Der Krieg in der Ukraine hört nicht auf, seine Flut von Mord, Zerstörung, Vergewaltigungen auszudehnen und das Leid der Flüchtlinge, die versuchen dem wütenden Feuer der Kriegsparteien zu entfliehen, noch zu verschlimmern. Die täglichen Bilder der hemmungslosen Barbarei vor den Toren Westeuropas, dem historischen Zentrum des Kapitalismus, sind unerträglich, apokalyptisch und massiv. Die Konsequenzen, die von dort weltweit ausstrahlen, sind kolossal, allein schon wegen der nuklearen Risiken, die der Konflikt für die Menschheit birgt. Es ist klar, dass dieser Krieg eine Folge der Zuspitzung der imperialistischen Spannungen weltweit, eine enorme Verschärfung des weltweiten Chaos darstellt, das alle imperialistischen Großmächte einbezieht und direkt betrifft.
Der Krieg in der Ukraine ist heute der zentralste und repräsentativste Ausdruck der allgemeinen Zerfallsdynamik in die der Kapitalismus die Welt hineinzieht, insbesondere weil er ein von der Bourgeoisie bewusst entfesseltes Ereignis ist, das die gesamte Gesellschaft dauerhaft und schwer beeinträchtigen wird. Aber er ist auch Teil eines Prozesses, in dem viele Katastrophen und Widersprüche zusammenlaufen, die die herrschende Klasse immer weniger kontrollieren kann:
- die Covid-19-Pandemie ist noch lange nicht eingedämmt, wie die massiven und extrem brutalen Lockdowns in Peking und Shanghai und die Explosion neuer "Corona-Wellen" aufgrund neuer Varianten in Europa zeigen;
- die Wirtschaftskrise vereint nun Inflation, Desorganisation der Produktionsketten und das unaufhaltsame Abgleiten der Weltwirtschaft in eine Rezession, die vorübergehend durch die Rekordsubventionen der Federal Reserve und der EZB eingedämmt worden war;
- die Zahl der Flüchtlinge, die vor Barbarei und Elend in Afrika, Syrien, Libyen, Lateinamerika, Asien und nun auch in Europa fliehen, ist dramatisch angestiegen;
- die Unfähigkeit der Bourgeoisie, das Ziel zu erreichen, den Anstieg der globalen Temperatur des Planeten auf 1,5° C zu begrenzen, ist so offensichtlich, dass selbst die optimistischsten Propagandisten nicht mehr daran glauben.
Und wir könnten noch viele weitere Stigmata hinzufügen, wie die Explosion der Gewalt in den Städten, das individuelle Durchwursteln angesichts des Elends, die Zunahme von wahnhaften "Verschwörungstheorien", Korruption etc.
Der Krieg in der Ukraine markiert jedoch einen neuen, gewaltigen Absturz in die Barbarei. 1991, kurz nach dem Zusammenbruch der UdSSR, versprach Bush Senior in seiner „Rede an die Nation“ über den Golfkrieg eine "neue Weltordnung". Die Bourgeoisie versuchte, die Ausgebeuteten davon zu überzeugen, dass der Kapitalismus endgültig triumphiert hat und eine strahlende Zukunft eröffnet. 30 Jahre später sind diese Versprechungen verflogen und bestätigen jeden Tag aufs Neue die Herausforderungen, die der Erste Kongress der Kommunistischen Internationale 1919 klar erkannt hatte: "Die neue Epoche ist geboren! Die Epoche der Auflösung des Kapitalismus, seiner inneren Zersetzung, die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats [...]. Der Menschheit, deren ganze Kultur jetzt in Trümmern liegt, droht die Gefahr vollständiger Vernichtung. Es gibt nur eine Kraft, die sie retten kann, und diese Kraft ist das Proletariat. Die alte kapitalistische "Ordnung" existiert nicht mehr, sie kann nicht mehr bestehen. Das Endresultat der kapitalistischen Produktionsweise ist das Chaos".
Für diejenigen, die eine Blitzkrieg-Invasion erwartet hatten, allen voran die russische Bourgeoisie selbst (oder zumindest die Putin-Clique), wie es bei der Krim-Offensive 2014 der Fall war, haben diese vier Monate Krieg im Gegenteil gezeigt, dass der Konflikt von langer Dauer sein wird. Das anfängliche Scheitern der russischen Invasion führte zu einer systematischen Zerstörung von Städten wie Mariupol, Sewerodonezk oder nun Lyssytschansk, was an die Vernichtung von Städten wie Grosny (Tschetschenien), Falludscha (Irak) oder Aleppo (Syrien) erinnerte. Im Zweiten Weltkrieg wurden die Städte immer massiver und systematischer zerstört, obwohl der Ausgang des Konflikts bereits feststand: Hiroshima und Nagasaki in Japan, Arbeiterstädte in Deutschland. Im aktuellen Konflikt dauerte es nur wenige Wochen, bis Bilder von gewaltigen Zerstörungen und dem Erdboden gleichgemachten Städten zu sehen waren.
Im Gegensatz zu denjenigen die behaupten, der Krieg würde einen neuen Zyklus kapitalistischer Akkumulation eröffnen und damit die Möglichkeit des Kapitalismus, eine "Lösung" für die Krise zu finden, zeigt die Realität, dass der Krieg nichts anderes ist als die Zerstörung von Produktivkräften. Wie die Kommunistische Linke Frankreichs bereits 1945 feststellte: "Der Krieg war das unentbehrliche Mittel des Kapitalismus, das ihm Möglichkeiten der weiteren Entwicklung eröffnete, und zwar zu der Zeit, als diese Möglichkeiten bestanden (die Periode des Aufstiegs des Kapitalismus) und nur mit dem Mittel der Gewalt eröffnet werden konnten. Ebenso findet der Zusammenbruch der kapitalistischen Welt, die historisch alle Entwicklungsmöglichkeiten ausgeschöpft hat, im modernen Krieg, dem imperialistischen Krieg, den Ausdruck dieses Zusammenbruchs, der, ohne irgendwelche Möglichkeiten für die weitere Entwicklung der Produktion zu eröffnen, nur die Produktivkräfte in den Abgrund stürzt und in beschleunigtem Tempo Ruine um Ruine anhäuft". All das trifft zuerst, und vor allem, die arbeitende Bevölkerung. Erste Schätzungen der Opferzahlen gehen von bisher über 50.000 Toten in der Ukraine und etwa 6 Millionen Flüchtlingen aus. Zelensky spricht von 100 getöteten ukrainischen Soldaten pro Tag und 500 Verwundeten (die meisten von ihnen schwerst beeinträchtigt fürs ganze Leben). Auf russischer Seite sind die Verluste höher als während der gesamten Invasionskampagne in Afghanistan 1979-1989. Fabriken, Straßen und Krankenhäuser werden in Schutt und Asche gelegt. Laut der Wirtschaftsfakultät in Kiew wird jede Woche zivile Infrastruktur im Wert von 4,5 Milliarden US-Dollar zerstört.
Die Bombardierungen und die militärische Besetzung in der unmittelbaren Nähe von Tschernobyl ließen eine radioaktive Verseuchung befürchten, doch das Ausmaß des Krieges und seine Auswirkungen auf die Umwelt gehen weit darüber hinaus: "Chemische Fabriken wurden in einem besonders anfälligen Land bombardiert. Die Ukraine nimmt 6 % des europäischen Territoriums ein, enthält aber 35 % seiner biologischen Artenvielfalt mit etwa 150 geschützten Arten und zahlreichen Feuchtgebieten". Allgemein: "Nach dem Waffenstillstand von 1918 setzen Dutzende Tonnen von Granaten, die von den Kriegsparteien zurückgelassen wurden, weiterhin ihre chemischen Verbindungen im Untergrund der Departements Somme und Meuse frei. Millionen von Minen, die in Afghanistan oder Nigeria verstreut sind, verseuchen ständig landwirtschaftliche Flächen und verurteilen die Bevölkerung zu Angst und Elend, ganz zu schweigen von dem Atomwaffenarsenal, das eine in der Geschichte der Menschheit beispiellose ökologische Bedrohung darstellt"... "Der industrielle Krieg ist die Matrix aller Umweltverschmutzungen". (Le cout écologique exorbitante des guerres, un impensé politique, Le Monde).
Während bei der vorherigen Krise 2008 viele Arbeiter ihren Arbeitsplatz oder sogar ihr Haus verloren, weil sie ihre Hypothek nicht bezahlen konnten, so wird in diesem Krieg direkt die Aussicht auf eine Hungersnot in mehreren Teilen der Welt eröffnet, und zwar nicht nur wegen der Unterbrechung des Handels mit Getreide und Saatgut in die Länder der Peripherie. Die Bedrohung durch Hunger betrifft auch direkt die wirtschaftlich schwächsten Bevölkerungsgruppen in den USA und anderen Kernländern. Die Bourgeoisie kann den Produktionsrückgang, der sich seit der Pandemie stark verschlechtert hat, nicht weiter durch Schulden kompensieren, insbesondere angesichts einer anhaltend hohen Inflation und des durch den Krieg in der Ukraine ausgelösten Drucks des Militarismus. Biden, der 30 Milliarden zur Unterstützung der Wirtschaft versprochen hatte, erklärt nun, wie alle Regierungen in Europa, dass "die guten Zeiten vorbei sind".
Dennoch haben sie keine Skrupel, die Militärausgaben exorbitant zu erhöhen (was auch die Inflation hochhalten wird). Macron hat erklärt, dass Frankreich in eine "Kriegswirtschaft" eingetreten ist. In Deutschland hat die sozialdemokratische Regierung von Scholz, an der auch die Grünen beteiligt sind, einen Nachtragshaushalt von 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung bewilligt, was ein historisches Ereignis seit dem Zweiten Weltkrieg darstellt. Japan plant seinen Verteidigungshaushalt auf 2 % seines BIP zu erhöhen und wäre damit die drittgrößte Militärmacht der Welt. China, das seine Ausgaben seit 2020 um 4,7 % erhöht hat (293 Milliarden US-Dollar in diesem Jahr), und die USA (801 Milliarden US-Dollar) belegen den zweiten bzw. ersten Platz.
Eine weitere Dimension der Auswirkungen des Krieges auf die Wirtschaftskrise ist die Beschleunigung des Deglobalisierungsprozesses (auch wenn der Krieg selbst nicht die Ursache dafür ist), in erster Linie durch die schwere Beschädigung des militärisch-geostrategischen und handelspolitischen Projekts Chinas und seiner "neuen Seidenstraße". Die Pandemie hatte die Desorganisation der globalen Produktion und den Trend zur "Produktionsrückverlagerung" bereits stark beschleunigt, doch der Krieg versetzt ihr einen weiteren großen Schlag: Handelsrouten über das Schwarze Meer werden stark beeinträchtigt und viele Unternehmen müssen Russland verlassen. Die nationalen Bourgeoisien der am stärksten deindustrialisierten Länder stellen den Trend zur Standortverlagerung bereits als "Chance" für die Beschäftigung und die nationale Wirtschaft dar, auch wenn die WTO hat bereits vor den Gefahren eines solchen Prozesses gewarnt hat: Der Wettlauf um die Anhäufung von Rohstoffen in jeder Nation, weit davon entfernt die Unsicherheit der Wirtschaft zu verringern, könne im Gegenteil die Lieferketten noch mehr stören und die weltweite Produktion aufgrund des Jeder-für-sich selbst deutlich verlangsamen. Man braucht sich nur an die Piraterie zu erinnern, die die Staaten während des "Maskenkriegs" betrieben haben. All dies trägt zur Logistikkrise und den damit verbundenen fehlenden Gütern bei und erzeugt das scheinbare Paradoxon, dass eine Krise, die ihren Ursprung in einer allgemeinen Überproduktion hat, zu einem Mangel an Waren führt. Die Folgen der Vertiefung der Krise für die Arbeiterklasse sind schon jetzt brutalste Prekarität und Entlassungen aufgrund von Firmenpleiten.
Es ist schwer zu sagen, wie der Stand der Pandemie in Russland und der Ukraine ist. Wie 1918 bei der sogenannten "Spanischen Grippe" hatte der Krieg die verheerenden Auswirkungen der Infektion erheblich verschlimmert. Es ist jedoch nicht abwegig anzunehmen, dass jetzt die Bourgeoisie zwar schon vor dem Ukraine-Krieg nicht in der Lage war, die Pandemie einzudämmen, wie das Fiasko des Sputnik-Impfstoffs zeigt, die Situation aber nun mit den durch den Krieg erzwungenen schlechten hygienischen Bedingungen und der Zerstörung der Gesundheitsinfrastruktur völlig außer Kontrolle geraten ist. Aber die Pandemie ist, obwohl sie letztlich das Produkt der Zersetzung des Systems und seines Versinkens im Zerfall ist (was neue Pandemien in der Zukunft ankündigt), ein Phänomen im Leben des Kapitalismus, das die herrschende Klasse nicht bewusst entschieden hat und das sich ihrem Willen aufdrängt. Im Gegenteil dazu: Der Krieg ist eine bewusste und willentliche Entscheidung der Bourgeoisie, ihre einzige „Antwort“ auf den Zusammenbruch des Kapitalismus!
Wie Rosa Luxemburg bereits während des Ersten Weltkriegs analysiert hatte, sind in der Dekadenz des Kapitalismus alle Länder imperialistisch. Der Imperialismus ist die Form, die der Kapitalismus in einem bestimmten Moment seiner Entwicklung, nämlich seiner niedergehenden Phase, der Dekadenz, annimmt. Jedes nationale Kapital verteidigt mit Zähnen und Klauen seine Interessen auf der Weltbühne, auch wenn nicht alle über gleichwertige Mittel verfügen.
Die bürgerliche Propaganda prangert in der Ukraine und im Westen die Offensive und die Kriegsverbrechen von Diktator Putin und auf russischer Seite die "Nazi-Bedrohung" für die Ukraine an, so wie im Ersten Weltkrieg die alliierte Seite zur Rekrutierung gegen den Militarismus des Kaisers aufrief und die Achsenmächte gegen den Expansionismus des Zaren. Während des Zweiten Weltkriegs präsentierte jede Seite auch ihre "legitimen" Rechtfertigungen: Antifaschismus gegen Hitler oder die Verteidigung Deutschlands gegen die Überwältigung durch die Kriegs-Reparationen.
