„Die Schicht der Zivilisation ist dünn wie eine Haut.“ (Sigmund Freud)
Es beginnt mit einer gewöhnlichen Szene – kommentarlos betrachtet der Zuschauer Jugendliche in einem Park. Die Szene endet, als ein Jugendlicher einen anderen mit einem Stock schlägt und verletzt. Von nun an spielt der Film „Der Gott des Gemetzels“ (2011) von Roman Polanski gemäß des klassischen griechischen Theaters an einem Ort, in einer Zeit und dreht sich umeine Handlung. Dies verstärkt den Eindruck, dass der Zuschauer einen typischen, alltäglichen Ausschnitt aus dem „echten“ Leben präsentiert bekommt. Nancy und Alan Cowan (Kate Winslet und Christoph Waltz), die Eltern des „Täters“, sind zu Gast bei Penelope und Michael Longstreet (Jodie Foster, John C. Reilly), den Eltern des „Opfers“.
Man hat sich versammelt, um – wie Penelope es mehrmals betont – gewaltlos, zivilisiert und vernünftig wie Erwachsene den Vorfall zu klären. Der Umgang miteinander ist zwar höflich, es werden mehrmals die entsprechenden Entschuldigungen und Äußerungen des Bedauerns ausgetauscht, aber die Atmosphäre ist verkrampft und angespannt. Klar ist: diese Paare sind nicht auf einer Wellenlänge, würden freiwillig nie etwas miteinander zu tun haben. Man ist sich fremd. Die Cowans wollen so rasch wie möglich aufbrechen, aber erste aufbrechende Spannungen führen sie wieder zurück in die Wohnung der Longstreets. Letztere sehen sich als die typischen Gutmenschen. Sie glauben daran, dass der moderne Mensch der höchste Ausdruck der Zivilisation sei. Sie selbst an der Spitze. Man ist ein bisschen öko, ist besorgt um die Verletzung der Menschenrechte und die Gewalt auf der Welt, die man „daheim“ in der „zivilisierten 1.Welt“ bereits hinter sich gelassen habe. Auch die Cowans sind anfangs darum bemüht, Anstand, Verständnis und Bedauern zu zeigen, schließlich ist dieser gewalttätige Ausrutscher ihrem Sohn passiert. Außerdem wollen sie dieser unangenehmen Lage so rasch wie möglich entkommen.
Die mit Mühe und Not gespielte Vernunft und Einsicht der Ehepaare kippt nur allzu schnell. Auf herrliche und komische Weise geraten die Ehepaare aneinander. Ehe man sich versieht, geht man sich verbal an die Gurgel und lebt mit Freude seine Aggressionen nicht nur gegen das andere Ehepaar, sondern vor allem gegenüber dem eigenen Ehepartner aus. Schon bald kreisen die Dialoge nicht mehr um die Söhne und die Gewalttat. Die vier Erwachsenen halten sich gegenseitig schonungslos den Spiegel vor, reißen mit Lust die mühsam aufgebaute Fassade der Anderen ein. In diesem verbalen Gefecht werden mehrmals die Seiten gewechselt, Zweckbündnisse eingegangen, aber stets mit einem einzigen Ziel: die Zerstörung des Selbstbildes des Anderen. Die unterdrückte Unzufriedenheit mit sich, seinem Leben und dem Angekettet-Sein an seinem Ehepartner bricht heraus. Dieser Wandel wird von den Schauspielern vorzüglich dargestellt. Aus den gepflegten, gestylten und strengen Gesichtern werden verzerrte Monster: hysterisches Lachen, hervortretende Adern und rot angelaufene, vor Wut schäumende Gesichter. Alan bringt es auf dem Höhepunkt des Konflikts auf den Punkt: „Ich glaube an den Gott des Gemetzels“. Jetzt, wo dies offen ausgesprochen ist, werden auch die letzten Hemmnisse fallengelassen: Offen verabschiedet man sich von jeglicher Moral und Ethik. Jeder kann und soll nur sich vertrauen. So unvermittelt der Zuschauer in diese Situation hineingestoßen wurde, so unvermittelt wird der Zuschauer wieder ausgeschlossen. Am Ende sitzen die vier ach so zivilisierten Erwachsenen um den Wohnzimmertisch, stumm und erschöpft vor den Trümmern ihres Lebens. Die Katharsis (Reinigung/Klärung) des klassischen Theaters bleibt uns verwehrt. Ohne weitere Erläuterung sieht man im Epilog erneut den Park mit den Jugendlichen. Man sieht die beiden Söhne, wie sie miteinander sprechen und sich wieder gut verstehen.
Der Film ist großes Kino, genauer gesagt großes Theater, da der Film auf Yasmina Rizas erfolgreichem Theaterstück „Le dieu du carnage“ basiert. DER TAGESSPIEGEL sieht neben dem Film „Der Gott des Gemetzels“ eine allgemeinere Tendenz zu solchen Themen: „2011 ist das Jahr, in dem die Kunst und das Kino, die Literatur und das Theater die Räume eng machten. Eine Saison voller Kammerspiele und Nabelschauen. Die Welt steckt derart in der Krise, dass einem bang werden kann. Da bleibt man zu Hause, kapselt sich ab, duckt sich weg.“ (Tagesspiegel, 1.1.2012)
„Der Gott des Gemetzels“ liefert uns mittels Introspektion in der Tat einen Mikrokosmos unserer heutigen kapitalistischen Welt und offenbart uns so einige fundamentale Widersprüche dieses Systems. So urteilt der TAGESSPIEGEL: „Es ist was faul im Staate, und die schönen Künste gehen zurück zu den Wurzeln, leisten weniger politisch-strukturelle als psychologische Ursachenforschung.“ (ebd.) Denn wer ist der Gott des Gemetzels, dem anfangs nur Alan, schließlich aber alle im Film folgen? Der Gott ist das Geld, der Profit, dem im Kapitalismus alles andere untergeordnet wird. Menschlichkeit und Gerechtigkeit wird nur da gewährt, wo man es sich leisten kann. Sie sind aber nicht fundamentale Prinzipien des Kapitalismus, sondern nur schmückendes (und ersetzbares) ideologisches Beiwerk. Die heutige Produktionsweise ist nicht den menschlichen Bedürfnissen, sondern allein dem Profit untergeordnet. Dies wird exemplarisch an Alan deutlich. Er führt bei den Longstreets alle fünf Minuten Telefonate mit seinem Büro. Er ist Anwalt für eine Arzneifirma. Es sind Gerüchte im Umlauf, dass ein Medikament gesundheitsgefährdend ist. Er erfährt indessen, dass der Firma die erheblichen Nebenwirkungen des Medikaments seit zwei Jahren bekannt waren, es aber weiter verkauft hat. Dann ist seine Strategie für die Firma klar und er schreit ins Handy: Leugnen, leugnen. Das Überleben des Produktes muss in jedem Fall gewährleistet werden. Daran hängt das Überleben der Firma und letztlich auch sein Arbeitsplatz; auch wenn die Gesundheit unzähliger Menschen wissentlich zerstört wird. So herrscht das Tote über das Lebendige. Pikant wird die Situation, als sich herausstellt, dass die Mutter von Michael eben dieses Medikament einnimmt. Nun bekommen die abstrakt wahrgenommenen und dem Profit geopferten Menschen ein konkretes Antlitz. Alan sieht sich gezwungen, Michaels Mutter zu empfehlen zumindest vorübergehend das „völlig unbedenkliche“ Medikament abzusetzen. Welch eine Doppelmoral! Einerseits predigen uns die Herrschenden, wir lebten in einer Gesellschaft der Gerechtigkeit, Freiheit und Brüderlichkeit, geleitet vom obersten Prinzip – dem Gott der Vernunft. Tatsächlich aber ist der Kapitalismus ein unmenschliches und brutales, weil unpersönliches Ausbeutungsverhältnis. Der Profit geht über alles. Ist die Gesellschaft therapierbar bzw. revolutionierbar? In dem Mikrokosmos, den Polanski uns vorführt, bleibt die Frage offen. Auf der Ebene der gesamten Gesellschaft, sprich: des Makrokosmos‘, sagen die Marxisten: Das Potenzial ist da.
Einst äußerte Karl Marx die These, dass die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert haben; es komme aber drauf an, sie zu verändern. Der Marxismus ist eine wissenschaftliche Methode, mittels derer man die Welt besser verstehen kann. In der Wissenschaft sucht man nach allgemeinen Tendenzen und Prinzipien, nach einer abstrakten Einheit der Welt. Mit der Kunst ist es nun gerade andersherum. Sie betrachtet das Spezielle, ist subjektiv und erhebt keinen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit, und doch ist die Kunst ein zentraler Bestandteil des menschlichen Seins, denn, wie Rosa Luxemburg es beschrieb, ist neben der Sprache die Kunst ein Eckpfeiler menschlicher Existenz, ist „…nichts anderes als Verkehrsmittel, Verständigungsmittel zwischen den Mitgliedern derselben menschlichen Gesellschaft.” (Rosa Luxemburg: Die Menge tut es). Auch Engels erkannte die Bedeutung der Kunst, als er 1888 an Harkness schrieb, dass er durch die Romane Balzacs das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft weitaus besser verstanden habe als durch die anerkannten Historiker oder Ökonomen seiner Zeit. Somit ergänzt die Kunst die Wissenschaft im menschlichen Anliegen des Begreifens.
In diesem Sinne ist der Film „Der Gott des Gemetzels“ von Roman Polanski gleich mehrfach sehr sehenswert: Der Film ist sehr unterhaltsam, weil wir uns in ihm wiederfinden, denn wir begreifen, dass wir alle unvollkommen sind, sowohl fähig zur Liebe als auch zur Aggression. Der Film ist komisch, denn wir lachen nicht nur über die Longstreets und Cowans, sondern auch über uns selbst. Zudem ist der Film lehrreich, denn er hält uns den Spiegel vor und zeigt uns, wie dünn einerseits die Schicht unserer Zivilisation ist, andererseits aber auch, wie notwendig echte Menschlichkeit und Solidarität sind, wenn wir nicht dem Gott des Gemetzels, sprich: dem Kapitalismus zum Opfer fallen möchten.
Lee 1.1.2012
* vernünftiger und friedlicher Mensch
Die extreme Zuspitzung der Weltwirtschaftskrise, die besondere Zerbrechlichkeit Italiens und der Druck der internationalen Bourgeoisie haben über den Widerstand Berlusconis gesiegt: Er und seine Regierung wurden abgesetzt.
Dieser Übergang, der anfänglich in gewissen sozialen Schichten große Euphorie auslöste (z.B. die Feiern vor dem Parlament am Tage der Absetzung), hat aber jetzt schon gezeigt, dass jenseits des Komödianten Berlusconi, den niemand vermissen wird, alles beim Alten bleibt. Vom Gesichtspunkt der Lebensbedingungen bleibt nicht nur alles kalter Kaffee, vielmehr ist die Regierung Montis imstande, darüber hinaus zu gehen und die Renten, diese jahrelang erfolgreich verteidigte Sphäre, anzugreifen. Gerade weil Monti kein Vertreter irgendeiner Partei ist und weil er nicht vom "Volk" gewählt und dazu berufen wurde "Italien zu retten", kann er es sich leisten, diese sehr unpopulären Maßnahmen zu ergreifen, welche in Italien seit Wochen von statten gehen1 und (fast) keiner erhebt die Stimme.2 Man hat immer mehr den Eindruck, dass das alles nichts hilft. In den letzten Jahrzehnten, und ganz besonders in den letzten Jahren, zeigt sich, dass das kapitalistische System nicht mehr in der Lage ist, den jungen Generationen irgendeine Zukunft zu bieten. Deshalb ist es klar, dass es nicht mehr um eine einzelne Lohnerhöhung, einen Jahresvertrag, eine Arbeitslosenentschädigung geht, sondern dass man sich den Blickwinkel einer neuen Gesellschaft aneignen muss und dies nur auf globaler und vereinter Grundlage zu erreichen ist.
Aber es ist schwierig, dieses Bewusstsein zu entwickeln. Es ist klar: das Proletariat muss noch sein Selbstbewusstsein wiederfinden, sich wieder als Klasse erkennen; es muss die eigene Geschichte an die Geschichte der vorangegangenen Generationen knüpfen.
Ein wichtiges Element, das als Bremse agiert, sind die Gewerkschaften und ihr Denken. Was bedeutet eigentlich "gewerkschaftlicher Kampf"? Es bedeutet vor allem, den eigenen Kampf an ein Team von Experten zu delegieren, welche sich der Aufgabe übernehmen, die Verhandlungen weiter zu führen. Wenn eine gewerkschaftliche Delegation mit den Arbeitgebern verhandelt, bleibt den Beschäftigten nicht anderes als das Verhandlungsergebnis abzuwarten und zu hoffen, dass das Bestmöglichen herauskommt. Wenn die Gewerkschaft (gehen wir mal davon aus) eine gute Arbeit macht, entreißt sie der Klasse die Initiative, das Potential ihrer Kämpfe voranzutreiben. Aber was bedeutet heute "kämpfen"? Ist es möglich, etwas zu erreichen, wenn man zu 100, 500 oder gar 10.000 eingeschlossen in der Fabrik verharrt? Oder wäre es nicht viel effektiver, die Kämpfe auszuweiten und die Fabrik als Stützpunkt zu benützen für die Suche nach KampfgenossInnen in anderen Fabriken, Branchen oder gar bei den Arbeitslosen, die die Notwendigkeit der Solidarisierung mit den Kämpfen sehen und sich in ihren Zielen erkennen. Das Ausmaß der allgemeinen und massiven Angriffe erlaubt es uns nicht mehr, in einzelnen Kämpfen verzettelt Widerstand zu leisten, indem man isoliert voneinander in den einzelnen Fabriken, Städten, Ländern kämpft. Deshalb treibt uns die gewerkschaftliche Logik in die Niederlage, weil sie nur die lokale, branchenbezogene Karte spielen kann. Sie geht nicht von einer Einheit der Arbeiter aus, die nicht die Summe der einzelnen Kämpfe ist, sondern das Subjekt an und für sich, das für eine andere Zukunft kämpft.
Wenn wir einen Blick auf die Karte der Kämpfe in Italien werfen, ist es verblüffend zu sehen, wieviele Kämpfe gleichzeitig stattfinden. Andererseits kann man leicht erkennen, welcher Funken alles explodieren ließe. Das Problem ist, welche Art von Kämpfen müssen sich entwickeln? Irgendwie herrscht noch Zögern vor; dies bringt die Klasse dazu, die eigene Initiative aus den Händen zu geben und die eigene Sache in die Hände der gewerkschaftlichen Vertreter zu legen. Nicht nur in die Hände der großen Gewerkschaften CGIL, CISL und UIL, welche seit Jahren eine Politik des „verantwortlichen Handelns“ betrieben haben, wodurch die Manöver gegen die Arbeiter unterstützt werden. Ihre Beliebtheit hat stark abgenommen.3 Aber es gibt auch diejenigen, die sich die Hände nicht schmutzig gemacht haben, indem sie die verschiedenen Abkommen mit den verschiedenen Regierungen unterschrieben hätten, die sogenannten Basisgewerkschaften, die sagen, dass sie für eine wirkliche Verteidigung der Arbeiterinteressen kämpfen. Es gibt aber auch die FIOM, welche eine größere Kampfbereitschaft innerhalb der CGIL gezeigt hat. Man sieht, dass dann, wenn der Kampf sich zuspitzt, nur die FIOM anwesend ist. Auch wenn es eine Gewerkschaft einer bestimmten Branche ist, namentlich der Metallarbeiter, spielt sie die Rolle des Jokers auch in anderen Branchen, wie bei den Arbeitslosen, den StudentInnen, den COBAS4, CUB5 und anderen.
Wir möchten genauer erklären, was wir meinen, wenn wir von der Logik der Gewerkschaften reden. In der heutigen historischen Phase sind die Gewerkschaften nicht in der Lage, den Bedürfnissen der ProletarierInnen gerecht zu werden. Sehen wir einmal genauer hin, was in den Fabriken und an den anderen Arbeitsplätzen passiert. In den letzten Monaten hat sich der Kampf bei Esselunga in Pioltello als symbolträchtiger Ort gezeigt.
Seit Monaten sind in Pioltello/Mailand bei der Genossenschaft SAFRA, einer Tochtergesellschaft der Esselunga, die 300 Beschäftigten in Aufruhr. Seit Anfang Oktober 20116 haben sich die Streiks verschärft. Die Arbeiter, die von den COBAS unterstützt werden, haben eine ständige Streikführung am Eingang des Geländes eingerichtet. Einerseits um einen Treffpunkt für die ArbeiterInnen wie auch für die Externen zu bilden. Aber andererseits auch, um die Ein- und Ausfahrt der Lastwagen zu blockieren. In diesem Fall ist die Maßnahme der Blockade ein sehr wichtiges Mittel für den Streik. Denn es bedeutet, die Einnahmequelle des Unternehmens zu treffen. Die Antwort der Arbeitgeber war außerordentlich hart.7
Die Polizei war dauernd vor dem Gelände und intervenierte wiederholt. Es wurden auch 15 Kündigungen gegen die kämpferischsten ArbeiterInnen ausgesprochen. Und über einen Zeitraum von drei Jahren wurden die ArbeiterInnen von COOP, die bei den COBAS eingeschrieben waren, mit einer Reihe von Anklagen konfrontiert; diese gehen von „Widerstand“ bis „Körperverletzung“ wegen der Mobilisierung der ArbeiterInnen in Origgio, welche den Anfang der Kämpfe bei COOP gebildet hatte.8
Das Szenario ist in Hunderten von Betrieben dasselbe, es ändern sich nur die Firma und der Ort. Wir wollen hier nur einige der wichtigsten und aktuellsten Kämpfe in Erinnerung rufen:
- Bei der Keramikfabrik „Ricchetti di Mordano/Bologna“, da stehen 62 Arbeitsplätze auf der Kippe.9
- Bei dem Transportunternehmen „CEVA di Cortemaggiore/Piacenza“, in welchem die Beschäftigten sich über außerordentlich krasse Vertragsverletzungen beklagen. „Der 13. und 14. Monatslohn wird auf dem Lohnzettel als bezahlt ausgewiesen. In Wirklichkeit wurden uns diese Löhne nicht ausbezahlt.“ „Wir verlangen nur, dass die Verträge eingehalten werden, welche mit unserer Gewerkschaft ausgehandelt wurden.“
- Bei den Transportkooperativen von Bergamo, wo 150 ArbeiterInnen streiken, die meisten von ihnen sind Immigranten.
- Bei der „Elnagh di Trivolzio, Pavia“, ein Betrieb der Wohnwagen produziert. Dort wird mit der Schließung gedroht, was die Entlassung von 130 ArbeiterInnen bedeuten würde.
- Bei der „ex-ILA di Porto Vesme, Carbonia Iglesias“ wurden am 31. Dezember die abfedernden Sozialleistungen eingestellt.
- Bei den „Italienischen Staatsbahn (FS)“ sind insgesamt 800 ArbeiterInnen, die als Techniker, Zugbegleiter oder Reinigungspersonal beschäftigt waren, Anfang Dezember 2011 entlassen worden. Das hat zur Besetzung eines der Bahnhofsteile des Mailänder Hauptbahnhofs geführt.
- Bei der „Iribus di Valle Ufita, Avellino“ wird die Busproduktion eingestellt; 600 ArbeiterInnen sollen entlassen werden.
Man könnte die Liste noch auf einige Fiat-Werke, die Jabil, die ex-Siemens Nokia Werke, Spitäler sowie Schiffswerften ausweiten und über Fabrikbesetzungen von Arbeiterinnen (Tacconi) in Latina berichten.
Wichtig ist festzustellen, was für ein unglaubliches Potential es gibt und dass sehr viele Kämpfe stattfinden, die immer mit sehr rührendem Engagement und Hingabe geführt werden. Es gibt einige Zehntausend ArbeiterInnen, deren Kämpfe an Intensität und Schärfe stark zugenommen haben. Leider drücken sie bisher ihren Kampfgeist nur im Rahmen ihres eigenen Arbeitsplatzes aus. Bei all den erwähnten Kämpfen ragen einige Merkmale heraus:
- Es gibt Streikposten, welche die Aktivitäten der Fabriken blockieren und auch verhindern, dass Streikbrecher eingesetzt werden;
- Fabriken werden bewacht, so dass es im Falle einer Schließung zu einer Besetzung kommt, damit die Maschinen nicht hinausgeschafft werden (wie im Falle der „Elnagh di Trivolzio“);
- Solidarität seitens von anderen Beschäftigten und anderen Menschen , die Geld, Nahrungsmittel und ihre persönliche Unterstützung anbieten;
- Solidaritätskassen, um die Beschäftigten zu unterstützen, welche von Entlassungen oder Kürzungen betroffen sind, die sie aufgrund der zahlreichen Streiktage zu erleiden haben.
Auch wenn all dies ein großes Kampfpotential ausdrückt, so wird die Tatsache, dass diese Kämpfe nicht über die Dimension der eigenen Fabrik hinausgehen – eine Tatsache, die vor allem durch die gewerkschaftliche Logik begünstigt wird –, langfristig zu einer Falle. Es ist kein Zufall, dass in vielen Fällen die Arbeiter, die wochen- und monatelange kämpfen und vor den Toren ihrer eigenen Fabriken oder auf den Dächern aushalten, sich darüber beklagen, dass sie von anderen ArbeiterInnen kaum wahrgenommen werden. Um dies zu ändern, muss man die Kampflogik umkehren. Hinaus aus der eigenen Fabrik, indem man Delegationen zu anderen Betrieben schickt. Die Solidarität ist eine wichtige Waffe des Klassenkampfs, sie funktioniert aber nicht nur in einer Richtung. Die Solidarität bedeutet eine gegenseitige Unterstützung der verschiedenen Branchen und unter den Beschäftigen selbst. Wieso sollte ein Sieg durch Kämpfe in 100 verschiedenen Betrieben errungen werden können, wenn jeder Betrieb auf sich alleine angewiesen ist statt dass 100 Betriebe zusammen kämpfen, mit den Beschäftigten all dieser Betriebe, unabhängig vom jeweiligen Ausgangspunkt dieser Bewegungen?
Unsere Zukunft hängt stark von dieser Alternative ab. Wenn die FabrikarbeiterInnen in ihren Fabriken verharren, während dessen junge Arbeitslose und andere Perspektivlose gegen die falsche Zielscheibe, die Polizei, kämpfen, werden wir kaum vorankommen. Wenn wir dagegen zusammen einen gemeinsamen Weg finden, und zu einem Zusammenschluss und einer Ausdehnung kommen mittels Vollversammlungen, Demonstrationen, massiven Delegationen zu anderen Betrieben usw., dann wird sich eine ganz andere Perspektive eröffnen.
Ezechiele, 18. Dezember 2011 (aus unserer Presse in Italien).
Die Besetzer-Bewegung, welche die Unzufriedenheit der Leute bündelte, die über ihre Lebensbedingungen unter dem zerfallenden Kapitalismus empört sind, ist nun an einem Scheideweg angelangt.
Die Zeltlager in Parks und anderen „öffentlichen Plätzen“ in dutzenden Städten in Nordamerika sind von den bürgerlichen Repressionskräften angegriffen worden. Städtische Polizeikräfte haben unter dem Vorwand, die Zeltstädte seien zu einer Gefahr für die öffentliche Gesundheit und die Hygiene geworden, die Lager in Atlanta, Baltimore, Los Angeles, Toronto, Vancouver, Philadelphia und vielen anderen Städten geräumt. Selbst in Städten, die von angeblich der Bewegung freundlich gesonnenen Bürgermeistern regiert werden, wurden die Plätze geräumt, aus Sorge, so gaben sie an, um die Sicherheit der Protestierenden selbst, da die Lager zu einem Zentrum von Straftaten geworden seien.
- Wir veröffentlichen hier eine Einschätzung zur Occupy-Bewegung in den USA, die von unseren Genoss/Innen in den USA verfasst wurde. In anderen Artikeln auf unserer Webseite/Presse befassen wir uns mit der Entwicklung in anderen Ländern. Siehe dazu die Artikel in unserer Presse.
Die Besetzer-Bewegung, welche die Unzufriedenheit der Leute bündelte, die über ihre Lebensbedingungen unter dem zerfallenden Kapitalismus empört sind, ist nun an einem Scheideweg angelangt.
Die Zeltlager in Parks und anderen „öffentlichen Plätzen“ in dutzenden Städten in Nordamerika sind von den bürgerlichen Repressionskräften angegriffen worden. Städtische Polizeikräfte haben unter dem Vorwand, die Zeltstädte seien zu einer Gefahr für die öffentliche Gesundheit und die Hygiene geworden, die Lager in Atlanta, Baltimore, Los Angeles, Toronto, Vancouver, Philadelphia und vielen anderen Städten geräumt. Selbst in Städten, die von angeblich der Bewegung freundlich gesonnenen Bürgermeistern regiert werden, wurden die Plätze geräumt, aus Sorge, so gaben sie an, um die Sicherheit der Protestierenden selbst, da die Lager zu einem Zentrum von Straftaten geworden seien.
Ohne Zweifel fand die wichtigste Räumung in New York, im Zuccotti Park statt, auf dem Platz, auf dem die Bewegung ihren Anfang nahm. Bürgermeister Bloombergs Polizei verjagte die Protestierenden von „Occupy Wall Street” (OWS) am frühen Morgen des 15. Novembers. Dies löste einen Rechtsstreit vor den bürgerlichen Gerichten aus. Dabei argumentierten die Anwälte der Besetzer, dass die Zwangsräumung gegen das erste Verfassungsrecht zur freien Meinungsäußerung verstoße. Die Entscheidung des bürgerlichen Richters – den Park wieder als Ort von legalen Protesten zu benutzen – war ein Pyrrhussieg der Protestierenden. Gleichzeitig war ihnen untersagt worden, den Entscheid der Stadt zu unterlaufen, welches den Aufbau von Zelten und das Mitbringen von Campingausrüstung verbietet. So kann die OWS jetzt nicht mehr auf ihre früheren Mittel zurückgreifen. Da der bürgerliche Staat nicht mehr bereit ist, „umgänglich“ aufzutreten, kann die Besetzerbewegung jetzt nicht mehr etwas besetzen, das irgendwie ins Gewicht fallen würde.
Könnte dies dazu dienen, die Bewegung voranzubringen, sie gar auszudehnen? Der Möglichkeit beraubt, in den Parks legal Zelte zu errichten, könnte die Bewegung möglicherweise dazu übergehen, eine andere Kampfform zu entwickeln – bei der man weniger auf die Besetzung eines besonderen geographischen Ortes fixiert ist und mehr auf die Entwicklung von Organen der Klärung und theoretischen Vertiefung wie Diskussionsgruppen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist dies nicht vorherzusehen, aber es liegt oft im Wesen von sozialen Bewegungen, dass das Eingreifen des Staates unbeabsichtigte Folgen zeigt.
Obgleich viele in der Occupy-Bewegung entschlossen sind, ihren Kampf gegen die Geldgier der Firmen, ungleiche Einkommen, und die mutmaßliche Korruption des demokratischen Entscheidungsprozesses in den USA fortzusetzen, ist es klar geworden, dass die anfängliche Phase der Besetzerbewegung sich jetzt dem Ende zuneigt.
Während der ersten Wochen der Besetzungen konnten sich die Protestierenden im Allgemeinen auf die Unterstützung der öffentlichen Meinung berufen, wodurch die Behörden gezwungen waren, sich einigermaßen zurückhaltend zu verhalten. Dies ist nun nicht mehr der Fall. Während Umfragen weiterhin hohe Sympathiewerte für die Ziele und Beschwerden der Protestierenden aufzeigen, ist die Unterstützung für die Protestierenden selbst rückläufig. Das Gefühl, dass die Besetzer den Bogen überspannt haben, nimmt zu. Jetzt stehen die Besetzer unter Druck, nach Wegen zu suchen, um ihre Forderungen innerhalb des Systems vorzutragen.
Während man an dieser Stelle nicht voraussagen kann, in welche Richtung sich die Bewegung entwickeln wird, oder ob sie gar als eine unabhängige Sozialbewegung außerhalb der Institutionen der bürgerlichen Politik überleben kann, ist es jetzt an der Zeit, dass Revolutionäre versuchen, die Lehren für die zukünftigen Kämpfe zu ziehen. Was war positiv an dieser Bewegung? Wo ist etwas falsch gelaufen? Auf was muss man sich jetzt einstellen?
Trotz dieser unbeantworteten Fragen und der allgemeinen Unklarheit, die diese Bewegung zum Ausdruck brachte, meinen wir, dass es sich neben anderen sozialen Bewegungen um einen Ausdruck des Wunsches eines Teiles der Arbeiterklasse handelte, gegen die massiven Angriffe des kapitalistischen Systems auf unsere Lebensbedingungen zur Wehr zu setzen. Auch wenn diese Bewegung von vielen aktivistischen Zügen geprägt war, die man seit dem Ende der 1990er Jahre in der Antiglobalisierungsbewegung beobachten konnte, scheint sie nichtsdestotrotz von einer grundsätzlich anderen Dynamik getragen worden zu sein als die ihr vorausgegangenen Bewegungen. Sie mag den Keim für eine zukünftige Radikalisierung enthalten, auch wenn diese sich erst in der Zukunft entfalten kann.
Während wir also keine endgültige Aussage zum Klassenwesen dieser Bewegung zum jetzigen Zeitpunkt machen können, können wir dennoch versuchen, diese innerhalb des Rahmens einer Klassenperspektive zu begreifen und einige Hauptlehren für die Zukunft zu ziehen.
Die Besetzer-Bewegung in Nordamerika wurde zu einem wichtigen Glied in der Kette von Protesten und Sozialbewegungen, die sich im Jahre 2011 auf allen Kontinenten entfalteten. Diese Bewegungen haben meist gegen die Auswirkungen der kapitalistischen Krise auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse und die Gesellschaft im Allgemeinen reagiert. Von den Revolten in der arabischen Welt im Frühjahr bis zum Ausbruch massiver Kämpfe in China, Bangladesh, Frankreich, Spanien und Israel, war die Occupy-Bewegung eindeutig inspiriert gewesen durch die Ereignisse, die fernab von den Küsten Amerikas stattfanden. Seit den 1960er/1970er Jahren hatte es solch eine massive Welle von Bewegungen auf der ganzen Welt nicht mehr gegeben, die alle auf die gleiche grundlegende Stachel reagierten, den Angriff auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen infolge der globalen Rezession und die massiven Sparprogramme gegen den Soziallohn infolge der Schuldenkrise und der finanziellen Kernschmelze 2008.
All diese Bewegungen wurden von dem Wunsch einer ständig wachsenden Zahl von Leuten geprägt, sich irgendwie gegen die wachsenden Angriffe auf unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen zu wehren, auch wenn wenig Klarheit darüber herrschte, welche Schritte eigentlich unternommen werden müssten. Die Besetzer-Bewegung ist ein wichtiger Ausdruck dieses internationalen Trends in der „Höhle des Löwen“ selbst. Wie die massive Bewegung in Wisconsin Anfang des Jahres, hat die Occupy-Bewegung die sich beharrlich haltende Idee über Bord geworfen, dass die nordamerikanische Arbeiterklasse eine völlig in den Kapitalismus integrierte Klasse sei, oder unfähig und unwillig, sich den Angriffen zu widersetzen. Aber während die Ereignisse in Wisconsin innerhalb eines Bundesstaates stattfanden, hat die Occupy-Bewegung auf Hunderte Städte im ganzen Land übergriffen und sogar ein weltweites Echo gehabt. Da die Wisconsin-Proteste sehr schnell wieder von den Gewerkschaften und der Demokratischen Partei vereinnahmt werden konnten, hat die Occupy-Bewegung sich eifrig bemüht, ihre Selbständigkeit zu verteidigen, weil sie meinte, dass ein sinnvoller Austausch nur von einer „neuen Art“ Bewegung ausgehen könne. Sie hat ein sehr gesundes Misstrauen gegenüber den offiziellen Parteien und Programmen gezeigt, und damit ein wachsendes Gespür zum Ausdruck gebracht, dass die offiziellen Parteien nur dazu dienen, ihren Kampf abzuwürgen und zu vereinnahmen.
Wie die Bewegung in anderen Teilen der Welt waren die Besetzerproteste dadurch geprägt, dass bei ihnen eine neue Generation von Arbeitern mitwirkte, von denen viele wenig Erfahrung mit Politik hatten und sich keine großen Gedanken gemacht hatten, wie man einen Kampf organisieren müsste. Das einigende Band der TeilnehmerInnen war eine fast vorausschauende Ahnung und der Wunsch, mit anderen zusammen zu kommen und das Gefühl aktiver Solidarität und Gemeinschaft zu erfahren. Es geht ihnen darum, eine Alternative gegenüber der bestehenden Gesellschaft anhand der lebendigen Erfahrung ihres Kampfes anzubieten. Zweifelsohne werden diese Wünsche gestärkt durch das wachsende Gefühl einer gesellschaftlichen Entfremdung gegenüber einer verfaulenden kapitalistischen Gesellschaft. Gleichzeitig haben immer mehr Jugendliche Schwierigkeiten Zugang zum Arbeitsmarkt zu finden; dies fördert deren Reaktionsbereitschaft.
Die mangelnde Erfahrung mit gesellschaftlicher Arbeit und dem daraus entstehenden Gefühl der Isolierung, Atomisierung und Verzweiflung treibt mehr und mehr ArbeiterInnen dazu – insbesondere die jüngere Generation und diejenigen, die aus dem Produktionsprozess herausgeworfen wurden – Solidarität durch den Kampf zu suchen. An den Kämpfen beteiligen sich ebenso Leute aus anderen gesellschaftlichen Schichten. Immer mehr Leute sind zutiefst frustriert und besorgt über die Richtung, in welche sich diese Gesellschaft entwickelt. Aber in Nordamerika werden diese Proteste von der jüngeren ArbeiterInnengeneration und den von der Langzeitarbeitslosigkeit am stärksten Betroffenen am meisten geprägt.
Natürlich bedeutet dies nicht, dass die Occupy-Bewegung selbst – insbesondere die Taktik der Besetzung bestimmter geographischer Orte (Plätze, Parks usw.) – die Form des Kampfes darstellt, welche der Klassenkampf in der Zukunft annehmen wird. Im Gegenteil, diese Bewegung wie all die anderen, mit ihr verbundenen Bewegungen auf der Welt leiden an einer grundsätzlichen Schwäche, welche die Arbeiterklasse überwinden muss, wenn sie ihren Kampf vorwärtstreiben will. Man kann zusammenfassend sagen, dass die Occupy-Bewegung ein bedeutender Versuch von Teilen des Proletariats war, auf die aggressiven Angriffe des Kapitalismus gegen die Lebensbedingungen zu reagieren, auch wenn sie kein direktes Modell für die zukünftigen Kämpfe sein kann.
Die Bedeutung von Vollversammlungen
Eines der wichtigsten Merkmale der Occupy-Bewegung waren die Vollversammlungen als die souveränen Organe des Kampfes. Die Wiederentdeckung der Vollversammlungen als die beste Kampfform zur größtmöglichen Beteiligung und dem breitesten Austausch von Ideen stellte einen gewaltigen Fortschritt für den Klassenkampf in der jetzigen Zeit dar. In der Occuyp-Bewegung scheinen die Vollversammlungen aus früheren Kämpfen übernommen worden zu sein, insbesondere von der Bewegung der „Empörten“ in Spanien. Damit wird die Tendenz sichtbar, dass man in der jetzigen Phase von Kämpfen aus anderen Teilen der Welt schnell lernt und die effektivsten Taktiken und Kampfformen übernimmt. Es war in der Tat sehr beeindruckend zu sehen, wie schnell sich die Vollversammlungen dieses Jahr auf der ganzen Welt ausgedehnt haben.
Wie bei den Vollversammlungen in anderen Ländern standen die Vollversammlungen in der Occupy-Bewegung jedermann offen. Alle wurden ermuntert, sich an der Festlegung der Ausrichtung der Bewegung und deren Zielen zu beteiligen. Die Vollversammlungen stützen sich auf das Prinzip der Offenheit. Die Protokolle wurden zur Verfügung gestellt. Der Wunsch wurde lautstark geäußert, dass die Vollversammlungen nicht von irgendeiner Partei, Gruppe oder Organisation, die diese vereinnahmen wollen könnten, übernommen werden. Die Vollversammlungen spiegelten somit eine sich entfaltende Erkenntnis wider, dass man sich auf die bestehenden Parteien und Institutionen für die Organisierung des Kampfes nicht verlassen könne - auch nicht auf die Parteien der Linken und die Gewerkschaften. Im Gegenteil, die Protestierenden selbst wollten sich ihre Souveränität nicht rauben lassen; sie alleine wollten bestimmen, welche Schritte zu ergreifen seien.
Nichtsdestoweniger waren die Vollversammlungen trotz dieser sehr positiven Schritte von einer großen Schwäche geprägt, die in dem Ausmaß in den Bewegungen der anderen Länder nicht aufgetreten ist. Von Anfang an sah sich die Occupy-Bewegung als eine Besetzung eines Teils eines geographischen Raums. Während OWS anfangs geplant haben mag, das Banken- und Finanzviertel New Yorks zu besetzen oder einen symbolischen Ort des Protestes an der Wall Street zu errichten, sobald es klar wurde, dass der Staat dies nicht tolerieren würde, besetzten die Protestierenden in Ermangelung einer anderen Alternative den nahegelegenen Zuccotti Park.[1] Am „Fuße des Berges“, aber nicht auf dem „Berg“ selbst wurde auch für die Bewegungen in anderen Städten ein Modell errichtet, das in den meisten Fällen die Form von Zeltstädten in einem städtischen Park annahm. In der Geschichte der USA gibt es dafür einige frühere Beispiele (z.B. die Besetzung von brachliegendem Land in Washington D.C. durch die Bonus Army (die den Bonus-Marsch veranstalteten), um gegen die Lebensbedingungen der Veteranen des Ersten Weltkriegs während der Großen Depression 1932 zu protestieren). Die Entscheidung, sich als eine Bewegung zu bezeichnen, die einen besonderen geographischen Ort besetzt hielt, stellte eine große Schwäche dar, die zur Isolierung der Occupy-Bewegung beitrug.
Ziemlich schnell, insbesondere in New York, wurde die Occupy-Bewegung von dem Gefühl beherrscht, dass man den Park verteidigen müsse, der zu einer Art Heimat für die Bewegung und zu einer Art “Gemeinschaft” für viele Protestierende geworden war. Ohne Zweifel trug das positive Solidaritätsgefühl, das viele Protestierende als Teilnehmer an einer Bewegung zur gesellschaftlichen Umwälzung spürten, zu einer Tendenz bei, welche die Grenzen der Bewegung als die Grenzen des Parks ansahen und den Park gegen die Angriffe des Staates oder eine ‚Ablenkung von der Politik’ verteidigen wollten.
Dies trug jedoch zum Aufkommen von Spannungen in der Occupy-Bewegung bei, wobei die einen für eine breite gesellschaftliche Umwälzung eintraten, die anderen das Ganze eher als ein Experiment gemeinschaftlichen Lebens ansahen. Von der anfänglich aus taktischen Gründen als vorübergehend angelegt gedachten Zeltstadt wurde der Zuccotti Park mehr und mehr von den Besetzern als eine neue Art „Heimat“ oder „Refugium“ innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft angesehen. Gerüchte über eine bevorstehende polizeiliche Repression verstärkten nur noch den Wunsch nach der „Verteidigung des Parks“. Während die BesetzerInnen sich gelegentlich außerhalb des Parks begaben, um gegen Banken oder in bürgerlichen Stadtvierteln zu protestieren, konnte man erkennen, dass je länger die Bewegung fortdauerte, desto mehr die Tendenz überwog zu versuchen, den Grundstein einer alternativen Lebensform im Park zu errichten. Kein wirklich ernsthafter Versuch wurde unternommen, um den Kampf über die Grenzen des Parks hinaus in größere Kreise der Arbeiterklasse zu tragen.
Dagegen gab es solch einen Fetisch der Besetzung eines bestimmten geographischen Raumes bei den Bewegungen in Spanien, Israel und den arabischen Ländern nicht. Im Gegenteil, die öffentlichen Plätze wurden eher als ein Treffpunkt gesehen, auf dem die Protestierenden zu bestimmten Zwecken zusammenkommen, um zu diskutieren, Versammlungen abzuhalten und taktische Entscheidungen zu treffen. Der Wunsch, öffentlichen Raum mit einem ständigen Zeltlager zu verteidigen, war ein besonderes Merkmal der Bewegung in Nordamerika, das weiter untersucht werden muss.
Aber vielleicht noch schädlicher als der Fetisch für Besetzungen war die Unfähigkeit der Vollversammlungen, ihre Rolle der Zusammenführung, der Vereinigung der Protestierenden zu erfüllen, da sie im Laufe des Kampfes von einem Organ, das Entscheidungen traf, mehr und mehr in ein passives Organ verwandelt wurden, das immer mehr von Aktivisten und professionellen Linken beherrscht wurde, bei dem die Arbeitsgruppen und Komitees immer mehr die Zügel in der Hand hielten. Anstatt das Forum für breitestmögliche Debatten zu sein, führte die ständig spürbare Angst vor konkreten Forderungen – weil diese als spaltend und polarisierend anstatt vereinigend angesehen wurden – dazu, dass die Vollversammlungen letztendlich hilflos erschienen gegenüber der Notwendigkeit, konkrete Entscheidungen zu einem gegebenen Zeitpunkt zu treffen.
Ein Merkmal der Occupy-Bewegung, das bei den meisten Protestbewegungen der letzten Zeit herausragte, war die Neigung zu großen Illusionen in die „Demokratie“ als eine Alternative gegenüber dem gegenwärtigen System. Das Gefühl, dass irgendeine wahre Demokratie als ein wirksames Korrektiv oder gar als Gegenpol gegen die schlimmsten Unterdrückungsformen und das Leiden der Bevölkerung handeln könne, ist in Ländern des arabischen Raums, in Israel, Spanien und anderswo immer wieder geäußert worden.
In der Occupy-Bewegung traten diese Auffassungen mit einem typisch amerikanischen Flair in Erscheinung. Meistens äußerste sich dies in der Annahme, dass alle Probleme der Welt auf die Beherrschung des politischen und ökonomischen Lebens durch eine parasitäre Clique von Finanzmagnaten, Bankern und Multis zurückzuführen seien, die ihre eigenen unmittelbaren finanziellen Interessen über die der Gesellschaft insgesamt stellten. In den USA heißt es, dass dieses Phänomen den ganzen demokratischen Prozess in den USA durchdrungen habe, so dass die großen Firmen letztendlich dazu in der Lage seien, ihre Politik dem Kongress und dem Präsidenten aufzuzwingen, indem sie die Mittel zur Finanzierung von Kampagnen kontrollierten.
Die Occupy-Bewegung neigt dazu, die Lösung für die Überwindung der Unterdrückung und des Leidens in der Wiederbelebung der Demokratie gegen Raffgier der Firmen und der Finanzspekulation zu sehen. Während die genaue Definition der „Demokratie“ von einem Protestierenden zum anderen wechseln kann, mögen sich die einen damit zufrieden geben, eine Änderung der Verfassung zu verlangen, (z.B. Verbot der Finanzierung von Kampagnen) während andere radikalere Vorschläge des Regierens machen. Aber der gemeinsame Nenner ist, dass „Demokratie“ sich gegen wirtschaftliche Unterdrückung und Ausbeutung richten würde.
Während viele Protestierende mittlerweile bereit sind anzuerkennen, dass der “Kapitalismus” entweder ein Teil oder die Wurzel der Probleme der Weltwirtschaft ist, gibt es keine Übereinstimmung darüber, was der „Kapitalismus“ eigentlich bedeutet. Aus der Sicht vieler bedeutet Kapitalismus lediglich Banken und Big Business. Die marxistische Auffassung, dass Kapitalismus eine Produktionsform ist, die mit einer ganzen Epoche der Menschheitsgeschichte verbunden ist, welche durch die Ausbeutung von Lohnarbeit geprägt wird, wird nur von einigen Minderheiten dieser Bewegung angesprochen. Während viele Protestierende anerkennen, dass Marx Wichtiges über die Probleme des Kapitalismus zu sagen hatte, herrscht wenig Klarheit über die Bedeutung des Marxismus und der Arbeiterbewegung hinsichtlich des Projektes des Aufbaus einer neuen Gesellschaft. Diese Zögerungen sind auch in anderen Bewegungen auf der Welt in Erscheinung getreten; sie sind eine Hürde, die die zukünftigen Bewegungen überwinden müssen.
Wenn diese Illusionen in die Demokratie nur auf der ideologischen Ebene blieben, so könnten wir sie ohne weiteres auf das Konto der Unreife der Bewegung buchen, als ein Ausdruck der Anfangsphase im Klassenkampf, welche die Arbeiterklasse im Lichte der Erfahrungen überwinden würde. Dies mag sich letztlich auch wirklich durchsetzen, aber gegenwärtig hat sich die Sicht der Occupy-Bewegung über das Wesen der Demokratie in einen Fetisch verwandelt, der sich als grundlegendes Hindernis auf dem weiteren Weg erweisen wird. Darüber hinaus stellt er die Grundlage genau dessen dar, was die Bewegung zu Beginn zu verhindern wusste: die Einbindung in die pro-demokratische, reformistische Ideologie im Rahmen der anstehenden Kampagne um die Präsidentschaftswahlen 2012.
Seit Beginn haben die VVs versucht, auf der Grundlage eines „Konsens“-Modells zu funktionieren, und haben dabei den Auftrag ernst genommen, im Verlauf des Kampfes eine neue Form der Demokratie zu schaffen. Das war in vielerlei Hinsicht eine gesunde Antwort in der Absicht, die breitest mögliche Teilnahme zu garantieren und zu gewährleisten, dass sich niemand von den Beschlüssen der VVs ausgeschlossen fühlt. Dieses Modell wurde natürlich angewandt als Antwort auf die schlechten Erfahrungen in vergangenen Bewegungen, die von professionellen Aktivisten und politischen Organisationen beherrscht wurden und in denen sich der durchschnittliche Teilnehmer nicht viel besser als ein Infanterist in einer Bewegung vorkam, die von Profis geleitet wurde.
In diesem Sinn ist der Wunsch, dass sich jeder und jede integriert fühlen, absolut verständlich. Doch in Tat und Wahrheit hinderte das Beharren auf der Funktionsweise des Konsenses die Bewegung daran, über ihre Grenzen hinauszugehen, indem die notwendige Konfrontation von Ideen und Perspektiven blockiert wurde, die es eigentlich der Bewegung erlaubt hätten, ihre Isolation im Park zu durchbrechen. Weil man sich so der Möglichkeit beraubte, wirklich Entscheide zu treffen, mit denen man auf die unmittelbaren Bedürfnisses der Bewegung reagiert hätte – indem man sich nicht die Mühe nahm, ein ausführendes Organ zu schaffen –, gerieten die VVs sehr schnell unter den Einfluss der verschiedenen Arbeitsgruppen und Komitees, von denen viele wiederum unter der Fuchtel genau derjenigen professionellen Aktivisten standen, vor denen man sich ursprünglich hüten wollte. Eigentlich führte das Beharren darauf, dass jeder Entscheid auf einem Konsens beruhte, dazu, dass keine wirklichen Beschlüsse gefällt werden konnten und die verschiedenen „Teile“ (Arbeitsgruppen, Komitees, etc.) damit begannen, sich selbst für das „Ganze“ (die VV) auszugeben und es zu substituieren. So ließ die Angst vor dem Ausschluss den Substitutionismus durch die Hintertür wieder hereinschleichen - was letztlich zu einer starken Aufweichung der Souveränität der VVs führte.
Das Apriori des Konsensmodells hatte auch Auswirkungen auf die sehr schwierige Frage des Aufstellens von konkreten Forderungen. Von Anfang an schien die Occupy-Bewegung stolz darauf zu sein, dass sie sich weigerte, präzise Forderungen oder ein Programm zu formulieren. Dies ist eine verständliche Sorge derjenigen, die verhindern wollen, einmal mehr in die alten reformistischen Aktivitäten hineingezogen zu werden, die der Staat bereit hält; doch das Schicksal der Occupy-Bewegung zeigt, dass der Reformismus nicht deshalb Halt macht, weil man sich weigert, Forderungen aufzustellen. Die Bewegung war gekennzeichnet durch eine extreme Heterogenität von Forderungen. Die radikalsten Sichtweisen über einen vollständigen Neuaufbau der Gesellschaft auf egalitärer Grundlage standen neben absolut reformistischen Forderungen im Rahmen des bürgerlichen Rechtsstaats wie z.B. der Vorschlag, die Verfassung mit der Einfügung des Konzepts einer „kollektiven Persönlichkeit“ zu ergänzen. Im Namen des Grundsatzes, niemanden auszuschließen, war die Occupy-Bewegung außerstande, voranzukommen und ihr letztes Ziel der gesellschaftlichen Umgestaltung anzupacken.
Mit der ganzen Überfülle an oft widersprüchlichen Forderungen, die im Umlauf waren, und mit der bewussten Weigerung, mit spezifischen Forderungen den eigenen Charakter zu bestimmen, erlaubte es die Bewegung, dass andere auftraten und für sie sprachen. Es überrascht nicht, dass die Occupy-Bewegung schnell viele Adoptiveltern hatte in der Gestalt von bourgeoisen Berühmtheiten, linken Politikern und Gewerkschaftsführern, die keine Gelegenheit versäumten, aufzutreten und sich als die Stimme der Bewegung auszugeben. Durch die Weigerung, spezifische Forderungen aufzustellen, stellte die Bewegung sicher, dass sie in den Medien – und somit gegenüber dem Rest der Arbeiterklasse – nur mit denjenigen Forderungen dargestellt wurde, die zur unmittelbaren Tagesordnung dieser oder jener Fraktion des politischen Apparats der herrschenden Klasse passte.
Die Ablehnung, die Frage der Forderungen zu behandeln, die Vermeidung des Traumas des „Ausschlusses“ dienten dazu, zu verhindern, dass sich die Bewegung überlegte, wie man weiter kommen könnte. Unfähig, einen wirklichen Klärungsprozess zu führen, konnte die Occupy-Bewegung nicht bestimmen, welcher gesellschaftlichen Kraft sie sich zuwenden sollte. Sie war deshalb dazu verdammt, sich dem eigenen Bauchnabel zuzuwenden im letztlich fruchtlosen Versuch, die „Konsens-Communities“ zu verteidigen, die sie in den Pärken aufgebaut zu haben glaubte.
Es ist klar, dass die Hauptsorge der Occupy-Bewegung um die Konsens-Funktionsweise eine Antwort auf das von früheren Bewegungen erlittene Trauma war und in gewisser Hinsicht einem gesunden Instinkt entsprach, die linksextremen, bürgerlichen Methoden zu überwinden. Doch abgesehen davon bedeutete das Beharren auf dem Konsens das tiefliegende Eindringen der demokratischen Ideologie in die Funktionsweise der VVs selber. So ist die Occupy-Bewegung – ja sind in der Tat die meisten der sozialen Bewegungen der letzten Zeit – gekennzeichnet durch mehr als bloß ideologische Illusionen in den bürgerlichen demokratischen Staat; vielmehr hat das Beharren auf der demokratischen Funktionsweise die Einheitsformen des Kampfes, die als Antwort auf die Angriffe des Kapitalismus entstanden sind, völlig entstellt.
Die Traumata der Vergangenheit – von denen der Stalinismus und die linksextreme Ideologie und Praxis die wichtigsten sind – haben zu einem Fetisch geführt beim Versuch, eine neue Art von demokratischer Konsens-Funktionsweise aufzubauen, die Ausschluss, Konfrontationen und verletzte Gefühle verhindern könne. Dies ist zwar zunächst verständlich, doch letztlich wird dieser Fetisch zu einer Barriere auf dem Weg zu einer wirklichen Alternative zum gegenwärtigen System. Schließlich erwies sich das Konsensmodell als völlig illusorisch im Zusammenhang mit der Unfähigkeit der VVs, den hegemonialen Ansprüchen der Komitees und Arbeitsgruppen etwas entgegen zu stellen und damit der Aufgabe der Stunde gerecht zu werden.
Eine der wichtigsten Lehren aus der Occupy-Bewegung ist deshalb, dass zukünftige Bewegungen die Frage beantworten müssen, wie man ein zuständiges Exekutivorgan aufbauen kann, das gegenüber der VV verantwortlich bleibt: ein wirkliches beschließendes Organ, das in unmittelbar widerrufbarem Auftrag der VVs arbeitet. Ein solches Organ ist nötig, wenn die Bewegung in der Hitze des Kampfes Entscheide fällen und die Solidarität, Vertrauen und Einheit von allen Teilnehmenden verstärken soll. Wie diese Bewegung zeigt, kann der Aufbau eines wirklichen Exekutivorgans nicht umgangen werden, wenn die Bewegung über einen sehr embryonalen Zustand hinaus vorankommen will. Wie können taktische Entscheide in der Hitze des Kampfes gefällt werden? Wie kann die VV ihre Souveränität gegenüber irgendwelchen Komitees und Organen aufrecht erhalten? Dies sind die zentralen Fragen, die behandelt werden müssen.
Es trifft natürlich zu, dass ein solches ausführendes Organ nicht einfach aus dem Nichts proklamiert werden kann. Ein Exekutivorgan, das auf der Grundlage der weitesten Diskussion und dem breitesten Austausch an Ideen unter allen TeilnehmerInnen bleibt, wäre im besten Fall eine totale Farce, im schlimmsten ein weiteres Einfallstor für den Substitutionismus. Ein ausführendes Organ kann nur funktionieren als Konkretisierung der Lebendigkeit der VVs – es kann und darf nicht diese ersetzen. So mag zwar das Scheitern angesichts der Frage einer ausführenden Funktion ein entscheidender Faktor beim schließlichen Niedergang der Occupy-Bewegung gespielt haben, was aber nicht heißt, das die voluntaristische Ausrufung eines Exekutivorgans durch die aktivsten Leute im Kampf sie gerettet hätte.
Insbesondere fehlte aber dieser Bewegung der wirkliche Drang, über die eigentlichen Wurzeln der Krise zu diskutieren. Statt zu versuchen, sich der unvermeidbaren Diskussion über das Wesen der gesellschaftlichen Probleme zu widmen, konzentrierte sich die Occupy-Bewegung auf den Fetisch der Entscheidfindungsmethode. Sie blieb auf halbem Weg stecken und schnitt nie die grundlegenden substantiellen Fragen an: Sind die Banken schuld an der gesellschaftlichen Sackgasse, oder sind deren Schwindler ein bloßes Symptom für das Scheitern des wirtschaftlichen Systems selbst? Können wir eine sinnvolle Veränderung herbeiführen, indem wir den Staat dazu auffordern, im Interesse der Gesellschaft zu handeln, oder müssen wir über die Wege nachdenken, den Staat zu überwinden? Man fand zwar Anhänger für die eine und die andere Antwort auf diese Fragen (und noch auf einige mehr!), aber die Bewegung nahm sich nie die Mühe darüber zu entscheiden, welche Position die „richtige“ ist. Unter dem Deckmantel, dass „hier alle Positionen willkommen“ seien, ging die Occupy-Bewegung nie über den naiven Glauben in die eigene Fähigkeit hinaus, den Weg durch das Beispiel einer neuen Konsens-Lebensweise aufzuzeigen.
Ein Aspekt der Occupy-Bewegung, der bei ihrem schließlichen Scheitern eine wichtige Rolle spielte, war ihre Unfähigkeit, den Kampf tatsächlich über die verschiedenen Zeltstätten hinaus auszuweiten. Viele Faktoren trugen zur zunehmenden Isolierung der Bewegung bei: die Tendenz der BesetzerInnen, ihre Camps als eine Community zu betrachten; die Tendenz bei den verschiedenen Parks, als Hochburgen eines befreiten Raumes, den es zu verteidigen gälte, angesehen zu werden; etc. Doch der wichtigste Faktor war die Unfähigkeit der Bewegung, sich wirklich mit dem breiteren Kampf der Arbeiterklasse zu verbinden, um die Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verteidigen angesichts der hemmungslosen Angriffe des Kapitals.
Abgesehen vom kontrovers diskutierten Generalstreik in Oakland, der die Aktivitäten des städtischen Hafens für einen Tag stilllegte, war die Occupy-Bewegung nicht in der Lage, eine breitere Antwort der Arbeiterklasse gegen die kapitalistischen Angriffe hervorzurufen.[2]
Im Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels ist die Arbeiterklasse zum überwiegenden Teil orientierungslos angesichts der massiven Schlacht, die der Kapitalismus gegen ihre Lebensbedingungen führt, und ist bis jetzt unfähig gewesen, einen massenhaften Kampf zu ihrer Verteidigung aufzunehmen. Abgesehen von ein paar verstreuten, gewerkschaftlich kontrollierten Streiks steht der Großteil der Arbeiterklasse gegenwärtig abseits des Kampfes.
Auf der einen Seite darf uns dies nicht überraschen. Die aktuelle Krise und die gleichzeitige Steigerung der Angriffe gegen die Arbeiterklasse finden statt nach über 30 Jahren mit offenen Angriffen auf die Arbeitsbedingungen und auf die eigentliche Grundlage der Klassensolidarität selbst. Darüber hinaus sind die gegenwärtigen Angriffe von besonders brutaler Gewalt sowohl am Arbeitsplatz als auch beim sozialen Einkommen. Weiter ist auch die anhaltende politische Krise der US-Bourgeoisie in eine Analyse der scheinbaren Passivität der Arbeiterklasse einzubeziehen. Die aggressiven Attacken des rebellischen rechten Flügels auf den Gewerkschaftsapparat wie auch die zunehmend bizarre Rhetorik der Tea Party haben bestimmt eine verwirrende Wirkung auf das Bewusstsein der Arbeiterklasse gehabt. Unter diesen Bedingungen verharren viele Arbeiter auf der Ebene des Versuchs, das zu schützen, was sie immer noch durch die bestehenden Institutionen der Gewerkschaften und der Demokratischen Partei haben. Andere sind so orientierungslos geworden, dass sie jeweils mit dem sympathisieren, der gerade am wütendsten tönt - selbst wenn er/sie zur Tea Party gehören sollte.
Doch trotz der Schwierigkeiten und Schranken, auf welche die Arbeiterklasse bei der Rückeroberung ihrer Klassenidentität und des proletarischen Kampfterrains stößt, war sie im Allgemeinen nicht völlig ruhig. Die Beispiele der Mobilisierungen in Wisconsin in der ersten Hälfte des Jahres sind Beleg dafür, dass wir in eine neue Phase eingetreten sind – beginnend mit dem Streik im New Yorker Nahverkehr 2005/2006 –, in der die Tendenz zu einer Zunahme der Klassenkämpfe besteht – hin zu einer Wiederentdeckung von Solidarität und einem Willen, der Lähmung angesichts der kapitalistischen Angriffe zu widerstehen. So lasten zwar das Trauma der Eskalation der Angriffe nach dem Schock der so genannten Finanzkrise von 2008 und das gegenwärtige politische Chaos der herrschenden Klassen in den USA schwer auf der Arbeiterklasse und dämpfen ihre Kampfbereitschaft, aber eine Erinnerung an jene Kämpfe ist unterirdisch immer noch am brodeln.
Auch wenn öffentliche Meinungsumfragen überzeugend auf eine große Sympathie der breiten Bevölkerung für die Occupy-Bewegung hinwiesen, drückte sich dies nicht in einer wirklichen Massenaktion aus. Natürlich gab es Momente, in denen sich diese Perspektive eröffnete. Dies war insbesondere um das Thema der Polizeirepression der Fall. In New York, Oakland und anderswo zwang eine massenhafte Empörung in der öffentlichen Meinung den Staat jedes Mal, wenn er mit der Repression gegen die Protestierenden zu weit zu gehen schien, zum Rückzug. Aber während in New York die Gewerkschaften zwar mehrmals gezwungen waren, die Arbeiter dazu aufzurufen, Sympathie mit den Protestierenden angesichts der bevorstehenden Repression zu bekunden, rief die polizeiliche Unterdrückung nur in Oakland eine breitere Antwort der Arbeiterklasse hervor.
Es kann deshalb nicht erstaunen, dass der Occupy-Protest wenig gegen die Angriffe auf die Arbeiterklasse ausrichten konnte, die andauern und noch vor uns stehen. Die Konkursanmeldung von American Airlines, die anhaltenden Aussperrungen bei American Crystal Sugar und Cooper Tire und die massiven Sparpläne bei U.S. Post Office sind nur einige Beispiele, die zeigen, dass die Bourgeoisie durch die Occupy-Bewegung nicht dahingehend eingeschüchtert worden wäre, dass sie die Angriffe auf die Arbeiterklasse vermindern würde. Die Taktik, Parks am Rand von Finanzbezirken zu besetzen, hat sich klar als ungeeignet erwiesen, die kapitalistischen Angriffe zurück zu schlagen. Wäre es nicht wirksamer gewesen, statt in der Nähe von Wall Street, Bay Street und anderen Finanzzentren zu zelten, sich den Arbeiterbezirken zuzuwenden und den Arbeitern – die immer noch zu orientierungslos zum Kämpfen sind – zu zeigen, dass sie nicht allein sind?
Wir können es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber eine ernsthafte Diskussion über die einzuschlagende Taktik ist nötig geworden für all diejenigen, die gegen die laufende Verschlechterung der menschlichen Lebensbedingungen unter kapitalistischer Herrschaft zu kämpfen versuchen. Leider haben der Konsens-Fetisch der Occupy-Bewegung, ihre schon fast kategorische Weigerung, taktische Fragen zu diskutieren, ihre Bevorzugung von Pluralismus gegenüber konkreter Aktion sie bis jetzt daran gehindert, diese Fragen wirklich anzupacken. Vor allem hat sie es gegenüber der staatlichen Repression nicht geschafft, über die Fragen nachzudenken: „An wen wenden wir uns für Unterstützung?“ und „Wohin gehen wir, wenn wir nicht mehr länger im Park leben können?“ Außerstande, diese Fragen vertieft anzugehen, befasst sich die Occupy-Bewegung jetzt mit sich selbst und blickt einer ungewissen Zukunft entgegen.
Auch wenn die Occupy-Bewegung einen wichtigen ersten Schritt eines Teils der Arbeiterklasse, der stark von der kapitalistischen Krise betroffen ist, darstellt, so ist aus unserer Sicht klar, dass man nur weiter kommt, wenn man die Ziele des Kampfs und die Methode, sie zu erreichen, grundlegend diskutiert. Vor allem ist es notwendig, die Bindung an die Konsens-Funktionsweise neu zu prüfen, die unseres Erachtens aus den traumatischen Wunden, die von früheren Bewegungen zurück geblieben sind, herrührt. Wie kann eine soziale Bewegung so voran kommen, dass sie den Fallen der Vergangenheit ausweicht, aber auch so, dass sie in einem wirklichen und wirksamen Sinn in der Hitze des Gefechts funktioniert? Wie kann eine soziale Bewegung, die sich der Idee verschreibt, dass eine andere Welt möglich ist, ihrem Ziel treu bleiben und gleichzeitig die nötige taktische Stärke haben, dem bürgerlichen Staat entgegenzutreten? Dies sind wichtige Fragen, welche die Revolutionäre und all die, die sich für eine andere Welt engagieren, in der kommenden Zeit anpacken müssen.
Internationalism
05.12.2011
[1] Ähnlich spielten sich die Ereignisse in Toronto ab, wo die Protestierenden zunächst planten, sich im Herzen der City, im Bay Street District, zu treffen, und dann unverrichteter Dinge in einen kleinen Park am äußeren Rand von Downtown zogen. Das lokale Polizeipräsidium – das immer noch in der Kritik der öffentlichen Meinung nach der brutalen Niederschlagung der Proteste gegen den G20 vom letzten Jahr steht – war noch so gerne bereit, den BesetzerInnen die Übernahme des Parks zu bewilligen.
[2] Vgl. unseren Artikel: Oakland: Occupy Movement Seeks Links With the Working Class, https://en.internationalism.org/icconline/201111/4578/oakland-occupy-movement-seeks-links-working-class [8]
Am 11. März überflutete ein gewaltiger Tsunami die japanische Ostküste. Haushohe Wellen richteten ungeheure Verwüstungen an. Mehr als 20.000 Menschen wurden sofort in den Tod gerissen, Tausende gelten heute noch als vermisst, Unzählige verloren ihr Heim. Nun verhält es sich aber so, dass sich weltweit ein Großteil der Menschen an Küsten bzw. in Küstennähe angesiedelt hat; meist leben die Menschen dicht gedrängt in diesen Regionen und sind in wachsendem Maß vom unaufhaltsamen Anstieg des Meeresspiegels bedroht. Die Flutwellen des Tsunami legten all die Gefahren, die aus solch einer dichten Besiedlung entlang der Küsten entstehen, bloß.
Entgegen allen Erwartungen der japanischen Regierung kam es im Kernkraftwerk Fukushima zum Super-Gau. So trat durch das Erdbeben und den Tsunami auf einen Schlag das Gefahrenpotenzial der Küstenbesiedlung in Zeiten steigender Meeresspiegel und angesichts des Umgangs der Herrschenden mit der Kernkraft an den Tag. In diesem Artikel wollen wir uns aus Platzgründen auf die Auswirkungen der Kernschmelze von Fukushima konzentrieren, nicht weil man die anderen zerstörerischen Folgen des Tsunamis vernachlässigen könnte.
Nach dem Super-Gau in dem Kernkraftwerk begann die Evakuierung der Bevölkerung viel zu spät und in einem nicht ausreichenden Umfang. Auch wenn man einwenden mag, die Rettungsmaßnahmen und die Evakuierung seien durch die Folgen des Tsunamis verzögert und erschwert worden, so lässt sich nicht leugnen, dass die Regierung eine großräumige Evakuierung vermeiden wollte, weil man sich des ganzen Ausmaßes der entstandenen Gefahren nicht bewusst werden und sie herunterspielen wollte. Schlagartig stellte sich heraus, dass die Verantwortlichen in Japan (die Betreibergesellschaft Tepco und der Staat) mit solch einem Szenario nicht gerechnet hatten und die Sicherheitsvorkehrungen gegen Erdbeben und Tsunamis solchen Ausmaßes völlig unzureichend gewesen waren. Die geplanten Rettungsmaßnahmen und die zur Verfügung gestellten Rettungsmittel ließen das High-Tech-Land Japan als erbärmlich ausgerüsteten, hilflosen Riesen erscheinen.
Wenige Tage nach der Katastrophe, als die Frage einer eventuell nötigen Evakuierung des Großraums Tokio mit seinen 35 Millionen Einwohnern aufkam, wurde diese Überlegung von der Regierung sofort fallengelassen, weil man schlicht die Mittel dazu nicht besaß und dies auch die Gefahr eines Kollapses des Staates heraufbeschworen hätte.
In und um das Kraftwerk herum erreichten die Strahlenmessungen tödlich hohe Werte. Kurz nach Beginn der Katastrophe forderte Premierminister Kan auf, „ein ‚Selbstmordkommando‘ von Arbeitern zu bilden, die die manuelle Druckentlastung vornehmen sollten.“ (Wikipedia) Man ließ die vor Ort tätigen Arbeiter völlig unzureichend ausgerüstet die Katastrophe bekämpfen. „Es mangelte zeitweise an Dosimetern HYPERLINK "file:///F:\lavorareriflettere\Nuklearkatastrophe%20von%20Fukushima%20%20Wikipedia.htm" \l "cite_note-nhk-31-31-381#cite_note-nhk-31-31-381"und an geeigneten und zugelassenen Sicherheitsstiefeln. Ein Mitarbeiter berichtete, dass sich die Arbeiter stattdessen Plastiktüten mit Klebeband um die Schuhe binden.“(Wikipedia). Ein Großteil der Arbeiter musste vor Ort schlafen und konnte sich dabei nur mit Bleidecken zudecken. Der Grenzwert für männliche Kraftwerksarbeiter in Notfallsituationen wurde am 15. März von 100 auf 250 mSv pro Jahr heraufgesetzt. Teilweise wurden Arbeiter erst Wochen und Monate später gesundheitlich überprüft.
25 Jahre zuvor, als das Kernkraftwerk Tschernobyl in die Luft flog, hatte das im Niedergang begriffene Sowjetregime in Ermangelung technischer Mittel nichts Anderes zu tun gewusst, als ein gewaltiges Heer von meist Zwangsrekrutierten zur Bekämpfung der Schäden ins Inferno zu schicken. Nach Angaben der WHO wurden 600.000 bis 800.000 Liquidatoren entsandt, von denen in der Zwischenzeit Hunderttausende an den Folgen der Verstrahlung verstorben oder an Krebs erkrankt sind. Zahlen wurden von Regierungsseite bislang nie dazu veröffentlicht.
Jetzt, 25 Jahre später, versuchte das High-Tech-Land Japan hilflos unter Anderem mit Feuerwehrschläuchen und Hubschraubern den Brand zu löschen und die Anlage zu kühlen. Entgegen aller bisherigen Planungsspiele war man gezwungen, gewaltige Mengen Meerwasser zur Kühlung einzusetzen und diese radioaktiv verseuchten Wassermassen ins Meer zurückzuleiten. Während das Sowjetregime vor 25 Jahren Hunderttausende Liquidatoren zwangsrekrutierte, zwang das wirtschaftliche Elend in Japan unzählige Arbeiter dazu, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Tepco rekrutierte unter Obdachlosen und Arbeitslosen, wie zum Beispiel in Kamagasaki, einem Armenviertel in Osaka, Arbeitskräfte, denen man oft den Einsatzort und die Risiken nicht mitteilte. Aber nicht nur das Leben der Liquidatoren setzte man aufs Spiel, sondern auch das der Zivilbevölkerung; insbesondere die Kinder in der Region wurden tatenlos hohen Strahlendosen ausgesetzt. Weil die Emissionen alles Bisherige übertrafen, beschloss die Regierung, die Grenzwerte für Schulkinder in der Region Fukushima auf bis zu 20 Millisievert pro Jahr heraufzusetzen. Nicht nur die Machthaber in der stalinistischen Sowjetunion hatten die Explosion in Tschernobyl in den ersten Tagen gänzlich verschwiegen, auch die demokratische Regierung Japans hat im Falle Fukushimas die Wahrheit verschweigen und das Ausmaß der Katastrophe verharmlosen wollen. An Zynismus und Lebensverachtung stehen die Verantwortlichen in Japan den Machthabern in der stalinistischen Sowjetunion in Nichts nach.
Die langfristigen Folgen heute realistisch einzuschätzen ist völlig unmöglich. Die eingetretene Kernschmelze bedeutet, dass die geschmolzenen Brennelemente sich zu einem ungeheuer radioaktiven Klumpen gebildet haben, der sich durch den Druckbehälter gefressen hat. Das eingesetzte Kühlwasser selbst ist extrem verseucht, man muss immer wieder kühlen und es entstehen jeweils erneut gewaltige, verseuchte Wassermassen. Nicht nur das Wasser, sondern auch die “ungeschützten” Reaktoren emittieren Cäsium, Strontium, und Plutonium Isotope. Diese werden als „hot particles“ (heiße Partikel) bezeichnet, sie wurden später überall in Japan vorgefunden, so auch in Tokio. Bislang verfügt man über keine technischen Mittel, den in Fukushima entstandenen Atommüll zu entsorgen. Allein das Abkühlen wird Jahre in Anspruch nehmen. In Tschernobyl musste ein Sarkophag errichtet werden, der aber nach ca. 100 Jahren wieder abgerissen werden muss, um dann dem nächsten Platz zu machen. Für Fukushima ist noch keine Lösung in Sicht. In der Zwischenzeit sammelt sich immer mehr verstrahltes Wasser an, und man weiß nicht wohin damit. „Ein Großteil der Radioaktivität entweicht in Fukushima über das Kühlwasser direkt ins Meer, verteilt sich dort über die Meeresströmungen, mit unvorhersehbaren Folgen für den Pazifik, die Nahrungsketten und damit auch für den Menschen. Äußerst fischreiche Bestände vor der Nordostküste Japans sind betroffen, eine Ausbreitung auf z.B. Seelachs in der Beringsee liegt im Bereich des Möglichen. (1)
„Eine so große Freisetzung von Radioaktivität ins Meer hat es (…) bisher noch nicht gegeben.“ https://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Atomenergie/Zu_den_Auswirkungen_de... [13]
Weil die Bevölkerungsdichte in dieser Region Japans etwa 15mal höher als in der Ukraine ist, lassen sich die Folgen für die Bevölkerung jetzt noch nicht genauer abschätzen.
Die Kernschmelze offenbart somit, dass die Folgen solch eines nuklearen Desasters völlig unbeherrschbar sind. Denn die Verantwortlichen hatten nur die Wahl zwischen Pest und Cholera: entweder der Kernschmelze untätig zuzuschauen oder mit Meerwasser Kühlversuche vornehmen, was jedoch damit für eine weitere Ausbreitung der Radioaktivität durch die Löschmittel zu sorgt. Die hilflose Regierung entschied sich für die zweite Alternative, d.h. für die Kontaminierung des Meerwassers durch hochradioaktives Löschwasser.
Dekontaminierung: Statt der Lösung des Problems eine Verschlimmerung des Unheils
Die Versuche, die kontaminierte Erde der Umgebung zu entsorgen, legen eine nicht weniger große Ratlosigkeit und Skrupellosigkeit an den Tag. In der 300.000-Einwohner-Stadt Fukushima wurden bis Anfang August bereits 334 Schulhöfe und Kindergärten saniert, indem die oberen, kontaminierten Schichten ihrer Böden abgetragen wurden. Weil man in der Stadt Koriyama in der Präfektur Fukushima nicht wusste, wohin mit der verstrahlten Erde, wurde sie zum Entsetzen vieler Eltern auf dem Gelände der Schulen… vergraben. 17 der 48 Präfekturen Japans, darunter auch Tokio, melden außerdem, sie blieben auf radioaktiv verseuchtem Klärschlamm sitzen. Sogar bis in 20 Kilometer Entfernung von Tokio sind verstrahlte Böden gefunden worden. Dabei müssen noch Tausende Gebäude von radioaktiven Partikeln gesäubert werden. Selbst bewaldete Berge werden wahrscheinlich dekontaminiert werden müssen; dies erfordert wahrscheinlich das Abholzen vieler Bäume.
Japanische Medien berichten, dass die Regierung ein Zwischenlager für viele Millionen Tonnen verstrahlten Materials sucht. Weil es keine Lösung gibt, hat man stellenweise radioaktiv verseuchten Müll verbrannt. Durch die dadurch entstehenden Abgase wird die Radioaktivität noch weiter verbreitet. Diese Ratlosigkeit gegenüber dem entstandenen Atommüll wirft ein Licht auf die grundsätzliche Unlösbarkeit der Entsorgung des radioaktiven Mülls. (2)
Das Besondere bei der Erzeugung von Atomenergie ist, dass die Strahlung keineswegs ein Ende findet, wenn die Kernkraftwerke nach dem Ende ihrer Betriebszeit abgeschaltet werden, denn mit dem Abschalten ist der Prozess der Kernspaltung nicht abgeschlossen. Was tun mit dem im AKW entstandenen Abfall? Alles, was mit radioaktivem Material in Berührung kommt, wird kontaminiert.
Nach Angaben der World Nuclear Association entstehen Jahr für Jahr 12.000 Tonnen hochradioaktiver Abfälle. Insgesamt sind bis Ende 2010 weltweit bereits etwa 300.000 Tonnen hochradioaktiven Abfalls angefallen. Die in einigen Ländern praktizierte oder geplante geologische Lagerung z.B. in alten Bergwerken ist nichts als eine vorübergehende Notlösung, deren Gefahren man geflissentlich ausblendet. So lagern in Asse, Deutschland, 125.000 Fässer mit Atommüll, die durch die Einwirkung des benachbarten Salzes auf kurz oder lang erodieren werden, wobei schon jetzt immer wieder radioaktiv verseuchte Lauge austritt. Im deutschen Zwischenlager Gorleben haben Experten die Gefahr von Erdstürzen ermittelt. Ähnliche Risiken bestehen bei den meisten „Deponien“ weltweit. Mit anderen Worten: ist schon der Betrieb von AKW mit großen Gefahren verbunden ist, so ist die Entsorgung von Atommüll eine völlig ungelöste Frage. Die jetzigen Verantwortlichen schieben diesen ganzen Müll in Deponien oder Zwischenlager, mit denen unzählige zukünftige Generationen noch zu kämpfen haben werden.
Und der ganz „normale“ Betrieb eines AKW ist keineswegs so „sauber“, wie von den Verteidigern der Nuklearindustrie behauptet. Tatsächlich sind bei der Stromerzeugung zur Kühlung der Brennstäbe gewaltige Mengen an Wasser erforderlich. Deshalb werden Kernkraftwerke gern am Meer oder an Flüssen errichtet. Alle vierzehn Monate wird ein Viertel der Brennstäbe eines jeden Reaktors erneuert; da sie aber weiter hohe Temperaturen aufweisen, müssen die Brennstäbe nach dem Austausch weiter in so genannten Abklingbecken gelagert werden, wo sie zwei bis drei Jahre lang gekühlt werden müssen. Das in den Fluss geleitete Kühlwasser führt zu thermischer Verschmutzung, Algen bilden sich, Fische verenden. Daneben werden chemische Stoffe aus den Kernkraftwerken in die Flüsse eingeleitet (u.a. Natrium, Borsäure, Ammoniak usw.). Zudem wird auch das Wasser radioaktiv verstrahlt, wenn auch nur geringfügig.
Fast ein Jahr nach der Katastrophe: Welche Konsequenzen haben die Machthaber gezogen?
Sind die Machthaber, die Verantwortlichen an einer Ursachenklärung interessiert? Offensichtlich nicht! Tatsache ist, dass die ganze Konzeption des AKW in Fukushima nicht für die Bedingungen eines Erdbebens ausgelegt war. Mittlerweile ist bekannt, dass die Betreiberfirma Tepco zuvor viele Störfälle vertuscht und beanstandete Sicherheitsmängel nicht behoben hat, u.a. weil das Werk nach 40 Jahren Laufzeit sowieso außer Betrieb genommen werden sollte. Ausgerechnet der japanische Staat, der durch Institutionen wie das MITI massiv in die Wirtschaft eingreift, um die Konkurrenzfähigkeit des japanischen Kapitals zu stärken, hatte der Atomindustrie geradezu einen Blankoscheck ausgestellt. Selbst als die Fälschung von Untersuchungsberichten oder die Verharmlosung von Störfällen ans Tageslicht kam, zog er keine Konsequenzen. Im Übrigen ist die Neigung, unter dem Wettbewerbsdruck und dem Gewicht der Krise immer weniger in Wartung und Unterhaltung zu investieren, immer weniger qualifizierte Kräfte einzusetzen, weltweit verbreitet. Die kapitalistische Krise macht die Atommeiler noch unsicherer, da die Sicherheitsstandards durch unzureichend ausgebildetes Personal gesenkt werden.
Vor allem aber ist deutlich geworden, dass von den weltweit in Betrieb befindlichen 442 AKW viele in erdbebengefährdeten Gebieten liegen. Allein in Japan wurden mehr als 50 AKW in erdbebengefährdeten Gebieten errichtet. In den USA findet man mehr als ein Dutzend AKW mit ähnlichem Katastrophenpotenzial. In Russland laufen viele AKW ohne automatische Abschaltungsmechanismen im Erdbebenfall. In der Türkei wurde der Reaktor Akkuyu Bay nahe der aktiven Ecemis-Bruchlinie gebaut. Indien und China planen zurzeit die meisten Neubauten. Dabei ist China mit seinen in Bau befindlichen 27 neuen AKW eines der seismologisch aktivsten Länder. Man könnte diese Liste noch weiter fortsetzen. Anstatt die Gefahren der Natur zu berücksichtigen, hat der Kapitalismus überall tickende Zeitbomben geschaffen! Haben sich die Sicherheitsstandards in den höchst entwickelten Staaten schon als unzureichend herausgestellt, so spotten in jenen Ländern, die erst jetzt in den Betrieb von Atomkraftwerken einsteigen, die Sicherheitsstandards und ihre Erfahrung im Umgang mit Störfällen jeder Beschreibung. Kaum auszumalen, was bei einem Unfall in diesen Breitengraden passieren mag…
Zudem werden die Laufzeiten alter Kernkraftwerke verlängert. In den USA hat man die Laufzeiten auf 60 Jahre verlängert, in Russland auf 45 Jahre. Auf internationaler Ebene gibt es erhebliche Widerstände gegen zu restriktive Sicherheitsstandards und gegen Eingriffe durch internationale Überwachungsbehörden, die über die lückenhaften nationalen Kontrollen der Staaten über die Atomindustrie hinausgehen. Nationale Eigenständigkeit geht vor Sicherheit (3).
Fazit: Trotz Fukushima bleibt die Menschheit weiter auf diesen tickenden atomaren Zeitbomben sitzen, die vielerorts und jederzeit durch Erdbeben, menschliches Versagen, Terrorismus u.a. eine neue Katastrophe bewirken können.
Atomstrom – billig, sauber, alternativlos? Profit auf Kosten der Gesellschaft
Immer wieder wird von den Anhängern der Atomindustrie das Argument gebracht, Atomstrom sei billiger, sauberer und ohne Alternative. Tatsache ist: der Bau eines AKW verschlingt gigantische Summen, die von den Stromerzeugern aufgebracht werden müssen, wobei diese aber von staatlichen Subventionen, d.h. Steuergeldern, bezuschusst werden. Auch der Löwenanteil an den Kosten für die Entsorgung des Atommülls wird von den Betreiberfirmen auf die Gesellschaft abgewälzt. Abgesehen davon, dass man bislang überhaupt kein Konzept für die Entsorgung des Atommülls hat, werden bei der ganzen Kalkulation seitens der Atomlobby diese Entsorgungskosten nicht mit berücksichtigt. Auch wenn Kernkraftwerke nach ca. 50 Jahren Laufzeit außer Betrieb genommen werden müssen, entstehen bislang nicht berücksichtigte gigantische Kosten.
Dasselbe bei einem Störfall oder GAU: Auch hier werden die Kosten auf die Gesellschaft abgewälzt. In Fukushima werden die Folgekosten, deren Ausmaß heute noch gar nicht realistisch kalkuliert werden können, bislang auf 200-300 Milliarden Euro hochgerechnet. Dieser Betrag kann von Tepco nicht gestemmt werden. Der japanische Staat hat schon „Hilfe“ zugesagt, unter der Voraussetzung, dass die Tepco-Beschäftigten Opfer bringen. So sollen die Renten gekürzt, die Löhne gesenkt, Tausende Jobs gestrichen werden. Auch sind Sonderabführungen im japanischen Haushalt vorgesehen.
Aus ökonomischer und ökologischer Sicht sind die tatsächlich Kosten des Betriebs und die ungelöste Frage der Entsorgung ein einziges Fass ohne Boden. Die Atomkraft ist ein in jeder Hinsicht irrationales Projekt. Die Atomfirmen streichen riesige Summen für die Energieerzeugung ein, wälzen aber die „Folgekosten“ auf die Gesellschaft ab. Die Atomkraftwerke verkörpern somit den unüberwindbaren Gegensatz zwischen dem Profitstreben und dem langfristigem Schutz von Mensch und Natur.
Die Atomkraft ist nicht die einzige Gefahr für die Umwelt. Der Kapitalismus betreibt einen ständigen Raubbau an der Natur. Er plündert ohne jegliche Sorge um Nachhaltigkeit alle Ressourcen und behandelt die Umwelt wie eine Deponie. Mittlerweile werden zunehmend ganze Landstriche unbewohnbar, die Meere zugemüllt. Mithilfe einer immer ausgefeilteren Technologie werden Ressourcen ausgeplündert, die vor kurzem noch unerreichbar waren. Dabei wird nicht nur der Einsatz an Mitteln immer gewaltiger und kostspieliger, auch die Risiken und das Zerstörungspotenzial vervielfachen sich. Nachdem im April 2010 im Golf von Mexiko die Ölplattform Deepwater Horizon explodiert war, stieß die Untersuchungskommission auf eklatante Mängel hinsichtlich der Einhaltung von Sicherheitsvorschriften. Der gewaltige Konkurrenzdruck zwingt auch und gerade die großen Konzerne, die gewaltige Investitionen in den Bau und die Wartung ihrer Anlagen und Betriebe vornehmen müssen, in letzter Konsequenz zu einem strikten Sparkurs, was stets auch auf Kosten der Sicherheit geht. Jüngstes Beispiel ist die Ölverschmutzung vor der Küste Brasiliens. All diese Fahrlässigkeiten sind kein auf technologisch rückständige Länder begrenztes Phänomen, sondern nehmen gerade in den höchst entwickelten Staaten die unglaublichsten Dimensionen an.
Anders als im Fall von Three Mile Island oder Tschernobyl wurde mit der Katastrophe von Fukushima ein dicht besiedelter Großraum, nämlich Tokio mit seinen 35 Millionen Einwohnern, direkt bedroht.
Die Atomenergie wurde im 2. Weltkrieg als ein Instrument der Kriegsführung entwickelt. Der Abwurf der Atombomben auf zwei japanische Städte leitete eine neue Stufe der Zerstörung im niedergehenden kapitalistischen System ein. Der Rüstungswettlauf des Kalten Krieges nach dem 2. Weltkrieg mit seiner systematischen atomaren Hochrüstung hat dieses militärische Vernichtungsarsenal so stark potenziert, dass heute im Falle eines atomaren Schlagabtausches die Menschheit auf einen Schlag ausgelöscht werden könnte. Denn auch mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges gibt es noch ca. 20.000 Atomsprengköpfe, die die Menschheit zigfach vernichten können.
Mit den Atomunfällen in Three Mile Island, Tschernobyl und Fukushima ist deutlich geworden, dass die Menschheit nicht nur durch den militärischen Einsatz der Atomkraft bedroht ist, sondern auch von der „zivilen“ Nutzung der Kernenergie. Die japanische Regierung schätzt, dass in Folge der Havarie im Atomkraftwerk Fukushima Dai-ichi eine 168-mal höhere Menge des radioaktiven Isotops Cäsium-137 in der Atmosphäre freigesetzt worden ist als durch die Atombombe in Hiroshima im Jahre 1945. (Shimbun, 25. August 2011).
Die ganze Entwicklung seit dem Beginn der Katastrophe zeigt, dass die Verantwortlichen nichts im Griff hatten, das Ausmaß der Katastrophe verharmlosten und jegliche Kontrolle über die Kosten verloren haben, ohne dass die Verantwortlichen die Konsequenzen gezogen haben. Im Gegenteil. Nicht nur in der Frage der Atomkraft, sondern auch beim Schutz der Umwelt insgesamt zeigen sich die Herrschenden immer rücksichtsloser. (siehe Durban…) Die Umweltzerstörung nimmt immer bedrohlichere Ausmaße an, die Herrschenden dagegen erweisen sich als immer unfähiger, das Steuer herumzureißen und verantwortungsvolle Maßnahmen zum Schutz der Umwelt zu ergreifen. Der Planet, die Menschheit wird auf dem Altar des Profits geopfert.
Überdies schränkt die Weltwirtschaftskrise, die sich im vergangenen Jahr noch einmal zugespitzt hat, den Spielraum der Herrschenden noch zusätzlich ein, um Schutzmaßnahmen zur Erhaltung der Natur einzuleiten. Der Kapitalismus stürzt die Menschheit nicht nur durch die Krise - mit all ihren katastrophalen Folgen wie Hunger, Verarmung, Kriegen usw. - ins Verderben, er setzt mit seinem Zerstörungspotenzial darüber hinaus die Existenz der gesamten Biosphäre aufs Spiel. Die Atomkraftwerke sind nur die Spitze des Eisbergs.
Ein Wettlauf gegen die Zeit hat eingesetzt. Entweder vernichtet der Kapitalismus den ganzen Planeten, oder den Ausgebeuteten und Unterdrückten, mit der Arbeiterklasse an ihrer Spitze, gelingt es, das System zu überwinden. Da der Kapitalismus die Menschheit auf verschiedenen Ebenen bedroht (Krise, Krieg, Umwelt), macht es wenig Sinn, sich ausschließlich gegen einen Aspekt der kapitalistischen Wirklichkeit zu richten, z.B. gegen die Atomkraft. Es ist wichtig, die Zusammenhänge zwischen all diesen Schreckensszenarien und ihre Verwurzelung im kapitalistischen System zu erkennen. Es wäre fatal, den Kampf den sog. „Ein-Punkt-Bewegungen“ zu überlassen, die besonders in den 1980er und 1990er Jahren ihr Unwesen trieben (Anti-Atomkraft-Bewegung, Hausbesetzer, Kampf gegen die NATO-Nachrüstung) Kampf. Heute geht es mehr denn je darum, den globalen Bankrott, die Sackgasse des Systems weltweit aufzuzeigen. Wenn man diesen Zusammenhang zwischen Krise, Krieg und Umweltzerstörung außer Acht lässt, landet man unweigerlich auf dem dünnen Eis des Reformismus, und läuft Gefahr, von diesem System absorbiert zu werden. D., Jan.2012
1) Nordöstlich von Fukushima kommen die beiden Meeresströmungen des warmen Kuroshio und des kalten Oyashio – eines der fischreichsten Gebiete der Welt - zusammen. Die dort aktive japanische Fischerei stellt die Hälfte der in Japan konsumierten Fischprodukte; damit kann die Fischversorgung gefährdet werden.
(2) https://news.ippnw.de/index.php?id=72 [14] , Nach Angaben japanischer Umweltorganisationen plant die Regierung, den kontaminierten Schutt aus der Region um Fukushima über das ganze Land zu verteilen und zu verbrennen. Das japanische Umweltministerium schätzt die Menge an Bauschutt aus der Katastrophe im März in den Küstengebieten von Iwate, Miyagi und Fukushima auf etwa 23,8 Millionen Tonnen. Ein erster Transport von etwa 1000 t Schutt nach Tokio aus Iwate hat Anfang November bereits stattgefunden, wie die Mainichi Daily News berichtete. Die Regierung Iwates schätzt, dass diese Trümmer 133 bq/kg radioaktives Material enthalten. Vor März wäre dies illegal gewesen, aber die japanische Regierung änderte im Juli das Sicherheitsniveau für Bauschutt von 100 bq/kg auf 8000 bq/kg und im Oktober auf 10.000 bq/kg. Tokio hat angekündigt insgesamt 500.000 t Schutt zu übernehmen.
3. Zur Haltung des deutschen Kapitals, das nach Fukushima den Ausstieg bis 2022 beschloss, siehe unsere Artikel in Weltrevolution Nr. 168;169.
Mittlerweile sind mehr als zwei Monate seit der Selbsttötung der beiden Neonazis Böhnhardt und Mundlos vergangen, doch die Schockwellen, die durch das Land rasten, nachdem sich das Ausmaß der Verbrechen des so genannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) angedeutet hatte, sind noch längst nicht verebbt. Im Gegenteil. Keine Woche ist seither vergangen, ohne dass neue Untaten dieser Bande ans Tageslicht gekommen sind: Kaum hatte sich herausgestellt, dass die beiden (im Verein mit ihrer Komplizin Zschäpe) nicht nur für zahlreiche Bankraube in der Region verantwortlich waren, sondern auch im April 2007 den rätselhaften Mordanschlag auf eine Polizistin und ihren Kollegen in Heilbronn begangen hatten, wurde aus den Trümmern des von Zschäpe kurz nach der Selbsttötung ihrer beiden Kumpanen in die Luft gesprengten Domizils des Neonazi-Trios jene Waffe geborgen, mit der vom September 2000 bis April 2006 eine ebenso beispiellose wie mysteriöse Mordserie an neun überwiegend türkischstämmigen Kleinhändlern begangen worden war. Schließlich verdichteten sich auch die Beweise für eine Verstrickung dieses Trios in einen Nagelbombenanschlag im Juni 2004 in Köln-Mülheim, einem überwiegend von Immigranten bewohnten Stadtteil, bei dem fast zwei Dutzend Menschen verletzt wurden. Und vieles spricht dafür, dass diese Bande noch für weitere ungelöste Bombenanschläge und Mordfälle in den letzten dreizehn Jahren die Urheberschaft trägt.
Aber es vergeht seitdem auch kaum ein Tag, an dem die Öffentlichkeit nicht von neuen Pannen, Pleiten und Inkompetenzen der so genannten Strafverfolgungsbehörden des deutschen Staates erfährt. Wenn es stimmt, was jetzt offiziell verlautbart wird, dann konnte diese Bande dreizehn Jahre lang ihr Unwesen treiben, ohne dass die Behörden eine Ahnung von ihrer Existenz hatten, dann konnte dieses Trio Menschen ermorden, Banken ausrauben, Anschläge gegen jüdische und muslimische Einrichtungen begehen, ohne dass der hochgerüstete Polizeiapparat auch nur im Ansatz einen Zusammenhang zwischen all diesen Taten herstellen konnte. Demnach tappten Bundes- und Landeskriminalämter sowie die lokale Polizei die ganzen Jahre über völlig im Dunklen und stritten die Existenz eines Rechtsterrorismus noch ab, als er längst unter uns wütete. Und hätten die drei nach ihrem Abgang nicht unübersehbare Spuren hinterlassen – wie die beiden in den Trümmern sichergestellten Waffen, mit denen sie ihre Morde begingen, und eine Selbstbezichtigungs-DVD -, dann wären sie aller Wahrscheinlichkeit als bloße Bankräuber in die Kriminalstatistiken eingegangen, ohne jeglichen Bezug zu ihrer den Behörden wohlbekannten rechtsradikalen Gesinnung.
Wie konnte das geschehen? Wie ist es zu erklären, dass trotz eines hochgerüsteten Überwachungsapparates wie dem Verfassungsschutz oder dem Bundeskriminalamt, trotz der Durchsetzung des rechtsextremen Milieus mit V-Leuten den staatlichen Behörden das Treiben dieses Neonazi-Trios über ein Jahrzehnt lang völlig entgangen ist? Sind Letztgenannte etwa vom Verfassungsschutz gedeckt worden, wie da und dort schon gemunkelt wird? Oder handelt es sich bei dieser Affäre um einen „Unfall“, der aus Sicht der deutschen Bourgeoisie zur Unzeit kommt?
All die Beteuerungen der Repräsentanten unserer grandiosen Demokratie, sie seien nicht blind auf dem rechten Auge, erweisen sich, um es vorweg zu nehmen, als bloße Lippenbekenntnisse, mit denen suggeriert werden soll, dass der bürgerlich-demokratische Staat und seine Organe zum Rechtsextremismus wie zum Linksextremismus die gleiche Distanz wahrt. Dabei ist die Affinität zwischen dem bürgerlich-demokratischen Staat und den faschistischen Strömungen historisch belegt.
Es gibt genügend Beispiele dafür, dass demokratische Regimes keinerlei Berührungsängste gegenüber dem Rechtsextremismus haben, sofern es die Umstände erfordern. Sicherlich, in Zeiten des sozialen „Friedens“ möchte die demokratisch-parlamentarische Demokratie am liebsten nichts von ihren rechten Schmuddelkindern wissen. Doch wehe, das Gespenst des revolutionären Klassenkampfes taucht auf - spätestens dann lässt die herrschende Klasse ohne Zögern alle demokratischen Grundsätze fahren und bedient sich der faschistischen Schergen. So geschehen in der deutschen Revolution von 1918-23, als es die SPD unter der Führung des selbsternannten Bluthundes Noske war, die die sog. Freikorps zur Niederschlagung der revolutionären Kämpfe des deutschen Proletariats schuf, ein Sammelbecken allerlei sinistrer, entwurzelter Elemente und eine Urzelle des späteren Nationalsozialismus. Ferner ist es ein offenes Geheimnis, dass Teile der angelsächsischen Elite offene oder heimliche Sympathien für Hitler und Konsorten hegten, dass Stalins Außenposten in Deutschland, die KPD der dreißiger Jahre, bisweilen gemeinsame Sache mit den Nazis machte.
Diese unselige Allianz von Teilen des demokratischen, antifaschistischen Staates mit dem Faschismus setzte sich nach dem Untergang des „III. Reichs“ nahtlos fort. Stichpunkt „Rattenlinie“: zahllose Nazigrößen wurden in den Jahren nach Ende des II. Weltkriegs von amerikanischen Geheimdiensten mit Hilfe des Vatikans nach Südamerika geschleust. Schließlich wollte man von ihrem blutigen Handwerk lernen; keinesfalls aber sollte ihr Wissens- und Erfahrungsschatz dem immer stärker auftrumpfenden imperialistischen Kontrahenten UdSSR in die Hände fallen. Stichpunkt „Org“: die „Organisation Gehlen“ (wie ihr vollständiger Name lautete), die Vorläuferorganisation des BND, wurde von der amerikanischen Besatzungsmacht nach dem Krieg initiiert und schmückte sich vornehmlich mit alten Nazikadern des „III. Reichs“. Stichpunkt „Gladio“: unter diesem italienischen Begriff (deutsch: Schwert) wurde 1990 eine ungeheure Verschwörung von Teilen der westeuropäischen und US-amerikanischen Bourgeoisie gegen die Bevölkerung westeuropäischer Länder bekannt. Anfang der 1950er Jahre in etlichen westeuropäischen Ländern als Geheimarmee mit Hilfe des CIA und diverser westeuropäischer Geheimdienste gebildet, um im Falle eines sowjetischen Einmarsches hinter den Linien zu operieren, rekrutierten sich die nationalen Ableger dieser Geheimorganisation mit Vorliebe aus Rechtsextremisten und legten heimliche Waffendepots an. Als der sog. Eurokommunismus, eine weichgespülte Form des Stalinismus in den 70er und 80er Jahren, sich anschickte, die Regierungsmacht in Italien zu übernehmen, begingen italienische Neofaschisten unter Federführung italienischer und US-amerikanischer Geheimdienste eine Serie äußerst brutaler Morde und Anschläge – der bekannteste war sicherlich der verheerende Bombenanschlag auf den Hauptbahnhof von Bologna 1980, der 85 Tote und 200 Verletzte forderte -, die stets den Linksterroristen der Roten Brigaden oder Anarchisten in die Schuhe geschoben wurden. Mit dieser „Strategie der Spannung“ sollte in Italien ein Klima der Verunsicherung geschaffen werden, mit dem insbesondere die Arbeiterklasse von der Wahl der italienischen KP abgehalten werden sollte.
Typisch italienisch? Keineswegs. Auch in der Bundesrepublik gab es seit den 50er Jahren einen Ableger dieses geheimen Netzwerkes – der „Bund Deutscher Jugend – Technische Hilfe“ (BDJ-TH); auch der deutsche Ableger setzte sich aus zwielichtigen Elementen zusammen – zunächst aus Altnazis und ehemaligen Wehrmachtsangehörigen, später aus Neonazis. Und auch Deutschland hatte sein Bologna. Im September 1980 beging der Rechtsextremist Gundolf Köhler einen Bombenanschlag auf das Münchner Oktoberfest, dem dreizehn Menschen (einschließlich des Täters) zum Opfer fielen und bei dem über zweihundert weitere Menschen zum Teil schwer verletzt wurden. Auch dieser Anschlag wurde – wie in Bologna – zunächst den Linksterroristen in die Schuhe geschoben. Und als diese Version nicht mehr aufrechtzuerhalten war, konstruierten Politik und Justiz die These des irren Einzeltäters, obwohl Köhlers Mitgliedschaft in der „Wehrsportgruppe Hoffmann“ längst aktenkundig war - einer paramilitärischen Nazitruppe, die, von Teilen der herrschenden Klasse (insbesondere der bayrischen Regierungspartei CSU) verharmlost und von der Justiz gedeckt, nicht nur am Wochenende durchs Gelände robbte, sondern auch aller Wahrscheinlichkeit nach für die Morde an dem jüdischen Verleger Lewin und dessen Ehefrau Poeschke verantwortlich war. Es mutet wie ein Witz an, dass jetzt, im Schatten der aktuellen Affäre, das Ermittlungsverfahren in der Causa Münchner Oktoberfest wieder neu aufgerollt werden soll, nachdem bis dato mehrere Versuche einer Wiederaufnahme dieses Verfahrens an der Justiz gescheitert waren und… etliche Beweisstücke aus der Asservatenkammer der Untersuchungsbehörden verschwunden sind.
