marx, Engels und dem verstorbenen Wolff, unter der Führung von Marx existiert hat, und die nichts anderes ist als die fast ausschließlich deutsche Gesellschaft der autoritären Kommunisten (...) Man muß feststellen, daß der Kampf, der inmitten der Internationalen ausgebrochen ist, nichts anderes ist als ein Kampf zwischen zwei Geheimgesellschaften.''[25]
In der Weltsicht solcher Leute wie Bakunin, der GIGC oder Gaizka gibt es keinen Platz für Ehrlichkeit, Organisationsprinzipien oder proletarische Moral; sie projizieren nur ihre eigene Art des Verhaltens auf andere. Wie die (spanische) Volksweisheit sagt: „Der Dieb meint, sie stehlen alle.“
Doch „weitaus ernster und gefährlich ist es, wenn solche Verunglimpfungen ein gewisses Echo innerhalb des revolutionären Lagers selbst erzeugen. Dies war bei Franz Mehrings Biographie von Marx der Fall. In diesem Buch erklärte Mehring, der dem erklärten linken Flügel der Zweiten Internationalen angehörte, daß die Broschüre des Haager Kongresses über die Allianz ''unentschuldbar'' und ''der Internationalen unwürdig'' gewesen sei. In seinem Buch verteidigte Mehring nicht nur Bakunin, sondern auch Lassalle und Schweitzer gegen die von Marx und den Marxisten erhobenen Anschuldigungen.“[26]
„Mehrings Diskreditierung des marxistischen Kampfes gegen den Bakunismus und Lassalleanismus sollten eine zerstörerische Wirkung auf die Arbeiterbewegung der kommenden Jahrzehnte erhalten. Nicht nur, daß sie sie zu einer teilweisen Rehabilitierung politischer Abenteurer wie Bakunin oder Lassalle führte. Vor allem erlaubte sie es dem opportunistischen Flügel der Sozialdemokratie vor dem 1. Weltkrieg, die Lehren der großen Kämpfe zur Verteidigung revolutionärer Organisationen, die in den 1860er und 1870er Jahren ausgefochten wurden, in die Vergessenheit zu verbannen. Dies war ein entscheidendes Element in der opportunistischen Strategie, die Bolschewiki innerhalb der Zweiten Internationalen zu isolieren, deren Kampf gegen den Menschewismus in dieser großen Tradition stand. Auch die Dritte Internationale litt unter Mehrings Legitimierung. So berief sich Stoecker in einem Artikel mit dem Titel ''Bezüglich des Bakunismus'' auf Mehrings Kritik an Marx, um die gefährlichsten und abenteuerlichsten Aspekte der März-Aktion von 1921 durch die KPD in Deutschland zu rechtfertigen.“[27]
Aber gehen wir zum zweiten Vorwurf über, dem der Personalisierung politischer Themen, genauer gesagt „Geschwätz und Privatangelegenheiten“ aufzutischen.
Zunächst einmal beruhte unsere Anprangerung nicht auf der Ausbreitung privater Dinge, sondern darauf, öffentliches politisches Verhalten aufzudecken, was umfassend dokumentiert ist. Was wir über Gaizka enthüllt haben, sind Tatsachen, die zur Sphäre der öffentlichen Aktion bürgerlicher Politiker gehören und die deshalb von kommunistischen Militanten sorgfältig bedacht werden sollten. Was tat ein Individuum, das wiederholt die hochrangigen politischen Kreise des bürgerlichen Staates aufgesucht hatte, im Bereich der kommunistischen Linken?
Nun gibt es zweitens „private“ Tatsachen (Intrigen, Manöver, geheime Kontakte, undurchsichtige Beziehungen usw.), deren Kenntnis notwendig ist, um destruktive Aktionen gegen das Proletariat oder gegen revolutionäre Organisationen zu verstehen und anprangern zu können. Sie anzuprangern hat nichts mit Klatsch zu tun. Und statt sie selbst zu beantworten, lassen wir Engels reden. In einem der vielen Artikel, die Marx und er selbst zur Verteidigung der 1. Internationale schreiben mussten, die von der gesamten bürgerlichen Presse und von den Provokateuren und Anhängern Bakunins beschuldigt und von den unentschlossenen Mitgliedern selbst in Frage gestellt wurden, antwortete Engels auf einen Artikel der Vperyod[28] von Peter Lawrowv[29], der den Bericht der Kommission des Haager Kongresses über „Die Allianz der Sozialistischen Demokratie und die IWA“[30] in Frage stellte, weil es eine „ätzende Polemik über persönliche und private Angelegenheiten mit Informationen, die nur aus Klatsch und Tratsch stammen können“ wäre. Dazu schrieb Engels folgendes:
„Die Hauptanklage ist aber die, daß der Bericht voll von Privattatsachen sei, deren Glaubwürdigkeit für die Verfasser nicht unbestreitbar sein durfte, weil sie nur durch Hörensagen gesammelt werden konnten. Woher Freund Peter weiß, daß eine Gesellschaft, wie die Internationale, die ihre regelmäßigen Organe in der ganzen zivilisierten Welt besitzt, dergleichen Tatsachen nur durch Hörensagen sammeln kann, wird nicht gesagt. Seine Behauptung ist jedenfalls höchst leichtfertig. Die fraglichen Tatsachen sind beglaubigt durch authentische Beweisstücke, und die Betreffenden haben sich wohl gehütet, sie zu bestreiten.
Aber Freund Peter [31] ist der Ansicht, daß Privattatsachen wie Privatbriefe heilig seien und nicht in politischen Debatten veröffentlicht werden dürfen. Wenn man dies so unbedingt gelten lassen will, so verbietet man damit jede Geschichtsschreibung. (…) Und wenn man die Geschichte einer Bande beschreibt, wie die Allianz, in der sich neben den Betrogenen eine solche Menge Betrüger, Abenteurer, Spitzbuben, Polizeispione, Schwindler und Feiglinge finden, soll man diese Geschichte fälschen, indem man die einzelnen Schuftereien dieser Herren als „Privattatsachen“ wissentlich verheimlicht? Freund Peter mag sich darob entsetzen, aber er kann sich darauf verlassen, daß wir mit diesen „Privattatsachen“ noch lange nicht fertig sind. Das Material häuft sich immer mehr.
Wenn aber das „Vorwärts“ den Bericht als ein wesentlich aus Privattatsachen zusammengesetztes Machwerk schildert, so begeht es eine Handlung, die schwer zu bezeichnen ist. Der Mann, der so etwas schreiben konnte, hatte entweder die fragliche Schrift gar nicht gelesen; oder er war zu beschränkt oder zu voreingenommen, sie zu verstehn; oder aber er schrieb etwas, von dem er wissen mußte, daß es nicht richtig war. Niemand kann das „Komplott gegen die Internationale“ lesen, ohne sich zu überzeugen, daß die darin eingestreuten Privattatsachen das Allerunwesentlichste sind, Illustrationen zur näheren Bezeichnung der dann vorkommenden Charaktere, und daß sie alle gestrichen werden können, ohne daß der Hauptzweck der Schrift darunter leidet. Die Organisation einer geheimen Gesellschaft, mit dem einzigen Zweck, die europäische Arbeiterbewegung der verborgenen Diktatur einiger Abenteurer zu unterwerfen, die zu diesem Zweck, besonders durch Netschajew in Rußland, begangenen Infamien - darum dreht sich das Buch, und zu behaupten, es drehe sich bloß um Privatsachen, ist, gelinde gesagt, unverantwortlich.“ [32]
Können wir im Proletarischen Politischen Milieu eine Person tolerieren, die mit hohen Funktionären des bürgerlichen Staates Kontakte gepflegt und zusammengearbeitet hat? Können wir glauben, dass jemand wie er sich jetzt als Vertreter der Kommunistischen Linken präsentiert? Können wir Organisationen des Proletariats aufbauen und die zukünftige Partei der Revolution vorbereiten, wenn wir Personen wie diese so handeln lassen?
Gaizkas bissiges Schweigen ist eine Bestätigung seiner Zusammenarbeit mit dem bürgerlichen Staat, so wie wir sie entblößt haben. Seine Dienste für die PSOE[33] und später eine Zeitlang für die Liberalen, seine Kontakte zur Kommunistischen Linken und sein Verschwinden, als problematische Aspekte seines Verhaltens für eine kommunistische Militanz[34] untersucht wurden, entsprechen dem Werdegang eines Abenteurers.
Eine Gruppe, die um ein solches Element herum gebildet wurde und sich als Teil der Kommunistischen Linken ausgibt, kann nur ein Ziel haben: als eingeschleustes Trojanisches Pferd das Erbe der proletarischen Tradition und ihrer programmatischen und organisatorischen Prinzipien, die von den Organisationen der Kommunistischen Linken vertreten und verteidigt werden, zu entstellen und zu untergraben. Dies ungeachtet der möglichen Ehrlichkeit einzelner Mitglieder der Gruppe um Gaizka, die sich vielleicht haben täuschen lassen.
In diesem Sinne und trotz aller Unterschiede gilt, was schon Engels über Bakunin sagte, nämlich er wollte verdeckt mittels der Internationale, die die Arbeiterbewegung in Europa zusammenfasste, dieser seine Diktatur aufzuzwingen; ähnlich will Gaizka heute, verborgen hinter einer Gruppe (Nuevo Curso), in der es möglicherweise im Trüben fischende Leute gibt, ein Anlaufpunkt der Kommunistischen Linken sein, besonders für junge Leute auf der Suche nach proletarischen politischen Positionen. Aber seine Verbindung zur Kommunistischen Linken kann deren Positionen nur entstellen, indem er linke oder stalinistische Prinzipien und Methoden von Abenteuern als linke Positionen ausgibt.
Bei diesem kriminellen Unterfangen erhält Gaizka die organisierte Unterstützung der Parasiten- und Gangstergruppe der GIGC, die ihn gerade als Verfechter der Umgruppierung darstellt, aber auch das stille Einverständnis von anderen Gruppen im proletarischen Milieu durch ihr Schweigen angesichts seiner Initiativen.
IKS 11.04.2020
[2] Wir meinen die Gruppe Groupe International de la Gauche Comuniste (GIGC) und die Webseite von Herrn Bourrinet: Pantópolis
[3] Ein Mitglied der Bremer Linken während der revolutionären Kämpfe in Deutschland; er war Delegierter der Internationaler Kommunisten Deutschlands am Gründungskongress der KPD.
[4] Paul Frölich, Im radikalen Lager, S. 51, Berlin, 2013
[5] In diesem Buch, für dessen Fertigstellung er ein Jahr brauchte, verteidigte Marx nicht nur sich selbst gegen die Schurkenvorwürfe von Vogt, sondern auch den Bund der Kommunisten, obwohl er sich bereits aufgelöst hatte. Die Verteidigung der Tradition, die dieser verkörperte, des Kommunistischen Manifests, der Organisationsprinzipien, der Kontinuität der Arbeiterbewegung, war jedoch von entscheidender Bedeutung; im Gegensatz zu all jenen, die der Meinung waren, dass Marx seine Zeit mit Kleinigkeiten verschwendet hätte, oder sogar sein gutes politisches Urteilsvermögen verloren habe und seine uneigennützige Hingabe an den Kampf des Proletariats.
[6] Siehe Marx/Engels Werke Bd. 14,
[7] Da Stalin jede Spur der Kräfte des Arbeitermilieus aus der Revolutionszeit vernichtet hatte, musste sich die Kommission hauptsächlich aus Mitgliedern der Intelligenz und Kultur zusammensetzen, die für ihre Unabhängigkeit der Meinung und ihre Ehrlichkeit bekannt waren. Dewey war einer von ihnen. Die Sitzungen der Kommission fanden in Mexiko statt.
[8] Jacques Freymond, La Primera Internacional, Ed. ZERO 1973, S. 355, Übersetzung IKS
[9] Der Bericht wurde bei einer Untersuchungskommission des Haager Kongresses der IAA (1872) in Auftrag gegeben. Nachdem der Kongress den Bericht angehört und diskutiert hatte, traf er die Entscheidung, Bakunin und einige seiner Anhänger aus der Internationale auszuschließen.
[10] Übersetzung der IKS
[11] Siehe dazu unseren Artikel: https://de.internationalism.org/content/2898/lassalle-und-schweitzer-der-kampf-gegen-politische-abenteurer-der-arbeiterbewegung [26]
[12] Bebel, Aus meinem Leben, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/bebel/1911/leben2/ [27]
[14] Siehe Nashe Slovo nº 2: «Epitaphy for a living friend»
[15] „Interne Fraktion der IKS/ IFIKS- FICCI)“, eine parasitäre Gruppe, die aus der IKS ausgeschlossen wurde, weil sie sich weigerte, ihre Positionen und Handlungen vor der Berufungskommission zu verteidigen, die vom 15. Kongress der IKS eingesetzt worden war. Eines der prominenten Mitglieder der IFIKS, bekannt als Jonas, war zuvor wegen eines Verhaltens, das einer revolutionären Militanz unwürdig war, ausgeschlossen worden. Siehe Außerordentliche Konferenz der IKS: Der Kampf für die Verteidigung der organisatorischen Prinzipien, /content/690/ausserordentliche-konferenz-der-iks-der-kampf-fuer-die-verteidigung-der [29]; sowie ‘Interne Fraktion’ der IKS – ein Betrugsversuch an der Kommunistischen Linken, auf Spanisch: https://es.internationalism.org/revista-internacional/200604/834/fraccion-interna-de-la-cci-intento-de-estafa-a-la-izquierda-comunis [30]
[16] Siehe ‘Círculo de Comunistas Internacionalistas’ (Argentinien): Was er ist und welche Funktion er hat, auf Spanisch: https://es.internationalism.org/accion-proletaria/200602/471/circulo-de-comunistas-internacionalistas-argentina-que-es-y-que-funcion [31]
[17] Simon wurde wegen eines mit kommunistischer Militanz unvereinbaren Verhaltens vom 11. Kongress der IKS ausgeschlossen.
[18] Es ist offensichtlich ein Fehler, wenn die GIGC ihren Artikel gegen die IKS auf den 1. Januar datiert, wo wir unsere Frage an Gaizka erst am 20. Januar verfassten und am 28. Januar veröffentlichten – siehe Fußnote 1
[19] Internationales Büro für die Revolutionäre Partei, Tendenz Damen, jetzt Internationalistische Kommunistische Tendenz (IKT)
[20] Doktor Bourrinet – Hochstapler und selbst ernannter Historiker, https://de.internationalism.org/iksonline/konferenz-marseille-ueber-die-kommunistische-linke-doktor-bourrinet-hochstaple [32]
[21] Gulf Coast Communist Fraction
[22] Wir beabsichtigen keinesfalls, die GIGC/Bourrinet und die GCCF mit dem gleichen Maßstab zu beurteilen. Die GIGC ist eine Parasitengruppe, die nur existiert, um die IKS anzugreifen, und selbst wenn wir einen Artikel veröffentlicht hätten, in dem Mata Hari angeprangert wäre, würden sie sagen, dass sie „nichts bemerkt haben“, um direkt zum Angriff überzugehen. Dasselbe kann man von Bourrinet sagen. Die GCCF ist eine junge Gruppe ohne Erfahrung und auf der Suche nach Klärung, anfällig für die Schmeicheleien von Gaizka und der GIGC/Bourrinet.
[23] „we have nothing but condemnation for this egregious and immoral hit-piece of personalized gossips completely removed from a political terrain“
[24] Bakunismus und die Erste Internationale, Der Kampf des Marxismus gegen das politische Abenteurertum, Internationale Revue Nr. 20, Herbst 1997
[25] Ebenda
[26] Ebenda
[27] Ebenda
[28] Vperyod (Vorwärts) war eine in Großbritannien auf russisch erschienene Zeitung, Tendenz Narodniki
[29] Lawrow Pjotr Lawrowitsch (1823-1900): russischer Philosoph, Soziologe und Journalist, Anhänger der Narodniki (Volkstümler); Mitglied der 1. Internationalen; er nahm an der Pariser Kommune teil.
[30] Marx, Engels, MEW 18, Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiter-Association, Im Auftrage des Haager Kongresses verfasster Bericht über das Treiben Bakunins und der Allianz der sozialistischen Demokratie, S. 327
[31] Engels bezieht sich also auf Pjotr Lawrow, wie er zu Beginn des Artikels erklärt, um die Anonymität zu respektieren, die jener gewissenhaft von ihm verlangt und die dieser verspottet, da der wirkliche Name des Vperjod-Redakteurs sowohl in Großbritannien als auch in Russland gut bekannt ist; er schlägt daher vor, den Autor als Pjotr Lawrow zu bezeichnen, „ein sehr populärer Name in Russland“.
[32] Friedrich Engels, MEW 18, Flüchtlingsliteratur, III, S. 539.
[33] Partido Socialista Obrero Español – die spanische Sozialdemokratie
Die ganze Welt wird von einer neuartigen Pandemie bedroht: Der neue Riese China versucht es erst mit Totschweigen und dann mit der ganzen Macht seiner diktatorischen, staatskapitalistischen Maschine; dann erwischt es Länder im Herzen des historischen Kapitalismus: Italien, Spanien, Frankreich und Großbritannien. Die Pandemie kennt keine Grenzen und überrascht völlig unvorbereitete Länder, nahezu 200.000 Menschen sterben (zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels), der Gesundheitsapparat kollabiert in mehreren Regionen. Aktuell wird die bröckelnde Weltmacht der untergegangenen Epoche des Kalten Krieges USA erschüttert[1]. Und Deutschland? Nachdem in der ersten Phase die Behörden ähnlich unvorbereitet waren und zögerlich reagierten, ging man anschließend entschlossener vor und hinterließ international den Eindruck, dass man bei der Bekämpfung und Verwaltung der Pandemie erfolgreicher agierte und neben Südkorea nahezu als erfolgreiche Ausnahme erscheint.[2] Als Gradmesser werden insbesondere die Verfügbarkeit und Auslastung der Intensivbetten und die Anzahl der Todesfälle angeführt (die zum Zeitpunkt des Schreibens des Artikels die 5.000 Marke übersprungen hat).
Warum ist Deutschland gerade noch knapp an ähnlich katastrophalen Zuständen wie in anderen Ländern vorbei geschrammt?
Ähnlich wie in Italien, Spanien, Frankreich oder Großbritannien wurde der Gesundheits- und Pflegebereich in den letzten Jahren zielstrebig umstrukturiert, teilweise privatisiert, und auf Teufel komm raus wurden Kosten eingespart.[3] So wurden zum Beispiel Krankenhäuser zu reinen „Investitionsanlagen“ für Hedgefonds, von denen die höchstmögliche Rendite erwartet wurde. Deutschland war in diesem Umbau sogar eher Vorreiter als Nachtraber. Der gleichzeitig angestoßene Umbau und damit die Kürzungen im Sozialbereich (Agenda 2010, Hartz IV) aber auch die Umstrukturierung ehemaliger Staatsbetriebe (Deutsche Post, Telekom, Deutsche Bahn usw.) legten mit die Grundlagen dafür, dass Deutschland, gestützt auf seine industrielle Potenz und Exportfähigkeit, entgegen der Tendenz der sich zuspitzenden Krise im internationalen Vergleich geradezu zum Profiteur der letzten 15 Jahre werden konnte.
Wenn wir uns nun genauer dem Gesundheits- und Pflegesektor zuwenden, so stellen wir fest, dass heute bereits 37% der Krankenhäuser privatisiert sind. Doch entscheidender ist, dass die Betreibung der Krankenhäuser für alle Träger (also auch die öffentlichen und kirchlichen) sehr stark durchkapitalisiert wurde. Dies betrifft z.B. die Rationalisierung der Arbeitsprozesse, die Abrechnung mit den Krankenkassen (Fallpauschalen) und die Schließung von Krankenhäusern. Während es 1998 in Deutschland noch 2263 Krankenhäuser gab, sind diese von 2007 auf 2087 und im Jahr 2017 auf 1942 Krankenhäuser reduziert worden. Heute sind es noch rund 1400. Entsprechend wurde die Zahl der Krankenhausbetten innerhalb von zehn Jahren um rund 10.000 reduziert, von 506.954 (2007) auf 497.200 (2017). Trotz erhöhter Arbeitsintensität ist das Pflegepersonal seit 1993 abgebaut worden.[4]
Eine ähnliche Tendenz ist in den Pflegeheimen zu erkennen, bei gleichzeitiger Alterung der Bevölkerung. Die Ausbeutung der Pflege- und Gesundheitskräfte ist massiv gestiegen. Schon 2016 wurde vorhergesagt, dass 2025 zwischen 100.000 und 200.000 ausgebildete Pflegekräfte fehlen würden, gleichzeitig sank die Attraktivität des Pflegeberufs aufgrund der katastrophalen Arbeitsbedingungen[5], so beträgt die Verweildauer im Beruf der Altenpflege gerade einmal 8 Jahre, die diversen internationalen Anwerbeversuche können auch mit dem Land, wo Milch und Honig fließt, nicht locken.[6] Das heißt, die Leute hauen ab, wechseln den Beruf, sobald es möglich ist, da u.a. den Schichtdienst, die kurzfristig geänderten Dienstpläne und insbesondere die Konfrontation mit den unmenschlichen Arbeitsbedingungen niemand lange aushält.
Die kapitalistische Realität in den Gesundheitsfabriken war bereits vor der Pandemie auch in Deutschland strukturell menschenverachtend. Die Krankenhäuser sollen die kranken Arbeitskräfte für die weitere Verwertung zusammenflicken und möglichst schnell wieder ausspucken. Das schlecht bezahlte und von einem strengen Arbeitsregime getaktete Personal musste aus den Billiglohngebieten angeworben werden.
Wie in der Wirtschaft insgesamt, wo ein immer höherer Anteil an Maschinen zum Einsatz kommt (eine immer höhere organische Zusammensetzung des Kapitals), ist auch im Bereich der Medizin der Anteil der „Apparatemedizin“ ständig gestiegen.
Die Medizintechnologie produziert eine immer teurere und technisch komplizierte Medizinapparatur, die in den Gesundheitsfabriken eingesetzt wird und Gewinn generieren muss, jedoch nur von hoch ausgebildeten Fachkräften bedient werden kann. Diese neuen Apparate und Techniken können einen gewaltigen Fortschritt im Bereich der Diagnose und der Behandlungsmöglichkeiten bieten, aber aufgrund der in ihnen steckenden gewaltigen Kosten der Anschaffung, Unterhaltung und Bedienung verschärfen sie den Zwang, dass immer mehr Patienten „durchgeschleust“ werden müssen, um die Geräte zu amortisieren, das Personal zu bezahlen und schließlich Gewinn abzuwerfen.
Gleichzeitig hat die Medizin im 21. Jahrhundert die alte Geißel der Erkrankung (und den Tod) im Krankenhaus durch mangelnde Hygiene, an der im 19. Jahrhundert vor Einführung moderner Hygienetechniken die meisten Krankenhauspatienten starben, nicht abschütteln können. Dem Robert-Koch-Institut zufolge sterben jährlich schätzungsweise bis zu 20.000 Menschen durch Krankenhauskeime, verursacht von jährlich geschätzten ca. 600.000 Krankenhausinfektionen.[7]
Letztendlich bedeutet das, dass die Patienten zum einen nur als „Kunden“ im Gesundheitsbetrieb in Erscheinung treten, denen man möglichst viel „Leistung“ zu verkaufen versucht, und die Beschäftigten wie Zitronen ausgepresst werden, um die Akkumulation in der Gesundheitsbranche auf das höchstmögliche Niveau zu pushen. Der Patient tritt dem Pfleger als Ware gegenüber, die soziale Beziehung wird zur Dienstleistung, der Arbeitsprozess unterliegt einem enormen Zeitdruck und Zwang. Diese Pervertierung beschreibt sehr gut, was Marx als Versachlichung, Entmenschlichung und Ausbeutung analysierte hat. Der eigentliche Zweck der Tätigkeit (der Gebrauchswert), die Heilung und/oder die Pflege der Menschen, treten in den Hintergrund. Die Fixierung von unterversorgten Menschen in Pflegeheimen, die allgemeine Verwahrlosung unter anderem durch zu geringen Personalbestand, eklatante Missstände, die lange Zeit unerkannt bleiben[8], die Infragestellung oder Verweigerung von bestimmten Operationen für ältere Menschen sind Ausdruck dieser strukturellen Unmenschlichkeit, die nur durch die proletarische Solidarität und Aufopferung von einzelnen PflegearbeiterInnen angesichts dieser täglichen und strukturellen Entmenschlichung und Versachlichung aufgebrochen wird. Schon vor dem Ausbruch der Pandemie stießen gesellschaftlichen Widersprüche eines verrottenden Systems in den Gesundheitsfabriken besonders krass aufeinander.
Medizinhistoriker und Epidemiologen warnen schon lange, dass die Gefahr von weltweiten Pandemien zunimmt. Dazu kommt, dass die Lebensbedingungen im Kapitalismus die negativen und zerstörerischen Kräfte solcher Pandemien verstärken: die Zerstörung natürlicher Lebensräume für Wildtiere, deren Verkauf und Verzehr ohne entsprechende veterinärmedizinische Kontrollen, die Industrialisierung der Agrarindustrie und im speziellen der Tierhaltung[9], die Urbanisierung, die sich hauptsächlich als „Slumisierung“ durchsetzt usw. verstärken die Tendenz der Viren, die Artengrenzen zu überspringen[10].
Weltweit wurden in Erwartung solcher Pandemien Untersuchungen, Planspiele und Notstandsübungen durchgeführt, so auch in Deutschland 2012. Es wurde ein "außergewöhnliches Seuchengeschehen" durchgespielt: “Anti-epidemische Maßnahmen, phasenorientierte Handlungsempfehlungen, Krisenkommunikation, behördliche Maßnahmen, Abschätzung der Auswirkungen auf die genannten Schutzgüter, Verfolgung der Entwicklung der Ausbreitung und der Zahl der Neuerkrankungen etc. etc. “[11] Wenn wir die ersten Wochen der Reaktion auf die Krise beobachten, und wenn wir all die Hinweise auf viel zu wenig vorhandene Schutzausrüstung, Notfallkapazitäten, Personal usw. zusammen nehmen, dann können wir dies nur als ein unverantwortliches Handeln der politischen Klasse begreifen. Krankenbetten, Personal, Infrastruktur, Ausrüstung wurde in vielen Bereichen gekürzt anstatt präventiv aufgebaut. Ein Krankenpfleger aus Berlin berichtet von selbst gebastelter Schutzkleidung[12], mehrere Berliner Krankenhäuser schreiben einen gemeinsamen Appell, die Berliner Krankenhausgesellschaft forderte Freiwillige auf, Masken zu nähen, PflegearbeiterInnen, die sich beschweren, werden mit Repression konfrontiert ... [13]Auch in Deutschland entblößt sich die destruktive “Natur” des Kapitalismus, die schon im Normalfall tötet und nun angesichts einer weltweiten Pandemie das wissenschaftlich mögliche verweigert. Dies löst Empörung bei den ArbeiterInnen an vorderster Front auf, viele weisen das verlogene Lob der Politiker und den symbolischen Applaus zurück. In Mittelbaden sollen schon die ersten Pfleger aufgrund der fehlenden Schutzausrüstung gekündigt haben[14], in Brandenburg wurde Anfang April in einem offenen Brief Schutzkleidung eingefordert und klar analysiert: „Unsere Krankenhäuser wurden zu Fabriken und Gesundheit zur Ware“[15].
Da mag es verblüffen, dass die Sterblichkeitsrate in Deutschland noch viel geringer ist als in Italien, Spanien und Frankreich[16].
Es gibt viele Faktoren, die beim besonderen Verlauf der Pandemie in Deutschland berücksichtigt werden müssen. Man kann zum Beispiel gewissermaßen gar von einigen glücklichen Umständen sprechen, denn die ersten Fälle konnten noch unmittelbar lokalisiert und damit schnell isoliert werden. Zweitens betraf anfangs eine große Welle hauptsächlich junge und sportliche Skiurlauber, drittens ist die Familienstruktur in Deutschland eine andere als in Italien und Spanien, wo viele Großeltern nah mit ihren Kindern und Enkelkindern zusammen leben und viertens ist das Gesundheitssystem trotz all der Einsparungen und Umstrukturierungen immer noch deutlich besser ausgestattet als in den anderen Ländern Europas[17] und gar weltweit.
Der entscheidende Faktor ist jedoch die Fähigkeit der deutschen Bourgeoisie, sich nach den ersten Wochen der Desorientierung viel stärker und geschlossener zu mobilisieren als in anderen Ländern. Deutschland als Gewinner und Motor der EU verfügt immer noch über eine stabile Wirtschaft und über eine politische Klasse, die zwar nicht frei ist von den auflösenden Tendenzen und von dem Drang zu unverantwortlichem Verhalten, der im Zerfall immer weiter um sich greift[18], dennoch hat beispielsweise der Populismus hier im Gegensatz zu fast allen anderen europäischen Ländern (und den USA) noch nicht den politischen Apparat ausgehöhlt. Und als weiterer zentraler Faktor der Mobilisierungsfähigkeit der herrschenden Klasse muss die besonders starke Rolle der Gewerkschaften in Deutschland hervorgehoben werden. Zwar war die deutsche Automobilindustrie durch Schwierigkeiten in den globalen Lieferketten (insbesondere durch die Verknüpfung mit China und dann Italien) bereits frühzeitig für die Auswirkungen durch den Corona-Virus sensibilisiert worden, doch es bedurfte des Weckrufs des Betriebsratsvorsitzenden Bernd Osterloh, um bei VW Hals über Kopf die Werke bereits am 17. März (vor dem offiziellen politischen Shutdown durch die Bundesregierung!) zu schließen[19]. VW mit seiner historisch engen Verquickung von Staat-Land und Kapital (der Volkswagen des nationalsozialistischen Systems) ist geradezu ein Leitunternehmen, quasi ein Vertreter der Avantgarde des deutschen Staatskapitalismus. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde diese Rolle durch die enge Einbindung der IGM gestärkt und weiter ausgebaut. Während am 17. März bei BMW und Porsche noch die Bänder rollten und Daimler nur eine Unterbrechung für ein paar Tage geplant hatte (um die Betreuung der Kinder zu ermöglichen), hat die IGM über VW den Kurs vorgegeben. Anders als in anderen europäischen Ländern (oder auch den USA), wo das nationale Kapital gegen besseres Wissen, die Arbeiter unter lebensgefährlichen Bedingungen an das Band schickte und damit Streiks provozierte (siehe unsere Artikel dazu), hat die deutsche Bourgeoisie mit Hilfe der Gewerkschaften und in Absprache mit ihrem Staatsapparat ihren Machtinstinkt unter Beweis gestellt. Das ausgeklügelte „Sozialpartnersystem“ zwischen Gewerkschaften und Kapital zur Kontrolle der Arbeiterklasse, zur Stärkung des nationalen Kapitals und des Standorts Deutschland erscheint als ein Spiel von Geben und Nehmen. Der Tarifkonflikt, der mit der Kündigung des Tarifvertrag in der Metall- und Elektroindustrie zum 31. März eigentlich angestanden hätte (einschließlich möglicher (Warn-)streiks) wurde in Angesicht der Krise im Tarifbezirk Nordrhein-Westfalen durch einen Notvertrag ohne jegliche Lohnerhöhung (nach Jahren des Booms) abgeblasen[20]. Dieser Notvertrag wurde umgehend von anderen Bezirken übernommen.
Die Bourgeoisie hat diese zum Teil geschrumpfte, aber immer noch vorhandene Fähigkeit an ökonomischer Stärke und politischen Machtinstinkt nach einer kurzen Phase der politischen Fahrlässigkeit und Planlosigkeit[21] wieder unter Beweis gestellt. Dies erlaubte politische Entscheidungen, die keineswegs von der Sorge um die Gesundheit der Beschäftigten an sich geprägt war, sondern von einer langfristigen Strategie des Machterhalts und der Kontinuität des kapitalistischen Produktionsprozesses. Denn für die Kapitalisten ist es eine Frage des Kalküls: Eine durch die Pandemie verseuchte und damit lange Zeit kranke Belegschaft, mit viel höheren Gesundheitskosten oder eine kontrolliert heruntergefahrene Produktion und Einstellung der wirtschaftlichen Aktivitäten als “ökonomisch” günstigere Variante.
Zuerst sammelte die nüchterne Naturwissenschaftlerin Angela Merkel ein wissenschaftliches Team des Robert-Koch-Instituts um sich und ließ sich eine Handlungsstrategie[22] erarbeiten, die sie am 18. März[23] in einer Fernsehansprache verkündete: Lockdown und Social Distancing. Der Exportweltmeister Deutschland schloss annähernd sämtliche Geschäfte mit Publikumsverkehr (ausschließlich Lebensmittelläden, Apotheken, Drogeriemärkte …). In enger Abstimmung mit den Gewerkschaften wurde die gesamte Automobilindustrie runtergefahren[24], was den Kurs für andere Branchen vorgab. Die Schulen, Universitäten und Kindergärten wurden geschlossen. Flankiert wurde diese Schockmaßnahme mit einer Mobilisierung der staatskapitalistischen Geld-Bazooka, in deren Zentrum das altbewährte Mittel der Kurzarbeit steht[25], begleitet von unzähligen kommunalen und föderalen Variationen von Helikoptergeld. Am 20. März wird ein Nachtragshaushalt über 150 Mrd. Euro beschlossen, hinzu kommen etliche Mrd. aus den Ländertöpfen und EU-Mitteln. Insgesamt geht man von 750 Mrd. Euro Helikoptergeld aus, und täglich werden neue Subventionen für weitere notleidende Branchen angekündigt.[26] Was jetzt als unmittelbare “Rettung” vor der Entlassung usw. empfunden wird, wird über kurz oder lang zu heftigsten Angriffen in verschiedenster Form führen, für die vor allem die Arbeiterklasse wird blechen müssen. Es bleibt einem späteren Artikel überlassen, die katastrophalen Folgen dieses wachsenden Schuldenberges zu analysieren.
Das Militär wird involviert, so sollte innerhalb eines Monats mit Unterstützung der Bundeswehr in Berlin ein Krankenhaus für 1000 Menschen gebaut werden, die Verteidigungsministerin AKK berichtet über eine steigende Anzahl von Amtshilfeersuchen und bringt die Mobilisierung der Reservisten ins Spiel. Diese Mobilisierung des Militärs lässt sich quantitativ in keinster Weise mit der in Frankreich vergleichen, ebenfalls fehlt hier vollkommen jegliche Kriegsrhetorik, dennoch ist die schleichende Stärkung des Militärs und die mediale Verwertung vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte [27]bemerkenswert. Insgesamt sollten die Maßnahmen das Signal aussenden: „Wir tun alles für euch“, und gleichzeitig hat man in Deutschland auf so drakonische Ausgangssperren und Kontaktsperren wie z.B. In Spanien, Italien, Frankreich verzichtet und somit die Bevölkerung hinter ihre Regierung geschart[28].
Hier zeigt sich, dass die deutsche Bourgeoisie im Vergleich mit anderen führenden Staaten im Weltkapitalismus weiterhin in der Lage ist, politisch geschickt zu handeln und ihre politische ‚Intelligenz‘ nicht verloren hat. Nur so ist zu erklären, dass in einer Studie das deutsche Krisenmanagement als weltweit führend eingestuft wird[29]. Diese politische ‚Intelligenz‘ der deutschen Bourgeoisie fußt auf deren historischen Fähigkeit, den revolutionären Ansturm in Deutschland von 1918/19 in viel Blut abgewehrt zu haben. Die damals aktiven konterrevolutionären Elemente aus Gewerkschaften, Sozialdemokratie (Mehrheit- und Unabhängige-), Freikorps und Kapital sind nach weiteren 100 Jahren in einem festen staatskapitalistischen Block ‚zusammengewachsen‘. Dies ist der historische Grund für den ausgeprägten Machtinstinkt.
Dieser drückt sich heute in einer scheinbar größeren Rücksichtnahme auf die Gesundheit der Beschäftigten aus, die jedoch nicht auf einer größeren „Menschlichkeit“, sondern zum einen auf der Sorge um den bestmöglichen, kostengünstigsten Erhalt der Arbeitskraft aber auch auf dem Wissen um die gefährlichen Folgen einer Mobilisierung der Arbeiterklasse in Deutschland basiert. Wir haben bereits an anderer Stelle angeführt, dass die zentrifugalen Kräfte des kapitalistischen Zerfalls und insbesondere der Populismus auch vor Deutschland nicht Halt gemacht haben und dennoch ist der politische Apparat in Deutschland noch weitaus stabiler als in Frankreich, Italien, GB oder erst recht den USA. Es zeigt sich schon jetzt, dass Elemente des Populismus durch die Mobilisierung des Staatsapparates durch die Bourgeoisie teilweise in ihren Maßnahmen aufgenommen und angewandt wurden (es wird sich zeigen, ob dies der Beginn einer Zersetzung des Apparates bedeutet oder ob somit der Populismus besser zu kontrollieren sein wird) und damit die populistische Partei AfD einstweilen geschwächt wird. In dem Krisenmanagement zeigt sich, dass die deutsche Bourgeoisie einen starken Staat, Grenzen zu, Ignoranz gegenüber dem Flüchtlingselend und nationalen Egoismus in ihrem Handlungsreservoir zur Verfügung hat und die AfD nur als lästiger Störenfried übrigbleibt.
In Anbetracht des weltweiten Charakters der Pandemie und der international völlig unzureichenden Vorbereitung hat sich auch die herrschende Klasse in Deutschland dem Sog des jeder für sich nicht entziehen können. Bei der verzweifelten Suche nach Masken wurde auch in Deutschland die Regelung der Bundesregierung, dass medizinische Ausrüstung nur noch exportiert werden darf, wenn der lebenswichtige Bedarf Deutschlands gedeckt ist, zur Anwendung gebracht. Das gilt selbst dann, wenn ein Mangel an Schutzausrüstung in anderen Ländern Menschenleben gefährdet. National geht halt über alles. Und bei dem Versuch, die EU nicht auseinanderfliegen zu lassen, sondern möglichst national abgestimmt in diesem immer stärker werdenden Chaos vorzugehen, hat das deutsche Kapital den Kredithahn zwar nahezu unbegrenzt für die heimische Wirtschaft aufgedreht, aber gegenüber den strauchelnden “Partnern” in Italien, Spanien und der geforderten Einführung von Coronabonds blieb die deutsche Bourgeoisie noch weitgehend unnachgiebig. Welche Konsequenzen dies für die EU haben wird, ist zur Zeit noch nicht abzusehen.
Ebenso lässt sich heute noch nichts über die Aussichten darauf sagen, das immer aggressivere Auftreten des chinesischen Imperialismus in Europa und anderswo abwehren zu können. Der Berg an Folgekosten für die ökonomischen Rettungsmaßnahmen[30], die von den Herrschenden weltweit beschlossen wurden, wird zu einem Anwachsen der Schulden[31] führen, wo die Tendenz des jeder für sich immer verheerender um sich greifen wird. Inmitten dieses Chaos mag die deutsche Bourgeoisie zwar bis dato erfolgreicher als ihre Rivalen gewesen sein, aber als einer der am meisten auf Export und internationale Stabilität angewiesenen Länder kann sie sich trotz gewisser Vorteile nicht auf Dauer den Erschütterungen der Krise und dem damit verbundenen Chaos entziehen. Welche Herausforderungen damit auf die Arbeiterklasse zukommen, werden wir in einem nächsten Artikel behandeln.
Gerald, 23. April 2020
[1] Ob die derzeit noch exponentiell ansteigende Ansteckungsrate bei dem ehemaligen Blockgegner Russland ein ähnlich verheerendes Niveau erreichen wird, ist derzeit noch nicht vorherzusehen https://russland.ahk.de/corona-krise/liveticker [33]
[2] https://www.nytimes.com/2020/04/04/world/europe/germany-coronavirus-deat... [34] https://www.welt.de/politik/deutschland/article207060585/Corona-Niedrige... [35]
[3] Dies illustriert bereits sehr gut den Begriff der “Durchkapitalisierung”, mit dem die ökonomische Logik der Verwertung und der Kapitalanhäufung mit dem Zwang zum Wachstum (Kapitalakkumultation) unter dem obersten Ziel des Profits gemeint ist.
[4] “auf der Tagung »Krankenhaus statt Fabrik«, Stuttgart, 20. Oktober 2018) ergibt sich von 1993 bis 2016 trotz gestiegener Fallzahlen, verkürzter Liegezeit und damit erhöhter Arbeitsintensität ein Minus im Ist-Bereich von 289.000 auf 277.000, also 12.000 Pflegekräften. Im errechneten Soll-Bereich nach Pflegepersonalregelung (PPR) bei Annahme eines um 20 Prozent erhöhten Personalbedarfs durch Leistungszuwachs ergibt sich sogar eine Differenz von 143.000 Pflegekräften.” https://gesundheit-soziales.verdi.de/mein-arbeitsplatz/krankenhaus/++co+... [36]
[6] https://interaktiv.tagesspiegel.de/lab/pflegeheim-umfrage/ [38] https://www.tagesschau.de/inland/pflege-notstand-101.html [39] https://www.labournet.de/branchen/dienstleistungen/gesund/gesund-arbeit/... [40]
[8] Anfang der 2000er tötete ein Pfleger in Norddeutschland mehr als 100 Patienten ohne das dies auffiel. https://www.stern.de/panorama/stern-crime/krankenpfleger-niels-hoegel-ve... [42]
[10] Siehe auch das Buch von Mike Davis dazu: https://www.assoziation-a.de/buch/Vogelgrippe [44]
[12] “Die haben sich tatsächlich Laminierfolie im Baumarkt besorgt und daraus eine Art Schild hergestellt, der über Augen und Mund reicht. Jetzt müssen wir Krankenpfleger uns also schon selbst einkleiden, weil der Staat keinen brauchbaren Notfallplan für eine Pandemie hatte!” https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/berliner-intensivpfleger-ueber-... [46]
[13] https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-aerzte-pfleger-ansteckun... [47] https://www.zeit.de/arbeit/2020-04/pflegekraefte-corona-krise-einschuech... [48]
[15] So forderten noch am 7. April Ärzte, Kranken- und OP-Schwestern sowie weitere Beschäftigte aus mehr als 20 Krankenhäusern in Brandenburg in einem offenen Brief an die Landesregierung: „Das Land Brandenburg muss einen Weg finden, Masken, Schutzkittel, Schutzbrillen, Handschuhe und Desinfektionsmittel zu produzieren – sofort!!“ und „Unsere Krankenhäuser wurden zu Fabriken und Gesundheit zur Ware“
[16] “Mit seinen derzeit 1400 Todesfällen kommt Deutschland auf eine Sterblichkeitsrate von 1,5 Prozent. Das ist sehr niedrig verglichen mit 12 Prozent in Italien, rund 10 Prozent in Spanien, Frankreich und Großbritannien, 4 Prozent in China und 2,5 Prozent in den USA. Selbst Südkorea, das immer wieder als Vorbild genannt wird, weist mit 1,7 Prozent eine höhere Todesrate auf.” https://www.welt.de/politik/deutschland/article207060585/Corona-Niedrige-Todesrate-New-York-Times-ueber-die-deutsche-Ausnahme.html [35]. Mittlerweile sind die Todesfälle auf über 5.000 angestiegen (Stand 22.4.2020)
[17] “Im Januar gab es rund 28.000 solcher Intensivbetten oder 34 pro 100.000 Menschen. Zum Vergleich: In Italien sind es zwölf und in den Niederlanden sieben.” https://www.welt.de/politik/deutschland/article207060585/Corona-Niedrige... [35]
[18] “...Ausdruck des zunehmenden Kontrollverlustes der Bourgeoisie über das Funktionieren der Gesellschaft, der sich im Wesentlichen daraus ergibt, was im Kern ihres Zerfalls liegt, der Unfähigkeit der beiden grundlegenden Klassen der Gesellschaft, eine Antwort auf die unlösbare Krise zu geben, in die die kapitalistische Wirtschaft versinkt. Mit anderen Worten, der Zerfall ist im Wesentlichen das Ergebnis der Ohnmacht der herrschenden Klasse, einer Ohnmacht, die in ihrer Unfähigkeit verwurzelt ist, diese Krise in der kapitalistischen Produktionsweise zu überwinden, und die zunehmend dazu neigt, ihren politischen Apparat zu beeinflussen.” https://de.internationalism.org/content/2861/resolution-zur-internationalen-lage-2019-imperialistische-spannungen-leben-der [8]
[19] “Und so sei der Entscheidung am frühen Dienstagmorgen ein hitziges Wortgefecht zwischen Vorstand und den in Wolfsburg traditionell sehr einflussreichen Arbeitnehmervertretern rund um den Betriebsratschef Bernd Osterloh vorangegangen. Wie kurzfristig der Entschluss gefallen ist, zeigt sich auch daran, dass noch nicht geklärt ist, wie VW den Stopp arbeitsrechtlich umsetzen will.” https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/coronavirus-volkswagen-daimler-1.... [50]
[20] “In der Metall- und Elektroindustrie haben die Tarifpartner einen Pilotabschluss in Nordrhein-Westfalen erzielt. Unter dem Eindruck der Coronakrise einigten sich IG Metall und Arbeitgeber darauf, die Löhne in diesem Jahr nicht zu erhöhen.” https://www.spiegel.de/wirtschaft/arbeitgeber-und-ig-metall-einigen-sich... [51]
[21] Der DAX stürzt von fast 14.000 (Mitte Februar) auf unter 9.000 Punkten ab. Das Land Bayern ruft bereits am 16. März den Katastrophenfall aus,
[22] Diese Tendenz zur “alternativlosen” Diktatur der Experten müssen wir an anderer Stelle noch einmal aufnehmen, doch sie tauchte auch schon in der Klimabewegung auf und die gleiche Alternativlosigkeit der (ökonomischen) Experten diktierte auch die politische Handlung während der Griechenland-Krise der EU. Trotz der politischen Cleverness des Großteils der herrschenden Klasse lässt sich damit eine gewisse politische “Feigheit” derselben nicht verbergen, denn es handelt sich dabei auch um eine Vorgehensweise, den Klassencharakter der Angriffe hinter einer scheinbar “ideologie-freien/neutralen” Wissenschaft zu verstecken.
[23] Eine kurze Chronologie: https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-deutschland-chronik-1.48... [52]
[24] die Automobilindustrie macht mit über 800.000 Beschäftigten einen Großteil der deutschen Industrie aus
[25] Am 22. April wird gar beschlossen, dass Kurzarbeitergeld von 60 bzw 67% auf 80 bzw 87% zu erhöhen.
[27] Dass man in diesen Tagen neue Kampfflugzeuge als Ersatz für die ‘veralteten’ Tornadojets bestellen und dabei vor hohen Ausgaben nicht zurückschreckt, ist nicht widersprüchlich, sondern gehört zusammen.
[28] In Umfragen erzielt Merkel die höchste Zustimmung in dieser Legislaturperiode und insbesondere die CDU verzeichnete starke Gewinne, so dass schon Gerüchte über eine fünfte Amtszeit gestreut werden: https://www.merkur.de/politik/coronavirus-deutschland-angela-merkel-kanz... [54]
[29] "Deutschland hat im Vergleich zu den anderen Ländern derzeit das beste Sicherheits- und Stabilitätsranking in Europa und gehört auch weltweit zu den führenden Nationen in Sachen Krisenmanagement", zitiert der "Spiegel" Dimitry Kaminsky, Gründer von DKG. Zudem habe Deutschland "äußerst effizient" agiert.“ https://www.dkv.global/safety-ranking [55]
[30] Dies wird die IKS in weiteren Analysen untersuchen. Wir fordern unsere LeserInnen auf, unsere internationale Presse zu verfolgen und sich an der Debatte über die Einschätzung der Lage, der Perspektiven und unseren Aufgaben zu beteiligen.
[31] Wir fordern alle LeserInnen dazu auf, sich intensiver mit der Resolution zur internationalen Lage vom 23. Internationalen Kongress der IKS auseinanderzusetzen: „Nicht nur die Ursachen der Krise 2007-2011 sind nicht gelöst oder überwunden, sondern auch die Schwere und die Widersprüche der Krise sind auf ein höheres Niveau gerückt: Es sind nun die Staaten selbst, die mit der erdrückenden Last ihrer Schulden konfrontiert sind (den „Staatsschulden“), die ihre Interventionsfähigkeit zur Wiederbelebung ihrer jeweiligen Volkswirtschaften weiter beeinträchtigen. „Schulden wurden eingesetzt, um die ungenügenden Absatzmärkte zu kompensieren, doch dies führt zu keinem Wachstum, wie die ab 2007 einsetzende Finanzkrise verdeutlicht. Wie auch immer, all die Maßnahmen, die zur erneuten Beschränkung der Schulden ergriffen werden, konfrontieren den Kapitalismus mit seiner Überproduktionskrise, und das in einem internationalen Kontext der permanenten Zuspitzung und Begrenzung des Spielraums für finanzielle Manöver.“(Resolution zur internationalen Lage, 20. Kongress der IKS, 2013)“, Resolution zur internationalen Lage (2019): imperialistische Spannungen, Leben der Bourgeoisie, Wirtschaftskrise https://de.internationalism.org/content/2861/resolution-zur-internationa... [8]
Bevor die Flutwelle der Covid-19-Krise über den Planeten fegte, waren die Kämpfe der Arbeiterklasse in Frankreich, Finnland, den USA und anderswo Anzeichen für eine neue Stimmung im Proletariat, für einen Unwillen, sich den Forderungen einer sich ausbreitenden Wirtschaftskrise zu beugen. Insbesondere in Frankreich haben wir Anzeichen einer Wiedererlangung der Klassenidentität gesehen, die durch jahrzehntelangen kapitalistischen Zerfall, durch das Aufkommen einer populistischen Strömung untergraben wurde, die die tatsächlichen Spaltungen in der Gesellschaft verzerrte und die in Frankreich mit einer gelben Weste auf die Straße ging.
In diesem Sinne hätte die Covid-19-Pandemie zu keinem schlechteren Zeitpunkt für den Kampf des Proletariats kommen können: Gerade als die Arbeiterklasse begann, auf die Straßen zu strömen, sich zu Demonstrationen zusammenzuschließen, um wirtschaftlichen Angriffen zu widerstehen, deren Ursprünge in der kapitalistischen Krise schwer zu verbergen sind, hatte die Mehrheit der Arbeiterklasse kaum eine andere Wahl, als sich in die vier Wände zurückzuziehen, große Versammlungen zu vermeiden, sich unter den Augen eines mächtigen Staatsapparates "selbst zu isolieren", der in der Lage war, angesichts eines unsichtbaren Feindes, der – wie man uns sagt – nicht zwischen Arm und Reich, Boss und Arbeiter unterscheidet, lautstark zur "nationalen Einheit" aufzurufen.
Die Schwierigkeiten, mit denen die Arbeiterklasse konfrontiert ist, sind real und tiefgreifend, und wir werden sie in diesem Artikel weiter untersuchen. Aber was in gewisser Weise bemerkenswert ist, ist die Tatsache, dass trotz der allgegenwärtigen Furcht vor Ansteckung, trotz der scheinbaren Allmacht des kapitalistischen Staates, die Anzeichen der Kampfbereitschaft der Klasse, die wir im Winter gesehen haben, nicht einfach verflogen sind, sondern dass wir in einer ersten Phase und angesichts der schockierenden Nachlässigkeit und der mangelnden Vorbereitung der Bourgeoisie sehr weit verbreitete Abwehrbewegungen der Arbeiterklasse gesehen haben. Die Arbeiter und Arbeiterinnen auf der ganzen Welt haben sich geweigert, wie "Lämmer auf die Schlachtbank" zu gehen, vielmehr haben sie einen entschlossenen Kampf zur Verteidigung ihrer Gesundheit, ihres Lebens selbst geführt und angemessene Sicherheitsmaßnahmen oder die Schließung von Unternehmen gefordert, die nicht in der wesentlichen Produktion tätig sind (wie z.B. Autofabriken).
Sie haben auf globaler Ebene stattgefunden angesichts des globalen Charakters der Pandemie, aber eines ihrer wichtigsten Elemente ist, dass sie in den zentralen Ländern des Kapitalismus, insbesondere in den Ländern, die am stärksten von der Krankheit betroffen sind, deutlicher zutage getreten sind: In Italien beispielsweise erwähnt die Internationalistische Kommunistische Tendenz spontane Streiks im Piemont, in Ligurien, in der Lombardei, im Veneto, in der Emilia Romagna, in der Toskana, in Umbrien und in Apulien[1]. Es waren vor allem die italienischen Fabrikarbeiter, die als erste die Parole "Wir sind keine Lämmer zum Schlachten" erhoben. In Spanien: Streiks bei Mercedes, FIAT, Balay-Haushaltsgeräten; Streiks bei Telepizza gegen die Schikanierung von Arbeitern und Arbeiterinnen, die bei der Auslieferung von Pizzas nicht ihr Leben riskieren wollten, und weitere Proteste von Lieferarbeitern und -arbeiterinnen in Madrid. Das vielleicht Wichtigste von allem – nicht zuletzt, weil es das Bild einer amerikanischen Arbeiterklasse in Frage stellt, die sich unkritisch hinter der Demagogie von Donald Trump versammelt habe – gab es in den USA weit verbreitete Kämpfe: Streiks bei FIAT in Indiana, bei Warren Trucks, von Busfahrern in Detroit und Birmingham Alabama, in Häfen, Restaurants, in der Lebensmittelverteilung, in der Abwasserentsorgung, im Baugewerbe; Streiks bei Amazon (welches Unternehmen auch in einigen anderen Ländern von Streiks betroffen ist), bei Whole Foods, Instacart, Walmart, FedEx usw. Auch in den USA haben wir eine große Zahl von Mietstreiks erlebt. Dies ist eine Form des Kampfes, die zwar nicht automatisch Proletarier und Proletarierinnen einbezieht, aber auch keineswegs klassenfremd ist (wir könnten zum Beispiel die Mietstreiks von Glasgow anführen, die ein integraler Bestandteil der Arbeiterkämpfe während des Ersten Weltkriegs waren, oder den Merseyside-Mietstreik 1972, der die erste internationale Welle von Kämpfen nach 1968 begleitete). Und insbesondere in den USA besteht eine reale Gefahr der Zwangsräumung, die über vielen der "eingesperrten" Sektoren der Arbeiterklasse schwebt.
In Frankreich und Großbritannien sind solche Bewegungen weniger verbreitet gewesen. Aber wir haben auch in diesen Ländern inoffizielle Streiks von Postangestellten und von Bauarbeitern gesehen, von Lagerarbeitern und bei der Müllabfuhr in Großbritannien, Streiks auf den Werften von Saint Nazaire in Frankreich, bei Amazon in Lille und Montelimar, bei ID Logistics usw. In Lateinamerika sind als Beispiele Chile (Coca-Cola), Hafenarbeiter in Argentinien und Brasilien, Packer in Venezuela zu nennen. In Mexiko: "In der mexikanischen Stadt Ciudad Juárez, die an El Paso, Texas, grenzt, haben sich Streiks ausgebreitet, an denen Hunderte von Maquiladora-Arbeitern beteiligt haben, die die Schließung nicht lebenswichtiger Fabriken forderten, die trotz der wachsenden Zahl von Todesopfern durch die COVID-19-Pandemie offen gehalten wurden, darunter 13 Beschäftigte des US-amerikanischen Autositzherstellers Lear. Die Streiks ... folgen ähnlichen Aktionen von Arbeitern in den Grenzstädten Matamoros, Mexicali, Reynosa und Tijuana"[2]. In der Türkei finden Proteststreiks in der Textilfabrik Sarar (gegen den Rat der Gewerkschaften), in der Galataport-Werft sowie von Post- und Telegrafenarbeitern statt. In Australien: Streiks der Hafen- und Vertriebsarbeiter. Die Liste ließe sich leicht erweitern.
Einige der Streiks waren spontan, wie z.B. in Italien, in den US-Autofabriken und in den Zentren von Amazon, und die Gewerkschaften wurden wegen ihrer offenen Zusammenarbeit mit der Unternehmensleitung heftig kritisiert und manchmal frontal bekämpft. Dies geht aus einem Artikel auf libcom.org hervor, der ein breites Panorama der jüngsten Kämpfe in den USA bietet[3]: "Die Arbeiter in den Fiat-Chrysler-Montagewerken Sterling Heights (SHAP) und Jefferson North (JNAP) in Metro Detroit nahmen die Sache gestern Abend und heute Morgen selbst in die Hand und erzwangen eine Produktionsstilllegung, um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen.
Die Arbeitsniederlegungen begannen gestern Abend in Sterling Heights, nur Stunden, nachdem die United Auto Workers und die Autohersteller in Detroit eine miese Abmachung getroffen hatten, um die Werke während der globalen Pandemie geöffnet und in Betrieb zu halten... Am selben Tag weigerten sich zahlreiche Beschäftigte des Lear-Seating-Werks in Hammond, Indiana, zu arbeiten und erzwangen die Schließung der Teilefabrik und des nahe gelegenen Montagewerks in Chicago". Der Artikel enthält auch ein Interview mit einem Autoarbeiter:
"Die UAW sollten eigentlich dafür kämpfen, dass wir von der Arbeit freikommen. Die Gewerkschaft und das Unternehmen kümmern sich mehr um die Herstellung von Lastwagen als um die Gesundheit aller. Ich habe das Gefühl, dass sie nichts tun werden, wenn wir nichts unternehmen. Wir müssen uns zusammenschließen. Sie können uns nicht alle entlassen".
Diese Bewegungen sind grundsätzlich auf dem Terrain der Arbeiterklasse: Es geht um die Arbeitsbedingungen (Forderung nach angemessener Sicherheitsausrüstung), aber auch um Krankengeld, unbezahlte Löhne, gegen Sanktionen gegen Arbeiter und Arbeiterinnen, die sich weigerten, unter unsicheren Bedingungen zu arbeiten, usw. Sie zeigen eine Verweigerung der Selbstaufopferung für das Kapital, also eine Haltung, die in Kontinuität mit der Fähigkeit der Klasse steht, dem Drang zum Krieg zu widerstehen, der seit dem Wiederaufleben der Klassenkämpfe 1968 ein grundlegender Faktor in der Weltsituation ist.
Obwohl die Beschäftigten des Gesundheitswesens ein außerordentliches Verantwortungsbewusstsein gezeigt haben, das ein Element proletarischer Solidarität ist, haben sie auch ihre Unzufriedenheit mit ihren Bedingungen, ihre Wut über die heuchlerischen Appelle und das Lob der Regierungen zum Ausdruck gebracht, auch wenn dies hauptsächlich in Form von individuellen Protesten und Erklärungen[4] geschah; es gab jedoch auch kollektive Aktionen, einschließlich Streiks, so in Malawi, Simbabwe, Papua-Neuguinea und Demonstrationen von Krankenschwestern in New York.
Aber dieses proletarische Verantwortungsbewusstsein, das auch Millionen dazu veranlasst, die Regeln der Selbstisolierung zu befolgen, zeigt, dass die Mehrheit der Arbeiterklasse die Realität dieser Krankheit akzeptiert, selbst in einem Land wie den USA, das das "Kernland" verschiedener Formen der Verleugnung der Pandemie ist. So haben sich die Kämpfe, die wir gesehen haben, notwendigerweise entweder auf die "wesentlichen" Arbeiter und Arbeiterinnen beschränkt, die für sicherere Arbeitsbedingungen kämpfen – und diese Kategorien werden zwangsläufig eine Minderheit der Klasse bleiben, wie wichtig ihre Rolle auch sein mag – oder auf Arbeiter und Arbeiterinnen, die schon sehr früh in Frage stellten, ob ihre Arbeit wirklich notwendig war, wie die Beschäftigten der Autowerke in Italien und den USA; und so war ihre zentrale Forderung, nach Hause geschickt zu werden (mit dem Lohn des Unternehmens oder des Staates, statt wie viele andere entlassen zu werden). Aber diese Forderung, so notwendig sie auch sein mochte, konnte nur eine Art taktischen Rückzug im Kampf bedeuten, nicht aber seine Intensivierung oder Ausweitung. Es hat Versuche gegeben – z.B. unter den Angestellten von Amazon in den USA –, Kampfversammlungen online abzuhalten, Streikposten unter Einhaltung von Sicherheitsabständen aufzustellen usw., aber es lässt sich nicht vermeiden, dass die Bedingungen der Isolation und Schließung ein riesiges Hindernis für jede unmittelbare Entwicklung des Kampfes darstellen.
Und unter den Bedingungen der Isolation ist es schwieriger, dem gigantischen Sperrfeuer der Propaganda und der ideologischen Verschleierung zu widerstehen.
Jeden Tag werden in den Medien Hymnen an die nationale Einheit gesungen, die auf der Idee beruhen, dass das Virus ein Feind sei, der nicht diskriminiere: In Großbritannien wird die Tatsache, dass Boris Johnson und Prinz Charles mit dem Virus infiziert waren, als Beweis dafür angeführt[5]. Die Bezugnahme auf den Krieg, den Geist des "Blitzkriegs" während des Zweiten Weltkriegs (selbst das Produkt einer großen Propagandaübung, die darauf abzielte, jegliche soziale Unzufriedenheit zu verbergen), ist im Vereinigten Königreich unaufhörlich zu hören, insbesondere mit den Lobeshymnen auf einen 100 Jahre alten Luftwaffenveteranen, der Millionen für den NHS sammelte, indem er 100 Längen seines großen Gartens vollendete. In Frankreich hat sich Macron auch als Kriegsführer präsentiert; in den USA bemühte sich Trump, Covid-19 als das "chinesische Virus" zu definieren und lenkte damit von dem beklagenswerten Umgang seiner Regierung mit der Krise ab und spielte mit dem gewohnten Thema "America First". Überall – auch im Schengen-Raum der Europäischen Union – wurde die Schließung der Grenzen als das beste Mittel zur Eindämmung der Ansteckung hervorgehoben. Regierungen der nationalen Einheit wurden dort gebildet, wo einst scheinbar unlösbare Spaltungen herrschten (wie in Belgien) oder wo Oppositionsparteien mehr denn je "loyal" gegenüber den nationalen "Kriegsanstrengungen" werden.
Der Appell an den Nationalismus geht Hand in Hand mit der Darstellung des Staates als der einzigen Kraft, die die Bürger und Bürgerinnen schützen kann, sei es durch die energische Durchsetzung der Abriegelung oder in seiner freundlicheren, sanfteren Gestalt als Helfer der Bedürftigen, sei es durch die Billionen, die zur Aufrechterhaltung entlassener Arbeiter und Selbständiger, deren Unternehmen schließen mussten, ausgegeben werden, oder durch die vom Staat verwalteten Gesundheitsdienste. In Großbritannien ist der "National Health Service" seit langem eine heilige Ikone fast der gesamten Bourgeoisie, vor allem aber der Linken, die ihn als ihre besondere Errungenschaft betrachtet, da er von der Labour-Regierung der Nachkriegszeit eingeführt wurde, die ihn trotz der bösen Übergriffe der Privatunternehmer irgendwie als außerhalb der kapitalistischen Kommodifizierung stehend darstellt. Dieses Lob auf den NHS und ähnliche Institutionen wird unterstützt durch die wöchentlichen Beifallsrituale und das unaufhörliche Loben der Gesundheitsangestellten als Helden, vor allem von denselben Politikern, die im letzten Jahrzehnt und darüber hinaus maßgeblich dazu beigetragen haben, die Gesundheitsdienste in den Ruin zu treiben.
Laut dem linken Labour-Politiker Michael Foot war Großbritannien dem Sozialismus nie näher als während des Zweiten Weltkriegs, und heute, wo der Staat die Sorge um die unmittelbare Rentabilität beiseite schieben muss, um die Gesellschaft zusammenzuhalten, hat die alte Illusion, dass "wir heute alle Sozialisten sind" (eine Idee, die von der herrschenden Klasse während der revolutionären Welle nach 1917 allgemein geäußert wurde), durch die massiven Ausgaben, die den Regierungen durch die Covid-19-Krise auferlegt wurden, neuen Auftrieb erhalten. Der einflussreiche linke Philosoph Slavoj Zizek scheint in einem Youtube-Interview mit dem Titel "Kommunismus oder Barbarei"[6] zu implizieren, dass die Bourgeoisie selbst nun gezwungen sei, Geld als bloßen Abrechnungsmechanismus zu behandeln, als eine Form von Arbeitszeitgutscheinen, völlig losgelöst vom tatsächlichen Wert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Barbaren zu Kommunisten werden. In Wirklichkeit ist die zunehmende Trennung von Geld und Wert das Zeichen der völligen Erschöpfung des kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisses und damit die Notwendigkeit des Kommunismus, aber die Missachtung der Marktgesetze durch den bürgerlichen Staat ist alles andere als ein Schritt zu einer höheren Produktionsweise: Sie ist der letzte Wall dieser zerfallenden Ordnung. Und es ist vor allem die Funktion des linken Flügels des Kapitalismus, dies vor der Arbeiterklasse zu verbergen, sie von ihrem eigenen Weg abzulenken, der den Ausbruch aus der Umklammerung durch den Staat und die Vorbereitung seiner revolutionären Zerstörung erfordert.
Aber im Zeitalter des Populismus hat die Linke kein Monopol auf vorgetäuschte Systemkritik. Die unzweifelhafte Realität, dass der Staat diese Krise überall dazu nutzen wird, seine Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung zu verstärken – und damit die Realität einer herrschenden Klasse, die sich unaufhörlich "verschwört", um ihre Klassenherrschaft aufrechtzuerhalten – gibt Anlass zu einem neuen Auftrieb von "Verschwörungstheorien", nach denen die wahre Gefahr von Covid-19 abgelehnt oder gar geleugnet wird: Es handle sich um einen "Scamdemic", der von einer finsteren Kabale von Globalisten unterstützt werde, um ihre Agenda einer "Weltregierung" durchzusetzen. Und diese Theorien, die in den USA besonders einflussreich sind, sind nicht auf den Cyberspace beschränkt. Die Trump-Fraktion in den USA hat diese Suppe mit der Behauptung angereichert, es gebe Beweise dafür, dass Covid-19 aus einem Labor in Wuhan entkommen sei – auch wenn die US-Geheimdienste dies bereits ausgeschlossen haben. China hat mit ähnlichen Anschuldigungen gegen die USA geantwortet. Auch in den USA gab es große Proteste, die eine Rückkehr an den Arbeitsplatz und ein Ende des Lockdown forderten, die von Trump angefeuert und oft durch die umliegenden Verschwörungstheorien (sowie durch religiöse Phantasien: Die Krankheit ist real, aber wir können sie mit der Kraft des Gebetes besiegen) inspiriert wurden. Es hat auch einige rassistische Angriffe auf Menschen aus dem Fernen Osten gegeben, die für das Virus verantwortlich gemacht werden. Es besteht kein Zweifel, dass solche Ideologien Teile der Arbeiterklasse betreffen, insbesondere diejenigen, die keinerlei finanzielle Unterstützung von Arbeitgebern oder dem Staat erhalten, aber die Demonstrationen zur Rückkehr an den Arbeitsplatz in den USA scheinen hauptsächlich von kleinbürgerlichen Elementen angeführt worden zu sein, die bestrebt sind, ihre Unternehmen wieder zum Laufen zu bringen. Wie wir gesehen haben, haben viele Arbeiter und Arbeiterinnen dafür gekämpft, in die entgegengesetzte Richtung zu gehen!
Diese gewaltige ideologische Offensive verstärkt die objektive Atomisierung, die durch den Lockdown auferlegt wird, die Angst, dass jemand außerhalb seines Haushalts eine Quelle von Krankheit und Tod sein könnte. Und die Tatsache, dass der Lockdown wahrscheinlich noch einige Zeit dauern wird, dass es keine Rückkehr zur Normalität geben wird und dass es weitere Zeiträume der Gefangenschaft geben kann, wenn die Krankheit eine zweite Welle durchläuft, wird die Schwierigkeiten, denen sich die Arbeiterklasse gegenübersieht, eher noch verschärfen. Und wir können es uns nicht leisten, zu vergessen, dass diese Schwierigkeiten nicht mit dem Lockdown begannen, sondern eine lange Geschichte hinter sich haben, vor allem seit Beginn der Periode des Zerfalls nach 1989, die einen tiefgreifenden Rückzug sowohl der Kampfbereitschaft als auch des Bewusstseins, einen wachsenden Verlust der Klassenidentität, eine Verschärfung der Tendenz des "Jeder-für-sich" auf jeder Ebene erlebt hat. Somit markiert die Pandemie als klares Produkt des Zerfallsprozesses eine neue Etappe in diesem Prozess, eine Intensivierung all seiner charakteristischsten Elemente[7].
Nichtsdestotrotz hat die Covid-19-Krise die Aufmerksamkeit in einem noch nie dagewesenen Ausmaß auch auf die politische Dimension gelenkt: Die täglichen Gespräche sowie das unaufhörliche Geplapper der Medien konzentrieren sich fast ausschließlich auf die Pandemie und den Lockdown, die Reaktion der Regierungen, die Notlage der Beschäftigten im Gesundheits- und anderen "lebenswichtigen" Bereichen und die Probleme des täglichen Überlebens eines großen Teils der Bevölkerung insgesamt. Zweifellos ist der Markt der Ideen durch die verschiedenen Formen der vorherrschenden Ideologie weitgehend in die Enge getrieben worden, aber es gibt immer noch Ecken, an denen eine bedeutende Minderheit grundlegende Fragen über das Wesen dieser Gesellschaft stellen kann. Die Frage, was im gesellschaftlichen Leben "wesentlich" ist, wer die lebensnotwendigste Arbeit leistet und dafür so elend bezahlt wird, die Nachlässigkeit der Regierungen, die Absurdität nationaler Spaltungen angesichts einer globalen Pandemie, die Frage, in was für einer Welt wir nach Covid leben werden: Dies sind Fragen, die nicht völlig ausgeblendet oder umgeleitet werden können. Und die Menschen sind nicht völlig atomisiert: Die Eingeschlossenen nutzen soziale Medien, Internetforen, Video- oder Audiokonferenzen nicht nur, um die Lohnarbeit fortzusetzen oder mit Familie und Freunden und Freundinnen in Kontakt zu bleiben, sondern auch, um die Situation zu diskutieren und Fragen nach ihrer tatsächlichen Bedeutung zu stellen. Auch die physische Begegnung (wenn in der erforderlichen sozialen Distanz...) mit den Bewohnerinnen und Bewohnern des Wohnblocks oder des Viertels kann zum Schauplatz von Diskussionen werden, auch wenn man das wöchentliche Ritual des Applauses nicht mit echter Solidarität oder lokale gegenseitige Hilfsgruppen nicht mit dem Kampf gegen das System verwechseln sollte.
In Frankreich wurde eine Losung populär, die lautete: "Kapitalismus ist der Virus, Revolution ist der Impfstoff". Mit anderen Worten, die Minderheiten der Klasse führen Diskussionen und Überlegungen zu ihrem logischen Abschluss. Die "Avantgarde" dieses Prozesses besteht aus jenen zum Teil sehr jungen Elementen, die klar begriffen haben, dass der Kapitalismus völlig bankrott ist und dass die einzige Alternative für die Menschheit die proletarische Weltrevolution ist – mit anderen Worten, aus jenen, die sich auf kommunistische Positionen und damit auf die Tradition der kommunistischen Linken zubewegen. Das Erscheinen dieser Generation von Menschen "in der Forschung" für den Kommunismus stellt die bestehenden Gruppen der kommunistischen Linken vor eine immense Verantwortung im Prozess des Aufbaus einer kommunistischen Organisation, die in der Lage sein wird, in den zukünftigen Kämpfen des Proletariats eine Rolle zu spielen.
Die Abwehrkämpfe, die wir in der Frühphase der Pandemie gesehen haben, der Reflexionsprozess, der während der Abriegelung vor sich ging, sind Hinweise auf das intakte Potenzial des Klassenkampfes, der zwar ebenfalls für einen beträchtlichen Zeitraum "abgeriegelt" sein kann, der aber längerfristig soweit reifen könnte, dass er sich offen äußern kann. Die Unfähigkeit des Kapitalismus, eine große Zahl der auf dem Höhepunkt der Krise Entlassenen wieder einzugliedern, die Notwendigkeit, dass die Bourgeoisie die "Geschenke" zurückholen muss, die sie im Interesse der sozialen Stabilität verteilt hat, die neue Sparrunde, zu der die herrschende Klasse gezwungen sein wird: Dies wird sicherlich die Realität der nächsten Etappe der Covid-19-Geschichte sein, die gleichzeitig eine Geschichte der historischen Wirtschaftskrise des Kapitalismus und seines fortschreitenden Zerfalls ist. Auch eine Geschichte der sich verschärfenden imperialistischen Spannungen, da verschiedene Mächte versuchen, die Covid-19-Krise zu nutzen, um die globale Hackordnung weiter zu stören: Insbesondere könnte es eine neue Offensive des chinesischen Kapitalismus geben, die darauf abzielt, die USA als führende Weltmacht herauszufordern. Auf jeden Fall kündigen Trumps Versuche, China für die Pandemie verantwortlich zu machen, bereits eine zunehmend aggressive Haltung der USA an. Von den Arbeitern und Arbeiterinnen werden Opfer verlangt, um die Welt nach Covid "wiederaufzubauen" und die nationale Wirtschaft gegen die Bedrohung von außen zu verteidigen.
Auch hier müssen wir vor jeglichem Immediatismus (der Illusion gegenüber unmittelbaren Lösungen) warnen. Eine wahrscheinliche Gefahr – angesichts der gegenwärtigen Schwäche der Klassenidentität und des wachsenden Elends, von dem alle Schichten der Weltbevölkerung betroffen sind – besteht darin, dass die Antwort auf weitere Angriffe auf den Lebensstandard in Form von klassenübergreifenden, "Volksaufständen" erfolgen könnte, bei denen die Arbeiter nicht als eigenständige Klasse mit ihren eigenen Methoden und Forderungen auftreten. Wir haben vor dem Lockdown eine Welle solcher Aufstände gesehen, und selbst während der Abriegelung sind sie im Libanon und anderswo bereits wieder aufgetaucht, was die Tatsache unterstreicht, dass diese Art von Reaktion in den "peripheren" Regionen des kapitalistischen Systems ein besonderes Problem darstellt. Ein kürzlich veröffentlichter UN-Bericht warnte davor, dass Teile der Welt, insbesondere in Afrika und in vom Krieg verwüsteten Ländern wie Jemen und Afghanistan, infolge der Pandemiekrise Hungersnöte "biblischen Ausmaßes" erleben werden, was auch die Gefahr verzweifelter Reaktionen ohne Perspektive erhöht[8].
Wir wissen auch, dass die Massenarbeitslosigkeit in einer ersten Phase die Arbeiterklasse tendenziell lähmen kann: Die Bourgeoisie kann sie nutzen, um die Arbeitenden zu disziplinieren und Spaltungen zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen zu schaffen, und es ist an sich ohnehin schwieriger, die Schließung von Unternehmen zu bekämpfen, als sich Angriffen auf Löhne und Arbeitsbedingungen zu widersetzen. Und wir wissen, dass die Bourgeoisie in Zeiten offener Wirtschaftskrisen immer nach Alibis suchen wird, die das kapitalistische System vom Haken nehmen: Anfang der 70er Jahre war es die "Ölkrise", 2008 waren es "die gierigen Bankiers". Wenn man heute den Job verloren hat, wird man dem Virus die Schuld geben. Aber diese Ausreden sind gerade deshalb nötig, weil die Wirtschaftskrise und insbesondere die Massenarbeitslosigkeit eine Anklage gegen die kapitalistische Produktionsweise ist, deren Gesetze sie letztlich daran hindern, ihre Sklaven und Sklavinnen zu ernähren.
Mehr denn je müssen Revolutionäre Geduld haben. Wie es im Kommunistischen Manifest heißt, zeichnen sich Kommunisten und Kommunistinnen durch ihre Fähigkeit aus, "die Marschrichtung, die Bedingungen und die allgemeinen Endergebnisse der proletarischen Bewegung" zu verstehen. Die Massenkämpfe unserer Klasse, ihre Verallgemeinerung und Politisierung, ist ein Prozess, der sich über einen langen Zeitraum entwickelt und viele Fortschritte und Rückschritte durchläuft. Aber wir praktizieren nicht bloße Wunscherfüllung, wenn wir, wie am Ende unseres internationalen Flugblatts über die Pandemie, darauf bestehen, dass "die Zukunft dem Klassenkampf gehört"[9].
Amos 12.05.2020
[1] https://www.leftcom.org/en/articles/2020-03-14/italy-we-re-not-lambs-to-the-slaughter-class-struggle-in-the-time-of-coronavirus [56]
[3] https://libcom.org/article/workers-launch-wave-wildcat-strikes-trump-pushes-return-work-amidst-exploding-coronavirus [58]
[4] Siehe die Reaktionen von Gesundheitspersonal in Belgien und Frankreich: https://fr.internationalism.org/content/10107/covid-19-des-reactions-face-a-lincurie-bourgeoisie [59]. Die Erklärung des belgischen Arbeiters ist in englischer Sprache in unserem Internetforum, Post 59, zu finden: https://en.internationalism.org/forum/16820/corona-virus-more-evidence-capitalism-has-become-danger-humanity [60]
[5] Dieser Verzicht wurde bis zu einem gewissen Grad durch die sich mehrenden Hinweise darauf untergraben, dass die ärmsten Elemente der Gesellschaft, einschließlich ethnischer Minderheiten, von dem Virus viel härter getroffen werden.
[7] Wir haben einige dieser Schwierigkeiten in der Klasse in verschiedenen Texten untersucht, zuletzt unter https://en.internationalism.org/content/16707/report-class-struggle-formation-loss-and-re-conquest-proletarian-class-identity [62]
In ihrer Nr. 530 vom Oktober/November 2018 veröffentlichte Le Prolétaire, ein Organ der Internationalen Kommunistischen Partei - Le Prolétaire, eine Antwort (Die Schwärmereien der IKS über den Populismus) auf zwei Artikel, die wir unter dem Titel: Die Schwächen der IKP in der Frage des Populismus verfasst hatten. Diese Artikel waren bereits eine erste Antwort auf ihren vorherigen Artikel: Populismus, sagten Sie Populismus? (Le Prolètaire Nr. 523), der unsere Analyse des gegenwärtigen Populismus kritisiert. Wir setzen hier diese Polemik fort, die wir für wesentlich halten, sowohl für die Konfrontation zwischen zwei verschiedenen Methoden im Kampf für die Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse, als auch für die unerlässliche Klärung der Analyse der aktuellen Situation im Proletarischen Politischen Milieu.
Revolutionäre untersuchen einen historischen Zeitraum und eine historische Situation als Kräfteverhältnis zwischen den beiden bestimmenden Klassen der Gesellschaft – der Bourgeoisie und dem Proletariat. Diese Analyse gehört zur höchsten Verantwortung der revolutionären Organisationen und war in den Schlüsselmomenten des proletarischen Kampfes immer entscheidend. Als Beispiel: Dank der Analyse des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und derjenigen der „Doppelherrschaft“ korrigierte Lenin in den Aprilthesen von 1917 die Orientierung der Bolschewistischen Partei gegenüber der Provisorischen Regierung von Fürst Lwow und Kerenski. Ebenso konnte die Bolschewistische Partei im Juli 1917, weil sie die Realität des Kräfteverhältnisses zwischen Proletariat und Bourgeoisie verstanden hatte, die von der Provisorischen Regierung aufgestellte Falle eines vorzeitigen Aufstands vereiteln.
Umgekehrt hat die Fehleinschätzung dieses Kräfteverhältnisses durch eine revolutionäre Organisation, unabhängig vom Grad ihres Einflusses auf die Arbeiterklasse immer sehr schwere, ja katastrophale Folgen gehabt. So hatte die Entscheidung Karl Liebknechts, als trotz der heftigen sozialen Unruhen in Deutschland im Januar 1919 die Bedingungen noch nicht reif waren, in Berlin zum Aufstand aufzurufen, tragische Folgen für das gesamte internationale Proletariat, weil er zur blutigen Niederschlagung der Revolution in Deutschland führte und der Bourgeoisie erlaubte, der Ausbreitung der Weltrevolution einen entscheidenden Schlag zu versetzen. Ebenso wurde Trotzkis opportunistische und aktivistische Haltung in den 1930er Jahren, die aus seinen Illusionen über eine mögliche positive Entwicklung des Stalinismus und seinem Unverständnis für die Notwendigkeit der Fraktionsarbeit herrührte, durch seine Unterschätzung der weltweiten Konterrevolution und des damals völlig ungünstigen Kräfteverhältnisses für das Proletariat noch verschlimmert. All dies veranlasste Trotzki unter anderem dazu, für die Bildung von Einheitsfronten mit bürgerlichen Parteien einzutreten, als Mittel gegen den Aufstieg des Faschismus. Ebenso vertrat er eine katastrophale Position während des Krieges in Spanien von 1936-38, als er behauptete, dass es „eine hybride, verwirrte, halb blinde und halb taube Revolution“ gegeben habe, die in eine „sozialistische Revolution“ umgewandelt werden könne, wenn es an der Spitze des bürgerlichen Staates „revolutionäre Führer“ gäbe. Einige dieser Fehler basierten auf Trotzkis Verwirrung über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, was ihn 1938, als die Kräfte der Revolutionäre nicht nur völlig zersplittert, sondern auch stark dezimiert waren, zum Fehler der Gründung einer „Vierten Internationale“ führte. Diese tragischen Irrtümer führten zu schrecklichen Massakern an der Arbeiterklasse im Krieg in Spanien, der Auftakt der blutigen imperialistischen Konfrontation von 1939-1945 war. Diese Politik steuerte die trotzkistischen Organisationen während des Zweiten Weltkriegs direkt in den Verrat und den Übertritt ins bürgerliche Lager. Deshalb haben wir, insbesondere in Anlehnung an Bilan und die Französische Kommunistische Linke, stets die entscheidende Bedeutung der Analyse über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen betont.
Von dem Moment an, als die Gesellschaft in eine neue historische Periode eintrat – die Periode der Kriege und Revolutionen, wie sie der Erste Kongress der Kommunistischen Internationale bezeichnete –, wurde es für revolutionäre Organisationen entscheidend, alle Konsequenzen zu ziehen, welche diese Veränderung der historischen Periode mit sich brachten. Die Kommunistische Linke setzte diese Arbeit nach dem Triumph der Konterrevolution durch die Niederschlagung der revolutionären Welle von 1917-1923 fort. Mit diesem Ansatz konnte die IKS den allgemeinen Rahmen für die Analyse des Eintritts des Kapitalismus in die Periode der Dekadenz erstellen. Wir konnten noch weiter gehen, indem wir zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs des Ostblocks 1989 den Eintritt des Kapitalismus in seine letzte Phase des Zerfalls erkannten[1]. Mit diesem theoretischen Rahmen, der sich auf die historische und globale Analyse des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen stützt, ist die IKS in der Lage, eine Analyse von Phänomenen wie dem Populismus zu entwickeln, die für die Zerfallsphase des Kapitalismus typisch sind.
Natürlich ist Le Prolétaire mit diesem Analyserahmen nicht einverstanden, was seine völlig reduzierte Interpretation der marxistischen Methode offenbart.
Wenn Le Prolétaire als Antwort auf die IKS kategorisch behauptet, dass „es nicht „ideologische“ Faktoren, sondern materielle Bedingungen sind, die die Proletarier in die Kampfbewegungen drängen und drängen werden, ihre Spaltungen überwinden lassen, die ihnen die Erkenntnis geben, dass sie derselben sozialen Klasse angehören, derselben Ausbeutung unterworfen sind, und die die avantgardistischen Elemente in diesen Bewegungen dazu drängen werden, eine Parteiorganisation aufzubauen, die den Kampf führt“, so beschreibt er damit bloß die elementarste Ebene des Klassenkampfes. Auch wir anerkennen voll und ganz, dass die materiellen Bedingungen für die Arbeiterklasse als Zusammenspiel objektiver Faktoren (das Ausmaß der Wirtschaftskrise, das Ausmaß der Angriffe der Bourgeoisie usw.) eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung des Klassenbewusstseins spielen. Aber die IKP vergisst dabei, dass subjektive Faktoren (Kampfbereitschaft, Überzeugung, Moral, Solidarität, Organisation, Bewusstsein, Theorie) sehr schnell eine wichtige Rolle für das Proletariat spielen, bis sie in einer revolutionären Periode entscheidend werden. Das brachte Marx dazu, zu sagen: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“ [2]. Diese Wirkungsweise wurde durch den Verlauf der Revolution in Russland lebhaft bestätigt. Es ist diese entscheidende Rolle des Bewusstseins, die Trotzki in den Mittelpunkt seiner Geschichte der Russischen Revolution stellte, als er schrieb: „Der Stand des Bewusstseins der Volksmassen, als entscheidende Instanz revolutionärer Politik, schloss somit im Juli die Möglichkeit der Machtergreifung durch die Bolschewiki aus“[3], und er auf folgende Worte Lenins Bezug nahm: „Wir sind keine Scharlatane: Wir stützen uns lediglich auf das Bewusstsein der Massen“.[4]
Bordiga hatte genau dies bei seiner Rückkehr ins militante politische Leben nach dem Zweiten Weltkrieg (die Geburtsstunde des Bordigismus) vergessen, was ihn dazu veranlasste, das Bewusstsein außerhalb des proletarischen Kampfes bis zur Revolution völlig zurückzuweisen und es auf die Partei zu reduzieren. Damit wertet die IKP den Klassenkampf auf eine Summe oder Abfolge fast automatischer und mechanischer materieller Bestimmungen ab, die zu jedem Zeitpunkt des Kapitalismus gültig sind. Jede andere Konzeption sei „Idealismus“. Genau das wirft uns die IKP in ihrem Artikel hinter den Begriffen „Geschwafel“ und „Launen“ vor, was eine wirkliche Antwort verhindert. Im selben Atemzug, wie sie die Bedeutung des Bewusstseinsfaktors im Kampf des Proletariats leugnet, verwirft die IKP auch die historische Dimension der Entwicklung des Kapitalismus und veranlasst sie dazu, die Analyse der Dekadenz des Kapitalismus, die wir verteidigen, abzulehnen.