Die westliche Bourgeoisie hebt auch hervor, dass die Ukraine ein kleines Land ist, das dem russischen Bären zum Opfer fällt. Aber hinter der Ukraine stehen die NATO und die USA, und Russland sucht andererseits die Unterstützung Chinas. Der Krieg zwischen der Ukraine und Russland ist insofern Teil eines größeren Konflikts, in dem sich die führende Macht der USA und ihr erklärter Herausforderer China gegenüberstehen. Der Ursprung des aktuellen Krieges liegt in dem Bestreben der USA, ihre globale Hegemonie, die seit dem Zusammenbruch des stalinistischen Blocks und zuletzt nach dem Fiasko von Bush Junior im Irak 2003 und dem Rückzug aus Afghanistan bis 2021 im Schwinden begriffen ist, wieder zu stärken. Ähnlich wie Bush Senior 1991 Saddam Hussein in die Irre führte, berichtete die US-Regierung von der Mobilisierung russischer Truppen an der ukrainischen Grenze und machte klar, dass die USA im Falle einer drohenden Invasion nicht eingreifen würden, wie 2014 auf der Krim. Die russische Regierung konnte ihrerseits nicht tolerieren, dass die Ukraine der NATO beitrat, nachdem sie einen großen Teil ihres historischen Einflussbereichs (u.a. Polen, Ungarn und die baltischen Staaten) integriert hatte. Sie hatte also keine andere Wahl, als mit der ursprünglichen Idee einer „schnellen Aktion“, um ein Veto gegen die Ambitionen der Ukraine zu erzwingen, in den amerikanischen sauren Apfel zu beißen. Die Unterstützung der USA für Zelenski, und ihr Druck auf die NATO-Mitglieder sich in die gleiche Richtung zu bewegen, haben Russland jedoch in einen auf beiden Seiten mit brutalsten Mitteln geführten Zermürbungskonflikt verwickelt, der länger anhalten wird als erwartet.
Die US-Regierung versucht auf diese Weise, die Schwäche des russischen Imperialismus, der einer Weltmacht im 21. Jahrhundert nicht gewachsen ist, bloßzustellen und ihn so weit wie möglich zu zermürben. Darüber hinaus ist es den USA gelungen, den europäischen Mächten ihre Disziplin aufzuzwingen, insbesondere angesichts der Unabhängigkeitsbestrebungen des französischen Imperialismus (Macron hatte erklärt, dass "die NATO hirntot ist") und Deutschlands, die infolge der Sanktionen nicht nur den Rückgang der russischen Gaslieferungen und die Schließung des russischen Marktes für ihre eigenen Waren hinnehmen mussten, sondern auch die Haushaltskosten der unter amerikanischem Druck beschlossenen Aufrüstung. Vor allem aber besteht das strategische Ziel der USA hinter dem Ukraine-Konflikt darin, ihren größten Herausforderer, den chinesischen Imperialismus, zu schwächen.
Den USA ist es gelungen, jegliche Unterstützung Chinas für Russland zu erschweren, wodurch die größte asiatische Macht als unzuverlässiger Partner erscheint. Neben der Blockade einer auch für das Projekt der „neuen Seidenstraße“ sehr wichtigen Region, demonstrierte Amerika seine Stärke und seine "internationale diplomatische Strategie", die eine sehr explizite Warnung an Peking darstellt.
Alles in allem haben die USA wieder einmal nicht gezögert, ein Chaos zu entfesseln, das neue, noch schlimmere Stürme ankündigt, um ihre imperialistischen Interessen und ihre globale Führungsrolle zu verteidigen. Die Schwächung des russischen Imperialismus könnte langfristig dazu führen, dass Russland in verschiedene kleine, mit Atomwaffen ausgestattete Imperialismen zerfällt. Ebenso führt die Bevormundung der europäischen Mächte faktisch zu ihrer Wiederbewaffnung, insbesondere Deutschlands, was seit seiner Niederlage im Zweiten Weltkrieg nicht mehr vorgekommen ist. Xi Jinping sieht seine neue Seidenstraße von einer Blockade bedroht und den "strategischen Verbündeten" Russland in größten Schwierigkeiten. Das wahre Opfer dieses Krieges ist jedoch nicht die Ukraine, Russland, China oder Europa, sondern die Arbeiterklasse, von der im Westen, aber auch überall auf der Welt, im Namen der Kriegsanstrengungen immense Opfer verlangt werden, und die an der Front das höchste Opfer ihres eigenen Lebens bringen soll!
Die Arbeiterklasse in der Ukraine war bereits seit der "Orangen Revolution" 2004 darauf eingestimmt worden, in den Konflikten zwischen verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie Partei für die eine oder andere Seite Position zu ergreifen, und wurde seit 2014 weitgehend an der Front gegen Russland mobilisiert. Heute werden die Arbeiter als Kanonenfutter auf das Schlachtfeld geschickt, während ihre Familien verzweifelt vor dem Krieg fliehen, wenn sie nicht in den Städten, Krankenhäusern oder Bahnhöfen massakriert werden. Die ukrainische Arbeiterklasse ist heute völlig besiegt und nicht in der Lage, eine Klassenantwort auf die Situation zu geben, geschweige denn eine revolutionäre Perspektive zu erheben wie in Russland oder Deutschland während des Ersten Weltkriegs.
In Russland ist es Putin, entgegen den Spekulationen der internationalen Presse, nicht gelungen, die allgemeine Mobilisierung der Bevölkerung für den Krieg durchzusetzen. Das Proletariat hatte sich schon in den nationalistischen Konflikten nach dem Zerfall der ehemaligen UdSSR nicht direkt zur Verteidigung Russlands heranziehen lassen. Aber die Tatsache, dass das Proletariat beim Zusammenbruch des Stalinismus 1990 keine bewusste Rolle spielen konnte und sich von den demokratischen Kampagnen über den „Tod des Kommunismus" mitreißen ließ, lastet auf der Arbeiterklasse in allen östlichen Ländern - wie die demokratischen Illusionen die schon während der Bewegung in Polen 1980 sehr deutlich gezeigt hatten. In Russland ist das Gewicht des Demokratismus aufgrund der Propaganda der bürgerlichen Fraktionen, die gegen Putins Autoritarismus sind jetzt sogar noch größer. Während einzelne, winzige Minderheiten wie die Gruppe KRAS mutigst eine internationalistische Position gegen beide kriegsführenden Lager vertreten, ist die Arbeiterklasse in Russland nicht in der Lage, in der unmittelbaren Situation die Initiative für einen Kampf gegen den Krieg zu ergreifen. Die konkrete Situation der Kämpfe, Diskussionen und Bewusstwerdung der Arbeiter in Russland bleibt aber nach wie vor weitgehend ein Rätsel.
All dies bedeutet jedoch nicht, dass das Weltproletariat besiegt ist. Seine Hauptteile in Westeuropa, wo die historischen und jüngsten Erfahrungen aus den wichtigsten Kämpfen gegen den Kapitalismus gesammelt werden, wo seine Minderheiten ihr revolutionäres politisches Programm verteidigen und entwickeln, wurden bislang nicht direkt in den Krieg hineingezogen. Auch hier hat die antikommunistische Kampagne zu einem Rückgang der Kampfkraft und des Bewusstseins des Proletariats geführt, zu einem Verlust der Klassenidentität; obwohl wir seit 2003 Ausdrucksformen verschiedener Versuche gesehen haben eine Kampfkraft zu entwickeln, oder die Entstehung von Minderheiten, auch wenn diese nur klein sind.
Im Übrigen führt die Bourgeoisie in den Kernländern eine regelrechte demokratisch-ideologische Kampagne zur Unterstützung der ukrainischen Armee gegen Putin, insbesondere unter dem Motto: "Waffen für die Ukraine". Die kombinierten Auswirkungen der Schwäche der Arbeiterklasse seit 1990 und dieser aktuellen Kriegskampagne führen zu einer Demobilisierung und einem Gefühl der Ohnmacht angesichts des Ernstes der Lage. Daher ist auch in diesen Ländern nicht mit einer sofortigen Reaktion der Arbeiterklasse auf den Krieg zu rechnen.
Während des Ersten Weltkriegs war die Antwort der Arbeiterklasse, die den Krieg beendete, eine Folge der Kämpfe in den Fabriken im Hinterland gegen das Elend und die Opfer, die der Krieg auferlegte. Auch in der aktuellen Situation fordert die Bourgeoisie im Namen des Krieges Opfer, angefangen bei Energieeinsparungen bis hin zu Lohnkürzungen und Entlassungen. Die Arbeiterklasse, vor allem in den Kernländern, wird gezwungen sein, für die Verteidigung ihrer Lebensbedingungen zu kämpfen. In diesem Kampf werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass das Proletariat seine Identität und seine revolutionäre Perspektive wiederfindet. In der gegenwärtigen Situation wird dieser Kampf zum Verständnis der Beziehung zwischen den Opfern im Hinterland und dem höchsten Opfer des Lebens an der Front führen müssen.
Die Intervention revolutionärer Gruppen (und der sie umgebenden Minderheiten) in die Klasse ist unerlässlich. Im Ersten Weltkrieg war die internationalistische Zimmerwalder Konferenz 1915, die zensiert wurde und anfangs der gesamten Klasse kaum bekannt war, ein Leuchtfeuer für das Weltproletariat inmitten der Dunkelheit der Schlachtfelder. Die revolutionären Gruppen sind heute in der Klasse weit weniger anerkannt als damals, und die Situation ist eine andere: kein allgemeiner Krieg und keine generelle Niederlage des Proletariats. Dennoch sind die Methode der Zimmerwalder Konferenz und die Verteidigung der historischen Tradition und Prinzipien des Proletariats (welche die Sozialdemokratie damals verraten hatte), durch die linkskommunistischen Fraktionen immer noch hochaktuell. Das Terrain der Verteidigung des proletarischen Internationalismus und des Erbes der Kommunistischen Linken ist in der Tat das, was die Gemeinsame Erklärung von Gruppen der internationalen Kommunistischen Linken zum Krieg in der Ukraine fordert, die wir auf unserer Website und in dieser Internationalen Revue veröffentlichen.
10.07.2022
Anfang 2020 war die globale Covid-19-Krise das Produkt, aber vor allem ein mächtiger Beschleuniger des Zerfalls des kapitalistischen Systems auf verschiedenen Ebenen: erhebliche wirtschaftliche Destabilisierung, Verlust der Glaubwürdigkeit der Staatsapparate, Verschärfung der imperialistischen Spannungen.
Heute drückt der Krieg in der Ukraine eine weitere Stufe dieser Zuspitzung durch ein Hauptmerkmal des Abstiegs des Kapitalismus in seine Niedergangsperiode und insbesondere in die Zerfallsphase aus: die Verschärfung des Militarismus.
Die Brutalität dieser Beschleunigung war in den vorherigen Berichten nicht vorhergesehen worden (siehe Bericht und Resolution zur internationalen Lage des 24. Kongresses der IKS), und obwohl der Bericht über imperialistische Spannungen vom November 2021 in seinem letzten Punkt die Ausweitung des Militarismus und der Kriegswirtschaft (§ 4.3) und die Ausbreitung von Chaos, Instabilität und kriegerischer Barbarei (§ 4.1) behandelte, war deren brutale Beschleunigung in Europa durch die massive russische Invasion in der Ukraine für die IKS trotz allem überraschend.
Aus allgemeiner Sicht ist daran zu erinnern, dass die Entwicklung des Militarismus nicht nur typisch für die gegenwärtige Zerfallsphase, sondern untrennbar mit dem Verfall des Kapitalismus verbunden ist: "In der Tat bilden der Militarismus und der imperialistische Krieg die zentralen Manifestationen des Eintritts des Kapitalismus in den Zeitraum seiner Dekadenz (...), was so weit ging, daß für die damaligen Revolutionäre der Imperialismus und der dekadente Kapitalismus zu Synonymen wurden. Der Imperialismus war keine besondere Erscheinungsform des Kapitalismus, sondern seine Überlebensform in der neuen historischen Periode. Nicht der eine oder andere Staat war imperialistisch geworden, sondern alle Staaten, wie Rosa Luxemburg enthüllte. Wenn der Imperialismus, der Militarismus und der Krieg an diesem Punkt mit der Epoche der Dekadenz identifiziert werden konnten, dann deshalb, weil die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu einer Fessel für die Entwicklung der Produktivkräfte geworden sind“ (Orientierungstext: Militarismus und Zerfall, in Internationale Revue Nr. 13, 1991 [2]).
In den 75 Jahren zwischen August 1914 und November 1989 stürzte der Kapitalismus die Menschheit in mehr als zehn Jahre Weltkriege und anschließend in fast 45 Jahre "Kalten Krieg" und bewaffnete "Koexistenz" zwischen dem amerikanischen und dem sowjetischen Block, die sich in mörderischen Konfrontationen auf den Kriegsschauplätzen beider Bündnisse (Vietnam, Naher Osten, Angola, Afghanistan) und in einem wahnwitzigen "Wettrüsten" konkretisierte, das sich schließlich als tödlich für den Ostblock herausstellte.
In einer Situation, in der sowohl die Bourgeoisie als auch das Proletariat nicht in der Lage waren, eine Lösung für die historische Krise des Kapitalismus durchzusetzen, leitete der Zusammenbruch des Sowjetblocks die Phase des Zerfalls ein, die sich durch eine Explosion des Jeder-für-sich und des Chaos auszeichnet, die das Produkt des Auseinanderbrechens der Blöcke und des Wegfalls der von ihnen auferlegten Disziplin sind. Der Militarismus manifestierte sich in einer Vielzahl barbarischer Konflikte, oft in Form von Bürgerkriegen, der Explosion imperialistischer Ambitionen und dem Zerfall staatlicher Strukturen: Somalia, Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Syrien, Donbass und Krim, Islamischer Staat, Libyen, Sudan (Nord- und Südsudan), Jemen, Mali. Diese Konflikte tendierten auch dazu, sich Europa zu nähern (Jugoslawien, Krim, Donbass) und es durch Flüchtlingsströme stark zu betreffen.
Der aktuelle Krieg in der Ukraine ist jedoch nicht nur die Fortsetzung der oben beschriebenen Entwicklung des Militarismus in der Zerfallsphase, sondern stellt zweifellos eine äußerst wichtige qualitative Vertiefung des Militarismus und seiner barbarischen Konkretisierungen dar, und zwar aus mehreren Gründen:
- Er ist die erste militärische Konfrontation dieser Größenordnung zwischen Staaten, die seit 1945 vor den Toren Europas stattfindet, und diese Konfrontation führt zu wirtschaftlichem Chaos und einem Strom von Millionen von Flüchtlingen in die anderen europäischen Länder, so dass das Zentrum Europas heute zum zentralen Schauplatz der imperialistischen Konfrontationen wird;
- dieser Krieg bezieht direkt die beiden größten Länder Europas ein, von denen das eine über Atomwaffen oder andere Massenvernichtungswaffen verfügt und das andere von der NATO finanziell und militärisch unterstützt wird. Dieser Gegensatz zwischen Russland und der NATO weckt Erinnerungen an die Blockkonfrontation der 1950er bis 1980er Jahre und den damit verbundenen nuklearen Terror, aber er findet in einem noch weniger vorhersehbaren Kontext statt, gerade weil es keine konstituierten Blöcke und die damit verbundene Blockdisziplin gibt (wir werden später darauf zurückkommen);
- das Ausmaß der Kämpfe, Zehntausende von Toten, die systematische Zerstörung ganzer Städte, die Hinrichtung von Zivilisten, die verantwortungslose Beschießung von Atomkraftwerken, die enormen wirtschaftlichen Folgen für den gesamten Planeten unterstreichen sowohl die Barbarei als auch die wachsende Irrationalität von Konflikten, die in einer Katastrophe für die Menschheit münden können.