Nun, mit dem Zusammenbruch des Ostblocks gibt es zwar keine Existenzgrundlage mehr für „Gladio“ und ähnliche Auswürfe des Kalten Kriegs, dafür stellte sich insbesondere Deutschland (als ehemaliger Anrainerstaat zum Ostblock) und der deutschen Bourgeoisie ein neues Problem, das Anfang der 90er Jahre unter dem ebenso hässlichen wie menschenverachtenden Begriff der „Asylantenschwemme“ durch die bürgerlichen Medien geisterte. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs zwischen Ost und West und dem gleichzeitigen Verfall der gesellschaftlichen Strukturen in den Ländern des ehemaligen Ostblocks drohte neben dem Strom der Verelendeten aus Afrika und Asien nun ein neuer Exodus, diesmal aus Osteuropa, zumal sich durch den Kollaps des Grenzregimes in diesen Ländern neue Einfallstore auch für Asylsuchende aus dem Rest der Welt in die Länder Westeuropas öffneten. Die deutsche Bourgeoisie konnte kein Interesse an der Aufnahme dieser armen Teufel haben, hatte sie doch ohnehin genug zu tun, um die soziale Lage angesichts der Explosion der Massenarbeitslosigkeit insbesondere in Ostdeutschland ruhig zu halten. So kämpfte sie denn auch mit allen Mitteln gegen den Ansturm von Wirtschaftsflüchtlingen an. Mit politischen Mitteln, indem sie durchsetzte, dass Asylsuchende auch in die Länder zurückgeschickt werden konnten, durch die sie nach Deutschland geschleust wurden. Mit juristischen Mitteln, indem die Asylverfahren verkürzt wurden, natürlich zu Ungunsten der Asylsuchenden. Und mit polizeilichen Mitteln wie der Zwangsrückführung von Asylsuchenden in ihre Herkunftsländer, was für etliche dieser Flüchtlinge den sicheren Tod bedeutete.
Doch ihr effektivstes Abschreckungsmittel war der rechtsradikale Mob, der jahrelang nahezu ungestört wüten und Asylheime abfackeln konnte, der auf alles Jagd machte, was nicht in sein dumpfes Menschenbild passte, und etliche Jahrgänge der so genannten Wendegeneration besonders (aber nicht nur) in Ostdeutschland zu Rassismus und Fremdenfeindlichkeit verführte. Die Folge: noch heute weisen die neuen Bundesländer den mit Abstand niedrigsten Ausländeranteil auf. Unbehelligt von den Behörden konnten Neonazis bis heute ganze Regionen in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und anderswo zu „ausländerfreien Zonen“ erklären und ihr völkisches Gedöns praktizieren. Bei alledem liegt der Schluss nahe, dass den Herrschenden das Treiben der rechtsradikalen Vogelscheuchen in gewissen Grenzen durchaus nicht unliebsam war. Ihr Vorgehen gegenüber den rechtsextremistischen Gewaltorgien erschöpfte sich jedenfalls darin, rechtsextremistisch motivierte Straftaten zu bagatellisieren und zu vertuschen. Bis heute sind in den offiziellen Statistiken der Bundesregierung zwischen 1990 und 2008 nur 46 Tötungsdelikte mit rechtsextremistischem Hintergrund erfasst, wohingegen Nachforschungen zweier bürgerlicher Zeitungen, DIE ZEIT und DER TAGESSPIEGEL, allein auf 137 rechtsextremistisch motivierte Morde an Ausländer, Immigranten, Homosexuelle und Andersdenkende kommen. Auch die Justiz der sonst so „wehrhaften Demokratie“ zeigte sich erstaunlich zahm und ermunterte mit ihren milden Strafen (oftmals erst nach monatelanger Verzögerung) den rechten Mob.
Kein Zweifel, die politische Blindheit der Herrschenden auf dem rechten Auge hat durchaus einen systemischen Charakter. Und das kann auch nicht verwundern. Die Bourgeoisie ist sich sehr wohl bewusst, aus welcher Richtung ihr wirklich Gefahr droht. Sie kommt mit Sicherheit nicht von rechts. Auch die sozialromantische und pseudorevolutionäre Rhetorik, derer sich die Nazis von einst und heute zuweilen bedienen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Faschismus historisch betrachtet stets ein treuer Diener seines nationalen Kapitals war. Sein Bestreben galt nie der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln, sondern allenfalls dem Raub fremden Eigentums durch Krieg und Genozid. Auch heute, wo der Rechtsextremismus politisch nur noch eine marginale Rolle spielt, gibt es mit der Frage des Nationalismus immer noch eine erhebliche Schnittmenge zwischen den rechten Schlägern und Kreisen des staatskapitalistischen Regimes, die sich in der klammheimlichen Sympathie und Kumpanei von Teilen des Polizei- und Verfassungsschutzapparates mit dem Chauvinismus der Neonazis manifestiert. In der Tat geht die Gefahr für die Herrschenden stets von links aus. Sie geht von jenen Menschen aus, die das Privateigentum an Produktionsmitteln als asozial empfinden, die die ungleiche Verteilung des Reichtums anprangern, die letztendlich nichts Geringeres anstreben als einen „Systemwechsel“. Sie manifestiert sich in der unausrottbaren Idee vom Kommunismus, von einer Gesellschaft ohne Privateigentum und Klassen.
Es wäre aber voreilig, von der allgemeinen Feststellung einer Komplizenschaft zwischen Demokratie und Rechtsextremismus auf die besonderen Hintergründe des braunen Terror-Trios zu schließen und zu meinen, hinter dem Neonazi-Terror stecke eine Verschwörung der Herrschenden, wie in der o.g. „Gladio“-Affäre. Sicherlich, es ist nicht auszuschließen, dass Teile der Repressionsorgane mehr wissen, als sie zugeben. Mag sein, dass subalterne Beamte des Verfassungsschutzes gemeinsame Sache mit Neonazis machen. Doch stellt man sich die Frage, wem die Affäre nützt, so muss man zum Schluss kommen, dass die herrschende Klasse in Deutschland in ihrer Gesamtheit mit Sicherheit nicht zu den Nutznießern zählt; gar nicht zu reden von der Rechten, die, wie die NPD, mit einem Verbot und damit mit dem Entzug von Staatsknete rechnen muss.
Die deutsche Bourgeoisie gleicht in ihrem Umgang mit dem Rechtsextremismus vielmehr dem Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr los wird. Schon Ende der 1990er Jahre hatte sie sich bei ihrem Spiel mit dem Feuer die Finger verbrannt, als sich rechtsextremistische Gewalttäter zunehmend auch an ausländischen Touristen, an britischen und italienischen Arbeiter vergriffen und somit drohten, den internationalen Ruf Deutschlands zu beschädigen. Die politische Klasse sah sich veranlasst, ein Stopp-Zeichen zu setzen; der damalige Bundeskanzler Schröder rief zum „Aufstand der Anständigen“ auf. Lichterketten wurden gebildet, Rockkonzerte gegen Rechts veranstaltet. Es wurde eine spezielle Task Force von der Polizei zusammengestellt, die an den Brennpunkten des rechten Milieus Präsenz zeigen und Gewalttätigkeiten schon im Ansatz ersticken sollte. Alles im Griff, sollte uns suggeriert werden. Und wirklich: die Berichte über rechte Übergriffe in den Massenmedien nahmen allmählich ab, der Rechtsextremismus verschwand aus dem Blickfeld des öffentlichen Interesses.
Doch in Wahrheit zeigte sich, dass die staatlichen Repressionskräfte gar nichts im Griff hatten, dass sie die Kontrolle über weite Teile der radikalisierten Rechten (wie z.B. die „Nationalen Autonomen“) verloren haben. Trotz der „Kooperation“ mit mehr als 130 V-Leuten in der NPD, trotz der Tatsache, dass allein sieben V-Leute im direkten Umfeld der Zwickauer Terrorbande platziert waren, sahen sich die Behörden außerstande, die verhängnisvolle Entwicklung zum Rechtsterrorismus beizeiten zu erkennen und einzudämmen, die im Schatten des „Aufstandes der Anständigen“ begonnen hatte. Alle Versuche der Verfassungsschutzbehörden, die drei untergetauchten Neonazis ausfindig zu machen, liefen ins Leere: So versuchte man beispielsweise vergeblich, dem Trio über V-Leute ein Handy zukommen zu lassen, mit dessen Hilfe man sich eine Ortung der drei erhoffte. Es flossen Geldsummen, um den dreien die Finanzierung falscher Papiere zu ermöglichen, auch hier vor dem Hintergrund, sie so besser lokalisieren zu können, auch dies vergeblich. Zu allem Überfluss wurden diese eher verzweifelt anmutenden Fahndungsversuche Mitte des vergangenen Jahrzehnts wegen Verjährung der bis dato bekannten Straftaten der drei auch noch gänzlich eingestellt. So konnten Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe jahrelang völlig ungestört ihr blutiges Handwerk verrichten, zumal sie es in ihrer Feigheit peinlichst vermieden hatten, zu ihren Lebzeiten ein Bekenntnis zu ihren Untaten abzulegen.
Man kann getrost davon ausgehen, dass das Ausmaß der Verbrechen des braunen Terrornestes, deren Beweise in den Trümmern des ausgebrannten Wohnmobils und des in die Luft gejagten Hauses, das die drei bewohnt hatten, nach und nach geborgen wurden, die politische Klasse hierzulande in gewisser Weise in einen Schockzustand versetzt hat, von dem sie sich bis heute noch nicht ganz erholt hat. Ihr Entsetzen scheint nicht gespielt zu sein. Konsterniert muss sie feststellen, dass sie sich jahrelang in der falschen Gewissheit gewiegt hat, die Rechtsextremisten seien zum Terrorismus nicht fähig. Nicht nur, dass sich hinter dem Neonazi-Trio ein ganzes Netzwerk von Unterstützern verbarg, von dessen Existenz die staatlichen Behörden ebenso wenig Kenntnis hatten wie von dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ selbst. Den Behörden schwant noch Schlimmeres: mehr als 140 polizeilich registrierte Rechtsextremisten sind derzeit schlicht von der Bildfläche verschwunden. Erst jetzt beginnen Verfassungsschutz und Polizei zu überprüfen, ob sie einfach nur vor drohenden Unterhaltszahlungen abgetaucht sind, Urlaub im Ausland machen oder – wie Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe – in den Untergrund gegangen sind.
Nun, wo das Kind in den Brunnen gefallen ist, ist das Geschrei unter den Herrschenden groß. Bundeskanzlerin spricht von einer „Schande für Deutschland“, die Bundesjustizministerin kündigt Entschädigungszahlungen für die Angehörigen der Opfer an, und Bundespräsident Wulff macht den Kampf gegen den Rechtsextremismus zum Bestandteil seiner Weihnachtsansprache. Bundesinnenminister Friedrich richtet sogleich ein „Abwehrzentrum“ gegen den Rechtsterrorismus ein, und alle im Bundestag vertretenen Parteien sind sich darin einig, ein Verbot der NPD zu prüfen. Die Entrüstung der politischen Klasse über das Nazi-Trio ist die Entrüstung von Ertappten, die ihre rechtsradikalen Schergen viel zu lange an der langen Leine gehalten hatten und nun bestürzt feststellen, dass die ganze Sache außer Kontrolle geraten ist, dass die Neonazis mit ihren mörderischen Taten weit über das Ziel, die Abschreckung von Asylsuchenden, hinausgeschossen sind. Was wir jetzt erleben, ist das Bemühen des deutschen Staates, seine entlaufenen Bluthunde wieder einzufangen und an die Kette zu legen.
Zeitpunkt und Umstände der Entlarvung des Terror-Trios konnten aus der Sicht der deutschen Bourgeoisie nicht ungünstiger sein. Denn heute steht für sie weitaus mehr auf dem Spiel als der Ruf ihres Wirtschaftsstandortes. Damals, in den 90er Jahren, galt Deutschland als der „kranke Mann Europas“; es war sein schlechter wirtschaftlicher Zustand, der damals die besorgten Blicke des Auslandes auf sich zog. Die Übergriffe der Rechten gegen Arbeiter aus Großbritannien und Italien waren – neben den aus Sicht ausländischer Unternehmen zu hohen Sozialstandards und der „Unbeweglichkeit“ des deutschen Arbeitsmarkts – nur ein weiterer Faktor, der ausländische Investoren abschreckte. Heute dagegen ist der deutsche Imperialismus obenauf und seine Kontrahenten auf dem absteigenden Ast. Die sog. Euro-Krise scheint möglich zu machen, was der deutsche Imperialismus im 20. Jahrhundert mit militärischen Mitteln stets angestrebt, aber nie erreicht hatte – die Bildung eines Europas nach deutschem Abbild, nach deutschen Regeln und Standards, ein „deutsches“ Europa. Je erfolgreicher sich Merkel aber auf den nahezu wöchentlichen Krisensitzungen der Euro-Zone durchsetzt, desto aggressiver werden die Reaktionen der europäischen Widersacher Deutschlands. Schon heute gehören Analogien zum Hitlerfaschismus (das „IV. Reich“, Merkel mit Hitler-Bärtchen)) zum täglichen Sprachgebrauch ausländischer europäischer Medien. Mit Argusaugen achten sie auf jede Regung der hiesigen politischen Klasse, suchen nach Hinweisen auf eine Wiederbelebung des alten deutschen Revanchismus. So ließ beispielsweise die Äußerung des CDU-Generalsekretärs Kauder: „Jetzt wird deutsch gesprochen in Europa“ die Wellen im europäischen Ausland hoch schlagen.
Vor diesem Hintergrund ist die Neonazi-Affäre natürlich ein gefundenes Fressen für die Rivalen des deutschen Imperialismus, lässt sich doch damit vorzüglich der alte Popanz aus der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands zu neuem Leben erwecken. In der ausländischen Presse ist das Terror-Trio der Aufhänger: In spanischen Zeitungen wird die Frage gestellt, wie eine solche Bande dreizehn Jahre lang unentdeckt von den Behörden bleiben konnte. In der türkischen Presse vergleicht man diese Affäre mit der „Ergenekon“-Verschwörung in der Türkei und unterstellt damit Teilen des deutschen Staates, das Terror-Trio gedeckt zu haben. Für die deutsche Bourgeoisie bedeutet diese Affäre, die wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam, einen politischen Flurschaden von erheblichem Ausmaß. Sie, die sich anschickt, Europas Politik zu diktieren, weiß, dass nichts schädlicher ist für ihre Ambitionen als eine braun befleckte Reputation. Und genau darum geht es. Wie sagte Außenminister Westerwelle kürzlich? "Das ist nicht nur furchtbar für die Opfer, das ist nicht nur schlimm für unser Land, es ist vor allen Dingen auch sehr, sehr schlimm für das Ansehen unseres Landes in der Welt." (Hervorhebung von der Red.) Immerhin nannte er die Opfer noch an erster Stelle, wenngleich er ihre Angehörigen zu erwähnen vergaß, die seit der Ermordung ihrer Väter, Brüder, Cousins mit dem von der Polizei und der Presse lancierten Verdacht leben mussten, ihre Angehörigen seien wahrscheinlich im Drogenhandel oder anderen kriminellen Geschäften verwickelt gewesen und von der „türkischen Mafia“ erschossen worden. Doch „vor allen Dingen“ geht es den Herrschenden hierzulande darum, Schaden von ihrem Staat abzuwenden. All ihre Goodwill-Aktionen wie die Auszahlung von Entschädigungsgeldern an die Angehörigen der Opfer, die Einladung der Angehörigen durch den Bundespräsidenten und die öffentlich zur Schau gestellte Zerknirschung der politischen Klasse dienen nur diesem einen Zweck.
Einer der vielen Antagonismen, die den Kapitalismus prägen, ist der Widerspruch zwischen der Nation und den Weltmarkt. Beide Phänomene gehören zum Kapitalismus wie die weltliche und geistliche Macht zum Feudalismus; sie sind erst mit dem Kapitalismus buchstäblich zu einem Begriff geworden. Von Anbeginn seiner Existenz strebte der Kapitalismus ökonomisch zum internationalen Warenhandel, zum Weltmarkt eben, aber politisch organisierte er sich von Anfang an in einem strikt nationalen Rahmen. Dieser unlösbare Widerspruch – einerseits das Bedürfnis der Nation nach Abgrenzung und Unterscheidung, andererseits die Forderung des Weltmarktes nach Durchlässigkeit und Aufhebung der Grenzen – zieht sich wie ein Riss quer durch die gesamte Bourgeoisie. Da haben wir auf der einen Seite zum Beispiel die Spitzenmanager von Großkonzernen, die sich vom Scheitel bis zur Sohle polyglott geben, die, allein schon um auf dem Weltmarkt zu überleben, grenzüberschreitend bei der Auswahl der Produktionsstandorte, der Arbeitskräfte sind und die in globalen, nicht nationalen Kategorien denken. Auf der anderen Seite haben wir neben anderen die Verfassungsschützer, deren größte Sorge die Erhaltung des Status quo, der Schutz ihres Brötchengebers, des Nationalstaates, ist, deren Interessen nicht vornehmlich dem freien und grenzenlosen Austausch von Gütern (einschließlich der Arbeitskräfte), dem internationalen Warenhandel gelten, sondern der nationalen Sicherheit. Für sie ist die Nation nicht Mittel zum Zweck, sondern der Zweck, der alle Mittel heiligt.
Die Bourgeoisie kann diesen Widerspruch zwischen der Nation und dem Weltmarkt nicht auflösen; stattdessen laviert sie zwischen beiden Polen hin und her. Die Folgen dieses Widerspruchs für die Politik der Herrschenden werden exemplarisch am Fall Deutschland deutlich. So verdankte der Nationalsozialismus seinen Aufstieg in den 30er Jahren nicht nur dem desolaten Zustand einer geschlagenen, verratenen und enthaupteten Arbeiterklasse, sondern auch dem nicht minder desolaten Zustand der deutschen Wirtschaft im Besonderen und der Weltwirtschaft im Allgemeinen. Es war unter anderem der damals allseits praktizierte Protektionismus – als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise -, die Abschottung der nationalen Volkswirtschaften, die die deutsche Bourgeoisie dazu veranlasste, die Karte des Nationalsozialismus zu ziehen, dessen politisches Programm im Kern in der Überhöhung der deutschen Nation und in der Ersetzung des Welthandels durch schlichten Raub mit militärischen Mitteln bestand.
Zurzeit befindet sich die kapitalistische Gesellschaft in einer Krise, die noch schlimmer ist als die Weltwirtschaftskrise, die 1929 die Welt heimsuchte. Dennoch fristet der rechte Flügel der deutschen Bourgeoisie ein marginales Dasein. Deutschland ist so gut wie das einzige Land in Europa ohne eine nennenswerte rechtspopulistische oder rechtsextreme Massenbewegung. Und dies nicht ohne Grund. Anders als in den 30er Jahren, als besonders der deutsche Kapitalismus unter den vorherrschenden protektionistischen Tendenzen in der Weltwirtschaft litt, profitiert heute keine andere Volkswirtschaft von der Öffnung aller Grenzen für den Warenhandel so stark wie die deutsche. Als eine der führenden Exportnationen der Welt hat das deutsche Kapital nicht das geringste Interesse am „nationalen Programm“ einer NPD. Europa-feindliche Tendenzen können vielleicht die auf das Niveau einer Splitterpartei abgesunkene FDP erschüttern, für die herrschenden Kreise hierzulande sind sie irrelevant. Unfähig, die Gesellschaft mit politischen Mitteln zu erobern, ohne jegliche Perspektive einer Massenbewegung nach dem Vorbild des Nationalsozialismus ist es nur folgerichtig, dass einige Desperados aus dem rechtsextremen Milieu in den nackten Terror flüchten und völlig irrationale Taten begehen, Taten, die weder für die NPD als einzig verbliebene politische Organisation am rechten Saum der Gesellschaft noch für irgendeine Fraktion innerhalb der deutschen Bourgeoisie von Nutzen sind. Im Gegenteil.
Heute hat vielmehr die Stunde der Demokraten, der Antifaschisten und besonders der bürgerlichen Linken geschlagen, ist die Demokratie längst zur adäquatesten Herrschaftsform des Kapitalismus in den westlichen Industrieländern, auch in Deutschland geworden. Nur sie und ihre Protagonisten sind in der Lage, den Gegensatz zwischen den nationalen Interessen und den Anforderungen eines entfesselten Weltmarktes zu übertünchen. Dies lässt sich am besten an der Ausländerpolitik illustrieren: Während die Rechte des Kapitals mit ihrer Losung „Deutschland dem deutschen Volk!“ nicht nur völlig an der Realität einer Arbeiterklasse in Deutschland vorbeigeht, die schon längst international geworden ist, sondern auch den demographischen Wandel ignoriert, der die deutsche Bourgeoisie zum „brain drain“ (d.h. zur Rekrutierung von ausgebildeten Arbeitskräften in der 3. Welt) geradezu zwingt, weiß die Linke des Kapitals sehr wohl zu unterscheiden zwischen „nützlichen Ausländern“ – beispielsweise IT-Spezialisten aus Indien –, die sie willkommen heißt, und den unerwünschten Elendsflüchtlingen aus Afrika. Während die rechten Glatzen mit roher Gewalt und zur Empörung der Mehrheit der Bevölkerung Fremde mit südländischem Aussehen terrorisieren, lassen die Technokraten des demokratischen Regimes die Wirtschaftsflüchtlinge diskret und unter Ausschluss der Öffentlichkeit auf hoher See verrecken und schieben jene, denen die Flucht ins „Gelobte Land“ gelungen ist, geräuschlos ab, wobei sie bewusst den Tod vieler dieser Flüchtlinge in Kauf nehmen. Während die Rechten die EU uneingeschränkt ablehnen und den Austritt Deutschlands fordern, was auf eine katastrophale Isolierung des deutschen Kapitals auf dem Weltmarkt hinauslaufen würde, halten die etablierten Parteien trotz aller Krisen unbeirrt an dem Projekt eines gemeinsamen europäischen Raumes fest, weil sie wissen, dass es den nationalen Interessen Deutschlands am besten gerecht wird. Und während die Neonazis mit ihrer irren Version einer „Volksgemeinschaft“ allenfalls bei einigen Dörflern in Brandenburg oder Mecklenburg auf Gegenliebe stoßen, erweist sich das Modell einer „pluralistischen Demokratie“ heute als das effektivste Mittel der Bourgeoisie, um der aufkeimenden sozialen Unruhe Herr zu werden.
So mag der Rechtsextremismus in seiner gewalttätigsten Form, wie er sich in Gestalt stiernackiger Glatzen, aber auch des Terror-Trios äußert, eine Gefahr für Leib und Leben einzelner Angehöriger der Arbeiterklasse sein, doch auf politischer Ebene droht die wirkliche Gefahr für die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit von der anderen Seite, vom linken Arm des bürgerlichen Herrschaftsapparates. Nicht nur, dass er in seiner gewerkschaftlichen Ausprägung einen enormen Erfahrungsschatz hat, um Arbeiterkämpfe zu sabotieren; darüber hinaus sorgt er mit seiner Verteidigung der bürgerlichen Demokratie und somit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse dafür, dass der Schoß, aus dem der Faschismus einst kroch, fruchtbar bleibt. 2.1.2012
Die Losung „Den Kapitalismus demokratisieren“, die bei der Besetzung von St. Paul auf dem Gelände der Universität von Tent City aufkam, löste scharfe Debatten aus, die letztendlich dazu führten, dass das Banner mit dieser Losung entfernt wurde.
Dieser Ausgang zeigt, dass die Besetzungen von St. Paul, UBS und anderswo den Boden für sehr fruchtbare Diskussionen unter all jenen geschaffen haben, die mit dem gegenwärtigen gesellschaftlichen System unzufrieden sind und nach einer Alternative Ausschau halten. „Den Kapitalismus demokratisieren“ ist keine wirkliche Option, spiegelt aber die Auffassung vieler Menschen wider, die sich an den Besetzungen und Treffen beteiligten, die sie generiert haben. Immer wieder wird der Gedanke verbreitet, dass der Kapitalismus menschlicher gestaltet werden könnte, wenn die Reichen mehr Steuern zahlen, wenn die Banker ihre Boni verlieren, wenn die Finanzmärkte besser kontrolliert werden oder wenn der Staat die Wirtschaft mehr in die eigenen Hände nehmen würde.
Selbst Spitzenpolitiker springen auf diesen Zug auf. Cameron will den Kapitalismus moralischer machen, Clegg möchte, dass die ArbeiterInnen sich mehr Aktien aneignen können, Miliband ist gegen den „Raubtierkapitalismus“ und will mehr staatliche Regulierung.
Doch all das, was da von den Politikern des Kapitals kommt, ist nur leeres Geschwätz, eine Nebelkerze, die uns daran hindern soll zu sehen, was Kapitalismus ist und was nicht.
Der Kapitalismus ist ein ganz eigenes Stadium in der Geschichte der menschlichen Zivilisation. Er ist die letzte in einer Reihe von Gesellschaften, die auf der Ausbeutung der Mehrheit durch eine Minderheit fußen. Er ist die erste menschliche Gesellschaft, in der die gesamte Produktion von dem Bedürfnis angetrieben wird, einen Profit auf dem Markt zu erzielen. Er ist daher die erste Klassengesellschaft, in der all die Ausgebeuteten ihre Fähigkeit zu arbeiten, ihre „Arbeitskraft“, an die Ausbeuter verkaufen müssen. Während also im Feudalismus die Leibeigenen mit Gewalt dazu gezwungen wurden, ihre Arbeit bzw. ihre Produkte direkt an den Fronherrn abzuliefern, wird uns im Kapitalismus die Arbeitszeit auf subtilere Weise, durch das Lohnsystem, genommen.
Es macht daher keinen Unterschied, ob die Ausbeuter in Gestalt privater Bosse oder als Funktionäre der „Kommunistischen Partei“ wie in China oder Nordkorea organisiert sind. Solange Lohnarbeit existiert, herrscht der Kapitalismus. Wie Marx es formuliert hatte: „Das Kapital setzt also die Lohnarbeit, die Lohnarbeit setzt das Kapital voraus“ (Lohnarbeit und Kapital).
Der Kapitalismus ist in seinem Innersten das gesellschaftliche Verhältnis zwischen der Klasse der LohnarbeiterInnen (die die Arbeitslosen miteinschließt, da die Arbeitslosigkeit Teil der Bedingungen jener Klasse ist) und der ausbeutenden Klasse. Der Kapitalismus ist der entfremdete Reichtum, der von den ArbeiterInnen produziert wird – einer Kraft, die von ihm selbst geschaffen wurde, die ihm aber als unerbittlicher Feind gegenübersteht.
Doch auch wenn die Kapitalisten von diesem Arrangement profitieren, können sie es nicht wirklich kontrollieren. Das Kapital ist eine unpersönliche Kraft, die sich letztendlich ihrem Zugriff entzieht und sie gar beherrscht. Daher ist die Geschichte des Kapitalismus eine Geschichte der wirtschaftlichen Krisen. Und seitdem der Kapitalismus zu einem globalen System geworden ist, rund um den Beginn des 20. Jahrhunderts, ist die Krise mehr oder weniger permanent geworden, ob sie nun die Form eines Weltkriegs oder einer weltweiten Depressionen annimmt.
Und gleich welche Wirtschaftspolitik, die die herrschende Klasse und ihre Staaten ausprobieren, ob Keynesianismus, Stalinismus oder staatlich gestützter „Neoliberalismus“, die Krise wurde nur tiefer und unlösbarer. Verzweifelt ob der ökonomischen Sackgasse, verfangen sich die verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse und die mannigfaltigen Nationalstaaten, in denen sie organisiert ist, in einer Spirale der gnadenlosen Konkurrenz, militärischen Konflikten und ökologischen Verwüstungen, die sie zwingen, immer „unmoralischer“ und „räuberischer“ auf ihrer Jagd nach Profiten und strategischen Vorteilen zu werden.
Die kapitalistische Klasse ist der Kapitän eines sinkenden Schiffs. Niemals war die Notwendigkeit, sie ihres Kommandos über den Planeten zu entheben, drängender wie heute.
Doch dieses System, der extremste Ausdruck der Entfremdung des Menschen, hat auch die Möglichkeit einer neuen und wahrhaft menschlichen Gesellschaft geschaffen. Es hat Wissenschaften und Technologien in Bewegung gesetzt, die zum Nutzen aller umgewandelt und verwendet werden könnten. Es hat daher die Möglichkeit eröffnet, dass die Produktion direkt auf den Konsum ausgerichtet werden kann, ohne die Vermittlung durch das Geld oder den Markt. Es hat den Globus vereint oder zumindest die Voraussetzungen für seine wahre Vereinigung geschaffen. Es hat es somit plausibel gemacht, das gesamte System der Nationalstaaten mit ihren pausenlosen Kriegen abzuschaffen. Zusammengefasst hat es den alten Traum einer menschlichen Weltgemeinschaft sowohl notwendig als auch möglich gemacht. Wir nennen diese Gesellschaft Kommunismus.
Für die ausgebeutete Klasse, die Klasse der Lohnarbeit, gibt es kein Interesse daran, Illusionen über das System zu hegen, mit dem sie konfrontiert ist. Sie ist der potenzielle Totengräber dieser Gesellschaft und der Erbauer einer neuen. Doch um dieses Potenzial zu realisieren, muss sie sich vollkommen im Klaren darüber sein, für und gegen was sie kämpft. Die Ideen über die Reformierung oder „Demokratisierung“ des Kapitals sind so viele Hindernisse auf dem Weg zu dieser Klarheit.
Als könne man den Kapitalismus menschlicher gestalten, behauptet heutzutage jedermann für die Demokratie zu sein, möchte jedermann eine demokratischere Gesellschaft. Und deshalb können wir die Idee der Demokratie nicht für bare Münze nehmen, wie irgendeine abstrakte Idee, dem wir alle zustimmen können. Wie der Kapitalismus hat die Demokratie eine Geschichte. Als ein politisches System konnte die Demokratie im antiken Athen mit der Sklaverei und unter Ausschluss der Frauen koexistieren. Unter dem Kapitalismus kann die parlamentarische Demokratie mit dem Machtmonopol einer kleinen Minderheit koexistieren, die sich nicht nur den wirtschaftlichen Reichtum, sondern auch die ideologischen Mittel angeeignet hat, um das Denken (und das Abstimmungsverhalten) der Menschen zu beeinflussen.
Die kapitalistische Demokratie hält der kapitalistischen Gesellschaft den Spiegel vor, die uns alle in isolierte wirtschaftliche Einheiten umwandelt, die gegeneinander auf dem Markt konkurrieren. Theoretisch konkurrieren wir unter gleichen Bedingungen, doch die Realität ist, dass der Reichtum sich in immer weniger Händen konzentriert. Wir sind gleichfalls isoliert, wenn wir als individuelle Bürger die Wahlkabine betreten, und genauso fern von der Ausübung jeglicher realen Macht.
In den Diskussionen, die die vielen Besetzungen und Bewegungen der öffentlichen Versammlungen von Tunesien und Ägypten bis Spanien, Griechenland und den USA angeregt haben, hat es eine mehr oder weniger kontinuierliche Konfrontation zwischen zwei Flügeln gegeben: auf der einen Seite gab es jene, die nicht weitergehen wollen, als das herrschende Regime demokratischer zu machen, die dabei stehenbleiben, Tyrannen wie Mubarak loszuwerden und ein parlamentarisches System einzuführen oder Druck auf die etablierten politischen Parteien auszuüben, so dass diese den Forderungen der Straße mehr Gehör zu schenken. Und auf der anderen Seite haben wir jene, die, auch wenn sie noch eine kleine Minderheit sind, zu sagen beginnen: Wozu brauchen wir ein Parlament, wenn wir uns selbst in Versammlungen organisieren können? Können parlamentarische Wahlen etwas ändern? Können wir Formen wie die Versammlungen benutzen, um die Kontrolle über unser eigenes Leben zu übernehmen – nicht nur auf den öffentlichen Plätzen, sondern auch auf den Baustellen, in den Fabriken und Werkstätten?
Diese Diskussionen sind nicht neu. Sie sind ein Nachhall jener Debatten, die in der Zeit der Russischen und Deutschen Revolution am Ende des I. Weltkrieges stattgefunden haben. Millionen waren gegen ein kapitalistisches System in Bewegung geraten, das durch das Abschlachten von Millionen an den Kriegsfronten bereits gezeigt hat, dass es aufgehört hat, eine nützliche Rolle für das menschliche Geschlecht zu spielen. Doch während manche sagten, dass die Revolutionen nicht über die Installierung eines „bürgerlich-demokratischen“ Regimes hinausgehen dürfen, gab es andererseits auch jene – damals recht beträchtlich an Anzahl -, die sagten: Das Parlament gehört der herrschenden Klasse. Wir haben unsere eigenen Versammlungen gebildet, Fabrikkomitees, Sowjets (Organisationen, die auf allgemeinen Versammlungen mit gewählten und jederzeit abwählbaren Delegierten basierten). Diese Organisationen sollten die Macht übernehmen, die dann in unseren Händen bleibt – der erste Schritt zu einer Umorganisierung der Gesellschaft von unten nach oben. Und für einen kurzen Augenblick, ehe ihre Revolution durch Isolation, Bürgerkrieg und innere Degeneration zerstört wurde, übernahmen die Sowjets, die Organe der Arbeiterklasse, die Macht in Russland.
Es war ein Moment einer unerhörten Hoffnung für die Menschheit. Die Tatsache, dass sie sich zerschlagen hatte, sollte uns nicht davon abhalten: Wir müssen aus unseren Niederlagen und aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Wir können den Kapitalismus nicht demokratisieren, weil er mehr denn je eine monströse und zerstörerische Kraft ist, die die Welt in den Ruin stürzen wird, es sei denn, wir zerstören ihn. Und wir werden dieses Monster nicht los, indem wir die Institutionen des Kapitalismus nutzen. Wir benötigen Organisationen, die wir kontrollieren und mit denen wir den revolutionären Wandel einleiten können, der unsere einzige Hoffnung verbleibt.
Amos, 25.1.2012
Oberflächlich betrachtet, ist - falls es überhaupt möglich ist, die gegenwärtigen Kriege gegeneinander abzuwägen - der aktuelle Konflikt zwischen der Hamas und Israel um den Gazastreifen nicht einmal das schlimmste Gemetzel, das derzeit stattfindet. Ruandische „Rebellen“, die von Großbritannien gestützt werden, töteten und vergewaltigten sich ihren Weg tief in das Kernland der so genannten Demokratischen Republik Kongo, die selbst ein breites Betätigungsfeld für Massaker, Kinder-Soldaten, Vergewaltigungen und Terror darstellt. All dies wird, wenngleich nicht direkt inszeniert, so doch geduldet von den Großmächten, während die Vereinten Nationen zuschauen. Auch weiter nördlich, in der Sahel-Zone, Massentötungen von Zivilisten, Vergewaltigungen, Kinder-Soldaten, Großmachtmanöver und –rivalitäten neben der elenden Barbarei des religiösen Fundamentalismus. Im Schatten der jüngsten israelischen Operation „Säule der Verteidigung“ ging unterdessen das Gemetzel in Syrien weiter. Doch der Konflikt zwischen Israel und Palästina löst ein besonderes Echo unter den Revolutionären aus, weil in ihm die permanente Militarisierung zum Ausdruck kommt, die das Kennzeichen eines zerfallenden Systems ist. Was immer seine Besonderheiten, Strategien und „Begründungen“ sind - der israelisch-palästinensische Konflikt ist vor allen Dingen der Ausdruck eines zerfallenden Kapitalismus, der eine enorme Bedrohung für die Arbeiterklasse und für die gesamte Menschheit darstellt. Seine Absurdität und Irrationalität fasst perfekt die Zukunft zusammen, die dieses krisengeschüttelte System für uns und den kommenden Generationen in petto hält. Es kann hier keinen Frieden geben, keine substanziellen Verhandlungen, und jegliche mögliche israelisch-palästinensische „Zwei-Staaten-Lösung“, wenn sie denn jemals das Tageslicht erblickt, würde nur ein weiterer Faktor zu noch größerer Instabilität und zu noch mehr Kriegen sein. Der Nahe Osten zeigt heute, wie die Nationen und Cliquen unvermeidlich auf wachsende Spannungen, Rivalitäten und militärische Konkurrenz zusteuern. Jede größere Nation ist zu einem militärischen Monster geworden, und sämtliche nationalstaatliche Kreationen sind nach ihrem eigenen Bilde geschaffen worden, wobei jede aufstrebende Clique bzw. „nationale Befreiungskraft“ ebenfalls monströser Ausdruck des universellen Zerfalls ist. Israel und die „palästinensische Frage“ zeigen dies in höchstem Maße.
2009 ist Professor Havard Hegre vom Fachbereich für Politwissenschaften an der Osloer Universität zusammen mit dem Friedensforschungsinstitut zu dem Schluss gekommen, dass „die Anzahl bewaffneter Konflikte zurückgeht“ und „der Rückgang anhalten wird“. (1) Es ist die imperialistische Version der Leugnung der Wirtschaftskrise und der Vorstellung eines immerwährenden mehr oder weniger friedlichen Kapitalismus. Es ist pure Fiktion! Wir haben oben bereits die Kriege in Afrika und Nahost erwähnt, Kriege, die alle Anzeichen der Ausbreitung und Verschärfung in sich tragen. Wir können ferner den Krieg in Libyen hinzufügen, den der gute Mann zusammen mit dem Krieg in Syrien als „Demokratisierungsprozess“ etikettiert, als ob dies irgendeine Art von Entschuldigung ist; aus seinem Blickwinkel und nach Auffassung vieler bürgerlicher Akademiker kann der Kapitalismus ein Gleichgewicht aufrechterhalten, wird er immer humaner, ja schreitet zum ewigen Leben fort. Zu den Kriegen oben können wir den anhaltenden Krieg im Irak hinzufügen, der mehr und mehr droht, sich mit einem Krieg in Syrien zu verbinden, oder die „kurdische Frage“, die ein Krieg für sich und ein potenzieller Krieg über etliche Ländergrenzen hinweg ist, auch hier mit der Gefahr, sich mit dem syrischen Krieg zu verbinden. Dann gibt es den Krieg in Afghanistan und Pakistan und die De-facto-Kriegserklärung der westlichen Mächte gegen ein von Russland und China gestütztes Iran (in einer Konstellation ähnlich der Syriens); nicht zu vergessen die unzähligen Spannungen und Rivalitäten, die von einem aggressiven und heißhungrigen chinesischen Imperialismus ausgehen. Und wir müssen die fragilen und militarisierten Verwerfungslinien auf dem Balkan, dem Kaukasus und in den ehemaligen Sowjetrepubliken, in Afrika (Somalia, die Sahel-Zone, der Kongo) hinzufügen. Wo wir auch hinschauen, erblicken wir immer mächtigere Tendenzen nicht in Richtung Frieden, Vernunft und Kohärenz, sondern in Richtung Zusammenhanglosigkeit, Fragmentierung, sehen wir zentrifugale, separatistische Tendenzen, die in den ökonomisch verhältnismäßig schwächeren Gebieten der Welt einen Rutsch in die permanente Militarisierung und den Krieg anzeigen. Dies ist eine direkte Konsequenz aus einem Wirtschaftssystem, das nach all seinem früheren Ruhmes nun auf dem letzten Loch pfeift.
Der Nahe Osten setzt sich aus ökonomisch zusammenhangslosen Territorien zusammen, wo ethnische und religiöse Spaltungen von allen wichtigen imperialistischen Mächten zum Gegenstand ihrer Manipulationen und Manöver gemacht werden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als das kapitalistische System sich über den Globus ausgebreitet hatte, gab es keinen Platz mehr für irgendwelche neu expandierenden, realen Nationen. Länder wie der Irak, der Jemen, Jordanien, Syrien, der Libanon, Israel und die palästinensischen „Territorien“ waren durchweg Kreationen, oder besser: Missgeburten, des Imperialismus im Allgemeinen und des britischen und französischen Imperialismus (2) im Besonderen, der die willkürlich erzwungenen Grenzen dieser neu geschaffenen Länder benutzte, um „zu spalten und zu herrschen“ und so seine eigenen imperialistischen Interessen durchzusetzen. Später nutzten die USA die terroristischen Fraktionen des Zionismus, um die Briten zu verdrängen, und noch später, während des Kalten Krieges, nutzte Russland die gesamte Region als einen seiner Tummelplätze, um den USA die Stirn zu bieten. Wie all die oben erwähnten arabischen Staaten, die übrigens mehr Palästinenser auf dem Gewissen haben als die Israelis, ist der israelische Staat ein Ausdruck des Militarismus und Krieges, der mit der Vertiefung der Wirtschaftskrise immer instabiler werden wird.
Als der Kapitalismus noch ein pulsierendes, fortschrittliches und expandierendes System gewesen war, waren Krieg und Spaltungen zwar ebenfalls Bestandteil von ihm, doch im Allgemeinen tendierte das System zu einer gewissen Kohärenz hinsichtlich des Aufbaus und der Vereinheitlichung des Nationalstaates. Auch religiöse, ethnische und andere Faktoren neigten dazu, sich für das übergeordnete Wohl einer effektiveren kapitalistischen Akkumulation in einer Nation zu verschmelzen. Dies geschah nicht aufgrund der „moralischen Überlegenheit“ des Kapitalismus, sondern entsprang seinem fundamentalen Bedürfnis nach erfolgreicher Ausbeutung und Expansion. In der Dekadenz sehen wir jedoch, dass die Bildung neuer Staaten nicht zur Integration unterschiedlicher Gruppierungen der Gesellschaft in eine höhere kapitalistische Einheit führt, sondern oft in ethnischen „Säuberungen“, in der Stärkung rassischer, religiöser und ethnischer Spaltungen, in der Vertreibung oder Ghettoisierung verschiedener Gruppen mündet. Wir haben oben bereits den Balkan, den Kaukasus, die ehemaligen Sowjetrepubliken erwähnt, und wir können den indischen Subkontinent hinzufügen – Regionen, in denen viele dieser „Nationen“ aus imperialistischem Kalkül geschaffen wurden und deren eigentliche Existenz sich auf ethnischen und religiösen Spannungen, auf Zentrifugalkräften und dem Jeder-für- sich gründet. Genau dasselbe trifft auf die „Nationen“ des Nahen Ostens zu: Jordanien, Syrien, etc. und besonders Israel, dessen Besonderheit und Existenz als Bollwerk exakt den allgemeinen Niedergang des Kapitalismus widerspiegelt. Viele dieser Nationen sind keine lebensfähigen Wirtschaftseinheiten; sie hängen zumeist von einem größeren imperialistischen Hai (oder von mehreren Haien) ab und geraten in den Fokus größerer Spannungen. Sie drücken nicht ein positives Vorwärtsstreben aus, sondern sind vielmehr eine Fessel für die Produktivkräfte.
Doch bedeutet dies, dass es in Nahost keine „Begründungen“ in dieser Gleichung gibt, dass keine strategischen und wirtschaftlichen Motive am Werk sind (Ölförderung und –verkauf zum Beispiel, wahltaktische Motive, andere taktische Erwägungen usw.)? Nein, es gibt ganze Knäuel von ihnen. Im Nahen Osten kommen sie dick und verworren daher, doch der Punkt ist, dass sie alle zusammen gegenüber der überwältigenden Tendenz zum Zusammenbruch zweitrangig sind. In der Absurdität der Verteidigung von Grenzen, der willkürlichen Spaltungen und im Rahmen einer unüberwindbaren Ausweglosigkeit, die von einer sich vertiefenden Krise noch verschlimmert wird, können sie faktisch nur zu eben jenem Zusammenbruch beitragen. Diese teuflische Spirale der Zerstörung wird nicht stoppen und kann nicht abgeschwächt oder wegverhandelt werden. Was immer die Bourgeoisie anzustellen versucht, um die Lage zu „regeln“, es macht die Lage nur noch zerbrechlicher, und dies wird in Nahost veranschaulicht. Hier konnte man zuerst die klarsten Anzeichen einer Schwächung des Weltgendarmen, den USA, sehen, deren Einflussbereich überspannt und beeinträchtigt wird, was wiederum noch zentrifugaleren Tendenzen Tür und Tor öffnet. Dieses Phänomen einer Gesellschaft, die zerrissen wird in einer Reihe von Kriegen mit unterschiedlichen ethnischen, religiösen und rassischen Gruppen, von denen eine jede für verborgene imperialistische Interessen steht, ist ein typischer Ausdruck der dekadenten Gesellschaft – eine Wiederauflage dessen, was das römische Imperium und das feudale Europa in der Epoche ihres Niedergangs erlebt hatten.
Wenn es denn je Präsident Netanjahus Absicht war, seine politische Stellung zu stärken, indem er Mitte November, nach den US-Wahlen und noch vor den israelischen Wahlen im kommenden Januar, die Operation „Säule der Verteidigung“ in Gang setzte, so hat er sich gründlich verrechnet. Hamas, die in den letzten Jahren erheblich an Glaubwürdigkeit im Gaza-Streifen eingebüßt hatte, ist enorm gestärkt aus dem Acht-Tage-Krieg hervorgegangen. Die Brutalität der israelischen Antwort, die Geschützfeuer durch Panzer und Marine, Attacken von Hubschraubern und Kampfjets gegen den schmalen, dicht besiedelten Gaza-Streifen umfasste, hat sich als eine politische Fehlzündung erwiesen. Hamas, die zusammen mit ihren noch fundamentalistischeren „Verbündeten“ von eben jenen dicht besiedelten Gebieten aus monatelang Raketen auf Israel abgefeuert hatte, ist durch die Unterzeichnung einer Waffenruhe mit Israel und durch weitere Gespräche über „Erleichterungen“ im Transport von Menschen und Waren in den und aus dem Gaza-Streifen aufgewertet worden. Umgekehrt hat Hamas zugesagt, dass es die Raketenangriffe gegen Israel stoppen wird, und sich zu diesem Zweck auch gegenüber den militanteren Gruppen wie den Islamischen Dschihad gewappnet. Hamas ging auch gegenüber den palästinensischen Autonomiebehörden des Mahmoud Abbas in der Westbank gestärkt hervor, wo die Aktien von Hamas zum Nachteil Ersterer stiegen. Dies ist der Grund für die Warnung, die Abbas in dieser Woche an Europa und die USA richtete (The Guardian, 28.11.12), dass die palästinensische Autonomiebehörde ein paar Krümel von „Eigenstaatlichkeit“ (die den Palästinensern eine Art von Vatikan-Status in der UN verleihen soll) erhalten müsse, oder Hamas werde weiter gestärkt. Zur Enttäuschung der USA und des Restes des Nahost-Quartetts (der Sondergesandte Tony Blair) ist Hamas mehr in den ganzen Prozess eingebunden worden; ihre Isolation ist mit Unterstützung nicht nur des Iran, sondern auch Katars, Tunesiens, Ägyptens (Offizielle aus allen drei genannten Ländern haben kürzlich Gaza besucht) und anderer durchbrochen worden. Der britische Außenminister Hague hat die von Ägypten vermittelte Waffenruhe als „einen wichtigen Schritt zu einem dauerhaften Frieden“ begrüßt. Natürlich ist nichts dergleichen wahr, aber es zeigt, wie Hamas und die kleineren Gruppierungen nun von all jenen mit berücksichtigt werden müssen, die sie einst zu isolieren versuchten. Die US-Administration wusste, dass eine israelische Invasion in Gaza angesichts der geopolitischen Aspekte eine Katastrophe wäre und gab dem Abkommen von Ägypten und Hamas bezüglich eines Waffenstillstandes zähneknirschend ihren Segen.
Ein anderer Gewinner in dem heiklen Prozess ist der Führer der Muslimbruderschaft und ägyptische Präsident, Mohammed Mursi, der sich zusammen mit seinem Spionagechef Mohammed Shehata mit dem Hamas-Führer Khaled Mashaal und dem Führer des Islamischen Dschihad, Ramadam Shalah, getroffen hat (Christian Science Monitor, 22. November), um den Deal auszuhandeln, den Hillary Clinton höchstpersönlich im Namen der US-Administration begrüßen musste. Nur ein paar Monate zuvor hatten die USA noch versucht, Mursis wachsenden Einfluss zu untergraben, und im Moment prangern die USA, wie um die Unbeständigkeit und Zerbrechlichkeit der gesamten Region zu unterstreichen, Mursi und seine Muslimbruderschaft an, nur wenige Tage nach dem Waffenstillstands-„Triumph“ diktatorisch und im Stile Mubaraks die ganze Macht zu ergreifen. (3)
Ein weiterer Faktor in dieser imperialistischen Jauchegrube ist, dass, ginge es nach Israel, Ägypten mehr Verantwortung für die Hamas übernimmt; entsprechend dieser Sichtweise könnten die Westbank und Gaza – an beiden Enden Israels – weiter voneinander isoliert werden, wenn Ägyptens „Kontrolle“ über den Gazastreifen verstärkt werden könnte. Mursi hat solch ein Ansinnen von sich gewiesen und möchte nicht, dass Israel das Gaza-Problem auf Ägypten abwälzt. Zwar hat es Spannungen und eine gewisse Distanzierung zwischen der Hamas und ihrem früheren Sponsor, den Iran, in der Frage des Krieges in Syrien gegeben (ein Vakuum, das sogleich Katar füllte), doch hat es angesichts der vermeintlichen Rolle, dass die iranische Waffen (insbesondere panzerbrechende Waffen) die Hamas in die Lage versetzten, die Israelis von einer Bodenoffensive gegen den Gaza-Streifen abzubringen, den Anschein einer Wiederaufwärmung dieser Beziehungen. Es ist keine Überraschung, dass es Risse in der Hamas bezüglich ihrer Beziehungen zum Iran gibt, was ein weiterer komplizierender Faktor ist. Es gibt Misstrauen zumindest seitens Saudi-Arabiens wie auch der Vereinten Arabischen Emirate, einem Hauptinvestor in Ägypten, gegenüber der Muslimbruderschaft in Ägypten. Dann gibt es das zweideutige Verhalten der Bruderschaft gegenüber dem Iran, typisch für die seit jeher verwickelten Beziehungen in Nahost. Der Aufstieg der Muslimbruderschaft ist ein weiterer unkalkulierbarer Faktor; ihre wachsenden Aktivitäten in Jordanien tragen dazu bei, dass auch dieses Land immer instabiler wird. All dies schafft neben den Hauptbrennpunkten Syrien und Iran weitere Probleme für den US-Imperialismus und seine Strategie des „Light Footprint“ (etwa: Leichter Fußabdruck) für den Nahen Osten (da er seine Hauptprioritäten für den pazifischen Raum und angesichts der wachsenden Bedrohung seiner Vorherrschaft in dieser Region, die von China ausgeht „neu gewichtet“ und „austariert“).
Hingegen herrschte 2008/09, zurzeit des letzten Einfalls Israels in den Gaza-Streifen, eine verhältnismäßige „Ruhe“ an den Grenzen zu Syrien und dem Libanon, während die Türkei noch freundschaftliche Beziehungen zu Israel unterhielt, auf Mubarak in Ägypten Verlass war und die Spannungen zwischen den USA und dem Iran noch nicht so ausgeprägt waren. Nun ist die Situation weitaus unkalkulierbarer, weil etliche dieser Nationen ihr eigenes Spiel spielen und so die Tendenzen zu einem Jeder-Für-sich-selbst vertiefen.
Die „Führer“ der staatenlosen palästinensischen Bourgeoisie, Fatah, Islamischer Dschihad und Hamas, haben ihrer Bevölkerung nichts anzubieten außer wachsendes Elend und „Märtyrertum“. Sie sind nichts anderes als ein Ausdruck der Verzweiflung und des Hasses; ihr Ziel ist es, so viele israelische Zivilisten wie möglich zu töten. Sie können keine konstruktive Alternative anbieten, sondern – ähnlich den Warlords in Afrika, deren Kinderarmeen, ein weiteres Phänomen des zerfallenden Kapitalismus, töten, vergewaltigen und plündern – stiften lediglich verzweifelte junge Palästinenser im Namen ihrer leeren nationalistischen Projekte zur Rache und zu rasender Zerstörungswut an. Und der israelische Staat treibt mit täglichen Demütigungen, „Kollektivbestrafungen“, Landnahmen, ungezielten Schießereien und Raketenangriffen, bei denen Zivilisten, die sich zufällig in der Nähe von palästinensischen Gangstern befinden, in die Luft gejagt werden, die Spirale von Terror und Gewalt weiter an.
Trotz aller Repression und permanenter Kriegsatmosphäre gibt es im Nahen Osten viele Anzeichen des sozialen Protestes gegen die Krise des Kapitalismus und die Führer aller Seiten: In den letzten paar Jahren erlebten wir sozialen Proteste in Israel, im Gaza-Streifen, in der Westbank und erst kürzlich in Jordanien; und diese Bewegungen richteten sich hauptsächlich gegen grundlegende Dinge wie Preiserhöhungen bei den Nahrungsmitteln, der Stromversorgung, etc. wie auch gegen alle Regimes, die zu solchen Maßnahmen greifen. Solche Bewegungen müssen, auch wenn sie nicht revolutionär an sich sind, von der Arbeiterklasse begrüßt werden, da sie zeigen, dass selbst unter diesen militarisierten und brutalen Regimes und trotz des Hasses und der Feindseligkeiten, die von den herrschenden Cliquen erzeugt werden, es immer noch den Willen und die Bereitschaft gibt, zurückzuschlagen. Wenn viele ArbeiterInnen in diesen Regionen an den Protesten teilgenommen hatten, so taten sie dies größtenteils als Individuen und nicht als eine eigene, unabhängige Kraft. Der nächste Ausdruck hierfür ist Ägypten, wo die organisierte Arbeiterklasse als realer Faktor im Klassenkampf auftrat und auftritt. Doch die Realität der Arbeiterklasse in diesen Gebieten rund um Israel ist, dass sie zu schwach ist und ohne ihre Brüder und Schwestern in den zentraleren kapitalistischen Nationen nur schwerlich einen Ausweg aus der Barbarei ihrer Umgebung finden wird.
Die sozialen Bewegungen in der Region um Israel, in denen sich die Arbeiterklasse engagiert, sind wichtig, aber sie sind, auch wenn sie die Bourgeoisie destabilisieren oder ihr Probleme bereiten können, nicht stark genug, um die herrschende Klasse auf Dauer zurückzudrängen – sie können es wegen ihrer eigenen Begrenztheit schlicht und einfach nicht. Als Aufschrei der Unterdrückten und Unterdrückten waren die sozialen Bewegungen in Nahost Teil einer internationalen Welle von Protesten, die immer noch nachhallen. Doch der Widerspruch hier ist, dass die Schwäche dieser positiven Bewegung so etwas wie ein Vakuum zurückgelassen hat, in das der Imperialismus eindrang, was zum Teil in den Kriegen in Libyen und Syrien mündete. Es hat ebenfalls zur weitergehenden Destabilisierung der Regimes beigetragen, was umgekehrt dazu tendierte, die Kontrolle der USA über die Region zu schwächen und zentrifugalere, „unabhängige“ Tendenzen in den Bourgeoisien vor Ort zu fördern. Selbst im Falle einer stärkeren Entwicklung des Klassenkampfes erwarten wir keine linear aufwärtsstrebende Bewegung der Kräfte gegen den Kapitalismus. Die Region des Nahen Ostens wird für die dort lebenden Ausgebeuteten und Unterdrückten besonders schwer sein, und dem Klassenkampf stehen angesichts eines ständig existenten, bedrohlichen Imperialismus harte Zeiten bevor. Allein signifikante Bewegungen des Klassenkampfes in den kapitalistischen Zentren können den Imperialismus zurückdrängen und die von ihm aufgezwungenen Fragmentierungen und Kriege in Frage stellen.
Baboon, 29.11.2012
(1) https://www-independent.co.uk/news/world/politics/the-future-of-war-is-l... [29].
(2) Siehe die drei Teile von „Bemerkungen über die Geschichte des Konfliktes im Nahen Osten“ in: Internationale Revue, Nr. 115, 117 und 118 (engl., franz. und span. Ausgabe).
(3) Die britische Bourgeoisie und Geheimdienste waren der Muslimbruderschaft wohlgesonnener gewesen. Sie haben sie in den 1940er und 1950er Jahren unterstützt, und es hat Berichte über ihre Unterstützung der Muslimbruderschaft in ihrer Funktion als Streitkräfte in Syrien im vergangenen Jahr gegeben. Wie im Falle Mubaraks und seines Spionagechefs Suleiman, die von den Briten voll und ganz gestützt wurden, liegt eine ähnliche Unterstützung für Mursi und seine üble Crew im Bereich des Vorstellbaren. Eine vom März 2012 datierte Pressemitteilung für die aktualisierte Version des Buchs von Mark Curtis, Secret Affairs: Britain’s Collusion with Radical Islam („Geheimsache: Großbritanniens Absprachen mit dem radikalen Islam“) stellt fest: „Offizielle des Außenministeriums hielten kürzlich etliche Treffen mit der Muslimbruderschaft ab, die in den britischen Medien unerwähnt blieben. Die Politik besteht darin, Großbritannien im Fall, dass die Bruderschaft eine Schlüsselrolle bei Ägyptens Übergang spielt, ‚abzusichern‘ und eine elf Milliarden Pfund teure Investition von BP zu schützen. Anfragen des Autors im Rahmen des Freedom of Information Act, um mehr Details zu diesen Treffen zu erhalten, wurden vom Außenministerium aus Gründen des ‚öffentlichen Interesses‘ nicht beantwortet.“
In den letzten Wochen haben einige abscheuliche Gewaltakte die ganze Welt aufgeschreckt. Anfang März lief der US Sergeant Robert Bales in Afghanistan in der Provinz Kandahar Amok. Er zog von Haus zu Haus und erschoss methodisch afghanische Zivilisten. Insgesamt hat er 16 Personen umgebracht, meist Frauen und Kinder (1). Mitte März hat in Toulouse und Montauban der junge algerisch stämmige Mohamed Merah zunächst 3 französische Soldaten kaltblütig erschossen, um dann in einer jüdischen Schule drei Kinder und einen Erwachsenen zu ermorden.
Was haben der Amoklauf des in Afghanistan stationierten US-Soldaten und die Serienmorde des jungen Mohamed Merah miteinander zu tun?
Mohamed Merah behauptete, er habe mit den Morden gegen das Burkaverbot in Frankreich, den Einsatz der französischen Armee in Afghanistan und die Situation in Palästina protestieren wollen. Bevor er nach einer Belagerung durch die Polizei von dieser erschossen wurde, bedauerte er, dass er nicht noch mehr Menschen erschossen habe. Das Motiv von Robert Bales ist bislang noch unbekannt. Offensichtlich ist, dass Merah durch eine möglichst große Zahl von Morden eine möglichst große Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. Rache und Vergeltung an den Militäraktionen und der Unterdrückung der Palästinenser trieben ihn. Bales dagegen rastete aus und wollte in seiner blinden Zerstörungswut möglichst viele Menschenleben auslöschen.
„I am going to help my country”
Wie kommt es, dass der Soldat Robert Bales, selbst Vater von 2 Kindern, Amok läuft?
Die New York Times berichtete am 17. März, dass Bales kurze Zeit nach den Anschlägen vom 11. September 2001 sich um die Aufnahme in die Armee bewarb. „I am going to help my country”, begründete er seinen Schritt. Vor Ort musste er bald die Erfahrung machen, dass das Leben der US-Soldaten (und all der anderen ISAF-Truppen) 24 h in Gefahr war. Tag für Tag mussten sie jeden Moment mit einem Angriff rechnen, meist mit heimtückischen und hinterlistigen Überraschungseffekten. In vier Einsätzen innerhalb von 10 Jahren im Irak und Afghanistan zog er sich eine Kopf- und eine Fußverletzung zu; am Tag vor seinem Amoklauf wurde er noch Zeuge einer Horrorszene, als ein ihn begleitender Soldat durch eine Bodenmine ein Bein verlor. Der Amoklauf Bales war keine Ausnahme.
Tatsache ist, die Kriegserfahrung ruft enorme psychische Schäden hervor. „Mehr als 200.000 Menschen (d.h. ein Fünftel aller Irak- und Afghanistan-Veteranen) haben sich seit Beginn der Kriege im Irak und in Afghanistan in Veteranen-Krankenhäusern behandeln lassen - alle wegen PTBS (posttraumatisches Belastungssyndroms -PTSD). Diese Zahl veröffentlichte die Tageszeitung "USA Today" im November
2011 unter Berufung auf eine Studie von Veteranen-Vereinigungen. Die Dunkelziffer der Erkrankungen dürfte aber deutlich höher liegen. (…) Das Militär spricht dagegen offiziell von "nur" rund 50.000 PTBS-Fällen.“ (https://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,822232,00.html [35]). Rund ein Drittel der Veteranen des Vietnam-Kriegs war schon mit massiven psychischen Problemen aus Vietnam zurückgekommen. Obwohl nur ein Prozent der US-Bevölkerung im Militär gedient hat, machen Kriegsveteranen rund 20 Prozent aller Suizide aus. Fast Tausend Veteranen versuchen sich jeden Monat das Leben zu nehmen. Wie Veteranen berichten: „Es ist grauenhaft. Krieg verändert dein Gehirn. Zwischen dem Krieg und dem Leben zuhause liegen himmelweite Unterschiede. Du veränderst dich, ob du willst oder nicht. Du kannst zuhause nicht mehr Fuß fassen.“ (www.tagesschau.de/thema/usa [36])
Der Fall Bales verdeutlicht: wenn man dem Patriotismus und Nationalismus den Finger reicht, wird man hineingezogen in eine Vernichtungsmaschinerie, in der man nicht nur das Leben des Feindes und dessen Zivilbevölkerung vernichtet bzw. schädigt, sondern die Soldaten selbst werden verstümmelt, seelisch und geistig angeschlagen, zutiefst verwundet. Während die herrschende Klasse mit ihren Ideologen Kriege beschönigen, indem sie von „humanitären Einsätzen“, Stabilisierungsmissionen“ usw. reden, all das zum „Schutz des Vaterlandes“, sieht die Wirklichkeit an den Kriegsschauplätzen ganz anders aus. Die Soldaten vor Ort geraten in einen Sog, wo ihr unvermeidbares Misstrauen in Hass oder in Paranoia umschlägt. Wenn sie nicht schon vor ihren Einsätzen zu Gewalttaten neigten oder psychisch angeschlagen waren, kehren viele spätestens nach ihren Einsätzen als zutiefst geschädigte Menschen zurück. Die angeblich „humanitären“ Einsätze entpuppen sich als Terrorherrschaft, mit Demütigung und Folter der Bevölkerung. Man entwickelt Genugtuung darin, Symbole, die von den Einheimischen hochgeschätzt werden, zu beschädigen oder zu vernichten, oder Menschen direkt und offen zu erniedrigen. Die in der Sackgasse steckende lokale Bevölkerung empfindet im Gegenzug nichts anderes als immer mehr Verachtung für die 'Befreier', und nicht wenige lassen sich dann mobilisieren für Selbstmordattentate. Die Tötungsmaschinerie ist voll in Gang gekommen.
Nach so vielen traumatischen Erlebnissen konnte der Amokläufer Bales nicht mehr sagen, „I want to help my country“, denn er war besonders wütend, dass ihm nach dem vierten Einsatz ein erneuter Einsatz in Afghanistan aufgebrummt worden war. Seiner Frau zufolge wären sie viel lieber im „ruhigen“ Deutschland, Italien oder Hawai stationiert worden. Stattdessen musste er wieder ins Inferno nach Afghanistan. Körper und Seele der meisten Soldaten werden verstümmelt, angeschlagen, verwundet! Verrohung und Brutalisierung nhmen ihren Lauf.. Und nach ihrer Rückkehr „in das verteidigte Vaterland“ wartet auf viele dann Arbeits- und Wohnungslosigkeit. Das Beispiel der Stadt Los Angeles spricht Bände. „In Los Angeles leben unendlich viele obdachlose Veteranen. Sie haben alles verloren. Ihre Arbeit, ihre Partnerschaft, ihr Zuhause. Alles wegen ihrer psychischen Erkrankungen und weil ihnen niemand geholfen hat. Etwa ein Drittel der 200.000 Obdachlosen in L.A. sind Veteranen.“ (www.tagesschau.de/thema/usa [36]) Die National Association of Probation Officers (Napo,Gewerkschaft der Bewährungshelfer) „schätzt, dass ca. 12.000 Kriegsveteranen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurden, ca. 8.500 sitzen hinter Gitter“. Diese Zahl von 20.000 Kriegsveteranen im Konflikt mit der Justiz ist doppelt so hoch wie die Zahl der in Afghanistan aktiven Soldaten.“
Read more: https://www.dailymail.co.uk/news/article-1216015/More-British-soldiers-prison-serving-Afghanistan-shock-study-finds.html#ixzz1qEGoRWsa [37]
In den USA droht dem Amokläufer Bales nun die Todesstrafe. Anstatt aufzuklären oder zu erklären, warum Patriotismus und Nationalismus notwendigerweise in Gewaltorgien und der Zerstörung der Opfer und Täter enden müssen, baut sich die US-Justiz jetzt als Ankläger und „Richter“ auf. Sie will sich die Hände reinwaschen, nachdem der Krieg und das Militär seine Soldaten so zugerichtet hat, dass sie ausrasten müssen. Die „Fürsorge“ der Armee-Psychologen hat vor allem ein Ziel: Die Kämpfer möglichst schnell wieder gefechtsbereit machen. Die Psychologin und Filmemacherin Jan Haaken hat in ihrem Dokumentarfilm "Mind Zone" aufzeigen können, worin die Rolle der „Seelsorger“ besteht: „Man sei nicht im Einsatz, um die Stärke der Truppe zu verringern. Im Zweifelsfall würden Soldaten für tauglich erklärt, solange sie "den Job erledigen können". https://www.democracynow.org/2012/3/16/mind_zone_new_film_tracks_therapists [38]
Welche verheerenden Wirkung die Kriege vor Ort auf die einheimische Bevölkerung haben, wird ohnehin meist verschwiegen.
Während sowohl die meisten Soldaten, (die sich anfänglich in der „Befreierrolle“ sehen) wie auch die Einheimischen große Schäden (physische und psychische) davontragen, erstickt das System selbst an den ökonomischen Kosten dieser Kriegsgeschwüre. Die USA, die mittlerweile in Afghanistan den längsten Krieg ihrer Geschichte führen, haben sich gigantische, sie erdrückende Kriegskosten aufgehalst . „Am Ende wird die Rechnung mindestens 3.7 Billionen $ betragen, ja sie könnte gar 4.4 Billionen $ erreichen, so das Forschungsprojekt „Cost of War“ an der Brown University Watson Institute for International Studies“ - (watson.brown.edu/costsofwar [39]) https://www.reuters.com/article/2011/06/29/us-usa-war-idUSTRE75S25320110629 [40]
Der Krieg als Überlebensmechanismus verlangt einen immer höheren Tribut. Das Überleben dieser Produktionsform wird zu einer immer irrationalen Angelegenheit.
Mohamed Merah, der sieben Menschen in den Tod riss, weil er Vergeltung üben wollte für all die Gewalttaten, die diese Gesellschaft an den Menschen ausübt, reproduziert nur die gleichen Tötungsmechanismen (z.B.„shoot-to-kill“) des Unterdrückungssystems. Seine Mittel sind Teil eines ausweglosen, zerstörerischen, und selbstzerstörerischen Teufelskreis. Dass er von der Armee und der Fremdenlegion, bei denen er anheuern wollte, abgelehnt wurde, mag ein Licht auf seine Bereitschaft werfen, seine Tötungsbereitschaft in den Dienst des französischen Staates zu stellen.
Die Gewaltspirale, die Zerstörungsmaschinerie, die alles Menschliche niederwalzt, kann aber nicht mit den Methoden des kapitalistischen Systems durchbrochen werden. Um die Unmenschlichkeit zu überwinden, müssen Ziel und Weg im Einklang stehen.
„Die proletarische Revolution bedarf für ihre Ziele keines Terrors, sie hasst und verabscheut den Menschenmord. Sie bedarf dieser Kampfmittel nicht, weil sie nicht Individuen, sondern Institutionen bekämpft, weil sie nicht mit naiven Illusionen in die Arena tritt, deren Enttäuschung sie blutig zu rächen hätte. Sie ist kein verzweifelter Versuch einer Minderheit, die Welt mit Gewalt nach ihrem Ideal zu modeln, sondern die Aktion der großen Millionenmassen des Volkes, die berufen ist, die geschichtliche Mission zu erfüllen und die geschichtliche Notwendigkeit in Wirklichkeit umzusetzen.“ (Was will der Spartakusbund?, Bd. 4, S. 445, 14. Dez. 1918). D. 26.03.2012
(1) Mittlerweile gibt es zwar Beschuldigungen seitens afghanischer Behörden, dass nicht Bales alleine das Massaker verübt habe, sondern auch andere US-Soldaten daran beteiligt waren. Selbst wenn Bales nicht der alleinige Täter war und tatsächlich mehrere Personen beteiligt waren, unterstreicht dies nur das Ausmaß der psychischen Störungen der Soldaten.
Der von den Gewerkschaften, die mehr als 100 Millionen Mitglieder haben, organisierte Streik erfasste am 28. Februar 2012 ganz Indien. Alle Gewerkschaften, auch solche, die den politischen Parteien nahestehen, die Hindu-fundamentalistische BJP eingeschlossen, haben den Streik unterstützt. Beschäftigte der Banken, Post, des Transportwesens, LehrerInnen, Docker und viele andere Bereiche beteiligten sich am Streik. Die Tatsache, dass alle Gewerkschaften den Streikaufruf unterzeichneten, weist auf den Druck der ArbeiterInnen hin.
Die Gewerkschaften erhoben verschiedene Forderungen: Verteidigung des öffentlichen Dienstes, Preiskontrollen, die Pflicht zur Anerkennung von Gewerkschaften innerhalb von 45 Tagen, Durchsetzung von Arbeitsschutzgesetzen, Erhöhung des Mindestlohns auf 10.000 Rupees pro Monat und Erhöhung der Sozialleistungen usw. Sie unternahmen keine Anstrengungen aufzuzeigen, dass die herrschende Klasse heute die ArbeiterInnen umso gnadenloser angreift, je mehr das System in der Krise versinkt und in der Sackgasse steckt. Stattdessen versuchten die Gewerkschaften, das Vertrauen in das System wiederherzustellen.
Die Herangehensweise der Gewerkschaften an diesen Streik legte deren wahren Absichten bloß. Zum einen unterließen sie es, Millionen ihrer Mitglieder zur Beteiligung am Streik aufzufordern. Mehr als 1.5 Millionen Eisenbahner, eine ebenso große Anzahl, wenn nicht sogar mehr Beschäftigte der staatlichen Energieunternehmen sowie viele andere Beschäftigte wurden nicht einmal zur Beteiligung am Streik aufgerufen. Während sie den “Generalstreik” ausriefen, sorgten sie dafür, dass Millionen ihrer Mitglieder wie jeden Tag zur Arbeit gingen und die kapitalistische Maschinerie nicht störten.
Selbst in Bereichen der Wirtschaft, in denen die Gewerkschaften zum Streik aufriefen, war ihre Haltung eher, zu einem rituellen Streik aufzurufen. Die meisten Streikenden blieben einfach zu Hause. Die Gewerkschaften unternahmen kaum etwas, die Leute auf der Straße zusammenzubringen und in Demonstrationen usw. zusammenzukommen. Man unterließ es geflissentlich, die Beschäftigten der Privatindustrie für den Streik zu mobilisieren, obwohl deren Mitglieder der gleichen Gewerkschaft angehören, die zum Streik aufgerufen hatte. Man sieht die Tragweite dieser Ausgrenzung, wenn man sich vor Augen führt, dass die Beschäftigten der Privatindustrie in der letzten Zeit viel militanter waren und in Konflikt gerieten mit den bürgerlichen Gesetzen. Selbst Industriegebiete wie Gurgaon und Zentren der Autoindustrie in Chennai und Fabriken wie Maruti und Gurgaon und Hyundai in der Nähe von Chennai, in denen in der jüngsten Zeit größere Streiks stattfanden, schlossen sich dem Streik nicht an. In den meisten Industriegebieten, in Hunderten von kleineren und größeren Städten in ganz Indien gingen die Beschäftigten der Privatindustrie zur Arbeit, während die des öffentlichen Dienstes streikten. Eine schöne Spaltung!
Es liegt auf der Hand, dass die Gewerkschaften den Streik nicht dazu benutzen wollten, um die ArbeiterInnen zu mobilisieren, sie auf der Straße zusammenzubringen. Sie benutzten den Streik als ein Ritual, ein Ventil, um Dampf abzulassen, die ArbeiterInnen zu spalten, sie zur Passivität zu verleiten. Wenn streikende Arbeiter einfach zu Hause bleiben und vor der Glotze sitzen, stärkt das nicht die Einheit der ArbeiterInnen und deren Bewusstsein. Wenn man diese Haltung sieht, warum haben die Gewerkschaften denn eigentlich zu diesem Streik aufgerufen? Warum schlossen sich all die Gewerkschaften, auch BMS und INTUC dem Streik an? Dazu müssen wir die wirtschaftliche und soziale Lage und die Entwicklung innerhalb der Arbeiterklasse in Indien insgesamt berücksichtigen.
Trotz all des großen Geredes seitens der indischen Bourgeoisie über den wirtschaftlichen Boom hat sich die wirtschaftliche Lage während der letzten Jahre in Wirklichkeit verschlechtert. Wie der Kapitalismus weltweit ist die Wirtschaft in Indien ebenfalls in die Krise gerutscht. Den Statistiken der Regierung zufolge ist das Wachstum ins Stocken geraten und von 9% auf 6% gesunken. Viele Bereiche der Wirtschaft sind von der Krise schwer getroffen. Das trifft sowohl auf den IT-Bereich als auch auf die Textil- und Produktionsgüterindustrie, die Diamantenverarbeitung, die privaten Energieerzeuger, die Airlines und die anderen Bereiche des Transportwesens zu. Überall wurden die Angriffe gegen die ArbeiterInnen verschärft. Die Inflation ist in den letzten beiden Jahren auf über 10% geklettert. Aber die Preissteigerungen der Lebensmittel und anderer Alltagsgegenstände waren viel höher, zum Teil bis zu 16%. Dadurch ist das Leben der Arbeiterklasse noch unerträglicher geworden.
Aufgestachelt durch diese Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen hat die Arbeiterklasse auch wieder zum Klassenkampf zurückgefunden. Seit 2005 hat sich der Klassenkampf in ganz Indien langsam wieder zugespitzt. Natürlich beschränkt sich diese Entwicklung nicht nur auf Indien, sondern ist Teil einer weltweiten Aufwärmung des Klassenkampfes. 2010 und 2011 fanden eine Reihe von Streiks in mehreren Wirtschaftsbereichen statt; vor allem in Gurgaon und Chennai. In einigen dieser Streiks spürte man z.B. bei Honda Motor Cycles 2010 und bei Maruti-Suzuki 2011 eine zunehmende Militanz und Entschlossenheit, sich dem Sicherheitsapparat der Bosse entgegenzustellen. Auch bei Hyundai Motors in Chennai war diese Tendenz zu vernehmen, dort legten die ArbeiterInnen mehrfach die Arbeit nieder, um gegen die zunehmende Leiharbeit und andere Angriffe zu protestieren. In diesen Bewegungen waren deutlich Ansätze zu einer Solidarisierung und Ausdehnung über die Fabrikgrenzen hinweg zu erkennen. Ebenso gab es Ansätze von Selbstorganisierung und dem Abhalten von Vollversammlungen, wie bei Maruti, als ArbeiterInnen das Werk gegen den Willen „ihrer“ Gewerkschaft besetzten.
Neben diesem langsamen Erstarken des Klassenkampfes in Indien haben die Kämpfe im arabischen Raum, in Griechenland, Spanien usw. sowie die Occupy-Bewegung auch ihren Widerhall in Indien gefunden.
In Anbetracht dieser Lage ist die herrschende Klasse wirklich besorgt über die Gefahr der Ausdehnung der Kämpfe. Diese Angst der Herrschenden konnte man bei den jüngsten Streiks beobachten, so bei dem Streik bei Honda Motor Cycles und bei Maturi-Suzuki. Jedesmal befürchteten die Medien die Gefahr der Ausdehnung, und dass andere Autohersteller in Gurgaon ebenso mit hineingezogen und die Produktion lahmgelegt werden könnte. Diese Angst war nicht grundlos. Während die Hauptstreiks in den neuen Betrieben stattfanden, zogen andere ArbeiterInnen vor die Tore der bestreikten Betriebe. Es gab gemeinsame Demos, gar einmal eine breite, ausgedehnte Solidarisierung im Industriegürtel von Gurgaon. Die Provinzregierung bekam Angst. Der Ministerpräsident und der Arbeitsminister von Haryana brachten auf Veranlassung des Premierministers und des nationalen Arbeitsministers das Management und die Gewerkschaftsbosse an den Verhandlungstisch, um den Streik abzuwürgen.
Wie bei den anderen Teilen der herrschenden Klasse sind die Gewerkschaften sehr besorgt über den möglichen Kontrollverlust in den Streiks, falls die Arbeitermilitanz zunimmt. Denn bei den Kämpfen in Maruti 2011 handelten die ArbeiterInnen deutlicher als je zuvor gegen den Willen und die Anweisungen der Gewerkschaften.
Das veranlasste die Gewerkschaften dazu den Eindruck zu erwecken, man unternehme etwas. Eine Reihe von rituellen Streiks wurde im November 2011 abgehalten, so auch im Bankensektor. Während der Februarstreik 2012 ein Ausdruck dieser wachsenden Militanz und der zunehmenden Wut der Arbeiterklasse ist, spiegelt er auch den Versuch der Gewerkschaften wider, die Unzufriedenheit einzudämmen und zu kanalisieren.
Die ArbeiterInnen müssen begreifen, wenn man einen Streik wie ein Ritual durchführt und dabei auch noch zu Hause bleibt, bringt das uns überhaupt nicht weiter. Ebenso wenig hilft es uns in einem Park zu versammeln, um bloß den Reden der Gewerkschaftsbosse und Abgeordneten zuzuhören. Die Bosse und deren Regierung greifen uns an, weil der Kapitalismus in einer Krise steckt und sie keinen Ausweg finden. Wir müssen sehen, dass alle ArbeiterInnen angegriffen werden, dass wir alle im gleichen Boot sitzen. Wenn man sich passiv verhält und isoliert voneinander bleibt, hält das nicht die Bosse davon ab, ihre Angriffe gegen die Arbeiter zu verschärfen. Die ArbeiterInnen müssen diese Gelegenheit beim Schopf fassen, um auf den Straßen zusammenzukommen, sich selbst zu mobilisieren, ihre Kräfte zu bündeln und mit anderen ArbeiterInnen zu diskutieren. Sie müssen dazu die Kämpfe in die eigene Hand nehmen. Das wird nicht automatisch die Probleme der ArbeiterInnen lösen, aber dadurch werden wir in der Lage sein, einen wirklichen Abwehrkampf zu entfalten und die Bosse und den Staat zurückzudrängen. Dies wird uns helfen, den Kampf gegen das ganze System auszubreiten und auf dessen Überwindung hinzuarbeiten. Wie die Besetzer der Athener Jura-Fakultät im Februar 2012 sagten, „Um uns aus dem Klammergriff der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus zu befreien, müssen wir die kapitalistische Wirtschaft überwinden“. Communist Internationalist, Sektion der IKS in Indien, 9.3.2012 www.internationalism.org [47]
Der Aufschwung nach dem 2. Weltkrieg veranlasste viele zur Schlussfolgerung, der Kapitalismus habe das Geheimnis seiner ewigen Jugend gefunden 1 [52], und nunmehr sei nicht mehr die Arbeiterklasse das Instrument revolutionärer Umwälzung. Eine kleine Minderheit von Revolutionären, die sehr oft in nahezu vollständiger Isolierung wirkten, blieb jedoch den Grundsätzen des Marxismus treu. Einer der herausragendsten unter ihnen war Paul Mattick in den USA. Mattick antwortete auf Marcuse, der ein neues revolutionäres Subjekt suchte, mit seiner Schrift „Die Grenzen der Integration: Der eindimensionale Menschen in der Klassengesellschaft“ (1972) (2), in welcher er das revolutionäre Potential der Arbeiterklasse zur Überwindung des Kapitalismus bekräftigte. Aber sein dauerhaftester Beitrag war wahrscheinlich sein Buch „Marx und Keynes – die Grenzen des ‚Gemischten Wirtschaftssystems‘“, die 1969 veröffentlicht wurde, mit Untersuchungen und Essays, die schon in den 1950er Jahren verfasst wurden.
Obwohl am Ende der 1960er Jahre die ersten Zeichen einer neuen Phase der Wirtschaftskrise auftauchten (so zum Beispiel, als das britische Pfund Sterling 1967 abgewertet werden musste), schwammen diejenigen, welche die Auffassung vertraten, der Kapitalismus werde immer noch von einer tiefen strukturellen Krise erschüttert, mehr oder weniger gegen den Strom. Aber Mattick war noch immer aktiv; mehr als 30 Jahre, nachdem er die Zusammenbruchstheorie Henryk Grossmanns zusammengefasst und ausgebaut hatte „Die permanente Krise“ (1934) (3), und er vertrat weiterhin die Ansicht, dass der Kapitalismus immer noch ein Gesellschaftssystem war, das sich rückwärts entwickelte. Auch seien die den Akkumulationsprozess erschütternden Widersprüche nicht überwunden und stattdessen würden diese wieder stärker ausbrechen. Er wies darauf hin, dass die Art und Weise, wie die Herrschenden den Staat einsetzten, um den Akkumulationsprozess in Gestalt des keynesschen „gemischten Wirtschaftssystems“ im Westen oder in Gestalt des Stalinismus im Osten zu steuern, ein Beleg für eine Zwangslage der Herrschenden war. Denn diese waren gezwungen zu versuchen, das Wertgesetz zu umgehen; dieses Vorgehen war aber kein Beleg für die Überwindung der Widersprüche des Systems (wie Paul Cardan, Cornelius Castoriadis z.B. insbesondere in „Die revolutionäre Bewegung im modernen Kapitalismus“ dies vertraten – 1979). Im Gegenteil – dies war eher ein Zeichen des Niedergangs des Systems.
„Ungeachtet der langen Dauer einer „Wohlstandstandsphase“ der industriell fortgeschrittenen Länder gibt es keinen Grund für die Annahme, dass die Produktion von Kapital dank staatlicher Intervention in der Wirtschaft die inneren Widersprüche überwunden hat. Das Eingreifen des Staates selbst belegt die fortdauernde Krise der Kapitalproduktion, und die Zunahme der von der Regierung abhängigen Produktion ist ein unleugbares Zeichen des fortgesetzten Niedergangs der privatwirtschaftlich beherrschten Industrie (…) Die Keynessche Lösung wird sich als eine Scheinlösung erweisen, die den widersprüchlichen Verlauf der Kapitalakkumulation, wie er von Marx vorausgesagt wurde, nur verschieben aber nicht verhindern kann.“ (S. 152, englische Ausgabe) (4).
So meinte Mattick, dass “der Kapitalismus aufgehört hat ein gesellschaftlich fortschrittliches Produktionssystem zu sein und – trotz aller oberflächlicher Erscheinungen des Gegenteils – ein rückwärtsgerichtetes und zerstörerisches System geworden ist“ (S. 261-262, englische Ausgabe). Zu Beginn des 19. Kapitels „Der imperialistische Imperiativ“ bekräftigt Mattick, dass die Kriegstendenzen durch das Kapital nicht aus der Welt geschafft werden können, weil sie ein logisches Ergebnis der Blockade des Produktionsprozesses sind. Aber während „die Abfallproduktion durch Kriege strukturelle Änderungen der Weltwirtschaft und Verschiebungen der politischen Macht mit sich bringen kann, die auch einer neuen Periode kapitalistischer Expansion der Siegerländer förderlich sein mögen,“ (S.274) fügt er sofort hinzu, dass die Herrschenden sich dadurch nicht zu sicher fühlen sollten.
„Diese Art Optimismus ist haltlos in Anbetracht der Zerstörungskraft moderner Kriege, in der auch Atomwaffen zum Einsatz kommen können“. (S. 274) Aber für den Kapitalismus bedeutet die „Anerkenntnis, dass der Krieg Selbstzerstörung heißen könnte - was nicht auf einhellige Zustimmung stößt - , keineswegs, dass damit die Tendenz zu einem neuen Weltkrieg eingedämmt“ wäre (S.274). Die von ihm aufgezeigte Perspektive im letzten Satz seines Buches ist die gleiche, die die Revolutionäre zur Zeit des Ersten Weltkriegs angekündigt hatten: “Sozialismus oder Barbarei.”
Aber es gibt einige Schwächen in der Analyse Matticks der Dekadenz des Kapitalismus in seinem Buch “Marx und Keynes”. Einerseits erkennt er die Tendenz zur Aushebelung des Wertgesetzes als einen Ausdruck des Niedergangs; andererseits meint er, die vollkommen vom Staat beherrschten Länder des damals bestehenden Ostblocks seien nicht dem Wertgesetz unterworfen und stünden somit auch nicht vor der Gefahr, von Krisen erfasst zu werden. Er äußerte die Ansicht, dass aus der Sicht des Privatkapitals diese Regime gar als „staatssozialistisch bezeichnet werden können, einfach weil sie das Kapital in den Händen des Staates zentralisieren“ (S.321). Dennoch müssen sie vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus als staatskapitalistisch bezeichnet werden. Jedenfalls „wird das staatskapitalistische System nicht von diesem Widerspruch zwischen profitabler und nicht profitabler Produktion geprägt, unter welchem das privatwirtschaftliche System leidet (…) Das staatskapitalistische System mag profitabel oder nichtprofitabel produzieren ohne von Stagnation bedroht zu sein“ (S. 291). Er vertrat die Auffassung, dass die stalinistischen Staaten in diesem Sinne ein andersartiges System darstellten, welches in einem tiefgreifenden Gegensatz zu den westlichen Formen des Kapitalismus stünde – darin schien er wohl die Wurzel und Triebkraft für den Kalten Krieg gesehen zu haben, denn anlässlich des damaligen Imperialismus meinte er, dass dieser sich vom „Imperialismus und Kolonialismus des laisser-faire Kapitalismus unterscheidet, da das Kapital um mehr als nur Rohstoffe, privilegierte Märkte und Kapitalexporte konkurriert. Es kämpft nämlich auch um sein eigenes Leben als ein auf Privatbesitz sich stützendes System gegen neue Formen der Kapitalproduktion, die nicht mehr wirtschaftlichen Wertgesetzen und den Wettbewerbsmechanismen des Marktes unterworfen sind.“ (S. 264). Diese Interpretation ist stimmig mit seiner Auffassung, dass die Ostblockstaaten eigentlich keine eigene imperialistische Dynmik hätten.
Die Gruppe “Internationalism” in den USA, die später eine Sektion der IKS wurde, deckte diese Schwäche in einem Artikel ihrer Zeitschrift Anfang der 1970er Jahre auf: “Staatskapitalismus und das Wertgesetz; eine Antwort auf ‘Marx und Keynes’”, Internationalism, Nr. 2). Der Artikel zeigt auf, dass Matticks Analyse der stalinistischen Regime das Konzept der Dekadenz untergräbt, welches in anderen Bereichen unterstützt wird. Denn wenn der Staatskapitalismus nicht krisenanfällig ist, wenn er – wie Mattick meint – die Kybernetik und die Entwicklung der Produktivkräfte fördert, wenn das stalinistische System nicht dazu gezwungen ist, seinen imperialistischen Tendenzen nachzugeben, dann werden die materiellen Grundlagen der kommunistischen Revolution dazu neigen zu verschwinden, und die durch die Epoche des Niedergangs aufgeworfene historische Alternative wird somit unbegreiflich. “Wenn Mattick den Begriff Staatskapitalismus verwendet, ist dies eigentlich irreführend. Der Staatskapitalismus oder „Staatssozialismus“, den Mattick als eine ausbeutende, aber nicht kapitalistische Produktionsform beschreibt, ähnelt sehr stark der Beschreibung Bruno Rizzis und Max Shachtmans des „bürokratischen Kollektivismus“, eine vor dem 2. Weltkrieg entwickelte Auffassung. Der wirtschaftliche Zusammenbruch des Kapitalismus, der auf dem Wertgesetz fußenden Produktionsweise, die Mattick als unvermeidbar einschätzt, wirft nicht die historische Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ auf, sondern die Alternative „Sozialismus oder Barbarei oder „Staatsssozialismus“.
Die Wirklichkeit sollte dem Artikel von “Internationalism” Recht geben. Im Allgemeinen stimmt es, dass die Krise im Osten nicht die gleiche Form annahm wie im Westen. Sie trat eher in Gestalt einer Unterproduktion, eines Mangels auf als in Form von Überproduktion; zumindestens im Bereich der Konsumgüter. Aber die Inflation, die jahrzehntelang in diesen Ländern wütete und die oft der Zündstoff für die Explosion vieler großer Kämpfe war, deckte bloß auf, dass die Bürokratie keineswegs die Auswirkungen des Wertgesetzes aus der Welt schaffen konnte. Vor allem hat mit dem Zusammenbruch des Ostblocks – welcher ebenso dessen militärische und gesellschaftliche Sackgasse zum Ausdruck brachte – das Wertgesetz sozusagen ‚Rache‘ geübt an den stalinstischen Regimen, die versucht hatten, es außer Kraft zu setzen. So hat sich der Stalinismus genauso wie der Keynesianismus als eine Scheinlösung erwiesen. „die zwar die widersprüchlichen Auswirkungen der Akkumulation des Kapitals, wie Marx sie vorhergesehen hatte, verzögern aber nicht aus der Welt schaffen kann.“ (S.264) (5)
Der Mut Matticks wurde durch die direkte Erfahrung der Revolution in Deutschland und die Verteidigung der Klassenpositionen gegen die siegreiche Konterrevolution der 1930er und 1940er Jahre getragen. Ein anderer ‚Überlebender‘ der Kommunistischen Linken, Marc Chirik, hat ebenso weiterhin während des Zeitraums der Konterrevolution und des 2. Weltkriegs militante Arbeit betrieben. Er war ein herausragendes Mitglied der Gauche Communiste de France (GCF), dessen Beitrag wir in dem vorhergehenden Artikel gewürdigt haben. Während der 1950er Jahre lebte er in Venezuela; eine Zeitlang konnte er überhaupt keiner organisierten Aktivität nachgehen. Aber Anfang der 1960er Jahre begann er, einen Kreis von jungen GenossInnen zusammenzubringen, die später die Gruppe Internacionalismo gründete, die sich auf die gleichen Prinzipien wie die GCF stützte. Natürlich übernahm sie auch das Konzept der Dekadenz.
Aber während die GCF darum kämpfte, in einer finsteren Zeit der Arbeiterbewegung zu widerstehen, brachte die venezuelanische Gruppe etwas zum Ausdruck, das im Bewusstsein der Weltarbeiterklasse gärte. Sie erkannte mit beeindruckender Klarheit, dass die finanziellen Schwierigkeiten, die dem scheinbar gesunden Organismus des Kapitalismus immer mehr zu schaffen machten, in Wirklichkeit einen neuen Absturz in die Krise bedeuteten und dass das System auf eine unbesiegte Generation der Arbeiterklasse stoßen werde. Wie die Gruppe im Januar 1968 schrieb: „Wir sind keine Propheten und können auch nicht vorhersagen, wann und wie sich die Dinge in der Zukunft entwickeln werden. Aber eins ist sicher und steht fest: Der Prozess, in dem der Kapitalismus heute steckt, kann nicht aufgehalten werden und führt direkt in die Krise. Und wir sind auch sicher, dass der umgekehrte Prozess der Entwicklung der Kampfbereitschaft das Proletariat in einen blutigen und direkten Kampf um die Zerstörung des bürgerlichen Staates treiben wird.“ Diese Gruppe hatte eine der hellsichtigsten und klarsten Einschätzungen der massiven sozialen Bewegungen in Frankreich im Mai 1968, 1969 in Italien und anderswo, die sie als das Ende der Konterrevolution bewertete.
Aus der Sicht Internacionalismos stellten diese Bewegungen der Klasse eine Antwort der Arbeiterklasse auf die ersten Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise dar, die schon zu steigender Arbeitslosigkeit und zu Versuchen, die Lohnerhöhungen einzudämmen, geführt hatte. Aus der Sicht anderer war dies nur eine mechanische Anwendung eines überholten Marxismus. Mai 1968 spiegelte vor allem die direkte Revolte der Arbeiterklasse gegen die Entfremdung einer voll funktionierenden kapitalistischen Gesellschaft. Dies war die Auffassung der Situationisten, die jeden Versuch ablehnten, die Krise und den Klassenkampf miteinander in Verbindung zu bringen und dies als einen Ausdruck von Sekten aus der Zeit der Dinosaurier bezeichneten. „Was die Überbleibsel des alten nicht-trotzkistischen Ultra-Gauchismus betrifft, so brauchten sie mindestens eine sehr wichtige Wirtschaftskrise. Sie machten jedes revolutionäre Moment von ihrer Rückkehr abhängig und sie sahen nichts kommen. Jetzt, wo sie im Mai eine revolutionäre Krise erkannt haben, müssen sie beweisen, dass es also diese unsichtbare Wirtschaftskrise im Frühling 1968 gab. Darum bemühen sie sich ohne Angst vor der Lächerlichkeit, indem sie Tabellen über die wachsenden Preise und Arbeitslosigkeit vorweisen. So ist für sie die Wirtschaftskrise nicht mehr diese furchtbar auffallende objektive Wirklichkeit, die bis 1929 so stark erlebt und beschrieben wurde, sondern eine Art eucharistische Anwesenheit, auf die sich ihre Religion stützt. „(https://www.si-revue.de/der-beginn-einer-epoche [53])
In Wirklichkeit ist – wie wir gesehen haben – der Standpunkt Internacionalismos hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Krise und Klassenkampf später nicht geändert worden. Im Gegenteil, die Treue der Gruppe gegenüber der marxistischen Methode ermöglichte ihr, anhand einiger unspektakulärer Vorboten den Ausbruch von Bewegungen wie Mai 1968 vorherzusehen. Die deutlichere Zuspitzung der Krise von 1973 an machte schnell klar, dass die Situationistische Internationale – die mehr oder weniger die Theorie Cardans von einem Kapitalismus übernommen hatte, der seine wirtschaftlichen Widersprüche überwunden hätte, - einer Phase des Kapitalismus angehört hatte, die endgültig der Vergangenheit angehörte.
Die Hypothese, derzufolge Mai 1968 ein bedeutendes Wiederauftauchen der Arbeiterklasse bedeutete, wurde dadurch bestätigt, dass in vielen Ländern Gruppen und Zirkel entstanden, die eine wirklich revolutionäre Kritik des Kapitalismus zu entwickeln versuchten. Natürlich war diese neue proletarische politische Bewegung nach solch einem langen Zeitraum des Rückflusses sehr heterogen und unerfahren. Als Reaktion auf die Schrecken des Stalinismus blieb diese Bewegung sehr oft schon misstrauisch gegenüber dem Begriff politische Organisation überhaupt. Man reagierte extrem ablehnend gegenüber allem, was nach „Leninismus“ roch und gegenüber dem, was als die Rigidität des Marxismus angeprangert wurde. Einige dieser Gruppen verloren sich in einem frenetischen Aktivismus, und weil ihnen eine langfristige Analyse fehlte, überlebten sie nicht lange das Ende der ersten internationalen Welle von Kämpfen, die 1968 ausgebrochen waren. Andere verwarfen nicht die Verbindung zwischen Arbeiterkämpfen und der Krise, stattdessen gingen sie an diese Frage mit einem ganz anderen Blickwinkel heran: Hauptsächlich habe die Kampfbereitschaft der Arbeiter die Krise ausgelöst, indem die Arbeiterklasse ‚grenzenlose’ Lohnforderungen erhoben habe und sich weigerte, die kapitalistischen Umstrukturierungen hinzunehmen. Dieser Standpunkt wurde in Frankreich von der Groupe de Liaison pour l’Action des Travailleurs (einer der zahlreichen Nachfolger von Socialisme ou Barbarie) und in Italien von der Strömung Arbeiterautonomie vertreten, die den „traditionellen“ Marxismus als hoffnungslos „objektivistisch“ einschätzte (wir werden in einem anderen Artikel darauf zurückkommen) hinsichtlich des Begreifens der Beziehungen zwischen Krise und Klassenkampf.
Diese neue Generation entdeckte jedoch ebenfalls die Arbeiten der Kommunistischen Linken. Sie erkannte ebenfalls, dass die Auseinandersetzung und Verteidigung der Dekadenztheorie ein Teil dieses Prozesses war. Marc Chirik und einige andere junge GenossInnen der Gruppe Internacionalismo waren nach Frankreich gekommen, und in der Hitze der Ereignisse von 1968 beteiligten sie sich an der Bildung eines ersten Kerns der Gruppe „Révolution Internationale“. Von Anfang an rückte „Révolution Internationale“ das Konzept der Dekadenz in den Mittelpunkt seiner politischen Vorgehensweise. Der Gruppe gelang es, eine Reihe von Gruppen und rätekommunistisch orientierte Einzelpersonen oder Libertäre zu überzeugen, dass ihre Gegnerschaft zu den Gewerkschaften, der nationalen Befreiungsbewegung und der kapitalistischen Demokratie nicht wirklich verstanden und richtig verteidigt werden konnte ohne einen historisch kohärenten Rahmen.
In den ersten Ausgaben von „Révolution Internationale“ wurde eine Artikelserie mit dem Titel „Die Dekadenz des Kapitalismus“ veröffentlicht, die später als Broschüre der Internationalen Kommunistischen Strömung erschien. Dieser Text ist auf unserer Webseite verfügbar und enthält immer noch die wesentlichen Grundlagen der politischen Methode der IKS, insbesondere hinsichtlich des breiten historischen Überblicks, der vom primitiven Kommunismus über die verschiedenen, dem Kapitalismus vorausgehenden Gesellschaften bis zur Untersuchung des Aufstiegs und des Niedergangs des Kapitalismus selbst reicht. Wie die gegenwärtigen Artikel dieser Serie stützt die Broschüre sich auf das Konzept Marxens des „Zeitraums der gesellschaftlichen Revolutionen“. Er beleuchtet die Schlüsselelemente und gemeinsamen Merkmale aller Klassengesellschaften in der Zeit, als sie zu Fesseln der Entwicklung der Produktivkräfte geworden sind: Die Internsivierung der Kämpfe zwischen Flügeln der herrschenden Klasse, die wachsende Rolle des Staates, der Zerfall der ideologischen Rechtfertigungen, die wachsenden Kämpfe der unterdrückten und ausbeutenden Klassen. Mit der Anwendung dieser allgemeinen Herangehensweise auf die Besonderheiten der kapitalistischen Gesellschaft versuchte man aufzuzeigen, wie der Kapitalismus seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts von einer „Entwicklungsform“ zu einer „Fessel“ für die Produktivkräfte wurde. Die Weltkriege und zahlreichen anderen imperialistischen Konflikte, die revolutionären Kämpfe, die 1917 ausbrachen, die gewaltige Zuspitzung der Rolle des Staates und die unglaubliche Verschwendung menschlicher Arbeit durch die Entwicklung der Kriegswirtschaft und anderer unproduktiver Ausgaben wurde dabei hervorgehoben.