Damit verlässt die IKP die historische Dimension und den konkreten Kontext der Entfaltung des Klassenkampfes, welche zu einer wesentlichen Errungenschaft des Marxismus gehören. Das Klassenbewusstsein ist keineswegs ein abstrakter Faktor, sondern eine materielle Kraft, wie Marx und Engels immer klar unterstrichen haben. Das Bewusstsein und das Niveau dieses Bewusstseins zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt sind nicht nur aktiver, sondern auch entscheidender Faktor, was bei einer Analyse des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen grundlegend ist und zwingend berücksichtigt werden muss.
Mit anderen Worten, es gibt nicht nur objektive Faktoren, sondern auch subjektive Faktoren, d.h. Faktoren, die mit dem Zustand und dem Entwicklungsstand des Klassenbewusstseins des Proletariats zusammenhängen und seine Stärke auf dem politischen Terrain bestimmen. Deshalb haben wir immer unterstrichen, dass im Kapitalismus das Proletariat, da es keine wirtschaftliche und materielle Macht besitzt, nur über zwei Waffen des Kampfes verfügt: sein Bewusstsein und seine Organisation.
Allgemeiner gesagt, sind die von der Bourgeoisie gestreuten und instrumentalisierten Ideen und Ideologien auch materielle Kräfte im Dienste ihrer Herrschaft und Ausbeutung. Die von der Bourgeoisie verbreiteten Mystifikationen und Illusionen spielen in konkreten Situationen eine aktive Rolle. Es gibt also einen konkreten Kampf, den das Proletariat führen muss, um die Manöver der ideologischen Propaganda der Bourgeoisie zu entlarven, insbesondere die gewichtigen demokratische Mystifizierung und jede Ideologie, die darauf abzielt, die Arbeiterklasse zu spalten: Rassismus/Antirassismus, Populismus/Antipopulismus, Totalitarismus/Demokratie, usw. Die IKP übersieht die große und aktive Rolle der Entwicklung des Bewusstseins des Proletariats im revolutionären Prozess, indem sie dieses Bewusstsein nur auf die Partei reduziert, auf welchem sie (und nur sie selbst) das „Monopol“ habe. Indem die IKP die Entwicklung des Klassenbewusstseins auf diese Ansammlung von materiellen Bedingungen reduziert, gerät sie in einen rein mechanischen Determinismus, d.h. in die Falle einer Sichtweise, welche dem des vulgären Materialismus gleicht und in ihrer Substanz Geist und Materie entgegenstellt: die absolute Bestimmung durch die materiellen und wirtschaftlichen Produktionsverhältnisse, unter Ausschluss „der Welt der Ideen“, d.h. die Verleugnung und Ablehnung der materiellen Kraft des Denkens und der Reflexion in der Klasse selbst. Diese verengte Sichtweise hat Konsequenzen, die insbesondere die IKP dazu führt, sich zu verselbständigen und sich in falsche, aus der Vergangenheit geerbten Theorien einzuhüllen.
Es gibt noch einen weiteren Aspekt in ihrer Kritik an unserem sogenannten „Idealismus“, der Zeugnis davon gibt, wie die IKP die Grundlagen des Marxismus auf den Kopf stellt: „Die IKS hat die völlig idealisierte Sichtweise einer Arbeiterklasse ohne Widersprüche, ohne verschiedene Schichten, ohne innere Spaltungen (...). Im Gegensatz zu diesem Märchen ist es wichtig zu verstehen, dass die Spaltung und Unterwerfung der Arbeiterklasse materielle Grundlagen hat“. Diese Auffassung führt die IKP dazu, an der Theorie der „Arbeiteraristokratie“ festzuhalten, die wir bereits in unserem vorherigen Artikel kritisiert haben.
Abgesehen von der saloppen Ironie in seiner Antwort („In diesem Punkt befinden wir uns in guter Gesellschaft, da die IKS behauptet, dass diese Auffassung bereits ein Irrtum von Engels und Lenin gewesen sei!“), stützt sich Le Prolétaire in der Tat auf eine falsche Vision, die sie aus Lenins[5] Buch Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus geerbt hat.[6]
Niemand bestreitet, dass es in der Arbeiterklasse immer Unterschiede bei Löhnen, Lebens- und Arbeitsbedingungen gibt, welche die Bourgeoisie immer versucht zu verstärken, hervorzuheben und zu instrumentalisieren, um damit das Wesen und den historischen Charakter der assoziierten und einheitlichen Klasse des Proletariats zu verbergen. Aber wir haben diesen Begriff der „Arbeiteraristokratie“ immer kritisiert, weil er die grundlegende Einheit des Proletariats als politische Klasse und seine Losung „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ missachtet und damit von kategorischen soziologischen Spaltungen und angeblichen Antagonismen konkurrierender Interessen innerhalb der Arbeiterklasse ausgeht. Die IKP hält an dieser soziologischen und fotografischen Sicht auf die Arbeiterklasse fest, verliert deren Wesen, Rolle und politische Orientierung aus den Augen, und gerät dadurch in eine ideologische Falle, wenn sie über die Spaltung des Proletariats in verschiedene Schichten spricht. Was die Arbeiter und Arbeiterinnen zum Kampf drängt, sind nicht nur die materiellen Bedingungen, denen sie unterworfen sind, sondern auch der Entwicklungsstand ihres Klassenbewusstseins im Kampf, der keineswegs linear oder kontinuierlich ist. Wegen ihrer Unzulänglichkeiten in der marxistischen Methode vergisst die IKP, dass das Proletariat fähig ist, sich in seinem Kampf gegen die Ausbeutung zu vereinen, und dass es dies in den höchsten Momenten seiner Geschichte (von der Pariser Kommune 1871, 1917 in Russland, Mai 1968 in Frankreich, bis hin zu den Kämpfen in Polen 1980) bewiesen hat, auch in Sektoren, in denen das Proletariat besser bezahlt wird. Die Bourgeoisie gibt sich in der Tat Mühe, die Arbeiterklasse als eine hoffnungslos gespaltene Klasse darzustellen, die bloß branchenspezifische und von der Konkurrenz geprägte Interessen verteidige. Doch die Realität der Arbeiterklasse, des Proletariats als Klasse, beruht auf ihrer tiefen Einheit. Das Proletariat kann, wie der Marxismus immer unterstrichen hat, seine Klassenidentität nur durch den Kampf und die Bekräftigung seiner Einheit und Solidarität auf der Grundlage des damit verbundenen Charakters seiner Arbeit innerhalb des Kapitalismus erkennen, sich so als revolutionäre Klasse behaupten und damit die existierenden Spaltungen überwinden. Die IKP verwechselt hier die bloße Existenz des Proletariats mit dem tatsächlich heterogenen und ungleichen Prozess, der bei der Entwicklung seiner Kämpfe und seines Klassenbewusstseins abläuft.
Wenn der Artikel von Le Prolétaire zur Rechtfertigung seiner Position einer „Arbeiteraristokratie“ behauptet, dass „es eine materialistische Analyse ist, um den bürgerlichen Einfluss (und insbesondere den Einfluss kollaborierender Parteien und Organisationen) auf das Proletariat zu erklären“, vertritt er die Auffassung, dass die linken Parteien und die Gewerkschaften „kollaborierende“ Arbeiterorganisationen seien, obwohl es aber in Wirklichkeit darum ginge, sie als bürgerliche Organe zu denunzieren, die unwiederbringlich in das bürgerliche Lager übergegangen sind. Zur Verteidigung seiner Theorie fügt Le Prolétaire hinzu: „Es ist ganz bewusst, dass die Kapitalisten einigen Schichten des Proletariats bestimmte Vorteile und bestimmte „Garantien“ (Sonderstatuten usw.) gewähren, um den sozialen Frieden in bestimmten Wirtschaftszweigen oder in der Wirtschaft insgesamt zu sichern. Diese Schichten bilden die Massenbasis der reformistischen Organisationen“. Es ist zwar richtig, dass die Bourgeoisie in ganz bestimmten historischen Momenten in der Lage ist, freiwillig und sehr bewusst, gezielte wirtschaftliche Zugeständnisse zu machen. Aber zu welchem Zweck? Es geht nicht darum, einen Teil des Proletariats zu „kaufen“, wie die IKP impliziert, „um die reformistische Ideologie zu verewigen“, sondern darum, es zu spalten und zu versuchen, die Arbeiter und Arbeiterinnen gegeneinander auszuspielen, indem man den Forderungen eines bestimmten Sektors oder in einem Unternehmen nachkommt. Eine Strategie, die vor allem angewendet wird, wenn die Mehrheit der Proletarier und Proletarierinnen im Kampf nichts anderes als die tiefe Bitterkeit der Niederlage erfährt, wie im Kampf in den Krankenhäusern in Frankreich 1988, wo nur die Krankenschwestern ein paar Krümel bekamen, oder in vielen Kämpfen, wie im jüngsten Streik bei General Motors in den USA, wo sie einen Wettbewerb zwischen Arbeitern provozierten, indem sie sie in die Verteidigung der Fabrik, des Unternehmens, der Region oder des Landes lockten. Strategien der herrschenden Klasse zur Kontrolle des Proletariats sind nicht neu, vor allem nicht durch neue Gesetzgebungen der Ausbeutung, wie Rosa Luxemburg in ihrer Einführung in die Nationalökonomie über die Bedeutung von Arbeitsschutzgesetzen erinnert: „Das Kapital mußte also im eigenen Interesse, um sich für die Zukunft die Ausbeutung zu ermöglichen, der Ausbeutung in der Gegenwart einige Schranken setzen. Die Volkskraft mußte etwas geschont werden, um ihre weitere Ausbeutung zu sichern. Von einer unwirtschaftlichen Raubwirtschaft mußte zur rationellen Ausbeutung übergegangen werden. Daraus sind die ersten Gesetze über den Maximalarbeitstag entstanden, wie die gesamte bürgerliche Sozialreform entsteht. Ein Gegenstück dazu haben wir in den Jagdgesetzen. Ebenso wie dem Edelwild eine bestimmte Schonzeit durch Gesetze gesichert wird, damit es sich rationell verbreitet und regelmäßig als Gegenstand der Jagd dienen kann, ebenso sichert die Sozialreform eine gewisse Schonzeit der Arbeitskraft des Proletariats, damit sie rationell zur Ausbeutung durch das Kapital dienen kann. Oder wie Marx sagt: Die Beschränkung der Fabrikarbeit war diktiert durch dieselbe Notwendigkeit, welche die Landwirte zwingt, den Dünger über die Felder auszugießen. Die Fabrikgesetzgebung wird im harten jahrzehntelangen Kampf mit dem Widerstand der Einzelkapitalisten erst für Kinder und Frauen und in einzelnen Industrien Schritt für Schritt geboren.“ (www.mlwerke.de/lu/lu05/lu05_739.htm [65])
Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist voll an historischen Beispielen, die zeigen, dass die herrschende Klasse nicht nur darauf bedacht ist, die Ausbeutung der Arbeitskraft zu rationalisieren, sondern dass es immer ein zentrales Ziel war, eine strenge Kontrolle über die Arbeiter auszuüben, zum Beispiel durch die Schaffung neuer Gewerkschaftsstrukturen. Bereits vor 1905 gab es in Russland das bekannte Beispiel der „Subatow-Gewerkschaften“ unter Kontrolle und direktem Befehl der zaristischen Polizei. Dies war in vielen Ländern vor allem auch kurz nach 1945 der Fall mit dem Sonderstatus der Beamten sowie bestimmten Schlüsselsektoren der Industrie (Strom- und Gasversorgung, Eisenbahnen, etc.) oder durch Lohnerhöhungen, die eine Erhöhung des Lebensstandards der Arbeiter und Arbeiterinnen ermöglichten, weil dies der herrschenden Klasse erlaubte, die Arbeiterklasse unter dem Joch der Nachkriegsausbeutung im Dienste der „nationalen Wiederaufbaubemühungen“ zu halten (das berühmte „Ärmel hochkrempeln!“ des französischen Ministers Thorez und seiner stalinistischen Gefolgsleute in einer aus dem Résistance hervorgegangenen Regierung der Nationalen Einheit). All dies durch die Mystifizierung von Verstaatlichungen und dem angeblich „arbeiterfreundlichen“ Charakter dieser Maßnahmen. Desgleichen in den folgenden Jahren während der Periode der „Glorreichen 30 Jahre“ (oder des „Wirtschaftswunders“), als die Bourgeoisie die Illusion einer beispiellosen wirtschaftlichen Neuentwicklung des Kapitalismus nach Überwindung seiner Krisen aufrechterhalten konnte. Während die Bourgeoisie der westlichen Länder den Arbeitern vorgaukelte, dass sie etwas vom Kapitalismus zu gewinnen hätten, ging es in Wahrheit darum, sie dazu zu bringen, die weitere Militarisierung der Wirtschaft, das Wettrüsten und eine permanente Kriegswirtschaft zu akzeptieren, mit dem Ziel, sie auf kriegerische Auseinandersetzungen mit dem gegnerischen Block vorzubereiten und zu mobilisieren. So wurde in Frankreich im Kontext des Kalten Krieges die Gewerkschaft Force Ouvrière (FO) 1947 auf Initiative der Bourgeoisie, insbesondere der Sozialdemokratischen Partei (SFIO) die in den 1950er Jahren eine zentrale Rolle in der Regierung spielte, bewusst ins Leben gerufen, um die Arbeiter im westlichen Lager und im pro-atlantischen Geist zu halten. Ziel war es, dem Einfluss der von der stalinistischen KPF kontrollierten CGT entgegenzuwirken, deren Einfluss die Gefahr mit sich brachte, dass das Kräfteverhältnis zugunsten des gegnerischen russischen Blocks kippt. Ebenso in Italien 1950 mit der Gründung der Gewerkschaft CISL (von der regierenden Christdemokratischen Partei gesponsert) und der UIL (von der Sozialdemokratischen Partei gesponsert) gegen die von den Stalinisten kontrollierte CGIL.
Wenn die Gewährung gezielter wirtschaftlicher „Vorteile und Garantien“ für bestimmte Sektoren, oder sogar für die ganze Klasse, tatsächlich eine bewusste Politik der Bourgeoisie unter diesem oder jenem Umstand oder in einem ganz bestimmten historischen Kontext sein kann, macht die IKP jedoch eine völlig falsche Interpretation davon, die zur eigenartigen Schlussfolgerung einer sogenannten „Klassenkollaboration der reformistischen Organisationen“ führt. Im Gegensatz zur verkürzten Vision der Wirklichkeit, die von der Theoretisierung der „Arbeiteraristokratie“ herrührt, ist die grundlegende und zentrale Frage, die dem Proletariat gestellt wird und die die IKP nicht sieht, die totalitäre Herrschaft des Staatskapitalismus als universelle Herrschaftsform der Bourgeoisie. Dies ist ein grundlegendes Merkmal der Zeit seit der Niederlage der weltrevolutionären Welle von 1917-1923 und Kennzeichen der Dekadenz dieses Systems, entweder direkt und brutal wie unter den stalinistischen Regimes oder indirekt in „demokratischer“ Form: die staatliche Kontrolle über die Wirtschaft und über die gesamte Gesellschaft. Anstelle einer Methode, welche die Entwicklung eines lebendigen analytischen Rahmens für Erfahrungen und Lehren, die von einem Klassenstandpunkt aus abgeleitet werden können, ermöglicht, hält Le Prolétaire daran fest, sich in „invariante“ Schemata einzuschließen und Formeln aus der Vergangenheit in Erinnerung zu rufen, ohne die historische Entwicklung der kapitalistischen Herrschaft wirklich zu berücksichtigen. So sprechen sie weiterhin von „reformistischen Organisationen“, „Klassenzusammenarbeit“, oder sogar von „Schichten, die Ausdruck einer Arbeiteraristokratie sind“, während in Tat und Wahrheit die Gewerkschaften wie auch die ehemaligen Arbeiterparteien nicht nur definitiv zu Organisationen mit bürgerlichem Charakter geworden sind, sondern auch vollständig in den Staatsapparat integriert sind und als dessen wesentliches Instrument der Herrschaft und Ausbeutung agieren. Ihre spezifische Funktion innerhalb des Staatsapparates besteht in der ausschließlichen Verteidigung seiner Interessen, indem sie es ermöglichen, dem Proletariat ein Korsett und einen Maulkorb anzulegen. In diesem Sinne sind sie sowohl die besten Verteidiger der Bourgeoisie als auch die schlimmsten und gefährlichsten Feinde des Proletariats. Einen Teil des bürgerlichen Staatsapparats als „reformistische Organisationen“ zu bezeichnen und dabei die Tatsache zu ignorieren, dass diese ehemaligen Arbeiterorganisationen (Gewerkschaften, Sozialdemokratie, sog. „Kommunistische Parteien“, trotzkistische Organisationen) angesichts von Krieg oder Revolution unwiderruflich in die Reihen der Bourgeoisie eingegliedert und zu erklärten Feinden des Proletariats geworden sind, hält die Illusion aufrecht, dass sie immer noch Arbeiterorganisationen seien[7]. Dies ist von Seiten einer Organisation des proletarischen Lagers wie der IKP unverantwortlich, weil es eine grundlegende Konfusion aufrechterhält, welche die herrschende Klasse gegen die Entwicklung des Klassenbewusstseins im Proletariat einsetzt.
Wenn eine proletarische Organisation an einer starren Vision der Vergangenheit festhält, ohne die dialektische und lebendige Dynamik im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen zu berücksichtigen, ohne die Lehren und Erfahrungen der Arbeiterbewegung zu berücksichtigen, läuft sie Gefahr, schwerwiegende Fehler zu begehen und Lehren zu ziehen, die nicht nur falsch, sondern auch sehr gefährlich sind. Mit einer dermaßen engen und reduzierten Sichtweise hat die IKP immer implizit geglaubt, dass das Proletariat in den zentralen Ländern des Kapitalismus nie wirklich aus der Konterrevolution herausgekommen ist. Da sie nicht in der Lage war, das Wiederaufflammen der proletarischen Kämpfe, das mit dem Mai 1968 in Frankreich eröffnet wurde, auf internationaler Ebene zu erkennen, konnte die IKP auch nicht die Gefahr einschätzen, die von der Schwächung des Klassenbewusstseins seit dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime des ehemaligen Ostblocks Ende der 1980er Jahre ausgeht. Diese Gefahr ist mit der bürgerlichen Propaganda verbunden, die den Stalinismus mit dem Kommunismus gleichsetzt und das Vertrauen eines großen Teils des Proletariats in die Perspektive einer kommunistischen Gesellschaft untergräbt. Le Prolétaire wirft uns vor, bei unserer Analyse des Populismus in die Falle der bürgerlichen Propaganda zu tappen (darauf werden wir im zweiten Teil dieses Artikels zurückkommen). Die IKP kann unsere Analyse des Populismus als eines der Merkmale der Zerfallsphase des Kapitalismus nicht verstehen, weil sie unseren Rahmen der Dekadenz des Kapitalismus und seine Auswirkungen auf den Kampf des Proletariats ablehnen.
(Fortsetzung folgt)
Wim, 4. Februar 2020
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Die Internationale Kommunistische Partei (Le Prolétaire) gehört zur langen Tradition der Italienischen Kommunistischen Linken, von der auch die IKS abstammt. Für uns ist es eine Gruppe, die dem Proletarischen Politischen Milieu angehört, trotz der Meinungsverschiedenheiten, die uns trennen. Unsere Polemik, offen und manchmal bitter, ist Ausdruck der notwendigen und vitalen Debatte, die sich im revolutionären Lager entwickeln muss. Die 1943 unter dem Namen Partito Comunista Internazionalista (PCInt) geborene, in ihrer heutigen Form seit 1952 (Datum der Abspaltung von der Gruppe um Onorato Damen, die ihre Tätigkeit bis heute um die Zeitung Battaglia Comunista fortsetzt) bestehende PCI (auf deutsch IKP) gruppiert sich heute im Wesentlichen in Frankreich und Italien mit den Zeitschriften Programma Comunista oder Le Prolétaire. Die IKP besteht darauf, in der Kontinuität der Kommunistischen Internationale und der Italienischen Kommunistischen Linken zu stehen, doch im Namen der „Invarianz des Marxismus“ kehrte die IKP dem gesamten Erbe der Zeitschrift Bilan den Rücken. In den 1930er Jahren und bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs sammelten sich die revolutionären Elemente der Italienischen Kommunistischen Linken um die Zeitschrift Bilan, um den Marxismus am Leben zu erhalten, da sie wussten, dass man der Konterrevolution entgegentreten musste, indem sie die wahren Lehren aus dieser schrecklichen Periode zog. Über den Antifaschismus, die Dekadenz des Kapitalismus, die Gewerkschaften, die nationale Befreiung, die Bedeutung der Degeneration der Russischen Revolution, den bürgerlichen Charakter der stalinistischen Parteien, über den Staat in der Übergangsperiode oder den Aufbau der „Partei“ wurden alle Erkenntnisse von Bilan seit der Entstehung der IKP beiseite gelegt. Diese politischen und theoretischen Fehler führten dazu, dass die IKP politische Aktivitäten ausübte, die für die Arbeiterklasse nur nachteilig waren. So konstituierte sich die IKP auf der Grundlage eines Ansatzes, der den Beiträgen von Bilan zur Frage der Fraktion und der Partei völlig entgegengesetzt war, als eine revolutionäre „Partei“, während jedoch die Arbeiterklasse schon vor dem Zweiten Weltkrieg komplett geschlagen und nicht in der Lage war, ihr Haupt zu erheben. Es ist derselbe Verzicht auf die grundlegenden Errungenschaften von Bilan, der die IKP dazu veranlasste, die stalinistischen Parteien als „reformistisch“ und die Trotzkisten als „Opportunisten“ zu betrachten und nicht als das, was sie wirklich sind: bürgerliche Parteien. Für die IKP gibt es diese Klassengrenze hier nicht. Ebenso lenkte die IKP den Anti-Parlamentarismus der historischen Italienischen Kommunistischen Linken (der 1919 geborenen „Abstinenzfraktion“, deren Hauptvertreter Bordiga war) auf das Terrain einer „Taktik“, rief zur Teilnahme an Wahlen und Referenden auf und verteidigte gleichzeitig „demokratische Rechte“, darunter das Wahlrecht für Immigranten. Darüber hinaus können in den Augen der IKP irgendwelche gewerkschaftliche „Taktiken“, frontistische Allianzen, bis hin zur „kritischen“ Unterstützung terroristischer Gruppen wie der Action Directe in Frankreich die Massen „organisieren“. So sah die IKP 1980 während der großen Streiks in Polen in der Gewerkschaft Solidarnosc, deren einzige Aktivität darin bestand, den Kampf zu sabotieren, den „Organisator“ der Arbeiterklasse. Aber wenn die Gründung der Internationalistischen Kommunistischen Partei (PCInt) 1943, die viele Militante der Italienischen Kommunistischen Linken sammelte, nicht ohne große theoretische und organisatorische Verwirrungen verlief, so verdankt es diese Gruppe der Kampferfahrung, mit der sie verbunden ist, dass sie immer auf einem Klassenterrain geblieben ist, und damit eine Organisation des proletarischen Lagers bleibt.
[1] Siehe dazu: Der Zerfall, die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus, Internationale Revue Nr. 13 /content/748/der-zerfall-die-letzte-phase-der-dekadenz-des-kapitalismus [3]
[2] Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1843)
[3] Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Kapitel „Konnten die Bolschewiki im Juli die Macht ergreifen?“
[4] ebenda, Kapitel „Die Bolschewiki und die Sowjets“
[5] Lenin greift tatsächlich einen Begriff auf, der bereits von Marx verwendet wurde, aber in einem ganz anderen Sinne. Marx beschreibt im ersten Band des Kapitals den am besten bezahlten Teil des Proletariats, um aufzuzeigen, dass auch er von der Krise betroffen ist und unter deren Auswirkungen im Elend versinkt.
[6] In diesem Werk stützt sich Lenin auf Passagen in Briefen von Engels an Marx bzw. Kaustky, in denen er davon spricht, dass „das englische Proletariat faktisch mehr und mehr verbürgert“ bzw. die englischen Arbeiter „flott mit von dem Weltmarkts- und Kolonialmonopol Englands“ zehren würden. Davon ausgehend theoretisiert Lenin zwei gefährliche Konzeptionen: Einerseits die Aufteilung der Proletarier in „obere“ Schichten (die „Arbeiteraristokratie“) und „untere“ Schichten, die ihm zufolge charakteristisch für das „imperialistische und monopolistische“ Stadium der Herrschaft des Kapitalismus seien. Und andererseits, dass das Proletariat der wichtigsten kolonialistischen Länder Privilegien genießen würde, die mit der Ausbeutung des Proletariats der kolonialisierten Länder verbunden seien. Es ist eine Infragestellung der Einheit des Proletariats als ausgebeutete Klasse, die im Zentrum der marxistischen Sichtweise steht, zugunsten einer soziologischen Vision der Dritten Welt, welche die Propaganda der gesamten linken Ideologie genährt hat und die behauptet, für „nationale Befreiung“ zu kämpfen.
[7] Genau so werden diese Parteien auch von linken bürgerlichen Organisationen als opportunistische oder zentristische oder „degenerierte Arbeiterparteien“ qualifiziert, die sich ebenfalls der Theoretisierung der „Arbeiteraristokratie“ bedienen, diese aber bewusst zu einem Faktor der Spaltung des Proletariats machen.
Der kaltblütige Polizistenmord an George Floyd hat in ganz Amerika und in der ganzen Welt Empörung hervorgerufen. Jeder weiß, dass dies der jüngste in einer langen Reihe von Polizistenmorden ist, bei denen Schwarze und Immigranten die Hauptopfer waren. Nicht nur in den USA, sondern auch in Großbritannien, in Frankreich und anderen "demokratischen" Staaten. In den USA hat die Polizei im März Breonna Taylor in ihrem eigenen Haus erschossen. In Frankreich wurde Adama Traoré 2016 in Polizeigewahrsam erstickt. In Großbritannien wurde Darren Cumberbatch 2017 von der Polizei zu Tode geprügelt. Dies ist nur die Spitze des Eisbergs.
Und bei der Reaktion auf die Proteste, die zuerst in den USA ausbrachen, hat die Polizei gezeigt, dass sie bereits eine militarisierte Terrormacht ist, mit oder ohne Unterstützung der Armee. Die brutale Unterdrückung der Demonstranten - 10.000 Verhaftungen in den USA - zeigt, dass die Polizei in den USA wie in anderen "demokratischen" Ländern genauso handelt wie die Polizei in offen diktatorischen Regimen wie Russland oder China.
Die Wut über all dies ist echt, und sie wird sowohl von Weißen als auch von Schwarzen, von Latinos, Asiaten und vor allem von der Jugend geteilt. Aber wir leben in einer Gesellschaft, die in materieller und ideologischer Hinsicht von einer herrschenden Klasse, der Bourgeoisie oder der Kapitalistenklasse, beherrscht wird. Doch Wut an sich, wie gerechtfertigt sie auch sein mag, reicht nicht aus, um das System, das hinter der Polizeigewalt steckt, in Frage zu stellen oder die vielen Fallen der Bourgeoisie zu umgehen. Die Proteste wurden nicht von der herrschenden Klasse begonnen. Aber es ist ihr bereits gelungen, sie auf ihr eigenes bürgerliches politisches Terrain zu ziehen.
Bei den ersten Wutausbrüchen in den USA nahmen die Proteste tendenziell die Form von Ausschreitungen an: Supermärkte wurden geplündert, symbolträchtige Gebäude niedergebrannt. Die provokativen Aktionen der Polizei trugen zweifellos zur Gewalt in den ersten Tagen der Proteste bei. Einige der Demonstranten rechtfertigten die Ausschreitungen mit dem Hinweis auf Martin Luther King, der sagte, dass "der Aufstand die Stimme der Ungehörten ist". Und das stimmt: Sie sind ein Ausdruck von Ohnmacht und Verzweiflung. Sie führen streng genommen zu nichts anderem als zu mehr Repression durch einen kapitalistischen Staat, der sich immer gegen unorganisierte, zersplitterte Aktionen auf den Straßen durchsetzen wird.
Aber die von offiziellen Aktivistenorganisationen wie Black Lives Matter vorgeschlagenen Alternativen - friedliche Märsche, die Gerechtigkeit und Gleichheit fordern - sind nicht weniger eine Sackgasse und in gewisser Weise sogar noch heimtückischer, weil sie den politischen Kräften des Kapitals direkt in die Hände spielen. Nehmen wir zum Beispiel die Forderung zur Kürzung/Streichung der Ausgaben für die Polizei, ja sogar zur Abschaffung der Polizei insgesamt. Einerseits ist sie innerhalb dieser Gesellschaft völlig unrealistisch. Sie gleicht der freiwilligen Selbstauflösung des kapitalistischen Staates. Andererseits verbreitet sie Illusionen über die Möglichkeit, den bestehenden Staat im Interesse der Ausgebeuteten und Unterdrückten zu reformieren - obwohl seine eigentliche Funktion darin besteht, diese im Interesse der herrschenden Klasse unter Kontrolle zu halten.
Dass sich die herrschende Klasse durch solch radikal anmutenden Forderungen keineswegs bedroht fühlt, zeigt die Tatsache, dass innerhalb weniger Tage nach den ersten Protesten kapitalistische Medien und Politiker - vor allem, aber nicht nur die der Linken - wörtlich oder im übertragenen Sinne "auf die Knie gingen", um die Ermordung von George Floyd inbrünstig zu verurteilen und die Proteste enthusiastisch zu unterstützen. Das Beispiel führender Politiker in Apparat der Demokratischen Partei in den USA ist das offensichtlichste, aber schon bald schlossen sich ihnen ihre Amtskollegen aus aller Welt an, darunter auch die wortgewandtesten Vertreter der Polizei. Das ist die bürgerliche Vereinnahmung legitimer Wut.
Wir dürfen uns keine Illusionen machen: Die Dynamik dieser Bewegung kann nicht in eine Waffe der Ausgebeuteten und Unterdrückten umgewandelt werden, denn sie ist bereits zu einem Instrument in den Händen der herrschenden Klasse geworden. Die gegenwärtigen Mobilisierungen sind kein "erster Schritt" zu einem echten Klassenkampf, sondern werden dazu benutzt, seine Entwicklung und Reifung zu blockieren.
Ohne den Sklavenhandel und die koloniale Unterwerfung der indigenen Bevölkerungen Asiens, Afrikas und Amerikas hätte der Kapitalismus nicht zu dem globalen System werden können, das er heute ist. Der Rassismus ist also in seinen Genen eingeprägt. Von Anfang an hat er rassische und andere Unterschiede genutzt, um die Ausgebeuteten gegeneinander aufzuhetzen, um zu verhindern, dass sie sich gegen ihren wahren Feind - die Minderheit, die sie ausbeutet - vereinen. Aber der Kapitalismus hat auch reichlich Gebrauch von der Ideologie des "Antirassismus" gemacht: die Idee, dass man Rassismus bekämpfen kann, indem man sich nicht nach Klassengrenzen, sondern um diese oder jene unterdrückte Gemeinschaft herum vereint. Sich auf der Grundlage seiner rassischen oder nationalen "Gemeinschaft" zu organisieren, wird zu einem weiteren Mittel, die diesem System zugrundeliegende Klassenspaltung zu verwischen: Es gibt keine "schwarze Gemeinschaft" als solche, denn es gibt sowohl schwarze Kapitalisten als auch schwarze Arbeiter, und sie haben keine gemeinsamen Interessen. Erinnern wir uns nur an das Massaker, das der südafrikanische "Post-Apartheid"-Staat 2012 an streikenden schwarzen Bergarbeitern in Marikana verübte.
Die Ermordung von George Floyd war nicht das Ergebnis eines vorsätzlichen Plans der Bourgeoisie. Aber er hat es der herrschenden Klasse ermöglicht, alle Aufmerksamkeit auf die Frage der Rasse zu richten, während das kapitalistische System als Ganzes seinen völligen Bankrott offenbart.
Angesichts des Verfalls des Kapitalismus ist der Klassenkampf die einzige Alternative. Die kapitalistische Gesellschaft befindet sich in einem tiefgreifenden Verfallsprozess. Die barbarischen Massaker, die sich nach wie vor über Afrika und den Nahen Osten ausbreiten, die unaufhörlichen Bandenkriege in Lateinamerika, die Millionen Menschen zur Flucht zwingen, sind ein deutliches Symptom dafür, ebenso wie die aktuelle Covid-19-Pandemie und die kapitalistische Verwüstung der Ökologie des Planeten. Zugleich steckt das System in einer unlösbaren Wirtschaftskrise. Nach dem Zusammenbruch von 2008 haben die kapitalistischen Staaten eine brutale Sparstrategie eingeleitet, die darauf abzielt, die Ausgebeuteten für die Krise zahlen zu lassen. Die daraus resultierenden Kürzungen im Gesundheitswesen sind einer der Hauptgründe, warum die Pandemie so katastrophale Auswirkungen hat. Im Gegenzug hat der weltweite Lockdown das System in eine noch tiefere Wirtschaftskrise gestürzt, die sicherlich mit der Depression der 1930er Jahre vergleichbar ist.
Dieser neue Abstieg in der Wirtschaftskrise führt bereits zu weit verbreiteter Verarmung, Obdachlosigkeit und Hunger, nicht zuletzt in den USA, die ihren Arbeitern angesichts von Arbeitslosigkeit oder Krankheit einen absolut minimalen sozialen Rückhalt bieten. Es besteht kein Zweifel, dass das daraus resultierende materielle Elend den Zorn der Proteste geschürt hat. Doch angesichts der historischen Überholtheit einer ganzen Produktionsweise gibt es nur eine Kraft, die sich gegen sie vereinen und die Perspektive einer anderen Gesellschaft bieten kann: die internationale Arbeiterklasse.
Die Arbeiterklasse ist nicht immun gegen die Verrottung der kapitalistischen Gesellschaft: Sie leidet unter all den nationalen, rassischen und religiösen Spaltungen, die durch den finsteren Fortschritt des gesellschaftlichen Zerfalls verschärft werden, am offensichtlichsten durch die Verbreitung populistischer Ideologien. Aber das ändert nichts an der grundlegenden Realität: Die Ausgebeuteten aller Länder, aller Couleur, haben das gleiche Interesse daran, sich gegen die sich verschärfenden Angriffe auf ihre Lebensbedingungen, gegen Lohnkürzungen, Arbeitslosigkeit, Vertreibungen, Kürzungen der Renten und Sozialleistungen - und gegen die Gewalt des kapitalistischen Staates zu verteidigen. Allein dieser Kampf ist die Grundlage für die Überwindung aller Spaltungen, die unseren Ausbeutern zugute kommen, und für den Widerstand gegen rassistische Angriffe und Pogrome in all ihren Formen. Und wenn die Arbeiterklasse sich organisiert, um ihre Kräfte zu vereinen, zeigt sie auch, dass sie die Fähigkeit besitzt, die Gesellschaft auf einer neuen Grundlage zu organisieren. Die Arbeiterräte, die überall auf der Welt im Gefolge der Revolution in Russland 1917 entstanden sind, die überbetrieblichen Streikkomitees (MKS), die im polnischen Massenstreik von 1980 gegründet wurden - sie sind der Beweis dafür, dass der Kampf der Arbeiterklasse auf ihrem eigenen Terrain die Perspektive bietet, auf den Ruinen des kapitalistischen Staates eine neue proletarische Macht zu schaffen und die Produktion für die Bedürfnisse der Menschheit neu zu organisieren.
Zumindest seit einigen Jahrzehnten verliert die Arbeiterklasse das Selbstverständnis als eine dem Kapital entgegengesetzte Klasse, was sowohl das Ergebnis gewaltiger ideologischer Kampagnen (wie z.B. die des "Tod des Kommunismus" nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Form des Kapitalismus) als auch weitreichender materieller Veränderungen (wie die Demontage traditioneller Zentren des Kampfes der Arbeiterklasse in den am stärksten industrialisierten Ländern) ist. Aber kurz bevor sich die Covid-19 Pandemie auf der ganzen Welt ausbreitete, hatten die Streiks im öffentlichen Sektor in Frankreich begonnen, uns zu zeigen, dass die Arbeiterklasse nicht tot und begraben ist. Die Ausbreitung der Pandemie und die weltweite Abriegelung blockierten das unmittelbare Potenzial für eine Ausweitung dieser Bewegung. Aber schon damals, in der ersten Phase des Lockdowns, gab es in vielen Ländern sehr kämpferische Reaktionen der Arbeiterklasse dagegen, wie "Lämmer zur Schlachtbank" geführt zu werden, ohne angemessene Sicherheitsausrüstung zu arbeiten, nur um die Profite der Bourgeoisie zu schützen. Diese Kämpfe - wiederum nicht zuletzt in den USA - gingen bereits über rassische und nationale Grenzen hinweg. Gleichzeitig hat der Lockdown die Tatsache bloßgelegt, dass das Funktionieren dieses Systems vollständig von der "wesentlichen" Arbeit der Klasse abhängt, die es so rücksichtslos ausbeutet.
Die zentrale Frage für die Zukunft der Menschheit lautet hier: Kann die kapitalistische Minderheit die ausgebeutete Mehrheit weiterhin nach Rassen, Religionen oder Nationen spalten und sie so mit ihr auf den Weg in den Abgrund zerren? Oder wird sich die Arbeiterklasse in allen Ländern der Welt als das erkennen, was sie ist - die Klasse, die nach Marx' Worten "revolutionär ist oder nichts ist".
Amos, 11.06.2020
Vor unserem Streifzug durch die Geschichte der Versuche des spanischen Anarchismus, einen "libertären Kommunismus" während des Krieges in Spanien von 1936-39 zu verwirklichen, haben wir den Beitrag der Gauche Communiste de France (GCF) über den Staat in der Übergangsperiode[1] veröffentlicht. Es ist ein Text, der auf den theoretischen Fortschritten der italienischen und belgischen Linksfraktionen in den 1930er Jahren basiert und bereits in mehrfacher Hinsicht über deren Vorstellungen hinausgeht. Die GCF war Teil eines Wiederauflebens proletarischer politischer Organisationen nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber Anfang der 1950er Jahre befand sich das proletarische Milieu in einer schweren Krise, da immer deutlicher wurde, dass die tiefe Niederlage der Arbeiterklasse durch den Krieg nicht verflogen war. Im Gegenteil, der Sieg der Demokratie über den Faschismus hatte die Orientierungslosigkeit des Proletariats weiter verschärft. Das Ende der Konterrevolution, die in den 1920er Jahren begonnen hatte, war noch weit entfernt.
In unserem Buch Die Deutsch-Holländische Linke, insbesondere in Kapitel 11, "Der Communistenbond Spartacus und die 'Rätekommunistische Strömung‘ (1942-50)", haben wir uns mit den bedeutenden Entwicklungen beschäftigt, die in einem Teil der holländischen kommunistischen Linken stattfanden. Der Versuch des Communistenbond Spartacus, sich für Diskussionen mit anderen Strömungen (wie der GCF) zu öffnen und einige der alten Positionen der KAPD wieder einzunehmen, war eine Abkehr von den in den 30er Jahren entwickelten parteifeindlichen Ideen. Diese Fortschritte waren jedoch zerbrechlich, und die grundsätzlich anarchistischen Ideen, die von der Mehrheit der Deutsch-Holländischen Kommunistischen Linken als Reaktion auf die Degeneration des Bolschewismus angenommen worden waren, kehrten bald wieder mit Wucht zurück und trugen zu einem langwierigen Prozess der Auflösung in hauptsächlich lokale Gruppen bei, die sich auf die unmittelbaren Kämpfe der Arbeiter*innen konzentrierten.
1952 löste sich die GCF auf. Zum Einen durch eine Fehldiagnose der historischen Lage, die zu dem Schluss führte, dass ein dritter Weltkrieg unmittelbar bevorstünde, und durch die Abreise von Marc Chirik, dem einflussreichsten Mitglied der GCF, nach Venezuela, und zum Anderen durch eine Kombination aus persönlichen Spannungen und unausgesprochenen politischen Differenzen. Marc kämpfte gegen diese Schwierigkeiten in einer Reihe von Briefen aus der Ferne, in denen er versuchte, die Aufgaben revolutionärer Organisationen unter den historischen Bedingungen, denen sie jetzt gegenüberstanden, darzustellen, aber er konnte den Zerfall der Gruppe nicht aufhalten. Einige seiner ehemaligen Mitglieder schlossen sich der Gruppe Socialisme ou Barbarie um Cornelius Castoriadis an – darüber mehr in einem späteren Artikel.
Im selben Jahr fand eine Spaltung in zwei große Tendenzen innerhalb der Internationalistischen Kommunistischen Partei in Italien statt – Tendenzen, die von Anfang an mehr oder weniger bestanden hatten, die aber in der Lage waren, eine Art Modus Vivendi zu etablieren, als sich die Partei in einer euphorischen Wachstumsphase befand. Als der Rückzug im Klassenkampf immer offensichtlicher wurde, war die Organisation angesichts der Demoralisierung vieler Arbeiter, die sich ihr zu Beginn oberflächlich aktivistisch angeschlossen hatten, gezwungen, über ihre zukünftigen Aufgaben und Ausrichtungen nachzudenken.
Die 1950er und frühen 60er Jahre waren somit eine weitere dunkle Periode für die kommunistische Bewegung, welche vor einer Fortsetzung der tiefen Konterrevolution stand, die in den 30er und 40er Jahren über die Arbeiterklasse hereingebrochen war. Dieses Mal aber vom Bild eines triumphierenden Kapitalismus beherrscht, der sich – vielleicht endgültig – von der katastrophalen Krise der 30er Jahre erholt zu haben schien. Es war vor allem der Triumph des US-Kapitals, der Demokratie, einer Wirtschaft, die relativ schnell von den Sparmaßnahmen der Nachkriegszeit in den Konsumboom der späten 50er und frühen 60er Jahre überging. Sicherlich hatte diese "glorreiche" Periode ihre Schattenseiten, vor allem die unerbittliche Konfrontation zwischen den beiden imperialistischen Supermächten mit ihrer Verbreitung lokaler Kriege und der übergreifenden Bedrohung durch einen nuklearen Holocaust. Darüber hinaus gab es im "demokratischen" Block eine Zunahme der Paranoia über Kommunismus und Subversion, wie die McCarthy-Hexenjagden in den USA zeigten. In dieser Atmosphäre waren die revolutionären Organisationen, wo immer sie noch existierten, noch kleiner und noch isolierter als in den 1930er Jahren.
Diese Periode markierte somit einen tiefen Bruch in der Kontinuität mit der Bewegung, die die Welt nach dem Ersten Weltkrieg erschüttert hatte, und mit den mutigen Minderheiten, die sich der fortschreitenden Konterrevolution widersetzt hatten. Als der Wirtschaftsboom weiterging, erschien die Vorstellung dass der Kapitalismus ein vorübergehendes System sei, das durch seine eigenen inneren Widersprüche zum Scheitern verurteilt war, weit weniger offensichtlich als in den Jahren 1914-1945, als das System von einer gigantischen Katastrophe in die nächste stürzte. War der Marxismus selbst gescheitert? Dies war sicherlich die Botschaft, die eine ganze Reihe von Soziologen und anderen professionellen bürgerlichen Denkern verbreitete, und solche Ideen durchdrangen bald die revolutionäre Bewegung selbst, wie wir in unserer jüngsten Serie über die Dekadenz[2] gesehen haben.
Dennoch war die Generation der Militanten, die von der Revolution oder vom Kampf gegen die Degeneration der von ihr geschaffenen politischen Organisationen gestählt worden war, nicht ganz verschwunden. Einige der Schlüsselfiguren der kommunistischen Linken blieben nach dem Krieg und in der Zeit des Rückzugs in den 50er und 60er Jahren aktiv, und für sie war die Perspektive des Kommunismus trotz allem keineswegs tot und begraben. Pannekoek, der zwar nicht mehr direkt mit einer Organisation verbunden war, veröffentlichte sein Buch über die Arbeiterräte und ihre Rolle beim Aufbau einer neuen Gesellschaft[3]. Bis ins hohe Alter blieb er mit einer Reihe von Gruppen in Kontakt, die nach dem Krieg auftauchten, wie zum Beispiel Socialisme ou Barbarie. Militante, die während des Krieges mit dem Trotzkismus gebrochen hatten, wie Castoriadis und Munis, hielten an einer politischen Aktivität fest und versuchten, eine Vision von dem zu entwerfen, was jenseits des kapitalistischen Horizonts lag. Und Marc Chirik, der über ein Jahrzehnt lang "unorganisiert" war, hatte das revolutionäre Denken und Forschen keineswegs aufgegeben. Als er Mitte der 60er Jahre ins organisierte militante Leben zurückkehrte, hatte er seine Ansichten zu einer Reihe von Fragen geklärt, nicht zuletzt zu den Problemen der Übergangsperiode.
Wir werden in den folgenden Artikeln auf die Schriften von Castoriadis, Munis und Chirik zurückkommen. Wir halten es für richtig, über ihre individuellen Beiträge zu sprechen, auch wenn ihre Arbeit fast immer im Rahmen einer politischen Organisation geleistet wurde. Ein revolutionärer Kämpfer existiert nicht nur als Individuum, sondern als Teil eines kollektiven Organismus, der letztlich von der Arbeiterklasse und ihrem Kampf um das Bewusstsein für ihre historische Rolle hervorgebracht wird. Ein Militanter ist per Definition eine Person, die sich mit aller Entschlossenheit dem Aufbau und der Verteidigung einer politischen Organisation widmet und die somit von einer tiefen Loyalität gegenüber der Organisation und ihren Bedürfnissen motiviert ist. Aber – und hier, wie wir unten sehen werden, unterscheiden wir uns von den von Bordiga entwickelten Vorstellungen – die revolutionäre Organisation ist kein anonymes Kollektiv, in dem der Einzelne seine Persönlichkeit opfert und damit seine kritischen Fähigkeiten aufgibt. Eine gesunde politische Organisation ist eine Assoziation, in der die Individualität der verschiedenen Genossen genutzt und nicht unterdrückt wird. In einer solchen Assoziation ist Platz für die besonderen theoretischen Beiträge der verschiedenen Genossen und natürlich für die Debatte über die Differenzen, die von einzelnen Militanten aufgeworfen werden. Wie wir in dieser Serie festgestellt haben, ist die Geschichte des kommunistischen Programms also nicht nur eine Geschichte der Kämpfe der Arbeiterklasse, nicht nur eine Geschichte der Organisationen und Strömungen, die die Lehren aus diesen Kämpfen gezogen und zu einem kohärenten Programm ausgearbeitet haben, sondern auch der einzelnen Militanten, die in diesem Prozess der Ausarbeitung den Weg gewiesen haben.
In diesem Artikel kommen wir auf die Arbeit der Italienischen Kommunistischen Linken zurück, die vor dem Krieg mit der Fraktion im Exil einen so unersetzlichen Beitrag zum Verständnis der Probleme des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus geleistet hatte. Dieser Beitrag war auf den marxistischen Grundlagen aufgebaut, welche die linkskommunistische Strömung in Italien in der vorangegangenen Phase, der Zeit des imperialistischen Weltkriegs und der revolutionären Welle der Nachkriegszeit, errichtet hatte. Nach dem zweiten imperialistischen Weltkrieg verschwand das theoretische Erbe der Italienischen Linken trotz der Fehler und Schismen, unter denen die Internationalistische Kommunistische Partei litt, nicht. Und während dieses gesamten Zeitraums, ob wir nun die Frage der Übergangsperiode oder andere Fragen anschauen, ist es unmöglich, das Zusammenspiel und oft auch die Opposition zweier führender Militanter dieser Strömung – Onorato Damen und Amadeo Bordiga – zu ignorieren.
Während der stürmischen Jahre von Krieg und Revolutionen von 1914 bis 1926 bewiesen Damen und Bordiga sehr deutlich ihre Fähigkeit, gegen die herrschende Ordnung zu kämpfen, die das Markenzeichen eines kommunistischen Militanten ist. Damen wurde wegen Agitation gegen den Krieg inhaftiert; Bordiga kämpfte unermüdlich, um die Arbeit seiner Fraktion innerhalb der Sozialistischen Partei zu entwickeln und dann auf eine Spaltung mit dem rechten Flügel und den Zentristen und die Bildung einer kommunistischen Partei mit festen Prinzipien zu drängen. Als die neue Kommunistische Internationale selbst Anfang der 1920er Jahre einen opportunistischen Kurs einschlug, stand Bordiga wieder an vorderster Front gegen die Taktiken der Einheitsfront und die "Bolschewisierung" der KP. Er hatte den immensen Mut, sich 1926 bei der Sitzung des Exekutivkomitees der KI in Moskau zu erheben und Stalin als Totengräber der Revolution anzuprangern. Im selben Jahr wurde Bordiga selbst verhaftet und auf die Insel Ustica[4] verbannt. Damen war unterdessen auch aktiv gegen die Versuche der KI, der zunächst von der Linken dominierten italienischen Partei eine opportunistische Politik aufzuzwingen. Zusammen mit Fortichiari, Repossi und anderen gründete er 1926 das Comitato di Intesa (Einigungskomitee)[5]. Während der faschistischen Zeit erlebte er mehr als eine Episode der Gefangenschaft und des Exils, aber er wurde nicht zum Schweigen gebracht, was zu einer Gefangenenrevolte in Pianosa führte.
Zu diesem Zeitpunkt gab es jedoch einen Unterschied in der Reaktion der beiden Militanten, der sehr langfristige Folgen haben sollte. Bordiga, unter Hausarrest gestellt und verpflichtet, alle politischen Aktivitäten einzustellen (wie mild die Faschisten damals schienen!), vermied alle Kontakte zu seinen Genossen und konzentrierte sich ganz auf seine Arbeit als Ingenieur. Er erkannte an, dass die Arbeiterklasse eine historische Niederlage erlitten hatte, zog aber nicht die gleiche Schlussfolgerung daraus wie die Genossen, die die Fraktion im Exil bildeten. Letztere verstand, dass es nach wie vor notwendig war, eine organisierte politische Aktivität aufrechtzuerhalten, auch wenn dies nicht mehr in Form einer Partei sein konnte. So war Bordiga zum Zeitpunkt der Gründung der Italienischen Fraktion und während des gesamten folgenden äußerst fruchtbaren Jahrzehnts von diesen theoretischen Entwicklungen völlig abgeschnitten[6]. Damen hingegen pflegte die Kontakte und organisierte nach ihrer Rückkehr nach Italien eine Reihe von Genossen aus der Fraktion mit der Idee, zur Bildung der Partei beizutragen. Dazu gehörten Kämpfer wie Stefanini, Danielis und Lecci, die den wesentlichen Positionen der Fraktion in den 30er Jahren und im Krieg treu geblieben waren. 1943 wurde im Norden Italiens der Partito Comunisa Internazionalista (PCInt) ausgerufen; 1945 wurde die Partei nach einer voreiligen Umgruppierung mit Elementen um Bordiga im Süden Italiens[7] "wieder gegründet".
Infolgedessen war die vereinte Partei, die sich um eine von Bordiga geschriebene Plattform herum bildete, von Anfang an ein Kompromiss zwischen zwei Tendenzen. Die Genossen um Damen waren in vielen grundlegenden Klassenpositionen viel klarer, und diese standen nicht zuletzt im Zusammenhang mit den Entwicklungen der Fraktion – zum Beispiel der ausdrücklichen Übernahme der Theorie der Dekadenz des Kapitalismus und der Ablehnung von Lenins Position zur nationalen Selbstbestimmung.
In diesem Sinne – und wir haben unsere Kritik am tiefgreifenden Opportunismus, der von Anfang an mit der Gründung der Partei verbunden war, nie verheimlicht – zeigte die Tendenz um Damen die Fähigkeit, einige der wichtigsten programmatischen Errungenschaften der Italienischen Fraktion im Exil aufzunehmen und sogar einige der Schlüsselfragen, die innerhalb der Italienischen Fraktion aufgeworfen wurden, zu übernehmen und sich auf eine besser ausgearbeitete Position zuzubewegen. Dies war bei der Gewerkschaftsfrage der Fall: Innerhalb der Fraktion war dies eine ungelöste Debatte gewesen, in der Stefanini als erster die Idee verteidigt hatte, dass die Gewerkschaften bereits in den kapitalistischen Staat integriert worden seien. Obwohl man nicht sagen kann, dass die Position der Damen-Tendenz in der Gewerkschaftsfrage jemals völlig einheitlich war, war sie zweifellos klarer als diejenige, die nach der Spaltung von 1952 zur dominierenden "bordigistischen" Ansicht wurde.
Dieser Klärungsprozess erstreckte sich auch auf die Aufgaben der kommunistischen Partei in der proletarischen Revolution. Wie wir in früheren Artikeln dieser Serie[8] gesehen haben, war die Fraktion trotz einiger hartnäckiger Vorstellungen über die Partei, die die Diktatur des Proletariats ausübt, im Wesentlichen über diese Position hinausgegangen, indem sie daran festhielt, dass eine wichtige Lehre der Russischen Revolution darin bestand, dass die Partei sich nicht mit dem Übergangsstaat verbinden sollte. Die Damen-Tendenz ging noch weiter und machte deutlich, dass es die Aufgabe der Partei war, keine Macht auszuüben. In der Plattform von 1952 heißt es zum Beispiel: "Zu keiner Zeit und unter keinen Umständen sollte das Proletariat seine Rolle im Kampf aufgeben. Es sollte seine historische Mission nicht an andere delegieren oder seine Macht auf andere übertragen – nicht einmal auf seine eigene politische Partei."
Wie wir in unserem Buch Die Italienische Kommunistische Linke zeigen, waren diese Erkenntnisse ganz logisch mit bestimmten Entwicklungen in der Staatsfrage verknüpft:
"Viel kühner war die Position der PCInt in der Frage des Staates in der Übergangsperiode, wo er sichtlich von Bilan und Octobre geprägt worden war. Damen und seine Genossen lehnten die Gleichsetzung der Diktatur des Proletariats mit der Parteidiktatur ab. Hinsichtlich des 'proletarischen Staates' trat er für eine weitgehende Demokratie in den Räten ein. Er schloss die von Kronstadt verifizierte Auffassung nicht aus, dass bei Konfrontationen zwischen dem 'Arbeiterstaat' und dem Proletariat die Kommunistische Partei sich auf die Seite des Proletariats stellen müsse: ‚Die Diktatur des Proletariats darf auf keinen Fall auf die Diktatur der Partei reduziert werden, selbst wenn es sich um die Partei des Proletariats handelt, die Kopf und Führer des proletarischen Staates ist. Staat und die Partei an der Macht tragen als Organe solch einer Diktatur den Keim eines Kompromisses mit der alten Welt in sich – eine Tendenz, die sich, wie uns die russische Erfahrung gezeigt hat, aufgrund der zeitweisen Unfähigkeit der Revolution entfaltet und verstärkt, sich über ein Land hinaus auszudehnen, indem sie sich mit den Aufstandsbewegungen in anderen Ländern zusammenschließt. Unsere Partei a) muss vermeiden, zum Instrument des Arbeiterstaates und seiner Politik zu werden […] muss die Interessen der Revolution auch in Zusammenstößen mit dem Arbeiterstaat verteidigen; b) muss vermeiden, bürokratisiert zu werden, weil sie ihre Leitungsebenen oder ihre peripheren Zentren zu einem Manöverfeld von Karrieristen macht; c) muss vermeiden, dass die Klassenpolitik auf formalistische und administrative Art erdacht und ausgeführt wird.‘“[9]
Die wichtigste Erkenntnis der Fraktion – der Begriff der Fraktion selbst, die Form und Funktion, welche die revolutionäre Organisation in einer Zeit der Niederlage im Klassenkampf annehmen muss – war jedoch für die Damen-Tendenz völlig verloren, ebenso wie die eng damit verbundene Auffassung vom Historischen Kurs, die Notwendigkeit das globale Kräftegleichgewicht zwischen den Klassen zu verstehen, das innerhalb der Epoche der Dekadenz tiefgreifende Veränderungen erfahren kann. Die Genossen um Damen konnten den schwerwiegenden Fehler von '43 – die Bildung einer "Partei" in einem einzigen Land in einer Zeit tiefgreifender Konterrevolution – nicht wirklich kritisieren und verschärften den Fehler, indem sie die Partei als permanente Notwendigkeit und sogar als permanente Realität theoretisierten. So blieb trotz der schnellen Schrumpfung zu einer "Mini-Partei" der ursprüngliche Fokus der Umgruppierung von 1943-45 aufrechterhalten: Aufbau einer Präsenz innerhalb der Arbeiterklasse und die entscheidende Führung in ihren Kämpfen – auf Kosten dessen was wirklich notwendig war: die Konzentration auf die theoretische Klärung der Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Zeit.
Die ihr entgegengesetzte Tendenz um Genossen wie Bordiga und Maffi war im Allgemeinen viel verwirrter über die wichtigsten Klassenpositionen. Bordiga ignorierte mehr oder weniger die Errungenschaften der Fraktion und plädierte für eine Rückkehr zu den Positionen der ersten beiden Kongresse der Dritten Internationale, die für ihn auf Lenins "Wiederherstellung" des kommunistischen Programms beruhten. Ein extremes Misstrauen gegenüber opportunistischen "Innovationen" des Marxismus (die auf dem Boden der Konterrevolution zu blühen begannen) führte ihn zur Idee des "invarianten" (unveränderlichen) Programms, das 1848 in Stein gemeißelt worden sei und nur dann und deshalb exhuminiert werden müsse, weil es regelmäßig von den Opportunisten und Verrätern begraben werde[10]. Wie wir oft betont haben, basiert dieser Begriff der Invarianz auf einer sehr "variablen" Geometrie, so dass beispielsweise Bordiga und seine Anhänger sowohl behaupten konnten, dass der Kapitalismus in seine Epoche der Kriege und Revolutionen eingetreten war (eine Grundposition der Dritten Internationale), als auch gegen den Begriff des Niedergangs polemisierten, da er sich auf ein pazifistische und gradualistische Ideologie stütze.[11]
Diese Infragestellung der Dekadenz hatte wichtige Auswirkungen auf die Analyse der Wesensart der Russischen Revolution (definiert als Doppelrevolution, nicht anders als die rätistische Vision) und insbesondere auf die Charakterisierung der Kämpfe um nationale Unabhängigkeit, die in den ehemaligen Kolonien immer zahlreicher wurden. Mao wurde, anstatt als das gesehen zu werden, was er war – Ausdruck der stalinistischen Konterrevolution und Produkt des kapitalistischen Niedergangs – als ein großer bürgerlicher Revolutionär ähnlich der Gestalt von Cromwell gefeiert. Später sollten die Bordigisten mit der gleichen Wertschätzung für die Roten Khmer in Kambodscha aufwarten, und dieses tiefe Unverständnis der nationalen Frage sollte in den späten 1970er Jahren in der bordigistischen Partei für Chaos sorgen, in einem beträchtlichen Ausmaß, welches den Internationalismus ganz aufgab.
In der Parteifrage, in Bezug auf die Fehler der Bolschewiki bei der Führung des Sowjetstaates war es, als hätte die Fraktion nie existiert. Die Partei übernimmt die Macht, führt den Staatsapparat, drängt den Roten Terror gnadenlos auf ... Selbst die wichtigen Nuancen Lenins über die Notwendigkeit, dass die Arbeiterklasse vor der Bürokratisierung und Verselbständigung des Übergangsstaates zurückschreckt, schienen vergessen worden zu sein. Wie wir in einem früheren Artikel dieser Serie[12] argumentieren, enthält Bordigas wichtigster Beitrag über die Lehren aus der Russischen Revolution in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, Gewalt und Diktatur im Klassenkampf (1946), sicherlich einige Erkenntnisse über das Problem der Degeneration, aber sein eher dogmatischer Antidemokratismus ermöglichte es ihm nicht, das Problem zu erkennen, wenn die Partei und der Staat das Proletariat ersetzen.
Auch wenn die Bordiga-Tendenz die Parteigründung von 1943 nie offen in Frage stellte, konnte sie verstehen, dass die Organisation in eine viel schwierigere Phase eingetreten war und dass man sich auf andere Aufgaben zu konzentrieren habe. Bordiga hatte der Gründung der Partei zunächst skeptisch gegenüber gestanden. Ohne das geringste Verständnis für den Begriff der Fraktion zu zeigen – er vergrub vielmehr seine eigene Erfahrung der Fraktionsarbeit vor dem Ersten Weltkrieg unter seinen nachfolgenden Theorien über die formale und die historische Partei[13] –, schien er doch zu verstehen, dass die bloße Aufrechterhaltung einer Routine der Intervention in den unmittelbaren Kampf nicht der richtige Weg und dass es notwendig war, zu den theoretischen Grundlagen des Marxismus zurückzukehren. Nachdem er den Beitrag der Fraktion und andere Beiträge der Kommunistischen Linken abgelehnt hatte, war diese Arbeit in Bezug auf die wichtigsten programmatischen Positionen nicht abgeschlossen, ja nicht einmal angepackt. Doch soweit es um allgemeinere theoretische Fragen geht, insbesondere um die Frage nach dem Wesen der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft, scheint es uns, dass es in dieser Zeit Bordiga war und nicht die "Damenisten", der uns das wichtigste Vermächtnis hinterlassen hat.
Das Buch Bordiga und die Leidenschaft für den Kommunismus, eine Sammlung von Schriften, die Jacques Camatte 1972 zusammenstellte, ist das beste Zeugnis für die Tiefe von Bordigas Reflexionen über den Kommunismus, insbesondere zwei große Präsentationen auf Parteiversammlungen in den Jahren 1959-60, die den ökonomischen und politischen Manuskripten von Marx von 1844 gewidmet sind: Kommentare zu den 1844er Manuskripten (1959-60) und Steintafeln der kommunistischen Theorie der Partei (die Seitenverweise beziehen sich auf den ersten Text, sofern nicht anders angegeben).
„Eine der Aufgaben unserer unpersönlichen Parteiarbeit müsste sein, den Text der Marx’schen Studien von 1844, mit dem wir uns hier befassen, „wieder zusammenzufügen“; das Manuskript ist in allen Ausgaben von wenig kompetenter Hand zusammengestellt, so dass es seltsame Sprünge von einem Hauptthema zum nächsten gibt. Dass noch ein Gemeinplatz darin besteht zu sagen, Marx sei in seinen Frühschriften Hegelianer gewesen, und erst später historischer Materialist – und womöglich noch später vulgärer Opportunist –, wird auch durch so verständige Herausgeber wie S. Landshut und J. P. Meyer (Berlin, 1931) bestätigt, die diese Manuskripte als philosophische Vorrede zum gewaltigen Werk des „Kapital“ ansehen. Aufgabe der revolutionären marxistischen Schule ist es, allen Gegnern (denen freisteht, entweder alles anzunehmen oder alles zu verwerfen) die Geschlossenheit der Theorie von ihrem ersten Auftreten bis zu Marx’ Tod, und sogar darüber hinaus vor Augen zu führen (es geht hier um den Grundbegriff der Invarianz – im Gegensatz zur These, wonach die Parteilehre fortwährend bereichert würde).“[14]
Hier haben wir sowohl die Stärken als auch die Schwächen von Bordigas Herangehensweise in einem Absatz. Einerseits: die unnachgiebige Verteidigung der Kontinuität von Marx' Denken und die Ablehnung der Vorstellung, dass die 1844er Manuskripte das Produkt eines Marx sind, der noch im Wesentlichen idealistisch und hegelianisch (oder zumindest unter dem Einfluss Feuerbachs) gewesen sei, einer Vorstellung, die insbesondere mit dem stalinistischen Intellektuellen Althusser in Verbindung steht und die wir bereits in früheren Artikeln dieser Serie kritisiert haben.[15]
Für Bordiga deuten die 1844er Manuskripte mit ihrer tiefen Bloßstellung der kapitalistischen Entfremdung und ihrer inspirierenden Beschreibung der kommunistischen Gesellschaft, die sie überwinden wird, bereits darauf hin, dass Marx einen qualitativen Bruch mit den fortschrittlichsten Formen des bürgerlichen Denkens vollzogen hatte. Insbesondere die 1844er Manuskripte, die einen großen Teil der Kritik an der Hegelschen Philosophie enthalten, zeigen, dass das, was Marx in Sachen Dialektik von Hegel aufnimmt und sein Bruch mit Hegel – was bedeutet, ihn dialektisch umzukehren, ihn "auf die Füße zu stellen" – sowie die Annahme einer kommunistischen Weltsicht genau im selben Moment stattfinden. Bordiga betont insbesondere die Ablehnung des Ausgangspunktes des Hegelschen Systems, des individuellen "Ich" durch Marx: “Deutlich wird: Für Marx besteht der Irrtum Hegels darin, seinen gewaltigen spekulativen Bau auf eine streng formale, d.h. abstrakte Grundlage, die des „Bewusstseins“, zu stellen. Und wie Marx so oft sagen wird, muss vom Sein ausgegangen werden, nicht vom Bewusstsein, das das Ich von sich selbst hat. Hegel befindet sich von Beginn an im Käfig des hohlen Dialogs zwischen Subjekt und Objekt. Sein Subjekt ist das im absoluten Sinn verstandene Ich (...)“
Gleichzeitig ist es offensichtlich, dass die 1844er Manuskripte für Bordiga den Beweis für seine Theorie der Invarianz des Marxismus liefern, eine Idee, die unserer Meinung nach durch die tatsächliche Entwicklung des kommunistischen Programms, die wir in dieser Serie verfolgt haben, widerlegt wird. Aber wir werden später auf diese Frage zurückkommen. Was wir mit Bordigas Sichtweise auf die 1844er Manuskripte teilen, ist vor allem: die Zentralität von Marx' Auffassung von Entfremdung, nicht nur gegenüber den Manuskripten, sondern gegenüber seinem gesamten Werk; eine Reihe grundlegender Elemente in Bordigas Auffassung von der Dialektik der Geschichte; und die erhabene Vision des Kommunismus, die Marx in seinem späteren Werk nie abgelehnt hat (obwohl er sie unserer Meinung nach bereichert hat).
Bordigas Verweise auf den Begriff der Entfremdung in den 1844er Manuskripten prägen seinen gesamten Blick auf die Geschichte, da er darauf besteht, dass "in der gegenwärtigen kapitalistischen Epoche der höchste Grad der Entfremdung des Menschen erreicht wurde“ (S. 124). Ohne das Verständnis aufzugeben, dass die Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus und die Zerstörung der alten feudalen Ausbeutungsmethode eine Voraussetzung für die kommunistische Revolution ist, verachtet er den leichtfertigen Fortschrittsglauben der Bourgeoisie, der seine Überlegenheit gegenüber früheren Produktions- und Erlebnisformen der Welt beansprucht. Er meinte sogar, dass das bürgerliche Denken in gewisser Weise leer ist im Vergleich zu den viel verspotteten vorkapitalistischen Standpunkten. Der Marxismus hat in Bordigas Worten folgendes gezeigt: "Nun gut, ihr der verkommenen bürgerlichen Kultur entstammenden Dummköpfe, eben darauf bestehen wir! Und wir haben das Recht dazu, weil unsere Entdeckung, der erstmalige Gebrauch des großartigen Schlüssels, der die auf der Menschheit lastenden Gegensätze und Rätsel auflöst, bereits die wissenschaftliche und kritische Kenntnis enthalten hat, die eure Belehrungen – vor allem gegenüber den noch älteren Positionen des menschlichen Denkens, die ihr Bourgeois unter der Eitelkeit eurer aufklärerischen Rhetorik für immer begraben zu haben glaubt – als hohle und haltlose Märchen offenbart. Seit damals und durch jenes jäh aufblitzende Licht wissen wir, dass die Hirn-Onanie der Meinung ein zu hasenfüßiger Weg ist, um zum Kern der gutgläubigsten aller Glaubensüberzeugungen vordringen zu können, eines Glaubens, der in rohen Worten verkündet wurde, doch aus dem lebendigen Schoß der Geschichte auf die Welt kam." (S. 30) Selbst wenn also sowohl die Bourgeoisie als auch das Proletariat ihre Religionskritik formulieren, gibt es wieder einen Bruch zwischen den beiden Klassenstandpunkten: „Ein gefährlicher Irrtum, denn selbst dann, wenn die Ideologen der modernen Bourgeoisie sich trauten (was keineswegs immer der Fall war), offen mit den Grundsätzen der christlichen Kirche zu brechen, begreifen wir Marxisten den Atheismus ganz und gar nicht als eine der Bourgeoisie und dem Proletariat gemeinsame ideologische Plattform; gegenüber der Bourgeoisie ist das Proletariat der Protagonist der zukünftigen Geschichte, und bei jenem Ideenstreit handelte es sich um den Kampf zwischen den entstehenden bürgerlichen Schichten auf der einen Seite und dem alten Landadel und seiner Feudalverfassung auf der anderen Seite.“ (S. 2)
Mit solchen Behauptungen scheint Bordiga an die Gedanken einiger der "philosophischen" Kritiker des Marxismus der Zweiten Internationale (und darüber hinaus der offiziellen Philosophie der Dritten Internationale) wie Pannekoek, Lukacs und Korsch anzuknüpfen, die die Idee ablehnten, dass, so wie der Sozialismus der logische nächste Schritt in der historischen Evolution sei und nur die "Übernahme" des kapitalistischen Staates und der Wirtschaft erfordere, der historische Materialismus einfach der nächste Schritt im Vormarsch des klassischen bürgerlichen Materialismus sei. Solche Ansichten basieren auf einer tiefen Unterschätzung des Antagonismus zwischen bürgerlichen und proletarischen Weltsichten, der unvermeidlichen Notwendigkeit eines revolutionären Bruchs mit den alten Formen. Es gibt natürlich eine Kontinuität, aber diese ist alles andere als allmählich und friedlich. Diese Art der Herangehensweise an das Problem steht im Einklang mit der Vorstellung, dass die Bourgeoisie die soziale und natürliche Welt nur durch die verzerrende Linse der Entfremdung sehen kann, die unter ihrer Herrschaft ihre "höchste" Phase erreicht hat.
Das Motto "Gegen den Immediatismus" steht mehr als einmal in den Untertiteln dieser Beiträge. Für Bordiga war es wichtig, eine Verengung des Fokus auf den gegenwärtigen Moment der Geschichte zu vermeiden und über den Kapitalismus hinaus sowohl vorwärts als auch rückwärts zu schauen. In der gegenwärtigen Epoche ist das bürgerliche Denken vielleicht unmittelbarer denn je, mehr denn je auf das Besondere, das Hier und Jetzt, das Kurzfristige fixiert, da es in tödlicher Angst lebt, dass die historische Sicht uns befähigen wird, seine flüchtige Natur zu erkennen. Aber Bordiga entwickelt auch eine Polemik gegen die klassischen "großen Narrative" der Bourgeoisie in ihrem optimistischeren Zeitalter: nicht weil sie großartig waren, sondern weil die Darstellungen der Bourgeoisie die wahre Geschichte deformierte. So wie der Übergang vom bürgerlichen zum proletarischen Denken nicht nur ein weiterer Schritt nach vorne ist, so ist die Geschichte im Allgemeinen keine gerade Linie, die von der Dunkelheit zum Licht führt, sondern Ausdruck der Dialektik in der Bewegung: "Der Fortschritt der Menschheit und des Wissens des gepeinigten homo sapiens ist kein kontinuierlicher, sondern verläuft in Sprüngen, unterbrochen durch finstere und verhängnisvolle Abstürze in Form verfallender, gar verwesender Gesellschaften." (S. 30) Dies ist keine zufällige Formulierung: An anderer Stelle im gleichen Text sagt er: "(…) einen Weg, der in den flachen Anschauungen der herrschenden Ideologien als ein ständiger und beständiger Aufstieg erscheint. Der Marxismus teilt diese Weltsicht nicht und kennzeichnet ihn vielmehr als eine von gewaltsamen Krisen durchbrochene Reihe abwechselnder Auf- und Abstiege" (S. 21). Eine klare Antwort, würde man meinen, an diejenigen, die das Konzept des Aufstiegs und der Dekadenz aufeinanderfolgender Produktionsweisen ablehnen ...
Die dialektische Sicht der Geschichte sieht Bewegung als Folge des – oft gewalttätigen – Zusammenpralls von Widersprüchen. Aber sie enthält auch den Begriff der Spirale und die "Rückkehr auf einer höhere Ebene". So ist der Kommunismus der Zukunft in einem wichtigen Sinne eine Rückkehr des Menschen zu sich selbst, wie Marx es in den 1844er Manuskripten formuliert, denn er ist nicht nur ein Bruch mit der Vergangenheit, sondern eine Synthese von allem, was in ihr menschlich war: „Der Mensch kehrt nicht zu sich selbst zurück, wie er es am Anfang seiner langen Geschichte begonnen hat, sondern verfügt schließlich über alle Vollkommenheiten einer gewaltigen Entwicklung, die in Form all der aufeinander folgenden Techniken, Bräuche, Religionen, Philosophien erworben wurden, deren nützliche Seiten – wenn wir uns auf diese Weise ausdrücken dürfen – in der Zone der Entfremdung gefangen waren.“ (S. 125)
Ein konkreteres Beispiel dafür: In einem kurzen Artikel über die Bewohner der Insel Janitzio in Mexiko[16], der 1961 verfasst und in die Sammlung von Camatte aufgenommen wurde, entwickelt Bordiga die Idee, dass "im natürlichen und primitiven Kommunismus" der Einzelne, der immer noch mit seinen Mitmenschen in einer realen Gemeinschaft verbunden ist, nicht die gleiche Angst vor dem Tod hat wie in der sozialen Atomisierung durch Privateigentum und Klassengesellschaft; und dass uns dies einen Hinweis darauf gibt, dass im Kommunismus der Zukunft, wo das Schicksal des/r Einzelnen mit dem der Spezies verbunden sein wird, die Angst vor dem persönlichen Tod und "jeder Kult der Lebenden und der Toten" überwunden wird. Bordiga bestätigt damit seine Kontinuität mit jenem zentralen Strang der marxistischen Tradition, der bekräftigt, dass in gewissem Sinne "die Mitglieder der primitiven Gesellschaften dem menschlichen Wesen näher gekommen sind" (S. 175) – dass der Kommunismus der fernen Vergangenheit auch als Vorbild für den Kommunismus der Zukunft verstanden werden kann[17].
Bordigas Verteidigung der 1844er Manuskripte war in hohem Maße eine lange Anklagerede gegen den Betrug des angeblichen "real existierenden Sozialismus" in den Ländern des Ostblocks, der nach dem "antifaschistischen Krieg" von 1939-45 wieder an Bedeutung gewonnen hatte. Seinen Angriff führte er auf zwei Ebenen: Negation und Affirmation. Eine Absage an die Behauptung, wonach das, was in der UdSSR und ähnlichen Regimen existierte, irgendetwas mit Marx' Vorstellung vom Kommunismus zu tun habe, vor allem auf wirtschaftlicher Ebene; umgekehrt das Festhalten an den grundlegenden Merkmalen kommunistischer Produktionsverhältnisse.
Laut einer Version eines an verschiedenen Orten aufgetauchten Witzes in der alten UdSSR unterrichtet ein Ausbilder in der Parteischule junge Komsomol-Mitglieder über die Schlüsselfrage: Wird es im Kommunismus Geld geben?: "Historisch gesehen, Genossen, gibt es drei Positionen zu dieser Frage. Es gibt den rechten Flügel, die proudhonistisch-bucharinistische Abweichung: Im Kommunismus wird jeder Geld haben. Dann gibt es die ultra-linke, infantile Abweichung: Im Kommunismus wird niemand Geld haben. Was ist nun die dialektische Position des Marxismus-Leninismus? Es ist klar: Im Kommunismus werden einige Leute Geld haben, und andere werden kein Geld haben."
Ob Bordiga mit diesem Witz vertraut war oder nicht, seine Antwort auf die Stalinisten in seinen Kommentaren geht in eine ähnliche Richtung. Ein Vorwort zu einer der stalinistischen Ausgaben der 1844er Manuskripte weist darauf hin, dass Marx' Text eine Polemik gegen Proudhons Theorie des gleichen Lohns enthält, was bedeutet, dass es für den in der UdSSR praktizierten „authentischen“ Marxismus im Sozialismus ungleiche Löhne geben muss. Aber im anschließenden Abschnitt mit der Überschrift "Entweder Lohnarbeit oder Sozialismus" weist Bordiga darauf hin, dass Marx in den 1844er Manuskripten, wie auch in anderen Werken wie Das Elend der Philosophie und Das Kapital, die Proudhon’sche Hohlheit widerlegt, „denn dieser erdenkt sich einen Sozialismus in dem weiterhin Löhne gezahlt werden, wie es in Russland der Fall ist. Marx bekämpft nicht die Theorie der Gleichheit der Löhne, sondern die Theorie des Lohns! Lohn, auch wenn er für alle gleich wäre, bedeutet immer Nicht-Sozialismus. Und wenn er nicht nivelliert, nicht gleich ist, kann von Sozialismus erst recht keine Rede sein." (S. 8)
Und einer der folgenden Abschnitte trägt den Titel: "Entweder Geld oder Sozialismus": So wie die Lohnarbeit in der UdSSR fortbesteht, so muss es auch ihre Entsprechung: die Dominanz der menschlichen Beziehungen durch den Tauschwert und damit durch Geld. Um auf die tiefe Kritik des Geldes als Ausdruck der Entfremdung zwischen den Menschen zurückzukommen, die Marx unter Berufung auf Shakespeare und Goethe in den 1844er Manuskripten entwickelte und in Das Kapital wieder aufnahm, bestand Bordiga darauf, dass "Gesellschaften daher, in denen Geld zirkuliert, Gesellschaften sind, in denen die Entfremdung der Arbeit und des Menschen herrscht, Gesellschaften des Privateigentums, die zur barbarischen Vorgeschichte der menschlichen Gattung" gehören (S. 13).
Bordiga zeigt in der Tat, dass die Stalinisten mehr mit dem Vater des Anarchismus gemeinsam haben, als sie zugeben wollen. Proudhon sieht in der Tradition eines "rohen Kommunismus", den Marx bereits zu dem Zeitpunkt als reaktionär erkannte, als er selbst sich dem Kommunismus zuzuwenden begann, eine Gesellschaft, in der "die jährlichen Einnahmen zu gleichen Teilen sozial unter allen Mitgliedern der Gesellschaft verteilt sind, die alle zu Lohnarbeitern geworden sind". Mit anderen Worten, diese Vorstellung vom Kommunismus oder Sozialismus war eine, in der das Elend der proletarischen Situation verallgemeinert und nicht abgeschafft wurde und in der die "Gesellschaft" selbst zum Kapitalisten wurde. Und als Antwort auf diejenigen – nicht nur die Stalinisten, sondern auch ihre linken Apologeten, die Trotzkisten –, die leugneten, dass die UdSSR eine Form des Kapitalismus sein könnte, weil sie (mehr oder weniger) einzelne Kapitalbesitzer losgeworden sei, antwortet Bordiga: "Es macht keinen Sinn zu fragen, wo denn die Kapitalisten sind. Die Antwort wurde 1844 gegeben: Die Gesellschaft ist ein abstrakter Kapitalist." (S. 10)
Die polemische Zielscheibe dieser Essays sind nicht allein die offenen Verteidiger der UdSSR. Wenn der Kommunismus den Tauschwert abschafft, dann deshalb, weil er alle Formen des Eigentums abgeschafft hat[18] – nicht nur das Staatseigentum in der Art wie im Programm des Stalinismus, sondern auch die klassische anarchosyndikalistische Version (die Bordiga auch der zeitgenössischen Gruppe Socialisme ou Barbarie mit ihrer Definition des Sozialismus als Arbeiter-Selbstverwaltung der Produktion zuschreibt): "Das Land den Bauern und die Fabriken den Arbeitern und ähnliche klägliche Parodien des großartigen Programms der revolutionären kommunistischen Partei" (S. 178, englische Ausgabe). Im Kommunismus muss das einzelne Unternehmen als solches abgeschafft werden. Wenn es weiterhin Eigentum derjenigen ist, die in ihm arbeiten, oder sogar der lokalen Gemeinschaft um sie herum, ist es nicht wirklich sozialisiert worden, und die Beziehungen zwischen den verschiedenen selbstverwalteten Unternehmen müssen zwangsläufig auf dem Austausch von Waren basieren. Wir werden auf diese Frage zurückkommen, wenn wir uns die Vision des Sozialismus ansehen, die von Castoriadis und der Gruppe Socialisme ou Barbarie entwickelt wurde.
Wie Trotzki in den visionären Schlusspassagen von Literatur und Revolution[19] – der 1924 wahrscheinlich keine Kenntnis von den 1844er Manuskripten hatte – steigt Bordiga dann aus der Sphäre der Negation des Kapitalismus und seiner Entfremdung auf, von der Beharrung auf dem, was der Sozialismus nicht ist, zur positiven Bestätigung dessen, was die Menschheit in den höheren Stufen der kommunistischen Gesellschaft darstellen wird. Die 1844er Manuskripte, wie wir in einem frühen Artikel dieser Serie[20] dargelegt haben, sind voll von Passagen, die beschreiben, wie die Beziehungen zwischen Menschen und zwischen Mensch und Natur im Kommunismus umgewandelt werden. Und Bordiga zitiert ausführlich aus den bedeutendsten dieser Passagen in seinen beiden Texten, vor allem, wo es um die Umwandlung der Beziehungen zwischen Männern und Frauen geht, und wo sie darauf bestehen, dass die kommunistische Gesellschaft das Entstehen einer höheren Stufe des bewussten Lebens zulässt.
Durch die gesamten 1844er Manuskripte lehnt Marx den "rohen Kommunismus" ab, der zwar die bürgerliche Familie angreift, die Frau aber immer noch als Objekt betrachtet und über eine kommende "Weibergemeinschaft" spekuliert. Im Gegenteil: Bordiga zitiert Marx, nach dem das Maß für den tatsächlichen Fortschritt der Gattung die Vermenschlichung der Beziehung zwischen Mann und Frau ist. Aber umgekehrt werden die Frau und die Beziehung zwischen den Geschlechtern im Kapitalismus Gefangene der Warenbeziehungen bleiben.
Nachdem er Marx' Gedanken zu diesen Fragen wieder aufgenommen hat, schweift Bordiga für einen Moment ab zum Problem der Terminologie, der Sprache. "Wir müssen, wenn wir die Textstellen wiedergeben, mal das Wort „Mensch“, mal das Wort „Mann“ gebrauchen. Das heutzutage hart klingende Wort „Weib“ brauchen wir nicht benutzen. Als vor einem halben Jahrhundert eine Umfrage zum Feminismus – die armselige Konsequenz, die die Kleinbürger aus der grauenhaften Unterjochung der Frau in der Eigentümergesellschaft ziehen – gemacht wurde, antwortete der damals noch tüchtige Marxist Filippo Turati mit dürren Worten: „Die Frau … ist Mensch“. Er wollte sagen, sie wird es im Kommunismus sein, doch in der bürgerlichen Gesellschaft ist sie ein Tier, oder ein Objekt." (S. 20)
Feminismus eine bürgerliche Abweichung? Dies ist eine Position, die von denen, die argumentieren, dass es einen "sozialistischen Feminismus" oder einen "Anarchofeminismus" geben könne, entschieden abgelehnt wird. Aber aus Bordigas Sicht hat der Feminismus einen bürgerlichen Ausgangspunkt, weil er auf die "Gleichstellung" der Geschlechter innerhalb der bestehenden sozialen Beziehungen abzielt; und das führt logischerweise zu der Forderung, dass Frauen "gleichermaßen" in der Lage sein sollten, in imperialistischen Armeen zu kämpfen oder sich zu Unternehmensleiterinnen und Ministerpräsidentinnen empor zu arbeiten.
Der Kommunismus brauchte nicht den Zusatz von Feminismus oder gar "sozialistischem Feminismus", um von Anfang an ein Verfechter der Solidarität von Männern und Frauen im Hier und Jetzt zu sein. Das kann nur im Klassenkampf, im Kampf gegen kapitalistische Unterdrückung und Ausbeutung und für die Schaffung einer Gesellschaft verwirklicht werden, in der die "ursprüngliche Form der Ausbeutung" – die der Frau durch den Mann – nicht mehr möglich sein wird. Mehr noch: Der Marxismus hat auch erkannt, dass der weibliche Teil der Spezies – wegen seiner doppelten Unterdrückung und seines fortgeschritteneren moralischen Gefühls (insbesondere im Zusammenhang mit seiner historischen Rolle bei der Erziehung von Kindern) – oft an der Spitze des Kampfes steht, zum Beispiel bei der Revolution 1917 in Russland, die mit Demonstrationen von Frauen gegen Brotmangel begann, oder in jüngerer Zeit bei den massiven Streiks in Ägypten 2007. Tatsächlich spielten nach der anthropologischen Schule von Chris Knight, Camilla Power und anderen, die sich mit der marxistischen Tradition in der Anthropologie identifiziert, weibliche Moral und Solidarität eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der menschlichen Kultur, in der ursprünglichen "menschlichen Revolution"[21]. Bordiga stimmt mit dieser Sichtweise überein, wenn er im Abschnitt "Der Liebe bedürfen alle" argumentiert, dass die den Frauen zugewiesene passive Funktion rein ein Produkt von Eigentumsbeziehungen sei, und weiterfährt: "weil die Geschlechtsliebe aber die Grundlage der Reproduktion der Gattung ist, ist die Frau ihrer Natur nach in Wirklichkeit das aktive Geschlecht, und die unserer Analyse unterzogenen Geldformen enthüllen sich als wider die Natur." (S. 24) Und er fährt mit einer Zusammenfassung fort, wie die Abschaffung der Warenbeziehungen dieses Verhältnis verändern wird: "Im vom Geld befreiten Kommunismus wird das sexuelle Verlangen bei beiden Geschlechtern das gleiche Gewicht und die gleiche Bedeutung haben. Und die gesellschaftliche Aussage, dass das Bedürfnis des anderen Menschen mein menschliches Bedürfnis ist, wird in der geschlechtlichen Hingabe Wirklichkeit, insofern das Bedürfnis des einen Geschlechts im Bedürfnis des anderen eingelöst wird."