Die Entwicklung des Krieges in der Ukraine kann nur verstanden werden, wenn man sie als direktes Produkt zweier vorherrschender Tendenzen begreift, die die imperialistischen Beziehungen in der gegenwärtigen Zerfallsperiode prägen und die die IKS in ihren früheren Berichten herausgestellt hat: Einerseits der Kampf der Vereinigten Staaten gegen den unaufhaltsamen Niedergang ihrer globalen Hegemonie, der dazu führt, dass die Entwicklung des Chaos in der Welt gefördert wird, und andererseits die Verschärfung der imperialistischen Ambitionen in alle Richtungen, die insbesondere die Aggressivität Russlands wiederbelebt hat, das rachsüchtig danach strebt, wieder einen wichtigen Platz auf der imperialistischen Bühne einzunehmen.
Seit Obamas Präsidentschaft hat sich die US-Bourgeoisie in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht zunehmend auf ihren Hauptherausforderer China konzentriert. In diesem Punkt gibt es eine absolute Kontinuität zwischen der Politik der Trump- und der Biden-Regierung. Wie in diesem Zusammenhang Russland "neutralisiert" werden soll, darüber gab es jedoch Differenzen: Trump zielte eher darauf ab, Russland gegen China einzuspannen, aber diese Option stieß auf den Widerstand und die Opposition großer Teile der amerikanischen Bourgeoisie sowie der staatlichen Strukturen (Geheimdienste, Armee, Diplomatie ...) angesichts der undurchsichtigen Verbindungen Trumps zur russischen Führungsfraktion, aber vor allem wegen des Misstrauens gegenüber einer Allianz mit einem Land, das 50 Jahre lang der Todfeind gewesen war. Die Strategie des herrschenden Teils der amerikanischen Bourgeoisie, der heute von der Biden-Regierung vertreten wird, zielt vielmehr darauf ab, Russland entscheidende Schläge zu versetzen, sodass es keine potenzielle Bedrohung für die USA mehr darstellt: "Wir wollen, dass Russland so geschwächt wird, dass es Dinge wie die Invasion der Ukraine nicht mehr tun kann", sagte der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin bei seinem Besuch in Kiew am 25.04.2022.[1]
Diese Politik der Schwächung Russlands ermöglicht es den USA auch, China indirekt zu warnen („das erwartet euch, wenn ihr beschließt, in Taiwan einzumarschieren“) und ihm einen strategischen Rückschlag zuzufügen, da der Konflikt Putins militärische Fähigkeiten drastisch reduziert und sein "Bündnis" daher zu einer Belastung für Xi Jinping wird.
Die Ukraine-Krise bot der Biden-Administration eine erstklassige Gelegenheit, eine solche Strategie der radikalen Schwächung Russlands und der Einkesselung Chinas auf machiavellistische Weise umzusetzen.
Die herrschende Fraktion der russischen Bourgeoisie ihrerseits machte den entscheidenden Fehler, das taktische Debakel der USA in Kabul mit einer strategischen Niederlage zu verwechseln, obwohl es sich im Grunde nur um eine Neupositionierung der US-Streitkräfte gegenüber ihrem zentralen Gegner China handelte. Mit der Absicht nach dem Zusammenbruch der UdSSR die Rückkehr des russischen Imperialismus auf die Weltbühne zu unterstreichen, hielt sie den Zeitpunkt für günstig, um mit der Rückeroberung der Ukraine (oder zumindest großer Teile ihrer strategischen Regionen) einen großen Schlag zu landen. Während diese für die Putin-Fraktion Teil des "historischen Russlands" ist, entglitt sie nicht nur zunehmend ihrem Einflussbereich, sondern lief auch Gefahr, weniger als 500 km von Moskau entfernt zur Speerspitze der NATO zu werden.
Damit tappte Putin in die von den USA gestellte Falle. Die USA stellten eine machiavellistische Falle, ähnlich der, die sie im ersten Golfkrieg gegen Saddam wegen dessen Invasion Kuwaits aufgestellt hatten: Sie schrien von den Dächern, dass russische Truppen davor stünden, massiv in die Ukraine einzumarschieren, und machten gleichzeitig klar, dass sie selbst nicht eingreifen würden, da "die Ukraine nicht zur NATO gehöre". Folglich konnte Putin kaum anders handeln, ohne dass es als Rückzug gegenüber Bidens harter Linie interpretiert worden wäre, zumal es zunächst so aussah, als würde sich der amerikanische Gegenschlag im Großen und Ganzen auf die Art von Vergeltungsmaßnahmen beschränken, die bei der Besetzung der Krim im Jahr 2014 angewendet wurden.
Indem es den USA gelang, Russland in einen groß angelegten Krieg in der Ukraine hineinzuziehen, verhalf ihnen das machiavellistische Manöver kurzfristig zweifellos zu wichtigen Punkten an drei entscheidenden Fronten:
Der Krieg ermöglichte es den USA, die europäischen Länder, die eine gewisse Unabhängigkeit an den Tag legten, dazu zu zwingen sich wieder einzufügen (während dies zum Zeitpunkt der Invasion des Irak 2003 überhaupt nicht gelungen war). Tatsächlich wurde die amerikanische Kontrolle über die NATO in ihrer ganzen Bandbreite wiederhergestellt, obwohl Trump sogar mit dem Gedanken spielte, sich aus der NATO zurückzuziehen (gegen den Willen des Militärs). Die protestierenden europäischen "Verbündeten" wurden zur Ordnung gerufen: So brachen Deutschland oder Frankreich ihre Handelsbeziehungen zu Russland ab und leiteten in Windeseile die militärischen Investitionen ein, die die USA seit 20 Jahren gefordert hatten. Neue Länder wie Schweden oder Finnland bewerben sich um eine Mitgliedschaft und die EU wird sogar teilweise energiepolitisch von den USA abhängig werden. Kurzum, das genaue Gegenteil von Putins illusionären Hoffnungen, dass sich die europäischen Staaten in der Ukraine-Frage spalten würden.
Der Krieg bedeutet schon jetzt eine erhebliche militärische, aber auch wirtschaftliche Schwächung Russlands, eine Schwächung, die sich mit der Fortsetzung des Krieges noch verstärken wird. Die Ergebnisse sind nach fast drei Monaten "Sonderoperation" für Russland bereits jetzt dramatisch:
Putin kann die Feindseligkeiten in diesem Stadium jedoch nicht einstellen, da er um jeden Preis Trophäen braucht, um die Operation innenpolitisch zu rechtfertigen und zu retten, was vom militärischen Prestige Russlands noch zu retten ist, was zu noch mehr militärischen, menschlichen und wirtschaftlichen Verlusten führen wird. Da andererseits, je länger der Krieg dauert, Russlands Militärmacht und Wirtschaft immer mehr bröckeln werden, haben die USA zynischerweise auch kein Interesse daran, eine Beendigung der Feindseligkeiten zu fördern, selbst wenn sie dafür Militär, Zivilisten und städtische Zentren in der Ukraine opfern müssen, denn sie wollen Russland ausbluten lassen. In diesem Sinne sind die aktuellen Kampagnen rund um die Verteidigung der gemarterten Ukraine, die russischen Kriegsverbrechen (Butcha, Kramatorsk, Mariupol ...) und die Durchführung eines "Völkermords an den Ukrainern" – Kampagnen, die insbesondere von den USA und Großbritannien inszeniert werden und persönlich auf Putin abzielen ("Putin hat den Verstand verloren"; "Russland ist kein Teil unserer Welt"). Sie ermöglichen es, jede Aussicht auf kurzfristige Verhandlungen (die von Frankreich und Deutschland oder auch von der Türkei gesponsert werden) zu konterkarieren und die Schwächung Russlands auf die Spitze zu treiben oder sogar einen Regimewechsel anzuregen. Kurzum, unter den derzeitigen Bedingungen kann das Blutvergießen nur weitergehen und kann sich die Barbarei nur ausweiten, wahrscheinlich über Monate oder sogar Jahre hinweg, und dies in besonders blutigen und gefährlichen Formen, wie z.B. der Drohung mit dem Einsatz taktischer Atomwaffen.
Hinter Russland zielen die USA grundsätzlich auf China ab und setzen es unter Druck, denn das grundlegende Ziel des machiavellistischen Manövers der USA ist es, das russisch-chinesische Paar zu schwächen und China eine Warnung zukommen zu lassen. China reagierte zurückhaltend auf die russische Invasion, indem es die "Rückkehr des Krieges auf den europäischen Kontinent" bedauerte und zur "Achtung der Souveränität" und der "territorialen Integrität gemäß den Grundsätzen der Vereinten Nationen" aufrief (Xi Jinping, 08.03.2022). Tatsächlich hat auch China enge Beziehungen zur Ukraine (14,4% der ukrainischen Importe und 15,3% der ukrainischen Exporte) und hat mit Präsident Selenskyj ein "Abkommen über strategische Zusammenarbeit" unterzeichnet, "das die zentrale Rolle seines Landes in den eurasischen Projekten der neuen Seidenstraßen festschreibt" (Le Monde Diplomatique [LMD], April 2022, S. 9). Der Ukraine-Konflikt blockiert jedoch verschiedene Zweige der "Seidenstraße", was zweifellos ein nicht zu unterschätzendes Ziel des amerikanischen Manövers darstellt.
Das ohnehin schon geschwächte Russland ist gezwungen, China um Hilfe zu bitten, doch China ist vorsichtig und hat es bislang vermieden, die "Sonderoperation" seines Verbündeten offen zu unterstützen, da die Unterstützung eines geschwächten Russlands auch China schwächen könnte: Es würde wirtschaftliche Vergeltungsmaßnahmen nach sich ziehen und zum Verlust von Handelsrouten und Märkten nach Europa und sogar in die USA führen, die ansonsten wichtiger sind als der Handel mit Russland (3% der chinesichen Importe und 2% seiner Exporte). Andererseits würden der Zusammenbruch der russischen Militärmacht und die immensen Schwierigkeiten seiner Wirtschaft Russland zu einem Verbündeten machen, der nicht mehr auf seine Stärke (sein militärisches Fachwissen) bauen kann und stattdessen eine peinliche Belastung für China darstellen könnte.
Peking missbilligt die Sanktionen zwar, wendet sie aber eher symbolisch als behindernd für Russland an: Die Asiatische Bank für Infrastrukturinvestitionen hat ihre Geschäfte mit Russland und Weißrussland eingestellt, und die großen staatlichen chinesischen Raffinerien haben ihre Öleinkäufe in Russland aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen der westlichen Länder gestoppt. Ebenso weigern sich die großen Staatsbanken, Energieabkommen mit Russland zu finanzieren, weil sie zu riskant sind. Hinter den Kulissen jedoch kaufen dieselben Staatsunternehmen über Scheinfirmen und langfristige Verträge auf den internationalen Märkten billige Vorräte an russischem LNG und Öl auf, die niemand haben will.
Kurzfristig mag der Krieg in der Ukraine zwar eine Atmosphäre der Bipolarisierung begünstigt haben, insbesondere durch das propagierte Bild einer Konfrontation zwischen dem "Block der Autokratien" und dem "Block der Demokratien", das im Übrigen von den USA intensiv propagiert wird, doch dieser Eindruck muss bereits wieder überdacht werden, wenn man die Positionierung Chinas analysiert (siehe den vorherigen Punkt). Und auf längere Sicht werden die Auswirkungen der derzeitigen kriegerischen Feindseligkeiten keineswegs eine stabile Umgruppierung der imperialistischen Staaten fördern, sondern im Gegenteil die Gegensätze in allen Bereichen und die Spannungen zwischen den Geiern verschärfen.
Indem die USA im Ukraine-Konflikt bis zum Äußersten gehen, schüren sie trotz der Europa vorübergehend aufgezwungenen Einheit die Entwicklung des Jeder-für-sich. Bei der Abstimmung in der UNO über den Ausschluss Russlands aus dem Menschenrechtsrat stimmten 24 Länder dagegen und 52 enthielten sich: Indien, Brasilien, Mexiko, Iran, aber auch Saudiarabien und die Emirate (VAE) entwickeln ihre eigene imperialistische Positionierung, ohne sich hinter die USA oder Russland zu stellen, und beteiligen sich nicht am Boykott Russlands: "Im Gegensatz zur Mehrheit der westlichen Nationen, allen voran den USA, nehmen die Länder des Südens eine vorsichtige Haltung gegenüber dem bewaffneten Konflikt zwischen Moskau und Kiew ein. Die Haltung der Golfmonarchien, die doch mit Washington verbündet sind, ist bezeichnend für diese Weigerung, Partei zu ergreifen: Sie verurteilen sowohl die Invasion in der Ukraine als auch die Sanktionen gegen Russland. So setzt sich eine multipolare Welt durch, in der bei fehlenden ideologischen Differenzen die Interessen der Staaten Vorrang haben" (LMD, Mai 2022, S. 1). Japan, das mit seiner Aufrüstung begonnen hat und gegenüber Russland und China aggressiv auftritt, macht seine eigenen imperialistischen Ambitionen deutlich, indem es sich weigert, das Projekt einer Gaspipeline mit Russland zu stoppen. Das NATO-Mitglied Türkei verfolgt trotz dieser Bindung seine eigenen imperialistischen Ziele, indem es gute Beziehungen zu Russland unterhält (obwohl es gleichzeitig Streitigkeiten wegen Libyen und dem Krieg Armenien/Aserbaidschan gibt). Selbst europäische Länder brechen nicht alle Kontakte zu Russland ab (Frankreich oder Italien schließen nur ungern die Niederlassungen ihrer Unternehmen, die Gaspipeline von Russland nach Europa durch die Ukraine funktioniert noch immer, wenn auch mit gelegentlichen Kürzungen, und liefert beiden Kriegsparteien finanzielle Einnahmen, Belgien nimmt den Diamantensektor von den Boykottmaßnahmen aus usw.), und Ungarn schielt sogar gierig auf das ukrainische Transkarpatien mit seinen ungarischen Minderheiten. Diese Tendenz zur Verschärfung eines brutalen Jeder-gegen-jeden wird durch die schweren imperialistischen und wirtschaftlichen Folgen des Krieges in der Ukraine noch verstärkt werden.