Diese allgemeine Sicht, welche zu einer Zeit verbreitet wurde, als die ersten Zeichen einer neuen Wiirtschaftskrise immer sichtbarer wurden, überzeugte einige Gruppen in anderen Ländern, dass die Dekadenztheorie ein grundlegend wichtiger Ausgangspunkt für die linkskommunistischen Positionen war. Sie war nicht nur Dreh- und Angelpunkt der Plattform der IKS, sondern wurde ebenso von anderen Tedenzen wie Revolutionary Perspektives und später von der Communist Workers Organisation in Großbritannien aufgegriffen. Hinsichtlich der Ursachen der Dekadenz bestehen große Divergenzen. Die Broschüre der IKS übernahm im Großen und Ganzen die Analyse Rosa Luxemburgs, obwohl die Einschätzung des „Wirtschaftswunders“ nach dem 2. Weltkrieg (wobei der wirtschaftliche Wiederaufbau der durch den Krieg zerstörten Länder als eine Art neuer Markt angesehen wurde) später zu einem Diskussionsthema in der IKS wurde. Es gab ohnehin immer schon in der IKS unterschiedliche Auffassungen zu dieser Frage. Insbesondere gibt es GenossInnen, die der Theorie Grosssmann-Matticks anhängen, die auch von der CWO und anderen vertreten wird. Aber in dieser Zeit des Wiederauftauchens der revolutionären Bewegung schien die „Theorie der Dekadenz“ allgemein mehr Anhänger zu finden.
Bei unserem Überblick über die jeweiligen Anstrengungen der Revolutionäre, den Zeitraum des Niedergangs des Kapitalismus zu begreifen, kommen wir jetzt zur Phase der 1970er und 1980er Jahre. Aber bevor wir die Entwicklung näher betrachten – und die zahlreichen Rückschritte auf theoretischer Ebene seit jener Zeit bis heute -, erscheint es uns nützlich die Bilanz in Erinnerung zu rufen, die wir in dem ersten Artikel dieser Serie gezogen hatten (1) und diese zu aktualisieren, da die spektakulären Ereignisse insbesondere auf ökonomischer Ebene, die seit Anfang 2008 – als wir diesen ersten Teil schrieben - stattgefunden haben, dies erforderlich machen.
In den 1970er und 1980er Jahren hat die internationale Welle von Kämpfen eine Reihe von Fortschritten und Rückschritten gemacht; dagegen hat sich die Wirtschaftskrise unaufhörlich zugespitzt. Dadurch wurde die These der Autonomen widerlegt, welche meinten, die Arbeiterkämpfe seien die Ursache der Wirtschaftskrise. Die Depression der 1930er Jahre, die zeitgleich stattfand mit der größten historischen Niederlage der Arbeiterklasse, hatte diese Auffassung schon weitestgehend widerlegt. Auch die unleugbare Verschärfung des wirtschaftlichen Debakels, so wie dieses seit Mitte der 1970er Jahre und Anfang der 1980er Jahre ersichtlich geworden ist, hat - selbst als die Arbeiterklasse sich auf dem Rückzug befand, vor allem in den 1990er Jahren -, klar vor Augen geführt, dass ein „objektiver“ Prozess der Krisenverschärfung eingesetzt hatte und dass dieser im Wesentlichen nicht durch die Widerstandskraft der Arbeiterklasse bestimmt war. Ebenso wenig kann man behaupten, dass die herrschende Klasse diesen Prozess wirksam steuern konnte. Nachdem man die Keynessche Politik fallen ließ, welche die Jahre des Nachkriegsbooms geprägt hatte, die aber nun zu einer der treibenden Kräfte für die galoppierende Inflation wurde, versuchte die herrschende Klasse in den 1980er Jahren nunmehr eine Politik der Anpassung zu vollziehen, wodurch die Massenarbeitslosigkeit sprunghaft anstieg und in den meisten Schlüsselländern des Kapitalismus eine Deindustrialisierung einsetzte. In den darauffolgenden Jahren versuchte man erneut, das Wachstum durch eine massive Verschuldung anzukurbeln, wodurch es zu kurzen Phasen des Aufschwungs kam, die aber gleichzeitig tiefgreifende Spannungen unter der Oberfläche aufbauten, welche mit dem Crash von 2007/2008 in Erscheinung traten. Ein allgemeiner Überblick über die kapitalistische Weltwirtschaft seit 1914 bietet also kein Szenario einer aufsteigenden Produktionsweise, sondern eines Systems, das unfähig ist, aus seiner Sackgasse herauszukommen, trotz aller Mittel, die bislang eingesetzt wurden.
- 1914-1923: Erster Weltkrieg und die erste internationale Welle von proletarischen Revolutionen; die Kommunistische Internationale kündigte den Anbruch einer “Epoche von Kriegen und Revolutionen” an;
- 1924-1929: ein kurzer Aufschwung, welcher aber die Spätfolgen der Nachkriegsstagnation der „alten“ Länder und der „alten“ Reiche nicht überwand; der „Boom“ blieb auf die USA beschränkt;
- 1929: Die gewaltige Ausdehnung des US-Kapitals mündete in einem spektakulären Krach; dieser stürzte die Weltwirtschaft in die tiefeste und breiteste bislang dagewesene Depression. Die Produktion kam nicht wieder „von selbst“ in Fahrt, wie das während der zyklischen Krisen im 19. Jahrhundert noch der Fall gewesen war. Stattdessen wurden staatskapitalistische Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft eingesetzt, aber diese waren Teil einer Entwicklung hin zum Zweiten Weltkrieg;
- 1945-1967: eine gewaltige Erhöhung der Staatsausgaben (Keynesianismus) - im Wesentlichen finanziert durch eine Politik der Verschuldung und gefördert durch bislang nie dagewesene Produktivitätserhöhungen - schuf die Bedingungen für eine bis dato unerreichte Wachstums- und Wohlstandsperiode, von der allerdings ein großer Teil der „Dritten Welt“ ausgeschlossen blieb;
- 1967-2008: 40 Jahre offene Krise, verdeutlicht vor allem durch die galoppierende Inflation der 1970er Jahre und die Massenarbeitslosigkeit in den 1980er Jahren. Aber Anfang der 1990er Jahre und zu Beginn des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend trat die Krise „offener“ und deutlicher in einigen Teilen der Welt auf als in anderen. Die Abschaffung gewisser Beschränkungen der Kapitalströme und der Finanzspekulationen, eine Reihe von Standortverlagerungen in Gebiete mit niedrigeren Löhnen, die Entwicklung neuer Technologien und vor allem der unbegrenzte Rückgriff auf die Verschuldung durch den Staat, die Unternehmen und die Haushalte: All dies schuf eine „Wachstumsblase“, bei der einige kleine Eliten große Profite einstreichen und Länder wie China ein frenetisches Wachstum hinlegen konnten. Auch stiegen die Konsumentenkredite in den Industriezentren stark an. Aber Alarmsignale konnten die ganze Zeit vernommen werden: Rezessionen, die den Aufschwüngen folgten (zum Beispiel die von 1974-75, 1980-82, 1990-93, 2001-2002, der Börsenkrach 1987, usw.), und bei jeder Rezession verfügte das Kapital über weniger Eingriffsmöglichkeiten, im Gegensatz zu den „Zusammenbrüchen“ der Aufstiegsphase, als es immer noch möglich war, die Ausdehnung nach Außen in geographische und ökonomische Räume fortzusetzen, die bis dahin noch außerhalb des kapitalistischen Kreislaufs standen.
Da man praktisch über keine Absatzmärkte mehr verfügte, war die Kapitalistenklasse gezwungen, das Wertgesetz zu umgehen, welches das System in den Zusammenbruch treibt. Dies traf sowohl für die offen staatskapitalistische Keynesianische Politik zu wie auch für den Stalinismus, der kein Geheimnis daraus machte, die Auswirkungen der Marktwirtschaft durch die Finanzierung von Defiziten zu bremsen und indem man die unrentablen Wirtschaftsbereiche am Leben hielt, um so die Produktion aufrechtzuhalten. Selbst die „Neoliberalen“, an deren Spitze Thatcher und Reagan standen, betrieben die gleiche Politik, auch wenn sie das Gegenteil von sich behaupteten. In Wirklichkeit war diese Politik eine Ausgeburt des kapitalistischen Staates; und weil diese ständig auf unbegrenzte Kredite und die Spekulation zurückgriff, respektierte sie in keinster Weise die klassischen Gesetze der kapitalistischen Wertschöpfung. In dieser Hinsicht war der dem gegenwärtigen Debakel vorausgehende Zusammenbruch der „Tiger“ und „Drachen“ in Ostasien im Jahre 1997 eines der wichtigsten Ereignisse, denn damals ging eine frenetische Wachstumsphase, die mit faulen Krediten finanziert worden war, abrupt zu Ende, nachdem die Rückzahlung dieser Schulden anstand. Dies war ein Vorbote der darauf folgenden Erschütterungen, auch wenn danach China und Indien die Rolle der Lokomotive spielen wollten, die zuvor von anderen Ländern Ostasiens gespielt worden war. Die „technologische Revolution“, insbesondere im Bereich Informatik, um die in den 1990er Jahren und zu Beginn des Jahrtausends viel Aufheben gemacht wurde (Internet-Economy), hat den Kapitalismus auch nicht vor seinen inneren Widersprüchen retten können. Die organische Zusammensetzung des Kapitals stieg an, damit sank die Profitrate und dies konnte nicht ausgeglichen werden durch eine echte Ausdehnung des Weltmarktes. In Wirklichkeit wurde dadurch die Überproduktion noch verschärft und immer mehr Beschäftigte verloren ihren Arbeitsplatz.
2008 erreichte die Krise des Weltkapitalismus eine qualitativ neue Stufe, denn all die ‚Lösungen‘, welche der kapitalistische Staat während der vorausgegangenen vier Jahrzehnte angewandt hatte, insbesondere die Zuhilfenahme von Krediten, erwiesen sich als hilflos. Obwohl Politiker, Finanzjongleure und Bürokraten mit so großem Vertrauen in diese Mittel sie so hartnäckig eingesetzt hatten, scheiterten sie alle kläglich. Jetzt griff die Krise auf die Zentren des Weltkapitalismus, die USA und die Euro-Zone, über und all die eingesetzten Mittel zur Aufrechterhaltung des Vertrauens in die Möglichkeiten einer ständigen wirtschaftlichen Expansion erwiesen sich als wirkungslos. Die Schaffung eines künstlichen Marktes mit Hilfe von Krediten war auf ihre historischen Grenzen gestoßen, sie droht nunmehr den Wert des Geldes zu zerstören und eine galoppierende Inflation auszulösen. Gleichzeitig bewirken die Schritte zur Kreditkontrolle und die Versuche der Staaten, ihre Ausgaben zu kürzen, eine weitere Schrumpfung der Märkte. Im Endergebnis tritt der Kapitalismus jetzt in eine Depression ein, die viel tiefgreifender und noch weniger überwindbar ist als die der 1930er Jahre. Und während die Depression sich auf die westlichen Industriestaaten ausdehnt, erweist sich die große Hoffnung, dass ein Land wie China die Weltwirtschaft aus dem Schlamassel reißen könnte, als eine hirnrissige Illusion. Das industrielle Wachstum Chinas stützt sich auf seine Fähigkeit, seine Waren billig im Westen zu verkaufen, und falls diese Märkte schrumpfen, steht China ebenso vor einem wirtschaftlichen Crash.
Die Schlussfolgerung daraus lautet: Während der Kapitalismus in seiner Aufstiegsphase einen Krisenzyklus durchlief, welcher sowohl dessen innere Widersprüche widerspiegelte als auch ein unabdingbares Element seiner globalen Expansion darstellte, ist die Krise des Kapitalismus im 20. und 21. Jahrhundert, wie Paul Mattick es schon in den 1930er Jahren vertreten hatte, zu einer permanenten Krise geworden. Der Kapitalismus hat mittlerweile eine Stufe erreicht, wo die Hilfsmittel, mit denen er sich am Leben hielt, zu einem die Krankheit verstärkenden Faktor geworden sind.
Das Abdriften in den imperialistischen Krieg spiegelt ebenso die historische Sackgasse der kapitalistischen Weltwirtschaft wider:
„Je mehr der Markt schrumpft, desto heftiger wird der Kampf um den Besitz von Rohstoffen und die Kontrolle des Weltmarktes. Der wirtschaftliche Kampf zwischen verschiedenen kapitalistischen Gruppen spitzt sich immer mehr zu; dabei wird auch die höchste Stufe des Kampfes zwischen Staaten erreicht. Der verzweifelte Wirtschaftskrieg kann letzten Endes nur in militärische Gewalt münden. Der Krieg wird zum einzigen Mittel nicht der Lösung der internationalen Krise, sondern des Versuchs eines jeden nationalen Kapitals, die Schwierigkeiten auf Kosten der imperialistischen Rivalen zu einzudämmen.
Die vorübergehenden Lösungen der isolierten Imperialismen mittels militärischer und ökonomischer Siege führen nicht nur zur Zuspitzung der Lage der imperialistischen Gegner, sondern auch zu einer Zuspitzung der Weltkrise und der Zerstörung der kumulierten Werte von Jahren und Jahrhunderten gesellschaftlicher Arbeit. Die kapitalistische Gesellschaft in der Zeit des Imperialismus ähnelt mehr einem Gebäude, dessen Baumaterial für den Bau der oberen Stockwerke aus dem Baumaterial der unteren Stockwerke und dem Fundament entnommen wird. Je frenetischer der Bau in die Höhe getrieben wird, desto zerbrechlicher wird das ganze Fundament, das das Gebäude stützt. Je imposanter das Gebäude nach Außen erscheint, desto brüchiger und schwankender wird das Gebäude in Wirklichkeit. Der Kapitalismus ist zwangsweise dazu gezwungen, seine eigenen Grundlagen zu untergraben; er muss unaufhörlich den Zusammenbruch der Weltwirtschaft herbeiführen und somit die Menschheit in die Katastrophe und an den Abgrund treiben.“ („Bericht zur Weltlage“, Juli 1945, GCF, 7 [54])
Die imperialistischen Kriege, gleichgültig ob lokal oder Weltkriege, sind der klarste Ausdruck der Tendenz des Kapitalismus zur Selbstvernichtung. Das trifft sowohl für die Tendenz der physischen Zerstörung des Kapitals zu als auch für die Vernichtung von ganzen Bevölkerungsgruppen, sowie auch für die gewaltige Vernichtung von Werten, die die Rüstungsproduktion mit sich bringt, die nunmehr nicht mehr beschränkt ist auf die Phase offener Kriege. Das Verständnis der GCF des zutiefst irrationalen Wesens des Krieges im Zeitalter der Dekadenz wurde gewissermaßen getrübt durch die Umorganisierung und den globalen Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg. Aber die Blütephase nach dem 2. Weltkrieg stellte eine Ausnahmephase dar, die sich nicht wiederholen wird. Und wie immer sich das Kapital in dieser Phase auch international organisierte, der Krieg war damals auch von ständiger Dauer. Nach 1945, als die Welt in zwei rivalisierende imperialistische Blöcke aufgeteilt wurde, nahmen die militärischen Konflikte allgemein die Form endlos langer „nationaler Befreiungskämpfe“ an, bei denen die beiden Großmächte um die strategische Vorherrschaft stritten. Nach 1989 hat der Zusammenbruch des schwächeren russischen Blocks keineswegs die Tendenz zum Krieg abgeschwächt, sondern die einzig verbliebene Supermacht, die USA, ist militärisch noch häufiger interveniert, wie der erste Golfkrieg 1991, die Balkankriege in den 1990er Jahren und Afghanistan und der Irak nach 2001 beweisen. Diese Interventionen der USA verfolgten größtenteils – vergeblich - das Ziel, die zentrifugalen Tendenzen einzudämmen, welche durch das Auseinanderbrechen des ehemaligen Sowjetblocks ausgelöst worden waren. Dadurch spitzten sich die örtlichen und globalen Rivalitäten noch mehr zu und breiteten sich noch weiter aus. Die Konflikte in Afrika, Ruanda, Kongo, Äthiopien, Somalia sprechen Bände. Die Spannungen um die israelisch-palästinensische Frage dauern an, und selbst die Gefahr eines Atomkrieges zwischen Indien und Pakistan ist nicht gebannt.
Der Erste und Zweite Weltkrieg haben tiefgreifende Umwälzungen der Kräfteverhältnisse zwischen den größten kapitalistischen Mächten bewirkt, bei denen hauptsächlich die USA der große Nutznießer waren. Die überwältigende Vorherrschaft der USA nach 1945 war ein Schlüsselfaktor in der Boomphase nach dem Krieg. Aber im Gegensatz zu einem der Slogans der 1960er Jahre war der Krieg kein Beleg für die „Gesundheit und Stärke des Staates“. Genauso wie der extrem aufgeblähte Rüstungssektor zum Zusammenbruch des Ostblocks geführt hat, ist das Bestreben der USA, ihre Stellung als Weltpolizist zu verteidigen, zu einem Faktor geworden, der den Niedergang der USA als Weltmacht beschleunigt. Die Unsummen von Geld, die die Kriege im Irak und Afghanistan bislang gekostet haben, sind nicht durch die schnellen Profite von Halliburton oder anderen kapitalistischen Geiern ausgeglichen worden; im Gegenteil sie haben mit dazu beigetragen, dass die USA von einem Gläubiger der Welt zu einem ihrer Hauptschuldnerländer geworden sind.
Einige revolutionäre Organisationen wie die “Internationale Kommunistische Tendenz” (IKT, vormals IBRP) vertreten die Auffassung, dass der Krieg, vor allem der Handelskrieg, aus kapitalistischer Sicht ausgesprochen rational sei. Sie meinen, dass durch die Zerstörung von überflüssigem konstantem Kapital, das für gesunkene Profitraten verantwortlich ist, der Krieg in der Niedergangsphase des Kapitalismus die Erhöhung der Profitraten und auch den Anstoß eines neuen Akkumulationszyklus ermöglicht. Wir können hier nicht näher auf diese Diskussion eingehen, aber selbst wenn diese Analyse richtig wäre, könnte dies keine Lösung für das Kapital sein. Zunächst, weil man überhaupt nicht sagen kann, dass die Bedingungen für einen dritten Weltkrieg – zu denen unter anderem die Bildung von stabilen imperialistischen Blöcken gehört – in einer Welt gegeben sind, in der immer mehr das Prinzip des „Jeder für sich“ vorherrscht. Und selbst wenn ein dritter Weltkrieg auf der Tagesordnung stünde, würde dieser sicherlich keinen neuen Akkumulationszyklus auslösen, sondern ziemlich sicher zur Auslöschung des Kapitalismus und wahrscheinlich der ganzen Menschheit führen. 8 [55] Dies wäre der endgültige Beweis der Irrationalität des Kapitalismus, aber es gäbe niemanden mehr, der sagen könnte: „Ich habe es ja gewusst!“
Seit den 1970er Jahren waren die Revolutionäre gezwungen, eine neue Dimension der Diagnose zu berücksichtigen, derzufolge der Kapitalismus der Menschheit nichts Positives mehr zu bieten hat und er zu einem zerstörerischen System geworden ist: die wachsende Umweltzerstörung, die nunmehr weltweit zu einer Gefahr geworden ist. Die Verschmutzung und Zerstörung der Natur wohnen der kapitalistischen Produktion von Anfang an inne, aber im 20. Jahrhundert und insbesondere seit dem 2. Weltkrieg haben sie sich ausgedehnt und weiter zugespitzt, weil der Kapitalismus bis in die letzten Winkel der Erde vorgedrungen ist. Gleichzeitig sind als Folge der historischen Sackgasse des Kapitalismus der Klimawandel, die Plünderung und Verschmutzung der Böden, der Meere, der Flüsse und Wälder noch einmal verschärft worden durch die brutale Zuspitzung des nationalen Wettkampfes um den Zugang zu den Rohstoffen, der Ausbeutung von Arbeitskräften und der Öffnung neuer Märkte. Die Umweltkatastrophe, insbesondere in der Form der Klimaerwärmung ist zu einem neuen zentralen Thema der kapitalistischen Apokalypse geworden. All die internationalen Umweltgipfel, die in den letzten Jahren stattfanden, haben die Unfähigkeit der Herrschenden vor Augen geführt, auch nur die elementarsten Maßnahmen zur Vermeidung des Desasters zu ergreifen.
Dies belegt folgende Tatsache deutlich: Der jüngste Bericht der Internationalen Energieagentur (International Energy Agency), eine Institution, die bislang nie durch besonders laute Warnungen aufgefallen war, erklärte, dass die Regierungen der Welt noch fünf Jahre Zeit haben, um den Klimawechsel zu vermeiden bevor es zu spät ist. Der IEA und einer Reihe von wissenschaftlichen Instituten zufolge muss unbedingt sichergestellt sein, dass der Temperaturanstieg nicht 2°C übersteigt. „Um die Emissionen unter diesem Ziel zu halten, kann die Menschheit nicht mehr so weiter machen wie bisher. Es verbleiben lediglich fünf Jahre, bevor die zulässigen Emissionen „erreicht“ sind. Wenn man die gesetzten Ziele der Begrenzung des Temperaturanstiegs erreichen will, müssen alle von 2017 an gebauten Infrastrukturen emissionsfrei sein.“ 9 [56].
Ein Monat nach der Veröffentlichung dieses Berichtes im November 2011 wurde der Durban-Gipfel als ein Schritt nach vorne gelobt, denn zum ersten Mal hätten nach all diesen internationalen Treffen die Staaten eine Überkunft getroffen, die Kohlendioxidemissionen zu begrenzen. Aber diese Grenzen sollen erst 2015 festgelegt und lediglich ab 2020 müssten sie eingehalten werden – viel zu spät, wenn man der Warnung der IEA und vieler anderer internationalen Umweltschutzorganisationen Glauben schenkt. Keith Allio, zuständig für „Klimawandel“ beim World Wide Fund for nature“ in Großbritannien, meinte denn auch: „Die Regierungen haben einen Weg offengehalten für Verhandlungen, aber wir dürfen keine Illusionen haben – mit dem Abschluss von Durban stehen wir vor der Aussicht, dass wir uns auf die legale, vereinbarte Grenze von 4°C Erwärmung zubewegen. Das wäre eine Katastrophe für die Menschen und die Natur. Die Regierungen haben tagelang über ein paar Wörter des Vertragstextes gestritten, aber sie haben die Warnungen der Wissenschaftler außer Acht gelassen, dass viel energischere Maßnahmen erforderlich sind, um die Emissionen zu reduzieren.“ 10 https://www.wwf.org.uk/what_we_do/press_centre/?unewsid=5529 [57]
Das Problem mit den reformistischen Auffassungen der Umweltschützer ist: Sie sehen nicht, dass der Kapitalismus von seinen eigenen Widersprüchen und seinem immer verzweifelteren und zerstörerischeren Überlebenskampf erdrückt wird. Da der Kapitalismus in der Krise steckt, kann das System nicht weniger Konkurrenz und mehr Zusammenarbeit, also eine vernünftigere Produktionsweise einführen. Auf allen Ebenen bringt das System stattdessen einen immer heftigeren Konkurrenzkampf hervor, vor allem zwischen Nationalstaaten, die irgendwie Gladiatoren ähneln, welche sich in einer Arena bekämpfen, in der Hoffnung auf unmittelbares Überleben. Immer mehr müssen kurzfristige Profite erzielt, alles dem Idol des „Wirtschaftswachstums“ unterworfen werden, d.h. der Kapitalakkumulation, auch wenn es sich nur um fiktives Wachstum handelt, das wie in den letzten Jahrzehnten auf „faulen“ Schulden fußt. Kein Land kann sich auch nur im Geringsten irgendeinen Sentimentalismus leisten, weil jedes Land seine nationalen „Schätze der Natur“ aufs äußerste ausbeuten mss. In der kapitalistischen Weltwirtschaft kann es auch keine legalen Strukturen und keine internationalen Regierungsformen geben, welche dazu in der Lage wären, die engstirnigen nationalen Interessen den globalen Interessen des Planeten
Wie groß auch immer die wirkliche Herausforderung durch die Klimaerwärmung sein wird, die ökologische Frage insgesamt beweist erneut, dass die Fortsetzung der Herrschaft der Kapitalistenklasse, der kapitalistischen Produktionsweise zu einer Gefahr für das Überleben der Menschheit geworden ist.
All dies wird sehr anschaulich verdeutlicht durch ein Beispiel, das auch zeigt, dass die Gefahr der Umweltzerstörung genauso wie die Wirtschaftskrise von den Gefahren durch militärische Bedrohungen nicht getrennt werden kann.
“In den letzten Monaten haben Ölgesellschaften Schlange gestanden, um die Explorationsrechte in der Baffin Bucht zu erwerben, einer Kohlenwasserstoff-reichen Region an der Westküste Grönlands, die bis vor kurzem mit einem dicken Eispanzer bedeckt war, der Bohrungen unmöglich machte.
US-amerikanische und kanadische Diplomaten haben erneut angefangen über Navigationsrechte in einer Seeroute durch die kanadische Arktis zu streiten, welche die Seeverbindung verkürzen und Kosten für Tanker mit langen Transportrouten senken könnte.
Jeder Besitzanspruch auf den Nordpol war immer ein Zankapfel, da Russland und Dänemark jeweils Ansprüche erhoben haben auf das darunterliegende Seegebiet, in der Hoffnung sich einen Zugang zu erwerben zu allen Naturreichtümern vom Fischbestand bis zu den Naturgasvorkommen.
Die heftigen Auseinandersetzungen um die Ansprüche auf die Arktis wurden durch diplomatische Notenwechsel ersichtlich, welche letzte Woche von Wikileaks veröffentlicht wurden. Botschaften zwischen US-Diplomaten deckten auf, wie nördliche Nationen, darunter Russland und die USA, manövriert haben, um sicherzustellen, dass sie Zugang erhalten zu Schifffahrtsrouten wie auch Öl- und Gasquellen unter dem Meer, von denen man schätzt, dass sie bis zu 25% der unerschlossenen Energiereserven der Welt enthalten.
In den diplomatischen Mitteilungen zeigten sich US-Offizielle besorgt, dass Streitigkeiten wegen der Ressourcen sogar zu einer Aufrüstung in der Arktis führen könnten. Während in der Arktis Frieden und Stabilität herrschen, kann man jedoch in der Zukunft nicht ausschließen, dass es zu einer Umverteilung der Macht kommt, bis hin zu einer bewaffneten Intervention, wird aus einem Memorandum von 2009 des US-Außenministeriums ein russischer Botschafter zitiert.“ (11)
Eines der schlimmsten Kennzeichen der Klimaerwärmung ist das Schmelzen der Polkappen, die katastrophale Überschwemmungen und einen Teufelskreis der weiteren Erwärmung nach dem Abschmelzen der Polkappen auslösen könnte, weil dadurch nicht mehr das Sonnenlicht zurückgespiegelt werden kann. Aber bei solch einem Szenario wittern die Kapitalisten sofort fette Beute. Deshalb kommt es jetzt schon zu Rangeleien unter den Nationalstaaten, die alle Ansprüche auf die Nutzung der Gebiete erheben, mit der Folge, dass der fossile Energiekonsum noch mehr ansteigt und der Treibhauseffekt noch verstärkt wird. Und gleichzeitg führen die Auseinandersetzungen um diese Ressourcen – hier Öl und Gas, anderswo Wasser oder fruchtbarer Boden – zu imperialistischen Konflikten zwischen vier und fünf Staaten (Großbritannien mischt auch noch bei diesem Konflikt mit). Dies ist der wahnsinnige Teufelskreis des Kapitalismus.
Der gleiche Artikel (der Washington Post) spricht dann von einer “guten Nachricht“ eines ‚bescheidenen’ Vertrages zwischen den beteiligten Staaten auf dem Arktisgipfel von Nuuk in Grönland. Wir wissen, wieviel diplomatische Abkommen wert sind, um die dem Kapitalismus innewohnende Tendenz zu imperialistischen Konflikten zu vereiteln.
Das globale Desaster, in welches der Kapitalismus die Menschheit treibt, kann nur durch eine globale Revolution vermieden werden.
Welche Bilanz des Kapitalismus auf gesellschaftlicher Ebene, insbesondere hinsichtlich der Hauptklasse, die die Reichtümer für den Kapitalismus herstellt, kann man ziehen? Als die Kommunistische Internationale feststellte, dass der Kapitalismus in den Zeitraum seiner inneren Zersetzung eingetreten war, zog sie ebenfalls einen Schlussstrich unter den Zeitraum der Sozialdemokratie, als diese einen Kampf für dauerhafte Reformen führen konnte und musste. Die Revolution war nunmehr notwendig geworden, weil der Kapitalismus seine Angriffe gegen die Lebensbedingungen der Arbeiter nur noch intensivieren konnte. Wie wir in früheren Artikeln dieser Serie gezeigt haben, wurde diese Analyse mehrfach während der beiden darauf folgenden Jahrzehnte bestätigt, als es zur größten Depression in der Geschichte des Kapitalismus und zum 2. Weltkrieg kam. Aber während des Nachkriegsbooms in den 1950er und 1960er Jahren wurde diese Einschätzung sogar unter den Revolutionären infragegestellt, als die Arbeiterklasse in den Industriezentren von großen Lohnerhöhungen profitierte, die Arbeitslosigkeit stark abnahm und eine Reihe von staatlich finanzierten Sozialleistungen erhielt: Krankengeld, bezahlter Urlaub, Zugang zu Bildungseinrichtungen, Gesundheitsversorgung usw.
Aber bedeuteten diese Entwicklungen, dass man die von den Revolutionären vertretene Auffassung, der Kapitalismus sei global in seinen Niedergang eingetreten und dauerhafte Reformen seien nicht mehr möglich, verwerfen muss?
Wir wollen an dieser Stelle nicht näher darauf eingehen, ob diese Verbesserungen ‘wirkliche’ oder ‘bedeutsame’ waren. Sie waren es tatsächlich und dies muss man erklären. Aus diesem Grunde hat die IKS z.B. eine Debatte in ihren Reihen über die Ursachen des ‚Wirtschaftswunders’ nach dem 2. Weltkrieg eröffnet, die wir auch veröffentlicht haben. Es geht vor allem darum den historischen Rahmen zu begreifen, in dem diese Verbesserungen stattfanden, denn dann wird man sehen, dass diese nicht vergleichbar sind mit den regelmäßigen Verbesserungen der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert, die damals zum größten Teil dank des Spielraums des Kapitalismus möglich gewesen waren, aber auch aufgrund der Organisierung und des Kampfes der Arbeiterbewegung ermöglicht wurden.
- Während viele “Nachkriegsreformen” zugestanden wurden um sicherzustellen, dass der Krieg keine Welle von revolutionären Kämpfen ähnlich wie 1917-19 auslöst, wurde die Initiative zur Einführung von Maßnahmen wie Krankenversichrung oder Vollbeschäftigung direkt vom kapitalistischen Staatsapparat ergriffen, insbesondere durch seinen linken Flügel. Dadurch wurde das Vertrauen der Arbeiterklasse in den Staat gestärkt und ihr Selbstvertrauen in ihre eigenen Kräfte und eigenen Kämpfe geschwächt.
- selbst in den Jahren des ‚Wirtschaftswunders‘ war der wirtschaftliche Wohlstand stark begrenzt. Große Teile der Arbeiterklasse, vor allem in der Dritten Welt, aber auch viele Teile in den Industriezentren (z.B. die schwarzen und armen weißen Arbeiter in den USA) blieben von den Vorteilen ausgeschlossen. In der ganzen „Dritten Welt“ hat die Unfähigkeit des Kapitals, Millionen Bauern und vearmte oder ruinierte Menschen aus anderen Schichten in die Produktion zu integrieren, die Grundlagen für die gigantischen Slumviertel und die Unterernährung und weltweite Armut geschaffen. Und diese Massen waren auch das erste Opfer der Rivalitäten zwischen den imperialistsichen Blöcken, die zu blutigen Auseinandersetzungen mit Stellvertreterkriegen in einer Reihe von unterentwickelten Ländern von Korea, Vietnam, dem Mittleren Osten bis Süd- und Westafrika führten.
- ein weiterer Beweis der Unfähigkeit des Kapitalismus, die Lebensqualität der Arbeiterklasse grundlegend zu verbessern, ist die Frage der Arbeitszeit. Die fortdauernde Verkürzung des Arbeitstags war seinerzeit ein Zeichen des ‚Fortschritts‘. Er sank von mehr als 18 Stunden zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf 8 Stunden. Der 8-Stunden-Tag wurde zu einer der Hauptforderungen der Arbeiterbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts; während der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts wurde der 8-Stunden-Tag offiziell zugestanden. Seitdem – und das betrifft auch die Zeit des Nachkriegswunders – ist die Arbeitszeit mehr oder weniger auf dem gleichen Niveau stehengeblieben, während der technische Fortschritt keineswegs die Lohnabhängigen von der Plackerei befreit hat. Stattdessen werden viele Beschäftigte unterfordert, die Arbeitslosigkeit hat zugenommen und die Ausbeutung wurde verschärft. Zudem werden die Wege zur Arbeit immer länger und zeitaufwendiger, die Arbeitszeiten werden sogar noch außerhalb des Arbeitsplatzes ausgedehnt, weil man per Handy, tragbaren Computer und Internet jederzeit und überall erreichbar ist.
- welche Verbesserungen es auch immer nach dem 2. Weltkrieg gegeben hat, diese wurden mehr oder weniger während der letzten 40 Jahre angeknabbert und untergraben, und in Anbetracht der immer näher rückenden Depression sind diese nun zur Zielscheibe immer heftigerer Angriffe geworden. Während der letzten vier Jahrzehnte ging der Kapitalismus relativ behutsam vor bei der Art und Weise, wie die Löhne gesenkt, die Massenarbeitslosigkeit durchgedrückt und Sozialleistungen abgebaut oder abgeschafft wurden. Die in einem Land wie Griechenland mit äußerster Gewalt durchgesetzten Sparbeschlüsse sind ein Vorgschmack von dem, was die Arbeiter überall erwartet.
In einem breiteren gesellschaftlichen Maßstab bedeutet die Tatsache, dass der Kapitalismus schon so lange in seinem Niedergang begriffen ist, eine gewaltige Bedrohung für die Fähigkeit der Arbeiterklasse, zu einer “Klasse für sich” zu werden. Als die Arbeiterklasse Ende der 1960er Jahre ihren Kampf wieder aufnahm, war ihre Fähigkeit, ein revolutionäres Bewusstsein zu entfalten, stark durch die Traumata der von ihr durchlebten Konterrevolution behindert. Diese Konterrevolution war in einem „proletarischen“ Gewand, dem Stalinismus, aufgetreten und hatte unter Generationen von Arbeitern ein sehr großes Misstrauen gegenüber ihren eigenen Traditionen und Organisationen hervorgerufen. Die irreführende Gleichsetzung zwischen Stalinismus und Kommunismus war gar bis in ihr Extrem gesteigert worden, als Ende der 1980er Jahre die stalinistischen Regime zusammenbrachen, wodurch das Selbstvertrauen der Arbeiterklasse und das Vertrauen in ihre Fähigkeit, eine politische Alternative gegenüber dem Kapitalismus anzubieten, noch mehr angeschlagen wurde. So wurde eine Ausgeburt des kapitalistischen Niedergangs – der stalinistische Staatskapitalismus – von allen Fraktionen der Herrschenden ausgenutzt, um das Bewusstsein der Arbeiterklasse zu untergraben und zu entstellen.
Während der 1980 und 1990er Jahre hat die Entwicklung der Wirtschaftskrise dazu geführt, dass die großen Industriezentren und Arbeiterviertel in den Industriestaaten des Westens schrumpften, ein bedeutender Teil der Industrie wurde in Gebiete der Welt verlagert, in denen es keine großen politischen Traditionen der Arbeiterklasse gibt. Die Errichtung von vielen Stadtvierteln in vielen entwickelten Ländern, die als „no man's land“ gelten, führte zu einer Abschwächung der Klassenidentität und allgemein dem Zerbröseln sozialer Verbindungen, die im Gegenzug eine Suche nach falschen Gemeinschaften auslöste, welche nicht neutral sind, sondern verheerende Wirkungen zeigen. Zum Beispiel werden Teile der aus der Gesellschaft ausgeschlossenen weißen Jugend von Banden der Extrem Rechten angezogen wie durch die English Defence League in Großbritannien; andere Teile aus der muslimischen Jugend, die in der gleichen materiellen Lage stecken, geraten in den Sog von islamistischen und jihadistischen Kräften. Im Allgemeinen kann man die zerstörerischen Auswirkungen der Bandenkultur in fast allen städtischen Ballungsgebieten der Industriestaaten feststellen, auch wenn die spektakulärsten Folgen in den Ländern der Peripherie wie Mexiko am eklatantesten sind, wie man anhand des permanenten Krieges zwischen Drogenbanden erkennen kann, von denen einige direkt mit nicht weniger korrupten Teilen des Staates verbunden sind.
Diese Erscheinungen – der angsteinjagende Verlust jeglicher Zukunftsperspektiven, die Ausbreitung einer nihilistischen Gewalt – sind ein ideologisches Gift, welches langsam in die Adern der Ausgebeuteten der ganzen Welt eindringt und deren Fähigkeit untergräbt, sich als eine einzige Klasse aufzufassen, deren Wesenskern in der internationalen Solidarität besteht.
Ende der 1980er Jahre gab es in der IKS Tendenzen, die Welle von Kämpfen der 1970er und 1980er Jahre als mehr oder linear fortschreitend hin zu einem revolutionären Bewusstsein einzuschätzen. Diese Tendez wurde heftig von Marc Chirik kritisiert, der anhand einer Analyse der terroristischen Attentate in Frankreich und dem plötzlichen Zusammenbruch des Ostblocks als erster die Idee formulierte, dass wir in eine neue Phase des kapitalistischen Niedergangs eingetreten waren, welche wir als seine Zerfallsphase bezeichnen. Diese neue Phase wurde im Wesentlichen bestimmt durch eine Art gesellschaftliche Sackgasse; eine Lage, in der weder die herrschende noch die ausgebeutete Klasse in der Lage waren, ihre Alternativen für die Zukunft der Gesellschaft durchzusetzen – d.h. für die Kapitalistenklasse den Weltkrieg, für die Arbeiterklasse die Weltrevolution. Aber da der Kapitalismus nie auf der Stelle treten kann und die sich verschärfende Wirtschaftskrise neue Stufen erreichen musste, war die Gesellschaft in Ermangelung einer Perspektive zur Fäulinis verurteilt, wodurch wiederum zusätzliche Hindernisse für die Entwicklung des Klassenbewusstseins entstanden.
Ungeachtet dessen, ob man mit den Parametern des Konzeptes des Zerfalls, wie er von der IKS gesehen wird, einverstanden ist oder nicht, das Wesentliche an dieser Analyse ist, dass wir in die Endphase des Niedergangs dieser Gesellschaft eingetreten sind. Es gibt immer mehr Beweise, dass wir in einer Endstufe des Niedergangs des Systems stecken und dass das System sich in einem Todeskampf befindet, welcher sich in den letzten Jahrzehnten immer weiter zugespitzt hat, so dass eine allgemeine Weltuntergangsstimmung entstanden ist - eine Anerkenntnis, dass wir am Rande des Abgrunds stehen. Diese Untergangsstimmung breitet sich immer weiter aus. 12 [58] Und dennoch, innerhalb der proletarischen politischen Bewegung stößt die Dekadenztheorie keineswegs auf einhellige Zustimmung. Wir werden auf einige der Argumente gegen diese Theorie im nächsten Artikel eingehen.
Gerrard
1 [59] Siehe den vorhergehenden Artikel in der International Review Nr. 147 (engl. Ausgabe) „Dekadenz des Kapitalismus: Das Wirtschaftswunder nach dem 2. Weltkrieg hat den Niedergang des Kapitalismus nicht aufhalten können“ https://fr.internationalism.org/rint147/decadence_du_capitalisme_le_boom_d_apres_guerre_n_a_pas_renverse_le_cours_du_declin_du_capitalisme.html [60]
2 [61] Als Antwort auf die Schrift von Marcuse “Der eindimensionale Mensch – Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft” 1964 .
3 [62] Siehe in “Internationale Revue” (engl. Ausgabe Nr. 146) „Dekadenz des Kapitalismus – aus der Sicht der Revolutionäre bestätigt die Große Depression, dass der Kapitalismus obsolet geworden ist“ https://fr.internationalism.org/rint146/pour_les_revolutionnaires_la_grande_depression_confirme_l_obsolescence_du_capitalisme.html [63]
4 [64] “Marx und Keynes, Die Grenzen des “Gemischten Wirtschaftssytems”, 14. Kapitel, "Die gemischte Wirtschaft“.
5) Eine andere Schwäche des Buches “Marx und Keynes” ist die verächtliche Haltung Matticks gegenüber Rosa Luxemburg und dem Problem, das sie hinsichtlich der Verwirklichung des Mehrwerts aufgeworfen hatte. Er geht nur einmal direkt auf Luxemburg in seinem Buch ein: "Um die Jahrhundertwende sah die Marxistin Rosa Luxemburg in den Schwierigkeiten der Merhwertrealisierung die objektiven Gründe für die Krisen und Kriege und den endgültigen Niedergang des Kapitalismus. All das hat nicht viel mit Marx zu tun, der erkannte, dass die Welt des Kapitalismus sicherlich gleichzeitig ein Produktions- und Zirkulationsprozess war, der aber hervorhob, dass nichts zirkuliert bevor es nicht zunächst produziert wird, und aus diesem Grund sah er die Priorität im Produktionsprozess. Wenn die Produktion von Mehrwert ausreicht, um eine beschleunigte Kapitalexpansion zu ermöglchen, gibt es wenig Grund zur Annahme, dass der Kapitalismus im Bereich der Zirkulation zusammenbrechen wird“ (S. 91, englische Ausgabe).
Von der Tautologie ausgehend, dass „nichts zirkuliert bevor es nicht zunächst produziert wird“, folgert Mattick unzulässigerweise, dass der entsprechende Mehrwert notwendigerweise auf dem Markt realisiert werden kann. Die gleiche Argumentationskette taucht in dem folgenden Abschnitt auch wieder auf.
„Warenproduktion schafft ihren eigenen Markt solange sie dazu in der Lage ist, Mehrwert in neues Kapital zu verwandeln. Die Marktnachfrage ist eine Nachfrage nach Konsumgütern und Produktionsmitteln. Akkumulation kann nur die Akkumulation von Produktionsmitteln sein, denn was konsumiert wird, wird nicht akkumuliert sondern verschwindet einfach. Das Wachsen des Kapitals in seiner physischen Form ermöglicht die Verwirklichung des Mehrwerts außerhalb der Kapital-Arbeit Tauschbeziehungen. Solange es eine ausreichende und fortgesetzte Nachfrage nach Produktionsmitteln gibt, gibt es keinen Grund, weshalb Waren, die auf den Markt gelangen, nicht verkauft werden könnten“ (S. 76, englische Ausgabe). Dies steht im Widerspruch zu Marxens Auffassung, derzufolge “die Produktion von konstantem Kapital nie seiner selbst willen stattfindet, sondern nur, weil mehr davon gebraucht wird in den Produktionssphären, deren Produkte in die individuelle Konsumtion eingehn“ (Marx, Kapital, Bd. 3, MEW 25, IV. Abschnitt, das kaufmännische Kapital, 18. Kapitel, Der Umschlag des Kaufmannskapitals, Die Preise, S. 317).
Mit anderen Worten: die Nachfrage nach Konsumgütern löst die Nachfrage nach Produktionsmitteln aus, und nicht umgekehrt. Mattick selbst erkennt diesen Widerspruch (in Krisen und Krisentheorien) zwischen seiner Auffassung und einigen Aussagen Marxens an. Aber wie gesagt, wir wollen hier nicht in diese Debatte einsteigen. Das Hauptproblem ist, obwohl Mattick Rosa Luxemburg natürlich als eine Marxistin und echte Revolutionärin ansah, hat er sich denjenigen angeschlossen, die das Problem, welches sie hinsichtlich der Frage des Akkumulationsprozesses aufgeworfen hatte, verwerfen und als außerhalb des Rahmens des Marxismus stehenden Unsinn ansehen. Wie wir in früheren Artikeln aufgezeigt haben, trifft diese Haltung nicht auf alle Kritiker Rosa Luxemburgs zu. Z.B. bezog Roman Rosdolsky eine andere Haltung. (siehe unseren Artikel in der International Review Nr. 142 (engl. Ausgabe) „Rosa Luxemburg und die Grenzen der Ausdehnung des Kapitalismus“. https://fr.internationalism.org/rint142/rosa_luxemburg_et_les_limites_de_l_expansion_du_capitalisme.html [65].)
Diese zum Großteil sektiererische Herangehensweise hat seitdem immer die Debatte unter den Marxisten enorm erschwert.
1 Siehe dazu: “International Review Nr. 132, (engl. Ausgabe): „Dekadenz des Kapitalismus: die Revolution ist notwendig und möglich“ (2008https://fr.internationalism.org/rint132/decadence_du_capitalisme_la_revolution_est_necessaire_et_possible_depuis_un_siecle.html [66].
Um mehr Details und Statistiken hinsichtlich der globalen Entwicklung der historischen Krise und ihren Auswirkungen auf die Produktion und das Leben der Arbeiter zu erfahren, siehe andere Artikel in unserer International Review – u.a. Nr. „Ist der Kapitalismus eine dekadente Produktionsform und warum?“
7) Wiederveröffentlicht zum Teil in International Review Nr. 59 (1989)
https://fr.internationalism.org/rinte59/guerre.htm [67]
8) Das heißt natürlich nicht, dass die Menschheit in einem imperialistischen System in größerer Sicherheit lebt, das immer chaotischer wird. Im Gegenteil, ohne die vom alten Blocksystem erzwungene Disziplin sind noch stärker zerstörerische lokale oder regionale Kriege viel wahrscheinlicher geworden. Deren Zerstörungspotenzial hat auch mit der Weiterverbreitung von Atomwaffen noch zugenommen. Gleichzeitig könnten diese auch in weit von den Zentren des Kapitalismus entfernten Gebieten ausgelöst werden. Sie sind weniger abhängig von einem anderem Faktor, welcher seit Ende der 1960er Jahre gewissermaßen als Bremse für die Tendenz zum Weltkrieg gewirkt hat: Die Schwierigkeit, die Arbeiterklasse der zentralen Länder für eine imperialistische Konfrontation zu mobilisieren.
9 [68] www.nationalgeographic.com/science/article/111109-world-energy-outlook-2011 [69]
10 [70] www.theguardian.com/environment/2011/dec/11/global-climate-change-treaty-durban [71]
11 [72] https://www.washingtonpost.com/national/environment/warming-arctic-opens-way-to-competition-for-resources/2011/05/15/AF2W2Q4G_story.html [73]
12 [74] Siehe zum Beispiel The Guardian, "The news is terrible. Is the world really doomed? [75]", A. Beckett, 18/12/2011.
Die Auszüge aus dem Buch von Agis Stinas – einem revolutionären Kommunisten aus Griechenland -, die wir hier veröffentlichen, sind ein Angriff auf den antifaschistischen Widerstand während des Zweiten Weltkriegs. Darüber hinaus enthalten sie eine schonungslose Abrechnung mit drei heillos miteinander verschmolzenen Mystifikationen, die jede für sich für das Proletariat tödlich ist: die Verteidigung der Sowjetunion, der Nationalismus und der demokratische Antifaschismus.
Die Explosion des Nationalismus in der ehemaligen Sowjetunion und ihrem Reich in Ost-Europa wie auch die Entwicklung von gewaltigen antifaschistischen ideologischen Kampagnen in den Ländern Westeuropas geben diesen - Ende der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts - geschriebenen Auszügen einen ungeahnte Aktualität.
Es wird heute zunehmend schwieriger für die herrschende Ordnung, ihre Herrschaft zu rechtfertigen. Die Katastrophe, zu der ihre Gesetze geführt haben, verhindert dies. Konfrontiert mit dem Proletariat, der einzigen Kraft, die in der Lage ist, diese Ordnung zu stürzen und eine andere Gesellschaft aufzubauen, setzt die herrschende Klasse auf die ideologischen Waffen, die ihr zur Verfügung stehen: die Spaltung in und Unterwerfung durch die verschiedenen nationalen Fraktionen des Kapitals. Heute stehen Nationalismus und Antifaschismus an der Spitze des konterrevolutionären Arsenals der Bourgeoisie.
Agis Stinas nimmt die marxistische Analyse zur nationalen Frage von Rosa Luxemburg auf und erinnert daran, dass der Kapitalismus in seine imperialistische Phase eingetreten ist: „… die Nation hat ihre historische Mission erfüllt. Nationale Befreiungskriege und bürgerlich-demokratische Revolutionen sind von nun an nicht mehr möglich.“ Auf dieser Grundlage greift er die Argumente jener an, die während des Zweiten Weltkriegs zur Beteiligung am antifaschistischen Widerstand aufriefen. Damit zerstört er die Beweisführung, dass die Volksfront und die antifaschistische Dynamik zur Revolution führen.
Stinas und die UCI (Union Communiste Internationaliste) waren Teil einer Handvoll Revolutionärer, denen es gelang, im Zweiten Weltkrieg gegen den Trend zum Nationalismus anzukämpfen, welche die „Demokratie“ gegen den „Faschismus“ verteidigten, um den Internationalismus im Namen der „Verteidigung der Sowjetunion“ abzuwerfen.
Da diese Revolutionäre – selbst im revolutionären Milieu - fast alle unbekannt sind (ihre Texte existieren nur in griechischer Sprache), lohnt es sich, einige Details aus ihrer Geschichte vorwegzuschicken.
Stinas gehörte zu jener Generation von Kommunisten, die von der großen internationalen revolutionären Welle erfasst wurde, welche den Ersten Weltkrieg beendet hatte. Sein gesamtes Leben hindurch hielt er an den großen Hoffnungen fest, die durch den Roten Oktober 1917 und durch die Deutsche Revolution von 1919 aufgekommen waren. Er war bis zu seinem Ausschluss 1931 Mitglied der griechischen Kommunistischen Partei (zu einer Zeit, als sie noch nicht ins bürgerliche Lager gewechselt war). Anschließend wurde er Bestandteil der leninistischen Opposition, die die Wochenzeitung „Fahne des Kommunismus“ veröffentlichte und sich auf Trotzki, dem internationalen Symbol für den Widerstand gegen den Stalinismus, bezog.
1933 übergab Hindenburg in Deutschland die Macht an Hitler. Damit war das offizielle Regime in Deutschland faschistisch (bzw. nationalsozialistisch) geworden. Stinas führt aus, dass der Sieg des Faschismus den Tod der Kommunistischen Internationale signalisierte - ähnlich dem 4. August 1914, als die II. Internationale und ihre Sektionen definitiv und unwiederbringlich für die Arbeiterklasse verloren gingen. Entstanden als Organe des proletarischen Kampfes, waren sie nun zu Werkzeugen des Klassenfeinds geworden. Die Pflicht der Revolutionäre auf der ganzen Welt war es nun, neue revolutionäre Parteien – außerhalb und gegen die Internationale - zu gründen.
Die heftige Debatte provozierte eine Krise der trotzkistischen Organisation; Stinas Position geriet in die Minderheit, woraufhin er die Organisation verließ. 1935 trat er der Organisation „Der Bolschewik“ bei, die sich vom Archeomarxismus getrennt hatte und nun als Union Communiste Internationaliste (UCI) auftrat. Zu dieser Zeit war die UCI die einzig anerkannte Sektion von Trotzkis Internationalist Communist Leage (ICL) – die IV. Internationale wurde erst 1938 gegründet.
Seit 1937 lehnte die UCI eine zentrale Parole der IV. Internationale: die „Verteidigung der UdSSR“. Stinas und seine Genossen erreichten diese Position nicht durch eine Debatte über den gesellschaftlichen Charakter der UdSSR, sondern durch eine kritische Aufarbeitung der Politik und Parolen, die im Angesicht des drohenden Weltkriegs angenommen wurden. Die UCI bemühte sich darum, alle Anzeichen aus ihrem Programm zu verbannen, die in irgendeiner Weise die Infiltration von Sozialpatriotismus unter dem Deckmantel der Verteidigung der UdSSR erlaubt hätten.
Während des Zweiten Weltkriegs blieb Stinas als kompromissloser Internationalist loyal gegenüber den Prinzipien des revolutionären Marxismus, wie Lenin und Rosa Luxemburg ihn während des ersten Weltkriegs formuliert und praktisch angewendet hatten.
Die UCI war seit 1934 die einzige Sektion der trotzkistischen Strömung in Griechenland. Isoliert von anderen Ländern, war diese Gruppe durch all die Jahre des Kriegs und der Besetzung davon überzeugt, dass die Trotzkisten an der gleichen Front, für die gleichen Ideale und gegen den Strom kämpften.
Die ersten Nachrichten, die sie über die tatsächlichen Positionen der trotzkistischen Internationale bekamen, ließen Stinas und seine Genossen aufschrecken. Die Lektüre des französischen Pamphlets „Die Trotzkisten im Kampf gegen die Nazis“ erbrachte den Nachweis, dass die Trotzkisten, wie alle anderen guten Patrioten, den Kampf gegen die Nazis aufgenommen hatten. Sie erfuhren von der schändlichen Haltung Cannons und der SWP (Socialist Workers Party) in den USA.
Der Krieg war für die Organisationen der Arbeiterklasse ein harter Test; die IV. Internationale scheiterte und zerfiel zu Staub. Ihre Sektionen stellten sich in den Dienst ihrer jeweiligen Bourgeoisien; einige offen, indem sie zur „Verteidigung des Vaterlandes“ aufriefen, andere unter dem Deckmantel der „Verteidigung der UdSSR“. So trugen sie alle auf ihre eigene Weise zum Kriegsgemetzel bei.
Im Herbst 1947 brach die UCI alle politischen und organisatorischen Verbindungen zur IV. Internationale ab. In den folgenden Jahren, der – politisch - schlimmsten Periode der Konterrevolution, als revolutionäre Gruppen zu kleinen Minderheiten dahin schmolzen und die meisten derjenigen, die den Grundprinzipien des proletarischen Internationalismus und der Oktoberrevolution treu geblieben waren, komplett isoliert wurden, wurde Stinas der Hauptvertreter der „Sozialismus oder Barbarei“-Strömung in Griechenland. Diese Strömung, der es niemals gelang, den durch und durch kapitalistischen Charakter der gesellschaftlichen Verhältnisse in der UdSSR zu erkennen, entwickelte die Theorie einer Art dritten Ausbeutungssystems, das auf der Trennung zwischen „Befehlsgebern“ und „Befehlsempfängern“ basiert. Diese Strömung entfernte sich immer weiter vom Marxismus und zerfiel letztendlich in den 60ern. Gegen Ende seines Lebens übte Stinas keine wirklich organisierte politische Aktivität mehr aus. Er näherte sich stark dem Anarchismus an und starb 1987.
Die Nation ist - wie der Stamm, die Familie, die Stadt - ein Produkt der Geschichte. Sie erfüllt eine historische Notwendigkeit und muss verschwinden, sobald diese erfüllt ist.
Die Klasse, die diese soziale Organisation der Nation hervorbringt, ist die Bourgeoisie. Der Nationalstaat deckt sich mit dem Staat der Bourgeoisie; historisch gesehen, vereinigt sich die fortschrittliche Aufgabe der Nation mit der des Kapitalismus, um durch die Entwicklung der Produktivkräfte, die materiellen Konditionen für den Sozialismus zu erschaffen.
Dieses historisch progressive Werk des Kapitalismus kommt mit der Epoche des Imperialismus, der großen imperialistischen Mächte, mit ihren Antagonismen und Kriegen, an sein Ende. Die Nation hat ihre historische Mission erfüllt. Von nun an machen nationale Befreiungskriege und bürgerlich-demokratische Revolutionen keinen Sinn mehr.
Die proletarische Revolution steht auf der Tagesordnung. Diese erschafft oder bewahrt keine Nationen und Grenzen, sondern zerstört sie und vereinigt alle Menschen der Welt in einer weltweiten Gemeinschaft.
Die Verteidigung der Nation und des Vaterlandes bedeuten in unserer Epoche nichts anderes als die Verteidigung des Imperialismus, dem Gesellschaftssystem, das Kriege provoziert, das nicht ohne Kriege leben kann und das die Menschheit in das Chaos und die Barbarei führt. Dies gilt sowohl für die großen imperialistischen Mächte als auch für die kleinen Nationen, deren herrschende Klassen als Komplizen und Verbündete der Großmächte auftreten können.
“Sozialismus ist in dieser Stunde der einzige Rettungsanker der Menschheit. Über den zusammensinkenden Mauern der kapitalistischen Gesellschaft lodern wie ein feuriges Menetekel die Worte des Kommunistischen Manifests: Sozialismus oder Untergang in der Barbarei!” (Rosa Luxemburg, “Was will der Spartakusbund?” 1918)
Sozialismus ist eine Angelegenheit der Arbeiter der gesamten Welt. Der Kampf für die Abschaffung des Kapitalismus und für den Aufbau des Sozialismus ist der gemeinsame Kampf der Arbeiter dieser Welt. In diesem gemeinsamen Kampf gibt es eine geographisch bestimmte Teilung. Der Kampf findet in jedem einzelnen Land gegen die eigene herrschende Klasse statt. Dies ist der Bereich der internationalen Kampffront der Arbeiter, um den Kapitalismus zu überwinden. Wenn die arbeitenden Massen jedes einzelnen Landes sich nicht bewusst sind, dass sie Teil der Sektion der globalen Klasse sind, werden sie nie fähig sein, den Weg der sozialen Emanzipation zu betreten.
Es ist keine Sentimentalität, der den Kampf für den Sozialismus in einem bestimmten Land zu einem integralen Bestandteil des Kampfes für eine weltweite sozialistische Gesellschaft macht, sondern die Unmöglichkeit des Sozialismus in einem Land. Der einzige „Sozialismus“ mit nationalen Farben und nationaler Ideologie, den uns die Geschichte gab, ist der von Hitler, der einzige nationale „Kommunismus“ ist der von Stalin.
Der Kampf gegen die herrschende Klasse innerhalb eines Landes und die Solidarität mit den arbeitenden Massen der gesamten Welt sind die beiden fundamentalen Prinzipien der Volksmassen für ihre ökonomische, politische und soziale Befreiung unserer Zeit. Dies gilt für den „Frieden“ wie für den Krieg.
Krieg zwischen Völkern ist Geschwistermord. Der einzige gerechte Krieg ist der, in dem die Völker sich über Nationen und Grenzen hinweg gegen ihre Ausbeuter verbrüdern.
Die Aufgabe der Revolutionäre – sowohl in „Friedens-“ wie auch in Kriegszeiten – ist es, den Massen dabei zu helfen, sich über die Ziele und die Mittel ihrer Bewegung bewusst zu werden, sich von der Beherrschung durch die politische und gewerkschaftliche Bürokratie zu befreien, ihre Sache in die eigenen Hände zu nehmen, kein Vertrauen in irgendeine „Führung“ zu haben, außer den ausführenden Organen, die sie selbst gewählt haben und die jederzeit absetzbar sind, um Bewusstsein über ihre eigene politische Verantwortung zu erlangen und zuallererst, um sich von der nationalen und patriotischen Mythologie intellektuell zu befreien.
Dies sind die Prinzipien des revolutionären Marxismus, wie Rosa Luxemburg sie formuliert und praktisch angewendet hat und die ihre Politik und Taten während des Ersten Weltkriegs geleitet haben. Diese Prinzipien leiten [heute] unsere Politik und Taten im Zweiten Weltkrieg. Mit Hilfe der oben geschriebenen Prinzipien und Positionen werden wir die Politik und die Aktion der EAM abschätzen und bewerten.
Die „Résistance-Bewegung“ – d.h. der Kampf gegen die Deutschen in all seinen Formen: von der Sabotage bis zum Partisanenkrieg in den besetzten Gebieten - kann nicht außerhalb des Kontextes des imperialistischen Krieges, von dem er ein integraler Teil ist, betrachtet werden. Sein progressiver oder reaktionärer Charakter kann nicht durch die Beteiligung der Massen, seine anti-faschistischen Begründung, seine Unterdrückung durch den deutschen Imperialismus beurteilt werden, sondern allein über seine Funktion im progressiven oder reaktionären Charakter des Krieges.
Die ELAS, wie auch die EDES [4], sind Armeen, die den Krieg innerhalb des Landes gegen die Deutschen und Italiener fortsetzen. Dies allein führt uns zu unserer Position ihnen gegenüber. Die Teilnahme an der Résistance-Bewegung, unter welchen Parolen und Rechtfertigungen auch immer, bedeutet Beteiligung am Krieg.
Unabhängig von den Gefühlen der Massen und den Intentionen ihrer Führer ist diese Bewegung aufgrund der Bedingungen des zweiten imperialistischen Massakers ein Organ und Anhängsel des vereinigten Imperialismus (…)
Der Patriotismus der Massen und ihre Einstellung zum Krieg sind, obwohl vollkommen gegen ihr historisches Interesse, ein wohl bekanntes Phänomen seit dem vorherigen Krieg. Trotzki hat die Revolutionäre in mehreren Artikeln unermüdlich vor der Gefahr gewarnt, überrascht oder vom Strom mitgerissen zu werden. Es ist die Pflicht der internationalistischen Revolutionäre, sich gegen den Strom zu stemmen und das historische Interesse des Proletariats gegen den Strom zu verteidigen.
Dieses Phänomen kann man nicht allein mit der technischen Art und Weise - Propaganda, Radio, Presse, Umzüge/Prozessionen und die Begeisterung, die zu Beginn des Krieges geschaffen wurde - erklären. Ebenso berücksichtig werden muss die vorherige politische Entwicklung: die Niederlagen der Arbeiterklasse, die Entmutigungen, die Zerstörung des Vertrauens in die eigene Stärke und die Kampfformen des Klassenkampfs als auch die Zerstreuung der internationalen Arbeiterbewegung und die opportunistische Politik, die die eigenen Energien geschwächt hatte.
Es gibt kein historischen Gesetz, das den Punkt angeben kann, an dem die Massen, die vorher vom Krieg gefangen waren, plötzlich ihre eigenen Ziele wiederentdecken. Es sind konkrete politische Bedingungen, die das Klassenbewusstsein erwecken. Die katastrophalen Folgen, die der Krieg für die Massen hat, unterhöhlen den patriotischen Enthusiasmus. Mit der wachsenden Unzufriedenheit wird ihr Widerstand gegen die Imperialisten wie auch gegen ihre eigenen Führer, den Agenten des Imperialismus, und ihr Klassenbewusstsein erwachen. Die Schwierigkeiten der herrschenden Klasse nehmen zu.
Es droht ein Bruch der inneren Einheit, die innere Front zerfällt und der Kurs zur Revolution eröffnet sich. Internationalistische Revolutionäre bemühen sich darum, diesen objektiv stattfindenden Prozess durch ihren kompromisslosen Kampf gegen die patriotischen und sozial-patriotischen Organisationen zu beschleunigen. Dieser Kampf erfolgt – offen oder versteckt – durch die konsequente Anwendung der Politik des revolutionären Defätismus.
Die Bedingungen des Krieges und der Besetzung hatten [bisher] einen völlig anderen Einfluss auf die Psychologie der Massen und ihre Beziehungen zur Bourgeoisie. Ihr Klassenbewusstsein ist in nationalistischem Hass zerfallen, ständig durch das barbarische Verhalten der Deutschen verstärkt. Verwirrung ist weit verbreitet, die Idee der Nation und ihres Schicksals haben sich vor die sozialen Unterschiede geschoben. Die Idee der nationalen Einheit bekam weiteren Zulauf; die Massen haben sich der Bourgeoisie, repräsentiert durch die Organisationen des nationalen Widerstands, unterworfen. Die vorausgegangenen Niederlagen haben das industrielle Proletariat gebrochen. Sein besonderes [politisches und empirisches] Gewicht hat stark abgenommen, und es fand sich für die Dauer des Krieges in dieser erschreckenden Situation gefangen.
Die Wut und Empörung der Massen gegen den deutschen Imperialismus in den besetzten Ländern ist gleich dem der deutschen Massen gegen den alliierten Imperialismus (gegen das barbarische Bombardement von Arbeiterbezirken). Doch diese berechtigte Wut, die mit allen Mitteln durch die Parteien der Bourgeoisie aller Schattierungen verstärkt wird, wird von den Imperialisten für ihre eigenen Interessen benutzt. Die Aufgabe der Revolutionäre ist es weiterhin, gegen den Strom zu schwimmen und die Wut gegen ihre eigene Bourgeoisie zu lenken. Nur die Unzufriedenheit gegen unsere eigene Bourgeoisie kann zu einer historischen Kraft werden, die uns für immer von Kriege und Zerstörung befreit. In dem Moment, in dem ein Revolutionär im Krieg allein die Unterdrückung durch den feindlichen Imperialismus im eigenen Land wahrnimmt, wird er zum Opfer der nationalistischen Mentalität und der sozial-patriotischen Logik. Er zerschlägt die Verbindungen, die allein die revolutionären Arbeiter, die in den verschiedenen Ländern ihrer Fahne treu bleiben, einigen können. (…)
Der Kampf gegen die Nazis in den von den Deutschen besetzten Ländern ist ein Trick, eines dieser Mittel des alliierten Imperialismus, die die Massen an ihren Kriegskurs fesselt. Der Kampf gegen die Nazis ist Sache des deutschen Proletariats. Er ist nur möglich, wenn alle Arbeiter in ihren Ländern gegen ihre eigene Bourgeoisie kämpfen. Die Arbeiter der besetzten Länder, die gegen die Nazis kämpfen, kämpfen nicht für ihre eigenen Interessen, sondern für die ihrer Ausbeuter, und die, die die Arbeiter in den Krieg treiben, sind, was immer ihre Intentionen und Rechtfertigungen sein mögen, imperialistische Agenten. Der Aufruf an die deutschen Soldaten, sich mit den Arbeitern der besetzten Länder in einem gemeinsamen Kampf gegen die Nazis zu verbrüdern, war ein künstlicher Taschenspielertrick der alliierten Imperialisten. Der proletarische Kampf in Griechenland gegen die eigene Bourgeoisie schließt den Kampf gegen die nationalen Organisationen mit ein; nur das Vorbild eines solchen Kampfes kann das Klassenbewusstsein der rekrutierten deutschen Arbeiter wecken, Verbrüderung möglich machen und damit den Kampf des deutschen Proletariats gegen Hitler beleben.
Heuchelei und Betrug sind nicht weniger unentbehrlich für die Ausübung des Krieges wie Panzer, Flugzeuge und Artillerie. Ohne die Bezwingung der Massen ist der Krieg nicht möglich. Doch um sie zu bezwingen, müssen sie davon überzeugt sein, für ihre eigenen Interessen zu kämpfen. All die Parolen von Freiheit, Wohlstand, Zerschlagung des Faschismus, sozialistische Reformen, Volksrepublik, Verteidigung der UdSSR haben dieses Ziel. Dies ist hauptsächlich die Aufgabe der „Arbeiter“-Parteien, die ihre Autorität, ihren Einfluss, ihre Verbindungen mit den arbeitenden Massen, den besonderen Traditionen der Arbeiterbewegung geltend machen, um die Arbeiter hinters Licht zu führen und ihnen die Kehle durchzuschneiden.
Die Illusionen der Massen im Krieg, ohne die diese Kriegspolitik unmöglich wäre, sind nicht mehr fortschrittlich; nur die heuchlerischsten Sozialpatrioten benutzen sie, um sich zu rechtfertigen. All die Versprechungen, die Erklärungen und Parolen der sozialistischen und kommunistischen Partei in diesem Krieg sind Betrug (…)
Die Umwandlung einer Bewegung in einen politischen Kampf gegen das kapitalistische Regime ist nicht von uns und von der überzeugenden Kraft unserer Ideen abhängig, sondern von der Natur dieser Bewegung selbst.
„Die Beschleunigung und Förderung der Umwandlung der Résistance-Bewegung in eine Bewegung des Kampfs gegen den Kapitalismus“ wäre möglich, wenn diese Bewegung in der Lage ist, sowohl in den Klassenbeziehungen als auch im Bewusstsein und in der Psychologie der Massen die günstigsten Bedingungen für eine Umwandlung in einen allgemeinen politischen Kampf gegen die Bourgeoisie und damit für die proletarische Revolution zu schaffen.
Der Kampf der Arbeiterklasse für ihre unmittelbaren ökonomischen und politischen Bedürfnisse kann sich im Lauf ihrer Entwicklung selbst in einen generellen politischen Kampf zum Sturz der Bourgeoisie umwandeln. Doch wird dies durch die Form des Kampfes selbst möglich: durch ihre Opposition gegen die Bourgeoisie und ihren Staat - und durch die Natur ihrer Klassenbedürfnisse werden die Massen sich selbst von nationalistischen, reformistischen und demokratischen Illusionen und den Einfluss der feindlichen Klasse befreien. So entwickeln sie ihr Vertrauen, ihre Initiative, ihren kritischen Geist, ihr Selbstbewusstsein. Durch die Ausweitung des Kampfgebietes wächst die Beteiligung der Massen, und je tiefer der soziale Boden gepflügt wird, desto deutlicher treten sich die Klassen gegenüber und desto größeres Gewicht bekommt das revolutionäre Proletariat im Kampf der Massen. Die Bedeutung der revolutionären Partei ist enorm. Sie besteht darin, den Prozess zur Entwicklung des Bewusstseins zu beschleunigen, den Arbeitern zu helfen, sich ihre Erfahrungen anzueignen, die Notwendigkeit zu unterstützen, die Macht in die Hand der Massen zu nehmen und den Aufstand zu organisieren, um den Sieg zu sichern.
Doch es ist die Bewegung selbst – ihre Natur und ihre innere Logik -, die der Partei Stärke verleiht. Dies ist ein objektiver Prozess, in dem die Politik der revolutionären Bewegung ihr bewusster Ausdruck ist. Das Wachstum der Résistance-Bewegung hat, entsprechend ihrer eigenen Natur, genau das gegenteilige Ergebnis: Es zerstört Klassenbewusstsein, es verstärkt die Illusionen und den nationalistischen Hass, es zerstreut und atomisiert das Proletariat in der anonymen Masse der Nation, es unterwirft das Proletariat der nationalen Bourgeoisie und bringt die widerlichsten nationalistischen Elemente an die Oberfläche.
Was bleibt für heute? Hass und nationalistische Vorurteile, Erinnerungen und Traditionen einer Bewegung, die von den Stalinisten und Sozialisten leicht ausgenutzt werden konnten. Das Erbe der Résistance-Bewegung ist das schwerwiegendste Hindernis für die Klassenorientierung der Massen.
Hätte es eine objektive Möglichkeit der Résistance-Bewegung gegeben, sich selbst in einen politischen Kampf gegen den Kapitalismus umzuwandeln, hätte sich dies ohne unsere Beteiligung ausgedrückt. Doch wir haben nirgendwo in den Reihen der Résistance, auch nicht in einer konfusen Form, eine proletarische Tendenz entdeckt.
Die Verschiebungen der militärischen Front und der Besatzungsgebiete durch die Armeen der Achsenmächte in diesem Land, ähnlich wie im gesamten Europa, verändern weder den Charakter des Krieges noch werfen sie eine authentische nationale Frage auf. Dies verändert weder unsere strategische Ausrichtung noch unsere grundsätzlichen Aufgaben. Die Aufgabe der revolutionären Partei unter diesen Bedingungen ist es, den Kampf gegen die nationalistischen Organisationen zu entwickeln und die Arbeiterklasse vor anti-deutschem Hass und nationalistischem Gift zu schützen.
Internationalistische Revolutionäre nehmen an den Kämpfen der Massen für ihre unmittelbaren ökonomischen und politischen Bedürfnisse teil, um zu versuchen, ihnen eine klare Klassenorientierung zu geben und mit aller Deutlichkeit die nationalistische Ausnutzung dieser Kämpfe zu bekämpfen. Statt den Deutschen und Italienern Vorwürfe zu machen, erklären sie, warum der Krieg ausgebrochen ist – ein Krieg, dessen Barbarei eine unausweichliche Konsequenz seiner Natur ist. Sie denunzieren mutig die Verbrechen des eigenen imperialistischen Lagers und ihrer Bourgeoisie, repräsentiert durch die verschiedenen nationalistischen Organisationen. Sie rufen die Massen dazu auf, sich mit den italienischen und deutschen Soldaten im gemeinsamen Kampf für den Sozialismus zu verbrüdern. Die proletarische Partei lehnt alle patriotischen Kämpfe ab, egal wie massenhaft ihre Beteiligung ist und in welcher Form sie stattfinden. Sie ruft die Massen offen dazu auf, sich von diesen fern zu halten.
Revolutionärer Defätismus wird unter den Bedingungen der Besetzung auf schreckliche und beispiellose Hindernisse stoßen. Doch die Schwierigkeiten können nicht unsere Aufgaben ändern. Im Gegenteil, je heftiger der Rückfluss, desto kompromissloser muss die revolutionäre Bewegung ihren Prinzipien folgen, desto kompromissloser muss sie gegen diesen Rückfluss anschwimmen. Allein diese Politik macht es möglich, die Empfindungen der revolutionären Massen in der Zukunft auszudrücken und sich an die Spitze ihrer Kämpfe zu stellen. Die Politik der Unterwerfung gegenüber dem Rückfluss, ist eine Politik zur Stärkung der Résistance-Bewegung. Diese wird nur ein weiteres Hindernis für das Bedürfnis der Arbeiter sein, ihre Klassenorientierung zu finden. Diese Politik kann die Partei nur zerstören. Im revolutionären Defätismus, in der wahrhaft internationalistischen Politik gegen den Krieg und gegen die Résistance liegen heute und in den kommenden revolutionären Ereignissen all ihre Stärke und Wert.
aus der International Review Nr. 72 (englische Ausgabe)
Anmerkung:
Der militärische antifaschistische Widerstand (Résistance) wurde von der stalinistischen ELAS und der EDES geführt:
ELAS ist die Kurzbezeichnung der Griechischen Volksbefreiungsarmee (Ellinikós / Ethnikós Laikós Apelevtherotikós Stratós), des militärischen Arms der „Nationalen Befreiungsfront“ EAM.
EDES ist die Nationale Republikanische Griechische Liga (Ethnikos Dimokratikos Ellinikos Syndesmos)
Siehe dazu auch:
https://stinas.blogsport.de/2010/04/17/das-massaker-an-den-international... [82]
Quelle:
https://en.internationalism.org/specialtexts/IR072_stinas.htm [83]
Wir veröffentlichen hier eine Stellungnahme von Sympathisant_innen der IKS, die sich auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR befinden. Sie betrifft die Demonstrationen gegen den Wahlbetrug, die Zehntausende von Menschen in Moskau und St. Petersburg mobilisiert haben. Es ist außerordentlich bedeutend, dass sich diese Proteste in einem der Epizentren der Konterrevolution abspielen, in welchem über Jahrzehnte (seit Mitte der 20er Jahre) die physische und ideologische Unterdrückung durch den Stalinismus im Namen des Kommunismus absolut war. Der Zusammenbruch der UdSSR in den 90er Jahren, eines der wichtigen Kennzeichen dafür, dass der niedergehende Kapitalismus in die letzte Phase des Zerfalls eingetreten war, hat das Proletariat in diesem Teil der Erde in eine enorme Demoralisierung und Orientierungslosigkeit geführt. Die aktuellen Bewegungen sind von dieser Vergangenheit geprägt und sind ein guter Nährboden für demokratische Illusionen. Sie sind aber vor allem auch Ausdruck einer internationalen Dynamik, die in den arabischen Ländern ihren deutlichsten Ausdruck fand und sich auch in anderen Ländern wie z.B. in Rumänien zeigt - eine Erhebung der verschiedenen Schichten und Klassen, die vor einer katastrophalen Perspektive des untergehenden Systems stehen. Es ist nicht nur die Wahlfälschung, welche die breite Masse der Ausgebeuteten auf die Straße treibt, sondern es sind auch ihre Lebensbedingungen, die die Leute dazu treibt, die Unzufriedenheit zu zeigen und aus der Passivität auszubrechen, die Putin und seine Gefolgschaft als Zustimmung für sein ausbeuterisches Terrorregime darstellen. Vor diesem Hintergrund finden in Russland große Ereignisse statt.
Am 4. Dezember 2011 fanden in Russland die Parlamentswahlen statt. Der Wahlbetrug war so zynisch, dass sich Hunderttausende von Bürgern empörten. Zehntausende von Menschen nahmen an den Demonstrationen „für ehrliche Wahlen“ teil. In verschiedenen Städten des Landes gab es solche Demonstrationen. Man muss aber anmerken, dass die Mehrheit der Empörten sich mit demokratischen Illusionen für die Verbesserung des kapitalistischen Systems einsetzt, statt sich diesem mit den Mitteln des Klassenkampfes zu widersetzen.
Reiche und Arme zusammen auf der Straße
Die größten Demonstrationen fanden in Moskau statt, am 10. Dezember auf dem Balotnaia-Platz und am 24. Dezember in der Sacharov-Allee, wo die Anzahl der Teilnehmer_innen auf einige Zehntausend geschätzt wurde. An den Protesten nahmen verschiedene politische Kräfte teil. Man sah die Banner der Liberalen neben den roten Flaggen, die Nationalisten neben den rotschwarzen Fahnen der Anarchisten. Aber die Mehrheit der Teilnehmer_innen war keiner Organisation oder Tendenz zugehörig.
Die wichtigste Forderung der Demonstration war die nach „ehrliche Wahlen“. Viele Leute, die nicht politisch engagiert sind, wollten nichts anderes, als dass sich die Behörden den Gesetzen unterwerfen und friedliche, demokratische Veränderungen stattfinden. Im Allgemeinen hatte die große Masse kein offenes Ohr für revolutionäre Aufrufe oder radikale Aktionen.
Man muss auch sagen, dass die Zusammensetzung der Teilnehmenden buntscheckig war. Man fand Geschäftsleute, alte Mitglieder der Regierung (den ehemaligen Premierminister Mikhail Kassianov), Stars aus dem Showbusiness, bekannte Journalisten und sogar eine Vertreterin der High Society wie Xenia Sabchak, deren Vater Anatoli Sabchak als graue Eminenz von Putins Politik bezeichnet wird. Andererseits gab es viele gewöhnliche Leute: Büroangestellte, Student_innen, Arbeiter_innen, Rentner_innen, Arbeitslose ... Einigen Beobachtern zufolge war die Anzahl von Proletarier_innen in anderen Städten, abgesehen von Moskau und St. Petersburg, größer als in diesen.
Die Gründe der Proteste und die Reaktion des Kremls
Es steht außer Zweifel, dass die weltweite ökonomische Krise auch in Russland die Rolle des Katalysators in den Protesten gespielt hat. Trotz des von offizieller Seite propagierten Optimismus spüren die gewöhnlichen Leute je länger je mehr die Krise. Der Wahlbetrug der Parlamentswahlen von 2011 diente einzig als Vorwand für die Massenproteste. Die Forderung nach „ehrlichen Wahlen“ war das Leitmotiv fast aller Proteste, vom Fernen Osten bis zu den Zentren Russlands.
Das Internet ist die wichtigste Waffe der Opponenten Putins geworden. Im Internet kann man Hunderte, wenn nicht Tausende von Videos anschauen, auf denen laut ihren Herstellern der Wahlbetrug festgehalten ist. Im Übrigen hat aber niemand die Glaubwürdigkeit dieser Videos überprüft. Die Empörung hat im Wahlbetrug einen formellen Aufhänger gefunden. Wie wir oben schon gesagt haben, ist aber ihr wichtigster Grund die Unzufriedenheit von Millionen von Menschen über ihre Lebensverhältnisse.
Auf der anderen Seite wird von offizieller Seite behauptet, dass die Anschuldigungen des Wahlbetrugs haltlos seien. Der Kreml lancierte eine mediale Kampagne, in der behauptet wurde, die Proteste ständen unter dem Einfluss westlicher Agenten, die in Uncle Sam‘s Dienste arbeiteten.
Durch diese generelle Unzufriedenheit war Putin trotz allem gezwungen, gewisse Konzessionen zu machen. Zum Beispiel machte Medwedew gewisse demokratische Versprechen, namentlich dass die Gouverneure der Republiken wieder von den Bürger_innen gewählt werden sollen, welches Recht Putin unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung abgeschafft hatte.
Die demokratischen Illusionen
Es steht außer Zweifel, dass die Unzufriedenheit soziale Gründe hat. Russland geht wie andere Teile der Weltwirtschaft durch eine Krise. Die Arbeiter_innen Russlands und der anderen Länder beginnen zu verstehen, dass der Kapitalismus ihnen keine strahlende Zukunft zu bieten hat. Aber dieses Gefühl hat sich noch nicht in Klassenbewusstsein verwandelt. Die demokratischen Illusionen, die von der bürgerlichen Propaganda verbreitet werden, behindern die Bewusstseinsbildung. Leider verstehen viele nicht, dass Wahlen, wie Marx richtig bemerkte, nur das Recht der Unterdrückten sind, alle paar Jahre die Vertreter der herrschenden Klasse zu wählen. Dabei verändert sich aber das Gesicht der Macht nicht. Es bleibt kapitalistisch und ausbeuterisch. Was macht es für einen Unterschied, ob man diesen oder jenen Präsidenten hat, diesen oder jenen Vertreter? Die Proletarier_innen, die Lohnabhängigen, die Hand- und Kopfarbeiter_innen, die von den Produktionsmitteln und der politischen Macht getrennt sind, bleiben ausgebeutet. Die Arbeiter_innen werden nicht die soziale Emanzipation erlangen, außer sie stürzen das System, wie z.B. in der Pariser Kommune oder in den Arbeiterräten von 1905 und 1917. Nur mit einem Wechsel des Systems ist es möglich, die Ausbeutung abzuschaffen.
Die Anführer der Opposition gegen Putin
Die Liberalen, die Linke (vor allem Stalinisten), Nationalisten, haben sich an die Spitze dieser Bewegung gestellt. Zusammen haben sie das Koordinationszentrum „ Für ehrliche Wahlen“ gebildet.
Unter den „Anführern“ gibt es Figuren wie Boris Nemtsov, Vize-Premier unter Jelzin, der nicht wenig zur Verschlechterung der Lage der Arbeiter beigetragen hat.
Alles in allem erhalten die Opponenten Putins keinen großen Zuspruch von Seiten der Arbeiter_innen. Die Leute erinnern sich nur zu gut an die Armut, an die zurückgehaltenen Löhne und Renten, an die Zeit, in der die heutige Opposition an der Macht war. Die Führer der Opposition versuchen bloß, die aktuelle Unzufriedenheit für ihre Wahlziele auszunutzen. Es geht ihnen um die zukünftige Präsidentschaft. In den Protestdemonstrationen werden die Wähler_innen dazu aufgerufen, so abzustimmen, „wie es sich gehört“. Aber es ist klar, dass, selbst wenn die jetzige Opposition Putin ablösen sollte, dies keine Verbesserungen für die Arbeiter_innen bedeuten würde.
Die Aufgaben der Revolutionäre
Man weiß nur zu gut, dass die Forderung nach „ehrlichen“ Wahlen nichts mit dem Klassenkampf zu tun hat. Aber wir müssen uns bewusst sein, dass unter den vielen Tausenden, die an diesen Demonstrationen teilgenommen haben, viele unserer Klassengenoss_innen sind. In einer solchen Situation müssen wir offen die demokratischen Illusionen kritisieren. Auch wenn es nicht dazu führt, dass wir uns bei den „Anhängern“ von „ehrlichen Wahlen“ beliebt machen. Ohne das Verständnis dafür, dass die eigentliche Grundlage dieser Probleme das Wesen der kapitalistischen Produktionsweise ist, wird es keine Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins geben. Trotz der medialen Kampagnen um diese Wahlen müssen Revolutionäre die falschen Illusionen der bürgerlichen „Freiheiten“ entlarven. Auch wenn wir die Fehler der Teilnehmer_innen an den Demos für „ehrliche Wahlen“ kritisieren, sollte man aber nicht vergessen, dass es einen Unterschied zwischen der bürgerlichen „Opposition“ gibt, die diese Proteste für sich nutzen und sich bequeme Posten in den Organen der Macht ergattern will, und den gewöhnlichen Leuten, die ehrlich ihren Unmut über die Unverschämtheit und Dreistigkeit der Autoritäten im Kreml zum Ausdruck bringen.
Aber die Erfahrung zeigt, dass in so sterilen und unbedeutenden Protesten, wie sie die Demonstrationen von Moskau für die Machthaber waren, sehr schnell ein radikaler Geist erwachen kann. Vor Monaten noch konnte sich niemand vorstellen, dass Zehntausende auf die Straße gehen würden, um gegen das Regime Putins zu protestieren.
Es ist unsere revolutionäre Aufgabe, den wirklichen Charakter der Opposition als auch Putins zu entlarven. Wir müssen den Arbeiter_innen erklären, dass nur der autonome Klassenkampf für den Umsturz des Kapitalismus und den Aufbau einer Gesellschaft ohne Ausbeutung ihre Probleme und die der ganzen Menschheit lösen können.
Sympathisant_innen der IKS in der ex-UdSSR (Januar 2012)
Der Text ist ein Auszug aus der Broschüre „Faschismus und Demokratie – zwei Erscheinungsweisen der Diktatur des Kapitals“
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind die meisten Kampfinstrumente, die die Arbeiterklasse in den Jahrzehnten zuvor entwickelt hatte, nutzlos geworden. Schlimmer noch, sie werden gegen die Arbeiterklasse eingesetzt und werden zu Waffen des Kapitals. Das ist zum Beispiel bei den Gewerkschaften, den großen Massenparteien, der Beteiligung an den Parlamentswahlen und der Verwendung des bürgerlichen Parlaments der Fall. Der Hintergrund ist, dass der Kapitalismus in eine völlig neue Entwicklungsstufe eingetreten ist: die seines Niedergangs. Der Erste Weltkrieg läutete diesen Bruch zwischen den beiden Phasen des Kapitalismus ein: “Die neue Epoche ist geboren! Die Epoche der Auflösung des Kapitalismus, seiner inneren Zersetzung. Die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats“ (Richtlinien der Kommunistischen Internationale, 1. Kongress der Komintern, 6. März 1919) proklamierte die Kommunistische Internationale 1919.
„Dieser Lebensabschnitt des Kapitalismus zeichnet sich durch die Absorbierung der Gesellschaft durch den Staat aus. So hat die Legislative, die ursprünglich die gesellschaftlichen Interessen vertreten hatte, jegliches Gewicht zu Gunsten der Exekutive verloren, die nunmehr die Spitze der staatlichen Hierarchie verkörpert. In dieser Periode verschmilzt die Politik mit der Ökonomie zu einem Ganzen, da der Staat die Hauptrolle in der nationalen Wirtschaft und ihre tatsächliche Führung übernommen hat. Ob dies durch die schrittweise Integration wie in der Marktwirtschaft westlicher Ausrichtung, oder durch eine plötzliche Umwälzung wie in der verstaatlichten Wirtschaft geschieht, der Staat ist in keinem Fall mehr das bloße ausführende Organ der Privatkapitalisten und Interessengruppen, sondern der kollektive Kapitalist, dem sich alle besonderen Interessen zu beugen haben. In seiner Eigenschaft als reelle Einheit des nationalen Kapitals verteidigt der Staat dessen Interessen sowohl nach innen als auch nach außen. Ebenso übernimmt er die Aufgabe,, die Ausbeutung und Unterwerfung der Arbeiterklasse sicherzustellen.“ (Internationale Revue, „Der Kampf des Proletariats in der dekadenten Phase des Kapitalismus“, in Gewerkschaftsbroschüre der IKS).
Der demokratische, stalinistische oder faschistische kapitalistische Staat konkretisiert in verschiedenen Formen, die auf die unterschiedlichen Verhältnisse zurückzuführen sind, diese Entwicklung des Staats im Zeitalter der Dekadenz. Wenn diese demokratischen Institutionen aufrechterhalten werden, haben sie in Wirklichkeit ihre vorherige Funktion verloren und bestehen nur noch mit der Funktion, die Arbeiterklasse zu verschleiern.
Die Gründung der Kommunistischen Internationale brachte diese Fähigkeit des Proletariats, sich gegen die kapitalistische Barbarei in den wichtigsten Ländern der Welt zu erheben und die politischen Notwendigkeiten der Revolution zu erfüllen, zum Ausdruck. Sie spiegelte den Fortschritt der revolutionären Bewegung hinsichtlich des Begreifens der Bedingungen der neuen Epoche wider, wie die Dokumente des 1. und 2. Weltkongresses aufzeigen. Der erste Kongress insbesondere war ein Kongress des Bruches mit der Sozialdemokratie, deren Verrat für die Mobilisierung des Proletariats für den imperialistischen Krieg verantwortlich war. Diese war die Speerspitze der bürgerlichen Offensive gegen die Revolution in Russland und Deutschland gewesen. Aber insgesamt blieb die Mehrheit der Revolutionäre weiterhin von dem Gewicht der Vergangenheit geprägt. Die Komintern stellte fest, dass die parlamentarischen Reformen jegliche praktische Bedeutung für die arbeitenden Klassen verloren haben.
Aber die Komintern war weiterhin für die Beteiligung an den Parlamentswahlen. Schlimmer noch, der Rückfluss der internationalen revolutionären Welle ging einher mit der opportunistischen Entartung der Komintern und der ihr angehörigen Parteien, nachdem diese Parteien einige Jahre zuvor an der Spitze der Arbeiterklasse gestanden hatten. Schon auf dem 3. und 4. Weltkongress kam es zu Rückschritten hinsichtlich einiger Fragen. Opportunistische Positionen wurden bezogen, die direkt zu einer Schwächung des Bewusstseins der internationalen Arbeiterklasse führten. Im Widerspruch zum 1. Weltkongress schlug der 3. Kongress mittels der Einheitsfrontpolitik Bündnisse mit der Sozialdemokratie vor, wodurch diese Organisation in den Augen der Arbeiterklasse rehabilitiert wurde, obwohl sie damals schon zum Räderwerk des bürgerlichen Staates gehörte. Die Folge dieser Entwicklung des Niedergangs war der Tod der Internationale für die Arbeiterklasse. 1927 wurde dann die These verabschiedet, in welcher die Möglichkeit des Sozialismus in einem Land verteidigt wurde. In den 1930er Jahren wechselten die KPs in das Lager der Konterrevolution. Diese wurden nun wiederum zu Speerspitzen der herrschenden Klasse bei der Mobilisierung des Proletariats für den 2. Weltkrieg.
Es war also kein Zufall, dass die Mehrheit der Komintern in den 1920er Jahren eine fehlerhafte Analyse des Faschismus erstellte, als erste Anzeichen seines Aufstiegs in Italien beobachtet wurden. Solche Fehler sind zurückzuführen auf ein unzureichendes Begreifen der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem Niedergang. Darüber hinaus wurden sie begünstigt durch die opportunistische Entwicklung der Komintern, die auf den allgemeinen Rückfluss der revolutionären Welle zurückzuführen ist. Das äußerte sich insbesondere durch eine mangelnde Klarheit und Festigkeit bei der marxistischen Methode der Einschätzung der Realität. Dadurch konnten demokratische Illusionen aufblühen.
Als Reaktion auf die Entartung der Komintern und im Kampf dagegen entstand Anfang der 1920er Jahre eine neue Linke, die auch aus den Aktivitäten der marxistischen Strömungen hervorging, welche in Italien, Deutschland und den Niederlanden in Erscheinung getreten war. Diese Fraktionen, welche in den 1920er Jahren aus den Kommunistischen Parteien ausgeschlossen wurden, setzten den politischen Kampf fort, um die Kontinuität zwischen der Komintern und der "Partei von morgen" sicherzustellen, indem sie eine Bilanz der revolutionären Welle und ihrer Niederlage zogen. BILAN lautete der Name der Revue der Italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken in den 1930er Jahren. Die Fraktion hatte sich Klärung zur Aufgabe gestellt; dies schloss natürlich auch die Analyse des Faschismus und des Antifaschismus ein, gegen die sie sich radikal stellte. Damit stand sie nicht nur im Gegensatz zu den degenerierenden stalinistischen Parteien, sondern auch im Gegensatz zum Trotzki der 1930er Jahre.
Aus unserer Sicht hat die Italienische Kommunistische Linke den wichtigsten Beitrag zu diesen Fragen geleistet, und deshalb geben wir absichtlich zahlreiche historische Dokumente als Beleg für ihre Analyse wider, die sie in ihrer Zeitschrift BILAN veröffentlichte. Wir beziehen uns auch auf Beiträge oder Analysen anderer Bestandteile der Arbeiterbewegung, Strömungen oder Leute, die der deutschen oder holländischen Linken angehörten.
Vertiefungen der Analyse des Faschismus folgten auch noch danach durch die Organisationen oder Strömungen, die diesen Fraktionen politisch oder organisatorisch nahe standen oder ihr angehörten. Wir erwähnen insbesondere Internationalisme (Zeitschrift der Kommunistischen Linken Frankreichs – GCF -, die in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre und Anfang der 1950er Jahre veröffentlicht wurde), die die Vorfahren der IKS waren. Internationalisme, das sich im Wesentlichen auf die Errungenschaften von BILAN bezog, verstand es jedoch, einige Beiträge der Deutsch-Holländischen Linken hinsichtlich der Frage des Staatskapitalismus zu verwerten. Wir werden ebenso auf die IKP – Kommunistisches Programm – eingehen, eine der beiden Organisationen, die 1953 aus einer Spaltung der 1947 gegründeten IKP entstanden (die andere Organisation war die PCInt – Partito Comunista Internazionalista Battaglia Comunista), insbesondere werden wir auf den wichtigen Artikel "Auschwitz oder das große Alibi" eingehen.
So grundlegend die Beiträge der Linken Fraktionen auch waren (ohne diese würden die IKS und die anderen revolutionären Gruppen heute nicht bestehen), diese fanden auf verschiedenen Ebenen statt und waren von unterschiedlichem Wert. Unabhängig von den Stärken und Schwächen der Beiträge der Linken, ist es wichtig, sie alle als Bemühungen des Proletariats zu begreifen, das Bewusstsein über die Bedingungen des revolutionären Kampfes zur Überwindung des Kapitalismus zu entwickeln. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie ein Teil einer unnachgiebigen Verteidigung des Klassenterrains des Proletariats waren. Es war ihr Verdienst, in den 1930er und 1940er Jahren unter sehr schwierigen Bedingungen die Fahne des proletarischen Internationalismus gegen die chauvinistische Hysterie der ehemaligen Arbeiterparteien sowohl auf theoretischer, praktischer und auf militante Weise hochzuhalten.
Dies steht im Gegensatz zu dem "Beitrag" der trotzkistischen Bewegung. In den 1930er Jahren und bis zum Ausbruch des 2. Weltkriegs gehörte dieser dem proletarischen Lager an, das er bis zum damaligen Zeitpunkt noch nicht verraten hatte. Aber sobald der Krieg ausbrach und sobald er den proletarischen Internationalismus aufgab, schlug der Trotzkismus den gleichen Weg ein, den zuvor die Sozialdemokratie und der Stalinismus gegangen waren, welcher in das Lager der Bourgeoisie führte, indem die Arbeiter zur Unterstützung eines imperialistischen Lagers aufgerufen wurden - den der Verteidigung des russischen Staates. Bis zu diesem tragischen Zeitpunkt war sein Beitrag zum Begreifen des Faschismus und des Antifaschismus direkt verbunden mit seinem opportunistischen Werdegang: Er trug zur Desorientierung der Arbeiterklasse bei, indem diese dazu getrieben wurde, die antifaschistischen Losungen der stalinistischen und demokratischen Parteien zu unterstützen.
Sobald die revolutionäre Welle Anfang der 1920er Jahre stagnierte und in einen Rückfluss eintrat, beobachtete man den Aufstieg faschistischer Bewegungen insbesondere in Italien. Dieser Teil des linken Flügels der Internationale, der zum damaligen Zeitpunkt die Mehrheit in der Italienischen Partei stellte und von Bordiga angeführt wurde, leistete einen grundlegenden Beitrag zur Analyse dieses neuen Phänomens und der Auswirkungen für die Arbeiterklasse und hinsichtlich der politischen Orientierungen der revolutionären Avantgarde.
Die Analyse Bordigas entspricht der allgemeinen Charakterisierung des Zeitraums, welcher durch den Ersten Weltkrieg eröffnet wurde, die Dekadenz des Kapitalismus, und der Einschätzung der ersten revolutionären Welle durch die Kommunistische Internationale. Von diesem Rahmen ausgehend prangerte er die "neuen" Ideologien wie den Faschismus an, welche die Gesellschaft hervorbrachten.
„Zum Zeitpunkt ihres Niedergangs ist die herrschende Klasse unfähig geworden, einen Ausweg zu finden (d.h. nicht nur ein Schema der Geschichte, sondern auch eine Reihe von Handlungslinien). Um zu verhindern, dass andere Klassen ihre revolutionäre Aggressivität durchsetzen, findet sie nichts Besseres als der allgemeinen Skepsis zu verfallen, dieser charakteristischen Philosophie des Zeitraums des Niedergangs“ ( Bericht A. Bordigas über den Faschismus auf dem 4. Kongress der Kommunistischen Internationale, 16. November 1922, 2. Sitzung, Übersetzung IKS).
Bordiga zeigte darin auf, dass der Faschismus die notwendige Form der Beherrschung der Gesellschaft ist, welche die Bourgeoisie entwickelt, um den Tendenzen des Auseinanderbrechens der Gesellschaft entgegenzutreten. „Der Faschismus, der es nicht verstehen wird, die ökonomische Anarchie des kapitalistischen Systems zu überwinden, hat eine andere historische Aufgabe, die wir als den Kampf gegen die politische Anarchie, gegen die Anarchie der Organisation der bürgerlichen Klasse als politischer Partei bezeichnen können. Die Schichten der herrschenden Klasse Italiens haben traditionelle politische und parlamentarische Gruppierungen gebildet, die sich nicht auf fest organisierte Parteien stützen und die gegeneinander kämpfen und in ihren besonderen und lokalen Interessen einen Konkurrenzkampf führen, der unter den professionellen Politikern in den Couloirs des Parlaments zu allerlei Manövern führt. Die konterrevolutionäre Offensive der Bourgeoisie machte es notwendig, im sozialen Kampf und in der Regierungspolitik die Kräfte der herrschenden Klasse zu vereinen. Der Faschismus ist die Verwirklichung dieser Notwendigkeit. Indem er sich über alle traditionellen bürgerlichen Parteien stellt, beraubt er sie allmählich ihres Inhalts; er ersetzt sie in ihrer Tätigkeit und dank den Missgriffen der Proletarierbewegung gelingt es ihm, die politische Macht und das Menschenmaterial der Mittelklassen für seinen Plan zu verwerten.“ (ebenda).
Daran wird deutlich, dass sich Bordiga klar von den Einschätzungen absetzte, welche in der Komintern die Überhand gewinnen sollten, der zufolge der Faschismus eine Reaktion der feudalen Schichten wäre. Er wandte sich sogar sehr stark dagegen. „Die Gründung des Faschismus kann unserer Ansicht nach drei Hauptfaktoren zugeschrieben werden:
Dem Staat, der Großbourgeoisie und den Mittelklassen.
Der erste dieser Faktoren ist der Staat. Der Staatsapparat hat in Italien bei der Gründung des Faschismus eine wichtige Rolle gespielt.