Bordiga erklärt dann, dass diese Transformation auf den materiellen und sozialen Veränderungen der kommunistischen Revolution basieren wird: "Das ist nicht als bloßes, auf eine bestimmte Art des physischen Verhältnisses gegründetes sittliches [bzw. moralisches] Verhältnis bestimmbar, sondern geht darüber hinaus, was seinen Grund im Ökonomischen hat: Die Nachkommen und die sich dadurch ergebenden Verpflichtungen betreffen nicht die sich vermählenden Eltern, sondern die Gesellschaft selbst." Von diesem Ausgangspunkt aus wird die zukünftige Menschheit in der Lage sein, die Grenzen der bürgerlichen Familie zu durchbrechen.
In einem früheren Artikel dieser Serie[22] haben wir argumentiert, dass bestimmte Passagen in den 1844er Manuskripten nur dann Sinn machen, wenn wir sie als Vorwegnahme einer Bewusstseinsveränderung, einer neuen Seinsform sehen, die kommunistische soziale Beziehungen ermöglichen werden. Der Artikel betrachtete ausführlich den Abschnitt aus dem Kapitel "Privateigentum und Kommunismus", in dem Marx darüber spricht, wie das Privateigentum (im weitesten Sinne verstanden) dazu diente, die menschlichen Sinne einzuschränken, die menschliche Sinneswahrnehmung zu behindern – oder, um einen genaueren Begriff aus der Psychoanalyse zu verwenden, die menschliche Sinneserfahrung zu verdrängen. Folglich wird der Kommunismus die "Emanzipation der Sinne" mit sich bringen, eine neue körperliche und geistige Beziehung zur Welt, die mit dem "inspirierten" Zustand verglichen werden kann, den Künstler*innen in ihren kreativsten Momenten erleben.
Gegen Ende von Bordigas Text Steintafeln gibt es einen Abschnitt mit dem Titel "Nieder mit der Persönlichkeit, das ist der Schlüssel!" Wir werden diese Frage der "Persönlichkeit" später aufgreifen, aber wir wollen zunächst einmal untersuchen, wie Bordiga in seiner Interpretation der 1844er Manuskripte die Veränderung des menschlichen Bewusstseins in der kommunistischen Zukunft vorsieht.
Er beginnt mit der Feststellung, dass wir im Kommunismus "die jahrtausendealte Täuschung des Einzelnen gegenüber der natürlichen Welt, die von den Philosophen dummerweise als "äußerlich" bezeichnet wird, hinter uns gelassen haben werden. Äußerlich wovon? Äußerlich vom "Ich", diesem höchsten Defizit; aber wir können nicht mehr sagen, äußerlich der menschlichen Spezies, denn die Spezies Mensch ist innerlich der Natur, Teil der physischen Welt." Und er fährt fort zu sagen, dass "in diesem kraftvollen Text Objekt und Subjekt wie Mensch und Natur ein und dasselbe wird. Wir können sogar sagen, dass alles zum Objekt wird: Der Mensch als Subjekt "gegen die Natur" verschwindet, zusammen mit der Illusion eines einzigen Ichs." (S. 190, englischsprachige Ausgabe)
Dies kann nur ein Hinweis auf die Passage im Kapitel "Privateigentum und Kommunismus" sein: "Indem daher überall einerseits dem Menschen in der Gesellschaft die gegenständliche Wirklichkeit als Wirklichkeit der menschlichen Wesenskräfte, als menschliche Wirklichkeit und darum als Wirklichkeit seiner eignen Wesenskräfte wird, werden ihm alle Gegenstände als die Vergegenständlichung seiner selbst, als die seine Individualität bestätigenden und verwirklichenden Gegenstände, als seine Gegenstände, d.h. Gegenstand wird er selbst."
Bordiga geht weiter: "Wir haben gesehen, dass, wenn man vom Individuum auf die Spezies übergeht, der Geist, dieser absolute Unglückliche, in die objektive Natur aufgelöst wird. Das individuelle Gehirn als schlechte passive Maschine wird durch das soziale Gehirn ersetzt. Darüber hinaus weist Marx auf einen kollektiven menschlichen Sinn hin, der über den isolierten körperlichen Sinn hinausgeht". Und er zitiert weiter die 1844er Manuskripte über die Emanzipation der Sinne und betont, dass dies auch die Entstehung einer Art kollektiven Bewusstseins anzeigt – was wir als Übergang vom "gesunden Menschenverstand" des isolierten Egos zur Vergemeinschaftung der Sinne bezeichnen könnten.
Was halten wir von diesen Vorstellungen? Bevor wir sie als Science-Fiction abtun, sollten wir uns daran erinnern, dass wir in der bürgerlichen Gesellschaft vor allem das Ego oft als das absolute Zentrum unseres Seins betrachten ("Ich denke, also bin ich"), aber es gibt auch eine lange Tradition des Denkens, die darauf besteht, dass das Ego nur eine relative Wirklichkeit ist, bestenfalls ein bestimmter Teil unseres Seins. Diese Sichtweise ist sicherlich zentral für die psychoanalytische Theorie, für die das erwachsene Ich nur durch einen langen Prozess der Verdrängung und Spaltung zwischen dem bewussten und dem unbewussten Teil von uns selbst entsteht – und darüber hinaus der "einzige Sitz der Angst"[23], denn zwischen den Anforderungen der äußeren Realität und den unerfüllten, im Unbewussten vergrabenen Triebe gefangen, ist es ständig mit seinem eigenen Sturz oder Untergang beschäftigt.
Es ist auch eine Ansicht, die in einer Reihe von "mystischen" Traditionen in Ost und West vertreten wurde, obwohl sie wahrscheinlich am konsequentesten von der indischen Philosophie und vor allem vom Buddhismus mit seiner Lehre von "anatta" – der Vergänglichkeit des separaten Selbst – entwickelt wurde. Aber all diese Traditionen neigen dazu, darin übereinzustimmen, dass es möglich sei, durch das direkte Eindringen in das Unbewusste das alltägliche Ich-Bewusstsein – und damit die Qual der ewigen Angst – zu überwinden. Die ideologischen Verzerrungen, die diese Traditionen unweigerlich begleiteten, berauben diesen Philosophien ihre klarsten Einsichten, die die Möglichkeit eröffnen, dass der Mensch in der Lage ist, eine andere Art von Bewusstsein zu erlangen, in der die Welt um uns herum nicht mehr als ein feindseliges Anderes angesehen wird, und der Fokus des Bewusstseins verschiebt sich nicht nur intellektuell, sondern durch eine direkte und sehr körperliche Erfahrung, vom isolierten Atom zum Standpunkt der Spezies – in der Tat, dem Standpunkt von etwas noch mehr als der Spezies: der Natur, eines sich entwickelnden Universums, das sich selbst bewusst wird.
Es ist schwierig, die obigen Passagen von Bordiga zu lesen und zu dem Schluss zu kommen, dass er von etwas ganz anderem spricht. Und es ist wichtig zu beachten, dass Freud in den ersten Abschnitten von Das Unbehagen in der Kultur die Realität des "ozeanischen Gefühls", dieser Erfahrung der erotischen Einheit mit der Welt, anerkannt hat, obwohl er sie nur als Regression in den kindlichen Zustand vor der Entstehung des Ichs sehen konnte. Im gleichen Abschnitt des Buches akzeptiert er aber auch die Möglichkeit, dass die mentalen Techniken des Yoga die Tür zu "ursprünglichen Geisteszuständen öffnen können, die längst überlagert sind". Die Frage, die wir theoretisch aufwerfen müssen – und vielleicht zukünftige Generationen auch praktischer erforschen –, ist, ob die uralten Techniken der Meditation nur zu einer Regression, einem Zusammenbruch in die undifferenzierte Einheit von Tier oder Kind führen können; oder ob sie Teil einer dialektischen "Rückkehr zum Bewusstsein", einer selbstbewussten Erforschung unseres eigenen Geistes sein können. In diesem Fall weisen die Fälle des "ozeanischen Gefühls" nicht nur auf die kindliche Vergangenheit hin, sondern auch auf den Horizont eines fortgeschritteneren und universelleren menschlichen Bewusstseins. Dies war sicherlich die Ansicht von Erich Fromm in seiner Studie Zen-Buddhismus und Psychoanalyse, zum Beispiel, wenn er über das schreibt, was er den "Zustand der Nicht-Verdrängung" nennt, definiert als "einen Zustand, in dem man wieder das unmittelbare, unverzerrte Verständnis der Realität, der Einfachheit und Spontaneität des Kindes gewinnt; doch nach dem Prozess der Entfremdung, der Entwicklung des eigenen Intellekts, ist die Nicht-Verdrängung die Rückkehr zur Unschuld auf einer höheren Ebene; diese Rückkehr zur Unschuld ist erst möglich, wenn man seine Unschuld verloren hat.”[24]
Aber Bordigas theoretische Schriften in dieser Zeit stellten nicht nur die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zur Natur auf dieser sehr "philosophischen" Ebene. Er hat es auch in seinen weitsichtigen Überlegungen zur Frage der kapitalistischen Katastrophen und der Umweltprobleme angesprochen. Bordiga bringt sein Fachwissen als Ingenieur und vor allem seine tiefe Ablehnung des bürgerlichen "Fortschritts" wieder ein, um zu zeigen, wie das Streben nach Akkumulation die Samen solcher Katastrophen und letztlich die Zerstörung der Natur selbst enthält[25]. Besonders heftig ist Bordiga in seinen Artikeln über den Rausch der Urbanisierung, den er bereits in der Nachkriegszeit des Wiederaufbaus wahrnehmen konnte, und er verurteilt die Einzwängung des Menschen in immer engere Stadträume und die damit verbundene Philosophie des "Vertikalismus" im Bau. Er argumentiert, dass diese Reduzierung des Menschen auf die Ebene der Ameisen ein direktes Produkt der Akkumulationsbedürfnisse sei und in der kommunistischen Zukunft umgekehrt werde, und bekräftigt Marx‘ und Engels' Forderung nach Überwindung der Trennung zwischen Stadt und Land: "Wenn es nach der gewaltsamen Niederschlagung dieser immer obszöneren Diktatur möglich sein wird, jede Lösung und jeden Plan der Verbesserung der Bedingungen der lebenden Arbeit unterzuordnen, um mit diesem Ziel alles zu gestalten, was aus der toten Arbeit, aus dem konstanten Kapital, aus der Infrastruktur, die die menschliche Spezies im Laufe der Jahrhunderte aufgebaut hat und weiter auf der Erdkruste aufbaut, entstanden ist, dann wird der brutale Vertikalismus der Zementmonster lächerlich gemacht und unterdrückt, und in den riesigen Weiten des horizontalen Raumes, sobald die riesigen Städte entleert sind, werden die Kraft und Intelligenz des menschlichen Tieres allmählich dazu neigen, die Dichte des Lebens und der Arbeit über den bewohnbaren Teilen der Erde einheitlich zu gestalten; und diese Kräfte werden von nun an in Harmonie sein, und nicht mehr wilde Feinde wie in der deformierten Zivilisation von heute, wo sie nur noch durch das Gespenst von Knechtschaft und Hunger zusammengeführt werden" (veröffentlicht in Space against cement in The Human Species and the Earth's Crust (Espèce Humaine et Croûte Terrestre, Petite Bibliothèque Payot, S. 168). Es sei auch darauf hingewiesen, dass Bordiga 1952, als er eine Art "unmittelbares revolutionäres Programm" formulierte, dieses Forderungen enthielt, das zu stoppen, was er bereits als die unmenschliche Überlastung und das Tempo des Lebens sah, die durch die kapitalistische Urbanisierung hervorgerufen wurden (ein Prozess, der seither ein viel höheres Maß an Irrationalität erreicht hat). So fordert der siebte von neun Punkten "‘Anhalten der Bautätigkeit‘ von Wohnungen und Arbeitsstätten am Rande der großen Städte (und auch der kleinen), als Maßnahme zur gleichmäßigen Verteilung der Bevölkerung über das gesamte Territorium. Verringerung der Schnelligkeit, des Ausmaßes und der Verdickung des Verkehrs durch Verbot des überflüssigen Verkehrs" (in einem zukünftigen Artikel wollen wir auf die anderen Forderungen in diesem "Programm" zurückkommen, da sie eine Reihe von Formulierungen enthalten, die aus unserer Sicht stark kritisiert werden müssen).
Es ist interessant festzustellen, dass Bordiga, wenn es darum geht, zu beweisen, warum all dieser so genannte Fortschritt der kapitalistischen Stadt nichts dergleichen war, auf ein Konzept der Dekadenz zurückgriff, das er in anderen Polemiken aus dem Fenster wirft – zum Beispiel im Titel "Seltsame und wunderbare Geschichten der modernen sozialen Dekadenz"[26]. Ein solcher Begriff steht andererseits völlig im Einklang mit dem oben genannten allgemeinen Geschichtsbild, in dem Gesellschaften "bis zur Verwesung degenerieren" und Phasen des Auf- und Abstiegs durchlaufen können. Es ist, als ob Bordiga, einmal auf Distanz zur "schmalen" Welt der rivalisierenden politischen Positionen und gezwungen, zu den Grundlagen der marxistischen Theorie zurückzukehren, keine andere Wahl hätte, als anzuerkennen, dass der Kapitalismus, wie alle früheren Produktionsformen, auch in eine Epoche des Niedergangs eintreten muss – und dass diese Epoche seit langem angebrochen ist unabhängig von den Wundern des "Wachstums im Niedergang" des Kapitalismus, die die Menschheit ersticken und ihre Zukunft bedrohen.
Wir müssen nun auf Bordigas Vorstellung zurückkommen, dass die 1844er Manuskripte Beweise für seine Theorie der "Invarianz des Marxismus" lieferten. Wir haben bei verschiedenen Gelegenheiten argumentiert, dass es sich dabei um eine religiöse Vorstellung handelt. In einer scharfen Polemik mit der bordigistischen Gruppe, die Programma Comunista veröffentlicht, stellte Mark Chirik die tatsächliche Ähnlichkeit zwischen dem bordigistischen Konzept der Invarianz und der muslimischen Haltung der Unterwerfung unter eine unveränderliche Doktrin fest.[27]
Zielscheibe dieser Polemik waren hauptsächlich die Epigonen von Bordiga, aber was hat Bordiga selbst über die Beziehung zwischen dem Marxismus und den Quellen der "invarianten" Lehre in der Vergangenheit gesagt? In einem zukunftsweisenden Text mit dem Titel Die historische Invarianz des Marxismus[28] schreibt er: "Das theoretische Gut der revolutionären Arbeiterklasse ist weder eine Offenbarung noch ein Mythos noch eine idealistische Ideologie, wie es für die vorhergehenden Klassen zutraf. Es ist eine positive Wissenschaft, und bedarf einer festen und dauerhaften Formulierung ihrer Prinzipien und ihrer Aktionsregeln. Diese Formulierung soll die gleiche Rolle spielen und die gleiche bestimmende Wirksamkeit haben wie in der Vergangenheit die Dogmen, der Katechismus, die Tafeln, die Verfassungen, die Leitbücher der Vedas, der Talmut, die Bibel, der Koran und die Erklärung der Menschenrechte. Die grundlegenden Irrtümer in der Substanz oder der Form, die in diesen Sammelwerken enthalten waren, haben ihnen nichts von ihrer außerordentlichen organisatorischen und sozialen Kraft genommen; sie waren in dialektischer Folge zuerst revolutionär, dann konterrevolutionär - aber es war oft gerade diese feste Systematisierung, selbst wenn sie diese Irrtümer enthielt, die zu ihrer Kraft beigetragen hat."
Bordiga war sich in seinen Kommentaren bereits des Vorwurfs bewusst, dass solche Ideen ihn zurück zur religiösen Weltanschauung führten: "dass es ganz sinnig ist, den immer wieder auf der Bildfläche erscheinenden Philister zu ärgern – einen Grund, die Aussage als Beleidigung aufzufassen, wonach eine Mystik, oder wenn man lieber will, ein Mythos, in unserer Bewegung noch solange am Platz ist, wie sie real nicht gesiegt hat (denn ihr Sieg geht jeder weiteren Aneignung menschlicher Erkenntnis voran). Der Mythos, der in vielerlei Gestalt auftrat, war ja kein Hirngespinst von Geistern, die der Wirklichkeit gegenüber (wie bei Marx: zugleich „naturalistisch“ und „humanistisch“) die Augen zumachten; er war vielmehr eine unersetzliche Etappe auf dem einzigen Weg zur Aneignung der Kenntnisse, die in den Klassengesellschaften aus großen und weit auseinander liegenden revolutionären Rissen hervorbrechen und sich erst in der klassenlosen Gesellschaft frei werden entfalten können." (S. 30)
Bordiga hat recht, wenn man bedenkt, dass das mythische Denken in der Tat ein "unersetzlicher Schritt" in der Evolution des menschlichen Bewusstseins war und dass die Bibel, der Koran oder die Erklärung der Menschenrechte zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte authentisch revolutionäre Produkte waren. Er hat auch recht, wenn er anerkennt, dass die Einhaltung solcher "Tafeln des Gesetzes" zu einem anderen Zeitpunkt in der Geschichte konterrevolutionär wurde. Aber der Mechanismus, durch den sie unter neuen historischen Umständen konterrevolutionär wurden, war genau die Vorstellung, dass sie unverändert und unveränderlich seien. Der Islam zum Beispiel hält seine Offenbarung für reiner als die der jüdischen Thora, weil er im Gegensatz zu dieser, die späteren Revisionen und Bearbeitungen unterzogen worden sei, kein einziges Wort des Korans geändert habe, seit der Engel Gabriel sie Mohammed diktiert habe. Der Unterschied zwischen der marxistischen Sichtweise des kommunistischen Programms und dem Mythos oder religiösen Dogma besteht darin, dass der Marxismus seine Konzepte als historisches Produkt des Menschen sieht und somit durch nachfolgendes historisches Wachstum oder Erfahrung bestätigt oder widerlegt und nicht als eine ein für alle Mal fixierte Offenbarung aus einer übermenschlichen Quelle. Tatsächlich besteht er darauf, dass mythische oder religiöse Offenbarungen selbst Produkte der Menschheitsgeschichte sind und daher in ihrem Umfang und ihrer Klarheit selbst an ihren höchsten Leistungspunkten begrenzt sind. Indem Bordiga die Vorstellung übernimmt, dass der Marxismus selbst eine Art Mythos sei, verliert Bordiga die historische Methode aus den Augen, die er anderswo so gut anwendet.
Natürlich ist es wahr, dass das kommunistische Programm selbst nicht unendlich formbar ist und einen unveränderlichen Kern von allgemeinen Prinzipien wie den Klassenkampf, die Vergänglichkeit der Klassengesellschaft, die Notwendigkeit der proletarischen Diktatur und des Kommunismus aufweist. Außerdem gibt es ein Gefühl, in dem dieser allgemeine Umriss wie ein plötzlicher Geistesblitz erscheinen kann. Daher kann Bordiga schreiben: „Eine neue Lehre entsteht nicht in einem beliebigen Moment der Geschichte. Es gibt bestimmte, sehr charakteristische – und äußerst seltene – Zeiten in der Geschichte, wo sie wie ein blendendes Lichtbündel erscheinen kann; und wenn man diesen entscheidenden Moment nicht erkannt hat, dann ist es vergebens wieder auf die Kerzenstummel zurückzugreifen, mit denen der Universitätspedant oder der kleingläubige Kämpfer ihren Weg zu erhellen suchen.“ (14. These aus “Die historische Invarianz des Marxismus“)
Möglicherweise hat Bordiga die unglaublich reiche Phase von Marx' Werk im Sinn, aus der die 1844er Manuskripte und andere grundlegende Texte entstanden sind. Aber Marx betrachtete diese Texte nicht als seine letzten Worte über den Kapitalismus, den Klassenkampf oder den Kommunismus. Auch wenn er unserer Meinung nach den wesentlichen Inhalt dieser Schriften nie aufgegeben hat, betrachtete er sie als "erste Entwürfe", die durch weitere Forschung entwickelt und vertieft werden mussten, die wiederum eng mit den praktischen/theoretischen Experimenten der realen Bewegung des Proletariats verbunden waren.
Bordiga verweist in den Kommentaren (S. 26) auch auf eine bestimmte Passage in den 1844er Manuskripten als Nachweis der Invarianz. Hier schreibt Marx: „Die ganze Bewegung der Geschichte ist daher, wie sein wirklicher Zeugungsakt – der Geburtsakt seines empirischen Daseins – so auch für sein denkendes Bewusstsein die begriffne und gewusste Bewegung seines Werdens.“ (MEW 40, S. 536)
Und Bordiga fügt hinzu, dass das Subjekt dieses Bewusstseins nicht der einzelne Philosoph sein kann: Es kann nur eine Klassenpartei des Weltproletariats sein. Aber wenn der Kommunismus, wie Marx sagt, das Produkt der gesamten Bewegung der Geschichte ist, dann muss er lange vor dem Erscheinen der Arbeiterklasse und ihrer politischen Organisationen entstanden sein, so dass die Quelle dieses Bewusstseins älter sein muss als beide – so wie er innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft auch breiter ist als die politischen Organisationen der Klasse, auch wenn sie im Allgemeinen ihr am weitesten fortgeschrittener Ausdruck sind. Da der Kommunismus erst dann sich selbst klar werden kann, "begriffen und gewusst", wenn er zum proletarischen Kommunismus wird, ist dies sicherlich ein weiterer Beweis dafür, dass der Kommunismus und das kommunistische Bewusstsein etwas sind, das sich entwickelt, dass er nicht statisch ist, sondern ein Prozess des Werdens - und somit nicht unveränderlich sein kann.
Die Kritik des Individualismus hat im Marxismus eine lange Geschichte, die auf Marx' Kritik an Hegel und insbesondere auf seinen Angriff auf Max Stirner zurückgeht. Und wenn er gegen den philosophischen Standpunkt des isolierten Denkers argumentiert, steht Bordiga auf festem Boden und verweist auf die schneidende Bemerkung der Deutschen Ideologie zum Heiligen Max, dass "die Philosophie im gleichen Verhältnis zum Studium der realen Welt steht wie die Masturbation zur sexuellen Liebe". Und wie wir gesehen haben, hat auch die Vorstellung, dass das Ego in gewisser Weise ein illusorisches Konstrukt ist, einen langen Stammbaum. Aber Bordiga geht noch weiter. Wie bereits erwähnt, steht der Abschnitt Tafeln aus Stein (Tables immuables), den wir vorhin zitiert haben, wo Bordiga voraussagt, dass die kommunistische Menschheit Zugang zu einer Art von Spezies oder kosmischem Bewusstsein haben wird, unter dem Titel "Nieder mit der Persönlichkeit, das ist der Schlüssel!“ Es ist, als ob Bordiga möchte, dass der einzelne Mensch in der Spezies subsumiert, statt durch sie realisiert werde.
Die Erfahrung eines Bewusstseinszustandes, der über das Ich hinausgeht, ist eher eine Höchsterfahrung als ein permanenter Zustand, aber jedenfalls nicht unbedingt eine Abschaffung der Persönlichkeit. Persönlichkeit als Maske vielleicht, Persönlichkeit als eine Art Privateigentum, Persönlichkeit als das äußere Gesicht der Illusion eines absoluten Egos – man könnte argumentieren, dass diese Form der Persönlichkeit in Zukunft überwunden wird. Aber die Natur selbst braucht Vielfalt, um voranzukommen, und das gilt nicht weniger für die menschliche Gesellschaft. Selbst die Buddhisten argumentierten nicht, dass die Erleuchtung den Einzelnen verschwinden lasse. Es gibt eine Zen-Geschichte, die erzählt, wie ein Schüler sich seinem Lehrer näherte, nachdem er gehört hatte, dass dieser Satori, das helle Licht der Erleuchtung, gesehen habe. Der Schüler fragt den Meister: "Wie fühlt es sich an, erleuchtet zu sein?" Worauf der Meister antwortet: "So unglücklich wie eh und je".
Und im gleichen Abschnitt von Tafeln aus Stein (Tables immuables) zitiert Bordiga den "großartigen Ausdruck" aus den 1844er Manuskripten: dass die Menschheit ein Wesen ist, das leidet, und dass, wenn es nicht leidet, es die Freude nicht kennen kann. Dieser fleischliche, sterbliche, individuelle Mensch wird auch weiterhin im Kommunismus existieren, der für Marx "die einzige Gesellschaft ist, in der die ursprüngliche und freie Entwicklung des Einzelnen kein bloßer Ausdruck mehr ist". (Deutsche Ideologie, "Die freie Entwicklung des Einzelnen")
Das sind natürlich Fragen für die ferne Zukunft. Aber Bordigas Misstrauen gegenüber der individuellen Persönlichkeit hat weitaus unmittelbarere Auswirkungen auf die Frage der revolutionären Organisation.
Wir wissen, dass Bordiga den bürgerlichen Fetisch der Demokratie scharf kritisiert hat, da er auf der falschen Vorstellung des isolierten Bürgers und auf dem tatsächlichen Fundament einer durch den Warenaustausch atomisierten Gesellschaft basiert. Die Erkenntnisse, die er in seinem Text Das demokratische Prinzip und anderswo gewonnen hat, ermöglichen es uns, die wesentliche Leere der demokratischsten Strukturen der kapitalistischen Ordnung aufzudecken. Aber es kommt ein Punkt in Bordigas Denken, an dem er das, was beim Sieg des Warenaustauschs über alle älteren Formen der Gemeinschaft authentisch "fortschrittlich" war, aus den Augen verliert: die Möglichkeit eines kritischen, individuellen Denkens, ohne das "positive Wissenschaft" – die Bordiga immer noch als Standpunkt des Proletariats anerkennt – nicht entstanden wäre. Auf Bordigas Parteivorstellung bezogen, führt diese Denkweise zum Konzept der "monolithischen", "anonymen" und sogar "totalitären" Organisation – alles Begriffe, die im bordigistischen Kanon positiv verwendet wurden. Es führt zur Theoretisierung der Negation des individuellen Denkens und damit der inneren Unterschiede und Debatten. Und wie bei allen totalitären Regimen gibt es immer mindestens ein Individuum, das alles andere als anonym bleibt – das zum Objekt eines Persönlichkeitskults wird. Und genau das wurde innerhalb der Internationalistischen Kommunistischen Partei der Nachkriegszeit von denen gerechtfertigt, die in Bordiga den "brillanten Führer" sahen, das Genie, das Antworten auf alle theoretischen Probleme der Organisation finden könne (auch wenn er eigentlich nicht Mitglied der Partei war!). Dies war die absurde Denkweise, welche die Gauche Communiste de France im Artikel gegen Die Auffassung vom genialen Führer[29] verwarf.
Wir haben manchmal die Vorstellung von Bordiga kritisiert, wonach ein Revolutionär jemand sei, für den die Revolution bereits stattgefunden habe. Soweit diese Vorstellung die Unvermeidlichkeit des Kommunismus impliziert, sind diese Kritiken berechtigt. Aber es gibt auch eine Wahrheit in Bordigas Diktum. Kommunisten sind diejenigen, die die Zukunft in der Gegenwart repräsentieren, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, und in diesem Sinne messen sie die Gegenwart – und die Vergangenheit – im Lichte der Möglichkeit des Kommunismus. Bordigas "Leidenschaft für den Kommunismus" – sein Beharren darauf, die Überlegenheit des Kommunismus gegenüber allem, was die Klassengesellschaft und der Kapitalismus hervorgebracht hatten, zu demonstrieren – ermöglichte es ihm, den falschen Visionen des kapitalistischen und "sozialistischen" Fortschritts zu widerstehen, die in den 1950er und 60er Jahren in die Arbeiterklasse eingetrommelt wurden, und, vielleicht am wichtigsten, in der Praxis zu zeigen, dass der Marxismus eigentlich kein unveränderliches Dogma, sondern eine lebendige Theorie ist, denn es besteht kein Zweifel, dass die Beiträge von Bordiga zum Kommunismus unser Verständnis davon bereichern.
Bereits früher in diesem Artikel haben wir uns auf den Nachruf von Damen von 1970 bezogen, der darauf abzielte, den gesamten politischen Beitrag von Bordiga zu untersuchen[30]. Damen beginnt mit einer Auflistung aller Dinge, die "wir Bordiga verdanken", vor allem des immensen Beitrags, den er in seiner "klassischen" Periode zur Theorie des Abstentionismus und zum Verhältnis von Partei und Klasse geleistet hat. Aber wie wir gesehen haben, verschont er Bordiga zu Recht nicht von der Kritik an seinem Rückzug aus der Politik von Ende der 20er bis Anfang der 40er Jahre, seiner Weigerung, zu all den wirtschaftlichen und politischen Dramen, die diese Zeit füllen, Stellung zu nehmen. Damen untersucht seine Rückkehr ins politische Leben nach Kriegsende und schimpft auch über Bordigas Unklarheiten über den kapitalistischen Charakter der UdSSR. Er hätte noch weiter gehen und zeigen können, wie die Weigerung von Bordiga, die Errungenschaften der Fraktion anzuerkennen, zu einem klaren politischen Rückschritt in Schlüsselfragen wie der nationalen Frage, bei den Gewerkschaften und der Rolle der Partei in der proletarischen Diktatur führte. Aber was in Damens Text fehlt, ist eine Einschätzung des tatsächlichen Beitrags zum Verständnis des Kommunismus, den Bordiga in seinen späteren Jahren geleistet hat – ein Beitrag, den die kommunistische Linke noch aufnehmen muss, nicht zuletzt, weil er später von anderen mit zweifelhaften Zielen wie der "Kommunisierungs"-Strömung (von der Camatte einer der Gründerväter war) aufgenommen wurde, die ihn genutzt haben, um Ergebnisse zu erzielen, die Bordiga selbst sicherlich verworfen hätte. Aber das erfordert einen weiteren Artikel, und bevor wir dorthin kommen, wollen wir uns die anderen "Theorien der proletarischen Revolution" ansehen, die in den 50er, 60er und 70er Jahren entwickelt wurden.[31]
C.D. Ward (September 2016)
[1] Nach dem Zweiten Weltkrieg: Debatten darüber, wie die Arbeiter nach der Revolution an der Macht bleiben werden; nachzulesen auf Englisch unter https://en.internationalism.org/content/9523/aftermath-world-war-two-debates-how-workers-will-hold-power-after-revolution [66]
[2] Der Nachkriegsboom hat den Niedergang des Kapitalismus nicht rückgängig gemacht; nachzulesen auf Englisch https://en.internationalism.org/internationalreview/201111/4596/post-war-boom-did-not-reverse-decline-capitalism [67]
[3] Anton Pannekoek: Arbeiterräte. Texte zur sozialen Revolution. Fernwald (Annerod): Germinal Verlag, 2008
[4] Auf Ustica traf er auf Gramsci, der eine zentrale Rolle dabei gespielt hatte, die Linie der KI in der italienischen Partei durchzusetzen und Bordiga aus der Führung zu drängen. Inzwischen war Gramsci bereits krank und trotz ihrer erheblichen Unterschiede zögerte Bordiga nicht, die Verteidigung seiner Grundbedürfnisse zu übernehmen und mit ihm an der Bildung eines marxistischen Bildungskreises zu arbeiten.
[5] Dieser Text wurde kürzlich von der Internationalistischen Kommunistischen Tendenz als Broschüre auf Englisch wiederveröffentlicht.
[6] Die praktischen Probleme, mit denen Bordiga in dieser Zeit konfrontiert war, waren sicherlich beträchtlich: Ihm folgten zwei Polizisten, wohin auch immer er ging. Dennoch gab es auch ein freiwilliges Element in Bordigas Isolation von seinen Genossen, und Damen kritisierte Bordiga in einer Art Nachruf, kurz nach dessen Tod 1970 geschrieben, auf der Ebene des politischen Verhaltens scharf: "Sein politisches Verhalten, seine ständige Weigerung, eine politisch verantwortliche Haltung einzunehmen, muss in diesem besonderen Klima berücksichtigt werden. So wurden viele politische Ereignisse, einige von großer historischer Bedeutung, wie der Trotzki-Stalin-Konflikt und der Stalinismus selbst, verächtlich und ohne Echo ignoriert. Das Gleiche galt für unsere Fraktion im Ausland in Frankreich und Belgien, die Ideologie und Politik der Partei von Livorno, den Zweiten Weltkrieg und schließlich die Ausrichtung der UdSSR an der imperialistischen Front. Kein Wort, keine Zeile von Bordiga erschien während dieser historischen Periode, die auf einem breiteren und komplexeren Niveau war als der Erste Weltkrieg". https://www.leftcom.org/en/articles/2011-01-21/amadeo-bordiga-beyond-the-myth-and-the-rhetoric-0 [68]
Eine Studie über Bordigas "Jahre der Finsternis" wurde auf Italienisch veröffentlicht: Arturo Peregalli and Sandro Saggioro, Amadeo Bordiga. – La sconfitta e gli anni oscuri (1926-1945). Edizioni Colibri, Milan, November 1998
[7] siehe https://en.internationalism.org/content/3136/second-congress-internationalist-communist-party [69] [Englisch]
[8] siehe https://en.internationalism.org/ir/127/vercesi-period-of-transition [70] [Englisch]
[9] S. 245 der deutschsprachigen Ausgabe. Diese Erkenntnisse über die potenziellen Gefahren, die vom "proletarischen" Staat ausgehen, scheinen verloren gegangen zu sein, wenn man die Überraschung bedenkt, die der Delegierte der PCInt/Battaglia Comunista auf dem Zweiten Kongress der IKS zum Ausdruck brachte, nachdem er einen Resolutionsvorschlag über den Staat in der Übergangsperiode gelesen hatte, der auf den Erkenntnissen der Fraktion und der GCF beruhte. Die Resolution wurde schließlich auf dem Dritten Kongress verabschiedet: /content/853/5-resolution-des-3kongresses-der-iks-zum-staat-der-uebergangsperiode-1979 [71] siehe auch: https://de.internationalism.org/node/2421 [72]
[10] In seinem Vorwort zu Russland und die Revolution in der marxistischen Theorie (Russie et Révolution dans la Théorie Marxiste, Spartacus 1975) zeigt Jacques Camatte, dass Bordiga in den revolutionären Jahren nach dem Ersten Weltkrieg den Begriff der Invarianz nicht verteidigt hat, indem er sich insbesondere auf den ersten Artikel in der Sammlung Die Lehren der jüngsten Geschichte bezieht, der besagt, dass die reale Bewegung des Proletariats die Theorie bereichern kann, die offen einige von Marx' Vorstellungen von Demokratie und einigen der taktischen Vorschriften im Kommunistischen Manifest kritisiert: "Das System des kritischen Kommunismus muss natürlich in Verbindung mit der Integration historischer Erfahrungen nach dem Manifest von Marx und gegebenenfalls in eine entgegengesetzte Richtung zu bestimmten taktischen Verhaltensweisen von Marx und Engels verstanden werden, die sich als falsch erwiesen haben".
[11] https://en.internationalism.org/internationalreview/201111/4596/post-war-boom-did-not-reverse-decline-capitalism [67]
[12] en.internationalism.org/internationalreview/201403/9523/aftermath-world-war-two-debates-how-workers-will-hold-power-after-re [66]
[13] englischsprachige Version: https://www.marxists.org/archive/ [73]bordiga/works/1965/consider.htm [73]
[14] neue deutsche Übersetzung, siehe: https://alter-maulwurf.de/download/707/ [74]
[15] siehe: Die Entfremdung der Arbeit ist die Vorbedingung für ihre Befreiung
/content/682/kommunismus-keine-schoenes-idealsondern-eine-notwendigkeit-serie-i-teil-3 [75]
[16] In Janitzio haben sie keine Angst vor dem Tod
[17] siehe auf Englisch: https://en.internationalism.org/internationalreview/199506/1685/mature-marx-past-and-future-communism [76]
[18] Eine ziemlich klare Darstellung von Bordigas Auffassung vom Sozialismus findet sich in einem Artikel von Adam Buick von der Sozialistischen Partei Großbritanniens (SPGB), die trotz aller anderen Fehler immer sehr deutlich verstanden hat, dass Sozialismus die Abschaffung von Lohnarbeit und Geld bedeutet. https://libcom.org/article/bordigism [77]
[19] Leo Trotzki: „Literatur und Revolution“, in Internationale Revue Nr. 30 (/content/686/leo-trotzki-literatur-und-revolution [78])
[20] Siehe Der Kommunismus: Der Beginn der wirklichen Geschichte der Menschheit, in Internationale Revue Nr. 40 (/content/1557/der-kommunismus-der-beginn-der-wirklichen-geschichte-der-menschheit-ii [79]). Dieser Artikel wie auch andere dieser Serie verweisen ebenfalls auf Bordigas Texte zum Kommunismus.
[21] https://de.internationalism.org/Welt176_Rolle_der_Frau [80]; /content/2402/die-rolle-der-frau-bei-der-entstehung-der-menschlichen-kultur-teil-2 [81]; /content/2417/rolle-der-frau-bei-der-entstehung-der-kultur-teil-3 [82]; /content/2389/die-rolle-der-frau-bei-der-entstehung-der-menschlichen-solidaritaet-teil-2 [83]
[23] Freud
[24] Zen-Buddhismus und Psychoanalyse. Fromm, ein Spross der Frankfurter Schule, der auch ausführlich über die frühen Schriften von Marx geschrieben hat, ist der Ansicht, dass das eigentliche Ziel der Psychoanalyse (das in großem Umfang nur in einer "gesunden Gesellschaft" erreicht werden könnte) nicht nur darin besteht, neurotische Symptome zu lindern oder die Instinkte der intellektuellen Kontrolle zu unterwerfen, sondern das Unbewusste bewusst zu machen und so das nicht verdrängte Leben zu erreichen. Er definiert damit die Methode der Psychoanalyse in Bezug auf dieses Ziel: "Sie untersucht die psychische Entwicklung eines Menschen von Kindheit an und versucht, die früheren Erfahrungen wiederherzustellen, um dem Menschen zu helfen, das zu erleben, was jetzt verdrängt wird. Es geht weiter, indem man Schritt für Schritt Illusionen in sich selbst über die Welt aufdeckt, so dass die parataxischen Verzerrungen und entfremdete Intellektualisierungen abnehmen. Indem sie sich selbst weniger fremd ist, wird die Person, die diesen Prozess durchläuft, weniger entfremdet von der Welt; weil sie die Kommunikation mit dem Universum in sich selbst eröffnet hat, hat sie die Kommunikation mit dem Universum außerhalb eröffnet. Das falsche Bewusstsein verschwindet, und mit ihm die Polarität bewusst-unbewusst." (ebenda. S. 107) Anderswo (S. 105) vergleicht er diese Methode mit der des Zen, der mit anderen Mitteln, aber auch durch eine Reihe kleinerer Erkenntnisse oder "satoris" zu einem qualitativ höheren Niveau des Seins in der Welt voranschreitet.
[25] Siehe auf Englisch die Sammlung Murdering the Dead: Amadeo Bordiga on capitalism and other disasters, Antagonism Press, 2001, insbesondere: https://en.internationalism.org/worldrevolution/201403/9567/flooding-shape-things-come [84]
[26] Auf Englisch: https://www.marxists.org/archive/bordiga/works/1956/weird.htm [85]
[27] Eine Karikatur der Partei: die bordigistische Partei - Antwort an ”Kommunistisches Programm” /content/823/eine-karikatur-der-partei-die-bordigistische-partei-antwort-kommunistisches-programm [86]
[30] https://www.leftcom.org/en/articles/2011-01-21/amadeo-bordiga-beyond-the-myth-and-the-rhetoric-0 [68]
[31] Wie in einem kürzlich erschienenen Artikel von C. Derrick Varn im Blog Symptomatic Commentary, The brain of society: notes on Bordiga, organic centralism, and the limitations of the party form, festgestellt wurde, schien Bordiga sich dagegen zu sträuben, den Begriff der Partei für die höhere Phase des Kommunismus aufzugeben, und betrachtete sie vielmehr in dieser Hinsicht als das inkarnierte `soziale Gehirn'.
Dieser Artikel wurde während der globalen Covid-19-Krise geschrieben, die eine erschreckende Bestätigung dafür ist, dass wir die Endphase der kapitalistischen Dekadenz durchleben. Die Pandemie, die ein Produkt des zutiefst verzerrten Verhältnisses zwischen der Menschheit und der natürlichen Welt unter der Herrschaft des Kapitals ist, verdeutlicht das Problem der kapitalistischen Urbanisierung, das frühere Revolutionäre, insbesondere Engels und Bordiga, eingehend analysiert haben. Obwohl wir ihre Beiträge zu dieser Frage in früheren Artikeln dieser Reihe[1] bereits untersucht haben, erscheint es uns daher angebracht, das Thema erneut anzusprechen. Weil der 50. Jahrestag von Bordigas Tod im Juli 1970 näher rückt, soll der Artikel auch als Teil unserer Würdigung eines Kommunisten dienen, dessen Arbeit wir trotz unserer Meinungsverschiedenheiten mit vielen seiner Ideen wertschätzen. Mit diesem Artikel beginnen wir eine neue "Staffel" der Reihe über den Kommunismus, die sich speziell mit den Möglichkeiten und Problemen der proletarischen Revolution in der Phase des kapitalistischen Zerfalls befasst.
In einem früheren Teil dieser Reihe veröffentlichten wir einige Artikel, die sich mit der Art und Weise beschäftigten, wie die kommunistischen Parteien, die während der großen revolutionären Welle von 1917-23 entstanden, versuchten, das kommunistische Programm vom Abstrakten zum Konkreten zu führen – um eine Reihe von Maßnahmen zu formulieren, die von den Arbeiterräten im Prozess der Übernahme der Macht aus den Händen der Kapitalistenklasse zu ergreifen sind[2]. Und wir sind der Meinung, dass es für Revolutionäre nach wie vor vollkommen gültig ist, die Frage zu stellen: Was wären die Grundlagen des Programms, das die kommunistische Organisation der Zukunft – die Weltpartei – in einem authentischen revolutionären Aufschwung vorlegen müsste? Welches die dringendsten Aufgaben, mit denen die Arbeiterklasse konfrontiert wäre, wenn sie auf die Übernahme der politischen Macht im Weltmaßstab zusteuert? Welches wären die wichtigsten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen, die von der Diktatur des Proletariats, die die notwendige politische Voraussetzung für den Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft bleibt, umgesetzt werden müssen?
Die revolutionären Bewegungen von 1917-23 waren ebenso wie der imperialistische Weltkrieg, der sie anheizte, ein klarer Beweis dafür, dass der Kapitalismus in seine "Epoche der sozialen Revolution", der Dekadenz, eingetreten war. Von nun an waren der Fortschritt und sogar das Überleben der Menschheit zunehmend gefährdet, solange die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse nicht im Weltmaßstab überwunden sind. In diesem Sinne stehen die grundlegenden Ziele einer künftigen proletarischen Revolution in voller Kontinuität zu den Programmen, die zu Beginn der Periode der Dekadenz vorgelegt wurden. Aber diese Epoche hat nun schon mehr als ein Jahrhundert gedauert, und unserer Ansicht nach haben die in diesem Jahrhundert angesammelten Widersprüche eine Endphase des kapitalistischen Niedergangs eröffnet, die Phase, die wir Zerfall nennen, in der die Fortsetzung des kapitalistischen Systems die wachsende Gefahr birgt, dass die Bedingungen für eine zukünftige kommunistische Gesellschaft untergraben werden. Dies zeigt sich besonders deutlich auf der "ökologischen" Ebene: 1917-23 waren die Probleme der Umweltverschmutzung und der Zerstörung der natürlichen Umwelt weit geringer als heute. Der Kapitalismus hat den "Stoffwechsel" zwischen Menschen und Natur so verzerrt, dass eine siegreiche Revolution zumindest enorme menschliche und technische Ressourcen aufwenden müsste, nur um das Chaos zu beseitigen, das der Kapitalismus uns hinterlassen haben wird. In ähnlicher Weise wird der gesamte Zerfallsprozess, der die Tendenz zur sozialen Atomisierung, zu der der kapitalistischen Gesellschaft innewohnenden Haltung des "Jeder für sich" verschärft hat, eine sehr schädliche Spur bei den Menschen hinterlassen, die eine neue, auf Vereinigung und Solidarität gegründete Gemeinschaft aufbauen müssen. Wir müssen uns auch eine Lehre aus der Russischen Revolution ins Gedächtnis rufen: In Anbetracht der Gewissheit, dass sich die Bourgeoisie der proletarischen Revolution mit aller Kraft widersetzen wird, wird der Sieg der Revolution einen Bürgerkrieg mit sich bringen, der unabsehbare Schäden verursachen könnte, nicht nur in Form von Menschenleben und weiterer Umweltzerstörung, sondern auch auf der Ebene des Bewusstseins, da das militärische Terrain für die Entfaltung der proletarischen Selbstorganisation, des Bewusstseins und der Moral keineswegs das günstigste ist. In Russland ging 1920 der sowjetische Staat als Sieger aus dem Bürgerkrieg hervor, aber das Proletariat hatte die Kontrolle über ihn weitgehend verloren. Wenn wir also versuchen, die Probleme der kommunistischen Gesellschaft zu verstehen, "wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt"[3], müssen wir erkennen, dass diese Muttermale wahrscheinlich viel hässlicher und potenziell schädlicher sein werden als zu Zeiten von Marx und sogar Lenin. Die ersten Phasen des Kommunismus werden also nicht ein idyllisches Erwachen an einem Maimorgen sein, sondern eine lange und intensive Arbeit des Wiederaufbaus aus den Trümmern. Diese Erkenntnis muss unser Verständnis für alle Aufgaben der Übergangsperiode prägen, auch wenn wir unsere Vorausschau auf die Zukunft weiterhin auf der Überzeugung gründen, dass das Proletariat seine revolutionäre Mission – trotz allem – tatsächlich erfüllen kann.
Während dieser langen Artikelreihe haben wir versucht, die Entwicklung des kommunistischen Projekts als die Frucht der realen historischen Erfahrung des Klassenkampfes und der Reflexion über diese Erfahrung durch die bewusstesten Minderheiten des Proletariats zu verstehen. Und in diesem Artikel wollen wir mit dieser historischen Methode fortfahren, indem wir uns mit dem Versuch befassen, eine aktualisierte Version der "unmittelbaren Programme" von 1917-23 auszuarbeiten, die selbst Teil der Geschichte der kommunistischen Bewegung geworden ist. Wir beziehen uns dabei auf den 1953 von Amadeo Bordiga verfassten und in Sul Filo del Tempo veröffentlichten Text "Das unmittelbare revolutionäre Programm", den wir bereits in einem früheren Artikel dieser Reihe[4] mit dem Versprechen erwähnt haben, ausführlicher darauf zurückzukommen. Unserer Ansicht nach ist es von wesentlicher Bedeutung, dass jeder künftige Versuch, ein solches "unmittelbares Programm" zu formulieren, sich auf die Stärken dieser früheren Bemühungen stützt, während ihre Schwächen radikal kritisiert werden. Der gesamte Text, dem das Verdienst zukommt, sehr prägnant zu sein, folgt nun.
Dies erlaubte jedoch nicht zu glauben, dass sich die Gesetze und präzisen Voraussichten des Marxismus über den Übergang der kapitalistischen Produktionsweise zum Sozialismus und aller ihrer wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Formen geändert hätten; es bedeutete lediglich, dass die erste nachrevolutionäre Periode verändert und einfacher wurde, also die Übergangswirtschaft, die der niederen Phase des Sozialismus vorausgeht, wie auch der höheren sozialistischen Phase, dem entwickelten Kommunismus.
Der klassische Opportunismus bestand darin, glauben zu machen, dass all diese Maßnahmen, von der ersten bis zur letzten, unter dem Druck des Proletariats vom demokratischen bürgerlichen Staat verwirklicht werden können, oder sogar Dank einer legalen Eroberung der Macht. Aber in diesem Fall wären diese verschiedenen »Maßnahmen« im Interesse des bürgerlichen Machterhalts verwirklicht worden, um den Fall des Kapitalismus abzuwenden, vorausgesetzt, sie wären für ihn verträglich, und wäre dies nicht der Fall, so würde der Staat sie niemals umsetzen.
Der gegenwärtige Opportunismus mit seiner Parole der fortschrittlichen Volksdemokratie im Rahmen der Verfassung und des Parlamentarismus erfüllt eine andere, noch schlimmere geschichtliche Aufgabe. Zuerst erweckt er im Proletariat den Glauben, dass einige seiner eigenen Maßnahmen in das Programm eines alle Klassen umfassenden Mehrparteienstaats passen würden, das heißt also, dieser Opportunismus zeigt den gleichen Defätismus gegenüber der proletarischen Klassendiktatur wie die Sozialdemokratie von gestern. In der Folge aber treibt er die organisierten Massen vor allem dazu, für »volksfreundliche und fortschrittliche« gesellschaftliche Maßnahmen zu kämpfen, welche denen völlig entgegengesetzt sind, die die proletarische Macht seit 1848 und das »Manifest« stets festgelegt haben.
Man kann die Schande einer derartigen Rückentwicklung nicht besser aufzeigen als durch eine Aufzählung der Maßnahmen, die es für den Fall zu verwirklichen gibt, dass die Machteroberung künftig in einem westlichen kapitalistischen Land möglich wird, anstatt der Maßnahmen des »Manifests« (von vor einem Jahrhundert), und die stets die kennzeichnendsten von damals mit einschließen.
Die westlichen Renegaten sind noch niederträchtiger als ihre östlichen Paten, insofern die feudalistische Gefahr, die in dem sich in Aufruhr befindlichen Asien noch materiell und wohl reell ist, für die mit der hochmütig aufgeblähten kapitalistischen Metropole auf der anderen Seite des Atlantiks in einer Linie stehenden Länder vorgeheuchelt und nicht vorhanden ist, ebensowenig wie für die unter seiner zivilisierten, liberalen und »völkerbündischen« Knute stehenden Proletarier.
Der Text wurde im Jahr nach der Spaltung der Internationalistischen Kommunistischen Partei veröffentlicht, die sich in Italien während des Krieges nach einer bedeutenden Welle von Arbeiterkämpfen[5] gebildet hatte. Die Spaltung war jedoch – wie die Auflösung von Marcs Gruppe der Gauche Communiste de France, die ebenfalls 1952 stattfand – Ausdruck der Tatsache, dass der Krieg entgegen den Hoffnungen vieler Revolutionäre nicht zu einem neuen proletarischen Aufschwung, sondern zur Vertiefung der Konterrevolution geführt hatte. Bei den Meinungsverschiedenheiten zwischen den "Damenisten" und den "Bordigisten" im Partito Comunista Internazionalista in Italien ging es zum Teil um unterschiedliche Auffassungen über die Nachkriegszeit. Bordiga und seine Anhänger tendierten dazu, die Tatsache besser zu verstehen, dass die Periode von zunehmender Reaktion geprägt war[6]. Und doch haben wir hier Bordiga, der eine Liste von Forderungen formuliert hat, die besser zu einem Moment des offenen revolutionären Kampfes passen würden. Dieser Text erscheint daher eher als eine Art Gedankenexperiment denn als eine Plattform, die von einer Massenbewegung angenommen werden sollte. Dies mag bis zu einem gewissen Grad einige der offensichtlicheren Schwächen und Lücken des Dokuments erklären, obwohl sie in einem tieferen Sinne das Produkt von Widersprüchen und Ungereimtheiten sind, die bereits in der bordigistischen Weltsicht eingebettet waren.
Wenn wir die Bemerkungen lesen, die den Text einleiten und abschließen, können wir auch erkennen, dass er als Teil einer umfassenderen Polemik gegen das geschrieben wurde, was die Bordigisten als die "reformistischen" Strömungen bezeichnen, insbesondere die Stalinisten, jene falschen Erben der Tradition von Marx, Engels und Lenin. Der Hauptgrund dafür, dass die Bordigisten die offiziellen kommunistischen Parteien als reformistisch bezeichneten, war nicht so sehr, dass sie die Illusionen der Trotzkisten geteilt hätten, wonach es sich bei jenen immer noch um Arbeiterorganisationen gehandelt habe, sondern vielmehr, weil die Stalinisten zunehmend zu Verfechtern der Bildung nationaler Fronten mit den traditionellen bürgerlichen Parteien geworden waren und einen allmählichen "Übergang" zum Sozialismus durch die Bildung von "Volksdemokratien" und verschiedenen parlamentarischen Koalitionen befürworteten. Gegen diese Entgleisungen bekräftigt Bordiga die Grundlagen des Kommunistischen Manifests, das von der Notwendigkeit der gewaltsamen Eroberung der Macht durch das Proletariat ausgeht (im Rückblick können wir hier auch auf die Kluft hinweisen, die Bordiga von vielen trennt, die "in seinem Namen sprechen", insbesondere von den "Kommunisierungs"strömungen, die Bordiga oft zitieren, aber sein Beharren auf der Notwendigkeit der proletarischen Diktatur und einer kommunistischen Partei verhöhnen). Gleichzeitig macht Bordiga, der immer noch die Stalinisten im Visier hat, deutlich, dass die spezifischen "Übergangs"-Maßnahmen, die am Ende des zweiten Kapitels des Manifests von 1848 befürwortet wurden – hohe progressive Einkommenssteuer, Gründung einer Staatsbank, staatliche Kontrolle von Kommunikation und Schlüsselindustrien usw. – zwar das Rückgrat des Wirtschaftsprogramms der "Reformisten" bilden mögen, aber nicht als ewige Wahrheiten angesehen werden sollten: Das Manifest selbst betonte, dass sie "nicht als vollständiger Sozialismus zu behandeln sind, sondern als Schritte, die als vorläufig, unmittelbar und im Wesentlichen widersprüchlich zu identifizieren sind", und entsprach dem niedrigen kapitalistischen Entwicklungsstand zum Zeitpunkt ihrer Ausarbeitung; und in der Tat sind etliche von ihnen bereits von der Bourgeoisie selbst umgesetzt worden.
Man möge denen verzeihen, welche dies als Widerlegung der Invarianz betrachten, der Idee, dass das kommunistische Programm seit mindestens 1848 im Wesentlichen unverändert geblieben sei. Tatsächlich geißelt Bordiga die Stalinisten, weil sie "nicht einer fixen Theorie folgten, sondern glaubten, sie bedürfe der ständigen Weiterentwicklung als Folge des historischen Wandels". Und wiederum argumentiert er, dass seine vorgeschlagenen "Korrekturen" am unmittelbaren Programm "sich von den im 'Manifest' aufgezählten unterscheiden; ihre Merkmale sind jedoch dieselben". Wir finden dies widersprüchlich und nicht überzeugend. Es stimmt zwar, dass sich bestimmte Schlüsselelemente des kommunistischen Programms, wie etwa die Notwendigkeit der proletarischen Diktatur, nicht ändern, aber die historische Erfahrung hat in der Tat tiefgreifende Entwicklungen im Verständnis des Zustandekommens dieser Diktatur und der politischen Formen, aus denen sie sich zusammensetzen wird, mit sich gebracht. Dies hat nichts mit dem "Revisionismus" der Sozialdemokraten, der Stalinisten oder anderer zu tun, die vielleicht tatsächlich die Ausrede des "mit der Zeit gehenden Wandels" benutzt haben, um ihre Flucht aus dem proletarischen Lager zu rechtfertigen.
Wenn man sich die "Korrekturen" Bordigas an den im Manifest vorgeschlagenen Maßnahmen betrachtet, möge man uns auch verzeihen, dass wir zunächst deren Schwächen sehen:
Und doch behält das Dokument für uns ein beträchtliches Interesse insofern, als es versucht zu verstehen, welches die Hauptprobleme und -prioritäten einer kommunistischen Revolution wären, die nicht zu Beginn der Dekadenz des Kapitalismus stattfinden würde, wie 1917-23, sondern nach einem ganzen Jahrhundert, in dem sich der Niedergang in die Barbarei weiter beschleunigt hat und die Bedrohung für das Überleben der Menschheit weitaus größer ist als vor hundert Jahren.
Bordigas Dokument unternimmt keinen Versuch, eine Bilanz der Erfolge und Misserfolge der Russischen Revolution auf politischer Ebene zu ziehen, und bezieht sich in der Tat nur kursorisch auf die revolutionäre Welle, die auf den Ersten Weltkrieg folgte. In einer Hinsicht versucht es jedoch, eine wichtige Lehre aus der Wirtschaftspolitik der Bolschewiki zu ziehen: Die Vorschläge Bordigas sind sachdienlich, weil sie anerkennen, dass der Weg zum materiellen Überfluss und zu einer klassenlosen Gesellschaft nicht auf einem Programm der "sozialistischen Akkumulation" beruhen kann, in dem der Konsum immer noch der "Produktion um der Produktion willen" (die in Wirklichkeit eine Produktion um des Wertes willen ist) unterworfen ist – die lebendige Arbeit der toten Arbeit untergeordnet. Gewiss, die kommunistische Revolution ist zu einer historischen Notwendigkeit geworden, weil die kapitalistischen sozialen Beziehungen zu einer Fessel für die Entwicklung der Produktivkräfte geworden sind. Aber aus kommunistischer Sicht hat die Entwicklung der Produktivkräfte einen ganz anderen Inhalt als ihre Anwendung in der kapitalistischen Gesellschaft, wo sie durch das Profitmotiv und damit den Drang zur Akkumulation getrieben wird. Der Kommunismus wird sicherlich die unter dem Kapitalismus erreichten wissenschaftlichen und technologischen Fortschritte voll nutzen, aber er wird sie dem menschlichen Gebrauch zuführen, so dass sie zu Dienern der wirklichen "Entwicklung" werden, die der Kommunismus postuliert: der vollen Entfaltung der Produktivkräfte, d.h. der schöpferischen Kräfte der damit verbundenen Individuen. Ein Beispiel soll hier genügen: Mit der Entwicklung der Computerisierung und der Roboterisierung hat uns der Kapitalismus ein Ende der Plackerei und eine "Freizeitgesellschaft" versprochen. In Wirklichkeit haben diese potentiellen Segnungen für die einen das Elend der Arbeitslosigkeit oder der prekären Arbeit und für die anderen eine erhöhte Arbeitsbelastung mit sich gebracht, wobei der Druck auf die Arbeiter und Arbeiterinnen wächst, weiterhin überall und zu jeder Tageszeit an ihren Computern zu arbeiten.
Konkret umfassen die ersten vier Punkte seines Programms: die Forderung, sich nicht mehr auf die Produktion von Maschinen zu konzentrieren, um mehr Maschinen zu produzieren, und die Ausrichtung der Produktion auf den direkten Konsum. Letzteres bedeutete im Kapitalismus natürlich die Produktion von immer mehr "nutzlosen, schädlichen und luxuriösen Konsumgütern" – heute zum Beispiel durch die Produktion von immer ausgeklügelteren Computern oder Mobiltelefonen, die nach einer begrenzten Zeit ausfallen und nicht repariert werden können, oder durch die immens umweltverschmutzende Automobil- und Fast-Fashion-Industrie, in der die "Verbrauchernachfrage" durch Werbung und soziale Medien in den Wahnsinn getrieben wird. Wenn die Arbeiterklasse sich der Gesellschaft und der Produktion bemächtigt hat, wird sich die Neuorientierung des Konsums auf die dringende Notwendigkeit konzentrieren, alle Menschen auf dem ganzen Planeten mit den grundlegenden Lebensnotwendigkeiten zu versorgen. Wir werden auf diese Fragen in anderen Artikeln zurückkommen müssen, aber wir können einige der offensichtlichsten nennen:
Aber gleichzeitig sind diese zugegebenermaßen immensen Aufgaben, die nur der Ausgangspunkt für eine neue menschliche Kultur sind, nicht als Ergebnis einer brutalen Verlängerung des Arbeitstages vorstellbar. Im Gegenteil, sie müssen mit einer drastischen Verkürzung der Arbeitszeit verbunden sein, ohne die, wie wir hinzufügen sollten, die direkte Beteiligung der Produzierenden am politischen Leben der Vollversammlungen und Räte nicht möglich sein wird. Und diese Reduzierung soll zu einem großen Teil durch die Beseitigung von Verschwendung erreicht werden: der Verschwendung durch Arbeitslosigkeit und durch "sozial nutzlose und schädliche Aktivitäten".
Bereits zu Beginn des Kapitalismus, in einer Rede in Elberfeld 1845, stigmatisierte Engels die Art und Weise, wie der Kapitalismus einen schrecklichen Missbrauch menschlicher Energie nicht vermeiden könne, und bestand darauf, dass nur eine kommunistische Transformation das Problem lösen könne.
"Die jetzige Einrichtung der Gesellschaft ist in ökonomischer Beziehung gewiß die unvernünftigste und unpraktischste, die wir uns denken können. Die Entgegensetzung der Interessen bringt es mit sich, daß eine große Menge Arbeitskraft auf eine Weise verwendet wird, von der die Gesellschaft keinen Nutzen hat, daß ein bedeutendes Quantum Kapital unnötigerweise verlorengeht, ohne sich zu reproduzieren. Wir sehen dies schon bei den Handelskrisen; wir sehen, wie Massen von Produkten, die doch alle von Menschen mühsam erarbeitet waren, zu Preisen weggeschleudert werden, die dem Verkäufer Verlust lassen; wir sehen, wie durch Bankerotte Massen von Kapitalien, die doch mühsam angehäuft waren, den Besitzern unter den Händen verschwinden. Gehen wir indes etwas mehr ins Detail des jetzigen Verkehrs. Bedenken Sie, durch wie viele Hände jedes Produkt gehen muß, bis es in die des wirklichen Konsumenten gerät -, bedenken Sie, m[eine] H[erren], wie viele spekulierende und überflüssige Zwischenschieber sich jetzt zwischen den Produzenten und den Konsumenten eingedrängt haben! Nehmen wir ein Beispiel, etwa einen Baumwollballen, der in Nordamerika fabriziert wird. Der Ballen geht aus den Händen des Pflanzers in die des Faktors an irgendeiner beliebigen Station des Mississippi über, er wandert den Fluß hinunter nach New Orleans. Hier wird er verkauft - zum zweiten Male, da ihn der Faktor schon vom Pflanzer kaufte - verkauft, meinetwegen an den Spekulanten, der ihn wieder an den Exporteur verkauft. Der Ballen geht nun etwa nach Liverpool, wo wieder ein gieriger Spekulant seine Hände nach ihm ausstreckt und ihn an sich reißt. Dieser verhandelt ihn wieder an einen Kommissionär, der für Rechnung - wir wollen sagen, eines deutschen Hauses - kauft. So wandert der Ballen nach Rotterdam, den Rhein herauf, durch noch ein Dutzend Hände von Spediteuren, nachdem er ein dutzendmal aus- und eingeladen worden ist -, und dann erst ist er in den Händen, nicht des Konsumenten, sondern des Fabrikanten, der ihn erst konsumierbar macht, sein Garn vielleicht dem Weber, dieser das Gewebe dem Drucker, der dem Grossisten und dieser wieder dem Detaillisten verhandelt, der dann endlich die Ware dem Konsumenten liefert. Und alle diese Millionen Zwischenschieber, Spekulanten, Faktoren, Exporteurs, Kommissionäre, Spediteure, Grossisten und Detaillisten, die doch an der Ware selbst nichts tun, sie wollen alle leben und ihren Profit dabei machen - und machen ihn auch im Durchschnitt, denn sonst könnten sie nicht bestehen. M[eine] H[erren], gibt es keinen einfacheren, wohlfeileren Weg, einen Baumwollballen von Amerika nach Deutschland und das aus demselben verfertigte Fabrikat in die Hände des wirklichen Konsumenten zu liefern als diesen weitläuftigen des zehnmaligen Verkaufens, des hundertmaligen Umladens und Transportierens aus einem Magazin ins andere? Ist dies nicht ein schlagender Beweis der vielen Verschwendung von Arbeitskraft, die durch die Zersplitterung der Interessen herbeigeführt wird? In der vernünftig organisierten Gesellschaft ist von einem solchen umständlichen Transporte keine Rede. Ebenso leicht wie man wissen kann, wieviel eine einzelne Kolonie an Baumwolle oder Baumwollfabrikaten gebraucht, um bei dem Beispiele stehenzubleiben - ebenso leicht wird es der Zentralverwaltung sein, zu erfahren, wieviel sämtliche Ortschaften und Gemeinden des Landes gebrauchen. Ist eine solche Statistik einmal organisiert, was in einem oder zwei Jahren leicht geschehen kann, so wird sich der Durchschnitt des jährlichen Konsums nur im Verhältnis der steigenden Bevölkerung verändern; es ist also ein leichtes, zur gehörigen Zeit vorauszubestimmen, welches Quantum von jedem einzelnen Artikel das Bedürfnis des Volkes erfordern wird -, man wird die ganze, große Quantität sich direkt an der Quelle bestellen, man wird sie direkt, ohne Zwischenschieber, ohne mehr Aufenthalt und Umladungen, als wirklich in der Natur der Kommunikation begründet sind, also mit einer großen Ersparnis von Arbeitskraft, beziehen können; man wird nicht nötig haben, den Spekulanten, Groß- und Kleinhändlern ihren Nutzen zu bezahlen. Aber das ist noch nicht alles - diese Zwischenschieber werden nicht nur auf diese Weise der Gesellschaft unschädlich, sie werden ihr sogar vorteilhaft gemacht. Während sie jetzt zum Nachteil aller anderen eine Arbeit tun, die im besten Falle überflüssig ist und ihnen doch den Lebensunterhalt, ja in vielen Fällen große Reichtümer einbringt, während sie also jetzt dem allgemeinen Besten direkt nachteilig sind, werden sie dann die Hände zu nützlicher Tätigkeit frei bekommen und eine Beschäftigung ergreifen können, worin sie sich als wirkliche, nicht nur scheinbare, erheuchelte Mitglieder der menschlichen Gesellschaft und Teilnehmer an ihrer Gesamttätigkeit erweisen."[9]
Engels zählt dann weitere Beispiele für diese Verschwendung auf: die Notwendigkeit, in einer Gesellschaft, die auf Wettbewerb und Ungleichheit basiert, enorm teure, aber völlig unproduktive Institutionen wie stehende Armeen, Polizeikräfte und Gefängnisse aufrechtzuerhalten; die menschliche Arbeitskraft, die in den Dienst dessen geflossen ist, was William Morris "den schweinischen Luxus der Reichen" nannte; und nicht zuletzt die enorme Verschwendung von Arbeitskraft, die durch die Arbeitslosigkeit verursacht wird, die während der periodischen "Handels"-Krisen des Systems besonders skandalöse Ausmaße annimmt. Dann stellt er die Verschwendung des Kapitalismus der wesentlichen Einfachheit der kommunistischen Produktion und Verteilung gegenüber, die auf der Grundlage dessen berechnet wird, was die Menschen brauchen, und der Gesamtarbeitszeit, die zur Befriedigung dieser Bedürfnisse nötig ist.
All diese kapitalistischen Gebrechen, die während der Periode des Aufstiegs und der Expansion des Kapitalismus zu beobachten waren, sind in der Epoche des kapitalistischen Niedergangs weitaus zerstörerischer und gefährlicher geworden: Krieg und Militarismus haben in zunehmendem Maße den gesamten Wirtschaftsapparat erfasst und stellen eine so akute Bedrohung für die Menschheit dar, dass eine der dringendsten Prioritäten der proletarischen Diktatur (eine, die Bordiga nicht erwähnte, obwohl das "Atomzeitalter" zum Zeitpunkt, als er diesen Text schrieb, bereits klar begonnen hatte) darin bestehen wird, den Planeten von den Massenvernichtungswaffen zu befreien, die der Kapitalismus angesammelt hat – vor allem, weil es keine Garantie dafür gibt, dass die Bourgeoisie oder Fraktionen der Bourgeoisie angesichts ihres endgültigen Sturzes durch die Arbeiterklasse es nicht vorziehen werden, die Menschheit zu zerstören, bevor sie ihre Klassenherrschaft aufgeben.
Ein militarisierter Kapitalismus kann denn auch nur durch das krebsartige Wachstum des Staates funktionieren, mit seinem eigenen stehenden Heer von Bürokraten, Polizisten und Spionen. Vor allem die Sicherheitsdienste sind in gigantischem Ausmaß angeschwollen, ebenso wie ihr Spiegelbild, die Mafiabanden, die in vielen Ländern der kapitalistischen Peripherie ihre brutale Ordnung durchsetzen.
In ähnlicher Weise hat die kapitalistische Dekadenz mit ihrem gewaltigen Bank-, Finanz- und Werbeapparat, der für die Zirkulation tatsächlich produzierter Güter mehr denn je unerlässlich ist, die Zahl der Menschen, die an grundsätzlich sinnlosen Formen von täglichen Verrichtungen beteiligt sind, enorm erhöht; und die aufeinander folgenden Wellen der "Globalisierung" haben die Absurditäten, die mit der weltweiten Zirkulation von Waren verbunden sind, noch offensichtlicher gemacht, ganz zu schweigen von den steigenden Kosten auf ökologischer Ebene. Und die Menge an Arbeit, die den Ansprüchen der heute als "Superreiche" bezeichneten Menschen gewidmet wird, ist nicht weniger schockierend als zu Engels' Zeiten – nicht nur in ihrem unerschöpflichen Bedarf an Dienern und Dienerinnen, sondern auch in ihrem Durst nach wirklich nutzlosem Luxus wie Privatjets, Yachten und Palästen. Und am entgegengesetzten Pol, in einer Epoche, in der die Wirtschaftskrise des Systems selbst zu einer permanenten Krise geworden ist, ist die Arbeitslosigkeit weniger eine zyklische Geißel als eine permanente, auch wenn sie durch die Verbreitung von Kurzzeitjobs und Unterbeschäftigung verschleiert wird. In der so genannten Dritten Welt hat die Zerstörung der traditionellen Ökonomien in einigen Gebieten zu einer intensiven kapitalistischen Entwicklung geführt, aber sie hat auch ein gigantisches "Subproletariat" geschaffen, und die, welche dazugehören, führen als Slumbewohner und -bewohnerinnen in den Townships Afrikas oder den "Favelas" Brasiliens und Lateinamerikas eine äußerst prekäre Existenz.
So hatte Bordiga – auch wenn er die Dekadenz des Systems nicht kohärent verstand – begriffen, dass die Umsetzung des kommunistischen Programms in dieser Epoche nicht bedeutet, durch einen sehr raschen Industrialisierungsprozess zum Überfluss voranzuschreiten, wie es die Bolschewiki angesichts der "rückständigen" Bedingungen, denen sie in Russland nach 1917 ausgesetzt waren, tendenziell angenommen hatten. Sicherlich wird sie die Entwicklung und Anwendung der fortschrittlichsten Technologien erfordern, aber sie wird zunächst als eine geplante Demontage all dessen Gestalt annehmen, was im bestehenden Produktionsapparat schädlich und nutzlos ist, und als eine globale Neuordnung der wirklichen menschlichen Ressourcen, die der Kapitalismus ständig verschwendet und zerstört.
Die kommunistische Bewegung heute – auch wenn sie das Ausmaß des Problems erst spät erkannt hat – kann nicht umhin, sich der ökologischen Kosten der kapitalistischen Entwicklung im vergangenen Jahrhundert und vor allem seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bewusst zu sein. Es ist für uns offensichtlicher als für die Bolschewiki, dass wir den Kommunismus nicht mit den Methoden der kapitalistischen Industrialisierung erreichen können, die sowohl die menschliche Arbeitskraft als auch den natürlichen Reichtum den Forderungen des Profits, dem Idol des sich selbst verwertenden Werts, opfert. Wir verstehen jetzt, dass eine der Hauptaufgaben des Proletariats darin besteht, die Gefahr einer galoppierenden globalen Erwärmung zu stoppen und das gigantische Chaos zu beseitigen, das der Kapitalismus uns hinterlassen hat: die mutwillige Zerstörung von Wäldern und Wildnis, die Vergiftung von Luft, Land und Wasser durch das bestehende Produktions- und Transportsystem. Einige Teile dieses "Erbes" werden viele Jahre geduldiger Forschung und Arbeit erfordern, um sie zu überwinden – die Verschmutzung der Meere und der Nahrungskette durch Plastikabfälle ist nur ein Beispiel dafür. Und wie wir bereits erwähnt haben, wird die Befriedigung der grundlegendsten Bedürfnisse der Weltbevölkerung (Nahrung, Wohnung, Gesundheit usw.) mit diesem Gesamtprojekt der Harmonisierung zwischen Menschen und Natur in Einklang stehen müssen.
Es ist Bordigas Verdienst, dass er sich bereits Anfang der fünfziger Jahre dieses Problems bewusst wurde: Seine Intuition für die Zentralität dieser Dimension zeigt sich vor allem in seiner Position zum Problem der "Großstädte", die voll und ganz mit dem Denken von Marx und insbesondere von Engels übereinstimmt.
Stadt und Zivilisation haben historisch (und in manchen Sprachen etymologisch) die gleichen Wurzeln. Manchmal wird der Begriff "Zivilisation" auf die Gesamtheit der menschlichen Kultur und Moral zurückgeführt[10]: In diesem Sinne bilden auch die Jäger und Sammler Australiens oder Afrikas eine Zivilisation. Aber es steht außer Frage, dass der Übergang zum Leben in Städten, die die allgemeinere Definition von Zivilisation ist, eine qualitative Entwicklung in der Menschheitsgeschichte darstellte: ein Faktor für die Weiterentwicklung der Kultur und die Aufzeichnung der Geschichte selbst, aber auch die definitiven Anfänge der Klassenausbeutung und des Staates. Schon vor dem Kapitalismus ist die Stadt, wie Weber zeigte, auch untrennbar mit dem Handel und der Geldwirtschaft verbunden[11]. Doch das Bürgertum ist die städtische Klasse schlechthin, und die mittelalterlichen Städte wurden zu Zentren des Widerstands gegen die Hegemonie des feudalen Adels, dessen Reichtum vor allem auf dem Landbesitz und der Ausbeutung der Bauern beruhte. Das moderne Proletariat ist nicht weniger eine städtische Klasse, die sich aus der Enteignung der Bauern und dem Ruin der Handwerker gebildet hat. In die überstürzt gewachsenen Ballungsgebiete von Manchester, Glasgow oder Paris getrieben, wurde sich die Arbeiterklasse hier zum ersten Mal als eigenständige Klasse im Gegensatz zur Bourgeoisie bewusst und begann, sich eine Welt jenseits des Kapitalismus vorzustellen.
Auf der Ebene der Beziehung des Menschen zur Natur weist die Stadt denselben doppelten Aspekt auf: Sie ist das Zentrum der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung und eröffnet das Potenzial für die Befreiung von Entbehrung und Krankheit. Aber diese wachsende "Beherrschung der Natur", die sich unter den Bedingungen der Entfremdung des Menschen von sich selbst und von der Natur vollzieht, ist auch untrennbar mit der Zerstörung der Natur und mit einer Reihe von ökologischen Katastrophen verbunden. So wurde der Verfall der sumerischen oder der Maya-Stadtkulturen damit erklärt, dass die Stadt sich selbst überforderte und das sie umgebende Milieu von Wäldern und Landwirtschaft erschöpfte, deren Zusammenbruch der Hybris der Zivilisationen, die ihre innige Abhängigkeit von der Natur zu vergessen begannen, schreckliche Schläge versetzte. So wurden auch die Städte, insofern sie die Menschen wie Sardinen zusammenpressten, das Grundproblem der Abfallentsorgung nicht lösten und uralte Beziehungen zwischen Mensch und Tier umkehrten, zum Nährboden für Plagen wie die Pest in der Zeit des Niedergangs der Feudalismus oder die Cholera und den Typhus, die in den Industriestädten des Frühkapitalismus wüteten. Aber auch hier müssen wir die andere Seite der Dialektik betrachten: Die aufsteigende Bourgeoisie war in der Lage zu verstehen, dass die Krankheiten, die ihre Lohnsklaven heimsuchten, an den Türen der Kapitalisten nicht haltmachten und ihr ganze Wirtschaftsgebäude untergraben konnten. So konnte sie erstaunliche Ingenieurleistungen beim Bau von Abwassersystemen, die noch heute in Betrieb sind, beginnen und durchsetzen, während die sich rasch entwickelnde Medizin zur Beseitigung der bis dahin chronischen Krankheitsformen eingesetzt wurde.
Vor allem im Werk von Friedrich Engels finden wir die grundlegenden Elemente für eine Geschichte der Stadt aus proletarischer Sicht. In Der Ursprung der Familie, des Privateigentum und des Staats zeichnet er die Auflösung der alten "Gens", der auf verwandtschaftlichen Bindungen basierenden Stammesorganisation, bis hin zur neuen territorialen Organisation der Stadt, die die unumkehrbare Spaltung in antagonistische Klassen und damit die Entstehung der Staatsmacht markiert, deren Aufgabe es ist, zu verhindern, dass diese Spaltungen die Gesellschaft zerreißen. In Die Lage der arbeitenden Klasse in England zeichnet er ein Bild von den höllischen Lebensbedingungen des jungen Proletariats, dem alltäglichen Schmutz und der Krankheit der Slums von Manchester, aber auch von den Regungen des Klassenbewusstseins und der Organisierung, die letztlich die entscheidende Rolle dabei spielten, die herrschende Klasse zu zwingen, den Arbeitern bedeutende Reformen zuzugestehen.
In zwei späteren Werken, im Anti-Dühring und in Zur Wohnungsfrage, beginnt Engels eine Diskussion über die kapitalistische Stadt in einer Phase, in der der Kapitalismus bereits in den zentralen Ländern Europas und den USA triumphiert hat und dabei ist, den gesamten Globus zu erobern. Und es fällt auf, dass er bereits jetzt zu dem Schluss kommt, dass die großen Städte sich selbst überlebt haben und verschwinden müssen, um die Forderung des Kommunistischen Manifests zu erfüllen: die Aufhebung der Trennung zwischen Stadt und Land. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass Marx in den 1860er Jahren auch zunehmend besorgt über die zerstörerischen Auswirkungen der kapitalistischen Landwirtschaft auf die Fruchtbarkeit des Bodens war und in den Arbeiten von Liebig feststellte, dass die Vernichtung der Waldbestände in Teilen Europas Auswirkungen auf das Klima hatte, indem sie die lokalen Temperaturen erhöhte und die Niederschläge verringerte[12]. Mit anderen Worten: Genauso wie Marx nach der Zerschlagung der Pariser Kommune Zeichen der politischen Dekadenz der bürgerlichen Klasse erkannte und in seiner Korrespondenz mit russischen Revolutionären gegen Ende seines Lebens nach Wegen suchte, wie die Regionen, in denen der Kapitalismus noch nicht vollständig obsiegt hatte, dem Fegefeuer der kapitalistischen Entwicklung entgehen konnten, hatten sowohl er als auch Engels begonnen, sich zu fragen, ob, was den Kapitalismus betraf, die Grenze erreicht sei[13]. Vielleicht waren die materiellen Grundlagen für eine globale kommunistische Gesellschaft bereits gelegt worden, und weiterer "Fortschritt" für das Kapital würde ein zunehmend zerstörerisches Ergebnis haben? Wir wissen, dass das System durch seine imperialistische Expansion in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts seine Existenz noch um einige Jahrzehnte verlängerte und die Grundlage für eine schwankende Wachstums- und Entwicklungsphase schaffte, was einige Elemente in der Arbeiterbewegung dazu veranlasste, die marxistische Analyse der Unvermeidbarkeit der kapitalistische Krise und des kapitalistischen Niedergangs in Frage zu stellen, nur damit die ungelösten Widersprüche des Kapitals im Krieg von 1914-18 (den auch Engels vorausgesagt hatte) ans Tageslicht kämen. Aber die brennenden Fragen nach der Zukunft, die sie gerade dann zu stellen begannen, als der Kapitalismus seinen Zenit erreicht hatte, waren damals durchaus berechtigt und sind heute mehr denn je aktuell.
In "Die Transformation der sozialen Beziehungen", International Review 85 (engl./frz./span. Ausgabe), haben wir untersucht, wie die Revolutionäre des 19. Jahrhunderts – insbesondere Engels, aber auch Bebel und William Morris – argumentierten, dass das Wachstum der Großstädte bereits den Punkt erreicht hatte, an dem die Abschaffung des Antagonismus zwischen Stadt und Land zu einer echten Notwendigkeit geworden war, so dass die Expansion der Großstädte zugunsten einer größeren Einheit zwischen Industrie und Landwirtschaft und einer gleichmäßigeren Verteilung der menschlichen Behausungen auf der Erde ein Ende finden sollte. Es war eine Notwendigkeit nicht nur zur Lösung drängender Probleme wie der Abfallentsorgung und der Verhinderung von Überbevölkerung, Umweltverschmutzung und Krankheiten, sondern auch als Grundlage für ein menschlicheres Leben im Einklang mit der Natur.
In zuvor schon zitierten Artikel "Damen, Bordiga und die Leidenschaft für den Kommunismus" zeigten wir, dass Bordiga – vielleicht mehr als jeder andere Marxist im 20. Jahrhundert – diesem wesentlichen Aspekt des kommunistischen Programms treu geblieben war, indem wir zum Beispiel seinen 1953 erschienenen Artikel Raum vs. Beton[14] zitierten, eine leidenschaftliche Polemik gegen die zeitgenössischen Tendenzen in Architektur und Stadtplanung (ein Bereich, in dem Bordiga selbst beruflich tätig war), die von dem Bedürfnis des Kapitals angetrieben wurden, so viele Menschen wie möglich auf immer engerem Raum zusammenzutreiben – eine Tendenz, die durch den schnellen Bau von Hochhäusern verkörpert wird, die angeblich von den Architekturtheorien Le Corbusiers inspiriert sein sollen. Bordiga ist erbarmungslos gegenüber den Verfechtern der modernen Städtebauideologie:
"Wer solchen Tendenzen Beifall spendet, sollte nicht nur als Verteidiger kapitalistischer Doktrinen, Ideale und Interessen betrachtet werden, sondern als Komplize der pathologischen Tendenzen der obersten Stufe des Kapitalismus in Verfall und Auflösung" (also keine Zurückhaltung gegenüber der Dekadenz hier!). An anderer Stelle im selben Artikel bekräftigt er dies:
"Vertikalismus heißt diese deformierte Doktrin; der Kapitalismus ist vertikal. Der Kommunismus wird 'horizontal' sein". Und am Ende des Artikels nimmt er freudig den Tag vorweg, an dem "die Zementmonster lächerlich gemacht und unterdrückt" und die "Riesenstädte entleert" werden, um "die Dichte des Lebens und der Arbeit auf dem bewohnbaren Land einheitlich werden zu lassen".
In einem anderen Werk, Die menschliche Gattung und die Erdkruste[15], zitiert Bordiga ausgiebig aus Engels' Zur Wohnungsfrage, und wir können der Versuchung nicht widerstehen, dasselbe zu tun. Dies stammt aus dem letzten Abschnitt der Broschüre, in dem Engels den Proudhon-Anhänger Mülberger dafür zitiert, dass er behauptet, es sei utopisch, den "unvermeidlichen" Antagonismus zwischen Stadt und Land überwinden zu wollen:
"Die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land ist nicht mehr und nicht minder eine Utopie als die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Kapitalisten und Lohnarbeitern. Sie wird von Tag zu Tag mehr eine praktische Forderung der industriellen wie ackerbauenden Produktion. Niemand hat sie lauter gefordert als Liebig in seinen Schriften über die Chemie des Ackerbaus, worin stets seine erste Forderung ist, daß der Mensch an den Acker das zurückgebe, was er von ihm erhält, und worin er beweist, daß nur die Existenz der Städte, namentlich der großen Städte, dies verhindert. Wenn man sieht, wie hier in London allein eine größere Menge Dünger als das ganze Königreich Sachsen produziert, Tag für Tag unter Aufwendung ungeheurer Kosten – in die See geschüttet wird, und welche kolossalen Anlagen nötig werden, um zu verhindern, daß dieser Dünger nicht ganz London vergiftet, so erhält die Utopie von der Abschaffung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land eine merkwürdig praktische Grundlage. Und selbst das verhältnismäßig unbedeutende Berlin erstinkt seit mindestens dreißig Jahren in seinem eigenen Dreck. Andererseits ist es eine reine Utopie, wenn man, wie Proudhon, die jetzige bürgerliche Gesellschaft umwälzen und den Bauer als solchen erhalten will. Nur eine möglichst gleichmäßige Verteilung der Bevölkerung über das ganze Land, nur eine innige Verbindung der Industriellen mit der ackerbauenden Produktion, nebst der dadurch nötig werdenden Ausdehnung der Kommunikationsmittel – die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise dabei vorausgesetzt – ist imstande, die Landbevölkerung aus der Isolierung und Verdummung herauszureißen, in der sie seit Jahrtausenden fast unverändert vegetiert."[16]
In dieser Passage werden mehrere Gedankenstränge vorgeschlagen, und Bordiga ist sich ihrer sehr wohl bewusst. Erstens besteht Engels darauf, dass die Überwindung des Antagonismus zwischen Stadt und Land eng mit der Überwindung der allgemeinen kapitalistischen Arbeitsteilung verbunden ist – ein Thema, das im Anti-Dühring weiter entwickelt wird, insbesondere die Trennung zwischen geistiger und manueller Arbeit, die im kapitalistischen Produktionsprozess so unüberbrückbar erscheint. Beide Trennungen, nicht anders als die Spaltung zwischen Kapitalist und Lohnarbeiter, sind für die Vervollkommnung des menschlichen Wesens unerlässlich. Und im Gegensatz zum Schematismus der rückwärtsgewandten Proudhonisten beinhaltet die Abschaffung der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse nicht die Erhaltung des Kleingrundbesitzes der Bauern oder Handwerker; die Überwindung der Trennungen zwischen Stadt und Land, zwischen Industrie und Landwirtschaft wird die Bauern aus der Isolation und der intellektuellen Vegetation ebenso retten wie die Stadtbewohner vor Überbevölkerung und Umweltverschmutzung befreien.