Für die Russische Föderation sind die Folgen dieser "Sonderoperation" schwerwiegend und könnten nach der Fragmentierung infolge der Implosion ihres Blocks ('89-92) eine zweite tiefgreifende Destabilisierung darstellen: Militärisch wird sie wahrscheinlich ihren Rang als zweitgrößte Armee der Welt verlieren; ihre bereits geschwächte Wirtschaft wird noch weiter in den Abgrund stürzen (ein Rückgang der Wirtschaft um 12% laut dem russischen Finanzministerium, der stärkste Rückgang seit 1994). Die Kampagne um die russischen Kriegsverbrechen und der Aufbau von Ermittlungs- und Gerichtsstrukturen auf internationaler Ebene zielen letztlich darauf ab, Putin und seine Berater vor ein internationales Gericht wegen "Kriegsverbrechen" oder sogar "Völkermord" zu stellen. Auf diese Weise werden die internen Spannungen zwischen den Fraktionen der russischen Bourgeoisie nur noch größer, während die Putin-Fraktion in die Enge getrieben wird und mit der Energie der Verzweiflung um ihr Überleben kämpft. Mitglieder der herrschenden Fraktion (vgl. Medwedew) warnen bereits vor den Folgen: einem möglichen Zusammenbruch der Russischen Föderation und dem Entstehen verschiedener Mini-Russland mit unberechenbaren Führern und Atomwaffen.
Die Folgen der Ukraine-Krise sind für den größten Herausforderer der USA, China, gefährlich destabilisierend. Dies betrifft in erster Linie das Dilemma seiner Haltung gegenüber Russland, da es Sanktionen für seine Wirtschaft befürchtet, aber auch die Blockade wichtiger Verkehrsadern seiner Seidenstraße: "Im Moment ist das große Werk des chinesischen Präsidenten – Seidenstraßen, die ihr Netz über Zentralasien bis nach Europa spinnen – gefährdet. Ebenso wie seine Hoffnung auf engere Beziehungen zur Europäischen Union als Gegengewicht zu den USA" (LMD, April 2022, S. 9). Der russisch-ukrainische Krieg kommt für Xi Jinping wenige Monate vor dem Parteitag der KPCh, auf dem er für eine dritte Amtszeit bestätigt werden soll, zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt, zumal die Pandemie wieder zu grassieren beginnt und die wirtschaftlichen Aussichten schlecht sind.[2]
Die chinesische Wirtschaft leidet immer noch schwer unter der Pandemie, wobei im März und April die 27 Millionen Einwohner:innen der Industrie- und Handelsmetropole Shanghai und nun auch große Teile der Hauptstadt Peking eingesperrt wurden. Die Bevölkerung zeigt immer offener ihre Panik und Unzufriedenheit mit dem wochenlangen, unmenschlichen Lockdown. Die Regierung kann ihre Null-Covid-Politik jedoch kaum revidieren, (a) wegen der extrem niedrigen Impfrate bei älteren Menschen und der schlechten Qualität der chinesischen Impfstoffe gegenüber den aktuellen Varianten, aber vor allem (b) angesichts der politischen Auswirkungen, die ein Wechsel der Strategie im Vorfeld des XX. Parteitags der KPCh auf die Fraktion Xi haben würde, die sich zu deren hartnäckigen Verfechterin gemacht hat. So verhängte Xi in Shanghai einen drastischen Lockdown gegen die "Sabotage" der örtlichen Kader, was zu großer Unzufriedenheit in der Bevölkerung führte. Er entsandte 50.000 Mitglieder der bewaffneten Sonderpolizei von Shandong, die der Zentralregierung untersteht, um "die Kontrolle über die Situation zu übernehmen". Für Xi "muss die ‚Null-Covid-Strategie‘ funktionieren, Shanghai muss ‚gesäubert‘ werden. Ein Scheitern würde bedeuten, der Opposition, die versucht, sich seiner Wiederwahl zu widersetzen, zumindest teilweise Recht zu geben" ("Zero Covid in Shanghai: Xi Jinping's political battle", A. Payette, Asialyst, 14.04.22). Und das um jeden Preis: Experten der japanischen Investmentbank Nomura haben Anfang April errechnet, dass 45 chinesische Städte, die 40% des chinesischen BNP ausmachen, einem vollständigen oder teilweisen Lockdown unterzogen werden. Diese drastischen Maßnahmen führen zu erheblichen Problemen im Straßenverkehr und in den Häfen (Ende April warteten in Shanghai über 300 Schiffe auf ihre (Ent-)Ladung, dreimal so viele wie im Jahr 2020, als die Lage bereits kritisch war) sowie zu Störungen in der Industrieproduktion und in den nationalen und internationalen Lieferketten.
Infolgedessen wird die Verlangsamung der Wirtschaft, die durch die seit zwei Jahren wiederholten Lockdowns im Rahmen der "Zero Covid"-Politik und durch den Krieg in der Ukraine noch verstärkt wird, immer offensichtlicher. Das Wachstum wird derzeit auf 4,5 % des BIP geschätzt (die chinesische Regierung rechnete mit einem Anstieg um 5,5 %, die pessimistischsten Prognosen gehen jedoch von 3,5 % aus; vgl. "Zero covid in Shanghai: the political battle of Xi Jinping", A. Payette, Asialyst, 14.04.22) und das in dem Jahr, in dem der Volkskongress zusammentreten muss, um einen neuen Präsidenten zu wählen. Was die chinesische Bourgeoisie besonders beunruhigt, sind verschiedene miserable Zahlen im März: So gingen die Einzelhandelsumsätze um 3,5 % zurück, die Arbeitslosigkeit stieg um 5,8 % (die offiziellen Zahlen sind zu niedrig angesetzt) und die Importe kamen praktisch zum Stillstand. Schließlich geht es auch im Immobiliensektor, der im letzten Jahr vom Staat radikal reguliert wurde, um den Zusammenbruch einiger großer Unternehmen zu begleiten, weiter bergab: Der Verkauf von Häusern ging um 26,7 % zurück, der stärkste Rückgang seit Februar 2020. "Laut einem Bericht des Institute of International Finance in einem Ende März [2022] veröffentlichten Bericht ‚sind die Finanzströme, die China verlassen, beispiellos. Die russische Invasion in der Ukraine wird die chinesischen Märkte wahrscheinlich in ein neues Licht rücken‘. Diese Kapitalflucht sei ‚sehr ungewöhnlich‘, heißt es in dem Bericht weiter. Chinesische Anleihen, die von ausländischen Investoren gehalten werden, fielen allein im Februar um 80,3 Milliarden Yuan, der drastischste Rückgang seit Januar 2015, als diese Statistiken erstmals erfasst wurden. [...] Westliche Sanktionen gegen sein Land würden zu einem Rückgang der ausländischen Investitionen sowie zu einer Abwanderung von chinesischem Kapital führen. [...] Diese wirtschaftlichen und finanziellen Bedrohungen sind ernst zu nehmen, da sie das wachsende Misstrauen ausländischer Investoren gegenüber China widerspiegeln" ("Krieg in der Ukraine: Chinas Doppelmoral könnte es teuer zu stehen kommen", P.-A. Donnet, Asialyst, 16.04.22).
Die schwierige Wirtschaftslage belastet schließlich auch die Aufrechterhaltung der gigantischen Finanzierung des Projekts der neuen Seidenstraßen, das zudem durch die Blockade mehrerer seiner Zweige aufgrund des Ukraine-Konflikts stark beeinträchtigt wird, aber auch durch das zunehmende Chaos, das mit dem Zerfall verbunden ist, wie die Destabilisierung Äthiopiens, das ein zentraler "Hub" für den afrikanischen Zweig darstellen sollte, oder die Unfähigkeit von Ländern, die bei China verschuldet sind, ihre Schulden zu begleichen (Sri Lanka).
Die USA scheuen sich nicht, diese Schwierigkeiten zu verschärfen und in ihrer Konfrontation mit Peking auszunutzen, und das in einem schwierigen Umfeld für die chinesische Bourgeoisie, die wirtschaftlich, politisch und sozial immer stärker unter Druck gerät.
In Europa könnte die Entscheidung Deutschlands, massiv aufzurüsten und seinen Militärhaushalt zu verdoppeln, mittelfristig eine wichtige imperialistische Begebenheit darstellen. Zu Beginn der Zerfallsperiode betonte unsere Analyse: „Was Deutschland angeht, das einzigen Land, das möglicherweise wieder in die Rolle schlüpfen kann, die es schon in der Vergangenheit innehatte, so gestattet es seine gegenwärtige Militärmacht (es verfügt nicht einmal über Atomwaffen!) ihm nicht, auf absehbare Zeit den USA auf diesem Terrain entgegenzutreten“("Militarismus und Zerfall", Internationale Revue 13, 1991), und obwohl wir heute den Aufstieg Chinas berücksichtigen müssen, den wir übersehen hatten, dürfte die massive Wiederaufrüstung Deutschlands ein entscheidender Faktor für die Ausweitung künftiger imperialistischer Konfrontationen in Europa und der Welt sein.
Tatsächlich muss diese Aufrüstung in einem Kontext gesehen werden, in dem sich mit der Verlängerung des Ukraine-Konflikts die Meinungsverschiedenheiten nicht nur zwischen den osteuropäischen Ländern (das fanatisch antirussische Polen gegenüber dem Moskau-nahen Ungarn), sondern auch zwischen den europäischen Mächten (Frankreich, Deutschland, Italien) und den USA über die Aufrechterhaltung der kriegerischen Politik gegenüber Russland immer deutlicher abzeichnen. Angesichts der Möglichkeit, dass die Trump-Fraktion in den USA wieder an die Macht kommt und sich ein "unnachgiebiger" Pol USA-Großbritannien-Polen gegenüber Russland bildet, wird die militärische Autonomie der europäischen Mächte durch die Entwicklung eines EU-Pols außerhalb der NATO immer mehr zu einer zwingenden Notwendigkeit.
Schließlich sind die innere Lage in den USA und insbesondere die Spannungen innerhalb der Bourgeoisie selbst ein starker unvorhersehbarer Faktor. Wie groß wird Bidens Handlungsspielraum nach den Zwischenwahlen im November sein und wer wird der nächste Präsident der Vereinigten Staaten, vielleicht wieder Trump? Tatsächlich ist Bidens Popularität in den letzten Monaten gesunken, während ein seit vier Jahrzehnten nicht mehr gesehener Anstieg der Verbraucherpreise die Ausgaben für Benzin, Lebensmittel, Mieten und andere Waren in die Höhe treibt. "Die Zustimmungsraten für Joe Biden schwanken laut dem Umfrageaggregator FiveThirtyEight nun um 42,2 Prozent. Da in sieben Monaten die Zwischenwahlen stattfinden, wird zunehmend erwartet, dass die demokratischen Abgeordneten ihre hauchdünne Kontrolle über eine oder vielleicht sogar beide Kammern des Kongresses verlieren werden" (20 minutes und Agenturen, 15.04.22). Die Europäer wissen genau, dass Bidens Zusagen und das "Comeback" der NATO zunächst mal für maximal zwei Jahre gelten.
Aber unabhängig davon, welche Fraktion der Bourgeoisie an der Regierung ist, ist klar, dass es seit Beginn der Zerfallsperiode (siehe die Irakkriege 1991 und 2003) die USA sind, die in ihrem Bestreben, ihre schwindende Vorherrschaft zu verteidigen, durch ihre Interventionen und Manöver die wichtigste Kraft zur Ausweitung des Chaos sind: Sie haben in Afghanistan und im Irak Chaos geschaffen und das Aufblühen von Al-Qaida wie IS begünstigt. Im Herbst 2021 haben sie bewusst die Spannungen mit China um Taiwan angestachelt, um die anderen asiatischen Mächte hinter sich zu scharen – in diesem Fall allerdings mit weniger Erfolg als in der Ukraine. Ihre Politik ist heute nicht anders, auch wenn ihr machiavellistisches Manöver sie als friedliche Nation erscheinen lassen, die sich gegen die russische Aggression wehren. Dieses Schüren des kriegerischen Chaos durch die USA ist für sie die wirksamste Barriere gegen die Entfaltung Chinas als Herausforderer: "Diese Krise wird sicherlich nicht das letzte Kapitel in Washingtons langem Kampf um die Sicherung einer dominanten Position in einer instabilen Welt sein" (LMD, März 2022, S. 7). Gleichzeitig wird der Krieg in der Ukraine ausgenutzt, um eine unmissverständliche Warnung an Peking vor einer möglichen Invasion Taiwans auszusprechen.
Die Zerfallsphase verschärft eine ganze Reihe von Merkmalen des Militarismus stark und fordert dazu auf, die Formen, die die aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen annehmen, genauer zu untersuchen.
Das Fehlen jeglicher wirtschaftlicher Motivation oder Vorteile für Kriege war seit dem Beginn des kapitalistischen Niedergangs offenkundig: "Der Krieg war ein unabdingbares Mittel, mit welchem der Kapitalismus sich unerschlossene Gebiete für die Entwicklung eröffnete, zu einer Zeit, als solche Gebiete noch existierten und nur mit Gewalt erschlossen werden konnten. Auf derselben Weise findet die kapitalistische Welt, nachdem historisch alle Entwicklungsmöglichkeiten erschöpft sind, im modernen imperialistischen Krieg den Ausdruck ihres Zusammenbruchs, der die Produktivkräfte nur noch tiefer in den Abgrund reißt und nur noch schneller Ruine auf Ruine häuft.“ ("Rapport à la Conférence de la Gauche Communiste de France de juillet 1945", wiedergegeben im "Bericht zum historischen Kurs“, angenommen auf dem 3. Kongress der IKS, Internationale Revue 5, 1979)
Der Krieg in der Ukraine zeigt deutlich, wie der Krieg nicht nur seine wirtschaftliche Funktion, sondern sogar seine strategischen Vorteile verloren hat: Russland führt einen Krieg im Namen der Verteidigung der russischsprachigen Bevölkerung, massakriert aber Zehntausende Zivilisten in den überwiegend russischsprachigen Gebieten, verwandelt diese Städte und Regionen in Ruinenfelder und erleidet selbst erhebliche materielle und infrastrukturelle Verluste. Wenn es am Ende dieses Krieges im besten Fall den Donbass und die Südostukraine einnimmt, hat es ein Trümmerfeld erobert, eine Bevölkerung, die es hasst, und einen erheblichen strategischen Rückschlag in Bezug auf seine Großmachtambitionen erlitten. Was die USA betrifft, so müssen sie bei ihrer Politik, China ins Visier zu nehmen, eine Politik der "verbrannten Erde" betreiben, die außer einer unermesslichen Explosion des wirtschaftlichen, politischen und militärischen Chaos keine wirtschaftlichen oder strategischen Vorteile mit sich bringt. Die Irrationalität des Krieges war noch nie so offensichtlich.
Diese zunehmende Irrationalität kriegerischer Auseinandersetzungen geht mit einer wachsenden Verantwortungslosigkeit der jeweils die Macht ausübenden Fraktion der Bourgeoisie einher, wie das unverantwortliche Abenteuer von Bush junior und den "Neocons" im Irak 2003, das Abenteuer von Trump von 2018 bis 2021 oder die Putin-Fraktion in Russland illustrieren. Sie sind Ausfluss der Verschärfung des Militarismus und des Kontrollverlusts der Bourgeoisie über ihren politischen Apparat, was zu einem Abenteurertum führen kann, das langfristig für diese Fraktionen katastrophal, aber auch für die Menschheit gefährlich ist.