Die Nachrichten über die aufeinanderfolgenden Krisen der bürgerlichen Regierung Italiens ließen den Glauben aufkommen, dass die italienische Bourgeoisie einen derart unbeständigen Staatsapparat habe, dass zu dessen Sturz ein einziger Handstreich genügen würde. Das stimmt keinesfalls. Die Bourgeoisie konnte die Faschistenorganisation gerade in dem Maße aufbauen, wie sich ihr Staatsapparat befestigte.“ Er fuhr fort: „Der erste Faktor ist also der Staat.
Der zweite Faktor des Faschismus ist, wie ich bereits gesagt habe, die Großbourgeoisie. Die Großkapitalisten der Industrie, des Bankwesens, des Handels, sowie die Großgrundbesitzer haben ein natürliches Interesse daran, dass eine Kampforganisation gegründet werde, die ihre Offensive gegen die Werktätigen unterstützt.
Aber der dritte Faktor spielt in der Bildung der Faschistenmacht gleichfalls eine sehr wichtige Rolle. Um neben dem Staat eine illegale reaktionäre Organisation zu schaffen, musste man andere Elemente anwerben, als jene, die die hohe herrschende Klasse unter ihren sozialen Elementen aufweisen konnte.“ (ebenda)
Solch eine Analyse, die die historische Rolle des Faschismus sehr hellsichtig erfasst, ist nicht zu trennen von der Einschätzung der Rolle der linken Parteien einerseits, welche endgültig in den Dienst der Bourgeoisie getreten waren und deren Vorgehen gegen die Entwicklung des Klassenkampfes gerichtet ist, und andererseits der Einrichtung der Demokratie im Dienste der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung. Hinsichtlich dieser beiden Fragen vertrat Bordiga ebenso eine andere Auffassung als die in der Komintern vorherrschende. Aus seiner Sicht wurden die linken Parteien, welche die Arbeiterklasse verraten hatten, und nicht der Faschismus als Speerspitze bei der Offensive gegen die Arbeiterklasse eingesetzt. Bordiga zeigte anhand zweier Beispiele klar auf, wie die Bourgeoisie sich jeweils hauptsächlich auf die linken Parteien stützte und nicht so sehr auf die Faschisten. „Während der unmittelbar auf den Krieg folgenden Periode macht der Staatsapparat eine Krise durch. Die offenkundige Ursache dieser Krise ist die Demobilisierung; sämtliche Elemente, die bis dahin am Krieg beteiligt waren, werden jetzt auf einmal auf den Arbeitsmarkt geworfen, und in diesem kritischen Augenblick soll sich die Staatsmaschine, die bis dahin mit der Herbeischaffung aller Hilfsmittel gegen den äußeren Feind beschäftigt war, in einen Apparat der Verteidigung der Macht gegen die innere Revolution verwandeln. Es war dies für die Bourgeoisie ein ungeheures Problem. Sie konnte dieses Problem weder von technischen, noch vom militärischen Standpunkte aus durch einen offenen Kampf gegen das Proletariat lösen: sie musste es vom politischen Standpunkt aus tun.
In dieser Periode entstehen die ersten linken Regierungen nach dem Krieg; in dieser Periode kommt die politische Richtung Nitis und Giolittis zur Herrschaft. (…)
Nitti war es, der die »Guardia Regia«, d. h. »die Königliche Garde« schuf, eine Organisation, die nicht gerade polizeilicher Natur war, sondern einen ganz neuen militärischen Charakter trug.“ (ebenda).
Während der Bewegung der Fabrikbesetzungen 1921 „begriff der Staat, dass ein Frontalangriff seinerseits ziemlich unangebracht gewesen wäre, dass stattdessen ein reformistisches Manöver ein guter Schachzug war, und dass man wieder Scheinzugeständnisse machen konnte. Mit dem Gesetzesvorschlag zur Arbeiterkontrolle gelang es Giolitti, die Arbeiterführer dazu zu bewegen, die Betriebe zu räumen.“ Bordiga erläuterte dann, warum der Faschismus nicht frontal gegen die Arbeiter eingesetzt werden konnte, um diese zu schlagen. „In den Großstädten kann der Kampf gegen die Arbeiterklasse nicht mit der sofortigen Anwendung der Gewalt einsetzen. Die städtischen Arbeiterbilden im allgemeinen große Gruppen; sie können sich mit einer gewissen Leichtigkeit in großen Massen versammeln und einen ernsten Widerstand leisten. Vor allem zwang man daher dem Proletariat gewerkschaftliche Kämpfe auf, die zu ungünstigen Ergebnissen führten, weil die wirtschaftliche Krise sich im akutesten Zustande befand. Die Arbeitslosigkeit nahm ununterbrochen zu.“
Nachdem die Bewegung der Fabrikbesetzungen 1921 besiegt worden war, wurde die Arbeiterklasse in Italien immer mehr verwirrt; dadurch wurde es für den italienischen Staat leichter, die Arbeiter zu unterdrücken. Erst ab dieser Phase traten die faschistischen Banden, welche vom Staat dirigiert wurden, auf den Plan und beteiligten sich aktiv und massiv an der Repression.
Im Gegensatz zu einer Sichtweise, die von der Linken des Kapitals in den 1930er Jahren und auch heute noch verbreitet wird, demzufolge der Faschismus die besondere Aufgabe habe, die Arbeiterbewegung zu schwächen und sie im Zaum zu halten, indem er die angeblichen demokratischen Grundrechte in der Gesellschaft angreife, war die Position Bordigas sehr klar. Er meinte, dass der Faschismus für die Bourgeoisie eine zwingende Notwendigkeit gegenüber der gesamten Gesellschaft war.
„Die Regierungsmaßnahmen des Faschismus zeigten, dass diese im Dienst des linken Flügels der Bourgeoisie, des Industrie- Finanz- und Handelskapitals standen, und dass ihre Macht gegen die Interessen der anderen Klassen gerichtet ist“ (ebenda).
Als er 1922 in Italien die Macht übernahm, musste der Faschismus nicht nur all den zentrifugalen Kräften innerhalb der Gesellschaft gegenübertreten, sondern auch der Arbeiterklasse, welche zum damaligen Zeitpunkt schon geschwächt, aber noch nicht vollständig niedergeschlagen war. Dies erfolgte erst später in den 1930er Jahren. Deshalb musste er die demokratischen Verschleierungen aufrechterhalten. „Der Faschismus ist nicht eine Tendenz der bürgerlichen Rechten, die sich auf die Aristokratie, die Geistlichkeit, die hohen Zivil- und Militärbeamten stützt und die Demokratie der bürgerlichen Regierung und
der konstitutionellen Monarchie durch die despotische Monarchie ersetzen will. Der Faschismus verkörpert den gegenrevolutionären Kampf aller verbündeten bürgerlichen Elemente, und darum ist es für ihn keineswegs unbedingt notwendig, die demokratischen Institutionen zu zerstören. Von unserem marxistischen Gesichtspunkte aus braucht dieser Umstand
keineswegs als paradox angesehen zu werden, denn wir wissen, dass das demokratische System nur eine Zusammenfassung lügnerischer Garantien darstellt, hinter denen sich der Kampf der herrschenden Klasse gegen das Proletariat verbirgt.“ Nichts wies damals darauf hin, dass der Faschismus später dazu übergehen würde, die Demokratie über Bord zu werfen.
„Die ersten Maßnahmen der neuen Regierung beweisen, dass diese nicht beabsichtigt, die Grundlagen der traditionellen Institutionen in Italien zu ändern.
Ich behaupte selbstverständlich nicht, dass die Lage für die proletarische und sozialistische Bewegung günstig sei, wenn ich auch voraussage, dass der Faschismus liberal und demokratisch sein wird.“
Tatsächlich war der Faschismus Anfang der 1920er Jahre nur der Keim einer Tendenz, die in ihrer diktatorischen Form erst in den 1930er Jahren in Deutschland und Italien ihren Höhepunkt erreichen konnte, nachdem die Arbeiterklasse geschlagen war.
Dank ihrer Unnachgiebigkeit gegenüber all den Fraktionen der Bourgeoisie wurden Bordiga und der linke Flügel nicht in den Strudel des Opportunismus hineingerissen, in den die Dritte Internationale aufgrund ihrer Taktik der Einheitsfront geraten war, welche sich für die Arbeiterbewegung als sehr katastrophal auswirken sollte. Diese Festigkeit der Prinzipien und die klare Analyse ermöglichten ihnen, eine sehr hellsichtige Warnung auszusprechen, die sich rückblickend als sehr richtig erwies. Sie warnten vor der opportunistischen Versuchung der antifaschistischen Front. “Wir wissen, dass das internationale Kapital sich nur freuen kann über die Taten des Faschismus in Italien, über den Terror, den er dort gegen Arbeiter und Bauernschaft ausübt. Für den Kampf gegen den Faschismus können wir einzig und allein auf die revolutionäre proletarische Internationale zählen. Es handelt sich um eine Frage des Klassenkampfes. Wir wenden uns nicht an die demokratischen Parteien der anderen Länder, an die Vereinigungen von Dummköpfen und Heuchlern, wie die “Liga für die Menschenrechte”; denn wir wollen nicht die Illusion erwecken, dass es sich bei ihnen um etwas vom Faschismus wesentlich Verschiedenes handelt, oder dass die Bourgeoisie der anderen Länder nicht imstande wäre, ihrer Arbeiterschaft dieselben Verfolgungen zu bereiten und dieselben Gräueltaten zu vollbringen wie der Faschismus in Italien.” Protokoll des V. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, S. 751, 23. Sitzung, Der Faschismus, 2.07.1924, Bericht Bordigas zum Faschismus auf dem 5. Kongress der Kommunistischen Internationale)
Dieser Strömung gelang es, eine große theoretische Klarheit hinsichtlich der Fragen des Eintritts des Kapitalismus in seine Niedergangsphase zu erreichen, die manchmal noch größer war als die der Italienischen Linken. Dies trifft insbesondere hinsichtlich der Rolle des Parlamentarismus und der Wahlen zu, welche die Arbeiterklasse nicht mehr zu ihren Gunsten benutzen kann, weil sie zu Waffen der Bourgeoisie geworden sind. Im Gegensatz zur Italienischen Linken waren sie dazu in der Lage, die Gewerkschaften als in den bürgerlichen Staat integrierte Organe zu erkennen, die zur Aufgabe haben, die Arbeiterklasse zu kontrollieren. Zu all diesen Fragen erhoben sie offen ihre Stimme gegen die Fehler der Komintern und Lenins. Aber Ende der 1920er bzw. in den 1930er Jahren vertraten sie eine zutiefst irrige Auffassung hinsichtlich des Scheiterns der Russischen Revolution. Diese wurde von einigen Teilen der Rätekommunisten gar als eine bürgerliche Revolution eingeschätzt. Diese gingen davon aus, dass das Scheitern der Revolution nicht auf das Abflauen der weltweiten revolutionären Welle zurückzuführen war, sondern auf "bürgerliche" Auffassungen, die von der bolschewistischen Partei und Lenin vertreten wurden, die zum Beispiel für die Notwendigkeit der revolutionären Partei eintraten.
Ein Beitrag von A. Lehmann, Mitglied der deutschen KAZ (Kommunistische Arbeiter-Zeitung), die aus der KAPD (Kommunistische Arbeiterpartei Deutschland) hervorgegangen war, zeigt den Grad theoretischer Klarheit, den die Deutsche Linke seinerzeit gegenüber der Frage des Faschismus erreicht hatte. Dieser hatte aus seiner Sicht seine Wurzeln im niedergehenden Kapitalismus und der zugespitzten Wirtschaftskrise: „Die Möglichkeit einer ständig wachsenden Akkumulation des Kapitals, die sich in der Anfangsphase geboten hatte, fand ein Ende, als die Konkurrenz zwischen den nationalen Kapitalien sich immer mehr verschärfte - aufgrund des Mangels an neuen Märkten, die für die kapitalistische Expansion hätten erobert werden müssen. Diese durch die Einschränkung der Absatzmärkte hervorgerufenen Rivalitäten führten zum Ersten Weltkrieg (...) Die verschiedenen Schichten des Kapitalismus verloren ihren besonderen Charakter (finanziellen, industriellen usw.) und wurden in einem wachsenden, gleichartigen Interessenblock aufgesogen.(…) In solch einer Struktur bestand die Notwendigkeit eines Parlaments für den Kapitalismus nicht mehr, welches zunächst noch als eine Fassade für die Diktatur des Monopolkapitals überleben konnte.“ (aus einem Artikel, veröffentlicht in Nr. 11 „Die Massen“, November 1933), eine Monatszeitung links von der französischen Sozialdemokratie, wiederveröffentlicht von der IKS in Internationale Revue Nr.2)
Aber diese Analyse hatte trotzdem einige Schwächen, denn sie zogen die Schlussfolgerungen, dass der Faschismus sich schnell ausdehnen würde. „Aber die Verschärfung der Weltkrise, die Unmöglichkeit, neue Märkte zu eröffnen, ließen jegliches Interesse der Bourgeoisie, die Fassade des Parlamentarismus aufrechtzuerhalten, verblassen. Die direkte und offene Diktatur des Monopolkapitals wurde zu einer Notwendigkeit für die Bourgeoisie selber. Das faschistische System entpuppte sich als die best angepasste Regierungsform für die Bedürfnisse des Monopolkapitals. Seine Wirtschaftsorganisation ist am besten in der Lage, eine Lösung für die internen Widersprüche innerhalb der Bourgeoisie anzubieten, während ihr politischer Inhalt es der Bourgeoisie ermöglicht, sich auf eine neue Basis zu stützen, die somit den Reformismus ersetzt, der mehr und mehr unfähig geworden ist, die Illusionen in den Massen aufrechtzuerhalten.“(ebenda).
So erkannten sie nicht die besonderen Bedingungen, die zum Aufstieg des Faschismus in Italien und Deutschland beigetragen haben, die aber in anderen Industriestaaten nicht vorhanden waren. Einerseits handelte es sich um die besonders brutale Niederlage, welche die Arbeiterklasse in Italien und Deutschland nach einem großen Arbeiterkampf hatte hinnehmen müssen, und andererseits die Notwendigkeit, dass die herrschende Klasse dieser Länder, die im Ersten Weltkrieg besiegt worden war, neue Initiativen ergreifen musste, um eine bewaffnete Neuaufteilung des imperialistischen Kuchens vorzubereiten.
Schließlich stellten sie auch den Unterschied zwischen den Strömungen der Kommunistischen Linken und dem Trotzkismus oder den linken Strömungen der Bourgeoisie heraus. Sie zeigten auf, dass der Klassengegensatz innerhalb der Gesellschaft nicht zwischen Faschismus und Demokratie verläuft, sondern zwischen Proletariat und Kapitalismus. „Aber obgleich die Arbeiterklasse sich nicht stark durch die faschistische Demagogie verseuchen ließ, war sie dennoch unfähig, die Entwicklung der Nationalsozialistischen Partei zu verhindern. Es gelang ihr nicht, die Bildung eines Blocks der reaktionären Klassen aufzulösen. Die großen Arbeiterparteien versuchten ohne Erfolg, diese oder jene offene Divergenz zwischen dem Monopolkapital und dem Nationalsozialismus auszunützen. Vor allem verstand die Arbeiterklasse nicht, dass der wirkliche Widerspruch nicht zwischen Demokratie und Faschismus lag, sondern zwischen Faschismus und proletarischer Revolution. Deshalb war es der Mangel an revolutionärer Fähigkeit seitens des Proletariats, der somit die politische Entwicklung und den Aufstieg Hitlers erlaubte.“ (ebenda).
Aber eine große Schwäche dieses Beitrags war, dass er die Gefahr des Antifaschismus nicht klar erkannte. Insbesondere hinsichtlich dieses letzten Aspektes war die Italienische Linke sehr viel klarer und konsequenter. Sie zeigte den Graben zwischen dem proletarischen Lager und allen Fraktionen der Bourgeoisie auf.
Anton Pannekoek, eine große Persönlichkeit der Arbeiterbewegung und einer der Führer des linken Flügels der Sozialdemokratie, beteiligte sich an allen Kämpfen gegen die Ausdrücke des Opportunismus in der 2. Internationale. Während des 1. Weltkriegs gehörte er neben Lenin und Rosa Luxemburg zu den Internationalisten der ersten Stunde, insbesondere als die sozialdemokratischen Parteien das Proletariat verraten und zum Burgfrieden mit den Ausbeutern aufgerufen hatten. Obgleich er während des 2. Weltkriegs noch Internationalist geblieben war, gelang es ihm nicht den gleichen Beitrag zu leisten wie zur Zeit des 1. Weltkriegs.
Noch bevor der Krieg zu Ende ging, entwickelte er eine bemerkenswerte Klarheit über die Mittel, welche die herrschende Klasse einsetzte, um die Wiederholung einer zweiten revolutionären Erhebung zu verhindern (auch wenn seine Formulierungen eine große Überschätzung der Leichtigkeit zum Ausdruck bringen, mit der die proletarische Erhebung in Deutschland 1918 erfolgte): “Das Ziel der nationalsozialistischen Diktatur, die Eroberung der Weltmacht, macht es allerdings wahrscheinlich, dass sie in dem Krieg, den sie entfesselt hat, zerstört wird. Dann wird sie Europa ruiniert und verheert, in Chaos versunken und verarmt zurücklassen; den an die Herstellung von Kriegsgerät angepassten Produktionsapparat völlig abgenutzt, Boden und Arbeitskraft ausgelaugt, Rohstoffe erschöpft, Städte und Fabriken in Trümmern liegend, die Wirtschaftsquellen des Kontinents verschwendet und vernichtet. Dann wird, anders als 1918, die politische Macht nicht automatisch der Arbeiterklasse in die Hand fallen; die Siegermächte werden es nicht zulassen, ihre ganze Macht wird dazu herhalten, sie unten zu halten” (A. Pannekoek, Arbeiterräte, S. 183, 2008)
Genau wie Bordiga vor ihm meinte Pannekoek, dass der Faschismus nicht ein Ergebnis des Aufstiegs reaktionärer Klassen der Gesellschaften, sondern der Bedürfnisse des Kapitals war. "Als Produkt eines hochentwickelten Kapitalismus verfügt der neue Despotismus über alle Kraftquellen der modernen Bourgeoisie, über alle verfeinerten Methoden moderner Technik und Organisation. Er ist kein Rückschritt, sondern ein Fortschritt; kein Rückfall in alte rohe Barbarei, sondern Fortschritt zu einer höheren, raffinierteren Barbarei.” (ebenda, S.163).
Im Gegensatz zu Lehmann beging Pannekoek nicht den Fehler zu denken, dass der Faschismus die universelle Herrschaftsform des Kapitalismus sei. „Während in einigen Ländern faschistische Diktaturen entstehen können, sind die Bedingungen für das Aufkommen derselben in anderen Ländern nicht vorhanden“. Er erkannte, dass besondere Bedingungen seinen Aufstieg ermöglicht hatten: “Oft wird gesagt, der Faschismus sei die eigentliche politische Lehre des Großkapitals. Das ist jedoch nicht wahr: Amerika zeigt, dass sich seine ungestörte Macht besser mit einer politischen Demokratie sichern lässt. Wo aber das Großkapital in seinem Kampf um den Aufstieg zur Weltmacht gegen einen stärken Feind nicht aufkommen kann, oder wo es sich im Inneren von einer rebellischen Arbeiterklasse bedroht fühlt, muss zu kräftigeren und gewalttätigeren Herrschaftsformen übergegangen werden. Der Faschismus ist die Politik des Großkapitals in Bedrängnis.” (S. 162)
Er verdeutlichte die Tendenz zum Staatskapitalismus, der als Garant des ökonomischen und sozialen Zusammenhaltes gegenüber den Widersprüchen der Gesellschaft auftrat, welche diese erschüttern. Aus seiner Sicht waren alle Regime, ob faschistisch oder demokratisch, von solchen Merkmalen geprägt. „Die Regierungen, selbst die demokratisch maskierten, werden immer mehr dazu gezwungen sein, in die Produktion einzugreifen. Solange das Kapital Macht hat und Angst, werden despotisch geführte Regierungen als gefährliche Gegner der Arbeiterklasse aufkommen.“ (ebenda, S. 182).
Pannekoek verstand auch das Ausmaß des Staatskapitalismus, zu dem auch der stalinistische Staat gehörte, welcher aus der Konterrevolution in Russland entstanden war.
„Bei näherer Betrachtung der inneren Zusammenhänge können wir sehen, dass nicht nur der Kommunismus durch sein Vorbild einer Staatsdiktatur, sondern auch die Sozialdemokratie dem Nationalsozialismus den Weg bereitet haben. (…) Als erstes die Idee des Staatssozialismus, der bewussten geplanten Organisation der gesamten Produktion durch die staatliche Zentralgewalt. Natürlich hatte man dabei an den demokratischen Staat als dem Organ der Arbeiter gedacht. Doch vor der Kraft der Wirklichkeit zählen keine Absichten. Ein Organ, das über die Produktion das Sagen hat, hat das Sagen über die Gesellschaft, über die Produzenten, trotz aller Bestimmungen, die versuchen, es zu einem untergeordneten Organ zumachen, und daraus entwickeln sich dann zwangsläufig eine herrschende Klasse oder Gruppe“ (ebenda, S. 180).
Bei dieser Charakterisierung bezog sich Pannekoek richtigerweise auf die Analyse, der zufolge Russland damals überhaupt nichts mit Kommunismus zu tun hatte. Genauso wenig war der russische Staat proletarisch; stattdessen entsprach dieser einer besonderen Form, welche der Staatskapitalismus in diesem Land angenommen hatte (3). Dieser Abschnitt und die anderen Arbeiten Pannekoeks zeigen, dass er ein wirkliches Problem intuitiv richtig spürte. BILAN, das dieses Problem viel tiefergreifend behandelte, meinte dazu, dass der Staat, welcher nach der Übernahme der Macht durch die Arbeiterklasse entstand, nicht proletarisch war, sondern die Klassenantagonismen verkörperte, die noch innerhalb der Gesellschaft fortbestanden, solange die kapitalistischen Verhältnisse auf der Welt noch vorherrschten. Zur Zeit der weltweiten Welle von revolutionären Kämpfen verteidigte die gesamte Arbeiterbewegung, die noch unter dem Einfluss alter sozialdemokratischer Auffassungen hinsichtlich der Frage der Übernahme der Macht stand, die falsche Analyse, der zufolge die Diktatur des Proletariats mit dem Staat der Übergangsperiode gleichgestellt wurde(4). Aber im Gegensatz zur Meinung Pannekoeks ist dieser Fehler der Arbeiterbewegung – welcher korrigiert worden wäre, wenn sich die Revolution international ausgedehnt hätte- nicht die tiefer greifende Ursache für das Scheitern der revolutionären Welle. Diese Frage konnte damals in der Hitze des Feuers nicht geklärt werden, weil das internationale Kräfteverhältnis zwischen den Klassen sich für das Proletariat sehr ungünstig entwickelt hatte, und die russische Bastion damit zu ihrem Niedergang und zur Isolierung verurteilt war.
Pannekoek verwarf somit diese Methode der Analyse; stattdessen suchte er einen Ursprung der Tendenz zum Staatskapitalismus und damit des Faschismus in den 'Mängeln 'der Arbeiterbewegung selbst. „Die von der Sozialdemokratie für die Arbeiter ausgegebenen Schlagworte, Ziele und Methoden wurden vom Nationalsozialismus übernommen und im Sinne des Kapitals angewandt. (….) Das „Führerprinzip“ wurde nicht vom Nationalsozialismus erfunden; unter dem demokratischen äußeren Schein verborgen, bildete es sich in der Sozialdemokratie aus. Der Nationalsozialismus erklärte es offen zur neuen Grundlage der gesellschaftlichen Beziehungen und zog alle Konsequenzen daraus“ (ebenda S. 180).
Hier kann man den Rückschritt des großen Revolutionärs ermessen, dem es gegenüber dem Faschismus nicht gelang, die Methode der konsequenten Revolutionäre – und damit seiner früheren eigenen Methode – anzuwenden, um das Phänomen des Verrats der Sozialdemokratie und die Niederlage der russischen Revolution zu erklären. Genau wie es heute in großem Maße die bürgerliche Propaganda betreibt, schmiss Pannekoek den Kommunismus mit dem Stalinismus in einen Topf. Er identifizierte die Partei der proletarischen Revolution, die Bolschewistische Partei Lenins mit Stalin und der Konterrevolution. Er ging sogar so weit, zwischen der Partei Marx' und Engels und der Noskes und Scheidemanns eine ähnliche Übereinstimmung zu sehen. Im Gegensatz zu der Methode, welche die Abgrenzung zwischen bürgerlichen und proletarischen Lager hinsichtlich wesentlicher Fragen wie dem Internationalismus und der Verteidigung der Revolution gegenüber allen Fraktionen der Bourgeoisie in den Mittelpunkt stellte, konzentrierte sich Pannekoek auf wesentliche aber zweitrangige Schwächen wie zum Beispiel den Führerkult in der Sozialdemokratie unter dem Einfluss der herrschenden Ideologie. Ihm zufolge bestand das Problem nicht mehr in einer notwendigen Abgrenzung zwischen Organisationen des Proletariats, die ins Lager des Klassenfeindes übergewechselt waren, und den neuen, aufzubauenden, sondern in der Verwerfung jeglicher politischen Partei, die ihrem Wesen nach notwendigerweise bürgerlich sei. Dies ist einer der Gründe, weshalb er wie Lehmann nicht dazu in der Lage war, klar die Umrisse des gesamten Klassengegners aufzuzeigen, egal wie er sich gebärdet, ob stalinistisch, demokratisch oder faschistisch. Seine viel schwächere Anprangerung der Demokratie hinderte ihn auch daran, auf die Wichtigkeit der Verschleierungskraft des Antifaschismus in der Arbeiterklasse hinzuweisen.
Es hat sich herausgestellt, dass die stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien seit ihrem Wechsel auf die Seite der Konterrevolution die inbrünstigsten Verteidiger staatskapitalistischer Maßnahmen waren. Aber das Verhältnis, das Pannekoek zwischen Faschismus und Sozialdemokratie darstellt, ist falsch. Zunächst ist der Faschismus nicht das Ergebnis des Stalinismus oder des demokratischen Staatskapitalismus, sondern alle drei sind Ausdrücke der Tendenz zum Staatskapitalismus. Zudem besteht das Hauptproblem in dem schwerwiegenden Fehler einer Analyse, die den Kern des wirklichen Verhältnisses zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Faschismus und den ehemaligen Parteien der Arbeiterklasse, welche die Seite gewechselt haben, ausblendet: die Niederschlagung der Arbeiterklasse durch den linken Flügel des Kapitals, welche den Weg zum Faschismus bereitet.
Deshalb trägt leider Pannekoek nicht zur Stärkung des Proletariats bei, auch wenn er sagt, dass die Sozialdemokratie dem Faschismus den Weg bereitet habe: „Wie konnte es geschehen, dass eine Arbeiterklasse wie die deutsche, die zur Blütezeit der Sozialdemokratie anscheinend so mächtig war und beinahe kurz davor zu stehen schien, die Welt zu erobern, so vollends hilflos wurde? Selbst für diejenigen, die den Niedergang und inneren Verfall des Sozialismus erkannt hatten, kam seine leichtfertige und kampflose Aufgabe und die völlige Vernichtung seiner imposanten Struktur überraschend. In gewisser Hinsicht kann allerdings behauptet werden, dass der Nationalsozialismus der reguläre Nachfahre der Sozialdemokratie ist“ (ebenda, S. 180).
In dieser Schrift unterlässt Pannekoek nicht nur die wesentliche Entblößung der Rolle der Linken des Kapitals und ordnet indirekt der Revolution in Russland eine den Faschismus fördernde Rolle zu. Aufgrund seiner irrigen Analysen hat er direkt zur Verbreitung von Konfusionen in der Arbeiterklasse beigetragen, die damals durch solche Konfusionen noch mehr geschwächt wurde.
BILAN setzte direkt die zuvor von der Italienischen Linken in den 1920er Jahren geleistete Arbeit fort. Daraus sind die meisten ihrer Mitglieder hervorgegangen. Die GCI konnte sich auf einen soliden programmatischen Rahmen für ihre Analysen und politischen Orientierungen stützen. Je mehr sich die Lage entwickelte und aufgrund ihrer Anstrengungen zur politischen Vertiefung konnte sie diesen Rahmen auch erweitern (5). Dadurch konnte sie "Kurs halten" zu einer Zeit, als die revolutionären Minderheiten immer mehr gegen den Strom schwammen und die entscheidenden Bataillone des Proletariats nach der Niederlage der revolutionären Welle für die Verteidigung des nationalen Kapitals eingespannt wurden.
Anfang der 1930er Jahre wurde sich BILAN des geänderten Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen bewusst. Es verstand die neuen kurz- und mittelfristigen Perspektiven, die nicht mehr auf eine Machtergreifung durch die Arbeiterklasse hinausliefen, sondern im imperialistischen Krieg bestanden. Diese Vorgehensweise erlaubte ihr zu verhindern, dass die opportunistischen Fehler der Kommunistischen Internationale wiederholt wurden, welche insbesondere eine Politik der Einheitsfront mit den sozialdemokratischen Parteien befürwortete, um einen Einfluss auf die Massen zu bewirken, die sich immer mehr von der Revolution abwandten. So setzte BILAN den Kampf Bordigas gegen diese katastrophale Politik fort, welche der Trotzkismus und seine Anhänger betrieben. Aus trotzkistischer Sicht bestanden in den 1930er Jahren noch viele revolutionäre Möglichkeiten, die eine fähige revolutionäre Führung erfolgreich umsetzen könnte. Damals war BILAN die einzige Gruppe, die den Kampf gegen solch eine Orientierung systematisch und militant fortsetzte:
"Nach den ersten Niederlagen änderten sich nur die unmittelbaren Ziele dieses Kampfes: 1917-20 ging es um Forderungen des unmittelbaren Kampfes um die Macht. 1921 konkretisierten sich diese Forderungen um die unmittelbaren Forderungen. Dabei wurde aufgezeigt, es sei unvermeidbar, dass sie sich in Richtung Machtergreifung entwickelten.
Wir wissen, dass die Komintern 1921-22 dieses zentrale Problem ganz anders stellte. Sie setzte sich zum Ziel, um jeden Preis die Massen an die kommunistischen Parteien zu binden. Da ihr dies nicht mit den gleichen politischen Positionen und Methoden wie in der Zeit von 1918-1920 gelingen konnte, weil sich die Lage geändert hatte, sah sie sich gezwungen, ihre Positionen und Methoden ganz wesentlich zu ändern und somit neue Niederlagen herbeizuführen. Das Problem der Einheitsfront, welches seinerzeit in unterschiedlicher Gestalt auftauchte und auch das Problem der Machtübernahme anders stellte (Thüringen, Sachsen), war eine Folge der geschichtlich zutiefst ungünstigen Umstände. Diese schlecht gelöste Frage untergrub zutiefst die Grundlage der revolutionären Politik, auf welcher die Komintern gegründet worden war.
Im Allgemeinen wird das Problem der Einheitsfront folgendermaßen gestellt: in einem ungünstigen Zeitraum erhält das Programm, das von den Sozialisten propagiert wird, eine revolutionäre Tragweite. Der Sozialist verkündet das Programm nur mit dem Ziel, die Massen zu täuschen und mit der Absicht, niemals Bewegungen um sein Programm zu verwirklichen. Die Aufgabe der Kommunisten besteht darin, die Sozialdemokraten in einen Hinterhalt zu locken, d.h. ein Abkommen auf der Grundlage von Forderungen zu schließen, die von den Reformisten gestellt werden, denn aufgrund deren Entblößung kann nur die Bewegung der Massen in Richtung Kommunismus folgen“ (Bilan, Nr. 6, April 1934, Die Probleme der Einheitsfront).
Auch wenn die ungünstigen Umstände vorübergehend den Kampf um die Macht unmöglich machen, ist dies kein Grund zur Verwerfung der Prinzipien und des Zusammengehens mit dem Feind. "Man muss zunächst hervorheben, die ungünstigen Bedingungen bedeuten, dass die Frage der Macht nicht als ein realistisches Ziel des Arbeiterkampfes angesehen werden kann. Aber diese Umstände bedeuten keine Ablehnung der zuvor von der kommunistischen Partei vertretenen Position, dass die Machtfrage nur durch den Aufstand gelöst werden kann, und dass die einzig richtige Position des Proletariats gegenüber dem Staat die seiner Zerstörung sein kann. Zur Verwirklichung seiner Aufgaben kann die Arbeiterklasse sich nur auf die kommunistische Partei stützen. Gegen diese und die Massen an ihrer Seite werden sich die Kräfte des Kapitalismus zusammenschmieden, von der extremen Rechten bis hin zur extremen Linken (Austromarxisten)." (Bilan, Nr. 6, Die Probleme der Einheitsfront)
Obwohl der Kampf für die Revolution kurz- und mittelfristig nicht mehr auf der Tagesordnung steht, bedeutet dies nicht, dass die Arbeiterklasse nicht mehr kämpfen müsste. Aber das Ausmaß ihrer Kämpfe beschränkt sich notwendigerweise auf die Verteidigung gegen die ökonomischen Angriffe des Kapitals. Jede künstliche Abkürzung zum revolutionären Kampf (z.B. das trotzkistische Minimalprogramm) führt notwendigerweise zum Opportunismus und spielt dem Feind in die Hände. Die Trotzkisten haben diesen Weg mit ihrer Politik des "Entrismus" in die Sozialdemokratie und ihrer Politik während des Spanienkriegs der "kritischen" Unterstützung der POUM eingeschlagen, welche sich an der bürgerlichen Regierung der Generalitat Kataloniens beteiligte.
Wie die stalinistischen Parteien kaschiert der Trotzkismus gegenüber der Arbeiterklasse das arbeiterfeindliche Wesen der sozialistischen Parteien, aber vor allem die besondere Rolle, welche sie im Dienste des kapitalistischen Staates gegen die Arbeiterklasse spielen. Indem Bilan systematisch all die Lehren aus den Ereignissen seit dem 1. Weltkrieg zog, zeigte die Gruppe auf eine systematische und vertiefte Weise den Verrat dieser Parteien und deren Eingliederung in den kapitalistischen Staat auf. Besonders hob sie hervor:
-Sie spielten eine entscheidende Rolle bei der Niederlage der Arbeiterklasse und dienten dem Faschismus als Steigbügelhalter. Auch wenn sie später von dem Faschismus verfolgt wurden, wäscht sie das nicht von ihren Schandtaten rein, die sie gegen die Arbeiterklasse begangen haben; und vor allem ändert das nichts an ihrem Klassenwesen, das gegen die Arbeiterklasse gerichtet ist. "Greift der Faschismus auf eine faschistische Organisationsform der Gesellschaft zurück; hält der Faschismus Einzug? Dies bedeutet aber nicht, dass das demokratische Programm der Sozialisten, welches sich schon als eine mächtige Waffe der Konterrevolution herausgestellt hat, sich ändert: Die Ereignisse in Italien, Deutschland, Österreich bewiesen dies nachdrücklich. Und dieses gleiche Programm, welches den Kapitalismus in den früheren revolutionären Erhebungen des Proletariats gerettet hat, wird weiterhin seine reaktionäre Funktion in der neuen, jetzt beginnenden Phase des Kapitalismus behalten. Wenn die Herrschenden sich auf die Faschisten stützen, werden sie die Hilfe der sozialistischen Parteien benötigen, um die Regierungen Hitlers, Mussolinis und Dollfuss an die Macht zu bringen, damit diese ihre Angriffe gegen das Proletariat durchsetzen. Und die italienischen, deutschen und österreichischen Sozialisten werden erneut zur Stelle sein, um eine für die Herrschenden unersetzliche Funktion zu erfüllen. Ob sie später verboten oder verfolgt werden, ändert überhaupt nichts an ihrer Rolle. Seit jeher haben die Marxisten verstanden, dass die kapitalistische Gesellschaft von Widersprüchen geprägt ist, und dass diese auf Profit gestützte Gesellschaft nur zu einem Todeskampf zwischen den einzelnen Kapitalisten, den Konzernen, den Staaten führen kann; und dass die politische Organisation des Kapitalismus einen Kampf zwischen den verschiedenen Parteien beinhaltet. Aber den Marxisten ist nie in den Sinn gekommen zu meinen, dass die durch ihren Gegner niedergeworfenen Kapitalisten, die von den neuen Herren geschlagenen oder niedergemetzelten Parteien einen Ausgangspunkt für den revolutionären Kampf des Proletariats darstellen." (Bilan, Nr. 6, Die Probleme der Einheitsfront)
Sie passten sich den Bedingungen an, indem sie die Illusion verbreiteten, die Sache des Proletariats zu vertreten, um es besser zu täuschen. "Ebenso wenig wie die Klassen sind die Parteien ein Ausdruck des Programms, welches sie verkünden, in Wirklichkeit sie sind ein Ausdruck der Stellung, die sie innerhalb der Gesellschaft innehaben. Die sozialistische Partei ist ein integraler Bestandteil des kapitalistischen Regimes und sie erfüllt ihre Rolle, auch wenn sie ihr Programm ändert. Die Änderungen des Programms ändern keineswegs ihre Funktion, sondern im Gegenteil sie stellen eine notwendige Änderung dar, um ihre Rolle weiterhin ausüben zu können. Wenn sie zu einer Anhängern der Sowjets wird, wie 1920, dann weil sie sich dessen bewusst war, dass sie nur so die Verteidigung des bürgerlichen Regimes übernehmen konnte. Als sie in die Sowjetregierung Ungarns eintrat, tat sie dies, weil sie sich so gewissermaßen verschanzen konnte, um ihrer historischen Aufgabe nachzugehen. Unter ungünstigen oder gar sehr ungünstigen und faschistischen Bedingungen stellte das Programm der sozialistischen Partei, das keinesfalls den Interessen der Revolution diente, nur eine zusätzliche Unterstützung des Kapitalismus, des Sieges des Faschismus und dessen Machterhaltung dar. Die Sozialisten behaupten, diese oder jene Errungenschaft der Arbeiter schützen zu wollen; wir sind aber davon überzeugt, dass sie dies gar nicht wollen, sondern dass sie dies nur proklamieren, um die Arbeiter zu täuschen." (BILAN, Nr. 6, Die Probleme der Volksfront)
Die geschichtlichen Bedingungen waren damals sehr komplex. Mehrere Faktoren spielten eine Rolle: der Beginn des Niedergangs des Kapitalismus, die weltweite Welle von revolutionären Kämpfen und ihr Scheitern sowie der Beginn des Kurses hin zum Krieg. Im Hinblick auf den Krieg entfaltete die herrschende Klasse eine politische Offensive gegen das Proletariat, welche vom Staat in die Hand genommen wurde. Der demokratische Staat agierte einmal mit Verschleierungen, dann mit Repression, während der faschistische und der stalinistische Staat hauptsächlich mit Terror regierten. Alle Anstrengungen müssen unternommen werden, um die neuen Bedingungen zu begreifen, denn davon hängt es ab, ob unsere Interventionen in der Klasse und die Lehren, die wir den zukünftigen Generationen von Revolutionären übermitteln, richtig sind. Aus Ablehnung des Immediatismus und des vorherrschenden unpolitischen Verhaltens, die jegliches politisches Nachdenken verhindern und den Boden bereiten für politische Theorien und Orientierungen, welche den Klasseninteressen des Proletariats entgegengestellt sind, begriff die Italienische Linke, dass es notwendig war, eine theoretische Analyse der damaligen historischen Bedingungen zu erstellen: "(…) Es ist wesentlich – oder zumindest war dies vorher so -, dass man, bevor man einen Kampf der Klasse aufnimmt, die Ziele, für die man kämpft, klären muss, sowie die Mittel und die Kräfte der Klasse, auf die man sich bei diesem Kampf stützen kann. Dies sind keine "theoretischen" Überlegungen; damit meinen wir, dass sie nicht all der überstürzten Kritik der blasierten Leute ausgesetzt sein soll, deren Praxis in der Regel darin besteht, ohne jede theoretische Klarheit in den Bewegungen herum zu fuschen, und somit mit allen möglichen Leuten ohne irgendwelches Programm zusammenzuarbeiten, solange es irgendeine "Aktion" gibt. Wir meinen natürlich, dass solche Aktionen nicht einfach auf ein launisches Verhalten oder auf den jeweiligen guten Willen Einzelner zurückzuführen sind, sondern ein Ergebnis der Lage selbst sind. Darüber hinaus ist die theoretische Arbeit für die Aktion wichtig, damit die Arbeiterklasse von neuen Niederlagen verschont bleibt. Man muss sehen, wie viel Verachtung dadurch gegenüber der theoretischen Arbeit gezeigt wird, denn in Wirklichkeit geht es immer darum, klamm heimlich proletarische Positionen durch Auffassungen des Klassenfeindes zu ersetzen. Die der Sozialdemokratie sollen ins revolutionäre Milieu vordringen, wobei man gleichzeitig unbedingt auf Aktionen abzielt, die aufzeigen sollen, dass man in einem Wettlauf mit dem Faschismus steht." (BILAN; Nr.7, Der Antifaschismus- eine irreführende Ausrichtung") Diese von BILAN propagierte Vorgehensweise steht im Gegensatz zu der des Antifaschismus, "der keine politischen Kriterien mit berücksichtigt. Denn dieser setzt sich zum Ziel, all diejenigen zusammenzubringen, die von dem Angriff der Faschisten bedroht sind, indem ein "Verband der Bedrohten" gebildet wird" (BILAN; Nr. 7, Der Antifaschismus eine irreführende Ausrichtung).
Aus der Sicht BILANs wie für die KP Italiens vor der Verdrängung Bordigas aus der Parteiführung war der Faschismus nichts anderes als Kapitalismus, welcher sich an die ökonomischen und politischen Notwendigkeiten angepasst hatte, die ein energisches Eingreifen des Staates erforderlich machten, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. "Die Erfahrung zeigt, dass die Wandlung des Kapitalismus zum Faschismus nicht vom Willen einiger Gruppen der bürgerlichen Klasse abhängt, sondern von Notwendigkeiten, die auf eine ganze historische Periode zurückzuführen sind und die besonderen Eigenarten der Lage bestimmter Staaten, die gegenüber der Krise und dem Todeskampf des bürgerlichen Regimes weniger widerstandsfähig sind. Die Sozialdemokratie, die die gleiche Richtung eingeschlagen hat wie die liberalen und demokratischen Kräfte, ruft ebenso die Arbeiter dazu auf, sich hauptsächlich an den Staat zu wenden, damit dieser die faschistischen Gruppierungen zwingt, die Legalität zu respektieren, mit dem Ziel sie zu bewaffnen oder sie gar aufzulösen. Diese drei politischen Strömungen ziehen am gleichen Strang. Die Wurzel liegt darin, dass der Kapitalismus dem Faschismus zum Triumph verhelfen muss, dort wo der kapitalistische Staat das Ziel verfolgt, den Faschismus zu fördern, um ihn zu der neuen Organisationsform der kapitalistischen Gesellschaft zu machen" (BILAN; Der Antifaschismus, eine irreführende Ausrichtung).
Das Beispiel Deutschlands beweist es klar. Durch den Versailler Vertrag reingelegt und in Ermangelung kolonialer Märkte, wurde Deutschland dazu gezwungen, erneut in einen imperialistischen Kampf um die Aufteilung der Welt einzutreten. Die tiefgreifende physische Niederlage des Proletariats in Deutschland ließ die Aufrechterhaltung der demokratischen Maske überflüssig werden und ermöglichte die Errichtung totalitärer Herrschaftsformen.
Die Fortentwicklung der Lage im Vergleich zu den Verhältnissen zur Zeit Bordigas Anfang der 1920er Jahre, als Mussolini die Macht übernahm, ermöglichte es BILAN die Bedingungen für den Aufstieg des Faschismus zur Macht genauer zu präzisieren. "Dieser ist auf einer doppelten Grundlage entstanden: aufgrund der Niederlage der Arbeiterklasse und der Erfordernisse einer durch die Wirtschaftskrise völlig zerrütteten Wirtschaft“ (Bilan, Nr. 16, März 1935, „Die Niederwerfung der Arbeiterklasse in Deutschland und der Aufstieg des Faschismus“).
Als Speerspitze der Verteidigung des Kapitalismus hat die Sozialdemokratie, indem sie der Arbeiterklasse eine Reihe von Niederlagen beifügte, solch eine Herrschaftsform möglich gemacht, die den Bedürfnissen des nationalen Kapitals voll entsprach. "Was vor allem die Herrschaft des Faschismus herbeiführte, war die Bedrohung, die in der Zeit nach dem Krieg das Proletariat darstellte. Gegen diese Gefahr konnte sich der Kapitalismus dank der Sozialdemokratie wehren, aber dies erforderte eine politische Struktur, die der notwendigen disziplinierenden Konzentration auf wirtschaftlicher Ebene entsprach (…) Der deutsche Kapitalismus, der jämmerlich zusammenbrach, konnte nach 1919 nicht auf den Faschismus zurückgreifen, zudem das Proletariat noch eine bedrohliche Gefahr darstellte. Deshalb kämpften die Fraktionen des Kapitalismus gegen den Kapp-Putsch wie übrigens auch die Alliierten, die den Wert der unschätzbaren Hilfe der Sozialverräter erkannt hatten“ (BILAN Nr. 10, August 1934, "Die Ereignisse des 30. Juni in Deutschland").
Der gleichen Logik folgend unterstrich BILAN die Ergänzung und den Unterschied zwischen den beiden Herrschaftsformen des Kapitals – Demokratie und Faschismus – hinsichtlich der Art der Kontrolle über die Arbeiterklasse, wodurch die völlige Unterwerfung unter die Interessen des nationalen Kapitals ermöglicht wurde: "Zwischen Demokratie, dem größten Prunkstück, Weimar, und dem Faschismus, trat kein echter Gegensatz zutage: die eine ermöglichte die Niederschlagung der revolutionären Gefahr; sie zerstreute und schwächte das Proletariat, trübte sein Bewusstsein; der andere, wurde am Ende dieser Entwicklung die eiserne kapitalistische Ferse, der sein ganzes Wirken sowie die rigide hergestellte Einheit der kapitalistischen Gesellschaft auf der Grundlage der Erstickung jeder proletarischen Bedrohung stützte." (BILAN; Nr. 10, August 1934; "Die Ereignisse des 30. Juni 1934 in Deutschland"). "…die demokratische Herrschaft ist in vieler Hinsicht diejenige, die sich am meisten an die Bedürfnisse der Aufrechterhaltung ihrer Privilegien (d.h. des Bürgertums) anpasst, denn sie dringt viel geschickter als der Faschismus in die Köpfe der Arbeiter ein. Sie greift diese von Innen an, während der Faschismus eine Reifung innerhalb der Klasse gewalttätig niederschlägt, weil es dem Kapitalismus nicht gelingt, diese aufzulösen" (BILAN, Nr. 22, August 1935, "Die Probleme der Lage in Frankreich").
"Unter dem Zeichen der Volksfront ist die "Demokratie" zum gleichen Ergebnis gekommen wie der "Faschismus": Die Niederschlagung des französischen Proletariats und ihr Verschwinden von der Bühne der Weltgeschichte. Infolge einer tiefgreifenden, weltweiten Niederlage besteht das Proletariat vorübergehend nicht mehr als Klasse" (BILAN; Nr. 29, März-April 1936; "Die Niederschlagung des französischen Proletariats und die daraus hervorgehenden internationalen Lehren").
Wie Bordiga deutlich gezeigt hatte, übernimmt der Faschismus eine Rolle gegenüber der gesamten Gesellschaft, indem er eine entsprechende Organisationsform zur beschleunigten Vorbereitung des Krieges schafft. Gegenüber der Arbeiterklasse drückt sich dies aus durch "das Bedürfnis eines Herrschaftsapparates aus, welcher nicht nur die Widerstandsbewegungen oder die Revolten der Unterdrückten niederschlägt, sondern auch einen Apparat schafft, dem es gelingt, die Arbeiter für den Krieg zu mobilisieren" (BILAN, Nr. 10, August 1934, "Die Ereignisse des 30. Juni in Deutschland"). Gegenüber einer Arbeiterklasse, die ihre Fähigkeit zu revolutionären Kämpfen unter Beweis gestellt hatte, musste die herrschende Klasse in der Tat möglichst viele Mittel einsetzen, um dessen Bewusstwerdung und mögliche Erhebung während des imperialistischen Krieges zu verhindern, trotz der physischen und ideologischen Niederlage, die sie schon erlitten hatte. "Die Gewalt hatte nur nach der Machtübernahme der Faschisten einen Sinn - dies geschah nicht als eine Reaktion auf einen proletarischen Angriff, sondern nur um ihn vorzubeugen.“ (Bilan Nr.16, 1935 „Die Niederschlagung der Arbeiterklasse in Deutschland und der Aufstieg des Faschismus“) Der Faschismus musste diese Aufgabe übernehmen, die Niederlage des Proletariats zu vollenden, da er die Staatsführung übernommen hatte.
Alle Verfechter des Antifaschismus und der "demokratischen Freiheiten" berufen sich auf das angeblich unterschiedliche Wesen des Kapitalismus – je nachdem ob dieser faschistisch, totalitär oder demokratisch sei. Dagegen wandte sich BILAN:
„Wenn wir andererseits wiederum untersuchen, woher die Idee des Antifaschismus stammt – zumindest in ihren programmatischen Aussagen –, kann man sehen, dass sie auf eine Trennung zwischen Faschismus und Kapitalismus zurückgeht. Es stimmt, wenn man zu dieser Frage einen Sozialisten, einen Zentristen oder einen leninistischen Bolschewik befragt, werden sie alle behaupten, dass der Faschismus eigentlich Kapitalismus ist. Aber der Sozialist wird meinen: „Es ist unser Interesse, die Verfassung und die Republik zu verteidigen, um den Sozialismus vorzubereiten.“ Der Zentrist wird aussagen, dass man den Zusammenschluss der kämpfenden Klasse leichter um den Antifaschismus herstellen kann als um den Kampf gegen den Kapitalismus. Der leninistische Bolschewik wiederum wird behaupten, es gebe keine bessere Grundlage für den Zusammenschluss und den Kampf als die Verteidigung der demokratischen Institutionen, welche der Kapitalismus nicht mehr der Arbeiterklasse sicherstellen kann. Somit kann die allgemeine Behauptung, „Der Faschismus bedeutet Kapitalismus“ zu politischen Schlussfolgerungen führen, die darauf zurückzuführen sind, dass Faschismus und Kapitalismus losgelöst voneinander gesehen werden“ (Bilan, Nr.7,,Antifaschismus – eine irreführende Ausrichtung“).
Alle Teile der Herrschenden arbeiten auf die Verstärkung des Staatskapitalismus hin, egal welche Form diese Verstärkung annimmt – ob die stalinistische, faschistische oder demokratische. Die Umsetzung dieser Tendenz hängt nicht vom Willen bestimmter Teile der Herrschenden zu einem gegeben Zeitpunkt ab, sondern von historischen Bedingungen. Keiner der Ausdrücke des Staatskapitalismus stellt ein "geringeres Übel" für die Arbeiterklasse dar, denn die Arbeiterklasse verfügt über keine Macht in der Gesellschaft (im Zeitraum des Niedergangs des Proletariats), um den historischen Kurs hin zu der einen oder anderen Form zu beeinflussen. BILAN hinterfragt diejenigen, die die entgegengesetzte These vertreten: Wenn die Arbeiterklasse über solch eine politische Macht innerhalb der Gesellschaft verfügte, warum sollte sie diese dann nicht einsetzen zugunsten einer eigenen politischen Macht? Wenn man die falsche Wahl zwischen verschiedenen bürgerlichen Fraktionen verwirft, heißt das überhaupt nicht indifferent gegenüber den Klasseninteressen der Arbeiterklasse zu sein. Und wenn die herrschende Klasse sich entschließt, auf die Sozialdemokratie an der Regierung zurückzugreifen, setzt sie eine Trumpfkarte gegen die Arbeiterklasse ein.
"Man wirft uns vor, dass es uns gleichgültig sei, ob es eine rechte, linke oder faschistische Regierung gebe. Aber gegenüber dieser Frage wollen wir ein für allemal das folgende Problem aufwerfen: In Anbetracht der Änderungen der Lage nach dem Weltkrieg, stellt da nicht die Position, welche unsere Kritiker vom Proletariat verlangen, nämlich zwischen den am wenigsten schlechten Organisationsformen des kapitalistischen Staates zu wählen, die gleiche Position dar, welche von Bernstein vertreten wurde, welcher das Proletariat dazu aufrief, die beste Form des kapitalistischen Staates umzusetzen? Vielleicht antwortet man, es werde vom Proletariat nicht verlangt, die Sache der Regierung zu unterstützen, welche aus proletarischer Sicht als die beste Herrschaftsform angesehen werden könnte, sondern man wolle einfach die Positionen des Proletariats dadurch stärken, indem man dem Kapitalismus eine demokratische Herrschaftsform aufzwinge. In diesem Fall würde man nur die Sprache ändern, der Inhalt bliebe gleich. Wenn das Proletariat tatsächlich in der Lage wäre, der Bourgeoisie eine Regierungsform aufzuzwingen, warum sollte es sich dann auf ein solches Ziel beschränken, anstatt die zentralen Forderungen für die Zerstörung des kapitalistischen Staates vorzubringen. Andererseits wenn seine Kraft noch nicht für die Auslösung eines Aufstandes ausreicht, bedeutet die Orientierung des Proletariats hin zu einer demokratischen Regierung nicht, es anzuspornen zu einem Sieg über den Feind?
Das Problem besteht aber bestimmt nicht darin, wie es die Anhänger der "besten Wahl" sehen: das Proletariat hat seine Lösung des Problems des Staates. Und es hat keine Macht, keine Initiative hinsichtlich der Lösungen, die der Kapitalismus für das Problem seiner Macht bietet. Es liegt auf der Hand, dass man logischerweise mehr sehr schwache bürgerliche Regierungen finden kann, welche die Entwicklung des revolutionären Kampfes des Proletariats erleichtern werden. Aber es liegt vor allem auf der Hand, dass der Kapitalismus nur dann linke oder linksradikale Regierungen bilden wird, wenn diese unter den gegebenen Bedingungen der besten Form seiner Verteidigung entsprechen. 1971-21 kam die Sozialdemokratie an die Regierung, welche die bürgerlichen Interessen verteidigte und sie war die einzige Formation, welche eine Niederschlagung des Proletariats ermöglichte. Wenn man davon ausgeht, dass eine rechte Regierung direkt die Massen hin zum Aufstand orientiert hätte, hätten die Marxisten die Machtübernahme solch einer reaktionären Regierung befürworten sollen? Wir stellen diese Hypothese auf, um zu beweisen, dass es keine Formel einer "besseren oder schlechteren Regierung", die für das Proletariat allgemeingültig wäre, geben kann. Diese Begriffe dienen nur dem Kapitalismus in bestimmten Lagen. Die Arbeiterklasse hat dagegen zur Aufgabe, sich auf der Grundlage von Klassenpositionen zusammenzuschließen, um den Kapitalismus in all seinen Formen zu bekämpfen, sei es in seiner faschistischen, demokratischen oder sozialdemokratischen Gestalt" (BILAN, Nr. 7, "BILAN; Antifaschismus Nr. 7, Eine irreführende Ausrichtung" ).
Der Faschismus ist nicht der einzige Ausdruck der Tendenz zum Staatskapitalismus. Angetrieben durch die Notwendigkeit der Kriegsvorbereitungen, beeinflusste dieser alle Staaten, aber diese Tendenz kam je nach den Umständen in unterschiedlichen Formen zum Ausdruck. “Wir können heute zum Beispiel feststellen, dass sich nach 14 Jahren Faschismus in Italien nach der Zuspitzung der inter-imperialistischen Spannungen, die faschistische Bewegung kaum weiter ausbreitet, und dass sich dagegen der Gang der Ereignisse, welche zum Krieg führten, unter dem Schild des Antifaschismus in Frankreich abspielt oder der Abwesenheit eines jeglichen Nährbodens für den Faschismus und den Antifaschismus in England, eines der wohlhabendsten Kolonialreiche. Die Erfahrung zeigt jeden Tag, dass die unterschiedlichen diktatorischen oder faschistischen und liberalen oder demokratischen Regime an der Front der zwischenstaatlichen Kämpfe das Dilemma "Diktatur-Demokratie" entstehen lassen. Dies wurde schließlich zur Fahne, unter der später die Arbeitermassen für das weltweite Abschlachten mobilisiert wurden" (Bilan, Nr. 22, August-September 1935, Bericht zur Lage in Italien).
Die Mobilisierung der Arbeiterklasse für die antifaschistischen Fronten bedeutete natürlich ihre Mobilisierung für den imperialistischen Krieg. Diese Perspektive bahnte sich während der 1930er Jahre durch eine Reihe von Verzichten des Proletariats auf seine Klassenforderungen im ökonomischen Kampf unter dem Einfluss der verschiedenen antifaschistischen und demokratischen Komponenten der Bourgeoisie an: "In den letzten Monaten sind eine Reihe von Programmen und Plänen entwickelt und antifaschistische Organisationen in die Welt gesetzt worden, aber das hat keinesfalls Doumergue daran gehindert, die Renten massiv zu kürzen und somit ein Signal zu setzen für Lohnkürzungen, die der französische Kapitalismus überall durchdrücken will. Wenn auch nur ein Hundertstel der Aktivitäten, die um die Frage des Antifaschismus entfaltet wurden, auf die Bildung einer festen Front der Arbeiterklasse für die Auslösung eines Generalstreiks zur Verteidigung unmittelbarer Forderungen verwandt worden wären, ist es ganz klar, dass die Repressionsdrohungen nicht hätten umgesetzt werden können und die Arbeiter, sobald sie sich auf der Grundlage ihrer Klasseninteressen zusammengefunden hätten, wieder Selbstvertrauen gefasst hätten. Damit hätte eine Wende herbeigeführt werden können, in der wieder die Machtfrage hätte gestellt werden können, und zwar in der einzigen Form, in der sie für die Arbeiterklasse gestellt werden kann: Diktatur des Proletariats (…) Eine konkrete Position des Problems zeigt, dass die Formel des Antifaschismus nur Verwirrung stiftet und die sichere Niederlage der Arbeiterklasse vorbereitet" (BILAN, Nr. 7, Der Antifaschismus – Eine irreführende Ausrichtung" ).
Gegenüber der vorherrschenden Verwirrung stand BILAN vor der Aufgabe der Wiederherstellung des Marxismus, um so einen Kampf gegen die demokratischen Illusionen zu führen.
„Aber hier handelt es sich um den Bereich marxistischer Kritik, der die Unterdrückung der Klasse hinter der demokratischen und liberalen Fassade aufdeckt, und der gerade Marx zu der Schlussfolgerung führte, dass das Synonym von "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" tatsächlich "Infanterie, Kavallerie und Artillerie" lautet“ (Bilan, Nr. 13, Faschismus, Demokratie, Kommunismus). Im gleichen Artikel erinnert Bilan an die Grundlagen des Marxismus hinsichtlich der Demokratie. „Am Ende des Weges des Klassenkampfes steht nicht das System der reinen Demokratie, denn das Grundlagenprinzip der kommunistischen Gesellschaft ist die Abwesenheit einer staatlichen, die Gesellschaft führenden Macht, während die Demokratie sich gerade darauf stützt. In ihrer liberalsten Erscheinung versucht sie immer die Ausgebeuteten zu verleumden, sie anzugreifen, die es wagen, ihre Interessen mit Hilfe ihrer Organisation zu vertreten, anstatt weiterhin den demokratischen Institutionen unterworfen zu bleiben, die nur dazu geschaffen wurden, um die Klassenausbeutung aufrechtzuhalten.“ Bilan erklärte „warum die Verteidigung der Demokratie in Italien - wie auch in Deutschland - letztendlich nur eine notwendige Bedingung für den Sieg des Faschismus war. Denn was unrichtigerweise "faschistischer Staatsstreich" genannt wird, ist schließlich ein mehr oder weniger friedlicher Machtwechsel zwischen einer demokratischen und einer neuen faschistischen Regierung.“ Es zieht daraus die Schlussfolgerung: „Das zu lösende Problem ist nicht die Zuordnung für das Proletariat von x-möglichen politischen Positionen für jeden möglichen Gegensatz in den verschiedenen Situationen, indem man es an dieses oder jenes Monopol oder den Staat bindet, die sich jeweils gegenüberstehen. Nein, das Proletariat muss seine organische Unabhängigkeit gegenüber jedem politischen und ökonomischen Ausdruck der Welt des Klassenfeindes bewahren“ (ebenda).
Daraus folgte klar, dass die Alternative Faschismus / Antifaschismus für das Proletariat eine falsche Alternative ist, die dazu dient, es von seinem Klassenterrain abzubringen. „Das Dilemma Faschismus-Antifaschismus wirkt ausschließlich zugunsten der Interessen des Feindes, und der Antifaschismus, die Demokratie betäuben die Arbeiter. (…) Diese Waffe des Antifaschismus lässt die Arbeiter blind werden, damit sie nicht mehr ihr eigenes Feld und den Weg ihrer Klasse sehen“. (ebenda)
In diesem Teil beschränken wir uns auf die Organisationen, die ihren Ursprung in der Italienischen Linken haben, und wir lassen dabei absichtlich die rätekommunistischen Strömungen außer Acht, da ihre militanten Aktivitäten und ihre Veröffentlichungen zum hier behandelten Thema trotz allem relativ zweitrangig waren. Diese Organisationen gehören zwei Flügeln der Kommunistischen Linken Italiens an: dem Flügel, der aus der in Italien 1943 entstandenen PCI hervorgegangen ist, und dem Flügel, der aus der Kommunistischen Linken Frankreichs hervorging, welcher die opportunistischen Grundlagen bei der Bildung der PCI nicht akzeptierte. Der erste Flügel, der sich nicht direkt auf BILAN beruft und einige der Beiträge von BILAN verwirft, brachte nach einer Spaltung 1952 verschiedene bordigistische Organisationen hervor, und andererseits die PCInt Battaglia Comunista. Der zweite Flügel, die Kommunistische Linke Frankreichs, die mehr unter dem Namen ihrer Zeitschrift Internationalisme bekannt ist, und die in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre bis Anfang der 1950er Jahre aktiv war, war der Vorfahre der IKS.
Diese beiden Komponenten berufen sich auf das Erbe Bordigas und BILANs hinsichtlich der Analyse des Faschismus und der falschen Alternative Faschismus/Antifaschismus. Aber sie zeigten nicht die gleiche Unnachgiebigkeit gegenüber Gruppen oder Leuten, die sich während des 2. Weltkriegs am “antifaschistischen Kampf” in unterschiedlichem Maße beteiligt hatten, und sich am Ende des Krieges weiter auf die Kommunistische Linke beriefen und von denen sich einige (Vercesi) gar an der Gründung der IKP-Italiens beteiligten. Darüber hinaus gelang es diesen beiden Komponenten nicht, ihren Analyserahmen an die Lage, die durch 1968 angebrochen war, auf die gleiche Weise anzupassen. Seitdem besteht die Perspektive in der Entwicklung des Klassenkampfes; die Übernahme der Macht durch den Faschismus steht nicht mehr auf der Tagesordnung, solange der Kurs hin zu verstärkten Klassenzusammenstößen andauert. Die Entblößung der faschistischen Gefahr, wie sie heute von den Bürgerlichen an die Wand gemalt wird, muss mit dieser Perspektive vor Augen erfolgen und nicht der der Wiederholung der 30er Jahre. Aber während es im Gegensatz zu den 30er Jahren der herrschenden Klasse heute nicht möglich ist, das Proletariat für einen imperialistischen Krieg zu mobilisieren, erfüllen die gegenwärtigen Kampagnen gegen die “faschistische Gefahr” eine arbeiterfeindliche Rolle, denn sie sollen die demokratische Verschleierung verstärken.
Die Wachsamkeit Internationalismes bei der Verteidigung des politischen Erbes, das von Bilan überliefert wurde, wird anhand des ‚Falls Vercesi‘ deutlich. Trotz seiner fehlerhaften Theoretisierungen hinsichtlich des Wesens des imperialistischen Krieges (6) hatte dieser Militant zuvor entschlossen den Antifaschismus als ein Instrument der Mobilisierung des Faschismus für den imperialistischen Krieg angeprangert. Aber während des 2. Weltkrieges beteiligte er sich am Antifaschistischen Komitee Brüssels, ohne davon die Italienische Fraktion, der er weiter angehörte, zu unterrichten. Nachdem diese davon erfahren hatte, schloss sie diesen am 20. Januar 1945 aus ihren Reihen aus. Man könnte dabei stehen bleiben, die ganze Angelegenheit des Verrats Vercesis zu bedauern, wenn dieser sich nicht nach dem Krieg an der Gründung der IKP beteiligt und sein gleichzeitiges Engagement auf Seiten der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie zu begründen versucht hätte. Diese Rechtfertigung stellt aber eine Infragestellung der Grundlagen der internationalistischen Position Bilans dar. Im Juni 1945 stellte sich Internationalisme entschlossen gegen solch eine Begründung: “Der Trotzkismus berief sich später auf die Dritte Internationale, um dann der sozialistischen Partei und den Parteien der Zweiten Internationale beizutreten. Die stalinistischen Parteien beriefen sich auf Lenins frühere Position gegen den Krieg, nur um den Krieg heute zu unterstützen. Die Anarchisten beriefen sich auf Bakunin bei ihrer Verwerfung der staatlichen Repression, wobei sie gleichzeitig ihre Unterstützung des kapitalistischen spanischen Staates und dessen Repression gegen die Arbeiter 1936 rechtfertigten. Vercesi machte keine Ausnahme; er ‚bestätigte‘ seine frühere Position gegen den Antifaschismus, um den heutigen Antifaschismus zu bekräftigen. Schauen wir, was er schreibt: “Ich bestätige also, dass es richtig war kundzutun, dass die indirekte Taktik, die in der antifaschistischen Formel zum Ausdruck kam, zu einem Prinzipienbruch führte. Der Krieg bewies dies. Heute bestätigt sich dies erneut, wenn wir gegenüber dem kapitalistischen Staat, welcher unfähig ist den Faschismus und die Faschisten zu liquidieren, die gewalttätige Opposition des Proletariats gegen die Faschisten und den Faschismus fordern, und auf den Zusammenprall zwischen dem Proletariat und dem kapitalistischen Staat hinarbeiten. ”Damit die vielen Worte nicht verhindern, dass der Leser den Kern der Debatte aus den Augen verliert, möchten wir hervorheben, dass es nicht darum geht, ob man den gewalttätigen Widerstand des Proletariats gegen den Faschismus fordert. Damals wie heute forderten und fordern wir weiter den Widerstand des Proletariats gegen den Faschismus. Die Frage ist, wie, mit welcher Methode, auf welcher Grundlage muss dieser Aufruf erfolgen? Soll dieser Widerstand auf der Grundlage des Klassenkampfes, mit einer Klassenperspektive, auf unabhängigem Klassenboden, unabhängig von allen politischen und organisatorischen Gebilden des Kapitalismus geleistet werden, oder soll dies durch Zusammenarbeit mit den Gruppen geschehen, die mit dem Faschismus aufgrund ihres Klassencharakters verbunden sind? D.h. durch antifaschistische Komitees, in dem diejenigen zusammengeschlossen werden, die dem Faschismus den Weg bereitet haben? Nur darum dreht sich die Debatte, und das ganze Geschwafel um die Aufforderung des Kampfes gegen den Faschismus vernebelt nur die ganze Frage” (Internationalisme, Nr. 4, Der Neo-Antifaschismus, Juni 1945).
Während Internationalisme nichts Spezifisches zur Bereicherung der Analyse Bilans zur Frage des Faschismus und Antifaschismus beitrug, leistete es jedoch einen wesentlichen Beitrag zur Verstärkung der theoretischen Grundlagen dieser Analyse und seiner Beziehung zum Staatskapitalismus. Internationalisme, das die Grundlagen der Analyse des kapitalistischen Wesens Russlands vertiefte, unterstrich insbesondere: “Man kann die Tendenz nicht leugnen, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln immer mehr beschränkt wird; dies ist in immer mehr Ländern zu beobachten. Diese Tendenz konkretisiert sich in der Bildung eines Staatskapitalismus, welcher die Hauptbranchen der Produktion und des Wirtschaftslebens insgesamt verwaltet. Der Staatskapitalismus ist kein Anhängsel einer Fraktion der Bourgeoisie oder einer besonderen Schule. Er hat sich sowohl im demokratischen Amerika wie in Hitler-Deutschland und im von der Labour-Partei regierten England wie im ‚sowjetischen‘ Russland niedergelassen” (Internationalisme, Nr. 10. Die russische Erfahrung).
Dank des programmatischen Rahmens, der von der Italienischen Linken geerbt wurde, veröffentlichte die IKP 1960 in ihrer Zeitschrift Programme Communiste Nr. 11 den wichtigen Artikel "Auschwitz oder das große Alibi", der seitdem als Broschüre veröffentlicht wurde.
Dieser Artikel wendet ausgezeichnet den Marxismus auf die Analyse des Holocausts während des 2. Weltkriegs an und entlarvt die ideologische Ausbeutung der Todeslager durch die Demokratie und die Siegermächte des 2. Weltkriegs. Es ist kein Zufall, dass dieser Artikel auf dem Höhepunkt der jüngsten antifaschistischen Kampagnen der Demokratien (7) die Angriffe der Herrschenden auf sich gezogen hat. Die demokratischen und linksextremen Fraktionen haben die Aufgabe übernommen, diesen Text mittels Verleumdungen und Lügen zu zerreißen. Denn der Text prangert die "Heuchelei der Bourgeoisie an, die uns glauben machen wollen, dass Rassismus und Antisemitismus für die Leiden und die Massaker verantwortlich seien, die insbesondere den Tod von sechs Millionen Jugend im 2. Weltkrieg verursacht haben. Der Text legt die wirklichen Wurzeln für die Auslöschung der Juden bloß. Diese Wurzeln können nicht im Bereich der ‚Ideen‘ gefunden werden, sondern in der Funktionsweise der kapitalistischen Wirtschaft selbst und der gesellschaftlichen Widersprüche, die dieser hervorbringt. Er verdeutlicht ebenso, „während der deutsche Staat der Henker der Juden war, in Wirklichkeit alle bürgerlichen Staaten mitverantwortlich sind für deren Tod, über den sie jetzt Krokodilstränen vergießen.“ (siehe unseren Artikel „Antinegationistische Kampagnen – ein Angriff gegen die Kommunistische Linke“).
So aufschlussreich dieser Artikel auch ist und obwohl im Allgemeinen die Analysen der IKP zur Frage des Faschismus und des Antifaschismus richtig sind, sind diese dennoch von einigen Schwächen geprägt, die wir erwähnen wollen. Der folgende Auszug aus einem Flugblatt der IKP („Auschwitz oder das große Alibi: was wir leugnen und was wir bekräftigen"), das zur Verteidigung ihrer Broschüre gegen die Angriffe der Bourgeoisie verfasst wurde, belegt dies: "8) Wir leugnen, dass man gegen den Faschismus kämpfen kann, indem man die Aufrechterhaltung einer idealisierten Demokratie fordert. Wir verneinen auch, dass man gegen die Monopole kämpfen könne, indem man für die freie Konkurrenz plädiert. Wir bekräftigen, dass ein 'wirklicher Kampf' gegen den Faschismus verlangt, dass man einen wirklichen Kampf gegen den Kapitalismus führt. Wir behaupten sogar, dass die antifaschistische Propaganda nur auf der Grundlage einer ernsthaften antikapitalistischen Propaganda betrieben werden kann.
9) Wir leugnen, dass wichtige Fraktionen der Bourgeoisie wirksam gegen den Faschismus kämpfen können. Wir bekräftigen, wenn die Lage es erforderlich macht, schließen sich die ausschlaggebenden Zentren des Großkapitals dem Faschismus an. Sie ziehen dabei eine große Mehrheit Bürgerlicher und Kleinbürger auf ihre Seite.
10) Wir verneinen, dass große antifaschistische Fronten sich ernsthaft dem Aufstieg des Faschismus entgegenstellen. Wir sagen, dass diese in Wirklichkeit einen wirksamen antifaschistischen Kampf verhindern: Die Geschichte und Theorie – wie die gegenwärtige Polemik es belegt – unter dem Vorwand, dass man die Einheit aufrechterhalte und die "Front" nicht aufbrechen wolle, untersagt den radikalsten Leuten noch nicht mal auf Propagandaebene einen konsequenten anti-kapitalistischen Kampf zu führen."
Ungeachtet all der Einschränkungen, die im Kampf gegen den Faschismus entstehen, lassen diese Zeilen, aus einer Perspektive der Arbeiterklasse gesehen, den Weg offen für die Möglichkeit und Notwendigkeit eines solchen Kampfes. Auch ist damit die Idee verbunden, dass der Faschismus heute für die Arbeiterklasse eine Gefahr bedeutet. So verstärkt die IKP, ohne sich dessen bewusst zu sein, die Glaubwürdigkeit der Kampagnen der Herrschenden, welche vor der faschistischen Gefahr warnen. Aber wie wir aufgezeigt haben, stehen wir heute nicht vor der Gefahr des Faschismus, sondern die Hauptgefahr für die Arbeiterklasse besteht darin, dass sie sich für die Verteidigung der Demokratie einspannen lässt. Wenn in den Kampagnen zur Verteidigung der Demokratie, die vor allem von den linken und extrem-linken Parteien des Kapitals getragen werden, vor der extremen Rechten als einer tödlichen Gefahr für die Arbeiterklasse gewarnt wird, soll damit das wahre Gesicht der Demokratie vertuscht werden. Die rechten und extrem-rechten Parteien sind natürlich offen gegen die Arbeiterklasse eingestellt. Aber die Linken und Extrem-Linken Gruppen handeln viel verdeckter und eigentlich wirksamer gegen die Arbeiterklasse, dadurch werden sie für die Arbeiterklasse viel gefährlicher. Die KPs und SPs sind schon als Henker der Arbeiterklasse aufgetreten. Sie werden dies erneut tun, genau so wie die extreme Linke, wenn die Bedingungen dafür vorhanden sind.
Diese Schwächen der Intervention der IKP sind nicht auf eine unvollkommene theoretische Analyse zurückzuführen, sondern auf eine Tendenz, die von der Linken in Italien verwendeten Parolen schematisch zu übertragen, als diese zu Beginn der 1920er Jahre mit dem Faschismus an der Macht konfrontiert war. Auf dem damaligen Hintergrund, der sich von der heutigen Lage stark unterscheidet, hatten diese Parolen gegen den Faschismus eine andere Bedeutung, da sie der Mobilisierung gegen eine an der Macht befindliche Partei dienten, welche die Staatsgeschäfte führte. Damit waren diese gegen die Macht und die kapitalistische Gesellschaft insgesamt gerichtet.
(Fußnoten)
1) Man muss feststellen, dass dieser Absatz im Gegensatz zu den späteren Theoretisierungen und der programmatischen Positionen der bordigistischen Anhänger Bordiga zur Zeit der revolutionären Welle die Idee nicht verwarf, dass der Kapitalismus in seine Niedergangsphase eingetreten war.
2) Zu denjenigen, die die Analyse vertraten, dass der Faschismus ein Ausdruck einer reaktionären Bewegung war, gehörte auch Gramsci, aus dessen Sicht der Faschismus ein Ausdruck der rückständigen Bauernschichten Süditaliens war. Die Wirklichkeit bestätigte die Analyse Bordigas insbesondere hinsichtlich der Tatsache, dass der Faschismus wie auch die Demokratie dazu in der Lage seien, die Produktivkräfte zu entwickeln.
(3) Die totalitäre und karikaturale Form, welche der Staatskapitalismus in der UdSSR annahm, ist durch die besonderen historischen Bedingungen zu erklären, unter denen er entstanden ist. Die Bourgeoisie in Russland, welche sich im Rahmen der inneren Entartung der Revolution bildete, ging nicht aus der alten zaristischen Bourgeoisie hervor, die durch das Proletariat 1917 abgeschafft worden war, sondern aus der parasitären Bürokratie des Staatsapparates, mit der sich die Bolschewistische Partei unter der Führung Stalins immer mehr vermischte. Es war die Bürokratie des Partei-Staates, welche die Kontrolle dieser Wirtschaft durch die Eliminierung Ende der 1920er Jahre aller Teile, die eine Privatbourgeoisie hätten bilden können, und mit der sie sich verbündet hatte, übernahm, um die Verwaltung der Volkswirtschaft sicherzustellen (Landbesitzer und Spekulanten des NEP).
(4) Die Position der IKS ist, dass die Arbeiterklasse ihre Unabhängigkeit als Klasse gegenüber diesem Halbstaat bewahren muss, der mit der Entfaltung der Weltrevolution absterben muss, und der wie jeder Staat von seinem Wesen her konservativ ist. In ihren Räten organisiert, muss die Arbeiterklasse auch die Aufgabe der Umwandlung der Gesellschaft anpacken, mittels der Diktatur über die ganze Gesellschaft und den Staat selbst.
(5) Wie wir in der Einleitung zu dieser Broschüre gesagt haben, stellte sich Bilan die Aufgabe, die Lehren aus der ersten Welle revolutionärer Kämpfe und ihrem Scheitern als Vorbedingung für den Sieg einer zukünftigen proletarischen Erhebung zu ziehen. Aber die Klarheit hinsichtlich der wesentlichen Frage des Zeitraums entstand nicht spontan und unmittelbar, sondern dank eines kollektiven Nachdenkens und der Gegenüberstellung dieser Analyse mit der Wirklichkeit. So benutzte Bilan damals noch Formulierungen wie die UdSSR als "Arbeiterstaat" und von den kommunistischen Parteien als "zentristischen" Parteien. Erst im 2. Weltkrieg entwickelte die Italienische Linke eine umfassendere Analyse des kapitalistischen Wesens der UdSSR und der stalinistischen Parteien. Aber das hinderte die Revolutionäre schon in den 1930er Jahren nicht daran, die Stalinisten rücksichtslos und energisch als die Kräfte zu entblößen, "die für die Konsolidierung der kapitalistischen Welt insgesamt wirken", und somit "ein Element beim Sieg der Faschisten" sind. Dieses Hinterherhinken Bilans gegenüber der Lage kann durch die Tatsache erklärt werden, dass die Gruppe noch geprägt war von den Verwirrungen, die mit der großen Verbundenheit der Revolutionäre mit dieser einzigartigen Erfahrung zusammenhing.
Aber aus der Sicht Bilans hat Russland mehr als das Wirken des Kapitals in den anderen Teilen der Welt die entscheidende Rolle bei dem Sieg der Konterrevolution gespielt: "Die Rolle Russlands hat mehr dazu beigetragen, die Idee der proletarischen Revolution und des proletarischen Staates zu Grabe zu tragen als die furchtbare Repression durch den Kapitalismus" (Bilan, Nr. 17, April 1935, Von der Pariser Kommune zur russischen Kommune.)
(6) Am Vorabend des Krieges beteiligte er sich 1937 an der politischen Entwaffnung der Fraktion durch seine Theorie, der zufolge der Weltkrieg nicht mehr auf der Tagesordnung der Geschichte stünde, die lokalen Kriege hätten zur Folge, dass der Ausbruch des Weltkrieges hinausgeschoben würde. Dieser gleichen Theorie zufolge besteht die Funktion des Krieges nicht mehr in der Neuaufteilung des Weltmarktes, sondern in der Massakrierung der Arbeiterklasse.
(7) Auszug aus der Einleitung zur Wiederveröffentlichung des Artikels in Form einer Broschüre als Beilage zur Zeitung „Le Prolétaire“ der Internationalen Kommunistischen Partei (Programme communiste).
(8) siehe unseren Artikel: "Antinegationistische Kampagnen: ein Angriff gegen die Kommunistische Linke"…
Die Morde vom 11., 15. und 19. März in Toulouse und Montauban und deren Folgen sind ein schlagender Beweis der Barbarei, in welche die gegenwärtige Gesellschaft versinkt.
Den Aussagen von Präsident Sarkozy zufolge war Mohamed Merah, der junge Mann aus Toulouse, welcher diese Verbrechen beging und schließlich von der RAID erschossen wurde, ein „Monster“. Diese Aussage wirft zumindest zwei Fragen auf:
Was ist ein „Monster“?
Wie konnte die Gesellschaft solch ein „Monster“ hervorbringen?
Wenn jemand, der kaltblütig unschuldige Menschen ermordet - in diesem Fall handelte es sich gar um Unbekannte - , zu einem „Monster“ wird, dann müsste die ganze Welt von „Monstern“ regiert werden, da ein Großteil der Staatschefs der Welt solche Verbrechen begangen hat. Das trifft nicht nur auf ein paar „blutigen Diktatoren“ zu wie damals Stalin oder Hitler oder Gaddafi oder Assad in der jüngsten Zeit. Was soll man von Winston Churchill, dem „großen Führer“ im 2. Weltkrieg halten, der die Bombardierungen der deutschen Städte wie Hamburg im Sommer 1943 und Dresden vom 13-15. Februar 1945 befahl, bei denen Zehntausende, ja Hunderttausende zivile Opfer zu beklagen waren, darunter 50% Frauen und 12% Kinder? Wie steht es um Harry Truman, Präsident der “großen US-Demokratie”, der den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 befahl, bei denen mehrere Hunderttausend Zivilisten als Opfer zu beklagen waren, auch wiederum in der Hauptzahl Frauen und Kinder? Diese Getöteten waren keine „Kollateralschäden“ von Kriegshandlungen, die gegen militärische Ziele gerichtet waren. Diese Bombardierungen zielten ausdrücklich auf Zivilisten, insbesondere im Falle Deutschlands auf diejenigen, die in den Wohnvierteln lebten. Heute rechtfertigen die Staatschefs ständig die Bombardierungen der Zivilbevölkerung im Irak, Afghanistan, Gaza und vielen anderen Gebieten.
Um die politischen und militärischen Führer „freizusprechen“, hört man immer wieder, dass all diese Verbrechen der unvermeidliche Preis seien, den man zahlen müsse, um den Krieg gegen die „Kräfte des Bösen“ zu gewinnen. Selbst Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung werden so gerechtfertigt: Diese Vergeltungsmaßnahmen sollen den Feind „demoralisieren“ und „abschrecken“. Genau das hat auch Mohamed Merah behauptet, wenn man den Aussagen der Polizisten folgt, die mit diesem vor dessen Erschießung gesprochen haben: Indem er die Soldaten angriff, wollte er seine „Brüder in Afghanistan“ rächen; durch den Angriff auf die Kinder einer jüdischen Schule wollte er die „Kinder des Gaza-Streifens“ rächen, die Zielscheibe der israelischen Bombardierungen geworden waren.
Aber was Mohamed Merah vielleicht zu einem “Monster” werden ließ, ist dass er selbst den Abzug der Waffe bedient hat, die ihn niederstreckte? Meistens stehen die Führer, die Massaker befehlen, nicht im direkten Kontakt mit ihren Opfern: Churchill hat nicht selbst die Bomben auf die deutschen Städte abgeworfen, und er hatte keine Gelegenheit gehabt, die Frauen und Kinder sterben zu sehen, die von den Bombenteppichen getroffen wurden. Aber trifft das nicht auch auf Hitler und Stalin zu, die zurecht als gemeine Verbrecher angesehen wurden? Die Soldaten, die vor Ort unbewaffnete Zivilisten töten, entweder auf Befehl oder aus eigenem Hass, werden selten als „Monster“ angesehen. Ziemlich oft erhalten diese gar Auszeichnungen und werden häufig als „Helden“ geehrt.
Ob Staatsführer oder einfache Staatsbürger, die für den Krieg rekrutiert wurden, die “Monster” sind in dieser Gesellschaft im Überfluss vorhanden. Sie sind vor allem das Ergebnis einer Gesellschaft, deren Wesen monströs ist. Der tragische Lebensweg Mohamed Merahs führt dies deutlich vor Augen.
Mohamed Merah stammte aus dem maghrebinischen Arbeitermilieu. Seine Mutter hatte ihn als alleinstehende Frau erziehen müssen. In der Schule war er gescheitert; mit dem Gesetz war er mehrfach in Konflikt geraten. Als Minderjähriger hatte er sich mehrere kleinere Vorstrafen wegen Gewalttaten eingehandelt, für die er mit Gefängnis bestraft wurde. Mehrfach war er arbeitslos. Seine Versuche, in die Armee aufgenommen zu werden, schlugen aufgrund seines Vorstrafenregisters fehl. In der gleichen Zeit näherte er sich dem radikalen Islamismus; dabei wurde er scheinbar durch seinen älteren Bruder beeinflusst.
Dies ist ein klassischer Werdegang vieler Jugendlicher heute. Es stimmt zwar, dass nicht all diese Jugendlichen zu Mördern werden. Mohamed Merah war besonders zerbrechlich, wie sein Selbstmordversuch während seines Gefängnisaufenthaltes bezeugt sowie seine Zeit in psychiatrischer Behandlung. Aber es ist aufschlussreich – wie die Versuche im Internet bezeugen, ihm nachträglich Ruhm zu verleihen – dass Mohamed Merah jetzt schon als „Held“ von vielen Jugendlichen aus den Vorstädten betrachtet wird, genau wie die Terroristen, die sich mit Bomben am ihrem Körper in Israel, im Irak oder in London auf öffentlichen Plätzen in die Luft sprengen lassen. Das Abgleiten in den extremistischen und gewalttätigen Islam betrifft vor allem Länder mit großer muslimischer Bevölkerung, wo dies gar massenhafte Ausmaße annehmen kann wie zum Beispiel der Erfolg der Hamas im Gaza-Streifen belegt. Wenn es um Jugendliche geht, die in Frankreich geboren wurden (oder in anderen Ländern Europas), ist dies meistens auf die gleiche Ursache zurückzuführen: Die Revolte gegen die Ungerechtigkeit, Hoffnungslosigkeit und das Gefühl ausgegrenzt zu werden. Die „Terroristen“ des Gaza-Streifens werden unter Jugendlichen rekrutiert, die seit Jahrzehnten in der Misere und Arbeitslosigkeit leben, und die die Kolonisierung durch den Staat Israel erlebt haben und weiterhin regelmäßig Bombenangriffe durch den israelischen Staat erleiden, ohne Hoffnung auf „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes“. (Karl Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1844, MEW, Bd. 1, S. 378-379. )irgendeine Verbesserung ihrer Lage.
In Anbetracht einer unhaltbaren Lage heute und der Perspektivlosigkeit der Zukunft sehen die Menschen keinen anderen Trost und Hoffnung als die Flucht in die Religion, welche ihnen das Paradies nach dem Tod verspricht. Indem sie Irrationales anbieten (da sie sich auf den Glauben und nicht auf ein rationelles Denken stützen), sind die Religionen ein fruchtbarer Nährboden für den Fanatismus, d.h. die radikale Verwerfung der Vernunft. Wenn dann noch die Komponente des „heiligen Krieges“ gegen die „Ungläubigen“ hinzukommt als ein Mittel, den Zugang zum Paradies zu erhalten, (wie im Falle des Islams und des Christentums) und zudem noch Elend und Hoffnungslosigkeit und Erniedrigung zum Alltag gehören, sind sie zu einer ‚himmlischen‘ Rechtfertigung der Gewalt, des Terrorismus und der Massaker bereit.
Im Herbst 2005 hat die Welle von gewaltsamen Ausschreitungen in den französischen Vororten diese Hoffnungslosigkeit und Perspektivlosigkeit der Jugendlichen zum Ausdruck gebracht, die immer mehr in der Massenarbeitslosigkeit hängenbleiben, insbesondere sind davon die Jugendlichen aus dem Maghreb und der Subsahara getroffen. Sie sind doppelt „bestraft“: neben der Ausgrenzung durch die Arbeitslosigkeit und der Ausgrenzung aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihres Namens. Bei gleichem Bildungsstand oder Ausbildungsstand werden Josef oder Marie mehr Chancen haben, eine Arbeit zu finden als Jussuf oder Mariam, vor allem falls Letztere noch ein Kopftuch trägt, wie es seine Familie verlangt.
Auf diesem Hintergrund kann der Rückzug in “Gemeinschaften”, von denen die Soziologen sprechen, die Lage nur noch verschlimmern; wobei durch die Religion nur noch alles zementiert wird. Die internationale Lage spitzt das Ganze noch einmal zu, da Fremdenhass und Rassenhass noch zunehmen, wenn zum Beispiel der Staat Israel (damit die Juden) als „Feindbild“ schlechthin angesehen wird.
Den Informationen der Polizei zufolge hat sich Mohamed Merah am 19. März in eine jüdische Schule „zurückgezogen“, weil er keinen Soldaten gefunden hatte, den er abknallen konnte. In der jüdischen Schule tötete er schließlich drei Kinder und einen Lehrer. Dieses barbarische Verbrechen ist nur der Höhepunkt einer sehr judenfeindlichen Entwicklung unter vielen Muslimen. Aber die Judenfeindlichkeit ist eigentlich keine historische Besonderheit des Islams, im Gegenteil. Im Mittelalter war die Lage der Juden in den vom Islam dominierten Ländern besser als in den vom Christentum beherrschten Ländern. Im christlichen Westen wurden die Juden (denen man vorwarf, „Mörder“ Jesus zu sein) als die Sündenböcke für die Hungersnöte, die Epidemien oder die politischen Schwierigkeiten angesehen, während die Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Juden und den Muslimen sich gleichzeitig in den arabisch-muslimischen Ländern verbesserten. In Cordoba, der Hauptstadt (des muslimischen) Andalusiens übten die Juden wichtige Posten im Bereich der Diplomatie oder im Bildungswesen als Universitätsgelehrte aus. In Spanien waren die ersten massiven Judenverfolgungen das Werk der „katholischen Könige“, die die Jagd auf die Juden und die Muslime im Jahr der Eroberung Amerikas 1492 anzettelten. Später lebten die Juden im süd-östlichen Mittelmeerraum viel besser als in den christlichen Ländern (ob unter den Katholiken oder den Orthodoxen). Das Wort „Getto“ ist italienischen Ursprungs (15. Jahrhundert), das Wort „Pogrom“ ist russischen Ursprungs (19. Jahrhundert). Der Zionismus nahm in Europa in Anbetracht der Pogrome im Osten und der antisemitischen Welle der Dreyfuß-Affäre in Frankreich seinen Auftrieb - und nicht aufgrund der Entwicklung im Maghreb oder im Mittleren Osten. Diese nationalistische Ideologie, die am Ende des 19. Jahrhunderts aufblühte, trat für die Rückkehr der Juden und die Schaffung eines religiösen Staates auf dem Gebiet Palästinas ein, auf dem nunmehr hauptsächlich Muslime lebten. Die Schaffung einer „jüdischen Heimstätte“ in Palästina nach dem 1. Weltkrieg unter britischem Mandat, wo in den 1930er Jahren viele Opfer der Naziverfolgungen Zuflucht suchen, leitete den Beginn des ständigen Interessenkonfliktes zwischen Juden und Muslimen ein. Aber vor allem die Schaffung 1948 des Staates Israel, das Hunderttausende Überlebende der Shoah aufnehmen sollte, die alles verloren hatten, sollte die Feindseligkeit zwischen Muslimen und Juden ständig anfachen, insbesondere nachdem mehr als 750.000 Araber vertrieben wurden.
Die verschiedenen Kriege zwischen Israel und den arabischen Staaten, die Errichtung von Kolonien in den besetzten Gebieten durch Israel erschweren nur die Lösung und sind Wasser auf die Propagandamühlen der Regierungen der Region, die in der israelischen Siedlungspolitik einen willkommenen Vorwand finden, um die Wut der Bevölkerung über ihre Armut und Unterdrückung abzulenken. Das Gleiche trifft auf die rhetorischen oder bewaffneten Kreuzzüge der USA und ihrer westlichen Verbündeten und Israel gegen muslimische Länder (Irak, Iran, Afghanistan) im Namen des Kampfes gegen den „islamischen Terrorismus“ zu. Aus der barbarischen Geschichte des 20. Jahrhunderts hervorgegangen, mitten im Zentrum einer strategisch und wirtschaftlich Schlüsselregion entstanden, sind der israelische Staat und seine Politik dazu gezwungen, die Spannungen im Nahen und Mittleren Osten und der Hass der Juden unter den Muslimen weiter anzufachen.
Mohamed Merah ist tot; sein Körper wurde von Schüssen durchsiebt, aber die Ursachen für seinen tragischen Werdegang sind damit nicht verschwunden. Mit der Zuspitzung der Wirtschaftskrise eines dahinsiechenden kapitalistischen Systems, mit dem unaufhaltsamen Ansteigen der Arbeitslosigkeit, der Prekarisierung und der Ausgrenzung, insbesondere unter den Jugendlichen, werden die Hoffnungslosigkeit, der Hass und der religiöse Fanatismus noch weiter zunehmen. Die kleinen Gangster der Drogenbanden oder des „Jihad“ werden damit über noch mehr Kanonenfutter verfügen. Das einzige Gegengewicht gegen dieses Versinken in der Barbarei liegt in der massiven und bewussten Entfaltung der Arbeiterkämpfe, die den Jugendlichen eine wirkliches Identitätsgefühl vermitteln können – eine Klassenidentität, eine wahre Gemeinschaft der Ausgebeuteten und nicht der „Gläubigen“. Diese wahre Solidarität kann sich im Kampf gegen die Ausbeutung unter den Beschäftigten und Arbeitslosen aller Rassen, Nationalitäten und Religionen entwickeln. Dann wird man erkennen, dass nicht die Juden aus der Welt geschafft werden müssen, sondern der Kapitalismus. Nur diese Arbeiterkämpfe werden den Nahen und Mittleren Osten aus dem ständigen Krieg herausführen können, wenn die jüdischen und muslimischen ArbeiterInnen, wenn die ArbeiterInnen auf jeder Seite der „Mauer der Schande“ verstehen, dass sie solidarisch vorgehen müssen gegen ihre Ausbeutung. Die Arbeiterkämpfe müssen dann immer deutlicher werden lassen, dass die einzige Perspektive, die die Menschheit aus der Barbarei führen kann, die Überwindung des Kapitalismus und die Errichtung einer kommunistischen Gesellschaft ist. Fabienne, 29. 3. 2012
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Eine der Vorstellungen, die kürzlich bei einem Treffen der Occupy-Bewegung in London geäußert wurde, ist, dass die herrschende Klasse die gegenwärtige ökonomische Krise bewusst herbeigeführt habe, um ihre eigene Macht zu bewahren. Solche Vorstellungen sind nichts Neues; Verschwörungstheorien gibt es, seit es Regierungen und Klassengesellschaften gibt, auch wenn sie sich in Umfang und Plausibilität erheblich unterscheiden. Selbst in der Antike gab es sie, etwa wenn zeitgenössische Historiker Nero beschuldigten, den Brand von Rom selber verursacht zu haben.
In der Neuzeit, mit dem Aufstieg der Rothschild-Dynastie im internationalen Bankwesen und der Rolle, die sie bei der Finanzierung der Engländer in den Napoleonischen Kriegen spielte, hat die Idee, dass die Bankeliten ökonomische Krisen und Kriege zu ihren eigenen Zwecken herbeiführen, immer wieder Gehör gefunden.
Heutzutage, in einer Zeit, in der die Massen versuchen, die ökonomischen Katastrophe zu verstehen, die die Gesellschaft bis in ihre Grundfesten erschüttert, wenden sich viele Verschwörungstheorien zu, wenn sie die Ursachen der gegenwärtigen Situation zu verstehen versuchen.
Solche Vorstellungen sind nicht mehr die Domäne von “verrückten” Extremisten. So haben etwa Befragungen gezeigt, dass Verschwörungstheorien über den 11. September in der US-amerikanischen Bevölkerung weit verbreitet sind. Eine Studie von 2004 belegt, dass 49% der Bewohner New Yorks glaubten, dass Teile der US-Regierung im Voraus über die drohenden Angriffen informiert waren und sie geschehen ließen.
Wir von der IKS wurden auch beschuldigt, Verschwörungstheoretiker zu sein, weil wir die These des “Machiavellismus” der herrschenden Klasse vertreten. Wir sind jedoch überzeugt, dass es einen grundlegenden Unterschied gibt zwischen einer marxistischen Analyse der politischen Verhältnisse und den ideologischen Versatzstücken, auf denen zahlreiche Verschwörungstheorien beruhen. Das versuchen wir, in diesem Artikel darzulegen.
Eine weitere historisch frühe Verschwörungstheorie hat den sogenannten Gunpowder Plot von 1605 zum Gegenstand. Damals versuchten britische Katholiken, während der Parlamentseröffnung am 5. November den protestantischen König von England, Jakob I., seine Familie, die Regierung und alle Parlamentarier zu töten. Es wird angenommen, dass Lord Salisbury an dieser Verschwörung entweder federführend beteiligt gewesen war oder aber, nachdem er davon Kenntnis erhielt, die Verschwörer gewähren ließ, um um ein hartes Vorgehen gegen Katholiken in England zu rechtfertigen. Ein solches Vorgehen unter „falscher Flagge“ - verdeckte Operationen, die bewusst so aussehen, als seien sie von einer feindlichen Gruppe oder Macht geplant, und deshalb als Legitimation für ein Vorgehen gegen sie herhalten können - ist ein Leitmotiv in zahlreichen Verschwörungstheorien.
Die meisten “Falsche Flagge”-Theorien fallen in den Bereich der Verschwörungstheorien, den man noch am ehesten als plausibel bezeichnen könnte. Ihre Plausibilität erhalten sie dadurch, dass es in der Tat zahlreiche historisch belegte Operationen unter falscher Flagge gab. So etwa:
- der angebliche Überfall auf den Sender Gleiwitz: 1939 rechtfertigte Deutschland den Einmarsch in Polen durch den Angriff einer Gruppe polnischer Soldaten auf eine deutsche Radiostation. Tatsächlich wurde diese Aktion von SS-Kommandos in polnischer Uniform ausgeführt;
- die Operation Susannah: sie war ein Versuch der israelischen Sicherheitskräfte, Bomben in verschiedenen Hotels in Ägypten zu platzieren, für die dann islamische Extremisten oder Kommunisten verantwortlich gemacht werden würden. Die Operation Susannah ist auch als Lavon-Affäre bekannt, da der israelische Verteidigungsmister Pinhas Lavon nach Bekanntwerden des Plans zurücktreten musste;
- die so genannte Operation Northwoods: diese Operation wurde vom Stabschef der Kennedy-Administration vorgeschlagen. Im Rahmen dieser Operation sollten terroristische Anschläge in den USA verübt werden, um ein militärisches Vorgehen gegen Kuba zu rechtfertigen. Auch wenn Northwoods nie in die Tat umgesetzt wurde, zeigt es jedoch deutlich, dass diese Art von Operationen ernsthaft in den obersten Rängen des Staates diskutiert wurde.
Weitere Beispiele für historisch belegte Verschwörungen:
- Der Ebert Gröner Pakt war eine geheimes Abkommen zwischen Friedrich Ebert, dem Vorsitzenden der SPD, und Wilhelm Gröner, dem Oberbefehlshaber der Reichswehr, im Jahr 1918 während der Deutschen Novemberrevolution. Dabei sorgte die regierende SPD für die Legitimation, indem sie behauptete, im Namen der Arbeiter zu handeln, während die Rechte in Gestalt der brutalen Freikorps, aus denen später die SA und SS hervorgingen, für militärische Schlagkraft sorgte.
- Die Propaganda Due (P2) Loge war ein Staat im Staate, die Unterstützer in der gesamten italienischen herrschenden Klasse hatte. Es wird vermutet, dass sie sowohl Verbindungen zur Mafia als auch zum Vatikan hatte und italienische Politiker, Geschäftsleute und Funktionäre des Staates ebenso wie Vertreter der Polizei und der Sicherheitsapparate ihr angehörten. P2 wurde 1981 im Rahmen der Untersuchungen des Zusammenbruchs der Banko Ambrosiano aufgedeckt. Ihr werden enge Kontakte zur dubiosen Operation Gladio nachgesagt.