Zweitens wirft Engels hier, wie auch anderswo, das einfache, aber oft übergangene Problem der menschlichen Exkremente auf. In ihrer ersten, "wilden" Form haben die kapitalistischen Städte so gut wie keine Vorkehrungen für den Umgang mit menschlichen Exkrementen getroffen und sehr schnell den Preis dafür mit der Entstehung epidemischer Krankheiten bezahlt, insbesondere mit Durchfall und Cholera – Geißeln, die noch immer in den Elendsvierteln der kapitalistischen Peripherie wüten, wo grundlegende Hygieneeinrichtungen notorisch fehlen. Der Bau des Abwassersystems stellte sicherlich einen Fortschritt in der Geschichte der bürgerlichen Stadt dar. Aber das einfache Wegspülen von menschlichem Abfall ist selbst eine Form von Abfall, da er als natürlicher Dünger verwendet werden könnte (wie es in der Tat in der früheren Geschichte der Stadt der Fall war).
Wenn man auf London oder Manchester zu Lebzeiten Engels‘ blickt, könnte man leicht sagen: Wenn unsere Vorfahren schon damals fanden, dass diese Städte viel zu groß geworden seien, viel zu sehr von ihrer natürlichen Umgebung getrennt: Was hätten sie von den modernen Abkömmlingen dieser Städte gehalten? Die UNO schätzt, dass heute rund 55% der Weltbevölkerung in großen Städten leben, aber wenn das gegenwärtige Wachstum der Städte anhält, wird diese Zahl bis 2050 auf rund 68% steigen[17].
Dies ist ein wirkliches Beispiel für das, was Marx bereits in den Grundrissen postuliert hat: "Entwicklung als Verfall", und Bordiga hat dies in der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg vorausschauend erkannt Die Anthropologen, die den Beginn des Zeitalters des so genannten "Anthropozäns" definieren wollen (was im Grunde genommen die Epoche bedeutet, in der die menschliche Tätigkeit einen grundlegenden und qualitativen Einfluss auf die Ökologie des Planeten zu haben begann), führen es gewöhnlich auf die Ausbreitung der modernen Industrie zu Beginn des 19. Jahrhunderts zurück – kurz gesagt auf den Sieg des Kapitalismus. Aber einige von ihnen sprechen auch von einer "Großen Beschleunigung", die nach 1945 stattfand, und wir können sehen, wie sich der Moloch nach 1989 mit dem Aufstieg Chinas und anderer "Entwicklungsländer" noch weiter beschleunigt hat.
Die Folgen dieses Wachstums sind bekannt: der Beitrag der Megastadt zur globalen Erwärmung durch ungehemmtes Bauen, der Energieverbrauch und die Emissionen von Industrie und Verkehr, die auch in vielen Städten die Luft vergiften (bereits von Bordiga in Die menschliche Gattung und die Erdkruste erwähnt: "Was die bürgerliche Demokratie betrifft, so hat sie sich so weit herabgelassen, dass sie auf die Freiheit zu atmen verzichtet"). Die unkontrollierte Ausbreitung der Urbanisierung war ein Hauptfaktor für die Zerstörung natürlicher Lebensräume und das Aussterben von Arten; und nicht zuletzt haben die Megastädte ihre Rolle als Brutstätten neuer pandemischer Krankheiten offenbart, von denen die tödlichste und ansteckendste – Covid-19 – zur Zeit der Abfassung dieses Artikels die Weltwirtschaft lähmt und eine weltweite Spur von Tod und Leid hinterlässt. Die beiden letzten "Beiträge" haben sich wahrscheinlich in der Covid-19-Epidemie zusammengefunden, die zu einer Reihe von Fällen gehört, in denen ein Virus von einer Spezies auf eine andere übergesprungen ist. Dies ist zu einem großen Problem in Ländern wie China und in vielen Teilen Afrikas geworden, in denen die Lebensräume von Tieren ausgelöscht werden, was zu einer erheblichen Zunahme des Konsums von "Wildfleisch" führt, und in denen die neuen Städte, die gebaut wurden, um Chinas rasendem Wirtschaftswachstum zu dienen, minimale Hygienekontrollen haben.
In der Liste der revolutionären Maßnahmen, die in Bordigas Artikel enthalten ist, ist Punkt 7 der relevanteste für das Projekt der Abschaffung des Antagonismus zwischen Stadt und Land:
»Anhalten der Bautätigkeit« von Wohnungen und Arbeitsstätten am Rande der großen Städte (und auch der kleinen), als Maßnahme zur gleichmäßigen Verteilung der Bevölkerung über das gesamte Territorium. Verringerung der Schnelligkeit, des Ausmaßes und der Verdichtung des Verkehrs durch Verbot des überflüssigen Verkehrs.“
Dieser Punkt scheint heute besonders zeitgemäß zu sein, da praktisch jede Stadt Schauplatz unerbittlicher "vertikaler" Erhebung (der Bau riesiger Wolkenkratzer, insbesondere in den Stadtzentren) und "horizontaler" Ausdehnung ist, die das Umland auffrisst. Die Forderung lautet einfach: Stopp! Das Aufblähen der Städte und die unhaltbare Konzentration der Bevölkerung in ihnen ist das Ergebnis der kapitalistischen Anarchie und daher im Wesentlichen ungeplant und dezentralisiert. Die menschliche Energie und die technologischen Möglichkeiten, die derzeit für dieses krebsartige Wachstum eingesetzt werden, müssen vom Beginn des revolutionären Prozesses an in eine andere Richtung mobilisiert werden. Auch wenn die Weltbevölkerung beträchtlich zugenommen hat, seit Bordiga in Raum vs. Beton errechnete, dass "unsere Spezies im Durchschnitt einen Quadratkilometer pro zwanzig Einwohner hat"[18], bleibt die Möglichkeit einer weitaus rationaleren und harmonischeren Verteilung der Bevölkerung über den Planeten bestehen, selbst wenn man die Notwendigkeit berücksichtigt, große Gebiete der Wildnis zu erhalten – eine Notwendigkeit, die heute besser verstanden wird, weil die immense Bedeutung der Erhaltung der biologischen Vielfalt auf dem ganzen Planeten wissenschaftlich erwiesen ist, die aber bereits von Trotzki in Literatur und Revolution[19] ins Auge gefasst wurde.
Die Abschaffung des Stadt-Land-Antagonismus wurde durch den Stalinismus in eine Richtung verzerrt: alles zupflastern, "Arbeiterkasernen" und neue Fabriken auf jedem Feld und in jedem Wald bauen. Für den authentischen Kommunismus würde sie bedeuten, Felder zu bestellen und Wälder mitten in den Städten zu pflanzen, aber auch, dass lebensfähige Gemeinschaften an erstaunlich vielen Orten angesiedelt werden können, ohne alles um sie herum zu zerstören, und dass sie nicht isoliert werden, weil ihnen die Kommunikationsmittel zur Verfügung stehen, die der Kapitalismus in der Tat mit schwindelerregender Geschwindigkeit entwickelt hat. Engels hatte bereits in Zur Wohnungsfrage auf diese Möglichkeit hingewiesen, und Bordiga greift sie in Raum vs. Beton wieder auf:
"Modernste Produktionsformen, Netzwerke von Stationen aller Art wie Wasserkraftwerke, Kommunikation, Radio, Fernsehen nutzen, verleihen den Arbeitern, die in kleinen Gruppen über enorme Entfernungen verteilt sind, zunehmend eine einzigartige betriebliche Disziplin. Die kombinierte Arbeit bleibt bestehen, in immer größeren und wunderbareren Geflechten, und die autonome Produktion verschwindet mehr und mehr. Aber die oben erwähnte technologische Dichte nimmt ständig ab. Die städtische und produktive Agglomeration bleibt also nicht aus Gründen, die vom Optimum der Produktion abhängen, sondern aus Gründen der Dauerhaftigkeit der Profitwirtschaft und der sozialen Diktatur des Kapitals".
Die Digitaltechnik hat dieses Potential natürlich weiter vorangetrieben. Aber im Kapitalismus war das Gesamtergebnis der "Internet-Revolution" die Beschleunigung der Atomisierung des Individuums, während der Trend zum "Homeoffice" – besonders hervorgehoben durch die Covid-19-Krise und die begleitenden Maßnahmen der sozialen Isolation – die Tendenz zur städtischen Verdichtung keineswegs verringert hat. Der Konflikt zwischen dem Wunsch, in Gemeinschaft mit anderen zu leben und zu arbeiten einerseits, und dem Bedürfnis, Raum zum Bewegen und Atmen zu finden andererseits, kann nur in einer Gesellschaft gelöst werden, in der der Einzelne nicht mehr im Widerspruch zur Gemeinschaft steht.
Wie beim Bau menschlicher Behausungen so ist es auch bei der Hektik des modernen Verkehrs: stoppen oder zumindest verlangsamen!
Auch hier ist Bordiga seiner Zeit voraus. Die Methoden des kapitalistischen Transports zu Lande, zu Wasser und in der Luft, die überwiegend auf der Verbrennung fossiler Brennstoffe basieren, sind für mehr als 20% der weltweiten Kohlendioxidemissionen verantwortlich[20], während sie in den Städten zu einer wesentlichen Quelle von Herz- und Lungenkrankheiten geworden sind, von denen vor allem Kinder betroffen sind. Die jährliche Zahl der Verkehrstoten weltweit beträgt schwindelerregende 1,35 Millionen, mehr als die Hälfte davon sind "ungeschützte" Verkehrsteilnehmende: FußgängerInnen, Radfahrende und Motorradfahrer[21], und dies sind nur die offensichtlichsten Nachteile des gegenwärtigen Verkehrssystems. Der ständige Lärm, den es erzeugt, nagt an den Nerven des Stadtbewohners, und die Unterordnung der Stadtplanung unter die Bedürfnisse des Autos (und der Autoindustrie, die so zentral für die bestehende kapitalistische Wirtschaft ist) führt zu Städten, die endlos zersplittert sind, mit Wohngebieten, die durch den unaufhörlichen Verkehrsfluss voneinander getrennt sind. Unterdessen wird die soziale Atomisierung, ein wesentliches Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft und insbesondere der kapitalistischen Stadt, nicht nur symbolisiert, sondern noch verstärkt durch den einsamen Autobesitzer und -fahrer, der mit Millionen ähnlich getrennter Seelen um den Straßenraum konkurriert.
Natürlich musste der Kapitalismus Maßnahmen ergreifen, um zu versuchen, die schlimmsten Auswirkungen all dessen zu mildern: "Kohlenstoffausgleich", um exzessive Flüge auszugleichen, "Verkehrsberuhigung" und autofreie Gehwege in den Stadtzentren, die Entwicklung hin zum Elektroauto.
Keine dieser "Reformen" kommt auch nur annähernd an eine Lösung des Problems heran, weil keine dieser "Reformen" die kapitalistischen Gesellschaftsbeziehungen in Frage stellt, die an der Wurzel liegen. Nehmen wir zum Beispiel das Elektroauto: Die Autoindustrie hat die Zeichen der Zeit erkannt und tendiert dazu, immer mehr auf dieses Verkehrsmittel umzusteigen. Aber selbst wenn man das Problem der Gewinnung und Entsorgung des für die Batterien benötigten Lithiums oder die Notwendigkeit, die Stromproduktion für den Antrieb dieser Fahrzeuge zu erhöhen, beiseite lässt, die allesamt erhebliche ökologische Kosten verursachen, wäre eine Stadt voller Elektrofahrzeuge zwar geringfügig leiser und etwas weniger verschmutzt, aber immer noch gefährlich für die FußgängerInnen und von Autostraßen zerschnitten.
Es ist möglich, dass der Kommunismus in der Tat in großem Umfang (wenn auch zweifellos nicht ausschließlich) von Elektrofahrzeugen Gebrauch machen wird. Aber das eigentliche Problem liegt woanders. Der Kapitalismus muss mit halsbrecherischer Geschwindigkeit operieren, denn Zeit ist Geld, und der Transport wird von den Bedürfnissen der Akkumulation angetrieben, die die "Umschlags"-Zeit und damit den Transport in ihre Gesamtberechnungen einbezieht. Der Kapitalismus wird gleichermaßen von der Notwendigkeit angetrieben, so viele Produkte wie möglich zu verkaufen, daher der ständige Druck für jeden Einzelnen, sein Eigentum zu besitzen – wiederum symbolisiert im privaten Auto, das zum Ausdruck des persönlichen Reichtums und Prestiges geworden ist, dem Schlüssel zur "Freiheit auf der Straße" in einer Ära endloser Staus.
Das Tempo des Lebens in den heutigen Städten ist (selbst mit den Staus) weitaus höher als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber in Die Frau und der Sozialismus, das erstmals 1879 veröffentlicht wurde, freute sich August Bebel bereits auf die Stadt der Zukunft, wo das "nervenzerstörende Geräusch, Gedränge und Gerenne unserer großen Städte mit ihren Tausenden von Vehikeln aller Art im wesentlichen" aufhört, "alles eine große Umgestaltung" erfährt (S. 451).
Die Hektik und der Stau, die das Stadtleben so stressig machen, können nur überwunden werden, wenn der Drang zur Akkumulation zugunsten einer Produktion unterdrückt wird, die so geplant ist, dass die notwendigen Gebrauchswerte frei verteilt werden können. Bei der Ausarbeitung der Verkehrsnetze der Zukunft wird natürlich ein Schlüsselfaktor darin bestehen, den Kohlenstoffausstoß und andere Formen der Umweltverschmutzung weitgehend auf ein Minimum zu beschränken, aber die Notwendigkeit, eine größere Entspannung, ein gewisses Maß an Ruhe für Wohnhafte und Reisende zu erreichen, wird sicherlich in den Gesamtplan einfließen. Da der Druck, so schnell wie möglich von A nach B zu gelangen, viel geringer ist, werden die Reisenden mehr Zeit haben, die Reise selbst zu genießen: Vielleicht wird in einer solchen Welt das Pferd auf Teile des Landes zurückkehren, die Segelboote auf das Meer, Luftschiffe in den Himmel, während es auch möglich sein wird, bei Bedarf viel schnellere Transportmittel zu benutzen[22]. Gleichzeitig wird sich das Verkehrsaufkommen stark verringern, wenn die Sucht nach dem persönlichen Besitz von Fahrzeugen durchbrochen werden kann und die Reisenden Zugang zu kostenlosen öffentlichen Verkehrsmitteln verschiedener Art haben (Busse, Züge, Boote, Taxis und selbstfahrende Verkehrsmittel). Wir sollten auch bedenken, dass im Gegensatz zu den vielen westlichen kapitalistischen Städten, in denen die Hälfte aller Wohnungen von Einzelpersonen bewohnt wird, der Kommunismus ein Experiment für gemeinschaftlichere Wohnformen sein wird; und in einer solchen Gesellschaft kann das Reisen in Gesellschaft anderer zu einem Vergnügen werden und nicht zu einem verzweifelten Wettlauf zwischen verfeindeten Konkurrenten.
Wir sollten auch bedenken, dass viele der Fahrten, die das Verkehrssystem verstopfen, die zu sinnlosen Tätigkeiten wie Finanzen, Versicherungen oder Werbung führen, in einer geldlosen Gesellschaft keinen Platz haben werden. Der tägliche Berufsverkehr wird der Vergangenheit angehören. Gleichzeitig kann die Produktion von Gebrauchsgegenständen umgestaltet und verlagert werden, um den Transport von Produkten über weite Strecken zu vermeiden, der im Kapitalismus sehr oft nur von dem Ziel bestimmt wird, schlechter bezahlte Arbeitskräfte oder andere Vorteile (für das Kapital) zu finden, wie z.B. fehlende Umweltvorschriften. Die gesamte Produktion und Verteilung der benötigten Gebrauchswerte werden neu organisiert, so dass viele Fahrten zwischen den Produktionsstätten und den Wohnungen nicht mehr notwendig sind.
Auf diese Weise werden die Straßen einer Stadt, in der das wütende Tosen des Verkehrs auf ein Schnurren reduziert ist, einige ihrer älteren Vorteile und Nutzungen – zum Beispiel als Spielplätze für Kinder – zurückgewinnen.
Auch hier unterschätzen wir das Ausmaß der damit verbundenen Aufgaben nicht. Auch wenn die Möglichkeit, gemeinschaftlicher oder assoziierter zu leben, durch den Übergang zu einer kommunistischen Produktionsweise eingeschränkt wird, werden die egoistischen Vorurteile, die durch mehrere hundert Jahre Kapitalismus stark verschärft wurden, nicht automatisch verschwinden und in der Tat oft als ernsthafte Hindernisse für den Prozess der Vergesellschaftung wirken. Wie Marx es ausdrückte,
"Das Privateigentum hat uns so dumm und einseitig gemacht, daß ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben, also als Kapital für uns existiert oder von uns unmittelbar besessen, gegessen, getrunken, an unsrem Leib getragen, von uns bewohnt etc., kurz, gebraucht wird. Obgleich das Privateigentum alte diese unmittelbaren Verwirklichungen des Besitzes selbst wieder nur als Lebensmittel faßt und das Leben, zu dessen Mittel sie dienen, ist das Leben des Privateigentums Arbeit und Kapitalisierung. An die Stelle aller physischen und geistigen Sinne ist daher die einfache Entfremdung aller dieser Sinne, der Sinn des Habens getreten." (Ökonomisch-philosophische Manuskripte von 1844, Kapitel über Privateigentum und Kommunismus)
Rosa Luxemburg vertrat immer die Ansicht, dass es beim Kampf für den Sozialismus nicht nur um "Brot-und-Butter"-Fragen gehe, sondern dass "sittlich (...) der Arbeiterkampf die kulturelle Erneuerung der Gesellschaft" bedeute[23]. Dieser kulturelle und moralische Aspekt des Klassenkampfes und vor allem der Kampf gegen den "Sinn des Habens" werden sicherlich während des Übergangs zum Kommunismus weitergeführt werden.
CDW 23.04.2020
[1] "Der Wandel der sozialen Beziehungen" in International Review 85 (englische, französische, spanische Ausgabe): https://en.internationalism.org/internationalreview/199604/3709/transformation-social-relations [89]; "Damen, Bordiga und die Leidenschaft für den Kommunismus", https://de.internationalism.org/content/2944/die-1950er-und-60er-jahre-damen-bordiga-und-die-leidenschaft-fuer-den-kommunismus [90]
[2] “1918: Das Programm der Deutschen Kommunistischen Partei" in International Review 93, https://en.internationalism.org/internationalreview/199803/3824/1918-programme-german-communist-party [91]; und "1919: Das Programm der Diktatur des Proletariats" in International Review 95, https://en.internationalism.org/internationalreview/199809/3867/1919-programme-dictatorship-proletariat [92]; und "Das Programm des KAPD [93]", International Review 97.
[3] Marx, Kritik des Gothaer Programms
[4] "Damen, Bordiga und die Leidenschaft für den Kommunismus", siehe Anmerkung 1
[5] Wir wollen darauf hinweisen, dass der Text als "Parteidokument" der neuen Organisation angenommen wurde und nicht einfach nur ein individueller Bericht ist.
[6] Aber die Damenisten waren viel klarer in vielen der Lehren aus der Niederlage der Russischen Revolution und in den Positionen des Proletariats in der dekadenten Ära des Kapitalismus. Vgl. "Damen, Bordiga und die Leidenschaft für den Kommunismus", Anmerkung 1.
[8] Siehe "Damen, Bordiga und die Leidenschaft für den Kommunismus", a.a.O.
[10] Siehe zum Beispiel "Zu Patrick Torts The Darwin Effect", https://en.internationalism.org/icconline/2009/04/darwin-and-the-descent-of-man [96]
[11] Max Weber, Die Stadt, 1921
[12] Vgl. Kohei Saito, Karl Marx’s Ecosocialism, New York, 2017
[13] Zu Marx und der russischen Frage siehe einen früheren Artikel in dieser Reihe, "Der reife Marx: vergangener und zukünftiger Kommunismus", International Review 81 (engl./frz./span. Ausgabe), https://en.internationalism.org/internationalreview/199506/1685/mature-marx-past-and-future-communism [76]
[14] Il Programma Comunista, Nr. 1 vom 8. bis 24. Januar 1953, materialnecessity.org/2020/04/02/space-versus-cement-il-programa-comunista
[15] Il Programma Comunista no. 6/1952, 18. Dezember 1952, https://libcom.org/article/human-species-and-earths-crust-amadeo-bordiga [97]
[17] https://www.cnbc.com/2018/05/17/two-thirds-of-global-population-will-live-in-cities-by-2050-un-says.html [99]
[18] Bordiga gab die Zahl 2,5 Milliarden an, heute sind es eher 7,8 Milliarden: https://www.quora.com/In-2009-the-world-population-was-6-8-billion-Exponential-growth-rate-was-1-13-per-year-What-is-the-estimated-world-population-in-2012-and-2020 [100]
[19] https://www.marxists.org/archive/trotsky/1924/lit_revo/ [101] Siehe auch International Review 111 (englisch/französisch/spanische Ausgabe), "Trotzki und die Kultur des Kommunismus", https://en.internationalism.org/internationalreview/200210/9651/trotsky-and-culture-communism [102]
[22] Natürlich können die Menschen immer noch den Nervenkitzel genießen, mit schwindelerregender Geschwindigkeit zu reisen, aber vielleicht werden solche Vergnügungen in einer rationalen Gesellschaft vor allem in eigens dafür vorgesehenen Arenen erreicht.
[23] Stillstand und Fortschritt im Marxismus, 1903, Luxemburg Gesammelte Werke Bd. 1/2 S. 366
Das Ziel dieser Polemik ist es, eine Debatte im Proletarisch-Politischen Milieu anzuregen. Wir hoffen, dass die Kritik, die wir an anderen Gruppen üben, Anlass zu Reaktionen gibt, denn die Kommunistische Linke kann nur durch eine offene Auseinandersetzung mit unseren Differenzen gestärkt werden.
Angesichts großer sozialer Umwälzungen besteht die erste Pflicht der Kommunisten darin, ihre Prinzipien mit äußerster Klarheit zu verteidigen und der Arbeiterklasse die Mittel an die Hand zu geben, um zu verstehen, wo ihre Klasseninteressen liegen. Die Gruppen der Kommunistischen Linken haben sich vor allem durch ihre Loyalität zum Internationalismus angesichts der Kriege zwischen bürgerlichen Banden, Staaten und Bündnissen ausgezeichnet. Trotz der Unterschiede in ihrer Analyse der historischen Periode, in der wir leben, waren die bestehenden Gruppen der Kommunistischen Linken - die Internationale Kommunistische Strömung, die IKT (Internationalist Communist Tendency) und die verschiedenen Bordigistischen Organisationen - im Allgemeinen in der Lage, alle Kriege zwischen Staaten als imperialistisch anzuprangern und die Arbeiterklasse aufzufordern, ihren Protagonisten jegliche Unterstützung zu verweigern. Dadurch unterscheiden sie sich entscheidend von Pseudorevolutionären wie den Trotzkisten, die stets eine völlig verzerrte Version des Marxismus vertreten, um die Unterstützung der einen oder anderen bürgerlichen Fraktion zu rechtfertigen.
Die Aufgabe, die Interessen der Arbeiterklasse zu verteidigen, wird natürlich auch durch den Ausbruch großer sozialer Konflikte gestellt - nicht nur durch Bewegungen, die eindeutig Ausdruck des proletarischen Kampfes sind, sondern auch durch große Mobilisierungen, bei denen eine große Zahl auf der Straße protestiert und oft mit den Kräften der bürgerlichen Ordnung zusammenstößt. Im letzteren Fall kann der Präsenz von Arbeitern und sogar von Forderungen, die mit den Bedürfnissen der Arbeiterklasse verbunden sind, es sehr schwierig machen, eine klare Analyse ihres Klassencharakters zu erstellen.
All diese Elemente gab es zum Beispiel in der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich, und es gibt diejenigen (wie die Gruppe Guerre de Classe), die zu dem Schluss kamen, dass dies eine neue Form des proletarischen Klassenkampfes sei[1]. Im Gegensatz dazu konnten einige Gruppen der Kommunistischen Linken erkennen, dass es sich um eine interklassistische Bewegung handelte, an der sich die Arbeiter im Wesentlichen als Individuen beteiligten, den Parolen der Kleinbourgeoisie folgend und sogar offen bürgerliche Forderungen und Symbole (Bürgerdemokratie, Trikolore, immigrantenfeindlicher Rassismus usw.) mittrugen[2]. Dennoch waren beträchtliche Verwirrungen in ihren Analysen vorhanden. Der Wunsch, trotz alledem ein gewisses Potential der Arbeiterklasse in einer Bewegung zu sehen, die offensichtlich auf reaktionärem Terrain begonnen hatte und weitergeführt wurde, war bei einigen der Gruppen noch erkennbar, wie wir später noch sehen werden.
Die Black Lives Matter-Proteste stellen für revolutionäre Gruppen eine noch größere Herausforderung dar: Es lässt sich nicht leugnen, dass sie aus einer Welle echter Wut gegen einen besonders ekelhaften Ausdruck von Polizeibrutalität und Rassismus entstanden sind. Darüber hinaus war die Wut nicht auf Schwarze beschränkt und ging weit über die Grenzen der USA hinaus. Ausbrüche von Wut, Entrüstung und Widerstand gegen Rassismus führen jedoch nicht automatisch in Richtung Klassenkampf. In Ermangelung einer echten proletarischen Alternative können sie leicht von der Bourgeoisie und ihrem Staat instrumentalisiert werden. Unserer Meinung nach war dies bei den gegenwärtigen BLM-Protesten der Fall, und die Kommunisten stehen daher vor der Notwendigkeit, genau zu zeigen, wie eine ganze Palette bürgerlicher Kräfte - von der BLM vor Ort über die Demokratische Partei in den USA bis hin zu den Vertretern der großen Industriezweige, sogar die Chefs der Armee und der Polizei - vom ersten Tag an anwesend waren, um die legitime Wut zu instrumentalisieren und sie für ihre eigenen Interessen zu nutzen.
Wie haben die Kommunisten darauf reagiert? Wir werden uns hier nicht mit jenen Anarchisten befassen, die glauben, dass die Aktionen des kleinlichen Vandalismus der Schwarzen Blöcke im Rahmen solcher Demonstrationen Ausdruck von Klassengewalt sind, oder mit "Kommunisten", die meinen, Plünderungen seien eine Form des "proletarischen Einkaufens" oder ein Schlag gegen die Warenform. Wir können in künftigen Artikeln auf diese Argumente zurückkommen. Wir werden uns auf Erklärungen beschränken, die von den Gruppen der Kommunistischen Linken im Gefolge der ersten Unruhen und Demonstrationen nach dem Polizistenmord an George Floyd in Minneapolis abgegeben wurden.
Drei der Gruppen gehören der Bordigistischen Strömung an, und tatsächlich tragen sie alle den Titel "Internationale Kommunistische Partei", so dass wir sie nach ihren Veröffentlichungen definieren werden: Le Proletaire (Der Proletarier); Il Partito Comunista (Die Kommunistische Partei); Programma Comunista (Der Internationalist). Die vierte Gruppe ist die Internationalist Communist Tendency
Alle von diesen Gruppen abgegebenen Erklärungen enthalten Elemente, denen wir zustimmen können: zum Beispiel die unnachgiebige Anprangerung der Polizeibrutalität; die Erkenntnis, dass diese Brutalität, wie der Rassismus im Allgemeinen, ein Produkt des Kapitalismus ist und nur durch die Zerstörung dieser Produktionsweise beseitigt werden kann. Die Erklärung von Le Proletaire macht dies sehr deutlich: "Um den Rassismus loszuwerden, dessen Wurzeln in der wirtschaftlichen und sozialen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft zu finden sind, muss die Produktionsweise, auf der er gedeiht, beseitigt werden, und zwar ausgehend nicht von der Kultur und dem "Gewissen", die bloße Widerspiegelung der kapitalistischen wirtschaftlichen und sozialen Struktur sind, sondern vom proletarischen Klassenkampf, in dem das entscheidende Element die gemeinsame Lage als Lohnarbeiter ist, unabhängig von der Hautfarbe, der Rasse oder dem Herkunftsland. Der einzige Weg, jede Form von Rassismus erfolgreich zu bekämpfen, ist der Kampf gegen die herrschende bürgerliche Klasse, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrer Rasse oder ihrem Herkunftsland, denn sie profitiert von allen Unterdrückungen, von allen Formen des Rassismus, von allen Formen der Sklaverei."[3]
Die Parolen von Il Partito haben den gleichen Inhalt: "Arbeiter! Eure einzige Verteidigung ist die Organisation und der Kampf als Klasse. Die Antwort auf Rassismus ist kommunistische Revolution!"[4]
Wenn es jedoch um die schwierigste Frage geht, vor der Revolutionäre stehen, machen alle diese Gruppen mehr oder weniger den gleichen Kardinalfehler: Die Unruhen nach dem Mord und die Black Lives Matter-Demonstrationen sind aus ihrer Sicht Teil der Bewegung der Arbeiterklasse. Der Internationalist schreibt: "Heute sind die amerikanischen Proletarier gezwungen, mit Gewalt auf die Misshandlungen durch die Polizei zu reagieren und tun gut daran, sich Schlag für Schlag gegen die Angriffe zu wehren, so wie sie gut daran tun, Schlag für Schlag auf die "rassistischen" Schurken der Verfechter der "Überlegenheit der Weißen" zu reagieren und durch die Praxis der gegenseitigen Verteidigung zu zeigen, dass das Proletariat eine einzige Klasse ist: Wer einen von uns angreift, greift uns alle an."[5]
Il Partito: "Die Schwere der Verbrechen, die von den Vertretern des bürgerlichen Staates in den letzten Wochen begangen wurden, und die Stärke der Reaktion des Proletariats darauf zwingt zweifellos zur Suche nach historischen Vergleichen. Die Proteste und Ausschreitungen nach der Ermordung von Martin Luther King Jr. im Jahr 1968 fallen einem sofort ein, ebenso wie die Proteste und Ausschreitungen nach dem Freispruch der Polizei, die Rodney King 1992 misshandelt hatte.“
Die IKT: "Die Ereignisse in Minneapolis sind eine weitere Ergänzung zu einem historischen und systemischen Problem. Das schwarze Proletariat leidet nicht nur unter einer Arbeitslosigkeit, die doppelt so hoch ist wie die der Weißen (eine konstante Zahl seit den 1950er Jahren), sondern ist auch unverhältnismäßig stark von Polizeigewalt betroffen, wobei ein Ende der Zahl der Todesopfer offenbar nicht in Sicht ist. Dennoch erweist sich die Klasse in diesen schrecklichen Momenten erneut als kämpferisch. Die schwarzen Arbeiter Amerikas gingen, zusammen mit dem Rest des sich solidarisch zeigenden Proletariats, auf die Straße und wehrten die staatliche Repression ab. Daran hat sich nichts geändert. 1965, genau wie 2020, tötet die Polizei, und die Klasse reagiert auf die ungerechte Gesellschaftsordnung, für die sie morden. Der Kampf geht weiter.“[6]
Natürlich fügen alle Gruppen die Einschränkung hinzu, dass die Bewegung "nicht weit genug geht":
Der Internationalist: "Aber diese Aufstände (die die Massenmedien, die Organe und Ausdrucksformen der Bourgeoisie, als 'Proteste gegen Rassismus und Ungleichheit' herunterspielen wollen und damit jede Form verurteilen, die über das Klagen und Winseln der armen Teufel hinausgeht) müssen eine Lehre sein und die Proletarier in aller Welt daran erinnern, dass der Knoten, den es zu lösen gilt, der der Macht ist: Es reicht nicht aus, zu rebellieren und Polizeistationen anzuzünden und es reicht nicht aus, Waren aus den Läden oder Geld von den Banken und Pfandhäusern zu beschlagnahmen.“
Il Partito: "Die gegenwärtige antirassistische Bewegung begeht einen schwerwiegenden Fehler, wenn sie sich von der Klassenbasis des Rassismus trennt und ihre politischen Aktionen ausschließlich nach rassischen Gesichtspunkten fortsetzt, in der Hoffnung, an den bürgerlichen Staat zu appellieren. Sie hat es versäumt, die Rolle der Ordnungskräfte und des Militärs bei der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Staates und der politischen Herrschaft der Bourgeoisie anzuprangern. Für farbige Menschen und für das Proletariat als Ganzes liegt die Lösung in der Eroberung der politischen Macht, sie dem Staat zu entreißen, und nicht darin, an ihn zu appellieren."
Die IKT: "Während es ermutigend ist zu sehen, wie Teile der Klasse zurückschlagen, besteht die Tendenz, dass diese Unruhen nach etwa einer Woche abklingen, wenn die Ordnung wiederhergestellt und die unterdrückerischen Strukturen wiederaufgebaut werden.“
Eine Bewegung dafür zu kritisieren, dass sie nicht weit genug geht, macht nur Sinn, wenn sie von Anfang an in die richtige Richtung geht. Mit anderen Worten, es würde für Bewegungen auf einem Klassenterrain gelten. Unserer Ansicht nach war dies bei den Protesten gegen die Ermordung von George Floyd nicht der Fall.
Es besteht kein Zweifel, dass viele der Teilnehmer an den Protesten, Schwarze, Weiße und "andere", Arbeiter waren und sind. Ebenso zweifellos waren und sind sie zu Recht empört über den grausamen Rassismus der Polizei. Aber beides reicht nicht aus, um diesen Protesten einen proletarischen Charakter zu verleihen.
Dies gilt unabhängig davon, ob die Proteste in Form von Krawallen oder pazifistischen Aufmärschen stattfanden. Krawalle sind keine Methode des proletarischen Kampfes, der notwendigerweise einen organisierten, kollektiven Charakter annimmt. Ein Krawall - und vor allem der Akt der Plünderung - ist eine unorganisierte Reaktion einer Masse von einzelnen Individuen, ein Ausdruck purer Wut und Verzweiflung, der aber nicht nur die eigentlichen Plünderer, sondern alle an Straßenprotesten Beteiligten einer verstärkten Repression durch die weitaus besser organisierten Kräfte einer militarisierten Polizei aussetzt.
Viele der Demonstranten sahen die Sinnlosigkeit der Ausschreitungen, die oft absichtlich durch die brutalen Übergriffe der Polizei provoziert wurden und die weiteren Provokationen durch zwielichtige Elemente in der Menge freien Lauf ließen. Aber die Alternative, die von der BLM befürwortet und sofort von den Medien und dem bestehenden politischen Apparat, vor allem der Demokratischen Partei, aufgegriffen wurde, war die Organisation friedlicher Märsche, die vage Forderungen nach "Gerechtigkeit" und "Gleichheit" oder spezifischere Forderungen wie die "Kürzung der Ausgaben für die Polizei" erhoben. Und all dies sind bürgerliche politische Forderungen.
Natürlich kann eine echte proletarische Bewegung alle möglichen verworrenen Forderungen enthalten, aber sie wird in erster Linie durch die Notwendigkeit motiviert, die materiellen Interessen der Klasse zu verteidigen und konzentriert sich daher - in einer Anfangsphase - meistens auf wirtschaftliche Forderungen, die darauf abzielen, die Auswirkungen der kapitalistischen Ausbeutung zu mildern. Wie Rosa Luxemburg in ihrer Schrift über den Massenstreik zeigte, die nach den epochemachenden proletarischen Kämpfen in Russland 1905 geschrieben wurde, kann es in der Tat ein ständiges Wechselspiel zwischen wirtschaftlichen und politischen Forderungen geben, und der Kampf gegen die polizeiliche Repression kann durchaus zu letzteren gehören. Aber es besteht ein großer Unterschied zwischen einer Bewegung der Arbeiterklasse, die z.B. den Rückzug der Polizei aus einem Betrieb oder die Freilassung inhaftierter Streikender fordert, und einem allgemeinen Ausbruch von Wut, die nichts mit dem Widerstand der Arbeiter als Arbeiter zu tun hat und die von den "oppositionellen" politischen Kräften der herrschenden Klasse sofort vereinnahmt wird.
Das Wichtigste von allem: Die Tatsache, dass diese Proteste in erster Linie um die Rassenfrage herum stattfinden, bedeutet, dass sie nicht als Mittel zur Vereinigung der Arbeiterklasse dienen können. Ungeachtet der Tatsache, dass sich den Märschen von Anfang an viele Weiße angeschlossen haben, viele von ihnen Arbeiter oder Studenten, die meisten von ihnen jung, werden die Proteste von BLM und den anderen Organisatoren als eine Bewegung von Schwarzen dargestellt, die andere unterstützen können, wenn sie es wünschen. Wohingegen ein Kampf der Arbeiterklasse ein organisches Bedürfnis hat, alle Spaltungen zu überwinden, ob rassisch, sexuell oder national, oder er wird besiegt werden. Und wieder können wir auf Beispiele verweisen, wo die Arbeiterklasse mit ihren eigenen Methoden gegen rassistische Angriffe mobilisiert hat: In Russland haben die Sowjets 1905 in dem Bewusstsein, dass Pogrome gegen die Juden vom bestehenden Regime benutzt wurden, um die revolutionäre Bewegung als Ganzes zu untergraben, bewaffnete Wachen aufgestellt, um jüdische Viertel gegen die Pogromisten zu verteidigen. Und selbst in einer Zeit der Niederlage und des imperialistischen Krieges ging diese Erfahrung nicht verloren: 1941 streikten die Hafenarbeiter des besetzten Holland gegen die Deportation der Juden.
Es ist kein Zufall, dass sich große Fraktionen der herrschenden Klasse so eifrig mit den BLM-Protesten identifizieren. Als die Covid-19-Pandemie in Amerika ausbrach, sahen wir eine bedeutende Anzahl von Reaktionen der Arbeiterklasse gegen die kriminelle Verantwortungslosigkeit der Bourgeoisie, ihre Versuche, ganze Teile der Klasse zu zwingen, ohne angemessene Sicherheitsmaßnahmen und -ausrüstung zur Arbeit zu gehen. Dies war Teil einer globalen Reaktion in der Arbeiterklasse[7]. Und es stimmt zwar, dass einer der Gründe für den Zorn, der hinter den Protesten, die durch den Mord an George Floyd ausgelöst wurden, stand, die unverhältnismäßig hohe Zahl schwarzer Opfer des Virus war, aber dies ist vor allem das Ergebnis der Stellung der Schwarzen und anderer Minderheitengruppen in den ärmsten Teilen der Arbeiterklasse - mit anderen Worten, ihrer Klassenposition in der Gesellschaft. Die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie beinhalten die Möglichkeit, die zentrale Bedeutung der Klassenfrage hervorzuheben, und die Bourgeoisie hat sich nur allzu bereit gezeigt, sie in den Hintergrund zu drängen.
Wenn sie mit einer sich entwickelnden Bewegung der Arbeiterklasse konfrontiert werden, können RevolutionärInnen tatsächlich mit der Perspektive intervenieren, sie aufzufordern, "weiter zu gehen" (durch die Entwicklung autonomer Formen der Selbstorganisation, Ausweitung auf andere Bereiche). Was aber, wenn eine große Zahl von Menschen auf interklassistischem oder bürgerlichem Terrain mobilisiert wird? In solchen Fällen besteht immer noch die Notwendigkeit zu intervenieren, aber dann müssen Revolutionäre erkennen, dass ihre Intervention "gegen den Strom" erfolgt, hauptsächlich mit dem Ziel, Minderheiten zu beeinflussen, die die grundlegenden Ziele und Methoden der Bewegung in Frage stellen.
Die Bordigistischen Gruppen haben, vielleicht überraschend, nicht viel über die Rolle der Partei in Bezug auf diese Ereignisse gesprochen, obwohl The Internationalist - abstrakt gesehen - Recht hat, wenn er schreibt, "die Revolution ist eine Notwendigkeit, die Organisation, ein Programm, klare Ideen und die Praxis der kollektiven Arbeit erfordert: einfach ausgedrückt, die Revolution braucht eine Partei, die sie lenkt".
Das Problem bleibt: Wie entsteht eine solche Partei? Wie kommen wir von dem gegenwärtigen verstreuten Milieu kleiner kommunistischer Gruppen zu einer wirklichen Partei, einem internationalen Organ, das in der Lage ist, dem Klassenkampf politische Führung zu geben?
Diese Frage bleibt für The Internationalist unbeantwortet, die dann die Tiefe ihres falschen Verständnisses von der Rolle der Partei offenbart: "Das kämpfende Proletariat, das rebellische Proletariat, muss sich mit und in der kommunistischen Partei organisieren.“
Nur zu erklären, dass ihre Gruppe die Partei ist, bedeutet nicht, dass sie es auch ist, nicht zuletzt, wenn es mindestens drei andere Gruppen gibt, die alle behaupten, die wahre Internationale Kommunistische Partei zu sein. Es macht auch keinen Sinn zu argumentieren, dass sich das gesamte Proletariat "in der kommunistischen Partei" organisieren kann. Dies ist eine Wiederbelebung der alten sozialdemokratischen Vorstellung von der Massenpartei, die die Mehrheit der Klasse in ihren Reihen organisiert und die politische Macht im Namen des Proletariats ausübt. An dieser Stelle sollten wir sagen, dass Il Partito sich zumindest bewusst ist, dass der Weg zur Revolution die Entstehung unabhängiger klassenweiter Organisationen erfordert, da sie Arbeiterversammlungen fordert, obwohl sie ihr Argument abschwächt, indem sie sie "an jedem Arbeitsplatz und in jeder bestehenden Gewerkschaft" fordert - als ob echte Arbeiterversammlungen nicht im Wesentlichen antagonistisch zur Gewerkschaftsform wären. Aber Il Partito macht nicht die vielleicht entscheidendere Feststellung, dass es keinerlei Tendenz gab, dass sich im Rahmen der BLM-Proteste echte Arbeiterversammlungen entwickelten.
Die IKT ist nicht damit einverstanden, sich selbst als Partei zu bezeichnen. Sie sagt, sie sei für die Partei, aber sie ist nicht die Partei[8]. Aber sie hat nie eine wirklich tiefe Kritik an den Fehlern geübt, die dem Bordigistischen Substitutionismus zugrunde liegen - dem 1943-45 begangenen Fehler, die Gründung der Internationalistischen Kommunistischen Partei in einem einzigen Land, Italien, und in den Tiefen der Konterrevolution zu erklären. Sowohl die Bordigisten als auch die IKT haben ihren Ursprung in der PCInt von 1943, und beide theoretisieren den Fehler auf ihre eigene Weise: die Bordigisten mit der metaphysischen Unterscheidung zwischen der "historischen" und der "formalen" Partei, die IKT mit ihrer Vorstellung von der "permanenten Notwendigkeit der Partei". Diese Vorstellungen trennen die Tendenz zur Entstehung der Partei von der wirklichen Bewegung der Klasse und dem effektiven Kräftegleichgewicht zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat. Beide beinhalteten die Aufgabe der für die Italienische Kommunistische Linke lebenswichtigen Unterscheidung zwischen Fraktion und Partei, die darauf abzielte, genau zu zeigen, dass die Partei nicht zu jedem Zeitpunkt existieren kann, und so die wirkliche Rolle der revolutionären Organisation zu definieren, wenn die unmittelbare Gründung der Partei noch nicht auf der Tagesordnung steht.
Der letzte Teil des IKT-Flugblatts macht dieses Missverständnis deutlich.
Die Zwischenüberschrift dieses Abschnitts der IKT-Broschüre gibt den Ton an: “Die städtische Rebellion muss in eine Weltrevolution umgewandelt werden.“
„Während es ermutigend ist zu sehen, wie Teile der Klasse zurückschlagen, besteht die Tendenz, dass diese Unruhen nach etwa einer Woche abklingen, wenn die Ordnung wiederhergestellt ist und die unterdrückerischen Strukturen wiederaufgebaut werden. Um die Macht der Kapitalisten und ihrer Söldner wirklich herauszufordern und abzuschaffen, bedarf es einer internationalen, revolutionären Klassenpartei. Eine solche Partei wäre ein Werkzeug in den Händen der Arbeiterklasse, um sich zu organisieren und ihre aufgestaute Wut nicht nur auf die Zerschlagung des rassistischen Staates, sondern auch auf den Aufbau von Arbeitermacht und Kommunismus zu richten.“
Dieser einzige Absatz enthält ein ganzes Kompendium von Fehlern, von der Zwischenüberschrift an: Die gegenwärtige Revolte kann sich auf einer geraden Linie zur Weltrevolution bewegen, aber dazu braucht man die Weltpartei. Diese Partei wird das Organisationsmittel und das Instrument sein, um unedles Metall in Gold, nichtproletarische Bewegungen in proletarische Revolutionen zu verwandeln. Die Passage enthüllt das Ausmaß, in dem die IKT die Partei als eine Art „deus ex machina“ betrachtet, eine Macht, die von wer-weiß-woher kommt, nicht nur, um die Klasse in die Lage zu versetzen, sich zu organisieren und den kapitalistischen Staat zu zerstören, sondern die die noch übernatürlichere Fähigkeit besitzt, Aufstände oder Demonstrationen, die in die Hände der Bourgeoisie gefallen sind, in riesige Schritte in Richtung Revolution zu verwandeln.
Dies ist kein neuer Fehler. In der Vergangenheit haben wir die Illusion der PCInt von 1943-45 kritisiert, dass die Partisanengruppen in Italien - die auf der Seite der Alliierten ganz auf den imperialistischen Krieg ausgerichtet waren - durch die Teilnahme der PCInt in ihren Reihen irgendwie für die proletarische Revolution gewonnen werden könnten[9]. Wir sahen es 1989 erneut, als Battaglia Comunista nicht nur den Staatsstreich der Sicherheitskräfte, die Ceausescu in Rumänien vertrieben, für einen "Volksaufstand" hielt, sondern auch argumentierte, dass sie die Partei nur in Richtung proletarische Revolution führen müsse.[10]
Dasselbe Problem gab es letztes Jahr bei den Gelbwesten. Obwohl die Bewegung als "interklassistisch" bezeichnet wird, wird uns gesagt: "Wir brauchen ein anderes Gremium, ein Instrument, das die Klassengärung vereinheitlicht und sie in die Lage versetzt, einen qualitativen, d.h. politischen Sprung zu vollziehen, ihr eine Strategie und antikapitalistische Taktiken zu geben, um die Energien, die vom Klassenkonflikt ausgehen, auf einen Angriff auf das bürgerliche System zu richten; es gibt keinen anderen Weg nach vorn. Kurz gesagt, der aktive Präsenz der kommunistischen, internationalen und internationalistischen Partei ist notwendig. Andernfalls wird die Wut des Proletariats und der deklassierten Kleinbourgeoisie zermalmt und zerstreut werden; entweder brutal, wenn nötig, oder mit falschen Versprechungen.“[11]
Auch hier wird die Partei als das Allheilmittel, als Stein der Weisen in der Geschichte, beschworen. Was in diesem Szenario fehlt, ist die Entwicklung der Klassenbewegung als Ganzes, die Notwendigkeit für die Arbeiterklasse, ihr Selbstverständnis als Klasse wiederzuerlangen und das bestehende Kräftegleichgewicht durch massive Kämpfe zu stürzen. Die historische Erfahrung hat gezeigt, dass solche historischen Umwälzungen nicht nur notwendig sind, damit die bestehenden kommunistischen Minderheiten einen wirklichen Einfluss innerhalb der Arbeiterklasse entwickeln können: Sie sind auch der einzige Ansatzpunkt, um den Klassencharakter der sozialen Revolten zu verändern und der gesamten vom Kapital unterdrückten Bevölkerung eine Perspektive zu bieten. Ein deutliches Beispiel dafür war der massive Eintritt der Arbeiter Frankreichs in die Kämpfe von Mai-Juni 1968: Indem die Arbeiterklasse als Reaktion auf die polizeiliche Unterdrückung der Studentenproteste eine riesige Streikbewegung ins Leben rief, änderte sie auch den Charakter der Proteste und integrierte sie in ein allgemeines Wiedererwachen des Weltproletariats.
Heute scheint die Möglichkeit solcher Veränderungen weit entfernt zu sein, und in Ermangelung eines weit verbreiteten Klassenidentitätsgefühls hat die Bourgeoise mehr oder weniger freie Hand, um die durch den fortgeschrittenen Verfall ihres Systems hervorgerufene Empörung zurückzugewinnen. Aber wir haben kleine aber bedeutsame Anfänge einer neuen Stimmung in der Arbeiterklasse gesehen, eines neuen Klassenbewusstseins, und die Revolutionäre haben die Pflicht, diese Sprossen nach besten Kräften zu kultivieren. Aber das bedeutet, dem vorherrschenden Druck zu widerstehen, und sich nicht vor den heuchlerischen Forderungen der Bourgeoisie nach Gerechtigkeit, Gleichheit und Demokratie innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Gesellschaft zu verneigen.
Amos, Juli 2020
[1]https://libcom.org/article/class-war-102019-yellow-vests [105]
Die Gruppe scheint eine Art Verschmelzung zwischen Anarchismus und Bordigismus zu sein, eher im Stil der Groupe Communiste Internationaliste, aber ohne ihre verdächtigeren Praktiken (Drohungen gegen Gruppen der kommunistischen Linken, dünn verschleierte Unterstützung für Aktionen nationalistischer und islamistischer Banden usw.)
[2]https://fr.internationalism.org/content/9877/prise-position-camp-revolutionnaire-gilets-jaunes-necessite-rearmer-proletariat [106]
[3]Le Proletaire 537, May-July 2020
[5] "After minneapolis. Let the revolt of the american proletarians be an example to proletarians in all metropolises [108]".
[6]https://www.leftcom.org/en/articles/2020-05-30/on-minneapolis-police-brutality-class-struggle [109]
[7]https://en.internationalism.org/content/16855/covid-19-despite-all-obstacles-class-struggle-forges-its-future [110]
Vielleicht am wichtigsten von allem - nicht zuletzt, weil es das Bild einer amerikanischen Arbeiterklasse in Frage stellt, die sich unkritisch hinter der Demagogie von Donald Trump versammelt hat - gab es in den USA weit verbreitete Kämpfe: Streiks bei FIAT in Indiana, bei Warren Trucks, von Busfahrern in Detroit und Birmingham Alabama, in Häfen, Restaurants, in der Lebensmittelverteilung, in der Abwasserentsorgung, im Baugewerbe; Streiks bei Amazon (die auch von Streiks in etlichen anderen Ländern betroffen ist), bei Whole Foods, Instacart, Walmart, FedEx usw.".
[8] Obwohl wie wir öfter gesagt hervorgehoben haben keine größere Klarheit herbeigeführt wird, wenn ihre Gruppe in Italien (die Battaglia Comunista veröffentlicht) immer noch darauf besteht, sich Internationalist Communist Party zu nennen.
[9] https://en.internationalism.org/internationalreview/197701/9333/ambiguities-internationalist-communist-party-over-partisans-italy-19 [111]
Die rassistischen Spannungen in den Vereinigten Staaten hängen mit der Rolle zusammen, die das Sklavensystem bei der Entwicklung der primitiven Akkumulation in diesem Land gespielt hat. Sklaverei gab es in ganz Amerika und in der Karibik (Brasilien, spanische Kolonien, Karibikinseln), aber in keinem anderen entwickelten Land hat dieses System die sozialen Beziehungen und die Hindernisse für die Einheit der Arbeiterklasse so stark beeinflusst wie in den USA. Auf einer anderen Ebene der Entwicklung und Bedeutung weist der Fall Südafrika einige Ähnlichkeiten auf [1].
Schon in seinen Ursprüngen, nach der sogenannten "Entdeckung" Amerikas, war der Kapitalismus von Sklaverei geprägt [2]. Und es war vor allem in Amerika, und zwar dem gesamten Kontinent nicht nur in den USA, wo dieses System Wurzeln schlug. Um die Geschichte des Aufkommens des Kapitalismus, der Bildung der Arbeiterklasse, einschließlich der gegenwärtigen Situation, zu verstehen, ist es notwendig, das Problem der Sklaverei zu untersuchen.
Das Trauma der Sklaverei, des Sklavenhandels, hat natürlich die Geschichte des afrikanischen Kontinents geprägt, aber vor allem die Geschichte des amerikanischen Kontinents in allen Aspekten, insbesondere in der Entwicklung der Arbeiterklasse. Ein großer Teil der amerikanischen Arbeiterklasse hat seine Ursprünge in der Sklaverei. Wir werden hier nicht über die Rolle der herrschenden Klassen (Aristokratie und Bourgeoisie) der alten europäischen monarchischen Regime in dem abscheulichen "Dreieckshandel" zwischen den wichtigsten Häfen der europäischen Mächte, den afrikanischen Küsten und Amerika sprechen.
Marx schreibt: "Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute, bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation“ www.mlwerke.de/me/me23/me23_741.htm#Kap_24_6 [115], Genesis des industriellen Kapitalisten“ " [3]
Die primitive kapitalistische Akkumulation unter den alten Regimes, die noch vom Feudalismus geprägt waren, wurde häufig mit Sklavenarbeit betrieben. Und zum Leidwesen dieses Kontinents sollte Afrika vom 17., 18. und sogar vom größten Teil des 19. Jahrhunderts an weiterhin eine Bühne für die "Sklavenjagd" sein. Diese Art der Ausbeutung sollte nicht die gleiche sein wie die des Kapitalismus, aber in ihren Anfängen diente sie dem Prozess der primitiven Akkumulation: "Die sporadische Anwendung der Kooperation auf großem Maßstab in der antiken Welt, dem Mittelalter und den modernen Kolonien beruht auf unmittelbaren Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnissen, zumeist auf der Sklaverei. Die kapitalistische Form setzt dagegen von vornherein den freien Lohnarbeiter voraus, der seine Arbeitskraft dem Kapital verkauft. Historisch jedoch entwickelt sie sich im Gegensatz zur Bauernwirtschaft und zum unabhängigen Handwerksbetrieb, ob dieser zünftige Form besitze oder nicht.(24) [116] Ihnen gegenüber erscheint die kapitalistische Kooperation nicht als eine besondre historische Form der Kooperation, sondern die Kooperation selbst als eine dem kapitalistischen Produktionsprozeß eigentümliche und ihn spezifisch unterscheidende historische Form.(...)Ihre Voraussetzung, gleichzeitige Beschäftigung einer größren Anzahl von Lohnarbeitern in demselben Arbeitsprozeß, bildet den Ausgangspunkt der kapitalistischen Produktion. (www.mlwerke.de/me/me23/me23_341.htm [117], 11. Kapitel, Kooperation)
Seitdem der Kapitalismus in einem nicht-kapitalistischen Umfeld begann und sich entwickelte, (das anfangs überwältigend dominant war), entwickelte er sich auch inmitten und dank anderer Formen der Ausbeutung und "Kooperation".
Der Feudalismus brachte die alten primitiven kommunistischen Gemeinschaften unter seine Kontrolle, die er "machen ließ", solange sie regelmäßig Steuern in Form von Sachleistungen (landwirtschaftliche, tierische oder handwerkliche Erzeugnisse) und in Form von Menschen (Diener und Soldaten) zahlten. Auf der anderen Seite neigt der Kapitalismus dazu, alle sozialen Beziehungen in Handels- und Lohnbeziehungen umzuwandeln, und doch ist er auf dem Weg dorthin in der Lage, alte Formen der Ausbeutung wie die Sklaverei zu nutzen und sie durch raffinierte und systematische Barbarei viel profitabler zu machen.
Im 19. Jahrhundert existierte die Sklaverei in großem Maßstab weiter, wie in den baumwollproduzierenden Staaten im Süden der USA: Bis weit über die Mitte des Jahrhunderts hinaus gab es bis zu 5 Millionen Sklaven. Die auf Sklavenarbeit basierenden Südstaaten verkauften ihre Produktion an die Nordstaaten und vor allem an das erste große kapitalistische Land der damaligen Zeit, Großbritannien. Nach der amerikanischen Unabhängigkeit blieb das Sklavensystem jahrzehntelang bestehen[4] und diente dem Akkumulationsprozess in diesem riesigen Land. Aber die Konfrontation zwischen dem Kapitalismus der Nordstaaten und den Sklavenstaaten des Südens wurde unvermeidlich, insbesondere wegen der expansionistischen Dynamik nach Westen, die zum Bürgerkrieg führte.
Und nach der Kolonisierung Ägyptens hörte Großbritannien auf, die Baumwolle aus dem Süden der USA zu kaufen. Dies verstärkte, mit dem üblichen Zynismus der herrschenden Klassen, die von einem guten Teil der britischen Bourgeoisie geführte Anti-Sklaverei-Kampagne [5].
Und doch gab es über Jahrzehnte hinweg einen exponentiellen Anstieg der Zahl der Sklaven: "Als 1790 der erste Sklavenzensus in den Vereinigten Staaten aufgenommen ward, betrug ihre Zahl 697.000, dagegen 1861 ungefähr vier Millionen.“ (Marx, Kapital, Band 1, 13. Kapitel, www.mlwerke.de/me/me23/me23_441.htm [118]
6. Die Kompensationstheorie bezüglich der durch Maschinerie verdrängten Arbeiter) wie Marx erinnert, und das geschah in den USA, dem ersten Land der Welt, das vom alten Regime "befreit" wurde und zusammen mit Frankreich ein "demokratisches" Leuchtfeuer für die aufstrebenden Bourgeoisien anderer Länder war.
"Daher bewahrte die Negerarbeit in den südlichen Staaten der amerikanischen Union einen gemäßigt patriarchalischen Charakter, solange die Produktion hauptsächlich auf den unmittelbaren Selbstbedarf gerichtet war. In dem Grade aber, wie der Baumwollexport zum Lebensinteresse jener Staaten, ward die Überarbeitung des Negers, hier und da die Konsumtion seines Lebens in sieben Arbeitsjahren, Faktor eines berechneten und berechnenden Systems. Es galt nicht mehr, eine gewisse Masse nützlicher Produkte aus ihm herauszuschlagen. Es galt nun der Produktion des Mehrwerts selbst.“
(www.mlwerke.de/me/me23/me23_245.htm#Kap_8_2 [119], 2. Der Heißhunger nach Mehrarbeit. Fabrikant und Bojar). Trotz dieser riesigen Profite war es immer noch kein vollwertiges kapitalistisches System.
Die Folgen des "Schandflecks", d.h. der Vergewaltigung der menschlichen Moral, die die Sklaverei in dem Land darstellte, das am Ende das mächtigste auf Erden sein würde, verschwanden nach dem Bürgerkrieg nicht wie von Zauberhand. Die Sklaverei war verschwunden, aber nicht ihre Folgen im schwierigen Kampf der Arbeiterklasse. So sehr es auch im Interesse der Bourgeoisie lag, die Sklaverei zu beenden, wissen wir sehr gut, dass die Übel vergangener Klassengesellschaften im Kapitalismus konzentriert sind, als wäre er eine Bündelung von ihnen allen. Der blutige Bürgerkrieg[6] beschleunigte die Ausbreitung der Lohnarbeit in den USA, wobei schwarze Arbeiter allmählich in die "freie" Arbeit eingegliedert wurden, aber diese "Freiheit, ausgebeutet zu werden", war fast von Anfang an von einem System der Rassentrennung umhüllt, das diesem Teil unserer Klasse entsetzliches Leid zufügte und eine gefährliche Spaltung innerhalb des Proletariats schuf.
Gesetze zur Rassentrennung blieben in praktisch jedem Staat in Kraft, unterstützt durch wiederholte Urteile des Obersten Gerichtshofs. Den Gipfel des Zynismus erreichte der Oberste Gerichtshof, der nur drei Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs (1868) entschied: "Neger müssen getrennt leben. Der weiße Mann nannte sie nur beim Vornamen und konnte sie aus jedem beliebigen Grund missbrauchen. Schwarze konnten wählen, aber nur, wenn sie eine Sondersteuer zahlten und die Namen aller Präsidenten und Richter des Obersten Gerichtshofs auswendig kannten". [7]
Das Rechtssystem der Rassentrennung schützte und förderte ein paralleles, angeblich "populäres" System (vor allem dank des Fanatismus der weißen Kleinbourgeoisie) von Aggression, kollektiven Morden und systematischen Lynchmorden. Die Kleinbourgeoisie, insbesondere in den Südstaaten, aber nicht nur dort, entfesselte ihre Zerstörungswut mit metronomischer Regelmäßigkeit, um die Proletarier sklavenähnlicher Herkunft zu terrorisieren. Der Rassismus der amerikanischen Kleinbourgeoisie spiegelt eines der ideologischen Merkmale des amerikanischen Kapitalismus wider: eine Kultur, die von einem gewalttätigen, biblisch inspirierten Puritanismus durchdrungen ist, zu dessen Grundlagen der wütende, viszerale Schrecken jeder Mischung von "Rassen" gehört. Es stimmt, dass Rassismus und die Ablehnung anderer eine weit verbreitete Mentalität in allen Klassengesellschaften sind, aber im Falle der USA ist sie ein Gründungselement des Landes.
In Opelousas (Louisiana, 1868), New Orleans und Memphis (1866) reagierte der weiße Pöbel mit Lynchmorden auf die Versuche der Schwarzen, die "neuen Rechte" auszuüben. "In Thibodaux (Louisiana, 1887) starben mehr als 300 Zuckerrohrschneider während eines Streiks für das Recht, nicht mehr in den ehemaligen Sklavenquartieren zu leben.“ (https://www.lavanguardia.com/internacional/20200603/481582308546/violenc [120]…)
Das 20. Jahrhundert war noch schlimmer: "In Wilmington (1928 in North Carolina) starben bis zu 250 Menschen, darunter Frauen und Kinder, als ein weißer Mob wegen eines Anti-Segregations-Artikels eine ihrer Zeitungen angriff. Mehrere hundert weitere starben 1917 in East St. Louis (Missouri), als sich das Gerücht verbreitete, dass ein schwarzer Arbeiter bei einer Gewerkschaftsversammlung mit einer weißen Frau gesprochen hatte. In Elaine (1919 in Arkansas) war der Auslöser für den Tod von mehr als 200 Schwarzen, darunter auch Frauen und Kinder, eine Forderung der Pflücker auf den Feldern der weißen Landbesitzer. Und in Tulsa (1921 in Oklahoma) begann alles damit, dass eine Gruppe von Weißen versuchte, einen jungen Schwarzen zu lynchen, den sie des Diebstahls bezichtigten. Bis zu 300 Menschen starben und 8.000 verloren ihr Zuhause, als die wütende weiße Bevölkerung die Black Wall Street und das umliegende schwarze Viertel in Brand setzte". (www.lavanguardia.com/internacional/20200603/481582308546/violencia-racial-eeuu-historia-racismo.html [121])
Das System der Rassentrennung wurde durch eine halb-illegale Miliz, den Ku-Klux-Klan, verstärkt, die schwarzen Arbeiter verfolgte und ihnen in rituellen Handlungen grausame Folterungen zufügte. Sie wurde 1871 offiziell aufgelöst, tauchte 1915 wieder auf und wird bis heute durch lokale Gruppen erhalten, die eine fremdenfeindliche, „weiße“ und rassistische Ideologie verteidigen. Die großen demokratischen Parteien Amerikas haben diese eklatant barbarischen Ausdrucksformen des Kapitalismus gelegentlich offen ermutigt; zu anderen Zeiten haben sie ihre "Empörung" über sie zum Ausdruck gebracht, um die Falle des "Antirassismus" zu begünstigen, aber sie haben sie immer als ergänzendes Mittel toleriert, um die Arbeiterklasse gespalten zu halten.
Als die Sklaverei in den USA auf ihrem Höhepunkt war, beschrieb Marx (1860) das Leben der Proletarier in England [8], ein grauenhaftes "Leben", wie es schon Engels 1845 in seinem berühmten Buch beschrieben hatte[9]. Zweifellos war das Leben der Proletarier in jener Zeit so elend und anstrengend wie das vieler Sklaven. Aber für die Zukunft der revolutionären Klasse ist die Ausbeutung der Sklaverei nicht dasselbe wie "die Existenz des freien Lohnarbeiters, der seine Arbeitskraft an das Kapital verkauft". Das Proletariat erfährt eine neue Form der Ausbeutung, die, wenn es in der Lage ist, einen bewussten Kampf zu entwickeln, die Möglichkeit beinhaltet, die Widersprüche des Kapitalismus durch die Errichtung einer kommunistischen Gesellschaft zu überwinden. Die Ausbeutung des Proletariats bringt ein universelles Leiden mit sich, das alle Formen der Unterdrückung und Ausbeutung umfasst, die es in Klassengesellschaften gegeben hat und das folglich nur durch eine universelle Revolution gelöst werden kann, die an die Wurzeln aller Ausbeutung und Unterdrückung geht, die es im Kapitalismus und folglich in allen Klassengesellschaften gibt.[10] Deshalb musste einer der Aspekte des Kampfes der Arbeiterklasse der Kampf gegen die Sklaverei sein, besonders in einem Land wie den USA. Angesichts der Situation des amerikanischen Bürgerkriegs zögerte die IWA (Internationale Arbeitervereinigung, Erste Internationale) nicht, eine von Marx verfasste Unterstützungsbotschaft an die von Lincoln angeführten Nordstaaten zu senden. Es ging nicht darum, eine Fraktion der Bourgeoisie gegen eine andere reaktionäre Klasse (die Großgrundbesitzer des Südens) zu unterstützen [11]. Marx glaubte zu Recht, dass das Ende der Sklaverei der Vereinigung der Arbeiterklasse einen Schub geben würde. Und so stellt er in Das Kapital (geschrieben zur gleichen Zeit wie das Ende des Bürgerkriegs in den USA und das "offizielle" Ende der Sklaverei, 1865) eine Verbindung zum Kampf für den 8-Stunden-Tag her: "In den Vereinigten Staaten von Nordamerika blieb jede selbständige Arbeiterbewegung gelähmt, solange die Sklaverei einen Teil der Republik verunstaltete. Die Arbeit in weißer Haut kann sich nicht dort emanzipieren, wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird. Aber aus dem Tod der Sklaverei entsproß sofort ein neu verjüngtes Leben. Die erste Frucht des Bürgerkriegs war die Achtstundenagitation, mit den Siebenmeilenstiefeln der Lokomotive vom Atlantischen bis zum Stillen Ozean ausschreitend, von Neuengland bis nach Kalifornien.“ (www.mlwerke.de/me/me23/me23_245.htm#Kap_8_7 [122] Marx, Kapital Band 1, III. Abschnitt, Die Produktion des absoluten Mehrwehrts, 8. Kapitel, Der Arbeitstag, 7. Der Kampf um den Normalarbeitstag. Rückwirkung der englischen Fabrikgesetzgebung auf andere Länder)
Sowohl die Marxisten als auch die Anarchisten haben die Einheit der Arbeiterklasse, egal welcher Hautfarbe, klar herausgestellt. Diese Tradition nahm zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der IWW Gestalt an, der bekannten revolutionären Industriegewerkschaft in den USA, die auf der Grundlage einer internationalistischen Politik, gegen den Krieg und natürlich für die Vereinigung der Arbeiterklasse, gleich welcher Hautfarbe, gegründet wurde. [12] Wir kennen bereits die Grenzen des revolutionären Gewerkschaftswesens und das Scheitern der IWW. Aber im Gedächtnis der Arbeiter wird bleiben: "Die Erfahrung der IWW, der beispielhafte Mut ihrer Kämpfer angesichts einer herrschenden Klasse, für die keine Gewalt oder Heuchelei zu abscheulich war, erinnert uns also daran, dass die Arbeiter Amerikas in der Tat die Klassenbrüder der Arbeiter auf der ganzen Welt sind, dass ihre Interessen und Kämpfe dieselben sind und dass Internationalismus für die Arbeiterklasse kein eitles Wort ist, sondern der Prüfstein ihrer Existenz. Die Spaltung zwischen einheimischen, englischsprachigen Arbeitern (auch wenn letztere selbst erst Einwanderer der zweiten Generation waren) und neu angekommenen eingewanderten Arbeitern, die wenig oder gar kein Englisch sprachen und lasen, war in der Arbeiterbewegung in den USA lange Zeit ein Grund zur Besorgnis gewesen. In einem Brief an Sorge warnte Engels 1893 vor dem zynischen Gebrauch von Spaltungen innerhalb des Proletariats durch die Bourgeoisie, der die Entwicklung der Arbeiterbewegung in den USA hemmt. Die Bourgeoisie benutzte geschickt Rasse, ethnische, nationale und sprachliche Vorurteile, um die Arbeiter untereinander zu spalten und die Entwicklung einer Arbeiterklasse zu stören, die sich selbst als eine vereinigte Klasse verstand. Diese Spaltungen stellten ein ernsthaftes Handicap für die Arbeiterklasse in den USA dar, weil sie die amerikanischen Ureinwohner von der großen Erfahrung der Arbeiter in Europa abschnitten und es den klassenbewussten amerikanischen Arbeitern erschwerten, mit den internationalen theoretischen Entwicklungen innerhalb der Arbeiterbewegung auf dem Laufenden zu bleiben". ("Die IWW: Das Scheitern des revolutionären Syndikalismus in den USA, 1905-1921"; International Review Nr. 124 - 1. Quartal 2006, englische Ausgabe[13])
In einem Brief vom 2. Dezember 1893 antwortete Engels auf eine Frage von Friedrich Adolf Sorge über das Fehlen einer bedeutenden sozialistischen Partei in den USA und erklärte:
„... aber andrerseits ist doch auch nicht zu leugnen, daß die amerikanischen Verhältnisse sehr große und eigentümliche Schwierigkeiten für eine stetige Entwicklung einer Arbeiterpartei einschließen.“ (…) Unter diesen Schwierigkeiten war eine der größten „die Einwanderung, die die Arbeiter in 2 Gruppen scheidet, die eingeborenen und fremden; und diese letzteren wieder in 1. Irländer, 2. Deutsche, 3. die vielen kleinen Gruppen, die sich jede nur untereinander verstehn, Tschechen, Polen, Italiener, Skandinavier etc. Dazu noch die Neger. Um daraus eine einige Partei zu bilden, dazu gehören ganz besonders mächtige Antriebe. Manchmal plötzlich ein gewaltsamer elan, aber die Bourgeois brauchen nur passiv auszuhalten, und die ungleich-artigen Elemente der Arbeiterschaft fallen wieder auseinander“.
https://marxwirklichstudieren.files.wordpress.com/2012/11/mew_band39.pdf [123], S. 173)
(https://www.koorosh-modaresi.com/MarxEngels/V50.pdf [124])
Schwarze Arbeiter, die bereits während der Sklaverei begonnen hatten, in den Norden zu fliehen (als sie selbst in diesen Staaten verfolgt und in den Süden zurückgeschickt werden konnten), begannen vor allem ab Anfang des 20. Jahrhunderts in die Industriezonen abzuwandern. Und diese "Spaltung", von der Engels spricht, spiegelte sich in der Entstehung von Ghettos wider, eine Tendenz, die mit der Konterrevolution noch verstärkt wurde. Die abscheuliche Schmach der "modernen" Sklaverei hatte die Besonderheit ihres "einzigartigen" "rassischen" Ursprungs (Afrika südlich der Sahara, im Gegensatz zur alten, mittelalterlichen oder östlichen Sklaverei, wo die Sklaven sehr unterschiedlicher Herkunft sein konnten), so dass neu proletarisierte ehemalige Sklaven sofort als Menschen angesehen wurden, die gerade erst aus ihrem Status als Warenobjekt herausgekommen waren. Die US-Bourgeoisie hingegen verbot bis vor kurzem die "farbige" Einwanderung und begünstigte in den Jahren der Masseneinwanderung in die USA vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1950er Jahre die europäische Bevölkerung. Es stimmt, dass die Existenz "ethnischer" Viertel im städtischen Lebensraum in den USA "Tradition" hat, aber mit den schwarzen Ghettos war die Spaltung viel deutlicher.
Die Rassentrennung wurde 1964, ein Jahrhundert nach der Abschaffung der Sklaverei, offiziell aufgehoben. Die Idee war, einem wachsenden Teil des schwarzen Bürgertums, der durch diese Gesetze in seinen Geschäften behindert wurde, Raum zu schaffen. Die "große Errungenschaft" der Bürgerrechtsgesetze war die Beförderung der Schwarzen in die oberen Ränge von Politik und Wirtschaft. In der Bush-Administration ragten Colin Powell, der Schlächter des Irak, und Condoleezza Rice, die Außenministerin, heraus, wobei der Höhepunkt die Wahl Obamas 2008 als erster schwarzer Präsident war.
Für schwarze Arbeiter änderte sich jedoch nichts. Sie waren weiterhin Opfer polizeilicher und juristischer Diskriminierung, die dazu führt, dass ein Schwarzer sieben Mal häufiger ins Gefängnis kommt als ein Weißer.
Besonders grausam ist die Behandlung von Schwarzen durch die Polizei, obwohl es viel mehr schwarze Polizisten gibt. Das Verbrechen von Los Angeles 1992, das gewalttätige Proteste auslöste, war schrecklich. Während der Amtszeit Obamas gab es mehr Polizistenmorde als je zuvor [14].
Der Mord an Georges Floyd am 26. Mai durch die Tat von vier Polizeibeamten aus Minneapolis war eine weitere tragische Demonstration dieser Fortsetzung der offiziellen Gewalt der herrschenden Klasse. Die herrschende(n) Klasse(n) verfügen weltweit durch ihre Staaten über ein Gewaltmonopol. Sie üben es im Allgemeinen aus, um ihre Herrschaft durchzusetzen, insbesondere gegen die Arbeiterklasse. Neben den "offiziellen" Ordnungskräften gibt es Milizen, mehr oder weniger illegale bewaffnete Gruppen. Im Laufe der Jahre sind die USA zu einem Paradigma der extremsten Gewalt geworden. Und in vielen anderen Ländern hat sich diese extreme offizielle, inoffizielle oder illegale Gewalt (nennen wir das "Beispiel" Mexiko) so lange etabliert, wie dieses kriminelle System andauert. All diese Geißeln sind alt, ja, aber der Trend dieses Modells ist allgemein geworden, es hat sich in allen Ecken des Planeten verschärft. Wir leben heute mit dem Zerfall des kapitalistischen Systems und all der offiziellen, inoffiziellen oder illegalen kriminellen Gewalt, die auf dem Vormarsch ist. Unabhängig davon, ob wir von Demokratien oder Diktaturen, von einzelnen oder pluralistischen Parteien regiert werden, ist unser Alltag von der wachsenden Gewalt eines kriminellen Systems, des Kapitalismus, geprägt.
Angesichts solcher Gewalttaten, diesmal publik geworden durch die Bilder von Floyds Agonie, die in der ganzen Welt verbreitet wurden, gingen Menschen aller Rassen und Verhältnisse empört auf die Straße, um am Ende... eine demokratischere Polizei zu fordern, die vom Henker mehr Menschlichkeit verlangt. Auf der einen Seite wirft Trump mehr Holz ins Feuer und ermutigt die Rassisten, die bereit sind, jeden zu erschießen, der nicht „weiß“ ist; auf der anderen Seite gehen die demokratischen (und viele republikanische, wie der ehemalige Präsident Bush) Fraktionen des amerikanischen politischen Spektrums in die Knie, rufen empörte Künstler und Stars auf und unterstützen "patriotische" Demonstrationen (wie die New York Times die "Black Lives Matter"-Märsche beschrieb).
Mit der Konterrevolution nahm ab den 1950er Jahren die Zahl der Morde und Lynchmorde zu. In der Depression von 1929 schrieb die weiße Kleinbourgeoisie - gut manipuliert durch die Medien, die ihre Suche nach Sündenböcken ausnutzten - die Krise "den Negern" zu: "In Harlem, New York, gab es eine unbestimmte Zahl von Toten und mehr als hundert Verletzten, zusätzlich zu zahlreichen Plünderungen als Folge des angeblichen Raubes eines jungen Negers in einem Laden eines Weißen. Es handelte sich um den ersten Aufstand der heutigen Zeit, da die Geschäfte vollständig zerstört wurden. Von da an litt Harlem bis in die 1960er Jahre unter Episoden fast ununterbrochener rassistischer Gewalt". (https://www.zinez.net/internacional/20200603/481582308546/violencia-raci [125]...)
In Wirklichkeit hat der Schandfleck der Sklaverei, der die kapitalistische Entwicklung in den USA und anderswo besudelt hatte, am Ende einen Graben in den Arbeiterkämpfen in den USA geschaffen, der nur schwer zu durchbrechen war.
Dieser Graben ist durch den kapitalistischen Zerfall noch tiefer geworden [15]. Der Zerfall bedeutet eine Zerstörung der sozialen Beziehungen, eine Zersplitterung der Gesellschaft in ethnische, religiöse, lokalistische oder "Affinitäts"-Gruppen, die sich in ihren eigenen kleinen Ghettos einschließen, um sich selbst ein falsches Gefühl von Gemeinschaft, von Schutz vor einer immer unmenschlicher werdenden Welt zu geben. Diese Tendenz begünstigt die Spaltung in den Reihen der Arbeiter, die durch die schädlichen Aktionen von Parteien, Gewerkschaften, Institutionen, Propaganda usw. bis zum Erbrechen zugespitzt wird. - in "Gemeinschaften" von Rasse, Religion, nationaler Herkunft usw. Um gegenüber den rassischen und sprachlichen Spaltungen im US-Proletariat noch mehr Öl ins Feuer zu gießen, hat die Bourgeoisie die seit den 1970er Jahren wieder massenhaft angestiegene Einwanderung von Arbeitern aus Lateinamerika dazu benutzt, weitere Ghettos zu schaffen, eingewanderte Arbeiter der Illegalität zu unterwerfen und die Lebensbedingungen aller Arbeiter nach unten zu drücken [16].
Einige Arbeiterkämpfe in den letzten 50 Jahren haben jedoch diesen Graben übersprungen: Detroit 1965, der Wildcat-Streik bei Chrysler 1968, der Wildcat-Streik bei der Post 1970, die New Yorker U-Bahn 2005, der Streik in Oakland während der occupy-Bewegung 2011... Trotz ihrer Grenzen sind diese Kämpfe eine Erfahrung, aus der wir Lehren für den Kampf um die Einheit der Klasse ziehen können.
Im 19. Jahrhundert war der Kampf gegen die Sklaverei ein Kampf für die Arbeiterklasse. Heute dienen die Brutalität der Polizei, der weißen Rassisten und des Staates (und seiner Gefängnisse) im Allgemeinen auf der einen Seite und die antirassistischen Bewegungen auf der anderen Seite dazu, die Arbeiterklasse zu spalten und ihre am stärksten unterdrückten Schichten in eine völlig getrennte Bevölkerung zu verwandeln. Rassismus und Antirassismus gehören zur Bourgeoisie. Sie sind Ideologien gegen die Arbeiterklasse.
Deshalb lautet die Losung des Proletariats: Wir sind weder weiß, noch schwarz, noch irgendeine andere Farbe. Wir sind eine geeinte Arbeiterklasse! Wie ein Transparent bei den Protesten gegen Kaliforniens Anti-Einwanderungsgesetz 187 sagte: WIR SIND KEINE KOLUMBIANER, WIR SIND KEINE MEXIKANER, WIR SIND ARBEITER.
Pinto 11-07-2020
[1]] Siehe die Serie über die südafrikanische Arbeiterbewegung in unserer Internationalen Revue https://en.internationalism.org/content/9459/history-class-struggle-sout... [126] https://en.internationalism.org/international-review/201508/13355/south-... [127] https://en.internationalism.org/international-review/201702/14250/soweto... [128] https://en.internationalism.org/content/16598/election-president-nelson-... [129]
[2] Siehe: "1492: Die Entdeckung Amerikas" https://en.internationalism.org/internationalreview/200912/3406/1492-dis... [130]
[3] Die Nummerierung von Büchern oder Bänden, Kapiteln und Unterkapiteln des Kapitals scheint nicht unbedingt von einer Ausgabe zur anderen gleich zu sein.
[4] Die Mehrheitsthese amerikanischer Historiker der 1970er Jahre war, dass der Süden aufgrund eines ineffizienten und unprofitablen vorkapitalistischen Systems verloren hat. Seit einigen Jahren lautet die Mehrheitsthese, dass das Sklavensystem vollständig kapitalistisch war. Es ist schwierig zu wissen, was diese Akademiker aufzeigen wollen; vielleicht wollen sie wissen, welches System brutaler, ausbeuterischer und unmenschlicher gewesen ist. Und deshalb benutzen sie den Marxismus. Für den Marxismus jedoch ist der Kapitalismus in erster Linie ein soziales Verhältnis, die letzte zu stürzende Klassengesellschaft, um der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ein Ende zu setzen. So sprach ein bekannter französischer Historiker, Nicolas Barreyre, kürzlich über das System der Baumwollbauern des Südens der Vereinigten Staaten: "In den 1970er Jahren war die vorherrschende Vorstellung unter Historikern wie unter Ökonomen, dass der sklavenbesitzende Süden in einer ineffizienten und unprofitablen vorkapitalistischen Wirtschaft lebte, die gegen den Norden, der seit Anfang des 19. Jahrhunderts in die industrielle und kapitalistische Revolution eingetreten war, nicht überleben konnte. Nach der Krise von 2008 haben sich Historiker wieder für die Ursprünge des amerikanischen Wirtschaftssystems interessiert und das geschmiedet, was als "neue Geschichte des Kapitalismus" bezeichnet wurde. Die Idee ist, dass die Sklavenwirtschaft des Südens vollständig kapitalistisch war, was zum Aufstieg des Kapitalismus im Norden beigetragen hat" (Interview in Le Monde vom 28.06.2020). Wir haben nicht die Absicht, Ergänzungen zu solch ‚herausragenden‘ Historikern zu machen.
Die Logik der Historiker der 1970er Jahre, dass die Wirtschaft der Südstaaten "ineffizient und unprofitabel" war, weil sie "vorkapitalistisch" war, scheint aus einer eher vulgären Version des "Marxismus" zu resultieren. Auf seinem Höhepunkt nutzte der Kapitalismus andere nichtkapitalistische Wirtschaften für seine Expansion, sowohl der Märkte als auch der Rohstoff- und Kapitalquellen. Und bis zu ihrer vollständigen Assimilierung oder Zerstörung waren viele dieser Wirtschaften in der Lage, sich zu bereichern und der primitiven Kapitalakkumulation zu dienen, insbesondere wenn sie derselben Nation angehörten. Im 19. Jahrhundert gab es auf der ganzen Welt Wirtschaften, die noch nicht vom Kapitalismus beherrscht wurden, mit denen er Geschäfte machte und sie gegebenenfalls bedrohte. Siehe auch https://en.internationalism.org/content/16709/american-civil-war-and-str... [131]
[5] Die Heuchelei der englischen Bourgeoisie kennt keine Grenzen. Auf der einen Seite tolerierte sie die Sklaverei in den Ländern, die ihr als Verbündete dienen konnten, und in den Kolonien, in denen sie ihren Interessen diente, und machte sich gleichzeitig zum "Kämpfer gegen die Sklaverei" gegen Rivalen wie Spanien, Portugal oder Brasilien, die nicht genug wirtschaftliche Macht hatten, um auf die Sklaverei zu verzichten, die sie erst sehr spät (1886 in Spanien und 1888 in Brasilien) abschafften.
[6] Es war eine der tödlichsten in der Geschichte "630.000 Menschen starben. Noch heute ist diese Zahl die Hälfte aller Todesopfer, die die USA in allen Kriegen, die sie seitdem geführt haben, einschließlich Afghanistan, erlitten haben" https://www.lavanguardia.com/internacional/20200603/481582308546/violenc... [132]
[7] Quelle bereits in Fußnote 6 zitiert, sofern nicht anders angegeben, verweisen wir in nachfolgenden Zitaten auf diese Quelle.