Mehr denn je steht die Wirtschaft im Dienste des Krieges, und die Sinnlosigkeit der hohen Militärausgaben inmitten einer Wirtschafts- und Pandemiekrise tritt offen zutage: "Heute kristallisiert sich in den Waffen die ultimative technologische Perfektionierung. Die Herstellung hochentwickelter Zerstörungssysteme ist zum Symbol einer modernen und erfolgreichen Wirtschaft geworden. Doch diese technologischen "Wunder", die im Nahen Osten ihre mörderische Wirkung gezeigt haben, sind vom Standpunkt der Produktion und der Wirtschaft aus gesehen nichts weiter als eine gigantische Verschwendung. Im Gegensatz zu den meisten anderen Waren haben Waffen die Besonderheit, dass sie, sobald sie produziert sind, aus dem Produktionszyklus des Kapitals herausgeworfen werden. Sie können nämlich weder dazu dienen, das konstante Kapital zu erweitern oder zu ersetzen (anders als etwa Maschinen), noch die Arbeitskraft der Arbeiter zu erneuern, die dieses konstante Kapital in Bewegung setzen. Waffen dienen nicht nur der Zerstörung, sondern sind an sich schon eine Kapitalvernichtung, eine Sterilisierung des Reichtums" ("Where is the crisis? Wirtschaftskrise und Militarismus", International Review Nr. 65 [engl./frz./span. Ausgabe], 1991). Seit 1996 haben sich die Militärausgaben in allen Ländern verdoppelt, was eine verstärkte Militarisierung zeigt. Laut dem Stockholm Institute for Peace Studies (SIPRI) wurden 2021 2 Billionen US-Dollar für Rüstung ausgegeben, ein neuer Rekord. Davon gaben die USA 34 %, China 14 % und Russland 3 % aus. Der Krieg in der Ukraine wird die Militärbudgets in Europa explodieren lassen, während Pandemie-, Wirtschafts- und Umweltkrisen massive Investitionen erfordern.
Außerdem werden wirtschaftliche Waffen massiv im Dienste des Militarismus eingesetzt: China hatte Australien bereits mit wirtschaftlichen Vergeltungsmaßnahmen gedroht, weil das Land die chinesische Politik in Hongkong oder Xinjiang kritisierte, und Algerien, das mit Marokko im Konflikt steht, hat die Gaslieferungen an dieses Land eingestellt, aber der Krieg in der Ukraine verleiht dieser Art von Politik noch eine andere Dimension: Die USA und die europäischen Länder nutzen sie, um Russland in die Knie zu zwingen, und die USA drohen China mit Vergeltungsmaßnahmen, falls es Russland unterstützt; letztere nutzen sie auch, um Druck auf Europa auszuüben (US-Gas als Ersatz für russisches Gas). Das Krebsgeschwür des Militarismus belastet zunehmend den Handel und die Wirtschaftspolitik der Staaten.
Die Folgen des Ukraine-Krieges für die wirtschaftliche Situation vieler Länder sind dramatisch: Russland ist ein wichtiger Düngemittel- und Energielieferant, Brasilien ist für seine Ernten auf Düngemittel angewiesen. Die Ukraine ist ein großer Exporteur von Agrarprodukten, und die Preise für Lebensmittel wie Weizen drohen in die Höhe zu schießen; Staaten wie Ägypten, die Türkei, Tansania oder Mauretanien sind zu 100 % von russischem oder ukrainischem Weizen abhängig und stehen am Rande einer Hungerkrise; Sri Lanka oder Madagaskar, die bereits überschuldet sind, sind bankrott. Laut UN-Generalsekretär droht die Ukraine-Krise "bis zu 1,7 Milliarden Menschen – mehr als ein Fünftel der Menschheit – in Armut, Not und Hunger zu stürzen" (UN info, 13. April 2022); die wirtschaftlichen und sozialen Folgen werden weltweit und unabsehbar sein: Verarmung, Elend, Hunger, Aufstände...
Die erhebliche Beschleunigung des Militarismus verlangt von Revolutionären, die aktuelle Kriegsdynamik konkret zu untersuchen und die Herausforderungen und Gefahren der gegenwärtigen Periode genau zu benennen. Es geht keineswegs darum, über das "Geschlecht der Engel" zu diskutieren, sondern darum, alle Konsequenzen dieser Dynamik für die Bestimmung des Kräfteverhältnisses, der Verbindung von Krieg und Klassenkampf und der Dynamik der heutigen Arbeiterkämpfe sowie für unsere Intervention in Bezug auf diese zu erfassen.
In den letzten zehn Jahren hat sich tatsächlich eine Polarisierung zwischen den USA und China entwickelt. Diese Polarisierung ist in erster Linie das Ergebnis einer Änderung der US-Politik, die sich im Laufe der Obama-Regierung durchgesetzt hat. "2011 war die US-Führung zu dem Schluss gekommen, dass ihr obsessiver Krieg gegen den Terrorismus – obwohl er im Kongress und in der Öffentlichkeit immer noch populär war – ihren Status als Supermacht geschwächt hatte. Bei einem geheimen Treffen im Sommer jenes Jahres beschloss die Regierung von Barack Obama, einen Schritt zurück zu machen und der Konkurrenz mit China eine höhere strategische Bedeutung beizumessen als dem Krieg gegen den Terrorismus. Dieser neue Ansatz, der als ‚Tilt to the East‘ [Neigung nach Osten] bezeichnet wird, wurde vom US-Präsidenten während einer Rede vor dem australischen Parlament in Canberra am 17. November 2011 angekündigt" (LMD, März 2022, S. 7). Die wachsende Erkenntnis, dass der gefährlichste Herausforderer für die Aufrechterhaltung der schwindenden Führungsrolle der USA China ist, hat dazu geführt, dass die wirtschaftlichen und militärischen Mittel neu positioniert wurden, um dieser Hauptgefahr zu begegnen. Der Widerstand der Taliban in Afghanistan und das Entstehen der Organisation Islamischer Staat verzögerten und verlangsamten die Umsetzung dieser Politik durch die Obama-Regierung, sodass sie erst mit der Trump-Regierung voll zum Tragen kam und in der vom damaligen Verteidigungsminister James Mattis entworfenen "Nationalen Verteidigungsstrategie" formuliert wurde.
Somit geht diese Tendenz zur Polarisierung hauptsächlich von den USA aus und ist die aktuelle Strategie der untergehenden Supermacht, um ihre Hegemonie aufrechtzuerhalten. Nachdem ihre Positionierung als "Weltpolizist" gescheitert ist, konzentriert sie sich nun auf eine Politik, die darauf abzielt, ihren gefährlichsten Herausforderer zu kontern. Für China hingegen ist eine solche Polarisierung derzeit höchst störend[3]: Trotz seiner derzeitigen massiven Investitionen in seine Armee ist sein Rückstand bei der Entwicklung seiner militärischen Ausrüstung immens und seine technologische und wirtschaftliche Entwicklung (Seidenstraße) erfordert derzeit die Aufrechterhaltung der Globalisierung und der Multipolarität. Wie schon seit 1989 mit der imperialistischen Politik der USA wird auch die derzeitige Politik der Polarisierung das Chaos und das imperialistische Jeder-gegen-jeden nur noch weiter verschärfen. Dies zeigt sich heute deutlich an der russischen Invasion in der Ukraine, der massiven Aufrüstung Deutschlands, der zunehmenden Aggressivität des japanischen Imperialismus, der Sonderstellung Indiens, den Manövern der Türkei etc.
Erinnern wir uns zunächst an die Position der IKS zur Blockbildung nach 1990: "Während sich die Konstituierung von Blöcken historisch als die Konsequenz aus der Entwicklung des Militarismus und Imperialismus darstellt, bildet die Zuspitzung der beiden in der gegenwärtigen Phase im Leben des Kapitalismus paradoxerweise ein Haupthindernis bei der Bildung eines neuen Blocksystems, das an die Stelle der alten Blockkonstellation treten könnte“ („Militarismus und Zerfall“, 1991, in Internationale Revue Nr. 13, Punkt 9). Inwieweit begünstigen die aktuellen Konflikte die Faktoren, die für die Entstehung einer Dynamik in Richtung Blockbildung angeführt werden?
(a) Da Waffengewalt zum wichtigsten Faktor geworden ist, um das globale Chaos einzudämmen und sich als Blockführer zu behaupten, und die USA über eine Militärmacht verfügen, die der gesamten Militärmacht der anderen Großmächte entspricht, verfügt derzeit kein Land über ein "militärisches Potenzial, um die Führungsrolle in einem Block zu beanspruchen, der mit dem von dieser Macht geführten Block konkurrieren könnte", was durch den Krieg in der Ukraine noch einmal verdeutlicht wird. Da „die Herausforderungen und die Dimension der Konflikte zwischen den Blöcken immer globalere, allgemeinere Ausmaße annehmen (je mehr Gangster kontrolliert werden müssen, desto stärker muß der "Gangsterboß" sein); (…) Und je mehr Schäden die historische Krise und ihre offene Form anrichtet, desto stärker muß ein Blockführer sein, um die Auflösungstendenzen der verschiedenen nationalen Fraktionen einzugrenzen und zu kontrollieren. Es liegt auf der Hand, daß sich in der letzten Phase der Dekadenz, im Zerfall, ein solches Phänomen nur noch ins Unermessliche steigern kann.“ (ebenda, Punkt 11)
(b) „Gleichermaßen entspricht die Formierung von imperialistischen Blöcken der Notwendigkeit, eine solche Disziplin auch den verschiedenen nationalen Bourgeoisien aufzuzwingen, um ihre wechselseitigen Antagonismen einzuhegen und sie für die Hauptkonfrontation, nämlich die zwischen den beiden militärischen Lagern, zusammenzuschließen“ ("Militarismus und Zerfall“, Pkt. 4). Sehen wir heute angesichts dieser Tatsache eine Tendenz, diese Disziplin zu verstärken? Die Tatsache, dass die USA den europäischen Staaten im Rahmen des Krieges in der Ukraine eine Disziplin innerhalb der NATO auferlegt haben, ist nur vorübergehend und zeigt bereits Risse auf: Die Türkei macht "Alleingänge", Ungarn bricht die Brücken zu Russland nicht ab, Deutschland, das die Füße stillhält, Frankreich drängt auf die Bildung eines europäischen Pols. Das Bündnis zwischen China und Russland ist seinerseits von begrenzter Reichweite und China hütet sich davor, sich zu sehr an der Seite Russlands zu engagieren, während andere Länder in der Welt sehr zurückhaltend sind, was ein Engagement an der Seite von Konfliktmächten angeht.
Kurzum, obwohl es eine Polarisierung insbesondere um die amerikanische Supermacht gibt und in diesem Rahmen punktuelle Allianzen entstehen können (USA-Japan-Korea; Türkei-Russland in Syrien; China-Russland) oder alte Allianzen vorübergehend wiederbelebt werden (NATO), deuten die Tendenzen in den gegenwärtigen imperialistischen Konfrontationen nicht auf eine Dynamik in Richtung der Bildung von zwei antagonistischen Blöcken hin, wie wir sie vor dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg oder während des "Kalten Krieges" beobachten konnten: "(...) in der Ära nach dem Kalten Krieg haben die Staaten keine dauerhaften Freunde oder Sponsoren mehr, sondern fluktuierende, schwankende, zeitlich begrenzte Verbündete" (LMD, Mai 2022, S. 8).
Die Blockbildung war bis zur Zerfallsphase eine vorherrschende Tendenz. In dieser Phase geht die Tendenz angesichts der in dieser Phase verschärften Merkmale eher in Richtung Krieg ohne Blockbildung: "In der neuen historischen Epoche, in die wir eingetreten sind und die von den Ereignissen am Persischen Golf bestätigt wird, zeigt sich die Welt als ein riesiger Hexenkessel, in dem die Tendenz zum "Jeder für sich" voll zum Tragen kommt und in dem die zwischenstaatlichen Allianzen weit entfernt von jener Stabilität sind, die die Blöcke auszeichnen, sondern von den Bedürfnissen des Moments diktiert sind. Eine Welt in tödlicher Unordnung, in blutigem Chaos, in dem der amerikanische Gendarm für ein Minimum an Ordnung durch den immer massiveren und brutaleren Einsatz seiner Militärmacht zu sorgen versucht. ("Militarismus und Zerfall“, Punkt 11)
Ist die gegenwärtige Dynamik auf einen Weltkrieg ausgerichtet, d.h. eine allgemeine Konfrontation zwischen Ländergruppen, die sich hinter ihren jeweiligen "Bossen" gruppieren?
Die Weltkriege, die wir in der kapitalistischen Dekadenz erlebt haben, waren alle mit der Existenz von Koalitionen hinter einem "Anführer" verbunden, deren Architektur lange vor dem Ausbruch des Konflikts festgelegt wurde, der aufgrund der Blocklogik in weltweite Konfrontationen mündete: 1914 standen sich zwei große Allianzen gegenüber: die Entente (die Triple-Entente England, Frankreich und Russland, ab 1907 und später die Quadruple-Entente nach dem Beitritt Italiens 1915) gegenüber der Triplice (die Triple-Allianz zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien, gegründet 1882, verlängert 1887 und bestätigt 1891/1896); zwei Bündnisachsen standen sich 1939 gegenüber: die Achse Rom-Berlin-Tokio (1936 geschlossen und im August '39 durch den Deutsch-Sowjetischen Pakt ergänzt) und der Bündnispakt zwischen Frankreich und Großbritannien in Kombination mit zwei Dreierbündnissen (Frankreich-Großbritannien-Polen und Frankreich-Großbritannien-Türkei) sowie einer "Verständigungspolitik" zwischen Großbritannien und den USA; schließlich standen sich zwischen 1945-1989 die beiden Blöcke des Westens und des Ostens (die NATO und der Warschauer Pakt) gegenüber. Außerdem bedeuteten solche Kriege die massive Mobilisierung riesiger Armeen, während die Bourgeoisie heute Massenmobilisierungen von Bevölkerungen vermeidet (außer teilweise in der Ukraine) und die Armeen der Hauptimperialismen seit den 1990er Jahren sich neu strukturiert haben (Verringerung ihrer Massivität, Aufbau spezialisierter Berufstruppen und Entwicklung von Technologien im Zusammenhang mit militärischer Robotik und Kybernetik im Fall der Armeen der USA, Chinas, Russlands und Europas) und weitgehend private Söldner und 'Vertragsarbeiter' einsetzen.