- Die Operation Gladio selber wurde ursprünglich von der NATO als militärische Widerstandsorganisation ins Leben gerufen für den Fall, dass die Sowjetunion in Europa einmarschierte oder eine kommunistische Regierung in einem europäischen Staat an die Macht käme. Eng verbunden mit dem rechten Flügel der Bourgeoisie und dem organisierten Verbrechen, sollten diese Strukturen versuchen, das politische und gesellschaftliche Leben unter einem neuen Regime durch Subversion und Terror zu erschüttern. Außerdem wurde Gladio und P2 vielfach eine Beteiligung an terroristischen Anschlägen im Italien der Nachkriegszeit nachgesagt. Obwohl sich Gladio in erster Linie auf Italien konzentrierte, existierten ähnliche Netzwerke überall in Europa, die auch unter dem Sammelbegriff Gladio gefasst werden.
Man kann also festhalten, dass einige Verschwörungen eine historisch gesicherte Tatsache sind. Allerdings bedeutet das natürlich nicht, dass jedes bedeutende Ereignis durch eine Verschwörung zustande kam; es bedeutet jedoch auch nicht, dass wir naiv jede Vorstellung von bürgerlichen Intrigen als bloße Verschwörungstheorie wegwischen können.
Es versteht sich von selbst, dass, auch wenn es nachgewiesenermaßen Verschwörungen gab und andere zumindest Plausibilität besitzen, zahlreiche Verschwörungstheorien existieren, die über keinerlei empirische Grundlage verfügen. Diese zeichnen sich in der Regel durch einige wiederkehrende Eigenschaften aus.
- Die Welt wird beherrscht von einer geheimen Gruppe von Juden, Freimaurern oder Bankern (die üblicherweise Juden sind) oder sogar Außerirdischen.
- Alle Ereignisse von weltweiter Bedeutung sind das Ergebnis der Machenschaften dieser Clique.
- Ironischerweise haben solche Verschwörungstheorien oft Ihren Ursprung in staatlichen Organen oder werden zumindest von diesen weiter verbreitet. Die berüchtigten „Protokolle der Weisen von Zion“ etwa, angeblich das Protokoll eines Treffens der jüdischen Führer der Welt, die beabsichtigten, die Weltherrschaft an sich zu reißen, sind eigentlich eine Fälschung, die von der zaristischen Geheimpolizei, der Okhrana verfasst wurde. Schon seit langem sind Juden immer wieder der Verschwörung beschuldigt worden. Selbst das Wort „Kabale“, ein altertümlicher Begriff für “Intrige”, ist hervorgegangen aus „Kabbala“, also einer Form des jüdischen Mystizismus. Viele moderne Verschwörungstheorien sind die ideologischen Nachfolger desselben Vorurteils, das in den „Protokollen“ zum Ausdruck kommt - auch solche, bei denen es sich nicht um die offen antisemitischen Hirngespinste der extremen Rechten handelt. Moderne Verschwörungstheoretiker werden eher über “internationale Banker” und eine “globale Elite” reden als über das “internationale Judentum”, aber die grundlegenden ideologischen Strukturen dieser Auffassung sind dieselben. Schließlich speist sich der überwiegende Teil des Ressentiments gegen Juden aus ihrer angeblichen Herrschaft über das Bankensystem sowie aus der Tatsache, dass sie eine sichtbare Minderheit sind, die angeblich andere Loyalitäten hat als die zur Krone oder zur Nation. Diese Art von Verschwörungstheorien hängen daher auch eng mit nationalistischen Einstellungen zusammen. Am Rande sei deshalb bemerkt, dass linke Weltanschauungen, die eigentlich Nationalismus und Rassismus ablehnen, vor solchen Einflüssen nicht gefeit sind – die Ideologie der Globalisierungsgegner etwa beruht auf der Vorstellung, der Nationalstaat werde durch globale Kapitalisten unterhöhlt und ausgebeutet. Die grundlegende Übereinstimmung dieser Argumentation linker Globalisierungskritiker mit der paranoiden Ideologie des Nationalsozialismus ist offenkundig.
Auch Kommunisten waren schon immer beliebte Zielscheibe für Verschwörungstheorien. In den USA wurden die Protokolle der Weisen von Zion im Jahre 1919 durch den “Public Ledger” in Philadelphia wiederveröffentlicht. In dieser “rote Bibel” genannten Ausgabe wurden der Einfachheit halber alle Hinweise auf Juden mit “Bolschewisten” ersetzt. Mit Verweise auf Karl Marx‘ jüdische Herkunft haben Antisemiten schon immer Kommunisten mit Juden gleichgesetzt und daher war es nur natürlich, dass die Russische Revolution als das Machwerk der jüdischen Weltverschwörung wahrgenommen wurde. Die große Menge an Literatur, die zu diesem Thema geschrieben wurde, ist an sich schon eine eigene wissenschaftliche Abhandlung wert, jedoch kann man auch so mit Sicherheit sagen, dass die wohlbekannte totale Identifikation von “Juden” mit “Bolschewisten” durch den Nationalsozialismus nur die logische Konsequenz dieser verschwörungstheoretischen Gedankenwelt ist.
Während die meisten die paranoiden Fantasien der Rechten als das erkennen können, was sie sind, ist es jedoch wichtig darauf hinzuweisen, dass der Mainstream bürgerlicher Geschichtsschreibung beispielsweise die Russische Revolution auf verschwörungstheoretische Weise analysiert: So wird die bewusste Tat der Massen in der Revolution durch diese Geschichtsschreibung auf einen Staatsstreich der Bolschewisten reduziert. Wieder sehen wir, dass Verschwörungstheorien und der Mainstream bürgerlichen Denkens trotz ihrer behaupteten Differenz einander ähnlicher sind, als ihre Vertreter es sich eingestehen würden - auch wenn der Verschwörungstheoretiker bestimmte Aspekte bürgerlichen Denkens bis zur Absurdität verzerrt.
Offiziell will die Bourgeoise nichts mit Verschwörungstheorien zu tun haben. Schon der Begriff als solcher ist abwertend gemeint und impliziert, dass keine ernstzunehmende Person glauben könne, in demokratischen Staaten gebe es Verschwörungen. Dass das jedoch nicht den Tatsachen entspricht, haben wir oben in aller Kürze dargestellt. Mehr noch, die eigene Sicht der Bourgeoisie auf die Geschichte - eine Chronik konstanter Rivalität zwischen Banden, die die Kontrolle über den Staat an sich reißen wollen, Manipulation der Massen etc. - ist verschwörungstheoretisch.
Verschwörungstheorien, die bestimmte gesellschaftliche Gruppen zum Sündenbock machen, sind Ausdruck des dem Kapitalismus innewohnenden Rassismus, insofern haben sie häufig eher einen spontanen, unsystematischen Charakter. Aber sie werden auch absichtsvoll vom Staat eingesetzt, um dessen Vorgehen gegen bestimmte Gruppen zu rechtfertigen. So wurden zum Beispiel die gehässigen Lügen, die über Juden in Umlauf gebracht wurden, immer wieder als Rechtfertigung für Pogrome benutzt.
In ähnlicher Weise wurden Verschwörungstheorien über Kommunisten benutzt, um nach der Russischen Revolution die Gegenrevolution in Russland und im Ausland zu mobilisieren. Die „Rote Angst“ („Red Scares“) etwa wurde in den USA bewusst angefacht, um für die politischen Ziele des amerikanischen Staates Unterstützung zu gewinnen. Damit wurde zunächst das Ziel verfolgt, die politischen Organe der Arbeiterklasse aus dem Weg zu räumen. Diese ideologische Offensive war nicht auf Kommunisten, Anarchisten, und Gewerkschafter (besonders die IWW) begrenzt, vielmehr wurden Streikende aller Arten regelmäßig als eine Gefahr für die Gesellschaft gebrandmarkt. Damit war die „Rote Angst“ Teil der Gegenrevolution, mit der man die revolutionäre Welle zu brechen suchte.
In der zweiten Phase der “Roten Angst”, während des berüchtigten “McCarthyismus”, richteten sich die politischen Zielsetzungen vor allem auf die imperialistische Rivalität zwischen den USA und ihrem russischen Gegner, während die soziale Dimension von vergleichsweise geringerer Bedeutung war. Nachdem mehrere russische Spionageringe aufgedeckt worden waren, war die herrschende Klasse in den USA besorgt über die Anziehungskraft, die die stalinistische Ideologie auf die Arbeiterklasse ausübte.
Wenn der Staat also Verschwörungstheorien aktiv verbreitet, was ist dann von Verschwörungstheorien zu halten, die sich, wie etwa die 9/11 Truth-Bewegung, gegen staatliches Handeln richten? In gewisser Weise spiegeln diese Bewegungen das extreme Misstrauen wider, dass das Kleinbürgertum gegen den Staat und das Großkapital hegt. Es ist kein Zufall, dass der Ausgangspunkt zahlreicher moderner Verschwörungstheorien bei den rechten Libertären in den Vereinigten Staaten zu finden ist. Auf den ersten Blick scheinen diese Verschwörungstheorien den Mythos des demokratischen Staates sogar in Frage zu stellen. Tatsächlich aber tragen sie dazu bei, diesen Mythos am Leben zu erhalten, weil sie - und gerade darin sind sie Ausdruck der historischen Machtlosigkeit des Kleinbürgertums – keine wirkliche Alternative zur bürgerlichen Demokratie benennen können. Stattdessen bleibt ihnen die traurige Rolle, vom Staat zu fordern, er müsse seinem Ideal entsprechen und „demokratischer Ausdruck des Volkes“ sein. Der Präsidentschaftskandidat John Buchanan etwa trat 2004 mit einem Truther Programm an, während sich die radikaleren Vertreter dieser Strömung der Sinnlosigkeit eines solchen Unterfangens bewusst sind und sich mit Waffenlagern in die Berge zurückziehen, um dort auf die Apokalypse zu warten.
Diese paranoideren Varianten verschwörungstheoretischen Denkens erfüllen jedoch noch eine weitere Funktion: Sie verhindern jede ernsthafte Diskussion über die Funktionsweise der bürgerlichen Klasse, weil jeder Versuch in diese Richtung unweigerlich dafür sorgt, dass man den UFO-Spinnern mit ihren unappetitlichen Verbindungen zu Rechtsextremen und religiösen Fundamentalisten zugerechnet wird.
Auch wenn, wie wir gesehen haben, die grundlegenden Themen von Verschwörungstheorien an sich nichts Neues sind, zeigt sich an ihren modernen Erscheinungsformen doch ein typisches Kennzeichen des sich zersetzenden Kapitalismus, nämlich die Tendenz der bürgerlichen Ideologie, mehr und mehr irrationale Züge anzunehmen. Teilweise lässt sich diese Ausbreitung von Paranoia auch als Reaktion auf das augenscheinlich immer größere Chaos des Kapitalismus verstehen; insofern ist es kein Zufall, dass es enge Verbindungen zum Aufkommen von New Age und religiösen Fundamentalismus gibt. David Icke zum Beispiel, ein klassischer Repräsentant des New Age, redet von außerirdischen Eidechsen, die heimlich die Welt beherrschen, während chiliastische Christen glauben, sie lebten in einer durch die Offenbarung des Johannes vorherbestimmten Ära, in der die Ankunft des Antichristen mit einer totalitären „Neuen Weltordnung“ einhergeht. Fast 20% der US-amerikanischen Christen (etwa 16% der US-Bevölkerung) glauben, dass Jesus in ihrer Lebenszeit zurückkehren wird (3). Hal Lindseys Alter Planet Erde - Wohin?, eines der frühesten populären Bücher über die „Endzeit“, wurde bis 1990 trotz seiner offenkundig falschen Vorhersagen mehr als 28 Millionen Mal verkauft. Ein fiktionaler Bericht über die Apokalypse, die Left Behind-Serie wurde millionenfach verkauft, 1998 belegten die ersten vier Bände die vier Spitzenplätze der New York Times Bestseller-Liste.
Dergleichen legt nahe, dass solche Theorien einen wachsenden Einfluss auf Kultur und Politik des Mainstreams besitzen. Ohne Zweifel hat die „Endzeit“-Ideologie einen Einfluss der auf den rechten Flügel der herrschenden Klasse in den USA; auch der Erfolg der Fernsehserie „Akte X“ zeigt, wie weit verbreitet und populär mittlerweile UFO-Verschwörungstheorien sind.
Aber sind Marxisten (oder wenigstens die IKS) nicht auch Verschwörungstheoretiker? Wie oben erwähnt, vertreten wir die These, dass die herrschende Klasse durchaus fähig ist, komplexe Verschwörungen zu organisieren, um ihre politischen Zwecke durchzusetzen. Einige historische Beispiele haben wir am Anfang des Artikels aufgeführt. Wir können auch eine „Elite“ benennen (die Klasse der Kapitalisten nämlich), die alle politische und ökonomische Macht in ihren Händen hat. Oberflächlich betrachtet sieht es also so aus, als ob wir den Mustern der Verschwörungstheorie folgen würden.
Weil wir Marxisten sind, kann man von uns erwarten, dass wir uns einer materialistischen Theorie verpflichtet fühlen und Vorstellungen ablehnen, die darauf gegründet sind, dass wir alle am Rande des Armageddon lebten oder außerirdische Eidechsen heimlich den Planeten kontrollieren. Aber warum zum Beispiel kritisieren wir dann die Idee, dass eine geheime globale Elite (die doch schließlich aus Kapitalisten besteht) die gesamte Welt kontrolliert, Kriege und Krisen herbeiführt, um ihre Zwecke durchzusetzen?
Der Grund hierfür liegt in unserer Einsicht, wie der Kapitalismus funktioniert. Während Verschwörungstheoretiker über Eidechsen, Banker, die Bilderberg-Gruppe, etc. schimpfen mögen, kleben sie doch an einer der wirkungsmächtigsten Illusionen, die die Bourgeoise zu bieten hat: die Idee, dass irgendwer irgendwo die Kontrolle hat. Es scheint einfacher, eine große Verschwörung für den Horror des niedergehenden und zerfallenden Kapitalismus verantwortlich zu machen, als verstehen zu wollen, was für eine Tragödie er in Wahrheit ist: eine Gesellschaft, in der der Menschheit, sogar der herrschenden Klasse ihr eigenes ökonomisches und gesellschaftliches Handeln als etwas Fremdes jenseits ihrer Kontrolle gegenüber steht.
Die Gesetze des Kapitalismus funktionieren unabhängig vom Willen des Kapitalisten, egal wie verzweifelt sie (für gewöhnlich vermittelt durch den Staat) versuchen, sie zu kontrollieren. Die gegenwärtige Krise beispielsweise ist nicht das Resultat der Machenschaften irgendeiner globalen Elite – im Gegenteil, die Tendenz zur Krise entzieht sich trotz all ihrer Machenschaften mehr und mehr ihrer Kontrolle. Während es mit Sicherheit richtig ist, dass diese oder jene Fraktion der Bourgeoise versuchen wird, eine Krise oder einen Krieg vom Zaun zu brechen, um ihre Zwecke zu verfolgen(4), ist es wichtig, daran zu erinnern, dass sich diese Zwecke für gewöhnlich gegen eine der anderen Fraktionen der Bourgeoise richten.
Die Klasse der Kapitalisten basiert auf dem Prinzip der Konkurrenz, einem Mechanismus, dem der Kapitalismus als Ganzes nicht entkommen kann. Die Konkurrenz ist tief in den ökonomischen Prozessen des Kapitalismus verankert und kann nicht durch einen Willkürakt aufgehoben werden. Dieses Moment drückt sich im gesellschaftlichen und politischen Leben der herrschenden Klasse in der Bildung von Cliquen aus, in der Konkurrenz zwischen Individuen, Unternehmen, Nationalstaaten wie auch als Allianz zwischen Nationalstaaten. Zwar gibt es Tendenzen, die der Konkurrenz entgegenwirken, etwa Verstaatlichung oder Monopolbildung etc. Diese verschärfen sich in der Epoche der Dekadenz, aber diese können niemals den Mechanismus der Konkurrenz völlig aufheben, sondern verschieben ihn lediglich auf eine höhere Ebene. Konkurrenz zwischen Firmen entwickelt sich zur Konkurrenz zwischen Staaten, freier Handel wird dem Merkantilismus geopfert, Kriege um Märkte und natürliche Ressourcen werden geführt und tendieren mehr und mehr zu globalen Flächenbränden, also Weltkriegen. Dieser Machiavellismus der Bourgeoise ist daher ein Produkt des entfremdeten Bewusstseins der herrschenden Klasse selber, die Konkurrenz aller gegen alle bietet der Bourgeoisie keinen anderen Ausweg aus den grundlegenden Widersprüchen in ihren ökonomischen, ideologischen, oder politischen Leben.
Trotz aller Konkurrenz findet sich die Bourgeoise jedoch während revolutionären Perioden zur Einheit zusammen, wenn die herrschende Klasse gezwungen ist, sich mit der Gefahr einer bewussten, organisierten Arbeiterklasse auseinanderzusetzen. Der oben erwähnte Ebert-Gröner Pakt ist ein Beispiel für die Intrigen, derer die Bourgeoisie in einer solchen Situation fähig ist. Gleichzeitig zeigt sich jedoch am fehlgeschlagenen Kapp-Putsch, wie schwierig es für die herrschende Klasse ist, diese Einheit in solch einer kritischen Situation dauerhaft aufrechtzuerhalten.
Für Marxisten folgt daraus, dass die Bourgeoise niemals eine dauerhafte Einheit erreichen kann, die es ihr ermöglichen würde, völlige Kontrolle über die Entwicklung der Gesellschaft auszuüben. Verschwörungstheorien der Art, wie sie hier diskutiert wurden, eröffnen deshalb auch weder eine Einsicht in die gegenwärtige historische Krise der kapitalistischen Gesellschaft, noch beinhalten sie irgendein Programm, um diese zu überwinden. Nichtsdestoweniger können wir heutzutage damit rechnen, dass mit der Ausweitung der systemischen Krise bei gleichzeitig nur schwach ausgebildetem Klassenbewusstsein auch das verschwörungstheoretische Denken an Zulauf gewinnen wird. Daher dürfen Kommunisten die Anhänger solcher Auffassungen nicht als Irre abtun, sondern müssen ihnen entschieden entgegentreten und den reaktionären Gehalt dieser Ideologien bloßstellen, ohne dabei den genuin machiavellistischen Charakter der herrschenden Klasse zu leugnen.
Indem der der Klassenkampf an Dynamik gewinnt und sich das Proletariat einmal mehr seiner eigenen Macht bewusst wird, wird es solch Verschwörungstheorien zugunsten seiner eigenen historischen Methode aufgeben: Marxismus.
Ishamael 8/1/12
[2] [102] Mit Kommunismus war in diesem Kontext offenkundig der Stalinismus des Ostblocks gemeint, auch wenn es auf jede linke Partei zutreffen konnte, die sich dem US-Imperialismus widersetzte. Natürlich war keine dieser Bewegungen eine wirklich kommunistische oder im Interesse der Arbeiterklasse, aber ähnliche Methoden würden ohne Frage gegen jede wahre Bewegung der Arbeiterklasse eingesetzt werden.
[3] [103] pewforum.org/uploadedfiles/Topics/Beliefs_and_Practices/religion-politics-06.pdf.
[4] [104] Die Asienkrise in den späten 90ern etwa wurde drastisch verschärft durch die US-Bourgeoise, die ihre Dominanz in der Region auszubauen versuchte. Aber die Situation geriet außer Kontrolle und bedrohte die gesamte Weltwirtschaft mit ernsthaften Konsequenzen für die US-Wirtschaft.
Wir haben von V. Riga nachfolgenden Beitrag erhalten, den wir hier gerne veröffentlichen. Wir bedanken uns für diesen Beitrag und würden uns freuen über Reaktionen der Leser/Innen. (die IKS).
„Die Hemmung, die das Denken, die Vitalität, das Leben auf der Stufe der sinnlichen Gewissheit erfährt, äußert sich in Krankheitssymptomen.“
(Sozialistisches Patienten Kollektiv)[1]
„Denken heißt ins Labyrinth eintreten, einen Irrgarten erstehen lassen. Denken heißt sich in den Gängen verlieren, die es nur deshalb gibt, weil wir sie unablässig graben.“
(C. Castoriadis)[2]
„Denken ist etwas, was auf Schwierigkeiten folgt und dem Handeln voraus geht“
(B. Brecht)[3]
Ein tragisches Ereignis brachte vergangenes Jahr exemplarisch das Verhältnis der deutschen Gesellschaft gegenüber ihrer psychischen Verelendung erneut auf den Punkt:
Am 24. August 2011 wurde die 53 jährige, 1.60 m kleine und ca. 40 kg. leichte Andrea H. in ihrem Zimmer, im 8. Stock eines Hochhauses im Berliner „Märkischen-Viertel“, in einer von einem sozialen Dienst betreuten Wohngemeinschaft, von einem Polizisten erschossen. Andrea wehrte sich mit verzweifeltem Körpereinsatz gegen die Zwangseinweisung in eine psychiatrische Einrichtung. Andrea war einer Aufforderung zu einer Amtsanhörung bzgl. Ihrer behördlich angeordneten Einweisung nicht nachgekommen. Vermutlich ahnte sie deshalb schon, was ihr eigentlich bevorstehen sollte, als der Sozialpsychiatrische-Dienst (SpD), nebst Amtshilfe in Form einer Streifenwagenbesatzung, vor ihrer Tür stand. Dass sie schließlich über den Haufen geschossen werden würde, damit hat Andrea jedoch mit Sicherheit nicht gerechnet. Dies ist indes kein Einzelfall!
Andrea schloss sich zunächst in ihr Zimmer ein und redete mit den Polizisten durch die geschlossene Tür. Plötzlich öffnete sie diese unvermittelt und fuchtelte in panischer Angst mit einem Messer herum. Dabei wurde ein Beamter am Unterarm verletzt. Die Polizisten versprühten eine Ladung Pfefferspray gegen Andrea, woraufhin sie zurück in ihr Zimmer flüchtete und die Tür wieder verschloss. Die Beamten forderten derweil Verstärkung an und bekamen diese bald darauf von der 23. Einsatzhundertschaft der Berliner Bereitschaftspolizei. Etwa 20 Beamte in vollem Wichs standen schließlich in und vor Andreas Wohnung, um die Tür zu ihrem Zimmer mit einer Ramme aufzubrechen. Die Agenten des SpD waren offenbar bereits kaltgestellt worden. Jedenfalls dachte niemand zu diesem Zeitpunkt noch an deeskalierende Maßnahmen. Stattdessen wurde das ganze Spektakel zu einem Exempel des staatlichen Gewaltmonopols. Andrea wusste sich in dieser Situation anscheinend nicht mehr anders zu helfen, als erneut mit dem Messer in der Hand aus ihrem Zimmer auszubrechen. Der Einsatzleiter, der sich, wie seine Kollegen, hinter einem mit Sicherheit stichfesten Schutzschild verborgen hielt, zog seine Pistole und streckte Andrea mit einem Schuss in die Leber nieder. Sie verblutete, noch bevor der Rettungsdienst zu ihr durchdringen konnte.
Fasst man div. Zeitungsberichte dieser Tage zusammen, dann muss sich die Tragödie so oder sehr ähnlich abgespielt haben.[4] Bodo Pfalzgraf, Berliner Landesvorsitzender der Polizeigewerkschaft kommentiert: „Wer mit einem Messer Polizisten angreift, muss damit rechnen, erschossen zu werden. Allein die Tatsache, dass es eine geistig verwirrte Person war, rechtfertigt nicht, dass sich der Polizist hätte erstechen lassen müssen.“ Ein obligatorisches Ermittlungsverfahren gegen den Todesschützen wurde zwar eingeleitet. Doch schon nach zwei Tagen, am 26. 8., stellte sich der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Martin Steltner, den Fragen der Presse mit folgenden Worten: „Nach dem Stand der Ermittlungen kann man vorsichtig sagen, dass der Schuss aus einer Nothilfesituation heraus abgegeben wurde.“ Der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wieland (Die Grünen) meldet daraufhin „Aufklärungsbedarf“ an: „Die eingesetzten Beamten hätten gewusst, dass die Frau ein Messer hatte. Somit seien sie nicht unvorbereitet gewesen. Geklärt werde müsse auch, warum der Schütze nicht auf die Arme oder Beine gezielt habe, um die Frau kampfunfähig zu machen.“ Aber Herr Wieland: Hinter einem Schild verschanzt, sind derart gezielte Schüsse nun mal nicht möglich! Wieland bilanziert schließlich lakonisch: „Man muss sagen, der Einsatz ist gründlich danebengegangen“ – wovon aus Sicht der Polizei allerdings kaum die Rede sein kann. Weitere Reaktionen der politischen Kaste sind mir nicht bekannt. Knapp zwei Wochen nach dem Todesschuss vermeldet der Berliner „Tagesspiegel“ dann auch erwartungsgemäß, dass die Ermittlungen gegen den Todesschützen eingestellt wurden.
Die naheliegende Auffassung, dass Andrea H. sich ihrerseits in einer Notwehrsituation befunden haben könnte, wurde in keiner Zeitung zur Debatte gestellt. Die eigentlich eher geringe empathische Anstrengung, die dafür hätte aufgebracht werden müssen, ist von den Schreibern der bürgerlichen Presse offenbar genauso wenig zu erwarten, wie von einem Abgeordneten der Grünen. Noch viel weniger zu erwarten ist die rhetorische Frage: ob die Polizei sich z. B. im Falle einer Vorführung zwecks Zwangseinweisung ebenso verhalten hätte, wenn es sich um eine ähnlich von Panik erfasste Person in den eigenen vier Wänden einer Villa in Frohnau gehandelt hätte? Wohl kaum. Und wenn doch, dann wäre das Echo der Politik und der Justiz vermutlich anders ausgefallen und die Gewerkschaft der Polizei hätte sich schweigepflichtbewusst zurückgehalten. Wahn kommt auch in den besten Familien vor, aber Angehörige solcher Familien werden meistens auch bestens versorgt. Von daher ist es eigentlich auszuschließen, dass ein unangemeldeter SpD plus Polizei weiter als bis zur Gartenpforte kommen würde. Das sei den Betroffenen aus solchen Gesellschaftsschichten von Herzen gegönnt! Leiden diese doch wie alle anderen Betroffenen letztlich auch unter der gleichen Symptomatik der Entfremdung, welche der Verwirrung und dem Wahn von jeher stets Vorschub leistet.
Begreift man Verwirrung und Wahn als etwas (auch im anthropologischen Sinne) durch und durch Menschliches, und daran besteht für mich kein Zweifel, dann ist anzunehmen, dass (auch) der Todesschütze sich in einer akuten emotionalen Notsituation empfunden haben muss. In dem Moment nämlich, als er sich selbst - in Andrea spiegelnd - gewahr wurde. In dem also die Macht ihrer Wut aus Angst sich unmittelbar und unausweichlich mit seinen eigenen Ängsten kreuzte. Was in ihm scheinbar eine heftige Phobie auslöste. Andrea hat ihn schlicht verwirrt und Angst eingejagt. Angst vor dem Wahn. Wahnsinnige Angst. Dieser Angst begegnete er wehrhaft. Anders hat er es nicht gelernt. Die Wendung seiner eigenen Not in Notwehr gegen Andreas Angst musste, weil diese nicht begriffen werden konnte und nicht begriffen werden soll, im Nachhinein als professionelles Handeln rationalisiert und legitimiert werden. Wir sehen hier auf beiden Seiten das Zusammenspiel aus real begründeter und irrationaler (phobischer) Angst, die in der unmittelbaren Begegnung der beiden Protagonisten zwischen ihnen scheinbar eine paranoide Situation erzeugte, welche schnell einer Eigendynamik folgte. Die durch die abstrakten gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse hervorgebrachten destruktiven Elemente, die dieser Dynamik voraus- und mit ihr einhergehen, trennen die gemeinsam produzierte Angst, die doch nur aus der konkreten Begegnung zwischen Andrea und ihrem Todesschützen zu verstehen wäre, von deren konkreten Verhältnis zueinander künstlich ab. Das Symptom – Paranoia – kann so dem Kontext entrissen und Andrea einseitig zugeschrieben werden. Damit wird zugleich dem Todesschützen zugestanden, sich dieses Symptoms einseitig entledigen zu dürfen. Das wird jedoch nicht restlos funktionieren. Es wird hier etwas zur Vordertür hinaus befördert, was mit Sicherheit durch die Hintertür zurück kommen wird. Der Todesschütze bleibt (nachhaltig) traumatisiert. Es ist davon auszugehen, dass seine Phobie gegen Verwirrung und Wahn sich vorerst weiter manifestieren wird. Die Legitimation seiner Handlung von Staatswegen kann seine Verwirrung evtl. aufheben. Nicht aber seine Phobie!
Um das Herrschaftsverhältnis, welches sich in dieser Tragödie mit aller Macht gezeigt hat, auf den Begriff bringen zu können, ist ein gewisses Maß an Empathie gegenüber dem Todesschützen unabdingbar – Sympathie jedoch nicht. Das meint: Empörung gegen die Schergen des Staates ist nachvollziehbar und berechtigt. Es wird jedoch Andrea und allen anderen Opfern staatlicher Willkür kaum gerecht, bei der Empörung stehen zu bleiben. Polizeischergen bei jedem solcher Anlässe bloß als „Schweine“ zu betiteln, sie derart zu entmenschlichen und ihnen damit zugleich ihre Verantwortung als handelnde Subjekte zu nehmen, dabei letztlich unsere eigene Verantwortung, nämlich den Dingen auf den Grund zu gehen, gleich mit zu entsorgen, kann nicht unsere Sache sein.
Dem tödlichen Spektakel ging vermutlich eine psychiatrische Diagnose voraus. Folgt man der Etymologie, dann leiten sich die Begriffe Diagnose / Diagnostik von griech. dia-gnosis = unterscheidende Erkenntnis ab. Dem wiederum liegt dia-gi-gnoskein = durch und durch erkennen (=durchschauen) zugrunde.[5] Mit peinlicher Unterscheidung hat eine psychiatrische Diagnose oft tun, mit Erkenntnis seltener. Von einem „durch und durch erkennen“ der diagnostizierten Person kann schon gleich gar nicht die Rede sein. Im Falle des SpD schon deshalb nicht, da bereits das Anbahnen einer Beziehung zu der Person, die erkannt werden soll, was die Voraussetzung dafür wäre, überhaupt erst mal einen Erkenntnisprozess auf den Weg zu bringen, im Arbeitsauftrag solch einer Behörde nicht vorgesehen ist.[6] Deshalb bliebe der SpD in seiner Bürokratie selbst dann noch befangen, wenn die gegenwärtig offiziellen Diagnosekriterien der Psychiatrie (ICD-10, DSM)[7] tatsächlich zu mehr zu gebrauchen wären als dafür, die bürokratischen Erfordernisse des „Gesundheitssystems“ zu bedienen. Eben deshalb, weil die dort beschäftigten Psychiater und Psychologen wie eine Art „Taskforce“ operieren und ihr Klientel nur selten, manchmal gar nicht zu Gesicht bekommen, bevor sie solch einen vorgezogenen Vollzugsbefehl für einen Polizeieinsatz unterschreiben. Das alles kann die Zunft jedoch kaum davon abhalten, ihre Urteile über Menschen zu fällen, die sie kaum oder gar nicht kennt. Und die, wie wir gesehen haben, im schlimmsten Fall, wenn auch ungewollt so doch keinesfalls unvermeidlich, zu Todesurteilen werden können. Insofern besteht die tatsächliche Bedeutung der Diagnose darin, „dass sie, sozial gesehen, der Dolch ist, der ins Herz der Gnosis getrieben wird. Die Diagnose ist der Mord an der Möglichkeit, den anderen Menschen kennenzulernen, ein Mord, verwirklicht durch die Verdrängung der Realität dieses Menschen in die Vorhölle einer sozialen Pseudo-Objektivität.“[8]
Das Lieblingsblatt der Deutschen mit humanistischer Bildung im gymnasialen Oberstufenbereich, „Die Zeit“, spricht von ca. 200.000 Zwangseinweisungen jährlich. „Eine mittlere Kleinstadt landet so nahezu unbemerkt in den geschlossenen Abteilungen der Psychiatrien.“[9] Etwa die Hälfte dieser Zwangseinweisungen wird nach dem Betreuungsgesetz (PsychKG) durchgeführt.[10] Das heißt konkret, das Betreuer, meist Sozialarbeiter oder Ehrenamtliche, die noch nicht einmal dazu befugt wären, eine Diagnose zu stellen, nach eigenem Gutdünken eine Zwangseinweisung beim örtlichen Amtsgericht bewirken können. Die Gerichte stimmen, laut einer NRW-Statistik, in rund 99 Prozent der Fälle umstandslos zu.[11] Als Grundlage für die Entscheidungen der Richter dienen dann meist ältere, teilweise Jahre zurückliegende Diagnosen. Diese Verfahrensweise ist folglich pure Willkür. Ein paar Zeilen weiter offenbart uns die „Zeit“ dann noch den Klassencharakter dieser Gerichtsbarkeit. „Es gibt aufgrund der Zahlen aus dem NRW-Gesundheitsministerium ein Ranking für betroffene Menschen: Männliche Großstädter, alte und behinderte Menschen und Personen aus niedrigen sozialen Schichten werden häufiger eingewiesen als etwa Vermögende. Auch eine Studie der Universität Siegen aus dem Jahr 2006 weist auf subjektiv motivierte Einweisungen hin: So würden manisch-depressive Chefs eher als cholerisch eingestuft, wohingegen arme Menschen mit denselben Symptomen schneller als psychisch krank eingeschätzt würden.“[12] Auch der Bundesverband der Berufsbetreuer (BdB) steht Zwangseinweisungen gelegentlich kritisch gegenüber. Klaus Förter-Vondey, Vorsitzender des BdB: „…besser geschulte Betreuer würden dramatisch weniger Zwangseinweisungen veranlassen… Anfänger würden häufig aus Angst zu schnell einliefern lassen, viele ehrenamtliche Betreuer hätten keinen blassen Schimmer, mit welchen Erkrankungen sie es zu tun hätten."[13] Das „Deutsche Ärzteblatt“ berichtet im Dezember 2011 von einer drastischen Zunahme der Zwangseinweisungen und erklärt diese mit einer weitreichenden Lockerung der Vorschriften im PsychKG. Demnach dürften bei „Eilbedürftigkeit“ seither die Betreuer sofort einweisen lassen und müssen sich die richterliche Genehmigung erst hinterher besorgen. Die Bedeutungslosigkeit bzw. die auf den bloßen Zweck der Kassenabrechnung reduzierte Bedeutung einer Diagnose wird so mit aller Deutlichkeit bestätigt. Zugleich wird deutlich, wie wirkmächtig einmal ausgeschriebene Diagnosen sein können. Selbst dann, wenn deren Erstellung lange zurückliegt und für keinen amtlichen „Experten“ mehr nachvollziehbar ist, wie es konkret um den Diagnostizierten bestellt ist. Immerhin kommt es nicht selten vor, dass Verantwortliche in den psychiatrischen Anstalten viele Zwangseingewiesene nach relativ kurzer Zeit wieder nach Hause schicken, wenn zu offensichtlich ist, dass die Betreuer hier mehr ihren eigenen Ängsten folgten anstatt denen der Betroffenen.
Vergegenwärtigt man sich die Geschichte der Psychiatrie, wie sie z. B. von Dörner[14] oder Foucault[15] beschrieben wurde, stellt sich heraus, dass Zugang und Haltung der Gesellschaft gegenüber ihrem psychischen Elend im Allgemeinen und den davon betroffenen Individuen im Besonderen einem stetigen Wandlungsprozess unterliegen, welcher durch die Geschichte der politischen Ökonomie und deren jeweiligem Zeitgeist weitgehend determiniert ist.[16] Erscheinungsformen, sprich: Symptome der Verwirrung, des Wahns oder extremer Gefühlszustände, werden nach den jeweiligen Erfordernissen der gesellschaftlichen Verhältnisse (Produktionsprozess, politischer und ideologischer Überbau) beschrieben, gedeutet und, wenn nötig, wieder umgedeutet. Dementsprechend kann man in beinahe jeder neuen Auflage der offiziellen Diagnosemanuale jeweils Neues entdecken. Was sie trotz der politischen Brisanz, die sich dahinter verbirgt, jedoch nicht spannender macht.
Die politische Brisanz solcher Manuale lässt sich u. a. daran ablesen, dass z. B. Homosexualität als Erscheinungsbild einer „psychischen Störung“ aus den psychiatrischen Manualen herausgenommen werden musste (DSM,1973), nachdem die Emanzipationsbewegungen sowie mutige Aufstände von Menschen mit homosexuellen Neigungen in den Industriemetropolen der 1960er und 1970er Jahre dafür Sorge trugen, dass sich in einem darauf folgenden, breiten gesellschaftliche Diskurs das Konstrukt von der Homosexualität nachhaltig veränderte. Eine kritisch-wissenschaftliche Einschätzung, dass es sich bei der Homosexualität nicht um eine „psychische Störung“ sondern vielmehr um eine „physisch-emotionale Neigung“ handelt, war zu diesem Zeitpunkt längst erbracht. Bereits Freud vertrat vorsichtig die Ansicht, dass eine dem menschlichem Wesen immanente Bi-Sexualität bestehe, die sich „naturwüchsig“ in die eine oder andere Richtung entwickeln kann. Die umfangreichen wissenschaftlichen Arbeiten von Magnus Hischfeld und anderen renommierten Psychologen und Medizinern diesbezüglich waren dem Forschungsbetrieb, auch in Deutschland nach dem Ende des 2. Weltkrieges, seit Jahrzehnten wieder zugänglich. Es war nicht eine „neue wissenschaftliche Erkenntnis“ bzw. die Zurkenntnisnahme wissenschaftlicher Untersuchungen, welche die Zuschreibungen in den Diagnosemanualen gegen Homosexuelle zu Fall brachte, sondern ein politischer Kampf! Der „Christopher-Street-Day“ ist, so betrachtet, auch als ein Etappensieg gegen die Gewalt der Psychiatrie zu feiern.
Die Diagnose eines Psychiaters oder Psychologen beschreibt Symptome und fasst Symptome zusammen. Bei „ausreichender Symptomverdichtung“ (vereinfachtes Beispiel: 5 von 10 der beobachteten Symptome stimmen mit den vorgegebenen Beschreibungen des jeweiligen Manuals überein) hat der Diagnostiker das Recht, seiner Diagnose einen Namen und seinen Diagnostizierten eine Zuschreibung zu verpassen. Derart simpel entsteht die Konstruktion einer Psychose und eines Psychotikers. Oder einer Depression und einer Depressiven… ohne dass heute irgendein „Experte“ wirklich weiß, was eine Psychose, Depression usw. für das betroffene Individuum bedeutet, wie sie sich entwickelt hat und wie sie erlebt und empfunden wird. Ob sie sich einmalig, vorübergehend oder latent entwickelt und wovon dieser Entwicklungsprozess jeweils individuell abhängig ist. Diagnosen beschreiben alles Mögliche - aber sie erklären nichts!
Durch den Abgleich eigener, mehr oder weniger oberflächlicher Beobachtungen mit den Vorgaben aus medizinischen Manualen stellte der SpD in Berlin, gemäß seiner Gewohnheiten, vermutlich auch bei Andrea so eine Symptomverdichtung fest. Was im gegebenen Kontext dazu führen musste, dass Andrea als Gefahr für sich selbst und ihre Umwelt (zu der selbstredend auch diese Diagnostiker gehören) wahrgenommen, eingeschätzt und festgeschrieben wurde. Die panischen, möglicherweise paranoiden Reaktionen von Andrea im Angesicht einer für sie bedrohlichen Ansammlung martialisch gekleideter, bewaffneter Männer gaben dann nur noch eine weitere Rechtfertigung für die vorangegangene Diagnose ab. Wie immer die Diagnose auch im Einzelnen gelautet haben mag: die reale Bedrohung für Andrea wurde darin jedenfalls vorsorglich ausgeklammert.
Eine Diagnostizierung des Todesschützen wurde hingegen von niemand verlangt. Genauso wenig wie eine selbstkritische Reflexion in den Reihen des SpD. Warum auch? Eine tröstende Supervision wird das angeknackste Selbst, den der Tod von Andrea möglicherweise bei den einen oder anderen Berufsbetreuer und der Kollegen des SpD hinterlassen hat, schon irgendwie richten. Wären Letztere allerdings im Nachherein von ihrer diagnostischen Zuschreibung auch nur minimal abgewichen, hätte ihnen das mit Sicherheit mächtigen Ärger eingebracht. Da der akademisch ausgebildete Helfer als solcher selbstverständlich bzw. seinem Selbstverständnis nach nicht als Bauernopfer vorgeführt werden will, wird er tunlichst seine Zuschreibungen rechtfertigen. Insgeheim erahnt der unglückliche Helfer natürlich die Funktion seiner Diagnosen als alltägliches Produkt des Verblendungszusammenhanges zur Aufrechterhaltung eines vom realen Wahn des Sachzwangs dirigierten Gesellschaftsystems.[17]
Die Manuale für Diagnosekriterien liefern die Orientierungslinie für das eigentlich absurde Unterfangen, Subjekte zu objektivieren. Sie werden quasi jährlich erneuert. Das heißt, dass der jeweilige Inhalt dieser Manuale dem jeweiligen Zeitgeist, der herrschenden Meinung ausgesetzt ist. Was hier ohne Umschweife als Meinung über die Beherrschten zum Ausdruck kommt. Die Beschreibungen der jeweiligen Symptome werden von Auflage zu Auflage ständig erweitert, modifiziert, umgeschrieben, neu geordnet. Den ganzen Aufriss nennt man dann wissenschaftlichen Fortschritt.
Das letzte Jahrzehnt bescherte uns u. a. eine geradezu inflationär angewandte Zuschreibung für aufmüpfige Kinder in Form eines diagnostizierten „Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom mit Hyperaktivität“ (ADS/H). Mit verheerenden Auswirkungen für die betroffenen Kinder, von denen es in psychiatrischen Einrichtungen mittlerweile, im wahrsten Sinne des Wortes, nur so wimmelt. Wobei die Bezeichnung „Aufmerksamkeitsdefizit“ an sich schon verräterisch ist. Oder denken wir an das im Volksmund sog. Burn-Out-Syndrom für ausgelaugte, erschöpfte Lohnabhängige. Oder das seit einigen Jahren stark in Mode gekommene, mittlerweile allgegenwärtige „Borderline-Syndrom“ als Beschreibung für alle möglichen Menschen, die der geneigte Sozialarbeiter oder Psychologe nicht mehr oder noch nicht als „Schizophrene“ oder „Manisch-Depressive“ einordnen kann. Über die er aber dennoch glaubt zu wissen, dass diese sog. „Schwarz-Weiß-Denker“ in ihrer Persönlichkeit irgendwie gespalten sind. Und zwar offenbar ganz im Gegensatz zur Mehrheit der Gesellschaft (?). Derart wird das eigene dualistische und mechanische Denkschema, welches man bei professionellen Helfern nicht gerade selten antrifft, als Empfindung und Gedanke des Betroffenen uminterpretiert. Solche Vorgänge bezeichnete Freud einst als Projektionen. Also als Abwehrmechanismus – in diesem Falle des neurotischen Helfers gegenüber dem Objekt seiner Profession.
Dieser Psychomainstream hängt, neben der üblichen Erklärungsnot der Psychiatrie gegenüber jedem (epidemisch) auftretenden, unerwünschten Verhaltensmuster in der Gesellschaft, nachweislich auch mit dem Warenangebot der Pharmaindustrie zusammen. (Siehe weiter unten). Die permanente Ausdifferenzierung von Diagnosekriterien entspricht der und bedingt die Angebotsdiversifikation auf dem Pharmamarkt und umgekehrt. Derart dem Marktgeschehen unterworfen und dem warenförmigen Charakter menschlicher Beziehungen im Kapitalismus angeglichen, sagen die Diagnosekriterien weder etwas über die gesellschaftliche Dimension psychischer Verelendung, noch über die Einzigartigkeit der von diesem Elend konkret betroffenen Individuen etwas aus. Sie sind zur bloßen Berechnungsgrundlage für das „Gesundheitssystem“ und zum Designkriterium für die Pharmaindustrie heruntergekommen. Nicht mehr und nicht weniger.
Durch denkfaule und zugleich pflichtbewusste professionelle Helfer bekommt die Diagnostik schließlich den ihr zustehenden Fetischcharakter eingeräumt. Die Funktion eines Fetischs besteht darin, hier waren sich Freud und Marx mit Hegel einig, sich weitgehend unbemerkt zwischen wirkliche, lebendige menschlichen Beziehungen zu stellen. Mit dem alleinigen Zweck ein Abhängigkeits- bzw. Herrschaftsverhältnis in den Beziehungen zu verleugnen und/oder zu verdrängen. In diesem Fall konkret das Beziehungsverhältnis zwischen professionellen Helfern und ihrer Klientel. Das erkannte in den 1970er Jahren, nach langjähriger eigener Praxis, schließlich auch der Psychiater D. Cooper: „Die von der Psychiatrie verübte Gewalt lässt sich nur aufgrund ihres fundamentalen Dogmas verstehen: wenn du nicht verstehst, was ein anderer tut, dann diagnostiziere ihn!“[18]
Das Bundesministerium für Gesundheit vermeldete im ersten Halbjahr 2009, nach Ausrufung der Finanzkrise, euphorisch einen historischen Rekordtiefstand der offiziellen Krankenstand-Statistik seit ihrer Einführung im Jahr 1970.[19]
Besagte Statistik wurde eingeführt in einer Zeit, in der die Arbeitsmoral in den Industriegesellschaften einen bemerkenswerten Zerfallsprozess durchleben musste. Rebellische (in erster Linie) jugendliche Proletarisierte denunzierten seinerzeit den kapitalistischen Arbeitsalltag in ihren Debatten und Aktionen offen als Zumutung. Als vergeblichen Kraftaufwand, verschwendete und enteignete Lebenszeit. „Wer will noch arbeiten?“ So oder ähnlich titelten Newsweek, Times, Spiegel, Zeit und diverse andere Meinungsmacher in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Dieser weltweite politische Aufbruch, der vor keinem Thema Halt zu machen schien und nicht zuletzt auch die psychische Verelendung im Kapitalismus thematisierte, lässt sich kaum erschließen, wenn die dem zugrundeliegende Dynamik aus massenhaft wahrgenommener Entfremdung im Arbeitsalltag nicht zur Kenntnis genommen wird. Ein Text wie „Das Recht auf Faulheit“ (Paul Lafarge) wurde in dieser Zeit, beinahe Hundert Jahre nach seiner Ersterscheinung, einer der weitverbreitesten innerhalb der rebellischen Jugend Europas. „Ne travaillez jamais“ (arbeitet nie) wurde zu einer der zentralen Losungen im Kampf gegen die „kapitalistische Zwangsarbeit“ während des Pariser Mai `68. „Die Kämpfe in ihren unterschiedlichen Formen liefen in einem einzigen Punkt zusammen, und dieser Punkt war die Wiederaneignung der Zeit.“[20] Eine dieser vielen Widerstandsformen, die den Zweck der unmittelbaren „Wiederaneignung der Zeit“ dienten, kam zweifellos darin zum Ausdruck, dass das „Blaumachen“ unter den jungen Rebellen umso mehr um sich griff, je mehr das als Schuldgefühl verinnerlichte Pflichtbewusstsein gegenüber den Käufern ihrer Arbeitskraft vor ihrem neuen Selbstbewusstsein zurückwich. Das „Blaumachen“ war und ist nichts anderes als die (individuelle) Weigerung, sich durch entfremdete Arbeit (psychisch) krank machen zu lassen. Und die „Blaumacher“ wussten das seinerzeit!
Dieses den Sachzwängen des Kapitals zweifellos entgegenlaufende Verhalten musste vom Staat erfasst werden, um dem Spuk angemessen begegnen zu können. In der bürgerlichen Sozialwissenschaft erschöpft sich das Erfassen eines gesellschaftlichen Phänomens oftmals im Erstellen einer Statistik. Hier meldet sich die Krämerlogik, die vor allem eines, nämlich eine Berechnungsgrundlage braucht. Vor diesem Hintergrund wurde schließlich 1970 das Erstellen einer jährlichen Krankenstand-Statistik in Auftrag gegeben.
Dies und die darauf folgenden moralischen Kampagnen der bürgerlichen Medien gegen den Verfall der Arbeitsmoral insbesondere der Jugend brachten indes kaum den erhofften Erfolg. Der Krankenstand, also der Arbeitsausfall durch Krankmeldungen, stieg zum Leidwesen der Herrschenden vorerst noch ständig weiter an. Nicht die Klagen der bürgerlichen Medien gegen die schwindende Arbeitsmoral, sondern die steigende Arbeitslosigkeit wirkte sich schließlich zugunsten wieder sinkender Arbeitsausfälle auf Grund von Krankheit (bzw. Krankheitsvorbeugung) aus. Während sich die Zahl der Erwerbslosen zwischen 1975 und 1995 in etwa verzehnfachte, sank die Zahl der krankheitsbedingten Arbeitsausfälle in den Betrieben in diesem Zeitraum kontinuierlich, um sich während der 80er Jahre – beinahe analog zu den Arbeitslosenstatistiken - allmählich auf einen Durchschnittswert einzupendeln. Die Bourgeoisie glaubte, dank ihrer Techniken zur Abwälzung der Krise auf die Lohnabhängigen endlich wieder eine einigermaßen verlässliche Berechnungsgrundlage für ihr “Humankapital“ in der Hand zu haben. Die Angst der Lohnabhängigen vor dem Erwerbsverlust sowie ihre zunehmende Vereinzelung nach dem allgemeinen Rückfluss der Klassenkämpfe und Jugendrevolten führten die Klasse auch zurück in die Vernachlässigung ihrer vitalen Interessen. Wozu zweifellos auch der Erhalt der Gesundheit gehört.
Ab 2005, etwa zeitgleich mit der Einführung der Hartz-Gesetze und der ersten Phase des Umbaus im Gesundheitssystem zum Nachteil der abhängig Beschäftigten unter Rot-Grün, sanken die krankheitsbedingten Arbeitsausfälle nochmals erheblich, um dann im ersten Quartal 2009, kurz nach der öffentliche Bekanntgabe der Finanzkrise, auf den vom Statistischen-Bundesamt so betitelten „historischen Tiefstand“ zu fallen. Die Bourgeoisie ließ es sich nicht nehmen, diese für sie so erfreuliche Nachricht durch ihre Medien lauthals hinausposaunen zu lassen.
Die Krankenkassen hielten jedoch schon bald besorgt dagegen. So wussten die Betriebskrankenkassen (BKK) ab Mitte Dezember 2009 zu berichten, dass die krankheitsbedingten Fehlzeiten „trotz Wirtschaftskrise“ (sic!) wieder kontinuierlich ansteigen würden. Von Januar bis Oktober 2009 habe der Krankenstand bei 4,0 Prozent gelegen - im Vorjahreszeitraum seien es 3,8 Prozent gewesen. Ebenso die AOK: Die bei den Ortskrankenkassen versicherten Arbeitnehmer waren im zweiten Quartal 2009 im Durchschnitt an 17 Kalendertagen krankgeschrieben. Im Jahr zuvor waren es noch 16,3 Tage gewesen. Demnach stieg die Zahl der krankheitsbedingten Ausfalltage um 3,2 Prozent und ist seither weiter steigend. Das hatte u.a. zur Folge, dass der Druck des Kapitals auf die politische Kaste weiter anstieg, so dass diese bis auf weiteres aufgefordert bleibt, das „Gesundheitssystem“ an die aktuellen Bedürfnisse des Kapitals anzupassen.
Verantwortlich für den steigenden Krankenstand seien laut AOK, bei der immerhin 9,7 Millionen Arbeitnehmer versichert sind, vor allem die „Zunahme psychischer Erkrankungen“. Die Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen seien in den letzten 15 Jahren um stattliche 80% angestiegen. Im Vergleich zu anderen Erkrankungen sind psychische Erkrankungen zudem in der Regel mit langen Arbeitsausfällen verbunden. Letzteres bestätigen alle Krankenkassen. Ein Bericht der „International Labour Organisation“ (ILO), einer Organisation, die sich mit Arbeitsbedingungen weltweit auseinandersetzt und den Vereinten Nationen unterstellt ist, fasst verschiedene Untersuchungen zum Zustand der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz zusammen, die in Deutschland, Finnland, Großbritannien, Polen und den USA durchgeführt wurden. In diesen Ländern habe demnach die Belastung durch Stress sowie das Auftreten von Depressionen deutlich zugenommen. Jeder zehnte Arbeitnehmer sei bereits davon betroffen. Nach dem Herzinfarkt, so die ILO, ist Depression mittlerweile zur weltweit zweithäufigsten Krankheit unter denen geworden, die zur vollständigen Arbeitsunfähigkeit führen können. In Deutschland gehen die zuvor an erster Stelle rangierenden arbeitsbedingten Erkrankungen durch Unfälle oder Umweltbelastungen (Lärm, extreme Temperaturen usw.) in erheblichem Maße zurück,[21] während Arbeitsausfälle in Folge von Überbelastung, Zeitdruck, Stress aufgrund allgemeiner Personalpolitik fast ebenso zunehmen. Vor allem die zunehmend geforderte Flexibilität führe, laut einer Studie von Betriebsärzten, wegen der „Ergebnisorientierung“, also der Orientierung auf kurzfristige Profitmaximierung, des „Verschwimmens der Grenze zwischen Arbeit und Privatleben“, der allgemeinen „Überbelastung durch Mehrarbeit“ sowie der „Unvorhersehbarkeit“ der Arbeitsanforderungen zu psychischen Belastungen. Deutsche Betriebsärzte warnen daher ebenfalls vor einer weiter ansteigenden Zahl psychischer Erkrankungen im Arbeitsalltag: „Der Strukturwandel in der Arbeitswelt hat dazu geführt, dass heute in vielen Betrieben Zeitdruck, Zwang zu schnellen Entscheidungen und zwischenmenschliche Probleme wesentliche Belastungsschwerpunkte darstellen." So der Präsident des Verbandes Deutscher Betriebs -und Werksärzte, Wolfgang Panter, auf einer Tagung in Lübeck. Dies führe zunehmend zu arbeitsbedingten psychischen und psychosomatischen Erkrankungen. Darunter fallen neben den offensichtlichen Symptomen psychischer Belastung auch diverse Hautkrankheiten sowie diverse Erkrankungen innerer Organe, die in besonderem Maße als stressanfällig gelten (Magen, Nieren, Herz etc.). Die Betriebsärztevereinigung sieht aufgrund ihrer Recherchen „besonderen Handlungsbedarf in der Zeitarbeitsbranche“, so der Arbeitsmediziner, denn dort sei die Gefährdung durch psychische Belastungen besonders hoch. Zugleich umfasst die Zeitarbeitsbranche immer mehr Berufe und dehnt sich dank der Hartz-Gesetze unaufhörlich weiter aus. Wie kürzlich der Öffentlichkeit bekannt wurde, sind bereits mehr als 8 Millionen Lohnabhängige in Deutschland in Zeitarbeitsfirmen oder in anderen prekären Arbeitsverhältnissen eingebunden.
„Stress, mangelnde Unterstützung durch Kollegen und Vorgesetzte, wenig Anerkennung und Wertschätzung, hohe Leistungsbereitschaft, Verantwortungsübernahme und starke Identifizierung mit dem Betrieb“, so die o.g. ILO-Studie aus dem Jahre 2010 weiter, führe „zum wachsenden Problem des Burnouts“, der mittlerweile in allen Berufen auftrete. Als Folge des Burnouts kommt es vielfach zu Depressionen, unter der laut ILO mindestens 6% aller deutschen Arbeitnehmer leiden - also zwischen zwei und drei Millionen. Die ILO weiter: „Depressionen treten heute in Deutschland zehnmal häufiger auf als noch vor 40 Jahren“ (…also während der Zeit der Revolten!). Zudem sind die davon Betroffenen immer jünger! Eine Firma, die mehr als 1000 Angestellte hat, könne laut ILO davon ausgehen, dass 200 bis 300 von ihnen jährlich Depressionen, Angstkrankheiten oder andere psychisch bedingte Krankheiten erleiden. Der ILO-Bericht geht weiter davon aus, dass derzeit 20% aller arbeitenden Menschen weltweit psychisch erkrankt sind und dass in Bälde über 300 Millionen Menschen an Depressionen leiden werden. Jetzt schon würden aufgrund von Depressionen jährlich weltweit ca. 800.000 Menschen Suizid begehen. Depressionen und Angststörungen sind zusammengenommen, nach Angaben des Bundesverbandes der Betriebskrankenkassen, mittlerweile die vierthäufigste Krankheit am Arbeitsplatz und zugleich der Hauptgrund für vorzeitiges Ausscheiden aus dem Beruf geworden. Auch seitens der Rentenversicherungsträger wird darauf verwiesen, dass bereits ein Drittel aller Rentenanträge, die vor Eintritt in das reguläre Rentenalter gestellt werden, wegen Berufsunfähigkeit aufgrund von psychischen Erkrankungen genehmigt werden müssen. Damit werden die Studien der Krankenkassen und der ILO nochmals unterstrichen.
Die BKK beklagt des Weiteren eine besondere Gefährdung spezieller Personengruppen: „Arbeitslose weisen die steilsten Steigerungsraten bei psychischen Krankheiten auf: Sie haben im Vergleich zu den Beschäftigten fast viermal so lange Krankheitszeiten durch seelische Leiden; allein in den letzten drei Jahren verdoppelten sich ihre psychisch verursachten Krankheitstage. Bei beschäftigten Frauen sind Telefonistinnen, Krankenpflegerinnen und Sozialarbeiterinnen, bei den Männern Schienenfahrzeugführer und Fahrbetriebsregler wie auch Krankenpfleger besonders betroffen.“ In einigen Branchen sind psychisch bedingte Krankheiten dramatisch im Vormarsch. So vor allem in sog. helfenden und pflegenden Berufen (Pflegepersonal, Sozialarbeit usw.). Das macht deutlich, wie nahe diese Kollegen und Kolleginnen dem Schicksal ihrer Klienten sind. Es führt jedoch nur selten dazu, dass die künstliche Trennung zwischen ihnen - professionelle Distanz“ genannt -[22] überwunden werden kann. Der Anteil der betroffenen Frauen in diesen Berufsgruppen liegt übrigens bei deutlich mehr als 60%.
Durchschnittlich fallen die Kolleginnen aus helfenden und pflegenden Berufen mittlerweile mehr als dreimal so oft aus dem Arbeitsprozess aus als aufgrund anderer Krankheiten. Innerhalb dieser Berufsgruppen rangieren die Arbeitsausfälle wegen psychischer Belastungen deshalb unbestritten auf Platz 1 der Krankenstand-Statistik. Als Gründe werden von den Betroffenen selbst meistens ein vergiftetes Betriebsklima, erhöhter Leistungsdruck, die Vermischung von Privat- und Berufsleben mit ständiger Erreichbarkeit (durch die neuen Medien) und Rufbereitschaft angegeben. Hinzu kommt eine krisenbedingte zunehmende Angst um den Arbeitsplatz. Alle Studien gehen deshalb auch von einer mehr oder minder hohen Dunkelziffer an psychischen Erkrankungen aus.
Demnach wäre der statistisch wahrscheinlichste Fall einer psychischen Erkrankung derzeit: die depressive, erwerbstätige, alleinstehende Frau (Mutter), die über eine Zeitarbeitsfirma in der Pflegebranche beschäftig ist.
Der Sprecher des psychologischen Dienstes der DAK, Frank Meiners, redet ebenfalls deutlich von „Job-Angst, Arbeitsverdichtung und wachsenden Konkurrenzdruck“, worauf die Versicherten offenbar immer mehr mit psychischen Erkrankungen reagieren. Psychische Krankheiten sind laut DAK besonders in den Metropolen auf dem Vormarsch. Dabei seien in den vergangenen Jahren Berlin und Hamburg Spitzenreiter gewesen. Der DAK-Gesundheitsreport ergab zudem, dass auch ihre Versicherte aus dem Bereich Gesundheitswesen aufgrund psychischer Krankheiten mit 210 Fehltagen pro 100 Versicherte vorne liegen. „Als Folge der Krise sei eine weitere Zunahme der psychischen Erkrankungen zu erwarten“, so auch Matt Muijen vom Europa-Büro der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Zahlreiche Studien belegen laut Muijen, dass ein Zusammenhang zwischen „ökonomischer Krise und einer epidemischen Verbreitung“ psychischer Erkrankungen statistisch nachweisbar sei. Und nach einer Studie des „Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit/Indigo“ können zwei Drittel der psychisch Erkrankten langfristig nicht mehr am Arbeitsmarkt Fuß fassen. Von den Menschen mit schweren Depressionen sei nur noch jeder Zehnte im ersten Arbeitsmarkt beschäftigt. Noch dramatischer wird allgemein der soziale Abstieg für Menschen mit psychotischen Episoden eingeschätzt.
Die begründete, existenzielle Angst vor einem krisenbedingten Verlust des Arbeitsplatzes, die in allen o. g. Studien als häufige Bedingung für eine psychische Erkrankung dargestellt wird, führt durch das Ausleben dieser Angst (Symptombildung) bei manchem schließlich zum tatsächlichen Verlust des Arbeitsplatzes. Dieser Vorgang wird von einigen Psychologen dann als Prozess einer „self-fulfilling prophecy” mystifiziert – sprich: Einkommensverlust aufgrund von negativen Gedanken. Ein blanker Zynismus, der die Ursachen von psychischen Leiden bloß im „Innenleben“ der betroffenen Individuen selbst vermuten kann und will und sie deshalb pseudowissenschaftlich verklären muss.
Mit der Zunahme an psychischen Erkrankungen geht, wie kaum anders zu erwarten, zugleich ein weltweiter Aufschwung in der Pharmaindustrie einher. Laut der internationalen Markforschungsorganisation „IMS-Health“ „…ist der Umsatz der Arzneimittel gegen psychische Krankheiten und Beschwerden weiterhin steigend. Antipsychotika (Neuroleptika) und Antidepressiva kommen zusammen bereits auf einen Weltmarktanteil von über 6%.“ Das bedeutet derzeit immerhin einen durchschnittlichen Jahresumsatz von ca. 40 Milliarden €. Bereits im 4. Quartal des Krisenjahres 2008 berichtet die BKK dementsprechend: „Allein in den letzten drei Jahren (ab 2005 – Einführung der Hartz-Gesetze) haben sich die Verordnungen von Psychopharmaka für Beschäftigte wie Arbeitslose etwa verdoppelt.“
Mit dem Milliardengewinn der Pharmaindustrie geht eine weitere Milliardenverschuldung des staatlichen „Gesundheitssystems“ einher. So gesehen, bezahlen die noch „gesunden“ Arbeitnehmer für den Profit der Pharmaindustrie, um sich dann im eigenen Krankheitsfall mit immer miserabler organisierter Versorgung abfinden zu müssen. Laut Berechnungen des Statistischen Bundesamts liegen die „Krankheitskosten durch psychische Störungen“ bei mittlerweile mehr als 30 Milliarden € jährlich. Eine Kostensteigerung von mehr als 30% (seit Hartz). Hieran ist auch abzulesen, warum der Umbau des Gesundheitssystems, wie kaum ein anderes Projekt der politischen Kaste, begleitet ist von Widersprüchen, Parteirivalitäten, Verzögerungstaktiken und Skandalen. Hier wird die Rivalität zwischen unterschiedlichen Kapitalfraktionen offen ausgetragen, und es wird allzu deutlich, welche der parlamentarischen Parteien jeweils welche Kapitalfraktion vertritt bzw. sich von deren Lobby schmieren lässt.[23]
Das Dilemma mit der Krankheit besteht für die Herrschenden vor allem in der Tatsache, dass sie die an ihren Arbeits- und Lebensbedingungen Erkrankten alimentieren lassen müssen, anstatt sich durch die Verfügungsgewalt über deren Arbeitskraft und Lebenzzeit alimentieren zu lassen. Wie kaum anders zu erwarten, wird deshalb jeder in dieser Beziehung zustande kommende „Kompromiss“ beim Umbau des Gesundheitssystems nie etwas anderes sein können als eine weitere Abwälzungstechnik der anfallenden Kosten auf die Erkrankten sowie auf die noch „gesunden“ Lohnabhängigen. Derart gibt die Krise des „Gesundheitssystems“ ein gutes Bild ab von der allgemeinen ökonomischen und politischen Krise des Kapitals. Die Herrschenden einigen sich darauf, die Krise abzuwälzen, was letztlich immer nur ein Aufschub und keine Überwindung der Krise sein kann. Dieser Aufschub produziert folglich zugleich die nächste, gewaltigere Krise. Gesellschaftlich und also auch bei den Individuen.
Die von Psychiatern gerne als „vulnerabel“ bezeichneten, psychisch erkrankten Menschen, diejenigen also, die diesen Abwälzungsprozess (unbewusst, weil vereinzelt) wahrnehmen, bevor die breite Masse der Betroffenen das kann, werden unter diesen Bedingungen zu Symptomträgern eines kranken Systems. Die objektive Krise des ökonomischen Systems drückt sich bei den Individuen als psychische Krise vereinzelter Subjekte aus. Diese verweigern sich durch Erkrankung den Anforderungen an das „Humankapital“ – und damit leider auch an sich selbst. Sie wirken eben dadurch als Subjekt, in dem sie versuchen, sich dem Zugriff durch das Kapital zu entziehen. Wenngleich oftmals unbewusst und daher mit der falschen Begründung versehen, so doch meistens aus dem richtigen Grund. In ihrer Vereinzelung leider vergeblich und meistens mit verheerenden Folgen für sich selbst. Auch dafür steht der tragische Tod von Andrea H.
Zweck der Erstellung von Statistiken ist es, Vergleiche zu ziehen. Im Falle von Krankenstandstatistiken u. a. auch den Vergleich zwischen pflichtversicherten und privatversicherten Patienten. Also zwischen eher wohlhabenden Erkrankten und solchen die nur über ein geringes Einkommen verfügen. Es würde nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn das Ergebnis eines solchen Vergleichs nicht darin bestünde, dass im Durchschnitt Erstere seltener erkranken und schneller genesen als Letztere. Die Aussagen der diversen o. g. Statistiken lassen daran auch keinen Zweifel aufkommen. Krankheit, insbesondere psychische Krankheit, ist mithin im Kapitalismus in mehrfacher Hinsicht mit einem Klassencharakter belegt. Ebenso deren Behandlung und somit auch die Genesungsaussichten der Betroffenen. Das liegt nicht bloß an dem, was augenscheinlich ist, nämlich die Möglichkeit einer besseren Versorgung und die allgemein günstigeren Lebensumstände, welche wohlhabende Patienten den Armen in der Gesellschaft voraushaben, sondern auch an dem weniger sichtbaren subjektiven Zugang vieler armer Patienten zur „ihrer“ Krankheit.
Lohnabhängige bekommen Krankheit vom Arzt bescheinigt als (diagnostisch belegte) Arbeitsunfähigkeit. Indes ist hinreichend bekannt, dass Ärzte sich immer schwerer damit tun, den Pflichtversicherten ihre Arbeitsunfähigkeit zu bestätigen. Auch über diese Tatsache gibt die offizielle Krankenstand-Statistik Auskunft. Das hängt u. a. damit zusammen, dass die den Kassen verpflichteten Ärzte von seiten ihrer Brötchengeber in den letzten Jahren immer mehr Druck und finanzielle Einschränkungen ihrer Behandlungsmöglichkeiten erfahren mussten. Die Abwälzungstechnik der Bourgeoisie besteht hier, wie auch sonst oft üblich, zunächst im Druck auf das Kleinbürgertum (die in diesem Fall als niedergelassene Ärzte und Apotheker in Erscheinung treten), die diesen Druck dann wiederum an die Betroffenen aus den sog. unteren gesellschaftlichen Schichten weiterleiten. In Bezug auf psychische Krankheiten kommt hinzu, dass Ärzte daran ohnehin nicht gerade viel verdienen können. Sie können z.B. bei offensichtlich psychisch bedingten Erkrankungen keinen Einsatz von aufwendigen technischen Apparaten abrechnen, haben selten Laboruntersuchungen zu leisten und das Verordnen von Medikamenten für Menschen mit geringem Einkommen ist nach den neuen Bestimmungen auch nicht mehr besonders erschwinglich für die Ärzte. Wohl aber weiterhin für die Pharmaindustrie! Die ambulante Behandlung psychisch Kranker ist zudem fast vollständig in die Hände von im Vergleich mit den Medizinern geringer besoldeten Psychologen übergegangen, die den niedergelassenen Ärzten (hier Psychiatern und Neurologen) deshalb als Konkurrenten gegenüberstehen und die ihrerseits wieder von den Kassen angehalten werden, ein bestimmtes Stundenkontingent für die Behandlung nicht zu überschreiten. Auf bedürftige Lohnabhängige in den Metropolen kommt zudem mittlerweile eine durchschnittliche Wartezeit von 6 Monaten und mehr für eine ambulante psychotherapeutische Behandlung zu.
Zu diesen allgemeinen Erschwernissen, die in der Struktur des „Gesundheitssystems“ ihre unmittelbare Ursache haben, kommt hinzu, dass die große Mehrheit der lohnabhängigen Patienten die ideologischen Botschaften dieses Systems weitestgehend verinnerlicht und in allgemeine Verhaltensrituale umgesetzt hat: Sie gehen in der Regel eben nicht dann zum Arzt, wenn sie sich als krank empfinden, sich nicht wohl fühlen, sondern erst dann, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, arbeiten zu gehen! Dieses Verhaltensmuster setzt sich in der Regel selbst dann noch fort, wenn die Betroffenen überhaupt keinen Arbeitsplatz mehr haben. Krankheiten werden in den Schichten mit niedrigen Einkommen daher meist viel zu spät erkannt und behandelt. Was die Genesung zusätzlich erschwert. Als Erklärung für die Ärzteschaft dient dann die als selbstverständlich vorausgesetzte „Bildungsferne“ der unteren Gesellschaftschichten, um diese dann mit oberflächlichen Aufklärungsbroschüren, vulgärer Psychomagazine und sinnentleerter Lebensberatungsliteratur zu überschwemmen.
Im Falle einer psychischen Erkrankung, die ohnehin meist sehr spät als solche von den Betroffenen wahrgenommen wird und zudem nach wie vor äußerst schambesetzt ist, nimmt die Wechselwirkung zwischen zunehmendem Mangel an Versorgungsangeboten und dem an seine Funktion für das Kapital gebundenen Empfinden und Bewusstsein der betroffenen Lohnabhängigen mittlerweile die verheerenden Ausmaße an, die in der Krankenstand-Statistik zunehmend als negative Bilanz auftauchen.
Nach der Psychologisierung des Alltags, vermittelt und potenziert durch Werbung und Ratgeber-Literatur, welche die Psychologie in den letzten Jahrzehnten umfangreich und nachhaltig vulgarisiert haben und diese mittlerweile als eine Art „Volksreligion“ präsentieren, folgt nun die zunehmende Psychiatrisierung ihrer Konsumenten. Die als Fluchtversuch aus der eigenen Entfremdung angelegte psychische Krise wird in dem Moment, wenn die persönliche mit einer gesellschaftlichen Krise zusammenfällt, zur Falle, in der die Individuen in zunehmende soziale Isolation geraten. Der ökonomische und soziale Abstieg wird unter dieser Voraussetzung für die meisten Betroffenen unausweichlich.
Jeder Wahn ist ansteckend bzw. sozial übertragbar. Über die Übertragungswege weiß die psychologische und psychiatrische Zunft allerdings nicht sehr viel zu sagen. Jedenfalls nicht genug, um verständlich zu machen, warum der Wahn hier ausbricht und dort nicht. Oder besser, warum er hier auf unerwünschte und dort auf angepasste Art ausbricht. Man kann jedoch davon ausgehen, dass sich hinter jedem Wahn, jeder Verwirrung und jedweden psychischem Elend jeweils zwischenmenschliche Ereignisse verbergen. Frei nach Marx wäre der Wahn, als grundsätzliche Möglichkeit menschlicher Tätigkeit verstanden, nicht ein dem einzelnen Individuum innerwohnendes Abstraktum, sondern in seiner Wirklichkeit nur als ein verinnerlichtes Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse zu begreifen.[24] Im gegenwärtigen kulturellen und politischen Umgang mit dem Wahn und allem, was sonst als „psychische Störung“ wahrgenommen wird, zeigt sich das Elend menschlicher Beziehungen und Verhältnisse im Kapitalismus und der verzweifelte Versuch von Individuen, diesem Elend von Episode zu Episode auszuweichen. Und es gibt jede Menge gute Gründe und jede Menge Möglichkeiten für das Individuum, sich der Weltfremdheit hinzugeben.
Als Erscheinung/Symptom unbefriedigender, dem menschlichem Begehren entgegenwirkender Beziehungen und Verhältnisse müsste jeder Ausdruck psychischem Elends aus all den genannten Gründen zum Untersuchungsgegenstand einer die Psychologie ergänzenden, kritischen Anthropologie, einer Kulturkritik und, last but not least, einer Kritik der politischen Ökonomie werden, um einem Verständnis vom Leid der Betroffenen sowie der zunehmenden Ausdehnung des psychischen Elends wenigstens ansatzweise näher kommen zu können.
Bei allen Erscheinungsformen, ob als Depression, Manie, Paranoia, Autismus… handelt es sich lediglich um den krisenhaft auf die Spitze getriebenen Widerspruch zwischen Empfindungen und Gedanken, der seinem (anthropologischem) Möglichkeiten nach allen Menschen gemein ist und aus den Antagonismen des ihren Beziehungen zueinander determinierenden, krisenhaften Gesellschaftssystems entspringt. Krisen, die die Gemüter zum Äußersten treiben, markieren die Geschichte der Menschheit ebenso wie die Geschichten der einzelnen Individuen. Aber „die Geschichte selbst ist ein wirklicher Teil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum Menschen… Die in der menschlichen Geschichte – dem Entstehungsakt der menschlichen Gesellschaft – werdende Natur ist die wirkliche Natur des Menschen, darum die Natur, wie sie durch die Industrie, wenn auch in entfremdeter Gestalt wird, die wahre anthropologische Natur ist.“[25]
Das psychische Elend, was demnach weniger ein Elend der Psyche, des psychischen Apparates, wie Freud sich ausdrückt, ist, als vielmehr das Elend einer durch und durch warenförmigen Gesellschaft, wird von uns allen geteilt. Wir verstehen es jedoch, ganz diesem Verhältnis entsprechend, alle Anteile des Gemeinwesens unterschiedlich und in Konkurrenz zueinander zu verteilen, bis schließlich dieses ebenso verteilte psychische Elend uns selbst voneinander trennt. Je mehr die Beschleunigung der Produktivität die Teilung der Arbeit (= die Proletarisierung der Welt) vorantreibt, desto mehr entfremdet sich der Mensch als bloße Abteilung von dieser Welt und damit von sich selbst. So ist die Entfremdung uns zur Natur geworden. Und genau das sehen wir im Spiegel in der Hand des Narren: Das eigene Fremde. Die Weltfremdheit des Narren ist aber zugleich auch seine eigene Selbstfremdheit. Der Narr wirkt deshalb paradox, weil die Wirklichkeit paradox ist. Der Narr verhält sich in Bezug zu den kulturellen Normen absurd, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse, die diese Normen hervorbringen, absurd sind. Darum wurden und werden Narren interniert!
Dass Symptome, die jeweils unter „psychische Erkrankung“ zusammengefasst werden, zeitweise epidemischen Charakter annehmen, ist ein Phänomen, welches die Klassengesellschaften immer begleitet hat und stets in Situationen gesellschaftlicher Umbrüche verstärkt zum Vorschein kommt. Das ist hinreichend historisch belegt.[26] Psychische Krankheiten treten jedoch stets episodisch in Erscheinung, auch dann wenn sie als chronisch wahrgenommen und diagnostiziert werden. Kein Mensch ist somit durchgehend psychisch krank - oder alle sind es! So wie beim einzelnen, individuellen verhält es sich auch beim epidemischen, also massenhaften Auftreten von gleichen Symptomen. Es handelt sich immer um Episoden in Folge von persönlichen Krisen, welche dann, in Zeiten gesellschaftlicher Krisen, auffällig mehr Menschen treffen. Was wir heute als psychische Verelendung wahrnehmen und deuten, steht mithin im Zusammenhang mit der allgemeinen Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft. Z. B. als das Ergebnis ihres Zerfalls. Oder auch bloß als Ergebnis der Ohnmacht, welche die Individuen täglich produzieren, indem sie die Macht des Kapitals produzieren. Die Geschichte der psychischen Verelendung ist mithin die Geschichte von Symptom tragenden Subjekten in einer von ihnen selbst mit gestalteten, krankmachenden sozialer Umgebung.
Zu guter Letzt: Ein gesellschaftskritisches Milieu ohne einen kritischen Begriff von der Psychologie und ohne eine realistische Einschätzung der psychischen Möglichkeiten und Grenzen ihre Subjekte bleibt zum Selbstverschleiß verurteilt. Das beweist die alltägliche Praxis im Ringen um Emanzipation, in der oftmals ausgerechnet die Genussfähigkeit durch falsche Moral und unheilvolle Strukturen vieler dieser Milieus gefesselt bleibt. „So versinkt die Welt des Genusses in den Niederungen des Unbewussten. Später werden die Psychoanalytiker, die Entdecker absichtlich versunkener Kontinente, Strandräuber spielen; sie werden die Objekte der Begierde und des Abscheus an die Oberfläche bringen und sie ihren Eigentümern wiederverkaufen, die häufig nichts mehr damit anzufangen wissen...“[27] Es ist an der Zeit, dass wir uns dem psychischen Elend in der Gesellschaft, welches nicht zuletzt auch unser eigenes ist, wieder praktisch und theoretisch nähern. Dabei wird es nicht darauf ankommen, sich die Errungenschaften der „Anti-Psychiatrie-Bewegung“ der 1970er Jahre bloß wiederanzueignen und deren Praxis zu reproduzieren. Vielmehr sollten diese Errungenschaften in einem neuen (Selbst-)Verständnis aufgehoben werden. Es kann dabei nicht, wie in der Vergangenheit oft falsch verstanden, um die Psychologisierung der Politik gehen,[28] sondern nur um die Politisierung der Psychologie!
März 2012
[1] SPK: „Aus der Krankheit eine Waffe machen“, München 1972, S. 51
[2] Cornelius Castoriadis, „Durchs Labyrinth – Seele, Vernunft, Gesellschaft“, Frankfurt a. M., 1981 (Paris 1978), S. 7
[3] Me-Ti, Buch der Wendungen
[4] Siehe: „Tagesspiegel“, „taz“, „Berliner Morgenpost“, „Berliner Zeitung“, Berliner Kurier“ … u.a.m.
[5] Siehe „DUDEN 7 - Herkunftswörterbuch“.
[6] Wer den Sozialpsychiatrischen Dienst in Metropolen kennt, also auch dessen strukturelle Einschränkung als Behörde zur Kenntnis nimmt, der weiß, dass die Ärzte und Psychologen dieser Dienststellen nur oberflächlich Denken und Handeln können und sollen, da mittels dieser Behördenstruktur jede echte (therapeutische) Beziehung zum Klienten ungewollt und ausgeschlossen ist.
[7] ICD: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems. DSM: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders
[8] David Cooper, „Der Tod der Familie“, Reinbeck bei Hamburg, 1972, S. 46
[9] „Zeit-Online“ August 2011
[10] Nach Paragraf 1906 im Bundesgesetzbuch kann ein betreuter Mensch zwangseingewiesen werden, wenn die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen Schaden zufügt. Oder aber weil eine medizinische Untersuchung notwendig ist, deren Notwendigkeit er aufgrund seiner psychischen Erkrankung nicht erkennen kann. Welche Untersuchungen dies umfasst, führt das Gesetz nicht aus.
[11] „Zeit-Online“ August 2011
[12] ebenda
[13] ebenda
[14] Siehe: Klaus Dörner, „Bürger und Irre“, Frankfurt a. M., 1969
[15] Siehe: Michel Foucault, „Wahnsinn und Gesellschaft“, Frankfurt a. M., 1969 (Paris 1961)
[16] Laut Dörner, Foucault u. a. Psychiatriehistorikern geht die eigentliche Geschichte der Psychiatrie, also der massenhaften Internierung von „Verwirrten und Wahnsinnigen“, einher mit der „Aufklärung“, also mit der Hervorhebung der „Vernunft“ als Leitfaden für den bürgerlichen Lebenswandel. Für alles, was der bürgerlichen Gesellschaft fortan als irrational erschien, wurde „Behandlungsbedarf“ angemeldet.
[17] Es kann voraus gesetzt werden, dass wenigstens die populären Schriften von Fromm, Dörner, Schmidtbauer u. a. diesen professionellen Helfern aus unbeschwerten Tagen ihres „nonkonformistischen“ Studentenlebens noch hinlänglich bekannt sind.
[18] David Cooper, „Die Sprache der Verrücktheit“, Berlin 1978, S. 89
[19] Alle folgenden Zahlen stammen aus den Krankenstandstatistiken der jeweils angegebenen Jahre.
[20] „We must try“ Interview mit Antoni Negri, in der “taz” vom 9/10 Mai 2009, Seite 23
[21] U.a. ein Ergebnis der zunehmenden Aufhebung, bzw. Verlagerung der industriellen Produktion aus Deutschland seit Mitte der 70er Jahre.
[22] Von einer „professionellen Nähe“, welche eine therapeutische Beziehung bzw. eine pflegerische oder soziale Arbeit ja keineswegs in Frage stellt, wird in der beruflichen Praxis und während des Studiums nicht gesprochen. Die Terminologie der Branche ist stets auf Distanz und Trennung fokussiert. Das hat auch damit zu tun, dass die eigene Nähe zum Symptom erahnt wird. Die Sachzwänge des „Gesundheitssystems“ zwingen den KollegInnen allerdings diesen (selbst)verleugnenden Selbstschutz auf, um ihre Arbeitskraft im Sinne des Systems optimal nutzbar machen zu können. Mit zweifelhaftem Erfolg, wie man sieht.
[23] Röslers Vorschläge zur Gesundheitsreform mussten immer wieder scheitern. Seine Partei, die FDP, deren Klientel eher beim Kleinbürgertum, also bei den niedergelassenen Ärzten und Apothekern zu finden ist, geriet in Widerspruch zum Koalitionspartner CDU, bei dem offensichtlich eine starke Lobby der Pharmaindustrie am Wirken ist. Beide zusammen stießen zudem auf den Widerstand der Opposition, vor allem der SPD, die sich traditionell dem Staatshaushalt und der „Volkswirtschaft“, also dem Gesamtkapital, verpflichtet fühlt. Ein ähnliches Dilemma spielt sich derzeit in den USA ab, wo sich die krisengeschüttelte Privatwirtschaft ein Gefecht nach dem nächsten liefert gegen den „ideellen Gesamtkapitalismus“, vertreten durch Obama. Der Kampf um die „Gesundheitsreform“ ist in den meisten Industrienationen mittlerweile zum Symbol der Rivalitäten der verschiedenen Kapitalfraktionen geworden, die jeweils darum bemüht sind, ihr Konzept zur Krisenbewältigung gegenüber dem Rivalen durchzusetzen.
[24] „…das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum, in seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ Karl Marx: Thesen über Feuerbach
[25] Ebenda
[26] Vergl. : Michel Focault „Wahnsinn und Gesellschaft“, Klaus Dörner „Bürger und Irre“ u.a.m.
[27] Raoul Vaneigem in: „An die Lebenden – Eine Streitschrift gegen die Welt der Ökonomie.
[28] …Das erledigt schon täglich die Entpolitisierungsmaschine der bürgerlichen Psychotechniker, zu denen mittlerweile nicht nur die schlechtesten Aussteiger aus den sozialen Bewegungen der 60er, 70er und 80er Jahre gehören.
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In den letzten zehn Jahren war das Proletariat in China und im Rest Ostasiens – Burma, Kambodscha, die Philippinen, Indonesien, Thailand und Vietnam – in einer Welle von Streiks und Protesten gegen die kapitalistische Ausbeutung verwickelt. Wir wollen uns hier auf China konzentrieren und dabei größtenteils die Informationen des China Labour Bulletin (CLB) nutzen, der Publikation einer Nicht-Regierungsorganisation mit Sitz in Hongkong und Verbindungen zu Menschenrechtsorganisationen und Radio Asia. Das Bulletin unterstützt die Idee eines „faireren“ chinesischen Staates, was die Befürwortung der Zulassung von „freien Gewerkschaften“ miteinschließt.
Anschließend werden wir auf noch aktuellere Ereignisse rund um die „Volksrepublik“ schauen, einschließlich der Entwicklung der imperialistischen Spannungen, des Zerfalls und der Intrigen rund um das allmächtige Politbüro.
Das letzte Jahrzehnt hindurch war die Arbeiterklasse in China in einer Welle von Streiks und Protesten beteiligt, die nach Tausenden von Arbeitern zählten, nachdem die Wut und die Kampfbereitschaft unter dem Gewicht der kapitalistischen Ausbeutung immer weiter gewachsen waren. Die von den ArbeiterInnen selbst inszenierten spontanen Streiks entzündeten sich durchweg an denselben Fragen: Überstundenbezahlung, Kompensationen für Umsiedlungen, Korruption der Behördenvertreter, Lohnsteigerungen, Lohn- und Rentenkürzungen, Verbesserung von Arbeitsbedingungen und Reduzierung der Arbeitszeit, Bildungs- und Gesundheitsbeihilfen. Insgesamt drückte sich die ganze Skala der Bedingungen einer verschärften Ausbeutung durch den chinesischen Staat aus. Obwohl größtenteils voneinander getrennt, haben diese Streiks eine ausgeprägte Dynamik und eine wachsende Stärke an den Tag gelegt, was so weit ging, dass das China Briefing am 29.11.2011 Investoren darauf hinwies, sich auf Arbeiterunruhen einzustellen.
Nur einige Tage zuvor gab es in Chongqing, dem früheren Machtbereich des in Ungnade gefallenen Parteichefs Bo Xilai, unabhängig von den Politbüro-Manövern Streiks gegen Lohn- und Rentenkürzungen. Diese 30-Millionen-Stadt in Südchina taumelt wie viele andere Städte am Rande des Bankrotts, was wachsende Besorgnis auslöst (lokale Bankrotte sind ein großes Problem für den Kapitalismus, wie einige Bundesstaaten in den USA, Regionalregierungen in Spanien und so weiter bezeugen). Bei ihrem Vorgehen gegen den Streik in Chongqing blockierten die Behörden wie anderswo auch das Microblogging, das die Arbeiter benutzt hatten, um effektiv miteinander zu kommunizieren und Nachrichten angesichts des staatlichen Blackouts auszutauschen
Das China Labour Bulletin vom 5. März 2012 berichtet, dass sich im Februar 2012 die Streiks und Proteste im gesamten Land fortsetzten, wobei die große Mehrheit in den Industrie- und Transportbereichen stattfanden und hauptsächlich Forderungen nach höheren Löhnen und gegen die Reduzierung von Zuschlägen aufstellten. Fünftausend Arbeiter der Hanzhong Steel Co. in Shaanxi in Nordchina streikten gegen die niedrige Bezahlung und zu viele Arbeitsstunden. Etliche tausend Arbeiter verließen die Fabrik und strebten auf die Straßen der City, um zu demonstrieren. Der Bericht wies darauf hin, dass die Arbeiter ihre eigenen Repräsentanten wählten. Die Märzausgabe des Bulletins verzeichnete auch die höchste monatliche Streikbeteiligung, seitdem es vor fünfzehn Monaten mit seinen Aufzeichnungen begonnen hatte, und wies auf die die Eskalation von Streiks wegen zu niedriger Bezahlung und Verlagerungen hin. In vielen Fällen waren Sondereinsatzkräfte und Milizen aktiv vor Ort, und viele militante Arbeiter wurden nicht nur entlassen, sondern auch „festgesetzt“ – ohne dass die Menschenrechtsindustrie im Westen einen Mucks von sich gab. Die Repression und Überwachung in China ist natürlich eine Spezialität des stalinistischen Staates. Wie die arabischen Regimes benutzt auch dieser Staat Banden und bewaffnete Schläger, die er bezahlt und durchs ganze Land karrt, um sie gegen die Arbeiter einzusetzen. Die innenpolitischen Ausgaben in China im Jahr 2010 und die geplanten Ausgaben für 2011 übersteigen die Ausgaben fürs Äußere, d.h. für den Verteidigungsetat – der nicht unerheblich ist.(1)
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts fluteten auf der Suche nach Arbeit Millionen armer, junger LandarbeiterInnen in die Fabrikstädte Südchinas. Diese jungen Männer und Frauen arbeiteten für wenig Geld unter oftmals gefährlichen und ungesunden Verhältnissen. Sie waren größtenteils wehrloses Schlachtvieh. Es war diese Basis, auf der sich das „chinesische Wirtschaftswunder“ gründete. Doch die erzwungene Hinnahme dieser Bedingungen hielt nicht lange vor. Gestählt in der Hitze des Klassenkampfes, war am Ende des Jahrzehnts die Ära der billigen und folgsamen Arbeit vorüber. Eine bedeutende Anzahl von ArbeiterInnen, noch jung, aber erfahren, besser ausgebildet, selbstbewusster und kämpferisch, organisierte sich und unternahm Streiks und Proteste. Im Sommer 2010 kam es mit einer Streikwelle im verarbeitenden Sektor zum Höhepunkt.(2)
Mitte des vergangenen Jahrzehnts schätzte das chinesische Ministerium für menschliche Ressourcen und soziale Sicherheit die Zahl der Wanderarbeiter auf 240 Millionen, einschließlich der 150 Millionen SaisonarbeiterInnen, von denen 70 Prozent in der verarbeitenden Industrie arbeitet. Trotz dieser Zahlen machte es der Arbeitskräftemangel möglich, dass die ArbeiterInnen 2005 einen weiteren Schritt zu offensiven Kämpfen und Forderungen machten; Ausbrüche, die eine handfeste Ermutigung für andere waren, ihre eigenen Proteste zu artikulieren. Der chinesische Staat registrierte 80.000 Massenzwischenfälle im Jahr 2007 – das war das letzte Mal, dass der chinesische Staat offizielle Zahlen verlautbarte.(3) Das CLB schätzt , dass diese Zahlen seitdem Jahr für Jahr hochgegangen sind und die Streiks eine andere Intensität angenommen haben. Zum Beispiel schlossen sich im August 2011 Tausende von entlassenen Arbeitern, Opfer der Restrukturierungsmaßnahmen in Chinas nationaler Ölgesellschaft, einer Demonstration von beschäftigten Ölarbeitern an, die sich im Streik für ihre eigenen Forderungen befanden. Dies unterstreicht die größere Rolle, die der Griff nach der Straße, die Straßenblockaden, Demonstrationen und Sit-ins auf öffentlichen Plätzen spielten. Ein weiterer Aspekt des oben erwähnten Microblogging war sein Einsatz beim Honda-Streik in Nanhai 2010, wo Kommunikationsnetze etabliert wurden und eine kleine Gruppe von ArbeiterInnen aufrief: „Einheit ist Sieg“. Die chinesischen Behörden versuchten diese Art von Kommunikation unter dem Vorwand zu stoppen, „unbegründete Gerüchte“ zu verhindern.(4) Einer der Honda-Streikführer äußerte gegenüber der New York Times, dass eine Minderheit von ArbeiterInnen, insgesamt an die 40, miteinander kommuniziert und sich im Vorfeld des Streiks getroffen habe, um über Aktionen und Forderungen zu entscheiden. In einem Streik bei Pepsi-Cola im November 2011 wählten die ArbeiterInnen auf einer Generalversammlung ihre eigenen Delegierten. Trotz angebotener Lohnerhöhungen seitens des Managements weiteten sie ihre Aktionen aus.(5)
Manche Streiks enden mit Lohnsteigerungen und der Erfüllung einiger Forderungen, viele jedoch nicht; ArbeiterInnen wurden gefeuert und inhaftiert. Und wo Lohnerhöhungen gewährt wurden, wurden diese häufig durch die Inflation aufgefressen, die zum größten Fluch für die chinesische Ökonomie geworden ist. Nicht nur in den Küstenregionen nahmen die Forderungen nach Lohnerhöhungen zu, sondern seit 2010 auch im Hinterland, wo die sich in Aktion befindlichen ArbeiterInnen Familien, Freunde, etc. haben und so die Möglichkeit von Streikaktionen in Verein mit gesellschaftlichen Protesten eröffnen, was so die Schlachtfront ausweiten kann. Andererseits wird Wanderarbeitern und ihren Kindern, die sich in den Städten niederlassen, oft der Zugang zur Bildung und zu medizinischen Beihilfen verweigert – die ihre Arbeitgeber ihnen gewähren müssen, aber nicht tun. Dies hat eine weitere Kampfarena eröffnet. All dies ein fernes Echo aus dem vorherigen Jahrzehnt, als diese jungen, ländlichen Menschen gebraucht und nach Belieben vom chinesischen Staat aussortiert wurden. Auch die Arbeitslosigkeit ist von großer Bedeutung, zumal wenn der Verband der Hongkonger Industrie sagt, dass „ein Drittel der in Hongkong ansässigen Industrien seine Kapazitäten herunterfahren oder schließen wird“, was mindestens zehntausende von ArbeiterInnen betreffen würde.
Das China Labour Bulletin stellt fest, dass die Beschäftigten „kein Vertrauen im gesamtchinesischen Gewerkschaftsbund“ und in seine „Fähigkeiten (haben), angemessene Lohnsteigerungen auszuhandeln“. Sie nahmen folglich „die Dinge in die eigenen Hände und organisierten eine breite Palette von immer wirksameren kollektiven Aktionen…“ Die ACFTU ist unübersehbar mit der Partei verbunden und aus ihren Mitgliedern und Kadern zusammengesetzt, und das CLB lenkt die Aufmerksamkeit auf ein großes Problem, dem sich die herrschende Klasse Chinas gegenübersieht: das Fehlen von effektiven Gewerkschaften, um die ArbeiterInnen zu kontrollieren und zu disziplinieren. Repression allein reicht nicht aus und kann Öl ins Feuer gießen. Wie der CLB-Bericht zum oben erwähnten Honda-Streik anmerkte: „Jede Arbeiterorganisation, die sich während eines Protestes entwickelt, wird üblicherweise aufgelöst, sobald die Forderungen, die zu ihr führten, überreicht worden sind“. Das pro-staatliche CLB möchte gerne diese Arbeiterorganisation zu einer permanenten Organisation machen und in eine Struktur von freien Gewerkschaften mit friedlichen Beziehungen zum Staat einbinden. Die Branchengewerkschaften des ACFTU, soweit sie existieren, setzen sich gelegentlich ausschließlich aus Managern zusammen, wie in der Fabrik von Ohms Electronics in Shenzhen, wo die zwölf Manager allesamt Gewerkschaftsfunktionäre sind! Und in einer ebenso pathetischen wie verzweifelten Anstrengung, die auch auf die Grenzen des stalinistischen Staates hinweisen, hat der Gewerkschaftsbund von Shanxi ihre 100.000 Gewerkschaftsfunktionäre in der Provinz angewiesen, ihre Telefonnummern zu veröffentlichen, damit ArbeiterInnen in Kontakt zu ihnen treten können!! Im gesamten Land haben die Teilgewerkschaften des ACFTU ArbeiterInnen gefeuert, Streikbrecher angeheuert und die Polizei und Milizen gegen ArbeiterInnen gerufen. Der ACFTU ist voll und ganz Bestandteil des diskreditierten Parteiapparates. Die Bourgeoisie nicht nur in China, sondern international benötigt erneuerte, elastische und glaubwürdige Gewerkschaftsstrukturen, und hier kommt das China Labour Bulletin und sein Drängen nach Freien Gewerkschaften ins Spiel. Ersichtlich wird dies aus seinem Ruf nach „größerer Beteiligung (von ArbeiterInnen) an den Komitees und anderen Gewerkschaftsstrukturen“ und danach, dass „neue Beschäftigte Informationen über die Gewerkschaftsaktivitäten erhalten“, wie nach den jüngsten Kämpfen bei Foxcomm geschehen.
Anders als ihre ausgebufften Brüder im Westen sehen die Gewerkschaften in China die Streiks noch nicht einmal, wenn sie losgehen, ganz zu schweigen von ihrer Unfähigkeit, sie zu entschärfen und zu spalten. Dies war der Fall in der Honda-Fabrik in Foshan im Südwesten Chinas im vergangenen Sommer. Es brauchte zwei Wochen und eine große Lohnerhöhung, um die ArbeiterInnen zurück zur Arbeit zu bewegen. Kong Xianghong, ein ehemaliger Arbeiter und altes KP-Mitglied und mittlerweile Mitglied des ACFTU, äußerte nach dem Streik (und einem weiteren Ausbruch von Streiks, die durch ihn provoziert wurden): „Wir vergegenwärtigten uns die Gefahr für unsere Gewerkschaft, von den Massen getrennt zu werden“. Kong fügte hinzu, dass China es nötig habe „die Lehren aus den Aufständen der arabischen Nationen aufzunehmen“.(7)
Für die Arbeiterklasse in China werden sich die Kämpfe intensivieren, und für die Bourgeoisie werden die Probleme zunehmen. Letzteren würden die Freien Gewerkschaften, wenn sie überhaupt eine Möglichkeit sind, und das bleibt zweifelhaft, ein größeres Element der Kontrolle verleihen. Für die ArbeiterInnen lautet die Lehre aus der Freien Gewerkschaft Solidarnosc in Polen, dass diese Institutionen heimtückischer und zerstörerischer sein können als die Strukturen der Partei und der staatlichen Gewerkschaften – die zumindest die Gewerkschaften als die Anti-ArbeiterInnen-Formationen zeigen, die sie sind.
Baboon, 15.4.2012
(1) Bloomberg News, 6.3.11.
(2) Es gab schätzungsweise 180.000 „Zwischenfälle“ im Jahr 2010, Financial Times, 2.3.11.
(3) CASS, Social Trends Analysis and Projection Topic Group, 2008-2009.
(4) BBC News, 16.3.12.
(5) World Socialist Web: „Signs of a new strike in China“.
(6) „A Decade of Change: The Workers‘ Movement in China 2000-2010“.
(7) Washington Post, 29.4.11.
Wir sind sehr erfreut über die Gründung zwei neuer Sektionen der IKS – in Peru und Ecuador – berichten zu können.
Die Bildung einer neuen Sektion unserer Organisation ist immer ein wichtiges Ereignis für uns. Erstens, weil solch ein Schritt die Fähigkeit des Weltproletariats belegt, trotz seiner Schwierigkeiten revolutionäre Minderheiten auf der ganzen Welt hervorzubringen, und zweitens weil es bedeutet, dass unsere Organisation ihre globale Präsenz ausbauen kann.
Wir sind sehr erfreut über die Gründung zwei neuer Sektionen der IKS – in Peru und Ecuador – berichten zu können.
Die Bildung einer neuen Sektion unserer Organisation ist immer ein wichtiges Ereignis für uns. Erstens, weil solch ein Schritt die Fähigkeit des Weltproletariats belegt, trotz seiner Schwierigkeiten revolutionäre Minderheiten auf der ganzen Welt hervorzubringen, und zweitens weil es bedeutet, dass unsere Organisation ihre globale Präsenz ausbauen kann.