[8] Wir empfehlen: Das Kapital, Band I, Kapitel 10: Der Arbeitstag; Abschnitt 3: 3. Englische Industriezweige ohne legale Schranke der Exploitation „, [ein schockierendes Kapitel, mit dem Beispiel von Kindern und den 15 Arbeitsstunden für ein siebenjähriges Kind!] www.mlwerke.de/me/me23/me23_245.htm#Kap_8_3 [133]
[9] Die Lage der arbeitenden Klasse in England
[10] Siehe: www.mlwerke.de/me/me04/me04_361.htm [135]
Die Grundsätze des Kommunismus, insbesondere die Punkte VI und VII https://www.marxists.org/archive/marx/works/1847/11/prin-com.htm [136]
[11] "Als eine Oligarchie von 300.000 Sklavenhaltern es wagte, zum ersten Mal in die Annalen der Welt die 'Sklaverei' in das Banner des bewaffneten Aufstands einzutragen, als an genau den Stellen, wo vor kaum einem Jahrhundert die Idee einer großen Demokratischen Republik entstanden war, die erste Erklärung der Menschenrechte herausgegeben und der erste Impuls für die europäische Revolution des 18; Jahrhunderts gegeben wurde; als die Konterrevolution genau an diesen Stellen mit systematischer Gründlichkeit die "Ideen, die zur Zeit der Bildung der alten Verfassung herrschten", aufhob und die Sklaverei als "wohltätige Institution", ja, die alte Lösung des großen Problems des "Verhältnisses von Kapital und Arbeit" aufrechterhielt und zynisch das Eigentum am Menschen als "Eckpfeiler des neuen Gebäudes" proklamierte - da verstanden die arbeitenden Klassen Europas sofort, noch bevor die fanatische Parteinahme der Oberschicht für den konföderierten Adel ihre düstere Warnung ausgesprochen hatte, dass die Rebellion der Sklavenhalter den Startschuss für einen allgemeinen heiligen Kreuzzug des Eigentums gegen die Arbeit geben würde, und dass für die Männer der Arbeiterschaft mit ihren Hoffnungen für die Zukunft sogar ihre vergangenen Eroberungen in diesem gewaltigen Konflikt auf der anderen Seite des Atlantiks auf dem Spiel standen". Ansprache der Internationalen Arbeitervereinigung an Abraham Lincoln, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika https://www.marxists.org/archive/marx/iwma/documents/1864/lincoln-letter... [137])
Im Jahre 1864, vor mehr als 150 Jahren, als die Arbeiterklasse sich noch als Klasse für die Umwälzung der Gesellschaft entwickelte, unterstützten ihre Organisationen Fraktionen der Bourgeoisie, die gegen die - immer noch wichtigen und starken - Überreste alter Ausbeutungssysteme kämpften, und mussten diese unterstützen. Heute lehnen die Kommunisten die Unterstützung für "demokratische Republiken", "Menschenrechte" und andere bürgerliche Parolen nicht deshalb ab, weil es sich dabei um Parolen "aus einer anderen Epoche" handelt, sondern weil sie vor allem Schwindel und Waffen gegen das Proletariat sind. Und das seitdem der Kapitalismus zu einem dekadenten System geworden ist.
[12] Siehe unsere Serie über die IWW: https://en.internationalism.org/internationalreview/200601/1609/iww-fail... [138] https://en.internationalism.org/ir/125-iww [139]
[13] Auf deutsch ist bisher nur dieser Artikel über die IWW: /content/1233/ursprung-und-mythos-der-iww [140]
[14]Siehe den Bericht Rassenkonflikte in der Ära Obama, https://www.vozpopuli.com/internacional/Barack_Obama-Racismo-Estados_Uni... [141]
[15] Siehe unsere "Thesen zum Zerfall", https://en.internationalism.org/ir/107_decomposition [142]
[16] Siehe: "'Latino'-Demonstrationen in den USA: Ja zur Einheit der Arbeiterklasse! Nein zur Einheit mit den Ausbeutern!" https://en.internationalism.org/icconline/200605/1778/latino-demonstrati [143]...
Alle Medien räumen ein, dass die globale SARS-CoV2-Pandemie, die nach offiziellen Angaben zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels mehr als 10 Millionen Menschen infiziert und 500.000 von ihnen den Tod gebracht hat, die wissenschaftliche "Gemeinschaft" in einen "Wettlauf gegen die Zeit" für die Entwicklung eines Impfstoffs drängt. Aber sie müssen auch zugeben, dass dieser "Wettlauf um einen Impfstoff" noch weit davon entfernt ist, in den "Endspurt" eingetreten zu sein.
Seit dem 19. Jahrhundert und der Schaffung des ersten Impfstoffes gegen die Tollwut durch Louis Pasteur im Jahre 1881 wurden zwar durch die Entwicklung der Biotechnologie und die Gentechnik enorme Fortschritte bei den Methoden der Viruszellkultur erzielt, die die Entstehung mehrerer viraler Impfstoffe ermöglichten, aber man sagt uns, dass der Impfstoff gegen Covid-19 erst Ende 2021 zur Verfügung stehen wird! Tatsächlich sind sich aber alle Fachleute einig, dass es durchschnittlich 10 bis 15 Jahre dauert, um einen neuen "zuverlässigen" Impfstoff zu entwickeln, weil er neben der Zeit, die für seine Entwicklung und Herstellung benötigt wird, einen nicht-komprimierbaren Zeitaufwand bestehend aus drei unverzichtbaren Phasen groß angelegter Experimente erfordert: die Erprobung des Impfstoffs an Tieren, die Erprobung an einer nicht infizierten Population und schließlich die Erprobung an Patienten. "Es wird viel Versuch und Irrtum bedeuten, wir haben eine Menge Optionen zu erforschen", sagt Benjamin Neuman, Virologe an der Texas A&M University-Texarkana. "Weil bisher kein Impfstoff für den Menschen entwickelt wurde, der gegen irgendein Mitglied der Coronavirus-Familie hochwirksam ist.“
Erstaunliche Aussage, denn das Coronavirus ist den Wissenschaftlern nicht unbekannt! SARS-CoV1 (das Ende 2002 im Südosten Chinas auftrat) und MERS-CoV (das im September 2012 in Saudi-Arabien auftrat), die beiden großen Brüder von SARS-CoV2, haben bereits Anlass zu wissenschaftlicher Forschung im Hinblick auf die Entwicklung von Impfstoffen gegeben. Im ersten Fall wurde die Forschung gestoppt und das Impfstoffprojekt begraben, bevor es überhaupt am Menschen getestet worden war. Im zweiten Fall ist die Forschung noch im Gange und wird derzeit an Tieren getestet. Trotz der Tatsache, dass Wissenschaftler seit Jahren "die Gefahr einer Pandemie wie die mit Covid-19" in Betracht gezogen haben, wurden wissenschaftliche Studien über Coronaviren und die Entwicklung von Impfstoffen als "unprofitabel" eingestuft! Der Bereich der wissenschaftlichen Forschung in den Diensten der öffentlichen Gesundheit wird ständig beschnitten, was durch mangelnde finanzielle und logistische Mittel behindert wird. Dies war einer der ersten Bereiche, der unabhängig von der politischen Fraktion, der die Regierungen angehören, unter den Haushaltskürzungen litt: "Donald Trump hat im Mai 2018 eine Sondereinheit des Nationalen Sicherheitsrats, die sich aus herausragenden Experten zusammensetzte und für die Bekämpfung von Pandemien zuständig war, abgeschafft". [1] "Nach der Schweinegrippe im Jahr 2009 veröffentlichten Beamte der Europäischen Kommission einen Bericht mit politischen Empfehlungen. Aber die Kommission wurde anschließend von den Mitgliedstaaten abgewiesen [...]. Nach SARS im Jahr 2003 wurde das Europäische Zentrum für Seuchenbekämpfung (ECDC) gegründet. Sie leistet eine ausgezeichnete Arbeit. Aber es hat nur 180 Mitarbeiter... In Sciensano (Forschungsinstitut und nationales Institut für öffentliche Gesundheit Belgiens) gibt es sehr kompetente Leute... aber die Institution ist schwach, weil nicht genug in sie investiert wird". [2]
Nun wird uns gesagt: "Um einen Impfstoff gegen SARS-CoV2 zu entwickeln, bauen die Forscher auf ihren Studien zu SARS-CoV1 und MERS-CoV auf". [3] 17 Jahre sind seit dem Auftreten des ersten Virus vergangen! 17 Jahre verloren bei der Suche nach einem Impfstoff, der Zehntausende von Leben hätte retten können!
Angesichts des Ausmaßes und der Verwüstung durch die gegenwärtige globale Pandemie sollte es eigentlich logisch und natürlich sein, die Zusammenarbeit, die internationale Koordination, die konzertierten wissenschaftlichen Anstrengungen und eine Zentralisierung zu entwickeln, die den technologischen Fortschritt und die wissenschaftlichen Erkenntnisse bei der Suche nach einem Impfstoff konzentriert und mobilisiert, um die zur Bekämpfung dieser Geißel erforderliche Zeit so weit wie möglich zu verkürzen.
Dies ist heute keineswegs der Fall. Ganz im Gegenteil. Der derzeitige globale Wettlauf um Impfstoffe und Behandlungsmethoden verläuft frenetisch, chaotisch und ungeordnet: "Weltweit wurden mehr als hundert Projekte gestartet und ein Dutzend klinische Studien laufen, um eine Heilung für die Krankheit zu finden". [4] Wenn man den Medien glaubt, tun alle Pharmagiganten wie Sanofi (der französische Pharmakonzern), Gilead Sciences (das amerikanische Pharmalabor), GlaxoSmithKline (der britische Pharmariese), Regeneron Pharmaceuticals (das New Yorker Unternehmen), Johnson & Johnson (die amerikanische Firma), das chinesische Unternehmen CanSino, um nur einige zu nennen, noch mehr als das. Aber sie tun es jeder für sich.
Warum sind wir mit einer solchen Situation konfrontiert? Gerade die Gesetze des Kapitalismus, die im Würgegriff der Ambitionen aller Staaten und des Wettbewerbs zwischen ihnen stecken, verbieten es der Gesellschaft, anders zu funktionieren als durch das Gesetz des Profits und des allgemeinen Konkurrenzkampfes, wo jeder gegen jeden antritt, alles völlig unkoordiniert und chaotisch. So wie diese Gesetze des Kapitalismus alle Präventivmaßnahmen und Forschungsbudgets in allen Bereichen des Gesundheitswesens behindert, verzögert, sabotiert und blockiert haben, so steht das Funktionieren des Kapitalismus und seiner Gesetze in direktem Gegensatz zur Zusammenführung von Daten und der unverzichtbaren Zentralisierung von Ressourcen und Forschung und der Entdeckung eines wirksamen Impfstoffs.
Dieser Wettlauf um den Impfstoff und das "Wundermittel" für Covid-19 bleibt nicht ohne tragische Folgen für den Rest der Weltgesundheit: Forscher/Virologen überall warnen vor den Gefahren dieses plötzlichen Wettlaufs: "Todesfälle durch nachlässige Forschung. ... Heute bewegt sich die Wissenschaft zu schnell, und das hat weitreichende Folgen ... Es gibt nicht mehr genug Zeit für eine kritische Reflexion der wissenschaftlichen Erkenntnisse, was schwerwiegende Folgen hat". [5]
Gegenwärtig wird viel an "Ersatzimpfstoffen" gearbeitet, wobei der Schwerpunkt auf der Wiederverwertung älterer Virusbehandlungen oder der Wiederaufnahme der Forschung an aufgegebenen Impfstoffkandidaten wie denjenigen gegen Malaria oder Ebola liegt, die in der Vergangenheit als "unrentabel" galten,[6] aber über Nacht zu einer "interessanten Perspektive" für den Zugang zu dem neuen Markt wurden, der durch die SARS-CoV2-Pandemie eröffnet wurde. Dies spiegeln die Ohnmacht und Verwirrung der wissenschaftlichen "Gemeinschaft" wider.
Vor allem kann dies nur dazu führen, dass schlecht getestete, "billige" und qualitativ schlechte Impfstoffe überstürzt auf den Markt kommen. Es bedeutet auch, dass unzählige neue, erschreckend viele neue Opfer die Konsequenzen tragen werden, auf Kosten ihres Lebens.
In Wirklichkeit haben der Kapitalismus, die bürgerliche Klasse und ihre Staaten kein wirkliches Interesse an der Gesundheit der Bevölkerung: "Wären die wahnsinnigen Summen, die in Forschung und Militärausgaben investiert wurden, für die Gesundheit und das Wohlergehen der Bevölkerung verwendet worden, hätte sich eine solche Epidemie nie entwickeln können".[7] "Welches der Unternehmen, die einen Coronavirus-Impfstoff entwickeln, wird ihn als erstes auf den Markt bringen?", [8] "Coronavirus-Impfstoff: Wird ein Land Priorität haben?"[9] Das sind die großen Fragen, die die Bourgeoisie in ihren Medien stellt! Die Tatsachen sind klar: Anstatt die gesamte Arbeit der Wissenschaftler zu zentralisieren und zu vereinigen, um so schnell wie möglich ein Medikament und einen Impfstoff herzustellen, hütet jedes Pharmaunternehmen neidisch den Stand und das Niveau seiner Forschung in seinen Labors, um als erstes den Impfstoff zu finden, um das Patent zu erhalten, das ihm das Herstellungsmonopol für einen Zeitraum von mindestens 7 bis 12 Jahren einräumt. Um die immensen Kosten für ihre Arbeit zu decken, wenden sie sich an die meistbietenden Investoren im Tausch gegen einige schmutzige Handelsgeschäfte. Unter ihnen ist der französische Pharmariese Sanofi, der skrupellos angekündigt hat, dass er einen möglichen Impfstoff vorrangig in den Vereinigten Staaten vertreiben wird, nachdem die USA 30 Millionen Dollar zur Unterstützung seiner Forschung zusätzlich zu dem bereits im Dezember 2019 mit der US-Regierung abgeschlossenen Vertrag über 226 Millionen Dollar für die Herstellung von Impfstoffen gegen Grippeviren investiert haben. Der durch diese Enthüllung Sanofis verursachte Skandal und insbesondere die Entrüstung Macrons sind eine reine Farce. In Wirklichkeit verbirgt sich hinter ihren heuchlerischen Erklärungen und ihren "humanitär" gefärbten Worten, die behaupten, dass ein Impfstoff "nicht den Gesetzen des Marktes" unterworfen werden kann, dass er "ein öffentliches Gut" sein muss und dass der Zugang zu ihm "fair und universell" sein muss, die Angst Europas, im internationalen Wettlauf um einen Impfstoff auf dem Weltmarkt Punkte zu verlieren. Abgesehen von dem Bestreben der Pharmakonzerne, gemäß der Logik des Wettbewerbs, der Haupttriebkraft der kapitalistischen Gesellschaft, auf eigene Rechnung Gewinne zu erzielen, können sie sich dem Gesetz des Staatskapitalismus nicht entziehen, was bedeutet, dass jeder Nationalstaat letztlich die engste Kontrolle und strengste Wachsamkeit über die Leitung und Verwaltung seiner Volkswirtschaft und der von ihr abhängigen Unternehmen ausübt, auch wenn es sich um mächtige multinationale Konzerne handelt.[10] Mit anderen Worten: Es ist der Staat, der die Finanzpolitik seiner Unternehmen lenkt.
Wie der "Krieg der Masken" ist der Krieg der Impfstoffe "ein anschauliches Beispiel für den zynischen und zügellosen Wettbewerb zwischen allen Staaten"[11], die ein einfaches Ziel verfolgen. Entweder um der Erste zu sein, der den Impfstoff in die Hände bekommt und eine Monopolstellung innehat, oder um ihn auf privilegierte Weise zu erhalten, oder, um nicht aus dem Rennen gedrängt zu werden und um Hilfe "betteln" zu müssen, um nicht die großen Verlierer in diesem Kampf zu sein. Bürgerliche Kommentatoren erkennen dies an: "Zwischen den amerikanisch-europäischen Rivalitäten um einen zukünftigen Impfstoff und neuen Spannungen zwischen Donald Trump und China haben sich die Spaltungen zwischen den Großmächten vertieft". [12] Gegenüber den mächtigen Staaten USA und China "steckt Europa Milliarden in den Kampf um Impfstoffe [...] Kein Mitgliedstaat [...] hat die Macht, ein komplettes Impfstoff-Portfolio zu entwickeln". [13] Beispielsweise hat die Trump-Regierung die Forschung bei AstraZeneca mit 1,2 Mrd. EUR subventioniert, im Gegenzug für die Zusage von 300 Millionen Impfstoffdosen. Und EU-Staaten (Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Italien) wollen einen "Notfallfonds" von rund 2,4 Milliarden Euro in Anspruch nehmen, um die Verhandlungen über präferenzielle Impfstofflieferungen mit Pharmaunternehmen zu beschleunigen. Es bleibt abzuwarten, ob dieser Versuch, eine gemeinsame Kasse einzurichten, Erfolg haben wird, da die EU nicht in der Lage ist, konzertierte Maßnahmen zur Eindämmung und Bewältigung des Mangels an medizinischer Ausrüstung zu ergreifen.
Die USA haben der WHO ein Bein gestellt, indem sie ihren Beitrag zu dieser Organisation unter der Führung des Äthiopiers Tedros Adhanom Ghebreyesus zurückgezogen haben. Der WHO-Chef wird von Trump beschuldigt, tatsächlich von China kontrolliert zu werden. Dies ist auch ein aufschlussreiches Beispiel für den grausamen und rücksichtslosen Handelskrieg und den imperialistischen Krieg, den die drei größten Haie (China, USA, EU) auf dem Planeten führen.[14] Sie alle beschuldigen sich gegenseitig mit größter Heuchelei und in einer vollkommen eigennützigen Art und Weise für diesen Mangel an Koordination: Während die USA der WHO "geheime Absprachen" mit China vorwerfen, geißelt die EU das "egoistische" Verhalten der USA.
„Linke" Zeitungen wie The Guardian und viele andere sind gezwungen zuzugeben, dass es einen Mangel an Koordination gibt, aber ihre Klagen sind nichts als Jammern und sollen die Verantwortung des kapitalistischen Systems als Ganzes verschleiern. Letztlich zeigt der Kampf um Impfstoffe, dass die Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung keineswegs das zentrale Anliegen der Staaten und der herrschenden Klasse ist. Es geht ihnen nur darum, die Gesundheit als ein Instrument zu benutzen, um sich durchzusetzen und ihren Platz in der imperialistischen Weltarena zu stärken.
Der wirkliche große Verlierer in diesem Impfstoffkrieg ist die Menschheit, die für das Überleben dieses unheilbar kranken Systems, das nirgendwo anders hinführt als zu noch mehr Leid, einen noch höheren Preis in Form von Opfern zahlen muss. Nur eine Gesellschaft, die in der Lage ist, ihre Anstrengungen auf globaler Ebene zu mobilisieren, zu vereinen und zu zentralisieren, wird in der Lage sein, diese Situation auf der Grundlage der realen menschlichen Bedürfnisse zu überwinden.
Aube, 30. Juni 2020
[1] Siehe unser internationales Flugblatt: „Generalisierte kapitalistische Barbarei oder proletarische Weltrevolution"
[2] Interview mit dem belgischen Virologen De Standaard (30.-31. Mai 2020).
[3] RTL-Infos (29. Mai 2020)
[4] La Croix (15. Mai 2020)
[5] De Standaard (20.-21. Mai)
[6] Beispielsweise wurde die Forschung an einem Impfstoff gegen das Ebola-Virus zynischer weise aufgegeben, weil afrikanische Staaten als "zahlungsunfähig" beschrieben wurden, zum direkten Nachteil der vielen Opfer in der Bevölkerung.
[7] "Verallgemeinerte kapitalistische Barbarei oder proletarische Weltrevolution"
[8] Etoro (18. März 2020)
[9] Rtbf (18. Mai 2020)
[10] "Wirtschaftskrise: der Staat, die letzte Bastion des Kapitalismus"
[11] "Krieg der Masken: Die Bourgeoisie ist eine Klasse von Gangstern"
[12] La Croix (15. Mai 2020)
[13] De Standaard (5. Juni 2020)
[14] Der Exklusivvertrag, den die amerikanische Regierung über die Herstellung von Remdésivir, einem bereits bei der Behandlung von Ebola eingesetzten Virostatikum (jedoch von zweifelhafter Wirksamkeit bei der Begrenzung der Auswirkungen von Covid), unter den Augen der EU, die soeben dessen weit verbreitete Anwendung in Europa empfohlen hatte, gewonnen hat, bringt eine neue Bestätigung ihrer Gangstermoral in diesem Krieg, in dem alle Schläge erlaubt sind.
„Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt“, wie Marx bekanntlich meinte. Heute verschlechtert sich die Lage der meisten Menschen auf der ganzen Welt auf gefährliche und verwirrende Weise: Kriege, wirtschaftliche Not, Umweltzerstörung, erzwungene Migration und in diesem Jahr zusätzlich ein neuer Virus. Diese materiellen Bedingungen des wachsenden Chaos und der Verwirrung sowie das offensichtliche Fehlen einer glaubwürdigen Alternative sind der Nährboden für die Verbreitung von "Verschwörungstheorien". Da Millionen von Menschen infiziert sind und Hunderttausende von Menschen weltweit an den Folgen der Covid-19-Pandemie sterben, gibt es unzählige Erklärungen für die Ursache dieser Geißel, viele davon in Form von Verschwörungstheorien. Trotz Äußerungen von Gremien wie der Weltgesundheitsorganisation und den Vereinten Nationen [1], dass der Ursprung solcher Krankheiten in der Zerstörung natürlicher Lebensräume liegt, die zu einer ungeregelten Vermischung der Lebensräume von Tier- und Menschenarten führt (zu der wir die intensive und unhygienische Tierhaltung im industriellen Maßstab hinzufügen würden), (*) reichen solche "Theorien" von der Anschuldigung des Präsidenten der Vereinigten Staaten, Donald Trump, dass das "kommunistische" China das COVID Virus sowohl herstellte als auch verbreitete, zu der weit verbreiteten Vorstellung, dass die Pandemie von Staaten zur Überwachung und Kontrolle ihrer Bürger durch eine finstere "globale Elite" oder durch Einzelpersonen wie den Investor George Soros oder den Microsoft-Multimillionär Bill Gates genutzt wird, um ihre eigenen Entwürfe zur Weltherrschaft voranzutreiben. Solche "Theorien" beschränken sich nicht auf die rein ideologische Ebene, sondern manifestieren sich im Alltag, im Handeln, durch Proteste, Lobbying und soziale Medien, die das Verhalten von Millionen Menschen beeinflussen - insbesondere, aber keineswegs ausschließlich in Amerika. Man denke nur an den Aufstieg der "Anti-Vaxxer"-Bewegung - derjenigen, die sich gegen den staatlich vorgeschriebenen Einsatz von Impfstoffen zur Krankheitsvorbeugung wenden - vom Randbereich zum Mainstream, der 2019 zum schlimmsten Masernausbruch einer Generation in Amerika beigetragen haben soll. Im Mai dieses Jahres ergab eine Umfrage, dass fast ein Viertel der US-Bürger angab, sie würden einen Impfstoff gegen Covid-19 ablehnen, selbst wenn ein solcher entwickelt würde! In Australien lag die Zahl nahezu bei 50%. (*)
Noch unheimlicher ist die Entwicklung eines Pogromgeistes, der sich in körperlichen Angriffen auf Menschen asiatischen Aussehens manifestiert, die für die Verbreitung des Virus verantwortlich gemacht werden. Indiens Fernseh-Nachrichtensender, die bereits dafür berüchtigt sind, Hass gegen Muslime zu verbreiten, beschuldigten muslimische Prediger, "absichtlich" COVID-19 zu verbreiten, und titulierten sie als "Virenschurken" und "menschliche Bomben" Indiens. Die orchestrierte Welle anti-muslimischer Gewalt in Neu-Delhi forderte mindestens 53 Tote und über 200 Verletzte.
Es ist sicherlich so, dass die Entwicklung globaler Internet-Vertriebskanäle wie Facebook und YouTube das Wachstum aller Arten von Verschwörungsvideos, Kanälen und Untergruppen mit Figuren wie David Icke oder InfoWars' Alex Jones gefördert haben, die in der Vergangenheit Meister darin waren, mit Weltbildern zu hausieren, in denen Juden, Banker, die Illuminaten oder finstere "globalistische" Organisationen die Welt regieren und manipulieren - genau zu einer Zeit, in der internationale Gremien, die sich mit Welthandel, Weltgesundheit, Rüstungsbegrenzung oder Klimaabkommen befassen, von zügellosem Nationalismus abgelöst werden.
Im Internet organisieren sich die "Wellness"-Anhänger, deren Körper ihre Tempel sind, in die kein staatlich geförderter Impfstoff gelangen darf. Ihre Abscheu vor einer "Big Government" oder "Big Pharma" wird von dem "libertären" Flügel der Linken oder der Rechten geteilt, die davon überzeugt sind, dass die Verbreitung von Covid-19 eine bewusste Politik der führenden Staaten der Welt ist, um ihre Bevölkerung zu überwachen und zu kontrollieren. Auch diejenigen, die 5G-Masten der Telekommunikation anzünden, haben hier ihr Präsenz. Am Rande solcher Bewegungen steht der bewaffnete Flügel der angeschlagenen Kleinbourgeoisie, wie die waffenanbetende Boogaloo-Bruderschaft, die den "Rassenkrieg" fördert und (in ihrer verzerrten Vision) Raum für ihre besondere Art von selbstverwaltetem Chaos schafft. Der Mythos des rauen, die Grenzen sprengenden Individuums, der in der US-Kultur so weit verbreitet ist - unter ihnen die "Maskenverweigerer" - ist lediglich ein Spiegelbild der extremen Arbeitsteilung des Kapitals, in dem jeder Mensch auf ein hoffnungsloses, hilfloses Wesen reduziert zu sein scheint, das von den Mitteln zur Produktion eines Lebensunterhalts und von den Produkten seiner Arbeit geschieden ist.
Aber es ist nicht die Entwicklung der Technologie, die für die Verbreitung von Sekten im Millenniums-Stil verantwortlich ist - das Medium sollte nicht für die Botschaft verantwortlich gemacht werden. Diese Ehre gebührt dem zerfallenden Kapitalismus selbst. Und die herrschende Klasse ist durchaus in der Lage, ihre eigene Verwesung zu nutzen, um Krieg gegen ihre eigene Bevölkerung und ihre Feinde zu führen.
Wir haben bereits erwähnt, dass Präsident Trump China als den Schuldigen für die Schaffung und Verbreitung des neuen Virus genannt hat. Das passt gut zu den Interessen des US-Imperialismus, der eine Verunglimpfung und Schwächung seines aufsteigenden Feindes fördert. Trump wird in dieser Angelegenheit vom demokratischen Präsidentschaftskandidaten Biden angestachelt. Trumps eigene Anhänger im QAnon freuen sich derweil, Amerika und die Welt in den Klauen einer verräterischen Gangsterbande (zu der viele frühere US-Präsidenten gehören, die aber bizarrerweise Reagan und Kennedy ausschließt) zu präsentieren, in der Trump und "ein paar mutige Männer" die einzig wahren Patrioten sind...[2]. Für diese herrschende Kabale sind Verschwörungstheorien eine nützliche Nebelwand für Idioten: Covid-19 ist ein "Hoax", eine gefälschte Nachricht, ebenso wie die Behauptungen über russische Kopfgelder für die Tötung von US-Soldaten. Die Demokraten - die eine breite Palette "alternativer" Lösungen für Pandemien und Wirtschaftskrisen bieten verwenden ebenfalls Verschwörungstheorien, um die Trump-Clique als alleinige Ursache für den Niedergang Amerikas in der Welt darzustellen, wobei Trump die Marionette von Russlands Putin ist. ‚Rationale‘ Posen wie „The Alliance for Science“ entlarven die Anti-Vaxxer und ihr verschwörerisches Volk ... und fördern gleichzeitig die Produktion gentechnisch veränderter Lebensmittel zu Profitzwecken.
In Zeiten vergangener Seuchen sowie einer gewissen sozialen Solidarität angesichts solcher Tragödien gab es immer wieder Versuche, Sündenböcke zu suchen. "Die tödlichste und verheerendste Krankheit Europas, der Schwarze Tod von 1347-51, löste Massengewalt aus: die Ermordung von Katalanen in Sizilien und von Klerikern und Bettlern in Narbonne und anderen Regionen; und insbesondere die Pogrome gegen Juden, bei denen über tausend Gemeinden im Rheinland, in Spanien und Frankreich und im Osten über weite Teile Europas ausgerottet, ihre Mitglieder in Synagogen eingesperrt oder auf Flussinseln zusammengetrieben und verbrannt wurden - Männer, Frauen und Kinder.[3] In Italien hatten die Flagellanten sowohl die Juden als auch eine korrumpierte Kirchenhierarchie dafür verantwortlich gemacht, Gottes Zorn hervorzurufen. Um ihnen keine Munition zu geben, sprach Papst Clemens VI. die Juden (und natürlich auch Gott und die Kirche) von ihrer Schuld frei und machte eine falsche Ausrichtung der Planeten dafür verantwortlich.
Auf diese Weise konnte man nicht nur "Außenstehende", "die anderen" oder Minderheiten ins Visier nehmen, sondern auch der herrschenden Klasse die Schuld für die zersetzende Krankheit in die Schuhe schieben: Perikles wird beschuldigt, während der Pest von Athen, 430-426 v. Chr., virusgeschwächte Athener gegen ihre spartanischen Rivalen geführt zu haben, und während der Antoninischen Pandemie (es gab viele im Römischen Reich) von 165-190 n. Chr. wurden zwischen 170-300 namhafte Matronen "vor Gericht gestellt" und hingerichtet, weil sie männliche Mitglieder der herrschenden Klasse, die Opfer der Pest geworden waren, "vergiftet" hätten. Dieses ohnmächtige Auspeitschen der "Eliten" ist ein wichtiger Aspekt, der Form und Funktion der Verschwörungstheorien in der heutigen Epoche der Zersetzung und des politischen Populismus diktiert.[4]
Trotz begrenzter Erkenntnisse in der Antike (z.B. die Ansicht des zeitgenössischen Historikers Thukydides, dass die athenische Pest "durch das Zusammendrängen der bäuerlichen Massen in kleinen Behausungen und erstickenden Baracken verursacht wurde", war es in der Antike unmöglich, ein wissenschaftliches Verständnis über Ursprung und Übertragung der Seuchen zu haben. Daher die Jagd nach Sündenböcken und die Verbreitung irrationaler Erklärungen.
Heute hat die Menschheit - zumindest in der Theorie - ein viel größeres Verständnis von dem, was vor sich geht. Das Genom von Covid-19 (der vollständige Satz von Genen oder genetischem Material, der in einer Zelle oder einem Organismus vorhanden ist) wurde innerhalb weniger Wochen nach seiner formellen Entdeckung Anfang dieses Jahres kartiert. Dies lässt die weit verbreitete Akzeptanz von Verschwörungstheorien über den Ursprung der Pandemie und die Versuche, sie zu lindern, als noch größere Anomalie erscheinen, selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich um ein neues Virus mit derzeit unbekannten Aspekten handelt.
Seuchen und Pandemien entstehen jedoch aus spezifischen sozialen Bedingungen heraus, und ihre Auswirkungen hängen ebenfalls von dem jeweiligen historischen Punkt ab, den eine bestimmte Gesellschaft erreicht hat. Die Covid-19-Krise ist ein Produkt des tiefgreifenden Zerfalls des Kapitalismus und der immensen Widersprüche, die sich aus dem Nebeneinander von erstaunlichen Fortschritten in allen Bereichen der Technologie und dem Auftreten von Pandemien, Dürren, Bränden, schmelzenden Eiskappen und städtischem Smog ergeben. All dies findet seinen Ausdruck auf ideologischer Ebene, ebenso wie die offenkundigen Unterschiede zwischen einer zunehmenden Verarmung und Arbeitslosigkeit eines großen Teils der Weltbevölkerung und der Bereicherung einer ausbeuterischen Minderheit.
Verschwörungstheorien rivalisieren heute mit den Religionen in ihrem Versuch, die komplexe Realität zu beschreiben und zu erklären: Wie die Religion bieten sie Gewissheit in einer unsicheren Welt. Die verschiedenen "Wahrheit"-Bewegungen personifizieren die verborgenen, unpersönlichen Prozesse der verkrüppelten kapitalistischen Akkumulation, indem sie das Augenmerk auf einzelne Personen oder geheimnisvolle, miteinander verbundene Cliquen lenken. Sie erscheinen insofern überzeugend, als ihre "Kritiken" oft einige grundlegende Wahrheiten enthalten - zum Beispiel, dass der Staat bestrebt ist, immer mehr Daten über seine Bürger zu sammeln, zu verarbeiten und zu speichern, oder dass es einen "tiefen Staat" gibt, der hinter der Fassade der Demokratie agiert.
Aber Verschwörungstheorien stellen diese halbverdauten Binsenweisheiten in völlig falsche Rahmenbedingungen, wie etwa die Idee, dass es möglich ist, auszusteigen (oder "off-grid" zu gehen) und dem kalten Blick der Überwachungstechnologie des Staates (der Überlebensmentalität) auszuweichen, ohne den Staatsapparat selbst zu zerstören. Sie sehen im Falle des "tiefen Staates" nicht, dass dieser nicht das Produkt einer kooperativen internationalen Kabale ist sondern der Ausdruck des sich entwickelnden Staatskapitalismus, ein direkter Ausdruck des Konkurrenzcharakters des Kapitalismus, der von dem Bestreben diktiert wird, rivalisierende Staaten in einer zunehmend barbarischen Reihe von Kriegen eines jeden gegen alle zu beherrschen oder zu zerstören. Verschwörungstheorien werden so nicht nur zu einer Fehlinterpretation der Welt, sondern zu einer Blockade gegen die Entwicklung des Bewusstseins, das zu ihrer Veränderung erforderlich ist.[5]
Aus dem gleichen tiefen Misstrauen gegenüber den herrschenden "Eliten" hervorgehend, das zu dem populistischen Phänomen der letzten Jahre geführt hat, geht die Vorliebe für irrationale Erklärungen der Realität mit einer wachsenden Ablehnung der Wissenschaft einher. Daher die Frustration von Donald Trumps medizinischem Berater Dr. Anthony Fauci: "Es gibt ein allgemeines Gefühl unter einigen Menschen in diesem Land, das gegen Wissenschaft, Behörden, Impfstoffe gerichtet ist - das ist bei einem relativ gesehen alarmierend großen Prozentsatz der Menschen der Fall ", sagte der medizinische Sprecher der USA in der Coronavirus Task Force des Weißen Hauses. Dies von der Galionsfigur, die der Trump-Administration, den Verfechtern von Verschwörungstheorien par excellence, wissenschaftliche Glaubwürdigkeit verleiht! In Großbritannien berichtete eine Kommission des Oberhauses (ja, es gibt immer noch Lords of the Realm!), die die Macht der digitalen Medien untersucht, von "einer Pandemie von Fehlinformationen und Desinformationen ... Wenn man diese gefälschten Wahrheiten gedeihen lässt, werden sie zum Zusammenbruch des öffentlichen Vertrauens führen, und ohne Vertrauen wird die Demokratie, wie wir sie kennen, einfach in die Bedeutungslosigkeit verfallen. So ernst ist die Lage".
Aber wenn die herrschende Klasse die Wissenschaft benutzt und missbraucht, um ihre Politik glaubwürdig zu machen - wie wir im Vereinigten Königreich deutlich gesehen haben, als die Regierung zunächst mit einer unausgereiften Version der Theorie der "Herdenimmunität" als mögliche Rechtfertigung für ihre völlig fahrlässige Reaktion auf die Pandemie spielte - ist es nicht überraschend, dass die Wissenschaft selbst zunehmend an Glaubwürdigkeit verliert. Und wenn das Aufkommen von "gefälschten Wahrheiten" auch, wie der Bericht des Oberhauses befürchtet, zu einem Verlust der Überzeugung von der Idee der Demokratie führt, so stellt dies die Fähigkeit der herrschenden Klasse, die Kontrolle über die Gesellschaft durch einen politischen Apparat zu behalten, der von der Mehrheit der Bevölkerung weitgehend akzeptiert wird, vor noch größere Schwierigkeiten.
Aber der Kontrollverlust der Bourgeoisie an sich birgt nicht das Potenzial für positive soziale Veränderungen. Ohne die Entwicklung einer ernsthaften Alternative zur Herrschaft der Bourgeoisie führt er nur zu Nihilismus, Irrationalität und Chaos.
Die wachsende Kakophonie der Verschwörungstheorien - das Vorherrschen unsinniger Leugnungen der schockierenden und beängstigenden Realität - gründet nicht nur auf dem Verlust der Kontrolle der herrschenden Klasse über ihr Wirtschaftssystem und ihren eigenen politischen Apparat. Sie entsteht vor allem aus einem sozialen Vakuum, einer Abwesenheit. Es ist das Fehlen einer Perspektive - einer alternativen und vitalisierenden Vision für die Zukunft, die jedoch in der Gegenwart verwurzelt ist -, die aus dem relativen Rückzug der proletarischen Kämpfe und des proletarischen Bewusstseins in den letzten 30 Jahren oder so entstanden ist und zur heutigen sozialen Verwirrung beiträgt. Im Jahre 1917, inmitten eines scheinbar endlosen und festgefahrenen Weltkrieges, in dem Millionen Menschen getötet und Jahrtausende angesammelter menschlicher Zivilisation zerstört wurden, war es die russische Revolution, die von der Arbeiterklasse selbst organisiert und durchgeführt wurde, die den Krieg beendete und die Möglichkeit einer anderen Art der Organisation der Welt bot, die auf menschlichen Bedürfnissen beruhte. Die Menschheit hat den Preis dafür bezahlt, dass es ihr zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht gelungen ist, dieses Beispiel auf der ganzen Welt zu verbreiten und sie so zu innerer Degeneration und Konterrevolution zu verdammen.
Aus der Sicht der herrschenden Klasse ist die proletarische Revolution selbst nur als Ergebnis einer Verschwörung möglich: Die Erste Internationale wurde als die versteckte Hand hinter jedem Ausdruck der Unzufriedenheit der Arbeiterklasse im Europa des 19. Jahrhunderts angeprangert; der Oktoberaufstand war nicht mehr als ein Staatsstreich von Lenin und den Bolschewiki. Doch während kommunistische Ideen meist nur von einer Minderheit des Proletariats vertreten werden, kann die revolutionäre Theorie zu bestimmten Zeitpunkten für eine große Zahl von Menschen offensichtlich und verständlich werden, sobald sie beginnen, den Panzer der herrschenden Ideologie abzuschütteln und sich so in eine "materielle Kraft" zu verwandeln. Solche tiefgreifenden Veränderungen des Massenbewusstseins mögen noch weit entfernt sein, aber die Fähigkeit der Arbeiterklasse, den Angriffen des Kapitalismus zu widerstehen, weist auch auf diese Möglichkeit in der Zukunft hin. . . Wir sahen dies in einer embryonalen Weise zu Beginn der Pandemie, als die Arbeiter sich weigerten, um der Profite des Kapitalismus willen "wie Lämmer zur Schlachtung" in ungeschützte Fabriken und Krankenhäuser zu gehen. Und wenn die heutigen Seuchenzustände und inszenierten Nebenschauplätze wie die Black Lives Matter-Bewegung die Vereinigungsfähigkeit des internationalen Proletariats einschränken, werden die schrecklichen Entbehrungen, die sich gegenwärtig entfalten - steigende Ausbeutungsraten der Beschäftigten, Entwicklung der Massenarbeitslosigkeit rund um den Globus - es zwingen, sich all den falschen Visionen zu stellen, die sein Bewusstsein von dem, was zu tun ist, trüben.
Robert Frank 07.07.2020
[1]Pandemien entstehen durch die Zerstörung der Natur, sagen UN und WHO, The Guardian, 17. Juni 2020 https://www.theguardian.com/world/2020/jun/17/pandemics-destruction-nature-un-who-legislation-trade-green-recovery [144]
[2]Pandemien: Wellen der Krankheit, Wellen des Hasses von der Pest in Athen bis zu A.I.D.S. von Samuel K. Cohn, https://academic.oup.com/histres/article/85/230/535/5603376 [145] Der Autor argumentiert kontrovers, dass trotz der Sündenböcke und Massenmorde an Juden in mittelalterlichen Pestzeiten und anderer von ihm selbst angeführter Beispiele eine solche "Schuldkultur" noch gegen Beweise für soziale Solidarität angesichts der von Krankheiten verursachten Katastrophen abgewogen werden muss. Siehe auch Cohns Epidemien: Hass und Mitgefühl von der Pest in Athen bis AIDS, Oxford University Press.
[3]Siehe 'Die Wahl Trumps und das Zerfallen der kapitalistischen Weltordnung', International Review 158, Frühjahr 2017 https://en.internationalism.org/international-review/201702/14255/trump-election-and-crumbling-capitalist-world-order [146]
[4]Siehe Marxismus und Verschwörungstheorien https://en.internationalism.org/icconline/201201/4641/marxism-and-conspiracy-theories [147]
[5]Siehe zum Beispiel die von der Organisation QAnon produzierten Slick-Videos, darunter Der Plan zur Rettung der Welt.
In der Nacht zum Mittwoch, den 09. September, brannte auf Lesbos das Flüchtlingslager Moria nieder. Nahezu 13.000 Flüchtlinge, davon ca. ein Drittel Minderjährige, und ca. die Hälfte Kinder unter zwölf Jahren mussten vor den Flammen flüchten – nunmehr der Natur ausgesetzt und sich völlig selbst überlassen.
In dem Flüchtlingslager, das für weniger als 2.900 Lagerinsassen konzipiert war, waren ca. 13.000 Flüchtlinge eingepfercht. Als die Nachricht von der Corona-Infizierung einiger Insassen die Runde machte und eine Quarantäne von den Behörden angeordnet wurde, brach kurz danach das Feuer aus. Die Behörden beschuldigten Quarantäne-Unwillige aus den Reihen der Flüchtlinge das Feuer gelegt zu haben.
Die Politiker sprechen von einer humanitären Katastrophe, die sie aber in Wirklichkeit selbst herbeigeführt haben.
Tatsache ist: seit Jahren betreibt die EU eine Flüchtlingspolitik der abgeschotteten Grenzen, der Blockade der Balkanroute, des Einsperrens von Flüchtlingen in Lagern, der Rückführung von illegal aufgegriffenen Flüchtlingen, der Abschreckung von Bootsflüchtlingen am Mittelmeer durch die Nichtaufnahme oder verzögerte Aufnahme von aus dem Meer geretteten Flüchtlingen usw.
Diese Politik des Mauerbaus, der Abschottung und Abschiebungen ist nicht beschränkt auf die EU, sie wird von den USA ebenso betrieben – lange bevor Trump seinen „Beautiful wall“ versprach – wie von unzähligen anderen Ländern.
Offiziellen Zahlen zufolge irren 80 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht umher – verzweifelt auf der Suche nach einer Bleibe und einer Zukunft.
Mittlerweile sind die permanenten Mega-Flüchtlingslager der Rohingya in Bangladesch, der somalischen Flüchtlinge in Kenia (Dada ab), im Sudan, in Libyen, oder die kleineren Lager z.B. an der französischen Küste gegenüber England usw. zur Alltagsrealität geworden – zusätzlich zu den unzähligen Menschen, die wegen des zunehmenden Chaos wie in Venezuela oder der Umweltzerstörung und der Ökokatastrophe die Flucht angetreten haben und zum rasanten Anwachsen der Slums in den Millionenmetropolen Afrikas, Südamerikas und Asiens beitragen.
Flüchtlingslager und Slums in den Metropolen sind zwei Gesichter des Versinkens des Kapitalismus in einer Spirale der Zerstörung, Kriege und Barbarei. Hinzu kommt, dass blanke Terrorherrschaft (z.B. gegen Uiguren, Kurden usw.) und Pogrome in vielen Gebieten das Leben immer mehr Menschen zur Hölle werden lässt.
Nur ein kleiner Teil hat es bis an die Küsten des Mittelmeers oder an die Grenzen der USA geschafft, wo auf sie eine Möglichkeit hoffen, in die Industrieländer unter Einsatz ihres Lebens zu gelangen.
Aber die Herrschenden haben die Grenzen dicht gemacht. Vorbei die Zeit, wo man massenhaft Arbeitskräfte brauchte und deshalb zum Beispiel Sklaven in Afrika raubte und sie auf Plantagen in den USA grenzenlos ausbeuten konnte; vorbei die Zeit, als man wie in den 1950er und 1960er Jahren für billige Arbeitskräfte aus dem Mittelmeerraum Prämien zahlte. Heute ächzt die Weltwirtschaft unter der Wirtschaftskrise – und nicht erst seitdem sich mit der Corona-Pandemie nochmal alles dramatisch verschlechtert hat. Heute werden hauptsächlich gut ausgebildete Arbeitskräfte selektiv rekrutiert… Der Rest soll verrecken.
Weil die Kombination verschiedener Faktoren (Krieg, Umweltzerstörung, Wirtschaftskrise, Repression, Katastrophen aller Art) immer mehr Menschen in die Flucht treibt und sich ein beträchtlicher Teil davon in Richtung Industriezentren auf den Weg machen wird, soll eine möglichst große Abschreckung aufgebaut werden. Über diese gewollte, unter den EU-Staaten abgestimmte Politik berichtete am 10.09. der deutsche Regierungsberater Gerald Knaus vom European Stability Initiative im Deutschlandfunk: „Der griechische Flüchtlingsminister Notis Mitarakis sagt, die Menschen sollen in Moria oder auf Lesbos bleiben. Das Lager ist abgebrannt, die Menschen haben keine Unterkunft, sie sitzen auf der Straße, das ist der totale Kontrollverlust. (...) Und trotzdem fordert die griechische Regierung nicht Unterstützung von außen. Warum? – Die Antwort ist offensichtlich. Diese schlechten Bedingungen sind gewollt. Das ist eine Politik der Abschreckung. Auf der Insel sind die Spannungen enorm. Griechische Nationalisten haben Hilfsorganisationen angegriffen. Es gibt radikale Gruppen, die auch Asylbewerber angreifen. (…) Hier schnell Leute wegzubringen, ist im Interesse der Insel, im Interesse der Migranten. Warum hält man sie dort fest, wo man doch weiß (...) niemand von diesen Menschen wird in die Türkei zurückgeschickt. (...) Es gibt aufgrund der Corona-Beschränkungen praktisch keine Abschiebungen mehr. (...) Das heißt, wir haben hier sehr, sehr viele Schutzbedürftige und sehr, sehr viele irreguläre Migranten (...) die festgehalten werden aus einem einzigen Grund: zur Abschreckung (…)“ Und mit der Schließung der Balkan-Route soll verhindert werden, „dass Leute Griechenland an der Nordgrenze verlassen, was nur dann einen Sinn ergibt, wenn man dann sagt, die Leute in Griechenland sollen dort so schlimme Zustände erleben, dass dann der Zustrom nach Griechenland, also in die EU abbricht“. Eine Folge: unerträgliche Zustände nicht nur in den Flüchtlingslagern, sondern auch für die Bewohner vor Ort, von denen sich dann Teile gewaltsam gegen die Flüchtlinge vorgehen. Die Flüchtlinge sehen sich dann Stacheldraht, bewaffneter Staatsmacht und gewaltbereiten nationalistischen Banden gegenüber!
Die gleiche Politik wird auch vor der Küste Italiens betrieben, wo im Mittelmeer gerettete Bootsflüchtlinge solange wie möglich daran gehindert werden sollen, aufs europäische Festland zu gelangen.
Diese Abschreckungstaktik wird übrigens von deutschen und anderen europäischen Regierungsinstitutionen in Afrika und anderen Flüchtlingshochburgen potentiellen Flüchtlingen in den social media vor Augen geführt. Die Botschaft lautet: „Wir werden euch möglichst lange, möglichst brutal, möglichst unmenschlich wie Gefangene festhalten und euch elendig in noch schlimmeren Flüchtlingslagern als in Afrika und Asien verrecken lassen, umgeben von Stacheldrähten und Befestigungsanlagen; bleibt da, wo ihr seid, auch wenn ihr kein Zuhause mehr habt“. Dabei arbeitet man auch mit lokalen Milizen z.B. im Sudan zusammen, die die Flüchtlingsrouten nach Libyen versperren sollen.
Wenn Politiker in dieser Lage von „humanitärer Katastrophe sprechen“, vertuschen sie, dass diese Menschen in Wirklichkeit eine Geißel der Politik dieses Systems sind, das mit allen Mitteln von der herrschenden Klasse verteidigt wird.
Das östliche Mittelmeer ist gleichzeitig ein Brennglas der zerstörerischen Tendenzen des Kapitalismus. Schon vor einem Jahrhundert bekämpften sich die Türkei und Griechenland in einem Krieg, in dem die ersten organisierten ethnischen Säuberungen durchgeführt wurden; nun stehen sich die beiden imperialistischen Rivalen erneut wegen des Streits um Gas- und Ölvorkommen in der Region gegenüber. Zusätzlich zu der Kriegsgefahr in der Region gefährdet der Kapitalismus die Menschen aber auch durch die Wirtschaftskrise und Explosionen wie die in Beirut, Faktoren, die noch mehr Menschen in die Flucht treiben werden.
Das Infame an der Haltung der Herrschenden wird nicht dadurch abgeschwächt, wenn man vortäuscht ein wenig „Erbarmen“ mit den „Schwächeren“ unter den Flüchtlingen zu zeigen. Erst nachdem bestimmte Kräfte aus den eigenen Reihen der bürgerlichen Parteien, besorgt über den Ansehensverlust der westlichen Demokratien, Druck ausgeübt und Lokalverwaltungen die Bereitschaft zur Aufnahme eines begrenzten Kontingents gezeigt haben, wollen Frankreich und Deutschland 400 „unbegleitete“ Jugendliche einreisen lassen. Und nach nahezu einer Woche Verschleppungstaktik sollen dann doch z.B. nach Deutschland 1500 Kinder mit ihren Familien hereingelassen werden… Die restlichen 10.000 aus Moria und sollen in Griechenland schmachten. Dabei verstecken sich die Herrschenden hinter ihrer Angst vor den Populisten oder den aufnahme-unwilligen Staatschefs aus Ungarn, Polen, Niederlande, Österreich. Kein Land könne das Schicksal der Flüchtlinge alleine schultern – unter diesem Vorwand pocht man auf ein europäisch einheitliches Vorgehen.
Tatsächlich wollen sie keine neue Flüchtlingswelle wie 2015 anlocken und den Populisten keinen weiteren Zulauf ermöglichen. Die griechische Regierung sperrt die jetzt im Freien überlebenden Flüchtlinge lieber in neu errichteten Lagern ein, anstatt ihnen den Zutritt zum Festland zu gestatten, von wo Lagerinsassen dann weiter flüchten könnten. Die Herrschenden in der EU haben fleißig aus allen Lehrbüchern zur Errichtung von Lagern aus Guantanamo, Sibirien, Speziallagern der DDR oder Xinjiang gelernt. Flucht verhindern um jeden Preis, Abschreckung mit allen Mitteln mit immer größeren Menschenmassen! Ihr Handeln wird nicht geleitet vom Schutz der Elendigen, sondern ihrem Machterhalt. Und diese Herrschaft verteidigen sie mit allen Mitteln.
Sei es, indem sie die furchtbarsten Außengrenzen und Flüchtlingslager anlegen, oder mit „humanitären“ Mitteln und der Heuchelei der Demokratie. Während die Repression in Belarus, die Killerkommandos Putins oder die Gefangenenlager der Uiguren in Xinjiang von den Europäern angeprangert werden, arbeitet man selbst seit Jahren mit diesen Regimen bestens zusammen, auch wenn zeitweise die Kooperation – vor allem Rüstungsverträge - aufgeschoben oder gar aufgehoben werden.
Während in den USA die Demokraten und Republikaner mit Trump an ihrer Spitze die diktatorischen Methoden Chinas verurteilen, das in Hongkong vermummte Greiftrupps gegen Protestierende zum Einsatz bringt, schickt Washington die Nationalgarde und an ihrer Seite vermummte Greiftrupps der amerikanischen Polizei, die ebenso Protestierende in getarnten Autos verschleppen. Ob Lukaschenko in Belarus, Putin in Russland, Erdogan in der Türkei, Duterte auf den Philippinen, Mohammed bin Salman in Saudi-Arabien, Xi Jinping in China, Trump in den USA usw. - sie alle verteidigen ihr System und ihre Macht gnadenlos und mit Mitteln, die oft genau die gleichen sind.
Deshalb ist es vergeblich auf die Einsicht oder Erbarmen der Herrschenden zu zählen, und es ist bestenfalls eine gefährliche Illusion zu glauben, man könne die Probleme, vor denen uns der Kapitalismus stellt, mit humanitären Rettungsaktionen usw. ausrotten.
Die Forderung „No Borders, No Nation“ greift zwar eine richtige Sorge auf, kann aber nur durch einen revolutionären Kampf verwirklicht werden, indem alle Staaten abgeschafft werden. Deshalb reicht es nicht aus, Empörung über die barbarischen Verhältnisse zu zeigen. Der erste Schritt muss sein zu erkennen, woher das Übel kommt und dies dann beim Namen zu nennen. Erst dann können wir das Problem an der Wurzel packen, und das bedeutet, den Kapitalismus und seine Mechanismen anzugreifen.
Toubkal 15.09.2020
Der Kapitalismus, das Produktionssystem, das den Planeten und jedes Land auf ihm beherrscht, versinkt immer tiefer in seinem Zerfall. Ein Jahrhundert des Niedergangs nähert sich seinem Endstadium und bedroht das Überleben der Menschheit mit einer Spirale wahnsinniger Kriege, wirtschaftlicher Depression, ökologischer Katastrophen und verheerender Pandemien.
Jeder Nationalstaat auf der Erde strebt danach, dieses sterbende System aufrechtzuerhalten. Jede Regierung, ob in demokratisches oder diktatorisches Gewand gekleidet, ob offen kapitalistisch oder fälschlicherweise als "sozialistisch" deklariert, hat zur Aufgabe die wahren Ziele des Kapitals zu verteidigen: die Ausweitung des Profits auf Kosten der einzig möglichen Zukunft unserer Spezies, einer weltweiten Gemeinschaft, in der die Produktion nur ein Ziel hat - die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse.
Daher ist die Entscheidung, welche Partei oder welcher Präsident die Zügel der Regierung übernimmt, eine falsche Wahl, die die kapitalistische Zivilisation nicht vom Weg in die Katastrophe abbringen kann. Dies gilt für die kommenden US-Wahlen ebenso wie für jeden anderen Wahlzirkus.
Vielen ist klar, dass Trump ein erklärter Verteidiger all dessen ist, was am Kapitalismus so schändlich ist: von seinen Leugnungen der Realität der Bedrohung durch Covid-19 und des Klimawandels über seine Rechtfertigungen für Polizeibrutalität im Namen von Recht und Ordnung bis hin zu seinen Appellen an Rassismus und Rechtsextremismus und seiner persönlichen Behandlung der Frauen, auf die er ein Auge geworfen hat. Aber die Tatsache, dass Trump, mit den Worten seines ehemaligen Anwalts und „Aufräumers“ Michael Cohen, "ein Lügner, Betrüger und Rassist" ist, hindert wichtige Fraktionen der Kapitalistenklasse nicht daran, Trump zu unterstützen, weil seine Politik des wirtschaftlichen Nationalismus und der Deregulierung der Umwelt- und Gesundheitsdienste dazu dient, ihre Profite zu steigern.
Bei der letzten Wahl hat Trump vielen amerikanischen Arbeitern vorgegaukelt, dass der "America First"-Protektionismus ihre Arbeitsplätze retten und traditionelle Industrien wiederbeleben würde. Aber schon vor der Covid-Krise steuerte die Weltwirtschaft - einschließlich China - auf eine neue Rezession zu, und die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie, die noch vor uns stehen, werden noch brutaler sein. Protektionismus ist eine Illusion, denn keine Wirtschaft kann sich von den erbarmungslosen Gesetzen des Weltmarkts abkoppeln, und Trumps Wahlversprechen an die US-Arbeiter hatten sich schon vor dem Beginn der Rezession 2019 als leer herausgestellt.
Laut Trump droht Joe Biden, Amerika in eine "sozialistische Utopie" zu verwandeln, weil er eine bloße Marionette in den Händen der "radikalen Linken" sei, verkörpert von Leuten wie Bernie Sanders und der "Truppe" um Alexandria Ocasio-Cortez, Ilhan Omar und anderen. [1]
In Wirklichkeit wurde Biden als demokratischer Kandidat gewählt, weil er die Fortsetzung der demokratischen Mainstream-Politik von Obama und Clinton darstellt, die viel mit der von Trump gemeinsam hat: Der Fokus gen Osten hin zu einer Konfrontation mit dem chinesischen Imperialismus wurde unter Obama begonnen, der wegen seines rücksichtslosen Umgangs mit "illegalen" Einwanderern auch als "Abschiebehäuptling" bekannt war. Natürlich haben die Demokraten ihre Differenzen mit Trump: Sie sind enger mit dem Militär- und Sicherheitsapparat verbunden, der Trumps katzbuckelnden Umgang mit Putins Russland zutiefst misstraut, und sie sind verlegen über seinen rücksichtslosen Bruch internationaler Verträge und Bündnisse, weil er die diplomatische Glaubwürdigkeit der USA untergräbt. Aber das sind lediglich Differenzen über die beste Strategie für den amerikanischen Imperialismus. Ebenso wenden sie sich gegen Trumps mangelnden Respekt für die Normen der "Demokratie", weil sie wissen, wie wichtig die demokratische Illusion für die Erhaltung der sozialen Ordnung ist.
Die Demokratische Partei war nie etwas anderes als die alternative Partei des US-Kapitalismus. Es stimmt, dass in letzter Zeit Gruppierungen wie die Demokratische Sozialistische Allianz und Verfechter des Grünen New Deal, Black Lives Matter und verschiedene Formen der Identitätspolitik in oder um die offizielle Partei herum gewachsen sind. Aber diese "radikale Linke" bietet nur eine linkere Version des staatlich gelenkten Kapitalismus, an dem alle Fraktionen der herrschenden Klasse - einschließlich der Rechten und der Fanatiker des freien Unternehmertums - in einer von Krise und Krieg verwüsteten Welt festhalten müssen. Diese „linke“ Politik stellt die Existenz des Nationalstaates, die Produktion für den Profit, das Lohnsystem - die das Wesen des Kapitalismus und die Quelle seiner unlösbaren Widersprüche sind - natürlich nicht in Frage.
Kein kapitalistischer Politiker und keine kapitalistische Partei kann einen Ausweg aus der Krise ihres Systems anbieten. Die Zukunft der Welt liegt in den Händen der Klasse, die alles produziert, was wir zum Leben brauchen, die in jedem Land vom Kapital ausgebeutet wird und die überall die gleichen Interessen hat: sich zur Verteidigung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen zusammenzuschließen, die Selbstorganisation und das Bewusstsein zu entwickeln, die notwendig sind, um dem kapitalistischen System entgegenzutreten und seine eigene historische Lösung vorzuschlagen: den authentischen Sozialismus oder, wie Marx es lieber nannte, den Kommunismus, in dem die Menschheit endlich frei von Staat, Grenzen und Lohnsklaverei sein wird.
Dies mag als eine sehr ferne Perspektive erscheinen. In ihrer täglichen Existenz ist die Arbeiterklasse auf tausend verschiedene Arten gespalten: im Wettbewerb um Arbeitsplätze, durch nationale Grenzen, durch Geschlecht und durch "Rasse", vor allem in einem Land wie den USA mit ihrem giftigen Erbe der Sklaverei und des Rassismus.
Aber die Arbeiterklasse ist auch die Klasse der Assoziation, die gezwungen ist, kollektiv zu arbeiten und sich kollektiv zu verteidigen. Wenn sie ihr Haupt erhebt, neigt sie dazu, die Spaltungen in ihren Reihen zu überwinden, weil sie keine Wahl hat, wenn sie eine Niederlage vermeiden will. Rassismus und Nationalismus sind vielleicht die wirksamsten Mittel, um Arbeiter zu spalten, aber sie können und müssen überwunden werden, wenn der Klassenkampf vorankommen soll. Als die Covid-19 Pandemie zum ersten Mal zuschlug, reagierten US-Arbeiter darauf, dass sie gezwungen wurden, ohne Schutz in Autofabriken, Krankenhäusern, Supermärkten oder Lagerhäusern zu arbeiten.
Und jeder Arbeiter, ob "weiß", "schwarz", "Latino" oder andere, beteiligte sich Schulter an Schulter an den Streikposten.
Solche Momente der Einheit laufen den "klassischen" Ausdrucksformen der Rassentrennung zuwider - der weißen Vorherrschaft und den faschistischen Bewegungen, die aus dem verrottenden Körper des Kapitalismus sickern. Aber sie gehen auch in eine andere Richtung als die Black Lives Matter- Mobilisierungen, die die Rasse über die Klasse stellen und die von den Demokraten, von großen Firmen wie McDonalds oder Apple, von den Gewerkschaften, d.h. von einem bedeutenden Teil des Staates selbst völlig instrumentalisiert worden sind. Rassenkämpfe können nicht zur Vereinigung der Arbeiterklasse führen. Teile der herrschenden Klasse sind glücklich, "auf die Knie zu gehen" und der Black Lives Matter ihren Segen zu geben, weil sie wissen, dass sie dazu benutzt werden kann, die grundlegende Realität des Kapitalismus zu verbergen: der Kapitalismus erschafft eine Gesellschaft, die auf der Ausbeutung einer Klasse durch eine andere beruht.
Die Arbeiterklasse in den USA sieht sich im Vorfeld der Wahlen mit einem gewaltigen ideologischen Ansturm konfrontiert, bei dem Politiker und Medien-Superstars weit und breit verkünden, dass ihre einzige Hoffnung in der Wahl liegt. Dabei liegt die wirkliche Macht der Arbeiterklasse nicht in der Wahlkabine, sondern in ihrem Zusammenschluss als Klasse an den Arbeitsplätzen und auf der Straße. Sie ist auch mit der realen Gefahr konfrontiert, in gewalttätige Konflikte zwischen bewaffneten "Milizen" hineingezogen zu werden, wie wir bei einigen der jüngsten Black Lives Matter Protesten gesehen haben. Die amerikanische Gesellschaft ist mehr polarisiert und gespalten als je zuvor seit dem Vietnamkrieg, und die Gefahr eines "Bürgerkrieges" auf völlig bürgerlichem Terrain könnte sich nach der Wahl noch verschärfen, insbesondere wenn Trump sich weigert, das Ergebnis anzuerkennen, wie er neulich schon andeutete. Dies unterstreicht nur die Notwendigkeit für die Arbeiter, die Lockrufe der Rechten und Linken abzulehnen, die falschen Entscheidungen des demokratischen „Supermarktes“ zurückzuweisen und sich um ihre eigenen Klasseninteressen zu versammeln.
Amos 26.09.2020
[1] siehe: “Trump v ‘The Squad’: The Deterioration of the US Political Apparatus”; World Revolution no 384, Autumn 2019
Am 8. August 2020 und an den darauf folgenden Wochenenden gingen Tausende von britischen Gesundheitsfachkräften auf die Straßen der großen Städte, um wütend zu protestieren, gegen niedrige Löhne, hohe Studiengebühren, erhöhte Arbeitsbelastung, verlängerte Schichtzeiten, fehlende persönliche Schutzausrüstung gegen die Ausbreitung von Covid-19, systematische Unterfinanzierung und die Präsentation ihres "heldenhaften Opfers" durch die Regierung - als tödliche Last die sie fröhlich geschultert hätten.
In früheren Zeiten mögen solche Äußerungen kämpferischer Gruppen von Arbeitern, die versuchten, ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verteidigen, als Routine erschienen sein, "wie es sich gehört". Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Arbeiter und Arbeiterinnen in den letzten Jahrzehnten[1] (und insbesondere vor dem Hintergrund der von den Regierungen angesichts der Covid-Krise verlangten "nationalen Einheit") kleine Anzeichen ausdrücken, dass sie sich von einem globalen Rückschritt in Kampfbereitschaft und Bewusstsein erholen, sind diese Äußerungen des Klassenkampfes jedoch bemerkenswert.
Das Personal, das auf lokaler Ebene weitgehend von Krankenpflegepersonal, Pflegeheimangestellten und anderem Personal des Gesundheitssektors selbst organisiert war, aber von Gewerkschaftsausschüssen und der Labour Party nahe stehenden Gruppen koordiniert und eingepfercht wurde, sprach auf Dutzenden von Demonstrationen, darunter in Leeds, Liverpool, Manchester und Glasgow, vom Stress, der durch den Tod von Kollegen und Patienten verursacht wurde. Zu diesem Zeitpunkt waren über 540 Mitarbeiter des Gesundheitswesens infolge Covid-19 gestorben. Sie sprachen von der Ungewissheit, ob sie selbst infiziert sind oder Krankheiten auf ihre Familien übertragen. Auch sprachen sie vom Überlebenskampf mit Ausbildungsschulden von bis zu 60.000 oder sogar 90.000 Pfund, und dem Zwang, von Löhnen zu leben die in vielen Fällen in den letzten zehn Jahren um 20% gesunken waren, dies trotz Streiks von 50.000 Ärzten in Ausbildung im Jahr 2016 und einer dreijährigen Lohnvereinbarung für andere Mitarbeiter im Jahr 2018.
Vor allem aber sind sie wütend darüber, dass sie von den „Lohnzulagen" ausgeschlossen wurden, welche die Regierung im Juli 2020 etwa 900.000 „wichtigen" Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, darunter Angehörige der Streitkräfte, Beamte, Teile der Justiz und leitende Ärzte, für ihren Anteil am „Kampf" gegen Covid gewährte, wobei das Krankenpflegepersonal jedoch ignoriert wurde! Wir werden auf diesen Aspekt weiter unten zurückkommen.
Der spontane Charakter der Proteste - die Tatsache, dass die Beschäftigten nicht darauf warteten, dass "ihre" Gewerkschaften der offensichtlichen Wut Ausdruck verliehen - wurde durch Proteste mit weitgehend selbstgemachten Plakaten untermauert, mit Aussagen wie: "Helden mit 0% Belohnung", "Mit klatschen bezahlt man keine Rechnungen", "Faire Löhne im NHS - ihr schuldet uns was", "Kürzungen heilen nicht", "Hört auf zu klatschen und fangt an zu reden" und "Eine Krankenschwester schuftet ihr Leben lang, nicht nur bei Covid19". Die Proteste (100 Beschäftigte in Cambridge, 100 in Bournemouth, 2000 in London und an vielen Orten im ganzen Land) zogen vor allem junge Beschäftigte an, die noch nie zuvor demonstriert oder an einem proletarischen Kampf teilgenommen hatten, zusammen mit älteren KollegenInnen, die bald in Rente gehen, und sich mit Kollegen, die zunehmend unerträglichem Druck ausgesetzt werden solidarisieren wollten. Um Unterstützung zu erhalten hatten sie auch soziale Medien benutzt, wie Facebook-Gruppen von Gesundheitspersonal mit den Namen NHS-Mitarbeiter sagen NEIN zur Lohnungleichheit im öffentlichen Sektor, bei denen 80.000 Facebook-Mitglieder registriert sein sollen, oder NHS Pay 15, das eine Lohnerhöhung von 15% fordert (ein Aufruf, der bei einer Demonstration von Beschäftigten aus den Krankenhäusern Guy's und St. Thomas in London am 26. August Widerhall fand), sowie Nurses United UK. Es fiel auf, dass Gewerkschaftsfahnen weitgehend fehlten, obwohl es nicht an "radikalen" politischen Gruppen mangelte, die dafür eintraten, dass die Demonstranten fordern sollten, dass die Gewerkschaften "entschlossener kämpfen". Solche Ideen werden wahrscheinlich ein Echo finden, denn soweit wir wissen, hat keine der Ad-hoc-Gruppen die Gewerkschaften oder die Gewerkschaftsbewegung direkt infrage gestellt.
Monatelang wurde Gesundheitsfachkräften vorgegaukelt, sie seien Teil einer "nationalen Anstrengung" (einschließlich Armeeeinheiten und der Rekrutierung von Tausenden von "Freiwilligen" in einer Zeit zunehmender "Null-Stunden"-Verträge und des Gespenstes der Massenarbeitslosigkeit!) und sie hätten ihr Leben an der "Frontlinie" des "Krieges gegen Covid" einzusetzen und dafür "alles zu geben". Dazu gehören scheinbar endlose Überstunden, der Verzicht auf Urlaub, und Anweisungen zur Schutzausrüstung die sich von Tag zu Tag änderten. So zeigten die wütenden Demonstrationen, wenn auch in kleinem und begrenztem Umfang, einen echten Widerstand gegen den Druck des Staates, länger und für weniger Entgelt, "für das nationale Wohl" zu arbeiten. Die Demonstrationen schwächten den Versuch des Staates, den "Geist der Kriegszeit" herauf zu beschwören, der darin besteht, dass "wir alle im gleichen Boot sitzen". Damit spiegelten sie die Kämpfe von Millionen anderer Menschen auf der ganzen Welt wieder, die auch versuchten, sich kollektiv gegen die zunehmende Ausbeutung - und oft auch Repression - zu wehren, welche vom Kapital gefordert wird. Hier einige Beispiele:
- Auf dem afrikanischen Kontinent wurde von Streiks von Gesundheitspersonal in Kenia, Ägypten, Simbabwe, Nigeria, Ghana und Sierra Leone berichtet, und von Protesten in Lesotho und Malawi. "In Südafrika gab es bei weitem die meisten Streiks und Arbeitsniederlegungen, wo die Regierung plant, die Löhne der Krankenschwestern als Teil eines umfassenderen Plans zur Senkung der Lohnsumme im öffentlichen Sektor zu kürzen, bevor sie sich an den IWF wendet, um ein Darlehen zu erhalten.[2] Streikenden Krankenschwestern wurden "Disziplinarmaßnahmen" angedroht, wobei einige durch Gummigeschosse und Betäubungsgranaten verletzt ins Krankenhaus eingeliefert wurden.
- In Indien protestierten im Juni und Juli Mitarbeiter von zwei Krankenhäusern in der Hauptstadt Delhi gegen das Fehlen von Schutzausrüstung und die Entlassung von 84 Kollegen, weil diese Sicherheitsbedenken geäußert hatten. Dies war der Auftakt zu einem zweitägigen landesweiten Streik im August, an dem schätzungsweise 3,5 Millionen Beschäftigte aus verschiedenen Wirtschaftssektoren teilnahmen, angeführt von etwa 600.000 Mitgliedern der Accredited Social Health Activists, "Arbeiterinnen, die in ländliche Gebiete mit niedrigem Einkommen herumreisen, um dort die medizinische Grundversorgung zu gewährleisten".[3]
- In Kalifornien "sind die Einnahmen der Krankenhäuser seit Beginn der Pandemie um mehr als ein Drittel zurückgegangen, und die Verluste haben das Gesundheitspersonal gezwungen, Lohnkürzungen oder sogar gestrichene Urlaubstage in Kauf zu nehmen (...)". (San Francisco Chronicle, 20. Juli). Ein Streik von 700 Beschäftigten des Gesundheitswesens im Santa Rosa Memorial Hospital, die gegen eine unzureichende Versorgung mit Schutzausrüstung, Leistungskürzungen und "unsichere Personalausstattung" protestierten, war nur eine von verschiedenen regionalen Reaktionen.
In der Tat: "In mindestens 31 der von Amnesty International untersuchten Länder, lieferten Nachforschungen und Berichte über Streiks, Streikdrohungen oder Proteste von Beschäftigten des Gesundheitswesens und von Beschäftigten in lebenswichtigen Bereichen, als Folge unsicherer Arbeitsbedingungen. In vielen Ländern wurden solche Aktionen von den Behörden mit Repressalien beantwortet.“[4]
- In Russland wurden Ärzte, die sich über den Mangel an Schutzausrüstung beschwerten, nach dem Gesetz über "Gefälschte Nachrichten" angeklagt und mussten mit Geldstrafen und/oder Entlassung rechnen.
- In Malaysia "löste die Polizei einen friedlichen Streikposten gegen ein Krankenhaus-Reinigungsunternehmen auf (…) und klagte fünf Beschäftigte des Gesundheitswesens wegen "unbefugter Versammlung" an“.
- In Ägypten wurden "neun Beschäftigte des Gesundheitswesens (...) zwischen März und Juni willkürlich unter vagen und weit gefassten Vorwürfen der 'Verbreitung falscher Nachrichten' und des 'Terrorismus' festgenommen.“
Aber offene Repressalien und Repression sind nicht das Hauptmittel, das die herrschende Klasse benutzt, um der Arbeiterklasse ihren "Ausnahmezustand" aufzuzwingen. In den alten Zentren des Kapitalismus - va. in Europa und den USA - ist die allgemeine Tendenz ein politisches Spiel des Teilens und Herrschens, welches auf die eine oder andere Weise darauf abzielt, die Beschäftigten im Gesundheitswesen zu einem "Sonderfall" zu machen, Spaltungen unter ihnen zu säen und sie von ihren Klassenbrüdern und -schwestern in anderen Branchen zu trennen.
- In Belgien sah der "Emergency Powers Decree Nr. 14" vor, private und staatliche Gesundheits- und andere Angestellte zu unbezahlten Überstunden ohne Freizeitausgleich zu zwingen. Diese Klauseln wurden nach dem Widerstand verärgerter Beschäftigter fallen gelassen, aber es waren dann die Gewerkschaften, die ihre eigene Position stärken wollten, indem sie den Kampf übernahmen und mit Streiks drohten die nie zustande kamen, während sich alle anderen Arbeitsbedingungen weiter verschlechterten.
- In Frankreich trennt der kürzlich propagierte Plan des "Ségur de la Santé" zur "Belohnung" der Beschäftigten im Gesundheitssektor privates von öffentlichem Personal, sieht eine Verringerung der Ruhezeiten zwischen den Schichten vor und ist ein weiterer Schritt zum Abbau der vom Staat übernommenen Verantwortung für die Gesundheitsversorgung.[5]
- In Großbritannien war die oben erwähnte Gehaltserhöhung ein offensichtlicher Schlag ins Gesicht für Krankenschwestern und Krankenpfleger, sie hatte dazu die beabsichtigte Wirkung, Assistenz- von Oberärzten und Krankenschwestern und Krankenpfleger von anderen Beschäftigten des öffentlichen Sektors zu trennen.
Die Tendenz, den Gesundheitssektor als das A und O des Kampfes zu betrachten (der Fluch des Korporatismus (Berufsegoismus), der die Bergarbeiter- und Stahlarbeiterstreiks in Großbritannien in den 1980er Jahren lähmte) ist eine echte Schwäche, die bei den Protesten im August in Großbritannien zum Ausdruck kam, auch wenn bei einem Treffen der Ruf laut wurde: "Auch die Feuerwehrleute verdienen eine Lohnerhöhung". Es gibt auch die Tendenz, alleine der Tory-Partei die Schuld an der "Privatisierung des Gesundheitswesens" zuzuschieben, obwohl in der Tat alle Parteien überall seit Jahrzehnten die Gesundheitsdienste auf ein Minimum reduziert haben. Es war die Ausweitung der privaten Finanzinitiative durch die letzte Labour-Regierung, die das NHS „zum Verkauf" stellte und die Bedingungen für die Beschäftigten untergrub.
Die Kampfbereitschaft die während des Sommers in Großbritannien[6] und in anderen Ländern an den Tag gelegt wurde, steht in deutlichem Gegensatz zur vorherrschenden Atmosphäre der Angst und Unsicherheit, die durch die Covid-Krise und die darauf folgenden Massenentlassungen und Schließungen erzeugt wurde, Faktoren die den vorher bestehenden Mangel an Vertrauen in die Klasse verstärken. Die Mobilisierungen waren eine willkommene Erinnerung daran, dass die Arbeiterklasse weder durch Erschöpfung noch von den Sirenengesängen der Selbstaufopferung erdrückt worden ist. Die notwendige Politisierung dieses Kampfes - die Anerkennung dessen, was die Arbeiterklasse historisch gesehen ist und was sie werden kann und muss - muss sich das Proletariat wieder aneignen.
RF, 10.9.2020
[1] Siehe "Bericht über den Klassenkampf": Bildung, Verlust und Rückeroberung der proletarischen Klassenidentität" https://en.internationalism.org/content/16707/report-class-struggle-form... [62]
[2] World Socialist Website, 7. Juli 2020, https://www.wsws.org/en/articles/2020/07/17/afri-j17.html [148]
[3] Worker`s World, 13. August https://www.workers.org/2020/08/50567/ [149]
[5] Siehe Révolution Internationale, https://fr.internationalism.org/content/10227/segur-sante-nouveau-coup-p... [151]
[6] Weitere Sektoren, die im Frühjahr und Sommer im Kampf standen, waren Universitätsdozenten. Es gab auch erbitterte Proteste von British Airways-Mitarbeitern, bei denen Tausende entlassen und andere zu niedrigeren Löhnen und schlechteren Bedingungen wieder eingestellt wurden. Weitere Informationen über die Streiks und den Widerstand der Arbeiter zu Beginn der Pandemie findet man unter Despite All Obstacles the Class Struggle Forges Its Future, https://en.internationalism.org/content/16855/covid-19-despite-all-obsta... [110]
Die Katastrophe geht weiter und verschlimmert sich: Offiziell gibt es weltweit 36 Millionen Infizierte und über eine Million Tote[1]. Nachdem weltweit die verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie rücksichtslos präventive Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus eingeführt und dann eine brutale Schließung weiter Wirtschaftszweige durchgesetzt hatten, setzten sie in der Folge auf eine wirtschaftliche Erholung auf Kosten einer noch größeren Zahl von Opfern. Dies indem sie die Gesellschaft wieder öffneten, während die Pandemie in einigen Ländern nur vorübergehend abgeklungen war. Angesichts des herannahenden Winters wird deutlich, dass sich dieses Wagnis nicht ausgezahlt hat, was zumindest mittelfristig eine Verschlechterung sowohl in wirtschaftlicher als auch in medizinischer Hinsicht bedeutet. Die Last dieser Katastrophe ist auf die Schultern der internationalen Arbeiterklasse gefallen.
Bis jetzt besteht eine der Schwierigkeiten, die Tatsache anzuerkennen, dass der Kapitalismus in die letzte Phase seines historischen Niedergangs - des gesellschaftlichen Zerfalls - eingetreten ist, darin, dass diese gegenwärtige Epoche, die durch den Zusammenbruch des Ostblocks 1989 endgültig eröffnet wurde, oberflächlich als eine Vermehrung von Symptomen ohne offensichtlichen Zusammenhang erschienen war. Dies im Gegensatz zu früheren Perioden kapitalistischer Dekadenz, die von so offensichtlichen Meilensteinen wie dem Weltkrieg oder der proletarischen Revolution definiert und beherrscht wurden[2]. Aber jetzt, im Jahr 2020, ist die Covid-Pandemie, die bedeutendste Krise der Weltgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg, zu einem unverkennbaren Kennzeichen dieser gesamten Periode des Zerfalls geworden, indem sie eine Reihe von Faktoren des Chaos zusammenführt, die die allgemeine Verwesung des kapitalistischen Systems bedeuten. Dazu gehören:
Covid-19 hat so die Auswirkungen des Zerfalls auf alle grundlegenden Bereiche der kapitalistischen Gesellschaft - ökonomisch, imperialistisch, politisch, ideologisch und sozial - deutlicher als zuvor zusammengeführt.
Die gegenwärtige Situation hat auch die Bedeutung einer Reihe von Phänomenen verdrängt, die der Analyse widersprechen sollten, dass der Kapitalismus in eine Endphase des Chaos und des gesellschaftlichen Zerfalls eingetreten ist. Diese Phänomene, so behaupteten unsere Kritiker, bewiesen, dass unsere Analyse "in Frage gestellt" oder einfach ignoriert werden sollte. Insbesondere die erstaunlichen Wachstumsraten der chinesischen Wirtschaft erschienen unseren kritischen Kommentatoren vor einigen Jahren als eine Widerlegung der Behauptung, dass es eine Periode des Zerfalls und sogar der Dekadenz gibt. In Wirklichkeit waren diese Beobachter vom "Duft der Modernität", den das chinesische Industriewachstum ausströmte, hingerissen worden. Heute, als Folge der Covid-Pandemie, hat die chinesische Wirtschaft nicht nur stagniert, sondern auch eine chronische Rückständigkeit offenbart, die den weniger angenehmen Duft von Unterentwicklung und Verfall verströmt.
Die Perspektive der IKS aus dem Jahr 1989, dass der Weltkapitalismus in eine letzte Phase der inneren Auflösung eingetreten sei, die auf der marxistischen Methode der Analyse der zugrundeliegenden globalen und langfristigen Trends basierte, anstatt nach vorübergehenden Neuerungen zu rennen oder an überholten Formeln festzuhalten, hat sich eindrucksvoll bestätigt.
Die gegenwärtige gesundheitliche Katastrophe offenbart vor allem einen zunehmenden Kontrollverlust der Kapitalistenklasse über ihr System und ihren zunehmenden Perspektivenverlust für die menschliche Gesellschaft als Ganzes. Der zunehmende Verlust der Beherrschung der Mittel, die die Bourgeoisie bisher entwickelt hat, um die Auswirkungen des historischen Niedergangs ihrer Produktionsweise einzudämmen und zu kanalisieren, ist greifbarer geworden.
Darüber hinaus zeigt die gegenwärtige Situation, in welchem Maße die Kapitalistenklasse nicht nur weniger in der Lage ist, ein wachsendes soziales Chaos zu verhindern, sondern auch den Zerfall, den sie früher in Schach hielt, mehr und mehr vorantreibt.
Um besser verstehen zu können, warum die Covid-Pandemie ein Kennzeichen für die Periode des Zerfalls des Kapitalismus darstellt, müssen wir sehen, warum es in früheren Epochen nicht so verlaufen konnte, wie es heute der Fall ist.
Pandemien waren natürlich in früheren Gesellschaftsformationen bekannt und hatten eine verheerende und beschleunigende Wirkung auf den Niedergang früherer Klassengesellschaften, wie die Justinianische Pest am Ende der alten Sklavengesellschaft oder der Schwarze Tod, d.h. die Pest am Ende der feudalen Leibeigenschaft. Aber die feudale Dekadenz kannte keine Periode des Zerfalls, weil sich innerhalb und neben der alten bereits eine neue Produktionsweise (den Kapitalismus) herausbildete. Die Verwüstung durch die Pest beschleunigte sogar die frühe Entwicklung der Bourgeoisie.
Die Dekadenz des Kapitalismus, des dynamischsten Systems der Ausbeutung der Arbeit in der Geschichte, erfasst notwendigerweise die gesamte Gesellschaft und verhindert, dass sich in ihr eine neue Produktionsform herausbildet. Aus diesem Grund ist der Kapitalismus in Ermangelung eines erneuten Weges zum Weltkrieg und des Wiederauflebens der proletarischen Alternative in eine Periode der "Ultra-Dekadenz" eingetreten, wie es die Thesen über den Zerfall der IKS ausdrücken[4]. Die gegenwärtige Pandemie wird also keineswegs einer Wiederbelebung der Produktivkräfte der Menschheit innerhalb der bestehenden Gesellschaft weichen, sondern zwingt uns stattdessen dazu, die Unumgänglichkeit des Zusammenbruchs der menschlichen Gesellschaft als Ganzes zu erahnen, solange der Weltkapitalismus nicht in seiner Gesamtheit gestürzt wird. Der Rückgriff auf die mittelalterlichen Methoden der Quarantäne als Antwort auf Covid, obwohl der Kapitalismus die wissenschaftlichen, technologischen und sozialen Mittel entwickelt hat, um den Ausbruch von Seuchen zu verstehen, ihnen vorzubeugen und sie einzudämmen (aber nicht in der Lage ist, sie einzusetzen), zeugt von der Sackgasse einer Gesellschaft, die "vom Boden her verrottet" und zunehmend unfähig ist, die Produktivkräfte, die sie in Bewegung gesetzt hat, zu nutzen.
Die Geschichte der sozialen Auswirkungen von Infektionskrankheiten im Leben des Kapitalismus gibt uns einen weiteren Einblick in die Unterscheidung, die zwischen der Dekadenz eines Systems und der spezifischen Periode des Zerfalls innerhalb seiner Periode des Niedergangs, die 1914 begann, getroffen werden muss. Der Aufstieg des Kapitalismus und selbst während des größten Teils seiner Dekadenz zeigt in der Tat eine zunehmende Beherrschung der medizinischen Wissenschaft und der öffentlichen Gesundheit über Infektionskrankheiten, insbesondere in den fortgeschrittenen Ländern. Die Förderung der öffentlichen Hygiene und sanitären Einrichtungen, die Überwindung der Windpocken und der Kinderlähmung und der Rückzug der Malaria zum Beispiel ist ein Beweis für diesen Fortschritt. Nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich wurden nicht übertragbare Krankheiten zu den vorherrschenden Gründen für den vorzeitigen Tod in den Kernländern des Kapitalismus. Wir sollten nicht glauben, dass diese Verbesserung der Fähigkeiten der Epidemiologie zum Schutz der Menschen stattgefunden hat, wie es die Bourgeoisie behauptet. Das vorrangige Ziel war die Schaffung eines stabilen Umfelds für die Intensivierung der Ausbeutung, die von der permanenten Krise des Kapitalismus gefordert wird, und vor allem für die Vorbereitung und letztendliche Mobilisierung der Bevölkerung für die militärischen Interessen der imperialistischen Blöcke.
Seit den 1980er Jahren begann sich der positive Trend gegen ansteckende Krankheiten umzukehren. Neue oder sich entwickelnde Krankheitserreger begannen aufzutauchen, wie HIV, Zikah, Ebola, SARS, Mers, Nipah, N5N1, Dengue-Fieber usw. Besiegte Krankheiten wurden resistenter gegen Arzneimittel. Diese Entwicklung, insbesondere von sogenannten zoonotischen Viren, hängt mit dem städtischen Wachstum in den peripheren Regionen des Kapitalismus zusammen - insbesondere mit den Massenslums, die für 40% dieses Wachstums verantwortlich sind - sowie mit der Entwaldung und dem zunehmenden Klimawandel. Während die Epidemiologie in der Lage war, diese Viren zu verstehen und zu verfolgen, hat die staatliche Umsetzung von Gegenmaßnahmen mit der Bedrohung nicht Schritt gehalten. Die unzureichende und chaotische Reaktion der Bourgeoisien auf Covid-19 ist eine eindrucksvolle Bestätigung für die wachsende Vernachlässigung des kapitalistischen Staates gegenüber dem Wiederaufleben von Infektionskrankheiten und der öffentlichen Gesundheit und damit für eine Missachtung der Bedeutung des Sozialsystems auf der grundlegendsten Ebene. Diese Entwicklung wachsender sozialer Inkompetenz des bürgerlichen Staates ist mit jahrzehntelangen Kürzungen der "Sozialausgaben", insbesondere der Gesundheitsdienste, verbunden. Die wachsende Missachtung der öffentlichen Gesundheit lässt sich jedoch nur im Rahmen der Phase des Zerfalls vollständig erklären, die unverantwortliche und kurzfristige Reaktionen großer Teile der herrschenden Klasse fördert.