Die oben dargelegte Analyse darf uns keineswegs beruhigen, was die Gefahr von Kriegen in der Zerfallsphase trotz fehlender Blockdynamik betrifft. Wir müssen uns nämlich bewusst sein, dass ein solcher Kontext keineswegs bedeutet, dass ein bedeutender kriegerischer Konflikt ausgeschlossen und dass die Gefahr einer direkten militärischen Konfrontation zwischen Großmächten vernachlässigbar wäre, ganz im Gegenteil: "In der Tat befand sich nicht die Bildung zweier imperialistischer Blöcke am Ausgangspunkt des Militarismus und des Imperialismus. Das Gegenteil ist der Fall: die Bildung der Blöcke ist nur die äußerste Konsequenz (die in einem gegebenen Zeitpunkt die Ursachen selbst verschärfen kann), eine Manifestation (und sicher nicht die einzige) des Versinkens des dekadenten Kapitalismus im Militarismus und im Krieg" („Militarismus und Zerfall“, Punkt 5).
Das Nichtexistenz von Blöcken macht die Situation paradoxerweise gefährlicher, da Konflikte durch eine größere Unvorhersehbarkeit gekennzeichnet sind: "Mit seiner Ankündigung, seine ‚Waffen der nuklearen Abschreckung‘ in Alarmbereitschaft zu versetzen, hat der russische Präsident Wladimir Putin alle Generalstäbe gezwungen, ihre Doktrinen, die meist aus dem Kalten Krieg stammen, zu aktualisieren. Die Gewissheit der gegenseitigen Vernichtung – das englische Akronym MAD bedeutet ‚verrückt‘ – reicht nicht mehr aus, um die Möglichkeit taktischer, angeblich begrenzter Nuklearschläge auszuschließen. Mit dem Risiko eines unkontrollierten Amoklaufs" (LMD, April 2022, S. 1). Paradoxerweise kann man nämlich argumentieren, dass die Blockbildung die Möglichkeiten eines Ausrutschers einschränkte
- wegen der Blockdisziplin;
- auch wegen der Notwendigkeit, dem Weltproletariat in den Zentren des Kapitalismus zuvor eine entscheidende Niederlage zuzufügen (vgl. die Analyse des historischen Kurses in den 1980er Jahren).
Obwohl es also derzeit keine Aussicht auf eine Blockbildung oder einen 3. Weltkrieg gibt, ist die Situation gleichzeitig durch eine größere Gefährlichkeit gekennzeichnet, die mit der Intensivierung des Jeder-gegen-jeden und der zunehmenden Irrationalität zusammenhängt: Die Unvorhersehbarkeit der Entwicklung der Konfrontationen, die Möglichkeiten ihrer Entgleisung, die stärker ist als in den 50er bis 80er Jahren, kennzeichnen die Phase des Zerfalls und stellen eine der besonders besorgniserregenden Dimensionen dieser qualitativen Beschleunigung des Militarismus dar.
Abschließend müssen wir verstehen, dass sich die Bedingungen des Krieges zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg einerseits und den heutigen Bedingungen andererseits grundlegend unterscheiden und dementsprechend auch die Perspektiven für das Proletariat. Während das Abgleiten in die Barbarei in der Ukraine zerstörerisch und brutal ist, ist auch die Bedeutung solcher Konflikte für die Arbeiterklasse schwieriger zu begreifen. Während Verbrüderungen im Ersten Weltkrieg technisch und politisch möglich geworden waren – Arbeiter waren immer noch in der Lage, über die Schützengräben hinweg zu kommunizieren –, gibt es heute kein solches Potenzial. Es gibt auch keine Hunderttausende von Menschen, die gemeinsam an den Fronten zusammengezogen sind, mit Möglichkeiten für Diskussionen, massive Reaktionen gegen ihre Vorgesetzten und Revolten.
Wir können daher im Moment keine Klassenreaktion an der Kriegsfront erwarten, auch wenn russische Soldaten desertieren oder sich weigern könnten, für die Ukraine eingezogen zu werden. Die Arbeiterklasse hat heute nicht die Fähigkeit, Klassenwiderstand gegen den imperialistischen Krieg zu leisten – weder in der Ukraine noch in Russland – und im Moment auch nicht im Westen. Was die allgemeineren Perspektiven für die Entwicklung des Klassenkampfes heute betrifft, so werden sie im Bericht über die Lage des Klassenkampfes behandelt.
IKS 09.05.2022
IKS 09.05.2022
[1] Die Biden-Fraktion will Russland auch "zur Rechenschaft ziehen" für seine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der USA, zum Beispiel durch die Versuche, die jüngeren Präsidentschaftswahlen zu manipulieren.
[2] "Xi hat nur eine 50%ige Chance, für eine dritte Amtszeit als Präsident wiedergewählt zu werden, weil er drei große Fehler begangen hat, erklärt eine anonyme Quelle, die von dem britischen Journalisten Mark O'Neill, einem in Hongkong lebenden China-Kenner, zitiert wird. Der erste ist der, dass er die diplomatischen Beziehungen Chinas seit 2012 ruiniert hat. Als er an die Macht kam, unterhielt China gute Beziehungen zu den meisten Ländern der Welt. Nun sind seine Beziehungen zu vielen dieser Länder, insbesondere zum Westen und zu seinen Verbündeten in Asien, durch ihn geschädigt. Zweitens hat die ‚Null-Covid‘-Politik der chinesischen Wirtschaft großen Schaden zugefügt, die das für dieses Jahr erwartete BIP-Wachstum von 5,5 Prozent nicht erreichen wird. Nahezu 50 Städte sind gesperrt und ein Ende ist nicht in Sicht. Der dritte Grund ist seine Ausrichtung auf Putin. Dadurch wurden die ohnehin schon schlechten Beziehungen zu Europa und Nordamerika noch weiter beschädigt. Chinesische Unternehmen sind nun angewiesen, keine neuen Verträge mit russischen Firmen abzuschließen, da dies Sanktionen nach sich ziehen könnte. Wo ist der Nutzen für China?" (zitiert aus „‘Zero Covid‘ in China: Xi Jinping stramm in seinen Stiefeln, taub für Wirtschaftsalarm", P.-A. Donnet, Asialyst, 07.05.22)
[3] Durchgesickerte Informationen aus dem Pentagon enthüllten, dass das chinesische militärische Oberkommando gegen Ende der Amtszeit Trumps heimlich Kontakt mit dem Pentagon aufgenommen hatte, weil es sich über die Gefahr eines atomaren Angriffs auf China durch Trump beunruhigte.
Die Organisationen der Kommunistischen Linken müssen ihr gemeinsames Erbe, das Festhalten an den Prinzipien des proletarischen Internationalismus, geschlossen verteidigen, insbesondere in einer Zeit großer Gefahren für die Weltarbeiterklasse. Die Rückkehr des imperialistischen Gemetzels nach Europa im Krieg in der Ukraine ist ein solcher Zeitpunkt. Deshalb veröffentlichen wir im Folgenden mit anderen Unterzeichner:innen aus der Tradition der Kommunistischen Linken (und einer Gruppe mit einem anderen Werdegang, die die Erklärung voll unterstützt) eine gemeinsame Erklärung zu den grundlegenden Perspektiven für die Arbeiterklasse angesichts des imperialistischen Krieges.
***
Die Arbeiter:innen haben kein Vaterland!
Nieder mit allen imperialistischen Mächten!
Statt der kapitalistischen Barbarei: Sozialismus!
Der Krieg in der Ukraine wird aufgrund der widersprüchlichen Interessen der verschiedenen großen und kleinen imperialistischen Mächte geführt - nicht im Interesse der Arbeiterklasse, die eine Klasse der internationalen Einheit ist. Es ist ein Krieg um strategische Gebiete, um militärische und wirtschaftliche Vorherrschaft, der offen und verdeckt von den Kriegstreibern an der Spitze der US-amerikanischen, russischen und der westeuropäischen Staatsapparate geführt wird, wobei die ukrainische herrschende Klasse als keineswegs unschuldiger Spielball auf dem imperialistischen Weltschachbrett agiert.
Die Arbeiterklasse, nicht der ukrainische Staat, ist das eigentliche Opfer dieses Krieges, sei es in Form von abgeschlachteten, wehrlosen Frauen und Kindern, hungernden Flüchtlingen oder eingezogenem Kanonenfutter in einer der beiden Armeen, oder in Form der zunehmenden Not, die die Auswirkungen des Krieges für die Arbeiter:innen in allen Ländern mit sich bringen werden.
Die Kapitalistenklasse und ihre bürgerliche Produktionsweise können ihre nationalen Konkurrenzkämpfe, die zum imperialistischen Krieg führen, nicht überwinden. Das kapitalistische System kann nicht verhindern, dass es in eine größere Barbarei versinkt.
Die Weltarbeiterklasse kommt ihrerseits nicht umhin, ihren Kampf gegen die Verschlechterung der Löhne und des Lebensstandards zu entwickeln. Der jüngste Krieg, der größte in Europa seit 1945, warnt die Welt vor den Zukunftsaussichten im Kapitalismus, wenn der Kampf der Arbeiterklasse nicht zum Sturz der Bourgeoisie und ihrer Ersetzung durch die politische Macht der Arbeiterklasse, die Diktatur des Proletariats, führt.
Der russische Imperialismus will den enormen Rückschlag von 1989 wettmachen und wieder eine Weltmacht werden. Die USA wollen ihren Status als Supermacht und ihre Weltherrschaft bewahren. Die europäischen Mächte fürchten die russische Expansion, aber auch die erdrückende Vorherrschaft der USA. Die Ukraine will sich mit dem stärksten imperialistischen Macho verbünden.
Seien wir ehrlich, die USA und die westlichen Mächte haben die überzeugendsten Lügen und die größte Lügenmaschine in den Medien, um ihre wahren Ziele in diesem Krieg zu rechtfertigen - sie reagieren angeblich auf die russische Aggression gegen kleine souveräne Staaten, verteidigen die Demokratie gegen die Autokratie des Kremls und halten die Menschenrechte angesichts der Brutalität Putins hoch.
Die stärkeren imperialistischen Gangster haben in der Regel die bessere Kriegspropaganda, die größere Lüge, weil sie ihre Feinde provozieren und dazu bringen können, zuerst zu feuern. Aber erinnern wir uns an die ach so friedliche Vorgehensweise dieser Mächte in jüngster Zeit im Nahen Osten, in Syrien, im Irak und in Afghanistan, daran, wie die US-Luftstreitkräfte kürzlich die Stadt Mosul dem Erdboden gleichmachten, wie die Koalitionstruppen die irakische Bevölkerung unter dem falschen Vorwand, Saddam Hussein verfüge über Massenvernichtungswaffen, ins Verderben stürzten. Erinnern wir uns weiter zurück an die zahllosen Verbrechen dieser Demokratien gegen die Zivilbevölkerung im vergangenen Jahrhundert, sei es in den 1960er Jahren in Vietnam, in den 1950er Jahren in Korea, während des Zweiten Weltkriegs in Hiroshima, Dresden oder Hamburg. Die russischen Gräueltaten gegen die ukrainische Bevölkerung stammen im Wesentlichen aus demselben imperialistischen Drehbuch.
Der Kapitalismus hat die Menschheit in die Ära des permanenten imperialistischen Krieges katapultiert. Es ist eine Illusion, von ihm zu verlangen, den Krieg zu "beenden". "Frieden" kann höchstens ein Intermezzo im kriegerischen Kapitalismus sein.
Je mehr er in einer unlösbaren Krise versinkt, desto größer wird die militärische Zerstörung sein, die der Kapitalismus neben seinen wachsenden Katastrophen der Umweltverschmutzung und Seuchen mit sich bringt. Der Kapitalismus ist verrottet und reif für eine revolutionäre Veränderung.
Das kapitalistische System, das immer mehr zu einem System des Krieges mit all seinen Schrecken wird, findet derzeit keinen nennenswerten Klassenwiderstand gegen seine Herrschaft, so dass das Proletariat unter der sich verschärfenden Ausbeutung seiner Arbeitskraft und den ultimativen Opfern leidet, die der Imperialismus von ihm auf dem Schlachtfeld fordert.
Die Entwicklung der Verteidigung seiner Klasseninteressen sowie seines Klassenbewusstseins, das durch die unverzichtbare Rolle der revolutionären Avantgarde gefördert wird, birgt ein noch größeres Potenzial des Proletariats, nämlich die Fähigkeit, sich als Klasse zu vereinigen, um den politischen Apparat der Bourgeoisie vollständig zu stürzen, wie es 1917 in Russland geschah und damals in Deutschland und anderswo drohte. Das heißt, das System zu stürzen, das zum Krieg führt. Die Oktoberrevolution und die Aufstände, die sie in den anderen imperialistischen Mächten auslöste, sind in der Tat ein leuchtendes Beispiel nicht nur für den Widerstand gegen den Krieg, sondern auch für einen Angriff auf die Macht der Bourgeoisie.
Heute sind wir noch weit von einer solchen revolutionären Periode entfernt. Auch die Bedingungen des Kampfes des Proletariats unterscheiden sich von denen, die zur Zeit des ersten imperialistischen Gemetzels herrschten. Was jedoch angesichts des imperialistischen Krieges gleich bleibt, sind die Grundprinzipien des proletarischen Internationalismus und die Pflicht der revolutionären Organisationen, diese Prinzipien innerhalb des Proletariats mit aller Kraft zu verteidigen, wenn nötig auch gegen den Strom.
Die Dörfer Zimmerwald und Kienthal in der Schweiz wurden berühmt als Treffpunkte der Sozialist:innen beider Seiten im Ersten Weltkrieg mit dem Ziel, einen internationalen Kampf zur Beendigung des Gemetzels zu beginnen und die patriotischen Führer der sozialdemokratischen Parteien anzuprangern. Auf diesen Treffen brachten die Bolschewiki, unterstützt von der Bremer Linken und der Niederländischen Linken, die wesentlichen Prinzipien des Internationalismus gegen den imperialistischen Krieg vor, die auch heute noch gültig sind:
keine Unterstützung weder für das eine noch für das andere imperialistische Lager; die Ablehnung aller pazifistischen Illusionen; und die Erkenntnis, dass nur die Arbeiterklasse und ihr revolutionärer Kampf dem System, das auf der Ausbeutung der Arbeitskraft beruht und ständig imperialistische Kriege hervorbringt, ein Ende setzen können.
In den 1930er und 1940er Jahren war es nur die politische Strömung, die sich heute Kommunistische Linke nennt, die an den von den Bolschewiki im Ersten Weltkrieg entwickelten internationalistischen Prinzipien festhielt. Die Italienische Linke und die Niederländische Linke stellten sich im zweiten imperialistischen Weltkrieg aktiv gegen beide Seiten und lehnten sowohl die faschistischen als auch die antifaschistischen Rechtfertigungen für das Gemetzel ab - im Gegensatz zu den anderen Strömungen, die die proletarische Revolution forderten, einschließlich des Trotzkismus. Damit verweigerten diese kommunistischen Linken dem Imperialismus des stalinistischen Russlands jegliche Unterstützung in diesem Konflikt.