Die Bildung zwei neuer Sektionen der IKS findet zu einem Zeitpunkt statt, wo die Arbeiterklasse seit 2003 angefangen hat, sich von der langen Rückflussphase ihres Bewusstseins und ihrer Kampfbereitschaft nach 1989 zu erholen1 [109]. Dieses Wiedererstarken wird anhand einer Reihe von Kämpfen deutlich, die ein wachsendes Bewusstsein über die Sackgasse zum Ausdruck bringen, in welcher der Kapitalismus auf der ganzen Welt steckt, und durch das weltweite Auftauchen von internationalistischen Minderheiten, die Kontakte untereinander knüpfen wollen, sich viele Fragen stellen und nach einer revolutionären Kohärenz streben und die Perspektiven der Entwicklung des Klassenkampfes diskutieren. Ein Teil dieses Milieus hat sich den Positionen der Kommunistischen Linken zugewandt, und ein Teil dieses Milieus hat sich unserer Organisation angeschlossen. So wurde 2007 ein Kern der IKS in Brasilien gegründet, 2009 konnten wir die Schaffung zwei neuer Sektionen der IKS in den Philippinen und der Türkei verkünden.
Die beiden neuen Sektionen sind ebenso ein Ergebnis länger dauernder Anstrengungen unserer Organisation und unserer Mitglieder, sich an politischen Diskussionen und Klärungsprozessen zu beteiligen, wo immer das möglich ist, Verbindungen zu Gruppen oder Einzelpersonen zu knüpfen, die nach kommunistischen Ideen suchen, unabhängig davon, ob sie sich unserer Organisation anschließen wollen oder nicht.
Unsere neuen Sektionen waren vor ihrem Beitritt zur IKS Gruppen dieser Art, die – wie im Falle Ecuadors – sich direkt mit dem Ziel der politischen Klärung anhand der Positionen der IKS an uns wandten, oder – wie im Falle Perus – aus verschiedenen Ecken stammen. In beiden Fällen entfalteten sich Diskussionen mit anderen politischen Kräften als auch systematische Diskussionen mit der IKS über unsere Plattform. Sie fühlten sich alle verpflichtet, gegenüber den Ereignissen auf internationaler und nationaler Ebene Stellung zu beziehen. 2 [110]. Heute noch sind sie in einem Umfeld aktiv, in dem sie viele Kontakte pflegen.
In Südamerika „beheimatet“ werden diese beiden neuen Sektionen der IKS die Intervention der IKS im spanisch-sprachigen Raum sowie die Präsenz der IKS in Lateinamerika verstärken, wo wir schon Sektionen in Venezuela, Mexiko und Brasilien haben.
Die ganze IKS heißt die beiden neuen Sektionen und ihre Mitglieder herzlich willkommen. IKS April 2012
1 [111] Der Zusammenbruch des Stalinismus, der zum Anlass genommen wurde, um eine gewaltige bürgerliche Kampagne anzuleiern, in der der Kommunismus und der Staatskapitalismus, wie er sich nach dem Niedergang der russischen Revolution entwickelte, fälschlicherweise in einen Topf geschmissen wurden.
2 [112] Einige dieser Stellungnahmen wurden in Accion Proletaria, der Zeitung der IKS in Spanien, und von IKSonline auf unserer spanischen Webseite veröffentlicht.
„Mutato nomine de te fabula narratur“ (lat.: „Unter geänderten Namen wird die Geschichte über dich erzählt“)
Ein Solidaritätsaufruf aus Griechenland: Offener Brief an unsere deutschen Kolleginnen und Kollegen
„Mutato nomine de te fabula narratur“ (lat.: „Unter geänderten Namen wird die Geschichte über dich erzählt“)< 1
Das mag etwas seltsam klingen, aber vielleicht versteht Ihr es. Falls nicht, denkt einfach mal darüber nach. Was hier in Griechenland geschieht, geht auch Euch etwas an. Was uns hier widerfährt, wird auch Euch passieren. Wir sind alle arbeitende Frauen und Männer. Wir schuften hart zu flexiblen Arbeitszeiten und wir werden schlecht bezahlt. (Wenn wir überhaupt noch Arbeit haben). Sie drohen uns mit Lohnkürzungen und Entlassungen. Jeden Tag wird Euch erzählt, dass wir für die Wirtschaftskrise verantwortlich seien. Und jeden Tag wird uns erzählt, dass die zunehmende Verschlechterung unserer Lebensbedingungen Eure Schuld sei. Aber die Fakten zeigen ein anderes Bild.
Hier in Griechenland:
• Sinken die Löhne
• Liegt die Kaufkraft weit unter der Inflation.
• Steigt die Arbeitslosigkeit
• Wächst die Armut und über eine Million Menschen sind arbeitslos.
• Es werden immer mehr und gegenwärtig ergeben sich viele ihrem Schicksal.
• Sind bereits in 10% der Familienhaushalte beide Elternteile arbeitslos.
• Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 45%.
• Gleichzeitig wird der Steuersatz auf Kapital und höheren Einkommen reduziert.
• Und in Deutschland:
• Die andere Seite des deutschen “Wirtschaftswunders” des letzten Jahrzehnts sind die Lohnverluste der
abhängig Beschäftigten. Sie zahlten und zahlen noch immer für die “gesteigerte Wettbewerbsfähigkeit”
der deutschen Wirtschaft.
• Die Reallöhne der deutschen Arbeiterinnen und Arbeiter sinken Jahr für Jahr und werden immer
niedriger, während die Gewinne der Unternehmen stetig ansteigen.
• Die Kaufkraft liegt nun deutlich unter der Inflation. 7 Millionen (ca. 20% der Beschäftigten) arbeiten mit
Zeitverträgen in befristeten Beschäftigungsverhältnissen und Minijobs. Sie verdienen weniger als 400
Euro und sind nicht versichert.
• Während die Reallöhne in den letzten Jahren gesunken sind, haben die Banken ihre Gewinne um 39% gesteigert.
Der Hauptgrund für die Auslandsschulden ist eher ein Handels- als ein Haushaltsdefizit. Dies treibt Länder in die Finanzspekulation.Und noch ein letzte Sache: Die Darlehen für Griechenland kommen nicht aus dem deutschen Staatshaushalt, sondern aus der Finanzbranche, die durch diese Kredite ihre Gewinne vervielfacht. Die öffentlichen Haushalte (der sog. „Steuerzahler“) sollen allerdings für die Risiken dieser Finanzgeschäfte bürgen. Es liegt auf der Hand: Die herrschenden Klassen unserer beiden Länder versuchen uns zu spalten. Sie versuchen uns gegeneinander auszuspielen. Wenn wir uns gegenseitig in den Haaren liegen, können wir uns nicht gegen ihre Unterdrückung wehren. Die Idee der „Nation“ ist dabei ihre wichtigste Waffe. Sie verschleiert den Klassencharakter des kapitalistischen Systems und vermittelt die Vorstellung, dass die bestehenden Zustände Ausdruck des gemeinsamen Interesse des „Volkes“ seien.
Wir dürfen uns nicht spalten lassen!
Wir sind Brüder und Schwestern einer Klasse!
Wir werden für die von ihnen verursachte Krise nicht bezahlen!
Wir leisten so gut wir können Widerstand, aber wir brauchen Eure Solidarität!
Lasst uns gemeinsam als Klasse für unsere Befreiung kämpfen, und Unterdrückung und Diskriminierung für immer überwinden!
Proletarische InternationalistInnen aus Griechenland
www.leftcom.org [115]
1. Das Zitat ist der Einleitung des ersten Bandes des Kapitals entlehnt. Karl Marx schrieb hier:“Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions-und Verkehrsverhältnisse. Ihre klassische Stätte ist bis jetzt England. Dies der Grund warum es zur Hauptillustration meiner theoretischen Entwicklung dient. Sollte jedoch der deutsche Leser pharisäisch die Achseln zucken über die Zustände der englischen Industrie-und Ackerbauarbeiter oder sich optimistisch dabei beruhigen, dass in Deutschland die Sachen noch lange nicht so schlimm stehen, so muss ich ihm zurufen: De te fabula narratur!“ (MEW 23, Seite 12) [zurück]
Während die Regierungen aller Länder immer brutalere Sparmaßnahmen durchboxen wollen, haben die Mobilisierungen von 2011 – die Bewegung der Empörten in Spanien, Griechenland, die Occupy-Bewegung in den USA und anderen Ländern – im ersten Quartal 2012 nicht nachgelassen. Aber die Kämpfe stoßen auf eine mächtige Barriere – die Störmanöver der Gewerkschaften, mit deren Hilfe sie den Prozess der Selbstorganisierung und der Vereinigung, der 2011 angestoßen wurde, wirkungsvoll behindern.
Wie sich aus dem gewerkschaftlichen Würgegriff lösen? Wie die 2011 zum Vorschein gekommene Tendenz wieder aufgreifen und sie neu beleben? Vor welchen Perspektiven stehen wir? Auf diese Fragen werden wir versuchen, einige Elemente für eine Antwort zu liefern.
Wir möchten zunächst kurz einige Kämpfe in Erinnerungen rufen (wir sind in anderen Artikeln näher auf diese Kämpfe eingegangen).
In Spanien haben die Kürzungen (im Erziehungs-, Gesundheitswesen und in der Grundversorgung) und die Verabschiedung einer “Arbeitsreform”, welche Entlassungen vereinfacht und den Betrieben unmittelbar Lohnsenkungen ermöglicht, zu großen Demonstrationen geführt, insbesondere in Valencia, aber auch in Madrid, Barcelona und Bilbao.
Im Februar kam es als Reaktion auf den Versuch, ein Klima des Polizeiterrors auf den Straßen zu schaffen, nachdem man die Schüler/Innen der Sekundarstufen in Valencia zu Sündenböcken machen wollte, zu einer Reihe von Massenkundgebungen, wo SchülerInnen und Beschäftige aller Generationen auf den Straßen zusammenkamen, um Schulter an Schulter mit den Gymnasiasten zu protestieren. Die Protestwelle hat sich im ganzen Land ausgedehnt, mit Kundgebungen in Madrid, Barcelona, Saragossa, Sevilla; die meisten von ihnen wurden spontan abgehalten oder nach einer Entscheidung in improvisierten Versammlungen ([1]).
In Griechenland hat ein neuer Generalstreik im Februar die Massenkundgebungen im ganzen Land begünstigt. Daran beteiligten sich Beschäftigte des öffentlichen Dienstes und der Privatindustrie, Junge und Alte, Arbeitslose, sogar Polizisten schlossen sich ihnen an. Die Beschäftigten des Kilki-Krankenhauses haben das Gebäude besetzt und zur Solidarität und zur Beteiligung der gesamten Bevölkerung an den Vollversammlungen aufgerufen sowie einen Aufruf zur internationalen Solidarität verfasst. [2]
In Mexiko hat die Regierung den Großteil der Angriffe auf die Beschäftigten des Bildungswesens gerichtet, um sie dann auf die anderen Beschäftigten auszuweiten. Die Lebensbedingungen haben sich allgemein verschlechtert, obwohl man behauptet, das Land sei gut gegen die Krise gerüstet. Trotz der sehr starken gewerkschaftlichen Fesseln haben die LehrerInnen massenhaft im Zentrum Mexico-Citys protestiert. [3]
In Italien haben im Januar mehrere Kämpfe gegen Sparbeschlüsse der neuen Regierung stattgefunden – z.B. bei den Eisenbahnen, Jabil (früher Nokia), Esselunga di Pioltello in Mailand, Fiat in Termini Imerese, Cerámica Ricchetti in Mordado/Bologna; in den Raffinerien von Trapani; bei den prekär beschäftigten Forschern der Gasliani-Klinik in Genua, und auch in anderen Bereichen, die der Arbeiterklasse nahestehen, wie bei den LKW-Fahrern, Taxifahrern, Fischern, Bauern. Die Bewegung war äußerst zersplittert. Ein Versuch der Koordinierung in der Mailänder Region scheiterte, sie war Gefangene der gewerkschaftlichen Herangehensweise geblieben [4].
In Indien, das mittlerweile gemeinsam mit China als “die Zukunft des Kapitalismus” gepriesen wird, fand am 28. Februar ein Generalstreik statt, der von mehr als 100 Gewerkschaften ausgerufen wurde, die mehr als 100 Millionen Beschäftigte im ganzen Land repräsentieren (die aber nicht alle den Streik unterstützt haben, im Gegenteil). Dieser Generalstreik wurde als einer der zahlenmäßig größten Streiks auf der Welt eingestuft.
Aber dieser Tag war vor allem ein Tag der Demobilisierung, ein Mittel, um Druck abzulassen als Reaktion auf die wachsende Welle von Kämpfen seit 2010, an deren Spitze die Beschäftigten der Automobilindustrie stehen (Honda, Maruti-Suzuki, Hyundai-Motors). So hatten zwischen Juni und Oktober 2011 in den Autowerken die Beschäftigten selbständig gehandelt und nicht auf die Aufrufe der Gewerkschaften zu Aktionen gewartet. Deutliche Tendenzen zur Solidarität und zu einem Willen der Ausdehnung der Kämpfe auf andere Betriebe waren erkennbar. Ebenso waren Ansätze zur Selbstorganisierung und der Einberufung von Vollversammlungen ersichtlich, wie z.B. in Maruti-Suzuki in Manesar, einer neu errichteten Stadt infolge des Industriebooms in der Delhi-Region. Während dieses Kampfes haben die Beschäftigten entgegen den Anweisungen der Gewerkschaft den Betrieb besetzt. Die Wut steigt weiter an. Deshalb haben die Gewerkschaften beschlossen, einen gemeinsamen Aufruf zum Streik zu verfassen, um gemeinsam der Arbeiterklasse entgegenzutreten[5].
Die Jugendlichen, Arbeitslosen und prekär Beschäftigten waren die treibende Kraft unter den “Empörten” und der Occupy-Bewegung 2011 gewesen, auch wenn sich daran Beschäftigte aller Altersgruppen beteiligt haben. Es gab eine Tendenz, dass die Vollversammlungen zum Dreh- und Angelpunkt der Organisierung der Kämpfe wurden. Gleichzeitig wurde eine Kritik an den Gewerkschaften laut. Konkrete Forderungen wurden meist nicht erhoben, sondern man beschränkte sich auf die Empörung und die Suche nach einer Erklärung der Lage.
2012 nahmen die ersten Kämpfe als Reaktion auf die Angriffe der Regierungen eine etwas andere Gestalt an: an deren Spitze standen bislang die Beschäftigten der Altersgruppe der 40-50 Jährigen des öffentlichen Dienstes, die Unterstützung erhalten von den anderen „Verbrauchern“ (Familienvätern, Eltern von Kranken, usw.), denen sich die Arbeitslosen und Jugendlichen anschlossen. Die Kämpfe drehen sich meist um konkrete Forderungen und die gewerkschaftlichen Fesseln sind deutlich zu spüren.
Auf den ersten Blick hat man den Eindruck, die Kämpfe “unterscheiden” sich, ja stünden im “Gegensatz” zu den früheren Kämpfen, das wollen uns jedenfalls die Medien eintrichtern. Die vorherigen Kämpfe seien „radikal“ und „politisch“ gewesen, getragen von „Idealisten, die nichts zu verlieren haben“; die jetzigen Kämpfe dagegen seien von Familienvätern getragen, die gewerkschaftlich ausgerichtet seien und ihre „erworbenen Privilegien“ nicht verlieren möchten.
Solche Unterscheidungen zwischen den “beiden Arten von Kämpfen”, die ihre tiefgreifenden gemeinsamen gesellschaftlichen Wurzeln vertuschen sollen, dienen dem politischen Ziel der Spaltung und der Gegenüberstellung von zwei Reaktionsformen der Arbeiterklasse, die das Ergebnis der Reifung ihres Bewusstseins sind und den Beginn einer Reaktion auf die Krise zum Ausdruck bringen, und die mit der Perspektive von gemeinsamen, massiven Kämpfen zusammengeführt werden müssen. Es handelt sich in Wirklichkeit um zwei Stücke des gleichen Puzzles, die zusammengefügt werden müssen.
Dies wird nicht einfach sein. Der Kampf mit einer aktiveren und bewussteren Rolle der Beschäftigten, insbesondere in den Bereichen, wo die Arbeiterklasse am stärksten entwickelt ist, ist immer dringender geboten. Ein nüchterner, klarer Blick auf all die Schwächen, von denen gegenwärtig die Arbeiterklasse geprägt wird, ist nötig.
Eine Mystifikation, die besonders in Griechenland zu spüren ist, ist der Nationalismus. Dort wird die Wut über die unerträgliche Sparpolitik „gegen das deutsche Volk“ kanalisiert, dessen angeblich „üppiges“ Leben [6] für die schlimme Lage des „griechischen Volkes“ verantwortlich sei. Diese Form des Nationalismus zielt darauf ab, „Lösungen“ für die Krise vorzuschlagen, die sich auf die „Wiederherstellung der nationalen ökonomischen Souveränität“ stützen, eine ziemlich autarke Sichtweise, die von den Stalinisten und Neofaschisten verbreitet wird. [7]
Die scheinbare Rivalität zwischen Rechts und Links ist eine andere Mystifikation, mit der der Staat die Arbeiterklasse zu schwächen versucht. Insbesondere in Italien und in Spanien ist dies ersichtlich. In Italien hat der Rücktritt Berlusconis, eine besonders widerwärtige Gestalt, es der Linken ermöglicht, eine „künstliche Euphorie“ zu schaffen: „Wir sind endlich befreit“. Dies hat zur Zerstreuung der Arbeiterkämpfe beigetragen, die zu Beginn der Sparmaßnahmen der „technischen“ Regierung um Monti ausbrachen. [8] In Spanien hat das autoritäre und brutale, repressive Vorgehen, mit der sich gewöhnlich die Rechte hervortut, den Gewerkschaften und den linken Parteien ermöglicht, die Verantwortung der Angriffe auf die „Bosheit“ und die „Bestechlichkeit“ der Rechten zurückzuführen und die Unzufriedenheit auf die „Verteidigung des demokratischen Sozialstaats“ abzulenken. Insofern wirken die Verschleierungen der traditionellen Kontrollkräfte der Arbeiterklasse – die Gewerkschaften und die Linksparteien – und die jüngst von den Herrschenden eingesetzten Mittel, um der Bewegung der Empörten entgegenzutreten, insbesondere DRY (Democracia Real Ya) zusammen gegen die Arbeiterklasse. Wie wir früher schon schrieben: „Die Strategie DRYs, im Dienste des demokratischen Staats der Bourgeoisie, besteht darin, für eine Bürgerbewegung der demokratischen Reformen einzutreten, um zu verhindern, dass eine gesellschaftliche Bewegung der Kämpfe gegen den demokratischen, kapitalistischen Staat entsteht“[9].
2011 war die herrschende Klasse in Spanien durch die Bewegung der Empörten überrascht worden, welcher es paradoxerweise gelang, ziemlich frei die klassischen Methoden des Arbeiterkampfes zu entfalten: Massenversammlungen, nicht-kontrollierte Versammlungen, Debatten mit großer Beteiligung usw. ([10]). Eine Bedingung für deren Zustandekommen war, dass man nicht auf der Grundlage von Betrieben, sondern auf den Straßen und Plätzen zusammenkam, und dass die Jugend und die prekär Beschäftigten, die deren treibende Kraft waren, zutiefst misstrauisch gegenüber den „anerkannten“ Institutionen wie den Gewerkschaften waren.
Heute stehen überall Sparprogramme auf der Tagesordnung, insbesondere in Europa, welche alle die Unzufriedenheit und eine wachsende Kampfbereitschaft auslösen. Die herrschende Klasse will nicht wieder überrascht werden, deshalb „begleitet“ sie die Angriffe mit einer Reihe von politischen Maßnahmen, die das Aufkommen eines selbst-organisierten, vereinigten und massiven Kampfes der Beschäftigten erschweren. Die Herrschenden wollen verhindern, dass die 2011 aufgetauchten Tendenzen weiter Auftrieb erhalten, und dass man über die bisherige Stufe hinausgeht.
Die Gewerkschaften sind die Speerspitze dieser Sabotagetaktik. Ihre Rolle besteht darin, das Terrain zu besetzen und Mobilisierungen vorzuschlagen, die in Wirklichkeit ein Labyrinth darstellen, wo sich alle Initiativen, die Bemühungen der Selbstorganisierung, die wachsende Kampfbereitschaft usw. verlaufen und die Bewegung gespaltet wird.
Dies wird sehr deutlich bei einer der bevorzugten Waffen der Gewerkschaften: dem Generalstreik. Wenn dieser von Gewerkschaften organisiert wird, sind das nur Ein-Tag-Aktionen, ohne Fortsetzung, bei denen oft viele Arbeiter zusammenkommen, es den Arbeitern aber unmöglich gemacht wird, ihren Kampf selbst in die Hand zu nehmen, um den Streik zu einem wirksamen Instrument gegen die Angriffe der Bourgeoisie zu machen. In den letzten drei Jahren wurden in Griechenland allein 16 Generalstreiks ausgerufen. In Portugal drei, ein neuer steht in Italien an, ein auf das Erziehungswesen begrenzter Generalstreik wurde für Großbritannien angekündigt. Wir haben den Streik in Indien im Februar schon erwähnt, in Spanien wurde ein weiterer für den 29. März angesetzt, nachdem der letzte im September 2010 stattfand.
Die Vielzahl von gewerkschaftlich ausgerufenen Generalstreiks ist sicherlich ein Hinweis auf den von den Beschäftigten ausgehenden Druck, deren Wut und zunehmende Kampfbereitschaft. Dennoch ist der Generalstreik kein Schritt vorwärts, sondern nur ein Mittel, um Druck abzulassen gegenüber der wachsenden Unzufriedenheit [11].
Im Kommunistischen Manifest wird hervorgehoben, dass “Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter.“[Marx/Engels: Manifest der kommunistischen Partei. Marx/Engels: Ausgewählte Werke, S. 2633,(vgl. MEW Bd. 4, S. 471)] Die Haupterrungenschaft eines Streiks liegt in der Einheit, dem Bewusstsein, der Fähigkeit zur Initiative und Selbstorganisierung, der Solidarität, den Verbindungen, die in einem Kampf hergestellt werden können.
Gerade diese Errungenschaften werden durch die Aufrufe zum Generalstreik und den anderen Methoden des gewerkschaftlichen Kampfes geschwächt und deformiert. Die Gewerkschaftsführer kündigen den Generalstreik an und mit großem Media-Hype werden lauthals Erklärungen verlesen, in denen viel von „Einheit“ die Rede ist, aber vor Ort, an den Arbeitsplätzen, in den Betrieben wird die „Vorbereitung“ des Generalstreiks zu einem gewaltigen Ablenkungs- und Spaltungsmanöver, bei dem die Betroffenen aneinandergeraten und geschwächt werden.
Die Beteiligung am Generalstreik wird als eine “persönliche Entscheidung” eines jeden Beschäftigten dargestellt. In vielen Betrieben befragen viele Manager die Beschäftigten, ob sie sich beteiligen werden. Dadurch können sie erpresst und eingeschüchtert werden. Das ist die Wirklichkeit hinter dem Streikrecht und den „Rechten der Bürger“.
Dieses Manöver bringt genau die lügnerische, herrschende Ideologie zum Ausdruck, der zufolge jedes Individuums selbständig und unabhängig und “nur seinem Gewissen verpflichtet” ist. Die Frage der Beteiligung am Streik wäre eines der vielen Dilemmas im Leben, gegenüber dem wir nur einzeln, jeder für sich reagieren können: Darf ich diese Arbeit annehmen? Darf ich solch eine Gelegenheit ausnutzen? Darf ich solch ein Produkt kaufen? Wen wähle ich? Soll ich mich am Streik beteiligen? In Anbetracht all dieser Dilemmas wird das Gefühl der Vereinzelung, Atomisierung, Entfremdung nur noch größer. Dahinter steckt die Welt der Konkurrenz, der Ausrichtung des jeder gegen jeden, jeder für sich, d.h. das ureigene Wesen dieser Gesellschaft.
An den Tagen vor dem Generalstreik nehmen die Auseinandersetzungen und Spannungen unter den Beschäftigten immer mehr zu. Jeder steht vor der Angst einjagenden Frage: Werde ich mich am Streik beteiligen, obwohl ich weiß, dass er nichts bringen wird? Werde ich meine streikenden KollegInnen im Stich lassen? Kann ich mir den Luxus leisten, einen Tag Lohn wegen der Streikbeteiligung zu verlieren? Kann ich es riskieren, meinen Job zu verlieren? Jeder fühlt sich aufgerieben zwischen diesen beiden Fronten: auf der einen Seite die Gewerkschafter, die bei denen, die sich nicht beteiligen, Schuldgefühle auslösen wollen, und auf der anderen Seite die Chefs, die alle möglichen Drohungen vom Stapel lassen. Es ist ein wahrer Alptraum an Zusammenstößen, Spaltungen und Spannungen unter den Beschäftigten, der zudem noch verschärft wird durch die Frage der Aufrechterhaltung eines „Notdienstes“ bzw. [12]).
Die kapitalistische Gesellschaft funktioniert nach dem Prinzip der Anhäufung von unendlich vielen „freien, individuellen Entscheidungen“. In Wirklichkeit ist keine dieser Entscheidungen „frei“, sondern man ist abhängig, gefangen in einem komplexen Netz entfremdender Beziehungen: der Infrastruktur der Produktionsverhältnisse, den Warenbeziehungen, der Lohnarbeit, und einem juristischen, militärischen, ideologischen, religiösen, politischen, polizeilichen Fangnetz.
Marx meinte, "daß der wirkliche geistige Reichtum des Individuums ganz von dem Reichtum seiner wirklichen Beziehungen abhängt, ist nach dem Obigen klar.“ [Marx/Engels: Die deutsche Ideologie. Marx/Engels: Ausgewählte Werke, S. 1306, (vgl. MEW Bd. 3, S. 37)] [13],
Wobei letztere der Stützpfeiler des Arbeiterkampfes und der gesellschaftlichen Kraft sind, die einzig in der Lage ist, den Kapitalismus zu überwinden, während die Aufrufe der Gewerkschaften die sozialen Bindungen untergraben und die Beschäftigten einsperren hinter die Mauern der Betriebe, der Branchen, sie isolieren, und damit die Bedingungen für kollektive, bewusste Entscheidungen vereiteln.
Die Fähigkeit der Beschäftigten, gemeinsam über die Vor- und Nachteile einer Aktion zu diskutieren, gibt ihnen Stärke und Kraft, denn wenn sie über solche Fragen diskutieren und entscheiden, können sie auf die Argumente, Initiativen, Klärungen eingehen, Zweifel, konträre Meinungen, Vorbehalte usw. berücksichtigen. Und nur so können sie gemeinsam Entscheidungen treffen. Nur so können sie einen Kampf führen, in den die größtmögliche Zahl Beteiligter sich mit einbringt, Verantwortung übernimmt, Überzeugungen zum Ausdruck kommen können.
All das wird von den Gewerkschaften durch deren Praxis vereitelt, die darauf drängen, all die “Vorbehalte”, die “Zurückhaltung” und „Zweifel“ usw. fallenzulassen im Namen einer „notwendigen Kraft zur Blockierung der Produktion oder der Dienstleistungen“, der sich alle beugen und anschließen müssten. Die Kraft der Arbeiterklasse stützt sich auf die zentrale Rolle, die sie in der Produktion ausübt, da sie fast die gesamten Reichtümer der Gesellschaft produziert, die aber von den Kapitalisten angeeignet werden. Deshalb können die Beschäftigten zwar potenziell die ganze Produktion blockieren und die Wirtschaft lahmlegen. Aber in Wirklichkeit wird diese Waffe der „sofortigen Blockierung“ oft von den Gewerkschaften als ein Mittel eingesetzt, um die Beschäftigten von der vordringlichsten Notwendigkeit abzulenken, den Kampf in die eigenen Hände zu nehmen und ihn auszudehnen [14]. Im Zeitraum der Dekadenz des Kapitalismus, und mehr noch in den Zeiträumen der Krise wie heute, kommt es in der kapitalistischen Produktionsform aufgrund des chaotischen und widersprüchlichen Funktionierens dieser Gesellschaft immer wieder zu Stockungen der Produktion und der sozialen Dienstleistungen. Eine Blockade der Produktion – dazu noch beschränkt auf 24 Stunden – wird von den Kapitalisten sogar eher dazu ausgenutzt, um Lagervorräte abzubauen. Und was den Bereich der Dienstleistungen angeht, wie zum Beispiel Bildung, Gesundheitswesen oder das Transportwesen schlachtet der Staat solche „Blockaden“ dazu aus, die „Verbraucher“ und die Streikenden gegeneinander auszuspielen.
Der Kampf für einen gemeinsamen und massiven Kampf
Während der Bewegungen 2011 konnten die Ausgebeuteten ihre eigenen Initiativen entfalten und ihre tiefgreifenden Wünsche zum Ausdruck bringen, sich durch die klassischen Methoden des Arbeiterkampfes äußern, die schon in der russischen Revolution 1905 und 1917 sowie 1968 usw. zum Einsatz gekommen waren. Wenn nunmehr die Gewerkschaften versuchen, ihre Methoden durchzuboxen, sollen diese Regungen erstickt werden. Aber diese versuchen weiterhin, sich Bahn zu brechen. Gegen den Widerstand der Gewerkschaften sind Arbeiterinitiativen entstanden. Zum Beispiel in Spanien. Bei den Kundgebungen am 29. März in Barcelona, Castellón, Alicante, Valencia, Madrid trugen Streikende ihre eigenen Spruchbänder; sie bildeten ihre eigenen Streikposten, um den Sinn ihrer Mobilisierungen zu erklären. Sie forderten das Rederecht auf den gewerkschaftlich organisierten Kundgebungen, sogar alternative Versammlungen wurden abgehalten… Es ist sehr aufschlussreich, dass diese Initiativen die gleiche Stoßrichtung haben wie diejenigen, die 2010 beim Kampf gegen die „Rentenreform“ in Frankreich zutage traten. [15]
Um den wirklichen Arbeiterkampf voranzubringen, müssen wir uns diesem schwierigen Kampf stellen. Obwohl man den Eindruck haben kann, man könne dem Würgegriff der Gewerkschaften nicht entkommen, reifen die Bedingungen heran, dass dieser Würgegriff immer schwächer wird; die Fähigkeit der Arbeiterklasse sich selbst zu organisieren, wächst.
Die Krise, die vor fünf Jahren in eine neue Stufe eingetreten ist, und jetzt neue Erschütterungen verursacht, zerstreut langsam die Illusionen über ein mögliches „Ende des Tunnels“. Im Gegenteil – die Sorgen und Angst vor der Zukunft werden immer größer. Der wachsende Bankrott dieser Gesellschaft mit all seinen Folgen für die menschlichen Beziehungen, für unsere Kultur, unser Denken usw. wird immer deutlicher. Während in der Zeit, als die Krise noch nicht diese Schärfe angenommen hatte, viele Beschäftigten meinten, trotz des oft großen Leidens, das durch die Ausbeutung verursacht wird, vieles werde so weitergehen wie bisher, erscheint dies heute immer mehr als eine Illusion. Heute ist diese Dynamik auf der ganzen Welt ersichtlich.
Die schon 2011 mit der Bewegung der Empörten und Occuyper [16]) deutlich gewordene Tendenz, massiv in den Straßen und auf den Plätzen zusammenzukommen, ist ein anderer wichtiger Hebel der Bewegung. Im Alltagsleben des Kapitalismus ist die Straße ein Ort der Entfremdung: Staus, atomisierte Menschenmassen, die als Käufer, Verkäufer, Fußgänger usw. auftreten. Wenn die Massen die Straße erobern, um sie zu einem anderen Zweck einzusetzen – als Ort der Versammlung, Diskussionen mit Massenbeteiligung, Kundgebungen usw. - können diese zu einem Raum der Befreiung werden. Dadurch wird es der Arbeiterklasse möglich zu erkennen, welche gesellschaftliche Kraft sie darstellt, wenn sie lernt, gemeinsam und eigenständig zu handeln. Dies sind wichtige Keime für die Zukunft, in der eine „direktes Regieren durch die Massen“ möglich sein wird, bei dem diese sie selbst erziehen und von all den Fesseln befreien, welche die kapitalistische Gesellschaft ihnen angelegt hat. Nur so können sie die Stärke entwickeln, um die kapitalistische Herrschaft zu brechen und eine andere Gesellschaft zu errichten.
Eine andere, zukunftsweisende Kraft besteht in dem Zusammenkommen verschiedener Generationen von ArbeiterInnen im Kampf. Dieses Phänomen konnte man schon in den Kämpfen gegen den CPE in Frankreich im Jahre 2006 feststellen [17] oder bei den Revolten der Jugend in Griechenland 2008[18]). Die Fähigkeit zum gemeinsamen Handeln aller Arbeitergenerationen ist eine unabdingbare Vorbedingung für den erfolgreichen Ausgang eines revolutionären Kampfes. In der Russischen Revolution 1917 bündelten in der Bewegung die Proletarier aller Altersgruppen, Kinder, auf den Schultern ihrer Brüder oder Väter, bis hin zu den Alten, ihre Kräfte zusammen.
Es geht hier um die Reifung einer Reihe von Faktoren, die ihre Kraft nicht sofort und leicht entfalten werden. Harte Kämpfe stehen uns bevor, in denen die revolutionären Organisationen mit Ausdauer und Beharrungsvermögen intervenieren müssen. Dabei wird es zu Niederlagen kommen, die oft bitter sein werden; schwierige Phasen werden auftreten, in denen Verwirrung und vorübergehende Lähmung vorherrschenden. Aber all dies wird erforderlich sein, damit diese Macht voll zum Tragen kommen wird. Die Waffe der Kritik, die die Fehler und Unzulänglichkeiten ohne Scheu kritisiert, wird unerlässlich sein, um voranzukommen.
„Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eignen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze! [Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Marx/Engels: Ausgewählte Werke, S. 11632,(vgl. MEW Bd. 8, S. 118)]
C.Mir (27-3-12)
[1] Cf. siehe auf spanisch: Por un movimiento unitario contra recortes y reforma laboral (voir https://es.internationalism.org/node/3323 [117]); Ante la escalada represiva en Valencia (voir https://es.internationalism.org/node/3324 [118]).
[2] Cf. “L’hôpital de Kilkis en Grèce sous le contrôle des travailleurs”, https://fr.internationalism.org/icconline/2012/grece_l_hopital_de_kilkis... [119]
[3] Cf. Auf spanisch Nuestra intervención en las movilizaciones del magisterio en México https://es.internationalism.org/ccionlinemarzo2012panfleto [120]
[4] Cf. Auf italienisch https://it.internationalism.org/node/1147 [121]
[5] Cf. Generalstreik in Indien siehe unsere Webseite auf deutsch,
[6] Absichtlich werden die sieben Millionen „Minijobs“ (400-Euro-Jobs) in Deutschland nicht erwähnt.
[7] Eine Minderheit von Beschäftigten in Griechenland wird sich dieser Gefahr bewusst. So haben die Beschäftigen des Krankenhauses von Kilikis einen Aufruf zur internationalen Solidarität verfasst, ebenso die Studenten und Lehrenden des besetzten Jura-Fachbereiches der Uni Athen.
[8] Der nicht einmal auf das Wahlspektakel zurückgreifen musste.
[9] Siehe unseren Artikel "Le mouvement citoyen "Democracia Real Ya!": une dictature sur les assemblées massives"; https://fr.internationalism.org/icconline/2011/dossier_special_indignes/... [122].
[10] Die Herrschenden hatten der Bewegung aber nicht wirklich freie Hand gelassen, denn sie hatten selbst „neue“, aber unerfahrene Kräfte wie DRY gegen sie eingesetzt. cf. "Le mouvement citoyen "Democracia Real Ya!": une dictature sur les assemblées massives".
[11] Wenn man der “Sorge” oder der “Wut” der großen Firmenchefs oder der Politiker Glauben schenken würde, dann würde der Generalstreik ihnen wirklich Sorgen bereiten und gar die Angst vor einer “Revolution” schüren. Aber die Geschichte hat zu Genüge bewiesen, dass all dies nur eine Komödie ist, was auch immer dieser oder jener Redner aus den Reihen der Herrschenden wirklich glaubt.
[12] In unserem „Bericht zum Klassenkampf” (Die Entwicklung des Klassenkampfes im Kontext der allgemeinen Angriffe und des fortgeschrittenen Zerfalls des Kapitalismus“ (Internationale Revue Nr. 33, 2004) schrieben wir: „Während der Märzaktion 1921 in Deutschland waren die tragischen Szenen, die sich vor den Fabriken abspielten, als die Arbeitslosen versuchten, die Arbeiter davon abzuhalten, die Arbeit wieder aufzunehmen, ein Ausdruck der Verzweiflung angesichts des Abebbens der revolutionären Welle. Die Aufrufe der Linksextremen im letzten Frühjahr, die Schüler von den Abschlussprüfungen abzuhalten, das Theater der westdeutschen Gewerkschafter, die die ostdeutschen Metaller – die keine langen Streiks für die 35-Stunden-Woche machen wollten – an der Wiederaufnahme der Arbeit hindern wollten, sind gefährliche Angriffe gegen den eigentlichen Begriff der Arbeiterklasse und der Solidarität. Sie sind umso gefährlicher, als sie die Ungeduld, den Unmittelbarkeitswahn und den sinnlosen Aktivismus fördern, welche Erscheinungen ohnehin charakteristisch für den Zerfall sind. Wir sind vorgewarnt: Obwohl die kommenden Kämpfe zwar ein Ort der Bewusstseinsentwicklung sind, unternimmt die Bourgeoisie alles, um sie in einen Friedhof des proletarischen Nachdenkens zu verwandeln.“
[13] „Die deutsche Ideologie“, Kapitel zu Feuerbach,
[14] Siehe dazu unseren zweiteiligen Artikel. „Bilan du blocage des raffineries", anlässlich der Blockade der Raffinerien während des Kampfes gegen die Rentenreform in Frankreich 2010: https://fr.internationalism.org/ri418/bilan_du_blocage_des_raffineries_1... [123] et https://fr.internationalism.org/ri420/bilan_du_blocage_des_raffineries.html [124].
[15] Cf. Revue internationale o 144, “Mobilisation sur les retraites en France, riposte étudiante en Grande-Bretagne, révolte ouvrière en Tunisie”, https://fr.internationalism.org/node/4524 [125]. Die Kämpfe 2010 haben politisch und praktisch den Boden für die Entwicklung des Klassenbewusstseins 2011 vorbereitet.
[16] Für eine Bilanz dieser Bewegung siehe “Von der Empörung zur Hoffnung” https://fr.internationalism.org/icconlinz/2012/2011_de_l_indignation_a_l... [126]
[17] Cf. “Thesen zur Bewegung der Studenten” Revue internationale no 125, https://fr.internationalism.org/rint125/france-etudiants [127]
[18] Cf. “Die Revolten der Jugend in Griechenland bestätigt die Entwicklung des Klassenkampfes” Revue internationale no 136, https://fr.internationalism.org/rint136/les_revoltes_de_la_jeunesse_en_g... [128]
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Die dramatische Situation, mit der die Menschheit konfrontiert ist, wird immer offensichtlicher. Nachdem die kapitalistische Weltwirtschaft vier Jahrzehnte versuchte an der offenen ökonomischen Krise herumzudoktern, bricht sie vor unseren Augen zusammen. Die Folgen der Umweltzerstörung, wie alle neuen wissenschaftlichen Untersuchungen untermauern, erscheinen immer düsterer. Krieg, Hunger, Unterdrückung und Korruption sind das alltägliche Los für Millionen.
Gleichzeitig beginnen die Arbeiterklasse und andere unterdrückte Schichten der Gesellschaft sich gegen die kapitalistischen Forderungen nach weiteren Opfern und Kürzungen zu wehren. Soziale Revolten, Besetzungen, Demonstrationen und Streikbewegungen sind in einer ganzen Reihe von Ländern von Nord-Afrika bis Europa, von Nord- bis Süd-Amerika ausgebrochen.
Die Entwicklung all dieser Widersprüche und Konflikte macht es für eine Organisation der Revolutionäre notwendiger denn je, aktive Präsenz zeigen zu können. Das bedeutet: die sich immer schneller entwickelnde Situation zu analysieren, mit vereinter Stimme über Grenzen und Kontinente hinweg klar zu reden, direkt an den Bewegungen der Unterdrückten teilzunehmen und diese darin zu unterstützen ihre Methoden und Ziele mit größter Klarheit zu bestimmen.
Wir können nicht verschweigen, dass die Kräfte der IKS im Vergleich zu der enormen Verantwortung, die diese Situation erfordert, sehr beschränkt sind. Wir erleben weltweit das Auftauchen einer neuen Generation, welche angesichts der Krise des Systems nach revolutionären Antworten sucht. Deshalb ist es notwendig, dass all die, die mit den allgemeinen Zielen unserer Organisation sympathisieren, Verbindung mit der IKS aufnehmen und unsere Fähigkeit zu handeln und zu wachsen mit ihrem eigenen Beitrag unterstützen.
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Dies ist keine ad hoc Entscheidung, dieser Prozess benötigt Zeit und Geduld. Im Gegensatz zu den linken Gruppen, Trotzkisten und anderen, welche sich fälschlicherweise auf den Bolschewismus beziehen, streben wir keine Rekrutierung an. Deren Mitglieder sind nichts als Schachfiguren bei den Auseinandersetzungen einer bürokratischen Führung. Eine wirklich kommunistische Organisation kann nur gedeihen, wenn ihre Mitglieder ein tiefes Verständnis ihrer Positionen und Analysen errungen haben und in der Lage sind, diese durch die kollektive Anstrengung aufzunehmen und weiter zu entwickeln.
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Wir sind uns bewusst, dass die einzelnen GenossInnen unterschiedliche Fähigkeiten in unterschiedlichen Gebieten haben. Wir arbeiten nach dem kommunistischen Prinzip: jede/r nach ihren/seinen Fähigkeiten – es ist die Aufgabe des Kollektivs, all die individuellen Energien auf möglichst effektive Weise nutzbar zu machen.
Einer revolutionären Organisation beizutreten, ist keine Entscheidung, die leicht genommen werden darf. Der IKS beizutreten, bedeutet Teil einer weltweiten Gemeinschaft zu werden, die für ein gemeinsames Ziel kämpft – das einzige Ziel, welches wirklich eine Zukunft für die Menschheit bieten kann.
IKS, April 2012
[1] de.internationalism.org/user/register
[2] libcom.org
[3] www.revleft.space [139]
[4] www.revleft.space/vb/group.php?groupid=9 [140]
[5] www.red-marx.com [138]
[6] de.internationalism.org/plattform/
[7] de.internationalism.org/ir/22_funktionderorganisation
Nach den Juni-Wahlen in Griechenland begrüßte US-Präsident Obama das Ergebnis als eine Chance für die neue Regierung, „den Weg der Reform weiter zu beschreiten und dies auf eine Weise zu tun, die dem griechischen Volk Aussichten auf Erfolg und Wohlstand eröffnet.“
Diese Worte wirkten heuchlerisch, unterscheidet sich doch die neue Koalition politisch nur geringfügig von der Koalition, die vom vergangenen November bis zu den Wahlen im Mai regiert hatte. Es war diese Koalition, die Georges Papandreou abgelöst hatte, die die Bedingungen für die 130 Milliarden-Rettungsaktion akzeptiert hatte. Es war diese Koalition, die die ohnehin brutalen Sparmaßnahmen noch verschärft hatte. In den letzten Wahlen schürten Neo Dimokratia und PASOK, jene Parteien, die seit 1974 Griechenland ununterbrochen regiert hatten, Ängste, dass die Geldanlagen trocken gelegt werden sollen und dass sich die Wirtschaft, die sich nach fünf Jahren der ununterbrochenen Rezession bereits in einer tiefen Krise befindet (mit einer Bevölkerung, die bereits schlimmste Ausplünderungen über sich ergehen lassen musste), einer noch schlimmeren Katastrophe gegenübersieht. Und sie befinden sich noch immer an der Macht, und zwar mit dem Beistand einer kleinen linken, nicht rechten Partei.
Doch nachdem Ministerpräsident Samaras der Regierung endlich alle Zahlen genannt hatte, änderte sich Melodie etwas. Die Koalitionsparteien kamen darin überein, dass sie einige Aspekte des Vertrages mit ihren internationalen Gläubigern neu verhandeln wollen. Sie wollen „zwei weitere Jahre, bis 1916, um das öffentliche Defizit auf unter drei Prozent des Bruttosozialprodukts zu drücken. Dies werde der Regierung ermöglichen, ihre fiskalischen Ziele zu erreichen, ohne weitere Einschnitte bei den Löhnen, Renten und bei den öffentlichen Investitionsprogrammen vorzunehmen. Stattdessen sollen Einsparungen vorgenommen werden, indem die Korruption, die Verschwendung öffentlicher Ausgaben, die Steuerhinterziehung und die Schattenökonomie angegangen werden“ (Kathimerini, 24. Mai 2012).
Es wird interessant sein zu sehen, auf wie viel internationale Sympathie dieses Vorgehen stößt. Schmerzen und noch mehr Schmerzen sind die von den Führern der Euro-Zone vorgeschriebene Arznei. In Anbetracht der Tatsache, dass die Hauptbeteiligten in der griechischen Regierung für die Durchsetzung aller bisherigen Einschnitte verantwortlich gewesen waren, fragen sich andere europäische Bourgeoisien wahrscheinlich, warum sie es nicht genauso tun. Sind sie sich doch bewusst, dass Unzufriedenheit zur militanten Aktion führen kann.
Bei den Juni-Wahlen betrug die Wahlbeteiligung gerademal 62.5 Prozent. Diese lag noch unter der vom Mai, die mit 65 Prozent schon die historisch niedrigste war. Obwohl in Griechenland ein Zwang zur Wahlbeteiligung besteht, wird die Nichtbeteiligung an Wahlen nicht geahndet. Es wird immer deutlicher: Immer weniger Leute glauben daran, dass Wahlen noch zu irgendeiner Verbesserung ihres Lebens führen.
Unter jenen, die sich an der Wahl beteiligten, stimmten die über 55-Jährigen eher für Neo Dimokratia, weil diese die Illusion der Stabilität und finanziellen Sicherheit bot. Die Altersgruppe der zwischen 18 und 24-Jährigen war eher von Syriza angezogen, das eine Art „Alternative“ anzubieten schien.
Viele trotzkistische Gruppen zeigen sich enthusiastisch über die Wahlerfolge Syrizas. Obwohl sie eingestehen, dass es sich eher um eine Reformpartei als um eine revolutionäre Partei handelt, erwarten sie, dass Syriza, eine wichtige Rolle bei der Zentralisierung des Widerstands gegen die Sparpolitik spielt. Doch wenn man die Stellungnahmen Syrizas und die Äußerungen seines Führers, Alexis Tsipras, vernimmt, erkennt man unschwer darin ein Modell der „verantwortungsvollen Opposition“, als welche Tsipras diese selbst bezeichnet hatte (Reuters, 19.6.2012).
Ein Kommentator von Al-Jazeera stellte die Frage, ob Syriza “insgeheim eigentlich dankbar dafür ist, zum jetzigen Zeitpunkt der Verzweiflung von der Regierungsverantwortung verschont zu bleiben.“ (18.6.2012)
Zweifellos wird Syriza gegenüber der neuen Regierung die zentrale Rolle der Opposition spielen. Dadurch wird die Illusion verstärkt werden, dass die Sparpolitik abgeschwächt werden kann. Aber „Tsipras hat schon wissen lassen, dass Syriza seine Anhänger nicht auf der Straße mobilisieren werde, um gegen die Sparmaßnahmen zu protestieren“ (Reuters, 19.6.2012). Er meint, dass Widerstand gegenwärtig nicht die Priorität sei. „Unsere Rolle besteht darin, innerhalb und außerhalb des Parlaments zu wirken, alles Positive zu begrüßen und alles Negative zu verurteilen und Alternativen vorzuschlagen.“ (ebenda).
Tsipras, der eine faire Besteuerung, ein Schuldenmoratorium und gewisse “Strukturreformen” verlangt, siedelt Syriza somit im bürgerlichen Mainstream an. In einem Interview mit Time Magazine (31.5.2012) meinte er, die Politik des amerikanischen New Deals in den 1930er Jahren sei beispielhaft gewesen. „Wir werden erkennen, dass Roosevelt Recht hatte und wir werden seinen Weg einschlagen.“ Doch es bleibt nicht nur bei der Nostalgie für eine ferne Vergangenheit; er bewundert auch die gegenwärtigen staatskapitalistischen Institutionen in den USA. Hinsichtlich der Analyse der Probleme in der Europäischen Währungsunion meint er, dies sei zum Teil auf das Fehlen einer Zentralbank zurückzuführen, die – wie die Fed in den USA - als eine wirkliche Zentralbank auftreten kann und als letzter Strohhalm auch einem Land Geld leihen könne, das auf den Märkten Probleme habe.
In einem Artikel für die Financial Times (12.6.2012) schrieb Tsipras, „Syriza ist heute die einzige politische Bewegung in Griechenland, die unserem Land ökonomische, soziale und politische Stabilität bieten kann (...) Nur Syriza kann die Stabilität in Griechenland garantieren, weil wir nicht durch die politische Erblast der etablierten politischen Parteien belastet sind, welche Griechenland an den Rand des Abgrunds gebracht haben.“
Dies verdeutlicht die Sorge Syrizas um kapitalistische Stabilität und auch die Ursache für seine Anziehungskraft, die darin besteht, nicht den Ruf von PASOK oder Neo Dimokratia zu haben. Syriza reagiert auf die Wut in der Bevölkerung, aber mit einem besonderen Ziel: „Griechenland braucht mutige und entschlossene Führer, die die Wut der Leute zu einer Waffe schmieden können, um in Verhandlungen zugunsten unseres Landes einzutreten“ (Reuters, 19.6.2012). Das Dutzend linker Gruppen, die in Syriza zusammengeschlossen sind, will die Wut der Leute ausschlachten, um über eine Waffe für die Verhandlungen zugunsten des griechischen Kapitalismus zu verfügen. Der Hauptunterschied zwischen Syriza und der Samaras-Regierung besteht also darin, dass die Regierung sich auf die Angst der Bevölkerung stützt und Syriza auf ihre Wut. Car 25.6.2012
Die weltweit bekannteste Kunstschule, das deutsche Bauhaus (1919 – 1933), wurde als Modell für sozialistisches Design und Produktion geplant.
„Bilden wir also eine neue Zunft der Handwerker ohne die klassentrennende Anmaßung, die eine hochmütige Mauer zwischen Handwerkern und Künstlern errichten wollte! Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt sein wird: Architektur und Plastik und Malerei, der aus Millionen Händen der Handwerker einst gen Himmel steigen wird als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens.“ (Bauhaus-Manifest, April 1919)[1]
Der Architekt Walter Gropius, vormals Vorsitzender des Arbeitsrats für Kunst, schrieb als Gründer dieser neuen Schule dieses ziemlich romantische Manifest. Ein paar Jahre später fasste er ihre Ziele nüchterner und knapper zusammen: „Kunst und Technik – eine neue Einheit“ (Leitsatz des Bauhauses 1923-25).[2]
Erklärtes Ziel war die Aufhebung der Trennung von:
- hoher und niedriger Kunst (das Bauhaus vereinigte die ehemalige Großherzogliche Kunsthochschule und die Großherzoglich Sächsische Kunstgewerbeschule),
- luxuriöser Kunst für die Privilegierten und einfach produzierter Massenware für den Rest,
- industrieller und handwerklicher Produktion.
- Künstlerisches Schaffen sollte zu einem integralen Bestandteil des Gesellschaftslebens werden und keine privilegierte Nische darin. Der kreative Prozess, bisher von einem mysteriösen Nebel umgeben, sollte deutlich und bewusst hervortreten. Drucke, Tonwaren, Gewebe, Metallarbeiten, Möbel, Theater wurden alle in eine neue moderne Architektur von Licht und Raum integriert. Festivals, Theater, Partys wurden gefördert, damit die künstlerische Gemeinschaft zusammenkommt und Studenten und Lehrer dabei geholfen wird, sich auf Augenhöhe zu begegnen – dies vermittelt der Titel der Ausstellung im Barbican „Kunst als Leben“. Ähnlich der Titel, den Lyonel Feininger seinem Holzschnitt gab, der das erste Bauhaus-Manifest illustrierte: „Die Kathedrale des Sozialismus“.
Trotz seines kurzen Lebens hatte das Bauhaus einen enormen Einfluss, der noch bis in die heutigen Tage zu spüren ist:
Moderne Architekten des internationalen Stils, deren Vorläufer Bauhaus war, haben einen nachhaltigen Eindruck auf das bauliche Design hinterlassen. Selbst Architekturströmungen, die sich dagegengestemmt haben, wie der Post-Modernismus, zeigen bereits in ihrem Namen, dass der internationale Stil ein Referenzpunkt geblieben ist.[3]
Das heutige Grafik-Design wäre ohne die Bauhaus-Pioniere unmöglich (Werbung, Zeitschriften, Zeitungen und Webdesign).
Künstlerische Ausbildung bezieht sich immer noch auf die Innovationen des Bauhaus-Curriculums: Einem Basiskurs der grundlegenden Prinzipien und Untersuchungsmethoden folgen mehrere Jahre der Spezialisierung in bestimmten Gebieten.
Warum war das Bauhaus so einflussreich?
Die Oktoberrevolution 1917 in Russland und die revolutionäre Welle inspirierten das Bauhaus – besonders in Deutschland - in den folgenden Jahren und es schien - nach den massenhaften Vernichtungen des Ersten Weltkriegs - eine neue Lebensart anzubieten. In der Kunstwelt veranschaulichte das Bauhaus den Geist der Moderne, der selbst heute noch den Ausstellungsbesucher packt. In einer Gesellschaft, die sich anscheinend gegen den Menschen verschworen hat, hält das Bauhaus die Hoffnung aufrecht, dass die moderne Industrie für das menschliche Wohl tätig werden wird.
Das Bauhaus war Teil einer breiteren internationalen Bewegung, die den Würgegriff des Spießbürgertums gegenüber der Kunst zu zerschlagen versuchte. Strömungen wie Dada und der Expressionismus in Deutschland, De Stijl in Holland, Le Corbusiers „Neuer Geist“ („L’Esprit Nouveau“) in Frankreich teilten alle das gleiche Ziel. Am Bauhaus arbeiteten einige der bekanntesten internationalen Talente der Zeit, wie Walter Gropius selbst, später der Architekt Mies Van der Rohe, Maler wie Paul Klee und Wassily Kandinsky (um nur die hervorragendsten Persönlichkeiten zu erwähnen).
Zur selben Zeit wurde in Russland - mit gleichen Grundsätzen, aber weitaus geringeren Ressourcen – die konstruktivistische Kunstschule Wchutemas (Höhere Künstlerisch-Technische Werkstätten) gegründet. Diese war von dem Glauben beseelt, dass auf den Trümmern des bürgerlichen Regimes eine neue proletarische Kunstkultur erschaffen werden könne. Kandinsky, der das Curriculum der Wchutemas mit abfasste, wechselte 1921 zum Bauhaus.
Architektur und Design wurden durch die industrielle Massenproduktion in Harmonie gebracht. Beide Disziplinen hinkten bisher der technologischen Entwicklung hinterher und versuchten nach wie vor, altmodische Formen der vorindustriellen Produktionsmethoden nachzuahmen, eine Haltung die stark vom Konservatismus der Bourgeoisie beeinflusst war. Laut Bauhaus mussten neue Formen entwickelt werden, die die Möglichkeiten der neuen Technologie im Dienste der Massen ausdrückten.
Das Bauhaus erschuf ein neues ästhetisches Empfinden und entwickelte geeignete Fertigkeiten, diese zu befriedigen: die radikale Vermählung von modernen Materialien und Techniken (z. B. Gebäude aus Glas und Stahl, Möbel aus Metallröhren); ihr Prinzip von „weniger ist mehr“, „die Wahrheit des Materials“ (Verzicht auf dekorative Nachbildung und Verzierungen); und „die Form folgt der Funktion“ (als kleines Beispiel: die Schachfiguren eines Ausstellungsstückes waren im Gegensatz zu den traditionelle Formen nach den Zügen – den möglichen Bewegungsformen der Figuren – komponiert worden).
Ironischer weise waren die neuen Materialien (aufgrund der desaströsen ökonomischen Lage in Folge des Ersten Weltkriegs und des anschließenden Bürgerkriegs) in Russland so rar, dass die konstruktivistischen Architekten häufig Holz benutzen mussten, um den Baustoff Stahl zu imitieren.
Konnte das Bauhaus die Transformation der künstlerischen Produktion in eine sozialistische Richtung unterstützen?
Der Kapitalismus hat gezeigt, dass er in bestimmten Perioden in der Lage ist, erzieherische Experimente wie das Bauhaus zu tolerieren. In den frühen Zwanzigern - inmitten der Revolte der Arbeiterklasse und der Gefahr der Revolution – hatte die SPD, die Hauptstütze der Weimarer Republik, ein starkes Interesse daran, diese als sozialistische Alternative gegenüber den Gefahren des deutschen Oktobers aufzubauen. Mit dem Abflauen der proletarischen Bewegung fiel es dem Bauhaus immer schwieriger, die finanzielle Grundlage zu erhalten, und war 1926 gezwungen, von Weimar nach Dessau zu wechseln. Von Dessau wiederum zog es 1932 in einem letzten verzweifelten Versuch nach Berlin, wo es von der neu gewählten nationalsozialistischen Regierung 1933 endgültig geschlossen wurde. Für die Nazis war jegliche moderne Kunst an sich schon „Kulturbolschewismus“. Die Nationalsozialisten hatten kein Interesse daran, „deutsche Steuergelder“ für ein Institut der Avantgarde auszugeben, das Ausländer und Juden beherbergte.
In Russland gründeten die Bolschewiki 1920 durch das Narkompros (Volkskommissariat für Bildungswesen) die Wchutemas. Ihr Kommissar, Anatoli Lunatscharski, unterstützte die künstlerische Avantgarde. Der ehemalige Bolschewiki, Alexander Bogdanow, vertrat die Auffassung, dass es möglich sei, innerhalb der isolierten sowjetischen Festung eine neue proletarische Kultur (Proletkult) von Grund auf neu zu erschaffen. Dies lehnten Lenin und Trotzki jedoch ab. Die politische Macht und die Produktionsbeziehungen der Bourgeoisie müssten erst auf weltweiter Ebene zerschlagen werden, ehe ein umfassender Prozess in Richtung einer neuen klassenlose Kultur frühestens eingeleitet werden könnte. Aus dieser Perspektive müsse die Arbeiterklasse sich erst einmal die Errungenschaften der vorherigen Kulturen aneignen, statt einfach neue zu schaffen[4]. Die Wchutemas wurden 1930 geschlossen. Die stalinistische Konterrevolution umklammerte das kulturelle Leben und stellte es unter die Doktrin des sozialistischen Realismus. Welch Versuche und Fortschritte auch immer im erzieherischen Bereich im Rahmen des Kapitalismus gemacht wurden und werden, die herrschende Klasse ist verpflichtet (und dazu in der Lage), diese ihren imperialistischen, politischen und ökonomischen Zielen zu unterwerfen.
Die Ethik des Bauhauses setzte ein System der gesellschaftlichen Beziehungen voraus, das an dem Konsum und der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse orientiert ist. Der Kapitalismus muss zwar menschlichen Bedarf befriedigen, um Waren verkaufen zu können. Dieses Ziel ist jedoch einem viel mächtigerem Ziel unterworfen: Profit zu erzielen. Und wenn aufgrund des Mangels an zahlungskräftigen Käufern dieses Ziel nicht erreicht werden kann, interessieren die menschlichen Bedürfnisse niemanden mehr.
In ihrem Streben nach Profit versucht die kapitalistische Produktion, die Konsumption der Massen durch möglichst niedrige Löhne und möglichst günstige Produktion von Verbrauchsgütern niederzudrücken.
Deshalb ist es - neben der großen Ausnahme des Bauhaus-Stils – unmöglich, die Lücke zwischen Qualitätsproduktion für einen kleinen luxuriösen Markt und die billigen (und schlechten) Ersatzprodukte für den Massenmarkt zu schließen.
Außerdem verlangt das Streben nach Profit im kapitalistischen Produktionsprozess (selbst in den so genannten „kreativen Industrien“) nach einer strengen hierarchischen Trennung der Arbeit und dem bedingungslosen Gehorsam der Arbeiter. Statt, wie das Bauhaus anstrebte, den Handwerker mit dem Künstler gleich zu stellen, tendiert der Kapitalismus dazu, ihn weiter auf das Niveau eines Maschinenbedieners zu erniedrigen – wenn es ihn nicht gleich arbeitslos macht.
Nach Informationen der UN waren 2005 über 100 Millionen Menschen weltweit wohnungslos, eine Milliarde Menschen lebten in Slums. Ohne Zweifel haben diese Zahlen seither zugenommen. Der wunderschöne Traum des Bauhauses scheint vollkommen geplatzt zu sein.
Jedoch werden die Produktivkräfte der Gesellschaft, die die künstlerische Kultur einschließen, weiterhin gegen den Klammergriff der kapitalistischen Produktionsbeziehungen rebellieren. Sie werden weiterhin auf eine neue Gesellschaft verweisen und uns inspirieren. In diesem Sinne ist nicht das Bauhaus, sondern der Kapitalismus selbst gescheitert. Das Bauhaus wird weiterhin ein historischer Meilenstein des kulturellen Fortschritts bleiben.
Como 24/7/12
[2] siehe hierzu: https://www.educat.hu-berlin.de/schulen/sartre/material/schularb/bauhaus... [145].
[4] siehe hierzu den Artikel: „Der Kommunismus ist nicht nur eine schöne Idee, sondern eine Notwendigkeit“https://de.internationalism.org/kultur [147]
Dieses Jahr finden zum dritten Mal die Olympischen Spiele in London statt. Und jedes Mal spiegelt dieses Ereignis eine Etappe in der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft wider.
Olympiade 1908: Die Dominanz einer Weltmacht
Die Olympischen Spiele von 1908 waren ursprünglich in Rom geplant, doch der Ausbruch des Vesuv im April 1906 erforderte alle Ressourcen Italiens für den Wiederaufbau von Neapel. Als Weltmacht, die fast ein Viertel der Erdoberfläche und ein Fünftel der Weltbevölkerung beherrschte, verfügte Grossbritannien damals über die Kapazität, die Olympischen Spiele in letzter Minute unter ihre Fittiche zu nehmen.
In nur zehn Monaten war es möglich, die Finanzen bereitzustellen, einen Ort auszuwählen und ein kunstvolles Stadion zu bauen. Die Ausgaben betrugen ungefähr15.000 Pfund und die Einnahmen 21.377 Pfund. Die ersten Olympischen Spiele in London warfen also Profit ab und waren ein finanzieller Erfolg. The Times schrieb am 27. Juli 1908 dazu: “Die perfekte Harmonie, die sich alle wünschten, wurde überschattet von gewissen bedauerlichen Konflikten, Protesten und Anwürfen gegen Entscheidungen der Schiedsrichter. Weltweit dominierte in vielen Zeitungen ein Gefühl des Nationalismus und es zirkulierten gegenseitige öffentliche Anschuldigungen.“ Wenn man die Art der Konflikte betrachtet, die sich damals zwischen den verschiedenen Nationen entzündet hatten, ist das nicht verwunderlich. Seit dem spanisch-amerikanischen Krieg 1898, dem russisch-japanischen Krieg 1905 und allen anderen Spannungen, die schlussendlich in den Ersten Weltkrieg mündeten, war der Imperialismus zur dominanten Funktionsweise des Kapitalismus geworden.
1908 waren alle Schiedsrichter Briten; vor allem von Seiten der amerikanischen Olympia-Delegation gab es erhebliche Widerstände dagegen. Es begann mit der Weigerung, die US-amerikanische Fahne während der Eröffnungszeremonie vor dem englischen König zu senken, und hielt während der gesamten Spiele an. Beim Tauziehwettkampf beschwerten sich die Amerikaner über die zu schweren Stiefel der gegnerischen Mannschaft, die aus Liverpooler Polizisten bestand. Als ihre Beschwerde zurückgewiesen wurde, verließen die US-Sportler den Wettkampf. Dasselbe beim 400 Meter-Lauf, als die englischen Schiedsrichter die Wiederholung des Finales beschlossen, weil ein amerikanischer Läufer einen britischen Konkurrenten gestoßen habe. Die Amerikaner boykottierten daraufhin den Wettkampf. England gewann schlussendlich mehr Gold-, Silber- und Bronzemedaillen als alle anderen Länder. Gegen die Teams von 22 Ländern, die insgesamt 2000 Teilnehmer stellten, gewann Grossbritannien 145 Medaillen - fast die Hälfte! Ein bisher ungeschlagener Rekord in den modernen Olympischen Spielen. Wie es The Times vom 13. Juli 1908 vorhergesehen hatte:“Dieses Jahr kann man hoffen, dass wir den ausländischen Konkurrenten zeigen, dass wir nichts von unserer List verloren haben.“
Olympiade 1948: Die Spiele der Sparpolitik
In den 40 Jahren, die bis zu den Olympischen Spielen von 1948 in London vergingen, erlebte der britische Imperialismus empfindliche Veränderungen. Die mit Grossbritannien verbündeten imperialistischen Mächte, Russland und die USA, waren die großen Sieger des Zweiten Weltkriegs. Die USA waren ab diesem Zeitpunkt die klar dominierende Macht im Westen, erst weit dahinter folgte Grossbritannien.
Grossbritannien zögerte zunächst bei dem Gedanken, die Olympischen Spiele von 1948 abzuhalten. Angesichts einer ausgelaugten Wirtschaft, von Rationalisierungen (Lebensmittel, Treibstoff und Kleider), die noch härter waren als während des Krieges, einer hohen Arbeitslosenrate, vieler Obdachlose und Streiks der Arbeiter hoffte Großbritannien verzweifelt auf die amerikanischen Gelder, die es im Rahmen des Marshall-Plans erhalten sollte. Es herrschte Verunsicherung über allfällige soziale Auswirkungen der Olympischen Spiele.
Ein Monat vor Beginn der Spiele brach ein „unbewilligter“ Streik der Hafenarbeiter in London aus, der dazu führte, dass Truppen in den Hafen geschickt wurden. Zum ersten Mal griff die Regierung auf die Mittel des „Notstandsrechts“ von 1920 zurück, um einen Streik zu unterdrücken. Es sah nicht danach aus, als würden sich die Arbeiter nur einmal gegen das Regime der Sparmaßnahmen der Nachkriegszeit wehren.
Zur Vorbereitung der Spiele blieben lediglich zwei Jahre Zeit. Es wurde nichts wirklich Neues dafür gebaut, und für Projekte wie den Bau der Straße zum Wembley-Stadion wurde vor allem die Arbeitskraft deutscher und anderer Kriegsgefangener eingesetzt. Nicht zufällig gingen die Olympischen Spiele von 1948 als die Spiele der Sparmaßnahmen in die Geschichte ein. Teilnehmer aus anderen Ländern wurden aufgefordert, ihre Verpflegung selbst mitzubringen; man erlaubte eine Erhöhung der Nahrungsmittelrationen der Athleten auf das Niveau von Minenarbeitern. Die männlichen Sportler wurden in den Kasernen der Royal Air Force untergebracht, die Frauen in den Universitäten Londons. Die britischen Sportler mussten ihr Equipment selbst kaufen oder sogar herstellen.
Mit 4000 Teilnehmern aus 59 Ländern kosteten die Spiele von 1948 732.268 Pfund, die Einnahmen beliefen sich auf 761.688 Pfund. Somit wurde ein geringer Profit erwirtschaftet, doch das britische Königreich errang nur zwölf Medaillen und die ganze Welt ahnte schon vor den Spielen, dass die USA allen anderen überlegen sein würden.
Olympiade 2012: Schulden und Repression
Auch wenn einige Länder behaupten, eine ausgeglichene Bilanz oder gar einen Überschuss erzielt zu haben (siehe die zweifelhaften Erklärungen von Peking 2008), waren in der letzten Zeit die Olympischen Spiele für die durchführenden Länder ein finanzielles Desaster. Die Schulden der Spiele von Montreal waren dermaßen groß, dass sie noch nach 30 Jahren nicht getilgt sind. Das Budget für die Spiele in Athen 2004 betrug 1,6 Milliarden Dollar; die öffentlichen Ausgaben wurden schlussendlich auf ungefähr 16 Milliarden Dollar geschätzt. Die meisten Austragungsplätze wurden danach wieder geschlossen oder werden kaum genutzt, und allein der Aufwand für die Ordnungs- und Sicherheitsmaßnahmen ging in die Millionen. Klar ist, die Olympischen Spiele beschleunigten die Krise der griechischen Wirtschaft.
Für die Spiele 2012 in London wurde erst ein Budget von ca. 2,37 Milliarden Pfund aufgestellt, doch in den sieben Jahren seit der Entscheidung über den Standort haben sich die Kosten erst um das Vierfache, dann um das Zehnfache gesteigert. Es handelt sich hier nicht einfach um den Fehler der Organisatoren, nicht alles zur Beschränkung der Kosten getan zu haben! Die Preise für Eintritt, Verpflegung, Getränke und alles, was an den Spielen konsumiert wird, sind meist skandalös hoch, selbst in einer Metropole wie London, die für ihre hohen Preise bekannt ist. Die Beiträge der offiziellen Sponsoren sind stark zurückgegangen. Es gibt strikte Regeln bezüglich der „Hintergrundwerbung", das heißt, für die gesamte Ausstattung (inklusive der Marken der privaten Kleider) oder Firmenlogos, die nicht zu den offiziellen Sponsoren der Spiele gehören.
Vor allem aber brilliert London 2012 als Champion der Repression. Auf dem Höhepunkt der Spiele befinden sich 12.000 Polizisten im Einsatz. Es stehen 13.500 Soldaten zur Verfügung, mehr als in Afghanistan, wo 9.500 britische Soldaten stationiert sind. Es werden 13.300 private Sicherheitsleute aufgeboten, die gemeinsame Übungen mit dem Militär durchführten. Ein Sprecher der Sicherheitsfirma sagte: „Teil der Ausbildung war der 'Austausch' zwischen den beiden Gruppen, damit die Besucher von privaten und militärischen Ordnungskräften gleich behandelt werden.“ (Financial Times 24. Mai).
Als würde dies nicht genügen, wurde eine breite öffentliche Kampagne über die Installation eines schlagkräftigen Arsenals von Boden-Luft-Raketen in der Nähe des Olympischen Dorfs lanciert. Offenbar ist es dazu bestimmt, Flugzeuge über ein dichtbesiedeltes Gebiet abzuschießen.
In Zusammenarbeit mit dem britischen Staat scheinen die Organisatoren der Spiele an alles zu denken. Als gäbe es nichts Wichtigeres zu tun, hat der Innenminister angeordnet, alle 380.000 Sportler, Funktionäre und Medienleute, die irgendwie mit den Spielen in Berührung kommen, einem Sicherheitscheck zu unterziehen. Es gibt auf den Straßen „Sonderspuren für die Spiele“ die für die offiziellen Fahrzeuge reserviert sind. Wenn man irrtümlich auf eine dieser Fahrbahnen gerät und erwischt wird, kostet das 135 Pfund Buße (170 Euros). Beim Betreten des Geländes wird man untersucht; nicht einmal Trinkwasser darf man bei sich haben. Es ist illegal, auf Twitter oder Facebook Bilder von den Spielen zu veröffentlichen.
Mehr als 200 Nationen nehmen an diesen Spielen teil, und die Organisatoren tun alles, um das nötige Material für die bekannte nationalistische Orgie bereitzustellen. Es bieten sich auch wunderbare Werbegelegenheiten für Coca Cola, McDonalds, Panasonic, Samsung, Visa, General Electric, Procter & Gamble, BMW, EDF, UPS und den Rest der ganzen Bande.
So sieht also das neue Gesicht der modernen Olympischen Spiele aus: Nationalismus und Werbung. Während der Vorbereitungszeit für London 2012 hat der Stadtrat von Newham, dem Quartier, in dem das Olympiastadion steht, versucht, 500 Familien ins 150 Meilen entfernte Stoke-on-Trent „umzusiedeln“. Mieter wurden herausgeschmissen, um die Wohnungen zu massiv überhöhten Preise zu verkaufen. Die Olympischen Spiele sollen angeblich ein Fest für die Jugend sein. Newham hat im Schnitt die jüngste Bevölkerung von Großbritannien und Wales, mit dem größten Anteil von Kindern unter einem Jahr. Es hat aber auch die größte durchschnittliche Haushaltsgröße, die höchste Rate an Sozialhilfeempfängern in London sowie hohe Raten an Krankheiten und vorzeitigem Tod. Für die Kinder, die im Schatten dieses olympischen Jahres leben, ist klar: Ihre Zukunft wird nicht besser durch das Spektakel des Krieges um Medaillen.
Car 5. Juni 2012
Aus Worldrevolution, Zeitung der IKS in Grossbritannien
aus International Review 25 (englische, spanische und französische Ausgabe)
Als die GCF (Gauche Communiste de France) sich entschied, Anton Pannekoeks “Lenin als Philosoph” zu übersetzen und zu veröffentlichen, war nicht nur sein Pseudonym, sondern auch Pannekoek selbst in Frankreich nahezu unbekannt. Doch dies war keinesfalls ein rein französisches Phänomen. Zwar war Frankreich noch nie durch seinen Eifer aufgefallen, Texte der marxistischen Arbeiterbewegung zu veröffentlichen, doch galt dies zu jener Zeit für jedes Land auch und diese „Vergesslichkeit“ ist nicht allein auf Pannekoek beschränkt. Angefangen mit Rosa Luxemburg, war die gesamte kommunistische Linke, ihr gesamtes theoretisches und politisches Wirken, all die leidenschaftlichen Kämpfe einer Strömung, die mitten in den revolutionären Kämpfen in Folge des ersten Weltkriegs geboren wurde, „vergessen“ worden. Es ist kaum zu glauben, dass nur zehn Jahre der stalinistischen Konterrevolution ausreichten, um diese so reichen und fruchtbaren Lehren der revolutionären Bewegung aus den Erinnerungen einer ganzen Generation, die diese durchlebt haben, zu löschen. Als ob eine Amnesie-Epidemie plötzlich über Millionen von Arbeitern, die aktiv an den Ereignissen teilgenommen haben, hereingebrochen wäre und diese vollkommen uninteressiert an allem, was mit revolutionärem Denken zu tun haben könnte, zurückgelassen hätte. Nur wenige Zeugnisse einer revolutionären Welle, die die Welt durchschüttelt hatten, waren in Form sehr kleiner, über die Welt verstreuter und voneinander isolierter Gruppen übrig geblieben. Letztere waren kaum in der Lage, den theoretischen Denkprozess fortzusetzen; eine Ausnahme bildeten kleine Ausgaben mit geringfügiger Verbreitung, die oftmals noch nicht einmal gedruckt werden konnten.
Es ist kein Wunder, dass Pannekoeks Buch „Lenin als Philosoph“, das 1938 am Vorabend des Krieges auf Deutsch erschien, kein Echo hervorrief und auch im stark eingeschränkten revolutionären Milieu auf keinerlei Resonanz stieß. Es war das unbestrittene Verdienst von Internationalisme (der Publikation der GCF), die, nachdem sich die Stürme des Zweiten Weltkrieges gelegt hatten, als erste den Text übersetzten und in den Ausgaben Nr. 18 – 29 (Februar – Dezember 1947) in Folge veröffentlichten. Internationalisme begrüßte Harpers Buch als „einen erstklassigen Beitrag zur revolutionären Bewegung und zur Emanzipation des Proletariats“. Weiterhin schrieb Internationalisme in ihrer Einleitung (Nr. 18, Februar 1947): „In einem einfachen, klaren Stil geschrieben, ist es eines der besten theoretischen Schriften der vergangenen Jahrzehnte. Ohne jede einzelne Schlussfolgerung zu teilen, kann niemand den enormen Wert dieser Arbeit leugnen“.
In derselben Einleitung drückte Internationalisme ihr Hauptanliegen aus:
„Die Degeneration der kommunistischen Internationale verursachte im revolutionären Milieu einen beunruhigenden Einbruch im Interesse an theoretischer und wissenschaftlicher Untersuchungsarbeit. Jenseits von Bilan, dem Magazin der Italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken und den Schriften der Rätekommunisten, einschließlich Harpers Buchs unternahm die europäische Arbeiterbewegung quasi keine theoretischen Anstrengungen. Für uns ist nichts schädlicher für die proletarische Bewegung als die theoretische Trägheit ihrer Militanten.“
Welch hohe Aufmerksamkeit sie Pannekoeks Buch zollte, beweist ihre vollständige Veröffentlichung. Doch darüber hinaus beteiligte sich Internationalisme mit einer Folge von Diskussionen und Kritiken (Nr. 30 – 33, Januar – April 1948) an der theoretischen Vertiefung. Internationalisme teilte vollständig Pannekoeks These, dass Lenin in seiner Polemik gegen die idealistischen Tendenzen des Neo-Machismus (Bogdanow usw.) auf Argumente des bürgerlichen Materialismus (ein mechanistischer und positivistischer Standpunkt) zurückfiel. Doch gleichzeitig wies Internationalisme die politischen Schlussfolgerungen Pannekoeks, die bolschewistische Partei sei eine nicht-proletarische Partei, eine Partei der Intelligentsia und die Oktoberrevolution eine bürgerliche Revolution gewesen, entschieden zurück.
Dieses Argument ist die Grundlage für die rätistische Analyse der bolschewistischen Partei und der Oktoberrevolution. Es unterscheidet die rätistische Strömung von der Italienischen Linken wie auch von der frühen KAPD. Der Rätismus ist das Ergebnis des Rückfalls hinter der (reiferen) Deutschen Linken, deren Erbe er beanspruchte. Ähnliche Analysen mit geringen Variationen finden sich bei Socialisme ou Barbarie oder Socialisme du Conseils, bei Chaulieu (Castoriadis), Mattick, Rubel und Korsch. Allen ist gemeinsam, dass sie die Oktoberrevolution auf ein strikt russisches Phänomen reduzieren und ihre internationale und historische Bedeutung vollkommen außer Acht lassen.
Ist dieser Punkt einmal erreicht, bleibt diesen Elementen nur noch übrig, das zurückgebliebene Niveau der industriellen Entwicklung festzustellen und daraus zu folgern, dass die objektiven Bedingungen für eine proletarische Revolution fehlten. Der Verlust des globalen Blicks auf die kapitalistische Entwicklung führt den Rätismus – über einige Umwege - zu den Positionen der Menschewiki: die Unreife der objektiven Bedingungen in Russland und dem daraus folgenden bürgerlichen Charakter der Revolution.
Dies alles deutet daraufhin, dass Pannekoeks Arbeit nicht von dem Bedürfnis getragen war, Lenins philosophischen Fehler zu beheben, sondern vom tiefen politischen Willen, die bolschewistische Partei zu bekämpfen, die er a priori – quasi von Natur aus – als eine Partei betrachtet, die von einem „halb bürgerlich-halb proletarischen Charakter des Bolschewismus und der russischen Revolution an sich“ (Einleitung von Paul Mattick zur franz. Ausgabe bei edition Spartacus, 1978) gekennzeichnet worden sei. „Um zu zeigen, was der Leninsche ‚Marxismus‘ wirklich bedeutete, unternahm Pannekoek eine kritische Prüfung seiner philosophischen Grundlagen, die unter dem Titel ‚Lenin als Philosoph‘ 1938 veröffentlicht wurde.“ (ebenda, S. 54, in: „Marxistischer Antileninismus“)
Der Wert solcher Unternehmungen muss hinterfragt werden und hier sind Pannekoeks Beweise kaum überzeugend. Der Charakter eines historischen Ereignisses von solcher Bedeutung wie die Oktoberrevolution oder die Rolle der bolschewistischen Partei aus einer philosophischen Polemik – wie wichtig auch immer – herzuleiten ist weit hergeholt. Weder die philosophischen Fehler Lenins 1908 noch der endgültige Triumph der stalinistischen Konterrevolution stellen einen Beweis dafür dar, dass die Oktoberrevolution nicht durch das Proletariat, sondern von einer dritten Klasse (der Intelligentsia) gemacht wurde. Dadurch, dass willkürlich falsche politische Schlüsse auf theoretisch richtige Annahmen gepfropft werden, dass ein kruder Zusammenhang zwischen Ursachen und Wirkungen hergestellt wird, gerät Pannekoek selbst in den Sog einer un-marxistischen Methode, die er völlig zu Recht an Lenin kritisiert.
Mit dem wiederauflebenden Klassenkampf nach 1968 nimmt das Proletariat den Faden wieder auf, der von der seit nahezu einem halben Jahrhundert triumphierenden Konterrevolution zerrissen worden war, und eignet sich die Arbeit der Linken wieder an, die den Schiffbruch der Kommunistischen Internationalen überlebt hatten. Heute tauchen die lang ignorierten Schriften und Debatten der Linken wieder auf und finden immer mehr Leser. Wie viele andere Schriften wurde auch Pannekoeks „Lenin als Philosoph“ wieder aufgelegt und kann von Tausenden von proletarischen Militanten gelesen werden. Doch wenn diese theoretisch-politischen Werke uns bei der Entwicklung der revolutionären Gedanken und Aktivitäten wirklich unterstützen sollen, dann müssen sie kritisch studiert werden. Dieser kritische Geist unterscheidet uns deutlich von der akademischen Mentalität, die, nachdem sie den einen oder anderen Autoren für sich entdeckt hat, diesen sofort zum neuen Idol macht und alles in Schutz nimmt, was dieser je geschrieben hat.
Gegen den Neo-Anti-Bolschewismus, der heute unter einigen Gruppen und in einigen Publikationen – wie PIC (Pour une Intervention Communiste) und Spartacus (mittlerweile aufgelöst) in Mode ist und meist damit endet, die gesamte sozialistische und kommunistische Bewegung, einschließlich der Oktoberrevolution, aus der Geschichte des Proletariats zu tilgen, können wir nur wiederholen, was Internationalisme in der Einleitung zu Pannekoeks Buch schrieb:
“Diese Entstellung des Marxismus verdanken wir den so eifrig wie ignorant auftretenden ‚Marxisten‘. Diese haben ihre Entsprechung in den kaum weniger ignorant auftretenden Anti-Marxisten. Der Anti-Marxismus ist zum Kennzeichen von deklassierten, entwurzelten, verbitterten, kleinbürgerlichen Halbintellektuellen geworden. Gleichermaßen abgestoßen vom monströsen russischen System, das aus der Oktoberrevolution hervorgekommen ist, wie auch von der harten und undankbaren wissenschaftlichen Untersuchungsarbeit, laufen diese Leute heute in Sack und Asche durch die Welt, in einem ‚Kreuzzug‘ auf der Suche nach neuen Ideen, doch nicht um sie zu verstehen, sondern um sie anzubeten.“
Was gestern richtig für den Marxismus war, ist heute richtig für den Bolschewismus und die Oktoberrevolution.
MC 1981
Seit April zieht ein Sturm über Japan, vergleichbar mit dem « Arabischen Frühling » der die Mobilisierungen der „Empörten“ in der ganzen Welt auslöste (Spanien, Griechenland, USA, Kanada). Und wie bei vielen dieser Mobilisierungen sehen wir auch in Japan wieder eine Politik des black-outs, des Verschweigens, durch die herrschende Klasse und ihre mächtigen Medien. Selbst in Japan existiert ausserhalb der Orte an denen sich die Unzufriedenheit direkt ausdrückt ein Vertuschen wie in den westlichen demokratischen Medien. Ein Beispiel: Eine Demonstration von mehr als 60`000 Leuten in Tokyo wurde gegenüber der Öffentlichkeit komplett unter dem Deckel des Schweigens gehalten. Nach den Worten des japanischen sog. „unabhängigen“ Journalisten M. Uesugi «ist in Japan die Kontrolle der Medien stärker als in China oder Ägypten»[1]
Die Demonstrationen an denen im April 2012 nur einige hundert Leute teilgenommen hatten wuchsen schnell auf tausende von Menschen an und wurden zu einer intensiven Welle der Empörung. Anfang Juli entstanden die Proteste in verschiedenen Landesteilen (Region Tohoku im Nordosten, Kyushu-Insel im Süden, Shikoku im Südosten, Hokkaido im Norden, Honshu im westlichen Zentrum Japans) und die Protestierenden begannen in der Nähe des Yoyogi-Parks in Tokio die Strassen zu besetzen. Eine riesige Demonstration mit 170`000 Leuten fand statt. Seit den 1970er Jahren gab es in Japan nie mehr eine solch grosse Demonstration gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen. Die letzte, aber viel kleinere Demonstration, richtete sich 2003 gegen den Krieg im Irak.
Die Gründe dieser Unzufriedenheit sind mit dem Trauma von Fukushima verbunden, mit der Empörung über die Lügen der japanischen herrschenden Klasse und deren Fortführung der nuklearen Kamikaze-Politik. Der aktuellste nationale Plan sieht den Bau von 14 neuen Atomreaktoren bis 2030 vor! Nach der Katastrophe von Fukushima ist der Regierung nichts Besseres zur „Besänftigung“ und zur Vorbereitung ihres Nuklearplans in den Sinn gekommen, als der Bevölkerung zu sagen: „Ihr werdet nicht unmittelbar betroffen sein. (…) Es ist nicht so schlimm, es ist wie in ein Flugzeug zu steigen oder der Sonnenstrahlung ausgesetzt zu sein“. Was für ein Zynismus ! Es ist daher nicht verwunderlich, wenn die Bevölkerung aufgebracht das „Abschalten der Atomkraftwerke“ fordert, allen voran den Reaktor von Hamaoka der 120 Kilometer von Nagoya entfernt in einer höchst erdbebengefährdeten Zone liegt.
Das Ausmass der Proteste hat selbst die Initiatoren überrascht. Die Aufrufe verbreiteten sich dynamisch schnell via Internet und es gibt wie in anderen Ländern zuvor die treibende Kraft von Seiten der jungen Menschen, vor allem Studenten und Schüler. Für viele von ihnen sind dies die ersten Demonstrationen in ihrem Leben. Einige der fast wöchentlich stattfindenden Proteste wurden von den Mittelschülern in Nagoya über soziale Netzwerke und anscheinend von Anti-Atom Gruppen organisiert[2]. Es erscheinen immer mehr kritische Stimmen auf dem Internet, Videos werden veröffentlicht und neue Standorte welche die Empörung ausdrücken tauchen auf. Durch Beiträge wie auf einem Blog eines pensionierten Arbeiters aus dem Reaktor von Hamaoka der die angebliche „Sicherheit“ der Atomkraftwerke denunziert befruchtet sich das Nachdenken. Ein Student aus Sendai im Nordosten Japans, Mayumi Ishida, wünscht sich „eine soziale Bewegung mit Streiks“[3]. Diese Bewegung drückt die angestaute tiefe Frustration über die sozialen Verhältnisse aufgrund der Krise und der brutalen Sparpolitik aus. Die Proteste in Japan reihen sich ein in die anderen internationalen Ausdrücke der Bewegung der „Empörten“.
Obwohl wir nicht über genauere Informationen verfügen ist eines klar: Leute legen ihr Zögern ab und melden sich politisch zu Wort.
Doch wie auch anderswo hat diese Bewegung ihre grossen Schwächen, so vor allem Illusionen in die bürgerliche Demokratie und nationalistisch gefärbte Vorurteile. Die Empörung bleibt Grossteils in den Schranken der Kontrolle der Gewerkschaften und offiziellen Anti-Atom Organisationen gefangen. Lokale bürgerliche Politiker treten grossmäulig mit Demagogie und Lügen auf und versuchen die Unzufriedenheit zu ihren eigenen Gunsten zu verwerten. Sie reissen sterile Aktionen an die sich nur auf ganz bestimmte Nuklearprojekte begrenzen oder sich isoliert gegen die Person des „Kernschmelzers“ Premierminister Naoto Kan einschiessen.
Doch trotz all dieser Schwächen ist die Bewegung in Japan ein wichtiges Symbol. Sie zeigt nicht nur, dass ihre noch vorhandene Isolierung von anderen Teilen der Lohnabhängigen Menschen auf der Welt (bedingt durch geografische, historische und kulturelle Faktoren) sich aufzuheben beginnt[4], sondern auch, dass sich die ganze widerliche Propaganda der bürgerlichen Medien über die angebliche „Hörigkeit“ der Arbeiter und Arbeiterinnen in Japan nur auf Vorurteile abstützt die dazu da sind die internationale Solidarität der Lohnabhängen zu verhindern.
Langsam aber sicher beginnen die Arbeiterinnen und Arbeiter ihre soziale Kraft zu entdecken die sie potentiell für die Zukunft haben. Sie entdecken immer mehr, dass die Strasse ein politischer Ort ist an dem wir einen solidarischen Kampf führen müssen. So ist es in Japan und weltweit möglich wieder die revolutionäre internationale Kraft zu finden um den Kapitalismus zu überwinden und eine Gesellschaft aufzubauen die nicht auf Ausbeutung und Barbarei basiert. Zweifellos ein noch langer, ein sehr langer Weg, doch wohl der einzige der in die Freiheit führt.
W.H. 21. Juli 2012
Laut Olivier Blanchard, dem Chefökonomen des Internationalen Währungsfonds, befindet sich die Eurozone –und damit die Weltwirtschaft – an einem sehr gefährlichen Punkt. Im April warnte Blanchard, dass, wenn Griechenland aus dem Euro tritt, „es möglich ist, dass andere Volkswirtschaften aus der Euro-Zone unter schwerem Druck geraten, einschließlich einer ausgewachsenen Panik auf den Finanzmärkten. Unter diesen Laut Olivier Blanchard, dem Chefökonomen des Internationalen Währungsfonds, befindet sich die Eurozone –und damit die Weltwirtschaft – an einem sehr gefährlichen Punkt. Im April warnte Blanchard, dass, wenn Griechenland aus dem Euro tritt, „es möglich ist, dass andere Volkswirtschaften aus der Euro-Zone unter schwerem Druck geraten, einschließlich einer ausgewachsenen Panik auf den Finanzmärkten. Unter diesen Umständen kann ein Auseinanderbrechen der Euro-Zone nicht mehr ausgeschlossen werden. Dies könnte einen schweren politischen Schock verursachen, der den ökonomischen Stress in einem Umfang verschlimmern könnte, der weit über den Lehmann-Kollaps hinausreicht.“ Solch ein Schock könnte in der Tat „eine schwere Rezession auslösen, die Anklänge an die 1930er Jahre enthält.“[1]
Daher war die EU, wie von einer Reihe von Expertenkreisen vorhergesagt, gezwungen gewesen, ein neues Rettungspaket zu schnüren und Schritte in Richtung einer größeren Zentralisierung der Union zu unternehmen. „EU-Führer stimmen darin überein, den geplanten Rettungsfonds der Euro-Zone zur direkten Unterstützung von ums Überleben kämpfender Banken einzusetzen, ohne die Staatsschulden zu erhöhen. Nach 13-stündigen Gesprächen kamen sie auch darin überein, eine gemeinsame Bankenaufsichtsbehörde aufzustellen. Spanien und Italien übten Druck auf Deutschland aus, um dem Rettungsfonds zu gestatten, Staatsschulden auf den Märkten aufzukaufen – eine Maßnahme, um die Zinslasten einzudämmen.“[2]
Obwohl Deutschland kämpfenden Ländern wie Italien und Spanien politische Konzessionen zugestehen musste, steht es an vorderster Front bei den Schritten hin zu einer größeren Zentralisierung der EU. So teilte Merkel dem deutschen Parlament mit, dass, wenn Länder die Garantierung ihrer Schulden durch die zentrale Vergabe von Eurobonds anstreben, dies mit einer größeren zentralen Kontrolle einhergehen müsse. „Eine gemeinsame Haftung kann nur geschehen, wenn ausreichende Kontrollen in Kraft sind.“Dieser Schritt in Richtung einer Zentralisierung war bereits mit dem Beschluss, eine gemeinsame Bankenaufsicht zu installieren, Bestandteil des neuen Abkommens, doch stehen weit ambitioniertere Pläne auf dem Prüfstand:
„Europäische Behörden haben auch Vorschläge wie die Schaffung eines europäischen Schatzamtes dargelegt, das Macht über die nationalen Haushalte ausüben würde. Der 10-Jahres-Plan (2) soll die Euro-Zone stärken und künftig Krisen verhindern, doch Kritiker sagen, dass er den aktuellen Schuldenproblemen nicht gerecht wird.“ Merkel hat ebenfalls vorgeschlagen, dass in Zukunft der Präsident des Europäischen Rates zentral gewählt werden sollte. Zusammengefasst, wenn Deutschland in letzter Instanz als Kreditgeber der gesamten Euro-Zone agieren soll, müssten die Länder der Euro-Zone eine größere Rolle des deutschen Imperialismus akzeptieren.
Kein Ausweg für die EU oder das Kapital
Hier wird die ganze Zerbrechlichkeit des Euro und des EU-Projektes deutlich. Angesichts der Wirtschaftskrise gibt es wachsende Tendenzen unter den Staaten, verstärkt auf ihre eigenen Interessen zu schauen, was eine Auflösung der Union beschleunigt. Deutschland versucht, die unmittelbaren Folgen der Krise unter Kontrolle zu halten, doch seine Forderungen nach einer größeren Vormachtstellung verschärfen die nationalen Rivalitäten, was seinerseits die Stabilität der Union beeinträchtigt. Vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte der letzten hundert Jahre sind die anderen europäischen Hauptmächte, insbesondere Frankreich und Großbritannien, nicht bereit, ein von Deutschland dominiertes Europa zu akzeptieren.
Doch auch auf der ökonomischen Ebene bewirken die von der Bourgeoisie beschlossenen Maßnahmen nicht mehr, als den Rutsch in die Katastrophe zu verlangsamen. Wie wir in diesem Artikel bereits argumentiert hatten[3], hat die globale Überproduktionskrise die herrschende Klasse in ein unlösbares Dilemma gestürzt: Den Weg des Wachstums zu beschreiten bedeutet die Anhäufung weiterer Schulden, und dies erhöht den Druck durch Inflation und Bankrott. Eine rigide Sparpolitik (und/oder Protektionismus) dagegen verschärft die Krise, indem sie die Kaufkraft einschränkt und so die Märkte noch weiter schrumpfen lässt.
Der Bourgeoisie dämmert allmählich die Brisanz der Situation. Sie macht sich keine Sorgen mehr über eine „doppelte Rezession“ (double-dip recession), sondern spricht immer offener über eine Depression vom Typ der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre. Nun liest man, wie „Italiens oder Spaniens Pleite Europa in eine beispiellose Wirtschaftskatastrophe stürzen könnte“; es wird befürchtet, dass eine Intervention zu spät erfolgt, weil „die politischen Führer erst eine Minute vor Mitternacht, wenn Europa in einen entsetzlichen ökonomischen Abgrund starrt, sich gezwungen sehen zu handeln.“ (4)
Tatsächlich ist die Depression bereits da, und die Lage ist schlimmer, als sie es in den 1930er Jahren war. In den 30ern gab es einen Ausweg aus der Krise: der Einsatz staatskapitalistischer Maßnahmen – ob im Gewand des Faschismus, des Stalinismus oder des New Deal -, die eine gewisse Kontrolle über die Wirtschaft erbrachten. Heute ist die Krise gerade eine Krise des Staatskapitalismus: Alle Versuche seitens der herrschenden Klasse, das System durch den Staat (insbesondere die staatliche Politik des Schuldenmachens) zu manipulieren, sind vor ihren Augen zerborsten.
Vor allem aber war in den 30er Jahren der Weg zum Weltkrieg offen, weil die Arbeiterklasse sich nach dem Scheitern der revolutionären Anläufe nach 1917 in einer Position der Niederlage befand. Der Drang zum Krieg ermöglichte eine Absorbierung der Arbeitslosigkeit durch die Schaffung einer Kriegswirtschaft; und der Krieg selbst machte eine Reorganisierung der Weltwirtschaft und den Start des Booms möglich, der bis zu den 1970er Jahren anhielt.
Diese Option steht heute nicht mehr zu Verfügung; nach dem Kollaps des alten Blocksystems ist die imperialistische Weltordnung zunehmend multipolar geworden. Die amerikanische Herrschaft ist immer schwächer geworden. Die Opposition gegen die deutsche Kontrolle über Europa macht deutlich, dass Europa niemals in der Lage sein wird, sich selbst zu einem militärischen Block zu vereinen. Auch den anderen aufsteigenden oder wiedergenesenden Mächten wie China und Russland mangelt es an der Fähigkeit, eine stabile internationale Allianz um sich herum aufzubauen. Kurz, die Bündnisse, die notwendig sind, um einen Weltkrieg auszutragen, gibt es nicht. Und wenn es sie gäbe, so würde die Zerstörung, die ein dritter Weltkrieg anrichten würde, einen weiteren „Nachkriegsboom“ unmöglich machen.
Vor allem aber befindet sich die Arbeiterklasse in den wichtigsten kapitalistischen Ländern nicht in derselben Lage der Niederlage wie in den 1930er Jahren. Denn trotz all ihrer Schwächen und Zaudereien zeigt sie einen wachsenden Unwillen gegenüber den Argumenten der Reichen und Mächtigen, die uns erzählen, dass wir unseren Lebensstandard „zum Wohle Aller“ opfern. In den letzten paar Jahren haben wir Massenstreiks in Bangladesch und Ägypten gesehen, soziale Revolten im gesamten Nahen Osten, in Europa und in den USA, Proteste gegen angestrebte Rentenkürzungen in Frankreich und im Vereinten Königreich, Studentenrebellionen gegen wachsende Bildungskosten in Großbritannien, Italien, Kanada…
Doch diese Kämpfe stehen noch weit unter dem, was die objektive Situation mit den Angriffen gegen die ausgebeutete Klasse erfordert. In Griechenland sehen wir, wie der Lebensstandard der ArbeiterInnen auf die brutalste Weise gesenkt wird: massive Reduzierung von Arbeitsplätzen, Löhnen, Renten und anderen Leistungen, die drastisch gekürzt wurden, mit der Folge, dass zahllose Familien, die einst einen bescheidenen Lebensstandard erwarten konnten, nun von Lebensmittelspenden abhängig sind, wenn sie nicht schon auf den Straßen hausieren. In Griechenland sind die Brot- und Arbeitslosenschlangen, die für die 1930er Jahre sinnbildlich waren, erneut brutale Realität geworden und werfen ihren Schatten auf Spanien, Portugal und all die anderen Länder, die als erste vom Zusammenbruch des Kartenhauses des Kapitalismus getroffen sind.
Angesichts derartiger Angriffe verhalten sich die eingeschüchterten ArbeiterInnen oftmals zögerlich. Sie haben es auch mit einem ideologischen Trommelfeuer zu tun, das auf sie einwirkt – von der einen Seite heißt es, wählt links und verstaatlicht die Banken, von der anderen, wählt recht und schiebt alle Schuld in die Schuhe der Immigranten. Es gibt Gewerkschaften, die ihre eigenen Waffen stumpf machen, wie die Abfolge von eintägigen Generalstreiks in Griechenland, Spanien und Portugal sowie die endlosen „Aktionstage“ im öffentlichen Dienst in Großbritannien gezeigt hat.