Die Schlussfolgerungen, die aus dieser Umkehrung des Fortschritts bei der Kontrolle von Infektionskrankheiten in den letzten Jahrzehnten zu ziehen sind, sind unausweichlich: Es ist ein Beispiel für den Übergang des dekadenten Kapitalismus in eine letzte Periode des Zerfalls.
Jene Erklärungen, die diesen Wandel nicht berücksichtigen, wie zum Beispiel die der Internationalen Kommunistischen Tendenz (https://www.leftcom.org/de [152]), bleiben bei der Binsenweisheit, dass das Profitmotiv für die Pandemie verantwortlich ist. Für sie bleiben die spezifischen Umstände, der Zeitpunkt und das Ausmaß des Desasters ein Rätsel.
Ebenso wenig lässt sich die Reaktion der Bourgeoisie auf die Pandemie mit einem Rückfall in das Schema der Zeit des Kalten Krieges erklären, als ob die imperialistischen Mächte sich mit dem Covid-Virus für imperialistische militärische Zwecke "bewaffnet" hätten und die Massenquarantänen in dieser Hinsicht eine Mobilisierung der Bevölkerung darstellen. Diese Erklärung vergisst, dass die imperialistischen Hauptmächte nicht mehr in rivalisierenden imperialistischen Blöcken organisiert sind und nicht die Hände frei haben, um die Bevölkerung hinter ihren Kriegszielen zu mobilisieren. Dies hängt mit der Pattsituation zwischen den beiden Hauptklassen zusammen (die Bourgeoisie und das Proletariat), die ein wichtiges Merkmal der Periode des Zerfalls war.
Im Allgemeinen sind es nicht Viren, sondern Impfstoffe, die den militärischen Ambitionen des imperialistischen Blocks zugute kommen[5]. Die Bourgeoisie hat in dieser Hinsicht die Lehren aus der Spanischen Grippe von 1918 gezogen. Unkontrollierte Infektionen stellen eine massive Belastung für das Militär dar, wie die Stilllegung mehrerer US-Flugzeugträger und eines französischen Flugzeugträgers durch Covid-19 gezeigt hat. Im Gegensatz dazu war die strikte Kontrolle tödlicher Krankheitserreger schon immer eine Voraussetzung für die biologische Kriegsführung jeder imperialistischen Macht.
Das soll nicht heißen, dass die imperialistischen Mächte die Gesundheitskrise nicht genutzt hätten, um ihre Interessen auf Kosten ihrer Rivalen weiter voranzutreiben. Aber diese Bemühungen haben im Großen und Ganzen gezeigt, dass das von den USA hinterlassene Vakuum des imperialistischen leaderships zunimmt, ohne dass irgendeine andere Macht, einschließlich China, in der Lage wäre, diese Rolle zu übernehmen oder einen alternativen Bezugsspol zu schaffen. Das Chaos auf der Ebene der imperialistischen Konflikte ist durch die Covid-Katastrophe bekräftigt worden.
Die Massenquarantäne durch die imperialistischen Staaten stellt heute, trotz der größeren Präsenz des Militärs im täglichen Leben und der Anwendung kriegerischer Appelle durch die Staaten, eine Demobilisierung der Bevölkerung dar, die durch die Furcht des Staates vor der drohenden Gefahr sozialer Unordnung in einer Zeit motiviert ist, in der die Arbeiterklasse zwar ‚stillsteht‘, aber weiterhin ungeschlagen ist.
Die grundsätzliche Tendenz zur Selbstzerstörung, die allen Perioden der kapitalistischen Dekadenz gemeinsam ist, hat ihre dominante Form in der Periode des Zerfalls vom Weltkrieg in ein Weltchaos verwandelt, das die Bedrohung des Kapitalismus für die Gesellschaft und die Menschheit in ihrer Gesamtheit nur noch verstärkt.
Der Kontrollverlust der Bourgeoisie, der die Pandemie gekennzeichnet hat, wird anhand des Verhaltens des Staates deutlich. Was sagt dieses Desaster über den Staatskapitalismus in der Periode des Zerfalls aus?
Um diese Frage besser zu verstehen, erinnern wir an die Beobachtung der IKS Broschüre „Die Dekadenz des Kapitalismus“ über die "Umwälzung des Überbaus", dass die wachsende Bedeutung der Rolle des Staates in der Gesellschaft ein Merkmal der Dekadenz aller Produktionsweisen ist. Die Entwicklung des Staatskapitalismus ist der extreme Ausdruck dieses allgemeinen historischen Phänomens.
Wie die GCF[6] 1952 festgestellt hat, ist der Staatskapitalismus keine Lösung für die Widersprüche des Kapitalismus, auch wenn er deren Auswirkungen verzögern kann, sondern er ist Ausdruck dieser Widersprüche. Die Fähigkeit des Staates, eine zerfallende Gesellschaft zusammenzuhalten, so eindringlich sie auch sein mag, ist daher dazu bestimmt, im Laufe der Zeit nachzulassen und letztlich zu einem erschwerenden Faktor genau der Widersprüche zu werden, die er einzudämmen versucht. Der Zerfall des Kapitalismus ist die Periode, in der ein wachsender Kontrollverlust der herrschenden Klasse und ihres Staates zum dominierenden Trend der gesellschaftlichen Entwicklung wird, was Covid so dramatisch offenbart.
Es wäre jedoch falsch, sich vorzustellen, dass sich dieser Kontrollverlust auf allen Ebenen des staatlichen Handelns einheitlich entwickelt oder dass er alle Nationalstaaten gleichermaßen trifft oder nur ein kurzfristiges Phänomen darstellt.
Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der daraus resultierenden Auflösung des westlichen Blocks haben militärische Strukturen wie die NATO tendenziell ihren Zusammenhalt verloren, wie die Erfahrungen der Balkan- und Golfkriege gezeigt haben. Die Auflösungserscheinungen auf militärischer und strategischer Ebene gingen unweigerlich mit dem - unterschiedlich schnellen - Machtverlust aller zwischenstaatlichen Organisationen einher, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Ägide des US-Imperialismus eingerichtet wurden, wie z.B. die Weltgesundheitsorganisation WHO und die UNESCO auf sozialer Ebene, die EU (in ihrer früheren Gestalt), die Weltbank, der IWF, die Welthandelsorganisation auf wirtschaftlicher Ebene. Diese Agenturen waren dazu bestimmt, die Stabilität und die "sanfte Macht" des westlichen Blocks unter der Führung der USA aufrechtzuerhalten.
Der Prozess der Auflösung und Schwächung dieser zwischenstaatlichen Organisationen hat sich mit der Wahl des US-Präsidenten Trump im Jahr 2016 besonders verschärft.
Die relative Ohnmacht der WHO während der Pandemie ist in dieser Hinsicht vielsagend und hängt damit zusammen, dass jeder Staat sein eigenes chaotisches Spiel mit den uns bekannten tödlichen Ergebnissen spielt. Der "Krieg der Masken" und nun der kommende Krieg der Impfstoffe, der vorgeschlagene Rückzug der USA aus der WHO, der Versuch Chinas, diese Institution zu seinem eigenen Vorteil zu manipulieren, bedarf kaum eines Kommentars.
Die Ohnmacht der zwischenstaatlichen Gremien und das daraus resultierende "Jeder für sich" unter den konkurrierenden Nationalstaaten hat dazu beigetragen, die pathogene Bedrohung in eine globale Katastrophe zu verwandeln.
Auf der Ebene der Weltwirtschaft ist es den Bourgeoisien - trotz der Beschleunigung des Handelskrieges und der Tendenzen zur Regionalisierung – jedoch immer noch gelungen, wesentliche Maßnahmen zu koordinieren, wie z.B. die Aktion der Federal Reserve Bank zur weltweiten Sicherung der Dollar-Liquidität im März zu Beginn des Wirtschaftsabschwungs. Deutschland beschloss nach anfänglichem Zögern, gemeinsam mit Frankreich zu versuchen, ein wirtschaftliches Rettungspaket für die Europäische Union als Ganzes zu koordinieren.
Aber wenn es der internationalen Bourgeoisie immer noch gelingt, einen völligen Zusammenbruch wichtiger Teile der Weltwirtschaft zu verhindern, so hat sie dennoch nicht den enormen langfristigen Schaden vermeiden können, der dem Wirtschaftswachstum und dem Welthandel durch die Abschaltung, die durch die verzögerte und verzerrte Reaktion auf Covid-19 notwendig wurde, zugefügt wurde. Im Vergleich mit der Reaktion der G7 auf den Finanzcrash 2008 zeigt die gegenwärtige Situation, dass die Fähigkeit der Bourgeoisie, Aktionen zur Verlangsamung der Wirtschaftskrise zu koordinieren, sich langfristig erschöpft.
Natürlich war die Tendenz "jeder für sich" schon immer ein Merkmal des Wettbewerbscharakters des Kapitalismus und seiner Aufspaltung in Nationalstaaten. Vielmehr ist es das Fehlen einer imperialistischen Blockdisziplin und einer imperialistischen Perspektive, die das Wiederaufleben dieser Tendenz in einer Zeit der wirtschaftlichen Sackgasse und des Niedergangs gefördert hat. Während zuvor ein gewisses Maß an internationaler Zusammenarbeit aufrechterhalten wurde, offenbart Covid-19 seine zunehmende Abwesenheit.
In den Thesen über den Zerfall unter Punkt 10 haben wir festgestellt, dass das Verschwinden der Perspektive eines Weltkriegs die Rivalitäten zwischen den Cliquen innerhalb der einzelnen Nationalstaaten sowie zwischen den Staaten selbst verschärft. Die Verwerfungen und die mangelnde Vorbereitung in Bezug auf Covid-19 auf internationaler Ebene haben sich in jedem Nationalstaat, insbesondere auf der Ebene der Exekutive, mehr oder weniger stark wiederholt: "Ein Hauptmerkmal des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft, das wir hervorheben sollten, ist die wachsende Schwierigkeit, die Entwicklung der politischen Lage zu kontrollieren". Punkt 9
Dies war einer der Hauptfaktoren für den Zusammenbruch des Ostblocks, der durch den abartigen Charakter des stalinistischen Regimes (ein Einparteienstaat, der die herrschende Klasse selbst definierte) noch verschlimmert wurde. Aber die den Konflikten im "Exekutivkomitee" der gesamten Bourgeoisie zugrunde liegenden Ursachen - chronische Wirtschaftskrise, Verlust der strategischen Perspektive und außenpolitische Fiaskos, Unzufriedenheit der Bevölkerung - treffen nun die fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten, was sich in der gegenwärtigen Krise nirgendwo deutlicher zeigt als in den großen Ländern, in denen populistische oder populistisch beeinflusste Regierungen, insbesondere die von Donald Trump und Boris Johnson, an die Macht gekommen sind. Die Konflikte in diesen großen Staaten klingen unweigerlich in den anderen Staaten nach, die im Moment eine rationalere Politik verfolgt haben.
Früher waren diese beiden Länder ein Symbol für die relative Stabilität und Überzeugungskraft des Weltkapitalismus; die jämmerliche „Performance“ ihrer Bourgeoisien heute zeigt, dass sie stattdessen zu Leuchttürmen der Irrationalität und Unordnung geworden sind.
Sowohl die US-Regierung als auch die britische Regierung haben, geleitet von nationalistischem Getöse, ihre Reaktionen auf das Covid-Desaster absichtlich ignoriert und verzögert und sogar die Bevölkerung dazu ermutigt, die Gefahr nicht zu respektieren; sie haben den Rat der wissenschaftlichen Behörden untergraben und öffnen jetzt die Wirtschaft, während das Virus noch wütet. Beide Regierungen haben am Vorabend der Covid-Krise die Pandemie-Task Forces aufgelöst.
Beide Regierungen zerschlagen auf unterschiedliche Weise absichtlich die etablierten Verfahren des demokratischen Staates und schaffen Zwietracht zwischen den verschiedenen staatlichen Stellen, wie Trumps Aufhebung des Militärprotokolls in seiner Antwort auf die Black Lives Matter-Proteste und betrügerische Manipulationen der Justiz oder Johnsons gegenwärtige Störung der Verfahren der Bürokratie.
Es ist wahr, in einer Zeit des ‚jeder für sich selbst‘ ist jeder Nationalstaat zwangsläufig seinen eigenen Weg gegangen. Doch die Staaten, die mehr ‚Intelligenz‘ als andere gezeigt haben, sehen sich auch mit wachsenden Spaltungen und Kontrollverlust konfrontiert.
Der Populismus bestätigt die Aussage unserer Thesen über den Zerfall, dass der altersschwache Kapitalismus in eine "zweite Kindheit" zurückkehrt. Die Ideologie des Populismus gibt vor, dass das System allein durch demagogische Phrasen und bestimmte störerische Initiativen zu einer jugendlichen Periode kapitalistischer Dynamik und weniger Bürokratie zurückkehren kann. Aber in Wirklichkeit erschöpft der dekadente Kapitalismus in der Phase des Zerfalls alle Linderungsmittel.
Während der Populismus an die fremdenfeindlichen und kleinbürgerlichen Illusionen einer unzufriedenen Bevölkerung appelliert, die durch das Ausbleiben eines proletarischen Wiederauflebens vorübergehend orientierungslos ist, wird aus der aktuellen Gesundheitskrise deutlich, dass sich das Programm des Populismus - oder Antiprogramm - innerhalb der Bourgeoisie und des Staates selbst entwickelt hat.
Es ist kein Zufall, dass die USA und Großbritannien von den entwickelteren Ländern die höchsten Opferzahlen der Pandemie zu verzeichnen haben.
Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Wirtschaftsorgane des Staates in den meisten entwickelten Ländern im Gegensatz dazu stabil geblieben sind und schnelle Notfallmaßnahmen ergriffen haben, um zu verhindern, dass ihre Volkswirtschaften in den freien Fall geraten und die Auswirkungen der Massenarbeitslosigkeit auf die Bevölkerung verzögert werden.
In der Tat sehen wir als Ergebnis der Maßnahmen der Zentralbanken, dass der Staat seine Rolle in der Wirtschaft stark ausgebaut hat. Zum Beispiel: "Morgan Stanley (die Investmentbank) stellt fest, dass die Zentralbanken der G4-Länder - USA, Japan, Europa und Großbritannien - ihre Bilanzen in diesem Zyklus gemeinsam um 28% der Bruttoinlandsproduktion ausweiten werden. Die entsprechende Zahl während der Finanzkrise 2008 betrug 7%". (Financial Times 27. Juni 2020)
Die Perspektive für die Entwicklung des Staatskapitalismus ist jedoch an der Wurzel ein Zeichen dafür, dass die Fähigkeit des Staates zur Eindämmung der Krise und des Zerfalls des Kapitalismus schwindet.
Das zunehmende Gewicht des Eingreifens des Staates in jeden Aspekt des gesellschaftlichen Lebens als Ganzes ist keine Lösung für den zunehmenden Zerfall des letzteren.
Es darf nicht vergessen werden, dass es innerhalb dieser Staaten einen starken Widerstand gegen den Vandalismus des Populismus durch die traditionellen liberalen Parteien oder wichtige Teile von ihnen gibt. In diesen Ländern bildet dieser Teil der Staatsbourgeoisie eine lautstarke Opposition, vor allem über die Medien, die neben der Verhöhnung populistischer Dummheiten der Bevölkerung die Hoffnung auf eine Rückkehr zu demokratischer Ordnung und Rationalität vermitteln können, auch wenn es heute nicht wirklich möglich ist, die Büchse der populistischen Pandora zu schließen.
Und wir können sicher sein, dass die Bourgeoisie in diesen Ländern das Proletariat keineswegs vergessen hat und zu gegebener Zeit in der Lage sein wird, all ihre einschlägigen Organe einzusetzen.
Unser Bericht über den Zerfall von 2017 hebt die Tatsache hervor, dass in den ersten Jahrzehnten nach dem Ausbruch der Wirtschaftskrise Ende der 1960er Jahre die reichsten Länder die Auswirkungen der Krise auf die Peripherie des Systems abwälzten, während in der Periode des Zerfalls die Tendenz in den Kerngebieten des Kapitalismus - wie die Ausbreitung des Terrorismus, der Massenansturm von Flüchtlingen und Migranten, die Massenarbeitslosigkeit, die Umweltzerstörung und nun tödliche Epidemien nach Europa und Amerika - tendenziell umkehrt oder wieder zunimmt. Die gegenwärtige Situation, in der das stärkste kapitalistische Land der Welt am meisten unter der Pandemie gelitten hat, ist eine Bestätigung dieser Tendenz.
Der Bericht bemerkte dies auch in vorausschauender Weise: "...wir waren der Ansicht, dass (der Zerfall) keinen wirklichen Einfluss auf die Entwicklung der Krise des Kapitalismus hatte. Wenn der gegenwärtige Aufstieg des Populismus dazu führen sollte, dass diese Strömung in einigen der wichtigsten europäischen Länder an die Macht kommt, wird sich eine solche Auswirkung des Zerfalls entwickeln".
Einer der wichtigsten Aspekte des gegenwärtigen Desasters ist, dass der Zerfall tatsächlich in verheerender Weise auf die Wirtschaft zurückgefallen ist. Und diese Erfahrung hat den Hang zum Populismus für ein weiteres wirtschaftliches Chaos nicht geschmälert, wie der anhaltende Wirtschaftskrieg der USA gegen China oder die Entschlossenheit der britischen Regierung, den selbstmörderischen und zerstörerischen Kurs von Brexit fortzusetzen, zeigen.
Der Zerfall des Überbaus nimmt seine "Rache" an den wirtschaftlichen Grundlagen des Kapitalismus, der ihn hervorgebracht hat.
"Wenn die Wirtschaft zittert, gerät der gesamte Überbau, der sich auf sie stützt, in Krise und Zerfall ....Anfänglich als Folgen eines Systems werden sie dann meist zu beschleunigenden Faktoren im Prozess des Niedergangs". (Dekadenz des Kapitalismus, Kapitel 1)
16. 7. 2020
[1]Stand 9. Oktober 2020
[2]Dieses Verständnisproblem wurde im Bericht über den Zerfall vom 22. IKS-Kongress 2017 benannt, Internationale Revue 56 https://de.internationalism.org/content/2926/bericht-ueber-den-zerfall-h... [153]
[3]Diese seit über fünf Jahrzehnten andauernde Wirtschaftskrise trat Ende der 1960er Jahre nach zwei Jahrzehnten blühenden Wachstums in der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg in den fortgeschrittenen Ländern auf. Die Verschärfung dieser Krise wurde durch bestimmte Rezessionen und Erholungen unterbrochen, welche die zugrunde liegende Sackgasse nicht gelöst haben.
[4]Der Zerfall: die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus, Mai 1990, auch Thesen über den Zerfall genannt, Internationale Revue Nr. 13
[5]Die antibiotischen Eigenschaften von Penicillin wurden 1928 entdeckt. Während des Zweiten Weltkriegs wurde das Medikament von den USA in Massenproduktion hergestellt, und 2,3 Millionen Dosen wurden für die D-Day-Landungen im Juni 1944 vorbereitet.
[6]Gauche Communiste de France – Vorläufer der IKS
Es gibt zur Zeit unter einem Teil von politisierten Leuten aber auch in anderen Kreisen der Bevölkerung eine „gedrückte Stimmung“ wegen der Auswirkungen der Pandemie auf verschiedenen Ebenen. Zum einen ist die Gefahr, die von dem Virus ausgeht, etwas Neues (seit der letzten großen Pandemie, der „Spanischen Grippe“ 1918-1919). Im Gegensatz zu früheren oder auch gegenwärtig bestehenden anderen Bedrohungen für die Bevölkerung und für die Arbeiterklasse insbesondere, z.B. Hunger, offene Wirtschaftskrise mit Massenarbeitslosigkeit, Krieg oder Naturkatastrophen gibt es in dieser Frage viele verwirrte und misstrauische Leute, die die Existenz des Virus und der Pandemie gar leugnen. Zudem bewirkt die durch die Pandemie erzwungene soziale Abstandspflicht, die unzähligen Auflagen, Einschränkungen und Verbote, Ausgangssperren usw. ein viel größeres und unmittelbares Gefühl der Atomisierung.
Weil jeder Träger des Virus sein kann, gerät jeder unter „Generalverdacht“ und es kann ein diffuses Gefühl des Misstrauens aufkommen. Oder wenn Menschen einem „zu nahe“ treten, muss man seine „Abwehrmechanismen“ unter Kontrolle halten, um freundlich und höflich zu reagieren und nicht in Aggressivität zu verfallen. Kurzum, die übliche Atomisierung in der kapitalistischen Gesellschaft, der gängige Individualismus, haben eine ganz neue Stufe erreicht. Angefacht durch die Zweifel und Vorbehalte bzw. offene Ablehnung, der von den Virologen und den Politikern geforderten Schutzmaßnahmen, haben sich viele von „Verschwörungstheorien“ vereinnahmen lassen, betreiben „Maskenverweigerung“ und kommen zu Kundgebungen mit allen möglichen anderen Leuten zusammen, einer idealen Einfallstür für Rechtsradikale aller Art.
All dies fördert eine Atmosphäre, wo die Politiker zu einem gemeinsamen sozialen Verantwortungsgefühl aufrufen und der Staat als unser Beschützer angesehen werden soll, und wir uns noch mehr hinter den üblichen bürgerlichen Kategorien verschanzen sollen. Die Bevölkerung, vor allem die Arbeiterklasse wird gewissermaßen „aufgelöst“, zersplittert in Bürger und Individuen. Und die „vernebelnden“, obskuren verschwörungstheoretischen Ansichten haben bei so manchem eine zusätzliche verstörende Wirkung. Kein Wunder, dass durch diese „Explosion der Atomisierung“ und politischen Desorientierung ein Gefühl der Machtlosigkeit, des politischen Trübsals um sich greifen kann. Man spürt keine soziale Kraft, die sich der ganzen Entwicklung entgegenstemmen könnte.
Deshalb ist es um so wichtiger, einen marxistischen Standpunkt aufzuzeigen. Unsere erste Aufgabe muss sein, möglichst Klarheit zu schaffen über die Ursachen. Wir haben dazu einen ausführlichen Artikel veröffentlicht – siehe den Bericht über die Covid-Pandemie und die Periode des kapitalistischen Zerfalls. Wir veröffentlichen in kürze ebenfalls einen Artikel mit einer Analyse der internationalen Wirtschaftskrise. In diesem Artikel wollen wir näher auf die Entwicklung in Deutschland eingehen.
Im Frühjahr 2020 setzte sich nach der Anfangsphase des Chaos auf staatlicher Ebene (sowohl auf Bundes- als auf Länderebene) zu Beginn der Pandemie schnell eine staatlich orchestrierte Politik des "Schutzes der Wirtschaft“ durch. Diese Politik des radikalen Herunterfahren der Wirtschaft wurde von der größten Koalition der herrschenden Klasse in Deutschland "gesteuert". Denn in einer Art "Einheitsfront" aller Regierungsparteien (Bund und Länder) zusammen mit den Unternehmerverbänden und den Gewerkschaften, die in strategischen Wirtschaftssektoren alle Hebel mit in Bewegung gesetzt haben, wurde der Lock-down relativ schnell und flächendeckend durchgesetzt.[1] Diese Effizienz auf Wirtschaftsebene stand nahezu im Gegensatz zu dem damals schon ersichtlichen aufkommenden Chaos auf politischer Ebene. Das Ganze wurde verschlimmert durch die föderalistische Struktur des deutschen Staates, wo Länder und Gemeinden bestimmte Dinge selbst entscheiden können und auch die Schulen eine eigene Entscheidungskompetenz haben. Aber dieses Durcheinander konnte schnell eingedämmt werden. Deutschland schnitt in dieser ersten Phase der Pandemie deutlich besser ab als die meisten Länder Europas.
Durch einen Zeitvorsprung und den Aufschub von nicht lebensnotwendigen OP‘s konnten auch zusätzliche Krankenbetten freigeräumt bzw. bereitgestellt werden. Ebenso überrascht durch den plötzlich auftretenden riesigen Materialbedarf an Schutzausrüstung, an der es auch in Deutschland massenhaft mangelte, kurbelte man neben Großeinkäufen vor allem in China die Produktion in Deutschland an. Und angesichts des enormen Bedarfs an Beatmungsgeräten wurde die Produktionskapazität der deutschen Wirtschaft in die Waagschale geworfen. Während in den USA Notstandsmaßnahmen, die normalerweise für Kriegszeiten vorgesehen sind, ausgerufen wurden, wonach die Regierung Firmen die Produktion von bestimmten Gütern vorschreiben kann, „spuckte“ die deutsche Industrie innerhalb kurzer Zeit 26.000 Beatmungsgeräte aus, auch wenn in der ersten Phase nur relativ wenige zum Einsatz kamen. Im Spätsommer wurden einige dieser Beatmungsgeräte sogar anderen europäischen Ländern, den USA und einigen afrikanischen Ländern als Spenden angeboten. Dass die Krankenhäuser 26.000 Beatmungsgeräte als "Maschinen" hatten, bedeutet jedoch nicht, dass sie über das notwendige Personal verfügten, um in der Intensivmedizin diese Geräte überhaupt einzusetzen zu können. Vielmehr benötigen solche Beatmungsgeräte hoch qualifiziertes, erfahrenes Personal - und das fehlt! Denn wie in anderen Ländern war auch in Deutschland vor allem beim Personal gespart worden und so entpuppte sich auch hier der Personalmangel als der große Schwachpunkt.
In den Betrieben schickte man auch Hunderttausende ins Home-Office – was die Aufrechterhaltung der Aktivitäten in vielen Firmen und neue Sparmaßnahmen auf verschiedenen Ebenen ermöglichte. An den Arbeitsplätzen selbst wurde – im Vergleich zu vielen anderen Ländern – rigoros (natürlich um im Interesse der Unternehmen Absenzen einzudämmen) auf die Einhaltung strikter Hygienevorschriften geachtet. Das im Frühjahr eingedämmte Chaos drang dann bei ersten Anzeichen der 2. Welle, insbesondere nach den Sommerferien, während die Wirtschaft nach dem Lock-down langsam wieder anzog, erneut an die Oberfläche. Der Trend des "Jeder für sich" zeigte wieder stärker sein Gesicht. Bund und Länder können sich bei vielen Maßnahmen nicht einigen. Überlagert wird dies durch die anstehenden Wahlen im Jahr 2021. Dabei wird eine Wettbewerbskomponente zwischen den CDU-CSU geführten Ländern deutlich. Selbst nach der Pfeife von Merkel will man dieses Mal nicht tanzen. Die CDU-CSU hat ihren Kanzlerkandidaten noch immer nicht gewählt. Der bayrische Ministerpräsident Söder und NRW-MP Laschet buhlen um die Gunst der Wähler und profilieren sich mit eigenständigen, oft die Einheit von Bund-Länder untergrabenden Verhalten und Forderungen. Die SPD dagegen ist bemerkenswert homogen in ihren Vorschlägen für Covid-Maßnahmen.
Bei dem Lock-down handelte es sich um den größten ökonomischen Einschnitt seit der Krise von 1929. Gleichzeitig wurde der staatlich verordnete Lock-down mit den bislang umfangreichsten Rettungspakten begleitet, um gigantische Pleitewellen zu vermeiden – vorerst!
Neben den vom Bund verabschiedeten Rettungspaketen[2] wurde zum ersten Mal mit Frankreich der Europäische Rettungsfond gegen den Widerstand einiger Länder in der EU durchgeboxt. Angesichts des außerordentlich hohen Grades an Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft insgesamt, insbesondere aber von Europa[3], wusste die deutsche Bourgeoisie, dass sie dieses Mal nicht als „Bremser“ bei den Rettungspaketen auftreten durfte, sondern möglichst viel Geld versprechen musste, um einen Kollaps zu verhindern. Die Tatsache, dass Deutschland unter Merkel, die im Jahr 2008 als eine Art neuer Diktator (Karikaturen zeigten sie als Hitler), dargestellt wurde, nun als "Helfer" gilt, zeigt, wie stark die Angst vor einem Zusammenbruch der gesamten Wirtschaft und des Auseinanderbrechens der EU in den Augen der deutschen Bourgeoisie war. Dieselbe Merkel, die vor einem Dutzend Jahren skrupellos entschlossen war, Sparmaßnahmen durchzusetzen, ist jetzt Vorreiterin bei den Zusagen für staatliche Hilfen. Damit kämpft Deutschland auch gegen den chinesischen Einfluss, der nach der letzten Krise gewachsen war - als zum Beispiel China durch Kreditspritzen in Italien, Griechenland und auf dem Balkan seinen Einfluss ausbauen konnte.
Und auch die dunkelsten und unberechenbarsten Wolken aus den USA sind nicht verschwunden. Wie die vergangenen Jahre zeigten, stellen der sich verschärfende Handelskrieg zwischen den USA und Deutschland und natürlich die Schrumpfung des US-Marktes im Gefolge von Covid äußerst unkalkulierbare Faktoren dar.[4] Außerdem wird Biden, falls er die Wahlen gewinnen sollte, bei Handelsgeschäften wahrscheinlich nicht kooperativer sein, und er würde die US-Interessen auf eine listigere Art und Weise verteidigen als Mr. "America-First". Allgemein gilt für die herrschende Klasse, Deutschland muss alles tun, um die Märkte offen zu halten, weil es sonst am stärksten betroffen wäre.
Um die Wirtschaft zu schützen, hatte die herrschende Klasse unter dem Druck von SPD und Gewerkschaften die Zahlung von Kurzarbeitsgeld auf 24 Monate erhöht und unzähligen Betrieben Überbrückungs- oder Unterstützungsgelder gezahlt, die diese im großen Umfang beantragten.[5] So war es bis zum Herbst der deutschen Bourgeoisie gelungen, die weltweiten katastrophalen Auswirkungen der Pandemie, die infolge der starken Exportabhängigkeit in Deutschland besonders heftig sein würden, abzufedern. Mit anderen Worten: man hat Zeit gewonnen mit Hilfe der größten staatskapitalistischen Maßnahmenpakete. Weil sich die herrschende Klasse in Deutschland des erdrückenden Gewichts der Maßnahmen sehr wohl bewusst ist, versucht man im Herbst 2020 mit allen Mitteln einen zweiten Lock-down zu verhindern. Schulen sollen auf Biegen und Brechen offen bleiben, damit die Eltern ihre Kinder weiter zur Schule schicken und selbst weiter arbeiten können.
Begleitet werden die Maßnahmen durch die wiederholten Prognosen der Regierung, man werde früher als erwartet wieder zu den alten Produktionsniveaus zurückkehren. Beruhigung lautete lange Zeit die Devise. Tatsache ist, dass der Staat zur Zeit weiterhin noch Geld in die Wirtschaft pumpt, um ein weiteres Abrutschen zu vermeiden. Aber die Rettungspakete des Staates werden riesige Löcher in die Kassen reißen: Neue Haushaltslöcher, wegbrechende Steuereinnahmen und in Anbetracht der erforderlichen Einschränkungen auf der zweiten Welle werden wohl weitere Rettungspakete in unterschiedlichster Form unvermeidlich. In der Vergangenheit hat diese Schuldenpolitik den Staat schon dazu gezwungen, tiefgreifende und brutale Sparmaßnahmen zu ergreifen. Marode Infrastruktur, heruntergekommene Schulen usw. waren eine Folge der früheren, mittlerweile als nahezu noch „harmlos“ erscheinenden Schuldenpolitik. Die jetzt hinzugekommene Verschuldung stellt aber alles bisherige in den Schatten. Deshalb ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Arbeiterklasse dazu die Rechnung aufgebürdet werden wird.
Während der Staat einstweilen noch Geld in die Wirtschaft und in die Taschen von Beschäftigten spült, weil sonst der Kollaps (zu schnell) käme und der Staat aus diesem rein taktischen Kalkül noch nicht die große Sparkeule hervorgeholt hat, halten sich die Betriebe längst nicht mehr zurück. In vielen Branchen hat der Arbeitsplatzabbau längst begonnen.
Zum Beispiel in der Luftfahrt, in der gewissermaßen eine Bruchlandung stattgefunden hat und ohne staatliche Gelder jetzt kein Flugzeug fliegen würde, sind schon Tausende Stellenstreichungen bei Airbus angekündigt worden. Und in der wichtigsten Säule der deutschen Industrie, die Automobilindustrie, die 800.000 Mitarbeiter beschäftigt, ist der größte Teil des Stellenabbaus schon im Gang. Werksstilllegungen in der Zulieferindustrie wurden angekündigt. So wird zum Beispiel das Autoreifenwerk von Continental in Aachen mit 1700 Beschäftigten geschlossen. Schaeffler, ein großer Automobilzulieferer, wird 4000 Arbeitsplätze abbauen.
Gerade in der Autoindustrie waren diese Stellenstreichungen schon vor der Pandemie angekündigt (Stichwort - Strukturwandel, neue Technologien, verschärfte Umweltauflagen, Elektro-Autos usw.). Mittlerweile stehen ca. 30% der Zulieferer in der Autoindustrie vor ernsthaften Finanzschwierigkeiten.
Die Deutsche Bank wird 1/5 ihrer Filialen dichtmachen, große Kaufhäuser schließen bundesweit viele Filialen, ein Trend der für den gesamten Einzelhandel und die Veranstaltungsbranche zählt.
Deshalb darf man den Beteuerungen der Politiker, die Krise verlaufe in einer „V-Kurve“ (schnell bergab und schnell wieder aufwärts), mit anderen Worten nach 2-3 Jahren wieder eine Normalisierung, keinen Glauben schenken. Die ganze Weltwirtschaft wird auf eine gegenwärtig nicht absehbare Zeit erschüttert werden. China mag zwar wieder ca. 5% Wachstum vermelden, aber China ist weiterhin genauso auf Exporte angewiesen – und die Aussichten auf dem Weltmarkt sind zur Zeit weiter düster. Deshalb rechnet das deutsche Kapital mit harten, stürmischen Zeiten, und damit wird es gezwungen werden, der Arbeiterklasse die Rechnung zu präsentieren. Nur reden sie jetzt noch nicht davon. Auch ist es irreführend, den Blick nur auf Deutschland zu beschränken, sondern wir müssen die gesamte Weltwirtschaft in den Blick nehmen (wie bereits angekündigt, veröffentlichen wir dazu bald einen internationalen Artikel).
Zudem ist die schleichende Verarmung in Deutschland seit langem auf dem Vormarsch. Selbst die Gewerkschaften, die unzählige Arbeitsverträge mit ausgearbeitet haben, müssen zugeben: „15 Millionen Beschäftigte in Deutschland (38,8 Prozent) verdienen demnach nicht mehr als 14 Euro pro Stunde (brutto). Nimmt man eine Berechnung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2017 zum Maßstab, sind diese Beschäftigten nicht vor Altersarmut geschützt.” [6]“Ende vergangenen Jahres lagen 56 Prozent der von der Deutschen Rentenversicherung ausgezahlten Monatsbeträge unter 1000 Euro. Wie aus den Daten des Ministeriums hervorgeht, bekommt etwa ein Drittel aller Rentenbezieher weniger als 700 Euro im Monat. Fast jeder Vierte erhält weniger als 500 Euro. Wer so wenig Geld im Alter zur Verfügung hat, ist meist auf die Grundsicherung von knapp mehr als 800 Euro angewiesen.“.[7]
Wenn nun im Herbst die Zahl der Infizierten wieder sprunghaft ansteigen, wird deutlich, dass Deutschland genau wie alle anderen Staaten in Europa und anderswo von der zweiten Welle erfasst worden ist.
Die bisherigen Versuche, mit Hilfe von stark erhöhten Testkapazitäten und einer Corona-Warn-App Infizierte aufzuspüren und verstärkte Quarantäne-Maßnahmen aufzuzwingen, werden sich vermutlich als genauso wenig effektiv erweisen wie anderswo. Es mögen noch so viele Tests durchgeführt werden, der Staat verfügt überhaupt nicht über das Personal, um die Infizierten alle wirksam aufzuspüren und Quarantäne-Maßnahmen zu überwachen. Dass jetzt schon mit Hilfe von Freiwilligen, Zwangsversetzten und mit dem Einsatz von Bundespolizei und Militär die gähnenden großen Personallücken bei den Gesundheitsämtern geschlossen werden sollen, zeigt die Unfähigkeit des Apparates, die Lage in den Griff zu kriegen. Daran ändert der ganze Diskurs der Regierenden nichts. Und der Schuldige ist aus Sicht der Herrschenden schnell gefunden: das „unverantwortliche“ Verhalten bestimmter Menschengruppen, der „Egoismus“. Sicher spielt solch ein Verhalten (Maskenverweigerer, Unachtsamkeit bestimmter Gruppen, generelle Nachlässigkeit) eine Rolle, aber das darf nicht die Unfähigkeit des Behördenapparates übertünchen. Der Kollaps des Gesundheitswesens ist nicht auf die Sorglosigkeit der Bevölkerung zurückzuführen, sondern auf die Sparwut und die dahintersteckende Durchökonomisierung des Gesundheitswesens, die schon vor Jahren begonnen hat.
Diese Reihe von Faktoren, die zur Zeit für Verwirrung und Desorientierung sorgen, können aber nicht lange von Bestand sein. Das eigentliche Ausmaß der Wirtschaftskrise – weltweit und in Deutschland – wird nicht lange zu verharmlosen und übertünchen sein. Die offizielle Botschaft, Ende 2021, spätestens 2022 oder 2023 werde wieder „Normalbetrieb“ herrschen, ist eine Schimäre. Sie soll helfen, dass wir uns „ruhig verhalten“. Die zweite Welle ist längst da und sie wird neben den gesundheitlichen Auswirkungen noch viele ökonomische Rettungsoperationen erforderlich machen, die die Lage der Arbeiterklasse über kurz oder lang tiefgreifend bedrohen werden.
Es stimmt zwar, dass sich im Augenblick die Kampfbedingungen für die Arbeiterklasse verschlechtert haben. Neben der ideologischen Seite, wo tiefe Wolken der Verwirrung über uns hängen, gibt es auch eine Tendenz, dass sich die vom Stellenabbau betroffenen Beschäftigten zudem noch als „Bittsteller“ an den Staat wenden. In den Augen vieler Beschäftigter erscheint der Staat weiterhin als Helfer. Mitte Oktober versprach auf der Düsseldorfer Demo von Stahlkochern von Krupp-Thyssen der CDU-Ministerpräsident Hilfe und prangerte selbst „kapitalistische“ Methoden an, während die zuhörenden protestierenden Gewerkschaften und die Geschäftsleitung an den Staat appellierten.
Auch wenn die Streiks im öffentlichen Dienst - bei denen die Gewerkschaften im Rahmen der Tarifverhandlungen Lohnerhöhungen und „Prämien“ und für die durch die Pandemie besonders stark gebeutelten Beschäftigten eine „finanzielle Anerkennung“ fordern - eine gewisse Kampfbereitschaft der Beschäftigten zeigen, sorgen die Gewerkschaften für eine Abschottung und „Sonderstellung“ dieser Beschäftigten, um die Einheit der Arbeiterklasse ja zu sabotieren.
Wie eingangs erwähnt führen die gegenwärtige verstärkte Atomisierung, die Einschränkung der Sozialkontakte, Reisebeschränkungen usw. zu einer größeren sozialen Isolierung und zu einer Desorientierung. Aber die materiellen Bedingungen werden sich ändern: Die Pandemie wird irgendwann vorüber sein und die ökonomischen Auswirkungen werden immer stärker schmerzhaft spürbar werden. In den großen Industriezentren und weltweit insgesamt.
In der Zwischenzeit müssen all die politisierten Leute, die sich durch diese Lage nicht desorientieren und mürbe kriegen lassen wollen, Diskussionen über die wirklichen Ursachen und die zu erwartenden Konsequenzen vorantreiben – auch wenn dies aufgrund der gegenwärtigen Pandemie-Bedingungen nur unter großen Einschränkungen und zum Teil nur im Netz geführt werden kann. Ob und wie größere Teile der Arbeiterklasse in Zukunft auf die ökonomischen Konsequenzen reagieren wird, ist zur Zeit nicht absehbar. Deshalb besteht unsere Aufgabe jetzt vor allem darin, möglichst große Klarheit über die Lage und die Perspektive herbeizuführen.
Insofern müssen wir dem alten Motto, das schon im Kommunistischen Manifest unterstrichen wurde, folgen: „Die Kommunisten (...); sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.“
Paula G., 23.10.2020
[1] Aber in einigen Industriezweigen wie den Schlachthöfen, in denen Sklavenarbeit - die "Saisonarbeiter" mit komplizierten Systemen von Subunternehmern - vorherrscht, wurden hohe Infektionsraten bekannt. Hier griff der Staat - trotz anfänglicher Vertuschungsversuche der Unternehmen - schnell ein und ergriff innerhalb kürzester Zeit rechtliche Maßnahmen, wobei die SPD die führende Position bei der "Regulierung" des Fleischmarktes und des Subunternehmersystems innehatte. Einigkeit der großen Parteien zur Ausmerzung "unverantwortlicher" Anachronismen!
[2] 2020 wurden ca. 220 Mrd Euro Neuschulden beschlossen, nachdem man zuvor jahrelang ohne Neuschulden ausgekommen war. 2021 sind weitere knapp 100 Mrd Neuschulden eingeplant.
[3] Knapp unter 30% aller Arbeitsplätze in Deutschland hängen vom Export ab, im verarbeitenden Gewerbe ca. 56%.
[4] Z.B. als Trump deutsche Autos zu einer nationalen Sicherheitsbedrohung für die US-Wirtschaft erklärte, die „Bestrafung“ der deutschen ‚Zurückhaltung‘, die Rüstungsausgaben in dem von Trump gewünschten Ausmaß und Tempo zu erhöhen, die Sanktion in Form des Abzugs der US-Truppen aus Deutschland, die angedrohten Sanktionen wegen des (ausgesetzten) Baus der North-Stream-II-Pipeline, usw.
[5] Eine Umfrage soll ergeben haben, dass 44% der Unternehmen ohne staatliche Coronahilfen nicht überleben würden. Fast jedes zweite Unternehmen in Deutschland überlebt nur dank staatlicher Coronahilfe. Für weitere Infos siehe: https://www.finanzen.net/nachricht/aktien/ifw-corona-hilfen-erhoehen-staatliche-subventionen-deutlich-9197404 [154].
Die USA, das mächtigste Land des Planeten, sind zu einem Schaufenster für den fortschreitenden Zerfall der kapitalistischen Weltordnung geworden. Das Rennen um die Präsidentschaftswahlen hat ein grelles Licht auf ein Land geworfen, das von rassisistischen Spaltungen; von immer brutaleren Konflikten innerhalb der herrschenden Klasse; von der schockierenden Unfähigkeit mit der Covid-19-Pandemie fertig zu werden, die fast eine Viertelmillion Tote gefordert hat; und das von den verheerenden Auswirkungen der wirtschaftlichen und ökologischen Krise und der Verbreitung irrationaler, apokalyptischer Ideologien zerrissen ist. Und doch widerspiegelt all dies paradoxerweise eine grundlegende Wahrheit: dass wir in den "letzten Zügen" eines kapitalistischen Systems leben, das in jedem Land der Welt herrscht.
Aber auch in dieser letzten Phase seines historischen Niedergangs, selbst wenn die herrschende Klasse zunehmend ihren Kontrollverlust über ihr eigenes System demonstriert, kann der Kapitalismus seine eigene Fäulnis gegen seinen wahren Feind wenden - gegen die Arbeiterklasse und die Gefahr, dass diese sich ihrer wahren Interessen bewusst wird. Die Rekordbeteiligung an den Wahlen in den USA und die lautstarken Proteste und Feierlichkeiten auf beiden Seiten der politischen Spaltung stellen eine mächtige Verstärkung des Irrglaubens Demokratie dar - der falschen Vorstellung, dass der Wechsel eines Präsidenten oder einer Regierung das Abgleiten des Kapitalismus in den Abgrund aufhalten kann, dass die Abstimmung "dem Volk" ermöglicht, sein Schicksal in die Hand zu nehmen.
Heute steht an der Spitze dieser Ideologie der Glaube, dass Joe Biden und Kamala Harris die amerikanische Demokratie vor Trumps autoritärem Mobbing retten werden, dass sie die Wunden der Nation heilen, die Rationalität und Verlässlichkeit der Beziehungen der USA zu anderen Weltmächten wiederherstellen werden. Und diese Ideen finden ein Echo in einer gigantischen internationalen Kampagne, welche die Erneuerung der Demokratie und den Rückzug des populistischen Angriffs auf liberale Werte begrüßt.
Aber wir, die Arbeiter, sollten gewarnt sein. Während Trump und "America First" offen für die Verschärfung des wirtschaftlichen und sogar militärischen Konflikts mit anderen kapitalistischen Staaten - insbesondere China - stehen, werden Biden und Harris auch Amerikas Streben nach imperialistischer Vorherrschaft verfolgen, vielleicht mit etwas anderen Methoden und einer etwas anderen Rhetorik. Wenn Trump für Steuersenkungen für die Reichen stand und seine Regierungszeit mit einem gewaltigen Anstieg der Arbeitslosigkeit beendete, so wird eine Biden-Regierung, die mit einer Weltwirtschaftskrise konfrontiert ist, welche sich durch die Pandemie stark verschärft hat, keine andere Wahl haben, als die ausgebeutete Klasse durch zunehmende Angriffe auf ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen für die Krise bezahlen zu lassen. Wenn eingewanderte und "illegale" Arbeiter glauben, dass sie unter einer Biden-Regierung sicherer sind, dann sollen sie sich daran erinnern, dass unter Präsident Obama und Vizepräsident Biden 3 Millionen "illegale" Arbeiter aus den USA deportiert wurden.
Zweifellos ist ein Großteil der derzeitigen Unterstützung für Biden eine Reaktion auf die regelrechten Schrecken des Trumpismus: die unverhohlenen Lügen, den Dog-Whistle-Rassismus, die harte Unterdrückung von Protesten und die totale Verantwortungslosigkeit angesichts von Covid-19 und des Klimawandels. Keine Frage, dass Trump ein klares Spiegelbild eines verfaulenden Gesellschaftssystems ist. Aber Trump behauptet auch, im Namen des Volkes zu sprechen, als "Außenseiter" zu handeln, der sich gegen die nicht rechenschaftspflichtigen "Eliten" stellt. Und selbst wenn er die "Normen" der kapitalistischen Demokratie offen untergräbt, stärkt er das Gegenargument, dass wir uns mehr denn je zur Verteidigung dieser Normen zusammenschließen müssen. In diesem Sinne sind Biden und Trump zwei Flügel desselben demokratischen Betrugs. Das bedeutet nicht, dass die beiden Flügel friedlich zusammenarbeiten werden. Selbst wenn Trump als Präsident abgesetzt wird, wird der Trumpismus nicht verschwinden. Trump hat die bewaffneten rechten Milizen, die auf den Straßen paradieren, weitgehend legalisiert und marginale Verschwörungskulte wie QAnon in den ideologischen Mainstream gebracht. Dies wiederum hat das Anwachsen antifaschistischer Truppen und schwarzer Milizen gefördert, die bereit sind, den weißen Rassisten auf militärischem Terrain entgegenzutreten. Und hinter all dem steht die gesamte bürgerliche Klasse und ihre Staatsmaschinerie, die von gegensätzlichen wirtschaftlichen und außenpolitischen Interessen zerrissen wird, die durch Bidens "heilende" Reden nicht weggezaubert werden können. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass diese Konflikte in der kommenden Zeit noch intensiver und gewaltsamer werden. Und die Arbeiterklasse hat überhaupt kein Interesse daran, in diese Art von "Bürgerkrieg" verwickelt zu werden, ihre Energie und sogar ihr Blut in den Kampf zwischen populistischen und antipopulistischen Fraktionen der Bourgeoisie zu stecken.
Diese Fraktionen zögern nicht, an ihre Version der "Arbeiterklasse" zu appellieren. Trump präsentiert sich als Verfechter der Arbeiter, deren Arbeitsplätze durch "unlauteren" ausländischen Wettbewerb gefährdet oder zerstört worden sind. Auch die Demokraten, insbesondere linke Figuren wie Sanders oder Ocasio-Ortez, behaupten, im Namen der Ausgebeuteten und Unterdrückten zu sprechen.
Aber die Arbeiterklasse hat ihre eigenen Interessen, und diese decken sich mit keiner der Parteien der Bourgeoisie, weder der republikanischen noch der demokratischen. Sie decken sich auch nicht mit den Interessen "Amerikas", der "Nation" oder des "Volkes", jenem legendären Ort, an dem die Ausgebeuteten und die Ausbeuter in Harmonie leben (wenn auch in rücksichtsloser Konkurrenz zu anderen Nationen). Die Arbeiter haben keine Nation. Sie sind Teil einer internationalen Klasse, die in allen Ländern vom Kapital ausgebeutet und von seinen Regierungen unterdrückt wird, einschließlich derjenigen, die es wagen, sich selbst als Sozialisten zu bezeichnen, wie China oder Kuba, nur weil sie die Beziehung zwischen dem Kapital und seinen Lohnsklaven verstaatlicht haben. Diese Form des Staatskapitalismus ist die bevorzugte Option des linken Flügels der Demokratischen Partei, aber sie bedeutet nicht, wie Engels einmal betonte, "dass das kapitalistische Verhältnis abgeschafft wird. Vielmehr wird es auf den Kopf gestellt".
Der wirkliche Sozialismus ist eine menschliche Weltgemeinschaft, in der die Klassen, die Lohnsklaverei und der Staat abgeschafft worden sind. Dies wird die erste Gesellschaft in der Geschichte sein, in der die Menschen eine echte Kontrolle über das Produkt ihrer eigenen Hände und ihres eigenen Verstandes haben. Aber um den ersten Schritt in Richtung einer solchen Gesellschaft zu tun, muss die Arbeiterklasse sich selbst als eine Klasse die im Gegensatz zum Kapital steht anerkennen. Und ein solches Bewusstsein kann sich nur entwickeln, wenn die Arbeiterklasse mit Händen und Füßen für ihre eigenen materiellen Bedürfnisse kämpft, gegen die Bemühungen der ausbeutenden Klasse und ihres Staates, die Löhne zu senken, Arbeitsplätze abzubauen und den Arbeitstag zu verlängern. Und es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die globale Depression, die sich im Gefolge der Pandemie abzeichnet, solche Angriffe zum unvermeidlichen Programm aller Teile der Kapitalistenklasse machen wird. Angesichts dieser Angriffe werden die Arbeiter massiv in den Kampf zur Verteidigung ihres Lebensstandards eintreten müssen. Und es darf keinen Raum für Illusionen geben: Biden wird, wie jeder andere kapitalistische Herrscher auch, nicht zögern, die blutige Unterdrückung der Arbeiterklasse anzuordnen, wenn diese Gefahr für ihre Ordnung darstellt.
Der Kampf der Arbeiter für ihre eigenen Klassenforderungen ist eine Notwendigkeit, nicht nur, um den wirtschaftlichen Angriffen der Bourgeoisie entgegenzutreten, sondern vor allem als Grundlage, um ihre Illusionen in diese oder jene bürgerliche Partei oder diesen oder jenen Führer zu überwinden und ihre eigene Perspektive, ihre eigene Alternative gegenüber dieser zerfallenden Gesellschaft zu entwickeln.
Im Laufe ihrer Kämpfe wird die Arbeiterklasse gezwungen sein, ihre eigenen Organisationsformen zu entwickeln, wie Generalversammlungen und gewählte, jederzeit widerrufbare Streikkomitees, embryonale Formen der Arbeiterräte, die sich in den vergangenen revolutionären Momenten als das Mittel erwiesen haben, mit dem die Arbeiterklasse die Macht in die eigenen Hände nehmen und den Aufbau einer neuen Gesellschaft beginnen kann. In diesem Prozess hätte eine wirkliche politische Partei der Arbeiterklasse eine entscheidende Rolle zu spielen: nicht indem sie die Arbeiter auffordert, sie an die Macht zu wählen, sondern indem sie Prinzipien verteidigt, die aus den Kämpfen der Vergangenheit abgeleitet sind, und indem sie den Weg in die revolutionäre Zukunft weist. Mit den Worten der Dritten Internationalen: "Es rettet uns kein höh'res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun". Kein Trump, kein Biden, kein falscher Messias - die Arbeiterklasse kann sich nur aus eigener Kraft emanzipieren und dabei die gesamte Menschheit von den Ketten des Kapitals befreien.
Amos 11.11.20
Während die Welt mit der Covid-19 Pandemie konfrontiert ist, haben wir die schmerzliche Erfahrung des Todes unseres Genossen Kishan am 26. März 2020 gemacht. Dies ist ein großer Verlust für die IKS.
Unsere Sektion in Indien und die gesamte IKS werden ihn sehr vermissen. Kishan hat einen wichtigen Beitrag zum Leben unserer Organisation geleistet und war bis zu seinem letzten Atemzug ein Genosse mit großem Kampfgeist.
Kishan wurde 1939 in einem abgelegenen Dorf im indischen Westbengalen geboren. Er besuchte in den 1960er Jahren die Universität, zu einer Zeit, bevor die Arbeiterklasse mit dem Streik von 9 Millionen Arbeitern in Frankreich 1968 wieder auf die Bühne zurückkehrte, gefolgt vom heißen Herbst in Italien 1969, den polnischen Arbeiterkämpfen 1970, die das Ende der Periode der Konterrevolution bedeuteten. Die 1960er Jahre waren eine Zeit des Protests an den Universitäten in aller Welt, insbesondere gegen den Vietnamkrieg und den Rassismus. Die jungen Menschen die sich in diesen Bewegungen engagierten, waren aufrichtig in ihrem Wunsch nach "revolutionärer" Veränderung, handelten aber hauptsächlich auf kleinbürgerlichem Terrain, mit der Illusion, „das Leben jetzt und sofort zu verändern". Sowohl vor als auch nach 1968 gab es aber linke - d.h. bürgerliche - Organisationen, die bereit waren, junge Menschen zu rekrutieren und ihr Interesse an den Positionen der Arbeiterklasse zu blockieren. Dies waren die globalen Bedingungen, unter denen Kishan in die bürgerliche naxalitische Bewegung in Indien hineingezogen wurde.
In den Jahren 1963-65 machte er das Examen in Physik an der nordbengalischen Universität. Seinen Master schloss er mit einem erstklassigen Abschluss ab. Während seiner Studienzeit wurde er Teil einer jungen Generation, die sich von der naxalitischen Bewegung angezogen fühlte. Nach und nach wurde der Begriff Naxalismus zum Synonym für den Maoismus. Als junger Student stürzte Kishan sich in den Strudel dieser Bewegung, ließ seine Forschungen unvollständig und wurde für diese Aktivitäten ins Gefängnis geworfen. Nach acht Jahren Gefangenschaft wurde er 1978 freigelassen. Die unaussprechlichen Folterungen im Gefängnis forderten bis zu seinem Lebensende ihren Tribut. In einer engen Zelle und unzureichender, manchmal ungenießbarer Nahrung, zog sich Kishan die Tuberkulose zu, und diese Lungenkrankheit war ein ständiger Begleiter bis zum letzten Tag seines Lebens. Während seiner Haftzeit las er insbesondere Marx, und dies half ihm, offen zu sein für die Diskussion der marxistischen Ideen der Kommunistischen Linken, als er auf sie stieß.
Kishan war einer der wenigen, der, nachdem er in die besonders abstossende maoistische Form der linken bürgerlichen Ideologie hineingezogen worden war, in der Lage war, einen vollständigen Bruch damit zu vollziehen und sich dem Proletariat zu widmen, indem er sich der Tradition der Kommunistischen Linken anschloss. Ein solcher politischer Bruch erforderte zwangsläufig eine Klärung durch lange geduldige Diskussionsarbeit mit der IKS in den 1980er und 1990er Jahren. Die Bildung des Kerns der IKS in Indien im Jahr 1989 war eine Stimulation für diese Dynamik der politischen Klärung. Als Kishan sich mit der IKS in Verbindung setzte, entdeckte er die wahre Geschichte der Kommunistischen Linken. Er war überrascht, als er durch die theoretische Ausarbeitung der IKS erkannte, dass der Maoismus nichts anderes ist als eine andere Form der bürgerlichen Ideologie, eine konterrevolutionäre politische Strömung. "Der Maoismus hat nichts mit dem Kampf der Arbeiterklasse zu tun, weder mit ihrem Bewusstsein noch mit ihren revolutionären Organisationen. Er hat nichts mit dem Marxismus zu tun: Er ist weder eine Tendenz innerhalb des Proletariats noch eine Entwicklung der revolutionären Theorie des Proletariats. Im Gegenteil, der Maoismus ist nichts anderes als eine grobe Verfälschung des Marxismus; seine einzige Funktion besteht darin, jedes revolutionäre Prinzip zu begraben, das proletarische Klassenbewusstsein zu verwirren und es durch die dümmste und engstirnigste nationalistische Ideologie zu ersetzen. Als eine 'Theorie' ist der Maoismus nur eine weitere jener erbärmlichen Formen, die die Bourgeoisie in ihrer dekadenten Periode der Konterrevolution und des imperialistischen Krieges angenommen hat“[1]. Die Position der IKS über den Maoismus hatte einen folgenschweren Einfluss auf den Genossen Kishan. Eine umfassende Kritik an seiner Vergangenheit üben zu können, war für Kishan wesentlich, um Mitglied einer wirklich revolutionären Organisation zu werden. Die Kommunistische Partei Indiens wurde 1925 gegründet, als die Kommunistische Internationale bereits degeneriert war und die wichtigsten Kämpfe der revolutionären Welle nach dem Ersten Weltkrieg besiegt waren, insbesondere die Russische- und die Deutsche Revolution. Die Ausrichtung der KP in Indien bestand darin, eine antikoloniale, antibritische Bewegung zu werden, die mit vielen anderen nationalistischen Bewegungen verbunden war. Nationalismus und Patriotismus hatten einen starken Einfluss auf die KP in Indien. Die Arbeiterklasse in Indien leidet unter einem Mangel an der Tradition und Kontinuität der Kommunistischen Linken. Dies unterstreicht die wichtige Verantwortung für die IKS in Indien, das historische Erbe der Kommunistischen Linken besser bekannt zu machen.
Indem er den Weg einer eingehenden Untersuchung und kontinuierlichen Diskussion beschritt, wurde Kishan allmählich zu einem Militanten der IKS in Indien. Seine Loyalität gegenüber der IKS und dem Kampf des internationalen Proletariats kennzeichnete ihn als einen wahren proletarischen
Internationalisten. Er verteidigte die Positionen der IKS stets mit immenser Hingabe. Er war entschlossen, sich durch seine häufigen Beiträge an den Debatten der IKS auf internationaler Ebene und innerhalb unserer Sektion in Indien zu beteiligen. Genosse Kishan brachte seine Leidenschaft auf vielen Ebenen in das Leben der IKS ein. Er reiste quer durch das Land, um neue Buchhandlungen zu finden, in denen die Literatur der IKS verkauft werden konnte. Er nahm, wenn immer es notwendig war, an Diskussionszirkeln und öffentlichen Treffen teil. Er spielte eine bemerkenswerte Rolle bei der Erhöhung der Zahl der Abonnenten unserer Presse. Er nahm an verschiedenen internationalen Kongressen der IKS, sowie an territorialen Konferenzen unserer indischen Sektion teil und spielte eine sehr aktive Rolle. Seine wertvollen und gut durchdachten Beiträge trugen dazu bei, den Prozess der politischen Klärung voranzubringen. Seine größte Stärke war die Verteidigung unserer Organisation gegen alle Angriffe und Verleumdungen die gegen uns gerichtet waren.
Genosse Kishan hatte die Fähigkeit, die vielen Höhen und Tiefen des Lebens zu überwinden. Seine feste Überzeugung von der Politik und den Positionen der IKS und seine optimistische Haltung halfen ihm, in den schwierigsten politischen Situationen aufrecht zu stehen. Es ist schwierig, Kishans Beitrag zum politischen Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse in einem kurzen Text der Würdigung angemessen zu bewerten. Wir sollten auch hinzufügen, dass Kishan sehr gastfreundlich war. Viele Genossen der IKS, ob sie nun aus anderen Ländern oder aus anderen Teilen Indiens kamen, erlebten seine großzügige Gastfreundschaft. Wir bringen seiner Familie unseren revolutionären Gruß und unsere Solidarität zum Ausdruck. Wir stehen seiner Tochter und seiner Frau mit all unserer Sympathie und Solidarität zur Seite.
IKS, Oktober 2020
[1]Siehe den Artikel Maoismus, ein monströser Abkömmling des dekadenten Kapitalismus auf unserer Website https://en.internationalism.org/ir/094_china_part3.html#_ftnref4.
In den vorhergehenden Teilen dieses Artikels begannen wir mit der Identifizierung der Bedingungen, unter denen die Dritte oder Kommunistische Internationale im März 1919 gegründet wurde[1]. In einem sehr komplizierten Kontext gelang es den Revolutionären jener Zeit nicht, all die neuen Fragen und Herausforderungen zu klären, vor denen das Proletariat stand.
Darüber hinaus war der Prozess der Umgruppierung der revolutionären Kräfte durch das Fehlen einer festen Haltung gegenüber den revolutionären Prinzipien bei der Gründung der Internationale gekennzeichnet. Dies ist eine der Lehren, die die Fraktion der Italienischen Linken, die sich um die Zeitschrift Bilan und dann vor allem um die Gauche Communiste de France (GCF - Internationalisme) gruppierte, aus den Erfahrungen der Komintern zog: "Die 'breite' Methode, die vor allem darauf bedacht war, auf Kosten präziser Prinzipien und Programme sofort die größtmögliche Zahl zu sammeln, führte zur Bildung von Massenparteien, echten Giganten mit tönernen Füßen, die dem Opportunismus unterworfen werden sollten.“[2]
Während der Gründungskongress ein echter Fortschritt in der Vereinigung des Weltproletariats war, war die Entwicklung der Komintern in den folgenden Jahren im Wesentlichen durch Rückschritte gekennzeichnet, die die Revolution angesichts der immer mehr an Boden gewinnenden konterrevolutionären Kräfte entwaffneten. Der zügellose Opportunismus in den Reihen der Partei wurde nicht wie von Lenin und den Bolschewiki vorgesehen beseitigt. Im Gegenteil, mit der Degeneration der Revolution nahm er am Ende einen vorherrschenden Platz ein und beschleunigte das Ende der Komintern als Klassenpartei. Diese opportunistische Dynamik, die bereits durch den Zweiten Kongress sichtbar wurde, vertiefte sich danach sowohl auf programmatischer als auch auf organisatorischer Ebene, wie wir in diesem Artikel zu zeigen versuchen werden.
Nach dem Dritten Kongress der Komintern[3] begannen die Revolutionäre zu verstehen, dass die Revolution schwieriger sein würde, als sie gedacht hatten. Wenige Tage nach dem Ende des Kongresses analysierte Trotzki die Situation auf diese Weise:
"Der Dritte Kongress nahm zur Kenntnis, dass die wirtschaftlichen Grundlagen der bürgerlichen Herrschaft weiter zerfielen. Aber er hat gleichzeitig die fortgeschrittenen Arbeiter gewaltsam vor jeder naiven Vorstellung gewarnt, dass daraus automatisch der Tod der Bourgeoisie durch eine ununterbrochene Offensive des Proletariats folge. Noch nie zuvor war der Klasseninstinkt der Bourgeoisie zur Selbsterhaltung mit so vielgestaltigen Verteidigungs- und Angriffsmethoden bewaffnet wie heute. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Sieg der Arbeiterklasse sind vorhanden. Wenn dieser Sieg ausbleibt, und darüber hinaus, wenn dieser Sieg nicht in mehr oder weniger naher Zukunft kommt, ist die gesamte Zivilisation von Niedergang und Degeneration bedroht. Aber dieser Sieg kann nur durch die geschickte Führung von Kämpfen und vor allem durch die Eroberung der Mehrheit der Arbeiterklasse errungen werden. Dies ist die wichtigste Lektion des Dritten Kongresses."[4]
Dies ist weit entfernt von der überschwänglichen Begeisterung des Gründungskongresses, wo Lenin in seiner Schlussrede behauptete: "der Sieg der proletarischen Revolution im Weltmaßstab ist gesichert. Die Gründung einer internationalen Sowjetrepublik ist auf dem Weg.“ In der Zwischenzeit waren die Angriffe des Proletariats in einer Reihe von Ländern auf die Gegenbewegung der Bourgeoisie gestoßen. Und insbesondere sahen wir das Scheitern des Versuchs der Machtübernahme in Deutschland im Jahre 1919, dessen Bedeutung von den Revolutionären unterschätzt wurde.
Wie die große Mehrheit in den Reihen der Komintern erklärte, konnten die Krise des Kapitalismus und sein Abstieg in die Dekadenz die Massen nur auf den Weg zur Revolution treiben. Das Bewusstsein über die Größenordnung des zu erreichenden Ziels und die Mittel zu seiner Verwirklichung lag jedoch weit unter dem erforderlichen Niveau. Diese Situation wurde besonders nach dem Zweiten Kongress im Sommer 1920 sichtbar, der durch eine Reihe von Schwierigkeiten gekennzeichnet war, die das Proletariat in Russland weiter isolierten:
Auch wenn es der internationalen Bourgeoisie zu diesem Zeitpunkt nicht gelang, die proletarische Revolution vollständig zu vernichten, so war es doch so, dass das Herz der Revolution, das Russland der Sowjets, besonders isoliert war. Auch wenn Lenin die Situation als "zwar äußerst unsicheres, äußerst labiles Gleichgewicht“ beschrieb, „aber immerhin ein Gleichgewicht, das der Sozialistischen Republik, natürlich nicht für lange Zeit, die Möglichkeit gibt, in der kapitalistischen Umwelt fortzubestehen"[6], so müssen wir rückblickend feststellen, dass die zahlreichen Misserfolge und Schwierigkeiten, die zwischen 1920 und 1921 auftraten, bereits die Niederlage der revolutionären Welle einläuteten. Vor diesem besonders schwierigen Hintergrund wollen wir die Politik der Komintern analysieren. Eine Politik, die in einer Reihe von Punkten einen zunehmend opportunistischen Rückzug zum Ausdruck brachte.
Die nationale Frage war eine der ungelösten Fragen in der revolutionären Bewegung zum Zeitpunkt der Konstituierung der Komintern. Es stimmt zwar, dass Revolutionäre während der aufsteigenden Periode des Kapitalismus manchmal nationale Kämpfe unterstützt hatten, aber dies war keine Frage des Prinzips. Die Debatte war in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wieder aufgeflammt. Rosa Luxemburg war eine der ersten, die begriff, dass der Eintritt des Kapitalismus in seine Phase der Dekadenz auch bedeutete, dass jeder Nationalstaat einen imperialistischen Charakter hatte. Folglich zielte der Kampf einer Nation, sich von einer anderen zu befreien, nur darauf ab, die Interessen der einen Bourgeoisie gegen eine andere zu verteidigen und keinesfalls die Interessen der Arbeiterklasse.
Die Bolschewiki nahmen eine Position ein, die sich eher im sozialdemokratischen Zentrum befand, da das Recht der Völker auf Selbstbestimmung im Programm von 1903 erschienen war. "Die Beharrlichkeit, mit der die Bolschewiki an diesem Standpunkt trotz aller von innen und außen kommenden Opposition festhielten, kann am besten durch die Tatsache erklärt werden, dass das zaristische Russland die nationale Unterdrückung par excellence verkörperte ("Das Gefängnis der Völker"), und dass die Bolschewiki als 'großrussische' Partei im geographischen Sinne der Meinung waren, den von Russland unterdrückten Nationen das Recht auf Abspaltung zuzugestehen, wäre das beste Mittel, um das Vertrauen der Massen dieser Länder zu gewinnen. Dieser Standpunkt, obwohl er erwiesenermaßen unrichtig war, gründete sich auf eine proletarische Perspektive. Zu einer Zeit, als sich die „Sozialimperialisten“ in Deutschland, Russland und anderen Ländern gegen das Recht der vom deutschen oder russischen Imperialismus unterdrückten Nationen, für ihre nationale Befreiung zu kämpfen, aussprachen, wurde das Losungswort der „nationalen Selbstbestimmung“ von den Bolschewiki als Mittel der Untergrabung des russischen und anderer Imperialismen sowie zur Schaffung der Voraussetzung einer zukünftigen Vereinigung der Arbeiter sowohl der unterdrückenden als auch den unterdrückten Nationen aufgestellt.“[7] Während Lenin die Auffassung vertrat, dass das "Recht der Nationen auf Selbstbestimmung" in den westlichen Ländern zu einer überholten Forderung geworden war, stellte sich die Situation in den Kolonien anders dar, wo das Aufblühen der nationalen Befreiungsbewegungen Teil der Herausbildung eines unabhängigen Kapitalismus war, der zum Entstehen eines Proletariats beitrug. Unter diesen Bedingungen blieb die nationale Selbstbestimmung in den Augen Lenins und der bolschewistischen Partei eine fortschrittliche Forderung.
Rosa Luxemburg verstand, dass der Imperialismus nicht einfach eine Form der Plünderung durch die entwickelten Länder auf Kosten der rückständigen Nationen war, sondern Ausdruck der Gesamtheit der kapitalistischen Beziehungen auf globaler Ebene, und so konnte sie die deutlichste Kritik an den nationalen Befreiungskämpfen im Allgemeinen und an der Position der Bolschewiki im Besonderen entwickeln. Im Gegensatz zu der zersplitterten Vision der Bolschewiki, die davon ausging, dass das Proletariat je nach geographischer Zone unterschiedliche Aufgaben haben könne, wählte Rosa Luxemburg einen Ansatz, der einen globalen Prozess im Kontext eines Weltmarktes beschrieb, der zunehmend auf unüberwindbare Hindernisse stoßen würde: "In diesem Zusammenhang war es jedem neuen Nationalstaat unmöglich, in den Weltmarkt auf einer selbständigen Grundlage einzutreten, oder die Phase einer ursprünglichen Akkumulation außerhalb dieses barbarischen weltweiten Spannungsfelds zu durchlaufen. " [8]
Daraus folgt, dass es "in dem heutigen imperialistischen Milieu überhaupt keine nationalen Verteidigungskriege mehr geben kann".[9]
Diese Fähigkeit, die Tatsache zu begreifen, dass jede nationale Bourgeoisie nur innerhalb des imperialistischen Systems operieren konnte, brachte Rosa Luxemburg dazu, die Nationalitätenpolitik der Bolschewiki nach 1917 zu kritisieren, als die Sowjets die Unabhängigkeit der Ukraine, Finnlands, Litauens usw. akzeptierten, um "die Massen zu gewinnen". Die folgenden Zeilen prophezeien beeindruckend die Folgen der nationalen Politik der Komintern in den 1920er Jahren: "eine nach der anderen von diesen „Nationen“ benutzte die frisch geschenkte Freiheit dazu, sich als Todfeindin der russischen Revolution gegen sie mit dem deutschen Imperialismus zu verbünden und unter seinem Schutze die Fahne der Konterrevolution nach Rußland selbst zu tragen".[10]
B. Der Kongress von BakuDie nationale Frage wurde zum ersten Mal in der Komintern während des Zweiten Weltkongresses 1920 aufgeworfen. Ausgehend von der insbesondere von den Bolschewiki vertretenen irrigen Auffassung vom Imperialismus meinte der Kongress, man müsse "eine Politik treiben, durch die das engste Bündnis aller nationalen und kolonialen Befreiungsbewegungen mit Sowjetrußland verwirklicht wird, und muß die Formen dieses Bündnisses entsprechend der jeweiligen Entwicklungsstufe der kommunistischen Bewegung unter dem Proletariat eines jeden Landes oder der bürgerlich-demokratischen Befreiungsbewegung der Arbeiter und Bauern in den zurückgebliebenen Ländern oder unter den zurückgebliebenen Nationalitäten bestimmen".[11]
Der Kongress der Völker des Ostens, der zwischen dem 1. und 8. September 1920 in Baku stattfand, hatte die Aufgabe, die Orientierungen des Zweiten Weltkongresses, der einige Wochen zuvor zu Ende gegangen war, in die Praxis umzusetzen. Fast 1900 Delegierte, die hauptsächlich aus dem Nahen Osten und Asien kamen, trafen sich. Fast zwei Drittel der vertretenen Organisationen bekannten sich zwar zum Kommunismus, aber ihre Unterstützung war äußerst oberflächlich. "Die nationalen Eliten fühlten sich mehr von der Organisation und Wirksamkeit der von den Bolschewiki vorgeschlagenen Handlungsweisen angezogen als von der kommunistischen Ideologie“.[12] Deshalb war der Kongress ein „großer Basar“, der sich aus mehreren Klassen und sozialen Schichten zusammensetzte, die aus allen möglichen Gründen kamen, aber nur sehr wenige mit der festen Absicht, bewusst für die Entwicklung der proletarischen Weltrevolution zu arbeiten. Die Beschreibung der Zusammensetzung des Kongresses, die Sinowjew dem Exekutivkomitee der Komintern nach seiner Rückkehr aus Baku gab, bedarf keines Kommentars: "Der Kongress von Baku setzte sich aus einer kommunistischen Fraktion und einer viel größeren überparteilichen Fraktion zusammen. Letztere wiederum teilte sich in zwei Gruppen: die eine bestand effektiv aus parteilosen Elementen, darunter die Vertreter der Bauern und der semi-proletarischen Bevölkerung der Städte, die andere aus Personen, die sich selbst als parteilos definierten, aber in Wirklichkeit bürgerlichen Parteien angehörten".[13]
Für eine Reihe von Delegationen war der Aufbau einer revolutionären kommunistischen Bewegung im Osten zweitrangig und sogar uninteressant. Für viele von ihnen ging es darum, die Hilfe Sowjetrusslands sicherzustellen, um den britischen Kolonialismus zu vertreiben und ihre eigenen Träume von nationaler Souveränität zu verwirklichen.
Wie war die Haltung der Vertreter der Komintern gegenüber diesen offensichtlich bürgerlichen Forderungen? Anstatt den proletarischen Internationalismus mit größter Entschlossenheit zu verteidigen, beharrte die Komintern-Delegation auf ihrer Unterstützung bürgerlich-nationalistischer Bewegungen und rief die Völker des Ostens auf, sich "dem ersten wirklich heiligen Krieg unter dem roten Banner der Kommunistischen Internationale" anzuschließen, um einen Kreuzzug gegen "den gemeinsamen Feind, den britischen Imperialismus", zu führen.
Die wichtigen Zugeständnisse an die nationalistischen Parteien und die gesamte Politik, die in Baku betrieben wurde, waren bereits von der Notwendigkeit diktiert, die Sowjetrepublik zu verteidigen, und nicht mehr von den Interessen der Weltrevolution. Diese zentrale Position der Komintern, die auf dem Zweiten Kongress festgelegt wurde, zeigte, wie weit die opportunistische Tendenz an Boden gewonnen hatte. Natürlich gab es Kritik an diesen Versuchen, Nationalismus und proletarischen Internationalismus zu versöhnen: Lenin warnte davor, "den Nationalismus rot zu färben", und auch John Reed, der in Baku anwesend gewesen war, wandte sich gegen "diese Demagogie und diese Schauveranstaltung", doch "diese Antworten nannten die Wurzeln des folgenden opportunistischen Kurses nicht beim Namen, blieben auf dem zentristischen Terrain der Versöhnung mit noch offeneren Ausdrücken des Opportunismus und versteckten sich hinter den Thesen des Zweiten Kongresses, die – gelinde gesagt – eine Vielfalt von Sünden der revolutionären Bewegung verbargen".[14]
C. Nach und nach wurde die Komintern zu einem Instrument des russischen ImperialismusDer Rückzug der Revolution in Westeuropa und die Isolierung des Proletariats in Russland unter dramatischsten Bedingungen führten dazu, dass die Komintern allmählich zu einem Instrument der bolschewistischen Außenpolitik wurde - die Bolschewiki selbst wurden im Laufe der Jahre zu den Verwaltern des russischen Kapitals.[15] Während diese verhängnisvolle Entwicklung zum Teil mit den falschen Vorstellungen der Bolschewiki über das Verhältnis von Klasse, Partei und Staat in der Übergangsperiode zusammenhing, lag der Hauptgrund dafür in der unumkehrbaren Degeneration der Revolution ab den 1920er Jahren.[16]
In erster Linie im Namen der Verteidigung des Sowjetstaates schlossen die Bolschewiki und die Komintern Bündnisse mit nationalen Befreiungsbewegungen oder unterstützten sie direkt. Ab 1920 unterstützte die Weltpartei die Bewegung von Kemal Atatürk, dessen Interessen sehr weit von der Politik der Internationale entfernt waren, wie Sinowjew zugab. Aber dieses Bündnis war ein Mittel, um die Briten aus der Region zu verdrängen. Auch wenn die türkische Regierung bald darauf die Führer der Kommunistischen Partei der Türkei hinrichtete, sah die Komintern weiterhin Potenzial in dieser nationalistischen Bewegung und hielt an ihrem Bündnis mit einem Land fest, dessen geografische Lage für den russischen Staat strategisch wichtig war. Dies hinderte Kemal jedoch nicht daran, sich gegen seinen Verbündeten zu wenden und 1923 ein Bündnis mit der Entente einzugehen.
Während die Politik der Unterstützung der nationalen Befreiungsbewegungen für eine gewisse Zeit eine falsche Position innerhalb der Arbeiterbewegung war, so wurde sie Ende der 1920er Jahre zur imperialistischen Strategie einer kapitalistischen Macht wie aller anderen. Die Unterstützung der Komintern für die Kuomintang-Nationalisten in China, die 1927 zum Massaker an den Arbeitern von Shanghai führte, war eine entscheidende Episode in diesem Prozess der Degeneration. Zuvor hatte die Komintern die nationalistische Bewegung unter der Führung von Abd El-Krim im Rif-Krieg (1921-26) und 1926 die Drusen in Syrien unterstützt.
Folglich zeigten "solch offenkundige Akte des Verrats (...), dass die stalinistische Fraktion, die bis dahin nahezu die völlige Vorherrschaft über die KI und ihre Parteien errungen hatte, nicht mehr eine opportunistische Strömung innerhalb der Arbeiterbewegung war, sondern ein direkter Ausdruck der kapitalistischen Konterrevolution".[17]
Wie wir im ersten Teil dieser Untersuchung[18] gezeigt haben, waren nur eine Handvoll ordnungsgemäß konstituierter Kommunistischer Parteien auf dem Gründungskongress der Komintern im März 1919 vertreten. In den folgenden Wochen unternahm die Internationale große Anstrengungen mit dem Ziel, Kommunistische Parteien zu gründen: "Die Kommunistische Internationale hat vom ersten Tage ihrer Bildung an klar und unzweideutig sich zum Zwecke gesetzt nicht die Bildung kleiner, kommunistischer Sekten, die nur durch Propaganda und Agitation ihren Einfluss auf die Arbeitermassen herzustellen suchen, sondern die Teilnahme an dem Kampfe der Arbeitermassen, die Leitung dieses Kampfes in kommunistischem Sinne und die Bildung im Kampfe erprobter, großer, revolutionärer kommunistischer Massenparteien."[19] Diese Orientierung beruhte auf der Überzeugung, dass es in Westeuropa zu einer raschen Ausbreitung der Revolution komme und folglich die dringende Notwendigkeit bestehe, in den verschiedenen Ländern Parteien der Arbeiterklasse zu gründen, die es ermöglichen würden, die revolutionäre Aktion der Massen zu lenken.
So drängten die Bolschewiki nicht nur auf die schnellstmögliche Bildung kommunistischer Massenparteien, sondern auch darauf, dies auf der Grundlage eines Kompromisses zwischen dem linken Flügel der Arbeiterbewegung und der zentristischen Strömung zu tun, die nicht mit den Ansichten und Schwächen der Zweiten Internationale gebrochen hatte. In der Mehrzahl der Fälle konnten diese Parteien nicht aus dem Nichts entstehen, sondern mussten aus einem Abspaltungsprozess innerhalb der Sozialistischen Parteien der II. Internationale hervorgehen. Dies war insbesondere der Fall bei der Kommunistischen Partei Italiens, die auf dem Kongress von Livorno im Januar 1921 gegründet wurde, oder bei der Kommunistischen Partei Frankreichs, die auf dem Kongress von Tours im Dezember 1920 das Licht der Welt erblickte. So trugen die Parteien von Anfang an eine Menge an Ballast und Schwächen in organisatorischer Hinsicht in sich, die die Fähigkeit dieser Organisationen, den Massen eine klare Orientierung zu geben, nur noch weiter beeinträchtigen konnten. Lenin und die Haupttriebkräfte der Internationale waren sich dieser Zugeständnisse und der Gefahr, die sie darstellen könnten, voll bewusst; sie zählten aber auf die Fähigkeit der Parteien, sie zu bekämpfen. In Wirklichkeit unterschätzte Lenin die Gefahr ernsthaft. Die Annahme der 21 Bedingungen für den Beitritt zur Komintern auf dem Zweiten Weltkongress, die zu Recht als ein Fortschritt im Kampf gegen den Reformismus angesehen wurde, wurde nicht wirklich umgesetzt. Lenins ganzer Ansatz beruhte auf der Idee, dass der Marsch in Richtung Revolution nicht unterbrochen werden durfte, dass die Entwicklung der Komintern auf Kosten der Zweiten Internationale und der Zweieinhalbten Internationalen mehr oder weniger eine vollendete Tatsache war.[20]
In einer Situation, in der die Massen noch nicht bereit waren, die Macht zu übernehmen, "die Revolution zu beschleunigen, ohne sie durch künstliche Mittel hervorzurufen, ehe nicht eine genügende Vorbereitung erfolgt ist".[21] Aus diesen Gründen bestand eine der Orientierungen des Zweiten Kongresses in der "Zusammenfassung der zersplitterten kommunistischen Kräfte, [der] Schaffung einer einigen kommunistischen Partei in jedem Lande (oder die Festigung und Erneuerung der bereits bestehenden Partei) zur Ver- zehnfachung der Arbeit für die Vorbereitung des Proletariats zur Eroberung der Staatsmacht in der Form der Diktatur des Proletariats".[22] Eine richtige Orientierung, aber auf der Grundlage einer fehlerhaften Praxis.
Dies erklärt die Fehlentwicklung der Fusion zwischen der USPD[23] und der KPD auf dem Kongress von Halle am 12. Oktober 1920. Das wohl bedeutendste Beispiel ist die Gründung der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). Letztere wurde im Dezember 1920 nach einer Spaltung von der SFIO (Sozialistische Partei) gegründet, deren wichtigste Führer sich während des Ersten Weltkriegs zur "Union Sacrée" (Burgfrieden) zusammengeschlossen hatten. Ihre Entstehung war das Ergebnis eines von der Komintern geförderten Kompromisses zwischen der Linken (einer schwachen Minderheit) und einer zentristischen Strömung, die eine starke Mehrheit hatte. Wie wir in unserer Broschüre Wie die KPF in den Dienst des Kapitals überging[24] gezeigt haben, "war diese Taktik eine Katastrophe, denn die Mitgliedschaft beruhte nicht – wie bei allen anderen europäischen KPs – auf den 21 Bedingungen für den Beitritt zur Komintern, die insbesondere einen vollständigen und endgültigen Bruch mit der opportunistischen Politik des Zentrismus gegenüber Reformismus, Sozialpatriotismus und Pazifismus forderte, sondern auf viel weniger selektiven Kriterien. Das Ziel dieser Taktik der Komintern bestand darin, die Mehrheit dazu zu bringen, sich vom rechten Flügel der Sozialdemokratie, einer offen patriotischen Partei, die an kapitalistischen Regierungen teilgenommen hatte, zu trennen (...) Die zentristische Mehrheit der neuen Partei war mit Opportunisten verseucht, die mehr oder weniger ‚bereuten‘, mal bei der Union Sacrée gewesen zu sein. (...) Der Partei schloss sich eine weitere wichtige Komponente an, die vom anarchistischen Föderalismus durchdrungen war (vertreten insbesondere durch die Seine-Föderation), die sich auf organisatorischer Ebene immer wieder mit der Mitte gegen die Linke stellte, um sich der internationalen Zentralisierung und vor allem der Ausrichtung der Komintern auf die junge französische Partei entgegenzustellen". Vom Opportunismus geplagt, unterwarf sich die KPF voll und ganz der Degeneration der Komintern, die auf dem Dritten Kongress deutlich zu spüren war. Sie sollte zu einem der Hauptakteure des Stalinismus werden.[25] So war es auch in Italien, denn nach der Spaltung von der Sozialistischen Partei Italiens auf dem Kongress von Livorno bestand die KP Italiens aus einem marxistischen, kommunistischen linken Flügel, der sich entschlossen für den Kampf gegen den Opportunismus in der Komintern einsetzte, und einem von Gramsci und Togliatti geführten Zentrum, das unfähig war, die politische Rolle der Sowjets als zentralisierende Organe der Macht zu verstehen, und die politische Rolle der Partei unterschätzte. Das Zentrum der Partei sollte dann als Stütze der Komintern bei der Ausgrenzung der Linken in der Zeit der "Bolschewisierung" fungieren.