Heute, angesichts der Beschleunigung des imperialistischen Konflikts in Europa, halten die politischen Organisationen, die sich auf das Erbe der Kommunistischen Linken stützen, weiterhin die Fahne des konsequenten proletarischen Internationalismus hoch und bieten einen Bezugspunkt für diejenigen, die die Prinzipien der Arbeiterklasse verteidigen.
Deshalb haben die Organisationen und Gruppen der Kommunistischen Linken, die heute zahlenmäßig klein und wenig bekannt sind, beschlossen, diese gemeinsame Erklärung herauszugeben und die internationalistischen Prinzipien, die gegen die Barbarei zweier Weltkriege geschmiedet wurden, so weit wie möglich zu verbreiten.
Keine Unterstützung für irgendeine Seite bei dem imperialistischen Gemetzel in der Ukraine.
Keine Illusionen in Pazifismus: Der Kapitalismus kann nur durch endlose Kriege leben.
Nur die Arbeiterklasse kann dem imperialistischen Krieg durch ihren Klassenkampf gegen die Ausbeutung ein Ende setzen, der zum Sturz des kapitalistischen Systems führt.
Arbeiter:innen der Welt, vereinigt euch!
---
Internationale Kommunistische Strömung (www.internationalism.org [3])
Istituto Onorato Damen (https://www.istitutoonoratodamen.it/ [4])
Internationalist Voice (en.internationalistvoice.org [5])
Die Gruppe Internationalist Communist Perspective (Korea) unterstützt die gemeinsame Erklärung vollkommen (국제코뮤니스트전망 - International Communist Perspective (jinbo.net) [6].
6. April 2022
Der Ausbruch des Krieges in der Ukraine vor den Toren Europas trägt auf gefährliche Weise zur explosiven Anhäufung der Widersprüche des Kapitalismus bei: ökologische Katastrophe, Wiederaufflammen von Pandemien, verheerende Inflation, immer irrationalere Kriege aus der Sicht der Bourgeoisie selbst, immer kurzlebigere Bündnisse, die von einem Jeder-für-sich dominiert werden, Destabilisierung immer größerer Teile der Welt, sozialer Zerfall und Zersplitterung, Fluchtmigration etc. In der gegenwärtigen Situation kann das Ziel des Kampfes der Arbeiterklasse, wie schon angesichts des Ersten Weltkriegs, nur der weltweite Sturz des Kapitalismus sein. Davon hängt das Überleben der Menschheit selbst ab.
Angesichts des Ersten Weltkriegs, des Aderlasses und der enormen wirtschaftlichen Opfer hatte sich die Arbeiterklasse vom Verrat der sozialdemokratischen Parteien erholen können, die sie in den Weltkonflikt hineingezogen hatten. Im Zweiten Weltkrieg war dies nicht möglich gewesen, da die wichtigsten Teile des Proletariats von der stalinistischen Konterrevolution niedergewalzt, bei der Niederlage der Revolution in Deutschland zerschlagen und unter die Knute des Faschismus gezwungen wurden, um sich für die Verteidigung der Demokratie und den Antifaschismus zu engagieren.
Seit der historischen Wiederaufnahme der Klassenkämpfe 1968 hat das Proletariat keine so große Niederlage erlitten, dass die Bourgeoisie heute in der Lage wäre, ihre konzentriertesten und erfahrensten Teile im Herzen des Kapitalismus mit den Angriffen zu konfrontieren, die aus der Verschärfung der Weltwirtschaftskrise, den wirtschaftlichen Kosten der Kriege – insbesondere in der Ukraine – und der weltweiten Stärkung des Militarismus resultieren; aber auch mit den wirtschaftlichen Folgen der Klimaerwärmung, der weltweiten Desorganisation der Produktion usw.
Nicht alle Teile des Weltproletariats befinden sich in demselben Kräfteverhältnis gegenüber der Bourgeoisie. Das Proletariat in der Ukraine hat, indem es sich hinter die Fahne der nationalen Verteidigung einspannen ließ, eine große politische Niederlage erlitten, die durch die Massaker des Krieges noch verstärkt und verschlimmert wurde. Das Proletariat in Russland, dessen Lage nicht so kritisch ist, hat dennoch bei weitem nicht die Mittel, um sich auf seinem Klassenterrain dem Krieg in der Ukraine zu widersetzen.
Der Kapitalismus hat sich in den verschiedenen Regionen der Welt ungleichmäßig entwickelt. Dasselbe gilt für das Proletariat, das ein Produkt dieses Systems ist. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, nachdem der Weltmarkt entstanden und der Kapitalismus in seine historische Krise eingetreten war, gibt es daher erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Fraktionen des Proletariats in der Welt. Im historischen Herzen des Kapitalismus, in Westeuropa, wo die Arbeiterklasse schon am längsten konzentriert ist, hat sie unersetzliche historische Erfahrungen gemacht, die ihrem Klassenkampf eine potenzielle Stärke verleihen, die es in keinem anderen Land der Welt gibt. Nicht einmal in den USA, die im 20. Jahrhundert alle anderen Mächte überholten, und noch weniger in China, obwohl es im 21. Jahrhundert rasant zur zweitgrößten Macht der Welt aufgestiegen ist.[1] Westeuropa, wo die weltweit erfahrensten Teile der Bourgeoisie und des Proletariats aufeinandertreffen, wird für den Prozess der weltweiten Verbreitung des Klassenkampfes entscheidend sein.
Die Geschichte des Klassenkampfes selbst belegt die entscheidende Rolle, die das westeuropäische Proletariat spielen wird.
Was das westeuropäische Proletariat von anderen Teilen des Weltproletariats unterscheidet, sind die historischen Erfahrungen, die Konzentration, das historische Bewusstsein, der Widerstand gegen die Mystifikationen der Bourgeoisie und insbesondere die demokratische Mystifikation.
Aufschlussreich ist die Erinnerung an die "berühmtesten" Erfahrungen:
- Die Pariser Kommune, vom 18. März bis zum 28. Mai 1871, ist in der Geschichte die erste Konkretisierung der Notwendigkeit und der Möglichkeit der Übernahme der politischen Macht durch die Arbeiterklasse[2];
- Die revolutionäre Welle von 1917-1923: Sie ging von Europa aus, hatte aber Auswirkungen auf die ganze Welt. Ihren Höhepunkt erreichte sie in Russland mit der Machtergreifung des Proletariats im Jahr 1917, doch danach verlagerte sich ihr Schwerpunkt nach Europa, vor allem nach Deutschland. Tatsächlich ist die Russische Revolution die Ausnahme, die die Regel bestätigt, wie die von Lenin tausendfach betonte Tatsache zeigt, dass es ein "historischer Zufall" war, dass es den Russen zufiel für kurze Zeit das Banner der Revolution zu tragen, da die Machtergreifung in Deutschland für das Schicksal der Weltrevolution entscheidend war.
- Die historische Wiederaufnahme der Klassenkämpfe im Jahr 1968, die das Ende der Konterrevolution einläutete, wurde durch den Ausbruch des französischen Proletariats im Mai jenes Jahres eingeleitet, dem 1969 das Proletariat in Italien folgte, und diese Welle des Klassenkampfes breitete sich allmählich auf verschiedenen Ebenen auf verschiedene Teile der Welt aus. An dieser Stelle sei auf das Ausmaß und die Bedeutung der Klassenkämpfe des Proletariats in Polen in den Jahren 1971, 1976 und 1980 hingewiesen, die eine eindrucksvolle Bestätigung für die Rückkehr des Klassenkampfes auf weltweiter Ebene darstellten. "Eindeutig haben die Arbeiter in Polen viele Lehren aus ihren Erfahrungen von 1956, 1970 und 1976 gezogen. Aber im Gegensatz zu diesem Kämpfen in Gdansk, in Gdynia und Stettin 1970, in denen die Straßenkämpfe am bedeutendsten waren, hat der Klassenkampf der Arbeiter 1980 bewusst verfrühte Zusammenstöße vermieden. Es gab keine Tote. Die Arbeiter spürten, dass ihre Kraft vor allem in der Generalisierung, der Ausdehnung des Kampfes und in der Organisierung der Solidarität besteht.“[3]
In der Tat bildeten die Kämpfe in Polen den Höhepunkt der internationalen Wiederaufnahme der Kämpfe der Klasse, die 1968 in Frankreich eröffnet wurden. Sie zeugten von einem seit der revolutionären Welle von 1917-1923 nicht mehr erreichten Grad an Selbstorganisierung des Kampfes, was auf den ersten Blick unsere Analyse zu entkräften scheint, die die entscheidende Bedeutung des westeuropäischen Proletariats in den Mittelpunkt der revolutionären Perspektive stellt. In Wirklichkeit wurde unsere Analyse durch die Art und Weise bestätigt, wie jene Kämpfe von der Weltbourgeoisie niedergeschlagen wurden, wobei im Zentrum ihres Vorgehens gegen die Arbeiterklasse in Polen die Einschließung derselben hinter der Mystifikation der "freien" Gewerkschaften und der demokratischen Forderungen stand, durch die "materielle und politische Übernahme des Aufbaus des "Solidarnosc"-Apparats durch die Linke und die Gewerkschaften des Westens (Überweisungen von Geld, Druckmaterial, Delegationen, die dem Neuling die verschiedenen Techniken der Sabotage von Kämpfen beibringen sollen..."[4].
Die Art und Weise, wie die Bourgeoisie diesen Teil des Weltproletariats besiegt hat, verdeutlicht die tiefen Schwächen der Arbeiterklasse, die allen Ländern des ehemaligen Ostblocks gemein sind und sich in der Last demokratischer Illusionen und sogar der Religion ausdrücken. Diese Schwächen blieben nach dem Zusammenbruch des Ostblocks sehr lebendig, da die totalitären stalinistischen Regime oftmals durch rechte "autoritäre" Regime ersetzt wurden.
Die Episode der Klassenkämpfe in Polen ist also keineswegs ein Gegenbeispiel für die Bedeutung des westeuropäischen Proletariats, sondern veranschaulicht sie im Gegenteil. Aus diesem Grund sind wir generell der Ansicht, dass aus den oben genannten historischen Gründen "das Epizentrum eines kommenden revolutionären Erdbebens im industriellen Herzen Westeuropas liegen wird, wo die optimalen Bedingungen für das Bewusstsein und die revolutionäre Kampffähigkeit der Klasse gegeben sind, was dem Proletariat dieser Zone eine Rolle als Avantgarde des Weltproletariats verleiht".[5]
Aus diesen Gründen haben Gebiete wie Japan und Nordamerika, obwohl sie die meisten materiellen Voraussetzungen für eine Revolution erfüllen, aufgrund der mangelnden Erfahrung und der ideologischen Rückständigkeit des dortigen Proletariats nicht die günstigsten Voraussetzungen für die Auslösung eines revolutionären Prozesses. Dies ist besonders deutlich in Bezug auf Japan, gilt aber in gewissem Maße auch für Nordamerika, wo sich die Arbeiterbewegung als Anhängsel der europäischen Arbeiterbewegung entwickelt hat, mit Besonderheiten wie dem Mythos "The Frontier"[6] oder auch, für eine ganze Periode, dem höchsten Lebensstandard der Arbeiterklasse in der Welt – was es der Bourgeoisie ermöglichte, sich einen viel stärkeren ideologischen Einfluss auf die Arbeiter zu sichern als in Europa.
Was das Proletariat in China betrifft, das zahlreichste der Welt (China ist die Werkstatt des Planeten), so entspricht seine Zahl keineswegs seiner Erfahrung[7] und es ist verwundbar (noch mehr als in den osteuropäischen Ländern) durch Manöver, die die Bourgeoisie ihm entgegensetzen wird, insbesondere die Gründung "freier" Gewerkschaften, wenn sich die Notwendigkeit dazu ergibt.
Die Anerkennung solcher Unterschiede bedeutet nicht, dass der Klassenkampf oder die Tätigkeit von Revolutionären in anderen Teilen der Welt als Westeuropa bedeutungslos ist. Tatsächlich ist die Arbeiterklasse global, ihr Klassenkampf existiert überall dort, wo sich Proletarier und Kapital gegenüberstehen. Die Lehren aus den verschiedenen Ausdrucksformen dieses Kampfes sind für die gesamte Arbeiterklasse gültig, wo auch immer sie stattfinden.[8]
Das westeuropäische Proletariat hält mehr denn je und trotz seiner gegenwärtig sehr großen Schwierigkeiten, die das gesamte Proletariat betreffen, den Schlüssel für eine weltweite Erneuerung des Klassenkampfes in der Hand, für das Weltproletariat, das in der Lage ist, den Weg zur Weltrevolution zu beschreiten. Aus all diesen Gründen und im Gegensatz zu dem, was Lenin am Beispiel der Russischen Revolution vorschnell verallgemeinert hatte, entfaltet sich eine solche Bewegung, die sich später auf die weiter entwickelten Länder ausdehne, eben gerade nicht zuerst in den Ländern, in denen die Bourgeoisie am schwächsten ist (das "schwächste Glied der kapitalistischen Kette").[9] Dort würde das Proletariat nicht nur seiner eigenen Bourgeoisie gegenüberstehen, sondern in der einen oder anderen Form würde die Weltbourgeoisie dafür sorgen, dass es mundtot gemacht wird.
Ende der 1960er Jahre waren in den USA die Proteste gegen den Vietnamkrieg und die Weigerung vieler junger Arbeiter, für die Nation zu kämpfen, ein indirekter Vorbote der Eröffnung eines neuen globalen Kurses des Klassenkampfes, der das Ende eines halben Jahrhunderts der Konterrevolution markierte.
Seit der historischen Wiederaufnahme der Klassenkämpfe 1968 und während der gesamten Periode, in der die Welt in zwei rivalisierende imperialistische Blöcke geteilt war, hat ein dritter Weltkrieg nur deshalb nicht stattgefunden, weil die Arbeiterklasse in den wichtigsten Industrieländern Europas und in den Vereinigten Staaten – ungeschlagen und ideologisch nicht der Bourgeoisie unterworfen – nicht bereit war, die Opfer des Krieges an den Produktionsstätten oder an der Front zu akzeptieren.[10]
Auch wenn die neue weltweite Dynamik hin zu entscheidenden Klassenauseinandersetzungen es der Bourgeoisie unmöglich machte, auf einen Weltkrieg zuzusteuern, brachen überall dort "lokale" Kriege aus, wo das Proletariat keine gesellschaftliche Kraft darstellte, die in der Lage gewesen wäre, einen solchen Krieg zu verhindern. In diesen Kriegen standen sich Berufs- oder Söldnertruppen in den Diensten der Großmächte gegenüber in Ländern, in denen das lokale Proletariat nicht nur nicht die Kraft hatte, sich ihnen durch seinen eigenen Klassenkampf zu widersetzen, sondern in denen es zwangsweise oder mit Zustimmung auf die eine oder andere Seite gezogen wurde. Es ist jedoch keineswegs ein Zufall, dass in keinen dieser Konflikte das Proletariat der westeuropäischen Länder militärisch eingespannt werden konnte.