All diese Ideologien versuchen die Hoffnung am Leben zu halten, dass auch nur irgendetwas innerhalb des gegenwärtigen Systems geschützt werden kann. Die Krise des Systems, die nun sämtliche Strukturen durchschüttelt, die geschaffen wurden, um eben die Krise zu managen, macht auf überzeugende Weise klar, dass das System es eben nicht kann. 30.6.2012
Die dem Kapitalismus innewohnende Tendenz geht zum Krieg, zu immer größeren kriegerischen Auseinandersetzungen. Die jetzige Lage in Syrien macht deutlich: Ein Massaker folgt dem anderen, mit bislang mehr als 20.000 Toten, ganze Wohnviertel sind zerstört, Millionen Menschen auf der Flucht; viele leben in überfüllten, unsauberen Flüchtlingslagern in der Türkei oder in Zelten in der jordanischen Wüste, wo sie häufig Standstürmen ausgesetzt sind. Anstatt sich über alle Lager und Spaltungen hinweg zusammenzuschließen, ziehen sich die ausgebeuteten und unterdrückten Massen nun auf dieselben zurück. Die Spaltungen zwischen Alawiten, Christen, Drusen, Kurden, Sunniten verschärfen sich noch; jeder fürchtet Opfer des nächsten Massakers durch welche Seite auch immer zu werden. Einige unterstützen die “Freie syrische Armee” (FSA), andere stellen sich auf die Seite der Regierung und fürchten sich vor den Konsequenzen. Der kapitalistische Terror herrscht überall und kann an jedem Ort im Land und gar über die Landesgrenzen hinweg zuschlagen. Was vor 17 Monaten als eine reale Volkserhebung anfing, in der sich alle religiösen Gruppen geschlechts- und altersübergreifend zusammenfanden, um gegen Arbeitslosigkeit und Repression zu protestieren, ist mittlerweile eingeebnet, auf absehbare Zeit erwürgt worden durch den imperialistischen Krieg, der sich mittlerweile auf die ganze Region auszudehnen droht. Bei dieser Entwicklung von einer „Revolution“ zu sprechen, wie es einige Vertreter der extremen Linken tun, ist geradezu obszön. In Wirklichkeit prallen alle beteiligten Kräfte auf imperialistischer Ebene aufeinander. Auf der einen Seite steht der einstige Verbündete des Westens – das brutale Killerregime des Bashir al-Assad -, das Unterstützung von Russland, China und dem Iran erhält, auf der anderen Seite stehen Staaten aus der Region wie die Türkei, Qatar, Saudi-Arabien – mit den USA, Frankreich und Großbritannien an ihrer Seite. Auch wenn dieses imperialistische Gemetzel in den Augen Mancher wie ein Stellvertreterkrieg aus der Zeit des Kalten Kriegs anmuten mag, bei dem die USA beispielsweise die Türkei als ihren Handlanger benutzen, ist dieser Konflikt in Wirklichkeit viel unberechenbarer und gefährlicher. Steht doch in der Region viel mehr auf dem Spiel in Anbetracht des militärischen Aufmarsches gegen den Iran, der gegenwärtig von den westlichen Mächten an die Wand gedrängt wird, und des unberechenbaren Verhaltens Israels.
Öl spielt eine wichtige Rolle in diesem Konflikt, und dennoch ist dieser Aspekt zweitrangig. Den USA und Großbritannien geht es vor allem um den strategischen Wert Syriens aufgrund seiner geographischen und politischen Nähe zum eigentlichen Ziel dieses Krieges: dem Iran. In der Tat wurden die Grundlagen für die Implantierung amerikanischer und britischer Interessen in diesem Zusammenhang, d.h. die Basis des gegenwärtigen Krieges, 2005 in Washington unter der Bush-Administration zusammen mit der britischen Regierung gelegt (siehe dazu weiter unten). Dass die eigentliche Zielscheibe in diesem Krieg der Iran ist, wird zunehmend von einer Reihe internationaler Korrespondenten anerkannt. Robert Fisk äußerte dies im britischen Independent vom 29. Juli 2012 deutlicher als alle anderen. Mit Ironie betrachtet er die Position der herrschenden Klasse Großbritanniens: “... meistens vergessen wir die 'große' Wahrheit. Es handelt sich um einen Versuch, die syrische Diktatur zu zerschlagen, nicht weil wir die Syrier lieben oder unseren früheren Freund Bashir al-Assad hassen, oder weil wir über Russland empört sind, dessen Platz im Pantheon der Heucheleien ziemlich eindeutig ist, wenn man all seine Reaktionen auf die vielen kleinen Stalingrads in ganz Syrien berücksichtigt. Nein, es geht in Wirklichkeit um den Iran und unseren Wunsch, die Islamische Republik und deren teuflischen Nuklearpläne zu zerschlagen – wenn es sie gibt. Der Krieg hat nichts zu tun mit Menschenrechten oder dem Recht oder dem Leben syrischer Babys. Welch ein Horror!” Und Jonathan Steele schrieb am 5. August im Guardian: “Was als friedlicher Aufstand begann und in eine Selbstverteidigung vor Ort überging, ist unter qatarischer, saudischer und US-amerikanischer Führung und mit britischer, französischer und israelischer Zustimmung längst vereinnahmt und zu einem Stellvertreterkrieg gegen den Iran geworden.”
Während das Regime für die meisten Morde in Syrien verantwortlich ist, liegt die Hauptverantwortung für die Ausbreitung des Krieges bei den USA, Großbritannien und dem französischen Hahn, dem „Sozialisten“ Hollande, der genauso daherstolziert kommt wie sein Vorgänger Sarkozy. Frankreich überbietet nun seine „Verbündeten“ und ruft die bunt zusammengewürfelte und untereinander zerstrittene syrische Opposition dazu auf, eine Exilregierung zu bilden, die es dann anerkennen würde. Und was die vom Westen unterstützte “Freie Syrische Armee” (FSA) angeht, berichtete schon am 17. November 2011 BBC in seinen Abendnachrichten über Gräueltaten, die von dieser begangen wurden. Am 18. Januar 2012 meldete der Guardian in einem Artikel über den ehemaligen CIA-Offizier Philip Giraldi, dass “das Nato-Mitglied Türkei zu Washingtons Handlanger geworden ist und dass unbekannte Nato-Flugzeuge in Iskenderum nahe der syrischen Grenze gelandet waren, um dort libysche Freiwillige und Waffen abzusetzen, die man Gadaffis Arsenal entnommen hatte. Ausbilder der französischen und britischen Spezialstreitkräfte sind vor Ort bereits im Einsatz und unterstützen syrische Rebellen, während die CIA und US-Spezialkräfte Kommunikationsausrüstung und Informationen zur Verfügung stellen.” (Auch wurde berichtet, dass britische und französische Spezialkräfte an der libanesisch-syrischen Grenze im Einsatz seien.) Die Libyen-Connection wurde in einem Bericht von RTE News am 14. August bestätigt, auch dass Führungsmitglieder der von westlichen Ländern ausgebildeten libyschen Rebelleneinheiten, die Gaddafis Anwesen stürmten, ebenso in Syrien aktiv sind. Sie führten syrische Truppen an, insbesondere Spezialisten der Kommunikation, Logistik und für schwere Waffen. [1] Am 26. Juli berichtete Newsnight, dass das türkische Militärs der FSA nachts LKW-Ladungen voll Waffen und Munition liefern und dabei von der CIA begleitet werden, um sicherzustellen, dass die Waffen „nicht in die falschen Hände geraten”. Der Daily Mirror meldete am 18. August, dass diese Waffen auch Boden-Luftraketen vom Typ Stinger umfassten. Dies klingt ziemlich glaubwürdig, da bereits eine Mig-23 über der Stadt Mohassen im Osten des Landes beim Angriff auf Rebellenpositionen abgeschossen wurde. Ebenso wurde ein Kampfhubschrauber abgeschossen, in Idlib wurde ebenfalls ein Kampfflugzeug getroffen. [2] Das Gerede von William Hague, dem britischen Außenminister, und der USA über den „friedlichen Beistand“ der FSA ist Unsinn angesichts ihrer Waffenlieferungen und den Waffenlieferungen ihrer saudischen und qatarischen Verbündeten.
Der diplomatische Krieg wütet auch unter der Räuberbande der UN. Der Annan-„Friedensplan”, der hauptsächlich von Russland und China unterstützt wurde, wurde von den USA, Großbritannien und Frankreich sabotiert, die Sand ins Getriebe streuten, indem sie eine „alternative“ Resolution vorschlugen, die Annan wiederum als ein Versuch der “gegenseitigen Beschuldigungen und Bezichtigungen” ablehnte. Der Westen war nicht wirklich an irgendeinem Plan interessiert, der mit Gespräche aufwartet, während das Regime - von dem sie seit mehr als einem Jahr behaupten, es stehe am Rande des Zusammenbruchs – an der Macht bleibt. Sie waren lediglich daran interessiert, den Krieg fortzusetzen. Der Iran wiederum war in der Woche ab dem 27. August Gastgeber einer „blockfreien“ Konferenz in Teheran. Mehr als hundert Länder sandten Delegierte, auf deren Unterstützung der Iran setzte. Bemerkenswerterweise wartete auch der neue ägyptische Präsidenten, Mursi, mit einem Besuch auf, was neben seinen freundlichen Worten gegenüber dem Iran dem Westen Sorgen bereitet.[3]
Saheed Jalili, der Sicherheitschef des Irans, hatte zuvor im syrischen Fernsehen gesagt: „Iran wird nicht zulassen, dass die Achse des Widerstands, in der Syrien ein zentraler Bestandteil ist, zerbrochen wird.” (BBC, 7. August 2012). Doch die Beziehungen zwischen Teheran und der Hamas im Gaza-Streifen haben sich wegen der Entwicklung in Syrien bereits verschlechtert; auch haben die Kämpfe die syrisch-libanesische Grenze überschritten und die Hisbollah in Mitleidenschaft gezogen. Die „Achse des Widerstands“ ist in dieser Hinsicht etwas geschwächt worden, doch wird dies keineswegs den imperialistischen Drang des Iran abschwächen, dessen Truppen schon jetzt an der Seite der syrischen Armee kämpfen. Syrien ist in der Tat der Hauptverbündete Irans in der Region und zögert trotz der Ausdehnung des Krieges und der Instabilität nicht, seinen Verbündeten, die Demokratische Einheitspartei (PYD) zu benutzen, die umgekehrt die illegale kurdische Arbeiterpartei (PKK) unterstützt, welche wiederum die Kontrolle über etliche Städte in Nordsyrien an der Grenze zur Türkei ausübt (AFP, 2. 8.2012). Zurzeit verstärkt das türkische Militär massiv seine Truppen in diesem Gebiet, womit ein zusätzlicher, unberechenbarer Faktor zu diesem Chaos hinzukommt.
Was steckt hinter dieser syrischen Opposition, die im westlichen Fernsehen auftritt und nach „Taten“ schreit? Wer sind diese „demokratischen“ Sprecher im Exil, die auf ein militärisches Eingreifen dringen und Gespräche mit dem Assad-Regime verweigern? Charlie Skelton lüftete am 12. Juli 2012 im Guardian den Vorhang über dieser Schlangengrube, die auf höchster Ebene mit dem US-amerikanischen und britischen Staat verbandelt ist und seit den letzten sechs, sieben Jahren von diesen finanziert wird. [4] Der syrische Nationalrat (SNR) wird sowohl von den USA als auch von Großbritannien als „Hauptkoalition der Opposition“ (BBC) und als ein „rechtmäßiger Repräsentant des syrischen Volkes“ (William Hague, britischer Außenminister) anerkannt. Der ranghöchste Sprecher des Nationalrats ist Bassma Kodmani, die im Jahre 2005 von der Ford-Foundation – nach dem Zusammenbruch der US-syrischen Beziehungen – für ihre Arbeit gefördert wurde, um Geschäftsführerin der Arabischen Reforminitiative (ARI) zu werden. Diese ist mit der mächtigen US-amerikanischen Lobby-Gruppe, dem Rat für auswärtige Beziehungen (CFI) verbunden, das dem „US-Middle East Project“ zuarbeitet, welchem hochrangige Diplomaten, Nachrichtenoffiziere und Geschäftsleute angehören. Dieses wiederum ist verbunden mit dem British Centre for European Reform (CER), an dessen Spitze Lord Kerr steht, der frühere Chef der britischen Diplomatie. Wie Skelton schreibt, handelt es sich nicht um eine naive Aktivistin, die für die Demokratie eintritt, sondern um jemanden, der mit den höchsten Führungsspitzen der beiden Staaten sowie mit dem französischen Geheimdienst DGSE verbunden ist. Das gleiche trifft für ihre Kollegen im SNR zu. 2005, als die US-Außenpolitik sich gegen Syrien wandte, trafen sich Oppositionsführer in einem Washingtoner Regierungsgebäude. Auf dem Treffen, das vom Democracy Council der USA und der British Movement for Justice and Development gesponsert wurde, übernahm Joshua Mavchik, Autor des Leitartikels „Bombardiert Iran“ (2006), den Vorsitz. Skelton deckte die Verbindungen und Finanzquellen auf. [5]
Die Muslimbruderschaft, für die sich Großbritannien interessiert, hat sich mittlerweile von der FSA getrennt und beabsichtigt ihre eigenen bewaffneten Kräfte aufzustellen, die „Bewaffneten Truppen der Muslimbruderschaft“, von der ihre Führer behaupten, sie solle „das Bewusstsein für den Islam und den Dschihad verstärken“ (Daily Telegraph, 3.8.2012). Darüber hinaus gibt es auch Fundamentalisten, die von Saudi-Arabien und Qatar unterstützt werden, sowie ausländische Dschihadisten, die aus dem Irak zurückgekehrt sind und von denen einige unter dem losen Verbund der al-Qaida wirken, und libysche Söldner. Tolle Aussichten für die syrische Bevölkerung.
In einem Wort: düster. Sie sind schon düster für die Massen in Syrien. Und während der Vorstoß des Westens gegen den Iran ein offenes Geheimnis ist, ist der weitere Verlauf der Ereignisse nicht vorhersehbar. Auf jeden Fall kommen viele Gefahren auf die Region und darüber hinaus zu. Walid Dschumblat, der Führer der libanesischen Drusensekte, ein gewitzter politischer Veteran in der Region, sagte am 16.8.2012 dem Guardian: „Das ist die Enträtselung des Sykos-Picot-Abkommens.“ Er bezog sich auf das geheime englisch-französische Abkommen von 1919 zur Aufteilung der Einflussbereiche in der Levante nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches. Dieses Abkommen verschärfte die Instabilität und fachte die Konflikte an, die den Nahen Osten seit nahezu einem Jahrhundert verwüsten. Dschumblat meinte weiterhin: „Jetzt sehen wir das Ende dessen, was vor 90 Jahren geschaffen wurde. Die Folgen werden sehr, sehr schwerwiegend sein, wenn man nicht sorgfältig damit umgeht.“ Mit Verweis auf die britisch-französische Ausrichtung der Grenzen im Nahen Osten nach dem Ersten Weltkrieg und der Taktik des „Teile und herrsche“ sprach ein westlicher Diplomat von „nicht abgeschlossenen Fragen auf verschiedenen Ebenen“. Vor dem Hintergrund der globalen Schwächung der USA als Weltgendarm, der Tendenz Israels, auf eigene Faust zu handeln, und den zentrifugalen Tendenzen, die zu einem Auseinanderbrechen Syriens führen, ist es sehr unwahrscheinlich, dass damit korrekt umgegangen wird. Das „Management“ der Großmächte bestand bislang eher darin, diesen Krieg und die Gefahr größerer Kriege weiter anzufachen.
Baboon, 30.8.2012
1. Gerade ein Jahr nach dem Ende des Krieges in Libyen, an dem sich der Westen beteiligte, steckt Libyen in einem völligen Chaos mit der höchsten je registrierten Arbeitslosigkeit und bewaffneten Banden, die die zunehmend verarmte Bevölkerung terrorisieren. Der gesamte nordafrikanische Raum steht vor weiteren Kriegsgefahren und Terroranschlägen infolge der Entwicklung in Libyen.
2. Am 2. August berichtete der Daily Telegraph, dass die Taliban ein Büro im ostiranischen Zahedan eröffnet haben und iranische Truppen nach abgehörten Gesprächen aus dieser Gegend planen, Boden-Luft-Raketen an die Taliban in Afghanistan zu liefern. Der Iran hat die Taliban bereits mit recht einfachen Waffen versorgt, die diese gegen die USA in Afghanistan einsetzen, dies aber wäre – wenn es stimmt – eine richtige Eskalation.
3. Dies ist ein Teil des inter-imperialistischen Spiels. Ägypten hat erst kürzlich Avancen gegenüber China gemacht. Vor dem Libyenkrieg löste die Zustimmung Ägyptens für die Durchfahrt iranischer Kriegsschiffe durch den Suez-Kanal bei den USA und Großbritannien Alarm aus. Auf dem Treffen der „blockfreien Staaten“ jedoch hat der ägyptische Präsident Mursi die syrische Delegation in Rage versetzt und die Iraner verärgert, als er die „syrischen Rebellen“ mit den Palästinensern verglich.
4. www.theguardian.com/commentisfree/2012/jul/12/syrian-opposition-doing-the-talking [179]
5. Siehe dazu „Syria, Imperialism and the Left, parts (1), (2) (3) auf libcom, geschrieben von rooieravotr. libcom.org/blog/syria-imperialism-left-1-08082012 [180]
Der Film Die Unschuld der Muslime, der am 11. September auf YouTube erschien, ist nach allem, was man hört, ein besonders dürftiges und äußerst dummes Machwerk, das Produkt eines armseligen kalifornischen Betrügers, der ein koptischer Christ zu sein vorgibt. Dennoch stand dieses Machwerk zwei Wochen lang im weltweiten Fokus. Diese Anprangerung des Propheten Mohammed und seiner Anhänger, die unter anderem als unmoralische, brutale Kinderschänder dargestellt werden, hat in der gesamten muslimischen Welt Reaktionen hervorgerufen. Die wütenden Demonstrationen endeten in Ausschreitungen und Gewalttaten, die sich hauptsächlich gegen die USA richteten und u.a. zur Ermordung des US-Botschafters in Libyen führten.
Diesen Ausschreitungen, die zumeist von salafistischen Radikalen angeführt wurden, wurde eine Menge Platz in den westlichen Medien eingeräumt. Dabei geht es hier höchstens um ein paar Zehntausend Demonstranten, die sich über eine Reihe von Ländern verteilten, von Tunesien über den Jemen bis Pakistan. Dies ist nicht wirklich viel, wenn man bedenkt, dass es Hunderte von Millionen von Muslimen allein in den arabischen Ländern gibt, ganz zu schweigen von den Millionen Muslimen, die in Europa oder Nordamerika leben.
Es geht hier nicht darum, die Gewalt herunterzuspielen, die zweifellos stattfand, doch sind diese Ereignisse bewusst aufgebauscht worden, um die Angst vor der „islamischen Gefahr“ zu schüren. In Deutschland drückte Angela Merkel ihre „große Beunruhigung“ aus, während in Frankreich der Sozialist Manuel Valls über die „Bedrohung der Republik“ erschüttert war, die in der winzigen Demonstration steckte, welche „ohne offizielle Erlaubnis“ vor dem Elysée-Palast stattfand. Aus den USA hören wir, wie Hilary Clinton erklärte, dass „die arabischen Länder nicht die Tyrannei eines Diktators gegen die Tyrannei der Massen eintauschen sollten“, wobei sie sich auf die „arabische Revolution“ im Frühjahr 2011 bezog. Und schließlich hörten wir den Papst die Ausmerzung des Fundamentalismus (natürlich des islamischen) fordern!
In diesem Stimmengewirr besorgter Politiker wiesen nur eine Handvoll Kommentatoren auf die augenscheinliche ideologische Manipulation hin, die auf beiden Seiten vor sich ging:
· Einerseits weist die Tatsache, dass solch ein Filmchen (1) ausgerechnet im Angesicht wachsender Spannungen und Kriegsgefahren im Zusammenhang mit Syrien und dem Iran, aber auch mit den Radikalislamisten in Mali und in der Sahel-Zone herauskam, mehr noch: dass er am 11. September erschien, dem Jahrestag des Angriffs auf die Zwillingstürme 2001, der mit dem Tod von 4.000 Zivilisten und schließlich der US-amerikanischen Invasion in Afghanistan endete, darauf hin, dass auf den „islamischen Extremismus“ in der ganzen Welt an den Pranger gestellt werden soll.
· Andererseits tappten die islamistischen Extremisten geradewegs in die Falle hinein und enthüllten damit einmal mehr ihr zerstörerisches Potenzial und ihre Entschlossenheit, Amerika und den westlichen Mächten Paroli zu bieten, um sich selbst gegen rivalisierende bürgerliche Cliquen zu behaupten.
Es ist offensichtlich, dass dies eine Eskalation durch beide Seiten zu einem Zeitpunkt war, als sich neue militärische Interventionen und Massaker am Horizont andeuteten. Diese Art von Kampagnen dient dazu, den Boden dafür auf ideologischer Ebene vorzubereiten.
Die herrschende Klasse und all ihre Fraktionen, welcher Religion auch immer angehörig, werden Ereignisse wie dieses benutzen, um die Ausgebeuteten zu spalten und einzuschüchtern. Doch vor allem ist es - trotz all ihrer heuchlerischen Appelle, Ruhe und Vernunft zu bewahren - ihr Ziel, die nächsten Schritte in die Barbarei des Krieges zu rechtfertigen.
Mulan, 28.9.2012
(1) Uns sollte die Tatsache zu denken geben, dass dieses Video zwei Tage lang bei YouTube zu sehen war, einem Ableger von Google, dessen Charta besagt, dass „wir keine Auffassungen autorisieren werden, die zum Hass aufstacheln oder die andere Gruppen auf der Grundlage der Rasse, der ethischen Herkunft, der Religion, einer Behinderung, des Geschlechts, des Alters, des Veteranenstatus‘ oder der sexuellen Orientierung angreifen oder verleumden“.
Zusammenfassender Auszug aus einem Interview mit Chris Knight (Professor für Anthropologie an der University of East London) auf ReadySteadyBook (2006)
(…) Tatsache ist schlicht und einfach, dass Gene komplexe Moleküle sind, die die Körper, die sie bewohnen, dazu benutzen, um sich zu vervielfältigen. Ein Gen, das die Konkurrenz auf eigene Kosten repliziert, wäre kein Gen. Selbst wenn diese Anomalie aus unerfindlichen Gründen in einer Generation existierte, wäre es schon in der nächsten
Diese Theorie erklärt unter vielen anderen auch Konflikte: Konflikte zwischen den Geschlechtern, zwischen den Eltern und ihrem Nachwuchs und so weiter. Sie zeigt auf, wie Konflikte entstehen und wie widerstreitende Interessen den evolutionären Wandel antreiben. Für Marxisten sollten dies bekannte Themen sein. Der größte Teil der kleinbürgerlichen „Linken“ weigert sich, mehr als den Titel von Dawkins‘ Buch zur Kenntnis zu nehmen. Unfähig zu verstehen, worum es dem Autor ging, dichten sie ihm an, Kapitalismus, Rassismus und Ähnliches zu rechtfertigen. Nichts könnte abwegiger sein. Es war ebendiese Theorie des egoistischen Gens, die die frühere Vorstellung platzen ließ, dass die natürliche Auswahl „Rassen“ gegenüberstellt. Die Antwort der Linken auf diese wissenschaftliche Revolution war in peinlicher Weise ignorant und selbstzerstörerisch. Genau genommen, war sie eine Schande. Man stelle sich vor, was Marx und Engels davon gehalten hätten….
1844, im Anschluss an einer vierjährigen Reise rund um die Welt, teilte Charles Darwin einem engen Freund mit, dass er zu einer gefährlichen Schlussfolgerung gelangt sei. Sieben Jahre lang, schrieb er, habe er sich „mit einer sehr vermessenen Arbeit beschäftigt“, vielleicht „eine sehr törichte“. Er hatte bemerkt, dass auf jeder der Galapagos-Inseln die Finken leicht unterschiedliches Futter fraßen und unterschiedliche Schnäbel hatten. In Südamerika hatte er viele außergewöhnliche Fossilien ausgestorbener Tiere untersucht. Über die Bedeutung all dessen sinnierend, sah er sich veranlasst, seine Meinung über den Ursprung der Arten zu ändern. Darwin schrieb an seinem Freund: „Ich bin entgegen meiner ursprünglichen Auffassung nun beinahe überzeugt, dass die Arten (es ist wie einen Mord zu gestehen) nicht unveränderlich sind.“
In jenen Zeiten war der Glaube an Transmutation – die Idee, dass Arten sich zu anderen Arten entwickeln können – politisch gefährlich. Während Darwin noch an seinen Freund schrieb, ließen Atheisten und Revolutionäre Pfennig-Magazine in Londons Straßen zirkulieren, in denen revolutionäres Gedankengut vertreten wurde, das im Gegensatz zu den etablierten Doktrin von Kirche und Staat stand. Damals war der bekannteste Evolutionstheoretiker Jean-Baptiste Lamarck, der für die Ausstellung von Insekten und Würmern im Naturgeschichtlichen Museum in Paris verantwortlich war. In enger Anlehnung an den Atheismus, den Chartismus und anderen Formen der Subversion, die vom revolutionären Frankreich ausgingen, wurde der Evolutionismus in Großbritannien „Lamarckismus“ genannt. Jeglicher „Lamarckist“ – mit anderen Worten: jeder Wissenschaftler, der die gottgegebene Unveränderlichkeit der Arten in Frage stellte – riskierte, mit Kommunisten, Aufrührern und Aufständischen in einen Topf geschmissen zu werden. Gefangen zwischen seiner vorsichtigen liberalen Politik und seiner Wissenschaft, war Darwin so besorgt, dass er krank darüber wurde und seine Erkenntnisse verheimlichte und unterdrückte, als habe er einen Meuchelmord begangen.
Die Periode der revolutionären Erhebungen fand ihren Höhepunkt in den Ereignissen von 1848, als ArbeiterInnen Aufstände planten und die Straßen von London und in ganz Europa eroberten. Nach der Niederlage dieser Aufstände setzte die Konterrevolution ein. Während des folgenden Jahrzehnts schwand die Bedrohung durch die Linken. Um 1858 kam ein anderer Wissenschaftler, Alfred Wallace, unabhängig von Darwin, von sich aus auf das Evolutionsprinzip der natürlichen Auswahl; wenn Darwin nicht veröffentlicht hätte, hätte Wallace all den wissenschaftlichen Ruhm erlangt. Da die Revolution keine unmittelbare Gefahr mehr war, wurde Darwin mutiger, und 1859 veröffentlichte er endlich Über den Ursprung der Arten.
In seinem großen Werk skizzierte Darwin ein Evolutionskonzept, das sich von jenem Lamarcks deutlich unterschied. Lamarck hatte die Evolution als die Folge des ständigen Strebens der Tiere nach Selbstverbesserung in ihrer Lebensspanne erklärt. Darwins grimmigere, grausamere Idee war dem Pastor Thomas Malthus entliehen, einem Ökonomen, der bei der Ostindischen Gesellschaft beschäftigt war. Malthus hatte kein Interesse an dem Ursprung der Arten; seine Agenda war politisch. Menschliche Populationen, argumentierte er, werden ständig schneller als die Nahrungsmittelversorgung wachsen. Kampf und Hunger seien das unvermeidliche Resultat. Öffentliche Wohlfahrt, so Malthus, könne das Problem nur verschärfen: Almosen würden die Armen bequem machen, sie ermutigen, sich zu vermehren. Mehr Mäuler zu ernähren müsse zu noch mehr Armut und so zu noch mehr – unstillbaren – Forderungen nach Wohlfahrt führen. Die beste Politik sei es, die Armen sterben zu lassen.
Darwins Genie war es, Botanik und Geologie mit dieser politisch motivierten Befürwortung des freien Wettbewerbs und des „Überlebenskampfes“ zu verknüpfen. Darwin sah in der ganzen Natur eine Moralität des Laissez-faire am Werk. Das Wachstum von Populationen in der Tierwelt würde stets die lokale Nahrungsmittelversorgung übersteigen; daher die Unvermeidlichkeit des Wettbewerbs, der im Hungertod des Schwächsten ende. Während Moralisten und Gemütsmenschen stets danach getrachtet haben, das Bild einer grausamen und herzlosen Natur abzumildern, folgte Darwin Malthus darin, diese zu zelebrieren. So wie der Kapitalismus die Armen und Bedürftigen brutal bestraft, so merzt die „natürliche Auswahl“ jene Kreaturen aus, die weniger imstande sind, für sich selbst zu sorgen. Da die wenigen Lebensuntüchtigen in jeder Generation aussterben, sei der Nachwuchs der Überlebenden unverhältnismäßig zahlreich, werden doch ihre vorteilhaften ererbten Anlagen an die künftigen Generationen übertragen. Der Hungertod sei also ein positiver Faktor innerhalb einer evolutionären Dynamik, die Versagen unerbittlich bestraft und Erfolg belohnt.
Auf diese Weise gelang es Darwin, die politischen Implikationen der Evolutionstheorie umzuwandeln. Weit davon entfernt, der Rechtfertigung jeglichen Widerstandes gegen die kapitalistische Ausbeutung oder die gesellschaftliche Ungleichheit zu dienen, war diese Malthusianische Version des Evolutionismus dazu bestimmt, einer entgegengesetzten politischen Funktion zu dienen. Darwin schilderte die Natur als eine Welt ohne Moral. Folglich verlieh dies einem Wirtschaftssystem die Existenzberechtigung, das auf hemmungsloser Konkurrenz basierte, frei von jeglicher fehlgeleiteter „moralischer“ Einmischung durch Religion oder Staat. In Darwins Lebenszeit verlief die wichtigste öffentliche Kontroverse über seine Theorie zwischen den Evolutionisten und jenen Philosophen, Klerikern und anderen, die befürchteten, dass solch eine Vision zum Zusammenbruch aller Moral in der Gesellschaft führen könnte.
Nach Darwins Tod 1881 versuchten etliche einflussreiche Denker, Darwins scheinbar harsche, amoralische Argumentation zu entkräften, indem sie nach Wegen suchten, die Evolutionstheorie mit religiösen oder humanistischen Werten zu versöhnen. In Russland schrieb der Anarchist Peter Kropotkin den Text Gegenseitige Hilfe, in dem er argumentierte, dass Kooperation, nicht die Konkurrenz, das fundamentale Naturgesetz sei. Eine sehr populäre Methode, eine „moralische“ Dimension aus Darwins Argumentation zu bergen, bestand in dem Gedanken, dass der kompetitive Antrieb des evolutionären Wandels Gruppen, aber nicht Individuen gegenüberstelle. Die Phrase „Überleben des Stärkeren“ (survival of the fittest) bedeutete demnach das Überleben der stärksten Gesamtgruppe oder Art, was eine enge Kooperation innerhalb jeder Spezies bedingte. Gemäß dieser Argumentationslinie waren Individuen dazu erschaffen, den Interessen der Art dienlich zu sein. Mitglieder jeglicher Art mussten mit anderen kooperieren, ihr individuelles Überleben hing vom Schicksal des größeren Ganzen ab.
Diese Idee war sehr populär um die Jahrhundertwende; sie stieß auf Widerhall in Strömungen der moralischen Philosophie einschließlich des kleinbürgerlichen Sozialismus und des Nationalismus. Nationen wurden mit „Rassen“ assoziiert und mit Tierarten verglichen. Jede Art, Rasse oder Nation sei angeblich in einem Kampf um Leben oder Tod gegen ihre Rivalen verstrickt. Jene, deren Mitglieder unter kollektiven Auflagen miteinander kooperieren, würden überleben; jene, deren Mitglieder „egoistisch“ handelten, würden ausgelöscht werden. Wenn Tiere oder Menschen ein kooperatives Verhalten an den Tag legten, so wurde dies mit „moralischen“ Begriffen unter Bezugnahme auf die Erfordernisse der Gruppe erklärt.
In Großbritannien argumentierte Churchill, dass es dem ärmsten Bereich der Gesellschaft nicht gestattet werden sollte, sich zu vermehren, denn wenn diese Menschen starben, würde dies nur den „nationalen Bestand“ (national stock) schwächen. Eugenetik kam groß in Mode, auch unter vielen Linken; in Deutschland spielte sie eine Schlüsselrolle bei der Formierung der Nazi-Ideologie. In den 1940er Jahren erfreute sich der wegweisende Ethologe Konrad Lorenz großer Beliebtheit unter den Nazipropagandisten, da er argumentierte, dass die Kriegsführung natürlich und von Wert sei. Er verglich den Krieg mit dem weit verbreiteten Verhaltensmuster, das männliche und weibliche Säugetiere während der Paarungszeit an den Tag legen, wenn Erstere sich auf grausame Weise gegenseitig bekämpfen und Letztere sich nur mit den Siegern paaren. Dies, so Lorenz, sei ein gesunder Mechanismus, um Schwache zu eliminieren und damit die Reinheit und Vitalität der Rasse zu bewahren und zu verbessern.
Die Theorie der „Gruppenselektion“ – wie sie nun genannt wird – fand ihren ausgefeiltesten und explizitesten Ausdruck 1962, als der schottische Naturalist V.C. Wynne-Edwards ein Buch veröffentlichte, das den Titel Animal dispersion in relation to social behavior trägt. Für Wynne-Edwards bestand das fundamentale Problem, mit dem sich jede Gruppe oder Art konfrontiert sah, nach Malthus in der schrankenlosen Vermehrung. Die Überbevölkerung würde letztlich zu Nahrungsmittelkürzungen führen, die den Hungertod in einem Maße mit sich bringen würden, das die gesamte lokale Bevölkerung bedrohen könnte. Wo lag die Lösung? Laut Wynne-Edwards lag es an der Spezies in ihrer Gesamtheit, etwas zu unternehmen. Sie müsste besondere Mechanismen entwickeln, um eine Reproduktion über die tragfähigen Kapazitäten ihrer Umwelt hinaus zu vermeiden. Von den Individuen würde erwartet werden, dass sie ihre Fruchtbarkeit im Interesse der Gruppe zügeln.
Auf der Grundlage dieser Theorie trachtete Wynne-Edwards danach, die zahllosen verwirrenden Merkmale des tierischen und menschlichen sozialen Verhaltens zu erklären. Insbesondere behauptete er, scheinbar abscheuliche Verhaltensweisen wie Kannibalismus, Kindsmord oder (Banden)-Krieg erklären zu können. Auf den ersten Blick negativ, bilden solche Praktiken, näher betrachtet, eine Bandbreite von nützlichen Anpassungen, durch die jede Art danach strebt, ihre Population zu begrenzen. Viele Naturalisten waren verblüfft darüber, als sie beobachteten, wie Vögel in großen Kolonien den Nachwuchs anderer zerstörten oder wie Löwen gerade geborene Jungen tot bissen. All dies, sagt Wynne-Edwards, könne nun verstanden werden. Solche Verhaltensweisen seien nicht egoistisch oder anti-sozial; sie nutzten der Art, indem sie die Population im Zaum hielten. Im Falle der Menschen dienten gewaltsame Handlungen wie die Kriegsführung einer ähnlichen Funktion. Irgendwie musste die menschliche Population niedergehalten werden; der Krieg half zusammen mit anderen Gewaltformen, dies zu erreichen.
„Gruppenselektionistische“ Denkweisen dieser Art blieben bis in die 1960er Jahre hinein einflussreich innerhalb des Darwinismus. Doch genau weil er sie mit solch strittigen, zugespitzten Begriffen formulierte, gab Wynne-Edwards seine Überlegungen zu den Artvorteilen ungewollt einer klar akzentuierten Attacke preis, die das gesamte Denkgebäude dieser Theorie untergrub. Sobald Wissenschaftler über die angeblich „die Populationen reduzierenden Mechanismen“ nachzudenken begannen, wurde aus rein theoretischen Gründen ersichtlich, warum diese nicht funktionieren. Wie konnte eine ganze Spezies ihre Mitglieder für eine kollektive Handlung mobilisieren, so als ob sie mit Voraussicht auf künftige Nahrungsmittelkürzungen antwortet? Angenommen, dass es – um des Arguments willen – ein Gen gibt, das ein Verhalten auslöst oder erleichtert, das folgende zwei Merkmale hat: (a) es dient der Spezies in künftiger Zeit, während es (b) den Reproduktionserfolg seiner Träger von heute vermindert. Wie kann solch ein Gen jemals in die Zukunft übermittelt werden, wo sein angeblicher Nutzen verwirklicht werden würde? Ein Gen für eine verringerte Reproduktionsrate ist schlicht und einfach ein Widerspruch in sich. Es würde nicht weitergereicht werden. Sein angeblicher künftiger Nutzen könnte niemals realisiert werden. Die ganze Theorie der „Gruppenselektion“ war einfach unlogisch.
Diese Einsicht führte zu einer wissenschaftlichen Revolution – einer der folgenschwersten Umbrüche in der jüngsten Wissenschaftsgeschichte, mit vielen Implikationen für die Human- und Gesellschaftswissenschaften. Wenn Marx und Engels heute lebten, würden sie sich selbst an die Spitze dieser Entwicklungen stellen. Im Grunde stimmen alle Evolutionswissenschaftler heute darin überein, dass Wynne-Edwards‘ Theorie der „Gruppenselektion“ falsch war. Der Gedanke, dass Sex, Gewalt oder andere Formen tierischen Verhaltens sich „zum Nutzen der Spezies“ entfalten, ist mittlerweile völlig diskreditiert. Tiere praktizieren keinen Sex, um „die Art fortbestehen zu lassen“; sie tun es aus viel profaneren Gründen – um ihre eigenen spezifischen Gene fortbestehen zu lassen. Kein Gen kann dazu bestimmt werden, seine eigene Replikation zu minimieren – in einer Welt der Konkurrenz würde es rasch eliminiert und ersetzt werden. Angenommen, ein Löwe tötet seine eigenen Jungen, um zu helfen, das Bevölkerungsniveau zu reduzieren. Im Verhältnis zu anderen Löwen würde dieses besondere Exemplar einen geringen Reproduktionserfolg erzielen. Ungeachtet dessen, was der gesamten Gruppe zustößt, würden alle Exemplare in einer künftigen Population ausschließlich von den „egoistischeren“ Vervielfältigern abstammen – jenen Löwen, die darauf programmiert bleiben, die Übermittlung ihrer Gene (auf Kosten von rivalisierenden Genen) an künftige Generationen zu maximieren.
Sobald dies einmal vergegenwärtigt war, waren Wissenschaftler in der Lage aufzuzeigen, dass Löwen, die Jungen töten, in Wahrheit nicht ihren eigenen Nachwuchs töten, sondern den Nachwuchs, der von rivalisierenden Männchen gezeugt wurde. Dasselbe traf auch auf andere Beispiele der so genannten „Bevölkerungsregulierung“ zu. In jedem Fall konnte gezeigt werden, dass die verantwortlichen Tiere von einem genetischen Standpunkt aus „egoistisch“ handelten, dass ihre Gene so viel eigene Kopien wie möglich auf die künftigen Generationen übertragen, ganz ungeachtet der langfristigen Konsequenzen für die Populationsdichte. Lebenstüchtigkeit bedeutet, den eigenen Genen eine erfolgreiche Zukunft zu gewährleisten; sie kann nicht anders definiert werden. Eine Konsequenz daraus war, dass eugenetische Ideen wie jene von Winston Churchill keinen darwinistischen Sinn mehr machten. Churchill meinte, dass die Armen sich zu schnell vermehren; da sie „weniger lebenstüchtig“ seien, sollte ihre Fruchtbarkeit gedrosselt werden. Um bei dem Argument zu bleiben – ausgehend davon, dass die Armen zu Churchills Zeiten die Reichen faktisch in ihrer Anzahl übertrumpften, hieße dies gemäß der modernen Darwinschen Standards, dass die Armen „lebenstüchtiger“ waren, und nicht umgekehrt. Dasselbe würde zutreffen, sollten ethnische Minderheiten eine höhere Reproduktionsrate haben als alle anderen um sie herum. „Lebenstüchtigkeit“, wie dieser Begriff von den modernen Darwinisten verstanden wird, kann nur in Bezug auf die Gene gemessen werden – nicht in Bezug auf Rassen oder Arten. In Zukunft werden daher rassistische oder andere reaktionäre Politiker ohne Beistand durch den Darwinismus mit ihren Theorien hausieren gehen.
Der neue Darwinismus machte es von nun an unmöglich, das individuelle Eigeninteresse gegenüber dem Interesse der Art insgesamt zu überhöhen. Gruppenselektionistische Denker verbrämen Kindsmord, Gewalt oder Aggression mit Blick auf die höheren Interessen der „Nation“ oder der „Gruppe“ hartnäckig als „Moral“. Militaristen und rassistische Mörder wurden als Wächter höherer Interessen konzeptualisiert, da sie überschüssige Bevölkerungen „keulen“ oder Schwache für das übergeordnete Wohl eliminieren. Der Darwinismus des „egoistischen Gens“ setzte all dem ein abruptes Ende. Tiergruppen oder Arten konnten von nun an nicht mehr mit Nationalstaaten verglichen oder als kohärentes, moralisch reguliertes Ganzes dargestellt werden. Stattdessen ging man bei Tieren davon aus, dass sie ihre eigenen Interessen verfolgten und dabei bewusst oder unbewusst ihre Gene aussähen. Entsprechend wurde von den sozialen Einheiten erwartet, dass sie nicht nur Kooperation praktizieren, sondern auch Konflikte austragen, in denen periodisch Mann gegen Frau, Jung gegen Alt, selbst der Nachwuchs gegen seine eigenen Eltern ausgespielt werden. Diese Betonung des Kampfes und Konflikts brachte den Darwinismus auf eine Linie mit dem Marxismus, der nicht von Harmonie und Brüderlichkeit ausgeht, sondern von einer durch Klassen, Geschlechter und andere Konfliktarten zerrissenen menschlichen Gesellschaft. Wo die Harmonie herrscht oder sich erfolgreich etabliert, muss dies erklärt werden und kann keineswegs vorausgesetzt werden.
In dem Moment, als der „Gruppenselektionismus“ gestürzt war, waren die Wissenschaftler gezwungen, das Leben neu zu betrachten, indem sie eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Puzzles angingen, klärten und oftmals lösten. Wie begann das Leben auf der Erde? Wann und warum entwickelte sich der Sex? Wie werden die sozialen Insekten so kooperativ? Warum werden wir – wie alle lebenden Organismen – krank und sterben letztendlich? Von jetzt an musste jede Theorie ihre Stimmigkeit mit dem unnachgiebigen, kompromisslosen „Egoismus“ der Gene demonstrieren. Das Resultat war eine spektakuläre Serie von intellektuellen Durchbrüchen, die auf eine wahrhaftige Revolution in den Biowissenschaften hinauslief, welche noch immer im Gange ist. Richard Dawkins‘ Buch Das egoistische Gen fasste viele der neuen Entdeckungen zusammen, als es 1976 zur großen Freude – und zur gleichermaßen lautstarken Anklage der kleinbürgerlichen „Linken“ – veröffentlicht wurde.
Ungefähr so wie sich Karl Marx und Friedrich Engels gegen die utopischen Sozialismus-Theorien wandten, so entschieden sind die modernen Darwinisten in ihrer Ablehnung aller nebulösen, unrealistischen Evolutionstheorien. Der „utopische“ Sozialismus scheiterte, weil er den Kapitalismus nie zu Leibe rückte. Er erklärte nie, wie man von „A“ nach „B“ kommt – von der Konkurrenzlogik des Kapitalismus zu seiner sozialistischen oder kommunistischen Antithese. Stattdessen stellten die „utopischen“ Träumer ihre idealistischen Visionen einfach den grausamen Realitäten des zeitgenössischen Lebens entgegen und plagten sich niemals damit ab zu ergründen, wie der Kapitalismus funktioniert. Ähnlich hatten sich Biologen vor der Revolution des „egoistischen Gens“ in den Biowissenschaften auf die „Kooperation“ in der Tierwelt als ein erläuterndes Prinzip berufen, ohne jemals erklärt zu haben, woher das Prinzip selbst kam. Der große Wert des neuen Darwinismus bestand darin, dass er nicht „utopisch“ war. Wenn Tiere, wie sich herausstellte, sich gegenseitig beistehen oder gar ihr Leben für andere aufs Spiel setzen – wie es häufig geschah -, dann musste solch ein Altruismus erklärt werden und konnte nicht einfach vorausgesetzt werden. Vor allem musste jeglicher Altruismus auf der Ebene des sozialen Verhaltens mit dem replikatorischen „Egoismus“ dieser tierischen Gene in Einklang gebracht werden.
Von diesem Standpunkt aus könnte der neue Darwinismus fast schon als „Wissenschaft der Solidarität“ bezeichnet werden. Egoismus ist leicht zu erklären. Die wahre Herausforderung besteht darin zu erklären, warum Tiere so oft nicht egoistisch sind. Dies ist eine besondere Herausforderung im Falle der Menschen, die sich – vielleicht mehr als jedes andere Tier – in todesmutigen und aufopferungsvollen Handlungen engagieren. Es gibt seriöse Berichte über Soldaten im Ersten Weltkrieg, die sich auf explodierende Handgranaten warfen, um das Leben ihrer Kameraden zu retten. Muss solch ein Mut den Menschen mühsam beigebracht, eingepaukt werden oder speist er sich aus mächtigen Instinkten? Wenn man, wie die meisten Darwinisten, davon ausgeht, dass es in den Menschen steckt, von Natur aus kooperativ und gar heroisch zu sein, dann tut sich hier ein intellektuelles Paradoxon auf. Warum werden die Gene, die Heroismus zulassen oder ermöglichen – jene mutigen Instinkte, die in Krisenzeiten unsere feigeren, egoistischeren Triebe außer Kraft setzen -, nicht allmählich eliminiert? Der Mann, der in der Schlacht stirbt, wird keinen Nachwuchs mehr haben. Im Gegenteil, es wird der Feige sein, der viele Nachfolger hinterlässt. Könnten wir vor diesem Hintergrund nicht erwarten, dass jede Generation weniger heroisch – also: egoistischer – ist als die vorherige? Die utopische Theorie der „Gruppenselektion“ hat dieses Problem verschleiert, indem sie allzu leichte Antworten vorschlägt. Der Heroismus fungiere für das Allgemeinwohl der Gruppe. Das Problem war, dass sie nicht erklären konnte, wie solch ein Mut Bestandteil der menschlichen Natur sein kann, der von Generation zu Generation weitergereicht wird. Es war exakt diese Schwierigkeit, die die neuen Darwinisten dazu ermunterte, mit einer besseren Antwort aufzuwarten. Als die Lösung gefunden wurde, wurde sie zum Eckpfeiler der evolutionistischen Wissenschaft.
Die Lösung für das Puzzle war die Idee der inklusiven Lebenstüchtigkeit (inclusive fitness). Heldenmut in der Schlacht stützt sich auf Instinkte, die sich nicht radikal von jenen unterscheiden, die eine Mutter dazu veranlasst, ihr Leben für den Schutz ihrer Kinder einzusetzen. Eben weil ihre Gene „egoistisch“ sind – nicht trotz dieses „Egoismus“ -, kann der Mut einer Mutter aus tiefen instinktiven Quellen gespeist werden. Tatsächlich schließt eine Mutter, die instinktiv ihr Leben für ihre Kinder riskiert, ihre Kinder als Teil ihres potenziell unsterblichen „Selbst“ ein. In genetischer HinsichtinsichtH ist dies realistisch, da ihre Kinder ihre Gene teilen. Wir können hier unschwer erkennen, warum die „egoistischen“ Gene einer Mutter sie dazu veranlassen können, selbstlos zu handeln – es ist eindeutig im Interesse der Gene selbst. Eine vergleichbare Logik mag Schwester und Bruder dazu veranlassen, selbstlos gegenüber dem anderen zu handeln.
In einem sehr frühen Entwicklungsstadium entfalteten sich die Menschen in verhältnismäßig kleinen Gruppen, die auf Blutsverwandtschaft beruhten. Die statistische Chance, dass die Menschen, mit denen man zusammenarbeitete oder eng verbunden war, dieselben Gene teilten, war groß. Die Gene hätten sozusagen gefordert: „Vervielfältige mich, indem du dein Leben aufs Spiel setzt, um deine Schwestern und Brüder zu retten!“ Wir Menschen sind dazu bestimmt, dem anderen zu helfen – selbst zu sterben für den anderen -, vorausgesetzt, wir haben eine Chance, eine Blutsbande zu knüpfen. Selbst heute, unter Bedingungen, wo wir weitaus weniger verwandtschaftsbezogen sind, stehen wir nach wie vor unter dem mächtigen Einfluss dieser Instinkte. Der Begriff der „brüderlichen Solidarität“ hängt nicht vollkommen von äußeren, sozialen Faktoren wie Bildung oder Propaganda ab. Die Solidarität muss den Menschen nicht gegen ihre innere Natur eingeflößt werden. Sie ist fester Bestandteil einer uralten Tradition, eine evolutionäre Strategie, die vor langer Zeit wesentlich für die menschliche Natur geworden ist. Sie ist ein unschätzbarer Ausdruck der „Selbstsucht“ unserer Gene.
Damals schrieben die Zeitungen, dass „sie im Triumph kamen“; Cameron und Sarkozy kamen vor rund einem Jahr nach Tripolis und Bengasi, um den Jubel einer kriegsmüden Bevölkerung entgegenzunehmen und „den neuen Aufbruch Libyens zu grüßen“. Dies nachdem sie sowohl die Anti- als auch die Pro-Gaddafi-Fraktionen im libyschen Staat unterstützt hatten und kurz nach der Tötung einer unbekannten Zahl von Libyern, als diese durch Bombardierungen aus der Luft und Spezialkräfte vom Boden aus von Gaddafis Griff „befreit“ wurden. Der Krieg wurde, entgegen früherer Berichte, von Anfang an vollständig vom US-amerikanischen Imperialismus gebilligt, der – „aus dem Hintergrund agierend“ – die Briten und Franzosen dazu drängte, diese eminent wichtige Erdölregion im eigenen Interesse zu sichern, und gleichzeitig ein weiteres Gerangel unter den anderen imperialistischen Mitspielern eröffnete, die um einen möglichst großen Einfluss buhlten. Deutschland, das während des Krieges eine unbedeutende Rolle spielte, scheint kraft seiner wirtschaftlichen Schlagkraft und Kontakte besonders stark von Wirtschaftsabkommen mit Libyen zu profitieren; seine wirtschaftliche Stärke ist ein wachsender Faktor auf dem imperialistischen Schachbrett. Die lokale Ausbreitung der imperialistischen Barbarei geht weit über mögliche wirtschaftliche Vorteile aus dem libyschen Krieg hinaus. Ein weiterer kriegstreibender Faktor, der vom US-Standpunkt aus auf das imperialistische Gleichgewicht lastete, war die wachsende Instabilität in der Levante angesichts eines Post-Mubarak-Regimes in Ägypten, das sich plötzlich zweideutig gegenüber Israel verhält und iranischen Kriegsschiffen gestattet, den Suez-Kanal zu passieren.
Nicht dass die Feierlichkeiten anlässlich des ersten Jahrestags eines solch wichtigen Ereignisses verhalten gewesen waren; die Jahresfeiern des „Triumphes der Befreiung“ von Cameron und anderen waren schlicht nicht existent. Was nicht wirklich überraschend ist. Dies war angeblich der Krieg, in dem sie endlich die Lektionen aus dem Irak gelernt haben wollen, wie man Nationen nach dem Fall ihrer Tyrannen beschützt und wiederaufbaut. Doch der – größeren – Bevölkerung Libyens brachte die „Befreiung“ und ihre Nachwehen nichts anderes als Elend, Terror, Einschüchterung, Kürzungen, Inflation und eine Arbeitslosigkeit – einer der Auslöser für den ursprünglichen Aufstand -, die höher denn je ist. Das Land selbst ist zerrissen in diverse, sich bekriegende Fraktionen, einschließlich wiedererwachter dschihadistischer Kräfte, die mit al Qaida verknüpft sind. Am 27. August gab das US-State Department eine Warnung an US-Bürger vor unnötigen Reisen in Libyen heraus und fügte hinzu: „Die politische Gewalt, einschließlich Autobomben in Tripolis und Anschläge gegen militärisches Personal und angebliche Ex-Staatsfunktionäre in Bengasi, hat zugenommen. Konflikte zwischen den Milizen können jederzeit und überall im Lande ausbrechen.“ Simon Tisdall, der dies in The Guardian am 13. September zitierte, sagt ferner, dass die Rebellenarmee in Misrata über 30.000 Kleinwaffen unter ihrer Kontrolle hat, des Weiteren „revolutionäre Brigaden“, die über „mehr als 820 Panzer, Dutzende von schweren Artilleriegeschützen und mehr als 2.300 mit Maschinengewehren und Flugabwehrwaffen ausgerüstete Fahrzeuge verfügen“. Schaut man sich weiter in der Region um, so zeigt sich, dass der Krieg in Libyen noch mehr kriegerische und blutige Instabilität in Mali und in der gesamten Sahel-Zone verbreitet und den islamistischen Fundamentalisten im Maghreb, wenn man so will, zu einem neuen „Aufbruch“ verholfen hat. Bereits im Juni wurde das britische Konsulat in Bengasi angegriffen, wobei der Botschafter mit dem Leben davonkam. Diese Art von Ereignissen könnte gut Vorbote eines Zusammenbruchs à la Irak kombiniert mit einem endlosen Krieg wie in Afghanistan sein. Es geht nicht darum, ob die Amerikaner, Briten, etc. „ihre Lektionen gelernt haben“ aus ihren katastrophalen Kriegen der jüngsten Zeit, können doch der Imperialismus im Allgemeinen und diese Imperialismen im Besonderen, was immer ihre Bestrebungen sind, nur mehr Chaos, Instabilität und Krieg verbreiten.
Die Ermordung des US-Botschafters Stevens und dreier weiterer Botschaftsmitarbeiter in Bengasi am 11. September wird von der US-Administration als Reaktion auf den mittlerweile berüchtigten Film, der den muslimischen Glauben beleidigt, hingestellt. Doch der Zeitpunkt ist ein Indiz, und die Tatsache, dass der angeblich sichere US-Unterschlupf in Bengasi ebenfalls als Ziel auserkoren wurde, wie auch die zuvor nicht veröffentlichten Warnungen aus dem US-Bureau for Diplomatic Security deuten auf ein viel größeres und weitaus besorgniserregenderes Komplott gegen die Amerikaner und ihre Alliierte hin. Der Angriff war als Präventivschlag gegen eine CIA-Operation gedacht, der es daraufhin erforderlich machte, dass eine große Anzahl von US-Personal unverrichteter Dinge das Land verließ – laut offiziellen Angaben aus Washington.
Es gilt mehr oder weniger als sicher, dass die mit al Qaida verknüpfte islamistische Brigade Ansar al-Sharia für die Morde an die US-Bürger verantwortlich ist. Der amtierende Präsident des libyschen Parlaments, Mohammed al Magriaf, äußerte, dass er Aktionen gegen die Militanten in Betracht zöge, und fuhr fort, dass dieser Angriff, der fünfte in Bengasi seit April, „Teil einer breiter angelegten Kampagne (sei), um Libyen zu destabilisieren“ (THE GUARDIAN, 17. September). Magriaf war seit 1981 der Führer der Nationalen Front zur Befreiung (Rettung) Libyens. Er hat historische Verbindungen zum US-amerikanischen und britischen Establishment, und seine Gruppierung wurde Berichten zufolge vom CIA und von Saudi-Arabien finanziert. Sie hatte kaum Unterstützung in Libyen, und ausgerechnet dieser Profiteur der Befreiung und Freund der westlichen Koalition ist gegenwärtiger Präsident des Nationalen Übergangsrates – ein klares Anzeichen für das Ausmaß westlicher Einflüsterungen in diesem so genannten befreiten Land. Doch während Magriaf Maßnahmen gegen die Islamisten „in Betracht zog“, nahm die Bevölkerung am 22. September mit einem ganz außergewöhnlichen Aufstand die Dinge selbst in die Hand. Nach einer Demonstration von über 30.000 Menschen gegen die Milizen am Nachmittag gingen Hunderte von jungen, zumeist unbewaffneten Männern gegen die Miliz auf ihrem Gelände vor. Zwar ließen 20 von ihnen ihr Leben, doch wurden die verhassten Milizen vertrieben. Dabei wurde nicht nur die anti-amerikanische Ansar al-Sharia attackiert, sondern auch die regierungsfreundlichen, pro-amerikanischen islamistischen Milizionäre von Rafallah al-Sahiti, die eine Lizenz von der Regierung erhalten hatten und dem libyschen Verteidigungsministerium gegenüber verantwortlich sind. Seit dem Ende des Krieges gab es eine Reihe kleinerer Streiks und Demonstrationen im Land gegen die empörenden Zustände; besonders groß ist der Ärger über die islamistischen und anderen Milizen mit ihren Check-Points, Durchsuchungen, Entführungen, mit ihren prahlerischen Drohgebärden. Doch auch wenn es sicherlich einen Kern sozialer Unzufriedenheit gab, der dieser Massenbewegung zugrundelag, so ist sie bereits als „Unterstützung für die Armee und die Regierung“ vereinnahmt und im Westen als „pro-demokratische Bewegung“ (Channel 4-Nachrichten, 23.9.12) dargestellt worden. Auch im Osten Libyens, in Derna, sind dschihadistische Milizen von der lokalen Bevölkerung angegriffen und vertrieben worden. Derna war lange Zeit eine Brutstätte des islamischen Fundamentalismus gewesen, der vom Gaddafi-Regime toleriert, möglicherweise sogar ermutigt wurde, mit dem Hintergedanken, ein Problem zu kreieren, das man dann selbst „erledigt“, um sich bei den Amerikanern und Briten anzubiedern.
Die jüngste Geschichte des britischen Imperialismus und seiner Manöver in Libyen zeichnet sich durch seine besondere Durchtriebenheit und Rücksichtslosigkeit in seinem Umgang mit der arabischen Welt aus. Großbritannien hieß in den 1990er Jahren Anti-Gaddafi-Terroristen willkommen, gewährte ihnen Unterschlupf und zahlte große Geldsummen für eine Anti-Gaddafi-Zelle in Libyen 1996. Dann, nach der Umarmung Gaddafis durch Tony Blair 2004, wurden die ehemaligen terroristischen Helfershelfer Großbritanniens ausgeliefert und faktisch den Folterknechten des libyschen Regimes übergeben. Doch der imperialistische Kreisel eiert weiter herum; nun unterstützten die westlichen Mächte erneut die Fundamentalisten in dem Krieg gegen Gaddafi, d.h. sie säten den Wind, um nun den Sturm zu ernten. Das ist nichts Neues, nur dass es immer schlimmer und gefährlicher wird. Es waren der CIA und der MI6, die die Fundamentalisten und Taliban für den Krieg an der afghanisch-pakistanischen Grenze aufgerüstet hatten. Die Amerikaner und Briten arbeiteten zusammen mit Kräften des islamischen Fundamentalismus, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen und ihre eigenen Unterstützer zu beschützen. Besonders in Basra nutzten die Briten die schiitischen Fundamentalisten sowohl zum Selbstschutz als auch zur Kontrolle der örtlichen Bevölkerung. Die Amerikaner finanzierten, trainierten und bewaffneten die tschetschenischen Dschihadisten für den Krieg in Bosnien in den 90er Jahren. Und heute benutzen die Amerikaner und Briten in Syrien erneut die Kräfte des islamischen Fundamentalismus für ihre eigenen Ziele. Es hat bereits Verbindungen zwischen dem Außenministerium und Muslimbruderschaft gegeben, und die USA haben libysche Elemente, einige davon religiös, durch die Türkei nach Syrien geschleust. Es ist nicht so, dass sie weiterhin dieselben Fehler begehen oder dass sie nicht aus ihren Fehlern lernen wollen – der Imperialismus kann nicht anders, als die Kräfte der Reaktion, des Todes und der Zerstörung wachzurufen und auszubeuten. Der Imperialismus selbst heißt, zur Sackgasse des dekadenten Kapitalismus verdammt zu werden. Und die Kräfte des islamischen Fundamentalismus sind besonders nützlich für die großen imperialistischen Staaten. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte: Während Moslems hauptsächlich friedlich gegen den erbärmlichen Anti-Islam-Film protestierten, waren die Regierungen Großbritanniens und der USA aktiv dabei, die schlimmste Art islamistischer Fanatiker in den sensibelsten Regionen der Welt finanziell, militärisch und politisch zu unterstützen. Hier zeigt sich das ganze Orwellsche Ausmaß: eine Bourgeoisie, die ebenjene Kräfte der Zerstörung aktiv fördert, mit denen wir uns angeblich im Krieg befinden.
Dieser berüchtigte Film oder besser dieser Ausschnitt aus ihm, in dem der Prophet Mohammed herabgewürdigt wird, ist von allen möglichen Seiten benutzt worden. Er ist von den örtlichen religiösen und politischen Führern benutzt worden, um ihre Unterstützung zu verstärken, die auf der Mobilisierung von Demonstrationen basiert, und in einem Fall von einem pakistanischen Minister, der ein Kopfgeld auf den Kopf des Filmemachers auslobte. Mehr als zwanzig Menschen wurden auf Demonstrationen gegen den Film und die vermeintliche Beleidigung in Pakistan getötet. Es ist nicht sehr schwer, angesichts der Tracht Prügel, die das Land durch das US-Militär erhält (1), eine Anti-US-Demonstration in Pakistan aufzuziehen. Andererseits hat sich die ganze Auseinandersetzung rund um den Film (bzw. seinen Trailer) zu einer Verteidigung „unserer Lebensweise“, der „Freiheit“ und der „Meinungsfreiheit“ mit Salman Rushdie und vielen anderen Künstlerpersönlichkeiten, zu einem Demokratiebekenntnis ausgewachsen.
Es gibt hier einen weiteren, wachsenden Faktor des Zerfalls des Kapitalismus, den die IKS ausführlich analysiert hat: die historische Schwächung des US-Imperialismus nach dem Zusammenbruch seines russischen Feindes und dem Auftauchen einer „Neuen Weltordnung“ 1990. Die zentrifugalen Tendenzen eines imperialistischen Jeder-für-sich-selbst stellen die US-Vorherrschaft vor wachsenden Herausforderungen. Die Beziehungen zwischen den USA und Israel kühlen sich immer weiter ab, und wer braucht schon Feinde, wenn er, wie die USA, Verbündete wie Pakistan hat? Trotz der scheinbaren Wiederannäherung gibt es Spannungen zwischen den USA und der Türkei und ihrer Rolle in der Region. Auch die Regierungen des Irak und Afghanistans neigen dazu, ihren eigenen Weg zu gehen; trotz 1,2 Milliarden Dollar teuren „Zuwendungen“ pro Jahr weigerte sich Obama vor einer Woche, Ägypten als einen „Verbündeten“ zu bezeichnen. Und trotz enormer, nicht nachlassender, hochrangiger diplomatischer Bemühungen wird die „Asien/Pazifik-Vision“ der USA bereits ernsthaft von den Aktionen des chinesischen Imperialismus untergraben. Der „Triumph der Befreiung Libyens“, dessen Geruch immer ranziger wird, ist ein weiteres Beispiel für die – einstweilige - Schwächung des US-Imperialismus und seiner französischen und britischen Alliierten und eine weitere Drehung an der Spirale des imperialistischen Chaos, der Instabilität und des Krieges.
Baboon, 25.09.2012 (Übersetzung aus dem Englischen)
(1) Gestern gab es einen Bericht von Stanford und den New Yorker Universitäten, demzufolge US-Drohnenangriffe in den pakistanischen Stammesgebieten eine „Todesrate“ von gerade einmal zwei Prozent unter den Gotteskriegern erzielen, und der letzte Trick besteht nun darin, einige Zeit nach dem ersten Angriff eine weitere Hellfire-Rakete hinterherzuschicken. Dies war ursprünglich eine terroristische Taktik, um Rettungskräfte, Angehörige und besorgte Passanten zu treffen. Sie sind eine wahre Terrorwaffe, in ihrem Ausmaß schlimmer als die V 1-Raketen der Nazis. Sie sind alltäglich in der Luft sichtbar und jede Nacht zu hören. Jede Versammlung, Hochzeit, Feier, was auch immer, ist ein potenzielles Ziel. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die Obama-Administration selbst die kühnsten Träume der Neokonservativen übertrifft. Derzeit läuft im britischen Fernsehen ein Werbespot der Luftwaffe, in dem die Lüge aufgetischt wird, dass es keine zivilen Opfer gebe. Andererseits sind das britische Militär und die Medien hinsichtlich der steigenden Zahl von Opfern britischer Drohnenangriffe kurz angebunden.
Wir veröffentlichen hier einen Artikel, den ein Sympathisant unserer Organisation geschrieben hat und der von der kürzlich stattgefundenen Mobilisierung der Arbeiter_innen und unterdrückten Massen in Palästina berichtet und daraus Lehren zieht. Wir begrüßen die Initiative des Genossen. Palästina ist eine Region mit brutalen imperialistischen Zusammenstößen mit enormem Leiden für die Bevölkerung; Worte wie Klasse, Proletariat, gesellschaftlicher Kampf, Autonomie der Arbeiterklasse usw. werden begraben unter dem, was die Barbarei des kapitalistischen Systems hervorbringt: Krieg, Nationalismus, ethnische Konflikte, religiöse Kämpfe etc. Umso wichtiger sind deshalb jene Proteste, wie der Genosse zu Recht unterstreicht, und die Nachrichten darüber sollten zu den Proletarier_innen der ganzen Welt gelangen und von ihnen in ihrer Bedeutung erkannt werden. Man ruft uns auf zu Solidarität mit Nationen, Völkern, Regierungen, „Befreiungsorganisationen" - diese Solidarität müssen wir ablehnen! Unsere Solidarität gilt nur Arbeiter_innen und Unterdrückten - in Palästina, Israel, Ägypten, Tunesien und der ganzen Welt. KLASSENSOLIDARITÄT GEGEN NATIONALE SOLIDARITÄT.
Aus einer Gegend der Welt, dem Nahen Osten, aus der normalerweise Nachrichten über militärische Massaker und Barbarei verbreitet werden; über Rivalitäten zwischen verschiedenen imperialistischen Gangstern, welche die Zivilbevölkerung als Geisel nehmen; über alle möglichen Hassgefühle und nationalistischen, ethnischen und religiösen Bewegungen (welche die „demokratischen" Mächte des Westens je nach Interessenlage kreieren, aufbauen und propagandistisch unterstützen, wie in Libyen und Syrien), ist, während die Schlagzeilen in der bürgerlichen Presse in den letzten Tagen von den Unruhen in den muslimischen Ländern nach den Mohammed-Karikaturen besetzt waren, wenig oder nichts berichtet worden[1] über die bedeutenden Proteste und Streiks, die im September gegen die Auswirkungen der weltweiten kapitalistischen Krise auf die Lebensbedingungen des Proletariats und die unterdrückten Schichten in den palästinensischen Gebieten in der Westbank stattfanden und als die größten Proteste seit Jahren beschrieben worden sind.
Auf dem Hintergrund einer oft verzweifelten Situation, in der das Proletariat und die Bevölkerung in den palästinensischen Gebieten der militärischen Besetzung, der Blockade und der absoluten Geringschätzung ihres Lebens und Leidens durch den israelischen Staat ausgesetzt sind, wird es ihnen besonders schwierig gemacht, sich den nationalistischen und islamistischen Einflüssen und der Tendenz zu entziehen, sich hinter verschiedenen Organisationen in den "militärischen Widerstand" gegen Israel einzureihen (ein wahrer Weg des Martyriums für Tausende von Palästinenser_innen angesichts der Überlegenheit des monströsen israelischen Militärapparates). Genau der Kampf gegen die Auswirkungen der tiefen Wirtschaftskrise des Kapitalismus weltweit eröffnet die Perspektive des Wiedererstarkens massenhafter proletarischer Kämpfe auf Weltebene und die Aufhebung der sektoriellen, nationalen, ethnischen oder anderer Spaltungen in der Arbeiterklasse sowie auf die Überwindung aller möglichen Illusionen und Mystifikationen ("demokratische" Illusionen im kapitalistischen Rahmen; über die "nationale Befreiung"; usw.).
Der Auslöser der Welle von Protesten und Streiks war die Ankündigung der Regierung von Ministerpräsident Fayyad[2], die Preise von elementaren Konsumgütern (einschließlich Nahrungsmittel und Benzin) zu erhöhen. Dieser Umstand war der Tropfen, der das Fass der ständig wachsenden Enttäuschungen der Bevölkerung durch die Palästinensische Autonomiebehörde zum Überlaufen brachte. Diese Behörde hat sich je länger je mehr als Hort von Karrieristen und Korrupten entpuppt, unter deren Schutz eine Kaste von palästinensischen und ausländischen Kapitalisten ihre Geschäfte machten und die genau in Fayyad personifiziert sind[3]; sie hat ihre Legitimität verloren durch die lange Zeit seit den letzten Wahlen 2006 und durch den Konflikt mit der Hamas; sie ist unfähig, die Probleme der äußerst verletzlichen und von ausländischen Spenden abhängigen palästinensischen Wirtschaft[4] zu lösen, die nicht nur von der militärischen Besetzung, sondern auch von der ebenfalls durch Israel ausgeübten peinlichen Kontrolle der Importe und Exporte, der Preise, der Steuereinnahmen, der Naturschätze (Pariser Abkommen, dem wirtschaftlichen Pendant zu den Osloer Abkommen) erdrosselt wird.
Schon im Laufe des Sommers wurden das Unbehagen und die verschiedenen Proteste offensichtlich. Zum Beispiel artete Ende Juni eine Demonstration in Ramallah nach der Ankündigung eines Treffens zwischen dem Präsidenten Abbas und dem israelischen Vizeministerpräsidenten Shauz Mofaz in eine brutale Repression von Seiten der palästinensischen Polizei aus[5].
Bei einer Massenarbeitslosigkeit (57% gemäß UNO, besonders unerträglich bei den Jungen) und Lebenshaltungskosten, die der Mehrheit kaum das Überleben erlauben, und angesichts weiterer großer Teile unzufriedener Menschen (zum Beispiel sind die Lohnzahlungen an die 150'000 Angestellten der Palästinensischen Autonomiebehörde[6] ausstehend), brachte die Ankündigung der Preiserhöhung am 1. September die Lunte zum Brennen.
Seit dem 4. September gibt es täglich neue Massendemonstrationen für Verbesserungen der Lebensbedingungen auf der ganzen Westbank (Hebron, Bethlehem, Ramallah, Jenin, usw.). Die Proteste richten sich auch gegen die israelische Kontrolle der Wirtschaft in der Zone (Pariser Abkommen), aber es ist offensichtlich, dass der Unmut beträchtlich über ein gegen Israel gerichtetes oder nationalistisches Gefühl hinausgeht, denn die zentrale Stoßrichtung der Proteste sind die Arbeits- und Lebensbedingungen. In Ramallah skandierten einige Jugendliche: "Früher kämpften wir für Palästina, jetzt kämpfen wir für einen Sack Mehl"[7].
Zu Beginn der Proteste zeigte Abbas auf dem Hintergrund eines Machtkampfes mit seinem Rivalen Fayyad Sympathien für den "palästinensischen Frühling". Doch die Entwicklung des Protests, in dem sich der Unmut nicht nur gegen die Regierung Fayyad oder gegen die Pariser Abkommen richtete, sondern ausweitete auf die Palästinensische Behörde selber, brachte die Fatah, die anfänglich vielleicht eine Möglichkeit zur Kanalisierung der Demonstrationen geboten hätte, dazu, zu versuchen, diese abzubrechen, da sie sich verschärften und ausweiteten[8].
Etwas Ähnliches lässt sich über die Hamas sagen, die höchstwahrscheinlich die Mobilisierungen ausnützen wollte, um zu versuchen, die gegenwärtige Regierung der Autonomiebehörde zu schwächen, aber dann doch davor zurückschreckte angesichts des Ausmaßes der Proteste und der Gefahr einer Ansteckung des Gazastreifens.
In Nablus erklärte ein Demonstrant: "Wir sind hier, um der Regierung zu sagen, dass es reicht ... Wir wollen eine Regierung, die so lebt, wie das Volk lebt, und das isst, was das Volk isst"[9].
"Wir sind es überdrüssig, von Reformen zu hören ... eine Regierung nach der anderen ... ein Minister nach dem anderen ... und die Korruption verschwindet nicht", steht auf einem Plakat in der Ortschaft Beit Jala[10].
In Jenin verlangten die Demonstrierenden die Festsetzung eines Mindestlohnes, die Schaffung von Arbeitsplätzen für die Arbeitslosen und die Reduktion der Studiengebühren[11].
Ministerpräsident Fayyad erklärte, er sei "bereit, zurück zu treten".
Die Massenproteste gingen weiter mit Straßenblockaden und Zusammenstößen mit der Polizei der Palästinensischen Autonomiebehörde. Am 10. September begann ein Generalstreik im Transportwesen, der von den Gewerkschaften ausgerufen worden war. Daran beteiligten sich massenhaft Taxifahrer, Lastwagenfahrer und Buschauffeure, die empfindlich von den Preiserhöhungen beim Benzin betroffen waren. Zahlreiche andere Sektoren wie das Personal der Kindertagesstätten nahmen ebenfalls am Streik teil.
Die Bewegung stieg an. Am 11. September traten die Student_innen der Universität und des Gymnasiums in einen 24-stündigen Solidaritätsstreik mit dem Generalstreik[12].
Arbeiter_innen von allen palästinensischen Universitäten riefen zusammen mit den Uni-Student_innen zu einem 24-stündigen Streik am 13. September auf[13].
Angesichts dieser Lage und nach einem Treffen mit den Gewerkschaften, kündigte die Regierung Fayyad an, nachzugeben mit dem Verzicht auf die vorgesehene Preiserhöhung, mit der Auszahlung der Hälfte der ausstehenden Löhne des Monats August an die Angestellten und mit Kürzungen der Gehälter und Privilegien der Politiker und hohen Beamten der Autonomiebehörde.
Am 14. September sagte die Transportgewerkschaft den Streik wieder ab, weil es "konstruktive Gespräche" mit der Autonomiebehörde gebe.
Die Massenproteste schienen zumindest zeitweilig abzuflauen, aber der soziale Unmut hat sich nicht gelegt. Die Gewerkschaften der Staatsangestellten und der Lehrer kündigten weitere Mobilisierungen mit begrenzten Streiks ab dem 17. September an[14]. Die Gewerkschaften im Gesundheitswesen kündigten am 18. September an, dass sie mit Protesten beginnen würden, wenn die Regierung auf ihre Forderungen wie die nach Erhöhung der Belegschaften oder Verbesserung der Freizügigkeit und der Aufstiegsmöglichkeiten nicht eingehe[15].
Die Proteste sind offenbar auf die durch die Palästinensische Behörde kontrollierte Zone der Westbank beschränkt geblieben.
Über die konkreten Einzelheiten dieser Bewegungen hinaus beruht ihre Bedeutung auf der Besonderheit der Zone, die ständig von blutigen imperialistischen Konflikten heimgesucht wird (sei es direkt zwischen Staaten, sei es zwischen Stellvertretern[16]), bei denen immer die Zivilbevölkerungen am meisten unter den Folgen leidet[17], nebst den reaktionären Bewegungen nationalistischer oder religiöser Art. Es ist aber insbesondere wichtig zu unterstreichen, dass die Proteste klar im Zusammenhang mit ähnlichen Kämpfen sowohl in der Region als auch weltweit entstanden. Wir dürfen die großen Mobilisierungen in den letzten Monaten in Israel gegen die Verteuerung der Lebenshaltungskosten nicht vergessen, die trotz ihren Schwächen und "demokratischen" Illusionen einen ersten wichtigen Schritt zum Bruch mit der "nationalen Einheit" im Militärstaat Israel darstellen; wir dürfen nicht vergessen, dass die großen Arbeiterstreiks in Ägypten den entscheidenden Anstoß zum Sturz des Schützlings der USA, Mubarak, bildeten[18].
Das Proletariat und die unterdrückten Schichten Palästinas - und in der ganzen Welt - müssen wissen, dass ihre einzige Hoffnung darauf, würdige Lebens- und Arbeitsbedingungen und eine friedliche Existenz (die sich die große Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung wirklich wünscht) zu haben, nur über die Entfaltung der massenhaften Kämpfe zusammen mit den Ausgebeuteten der Region zu erfüllen ist, über alle nationalen und religiösen Grenzen hinweg. Mit der palästinensischen "nationalen Einheit" zu brechen und die Kämpfe zu vereinen, insbesondere mit dem Kampf der Ausgebeuteten und Unterdrückten in Israel und mit denjenigen der ganzen Region, das ist die mächtigste Waffe des Proletariats zur Schwächung und Lähmung der mörderischen Hand des israelischen Staates und der weiteren imperialistischen Gangster. Der "bewaffnete Widerstand", das heißt die Unterwerfung unter die Interessen der verschiedenen nationalistischen und religiösen Gruppen, führt es nur ins Massaker und ins endlose Leiden und stärkt die palästinensischen Ausbeuter und Räuber.
Daran ist für die palästinensischen Ausgebeuteten und diejenigen der ganzen Welt nicht zu zweifeln: Wenn sie nicht für ihre eigenen Klasseninteressen gegen den Kapitalismus kämpfen, wenn sie sich in die "Kämpfe der nationalen Befreiung" hineinziehen lassen, in "Rassenkämpfe" alle Art; wenn sie sich den "allgemeinen Interessen des Landes" unterwerfen (d.h. unter die allgemeinen Interessen der Bourgeoisie und ihres Staates), so werden die Gegenwart und die Zukunft, die sie unter kapitalistischem Regime erwarten, die gleichen sein, die der ANC von Mandela seinen "Brüdern" und "Genossen" Minenarbeitern offeriert: Elend, Ausbeutung und Tod[19].
Draba 23.09.12
[1] Ganz wenig dazu ist in der westlichen bürgerlichen Presse veröffentlicht worden, ganz im Gegensatz zu den Schlagzeilen über die muslimischen Proteste oder die Artikel über die „Freiheitskämpfer" gegen Assad in Syrien. Auch wenig ist in den „antiimperialistischen" (gegen die USA und ihre Verbündeten gerichteten) Medien von Kuba oder Iran berichtet worden. Auch die linken und linksextremen Foren (in Spanien lahaine.org oder kaosenlared.net oder rebelion.org) zeigten kein großes Interesse an den Ereignissen. Die „Solidarität mit dem palästinensischen Volk" beschränkt sich auf Nachrichten, die den verschiedenen Interessen auf dem imperialistischen Schachbrett dienen. Wenn das Volk gegen „seine" eigene Regierung kämpft und mit der „nationalen Einheit" bricht, um seine Lebensbedingungen zu verteidigen, verdient es keine Nachricht mehr.
[2] Ein Mann des Internationen Währungsfonds, 2007 ernannt durch Abbas auf Druck der USA im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Hamas.
[3] www.aljazeera.com/opinions/2012/9/13/economic-exploitation-of-palestinians-flourishes-under-occupation [204]. Für diejenigen, welche nicht Englisch lesen, sind online-Uebersetzer - wie z.B. Google Translator -, wenn auch bei weitem nicht perfekt, so doch ganz hilfreich.
[4] www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=521815 [205]
[5] https://altahrir.wordpress.com/2012/07/01/ramallah-protesters-attacked-by-palestinian-authority-police/ [206]
[6] Die Regierung der Autonomiegebiete.
[7] www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=517262 [207]
[8] www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=517618 [208]
[9] www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=517618 [208]
[10] www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=518944 [209]
[11] www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=517945 [210]
[12] https://www.latimes.com/archives/blogs/world-now/story/2012-09-10/palestinians-protest-in-west-bank-cities-over-economy [211]
[13] www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=519320 [212]
[14] www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=520696 [213]
[15] www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=521159 [214]
[16] Es ist kein Geheimnis, dass sowohl Iran als auch Syrien Beziehungen zur Hamas gehabt haben und immer noch haben. Ebenso wenig ist es ein Geheimnis, dass Assads Syrien Russland als Hauptverbündeten unter allen großen imperialistischen Mächten hat und Iran als wichtigsten Verbündeten in der Region. Ebenso ist es eine Tatsache, dass sowohl Russland als auch Iran und China enge wirtschaftliche und politische Beziehungen zu lateinamerikanischen Staaten wie Brasilien, Venezuela oder Kuba pflegen.
[17] Vergessen wir nicht - ohne das Thema zu vertiefen -, dass der Krieg zwischen Hamas und Fatah um die Kontrolle über den Gazastreifen 2007 zahlreiche Opfer gefordert und viel Leiden über die Zivilbevölkerung gebracht hat - Kollateralschäden der „nationalen Befreiung" ... www.haaretz.com/1.4942705 [215]; https://libcom.org/article/palestinian-union-hit-all-sides [216]
[18] Vgl. dazu "Die Bewegung der Empörten in Spanien, Griechenland und Israel : von der Empörung zur Vorbereitung der Klassenkämpfe [217]" auf unserer Webseite ; und zur gegenwärtigen Phase: "eine Klassenanalyse über die Ereignisse im arabischen Raum [218]".
[19] Vgl. Massaker in Südafrika: Die Herrschenden hetzen ihre Bluthunde auf die Arbeiter, https://de.internationalism.org/Welt174_Suedafrika [219]
Wir veröffentlichen unten die Übersetzung eines Artikels von Internacionalismo, unserer Sektion in Venezuela. Er wurde noch vor der Verkündung des Wahlergebnisses verfasst.
Die Präsidentschaftswahlen am 7. Oktober in Venezuela stellen einen Moment erhöhter Spannungen zwischen den bürgerlichen Fraktionen, den „Chavisten“ und den Oppositionsparteien, dar. Letztere fanden sich in der Plattform der Demokratischen Einheit zusammen und haben Henrique Capriles zu ihrem Kandidaten gekürt, während die offizielle Macht auf ihren ewigen Kandidaten, Hugo Chavez, setzt, der über seinen Parteiapparat und Hunderte von Millionen Bolivars (1) verfügt, um Stimmen zu kaufen, hauptsächlich unter den Arbeitermassen, die seit dem Machtantritt des Chavez-Regimes und davor in den 30 Jahren der politischen Konfrontationen verschlissen worden waren.
Der Aufstieg von Chavez war das Produkt aus dem Zerfall der venezolanischen Bourgeoisie, insbesondere der politischen Kräfte, die das Land vor seinem Machtantritt 1999 regiert hatten. Aufgrund seiner großen Popularität unterstützten ihn diverse Teile des Kapitals mit dem Ziel, gegen die ausufernde Korruption und für die Wiedererlangung der Glaubwürdigkeit offizieller Institutionen, vor allem aber der Regierung zu kämpfen. Mit anderen Worten, mit dem Ziel, das System der Unterdrückung und Ausbeutung im Interesse der Nation und damit der Bourgeoisie zu verbessern. Die oppositionellen Kräfte legten es trotz ihrer Schwächung schnell auf eine Kraftprobe mit dem Regime an, am spektakulärsten zurzeit des Staatsstreiches 2002 (2) und der Blockade der Ölförderung Ende desselben Jahres. Am Ende erwies sich all dies als fruchtlos und führte lediglich zu einer Stärkung der Macht von Chavez, der 2006 wiedergewählt wurde.
Nach einem Jahrzehnt des Chavismus hat die Krise verschiedene Fraktionen der Bourgeoisie in einen Gegensatz zur Macht des Zentralstaates geraten lassen. Die oppositionellen Kräfte profitieren vom Verlust der Glaubwürdigkeit des Regimes, der auf zwei Hauptursachen zurückgeführt werden kann:
· auf den wachsenden Zerfall des Chavez-Regimes, den wir in einem früheren Artikel in Internacionalismo so charakterisierten: „Es haben sich neue zivile und militärische Eliten gebildet und die Spitzenposten der Staatsbürokratie unter sich aufgeteilt. Sie sind in ihrem Bestreben gescheitert, die Probleme zu überwinden, die von den vorherigen Regierungen angehäuft worden waren, da sie weitaus mehr um ihre persönlichen Interessen und die Aufteilung der Ausbeute aus der Ölindustrie besorgt waren, was in eine exponentielle Steigerung der Korruption und in der wachsenden Preisgabe eines ernsthaften Staatsmanagements mündete. Diese Situation, die vom Größenwahn des Chavez-Regime verschärft wurde, das das ehrgeizige Ziel verfolgte, die ‚bolivarische Revolution‘ auf ganz Lateinamerika auszudehnen, führte dazu, dass die Staatskassen immer mehr geschröpft wurden. Es hat auch zur Verschärfung der politischen und gesellschaftlichen Antagonismen geführt, die die Regierungsunfähigkeit, welche bereits in den 90er Jahren ausgeprägt war, noch gesteigert hat“;
· auf die Intensivierung der Krise des Kapitalismus im Jahr 2007, die dem Vorhaben des Chavez-Regimes, sein Projekt des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ voranzutreiben, ein Strich durch die Rechnung machte. Obgleich Chavez wie andere Regierende erklärte, dass die venezolanische Wirtschaft gewappnet sei, hat in Wirklichkeit die Weltkrise des Kapitalismus die historische Zerbrechlichkeit der nationalen Wirtschaft aufgezeigt: Sie ist total vom Erdölpreis abhängig. Dem kann die Tatsache hinzugefügt werden, dass die populistischen Schemata erst durch die Angriffe auf die Löhne und die Reduzierung oder Unterdrückung von „Errungenschaften“ wie die Tarifvereinbarungen ermöglicht wurden, die der Chavismus als „Trinkgeld“ abtat und abschaffte.
Die Strategie des Oppositionskandidaten Henrique Capriles, der auf tägliche „Klinkenputzer“-Touren durch Städte und Dörfer setzt, ist es, das Versagen des Chavismus und die weitverbreiteten Gefühle des gesellschaftlichen Niedergangs auszuschlachten. Laut Meinungsumfragen hat seine Beliebtheit stark zugenommen. Seine Taktik besteht darin, ähnlich wie der Chavismus populistische Sozialprogramme vorzuschlagen und gleichzeitig die direkte Konfrontation zu vermeiden, und sie hat Früchte getragen. Hugo Chavez hat seinerseits die (Schein-)Erfolge seiner Armutsprojekte und seine Qualitäten als „Wächter“ bzw. „Ordnungsfaktor“ gegen die Anarchie, die das venezolanische Kapital in seiner Gesamtheit bedrohe, in die Waagschale geworfen.
Trotz all seiner Schwächen (Verlust der Kontrolle über die Provinzregierungen, Interessenskonflikte in den eigenen Reihen, die Erkrankung von Chavez, etc.) beabsichtigt der Chavismus nicht, von der Macht zu lassen, und hat in den letzten Monaten insbesondere dort nichts unversucht gelassen, wo die Opposition möglichweise Vorteile erzielen könnte: Er ordnete die obligatorische Mitgliedschaft der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (die chavistische Partei) an, erschwerte die Stimmenabgabe aus dem Ausland, besonders aus Miami und Spanien, neutralisierte die Parteien, die die Opposition unterstützen (PODEMOS, PPT, COPEI), durch Urteile des Obersten Gerichtshofes, etc. Dazu zählt auch die Kontrolle, die über die Medien und die Kommunikationsmittel ausgeübt wird und Chavez einen entscheidenden Vorteil auf der Ebene der Wahlpropaganda verschafft.
Chavez hat auch andere Strategien ausgeklügelt, die ihm helfen sollen, die Wahlen zu gewinnen. Er hat bereits angedeutet, dass die Opposition einen Plan zur Anprangerung eines Wahlbetrugs in der Schublade habe. Bei dieser Strategie verlässt er sich stets auf die Staatsmacht und besonders auf die Armee, die längst ihren Status als „professionelle, keine Entscheidung treffende und unpolitische Kraft zu Diensten der Nation“ zugunsten des Daseins als „eine patriotische, antikapitalistische, anti-imperialistische und chavistische Kraft“ aufgegeben hat. Hieraus wird klar, was hinter den häufigen Drohungen von Chavez und seiner Entourage gegen Opponenten steckt.
Auch die an der Macht befindliche Partei beschuldigt die Opposition, sich zu weigern, die Wahlergebnisse, deren Verkündung dem Nationalen Wahlgremium (NEC) zustehen, anzuerkennen. Daher schlägt die Regierung Alarm, um ihre Opponenten daran zu hindern, die Bevölkerung aufzuwiegeln, wenn das NEC den Triumph von Chavez verkündet. Die Opposition hat ihrerseits erklärt, dass sie dem NEC keinen Freibrief ausstellen könne, da es sowohl Richter als auch Beteiligter ist und Sanktionen gegen die Opposition verhängt habe, ohne hingegen die Gesetzesmanipulationen der Regierung zu kritisieren. Kurzum: dies ist schlicht und einfach eine Auseinandersetzung zwischen bürgerlichen Parteien, in der jeder Clan Tricks benutzt, die typisch für eine Klasse sind, die ihren Griff nach der Macht verstärkt.
Das venezolanische Proletariat muss wachsam bleiben und darf nicht zum Opfer dieser „letzten Schlacht“ zwischen den Kräften des nationalen Kapitals werden, die es für ihre Machtkämpfe zu mobilisieren versuchen.
Der Chavismus hat einige sehr mächtige ideologische Waffen zur Mobilisierung der „Armen“ und der „Ausgeschlossenen“, die noch immer hoffen, dass Chavez zu seinen Versprechen steht, insbesondere zu jenen über die „Missionen“, die in der Theorie sich „gegen die räuberische Bourgeoisie (richten), die zurück in die Vergangenheit gehen wollen“. Doch Chavez bereitet sich auch auf eine bewaffnete Konfrontation vor, wenn es sich als notwendig erweisen sollte. Er weiß, er kann dabei auf die bolivarischen Milizen und auf die Stoßtruppen zählen, die sich in etlichen „Kollektiven“ sowohl in Caracas als auch im Landesinnern gebildet haben und vom Staat bewaffnet werden.
Die oppositionellen Kräfte ihrerseits werden, auch wenn sie keine öffentliche Strategie für den Fall einer Machtdemonstration haben, nicht verschränkten Armen zuschauen. Zu ihnen zählen traditionelle Parteien wie die sozialdemokratische Demokratische Aktion, die eine jahrzehntealte Erfahrung in der Organisierung bewaffneter „Kollektive“ besitzt. In den Reihen der Opposition gibt es auch Organisationen auf der Linken, die anfangs den Chavismus unterstützt hatten und sich gut mit seinen Konfrontationsmethoden auskennen.
Die ArbeiterInnen müssen sich darüber bewusst sein, dass es unmöglich ist, gegen prekäre Arbeit und Ausbeutung zu kämpfen, indem sie die Regierung auswechseln. Die Krise des Kapitalismus wird bleiben und sich vertiefen, wer von beiden – Chavez oder Capriles - auch immer gewinnt. Beide werden Austeritätsprogramme einführen.
Wir dürfen nicht in die ideologische Falle tappen, die von jenen ausgehoben wurde, die behaupten, dass es in dieser Wahl um „Kommunismus vs. Demokratie“ oder um „das Volk gegen die Bourgeoisie“ gehe. Beide, Chavez und Capriles, vertreten staatskapitalistische Programme, deren Grundlage allein die Ausbeutung des venezolanischen Proletariats ist.
Die Wahlauseinandersetzungen sind nur ein Moment in der Konfrontation zwischen den verschiedenen Fraktionen des nationalen Kapitals. Das Proletariat darf sich nicht in die Konflikte zwischen bürgerlichen Banden hineinziehen lassen. Es muss mit der demokratischen Ideologie brechen, die Lehren aus seinen eigenen Kämpfen ziehen, seine Bemühungen fortsetzen, um seine Klassenidentität, seine Einheit und Solidarität wiederzuentdecken.
Revolucion Mundial, Oktober 2012
(1) Die lokale Währung.
(2) Mit dem Staatsstreich zwischen dem 11. und dem 13. April 2002, der angeführt wurde von Pedro Carmona, wurde vergeblich versucht, Chavez von der Macht zu entfernen.
Am Montag, den 10. September 2012, streikten die LehrerInnen in Chicago zum ersten Mal seit 25 Jahren und nach Jahren des Angriffs auf ihre Vergünstigungen, des Lohnstopps und der noch haarsträubenderen und entwürdigenden Arbeitsbedingungen.
Dieser Streik knüpft nahtlos an jene Streiks an, die im Sommer wie Pilze aus dem Boden schossen, Streiks der New Yorker Beschäftigten von Con-Edison (einem US-Energieversorger), der Schulwarte in Houston, der ArbeiterInnen der Palermo Pizza-Fabrik in Milwaukee, Wisconsin – um nur einige der bekannteren Streiks zu erwähnen – und mehr als ein Jahr zurückreichend der Streik der Beschäftigten des IT-Unternehmens Verizon in New York City sowie die öffentlichen Kundgebungen der öffentlichen Angestellten in Madison, Wisconsin. Nun haben die LehrerInnen endlich gleichgezogen! Als Teil der Arbeiterklasse sind die LehrerInnen nicht ausgespart geblieben von der Wirtschaftskrise und den schonungslosen Attacken unserer Machthaber gegen ihren Lebensstandard und ihre Arbeitsbedingungen. Bisher waren die LehrerInnen wegen ihrer Stellung als Teil des öffentlichen Sektors, der damit beauftragt ist, die künftige Arbeitergeneration auszubilden, damit sie die Bedürfnisse eines nach Profit und Konkurrenz strebenden Kapitalismus befriedigen, durch eine brutale Medienkampagne verunglimpft und dämonisiert worden, die zwei wesentliche Zwecke verfolgt:
1. die Arbeiterklasse zu spalten, einen Bereich gegen den anderen auszuspielen;
2. die drakonischen Maßnahmen gegen Jobsicherheit, Vergünstigungen und Arbeitsbedingungen mit dem Hinweis auf die so dringend benötigte „Bildungsreform“ zu rechtfertigen.
Diese Attacken und Kampagnen sind ein internationales Phänomen, das auch in Frankreich, Griechenland, Spanien, Portugal, Holland, Italien, Großbritannien, Deutschland, Österreich und im Rest der Welt stattfand und stattfindet. Die Reaktionen waren häufig massiv gewesen, nicht nur in den europäischen Ländern, sondern auch in Indien, in Afrika (Swasiland) und Lateinamerika. Die Mobilisierung der Chicagoer LehrerInnen reiht sich ein in den erwachenden internationalen Klassenkampf gegen die Angriffe der Bosse.
Es gibt viele Gründe für die Unzufriedenheit der LehrerInnen. Ungeachtet der Behauptung des Chicagoer Bürgermeisters Rahm Emanuel, dass der Streik keinen ökonomischen Grund habe, und seines lächerlichen Ersuchens einer gerichtlichen Unterlassungsklage gegen die „illegal“ streikende Gewerkschaft gibt es jede Menge wirtschaftlicher Belange, die die LehrerInnen in den Streik getrieben haben: das Einfrieren der Beitragsraten der Krankenkassen, die Einführung einer neuen Lehrerevaluierung auf der Basis von Prüfungsleistungen der Studenten, d.h. ein Angriff auf die Jobsicherheit besonders im Zusammenhang mit der drohenden Schließung von mindestens 100 Schulen und und und. Die „Gehaltserhöhung“, die dieser Kontrakt feilgebot, würde nicht einmal ausreichen, um die erweiterten Schultage und –jahre zu bezahlen, und dies nennen sie eine Erhöhung! Sind diese keine ökonomischen Themen?? Nur unsere Bosse und Machthaber, die keine wirtschaftlichen Sorgen haben, die sie nicht schlafen lassen, empfinden diese Attacken nicht als ökonomisch! Aber natürlich liegen die LehrerInnen völlig richtig, wenn sie über die rein ökonomischen Fragen hinausgehen. Sie verlangen den Respekt all ihrer Klassenbrüder und -schwestern für ihren Kampf um ihre Würde als menschliche Wesen, für ihre Weigerung, ihre Leidenschaft fürs Lehren zu einem Gegenstand zu machen, der sich durch standardisierte Tests messen ließe, und für ihre Weigerung, ihre SchülerInnen der Mentalität und Praxis unserer Bosse auszusetzen, die menschliche Wesen als Objekte betrachten, welche sich entsprechend des Gesetzes der kapitalistischen Profitabilität und Konkurrenz quantifizieren lassen, die die Menschen auf bloße Waren reduzieren, welche verkauft oder verschleudert werden. Dies ist im Kern die Bedeutung ihrer vielgepriesenen Bildungs-„Reform“! Sie läuft auf eine versicherungstechnische Kalkulation hinaus: Wie viel sind die Bosse angesichts der durch die unaufhaltsame Krise ihnen aufgezwungenen Umstrukturierung der Arbeitskraft bereit für die öffentliche Bildung zu „verschwenden“? Wir können unseren KollegInnen Lehrer nur sagen: Wir bewundern und unterstützen eure Courage! Ihr seid eine Inspiration für alle von uns, die unter denselben Bedingungen leiden!
In den Medien drücken die herrschende Klasse und die Bosse ihre Sorge darüber aus, was dieser Streik für die Perspektive der Wiederwahl eines demokratischen Präsidenten bedeuten wird. Machen sie sich Sorgen darüber, dass die Arbeiterklasse immer mehr in der Lage sein wird, ihre Vernebelungsaktionen und Mystifikationen zu durchschauen und sich zu vergegenwärtigen, dass – ob nun blau (republikanisch) oder rot (demokratisch) lackiert – der Umfang, die Ziele und der Inhalt der Attacken im Grunde dieselben sind? Wenn sie sich Sorgen machen, dass die Arbeiterklasse sich irgendwann sagt, dass der wahre Kampf auf den Straßen ausgetragen werden muss, zusammen mit andern ArbeiterInnen, und nicht an der Wahlurne, dann täte die Arbeiterklasse auch gut daran, über die Rolle nachzudenken, die beide Parteien bei der Implementierung der Attacken spielen, und sodann die Frage stellen: Wer ist unserer wahrer Freund? Wem sollten wir uns zuwenden, um Hilfe zu bekommen? Ist das offizielle „Gewerkschaftswesen“ die Antwort auf diese Frage? Wie kann die Antwort „ja“ lauten, wenn die Gewerkschaftsführer hinter geschlossenen Türen mit den Bossen verhandeln? Wie kann es möglich sein, dass sie unsere Freunde sind, wenn Vertrag für Vertrag unsere Arbeits- und Lebensbedingungen immer mehr ausgehöhlt werden? Wie können wir ihnen glauben, wenn sie etwas, was für jedem Arbeiter eine Niederlage ist, als einen „Sieg“ preisen, da es ja noch viel „schlechter“ hätte kommen können? Ist es nicht genau dies, was uns Karen Lewis (Führerin der Chicagoer Lehrergewerkschaft) frecherweise sagen wollte, als sie damit hausieren ging, dass Rahm Emanuel sein Vorhaben, die LehrerInnen auf der Grundlage von Prüfungsleistungen der Studenten zu bewerten, immerhin von 40 auf 25 Prozent herabgesetzt habe? Doch wenn wir der offiziellen Gewerkschaft nicht trauen können, wem dann?
Die effektivste Art, einen Kampf zu führen, ist die Etablierung offener Generalversammlungen, wie die ArbeiterInnen es in der Geschichte bereits getan hatten und es nun wieder von neuem lernen. Wir haben erste Versuche, die Bestimmung des Kampfes in unsere eigenen Hände zu nehmen, in Spanien während der Indignado-Bewegung und hier in den Staaten in der Occupy-Bewegung gesehen. Was diese Bewegungen anzeigen, ist das Bedürfnis, einen Raum für offene Diskussionen zu schaffen, in dem wir frei und schöpferisch reale Lösungen für unsere Probleme in Betracht ziehen können. Wir sind die einzigen „Experten“, und die Verantwortlichkeit für unsere Entscheidungen sollte allein den Arbeitergeneralversammlungen überlassen werden, die von den ArbeiterInnen selbst kontrolliert werden. Wenn wir in der Lage sind, den Kampf in unsere Hände zu nehmen, ist es möglich, ihn auf andere Sektoren und ArbeiterInnen, auf Eltern und Studenten auszuweiten und auf diese Weise zu einer wirklichen Stärke, Einheit und Solidarität zu gelangen sowie aus der Isolation auszubrechen, in die uns unsere Gewerkschaften sperren! Die Sympathie, die euer Streik unter vielen anderen ArbeiterInnen, selbst unter Eltern, die eine Menge Schwierigkeiten haben, jemand zu finden, der sich um ihre Kinder kümmert, geweckt hat, sagt genug über die Notwendigkeit aus, den Kampf auszuweiten, wirkliche Solidarität auszudrücken, dem Rest der Arbeiterklasse Vertrauen zu schenken. Dieser Streik ist einstweilen in der Isolation ertränkt worden, und die LehrerInnen sind an die Arbeit zurückgekehrt, ohne in Bezug auf den Vertrag auch nur irgendetwas erreicht zu haben. Doch wenn die LehrerInnen imstande sind, etwas in Bezug auf die Lehren, wie man effektiver kämpfen kann und wer unsere wirklichen Freunde und Feinde sind, erlangen, dann werden sie nicht verloren haben.