Die vielleicht krasseste Karikatur war schließlich die KP der Tschechoslowakei, die sich um die Šmeral-Tendenz bildete, welche die Habsburgermonarchie während des imperialistischen Krieges von 1914-18 unterstützt hatte.
Wie können wir solche Kompromisse erklären? Wie können wir erklären, dass die Bolschewiki, die jahrelang einen harten Kampf um die Bewahrung unnachgiebiger Prinzipien geführt hatten, solche Kompromisse akzeptierten? Die Kommunistische Linke Italiens untersuchte diese Episode aufmerksam und legte eine erste Antwort vor: "Es ist offensichtlich, dass dies keine plötzliche Bekehrung der Bolschewiki zu einer anderen Herangehensweise an die Bildung kommunistischer Parteien war, sondern im Wesentlichen auf einer historischen Perspektive beruhte, die die Möglichkeit vorsah, den schwierigen Weg, der zur Gründung der Bolschewistischen Partei führte, zu vermeiden. In den Jahren 1918-20 rechneten Lenin und die Bolschewiki mit dem sofortigen Ausbruch der Weltrevolution und sahen deshalb in der Gründung von Kommunistischen Parteien in verschiedenen Ländern so viele Unterstützungsbasen für die revolutionäre Aktion des russischen Staates, die ihnen als das wesentliche Element beim Sturz der kapitalistischen Welt erschien" [26]
Zweifellos veranlassten die zum Stillstand gekommene Revolution in dieser Zeit und die verzweifelten Bemühungen, damit umzugehen, Lenin und die Bolschewiki dazu, ihre Wachsamkeit bei der Verteidigung von Prinzipien zu verringern und so dem Opportunismus zu verfallen. Aber es waren auch anhaltende Irrtümer über die Aufgaben der Partei und ihr Verhältnis zur Klasse, die dazu beitrugen, in einer Zeit, die durch die ersten Rückzüge des Proletariats gekennzeichnet war, die Bildung von KP auf einer völlig konfusen Grundlage zu erzwingen.
B. Die Gründung von Kommunistischen "Phantom"-Parteien im OstenDie opportunistische Methode, mit der ihre Mitgliedsparteien gebildet wurden, fand ihren endgültigen Ausdruck in der Entstehung der Kommunistischen Parteien in der kolonialen Welt.
Nach dem Kongress von Baku richtete die Exekutive der Komintern ein zentrales Büro für Asien ein, das für die Arbeit im Nahen/Mittleren Osten und bis nach Indien zuständig war. Dieses Organ, bestehend aus Sokolnikow, Grefori Safarow und M.N. Roy, wurde in Taschkent in Usbekistan eingerichtet. Im Januar 1921 wurde dann in Irkutsk ein Komintern-Sekretariat für den Fernen Osten eingerichtet. So wollte sich die Komintern angesichts des Rückzugs der Revolution in Westeuropa die Mittel an die Hand geben, um die Revolution im Osten zu "beschleunigen". Mit diesem Ziel wurden zwischen 1919 und 1923 im Osten und im Fernen Osten kommunistische Parteien auf äußerst zerbrechlichen theoretischen und politischen Grundlagen gegründet.
Vor dieser Zeit waren KPs in der Türkei, im Iran, in Palästina und in Ägypten entstanden, aber wie der trotzkistische Historiker Pierre Broué bemerkte: "Es mangelte nicht an Problemen zwischen der Internationale und diesen kommunistischen Parteien, die nichts über den Kommunismus wussten und Länder vertraten, in denen richtig proletarische Schichten unbedeutend waren. Was ihre Führer nicht davon abhielt, eine doktrinäre Reinheit und ein rigoros arbeiterorientiertes Schema für die Revolution zu beanspruchen, von der sie glaubten, sie stünde vor der Tür."[27]
In Indien hatten die Kräfte, die sich auf die Internationale zubewegten, alle eine nationalistische Vergangenheit. Der bekannteste war M.N. Roy. Die Komintern befahl der um Roy gebildeten Gruppe, in die von Gandhi geführte nationalistische Kongresspartei einzutreten, zunächst durch ein Bündnis mit der so genannten "revolutionären" und "kommunistischen" Linken, dann mit allen Fraktionen, die nach den gewalttätigen Zusammenstößen, die am 4. Februar 1922 während einer von Gandhi selbst initiierten Kampagne des zivilen Ungehorsams stattfanden, gegen Gandhi waren[28]. Roy sah sich veranlasst, ein offen opportunistisches Programm innerhalb der Kongresspartei zu verteidigen: nationale Unabhängigkeit, allgemeines Wahlrecht, Abschaffung des Großgrundbesitzes, Verstaatlichung des öffentlichen Dienstes. Darüber hinaus ging es nicht darum, die Verabschiedung seines Programms zu erreichen, sondern seine Ablehnung durch die Führung der Partei zu provozieren, die sich damit "enttarnen" würde. Dieses Unterfangen endete in einem völligen Scheitern. Roys Programm fand kein positives Echo, und das Leben der "kommunistischen" Gruppe artete sehr schnell in interne Streitigkeiten aus. Danach wurden die Kommunisten sehr hart unterdrückt. Sie wurden verhaftet und dann wegen Verschwörung verurteilt, was der Politik der Komintern in Indien ein Ende setzte.[29]
In Ostasien verfolgte die Komintern mehr oder weniger den gleichen unverantwortlichen Ansatz. Die Strukturierung einer kommunistischen Bewegung in China wurde vom Büro für den Fernen Osten geleitet, indem es Kontakte zu Intellektuellen und Studenten knüpfte, die für den "Bolschewismus" gewonnen worden waren. Die Kommunistische Partei Chinas konstituierte sich auf einer Konferenz, die im Juli 1921 in Schanghai stattfand. Sie bestand aus ein paar Dutzend Kämpfern und durchlief danach eine bedeutende Wachstumsphase und erreichte 1927 fast 20.000 Mitglieder. Auch wenn diese zahlenmäßige Stärkung den revolutionären Geist zum Ausdruck brachte, der die chinesische Arbeiterklasse in einer Zeit intensiver sozialer Kämpfe beseelte, so blieb es dennoch so, dass neue Mitglieder der Partei auf sehr oberflächlichen theoretischen und politischen Grundlagen beitraten. Wiederum öffnete dieselbe unverantwortliche Methode angesichts der opportunistischen Politik der Komintern gegenüber der Kuomintang die Tür zur Entwaffnung der Partei. Im Januar 1922 legte die Konferenz der Völker des Ostens in Moskau die Grundlagen für die Klassenzusammenarbeit durch einen "antiimperialistischen Block". Auf Betreiben der Exekutive der Komintern verbreitete die KP Chinas die Losung einer "antiimperialistischen Einheitsfront mit der Kuomintang" und forderte die Kommunisten auf, sich als Einzelpersonen der Kuomintang anzuschließen. Diese Politik der Klassenzusammenarbeit war das Ergebnis geheimer Verhandlungen zwischen der UdSSR und der Kuomintang. Im Juni 1923 stimmte der Dritte Kongress der chinesischen KP für den Beitritt ihrer Mitglieder zur Kuomintang. Diese Politik der Unterordnung unter eine bürgerliche Partei stieß zunächst auf Widerstand innerhalb der jungen Partei, und dies schloss einen Teil ihrer Führung ein.[30] Aber die politische Zerbrechlichkeit und Unerfahrenheit dieser Opposition machte sie unfähig, die irrigen und selbstmörderischen Direktiven der Internationale wirksam zu bekämpfen. Und so "hatte diese Politik katastrophale Folgen für die Arbeiterbewegung in China. Während Streikbewegungen und Demonstrationen spontan und ungestüm entstanden, war die Kommunistische Partei, die sich mit der Kuomintang zusammenschloss, unfähig, die Arbeiterklasse zu orientieren, eine unabhängige Klassenpolitik zu betreiben, trotz des unbestreitbaren Heldentums der kommunistischen Militanten, die häufig in den vordersten Reihen der Arbeiterkämpfe zu finden waren. Ebenso ohne einheitliche Organisationen des politischen Kampfes, wie die Arbeiterräte, setzte die Arbeiterklasse auf Forderung der KPCh selbst ihr Vertrauen in die Kuomintang, mit anderen Worten in die Bourgeoisie.“[31]
Wir könnten noch viele weitere Beispiele für kommunistische Parteien nennen, die in rückständigen Ländern gegründet wurden, in denen die Arbeiterklasse sehr schwach war, und die nach Niederlagen sehr schnell zu bürgerlichen Organisationen wurden. Wir müssen dazu festhalten, dass die Bildung von "Massenparteien", sowohl im Westen als auch im Osten, ein Faktor war, der die Schwierigkeiten des Proletariats, sich dem Rückfluss der revolutionären Welle zu stellen, verschlimmerte und es unmöglich machte, einen geordneten Rückzug durchzuführen.
C. Die Politik der EinheitsfrontAuf ihrem 3. Kongress verabschiedete die Komintern die Politik der "Einheitsfront der Arbeiter"[32], die darin bestand, Bündnisse mit den Organisationen der Sozialdemokratie einzugehen, gemeinsame Aktionen mit ähnlichen Forderungen durchzuführen, mit der Idee, dass dadurch die konterrevolutionäre Rolle dieser Organisationen in den Augen der Massen entlarvt würde.
Diese Orientierung wurde auf dem 4. Kongress vollständig konkretisiert und markierte eine völlige Kehrtwende gegenüber dem Gründungskongress, auf dem die neue Internationale ihre klare Entschlossenheit verkündete, gegen alle Kräfte der sozialdemokratischen Strömung zu kämpfen, und „die Arbeiter aller Länder“ aufforderte, „einen entschlossenen Kampf gegen die gelbe Internationale aufzunehmen und die breitesten Massen des Proletariats von dieser Lug- und Truginternationale zu bewahren“.[33] Was war es, das die Komintern nur zwei Jahre später dazu brachte, eine Politik der Bündnisse mit Parteien zu betreiben, die zu den wirksamsten Agenten der Konterrevolution geworden waren?
Hatten sie eine ehrenhafte Wiedergutmachung geleistet und ihre früheren Verbrechen bereut? Ganz offensichtlich nicht. Auch hier ging es darum, "sich nicht von den Massen abzuschotten": "Das Argument der Komintern zur Rechtfertigung der Notwendigkeit der Einheitsfront beruhte hauptsächlich auf der Tatsache, dass der Rückfluss das Gewicht der Sozialdemokratie verstärkt hatte und dass man sich, um dagegen zu kämpfen, nicht von den Massen abschneiden durfte, die Gefangene dieser Mystifizierung waren. Es war notwendig, auf eine Entblößung der Sozialdemokratie über Bündnisse mit der Sozialdemokratie hinzuarbeiten, im Falle der stärksten kommunistischen Parteien (in Deutschland trat die KP für eine einheitliche proletarische Front ein und erkannte die Möglichkeit an, eine vereinigte Arbeiterregierung zu unterstützen) oder über den Entrismus für die schwächeren Parteien ("Die britischen Kommunisten müssen eine energische Kampagne für ihre Aufnahme in die Labour-Partei starten", wie es in den Thesen zur Einheitsfront des 4. Kongresses hieß)"[34].
Diese opportunistische Linie wurde von den Gruppen links der Komintern bekämpft und scharf angeprangert. Die KAPD begann den Kampf auf dem 3. Parteitag, bevor sie kurz danach aus der Komintern ausgeschlossen wurde. Der linke Flügel der KP Italiens folgte ihr auf dem 4. Parteitag und erklärte, dass die Partei es "nicht akzeptieren wird, ein Teil gemeinsamer Organe verschiedener Organisationen zu sein (...) [Sie] wird es ebenfalls vermeiden, gemeinsame Erklärungen mit anderen politischen Organisationen zu verabschieden, wenn diese Erklärungen ihrem Programm widersprechen und dem Proletariat als Resultat von Verhandlungen präsentiert werden, mit dem Ziel, eine gemeinsame Linie für die Praxis zu finden."[35] Auch Miasnikows Arbeitergruppe[36] lehnte die Einheitsfront ab. In ihrem Manifest verteidigte sie gegenüber den Parteien der II. Internationale eine Position, die eindeutig den Interessen der Revolution entsprach: "Nicht die Einheitsfront mit der Zweiten Internationale oder der Zweieinhalbten Internationalen wird zum Sieg der Revolution führen, sondern der Krieg gegen sie. Das ist die Losung der zukünftigen sozialen Weltrevolution". Die Geschichte sollte die Weitsicht und Unnachgiebigkeit der Gruppen der Linken bestätigen. Mit der Umkehrung des Kräfteverhältnisses gewann die herrschende Ideologie wieder Einfluss auf die Massen. Unter diesen Umständen bestand die Rolle der Partei nicht darin, der Dynamik der Klasse zu folgen, sondern das revolutionäre Programm und die Prinzipien innerhalb der Klasse zu verteidigen. In der Zeit der Dekadenz des Kapitalismus war die Rückkehr zu einem "Minimalprogramm", und sei es auch nur vorübergehend, unmöglich geworden. Dies war eine weitere Lehre, die später von der kommunistischen Linken Italiens gezogen wurde: "Im Jahre 1921 änderte die Veränderung der Situation nicht das grundlegende Merkmal der Epoche, da die revolutionären Turbulenzen von 1923, 1925, 1927 und 1934 (um nur die wichtigsten zu nennen) diese voll und ganz bestätigen sollten [...] Eine solche Veränderung der Situation musste natürlich Konsequenzen für die kommunistischen Parteien haben. Aber das Problem war folgendes: War es notwendig, die Politik der Kommunistischen Parteien in ihrer Substanz zu ändern oder aus den ungünstigen Umständen die Notwendigkeit abzuleiten, die Massen zu Teilkämpfen aufzurufen und dabei auf ein revolutionäres Ergebnis ausgerichtet zu bleiben[37], sobald die erlittenen Niederlagen es unmöglich machten, direkt zum Aufstand aufzurufen? Der Dritte Kongress, die Erweiterte Exekutive von 1921 und vor allem der Vierte Kongress haben eine Lösung für dieses Problem gefunden, die den Interessen der Sache abträglich war. Dies geschah vor allem durch die Frage der Einheitsfront."[38]
Wie wir gerade gesehen haben, war die Zeit vom 2. bis zum 3. Kongress von einem deutlichen Eindringen des Opportunismus in die Reihen der Weltpartei gekennzeichnet. Dies war die direkte Folge der verfehlten Politik der "Eroberung der Massen" um den Preis von Kompromissen und Zugeständnissen: Unterstützung der nationalen Befreiungskämpfe, Bündnis mit den Verräterparteien der II. Internationale, Beteiligung am Parlament und an den Gewerkschaften, Bildung von Massenparteien ... Die Komintern kehrte dem den Rücken, was die Stärke der linken Fraktionen innerhalb der II. Internationale gewesen war. Darauf wies Herman Gorter 1920 gegenüber Lenin hin: "Sie handeln, Genosse Lenin, jetzt in der Internationale ganz anders als damals in der Partei der Maximalisten. Diese wurde (und wird vielleicht noch immer) sehr "rein" gehalten. In die Internationale sollen jetzt sofort Halb-, Viertel- und Achtel-Kommunisten aufgenommen werden. [...] Die russische Revolution hat durch "Reinheit", durch Prinzipienfestigkeit gewonnen. [...]
Statt jetzt auch in allen anderen Ländern dieselbe bewährte Taktik anzuwenden und so die dritte Internationale innerlich sehr stark zu machen, geht man auch jetzt wieder, ganz wie damals die Sozialdemokratie, zum Opportunismus über. Alles soll jetzt hinein: die Gewerkschaften, die Unabhängigen, das französische Zentrum, Teile der Labour-Party."[39]
Der grundlegende Irrtum der Kommunistischen Internationale bestand darin, zu glauben, dass es allein aus eigener Kraft möglich war, die Arbeiterklasse zu "erobern", sie vom Einfluss der Sozialdemokratie zu befreien und so ihr Bewusstsein zu heben und sie zum Kommunismus zu führen.
Daraus ergab sich die Politik der Einheitsfront, die Sozialdemokratie zu entlarven und anzuprangern; die Teilnahme am Parlament, um die Spaltungen zwischen den bürgerlichen Parteien auszunutzen; die Arbeit in den Gewerkschaften, um sie wieder ins proletarische Lager und auf die Seite der Revolution zu bringen.[40] Keiner der Versuche erbrachte die erhofften Ergebnisse. Im Gegenteil, sie brachten die Komintern nur dazu, das proletarische Lager zu verraten. Anstatt das Klassenbewusstsein zu schärfen, verbreiteten diese Taktiken lediglich Verwirrung und Desorientierung unter den Massen und machten sie damit anfälliger für die Fallen der Bourgeoisie. Obwohl es den Gruppen auf der linken Seite der Komintern nie gelang, sich zu vereinigen, waren sie sich alle über den selbstmörderischen Charakter dieser Politik einig, die ihrer Ansicht nach zur Niederlage der Arbeiterbewegung und zum Tod der Revolution führte. Eigentlich verteidigten diese Gruppen eine ganz andere Auffassung von der Beziehung zwischen Partei und Klasse.[41] Die Rolle der Partei bestand nicht darin, die Illusionen in die Klasse zu schüren, und noch weniger darin, sie in dubiose und gefährliche Taktiken zu verwickeln, sondern vielmehr darin, ihr Bewusstsein durch die Verteidigung proletarischer Prinzipien zu schärfen und sicherzustellen, dass keine Zugeständnisse in prinzipiellen Fragen gemacht werden. Dies war der einzige wirkliche Kompass, der in einer Zeit, in der die im Oktober 1917 in Russland entfesselte Welle ihre ersten Rückzüge machte, in die Richtung der Revolution weisen konnte.
Mit der Verschärfung des Rückflusses des Klassenkampfes und der opportunistischen Entartung der kommunistischen Parteien sollte die revolutionäre Kontinuität des Marxismus nur noch durch die Fraktionen aufrechterhalten werden, die sich mit Händen und Füßen innerhalb der Kommunistischen Parteien oder außerhalb derselben wehrten, nachdem aus sie ihnen ausgeschlossen worden waren.
(Fortsetzung folgt)
Narek, 16. Juni 2020
[1] Die ersten beiden Teile dieser Serie sind im Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses dritten Artikels auf Deutsch noch nicht übersetzt. Die englische, französische oder spanische Version der Artikel findest du auf unserer Webseite, z.B. https://en.internationalism.org/content/16652/centenary-foundation-communist-international-what-lessons-can-we-draw-future-combats [157]
[2] Internationalisme Nr. 7, 1945. Die Linken Fraktionen – Methode zur Bildung der Partei, International Review 162 (englische/französische/spanische Ausgabe)
[3] Der Kongress fand zwischen dem 21. Juni und Anfang Juli 1921 statt.
[4] Die wichtigsten Lehren aus dem Dritten Kongress, Juli 1921. Die Idee, die Mehrheit der Arbeiterklasse unter den damaligen Verhältnissen zu gewinnen, enthielt bereits die Keime der Idee, die Massen auf Kosten der Prinzipien zu erobern, wie wir in diesem Artikel zeigen wollen.
[5] Die Märzaktion 1921: Die Gefahr kleinbürgerlicher Ungeduld, /content/2074/die-maerzaktion-1921-die-gefahr-kleinbuergerlicher-ungeduld [158]
[6] Thesen zum Referat auf dem III. Kongress der Kommunistischen Internationale über die Taktik der KPR, Lenin Werke Bd. 32 S. 476
[7] Nation oder Klasse, Broschüre der IKS (S. 7)
[8] A.a.O. S. 9. Der Aufstieg Chinas zu einem bedeutenden imperialistischen Herausforderer am Ende des 20. Jahrhunderts ändert nichts an dieser Gesamtanalyse: erstens, weil er unter den besonderen Umständen des kapitalistischen Zerfalls entstanden ist, und zweitens, weil sein Aufstieg zu einem hoch militarisierten und expansionistischen Staat keinerlei fortschrittlichen Inhalt hat.
[9] Rosa Luxemburg, Junis-Broschüre
[10] Rosa Luxemburg, Zur russischen Revolution, 3. Kapitel
[11] 2. Kongress der Komintern, Thesen zur nationalen und kolonialen Frage
[12] Edith Chabrier, Les délégués du premier Congrès des peuples d’Orient (Bakou, 1er-8 septembre 1920) in Cahiers du monde russe et soviétique, vol 26, no. 1, Januar-März 1985, S. 21-42
[13] A.a.O.
[14] Kommunisten und die nationale Frage, Teil 3, „Die Debatte während der revolutionären Welle und die Lehren für heute“, /content/1294/kommunisten-und-die-nationale-frage-aus-international-review-engl-ausgabe-nr-42-1985 [159]
[15] A.a.O.
[16] Die Degeneration der Russischen Revolution, in Internationale Revue Nr. 2
[17] Kommunisten und die nationale Frage, Teil 3, „Die Debatte während der revolutionären Welle und die Lehren für heute“, /content/1294/kommunisten-und-die-nationale-frage-aus-international-review-engl-ausgabe-nr-42-1985 [159]
[18] Vgl. Fn 1
[19] 3. Kongress der Komintern, Thesen über die Taktik
[20] „Die Parteien der Kommunistischen Internationale werden zu revolutionären Massenparteien, wenn sie den Opportunismus, seine Überreste und seine Traditionen, in ihren Reihen dadurch überwinden, dass sie sich eng mit den kämpfenden Arbeitermassen zu verbinden suchen, ihre Aufgaben aus den praktischen Kämpfen des Proletariats schöpfen, in diesen Kämpfen ebenso die opportunistische Politik der Vertuschung und Verkleisterung der unüberbrückbaren Gegensätze ablehnen und gleichzeitig jede revolutionäre Phrase ablehnen, die den Einblick in das reale Kräfteverhältnis verschließt, die Schwierigkeiten des Kampfes übersehen lässt." 3. Kongress der Komintern, Thesen über die Taktik
[21] 2. Kongress der Komintern, Leitsätze über die Grundaufgaben der Kommunistischen Internationale, Juli 1920
[22] Ebenda
[23] Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschland; die Mehrheit ihrer Mitglieder hatte nicht mit dem Reformismus gebrochen und verwarf die Diktatur des Proletariats und die Organisierung in Arbeiterräten
[24] Comment le PCF est passé au service du capital, IKS-Broschüre – auf französisch erhältlich (https://fr.internationalism.org/brochures/pcf [160])
[25] Für mehr Einzelheiten siehe unsere Broschüre zur KPD, Fn 24
[26] En marge d’un anniversaire, Bilan n°4, Februar 1934.
[27] Pierre Broué, Histoire de l’Internationale Communiste, 1919-1943, Fayard, 1997 (unsere Übersetzung ins Deutsche)
[28] Obgleich Roy selbst mit dieser Taktik nicht einverstanden war.
[29] Pierre Broué, Histoire de l’Internationale Communiste, a.a.O.
[30] Chen Duxiu, eines der Gründungsmitglieder der Partei, übte eine deutliche Kritik an dieser Ausrichtung. "Der Hauptgrund für unsere Opposition war folgender: Der Eintritt in die Kuomintang brachte Verwirrung in die Klassenorganisation, behinderte unsere Politik und bedeutete, sie derjenigen der Kuomintang unterzuordnen. Der KI-Delegierte sagte uns wörtlich, dass 'die gegenwärtige Periode eine Periode ist, in der Kommunisten für die Kuomintang Kuli-Arbeit (Handlangerdienste) leisten müssen'. Von diesem Zeitpunkt an war die Partei nicht mehr die Partei des Proletariats. Sie verwandelte sich in die extreme Linke der Bourgeoisie und begann, in den Opportunismus abzusinken" (Chen Duxiu, "Brief an alle Genossen der chinesischen KP", 10. Dezember 1929, in Pierre Broué, La question chinoise dans l’Internationale Communiste).
[31] Chinas ‚Revolution‘ von 1949 – ein Glied in der Kette imperialistischer Kriege, International Review Nr. 81, engl./franz./span. Ausgabe.
[32] Der "offene Brief" vom 7. Januar 1921, der von der KPD-Zentrale an andere Organisationen (SPD, USPD, KAPD) gerichtet wurde und zu gemeinsamen Aktionen der Massen und den kommenden Kämpfen aufrief, war eine der Prämissen dieser Politik.
[33] 1. Kongress der Komintern, Die Stellung zu den sozialistischen Strömungen und der Berner Konferenz
[34] Front unique, front anti-prolétarien, Révolution Internationale Nr. 45, Januar 1978
[35] Intervention der Delegation der KP Italiens auf dem 4. Kongress der Komintern, zit. nach dem Buch der IKS Die Italienische Kommunistische Linke, 2007, S. 32 f.
[36] Siehe dazu unsere beiden Artikel zur Kommunistischen Linken Russlands, /content/747/kommunistische-linke-russlands [161]
[37] Angesichts der Tatsache, dass die Bedingungen für die Ausweitung der Revolution immer ungünstiger wurden, wäre es sachdienlicher gewesen, von "partiellen Kämpfen ..., die sich an einer revolutionären Perspektive orientieren", zu sprechen.
[38] Bilan, April 1934
[39] Herman Gorter, Eine Antwort an Lenins Broschüre: „Der linke Radikalismus, eine Kinderkrankheit des Kommunismus“, 1920
[40] Die Gewerkschaftsfrage haben wir bereits im zweiten Artikel dieser Serie untersucht (vgl. Fn 1), so dass wir an dieser Stelle nicht darauf zurückkommen werden. Erinnern wir uns jedoch daran, dass die Komintern am Ersten Kongress den Bankrott der Gewerkschaften sowie der Sozialdemokratie registriert hatte (auch wenn die Debatte über den Klassencharakter der Gewerkschaften nach dem Ersten Weltkriegs nicht abgeschlossen war), dann aber ihre Position änderte und für die Wiederbelebung der Gewerkschaften eintrat, indem sie in ihnen kämpfte mit den Zielen, deren Führung in die Wüste zu schicken und die Massen für den Kommunismus zu gewinnen. Diese illusorische Taktik wurde auf dem 3. Kongress mit der Forderung nach der Bildung der Roten Internationale der Gewerkschaften vorgebracht. Sie wurde von bestimmten linken Gruppen (insbesondere der deutschen Linken) bekämpft, die zu Recht die Auffassung vertraten, dass die Gewerkschaften keine Organe des proletarischen Kampfes mehr seien.
[41] Trotz der Tatsache, dass ein großer Teil der deutschen und niederländischen Linken später dazu überging, die Notwendigkeit der Partei zu leugnen, und dann die rätekommunistische bzw. rätistische Strömung bildete.
Seit einigen Wochen steigt die Zahl der an Covid-19 erkrankten Menschen in mehreren Regionen der Welt stark an, insbesondere in Europa, das wieder zu einem der Epizentren der Pandemie geworden zu sein scheint. Die "mögliche zweite Welle", die vor einigen Monaten von Epidemiologen angekündigt wurde, ist nun Realität, und es ist sehr wahrscheinlich, dass sie viel virulenter sein wird als die vorherige. In mehreren Ländern liegt die Zahl der Todesfälle pro Tag bereits bei mehreren hundert, und die Intensivstationen, die für die Behandlung der am schwersten betroffenen Patienten benötigt werden, sind überfüllt, oder total überfordert wie in Italien. Dies obwohl wir erst am Anfang dieser neuen Welle stehen.
Angesichts der Ernsthaftigkeit und rapiden Verschlechterung der Lage haben immer mehr Staaten keine andere Lösung anzubieten, als lokale oder nationale Ausgangssperren oder fast gefängnisartige Maßnahmen improvisiert auf die Beine zu stellen, um die Bevölkerung zu Hause zu halten – natürlich außerhalb der Arbeitszeit.
In den letzten Monaten haben die Medien in vielen Ländern nicht aufgehört, die gemeinen und irreführenden Reden des Staatsapparates zu verbreiten, die nicht gezögert haben, die angeblich "unverantwortlichen und egoistischen Jugendlichen" an den Pranger zu stellen, die sich zusammenschlossen hätten, um "illegale Partys zu organisieren", oder Urlauber, die die letzten schönen Sommertage nutzen, um auf der Terrasse eines Cafés etwas zu trinken, und dabei ihre Masken abnehmen (die Regierungen der Mittelmeerstaaten haben sie jedoch stark dazu ermutigt, dies zu tun, um „den gefährdeten Tourismussektor zu retten"!). Diese große Kampagne, die sich täglich gegen die "Verantwortungslosigkeit der Bürger" richtet, ist nichts anderes als eine Vertuschung der Nachlässigkeit und mangelnden Voraussicht, derer sich die herrschende Klasse seit vielen Jahren schuldig macht[1], genau wie in den letzten Monaten nach dem relativen Abklingen der "ersten Welle"
Obwohl sich die Regierungen sehr wohl bewusst waren, dass es keine wirksame Behandlung gegen das neue Coronavirus gab, dass die Entwicklung eines Impfstoffs noch lange nicht abgeschlossen war und dass das Virus nicht unbedingt saisonal sein würde, wurden keine Schritte unternommen, um eine mögliche "zweite Welle" zu verhindern. Die Zahl des Krankenhauspersonals hat sich seit dem März dieses Jahres nicht erhöht, ebenso wenig wie die Zahl der Betten auf den Intensivstationen. In mehreren Ländern wurde die Politik zum Abbau des Gesundheitssystems sogar fortgesetzt. Alle Regierungen haben daher die Gesellschaft zur Rückkehr in die "Welt von früher" gedrängt und die Rückkehr der "glücklichen Tage" mit einem Slogan im Mund gefeiert: "Wir müssen die nationale Wirtschaft retten!“
Heute zwingen die europäischen Bourgeoisien mit der gleichen Parole die Ausgebeuteten erneut dazu, in ihren Häusern zu versauern, während sie sie gleichzeitig dazu drängen, sich an den Arbeitsplatz zu bewegen, wobei sie die Enge im öffentlichen Verkehr, die bei der Verbreitung des Virus förderlich ist (vor allem in den großen Metropolen), und das Fehlen ausreichender Gesundheitsmaßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Menschen am Arbeitsplatz und in den Schulen ignorieren!
Die Sorglosigkeit und Verantwortungslosigkeit, die die herrschende Klasse in den letzten Monaten an den Tag gelegt hat, hat sie erneut unfähig gemacht, die Pandemie unter Kontrolle zu halten. Infolgedessen neigt die überwältigende Mehrheit der europäischen Staaten eindeutig dazu, die Kontrolle über die Situation zu verlieren. Dies zum großen Unglück derer, die in großer Sorge vor Ansteckung zur Arbeit gehen müssen.
Im Gegensatz zu dem, was die herrschende Klasse behauptet, besteht kein Zweifel daran, dass ihre Absicht nicht darin besteht, Leben zu retten, sondern die katastrophalen Auswirkungen der Pandemie auf das Überleben des Kapitalismus so weit wie möglich zu begrenzen und gleichzeitig zu vermeiden, dass sich die Tendenz zum sozialen Chaos zu verstärkt.
Damit dies geschieht, muss das Funktionieren der kapitalistischen Maschinerie um jeden Preis gewährleistet sein, insbesondere den Unternehmen die Möglichkeit zu geben, Gewinne zu erwirtschaften. Ohne Angestellte in den Produktionsstätten ist keine Arbeit und damit perspektivisch auch kein Gewinn möglich, ein Risiko, das die Bourgeoisie um jeden Preis vermeiden will. Deshalb müssen Produktion, Handel, Tourismus und öffentliche Dienstleistungen so gut wie möglich gewährleistet sein; die Folgen für das Leben von Hunderttausenden oder gar Millionen von Menschen spielen dabei keine Rolle. Die herrschende Klasse hat in ihrer Logik keine andere Alternative, um das Überleben ihres eigenen Ausbeutungssystems zu garantieren.
Was immer sie auch tut, sie ist nicht mehr in der Lage, den unaufhaltsamen Niedergang des Kapitalismus in seiner historischen Krise zu stoppen. Dieser unumkehrbare Niedergang zwingt sie daher, sich so zu zeigen, wie sie ist: völlig ignorant gegenüber dem Wert des menschlichen Lebens und bereit, alles zu tun, um ihre Vorherrschaft zu erhalten, einschließlich, Zehntausende von Menschen sterben zu lassen, angefangen bei den Rentnern und Rentnerinnen, die in den Augen des Kapitals als "nutzlos" gelten. Die Pandemie wirft ein grelles Licht auf das unversöhnliche Verhältnis eines auf den Füßen verrottenden Kapitalismus gegenüber der Menschheit!
Die Ausgebeuteten haben daher von den Staaten und ihren Regierungen, die unabhängig von ihrer politischen Couleur Teil der herrschenden Klasse sind und in deren Dienst stehen, nichts zu erwarten. Die Ausgebeuteten haben nichts zu gewinnen, wenn sie die "Opfer", die ihnen zur "Rettung der Wirtschaft" auferlegt werden, akzeptieren, ohne mit der Wimper zu zucken.
Früher oder später wird die Bourgeoisie in der Lage sein, dieses Virus durch die Entwicklung eines wirksamen Impfstoffs zu beseitigen. Aber die Bedingungen der sozialen Zersetzung, die zu dieser Pandemie geführt haben, werden nicht verschwinden. Angesichts der bedingungslosen Konkurrenz zwischen den Staaten in ihrem wahnsinnigen "Wettlauf um einen Impfstoff" sieht seine Verteilung schon jetzt höchst problematisch aus. Wie bei Industrie- oder Umweltkatastrophen ist es mehr als wahrscheinlich, dass die Menschheit in Zukunft zunehmend mit globalen Pandemien konfrontiert sein wird, die zweifellos noch tödlicher sein werden.
Angesichts der wirtschaftlichen Katastrophe, die durch die Pandemie verschärft wird, der Explosion der Arbeitslosigkeit, des wachsenden Elends und des zunehmenden Arbeitstempos und Arbeitsdrucks wird die Arbeiterklasse keine andere Wahl haben, als für die Verteidigung ihrer Lebensbedingungen zu kämpfen. Schon jetzt wächst die Wut fast überall, und die Bourgeoisie versucht, sie vorübergehend zu lindern, indem sie allen Arbeiterfamilien verspricht, dass die Feierlichkeiten zum Jahresende stattfinden können (auch wenn es notwendig sein werde, große Versammlungen einzuschränken). Aber diese "Pause" von der Gefangenschaft zugunsten des „Waffenstillstands der Konditoren“ wird an der Substanz nichts ändern. Das Jahr 2021 wird nicht besser sein als das Jahr 2020, mit oder ohne Impfstoff.
Irgendwann, wenn der Schock dieser Pandemie überwunden ist, wird der Kampf wieder aufgenommen werden müssen.
Wenn die Arbeiterklasse den Weg des Kampfes gegen die Angriffe der Bourgeoisie, ihres Staates und ihrer Arbeitgeber wieder aufnimmt, wird sie ihre Einheit und Solidarität entwickeln können. Nur der Klassenkampf des Proletariats wird, indem er die heilige Allianz mit seinen Ausbeutern bricht, langfristig in der Lage sein, eine Perspektive für die gesamte Menschheit zu eröffnen, welche durch ein zerfallendes System der Ausbeutung vom Aussterben bedroht ist. Das kapitalistische Chaos kann sich nur weiter verschlimmern, mit immer mehr Katastrophen und neuen Pandemien. Die Zukunft liegt also in den Händen des Proletariats, denn nur es hat die Mittel, das Problem an der Wurzel zu packen und den Kapitalismus zu stürzen, um eine neue Gesellschaft aufzubauen.
Vinzenz, 11. November 2020
[1] Vgl. dazu auf unserer Webseite die Artikel, mit denen wir die weltweiten Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen brandmarken, https://de.internationalism.org/content/2931/pandemie-des-covid-19-frankreich-die-kriminelle-fahrlaessigkeit-der-bourgeoisie [17]
Die Weltwirtschaftskrise verschärft sich gegenwärtig brutal. Konkret und ohne jeden Zweifel wird die Arbeiterklasse auf der ganzen Welt unter einem gewaltigen Ausbruch von Arbeitslosigkeit, Ausbeutung, Prekarität und Armut leiden.
Mit diesem neuen Schritt versinkt der Kapitalismus weiter in seiner Dekadenz, was von den revolutionären Organisationen die Klärung folgender Fragen erfordert:
Gleichzeitig müssen wir uns vor einer auf den Moment beschränkten und ökonomistischen Sichtweise auf die Krise hüten, wie der vorgelegte Bericht betont. Wir müssen jede waghalsige Prognose vermeiden, wenn man bedenkt, dass wir das Tempo der Krise in der Vergangenheit überschätzt und eine unmittelbar bevorstehende Katastrophe erwartet haben, verbunden mit der Vorstellung, die Bourgeoisie befinde sich in einer Sackgasse. Abgesehen von der mangelnden Aneignung der Theorie Rosa Luxemburgs, hatten wir die Fähigkeit des Staatskapitalismus unterschätzt, mit den Erscheinungen der offenen Krise umzugehen, da er ja tatsächlich das Versinken des Systems in seine historische Krise begleitet und so sein Überleben ermöglicht hat. Die Waffen des Staatskapitalismus sind: das ständige Eingreifen in die Wirtschaft, Manipulationen und Betrug mit dem Wertgesetz. Dabei gelang es der herrschenden Klasse, innerhalb des Proletariats die Illusion aufrecht zu erhalten, dass der Kapitalismus kein bankrottes System, seine Erschütterungen nur vorübergehend und das Produkt zyklischer Krisen seien, denen notwendigerweise Perioden intensiver allgemeiner Entwicklung folgen würden.
Im 18. und 19. Jahrhundert befanden sich die großen kapitalistischen Nationen in einem hektischen Wettlauf um die Eroberung neuer Märkte und Gebiete. Aber um 1900 stießen sie auf ein Problem: Die Erde ist rund und nicht unendlich groß. So erreichten die imperialistischen Spannungen bereits vor Ausbruch einer Weltwirtschaftskrise ihren Höhepunkt, der Weltkrieg brach aus und der Kapitalismus trat in das Stadium seiner Dekadenz ein. Der Krieg von 1914-18 ist die Manifestation der extremsten Barbarei und Ergebnis der folgenden Tatsache: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um.“ [1]
Erst Ende der 1920er Jahre wurden die verschiedenen nationalen Bourgeoisien zum ersten Mal mit dem unmittelbar "wirtschaftlichen" Ausdruck dieses Eintritts in die Dekadenz konfrontiert: der Krise der allgemeinen und historischen Überproduktion. Wir wollen noch einmal Marx zitieren: „Zweitens, dass die kapitalistische Produktion keineswegs auf einer willkürlichen Stufe produziert, sondern jemehr sie sich entwickelt, so mehr gezwungen ist, auf einer Stufenleiter zu produzieren, die mit der immediate demand (unmittelbaren Nachfrage) nichts zu tun hat, sondern von einer beständigen Erweiterung des Weltmarktes abhängt. (…) Er übersieht, dass die Ware in Geld verwandelt werden muss. Die demand der Arbeiter genügt nicht, da der Profit ja grade dadurch herkommt, dass die demand der Arbeiter kleiner als der Wert ihres Produkts, und um so größer ist, je relativ kleiner diese demand. Die demand der capitalists untereinander genügt ebensowenig“ [2] (…) „Wird endlich gesagt, daß die Kapitalisten ja selbst nur unter sich ihre Waren auszutauschen und aufzuessen haben, so wird der ganze Charakter der kapitalistischen Produktion vergessen und vergessen, daß es sich um die Verwertung des Kapitals handelt, nicht um seinen Verzehr.“[3] Mit anderen Worten, die Krise der allgemeinen Überproduktion, die 1929 ausbrach, ist nicht mit einer Art Dysfunktion verbunden, die die Bourgeoisie regulieren oder überwinden kann. Nein, sie ist die Folge eines fundamentalen und unüberwindlichen Widerspruchs, der im Wesen des Kapitalismus selbst verwurzelt ist.
Die nationalen Bourgeoisien haben aus der katastrophalen Krise von 1929 gelernt: die Notwendigkeit, den Staatskapitalismus zu entwickeln und internationale Organisationen zu gründen, die die Krise begleiten, um den Fehler der protektionistischen Politik nicht zu wiederholen.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs wollte die Bourgeoisie die Lehren von 1929 in die Praxis umsetzen. Der Nachkriegsboom erzeugte die Illusion, dass der Kapitalismus seinen Wohlstand zurückgewinnt und löschte vorübergehend den Alptraum der Großen Depression der 1930er Jahre und die Schrecken des Krieges aus. Aber unvermeidlich bleiben die Widersprüche, die dem Wesen des Kapitalismus selbst innewohnen, ebenso wie seine historische Krise weiter bestehen. Dies zeigt sich in der Rückkehr der offenen Krise 1967-1968. Seitdem ist die Bourgeoisie, von Konjunkturpaketen bis hin zu tieferen Rezessionen, in einer Flucht nach vorn in die grenzenlose Verschuldung gefangen und versucht, die Auswirkungen des historischen Bankrotts ihres Systems ständig aufzuschieben. Die weltweite Verschuldung wird immer massiver – in absoluten Zahlen, aber auch im Vergleich zur Entwicklung des Welt-BIP. Parallel zu dieser rasanten Entwicklung haben die zentralen Länder die Organisation der Weltwirtschaft verändert:
Heute hat die Bourgeoisie immense Erfahrungen angehäuft, um die Auswirkungen ihrer historischen Krise zu verlangsamen, um deren Qualen noch weiter zu verlängern. Wir müssen daher mit unseren Prognosen äußerst vorsichtig sein und uns vor jeder katastrophistischen Sichtweise hüten. In der gegenwärtigen Verschärfung der Weltwirtschaftskrise sind es vor allem die großen historischen Grundtendenzen, die wir hervorheben müssen.
Ab 1929 lernte die Bourgeoisie, ihre verfallende Wirtschaft am Leben zu erhalten, insbesondere durch "internationale Zusammenarbeit". Selbst 2008 haben die berühmten G20 diese Fähigkeit der großen Bourgeoisien gezeigt, einen gewissen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten, um die Krise mit dem geringstmöglichen Schaden zu bewältigen. Das Jahr 2020 ist ein Zeichen dafür, dass es immer schwieriger wird, diese Organisierung der Welt aufrechtzuerhalten, wobei die Irrationalität, die mit dem Zerfall verbunden ist, selbst auf den höchsten Staatsgipfeln auffällt. Der Ansatz "Jeder für sich selbst", der bei der katastrophalen Bewältigung der Pandemie zu Tage trat, ist deren spektakulärster Ausdruck. Diese Zentrifugalkraft hat zwei Wurzeln:
Was wir sehen, ist, dass sich als Reaktion auf die Pandemie das Tempo bei den Maßnahmen für die "nationale Zurückverlagerung" der Produktion, die Erhaltung der Schlüsselsektoren in jedem nationalen Kapital, die Entwicklung von Barrieren für den internationalen Waren- und Personenverkehr, usw. beschleunigt hat, was nur sehr schwerwiegende Folgen für die Entwicklung der Weltwirtschaft und die allgemeine Fähigkeit der Bourgeoisie, auf die Krise zu reagieren, haben kann. Der nationale Rückzug kann die Krise nur verschärfen und zu einer Zersplitterung der Produktionsketten führen, die zuvor eine globale Dimension hatten, was wiederum nur die Saat des Chaos in der Geld-, Finanz- und Handelspolitik säen kann ... Das kann bis zur Blockade und sogar zum teilweisen Zusammenbruch einiger Volkswirtschaften gehen. Es ist noch zu früh, um die Folgen dieser relativen Lähmung des Wirtschaftssystems zu ermessen. Am schwerwiegendsten und bedeutsamsten ist jedoch, dass sich diese Lähmung auf internationaler Ebene vollzieht.
Die gegenwärtige Beschleunigung der Weltwirtschaftskrise ist Teil der allgemeinen Entwicklung der Dekadenz des Kapitalismus. Abgesehen von den sichtbaren Phänomenen, die mit der gegenwärtigen "offenen Krise" verbunden sind, ist es für uns wichtig, die Verstärkung der tiefen Widersprüche des Kapitalismus und damit die Verschärfung seiner historischen Krise besser zu verstehen.
Bezüglich der Wirtschaftskrise können wir die folgenden zwei Perspektiven klar unterstreichen:
Doch über die Gültigkeit dieser allgemeinen Vorhersagen hinaus, wird die beispiellose Situation, die sich eröffnet hat, mehr denn je von großer Unsicherheit geprägt sein. Genauer gesagt, in der gegenwärtigen Phase der historischen Krise der Überproduktion bringt das Eindringen des Zerfalls auf das wirtschaftliche Terrain die Mechanismen des Staatskapitalismus, die die Auswirkungen der Krise begleiten und begrenzen sollen, zutiefst durcheinander. Dennoch es wäre falsch und gefährlich, den Schluss daraus zu ziehen, dass die Bourgeoisie ihre politischen Fähigkeiten nicht voll ausschöpfen wird, um im besten Interesse ihrer eigenen Interessen auf die sich abzeichnende globale Wirtschaftskrise zu reagieren. Die Verschärfung des Gewichts des Zerfalls bedeutet darüber hinaus einen Faktor der Instabilität und Fragilität des wirtschaftlichen Funktionierens, der es besonders schwierig macht, die Entwicklung der Situation zu analysieren.
In der Vergangenheit haben wir unsere Augen zu oft nur auf die Aspekte der Situation gerichtet, welche die wirtschaftliche Krise des Kapitals zu ihrer unaufhaltsamen Verschärfung trieben, aber nicht alle Faktoren die ihre Entwicklung behinderten ausreichend berücksichtigt. Nun geht es darum, der marxistischen Analysemethode treu zu bleiben, die darin besteht, die historisch schwerwiegenden Tendenzen der sich eröffnenden Perspektiven, aber auch die Gegentendenzen zu identifizieren, auf die die Bourgeoisie bald reagieren wird. Wir müssen daher so klar wie möglich die Grundzüge der künftigen Entwicklung aufzeigen, ohne in riskante und unsichere Prognosen zu verfallen. Wir müssen uns für die Situation wappnen und sicherstellen, dass wir unsere Fähigkeit zur schnellen Reflexion und Reaktion auf Ereignisse von großer Bedeutung, die sich zwangsläufig weiterentwickeln werden, verbessern und umsetzen. Unsere Methode muss von folgendem Ansatz inspiriert sein: "Der Marxismus kann nur die allgemeinen historischen Linien und Tendenzen mit Sicherheit nachzeichnen. Die Aufgabe der revolutionären Organisationen muss vor allem die sein, Perspektiven für ihr Eingreifen in die Klasse aufzuzeigen. Aber diese Perspektiven dürfen keine "Vorhersagen" sein, die auf deterministischen mathematischen Modellen basieren (und noch weniger, indem man die Vorhersagen der "Experten" der Bourgeoisie für bare Münze nimmt, sei es im Sinne eines falschen "Optimismus" oder eines ebenso mystifizierenden "Alarmismus")." (Zitat aus einem internen Diskussionsbeitrag)
Die Krise von 2008 war ein wichtiger Moment für den Kapitalismus. Die Erholung (2013-2018) war sehr schwach, die schwächste seit 1967. Sie wurde von der Bourgeoisie als "sanfte" Erholung beschrieben. Für das Jahrzehnt vor der Covid-19-Krise (2010-2020), schätzte die Website Cycle Business Bourse auf anscheinend realistische Weise das weltweite Wachstum auf etwas weniger als 3% im Jahresdurchschnitt ein. Die Wirtschaftskrise, die mit der Pandemie zutage trat, hat insbesondere ab 2018 bereits erste deutliche Ausdrucksformen gefunden. Wir hatten dies im Bericht und in der Resolution über die internationale Lage des 23. Kongresses der IKS (2019) hervorgehoben: "Auf wirtschaftlicher Ebene ist die Situation des Kapitalismus seit Anfang 2018 durch eine starke Verlangsamung des weltweiten Wachstums gekennzeichnet (von 4% im Jahr 2017 auf 3,3% im Jahr 2019), aufgrund derer die Bourgeoisie eine weitere Verschlechterung in den Jahren 2019-20 erwartet. Diese Verlangsamung erwies sich 2018 als stärker wie erwartet, und der IWF musste seine Prognosen für die nächsten zwei Jahre zurückschrauben, und sie betrifft praktisch alle Teile des Kapitalismus gleichzeitig: China, die Vereinigten Staaten und die Eurozone. Im Jahr 2019 haben sich 70% der Weltwirtschaft verlangsamt, insbesondere in den „fortgeschrittenen“ Ländern (Deutschland, Vereinigtes Königreich). Einige der Schwellenländer befinden sich bereits in der Rezession (Brasilien, Argentinien, Türkei), während China, das sich seit 2017 verlangsamt und 2019 voraussichtlich noch um 6,2% wachsen wird, die niedrigsten Wachstumsraten seit 30 Jahren verzeichnet." (Punkt 16 der Resolution[5])
Vor diesem Hintergrund des sich verlangsamenden Wachstums ist die Pandemie zu einem starken Beschleuniger der Wirtschaftskrise geworden, der drei Faktoren in den Vordergrund rückt:
Wichtigster Ausdruck der Schwere der Krise ist, dass (anders als 2008) die zentralen Länder (Deutschland, China und vor allem die Vereinigten Staaten) am stärksten betroffen sind. Auch wenn sie alle Mittel haben, die Krise abzufedern, wird die Schockwelle die Weltwirtschaft stark destabilisieren.
Der starke Rückgang der Ölpreise traf die Vereinigten Staaten hart: Vor Ausbruch der Pandemiekrise gab es einen "Ölpreiskrieg". Infolgedessen wurden die Ölpreise vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte negativ. Selbst die optimistischsten Energieanalysten sagen den Bankrott von nahezu hundert Ölfirmen in den Vereinigten Staaten voraus. Einige von ihnen haben Schulden in Milliardenhöhe angehäuft, ein Großteil davon mit hohem Risiko: "Der erste Gefahrenherd bei der Verschuldung von Unternehmen ist der Energiebereich", sagt Capital Economics, obwohl Macadam dies nicht für ein systemisches Risiko hält. Aber eine Kette von Zahlungsausfällen im Ölsektor würde das Risiko einer Finanzkrise erhöhen. Und wenn einer der am höchsten verschuldeten Ölgiganten der Welt – Shell zum Beispiel hat mit 77 Milliarden US-Dollar eine der höchsten Schulden der Welt – in Schwierigkeiten geraten würde, wären die Auswirkungen verheerend." [6]
Diese negativen Preise sind ein perfektes Beispiel für den Grad der Irrationalität des Kapitals. Überproduktion von Öl und ungezügelte Spekulation in diesem Sektor bedeuten, dass die Ölbesitzer dafür bezahlen, überschüssiges Öl loszuwerden, das nicht gelagert werden kann, weil es keinen Platz dafür gibt.
Während 2008 die Bankenzusammenbrüche vor allem durch Immobilienspekulation vorangetrieben wurden, sind es heute die direkt produktiven Unternehmen, die den Bankensektor gefährden: "Die vier größten US-Unternehmen, JP Morgan, Bank of America, Citigroup und Wells Fargo, haben laut Statista allein im Jahr 2019 jeweils mehr als 10 Milliarden Dollar in den Ölfracking-Sektor investiert. Und nun sind diese Ölfirmen ernsthaft gefährdet, zahlungsunfähig zu werden, so dass die Banken mit Papierkram in ihren Bilanzen zurückbleiben (...) Laut Moody's wurden 91% der US-Unternehmenskonkurse im letzten Quartal des vergangenen Jahres im Öl- und Gassektor verzeichnet. Die von Energy Economics and Financial Analysis zur Verfügung gestellten Daten weisen darauf hin, dass Unternehmen, die Fracking [besonders „ehrgeizige“ Öl- und Gasgewinnung durch Einpumpen von Material in erdölhaltige Gesteinsschichten] betreiben, im vergangenen Jahr nicht in der Lage waren, Schulden in Höhe von 26 Milliarden Dollar zu bezahlen."[7] Mit der Pandemie verschlimmert sich die Situation ernsthaft: "Rystad Energy Consulting schätzt, dass selbst bei einer Rückgewinnung der 20 Dollar pro Barrel bis 2021 533 US-amerikanische Ölfirmen zahlungsunfähig werden könnten. Aber wenn die Preise bei 10 Dollar bleiben, könnte es über 1.100 Konkurse geben, mit praktisch allen Unternehmen." [8]
Der Kapitalismus – in der Form des Staatskapitalismus – unternimmt enorme Anstrengungen, um die lebenswichtigen Zentren des Systems zu schützen und einen brutalen Absturz zu verhindern, wie es im Bericht zur Wirtschaftskrise des 23. Internationalen Kongresses der IKS heißt: "Indem er sich auf die Hebel des Staatskapitalismus verlässt und die Lehren aus 1929 zieht, ist der Kapitalismus in der Lage, seine lebenswichtigen Zentren (insbesondere die Vereinigten Staaten und Deutschland) zu erhalten, die Krise zu begleiten und ihre Auswirkungen abzuschwächen, indem er sie in die schwächsten Länder zurückdrängt, ihr Tempo verlangsamt und sie zeitlich hinauszieht."
Der Staatskapitalismus hat verschiedene Phasen durchlaufen, mit denen wir begonnen haben, uns zu befassen, insbesondere bei einem Studientag im Jahr 2019. Seit 1945 haben die Bedürfnisse der imperialistischen Blöcke eine gewisse Koordinierung der staatlichen Verwaltung der Wirtschaft auf internationaler Ebene, insbesondere im amerikanischen Block, mit der Schaffung internationaler "Kooperations"-Gremien (OECD, IWF, Beginn der EU) und der Handelsorganisation (GATT) erzwungen.
In den 1980er Jahren versuchte das Kapital der zentralen Länder, überwältigt vom Anstieg der Krise und unter einem starken Rückgang der Profite leidend, ganze Produktionsbereiche in Länder zu verlagern, in denen die Arbeitskraft viel billiger war, wie zum Beispiel China. Zu diesem Zweck bedurfte es einer sehr weitreichenden finanziellen "Liberalisierung" auf globaler Ebene, um Kapital für die notwendigen Investitionen zu mobilisieren. In den 1990er Jahren, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, wurden die internationalen Gremien gestärkt, was zu einer Struktur der "internationalen Zusammenarbeit" bei der währungs-, finanz- und wirtschaftspolitischen Koordinierung, dem Aufbau internationaler Produktionsketten, der Stimulierung des Welthandels und der Beseitigung von Zollschranken usw. führte. Dieser Rahmen sollte den stärksten Ländern zugute kommen: Sie konnten neue Märkte erobern, ihre Produktion verlagern und einige der profitabelsten Unternehmen aus den schwächeren Ländern übernehmen. Letztere waren gezwungen, ihre eigene staatliche Politik zu ändern. Die Verteidigung des nationalen Interesses betraf fortan nicht mehr den Zollschutz von Schlüsselindustrien, sondern vielmehr die Entwicklung der Infrastruktur, die Ausbildung der Arbeitskräfte, die internationale Expansion von Schlüsselunternehmen, die Einnahme internationaler Investitionen usw. Letztere waren gezwungen, ihre eigene staatliche Politik zu ändern.
Zwischen 1990 und 2008 gab es "eine umfassende Reorganisation der kapitalistischen Produktion auf globaler Ebene (...) Nach dem Beispiel der EU bei der Beseitigung von Zollschranken zwischen den Mitgliedstaaten wurde die Integration vieler Zweige der Weltproduktion durch die Entwicklung echter Produktionsketten auf globaler Ebene verstärkt. Durch die Kombination von Logistik, Informationstechnologie und Telekommunikation, werden Größenvorteile erzielt; durch die verstärkte Nutzung der Arbeitskraft des Proletariats (durch erhöhte Produktivität, internationalen Wettbewerb, Freizügigkeit der Arbeitskräfte, um niedrigere Löhne durchzusetzen), die Unterordnung der Produktion unter die finanzielle Logik der maximalen Rentabilität hat der Welthandel, wenn auch in geringerem Maße, weiter zugenommen, die Weltwirtschaft stimuliert und einen „zweiten Atemstoß“ erzeugt, der die Existenz des kapitalistischen Systems verlängert hat." (Punkt 18 der bereits zitierten Resolution des 23. Internationalen Kongresses)
Diese "internationale Zusammenarbeit" war eine sehr riskante und kühne Politik, um die Krise zu mildern und einige der Auswirkungen des Zerfalls auf die Wirtschaft abzuschwächen. Dies, indem versucht wurde, die Auswirkungen des kapitalistischen Widerspruchs zwischen dem sozialen und globalen Charakter der Produktion und dem privaten Charakter der Aneignung von Mehrwert durch konkurrierende kapitalistische Nationen zu begrenzen. Eine solche Entwicklung des dekadenten Kapitalismus wird in unserer Broschüre über die Dekadenz erklärt, in der sie die Vision kritisiert, Dekadenz sei gleichbedeutend mit einer definitiven und dauerhaften Blockade der Entwicklung der Produktivkräfte: "Falls wir die Hypothese eines endgültigen und ständigen Stillstands dieser Entwicklung verteidigten, könnte nur eine "absolute" Verschärfung der Beschränkungen, den die Produktionsverhältnisse darstellen, die Tendenz zur eindeutigen Zuspitzung dieses Widerspruchs erklären. Man kann jedoch feststellen, dass die Bewegung, die sich im Allgemeinen während der verschiedenen Dekadenzzeiträume der Geschichte (der Kapitalismus eingeschlossen) entwickelt, eher zu einer Ausdehnung der Grenzen bis zu deren ‘Äußerten’ neigt als zu einem Schrumpfen derselben. Unter dem Schutz des Staates und unter dem Druck der wirtschaftlichen und sozialen Notwendigkeiten dehnt sich das Gehäuse aus, indem es alles von sich stößt, was sich für die Produktionsverhältnisse als überflüssig erweisen kann und für das Überleben des Systems nicht unbedingt notwendig ist." Dies gilt umso mehr für den Kapitalismus, die bisher elastischste und dynamischste Produktionsweise in der Geschichte.
Wie aus dem Bericht über die Wirtschaftskrise und der Resolution über die internationale Lage des 23. Kongresses hervorgeht, begann diese "weltweite Organisation der Produktion" im Jahrzehnt 2010 ins Wanken zu geraten: Nachdem China in hohem Maße von den Welthandelsmechanismen (der WTO) profitiert hatte, begann es, einen parallelen Wirtschafts-, Handels- und imperialistischen Mechanismus (die neue Seidenstraße) zu entwickeln. Der Handelskrieg beschleunigte sich mit der Machtübernahme von Trump ... Diese Phänomene bringen zweifellos zum Ausdruck, dass der Kapitalismus bei seiner Tendenz, diese berühmten Grenzen, die in unserer Broschüre über die Dekadenz zitiert werden, zu erweitern, zunehmend auf große Schwierigkeiten stößt.
"Seit den 1960er Jahren befindet sich dieser Indikator [der das Gewicht der Exporte und Importe in den einzelnen Volkswirtschaften misst] in einem Aufwärtstrend, der sich in den letzten 18 Monaten verlangsamt hat. In diesem Zeitraum hat er sich, ausgehend von etwa 23 Prozent, bei etwa 60 Prozent stabilisiert und ist seit 2010 stetig zurückgegangen."[9]
Drei Faktoren, die den Ursprung der Pandemiekrise bilden, beschreiben die Auswirkungen des Zerfalls auf die Ökonomie: die Tendenz des „Jeder-für-sich“, Fahrlässigkeit und Verantwortungslosigkeit. Zwei von ihnen haben ihren direkten Ursprung im Zerfall des Kapitalismus: das „Jeder-für-sich“ und die Verantwortungslosigkeit. Dies sind sehr sensible Faktoren, die die Bourgeoisie – zumindest in den zentralen Ländern – so weit wie möglich unter Kontrolle zu bringen vermochte, wenn auch mit zunehmenden Schwierigkeiten. Im gegenwärtigen Stadium der Entwicklung der inneren Widersprüche des Kapitalismus und angesichts der Art und Weise, wie sie sich in der Entwicklung der Krise manifestieren, wird die Explosion der Auswirkungen des Zerfalls nun zu einem Faktor der Verschärfung der Weltwirtschaftskrise, von der wir nur die allerersten Konsequenzen gesehen haben. Dies wird auf der Weiterentwicklung der Krise lasten, da es ein Hindernis für die effektive Wirksamkeit der gegenwärtigen Politik des Staatskapitalismus darstellt. "Im Vergleich zu den Reaktionen auf die Krisen von 1975, 1992, 1998 und 2008 sehen wir als Perspektive eine erhebliche Verringerung der Fähigkeit der Bourgeoisie, die Auswirkungen des Zerfalls auf das wirtschaftliche Terrain zu begrenzen. Bisher war es der Bourgeoisie gelungen, durch eine "internationale Zusammenarbeit" bei den Mechanismen des Staatskapitalismus – was als "Globalisierung" bezeichnet wurde – das lebenswichtige Terrain der Wirtschaft und des Welthandels vor den hochgefährlichen zentrifugalen Effekten des Zerfalls zu bewahren. Bei den schlimmsten wirtschaftlichen Erschütterungen der Jahre 2007-2008 und 2009-2011, mit der "Staatsschulden"-Krise, war die Bourgeoisie in der Lage, ihre Reaktionen zu koordinieren, was dazu beigetrug, den Schlag der Krise ein wenig abzumildern und eine anämische "Erholung" in der Phase 2013-2018 zu garantieren." (aus einem internen Beitrag in der IKS zur Wirtschaftskrise)
Mit der Pandemie haben wir gesehen, wie die Bourgeoisie versucht, die Bevölkerung hinter dem Staat zu vereinen, indem sie die nationale Einheit wiederbelebt. Im Gegensatz zu 2008, als die nationalistische Tonlage nicht so stark war, haben jetzt die Bourgeoisien auf der ganzen Welt ihre Grenzen geschlossen und die Botschaft verbreitet: "Hinter nationalen Grenzen findet man Schutz, Grenzen helfen, das Virus zurückzuhalten." Auf diese Weise versuchen die verschiedenen Staaten, die Bevölkerung hinter sich zu scharen; sie sprechen überall in martialischen Begriffen und Botschaften: "Wir sind im Krieg, und Krieg braucht nationale Einheit", "der Staat wird euch helfen", "wir werden euch aus der Patsche helfen", "indem wir die Grenze schließen, werden wir das Virus fernhalten". Durch die Auferlegung von Notfallplänen und durch die Organisation von Schließungen wollen die Staaten die Botschaft vermitteln: "Ein starker Staat ist dein bester Verbündeter."
Die WHO war genau in dem Moment völlig untätig, als ihr Handeln für die Entwicklung wirksamer medizinischer Maßnahmen entscheidend war. Jeder Staat, der einen Verlust der Wettbewerbsposition befürchtet, hat angesichts der Pandemie selbstmörderisch Maßnahmen verzögert. Bei der Beschaffung medizinischer Geräte kam es zu einem erschütternden Schauspiel aller Arten von Diebstählen, zu miesen Geschäften zwischen den Staaten (und sogar innerhalb der einzelnen Staaten). In der EU, wo die "zwischenstaatliche Zusammenarbeit" bisher so weit wie möglich gegangen war, gab es eine ungebremste Welle von Protektionismus und wirtschaftlichem „Jeder-für-sich“. Die EU hat nicht nur keine rechtliche Möglichkeit, ihre Vorgaben im Gesundheitssektor durchzusetzen, sondern vor allem hat jedes Land Maßnahmen ergriffen, um seine Grenzen und seine Versorgungsketten zu verteidigen. Wir waren, wenn auch nicht zum ersten Mal, Zeug*innen einer regelrechten Warenblockade, der Beschlagnahmung von Gesundheitsausrüstung und eines Verbots, diese in andere europäische Länder zu liefern.
All dies ist eine noch gravierendere Veranschaulichung der Perspektive, die in der Resolution über die internationale Lage des letzten Internationalen Kongresses dargelegt wurde: „Die aktuelle Entwicklung der Krise durch die zunehmenden Störungen, die sie in der Organisation der Produktion zu einer riesigen multilateralen Konstruktion auf internationaler Ebene erleidet, die durch gemeinsame Regeln vereinheitlicht sein sollten, zeigt die Grenzen der „Globalisierung“. Das ständig wachsende Bedürfnis nach Einheit (was nie etwas anderes bedeutet hat als die Auferlegung des Gesetzes des Stärkeren auf die Schwächsten) einer aufgrund der „transnationalen“ Verflechtung stark nach Ländern segmentierten Produktion (in Einheiten, die grundsätzlich durch Wettbewerb getrennt sind und in denen jedes Produkt an einem Ort entworfen und mit Hilfe von Elementen, die anderswo hergestellt werden, an einem dritten Ort zusammengebaut wird) stößt sich am nationalen Wesen jedes Kapitals, an die Grenzen des Kapitalismus, der unwiderruflich in sich gegenseitig konkurrierende Nationen aufgeteilt ist. Dies ist der maximale Grad der Einheit, den die bürgerliche Welt nicht aufheben kann. Die sich vertiefende Krise (sowie die Forderungen der imperialistischen Rivalität) stellen multilaterale Institutionen und Mechanismen auf eine harte Probe.“ (Punkt 20) Wir sehen, dass als Antwort auf die Pandemie die Maßnahmen der "nationalen Produktionsrückverlagerung", des Erhalts von Schlüsselsektoren in jedem nationalen Kapital, der Entwicklung von Barrieren für den internationalen Waren- und Personenverkehr usw. sehr deutlich zurückgedrängt sind, was nur schwerwiegende Auswirkungen auf die Entwicklung der Weltwirtschaft und auf die allgemeine Fähigkeit der Bourgeoisie, auf die Krise zu reagieren, haben kann. Der nationale Rückzug kann die Krise nur verschlimmern und zu einer Zersplitterung der Produktionsketten führen, die zuvor eine globale Dimension hatten, was nur die Saat des Chaos in der Währungs-, Finanz- und Handelspolitik säen kann ... Dies kann zur Blockade und sogar zum teilweisen Zusammenbruch einiger Volkswirtschaften führen. Es ist noch zu früh, um die Folgen dieser relativen Lähmung des Wirtschaftsapparates zu messen. Am schwerwiegendsten und bedeutsamsten ist jedoch, dass sich diese Lähmung auf internationaler Ebene vollzieht.
Die weit verbreitete Reaktion des Staates auf die Pandemie verdeutlicht die Stichhaltigkeit der Analyse im Bericht zur Wirtschaftskrise des 23. Kongresses: "Einer der größten Widersprüche des Kapitalismus ist der, der sich aus dem Konflikt zwischen der zunehmend globalen Natur der Produktion und der notwendigerweise nationalen Struktur des Kapitals ergibt. Indem er die Möglichkeiten der "Zusammenschlüsse" der Nationen auf wirtschaftlicher, finanzieller und produktiver Ebene bis an die Grenzen ausreizt, hat der Kapitalismus in seinem Kampf gegen die Krise, die ein Wundbrand ist, einen bedeutenden "frischen Wind" bekommen, aber gleichzeitig hat er sich selbst in eine riskante Situation gebracht. Dieser überstürzte Vorstoß in den Multilateralismus entwickelt sich in einem Rahmen des Zerfalls, d.h. in einer Situation, in der Disziplinlosigkeit, zentrifugale Tendenzen, Verankerung in der nationalen Struktur immer stärker werden und nicht nur Fraktionen jeder nationalen Bourgeoisie betreffen, sondern auch große Teile der Kleinbourgeoisie und sogar Randgruppen von Proletariern, die fälschlicherweise glauben, dass ihr Interesse der Nation gilt. All dies kristallisiert sich zu einer Art "nihilistischem nationalistischem Aufstand" gegen die "Globalisierung".“
Wir werden die von der Bourgeoisie eingeleitete Reaktion untersuchen, die sich in 3 Teile gliedert: 1. die Fortsetzung der enormen Verschuldung, 2. der nationale Rückzug, 3. der brutale Angriff auf die Lebensbedingungen der Arbeiter.
Die weltweite Verschuldung belief sich im Jahr 2020 auf 255 Billionen Dollar oder 322% des Welt-BIP, während sie vor der Krise von 2008 bei 60 Billionen Dollar lag. Seitdem hat sich das Welt-BIP nur relativ "sanft" entwickelt. Hier haben wir ein Bild der Entwicklung der privaten und öffentlichen Verschuldung in den letzten dreizehn Jahren, die es ermöglicht hat, das, was die Bourgeoisie als "sanftes" Wachstum bezeichnet hat, aufrechtzuerhalten. Angesichts der gewaltigen Beschleunigung der Wirtschaftskrise, die durch die Pandemie ausgelöst wurde, hat die Bourgeoisie überall auf der Welt mit der Schöpfung von zusätzlichem Geld durch die Zentralbanken aller Industrie- und Schwellenländer reagiert. Im Gegensatz zur Krise von 2008 gab es keine Koordination zwischen den großen Zentralbanken der Welt. Diese massive Schaffung von Zentralbankgeld und die Verschuldung entsprachen der Angst, die die bürgerliche Klasse angesichts des Ausmaßes der Rezession, die sich vor ihr aufzutun schien, überkam. Nimmt man einen Durchschnitt der von der Bourgeoisie Ende Mai genannten Zahlen, so ergeben sich folgende Prognosen für einen Wachstumsrückgang:
Nimmt man die niedrigste Hypothese der Bourgeoisie und das Ausbleiben einer zweiten Welle der Pandemie, so dürfte das weltweite Wachstum im Jahr 2020 einen starken Rückgang von mindestens 3% erfahren, einen viel stärkeren Rückgang als während der Krise 2008-2009.
Hier ist eine Zusammenfassung der unsicheren Aussichten des IWF (die im Durchschnitt der von offiziellen Stellen auf internationaler Ebene erstellten Prognosen liegen):
Länder 2019 2020
Entwickelte Länder 2,9 -3
Eurozone 1,7 -6,1
Deutschland 0,6 -7
Frankreich 1,3 -7,2
Italien 0,3 -9,1
Spanien 2 -8
Japan 0,7 -5,2
GB 1,4 -6,5
China 6,1 1,2
Indien 4,2 1,9
Brasilien 1,1 -5,3
Russland 1,3 -5,5
Weltweiter Durchschnitt 2,4 -4,2
Volumen des Welthandels 2019 2020
Importe der fortgeschrittenen Länder 1,5 -11,5
Importe der Schwellen- und Entwicklungsländer 0,8 -8,2
Exporte der Schwellen- und Entwicklungsländer 0,8 -9,6
Diese Tabellen geben nicht nur einen Überblick über den voraussichtlichen Rezessionsverlauf, sondern auch über die erwartete Schrumpfung des Welthandels.
Eine Synthese der Diskussion innerhalb unserer Organisation nennt die folgenden anschaulichen Zahlen: "Die Situation ist nur deshalb haltbar, weil die Staatsschulden und ihre Rückzahlung von den Zentralbanken übernommen werden; so spritzt die Fed wöchentlich 625 Milliarden Dollar in die US-Wirtschaft, während der 2009 gestartete Paulson-Plan zur Eindämmung von Bankzusammenbrüchen insgesamt 750 Milliarden Dollar betrug (obwohl es stimmt, dass in den folgenden Jahren weitere Pläne zum Rückkauf von Schulden durch die Fed auf den Weg gebracht werden)". "Die auffälligste Reaktion von allen kam aus Deutschland, obwohl sie nur Teil einer umfassenderen europäischen Reaktion auf die Beschleunigung der Wirtschaftskrise ist. Der Grund, warum die von der deutschen Regierung geplanten Maßnahmen von besonderer Bedeutung sind, wird in einem Artikel in der Financial Times vom Montag, dem 23. März, erläutert: "Die von Finanzminister Olaf Scholz vorgeschlagenen Maßnahmen stellen einen entscheidenden Bruch mit dem strikten Festhalten der Regierung an der Politik der 'schwarzen Null' dar, die Haushalte auszugleichen und keine neuen Kredite aufzunehmen."[10] "Seit Februar wurden 14 Billionen Dollar freigegeben, um den Zusammenbruch zu verhindern. All dies in einem völlig anderen Kontext als in der Vergangenheit. Wie kann diese "expansionistische" Politik – die die Unterschiede zwischen Zentralbanken und Staaten, dem Aufschwung, den Rettungsplänen überwunden hat – wirksam sein?"[11] Ein weniger bekanntes Beispiel betrifft China, das eines der am höchsten verschuldeten Länder der Welt ist, obwohl es über bedeutende, nicht zu unterschätzende Vermögenswerte verfügt. Die Gesamtverschuldung Chinas im Jahr 2019 entspricht 300% seines BIP, oder 43 Billionen Dollar. Darüber hinaus werden 30% der Unternehmen in China als "Zombie-Unternehmen" eingestuft. Dies ist der höchste Prozentsatz der Welt. Es ist auch das Land mit der niedrigsten Auslastungsrate der Produktionskapazitäten, obwohl alle entwickelten Länder dieses Phänomen der Produktionsüberkapazitäten erleben. Offiziell lag der Auslastungsgrad der industriellen Kapazitäten der beiden führenden Mächte der Welt – und das war vor Covid-19 – in China bei 76,4% und in den Vereinigten Staaten bei 78,2%. Der in China aufgestellte Konjunkturplan werde sich auf 64 Billionen Dollar belaufen, was pharaonisch und wahrscheinlich weitgehend für ideologische Propaganda gedacht ist. Das Konjunkturpaket ist für einen Zeitraum von fünf bis zwanzig Jahren geplant, und unabhängig davon, wie die Realität aussieht, muss es unbedingt mit Chinas wirtschaftlichen und imperialistischen Hegemoniezielen verknüpft werden. Das Konjunkturpaket der Vereinigten Staaten beläuft sich auf 10 Billionen Dollar. Im Vergleich dazu erscheint das Konjunkturprogramm der EU geradezu lächerlich, wenn man bedenkt, dass es sich nach neuesten Informationen auf 1290 Milliarden US-Dollar in Form von Krediten beläuft, die zum Teil von den Finanzmärkten und zum Teil direkt von der EZB finanziert werden. In Wirklichkeit beläuft sich das Geld, das die EZB der gesamten Wirtschaft, den Privatbanken, der versteckten Finanzierung und den Unternehmen zur Verfügung stellt, auf mehrere Milliarden Euro. Die Staaten, insbesondere Deutschland, garantieren einen Teil dieses Plans durch Subventionen und die Vergemeinschaftung des Ausfallrisikos auf Darlehen, die zwischen 2028 und 2058 zurückzuzahlen sind! In Wirklichkeit ist die Bourgeoisie dabei einzugestehen, dass ein großer Teil der weltweiten Schulden niemals zurückgezahlt werden wird. Damit sind wir wieder bei den Aspekten angelangt, über die wir jetzt sprechen werden.
Wir können in diesem Bericht weder über das volle Ausmaß der laufenden Geldschöpfung berichten, noch können wir alle Konjunkturprogramme im Einzelnen darlegen. Eine weitere Realität zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels: Die USA liegen bei 10 Billionen Dollar. Während all dies jenseits aller Vorstellungskraft zu liegen scheint, bleibt die Tatsache bestehen, dass der Kapitalismus diese astronomische Geldschöpfung nutzt, um zu investieren und seine Waren zu verkaufen. Unter diesem Gesichtspunkt muss die zentrale und private Geldschöpfung exponentiell wachsen (in verschiedenen Formen), um die Akkumulation so weit wie möglich aufrechtzuerhalten und in der gegenwärtigen Situation den Absturz in die Depression zu verlangsamen. Diese Depression birgt die Gefahr einer Deflation, vor allem aber die Gefahr einer Stagflation. Die Abwertung der Währungen, auch über den aktuellen Währungskrieg hinaus, der sie begünstigt, ist Teil der Krise des Kapitalismus. Die Beschleunigung der gegenwärtigen Krise ist ein sehr bedeutender Schritt in diese Richtung. Der springende Punkt ist der folgende: In jedem Land, und in immer größerem Maße, verpfändet das globale Kapital den zukünftigen Wert, der produziert und realisiert werden soll, um das gegenwärtige Wachstum und die weitere Akkumulation zu ermöglichen. Es ist also weitgehend dieser Erwartung zu verdanken, dass es dem Kapitalismus gelingt, zu kapitalisieren und zu investieren. Dieser Prozess konkretisiert die Tatsache, dass die kolossalen Schulden, die ausgegeben werden, immer weniger durch den bereits produzierten und realisierten Mehrwert gedeckt werden. Dies eröffnet die Aussicht auf immer größere Finanz-Crashs und die Vernichtung von Finanzkapital. Logischerweise impliziert dieser Prozess, dass der Binnenmarkt für Kapital nicht unendlich wachsen kann, auch wenn es keine feste Grenze dafür gibt. In diesem Rahmen stellt die Krise der Überproduktion im gegenwärtigen Stadium ihrer Entwicklung ein Problem der Rentabilität und des Profits für den Kapitalismus dar. Die Bourgeoisie schätzt, dass etwa 20% der Produktivkräfte der Welt nicht genutzt werden. Die Überproduktion von Produktionsmitteln ist besonders augenfällig und betrifft Europa, die Vereinigten Staaten, Indien, Japan, usw.
Das ist wichtig, wenn wir feststellen wollen, wie der Staatskapitalismus angesichts der kommenden Krise unbedingt gestärkt werden muss, wie aber die Konjunkturprogramme sehr starke Einschränkungen enthalten und zunehmend perverse Effekte eindämmen, und wie die Tendenz des „Jeder-für-sich“ in diesem Zusammenhang das Produkt des Zerfalls, aber auch der wachsenden wirtschaftlichen Sackgasse ist, eine Tendenz, der sich der Kapitalismus nicht entziehen kann, die aber auch historisch eine tödliche Dynamik darstellt. In diesem Sinne wird es in der kommenden Periode wichtig sein, die Geschichte der offenen Krisen des Kapitalismus zu studieren und zu vergleichen. Insbesondere jene von 1929, 1945, 1975, 1998, 2008.
Die Situation, die sich mit der sehr tiefgreifenden Beschleunigung der gegenwärtigen Krise eröffnet, rückt die Rolle der Staaten (und damit ihrer Zentralbank, denn der Mythos von der Unabhängigkeit der Zentralbank ist vorbei) wieder in den Vordergrund. Es wird interessant sein zu zeigen, wie die Wirtschaftspolitik, die Rolle der Staaten und der Keynesianismus in den 1930er und 1945 in der Praxis aussahen. Dies, um den Unterschied zur Art und Weise zu zeigen, wie die Bourgeoisie im Jahr 2008 reagiert hat. Während dieser Periode gibt es Unterschiede von sehr großer Bedeutung, z.B. die Existenz von extrakapitalistischen Märkten und Zonen, aber auch das Ausmaß der Weltwirtschaft und der großen imperialistischen und ökonomischen Mächte, sowie die Frage der Blöcke, usw. In der heutigen Krise bestehen die Sanierungspläne jedoch in Form von Staatsdefiziten und Staatsverschuldung und nicht, wie in den 1930er und 1940er Jahren, als man zum größten Teil den bereits realisierten und gehorteten Mehrwert anzapfte, zu dem ein Teil an Schulden hinzukam, der mit den heutigen nichts mehr gemein hat. Die derzeitigen Sanierungspläne werden sich als zunehmend schwierig zu finanzieren erweisen, da die Höhe der Schulden, die sie erfordern, von dem Wachstum, das sie generieren werden, abweichen wird. Es stellen sich jedoch eine Reihe von Fragen.
Die Lehren aus der Krise von 1929 veranlassten die Bourgeoisie, trotz und gegen ihre eigene "Natur" zu einer stärkeren Zusammenarbeit überzugehen, um die Entwicklung ihrer Krise entweder durch keynesianische Politik oder durch die staatliche Orchestrierung der Globalisierung so weit wie möglich zu verlangsamen. Selbst wenn es in der gegenwärtigen Situation nun zu einer Rückkehr der keynesianischen Politik im Kontext einer wachsenden Tendenz zu einem "Jeder-für-sich"-Vorgehen kommt, wird ihre Wirksamkeit, was die eingesetzten Mittel betrifft, nicht mit früheren Perioden vergleichbar sein.
In diesem Zusammenhang müssen wir die gewichtigere Tendenz – im Vergleich zur vorhergehenden Periode – zu isolierten Reaktionen der Bourgeoisie auf nationaler Ebene beobachten. So zum Beispiel die neue Tendenz, Grenzen zu schließen, um den Transport von Passagieren von einem Kontinent zum anderen zu stoppen – oder nationale Grenzen zu schließen, als ob das Virus die nationale Isolation „respektieren“ würde. All dies ist viel mehr Ausdruck von Ohnmacht und einer bestimmten Grundhaltung als eine wissenschaftlich fundierte Entscheidung, das Virus unter Quarantäne zu stellen und in Schach zu halten. Warum besteht eigentlich ein größeres Risiko, sich das Virus in einem internationalen Zug zwischen Stuttgart und Paris einzufangen als in einem nationalen Zug zwischen Stuttgart und Hamburg? Die Schließung der nationalen Grenzen ist nicht hilfreich, sie drückt die "Grenzen" der Mittel der Bourgeoisie aus.
Die Rückverlagerung der Produktion in zentrale Länder nimmt mit der Pandemie zu. So haben 218 europäische Unternehmen beschlossen, die Produktion aus China zurückzubringen. "Laut einer kürzlich durchgeführten Umfrage unter 12 globalen Wirtschaftszweigen haben 10 von ihnen – darunter die Automobil-, Halbleiter- und Medizingeräteindustrie – ihre Lieferketten bereits zurück verlagert, hauptsächlich aus China. Japan bietet Unternehmen 2 Milliarden Dollar an, um ihre Fabriken aus China heraus und zurück auf den japanischen Archipel zu verlagern.“[12] Und ein Präsident wie Macron, der ein Befürworter des Multilateralismus zu sein scheint, hat gesagt, dass "das 'Delegieren' von Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung 'verrückt' ist. Sein Finanzminister Bruno Le Maire ruft zum "Wirtschaftspatriotismus" auf, damit die Franzosen nationale Produkte konsumieren" (ebda.). In allen Ländern favorisieren sie lokale Wirtschaftspläne, um vorzugsweise lokale oder nationale Produkte zu konsumieren. Es ist ein Rückzug auf sich selbst, der dazu neigt, die Industrie-, Nahrungsmittel- und andere Produktionsketten zu durchbrechen, die auf globaler Ebene geschaffen wurden und die Kosten stark reduziert haben.
Die zentrifugalen Tendenzen des "Jeder-für-sich" haben ein neues Niveau erreicht, während gleichzeitig in jedem Land der Staat, jede Nationalbank gigantische Summen (im Falle Deutschlands unbegrenzt) in die Industrie gepumpt oder versprochen hat. Keine dieser Maßnahmen ist von der EZB oder dem IWF verabschiedet und harmonisiert worden. Es muss hinzugefügt werden, dass nicht nur der Populist Trump als Verfechter eines „Jeder-für-sich“ aufgetreten ist. Deutschland hat – im Einvernehmen mit den wichtigsten Parteien – ebenso gehandelt wie auch Macron. Also, populistisch oder nicht, alle Regierungen haben in die gleiche Richtung gehandelt – sie haben sich hinter nationalen Grenzen versteckt, "Jeder für sich" – mit nur einem Minimum an internationaler oder europäischer Koordination.
Die Folgen dieser Handlungen scheinen kontraproduktiv für jedes nationale Kapital und noch schlimmer für die Weltwirtschaft zu sein. "Zwischen 2007 und 2008, aufgrund einer schicksalhaften Konvergenz ungünstiger Faktoren – schlechte Ernten, steigende Öl- und Düngemittelpreise, der Biokraftstoff-Boom – schränkten 33 Länder ihre Exporte ein, um ihre "Ernährungssouveränität" zu schützen. Aber die Heilung war schlimmer als die Krankheit. Die Restriktionen haben nach Schätzungen der Weltbank die Preise für Reis (116%), Weizen (40%) und Mais (25%) erhöht (...) Das Beispiel Chinas, das als erstes Land von der Epidemie betroffen ist, lässt nichts Gutes ahnen: Bedrohungen der globalen Lieferketten haben in diesem asiatischen Land seit Anfang des Jahres bereits zu einem Anstieg der Nahrungsmittel um 15% bis 22% geführt." [13]
Die Bourgeoisie wird reagieren. Auf EU-Ebene hat Deutschland endlich die "Vergemeinschaftung der Schulden" akzeptiert, was zeigt, dass angesichts dieser Welle des Zerfalls Gegentendenzen am Werk sind. Vielleicht wird die amerikanische Bourgeoisie bei den nächsten Wahlen Trump zu Gunsten der traditionellen Demokraten, die für den "Multilateralismus"[14] sind, entlassen. Außerdem: "Am 22. April verpflichteten sich die 164 Mitgliedsländer der Welthandelsorganisation (WTO), auf die 63% der weltweiten Agrar- und Lebensmittelexporte entfallen, nicht in ihre Märkte einzugreifen. Gleichzeitig unterzeichneten die Landwirtschaftsminister von 25 Ländern Lateinamerikas und der Karibik ein verbindliches Abkommen, um die Versorgung von 620 Millionen Menschen zu gewährleisten." [15]
Mit dem Plan des "ökologischen Transformationsprozesses" und der Förderung einer "grünen Wirtschaft" werden Anstrengungen für eine Reorganisation der Wirtschaft – zumindest auf EU-Ebene – unternommen. Mit der massiven Entwicklung der Telekommunikation, der Anwendung von Robotertechnik und IT, neuen und viel leichteren Materialien, Biotechnologie, Drohnen, Elektroautos usw., wird die traditionelle Schwerindustrie auf der Grundlage fossiler Brennstoffe tendenziell obsolet, auch im militärischen Bereich. Die Durchsetzung der "neuen Standards" der Wirtschaftsorganisation wird für die zentralen Länder, insbesondere für Deutschland, die Vereinigten Staaten und China, zu einem Vorteil.