In den zwei Wochen vor der endgültigen Unterzeichnung des Kontrakts sollten die LehrerInnen zusammenkommen, um zu diskutieren und die Lehren aus diesem Kampf zu ziehen, und sich darauf vorbereiten, aus der Isolation, die von der Gewerkschaft durchgesetzt wurde, auszubrechen, indem sie zu anderen ArbeiterInnen gehen und offene Diskussionsforen abhalten, wo die Entscheidungen kollektiv getroffen werden und in den Händen der ArbeiterInnen selbst verbleiben.
Internationalism 10.9.2012
Am 15. September gingen über 700.000 Menschen auf die Straßen Lissabons und anderer portugiesischer Städte, um gegen die Sparpolitik der neuen Regierung von Pedro Coelho zu demonstrieren. Ein siebenprozentiger Anstieg der TSU – eine einheitliche Sozialversicherungssteuer – für ArbeiterInnen zusammen mit einer 5,75%-igen Kürzung der Beiträge der Bosse stand hinter diesem spontanen Zornesausbruch, der die offiziellen Gewerkschaften außen vor ließ. Die Demonstrationen waren vorwiegend durch soziale Netzwerke organisiert worden. Angesichts des massiven Ausmaßes der Demonstrationen schien die Regierung zeitweilig den Rückzug anzutreten. Jedoch sollte man sich keine Illusionen machen: Dies macht sie nur, um morgen noch effektiver mit denselben Maßnahmen aufzuwarten, dies zudem mit dem Beistand von Gewerkschaften wie die CGTP (Allgemeine Konföderation der portugiesischen Arbeiter), die nächstes Mal besser positioniert sein werden, um das Terrain zu besetzen, wie sie dies mehr als ein Jahr lang getan haben, und die ihren eigenen Beitrag leisten, um die Sparmaßnahmen durchzupauken. Die CGTP reagierte schnell, um die Kontrolle über die Bewegung zu erlangen. Sie rief sofort zu einer neuen Demonstration für den 29. September auf, die diesmal von ihren eigenen Vertrauensleuten beaufsichtigt werden und unter ihren eigenen Schlachtrufen stehen sollte – eine Demonstration, die allerdings weitaus weniger Zulauf hatte.
In Griechenland gab es am 26. September im Anschluss an den dritten Generalstreik, zu dem die Gewerkschaften, insbesondere die PAME, aufgerufen hatten, neue Demonstrationen in Saloniki und Athen mit mehr als 30.000 ArbeiterInnen. Die Wut war so groß, dass es erneut zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei kam, einschließlich Auseinandersetzungen zwischen streikenden Polizeibeamten und den Ordnungskräften!
In Spanien demonstrierten Zehntausende am 25. September vor dem Parlament, das von 2.000 Polizeikräften beschützt wurde, um ihrem Zorn Ausdruck zu verleihen. Es gab Ausbrüche unkontrollierter Polizeigewalt „wie zu Zeiten Francos“, wie Augenzeugen berichten. Fünf Tage später, am 29. September, wurde das Parlament erneut umzingelt.
In Italien waren 30.000 Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst auf den Straßen Roms unterwegs, um gegen eine neue Serie von Sparmaßnahmen (Rentenkürzungen und „Abstufungen“) zu protestieren.
Kurzum, die letzte Septemberwoche hatte eine steigende Wut in einer ganzen Reihe von europäischen Ländern als Reaktion auf die brutalen Angriffe und die endlose Abfolge von Sparplänen erlebt.
Die Regierungen wie auch die Oppositionsparteien und Gewerkschaften schieben sich gegenseitig die Verantwortung für diese Maßnahmen der aus der EU, der Europäischen Zentralbank und dem IWF zusammengesetzten „Troika“ zu. All diese Leute wollen uns glauben machen, dass das Problem der Krise von Land zu Land gelöst werden könne, und versuchen, unsere Köpfe mit der Illusion zu benebeln, dass die Welt nicht im gleichen Boot sitzt, dass manche Länder das Schlimmste vermeiden können, ihre Wirtschaft wieder zum Laufen bringen können, wenn sie die notwendigen Anstrengungen unternähmen. Die Berichterstattung über die wirtschaftliche Lage der PIGS (Portugal, Italien, Griechenland, Spanien) verfolgt den Zweck, die Illusion zu verstärken, dass die Dinge in Großbritannien oder Frankreich gar nicht so schlimm sind, obwohl auch dort Angriffe auf unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen stattfinden. Und dies ist das Los der Arbeiterklasse überall auf der Welt: wachsende Ausbeutung, eine immer schlimmere Schlacht ums Überleben und die Geißel der Repression, falls wir aufbegehren.
Die Bourgeoisie tut alles, um zu verhindern, dass wir uns darüber bewusst werden, dass überall ArbeiterInnen angegriffen werden, um den Lernprozess zu blockieren, dass wir einer internationalen Klasse angehören. Daher berichten die Medien sehr wenig über Widerstandsbewegungen gegen die Austerität, es sei denn, diese sind zu groß, um verborgen zu bleiben. Und wenn, dann lenken sie unsere Aufmerksamkeit auf angsteinflößende Bilder der Gewalt oder auf diese oder jene Schwäche der Bewegung. Daher ist es für uns, die Ausgebeuteten, umso wichtiger, über die Grenzen zu schauen, die Erfahrungen aus den gegenwärtigen und vergangenen Kämpfen zu diskutieren und die Lehren für die vor uns liegenden Kämpfe zu ziehen.
Es gibt keinen Ausweg aus dieser Krise. Dies muss unmissverständlich klar sein. Auch wenn sich jeder insgeheim eine schönere wirtschaftliche Zukunft wünscht – dieses kapitalistische System kann uns lediglich Armut und Elend anbieten. 30 Jahre lang haben sie uns weismachen wollen, dass morgen alles besser werden wird, wenn wir nur den Opfern von heute zustimmen. Aber dann öffnete jedes Opfer die Tür zu weiteren Opfern, die gar noch schlimmer waren! Es handelt sich hier aber nicht einfach um böswillige Absicht der Bosse oder des Staates. Es ist der unaufhaltsame Sturz in den Bankrott, der dem gesamten System diese unerbittliche Logik aufzwingt. (1)
Trotz des wachsenden Zorns, der sich in immer häufigeren Auseinandersetzungen mit der Polizei ausdrückte, haben sich die offiziellen „Aktionstage“ als nutzlos erwiesen. Jahrzehntelang haben wir erlebt, dass diese Art von „Aktionen“ als ein Mittel zur Sterilisierung und Eindämmung des Klassenkampfes dienten, die uns hinter den Gewerkschaftsflaggen aufreihen, uns in verschiedene Sektoren spalten und uns einzwängen zwischen den Polizeireihen und den Gewerkschaftslautsprechern, die jegliche wirkliche Diskussion verhindern.
Die Arbeiterklasse weiß dies mehr oder weniger, doch hat sie noch nicht klar und bewusst begriffen, dass sie ihre Kämpfe in eigene Regie nehmen muss, dass sie ihre eigenen Forderungen aufstellen muss, andernfalls die Bewegung verpuffen wird.
Hier ist das Beispiel Spaniens sehr aufschlussreich. Im vergangenen Jahr war die Bewegung der Indignados eine reale und mächtige Demonstration des Willens der Bevölkerung und der Arbeiterklasse, auf kollektive Weise, außerhalb der Gewerkschaften, zusammenzukommen, um gemeinsam darüber zu diskutieren, wie man sich gegen die Angriffe zur Wehr setzen und seiner Empörung über die elenden Bedingungen Ausdruck verleihen kann, die vom spanischen Staat durchgesetzt worden wurden. Der bedeutendste Aspekt war die Schaffung eines Raumes für Diskussionen auf der Straße durch eine ganze Reihe von Generalversammlungen, die jedermann und allen Kämpfen, die im Rest der Welt ausgefochten wurden, offen standen. In Spanien war, wenn ein(e) Arbeiter(in) aus dem „Ausland“ das Mikrophon ergriff, um seine/ihre Solidarität zum Ausdruck zu bringen und manchmal zu schildern, was im eigenen Land vor sich ging, die Sympathie unvermittelt und greifbar, der Empfang warm und enthusiastisch. An diesem Punkt waren die wenigen nationalen oder regionalen Fahnen und jene, die den Kampf auf die Forderung nach regionaler Unabhängigkeit reduzieren wollten, nicht besonders willkommen; jedenfalls wurden ihre Reden nicht großartig beklatscht. Und die Indignados-Bewegung ließ sich nicht innerhalb der spanischen Grenzen einsperren. Sie hatte in vielen Ländern, von Israel bis hin zu den USA und Großbritannien mit der Occupy-Bewegung, Ableger.
Die Bourgeoisie ist sich der potenziellen Gefahr wohl bewusst, die in der Reifung solch absonderlicher Ideen in den Köpfen der Ausgebeuteten steckt: Von ihrem Standpunkt aus ist es eine ungute Sache, wenn Gefühle der Solidarität im Verlaufe von Arbeiterkämpfen entstehen, vor allem wenn dies auf internationaler Ebene geschieht. Nun erleben wir eine Gegenoffensive durch die Bourgeoisie, die darauf abzielt, der Arbeiterklasse das Gift des Nationalismus und Regionalismus einzuflößen. So wurde während des Aktionstages am 15. September unter dem Slogan „Wir dürfen uns nicht das Land von ihnen stehlen lassen“ zum „Sozialgipfel“ (CO, UGT [2] und 200 weitere Plattformen) in Madrid aufgerufen. Am 25. September organisierte eine Dachorganisation, die sich aus einer ganzen Reihe von Gruppen zusammensetzte, von der klassischen Linken des Kapitals wie die KP bis hin zu den zerfallenden Überresten der 15M-Bewegung, eine Protestaktion vor dem Abgeordnetenhaus „gegen die Beschlagnahme der nationalen Souveränität durch die Märkte“. All dies endete in Konfrontationen mit den Bullen (wobei Provokationen durch zwielichtige Elemente unübersehbar waren). Einen Tag später riefen die radikalsten Gewerkschaften (mit anderen Worten: die CGT und die CNT [3]) zusammen mit nationalistischen Gewerkschaften wie die ELA, LAB (4), etc. zu einem weiteren Generalstreik in ausgesuchten Teilen des Staates und zum Tag des Kampfes in anderen Teilen auf. Mit anderen Worten: sie riefen die ArbeiterInnen auf, für nationale Interessen zu kämpfen, die nicht die ihren sind. Die reale und ernste Gefahr dieser Art von Vereinnahmung wurde von der Tatsache unterstrichen, dass am 15. September eine Million Menschen an einer nationalistischen katalanischen Demonstration teilnahmen.
Am vielversprechendsten an der Indignados-Bewegung und den Diskussionen, die in ihr stattgefunden hatten, war die Hoffnung auf eine andere Welt. Diese Hoffnung, dieses Selbstvertrauen, das die Arbeiterklasse entwickeln muss, ist ein mächtiger Hebel, um aus den Fallen auszubrechen, die von einer verzweifelten Bourgeoisie gestellt werden. Dies wird es ermöglichen, über Methoden hinauszugehen, die nur in der Demoralisierung enden.
Dies wird jedoch nicht durch Zauberhand zustande kommen, sondern durch die tiefe Überzeugung, dass die einzige Perspektive für die Menschheit von einer Arbeiterklasse offeriert wird, die international vereint ist und sich auf den Sturz dieser verwesenden Gesellschaftsordnung zubewegt. Der Ernst der Krise bringt eine Menge Wut mit sich, hat aber auch einen Furcht einflößenden Aspekt: Er macht klar, dass es nicht darum geht, diesen oder jenen Boss zu verprügeln, diesen oder jenen Minister hinauszuwerfen, sondern um einen radikalen Wechsel des Systems, um ein Ringen für die Befreiung der gesamten Menschheit von den Ketten der Ausbeutung.
Sind wir dazu in der Lage? Können wir, die Arbeiterklasse, solch eine Aufgabe durchführen? Wie kann dies bewerkstelligt werden? Angesichts der Tatsache, dass der Kapitalismus nichts anderes anbieten kann als wachsende Barbarei, stellen wir uns, ob bewusst oder nicht, diese Fragen. Das Proletariat hat die Fähigkeit, sich zu vereinen, Solidarität zu etwas Handfesten zu machen, doch der Weg dahin ist niemals ein glatter, wie Karl Marx in den frühen Jahren der Arbeiterbewegung bemerkt hatte:
„Proletarische Revolutionen (…) kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen:
Hic Rhodus, hic salta!
Hier ist die Rose, hier tanze!“
Wilma 28. September 2010
(1) So müssen wir das letzte Editorial der „revolutionären“ Zeitung Lutte Ouvrière unter die Überschrift „Kann es noch eine größere Lüge geben?“ setzen, erklärt es doch, dass es keine Krise gebe, dass alles an den Bossen liege, die sich ihre Taschen vollstopfen…
(2) Die CO (Arbeiterkommissionen) und die UGT (Allgemeine Arbeitergewerkschaft) sind die Mehrheitsgewerkschaften in Spanien. Erstere ist mit der Kommunistischen Partei verknüpft, Letztere mit den Sozialisten.
(3) Die CGT in Spanien ist eine anarchistische Gewerkschaft, eine Abspaltung von der historischen anarchistischen Gewerkschaft, der CNT.
(4) ELA und LAB sind zwei nationalistische baskische Gewerkschaften: Die erste ist „moderat“ (ursprünglich gegründet, um den „marxistischen“ und anarchistischen Gewerkschaften zu begegnen); die zweite ist Teil der abertzale, der (patriotischen) Linken.
In den vergangenen drei Monaten waren 80.000 Bergarbeiter in Südafrika in einer Welle von wilden Streiks in den Gold-, Platinum- und Kohlebergwerken beteiligt gewesen. Wir haben in der Weltrevolution Nr. 175 bereits über das Massaker an 34 Bergarbeitern in Marikana berichtet („Massaker in Südafrika: Die Herrschenden hetzen ihre Bluthunde auf die Arbeiter“). Wir wiesen darauf hin, wie Gewerkschaften und Regierung zusammen gegen die Arbeiterklasse agierten. Damals war noch nicht klar, in welche Richtung sich die Ereignisse entwickeln würden. Seither haben wir die größte Streikwelle seit der Machtergreifung durch den ANC 1994 erlebt.
Südafrika wird gerne als das „wirtschaftliche Kraftzentrum“ Afrikas dargestellt, das den Kontinent bei der Industrieproduktion und der Produktion von Mineralien anführt. Und dennoch, wenn man die Bedingungen betrachtet, unter denen die Mehrheit der Menschen lebt, mit einer – offiziell – 25%igen Arbeitslosigkeit und einer Kinderarmutsquote von über 50 Prozent, und dies in einer Gesellschaft, die allgemein als eine der ungleichsten in der Welt geschildert wird, so ist es nicht weiter verwunderlich, dass die ArbeiterInnen sich zur Wehr setzen. Hinter allen „Wirtschaftswundern“ stecken wachsende Verarmung und widerstreitende Klasseninteressen. Die Kämpfe in Südafrika zeigen, dass dieses Land keine Ausnahme darstellt.
Die Bergarbeiter von Marikana setzten ihren Streik noch weitere sechs Wochen fort, bis ein Vertrag unterschrieben wurde. Dabei wurde ein Schlaglicht auf die Bedingungen der ArbeiterInnen in Südafrika geworfen, auf die Armut und Entbehrungen in den Townships, auf das Elend in den Bergarbeiterlagern und vor allem auf die Lüge, dass die ANC-Regierung etwas anderes repräsentiert als eine kapitalistische Regierung; so wie das frühere Apartheid-Regime ist sie jederzeit bereit, streikende Bergarbeiter niederzuschießen.
Der Tarifabschluss der Bergarbeiter beinhaltete 11-22%ige Lohnerhöhungen und einen einmaligen Zuschlag in Höhe von 2.000 Rand (rund 180 Euro). Mineure (die meist gefährdeten Maschinisten im Bergbau) erhielten den größten Lohnzuwachs.
Ein Streik bei der Anglo American Platinum (Amplats), dem größten Platin-Produzenten der Welt, der nun schon sieben Wochen andauert, führte bereits zur Schließung von fünf Minen bei Rustenburg. Einmal feuerte die Firma 12.500 Arbeiter auf einen Schlag – 40 Prozent ihrer Arbeitskräfte. Bei Unruhen sind neun Menschen umgekommen. Es gab eine Reihe von Zusammenstößen zwischen Arbeitern und der Polizei – bei mindestens einer Gelegenheit setzte die Polizei Tränengas, Blendgranaten, Gummigeschosse und scharfe Waffen ein. Wie die südafrikanische Mail and Guardian am 2. November meldete: „Der Streik hat bisher mehr als drei Dutzend Verhaftungen und nicht mehr als ein einmaliges Angebot von 2.000 Rand wie auch Darlehen in Höhe von 2.500 Rand erbracht, die im Januar zurückerstattet werden müssen.“
Neben den Aktivitäten der verschiedenen Gewerkschaften wurden Streik- und Schachtkomitees gebildet. Letztere trafen zusammen, „um Möglichkeiten zu diskutieren, dem Streik mehr Nachdruck zu verleihen“. Es hat sich eine Menge Unmut über die Gewerkschaften zusammengebraut, insbesondere als eine geheime Abmachung, die Letztere mit dem Konzern getroffen hatten, bekannt wurde. Das Hauptstreikkomitee lehnte die Abmachung ab. Auch im o.g. Artikel wird der Zorn über die Gewerkschaften ersichtlich; so berichtet er, dass „ein NUM-Büro am Khuseleka-Schacht in Brand gesetzt wurde, möglicherweise als Ausdruck des Zorns über die Antwort des Managements und das Beharren der NUM, dass sie die Wiedereinstellung der Amplats-Streikenden gesichert habe“.
Als der Führer der südafrikanischen Kommunistischen Partei zusammen mit Führern der Bergarbeitergewerkschaft (NUM) und der COSATU-Föderation versuchte, ein Massentreffen im Rustenburger Olympiastadion abzuhalten, musste er feststellen, dass „über 1.000 streikende Amplats-Kumpels frühzeitig erschienen waren und den Veranstaltungsort übernommen hatten“ (Daily Maverick, 27. Oktober). „Sie marschierten ins Stadion (…) Nachdem sie Hüte, Schale und andere Devotionalien des ANC und der COSATU geschändet hatten, zogen sie sich wieder zurück.“ Die protestierenden Streikenden trugen T-Shirts mit der Aufschrift „Erinnert euch an die Getöteten von Marikana“ und „Vorwärts zu einer menschenwürdigen Entlohnung: 12.500 Rand!“ und Plakate, auf denen zu lesen war: „Wir sind hier, um die NUM zu beerdigen“ und „Ruhe in Frieden, NUM“. Die Polizei, die unvermindert die Streikenden attackierte und die Gewerkschaftsbonzen schützte, demonstrierte deutlich, dass Arbeiter und Gewerkschaften sich auf unterschiedlichen Seiten befinden.
In der Zwischenzeit kämpft Amplats darum, 30.000 Arbeiter zurück zur Arbeit zu bewegen, nachdem Einschüchterung und etliche Vergleiche andere Streiks beendet hatten. Sie hatten jenen, die sich am Streik beteiligt hatten, „Härtezulagen“ angeboten und „Treuezulagen“ jenen, die sich nicht am Streik beteiligt hatten.
Bei AngloGold Ashanti (der drittgrößte Goldbarren-Produzent der Welt) legten Ende September 35.000 Arbeiter das Werkzeug nieder und begannen einen illegalen Streik, der fast einen Monat lang andauerte. Und nach dem Vergleich gab es weitere Sitzstreiks für die frühe Auszahlung eines Zuschlags, an denen Hunderte von Arbeiter beteiligt waren.
In der Gold One’s Aurora Goldmine in Modder East nahe Johannesburg schossen Sicherheitsleute auf 200 Bergarbeiter und töteten dabei vier Streikposten. Diese Mine soll sich im Besitz des Neffen von Jacob Zuma und des Enkels von Nelson Mandela befinden.
Die Gold Fields‘-Mine blieb nach einem Streik geschlossen, da das Unternehmen gegen die Berufung von 8.500 Arbeitern prozessierte, die wegen eines illegalen Streiks gefeuert worden waren. Insgesamt wurden zwölftausend Bergarbeiter von der Gold Fields‘ KDC East entlassen, weil sie sich geweigert hatten, die Arbeit wieder aufzunehmen.
Unter den mehr als fünfzig Getöteten waren zwei Personen von den Sicherheitsleuten der Forbes Coal erschossen worden. Streikende Bergarbeiter wurden in ein Township in der Provinz KwaZulu-Natal hineingejagt, wo die Wachleute auf die Arbeiter feuerten. Dies zeigt die ganz normale repressive Seite der Bourgeoisie.
Indes stimmte Coal of Africa nach den höheren Abschlüssen in Marikana einer 26%igen Lohnerhöhung (einschließlich Zuschüsse) für die Arbeiter ihrer Mooiplaats-Zeche zu. Gleichzeitig wurde bei jeder Gelegenheit damit gedroht, dass hohe Lohnsteigerungen zu einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit führen könnten.
Die herrschende Klasse Südafrikas blufft nicht. Sie ist von der echten Sorge über die Auswirkungen der Streikwelle getrieben. Die Bergbauindustrie erlebte infolge der Weltrezession bereits den Absturz ihrer Aktienkurse, die seither noch tiefer fielen. Die südafrikanische Wirtschaft ist gegenüber der gegenwärtigen Rezession nicht immun. Die weltweite Rezession führte bereits zu drastischen Kürzungen in der Förderung von Platin und Palladium, kostbaren Metallen, die in der Autoindustrie benötigt werden. Selbst im noch nicht lange zurückliegenden Mineralienboom ist die Produktion dieser Metalle jährlich um ein Prozent gekürzt worden. Der Ausstoß ist mittlerweile auf den niedrigsten Stand seit 50 Jahren gefallen.
Angesichts der Krise sind der ANC und die NUM ein dreiseitiges Bündnis mit den Minenbesitzern eingegangen. Es geht nicht nur darum, dass die Führer des ANC und der NUM beträchtliche Investitionen in den Bergbaugesellschaften getätigt haben und diese nun schützen wollen. Es ist ein integraler Bestandteil ihrer gesellschaftlichen Rolle, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Interessen ihrer bürgerlichen Partner zu schützen, sich der Ausbreitung der Aktionen der Streikenden entgegenzustellen und alles zu tun, um zu vermeiden, dass der Funke überspringt.
Vom Beginn der Streikwelle an haben die involvierten Gewerkschaften danach getrachtet, die Arbeiter in ihrem Kampf für menschenwürdige Löhne zu spalten. Nach dem Marikana-Massaker wurde ein Treffen organisiert. Am 28. August berichteten die SABC News: „Einer der fünf Delegierten, die von den Lonmin-Kumpels auserwählt worden waren, Zolisa Bodlani, sagte, die Arbeiter seien skeptisch hinsichtlich des morgigen Treffens zwischen der Arbeitsministerin Mildred Oliphant, den Gewerkschaften, dem Management und Arbeitervertretern. Die Arbeiter glauben, die Gewerkschaften hätten sie im Stich gelassen und nicht ihre Interessen vertreten, genauso wenig wie das Management, das von Bodlani des Unwillens bezichtigt wurde, sich vor der fatalen Tragödie letzte Woche, die zum Tod von 44 Menschen führte, mit den Arbeitern zu treffen. Bodlani äußerte dies in einem Interview auf SAfm’s AM Live heute Morgen.
‚Wir sind nicht sicher, ob wir das morgige Treffen aufsuchen. Sie versprachen uns heute, dass wir die Arbeitsministerin treffen werden – wir haben Fragen an sie – wir möchten wissen, warum sie beschlossen haben, uns zusammen mit den Gewerkschaften zusammenzurufen. Wir sind nicht gewillt, mit den Gewerkschaften zussammenzuarbeiten. Wir haben unsere Gründe, aber wir wollen sie jetzt nicht preisgeben. Wir glauben ebenfalls, dass unsere Gewerkschaften uns seit langem im Stich gelassen haben. Wir werden keinen Gebrauch von ihnen machen. Wir möchten keiner der Gewerkschaften beitreten‘, sagt Bodlani.“
Neben den Gewerkschaften gibt es noch weitere falsche Freunde, derer sich die Arbeiter bewusst sein müssen, beispielsweise Ex-ANC-Führer wie Julius Malema, der behauptet, eine Alternative anbieten zu können. Er missbrauchte den Streik für seine eigenen Zwecke. Einerseits wirbt er für einen landesweiten Bergarbeiterstreik und sagt, dass ein „Kampf um Leben und Tod“ notwendig sei; andererseits drängt er auf Verstaatlichungen. Er erklärte: „Sie haben euch das Gold gestohlen. Nun seid ihr an der Reihe.“ Doch Verstaatlichungen bedeuten nicht eine Verbesserung der Löhne und Arbeitsbedingungen der Kumpel. Sie bedeuten lediglich staatliche Kontrolle – Kontrolle durch den kapitalistischen Staat.
Nicht die Tatsache, dass er in seinem Mercedes-Benz-SUV aufkreuzt, um sich an die Bergarbeiter zu wenden, macht Malema zum Sprecher der Bourgeoisie; es ist die Ideologie, die er verbreitet. Man kann dies daran ablesen, wie er „den Lonmin-Boss und das ANC-Schwergewicht Cyril Ramaphosa – ein führender Gewerkschafter während der Herrschaft der weißen Minderheit – als Marionette der Weißen und Fremden porträtiert hat“ (BBC News, 12. September). In dieser Sichtweise sind die „Weißen und Ausländer“ die Feinde. In Wahrheit steht Ramaphosas Weckruf gegen die Lonmin-Arbeiter auf einer Linie mit seinen Aktivitäten im ANC und in den Gewerkschaften – die Verteidigung der nationalen Interessen gegen die Interessen der Arbeiterklasse.
Die gegenwärtige Streikwelle in Südafrika scheint sich dem Ende zuzuneigen. Für künftige Streiks wird es ganz wesentlich sein, dass sich die ArbeiterInnen über die Notwendigkeit im Klaren sind, dass sie sich auf ihre eigenen Bemühungen verlassen müssen.
M/C/EIG 3.11.2012
Erst kürzlich wurde die türkische Tagesordnung um die Möglichkeit eines Krieges mit Syrien erweitert; eine Situation, die mehr oder weniger weiter vorherrscht. Nach dem Tod von fünf Zivilisten in der Stadt Akçakale nahe Urfa hat die Regierung im Handstreich Syrien in das neue Gesetzesvorhaben mit einbezogen, das sie vorbereitet, um sich das Recht einzuräumen, militärisch in den Irak zu intervenieren. Dieses Vorhaben wurde dahingehend modifiziert, dass es der Regierung nun ermöglicht, ganz allgemein im Ausland militärisch einzugreifen. Es wurde ebenfalls erklärt, dass die Türkei begonnen habe, syrisches Territorium unter Beschuss zu nehmen. Als der türkische Ministerpräsident Erdoĝan und Mitglieder seiner Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) sich anschickten, offen die Möglichkeit der Kriegsoption anzusprechen, traten die Todesengel unter der bürgerlichen türkischen Presse schnell auf den Plan, um jeden, der sich dem Krieg widersetzte, der Feigheit zu bezichtigen.
Trotz alledem bleibt unklar, was wirklich geschehen war. Es hat sich herausgestellt, dass das türkische Grenzgebiet bereits vor dem Angriff gegen Akçakale das Ziel von Bombenangriffen gewesen war, wobei diese keine Opfer gefordert hatten. Darüber hinaus ist es nicht wirklich sicher, wer für diese Bomben oder für die Bombardierung Akçakales verantwortlich ist. Die Reaktion der syrischen Regierung war: abstreiten, erklären, dass sie eine Untersuchung einleiten werde, bekunden, wie sehr sie den Tod der Opfer bedaure, und Beileidsbekundungen gegenüber den Angehörigen der Verstorbenen, also die Leugnung jeglicher Verantwortung für die Bombardierung. Der Teil Syriens, der nun von der Türkei bombardiert wird, ist andererseits ein Gebiet, in dem die Kampfhandlungen zwischen der Freien Syrischen Armee (FSA) und dem Assad-Regime ziemlich intensiv sind und das sich größtenteils unter der Kontrolle der FSA befindet. Es hat den Anschein, dass die Türkei unter dem Deckmantel der Vergeltung auf ähnliche Art auch auf die früheren Bombardierungen geantwortet hatte. Schnell folgten Behauptungen, wonach die Granaten von dem von der FSA kontrollierten Gebiet aus abgefeuert wurden, dass die Granaten von der NATO produziert worden waren und nicht von den Streitkräften des Assad-Regimes benutzt werden und dass in Wirklichkeit die FSA die Granaten abgefeuert habe.
Es ist offensichtlich, dass diese Behauptungen Sinn machen. Es wäre für das syrische Regime nicht sehr plausibel, das türkische Grenzgebiet zu bombardieren, eine Handlung, die natürlich die Feindschaft der Türkei gegen das Assad-Regime vergrößern würde, das gleichzeitig einen ausgewachsenen Bürgerkrieg gegen die FSA ausfechten muss und sunnitische Dissidenten auf extrem brutale Weise unterdrückt. Abgesehen davon, hat Syrien nichts aus solchen Bombardierungen und der Tötung einer Handvoll Zivilisten in Akçakale zu gewinnen. Andererseits lässt sich unschwer erkennen, dass diese Bombardierungen sich durchaus zum Vorteil der Erdoĝan -Regierung und der FSA entwickeln, indem sie der Türkei die legale Basis verleihen, der FSA die so dringend benötigte strategische Luftunterstützung gegen Assad zu geben, und indem sie Erdoĝan in die Lage versetzten, das Kriegsermächtigungsgesetz durchs Parlament zu bringen und die bellizistischen Nationalisten zu stärken. Es spricht viel dafür, dass die FSA diesen Angriff in Abstimmung mit und unter der Regie der Türkei unternahm.
Dennoch bleibt trotz der Stimmungsmache der Regierung für den Krieg eine türkische Invasion in Syrien eher unwahrscheinlich. Der erste Grund hierfür ist, dass der türkische Staat bereits in einem Krieg im türkischen Kurdistan verwickelt ist und, weit davon entfernt, ihn zu gewinnen, nur schlecht vorankommt. Zurzeit gibt es Territorien innerhalb der Grenzen des türkischen Staates, die von der nationalistischen kurdischen PKK (Kurdische Arbeiterpartei) kontrolliert werden, die die türkische Armee über den Landweg nicht betreten kann und die sich, wenn auch langsam, vergrößern. Es wäre für einen Staat, der solch einen Krieg innerhalb seiner eigenen Grenzen führt, nicht sehr plausibel zu versuchen, in ein anderes Land einzudringen.
Der zweite und wichtigere Grund ist, dass die Arbeiterklasse nicht kämpfen will, ja sogar eine gewisse Haltung gegen die Idee eines Krieges zeigt. Wir können etliche Beispiele aus jüngerer Zeit zitieren. Das erste sind die Antikriegsdemonstrationen und Zusammenstöße in der Stadt Hatay (wo sich die Lager für die syrischen Flüchtlinge befinden), an denen sich mehr als 10.000 Menschen beteiligten. Eine ultra-nationalistische Konstruktion namens „Arbeiterpartei“ hatte für den 16. September zu einer Demonstration unter dem Motto: „Syrer und Türken sind Brüder“ aufgerufen. Obwohl der Gouverneur von Hatay die Demonstration offiziell verboten hatte, versammelten sich Tausende von Menschen, die keinerlei Beziehungen zu irgendwelchen politischen Organisationen pflegten, im angemeldeten Demonstrationsareal. Diese Massen stritten mit den Repräsentanten der „Arbeiterpartei“ und drängten sie letztendlich aus der Demonstration, nachdem die angeblich regimekritischen Mitglieder der „Arbeiterpartei“ eine Presseankündigung verbreiteten, in der sie die Massen aufforderten, nach dem Ende der Demonstration auseinanderzugehen. Die Einwohner von Hatay wurden von der Polizei attackiert, nachdem die Mitglieder der „Arbeiterpartei“ die Demonstration verlassen hatten; einige von den Demonstranten wurden in Gewahrsam genommen. Doch die Massen setzten sich gegen die Polizei zur Wehr. Bis in die Nacht hinein dauerten die Zusammenstöße in den Innenstadtbezirken, bis die Polizei letztlich die Festgenommenen wieder frei ließ.
Davon abgesehen, ist noch die Demonstration in Akçakale gleich nach der Bombardierung eine Erwähnung wert, auf der einige Hundert Menschen, darunter Angehörige der Verstorbenen, gegen die Regierung gerichtete Slogans skandierten und zum Rücktritt des Gouverneurs von Akçakale und Urfa aufriefen. Der Bürgermeister von Akçakale, ein Mitglied der herrschenden AKP, der zum Zeitpunkt der aufsehenerregenden Demonstration im Fernsehen zu sehen war, erklärte, dass er nicht verstehe, warum diese Demonstration stattgefunden hat. In der Zwischenzeit griff die Polizei die Demonstranten an. Diese Demonstration führte ebenfalls zu Zusammenstößen mit der Polizei.
Erst kürzlich, am 8. Oktober, als das Kriegsermächtigungsgesetz verabschiedet wurde, gab es Antikriegsdemonstrationen in zahllosen Städten der Türkei. All diese Demonstrationen, die größte in Istanbul, wo sich nach einigen Angaben bis zu hunderttausend Menschen versammelt hatten, wurden von der Polizei gewaltsam attackiert.
Der Krieg zwischen dem türkischen Staat und der PKK, der nun schon seit mehr als dreißig Jahren andauert, hat eine wachsende Feindseligkeit unter einer bedeutenden Anzahl von Menschen in der Westtürkei gegen den Krieg ausgelöst und die Erkenntnis bewirkt, dass jene, die in diesem Krieg sterben, nicht die Kinder der Herrschenden sind, sondern ihre eigenen Kinder. In diesem Sinn kann man durchaus sagen, dass der türkischen Arbeiterklasse allgemein nicht nach Krieg zumute ist. Die Reaktion des Staates manifestiert sich in der Form der Brutalität gegen alle Arten von Antikriegsdemonstrationen, von den winzigsten bis zu den massiveren. Dies bringt die Massen dazu, mehr oder weniger sofort mit den bewaffneten Kräften des Staates zusammenzustoßen, und zeigt den Massen, dass es notwendig ist zu kämpfen, um sich dem Krieg erfolgreich zu widersetzen – die Tatsache, dass die Demonstranten in Hatay und Akçakale, von denen eine überwältigende Mehrheit vor dem Krieg unpolitisch war, sich wirksam gegen die Attacken zur Wehr setzten und spontan mit der Polizei aneinandergerieten, ist ein Beweis für dieses Phänomen. Davon abgesehen, schufen besonders die Organisationen der bürgerlichen Linken mit ihren Pro-Assad-, populistischen oder pazifistischen Slogans sehr große Illusionen und Konfusionen unter den Antikriegs-Massen. Auf diese Weise helfen sie, Gegenreaktionen zum imperialistischen Krieg auf der Grundlage des Klassenkrieges zu verhindern.
Entgegen aller Arten von Pro-Assad-, populistischen und pazifistischen Illusionen muss die Antikriegsbewegung, um erfolgreich zu sein, und die Arbeiterklasse, um zu vermeiden, dass das Leben und Blut ihrer Kinder den Interessen des imperialistischen türkischen Staates geopfert werden, sich den Schlachtruf zu eigen machen, den Lenin 1914 gegen den I. Weltkrieg vorgebracht hatte:
„Revolutionärer Klassenkrieg gegen den imperialistischen Krieg!“
Gerdün
Erneut bombardieren israelische Kampfflugzeuge und Raketen den Gaza-Streifen. 2008 brachte die Operation „Gegossenes Blei“ fast 1500 Tote, die Mehrheit von ihnen Zivilisten, obwohl die israelische Regierung beteuerte, die „chirurgischen Angriffe“ gegen terroristische Ziele verschonten die Zivilbevölkerung. Der Gaza-Streifen ist einer der am dichtesten besiedelten und verarmtesten Teile der Welt. Dort ist es absolut unmöglich, „Einrichtungen der Terroristen“ und Wohnbezirke, die sie umgeben, von einander zu trennen. Mit all den hochentwickelten israelischen Waffensystemen sind die Hauptopfer der jetzigen Angriffe ebenso wieder Frauen, Kinder und Alte.
Die Militaristen an der Spitze des israelischen Staates sorgen sich natürlich nicht um das Schicksal der Menschen. Die Bevölkerung des Gaza-Streifens wird erneut kollektiv bestraft, genau schon wie bei früheren Angriffen und wie bei der jüngsten Blockade, die die Wirtschaft erstickt und Bemühungen des Wiederaufbaus nach den Zerstörungen von 2008 behindert und bewirkt hat, dass die Bevölkerung am Hungertuch nagt.
Im Vergleich zur militärischen Schlagkraft der Israelis erscheinen die militärischen Möglichkeiten von Hamas und der radikaleren Gruppen des islamischen Dschihad als winzig. Aber aufgrund des Chaos in Libyen hat die Hamas Zugriff erhalten auf Raketen mit größerer Reichweite. Nicht nur Ashod im Süden (wo drei Bewohner eines Wohnhauses durch eine vom Gaza-Streifen abgefeuerte Rakete getötet wurden), sondern auch Tel Aviv und Jerusalem selbst sind jetzt in Reichweite gerückt. Die lähmende Angst, mit der die Bewohner des Gaza-Streifens jeden Tag leben, ist jetzt auch in den großen israelischen Städten zu spüren.
Kurzum, die Bevölkerung auf beiden Seiten wird von den sich bekämpfenden Militärs, die in Israel und Palästina herrschen, zur Geiseln genommen. Dabei erhalten sie auch ein wenig Unterstützung von der ägyptischen Armee, welche die Grenze zum Gaza-Streifen kontrolliert, um unerwünschte Kontakte oder Flucht aus dem Gaza-Streifen zu verhindern. Die Bevölkerung auf beiden Seiten ist zur Zielscheibe in einem permanenten Krieg geworden – nicht nur aufgrund der Raketen und Granaten, sondern auch weil die Menschen gezwungen werden, das erdrückende Gewicht einer Kriegswirtschaft zu tragen. Und jetzt zwingt die Weltwirtschaftskrise die herrschende Klasse auf beiden Seiten dazu, weitere Absenkungen des Lebensstandards vorzunehmen und neue Preiserhöhungen von Nahrungsmitteln , Öl, Mieten usw. durchzusetzen.
In Israel haben die explodierenden Mieten und Wohnungspreise wie ein Funke gewirkt, welcher die Protestbewegung auslöste, die zu massenhaften Demonstrationen, zur Besetzung von Straßen und zur Abhaltung von Vollversammlungen führte. Diese Bewegung wurde direkt inspiriert durch die Revolten in der arabischen Welt. Slogans waren zu hören wie „Netanjahu, Assad, Mubarak sind alle gleich“ und „Araber und Juden wollen bezahlbare Mieten“. Eine kurze Zeit lang, die ein sehr erregender Moment war, wurde alles in der israelischen Gesellschaft – auch das „palästinensische Problem“ und die Zukunft der besetzten Gebiete – offen zur Diskussion gestellt. Und eine der Hauptängste der Protestierenden war, dass die Regierung auf diese aufkeimende Herausforderung und Infragestellung der nationalen „Einheit“ durch ein neues militärisches Abenteuer reagieren würde.
Im Sommer 2012 lösten die gestiegenen Öl- und Lebensmittelpreise in den besetzten Gebieten der West Bank eine Reihe von wütenden Protesten, Straßenblockaden und Streiks aus. Beschäftigte des Transport-, Erziehungs- und Gesundheitswesens, Studenten und Schüler sowie Arbeitslose kamen auf der Straße zusammen und standen gemeinsam den Polizeikräften der palästinensischen Behörden gegenüber. Sie forderten einen Mindestlohn, Jobs, niedrigere Preise und ein Ende der Korruption. Und es kam ebenso zu Demonstrationen gegen steigende Lebenshaltungskosten im Königreich Jordanien.
Ungeachtet all der unterschiedlichen Lebensstandards zwischen Israel und der palästinensischen Bevölkerung und der Unterdrückung und Erniedrigung durch die militärische Besatzung, unter der die palästinensische Bevölkerung leidet, sind die Wurzeln dieser beiden Sozialrevolten die gleichen, nämlich dass es zunehmend unmöglich wird, in einem kapitalistischen System zu leben, das in einer tiefen Krise steckt.
Über die Motive der jetzigen Eskalation ist sehr viel spekuliert worden. Versucht Netanjahu den Nationalismus anzustacheln, um seine Aussichten auf Wiederwahl zu verbessern? Hat die Hamas die Raketenangriffe verstärkt, um ihre Kriegstauglichkeit gegenüber Herausforderern der radikaleren islamischen Banden zu bekräftigen? Versucht das israelische Militär Hamas zu verjagen oder wollen sie nur deren militärischen Mittel einschränken? Welche Rolle werden die neuen Regime wie in Ägypten bei diesem Konflikt spielen? Welche Auswirkungen wird es auf den gegenwärtigen Krieg in Syrien geben?
Diese Fragen müssen alle weiter vertieft werden, aber keine von ihnen ändert etwas an der grundsätzlichen Problematik. Die Eskalation des imperialistischen Konfliktes steht in völligem Gegensatz zu den Interessen der breiten Massen in Israel, Palästina und den anderen Gebieten des Nahen und Mittleren Ostens. Während die Sozialrevolten auf beiden Seiten der Front es möglich machen, dass die Massen für ihre wirklichen materiellen Interessen gegen die Kapitalisten und den sie ausbeutenden Staat kämpfen, schafft der imperialistische Krieg eine falsche Einheit zwischen den Ausbeutern und Ausgebeuteten. Wenn israelische Flugzeuge den Gaza-Streifen bombardieren, gewinnen Hamas und die Dschihadisten dadurch nur neue Rekruten, aus deren Sicht alle Israelis, alle Juden Feinde sind. Wenn die Dschihadisten Raketen auf Ashdod oder Tel Aviv abschießen, wenden sich nur mehr Israelis an „ihren“ Staat und suchen bei ihm Schutz und Vergeltung gegen die „Araber“. Die dringenden sozialen Fragen, welche die Triebkräfte hinter den Sozialprotesten sind, werden unter einer Flut von nationalistischem Hass und Hysterie begraben.
Aber während der Krieg Sozialkonflikte verdrängen kann, gilt auch das Gegenteil. In Anbetracht der gegenwärtigen Eskalation rufen ‚verantwortlich handelnde Regierungen‘ wie die USA und Großbritannien zu Zurückhaltung und zu einer Rückkehr zum Friedensprozess auf. Aber dies sind die gleichen Regierungen, die gegenwärtig Krieg in Afghanistan, Pakistan, Irak führen. Die USA sind auch der militärische und finanzielle Hauptverbündete Israels. Wir können uns nicht an diese Staaten wenden, um eine „friedliche“ Lösung herbeizuführen. Und ebenso wenig können wir uns an Staaten wie Iran wenden, die Hamas und Hisbollah offen bewaffnet haben. Wirkliche Aussichten auf eine friedliche Welt kann man nicht bei den Herrschenden finden, sondern nur in dem Widerstand der Ausgebeuteten und Unterdrückten, deren wachsendem Begreifen, dass sie überall auf der Welt die gleichen Interessen haben und den gleichen Kampf führen und sich gegen ein System vereinigen müssen, das ihnen nichts anderes anzubieten hat als Krise, Krieg und Zerstörung. Amos 20.11.12
Oberflächlich betrachtet, ist - falls es überhaupt möglich ist, die gegenwärtigen Kriege gegeneinander abzuwägen - der aktuelle Konflikt zwischen der Hamas und Israel um den Gazastreifen nicht einmal das schlimmste Gemetzel, das derzeit stattfindet. Ruandische „Rebellen“, die von Großbritannien gestützt werden, töteten und vergewaltigten sich ihren Weg tief in das Kernland der so genannten Demokratischen Republik Kongo, die selbst ein breites Betätigungsfeld für Massaker, Kinder-Soldaten, Vergewaltigungen und Terror darstellt. All dies wird, wenngleich nicht direkt inszeniert, so doch geduldet von den Großmächten, während die Vereinten Nationen zuschauen. Auch weiter nördlich, in der Sahel-Zone, Massentötungen von Zivilisten, Vergewaltigungen, Kinder-Soldaten, Großmachtmanöver und –rivalitäten neben der elenden Barbarei des religiösen Fundamentalismus. Im Schatten der jüngsten israelischen Operation „Säule der Verteidigung“ ging unterdessen das Gemetzel in Syrien weiter. Doch der Konflikt zwischen Israel und Palästina löst ein besonderes Echo unter den Revolutionären aus, weil in ihm die permanente Militarisierung zum Ausdruck kommt, die das Kennzeichen eines zerfallenden Systems ist. Was immer seine Besonderheiten, Strategien und „Begründungen“ sind - der israelisch-palästinensische Konflikt ist vor allen Dingen der Ausdruck eines zerfallenden Kapitalismus, der eine enorme Bedrohung für die Arbeiterklasse und für die gesamte Menschheit darstellt. Seine Absurdität und Irrationalität fasst perfekt die Zukunft zusammen, die dieses krisengeschüttelte System für uns und den kommenden Generationen in petto hält. Es kann hier keinen Frieden geben, keine substanziellen Verhandlungen, und jegliche mögliche israelisch-palästinensische „Zwei-Staaten-Lösung“, wenn sie denn jemals das Tageslicht erblickt, würde nur ein weiterer Faktor zu noch größerer Instabilität und zu noch mehr Kriegen sein. Der Nahe Osten zeigt heute, wie die Nationen und Cliquen unvermeidlich auf wachsende Spannungen, Rivalitäten und militärische Konkurrenz zusteuern. Jede größere Nation ist zu einem militärischen Monster geworden, und sämtliche nationalstaatliche Kreationen sind nach ihrem eigenen Bilde geschaffen worden, wobei jede aufstrebende Clique bzw. „nationale Befreiungskraft“ ebenfalls monströser Ausdruck des universellen Zerfalls ist. Israel und die „palästinensische Frage“ zeigen dies in höchstem Maße.
2009 ist Professor Havard Hegre vom Fachbereich für Politwissenschaften an der Osloer Universität zusammen mit dem Friedensforschungsinstitut zu dem Schluss gekommen, dass „die Anzahl bewaffneter Konflikte zurückgeht“ und „der Rückgang anhalten wird“. (1) Es ist die imperialistische Version der Leugnung der Wirtschaftskrise und der Vorstellung eines immerwährenden mehr oder weniger friedlichen Kapitalismus. Es ist pure Fiktion! Wir haben oben bereits die Kriege in Afrika und Nahost erwähnt, Kriege, die alle Anzeichen der Ausbreitung und Verschärfung in sich tragen. Wir können ferner den Krieg in Libyen hinzufügen, den der gute Mann zusammen mit dem Krieg in Syrien als „Demokratisierungsprozess“ etikettiert, als ob dies irgendeine Art von Entschuldigung ist; aus seinem Blickwinkel und nach Auffassung vieler bürgerlicher Akademiker kann der Kapitalismus ein Gleichgewicht aufrechterhalten, wird er immer humaner, ja schreitet zum ewigen Leben fort. Zu den Kriegen oben können wir den anhaltenden Krieg im Irak hinzufügen, der mehr und mehr droht, sich mit einem Krieg in Syrien zu verbinden, oder die „kurdische Frage“, die ein Krieg für sich und ein potenzieller Krieg über etliche Ländergrenzen hinweg ist, auch hier mit der Gefahr, sich mit dem syrischen Krieg zu verbinden. Dann gibt es den Krieg in Afghanistan und Pakistan und die De-facto-Kriegserklärung der westlichen Mächte gegen ein von Russland und China gestütztes Iran (in einer Konstellation ähnlich der Syriens); nicht zu vergessen die unzähligen Spannungen und Rivalitäten, die von einem aggressiven und heißhungrigen chinesischen Imperialismus ausgehen. Und wir müssen die fragilen und militarisierten Verwerfungslinien auf dem Balkan, dem Kaukasus und in den ehemaligen Sowjetrepubliken, in Afrika (Somalia, die Sahel-Zone, der Kongo) hinzufügen. Wo wir auch hinschauen, erblicken wir immer mächtigere Tendenzen nicht in Richtung Frieden, Vernunft und Kohärenz, sondern in Richtung Zusammenhanglosigkeit, Fragmentierung, sehen wir zentrifugale, separatistische Tendenzen, die in den ökonomisch verhältnismäßig schwächeren Gebieten der Welt einen Rutsch in die permanente Militarisierung und den Krieg anzeigen. Dies ist eine direkte Konsequenz aus einem Wirtschaftssystem, das nach all seinem früheren Ruhmes nun auf dem letzten Loch pfeift.
Der Nahe Osten setzt sich aus ökonomisch zusammenhangslosen Territorien zusammen, wo ethnische und religiöse Spaltungen von allen wichtigen imperialistischen Mächten zum Gegenstand ihrer Manipulationen und Manöver gemacht werden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als das kapitalistische System sich über den Globus ausgebreitet hatte, gab es keinen Platz mehr für irgendwelche neu expandierenden, realen Nationen. Länder wie der Irak, der Jemen, Jordanien, Syrien, der Libanon, Israel und die palästinensischen „Territorien“ waren durchweg Kreationen, oder besser: Missgeburten, des Imperialismus im Allgemeinen und des britischen und französischen Imperialismus (2) im Besonderen, der die willkürlich erzwungenen Grenzen dieser neu geschaffenen Länder benutzte, um „zu spalten und zu herrschen“ und so seine eigenen imperialistischen Interessen durchzusetzen. Später nutzten die USA die terroristischen Fraktionen des Zionismus, um die Briten zu verdrängen, und noch später, während des Kalten Krieges, nutzte Russland die gesamte Region als einen seiner Tummelplätze, um den USA die Stirn zu bieten. Wie all die oben erwähnten arabischen Staaten, die übrigens mehr Palästinenser auf dem Gewissen haben als die Israelis, ist der israelische Staat ein Ausdruck des Militarismus und Krieges, der mit der Vertiefung der Wirtschaftskrise immer instabiler werden wird.
Als der Kapitalismus noch ein pulsierendes, fortschrittliches und expandierendes System gewesen war, waren Krieg und Spaltungen zwar ebenfalls Bestandteil von ihm, doch im Allgemeinen tendierte das System zu einer gewissen Kohärenz hinsichtlich des Aufbaus und der Vereinheitlichung des Nationalstaates. Auch religiöse, ethnische und andere Faktoren neigten dazu, sich für das übergeordnete Wohl einer effektiveren kapitalistischen Akkumulation in einer Nation zu verschmelzen. Dies geschah nicht aufgrund der „moralischen Überlegenheit“ des Kapitalismus, sondern entsprang seinem fundamentalen Bedürfnis nach erfolgreicher Ausbeutung und Expansion. In der Dekadenz sehen wir jedoch, dass die Bildung neuer Staaten nicht zur Integration unterschiedlicher Gruppierungen der Gesellschaft in eine höhere kapitalistische Einheit führt, sondern oft in ethnischen „Säuberungen“, in der Stärkung rassischer, religiöser und ethnischer Spaltungen, in der Vertreibung oder Ghettoisierung verschiedener Gruppen mündet. Wir haben oben bereits den Balkan, den Kaukasus, die ehemaligen Sowjetrepubliken erwähnt, und wir können den indischen Subkontinent hinzufügen – Regionen, in denen viele dieser „Nationen“ aus imperialistischem Kalkül geschaffen wurden und deren eigentliche Existenz sich auf ethnischen und religiösen Spannungen, auf Zentrifugalkräften und dem Jeder-für- sich gründet. Genau dasselbe trifft auf die „Nationen“ des Nahen Ostens zu: Jordanien, Syrien, etc. und besonders Israel, dessen Besonderheit und Existenz als Bollwerk exakt den allgemeinen Niedergang des Kapitalismus widerspiegelt. Viele dieser Nationen sind keine lebensfähigen Wirtschaftseinheiten; sie hängen zumeist von einem größeren imperialistischen Hai (oder von mehreren Haien) ab und geraten in den Fokus größerer Spannungen. Sie drücken nicht ein positives Vorwärtsstreben aus, sondern sind vielmehr eine Fessel für die Produktivkräfte.
Doch bedeutet dies, dass es in Nahost keine „Begründungen“ in dieser Gleichung gibt, dass keine strategischen und wirtschaftlichen Motive am Werk sind (Ölförderung und –verkauf zum Beispiel, wahltaktische Motive, andere taktische Erwägungen usw.)? Nein, es gibt ganze Knäuel von ihnen. Im Nahen Osten kommen sie dick und verworren daher, doch der Punkt ist, dass sie alle zusammen gegenüber der überwältigenden Tendenz zum Zusammenbruch zweitrangig sind. In der Absurdität der Verteidigung von Grenzen, der willkürlichen Spaltungen und im Rahmen einer unüberwindbaren Ausweglosigkeit, die von einer sich vertiefenden Krise noch verschlimmert wird, können sie faktisch nur zu eben jenem Zusammenbruch beitragen. Diese teuflische Spirale der Zerstörung wird nicht stoppen und kann nicht abgeschwächt oder wegverhandelt werden. Was immer die Bourgeoisie anzustellen versucht, um die Lage zu „regeln“, es macht die Lage nur noch zerbrechlicher, und dies wird in Nahost veranschaulicht. Hier konnte man zuerst die klarsten Anzeichen einer Schwächung des Weltgendarmen, den USA, sehen, deren Einflussbereich überspannt und beeinträchtigt wird, was wiederum noch zentrifugaleren Tendenzen Tür und Tor öffnet. Dieses Phänomen einer Gesellschaft, die zerrissen wird in einer Reihe von Kriegen mit unterschiedlichen ethnischen, religiösen und rassischen Gruppen, von denen eine jede für verborgene imperialistische Interessen steht, ist ein typischer Ausdruck der dekadenten Gesellschaft – eine Wiederauflage dessen, was das römische Imperium und das feudale Europa in der Epoche ihres Niedergangs erlebt hatten.
Wenn es denn je Präsident Netanjahus Absicht war, seine politische Stellung zu stärken, indem er Mitte November, nach den US-Wahlen und noch vor den israelischen Wahlen im kommenden Januar, die Operation „Säule der Verteidigung“ in Gang setzte, so hat er sich gründlich verrechnet. Hamas, die in den letzten Jahren erheblich an Glaubwürdigkeit im Gaza-Streifen eingebüßt hatte, ist enorm gestärkt aus dem Acht-Tage-Krieg hervorgegangen. Die Brutalität der israelischen Antwort, die Geschützfeuer durch Panzer und Marine, Attacken von Hubschraubern und Kampfjets gegen den schmalen, dicht besiedelten Gaza-Streifen umfasste, hat sich als eine politische Fehlzündung erwiesen. Hamas, die zusammen mit ihren noch fundamentalistischeren „Verbündeten“ von eben jenen dicht besiedelten Gebieten aus monatelang Raketen auf Israel abgefeuert hatte, ist durch die Unterzeichnung einer Waffenruhe mit Israel und durch weitere Gespräche über „Erleichterungen“ im Transport von Menschen und Waren in den und aus dem Gaza-Streifen aufgewertet worden. Umgekehrt hat Hamas zugesagt, dass es die Raketenangriffe gegen Israel stoppen wird, und sich zu diesem Zweck auch gegenüber den militanteren Gruppen wie den Islamischen Dschihad gewappnet. Hamas ging auch gegenüber den palästinensischen Autonomiebehörden des Mahmoud Abbas in der Westbank gestärkt hervor, wo die Aktien von Hamas zum Nachteil Ersterer stiegen. Dies ist der Grund für die Warnung, die Abbas in dieser Woche an Europa und die USA richtete (The Guardian, 28.11.12), dass die palästinensische Autonomiebehörde ein paar Krümel von „Eigenstaatlichkeit“ (die den Palästinensern eine Art von Vatikan-Status in der UN verleihen soll) erhalten müsse, oder Hamas werde weiter gestärkt. Zur Enttäuschung der USA und des Restes des Nahost-Quartetts (der Sondergesandte Tony Blair) ist Hamas mehr in den ganzen Prozess eingebunden worden; ihre Isolation ist mit Unterstützung nicht nur des Iran, sondern auch Katars, Tunesiens, Ägyptens (Offizielle aus allen drei genannten Ländern haben kürzlich Gaza besucht) und anderer durchbrochen worden. Der britische Außenminister Hague hat die von Ägypten vermittelte Waffenruhe als „einen wichtigen Schritt zu einem dauerhaften Frieden“ begrüßt. Natürlich ist nichts dergleichen wahr, aber es zeigt, wie Hamas und die kleineren Gruppierungen nun von all jenen mit berücksichtigt werden müssen, die sie einst zu isolieren versuchten. Die US-Administration wusste, dass eine israelische Invasion in Gaza angesichts der geopolitischen Aspekte eine Katastrophe wäre und gab dem Abkommen von Ägypten und Hamas bezüglich eines Waffenstillstandes zähneknirschend ihren Segen.
Ein anderer Gewinner in dem heiklen Prozess ist der Führer der Muslimbruderschaft und ägyptische Präsident, Mohammed Mursi, der sich zusammen mit seinem Spionagechef Mohammed Shehata mit dem Hamas-Führer Khaled Mashaal und dem Führer des Islamischen Dschihad, Ramadam Shalah, getroffen hat (Christian Science Monitor, 22. November), um den Deal auszuhandeln, den Hillary Clinton höchstpersönlich im Namen der US-Administration begrüßen musste. Nur ein paar Monate zuvor hatten die USA noch versucht, Mursis wachsenden Einfluss zu untergraben, und im Moment prangern die USA, wie um die Unbeständigkeit und Zerbrechlichkeit der gesamten Region zu unterstreichen, Mursi und seine Muslimbruderschaft an, nur wenige Tage nach dem Waffenstillstands-„Triumph“ diktatorisch und im Stile Mubaraks die ganze Macht zu ergreifen. (3)
Ein weiterer Faktor in dieser imperialistischen Jauchegrube ist, dass, ginge es nach Israel, Ägypten mehr Verantwortung für die Hamas übernimmt; entsprechend dieser Sichtweise könnten die Westbank und Gaza – an beiden Enden Israels – weiter voneinander isoliert werden, wenn Ägyptens „Kontrolle“ über den Gazastreifen verstärkt werden könnte. Mursi hat solch ein Ansinnen von sich gewiesen und möchte nicht, dass Israel das Gaza-Problem auf Ägypten abwälzt. Zwar hat es Spannungen und eine gewisse Distanzierung zwischen der Hamas und ihrem früheren Sponsor, den Iran, in der Frage des Krieges in Syrien gegeben (ein Vakuum, das sogleich Katar füllte), doch hat es angesichts der vermeintlichen Rolle, dass die iranische Waffen (insbesondere panzerbrechende Waffen) die Hamas in die Lage versetzten, die Israelis von einer Bodenoffensive gegen den Gaza-Streifen abzubringen, den Anschein einer Wiederaufwärmung dieser Beziehungen. Es ist keine Überraschung, dass es Risse in der Hamas bezüglich ihrer Beziehungen zum Iran gibt, was ein weiterer komplizierender Faktor ist. Es gibt Misstrauen zumindest seitens Saudi-Arabiens wie auch der Vereinten Arabischen Emirate, einem Hauptinvestor in Ägypten, gegenüber der Muslimbruderschaft in Ägypten. Dann gibt es das zweideutige Verhalten der Bruderschaft gegenüber dem Iran, typisch für die seit jeher verwickelten Beziehungen in Nahost. Der Aufstieg der Muslimbruderschaft ist ein weiterer unkalkulierbarer Faktor; ihre wachsenden Aktivitäten in Jordanien tragen dazu bei, dass auch dieses Land immer instabiler wird. All dies schafft neben den Hauptbrennpunkten Syrien und Iran weitere Probleme für den US-Imperialismus und seine Strategie des „Light Footprint“ (etwa: Leichter Fußabdruck) für den Nahen Osten (da er seine Hauptprioritäten für den pazifischen Raum und angesichts der wachsenden Bedrohung seiner Vorherrschaft in dieser Region, die von China ausgeht „neu gewichtet“ und „austariert“).
Hingegen herrschte 2008/09, zurzeit des letzten Einfalls Israels in den Gaza-Streifen, eine verhältnismäßige „Ruhe“ an den Grenzen zu Syrien und dem Libanon, während die Türkei noch freundschaftliche Beziehungen zu Israel unterhielt, auf Mubarak in Ägypten Verlass war und die Spannungen zwischen den USA und dem Iran noch nicht so ausgeprägt waren. Nun ist die Situation weitaus unkalkulierbarer, weil etliche dieser Nationen ihr eigenes Spiel spielen und so die Tendenzen zu einem Jeder-Für-sich-selbst vertiefen.
Die „Führer“ der staatenlosen palästinensischen Bourgeoisie, Fatah, Islamischer Dschihad und Hamas, haben ihrer Bevölkerung nichts anzubieten außer wachsendes Elend und „Märtyrertum“. Sie sind nichts anderes als ein Ausdruck der Verzweiflung und des Hasses; ihr Ziel ist es, so viele israelische Zivilisten wie möglich zu töten. Sie können keine konstruktive Alternative anbieten, sondern – ähnlich den Warlords in Afrika, deren Kinderarmeen, ein weiteres Phänomen des zerfallenden Kapitalismus, töten, vergewaltigen und plündern – stiften lediglich verzweifelte junge Palästinenser im Namen ihrer leeren nationalistischen Projekte zur Rache und zu rasender Zerstörungswut an. Und der israelische Staat treibt mit täglichen Demütigungen, „Kollektivbestrafungen“, Landnahmen, ungezielten Schießereien und Raketenangriffen, bei denen Zivilisten, die sich zufällig in der Nähe von palästinensischen Gangstern befinden, in die Luft gejagt werden, die Spirale von Terror und Gewalt weiter an.
Trotz aller Repression und permanenter Kriegsatmosphäre gibt es im Nahen Osten viele Anzeichen des sozialen Protestes gegen die Krise des Kapitalismus und die Führer aller Seiten: In den letzten paar Jahren erlebten wir sozialen Proteste in Israel, im Gaza-Streifen, in der Westbank und erst kürzlich in Jordanien; und diese Bewegungen richteten sich hauptsächlich gegen grundlegende Dinge wie Preiserhöhungen bei den Nahrungsmitteln, der Stromversorgung, etc. wie auch gegen alle Regimes, die zu solchen Maßnahmen greifen. Solche Bewegungen müssen, auch wenn sie nicht revolutionär an sich sind, von der Arbeiterklasse begrüßt werden, da sie zeigen, dass selbst unter diesen militarisierten und brutalen Regimes und trotz des Hasses und der Feindseligkeiten, die von den herrschenden Cliquen erzeugt werden, es immer noch den Willen und die Bereitschaft gibt, zurückzuschlagen. Wenn viele ArbeiterInnen in diesen Regionen an den Protesten teilgenommen hatten, so taten sie dies größtenteils als Individuen und nicht als eine eigene, unabhängige Kraft. Der nächste Ausdruck hierfür ist Ägypten, wo die organisierte Arbeiterklasse als realer Faktor im Klassenkampf auftrat und auftritt. Doch die Realität der Arbeiterklasse in diesen Gebieten rund um Israel ist, dass sie zu schwach ist und ohne ihre Brüder und Schwestern in den zentraleren kapitalistischen Nationen nur schwerlich einen Ausweg aus der Barbarei ihrer Umgebung finden wird.
Die sozialen Bewegungen in der Region um Israel, in denen sich die Arbeiterklasse engagiert, sind wichtig, aber sie sind, auch wenn sie die Bourgeoisie destabilisieren oder ihr Probleme bereiten können, nicht stark genug, um die herrschende Klasse auf Dauer zurückzudrängen – sie können es wegen ihrer eigenen Begrenztheit schlicht und einfach nicht. Als Aufschrei der Unterdrückten und Unterdrückten waren die sozialen Bewegungen in Nahost Teil einer internationalen Welle von Protesten, die immer noch nachhallen. Doch der Widerspruch hier ist, dass die Schwäche dieser positiven Bewegung so etwas wie ein Vakuum zurückgelassen hat, in das der Imperialismus eindrang, was zum Teil in den Kriegen in Libyen und Syrien mündete. Es hat ebenfalls zur weitergehenden Destabilisierung der Regimes beigetragen, was umgekehrt dazu tendierte, die Kontrolle der USA über die Region zu schwächen und zentrifugalere, „unabhängige“ Tendenzen in den Bourgeoisien vor Ort zu fördern. Selbst im Falle einer stärkeren Entwicklung des Klassenkampfes erwarten wir keine linear aufwärtsstrebende Bewegung der Kräfte gegen den Kapitalismus. Die Region des Nahen Ostens wird für die dort lebenden Ausgebeuteten und Unterdrückten besonders schwer sein, und dem Klassenkampf stehen angesichts eines ständig existenten, bedrohlichen Imperialismus harte Zeiten bevor. Allein signifikante Bewegungen des Klassenkampfes in den kapitalistischen Zentren können den Imperialismus zurückdrängen und die von ihm aufgezwungenen Fragmentierungen und Kriege in Frage stellen.
Baboon, 29.11.2012
(1) https://www-independent.co.uk/news/world/politics/the-future-of-war-is-l... [29].
(2) Siehe die drei Teile von „Bemerkungen über die Geschichte des Konfliktes im Nahen Osten“ in: Internationale Revue, Nr. 115, 117 und 118 (engl., franz. und span. Ausgabe).
(3) Die britische Bourgeoisie und Geheimdienste waren der Muslimbruderschaft wohlgesonnener gewesen. Sie haben sie in den 1940er und 1950er Jahren unterstützt, und es hat Berichte über ihre Unterstützung der Muslimbruderschaft in ihrer Funktion als Streitkräfte in Syrien im vergangenen Jahr gegeben. Wie im Falle Mubaraks und seines Spionagechefs Suleiman, die von den Briten voll und ganz gestützt wurden, liegt eine ähnliche Unterstützung für Mursi und seine üble Crew im Bereich des Vorstellbaren. Eine vom März 2012 datierte Pressemitteilung für die aktualisierte Version des Buchs von Mark Curtis, Secret Affairs: Britain’s Collusion with Radical Islam („Geheimsache: Großbritanniens Absprachen mit dem radikalen Islam“) stellt fest: „Offizielle des Außenministeriums hielten kürzlich etliche Treffen mit der Muslimbruderschaft ab, die in den britischen Medien unerwähnt blieben. Die Politik besteht darin, Großbritannien im Fall, dass die Bruderschaft eine Schlüsselrolle bei Ägyptens Übergang spielt, ‚abzusichern‘ und eine elf Milliarden Pfund teure Investition von BP zu schützen. Anfragen des Autors im Rahmen des Freedom of Information Act, um mehr Details zu diesen Treffen zu erhalten, wurden vom Außenministerium aus Gründen des ‚öffentlichen Interesses‘ nicht beantwortet.“
Es gibt ein Phänomen im Erkenntnisprozess der bürgerlichen Gesellschaft, das Harper nicht behandelt hat: den Einfluss der kapitalistischen Arbeitsteilung erstens auf die Erkenntnisentwicklung der Naturwissenschaften, zweitens auf die Entwicklung des Wissens in der Arbeiterbewegung.
An einer Stelle sagt Harper, dass die Bourgeoisie sowohl in jeder ihrer Revolutionen anders auftreten müsse als in den vorherigen als auch in der Form, die sie in diesem aktuellen Moment angenommen hatte. Sie muss ihre wahren Ziele verheimlichen.
Das ist wahr. Da Harper jedoch versäumt, über den Erkenntnisprozess in der Geschichte zu sprechen und das Problem seines Zustandekommens nicht explizit nennt, endet er dabei, es stillschweigend genauso mechanistisch zu formulieren, wie er es Lenin vorwirft.
Der Prozess, in dem die Erkenntnis geformt wird, ist abhängig von den Bedingungen, die bei der Erzeugung wissenschaftlicher Konzeptionen und Ideen im Allgemeinen vorherrschen. Diese Bedingungen wiederum sind mit den generellen Produktionsbedingungen, d. h. mit der praktischen Anwendung der Ideen verknüpft.
Mit der bürgerlichen Gesellschaft – der Entwicklung ihrer Produktionsbedingungen, ihrer ökonomische Existenzweise – entwickelt sich auch ihre eigene Ideologie: ihre wissenschaftlichen Auffassungen ebenso wie ihre Konzepte von der Welt und über die Welt.
Die Wissenschaft ist ein ganz besonderer Teil bei der Erzeugung von Ideen, die notwendig für das Leben der kapitalistischen Gesellschaft, für die Kontinuität und Evolution ihrer Produktionsweise sind.
Die ökonomische Produktionsweise wendet nicht nur praktisch an, was die Wissenschaft theoretisch ausarbeitet, sie hat ebenfalls großen Einfluss auf die Art und Weise, in der Ideen und Wissenschaften erarbeitet werden. So wie die kapitalistische Arbeitsteilung eine extreme Spezialisierung in allen Bereichen der praktischen Realisierung der Produktion durchsetzt, provoziert sie auch – als weitere Arbeitsteilung – eine extreme Spezialisierung im Bereich der Entstehung und Formulierung von Ideen, insbesondere in der Wissenschaft.
Die Spezialisierung der Wissenschaft und der Wissenschaftler ist Ausdruck der universellen Arbeitsteilung im Kapitalismus. Der Kapitalismus braucht wissenschaftliche Spezialisten genauso wie Generäle, Experten für Militärtechnik, Verwalter und Direktoren.
Die Bourgeoisie ist durchaus in der Lage, Zusammenhänge im Bereich der Wissenschaft herzustellen, solange diese nicht ihre Ausbeutungsweise berühren. Sobald dies aber droht, verzerrt die Bourgeoise unbewusst die Wirklichkeit. Die Bourgeoisie ist zu keiner umfassenden wissenschaftlichen Darstellung in der Lage, weder im Bereich der Geschichte noch in dem der Ökonomie, der Soziologie oder der Philosophie.
Wenn die Bourgeoisie sich auf die praktische Anwendung, die wissenschaftliche Untersuchung konzentriert, ist sie zutiefst materialistisch. Da sie jedoch zu einer völligen Synthese nicht in der Lage ist, da sie unbewusst dazu gezwungen ist, ihre eigene Existenz zu verbergen, und die wissenschaftlichen Entwicklungsgesetze der Gesellschaft (von den Sozialisten entdeckt) ablehnt, kann sie mit dieser psychologischen Sperre vor ihrer eigenen gesellschaftlich-historischen Realität nur umgehen, indem sie Zuflucht im philosophischen Idealismus sucht, und dieser Idealismus durchtränkt ihre ganze Ideologie. Diese Entstellung der Realität – ein notwendiger Aspekt der bürgerlichen Gesellschaft – wird sehr effektiv durch die verschiedenen philosophischen Systeme der Bourgeoisie bewerkstelligt. Doch die Bourgeoisie greift auch auf Philosophien und Ideologien früherer Ausbeutungsformen zurück.
Dies macht sie, da diese Ideologien die bürgerliche Existenz nicht beeinträchtigen - im Gegenteil, diese Ideologien können benutzt werden, um sie zu verbergen. Sie tut dies aber auch, weil alle herrschenden Klassen in der Geschichte – als konservative Klassen – die Notwendigkeit deutlich gemacht haben, alte Methoden zu ihrer Konservierung zu verwenden, die dann natürlich für ihre eigenen Bedürfnisse benutzt werden, indem sie so weit entstellt werden, dass sie mit ihren eigenen Konturen reinpassen.
Daher konnten in der Frühphase der Bourgeoisie auch bürgerliche Philosophen bis zu einem gewissen Grad Materialisten sein (insoweit, dass sie die Notwendigkeit der Entwicklung der Naturwissenschaften unterstrichen). Jedoch waren sie vollkommen idealistisch, sobald es darum ging, die Existenz der Bourgeoisie selbst vernünftig zu begründen und zu rechtfertigen. Die, die mehr Gewicht auf den ersten Aspekt des bürgerlichen Denkens legten, konnten materialistischer erscheinen; jene, die mehr damit beschäftigt waren, die Existenz der Bourgeoisie zu rechtfertigen, mussten deutlich idealistischer auftreten.
Nur die wissenschaftlichen Sozialisten, beginnend mit Marx, waren in der Lage, eine Synthese der Wissenschaften in Beziehung zur gesellschaftlichen Entwicklung des Menschen herzustellen. Diese Synthese war im Grunde der notwendige Ausgangspunkt ihrer revolutionären Kritik.
In dem Maße, in dem sie mit neuen wissenschaftlichen Problemen konfrontiert waren, waren die Materialisten in der revolutionären Epoche der Bourgeoisie gezwungen, eine Synthese ihres Wissens und ihrer Vorstellungen über die gesellschaftliche Entwicklung anzustreben. Doch waren sie nie in der Lage, die gesellschaftliche Existenz der Bourgeoisie zu hinterfragen; im Gegenteil, sie mussten diese rechtfertigen. Einzelne – von Descartes bis Hegel – waren um eine Synthese bemüht. Sie waren, geleitet von einem dialektischen Standpunkt mit Blick auf die gesamte Evolution der Welt und der Ideen, so damit beschäftigt, eine umfassende Synthese herzustellen, dass sie es nicht vermeiden konnten, diesen dualistischen und widersprüchlichen Aspekt der bürgerlichen Ideologie am komplexesten auszudrücken. Doch sie waren Ausnahmen.
Was diese Individuen zu ihrer Aktivität trieb, bleibt ungeklärt. Die geschichtlichen, gesellschaftlichen, ökonomischen und psychologischen Erkenntnisse befanden sich noch in ihrer Frühphase. Wir können nur die banale Wirklichkeit wiederholen, dass sie von der Voreingenommenheit der sie umgebenden Gesellschaft bestimmt wurden. Auch wenn sie beabsichtigen, eine neue Gesellschaft aufzubauen, leben und entwickeln sich sowohl das Proletariat wie auch die Sozialisten im Kapitalismus; entsprechend wird das Feld der Erkenntnis von den Gesetzen des Kapitalismus beeinflusst.
Kommunistische Militante sind spezialisiert auf Politik, auch wenn universellere Erkenntnisse und Synthesen hilfreich für sie sind.
So gibt es in der Arbeiterbewegung eine Spaltung zwischen den politischen Strömungen und der Klasse im Allgemeinen. Selbst die politischen Strömungen können in Theoretiker der Geschichte, der Ökonomie und der Philosophie aufgeteilt sein. Der Prozess, an dessen Ende die Theoretiker des Sozialismus standen, ist vergleichbar mit jenem Prozess, der zu den Denkern und Philosophen in der revolutionären Epoche der Bourgeoisie führte.
Der Einfluss der bürgerlichen Erziehung, des bürgerlichen Milieus im Allgemeinen lastete schon immer schwer auf der Entstehung von Ideen in der Arbeiterbewegung. Die Entwicklung sowohl der Gesellschaft als auch der Wissenschaft ist ein maßgeblicher Faktor in der Entwicklung der Arbeiterbewegung. Dies mag wie eine Tautologie klingen, doch es kann nicht oft genug wiederholt werden. Die konstante Parallele zwischen der Gesellschaftsentwicklung und der Entwicklung des Proletariats und der Sozialisten ist eine schwere Last für Letztere.
Die Überbleibsel der Religionen, d. h. aus vorkapitalistischen Epochen, werden allerdings zu einem atavistischen Element der reaktionären Bourgeoisie, besonders in der Bourgeoisie als letzte ausbeutende Klasse in der Geschichte. Doch ist nicht die Religion der gefährlichste Teil der Ideologie dieser ausbeutenden Klasse, sondern die Ideologie insgesamt ist gefährlich. In der bürgerlichen Ideologie steckt neben der Religion, dem Chauvinismus und all dem verbalen Idealismus ein verengter, trockener, statischer Materialismus. Ebenso wie der idealistische Aspekt des bürgerlichen Denkens existiert auch der Materialismus der Naturwissenschaften als integraler Bestandteil ihrer Ideologie. Für die Bourgeoisie, die versucht, die Einheit ihrer Existenz hinter der Pluralität ihrer Mythen zu verstecken, sind diese unterschiedlichen Ideologien nicht Teil eines Ganzen. Sozialisten sollten diese jedoch als Ganzes behandeln.
Auf diese Weise können wir ermessen, wie schwer es für die Arbeiterbewegung war, sich von der bürgerlichen Ideologie als Ganzes - von ihrem unvollständigen Materialismus - loszureißen. Hatte nicht Bergson auf die Bildung einiger Strömungen der Arbeiterbewegung in Frankreich großen Einfluss gehabt? Das wirkliche Problem ist, wie man eine neue Ideologie, eine neue Idee zum Objekt einer kritischen Untersuchung macht, ohne in das Dilemma zu geraten, sie anzunehmen oder abzulehnen. Es geht auch darum, den ganzen wissenschaftlichen Fortschritt nicht als wirklichen Fortschritt zu betrachten, sondern als etwas, das nur potenziell ein Fortschritt bzw. eine Bereicherung der Erkenntnis ist, als etwas, dessen Leistungsfähigkeit von den Schwankungen im Wirtschaftsleben des Kapitalismus abhängt.
Für Sozialisten ist dies die einzige Möglichkeit, eine permanent kritische Haltung zu bewahren, die eine wirkliche Untersuchung der Ideen erlaubt. Im Hinblick auf die Wissenschaften ist es die Aufgabe der Sozialisten, ihre Ergebnisse theoretisch zu assimilieren und gleichzeitig zu begreifen, dass ihre praktische Anwendung im Dienste der menschlichen Bedürfnisse erst in einer Gesellschaft möglich ist, die sich zum Sozialismus entwickelt.
Die Entwicklung des Wissens in der Arbeiterbewegung beinhaltet die theoretische Entwicklung der Wissenschaften als eigenen Beitrag. Jedoch muss diese Entwicklung in einem umfassenderen Verständnis eingebettet werden, das sich um die praktische Durchführung der sozialen Revolution – der Basis jeglichen wirklichen Fortschritts in der Gesellschaft – dreht.
Die Arbeiterbewegung ist also durch ihre eigene revolutionäre gesellschaftliche Existenz spezialisiert, durch die Tatsache, dass sie innerhalb des Kapitalismus, gegen die Bourgeoisie und in der rein politischen Sphäre kämpft, die – bis zum Aufstand – den Schwerpunkt im Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat bildet.
Dies gewährleistet, dass - abhängig von dem Fortschritt, den die wirkliche Befreiung des Proletariats macht - die Entwicklung des Wissens innerhalb der Arbeiterbewegung einen dualistischen Aspekt beinhaltet. Auf der einen Seite ist sie politisch, beeinflusst von unmittelbaren und dringenden Fragen. Auf der anderen Seite ist sie theoretisch und wissenschaftlich, entwickelt sich langsamer und (bis jetzt) meist in den Perioden des Rückflusses der Arbeiterbewegung. Dieser Aspekt behandelt Fragen, die gleichermaßen wichtig wie die politischen Probleme sind und sicherlich in einer Wechselbeziehung zu ihnen stehen, aber weniger direkt und drängend sind.
Auch die unmittelbaren Klassengrenzen entwickeln sich analog zur Entwicklung der Gesellschaft durch den Kampf der Klasse in der politischen Sphäre. Der politische Kampf des Proletariats, die Entstehung der revolutionären Arbeiterbewegung als Opposition zur Bourgeoisie verläuft in Verbindung zur fortwährenden Weiterentwicklung der kapitalistischen Gesellschaft. Die Klassenpolitik des Proletariats ändert sich von Tag zu Tag und in gewissem Maße lokal (später schauen wir uns an, in welchem Maße). In diesen Tageskämpfen, in diesen Divergenzen zwischen politischen Parteien und Gruppen, in den Taktiken über Ort und Zeitpunkt entwickeln sich die Klassengrenzen. Später zeigt sich dies auf einer grundsätzlicheren, weniger unmittelbaren Weise: Die entfernteren Ziele des revolutionären Kampfes des Proletariats werden in den großen Leitprinzipien der politischen Parteien und Gruppen formuliert.
Differenzen in der politischen Arbeit werden somit zuerst im Programm, dann erst in der praktischen Anwendung des tagtäglichen Kampfes thematisiert. Die Entwicklung dieser Differenzen reflektiert die allgemeine Entwicklung der Gesellschaft, die Entwicklung der Klassen, ihre Methoden im Kampf, ihre Ideologien, Theorien und ihre politische Praxis.
Im Gegensatz dazu entwickelt sich die Synthese der wissenschaftlichen Dialektik in der rein philosophischen Erkenntniswelt nicht auf dem dialektisch unmittelbaren Weg des praktischen, politischen Klassenkampfs. Diese Dialektik ist weit abstrakter, sporadischer, ohne offenkundige Verbindungen zum lokalen oder gesellschaftlichen Umfeld, ein bisschen wie die Entwicklung der angewandten Wissenschaften, der Naturwissenschaften gegen Ende des Feudalismus und zu Beginn des Kapitalismus.
Harper macht diese Unterschiede nicht. Er versäumt es, darauf hinzuweisen, dass die Erkenntnis im menschlichen Denken verschiedene Manifestationen hat, dass sie in Abhängigkeit von der Periode, dem gesellschaftlichen Kontext usw. stark in verschiedene Spezialisierungen aufgeteilt ist.
Um es etwas ungeschliffen und vereinfacht darzustellen, entwickelt sich die menschliche Erkenntnis als Antwort auf die Bedürfnisse, denen sich die unterschiedlichen Gesellschaftsformationen gegenübersehen, und die unterschiedlichen Zweige der Erkenntnis entwickeln sich im Verhältnis zu den vorgesehenen praktischen Anwendungen. Je unmittelbarer die Sphäre der Erkenntnis mit der praktischen Anwendung verbunden ist, desto einfacher ist es, den Fortschritt zu beobachten. Je mehr dagegen die Erkenntnis zur Synthese strebt, desto schwieriger ist es, den Fortschritt festzustellen. Die Synthese beruht auf Gesetzen, die so kompliziert sind und von solch komplexen und unterschiedlichen Faktoren abgeleitet sind, dass es für uns heute praktisch unmöglich ist, in solche Studien einzutauchen.
Darüber hinaus umfasst die Praxis weite Teile der gesellschaftlichen Massen, während die Synthese häufig nur von Einzelnen geleistet wird. Gesellschaftliche Prozesse sind von grundsätzlichen Gesetzen determiniert, die einfacher und direkter zu kontrollieren sind. Das Individuum ist weitaus mehr das Subjekt von Besonderheiten, die für eine Geschichtswissenschaft – welche sich immer noch in einem sehr frühen Stadium befindet – kaum wahrnehmbar sind.
Deshalb denken wir, dass Harper einem schwerwiegenden Irrtum aufgesessen war, als er sich auf eine Untersuchung des Problems der Erkenntnis einließ, die sich darauf beschränkte, den Unterschied zwischen dem bürgerlichen und dem sozialistischen, revolutionären Ansatz herauszuarbeiten, und die sich nicht mit dem historischen Prozess befasste, in dem die Ideen gebildet werden. Dadurch bleibt Harpers Dialektik kraftlos und vulgär. Nach seinem sehr interessanten Essay, in dem er Lenins Angriff auf den Empiriokritizismus richtigerweise kritisiert (d. h. aufzeigt, dass Lenins Text eine vulgäre Polemik in der wissenschaftlichen Sphäre ist, ein wüster Mischmasch von bürgerlichem Materialismus und Marxismus), belässt es Harper in seinen Schlussfolgerungen bei Plattitüden, die eklatanter sind als Lenins Dialektik in Materialismus und Empiriokritizismus.
Das Proletariat löst sich durch einen kontinuierlichen Kampf vom bürgerlichen Gesellschaftsmilieu. Es kann jedoch nicht vollständig eine – im umfassenden Sinne des Wortes – unabhängige Ideologie erlangen, solange es noch nicht den allgemeinen Aufstand durchgeführt und die sozialistische Revolution zu einer lebendigen Realität gestaltet hat. Genau in dem Moment, wenn das Proletariat eine vollständige ideologische und politische Unabhängigkeit erreicht hat, wenn es sich über die einzige Lösung des sozio-ökonomischen Morasts des Kapitalismus – den Aufbau der klassenlosen Gesellschaft – bewusst ist, existiert es bereits nicht mehr als Klasse für den Kapitalismus. Durch die Doppelherrschaft, die es zu seinen Gunsten etabliert, schafft es die gesellschaftlich-historischen Umstände, die das vollständige Verschwinden als Klasse ermöglichen. Die sozialistische Revolution besteht daher aus zwei entscheidenden Momenten: vor und nach dem Aufstand.
Erst wenn das Proletariat ein Umfeld geschaffen hat, das sein Verschwinden begünstigt, d.h. nach dem Aufstand, kann es eine vollständig unabhängige Ideologie entwickeln. Vor dem Aufstand ist das Hauptziel seiner Ideologie die praktische Realisierung des Aufstands. Dies erfordert ein Bewusstsein über die Notwendigkeit des Aufstandes und die Möglichkeiten und Mittel, ihn durchzuführen. Nach dem Aufstand wird die entscheidende praktische Frage auf der einen Seite die Verwaltung der Gesellschaft und auf der anderen Seite die Abschaffung der vom Kapitalismus hinterlassenen Widersprüche sein. Die Hauptsorge wird dann sein: Wie kommen wir zum Kommunismus, wie können die Probleme der „Übergangsperiode“ gelöst werden? Gesellschaftliches Bewusstsein, selbst das des Proletariats, kann solange nicht vollständig von der bürgerlichen Ideologie befreit werden, solange der generalisierte Aufstand nicht begonnen hat. Bis dahin, bis zur Befreiung durch Gewalt werden alle bürgerlichen Ideologien, die gesamte bürgerliche Kultur, ihre Kunst und Wissenschaft Einfluss auf das Denken der Sozialisten ausüben. Eine sozialistische Synthese erwächst nur sehr langsam aus der Entwicklung der Arbeiterbewegung. Häufig werden dabei die reichhaltigsten Beiträge zur Analyse des Klassenkampfs und der Entwicklung des Kapitalismus außerhalb der Bewegung geleistet – mehr von Beobachtern als von Teilnehmern. Im Vergleich zu Lenin ist dies bei Harper der Fall.
Entsprechend kann es eine Kluft zwischen Theorie und Praxis der sozialistischen Bewegung geben. So können theoretische Studien wertvoll bleiben, auch wenn die Menschen, die sie formuliert haben, eine dem Kampf des Proletariats nicht angemessene politische Praxis ausüben. Aber auch das Gegenteil ist möglich.
Die Bewegung, die die russische Gesellschaft innerhalb von zwölf Jahren in drei Revolutionen stürzte, hatte hauptsächlich mit den praktischen Aufgaben des Klassenkampfs zu tun. Die Bedürfnisse, die der Kampf generierte, die Ergreifung und Ausübung der Macht begünstigten eher Politiker des Proletariats wie Lenin und Trotzki – Männer der Tat, der Tribüne, Polemiker – als Philosophen und Ökonomen. Die Philosophen und Ökonomen aus der Zeit der II. und III. Internationale standen häufig außerhalb der praktischen revolutionären Bewegung oder leisteten ihre Hauptarbeit in Zeiten des Rückflusses der revolutionären Flut.
Zwischen 1900 und 1924 wurde Lenin von dem Strom der aufkommenden Revolution angetrieben. All seine Arbeit war verwoben mit diesem Kampf, mit seinen Höhen und Tiefen, mit seiner historischen und vor allem menschlichen Tragödie. Seine Arbeit war hauptsächlich politisch und polemisch, eine kämpferische Arbeit. Sein wesentlicher Beitrag zur Arbeiterbewegung besteht im politischen Teil seiner Arbeit und nicht in seinen philosophischen und ökonomischen Studien, deren Qualität aufgrund der mangelnden analytischen Tiefe, wissenschaftlichen Kenntnisse und Fähigkeit zur theoretischen Synthese zweifelhaft ist. Im Gegensatz zur turbulenten historischen Situation in Russland erlaubte die Ruhe, die in Holland am Rande des Klassenkampfs in Deutschland herrschte, die Zeit des Rückzugs des Klassenkampfes einer Gestalt wie Harper eine ideologische Weiterentwicklung.
Harper greift Lenin massiv an seinem schwächsten Punkt an, wobei er den weitaus wichtigsten und lebendigsten Teil seiner Arbeit ignoriert und so einen großen Fehler begeht, als er versucht, Schlussfolgerungen aus Lenins Gedanken und über die Bedeutung seiner Arbeit abzuleiten. Da Harpers Schlussfolgerungen unvollständig bzw. falsch sind, verkommen sie zu journalistischen Plattitüden, wenn sie sich mit der Russischen Revolution insgesamt beschäftigen. Indem er sich auf Materialismus und Empiriokritizismus beschränkt, zeigt er, dass er nichts von Lenins Hauptwerk verstanden hat. Seine Fehler über die russische Revolution sind weitaus ernster, so dass wir zu ihnen zurückkehren müssen.
Philip
(Fortsetzung folgt)
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[8] https://en.internationalism.org/icconline/201111/4578/oakland-occupy-movement-seeks-links-working-class
[9] https://de.internationalism.org/tag/geographisch/vereinigte-staaten
[10] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/occupy-bewegung-usa
[11] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/wahlen-usa
[12] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/oakland-occupy
[13] https://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Atomenergie/Zu_den_Auswirkungen_der_Reaktorkatastrophe_von_Fukushima_auf_den_Pazifik_und_die_Nahrungsketten.pdf
[14] https://news.ippnw.de/index.php?id=72
[15] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/fukushima
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[28] https://de.internationalism.org/tag/historische-ereignisse/rattenlinie
[29] https://www-independent.co.uk/news/world/politics/the-future-of-war-is-looking-bleak-8344462.html
[30] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/syrien
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[34] https://de.internationalism.org/tag/leute/assad
[35] https://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,822232,00.html
[36] https://www.tagesschau.de/thema/usa
[37] https://www.dailymail.co.uk/news/article-1216015/More-British-soldiers-prison-serving-Afghanistan-shock-study-finds.html#ixzz1qEGoRWsa
[38] https://www.democracynow.org/2012/3/16/mind_zone_new_film_tracks_therapists
[39] https://watson.brown.edu/costsofwar/
[40] https://www.reuters.com/article/2011/06/29/us-usa-war-idUSTRE75S25320110629
[41] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/amoklauf-afghanistan
[42] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/morde-toulouse
[43] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/gewaltfrage
[44] https://de.internationalism.org/tag/leute/rosa-luxemburg
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[47] http://www.internationalism.org
[48] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/streiks-indien
[49] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/gurgaon
[50] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/generalstreik-28februar-2012-indien
[51] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/indische-gewerkschaften
[52] https://fr.internationalism.org/rint148/40_annees_de_crise_ouverte_montrent_que_le_capitalisme_en_declin_est_incurable.html#sdfootnote1sym
[53] https://www.si-revue.de/der-beginn-einer-epoche
[54] https://fr.internationalism.org/rint148/40_annees_de_crise_ouverte_montrent_que_le_capitalisme_en_declin_est_incurable.html#sdfootnote12sym
[55] https://fr.internationalism.org/rint148/40_annees_de_crise_ouverte_montrent_que_le_capitalisme_en_declin_est_incurable.html#sdfootnote13sym
[56] https://fr.internationalism.org/rint148/40_annees_de_crise_ouverte_montrent_que_le_capitalisme_en_declin_est_incurable.html#sdfootnote14sym
[57] https://www.wwf.org.uk/what_we_do/press_centre/?unewsid=5529
[58] https://fr.internationalism.org/rint148/40_annees_de_crise_ouverte_montrent_que_le_capitalisme_en_declin_est_incurable.html#sdfootnote17sym
[59] https://fr.internationalism.org/rint148/40_annees_de_crise_ouverte_montrent_que_le_capitalisme_en_declin_est_incurable.html#sdfootnote1anc
[60] https://fr.internationalism.org/rint147/decadence_du_capitalisme_le_boom_d_apres_guerre_n_a_pas_renverse_le_cours_du_declin_du_capitalisme.html
[61] https://fr.internationalism.org/rint148/40_annees_de_crise_ouverte_montrent_que_le_capitalisme_en_declin_est_incurable.html#sdfootnote2anc
[62] https://fr.internationalism.org/rint148/40_annees_de_crise_ouverte_montrent_que_le_capitalisme_en_declin_est_incurable.html#sdfootnote3anc
[63] https://fr.internationalism.org/rint146/pour_les_revolutionnaires_la_grande_depression_confirme_l_obsolescence_du_capitalisme.html
[64] https://fr.internationalism.org/rint148/40_annees_de_crise_ouverte_montrent_que_le_capitalisme_en_declin_est_incurable.html#sdfootnote4anc
[65] https://fr.internationalism.org/rint142/rosa_luxemburg_et_les_limites_de_l_expansion_du_capitalisme.html
[66] https://fr.internationalism.org/rint132/decadence_du_capitalisme_la_revolution_est_necessaire_et_possible_depuis_un_siecle.html
[67] https://fr.internationalism.org/rinte59/guerre.htm
[68] https://fr.internationalism.org/rint148/40_annees_de_crise_ouverte_montrent_que_le_capitalisme_en_declin_est_incurable.html#sdfootnote14anc
[69] https://www.nationalgeographic.com/science/article/111109-world-energy-outlook-2011
[70] https://fr.internationalism.org/rint148/40_annees_de_crise_ouverte_montrent_que_le_capitalisme_en_declin_est_incurable.html#sdfootnote15anc
[71] https://www.theguardian.com/environment/2011/dec/11/global-climate-change-treaty-durban
[72] https://fr.internationalism.org/rint148/40_annees_de_crise_ouverte_montrent_que_le_capitalisme_en_declin_est_incurable.html#sdfootnote16anc
[73] https://www.washingtonpost.com/national/environment/warming-arctic-opens-way-to-competition-for-resources/2011/05/15/AF2W2Q4G_story.html
[74] https://fr.internationalism.org/rint148/40_annees_de_crise_ouverte_montrent_que_le_capitalisme_en_declin_est_incurable.html#sdfootnote17anc
[75] https://www.theguardian.com/culture/2011/dec/18/news-terrible-world-really-doomed
[76] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/dekadenz-kapitalismus
[77] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/socialisme-ou-barbarie
[78] https://de.internationalism.org/tag/leute/paul-mattick
[79] https://de.internationalism.org/tag/leute/casterioradis
[80] https://de.internationalism.org/tag/leute/grossmann
[81] https://de.internationalism.org/tag/3/54/zerfall
[82] https://stinas.blogsport.de/2010/04/17/das-massaker-an-den-internationalistischen-kommunisten-in-griechenland-dezember-1944/
[83] https://en.internationalism.org/specialtexts/IR072_stinas.htm
[84] https://de.internationalism.org/tag/leute/stinas
[85] https://de.internationalism.org/tag/politische-stromungen-und-verweise/kommunistische-linke
[86] https://de.internationalism.org/tag/historische-ereignisse/zweiter-weltkrieg
[87] https://de.internationalism.org/tag/historische-ereignisse/revolutionarer-defatismus
[88] https://de.internationalism.org/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/linke-opposition
[89] https://de.internationalism.org/tag/3/44/internationalismus
[90] https://de.internationalism.org/tag/geographisch/russland-kaukasus-zentralasien
[91] https://de.internationalism.org/tag/leute/pannekoek
[92] https://de.internationalism.org/tag/leute/bordiga
[93] https://de.internationalism.org/tag/politische-stromungen-und-verweise/bordigismus
[94] https://de.internationalism.org/tag/historische-ereignisse/faschismus
[95] https://de.internationalism.org/tag/historische-ereignisse/antifaschismus
[96] https://de.internationalism.org/tag/historische-ereignisse/negationismus
[97] https://de.internationalism.org/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/italienische-linke
[98] https://de.internationalism.org/tag/2/32/die-einheitsfront
[99] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/montauban
[100] https://en.internationalism.org/icconline/201201/4641/marxism-and-conspiracy-theories#_ftnref1
[101] http://news.bbc.co.uk/onthisday/hi/dates/stories/may/26/newsid_4396000/4396893.stm
[102] https://en.internationalism.org/icconline/201201/4641/marxism-and-conspiracy-theories#_ftnref2
[103] https://en.internationalism.org/icconline/201201/4641/marxism-and-conspiracy-theories#_ftnref3
[104] https://en.internationalism.org/icconline/201201/4641/marxism-and-conspiracy-theories#_ftnref4
[105] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/psychisches-elend
[106] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/sozialpsychiatrische-dienst-spd
[107] https://de.internationalism.org/files/de/chinaweb.pdf
[108] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/arbeiterkampfe-china
[109] https://en.internationalism.org/icconline/201204/4841/welcome-new-icc-sections-peru-and-ecuador#sdfootnote1sym
[110] https://en.internationalism.org/icconline/201204/4841/welcome-new-icc-sections-peru-and-ecuador#sdfootnote2sym
[111] https://en.internationalism.org/icconline/201204/4841/welcome-new-icc-sections-peru-and-ecuador#sdfootnote1anc
[112] https://en.internationalism.org/icconline/201204/4841/welcome-new-icc-sections-peru-and-ecuador#sdfootnote2anc
[113] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/revolution-ecuador
[114] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/revolutionare-peru
[115] http://www.leftcom.org
[116] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/aufruf-aus-griechenland-arbeiterinnen-deutschland
[117] https://es.internationalism.org/node/3323
[118] https://es.internationalism.org/node/3324
[119] https://fr.internationalism.org/icconline/2012/grece_l_hopital_de_kilkis_sous_le_controle_des_travailleurs.html
[120] https://es.internationalism.org/ccionlinemarzo2012panfleto
[121] https://it.internationalism.org/node/1147
[122] https://fr.internationalism.org/icconline/2011/dossier_special_indignes/le_mouvement_citoyen%20_democracia_real%20_ya_une_dictature_sur_les_assemblees_massive.html
[123] https://fr.internationalism.org/ri418/bilan_du_blocage_des_raffineries_1ere_partie.html
[124] https://fr.internationalism.org/ri420/bilan_du_blocage_des_raffineries.html
[125] https://fr.internationalism.org/node/4524
[126] https://fr.internationalism.org/icconlinz/2012/2011_de_l_indignation_a_l_espoir.html
[127] https://fr.internationalism.org/rint125/france-etudiants
[128] https://fr.internationalism.org/rint136/les_revoltes_de_la_jeunesse_en_grece_confirme_le_developpement_de_la_lutte_de_classe.html
[129] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/indien
[130] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/klassenkampf-spanien
[131] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/mexiko
[132] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/arbeiterstreiks
[133] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/arbeiterprotese-2012
[134] https://de.internationalism.org/files/de/unterst%C3%BCtzungpdf.pdf
[135] https://libcom.org/
[136] https://www.revleft.space/vb/
[137] https://www.revleft.space/vb/group.php?groupid=9
[138] http://www.red-marx.com
[139] http://www.revleft.space
[140] http://www.revleft.space/vb/group.php?groupid=9
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