Die Bourgeoisie wird mit allen Kräften gegen diese Flut der nationalen wirtschaftlichen Zersplitterung kämpfen. Aber sie steht vor der wachsenden Kraft ihres historischen Widerspruchs zwischen der nationalen Natur des Kapitals und der globalen Natur der Produktion. Diese Tendenz jeder Bourgeoisie, ihre eigene Wirtschaft auf Kosten der anderen retten zu wollen, ist eine irrationale Tendenz, die für alle Länder und für die Weltwirtschaft insgesamt katastrophal wäre (auch wenn es Unterschiede zwischen den Ländern geben wird). Die Tendenz des „Jeder-für-sich“ kann sogar unumkehrbar sein, und die Irrationalität, die damit einhergeht, stellt die Lehren, die die Bourgeoisie aus der Krise von 1929 gezogen hat, in Frage.
Wie die Plattform der Kommunistischen Internationale sagte: "Das Endergebnis der kapitalistischen Produktionsweise ist Chaos", aber der Kapitalismus hat diesem Chaos während der Dekadenz in vielerlei Hinsicht widerstanden und während seiner Zerfallsphase weiter Widerstand geleistet. Gegenläufige Tendenzen werden sich weiterhin manifestieren, aber die Situation, die sich heute eröffnet, ist eine der wesentlichen Verschärfungen des Chaos, insbesondere im wirtschaftlichen Bereich, der aus historischer Sicht sehr gefährlich ist.
Die Resolution zur internationalen Lage des 23. Kongresses bot den folgenden Rahmen:
"Was das Proletariat betrifft, so können diese neuen Verwerfungen nur zu noch schwerwiegenderen Angriffen auf seine Lebens- und Arbeitsbedingungen auf allen Ebenen und insbesondere in der ganzen Welt führen:
Im Jahr 2019 hungerten nach Angaben der Vereinten Nationen 135 Millionen Menschen. Im April 2020, mit dem Ausbruch der Pandemie, prognostiziert die UNO, dass sich 265 Millionen Menschen in dieser Situation befinden werden.[16] Die Weltbank erklärte im März, dass die arme Bevölkerung 3,5 Milliarden Menschen erreichen würde, mit einer plötzlichen Beschleunigung von mehr als 500.000 pro Monat. Seitdem scheint sich dieses Tempo effektiv fortgesetzt zu haben, insbesondere in Mittel- und Südamerika sowie in Asien einschließlich der Philippinen, Indien und China. Die Verarmung der Arbeiter*innen wird sich beschleunigen, so der IAO-Bericht: "(…) der durch den Rückgang der Wirtschaftstätigkeit entstehende Druck auf die Einkommen wird sich verheerend auf Arbeitnehmer auswirken, die nahe oder unterhalb der Armutsgrenze leben". Zwischen 8,8 und 35 Millionen mehr Arbeiter*innen werden weltweit in Armut leben, verglichen mit der ersten Schätzung für 2020 (die einen Rückgang von 14 Millionen weltweit voraussagte).
In Indien und China wird die Zahl der arbeitslosen Proletarier*innen nach Angaben des IWF in Hunderttausenden gezählt. Auf einigen Websites wie Business Bourse ist die Rede von mehreren Millionen Arbeiter*innen, die ihren Arbeitsplatz in China verloren haben. All diese Zahlen sind wirklich mit großer Vorsicht zu genießen, da sie je nach Quelle oft variieren. Was dabei aber heraussticht, ist ihre Massivität und rasche Ausdehnung, die auf die Einschränkung und den Stopp eines großen Teils der weltweiten Aktivitäten zurückzuführen sind. Im gleichen Zeitraum hat die Massenarbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten 35 Millionen Menschen erreicht, und trotz außergewöhnlicher staatlicher Beihilfen werden die Schlangen vor den Lebensmittelverteilungsstellen immer länger, was an die Bilder der 1930er Jahre in den Vereinigten Staaten erinnert. Dasselbe Phänomen findet in Brasilien statt, wo Arbeitslose nicht einmal mehr offiziell registriert sind. In Frankreich wird erwartet, dass die Arbeitslosigkeit in wenigen Monaten fast 7 Millionen Menschen erreichen wird. Die Explosion der Massenarbeitslosigkeit nimmt in Italien und Spanien das gleiche Tempo an. Gegenwärtig werden Pläne für Massenentlassungen geschmiedet, wie im Luftverkehr und im Flugzeugbau. Aber auch in der Automobilindustrie, Ölförderung etc. Die Liste wird in der kommenden Zeit immer länger werden.
In einer ersten Bewertung der Folgen der Pandemie schätzte die IAO (Internationale Arbeitsorganisation), dass die Pandemie den dauerhaften Verlust von 25 Millionen Arbeitsplätzen weltweit verursachen würde, während die Arbeitsplatzunsicherheit stark zunehmen würde: "Es wird auch erwartet, dass die Unterbeschäftigung exponentiell zunehmen wird, da sich die wirtschaftlichen Folgen der Virusepidemie in einer Verringerung der Arbeitszeiten und Löhne niederschlagen. In Entwicklungsländern können Beschränkungen der Freizügigkeit von Personen (z.B. Dienstleistungsanbieter) und Waren diesmal den Puffereffekt aufheben, den die selbständige Erwerbstätigkeit in diesen Ländern normalerweise hat."[17] Darüber hinaus sind in der informellen Wirtschaft Zehntausende von Arbeiter*innen, die keinerlei statistische oder sonstige finanzielle Unterstützung des Staat erhalten, ohne Beschäftigung. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es noch zu früh, um sich ein Bild vom allgemeinen Grad der Verschlechterung des Lebensstandards zu machen.
Lohnkürzungen, längere Arbeitszeiten, Steuern, niedrigere Renten, Sozialleistungen. Es scheint auch, wie in Frankreich, dass die Bourgeoisie versucht, die realen Arbeitszeiten zu verlängern. Es geht aber auch darum, den Direktlohn insbesondere durch neue, durch die Pandemie "gerechtfertigte" Steuern zu senken. Die Europäische Union prüft zum Beispiel eine Covid-Steuer sehr ernsthaft – ein wahrlich tolles Programm!
Die Schuldenlast wird immer kolossaler, was notwendigerweise eine Gegenleistung mit sich bringt: die Verschärfung der Sparmaßnahmen gegenüber den Arbeiter*innen.
In diesem Rahmen müssen wir die Idee des Allgemeinen Grundeinkommens sehen, eines Mittels, um soziale Spannungen einzudämmen und den Lebensbedingungen als staatlich organisierter Schritt zur allgemeinen Verarmung einen schweren Schlag zu versetzen.
In den zentralen Ländern und besonders in Westeuropa wird die Bourgeoisie versuchen, die Angriffe so vernünftig wie möglich zu verwalten und sie auf "politische" Weise anzuwenden, wobei sie die größten Spaltungen innerhalb des Proletariats provoziert. Auch wenn der Handlungsspielraum der Bourgeoisie auf diesem Terrain tendenziell schrumpfen wird, dürfen wir folgendes nicht aus den Augen verlieren: "Gleichzeitig sind die am meisten entwickelten Länder von Nordeuropa, die USA und Japan noch weit weg von einem solchen Szenario. Dies weil einerseits ihre nationalen Ökonomien fähiger geworden sind, der Krise zu begegnen, doch auch weil die Arbeiterklasse in diesen Ländern, vor allem in Europa, nicht bereit ist, ein solches Niveau von Angriffen auf ihre Lebensbedingungen zu akzeptieren. Dieser wichtige Faktor bei der Entwicklung der Krise unterliegt keinem strikt ökonomischen Determinismus, sondern spielt sich auf der Ebene der sozialen Verhältnisse ab – dem Kräfteverhältnis zwischen den zwei wichtigsten sozialen Klassen der Gesellschaft – zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse." (20. Kongress der IKS, Resolution zur internationalen Lage)
[1] www.mlwerke.de/me/me13/me13_007.htm [162], Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Vorwort, S. 9
[2] Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW Bd. 26.2 S. 469 (Vierter Band Das Kapital, 2. Teil, 8.-18. Kapitel, 16. Kapitel, Ricardos Profittheorie, 3. Gesetz vom Fall der Profitrate, e) Ricardo über das Fallen der Profitrate und seine Rententheorie)
[3] www.mlwerke.de/me/me25/me25_251.htm#Kap_15_III [163], Marx, Bd. 25, 15. Kapitel: Entfaltung der innern Widersprüche des Gesetzes, S. 268
[4] https://de.internationalism.org/content/2861/resolution-zur-internationalen-lage-2019-imperialistische-spannungen-leben-der [8]
[6] Auszug aus: La Vanguardia vom 25. April 2020, "Las zonas de riesgo del sistema financiero"
[7] Auszug aus: La Vanguardia vom 22. April 2020, "La quiebra de las petroleras golpeará a los mayores bancos de EE.UU"
[8] Ebda.
[9] La Vanguardia vom 23. April 2020, "Cómo el coronavirus está acelerando el proceso de desglobalización"
[10] BBC World Service, 6.4.2020
[11] Aus einer Einführung auf einer Sektionssitzung der IKS
[12] Mehr dazu in Política Exterior
[13] Mehr in Politica Exterior
[14] Innerhalb der Demokratischen Partei entwickeln sich jedoch protektionistische Positionen, ähnlich denen von Trump. Im März 2020 legten zwei demokratische Kongressabgeordnete einen Vorschlag für den Austritt der Vereinigten Staaten aus der WTO vor.
[15] Política Exterior
[16] Política Exterior
[17] Bericht der IAO 2020
Nach einer Verzögerung, die viel länger war, als wir ursprünglich beabsichtigt hatten, nehmen wir den dritten Band der Reihe über den Kommunismus wieder auf. Erinnern wir uns kurz daran, dass der erste Band, der auch in englischer und französischer Sprache als gedrucktes Buch erschienen ist, damit begann, die Entwicklung des Konzepts des Kommunismus von den vorkapitalistischen Gesellschaften bis zu den ersten utopischen Sozialisten zu betrachten, und sich dann auf die Arbeit von Marx und Engels und die Bemühungen ihrer Nachfolger in der Zweiten Internationale konzentrierte, den Kommunismus nicht als ein abstraktes Ideal zu verstehen, sondern als eine materielle Notwendigkeit, die durch die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft selbst ermöglicht wurde.[1] Der zweite Band untersuchte die Periode, in der sich die marxistische Vorhersage der proletarischen Revolution, die zuerst in der Periode des Aufstiegs des Kapitalismus formuliert wurde, durch den Anbruch der "Epoche der Kriege und Revolutionen", welche die Kommunistische Internationale 1919 erkannte, konkretisierte.[2] Der dritte Band konzentriert sich bisher auf den nachhaltigen Versuch der Italienischen Kommunistischen Linken in den 1930er Jahren, die Lehren aus der Niederlage der ersten internationalen Revolutionswelle, vor allem aber der russischen Revolution, zu ziehen und die Implikationen dieser Lehren für eine künftige Periode des Übergangs zum Kommunismus zu erörtern.[3]
Wie wir oft betont haben, war die Kommunistische Linke in erster Linie das Produkt einer internationalen Reaktion gegen die Degeneration der Kommunistischen Internationale und ihrer Parteien. Die linken Gruppen in Italien, Deutschland, Russland, Großbritannien und anderswo stimmten in ihrer Kritik an der Fehlentwicklung der Kommunistischen Internationale in Richtung Parlamentarismus, Gewerkschaftswesen und Kompromiss mit den Parteien der Sozialdemokratie überein. Es gab intensive Debatten unter den verschiedenen linken Strömungen und einige konkrete Versuche der Koordination und Umgruppierung, wie die Gründung der Kommunistischen Arbeiterinternationale 1922, im Wesentlichen durch Gruppen, die mit der deutschen kommunistischen Linken verbunden waren. Aber gleichzeitig lieferte das schnelle Scheitern dieser neuen Formation den Beweis dafür, dass die Flut der Revolution der Ebbe wich und dass die Zeit für die Gründung einer neuen Weltpartei nicht reif war. Darüber hinaus machte diese übereilte Initiative von Elementen innerhalb der deutschen Bewegung deutlich, was vielleicht die schwerwiegendste Spaltung in den Reihen der kommunistischen Linken war – die Trennung zwischen ihren beiden wichtigsten Ausdrucksformen, denen in Deutschland und Italien. Diese Spaltung war nie absolut: In den frühen Tagen der Kommunistischen Partei Italiens gab es Versuche, andere linke Strömungen zu verstehen und mit ihnen zu debattieren; und an anderer Stelle haben wir auf die Debatte zwischen Bordiga und Korsch später in den 1920er Jahren hingewiesen.[4]
Diese Kontakte nahmen jedoch ab, als sich die Revolution zurückzog und als die beiden Strömungen auf unterschiedliche Weise auf die neuen Herausforderungen reagierten, denen sie gegenüberstanden. Die Italienische Linke war, völlig zu Recht, von der Notwendigkeit überzeugt, in der KI zu bleiben, solange sie ein proletarisches Leben hatte, und vorzeitige Spaltungen oder die Ausrufung neuer und künstlicher Parteien zu vermeiden – genau der Kurs, den die Mehrheit der deutschen Linken verfolgte. Darüber hinaus konnte das Aufkommen offen parteifeindlicher Tendenzen in der deutschen Linken, insbesondere der Gruppe um Rühle, die Überzeugung von Bordiga und anderen, dass diese Strömung von anarchistischer Ideologie und Praxis beherrscht wurde, nur noch verstärken. In der Zwischenzeit waren die deutschen linken Gruppen, die dazu neigten, die gesamte Erfahrung des Bolschewismus und des Oktobers 1917 als Ausdruck einer verspäteten bürgerlichen Revolution zu definieren, immer weniger in der Lage, die Italienische Linke von der Hauptströmung der Kommunistischen Internationale zu unterscheiden, nicht zuletzt, weil jene weiterhin argumentierte, dass der Platz der Kommunisten innerhalb der Internationale sei, um gegen deren opportunistischen Kurs zu kämpfen.
Die heutigen "bordigistischen" Gruppen haben diese tragische und folgenschwere Trennung theoretisiert, indem sie darauf bestehen, dass sie allein die historische kommunistische Linke darstellten und dass die deutsche KAPD und ihre Ableger in Wirklichkeit nichts anderes als eine kleinbürgerlich-anarchistische Abweichung seien. Gruppen wie die Internationale Kommunistische Partei (Il Partito) gehen sogar so weit, dass sie eine Verteidigung von Lenins Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus veröffentlichen und den Text als Warnung für "künftige Abtrünnige" preisen.[5] Diese Haltung offenbart ein ziemlich tragisches Versäumnis und eine Unfähigkeit zu erkennen, dass die Linkskommunisten als Genossen und Genossinnen gemeinsam gegen die zunehmend abtrünnige Führung der KI hätten kämpfen sollen.
Dies war jedoch bei weitem nicht die Haltung der italienischen Linken während ihrer theoretisch fruchtbarsten Periode: derjenigen, die auf die Bildung der Linksfraktion im Exil (aus dem faschistischen Italien) Ende der 20er Jahre und die Veröffentlichung der Zeitschrift Bilan zwischen 1933 und 1938 folgte. In einem "Resolutionsentwurf über die internationalen Verbindungen" in Bilan Nr. 22 schrieben sie, dass die "internationalistischen Kommunisten Hollands (die Gorter-Tendenz) und Elemente der KAPD die erste Reaktion auf die Schwierigkeiten des russischen Staates, die erste Erfahrung einer proletarischen Verwaltung, durch die Verbindung mit dem Weltproletariat mittels eines von der Internationale ausgearbeiteten Systems von Prinzipien" darstellen. Sie kamen zu dem Schluss, dass der Ausschluss dieser Genossen aus der Internationale "keine Lösung für diese Probleme gebracht hat".
Diese Herangehensweise legte die grundlegenden Fundamente proletarischer Solidarität fest, auf denen eine Debatte stattfinden konnte, trotz der sehr beträchtlichen Divergenzen zwischen den beiden Strömungen; Divergenzen, die sich bis Mitte der 30er Jahre beträchtlich vergrößert hatten, als die deutsch-holländische Linke sich in Richtung der Positionen des Rätekommunismus entwickelte und nicht nur den Bolschewismus, sondern die Parteiform selbst als bürgerlichen Charakters definierte. Weitere Schwierigkeiten ergaben sich aus der Sprache und der mangelnden Kenntnis der jeweiligen Positionen der anderen Seite, was, wie wir in unserem Buch Die Italienische Kommunistische Linke feststellen, dazu führte, dass die Beziehungen zwischen den beiden Strömungen weitgehend auf indirekte Weise stattfanden.
Der Hauptverbindungspunkt zwischen den beiden Strömungen war die Ligue des Communistes Internationalistes (LCI) in Belgien, die in Kontakt mit der Groep van Internationale Communisten (GIC) und anderen Gruppen in Holland stand. Es ist vielleicht bezeichnend, dass die wichtigsten Früchte dieser Kontakte, die auf den Seiten von Bilan erschienen, die von Hennaut von der LCI verfasste Zusammenfassung des Buches der GIC: Grundprinzipien Kommunistischer Produktion und Verteilung[6] war, und die brüderlichen, aber kritischen Bemerkungen über das Buch, die in Mitchells Reihe Probleme der Übergangsperiode enthalten waren. Soweit wir wissen, hat die GIC auf keinen dieser Artikel geantwortet, aber es ist dennoch wichtig, uns daran zu erinnern, dass die Voraussetzungen für eine Debatte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Grundprinzipien geschaffen wurden, nicht zuletzt deshalb, weil es sehr wenige spätere Versuche gab, die Diskussion voranzutreiben.[7] Wir sollten klarstellen, dass der vorliegende Artikel nicht versuchen wird, eine eingehende oder detaillierte Analyse der Grundprinzipien durchzuführen. Er hat das bescheidenere Ziel, die in Bilan veröffentlichten Kritiken an dem Buch zu untersuchen und damit einige mögliche Bereiche für zukünftige Diskussionen aufzuzeigen.
Auf der Pariser Konferenz der neu gegründeten linkskommunistischen Gruppen 1974 erklärte Jan Appel, der KAPD- und GIC-Veteran, der einer der Hauptautoren der Grundprinzipien war, dass der Text als Teil des Versuchs geschrieben worden war, zu verstehen, was bei der Erfahrung des Staatskapitalismus oder "Staatskommunismus, wie wir ihn manchmal zu nennen pflegten" in der Russischen Revolution schief gelaufen war, und einige Richtlinien festzulegen, die es ermöglichen sollten, ähnliche Fehler in Zukunft zu vermeiden. Trotz ihrer Differenzen über das Wesen der Russischen Revolution war es genau das, was die Genossen der Italienischen Linken motivierte, eine Analyse über die Probleme der Übergangsperiode zu erstellen, obwohl sie nur zu gut verstanden, dass sie durch die Tiefen der Konterrevolution gingen.
Für Mitchell, wie für den Rest der Italienischen Linken, waren die GIC die "holländischen Internationalisten", Genossen, die von einem tiefen Engagement für den Sturz des Kapitalismus und dessen Ersetzung durch eine kommunistische Gesellschaft beseelt waren. Beide Strömungen verstanden, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Problemen der Übergangsperiode weit mehr war als eine intellektuelle Übung um ihrer selbst willen. Sie waren Militante, für die die proletarische Revolution eine Realität war, die sie mit eigenen Augen gesehen hatten; trotz der schrecklichen Niederlage dieser Revolution behielten sie volles Vertrauen, dass sie sich wieder erheben würde, und waren überzeugt, dass sie mit einem klaren kommunistischen Programm bewaffnet sein musste, wenn sie beim nächsten Mal triumphieren wollte.
Am Anfang seiner Zusammenfassung der Grundprinzipien stellt Hennaut genau diese Frage: "Erscheint es nicht als Zeitverschwendung, uns über die sozialen Regeln zu quälen, die die Arbeiter nach Vollendung der Revolution aufstellen müssen, zu einem Zeitpunkt, da die Arbeiter keineswegs auf die letzte Schlacht zu marschieren, sondern in der Tat den Boden, den sie gewonnen haben, an die triumphierende Reaktion abtreten? Mehr noch, ist nicht schon alles zu diesem Thema auf den Kongressen der KI gesagt worden? ... Gewiss, für diejenigen, für die die ganze Wissenschaft der Revolution darauf hinausläuft, die Skala der Manöver aufzudecken, die die Massen zu befolgen haben, muss das Unternehmen besonders sinnlos erscheinen. Aber für diejenigen, die der Meinung sind, dass die Präzisierung der Ziele des Kampfes eine der Funktionen jeder Emanzipationsbewegung ist, und dass die Formen dieses Kampfes, seine Mechanismen und die Gesetze, die ihn regeln, nur in dem Maße vollständig ans Licht gebracht werden können, in dem die zu erreichenden Endziele klar geworden sind, das heißt, dass die Gesetze der Revolution immer deutlicher hervortreten, je mehr das Bewusstsein der Arbeiterklasse wächst – für sie ist die theoretische Anstrengung, genau zu definieren, was die Diktatur des Proletariats sein wird, eine Aufgabe von ursprünglicher Notwendigkeit".[8]
Wie wir bereits erwähnt haben, war Hennaut kein Mitglied der GIC, sondern der belgischen LCI. In gewisser Weise war er in der Lage, als "Vermittler" zwischen der Deutsch-Holländischen und der Italienischen Linken zu agieren, da er mit beiden Übereinstimmungen und Differenzen hatte. In einem früheren Beitrag für Bilan[9] kritisierte er die Vorstellung der italienischen Genossen von der "Diktatur der Partei" und legte den Schwerpunkt darauf, dass die Arbeiterklasse die Kontrolle über die politische und wirtschaftliche Sphäre durch ihre eigenen allgemeinen Organe wie die Räte ausübt. Gleichzeitig lehnte er Bilans Auffassung von der UdSSR als einem degenerierten proletarischen Staat ab und definierte sowohl das politische Regime als auch die Wirtschaft in Russland als kapitalistisch. Aber es sollte hinzugefügt werden, dass er auch damit begonnen hatte, den proletarischen Charakter der Revolution in Russland abzulehnen, indem er die fehlende Reife der objektiven Bedingungen betonte, so dass "die Revolution vom Proletariat gemacht wurde, aber es war keine proletarische Revolution".[10] Diese Analyse stand der der Rätekommunisten recht nahe, aber Hennaut grenzte sich auch in einer Reihe von Schlüsselpunkten von ihnen ab: Gleich zu Beginn seiner Zusammenfassung macht er deutlich, dass er mit ihrer Ablehnung der Partei nicht einverstanden ist. Für Hennaut wäre die Partei nach der Revolution umso notwendiger, um die ideologischen Überreste der alten Welt zu bekämpfen, obwohl er die Schwäche der GIC in diesem Punkt nicht als das Hauptproblem der Grundprinzipien ansieht; und am Ende seiner Zusammenfassung, in Bilan Nr. 22, weist er auf die Schwäche der Staatskonzeption der GIC und ihre etwas rosige Sicht der Bedingungen, unter denen eine Revolution stattfindet, hin. Er ist jedoch von der Bedeutung des Beitrags der GIC überzeugt und bemüht sich sehr ernsthaft, sie in vier Artikeln genau zusammenzufassen. Offensichtlich war es im Rahmen einer solchen Zusammenfassung nicht möglich, den ganzen Reichtum – und einige der offensichtlichen Widersprüche – in den Grundprinzipien zu vermitteln, aber er macht eine gute Arbeit, um die wesentlichen Punkte des Buches zu umreißen.
Hennauts Zusammenfassung hebt die bedeutsame Tatsache hervor, dass sich die Grundprinzipien keineswegs außerhalb der bisherigen Traditionen und Erfahrungen der Arbeiterklasse verorten, sondern sich auf eine historische Kritik an fehlerhaften Auffassungen, die innerhalb der Arbeiterbewegung entstanden waren, und auf praktische revolutionäre Erfahrungen – vor allem die russische und ungarische Revolution – stützen, die hauptsächlich negative Lehren hinterlassen hatten. Die Grundprinzipien enthalten daher Kritik an den Ansichten von Kautsky, Varga, dem Anarcho-Syndikalisten Leichter und anderen, während sie gleichzeitig versuchen, an die Arbeit von Marx und Engels anzuknüpfen, insbesondere an die Kritik des Gothaer Programms und den Anti-Dühring. Sie gehen von der einfachen Feststellung aus, dass die Ausbeutung der Arbeiter in der kapitalistischen Gesellschaft vollständig mit ihrer Trennung von den Produktionsmitteln durch das kapitalistische gesellschaftliche Verhältnis der Lohnarbeit verbunden ist. Seit der Zeit der Zweiten Internationale war die Arbeiterbewegung auf die Vorstellung abgeglitten, dass die einfache Abschaffung des Privateigentums das Ende der Ausbeutung bedeute, und die Bolschewiki hatten dieses (Miss-)Verständnis nach der Oktoberrevolution weitgehend übernommen.
Für die Grundprinzipien kann die Verstaatlichung oder Kollektivierung der Produktionsmittel sehr wohl mit Lohnarbeit und der Entfremdung der Arbeiter von ihrem eigenen Produkt koexistieren. Entscheidend ist also, dass die Arbeiter selbst, durch ihre eigenen, im Betrieb verwurzelten Organisationen, nicht nur über die physischen Produktionsmittel, sondern über das gesamte gesellschaftliche Produkt verfügen. Um aber sicherzustellen, dass das gesellschaftliche Produkt vom Anfang bis zum Ende des Arbeitsprozesses in den Händen der Produzenten bleibt (Entscheidungen darüber, was und in welchen Mengen produziert wird, Verteilung des Produkts einschließlich der Entlohnung des einzelnen Produzenten), bedurfte es eines allgemeinen ökonomischen Gesetzes, das einer strengen Buchführung unterworfen werden konnte: die Berechnung des gesellschaftlichen Produkts auf der Basis der durchschnittlichen gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit. Obwohl gerade die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit dem "Wert" der Produkte in der kapitalistischen Gesellschaft zugrunde liegt, wäre dies keine Wertproduktion mehr, denn die einzelnen Unternehmen würden zwar ihren eigenen Anteil an der in ihren Produkten enthaltenen Arbeitszeit maßgeblich mitbestimmen, aber die Unternehmen würden ihre Produkte dann nicht auf dem Markt verkaufen (und die Grundprinzipien kritisieren die Anarchosyndikalisten gerade dafür, dass sie sich die zukünftige Wirtschaft als ein Netzwerk unabhängiger, durch Tauschbeziehungen verbundener Unternehmen vorstellen). Aus der Sicht der GIC würden die Produkte einfach in Übereinstimmung mit den gesamtgesellschaftlichen Bedürfnissen verteilt, die von einem Kongress der Räte zusammen mit einem zentralen Amt für Statistik und einem Netzwerk von Konsumgenossenschaften bestimmt würden. Die Grundprinzipien legen Wert darauf, dass weder der Rätekongress noch das Statistikamt "zentralisierte" oder "staatliche" Organe sind. Ihre Aufgabe ist es nicht, Arbeit zu dirigieren, sondern mit dem Kriterium der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit, die weitgehend auf der Basisebene berechnet wird, die Planung und Verteilung des gesellschaftlichen Produkts im globalen Maßstab zu überwachen. Eine konsequente Anwendung dieser Prinzipien würde sicherstellen, dass sich in der nächsten Revolution eine Situation nicht wiederholt, in der "die Maschine unseren Händen entgleitet" (Lenins berühmte Worte über den Werdegang des Sowjetstaates, zitiert nach den Grundprinzipien). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Schlüssel zum Sieg der Revolution in der Fähigkeit der Arbeiter liegt, die direkte Kontrolle über die Wirtschaft aufrechtzuerhalten, und das zuverlässigste Werkzeug, um dies zu erreichen, ist die Regulierung von Produktion und Verteilung durch die Abrechnung der Arbeitszeit.
Wie wir bereits sagten, begrüßte die Italienische Linke[11] den Beitrag der GIC, sparte aber nicht mit Kritik an dem Text. Grob gesagt lassen sich diese Kritiken in vier Rubriken einordnen, obwohl sie alle auf andere Themen überleiten und alle eng miteinander verknüpft sind.
1. Eine nationale Vision der Revolution.
2. Eine idealistische Auffassung von den realen Bedingungen der proletarischen Revolution.
3. Das Unverständnis für das Problem des Staates und des Zentralismus sowie die Konzentration auf die Ökonomie auf Kosten der politischen Fragen.
4. Weitere theoretische Differenzen bezüglich der Ökonomie der Übergangsperiode: die Überwindung des Wertgesetzes und der Inhalt des Kommunismus; Egalitarismus und die Entlohnung der Arbeit.
In seiner Serie "Partei – Staat – Internationale"[12] hatte Vercesi bereits Hennaut und die holländischen Genossen dafür kritisiert, dass sie das Problem der Revolution in Russland von einem eng gefassten nationalen Standpunkt aus angehen. Er bestand darauf, dass keine wirklichen Fortschritte auf dem Weg zu einer kommunistischen Gesellschaft gemacht werden könnten, solange die Bourgeoisie im Weltmaßstab an der Macht sei – welche Fortschritte auch immer in einem Bereich unter proletarischer "Leitung" gemacht würden, sie könnten nicht endgültig sein:
"Der Fehler, den die holländischen Linkskommunisten und mit ihnen Genosse Hennaut unserer Meinung nach begehen, besteht darin, dass sie eine im Grunde sterile Richtung eingeschlagen haben, denn es ist fundamental für den Marxismus, dass die Grundlagen einer kommunistischen Wirtschaft nur auf Weltebene und niemals innerhalb der Grenzen eines proletarischen Staates verwirklicht werden können. Dieser kann zwar in den ökonomischen Bereich eingreifen, um den Produktionsprozess zu verändern, aber er kann diesen Prozess keinesfalls endgültig auf kommunistische Grundlagen stellen, weil die Bedingungen für die Verwirklichung einer solchen Ökonomie nur im Weltmaßstab existieren (...). Wir werden der Verwirklichung des höchsten Ziels nicht näher kommen, indem wir den Arbeitern weismachen, dass sie nach ihrem Sieg über die Bourgeoisie die Wirtschaft in einem einzigen Land direkt leiten können. Bis zum Sieg der Weltrevolution sind die Bedingungen dafür nicht gegeben, und um die Dinge in die Richtung zu lenken, die das Heranreifen dieser Bedingungen ermöglicht, muss man damit beginnen, anzuerkennen, dass es unmöglich ist, in einem einzigen Land endgültige Ergebnisse zu erzielen."[13]
In seiner Artikelserie führte Mitchell dieses Thema weiter aus:
"Während es unbestreitbar ist, dass ein nationales Proletariat bestimmte ökonomische Aufgaben erst nach der Installierung der Errichtung seiner eigenen Herrschaft in Angriff nehmen kann, kann der Aufbau des Sozialismus erst nach der Zerstörung der mächtigsten kapitalistischen Staaten in Gang kommen, auch wenn der Sieg eines 'armen' Proletariats eine enorme Bedeutung erlangen kann, wenn er in den Entwicklungsprozess der Weltrevolution integriert wird. Mit anderen Worten: Die Aufgaben eines siegreichen Proletariats in Bezug auf die eigene Wirtschaft werden den Notwendigkeiten des internationalen Klassenkampfes untergeordnet.
Es ist bemerkenswert, dass, während alle echten Marxisten die Theorie des 'Sozialismus in einem Land' abgelehnt haben, die meisten Kritiken an der Russischen Revolution sich im Wesentlichen auf die Modalitäten des Aufbaus des Sozialismus konzentrierten, wobei sie eher wirtschaftliche und kulturelle als politische Kriterien betrachteten und vergaßen, die logischen Schlussfolgerungen zu ziehen, die sich aus der Unmöglichkeit jeder Art von nationalem Sozialismus ergeben."[14]
Einen großen Teil der Serie widmete Mitchell auch der Argumentation gegen die von den Rätekommunisten weitgehend aufgegriffene menschewistische Idee, dass die Russische Revolution nicht wirklich proletarisch gewesen sein könne, weil Russland nicht reif für den Sozialismus gewesen sei. Gegen diesen Ansatz behauptet Mitchell, dass die Bedingungen für die kommunistische Revolution nur im Weltmaßstab gegeben sein konnten, und dass die Revolution in Russland lediglich der erste Schritt einer weltweiten Revolution gewesen sei, die durch die Tatsache notwendig wurde, dass der Kapitalismus als Weltsystem in seine Periode des Niedergangs eingetreten war. Daher musste jedes Verständnis dessen, was in Russland schief gelaufen war, im Kontext der Weltrevolution gesehen werden: Die Degeneration des Sowjetstaates war in erster Linie nicht das Ergebnis der wirtschaftlichen Maßnahmen der Bolschewiki, sondern der Isolierung der Revolution. Die holländischen Genossen hätten sich "ein falsches Urteil über die Russische Revolution angemaßt und vor allem den Umfang ihrer Forschungen über die tieferen Ursachen der reaktionären Entwicklung der UdSSR stark eingeschränkt. Sie suchen die Erklärung dafür nicht in der tieferen Entwicklung des nationalen und internationalen Klassenkampfes (eines der negativen Merkmale ihrer Studie ist, dass sie jede Betrachtung der politischen Probleme mehr oder weniger ausblenden), sondern im ökonomischen Mechanismus."[15]
Kurz gesagt: Es gibt Grenzen für die Schlussfolgerungen, die wir aus den wirtschaftlichen Maßnahmen während der Russischen Revolution ziehen können. Selbst die perfektesten Maßnahmen hätten ohne die Ausdehnung der Weltrevolution den proletarischen Charakter des Regimes in der UdSSR nicht bewahrt, und dasselbe würde für jedes Land gelten, ob "fortgeschritten" oder "rückständig", das sich in einer vom Kapital beherrschten Welt isoliert wiederfindet.
Wir haben festgestellt, dass Hennaut selbst auf die Tendenz der holländischen Genossen hinwies, die Verhältnisse im Gefolge einer proletarischen Revolution zu vereinfachen: "Es mag vielen Lesern so erscheinen, als ob in der besten aller möglichen Welten alles zum Besten stehe. Die Revolution marschiere voran, sie könne nicht ausbleiben, und es genüge, die Dinge sich selbst zu überlassen, damit der Sozialismus Wirklichkeit werde."[16] Vercesi hatte auch argumentiert, dass sie dazu neigten, die Heterogenität des Klassenbewusstseins auch nach der Revolution gewaltig zu unterschätzen – ein Fehler, der direkt damit zusammenhing, dass die Rätekommunisten die Notwendigkeit einer politischen Organisation der fortgeschritteneren Elemente der Arbeiterklasse nicht verstanden. Außerdem hing dies auch damit zusammen, dass die holländischen Genossen die Schwierigkeiten unterschätzten, die sich den Arbeitern bei der direkten Übernahme der Leitung der Produktion stellten. Mitchell seinerseits argumentierte, dass die holländischen Genossen von einem idealen, abstrakten Schema ausgingen, das bereits die Stigmata der kapitalistischen Vergangenheit als Grundlage für das Voranschreiten zum Kommunismus ausschließt.
"Wir haben bereits deutlich gemacht, dass die holländischen Internationalisten bei ihrem Versuch, die Probleme der Übergangsperiode zu analysieren, viel mehr von ihren Wunschbildern als von der historischen Realität inspiriert sind. Ihr abstraktes Schema, in dem sie als vollkommen prinzipientreue Menschen das Wertgesetz, den Markt und das Geld ausschließen, muss logischerweise auch eine 'ideale' Verteilung der Produkte zur Folge haben. Denn für sie gilt: "Die proletarische Revolution kollektiviert die Produktionsmittel und öffnet damit den Weg zum kommunistischen Leben; die dynamischen Gesetze der individuellen Konsumtion müssen absolut und notwendigerweise miteinander verbunden sein, weil sie unauflöslich mit den Gesetzen der Produktion verbunden sind. Diese Verbindung wird 'von selbst' durch den Übergang zur kommunistischen Produktion hergestellt" (S. 72 ihrer Arbeit)."[17]
Später konzentriert sich Mitchell auf die Hindernisse, die der Einführung der gleichen Entlohnung der Arbeit in der Übergangszeit entgegenstehen (wir werden in einem zweiten Artikel darauf zurückkommen). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass für die niederländischen Genossen die untere und die obere Stufe des Kommunismus völlig durcheinander geraten sind:
"Indem sie die dialektische Analyse ablehnen und das Problem des Zentralismus übergehen, haben sie gleichzeitig die Bedeutung der Worte verändert, denn was sie betrachten, ist nicht die Übergangsperiode, die für die Marxisten unter dem Gesichtspunkt der Lösung praktischer Probleme als einzige von Interesse ist, sondern die höhere Stufe des Kommunismus. Es ist dann leicht, von „einer allgemeinen gesellschaftlichen Buchführung zu sprechen, die auf einem wirtschaftlichen Zentrum beruht, zu dem alle Ströme des Wirtschaftslebens fließen, das aber kein Recht hat, die Produktion zu leiten oder über die Verteilung des gesellschaftlichen Produkts zu entscheiden“. Und sie fügen hinzu, dass „in der Assoziation freier und gleicher Produzenten die Kontrolle des Wirtschaftslebens nicht von Persönlichkeiten oder Ämtern ausgeht, sondern aus der öffentlichen Registrierung des realen Verlaufs des Wirtschaftslebens resultiert. Das bedeutet, dass die Produktion durch die Reproduktion kontrolliert wird“. Mit anderen Worten: 'Das Wirtschaftsleben wird durch die durchschnittliche gesellschaftliche Arbeitszeit von selbst gesteuert'. Mit solchen Formulierungen kann die Lösung der Probleme der proletarischen Leitung überhaupt nicht vorankommen, denn die brennende Frage, die sich dem Proletariat stellt, ist nicht, die Mechanismen auszuarbeiten, die die kommunistische Gesellschaft regeln, sondern den Weg zu finden, der zu ihr führt."[18]
Es stimmt, dass es eine Reihe von Abschnitten in den Grundprinzipien gibt, in denen die holländischen Genossen Marx' Unterscheidung zwischen der unteren und der oberen Stufe der Übergangsperiode zitieren; und sie erkennen an, dass es einen Prozess gibt, eine Bewegung in Richtung auf den integralen Kommunismus, in dem die Notwendigkeit der Arbeitszeitbuchhaltung zum Beispiel in Bezug auf den individuellen Konsum allmählich an Bedeutung verlieren wird:
"Eines der charakteristischsten Merkmale der AGA-Betriebe [Anm.: öffentliche Dienstleistungen wie Gesundheits- und Bildungswesen] sahen wir in der Tatsache, dass hier das 'Nehmen nach Bedürfnissen' verwirklicht ist. Der Maßstab der Arbeitsstunde spielt hier in der Distribution also keine Rolle mehr. Mit dem Wachstum des Kommunismus wird dieser Betriebstyp mehr ausgedehnt werden, so dass auch Lebensmittelfürsorge, Personentransport, Wohnungsfürsorge usw., kurz: die Befriedigung der allgemeinen Bedürfnisse, auf dieser Basis stehen werden. Diese Entwicklung ist ein PROZESS, der sich, soweit es sich um die technische Seite der Aufgabe handelt, schnell vollziehen kann. Je mehr die Gesellschaft in dieser Richtung wächst, je mehr die Produkte nach diesem Prinzip verteilt werden, desto weniger wird die individuelle Arbeitszeit das Maß für die individuelle Konsumtion sein."[19]
Und doch sprechen sie gleichzeitig, wie Mitchell oben bemerkt, davon, dass die "freien und gleichen Produzenten" über dieses oder jenes gerade in der unteren Stufe entscheiden, einer Zeit, in der wahre Freiheit und Gleichheit vom organisierten Proletariat erkämpft, aber noch nicht endgültig erobert worden sind. Der Begriff "freie und gleiche Produzenten" kann wirklich nur auf eine Gesellschaft angewendet werden, in der es keine Arbeiterklasse mehr gibt.
Ein Beispiel für diese Tendenz zur Vereinfachung ist ihre Behandlung der Agrarfrage. Nach diesem Abschnitt der Grundprinzipien werde die "Bauernfrage", die eine so große Belastung für die Russische Revolution war, für die Revolution der Zukunft keine großen Probleme aufwerfen, weil die Entwicklung der kapitalistischen Industrie den Großteil der Bauernschaft bereits in das Proletariat integriert habe. Dies ist ein Beispiel für eine gewisse eurozentrische Sichtweise (und selbst in Europa war dies in den 1930er Jahren bei weitem nicht der Fall), die nicht berücksichtigt, dass im Weltmaßstab eine riesige Anzahl nicht ausbeutender, aber auch nicht proletarischer Massen existiert, die die proletarische Revolution in die wirklich sozialisierte Produktion integrieren muss.
Wenn man von der Existenz anderer Klassen als der des Proletariats in der Übergangsperiode spricht, stellt sich sofort die Frage nach einer halb-staatlichen Organisation, die u.a. die Aufgabe hätte, diese Massen politisch zu vertreten. Eine weitere Konsequenz des abstrakten Schemas der holländischen Genossen ist also, dass sie das Problem des Staates vermeiden. Wiederum sieht Hennaut, wie wir festgestellt haben, dass "der Staat im System der holländischen Genossen einen Platz einnimmt, der gelinde gesagt zweideutig ist"[20]. Mitchell stellt fest, dass die Arbeiterklasse, solange es Klassen gibt, die Geißel eines Staates ertragen muss, und dass dies mit dem Problem des Zentralismus verbunden ist:
"Die Analyse der holländischen Internationalisten entfernt sich zweifellos vom Marxismus, weil sie nie die wesentliche Tatsache vorbringt, dass das Proletariat gezwungen ist, sich mit der 'Geißel' des Staates auseinanderzusetzen, bis die Klassen verschwunden sind, das heißt, bis zum Verschwinden des Weltkapitalismus. Aber eine solche historische Notwendigkeit zu betonen, bedeutet zuzugeben, dass die Staatsfunktionen immer noch vorübergehend mit der Zentralisierung verwechselt werden, auch wenn dies nach der Zerstörung des kapitalistischen Unterdrückungsapparates geschieht und der Entwicklung des kulturellen Niveaus der arbeitenden Massen und ihrer Fähigkeit, die Verantwortung zu übernehmen, nicht unbedingt entgegensteht. Anstatt die Lösung für diese Entwicklung im realen Kontext der historischen und politischen Bedingungen zu suchen, haben die holländischen Internationalisten versucht, sie in einer Formel für die Aneignung zu finden, die sowohl utopisch als auch rückschrittlich ist und die sich nicht so deutlich vom 'bürgerlichen Recht' unterscheidet, wie sie sich vorstellen."[21]
Im Lichte der russischen Erfahrung hatten die niederländischen Genossen sicherlich Recht, wenn sie sich davor hüteten, dass irgendein zentrales Organisationsorgan diktatorische Befugnisse über die Arbeiter übernehmen könnte. Gleichzeitig lehnen die Grundprinzipien die Notwendigkeit einer gewissen Form der zentralen Koordination nicht ab. Sie sprechen von einem Zentralamt für Statistik und einem "Wirtschaftskongress der Arbeiterräte", aber diese werden als wirtschaftliche Gremien dargestellt, die mit einfachen Koordinationsaufgaben betraut sind: Sie scheinen keine politischen oder staatlichen Funktionen zu haben. Aber indem sie einfach im Voraus anordnen, dass solche zentralen oder koordinierenden Organe keine staatlichen Funktionen übernehmen oder mit ihnen verbunden sein werden, schwächen sie in Wirklichkeit die Fähigkeit der Arbeiter, sich gegen eine reale Gefahr zu verteidigen, die während der gesamten Übergangsperiode bestehen wird: die Gefahr, dass der Staat, selbst ein "Halbstaat", der starr von den Einheitsorganen der Arbeiter gelenkt wird, sich zunehmend zu einer von der Gesellschaft autonomen Macht formt und wieder direkte Formen der wirtschaftlichen Ausbeutung durchsetzt.
Der Begriff des postrevolutionären Staates taucht in dem Buch zwar kurz auf (und zwar im allerletzten Kapitel). Aber in den Worten der GIC "steht [der Staat] als reiner Machtapparat der Diktatur des Proletariats da. Er wird den Widerstand der Bourgeoisie brechen –, aber er hat in der Verwaltung der Wirtschaft nichts zu suchen".[22]
Mitchell bezieht sich nicht auf diese Passage, aber sie würde seinen Bedenken gegen die Tendenz der GIC, den Staat und die Diktatur des Proletariats als ein und dasselbe zu sehen, nicht widersprechen – eine Identifizierung, die seiner Ansicht nach die Arbeiter zugunsten des Staates entwaffnet: "Die aktive Anwesenheit proletarischer Organisationen ist die Bedingung, um den proletarischen Staat im Dienste der Arbeiter zu halten und zu verhindern, dass er sich gegen sie wendet. Den widersprüchlichen Dualismus des proletarischen Staates zu leugnen, bedeutet, die historische Bedeutung der Übergangsperiode zu verfälschen.
Einige Genossen sind dagegen der Meinung, dass es in dieser Periode eine Identifikation zwischen den Arbeiterorganisationen und dem Staat geben müsse (vgl. Genosse Hennaults 'Wesen und Entwicklung des russischen Staates', Bilan S. 1121). Die holländischen Internationalisten gehen sogar noch weiter, wenn sie sagen, dass, da "die Arbeitszeit das Maß für die Verteilung des gesellschaftlichen Produkts ist und die gesamte Verteilung außerhalb jeder 'Politik' bleibt, die Gewerkschaften im Kommunismus keine Funktion haben und der Kampf für die Verbesserung der Lebensbedingungen zu einem Ende gekommen sein wird" (S. 115 ihrer Arbeit).
Der Zentrismus geht auch von der Vorstellung aus, dass, da der Sowjetstaat ein Arbeiterstaat sei, jede von den Arbeitern erhobene Forderung zu einem Akt der Feindseligkeit gegenüber 'ihrem' Staat werde und daher die völlige Unterordnung der Gewerkschaften und der Betriebskomitees unter den Staatsmechanismus rechtfertige."[23]
Die deutsch-niederländische Linke erkannte natürlich viel schneller, dass die Gewerkschaften bereits im Kapitalismus aufgehört hatten, proletarische Organe zu sein, ganz zu schweigen von der Übergangsperiode zum Kommunismus, wo die Arbeiterklasse ihre eigenen Einheitsorgane (Fabrikkomitees, Arbeiterräte usw.) geschaffen hätte. Aber Mitchells grundlegender Punkt bleibt vollkommen gültig. Indem sie den Weg mit dem Ziel verwechseln, indem sie andere nichtproletarische Klassen und die ganze komplexe soziale Heterogenität der Situation nach dem Aufstand aus der Gleichung ausschließen und vor allem indem sie eine fast sofortige Abschaffung des Zustands des Proletariats als ausgebeutete Klasse ins Auge fassen, lassen die holländischen Genossen, bei aller Antipathie gegen den Staat, die Tür für die Idee offen, dass während der Übergangsperiode die Notwendigkeit für die Arbeiterklasse, ihre unmittelbaren Interessen zu verteidigen, überflüssig werde. Für die italienische Linke war die Notwendigkeit, die Unabhängigkeit der Gewerkschaften und/oder Fabrikkomitees von der allgemeinen Organisation der Gesellschaft – kurz gesagt, vom Übergangsstaat – zu bewahren, eine grundlegende Lehre aus der Russischen Revolution, wo der "Arbeiterstaat" am Ende die Arbeiter unterdrückte.
Dieses Ausweichen oder die Vereinfachung der Frage des Staates ist, ebenso wie das Versagen der GIC, die Notwendigkeit der internationalen Ausdehnung der Revolution zu begreifen, Teil einer umfassenderen Unterschätzung der politischen Dimension der Revolution. Die Besessenheit der GIC ist die Suche nach einer Methode zur Berechnung, Verteilung und Entlohnung der gesellschaftlichen Arbeit, so dass die zentrale Kontrolle auf ein Minimum beschränkt werden kann und die Übergangswirtschaft auf halbautomatische Weise zum integralen Kommunismus fortschreiten kann. Aber für Mitchell ist die Existenz solcher Gesetze kein Ersatz für die wachsende politische Reife der arbeitenden Massen, für ihre tatsächliche Fähigkeit, dem gesellschaftlichen Leben ihre eigene Richtung aufzuzwingen.
"Die holländischen Genossen haben zwar eine unmittelbare Lösung vorgeschlagen: kein wirtschaftlicher oder politischer Zentralismus, der nur eine unterdrückerische Form annehmen kann, sondern die Übertragung der Verwaltung auf Unternehmensorganismen, die die Produktion durch ein 'allgemeines Wirtschaftsgesetz' (...) koordinieren würden. Für sie vollzieht sich die Abschaffung der Ausbeutung (und damit der Klassen) nicht in einem langen historischen Prozess, in dem die Beteiligung der Massen an der gesellschaftlichen Verwaltung unaufhörlich wächst, sondern in der Kollektivierung der Produktionsmittel, sofern diese das Verfügungsrecht der Betriebsräte über die Produktionsmittel und das gesellschaftliche Produkt beinhaltet. Aber abgesehen davon, dass dies eine Formulierung ist, die ihren eigenen Widerspruch enthält – da sie darauf hinausläuft, der integralen Kollektivierung (Eigentum aller und von niemandem im Besonderen) eine Art eingeschränkte, zerstreute Kollektivierung zwischen gesellschaftlichen Gruppen entgegenzusetzen (die Aktiengesellschaft ist auch eine partielle Form der Kollektivierung) –, neigt sie einfach dazu, eine juristische Lösung (das Recht, über die Unternehmen zu verfügen) durch eine andere juristische Lösung, die Enteignung der Bourgeoisie, zu ersetzen. Aber wie wir bereits gesehen haben, ist die Enteignung der Bourgeoisie nur die Anfangsbedingung für die gesellschaftliche Transformation (auch wenn die volle Kollektivierung nicht sofort realisierbar ist), und der Klassenkampf wird wie vor der Revolution weitergehen, aber auf politischer Grundlage, die es dem Proletariat erlaubt, die entscheidende Richtung durchzusetzen."[24]
Hinter dieser Ablehnung der politischen Dimension des Klassenkampfes können wir einen grundlegenden Unterschied zwischen den beiden Zweigen der kommunistischen Linken in ihrem Verständnis des Übergangs zum Kommunismus erkennen. Die holländischen Genossen erkennen zwar die Notwendigkeit von Wachsamkeit, "denn aus der kapitalistischen Wirtschaftsweise bleibt vorläufig noch eine kräftige Tendenz, die Verfügungsgewalt in eine Zentrale zu legen"[25], aber dieser erhellende Absatz erscheint in der Mitte einer Untersuchung über die Buchhaltungsmethoden in der Übergangsperiode, und im Buch insgesamt gibt es wenig Sinn für den immensen Kampf, der notwendig sein wird, um die Gewohnheiten der Vergangenheit sowie ihre materielle und soziale Verkörperung in Klassen, Schichten und Individuen zu überwinden, die dem Kommunismus mehr oder weniger feindlich gegenüberstehen. In der Sichtweise der GIC scheint es wenig Notwendigkeit für einen politischen Kampf, eine Konfrontation zwischen gegensätzlichen Klassenstandpunkten, innerhalb der Organe der Arbeiterklasse zu geben, sei es am Arbeitsplatz oder auf einer breiteren gesellschaftlichen Ebene. Das stimmt auch mit ihrer Ablehnung der Notwendigkeit kommunistischer politischer Organisationen, der Klassenpartei, überein.
Wir werden uns im zweiten Teil dieses Artikels mit einigen der eher theoretischen Probleme der ökonomischen Dimension der kommunistischen Transformation befassen.
C.D. Ward, 08.03.2013
Kapitel 7, Teil 4: Eine „ökonomistische“ Sichtweise der Revolution: die Grundprinzipien
b) Die Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus
Die Frage der Übergangsperiode zum Kommunismus nach der Machtergreifung durch die Arbeiterräte wurde von den deutschen, dann von den holländischen Rätekommunisten immer von einem streng ökonomischen Standpunkt aus angegangen. Die Entartung der Russischen Revolution und die Entwicklung Sowjetrusslands zum Staatskapitalismus bewiesen nach Ansicht der GIC das Scheitern der "Politik", in der die Diktatur des Proletariats in erster Linie als eine politische Diktatur über die gesamte Gesellschaft gesehen wurde und die die wirtschaftlichen Aufgaben des Proletariats in den Hintergrund drängte. Diese Idee wurde von Pannekoek mit besonderem Nachdruck vertreten: "Die traditionelle Auffassung ist die Herrschaft der Politik über die Wirtschaft ... was die Arbeiter anstreben müssen, ist die Herrschaft der Wirtschaft über die Politik."[26]
Diese Ansicht war genau das Gegenteil von dem, was andere revolutionäre Gruppen in den 30er Jahren vertraten, wie z. B. die italienische kommunistische Linke, die eine ganze theoretische Diskussion über die Zeit des Übergangs eröffnet hatte.[27]
Anders als die deutsche und italienische kommunistische Linke[28] zeigte die GIC kein großes Interesse an den politischen Fragen der proletarischen Revolution, an theoretischen Überlegungen über den Staat in der Übergangsperiode. Das Verhältnis zwischen dem neuen Staat der Übergangsperiode, den revolutionären Parteien und den Arbeiterräten wurde trotz der russischen Erfahrung nie behandelt. Es gibt auch nichts über das Verhältnis zwischen der revolutionären Internationale und dem Staat oder den Staaten in Ländern, in denen das Proletariat die politische Macht übernommen hat. Ebenso wenig wurden die komplexen Fragen der proletarischen Gewalt[29] und des Bürgerkriegs in einer revolutionären Periode gestellt. Für die GIC schien es, als ob es kein Problem der Existenz eines Staates – oder eines Halbstaates – in der Periode des Übergangs zum Kommunismus gäbe. Die Fragen, ob es ihn gebe und welcher Art er sei ("proletarischer" Staat oder eine vom Proletariat geerbte "Geißel"), wurden nie gestellt. Diesen Problemen wurde mehr oder weniger ausgewichen.
Der Haupttext der GIC[30] über die Übergangsperiode, "Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung", befasste sich nur mit den ökonomischen Problemen dieser Periode.
Der Ausgangspunkt der GIC war, dass das Scheitern der russischen Revolution und die Entwicklung zum Staatskapitalismus nur durch die Unkenntnis oder sogar die Leugnung der Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Transformation der Gesellschaft erklärt werden konnte – dieses Problem war der gesamten Arbeiterbewegung gemeinsam. Aber paradoxerweise erkannte die GIC die fundamentale Rolle der russischen Erfahrung an, die es erst ermöglichte, die marxistische Theorie voranzubringen:
"... zumindest was die industrielle Produktion betraf [...] hat Russland versucht, das Wirtschaftsleben nach den Prinzipien des Kommunismus zu ordnen – und ist dabei völlig gescheitert! [...] Es war vor allem die Schule der Praxis, die die Russische Revolution verkörperte, der wir diese Erkenntnis zu verdanken haben, denn sie hat uns unmissverständlich gezeigt, welche Folgen es hat, wenn man zulässt, dass sich eine zentrale Autorität als gesellschaftliche Macht etabliert, die dann dazu übergeht, alle Macht über den Produktionsapparat in ihren ausschließlichen Händen zu konzentrieren."[31]
Für die holländischen Rätekommunisten bedeutete die Diktatur des Proletariats unmittelbar "die Vereinigung der freien und gleichen Produzenten". Die Arbeiter, die in den Fabriken in Räten organisiert waren, mussten den gesamten Produktionsapparat in die Hand nehmen und ihn für ihre eigenen Bedürfnisse als Konsumenten arbeiten lassen, ohne auf irgendeine zentrale staatsähnliche Instanz zurückzugreifen, da dies nur die Aufrechterhaltung einer Gesellschaft der Ungleichheit und Ausbeutung bedeuten konnte. Auf diese Weise wäre es möglich, eine Situation zu vermeiden, in der die Art von "Staatskommunismus", die während der Phase des Kriegskommunismus 1918-20 eingerichtet wurde, sich unweigerlich in eine Form von Staatskapitalismus verwandelt, dessen Produktionsbedürfnisse die der Arbeiter als Produzenten und Konsumenten dominieren. In der neuen Gesellschaft, die von den Räten und nicht von einem von einer zentralisierten Partei geführten Staat beherrscht wird, würde die Lohnarbeit - die Quelle aller Ungleichheit und aller Ausbeutung der Arbeitskraft - abgeschafft werden.
Letztlich waren für die GIC die Probleme der Übergangsperiode sehr einfach: Die Hauptsache war, dass die Produzenten das gesellschaftliche Produkt auf egalitäre Weise und durch Ausübung der Autorität "von unten nach oben" kontrollieren und verteilen sollten. Das wesentliche Problem der Übergangsperiode, wie es sich 1917 zeigte, war für sie nicht politisch – die Frage der weltweiten Ausdehnung der proletarischen Revolution –, sondern ökonomisch. Was zählte, war die unmittelbare, egalitäre Steigerung des Arbeiterkonsums, die von den Fabrikräten organisiert wurde. Das einzige wirkliche Problem der Übergangsperiode war für die GIC die Beziehung zwischen den Produzenten und ihren Produkten: "Es ist das Proletariat selbst, das den Grundstein legt, der das grundlegende Verhältnis zwischen den Produzenten und dem Produkt ihrer Arbeit zementiert. Dies und nur dies ist die Schlüsselfrage der proletarischen Revolution."[32]
Wie aber sollte die "egalitäre" Verteilung des Sozialprodukts erreicht werden? Offensichtlich nicht durch einfache juristische Maßnahmen: Verstaatlichung, "Sozialisierung", die verschiedenen Formen der Übernahme von Privateigentum durch den Staat. Die Lösung lag nach Ansicht der GIC in der Berechnung der Produktionskosten in Form der Arbeitszeit in den Betrieben, bezogen auf die Menge der geschaffenen gesellschaftlichen Güter. Abhängig von der jeweiligen Produktivität der verschiedenen Unternehmen wäre natürlich für das gleiche Produkt die benötigte Arbeitsmenge ungleich. Um dieses Problem zu lösen, würde es genügen, die durchschnittliche gesellschaftliche Arbeitszeit für jedes Produkt zu berechnen. Die Arbeitsmenge, die in den produktivsten Betrieben, also denjenigen, die über dem gesellschaftlichen Durchschnitt liegen, geleistet wird, würde in einen gemeinsamen Fonds fließen. Dies würde die weniger produktiven Unternehmen auf das allgemeine Niveau bringen. Gleichzeitig würde es dazu dienen, den technischen Fortschritt einzuführen, der für die Entwicklung der Produktivität in den Unternehmen eines bestimmten Sektors notwendig ist, um die durchschnittliche Produktionszeit zu reduzieren.
Die Organisation des Konsums sollte auf denselben Prinzipien beruhen. Ein allgemeines System der sozialen Buchführung, das auf statistischer Dokumentation beruht und von den in Räten und Genossenschaften organisierten Erzeugern-Verbrauchern eingerichtet wird, soll zur Berechnung der Verbrauchsfaktoren verwendet werden. Nach verschiedenen Abzügen – Ersatz verschlissener Maschinen, technische Verbesserungen, ein Sozialversicherungsfonds für Arbeitsunfähige, für Naturkatastrophen usw. – würde die Sozialreserve für jeden Verbraucher gleich verteilt. Den egalitären Produktionsbedingungen, die durch die Berechnung der durchschnittlichen gesellschaftlichen Arbeitszeit gewährleistet werden, stünden allgemein gleiche Bedingungen für alle einzelnen Konsumenten gegenüber. Dank dieses Systems der sozialen Buchhaltung würde das Wertgesetz abgeschafft: Produkte würden nicht mehr auf der Grundlage ihres Tauschwertes mit Geld als universellem Maß zirkulieren. Darüber hinaus würde die neue Gesellschaft mit der Einrichtung eines "neutralen", von den Räten nicht losgelösten, von jeder Personengruppe und von jeder zentralen Stelle unabhängigen Buchhaltungs- und Statistikzentrums der Gefahr der Bildung einer parasitären Bürokratie entgehen, die sich einen Teil des Sozialprodukts aneignet.
Die Grundprinzipien haben das Verdienst, die Bedeutung der ökonomischen Probleme in der Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus zu unterstreichen, umso mehr, als dies in der revolutionären Bewegung nur sehr selten angesprochen wurde. Ohne eine reale und kontinuierliche Steigerung des Arbeiterkonsums hat die Diktatur des Proletariats keine Bedeutung, und die Verwirklichung des Kommunismus wäre ein frommer Wunsch.
Aber der Text der GIC litt unter einer ganzen Reihe von Schwächen, die auch anderen revolutionären Gruppen nicht verborgen blieben.[33]
Die Grundprinzipien befassen sich eigentlich nur mit der entwickelten Phase des Kommunismus, in der die Regierung der Menschen durch die "Verwaltung der Dinge" ersetzt worden ist, gemäß dem von Marx verkündeten Prinzip "jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen". Die GIC glaubte, dass es sofort möglich sei, sobald die Arbeiterräte in einem bestimmten Land die Macht übernommen hätten, zu einer entwickelten Form des Kommunismus überzugehen. Sie ging von einer idealen Situation aus, in der das siegreiche Proletariat den Produktionsapparat der hochentwickelten Länder übernommen hat und von allen Kosten des Bürgerkriegs (Zerstörung, ein großer Teil der Produktion geht für militärische Bedürfnisse drauf) verschont geblieben ist; außerdem geht sie davon aus, dass es kein Problem mit den Bauern gebe, das der Vergesellschaftung der Produktion im Wege steht, da, so die GIC, die landwirtschaftliche Produktion bereits vollständig industriell und vergesellschaftet sei.[34] Schließlich stellten weder die Isolierung einer oder mehrerer proletarischer Revolutionen noch die Archaismen der kleinbäuerlichen Produktion ein wesentliches Hindernis für die Errichtung des Kommunismus dar: "Weder das Ausbleiben der Weltrevolution noch die Untauglichkeit der einzelnen landwirtschaftlichen Betriebe auf dem Lande für die staatliche Leitung können für das Scheitern der russischen Revolution [...] auf wirtschaftlicher Ebene verantwortlich gemacht werden."[35]
Damit entfernte sich die GIC von der marxistischen Auffassung der Übergangsperiode, die zwei Phasen unterschied: eine untere Stufe, die manchmal als Sozialismus bezeichnet wurde, in der die "Regierung der Menschen" eine proletarische Wirtschaftspolitik in einer noch vom Mangel beherrschten Gesellschaft bestimmt; und eine höhere Phase, die des eigentlichen Kommunismus, einer Gesellschaft ohne Klassen, ohne Wertgesetz, in der sich die Produktivkräfte frei entwickeln, im Weltmaßstab, unbelastet von nationalen Grenzen. Aber auch für die untere Stufe der Übergangsperiode, die noch vom Wertgesetz und der Existenz rückständiger Klassen beherrscht wird, betonte der Marxismus, dass die Bedingung für jede wirtschaftliche Transformation in eine sozialistische Richtung der Triumph der Weltrevolution ist. Der Beginn jeder wirklichen wirtschaftlichen Umgestaltung der neuen, noch in Klassen gespaltenen Gesellschaft hängt in erster Linie davon ab, dass sich das Proletariat gegenüber den anderen Klassen politisch behauptet.
Die "ökonomistische" Sichtweise der GIC hängt mit ihrer Unfähigkeit zusammen, das Problem der Existenz eines Staates – eines "Halbstaates" – in der Periode der Diktatur des Proletariats, am Anfang der Übergangsperiode, zu begreifen. Dieser Halbstaat stellt eine Gefahr für die proletarische Macht dar, da sie eine Kraft zur Erhaltung der Gesellschaft ist, "eine Kraft, die aus der Gesellschaft hervorgeht, sich aber über sie erhebt und sich mehr und mehr von ihr verselbständigt".[36]
Die Theorie der GIC über die Übergangsperiode scheint der anarchistischen Theorie nahe zu stehen, die die Existenz eines Staates und damit eines politischen Kampfes um die Herrschaft über die neue Gesellschaft leugnet. Die im Grunde "technische" Rolle, die die GIC den Arbeitern zuweist, die damit beauftragt sind, die durchschnittliche gesellschaftliche Arbeitszeit in der Produktion einzuhalten, war eine implizite Negierung ihrer politischen Rolle.
Wie die Anarchisten sah auch die GIC den Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft als einen mehr oder weniger natürlichen und automatischen Prozess. Nicht als Höhepunkt eines langen, widersprüchlichen Prozesses des Klassenkampfes um die Vorherrschaft des Halbstaates, gegen alle konservativen Kräfte, sondern als Ergebnis einer linearen, harmonischen, fast mathematischen Entwicklung. Diese Ansicht hat eine gewisse Ähnlichkeit mit den Ideen der utopischen Sozialisten des 19. Jahrhunderts, insbesondere mit Fouriers Universeller Harmonie.[37]
Die letzte Schwäche der Grundprinzipien liegt in der Frage der Verbuchung der Arbeitszeit, selbst in einer fortgeschrittenen kommunistischen Gesellschaft, die über die Knappheit hinausgegangen ist. Ökonomisch gesehen könnte dieses System das Wertgesetz wieder einführen, indem es der für die Produktion benötigten Arbeitszeit einen buchhalterischen und nicht einen gesellschaftlichen Wert gibt. Hier wendet sich die GIC gegen Marx, für den das Standardmaß in der kommunistischen Gesellschaft nicht mehr die Arbeitszeit, sondern die freie Zeit, die Freizeit ist.[38]
Zweitens bietet die Existenz eines "neutralen", vermeintlich technischen Buchhaltungszentrums keine ausreichende Garantie für den Aufbau des Kommunismus. Dieses "Zentrum" könnte zu einem Selbstzweck werden, indem es Stunden gesellschaftlicher Arbeit auf Kosten der Konsumbedürfnisse und der Freizeit der Produzenten-Konsumenten akkumuliert und sich zunehmend von der Gesellschaft verselbständigt. Wenn die Produzenten "an der Basis" sich immer weniger um die Kontrolle des "Zentrums" und um die gesellschaftliche Organisation im Allgemeinen kümmerten, käme es unweigerlich zu einer Übertragung der Funktionen, die von den Organen der Produzenten ausgeführt werden sollten, auf "technische" Organe, die sich mehr und mehr verselbstständigen. Die Leugnung dieser potentiellen Gefahren durch die GIC blieb nicht ohne Folgen. Die holländischen Internationalisten lehnten schließlich jede Möglichkeit ab, dass es auch im Kommunismus einen Kampf der Produzenten für die Verbesserung ihrer Arbeits- und Existenzbedingungen geben könnte: Die GIC weigerte sich, die Möglichkeit einer Gesellschaft ins Auge zu fassen, in der der Kampf "für bessere Lebensbedingungen niemals endet" und in der "der Kampf um die Verteilung der Produkte weitergeht"[39]. Führt dies nicht die Idee wieder ein, dass die Produzenten-Konsumenten nicht gegen sich selbst kämpfen können, einschließlich ihrer "Buchhaltungszentrale"?
Für die GIC erscheint der Kommunismus als eine absolute Gleichheit zwischen den Produzenten, die gleich zu Beginn der Übergangsperiode verwirklicht werden soll,[40] als ob es im Kommunismus keine natürliche (physische oder psychische) Ungleichheit in Produktion und Konsumtion mehr gäbe. Tatsächlich aber kann der Kommunismus als "reale Gleichheit in einer natürlichen Ungleichheit"[41] definiert werden.
[1] /content/1435/der-kommunismus-der-beginn-der-wirklichen-geschichte-der-menschheit-serie-iii-teil-1 [164]
[2] Zusammenfassung in Englisch: https://en.internationalism.org/ir/125-communism [165]
[3] Die Artikel befinden sich in der englischen Ausgabe der International Review Nr. 127-132 (auch im Internet)
[4] Vgl. den Artikel im Band 2 dieser Reihe (auf Englisch), Unravelling the Russian enigma in International Review Nr. 105
[6] Bilan Nr. 19, 20, 21, 22, 23
[7] Unter den Studien zu den Grundprinzipien können wir Paul Matticks Einleitung von 1970 zur deutschen Neuauflage des Buches erwähnen, die unter libcom.org/library/introduction-paul-mattick [167] (Englisch) erhältlich ist. Die 1990er Ausgabe des Buches, herausgegeben von Movement for Workers' Councils, enthält einen langen Kommentar von Mike Baker, geschrieben kurz vor seinem Tod, der auch zum Verschwinden der Gruppe führte. Unser eigenes Buch, The Dutch and German Communist Left, 2001, enthält einen Abschnitt über die Grundprinzipien, den wir als Anhang zu diesem Artikel veröffentlichen. Dieser Abschnitt zeigt die Kontinuität unserer Ansichten mit den Kritiken an dem Text, die zuerst durch Mitchells Artikel aufgeworfen wurden. Die deutsche Ausgabe der Grundprinzipien ist 2020 erneut aufgelegt worden.
[8] Bilan Nr. 19, Les fondements de la production et de la distribution communistes
[9] Bilan Nr. 33 und 34, Nature et évolution de la révolution russe
[10] Bilan Nr. 34, S. 1124
[11] Wir sollten hier präziser sein: Mitchell, selbst ehemaliges Mitglied der LCI, gehörte eigentlich der Belgischen Fraktion an, die sich wegen der Frage des Krieges in Spanien von der LCI abgespaltet hatte. In einer seiner Artikelserien über die Übergangsperiode (Bilan Nr. 38) äußerte er einige Kritikpunkte "an den Genossen von Bilan", da er das Gefühl hatte, dass sie dem wirtschaftlichen Aspekt der Übergangsperiode nicht genug Aufmerksamkeit schenkten.
[12] Vgl. auf Englisch: https://en.internationalism.org/ir/127/vercesi-period-of-transition [70]; oder auch das entsprechende Kapitel in unserem Buch Die Italienische Kommunistische Linke: /content/713/kapitel-7-bilanz-der-russischen-revolution-partei-gewerkschaften-klassenkampf-der-staat [168]; siehe auch auf Deutsch übersetzt: Gauche Communiste de France (Kommunistische Linke Frankreichs), M.C. April 1946, aus INTERNATIONALISME, /content/855/3-thesen-ueber-das-wesen-des-staates-und-der-proletarischen-revolution [169].
[13] Bilan Nr. 21, zitiert in The 1930s: debate on the period of transition, in International Review n° 127 (englische Ausgabe)
[14] Bilan Nr. 37, wiederveröffentlicht in englischer Übersetzung in International Review n° 132
[15] Bilan Nr. 35, wiederveröffentlicht in englischer Übersetzung in International Review n° 131
[16] Bilan Nr. 22, Les internationalistes hollandais sur le programme de la révolution prolétarienne
[17] Bilan Nr. 35
[18] Bilan Nr. 37
[19] Grundprinzipien, Kapitel VI, “Die allgemeine gesellschaftliche Arbeit”
[20] Bilan Nr. 22
[21] Bilan Nr. 37
[22] Grundprinzipien, Kapitel XIX, Untertitel “Vermeintliche Utopie”
[23] Bilan Nr. 37
[24] Bilan Nr. 37
[25] Grundprinzipien, Kapitel X, Untertitel “Die sachliche Kontrolle”
[26] “De Arbeidersklasses en de Revolutie”, in Radencommunisme Nr. 4, März/April 1940
[27] Einige Texte von Bilan über die Übergangsperiode wurden auch ins Italienische übersetzt: Rivoluzione e reazione (lo stato tardo-capitalistico nell'analisi delle Sinistra Communista), Università degli studi di Massina, Milan, Dotl A2. Giuffre editore, 1983, mit einer Einleitung von Dino Erba und Arturo Peregalli.
[28] Die Frage nach dem Staat in der Übergangsperiode wurde vor allem von der Essener Tendenz der KAPD 1927 gestellt. Die Arbeiterräte wurden als “proletarischer” Staat identifiziert (siehe KAZ, Essen. S. 1 - 11, 1927). Der einzige Beitrag der Berliner Tendenz war ein Text von Appel (Max Hempel) der “Lenins Staatkommunismus” in Proletarier N° 4-6, Mai 1927 kritisierte: “Marx-Engels und Lenin über die Rolle des Staates in der proletarischen Revolution”
[29] Die Frage nach dem Staat in der Übergangsperiode wurde vor allem von der Essener Tendenz der KAPD 1927 gestellt. Die Arbeiterräte wurden als “proletarischer” Staat identifiziert (siehe KAZ, Essen, S. 1-11, 1927). Der einzige Beitrag der Berliner Tendenz war ein Text von Appel (Max Hempel) der “Lenins Staatkommunismus” im Proletarier Nr. 4-6, Mai 1927 kritisierte: “Marx-Engels und Lenin über die Rolle des Staates in der proletarischen Revolution”.
[30] Die Grundprinzipien mit einer Einleitung von Paul Mattick wurden 1970 in Berlin vom Rudger Blankertz Verlag wiederveröffentlicht, die holländische Ausgabe, die viele Ergänzungen enthält, wurde 1972 von Uitgevery De Vlam mit einer Einleitung des Spartacusbond wiederveröffentlicht. Eine vollständige französische Übersetzung ist von Cahiers Spartacus geplant. Eine englische Ausgabe wurde in London von Movement for Workers’ Councils, 1990, veröffentlicht.
[31] Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung, 1930
[32] Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung, Hervorhebung GIC
[33] Eine Kritik des GIC-Textes wurde in Bilan von Nr. 11 bis 38, geschrieben von Mitchell (Jehan van den Hoven), einem Mitglied der belgischen LCI veröffentlicht. Hennaut, im Namen der LCI, erstellte in Bilan Nr. 19, 20, 21, 22 und 23 eine Zusammenfassung der Grundprinzipien.
[34] Diese These wurde 1933 von der GIC in der Broschüre Ontwikkelingsljnen in de landbouw, S. 1-48 vertreten.
[35] Grundprinzipien in der Wiederöffentlichung De Vlam, 1970, S. 10
[36] Engels, Ursprung der Familie, des Privateigentum und des Staats. Ein Resümee und eine Studie über die verschiedenen Positionen der Linken in der Dritten Internationale zur Übergangsperiode finden sich in den Thesen von J. Sie: Sur la période de transition au socialisme: les positions des gauches de la 3ème Internationale, veröffentlicht von Cosmopolis, Leiden, 1986.
[37] Diese Rückkehr zur Utopie findet sich bei Rühle, der 1939 eine Studie zu den utopischen Bewegungen veröffentlichte: Mut zur Utopie!, wiederveröffentlicht 1971 bei Rowohlt, Hamburg: Otto Rühle, Bauplane für eine neue Gesellschaft.
[38] „so wird einerseits die notwendige Arbeitszeit ihr Maß an den Bedürfnissen des gesellschaftlichen Individuums haben, andrerseits die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft so rasch wachsen, daß, obgleich nun auf den Reichtum aller die Produktion berechnet ist, die disposable time aller wächst. Denn der wirkliche Reichtum ist die entwickelte Produktivkraft aller Individuen. Es ist dann keineswegs mehr die Arbeitszeit, sondern die disposable time das Maß des Reichtums. Die Arbeitszeit als Maß des Reichtums setzt den Reichtum selbst als auf der Armut begründet und die disposable time nur existierend im und durch den Gegensatz zur Surplusarbeitszeit oder Setzen der ganzen Zeit des Individuums als Arbeitszeit und Degradation desselben daher zum bloßen Arbeiter, Subsumtion unter die Arbeit“ (Marx, Grundrisse, Heft VII, MEW 42, S. 622).
[39] Grundprinzipien, S. 40
[40] Der Großteil der kommunistischen Linken beharrte dagegen darauf, dass Gleichheit bei der Verteilung von Konsumgütern gleich zu Beginn der Übergangsperiode unmöglich sei. Vor allem in einer Periode des Bürgerkriegs, in der die neue Macht der Räte auf die Existenz von Spezialisten angewiesen sein würde.
[41] Bilan Nr. 35, Sept./Okt. 1936, “Problèmes de la période de transition”, von Mitchell („Probleme der Übergangsperiode“)
Anmerkung: Mittlerweile (2020) liegt auf Deutsch erstmals die vollständige 2. Auflage der holländischen Ausgabe von 1935 vor, diese ist umfassender als die Ausgabe von 1930/31, die meistens aus der deutschen Wiederveröffentlichung von 1970 bekannt ist. Unsere Zitate aus den Grundprinzipien (im vorliegenden Anhang) sind eigene Übersetzungen, die bisher nicht mit dieser neuen Ausgabe abgeglichen wurden (Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung (anarchia-versand.net) [170])
Links
[1] https://de.internationalism.org/files/de/flugblatt_zu_den_streiks_in_frankreich.pdf
[2] https://www.who.int/data/gho/data/themes/topics/topic-details/GHO/deaths
[3] https://de.internationalism.org/content/748/der-zerfall-die-letzte-phase-der-dekadenz-des-kapitalismus
[4] https://en.internationalism.org/icconline/201510/13468/syria-russian-intervention-escalates-chaos
[5] https://fr.internationalism.org/content/9934/droit-dasile-arme-dresser-des-murs-contre-immigres
[6] https://de.internationalism.org/content/2920/ein-weiterer-beweis-dass-der-kapitalismus-zu-einer-gefahr-fuer-die-menschheit-geworden
[7] https://de.internationalism.org/content/2845/100-jahre-nach-der-gruendung-der-kommunistischen-internationale-welche-lehren-koennen
[8] https://de.internationalism.org/content/2861/resolution-zur-internationalen-lage-2019-imperialistische-spannungen-leben-der
[9] https://www.newtral.es/las-uci-de-europa-ante-los-casos-graves-con-coronavirus/20200312/
[10] https://de.internationalism.org/content/2903/der-kampf-erfordert-die-solidaritaet-aller-arbeiter-und-arbeiterinnen-und-aller
[11] https://www.lemonde.fr/sciences/article/2020/02/29/bruno-canard-face-aux-coronavirus-enormement-de-temps-a-ete-perdu-pour-trouver-des-medicaments_6031368_1650684.html
[12] https://www.pasteur.fr/fr/centre-medical/fiches-maladies/mers-cov
[13] https://drees.solidarites-sante.gouv.fr/
[14] https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Healthcare_resource_statistics_-_beds
[15] https://www.lemonde.fr/politique/article/2020/03/17/entre-campagne-municipale-et-crise-du-coronavirus-le-chemin-de-croix-d-agnes-buzyn_6033395_823448.html
[16] https://www.force-ouvriere.fr/releve-de-reunion-du-19-mars-cfdt-cgt-fo-cfe-cgc-cftc-medef-cpme
[17] https://de.internationalism.org/content/2931/pandemie-des-covid-19-frankreich-die-kriminelle-fahrlaessigkeit-der-bourgeoisie
[18] https://elpais.com/espana/madrid/2020-03-21/el-dano-del-coronavirus-en-las-residencias-de-mayores-sera-imposible-de-conocer.html
[19] https://www.elespanol.com/espana/20200320/criterios-decidir-prioridad-falten-camas-uci/475954325_0.html
[20] https://www.elconfidencial.com/espana/2020-03-24/sanitarios-ramon-cajal-plante-mascarillas_2513959/
[21] https://www.lasprovincias.es/comunitat/sindicatos-exigen-generalitat-20200325192618-nt.html
[22] https://de.internationalism.org/files/de/covid_19_0.pdf
[23] http://www.internationalism.org
[24] mailto:[email protected]
[25] https://de.internationalism.org/content/2917/wer-ist-wer-bei-nuevo-curso
[26] https://de.internationalism.org/content/2898/lassalle-und-schweitzer-der-kampf-gegen-politische-abenteurer-der-arbeiterbewegung
[27] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/bebel/1911/leben2/
[28] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/bebel/1911/leben2/kap1-06.html
[29] https://de.internationalism.org/content/690/ausserordentliche-konferenz-der-iks-der-kampf-fuer-die-verteidigung-der
[30] https://es.internationalism.org/revista-internacional/200604/834/fraccion-interna-de-la-cci-intento-de-estafa-a-la-izquierda-comunis
[31] https://es.internationalism.org/accion-proletaria/200602/471/circulo-de-comunistas-internacionalistas-argentina-que-es-y-que-funcion
[32] https://de.internationalism.org/iksonline/konferenz-marseille-ueber-die-kommunistische-linke-doktor-bourrinet-hochstaple
[33] https://russland.ahk.de/corona-krise/liveticker
[34] https://www.nytimes.com/2020/04/04/world/europe/germany-coronavirus-death-rate.html
[35] https://www.welt.de/politik/deutschland/article207060585/Corona-Niedrige-Todesrate-New-York-Times-ueber-die-deutsche-Ausnahme.html
[36] https://gesundheit-soziales.verdi.de/mein-arbeitsplatz/krankenhaus/++co++1ebb885e-126f-11e9-9a57-525400940f89
[37] https://www.welt.de/wirtschaft/article155259907/Die-fatalen-Arbeitsbedingungen-in-deutschen-Pflegeheimen.html
[38] https://interaktiv.tagesspiegel.de/lab/pflegeheim-umfrage/
[39] https://www.tagesschau.de/inland/pflege-notstand-101.html
[40] https://www.labournet.de/branchen/dienstleistungen/gesund/gesund-arbeit/pflegenotstand-wieder-mal-auslaender-rein-also-die-pflege-die-verzweifelte-hoffnung-stirbt-offensichtlich-zuletzt/
[41] https://www.mdr.de/sachsen/multiresistente-keime-interview-lutz-jatzwauk-umgang-mre-alltag-hygiene100.html
[42] https://www.stern.de/panorama/stern-crime/krankenpfleger-niels-hoegel-verurteilt--kliniken-perfekt-fuer-serienmoerder--8424662.html
[43] https://www.marx21.de/coronavirus-gefahren-ursachen-loesungen/
[44] https://www.assoziation-a.de/buch/Vogelgrippe
[45] https://www.heise.de/tp/features/Covid-19-Bereits-2012-gab-es-Planspiele-mit-dem-hypothetischen-Erreger-Modi-SARS-4692905.html
[46] https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/berliner-intensivpfleger-ueber-corona-patienten-wir-hatten-ihn-16-stunden-auf-dem-bauch-liegen/25722480.html
[47] https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-aerzte-pfleger-ansteckung-1.4865774
[48] https://www.zeit.de/arbeit/2020-04/pflegekraefte-corona-krise-einschuechterungen-drohungen/komplettansicht
[49] https://bnn.de/lokales/gaggenau/fuehlen-uns-verarscht-erste-pfleger-in-mittelbaden-kuendigen-wegen-fehlender-schutzkleidung
[50] https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/coronavirus-volkswagen-daimler-1.4848722
[51] https://www.spiegel.de/wirtschaft/arbeitgeber-und-ig-metall-einigen-sich-auf-not-tarifvertrag-a-255f34ce-01e4-47f4-a2d0-fbe0a2879c43
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[53] https://www.dw.com/de/corona-krise-es-wird-so-teuer-wie-noch-nie/a-52890015
[54] https://www.merkur.de/politik/coronavirus-deutschland-angela-merkel-kanzler-soeder-merz-laschet-roettgen-kanzlerschaft-news-zr-13639261.html
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[58] https://libcom.org/article/workers-launch-wave-wildcat-strikes-trump-pushes-return-work-amidst-exploding-coronavirus
[59] https://fr.internationalism.org/content/10107/covid-19-des-reactions-face-a-lincurie-bourgeoisie
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[101] https://www.marxists.org/archive/trotsky/1924/lit_revo/
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[112] https://en.internationalism.org/content/3203/polemic-wind-east-and-response-revolutionaries
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[115] http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_741.htm#Kap_24_6
[116] http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_341.htm#M24
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[120] https://www.lavanguardia.com/internacional/20200603/481582308546/violenc
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[122] http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_245.htm#Kap_8_7
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[133] http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_245.htm#Kap_8_3
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[154] https://www.finanzen.net/nachricht/aktien/ifw-corona-hilfen-erhoehen-staatliche-subventionen-deutlich-9197404
[155] https://www.n-tv.de/politik/15-Millionen-Beschaeftigten-droht-Altersarmut-article22038060.html
[156] https://www.n-tv.de/politik/Jede-zweite-Rente-liegt-unter-1000-Euro-article21988877.html
[157] https://en.internationalism.org/content/16652/centenary-foundation-communist-international-what-lessons-can-we-draw-future-combats
[158] https://de.internationalism.org/content/2074/die-maerzaktion-1921-die-gefahr-kleinbuergerlicher-ungeduld
[159] https://de.internationalism.org/content/1294/kommunisten-und-die-nationale-frage-aus-international-review-engl-ausgabe-nr-42-1985
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[164] https://de.internationalism.org/content/1435/der-kommunismus-der-beginn-der-wirklichen-geschichte-der-menschheit-serie-iii-teil-1
[165] https://en.internationalism.org/ir/125-communism
[166] https://www.sinistra.net/lib/upt/kompro/ren/renegategd.html
[167] https://libcom.org/library/introduction-paul-mattick
[168] https://de.internationalism.org/content/713/kapitel-7-bilanz-der-russischen-revolution-partei-gewerkschaften-klassenkampf-der-staat
[169] https://de.internationalism.org/content/855/3-thesen-ueber-das-wesen-des-staates-und-der-proletarischen-revolution
[170] https://www.anarchia-versand.net/Buecher-und-Broschueren/Marxismus-Kommunismus/Grundprinzipien-kommunistischer-Produktion-und-Verteilung::4466.html