Seit dem Zusammenbruch der zwei Blöcke waren lokale Kriege noch stärker als in der vorangegangenen Periode allgegenwärtig, mörderisch und verheerend. Aber für keinen dieser Kriege war das Proletariat der westeuropäischen Länder für die Bourgeoisie mobilisierbar.
Und wenn diese Länder direkt Kriege anzettelten, wie 1991 im ehemaligen Jugoslawien, wurden immer Berufssoldaten mobilisiert, von denen ein Teil zugegebenermaßen Söhne von Proletariern waren, die ihre Arbeitskraft nirgendwo sonst verkaufen konnten. Aber meistens und gerade deshalb wurden diese Truppen auf die Rolle von sogenannten "Eingreifkräften" beschränkt.
Es ist bezeichnend, dass die Bourgeoisie in den Vereinigten Staaten, wo das Proletariat nicht die gleiche politische Kraft wie in Westeuropa darstellt, die Wehrpflichtigen (Proletarier in Uniform) mit Vorsicht und Umsicht für ihre Kriegseinsätze heranziehen konnte. Das Trauma des Vietnamkriegs ist jedoch noch nicht überwunden und die Bevölkerung (vor allem die Arbeiterklasse) reagiert immer noch empfindlich auf die Entsendung von Truppen, die aus Proletariern in Uniform bestehen, auf Kriegsschauplätze. Der Zweite Irakkrieg (2003) war in dieser Hinsicht eine weitere Warnung für die Bourgeoisie, die dazu neigte, zu glauben, das Vietnam-Syndrom sei verflogen. Nach einem Jahr der Besetzung des Irak durch amerikanische Truppen "haben das Klima der ständigen Unsicherheit der Truppen und die Rückkehr der "body bags" den – wenn auch relativen – patriotischen Eifer der Bevölkerung, auch im Herzen des "tiefen Amerikas", merklich abgekühlt"[11].
Seitdem war für Obama (in Bezug auf Syrien) und noch mehr für Trump (überall) die Doktrin "no boots on the ground" (keine Truppen auf dem Boden), die den amerikanischen Militärinterventionen Grenzen setzt.
Aus all diesen Gründen ist es unvorstellbar, dass in der gegenwärtigen Situation ein oder mehrere westeuropäische Länder eine Offensive starten, wie es Russland in der Ukraine getan hat.
So wie wir die Gründe für die Nichtbeteiligung des westeuropäischen Proletariats an kriegerischen Konflikten seit den späten 1960er Jahren erläutert haben, müssen wir auch verstehen, warum das Proletariat in einigen Ländern direkt in den Krieg hineingezogen wurde wie in der Ukraine oder sich ihm nicht widersetzte wie in Russland.
In den 1980er Jahren war das Industrieproletariat der UdSSR eines der größten der Welt. Die Arbeiter im Donbass in der Ukraine führten damals (Mitte der 1980er Jahre) Kämpfe, die den Eindruck erwecken konnten, dass das Proletariat im Osten die Initiative ergriff. Der Höhepunkt wurde mit den Kämpfen in Polen in den Jahren 1970, 1976 und 1980 erreicht, in denen es zu den oben erwähnten Massenmobilisierungen kam. In diesem Teil der Welt hingegen machte das Gewicht der Konterrevolution, verkörpert durch die Existenz totalitärer politischer Regime – die zwar starr und fragil waren – das Proletariat viel anfälliger für demokratische, gewerkschaftliche, nationalistische und sogar religiöse Mystifikationen.
Im Sommer 1989 kämpften 500.000 Bergarbeiter im Donbass (Ukraine) und in Südsibirien (die UdSSR existierte noch und die Ukraine war ein Teil davon) in der größten Bewegung seit 1917 für ihre Forderungen auf ihrem Klassenboden. Aber die Bewegung war damals (wie auch der Kampf in Polen 1980) von demokratischen Illusionen geprägt, die sie schließlich in die Sackgassen des Kampfes gegen den Totalitarismus, der Forderung nach "Autonomie" der Unternehmen trugen, damit diese den Teil der Kohle verkaufen könnten, der nicht an den Staat abgegeben werde.[12]
Angesichts des Zusammenbruchs des stalinistischen Blocks gab es statt Massenkämpfen des Proletariats Bewegungen, die vom Gewicht des separatistischen Nationalismus gegenüber der UdSSR und von demokratischen Illusionen geprägt waren. Dieselben Schwächen prägten das Chaos, das in den 1990er Jahren in der Russischen Föderation herrschte.
Eines der bedeutendsten Elemente der Schwäche des Proletariats im Osten war die Unfähigkeit, angesichts der stärksten Momente des Klassenkampfes wie 1980 in Polen bei Minderheiten ein Denken hervorzurufen, das es ihnen ermöglicht hätte, sich an den Positionen der Kommunistischen Linken zu orientieren.
Der Fall der Ukraine
Das ukrainische Proletariat ist sehr schwach entwickelt. Denn außerhalb des Bergbaubeckens und einiger Industriezentren in Kiew, Charkow oder Dnjepropetrowsk herrschte die handwerkliche Landwirtschaft vor. Eine solche Situation hat sich in den 1990er Jahren noch verschärft, wie wir in einem Artikel aus dem Jahr 2006 berichtet haben: "Laut der Volkszählung von 1989 zu dem Zeitpunkt, als der Urbanisierungsgrad in der Ukraine seinen Höhepunkt erreichte, lebten 33,1% der Bevölkerung des Landes auf dem Land. Von den 16 Regionen, die die orangefarbene Fraktion unterstützen sollten (Kiew nicht mitgerechnet), lag dieser Anteil nur in drei Regionen unter 41%. In fünf Regionen lag der Anteil zwischen 43 und 47 Prozent und in acht Regionen über 50 Prozent, in einigen Fällen sogar deutlich (Oblast Ternopol 59,2 Prozent; Oblast Zakarpate 58,9 Prozent). In den 1990er Jahren verschlechterte sich die Situation noch weiter: Die Industrie wurde zerstört, das kulturelle Niveau der Bevölkerung sank, die Arbeiter mussten auf ihre Gemüsegärten zurückgreifen, um zu überleben, und begannen, wieder auf dem Land zu arbeiten und ihre sozialen Beziehungen zu den Dörfern, in denen sie zudem viele Familienangehörige haben, wiederherzustellen. Daher hat der Einfluss der ländlichen kleinbürgerlichen Atmosphäre immens zugenommen."[13]
Im Jahr 1993, nach der Unabhängigkeit der Ukraine, gelang es den Arbeitern in der Industrieregion Pridneprovie, sich auf ihrem Klassenterrain zu mobilisieren und den Rücktritt von Präsident Kutschma und die Abhaltung allgemeiner Wahlen zu erzwingen. Doch schon 2004 ließ sich das Proletariat in die Streiks der Arbeitgeber und den Kampf zwischen den Fraktionen der Bourgeoisie in der so genannten "Orangen Revolution" locken, wo sich die Konfrontation zwischen der pro-russischen und der pro-amerikanischen Option durchsetzte. Seit der russischen Besetzung der Krim im Jahr 2014 hat diese Situation bereits zu bewaffneten Auseinandersetzungen geführt, in die das Proletariat hineingezogen wurde.
Angesichts des aktuellen Krieges in der Ukraine kommt es zu einer Mobilisierung der Bevölkerung, einschließlich des Proletariats. Die "Verteidigung des Vaterlandes" hat alle anderen Überlegungen überlagert.
Der Fall Russland
Die Bedeutung des Proletariats in Russland für das Weltproletariat ist größer als die des Proletariats in der Ukraine. Und obwohl alles, was wir über die Schwächen des Proletariats in den östlichen Ländern gesagt haben, auf jenes angewendet werden kann, wurde es dennoch nicht direkt in die Auseinandersetzungen zwischen den Fraktionen der Bourgeoisie mobilisiert; auch wenn es sicherlich ein großes Gewicht demokratischer Illusionen gibt, die durch Putins Ankunft und die Durchsetzung eines neuen Totalitarismus erheblich verstärkt wurden.
Trotz solcher Schwächen war das russische Proletariat jedoch nicht mobilisierbar. Dies ist sowohl Ursache als auch Folge der Auslösung der Roten Armee in Afghanistan: "Die Behörden können sich nicht auf den Gehorsam der "Roten" Armee selbst verlassen. In dieser sind die Soldaten, die den verschiedenen Minderheiten angehören, die heute ihre Unabhängigkeit fordern, immer weniger bereit, sich töten zu lassen, um die russische Vormundschaft über diese Minderheiten zu sichern. Hinzu kommt, dass die Russen selbst zunehmend davor zurückschrecken, diese Art Tätigkeit zu übernehmen. Das haben Demonstrationen wie die vom 19. Januar im südrussischen Krasnodar gezeigt, deren Slogans deutlich machten, dass die Bevölkerung nicht bereit ist, ein neues Afghanistan zu akzeptieren, Demonstrationen, die die Behörden dazu zwangen, die Tage zuvor mobilisierten Reservisten freizulassen.“[14]
In Russland bedeutet Krieg noch nicht die Mobilisierung der gesamten Bevölkerung, und wenn aus ihrer Mitte "Ersatz"-Soldaten rekrutiert werden, dann nur unter dem Deckmantel der Teilnahme an "Militärmanövern". In den russischen Medien wird die Anspielung auf den Krieg selbst zensiert und nur von einer "Sonderoperation" in der Ukraine berichtet. Und im Gegensatz zur patriotischen Stimmung in der Ukraine gibt es in Russland keine bekannten Demonstrationen öffentlicher Unterstützung für den Krieg (abgesehen natürlich von den offiziellen Zeremonien, die von der Putin-Clique inszeniert werden).
Dennoch gibt es aus den oben genannten Gründen derzeit keine Möglichkeit, dass das Proletariat in Russland allein die Kraft hat, den Krieg zu beenden, und seine künftige Reaktion auf die Situation ist bislang schwer genau vorherzusagen.
In den Jahren 1968-1980 bis zum Zusammenbruch des Ostblocks und der Auflösung des Westblocks war die Entwicklung der Kampfkraft und des Denkens des Weltproletariats, insbesondere in den Kernländern, Teil einer Dynamik, die aus drei aufeinanderfolgenden Wellen von Kämpfen bestand, wobei die ersten beiden Wellen durch die Manöver und Strategien der Bourgeoisie zur Bewältigung dieser Wellen vorübergehend gestoppt wurden. Die dritte Welle wurde mit den Folgen des Zusammenbruchs des Ostblocks konfrontiert, der den Klassenkampf aufgrund der Kampagnen der Bourgeoisie über den "Tod des Kommunismus" und der schwierigeren Bedingungen für den Klassenkampf in der nun beginnenden Phase des Zerfalls[15] des Kapitalismus tiefgreifend zurückwarf. In der Tat, wie wir bereits hervorgehoben haben, beeinträchtigt der Zerfall des Kapitalismus tiefgreifend die wesentlichen Dimensionen des Klassenkampfes: kollektives Handeln, Solidarität; - das Bedürfnis nach Organisation; - die Beziehungen die jedes Leben in der Gesellschaft begründen, indem sie diese dekonstruieren; - das Vertrauen in die Zukunft und in die eigenen Kräfte; - das Bewusstsein, die Klarheit, die Kohärenz und Einheit des Denkens, die Lust an der Theorie.[16]
Trotz dieser Schwierigkeiten war die Arbeiterklasse nicht verschwunden, wie eine Reihe von Versuchen des Klassenkampfes, sich einen Weg zu bahnen, illustrierte: 2003 (öffentlicher Sektor in Europa, insbesondere in Frankreich; 2006 (Kampf gegen den CPE in Frankreich, eine Mobilisierung der jüngeren Generation der Arbeiterklasse gegen die Prekarität); 2011 Mobilisierung der "Empörten", die von Ansätzen einer umfassenden Reflexion über den Bankrott des Kapitalismus zeugte; 2019 in Frankreich die Mobilisierung gegen die Rentenreform)[17]; Ende 2021/Anfang 2022 der Anstieg der Wut und Entwicklung der Kampfbereitschaft in den USA, Iran, Italien, Korea trotz des durch die Pandemie verursachten Betäubungseffekts.[18]
Unabhängig von den Schwierigkeiten, mit denen das Proletariat in diesem Zeitraum und insbesondere seit 1990 konfrontiert war, hat es in den wichtigsten Industrieländern keine Niederlage erlitten, was bedeutet, dass es in der Lage sein wird, seinen Klassenkampf wieder aufzunehmen und auf ein neues Niveau zu heben, angesichts der beispiellosen Flut von Angriffen, die alle seine Teile in allen Ländern der Welt und in allen Sektoren immer härter treffen werden.
Der Ausbruch des Krieges an den Toren Europas alarmiert das Weltproletariat erneut in Bezug auf das, was Revolutionäre bereits angesichts des Ersten Weltkriegs hervorgehoben hatten: Solange der Kapitalismus nicht gestürzt wird, drohen der Menschheit die schlimmsten Katastrophen und letztlich der Untergang. “Friedrich Engels sagte einmal: ‚Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma: entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei.‘ Aber was bedeutet denn ein ‚Rückfall in die Barbarei‘ auf der Stufe der Zivilisation, die wir heute in Europa haben? (...) Werfen wir in diesem Augenblick einen Blick um uns herum, und wir werden verstehen, was ein Rückfall der bürgerlichen Gesellschaft in die Barbarei bedeutet. Der Triumph des Imperialismus führt zur Vernichtung der Kultur – sporadisch während der Dauer eines modernen Krieges und endgültig, wenn die nun begonnene Periode der Weltkriege ungehemmt bis zur letzten Konsequenz ihren Fortgang nehmen sollte." (Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie, 1915). In der gegenwärtigen Periode lautet das Dilemma, vor dem die Gesellschaft steht, genauer gesagt "Sozialismus oder Untergang der Menschheit".
Daher muss die Haltung der revolutionären Avantgarde gegenüber dem Ersten Weltkrieg heute unbedingt eine Inspiration für die Verteidigung des konsequenten Internationalismus sein, der nur dann Sinn macht, wenn die Notwendigkeit des Sturzes des Kapitalismus betont wird.
Der proletarische Internationalismus ist, wie die Erfahrung des Zusammenbruchs der Zweiten Internationale angesichts des Weltkriegs gezeigt hat, keine Absichtserklärung oder pazifistische Parole. Der proletarische Internationalismus ist die Verteidigung des Klassenkriegs gegen den imperialistischen Krieg und die Verteidigung der historischen Tradition der Prinzipien der Arbeiterbewegung, die von der Kommunistischen Linken verkörpert wird. Die Zimmerwalder Konferenz[19] – insbesondere die Debatten und Gegenüberstellungen der verschiedenen Positionen auf dieser Konferenz und die daraus resultierende politische Klärung – muss heute eine Quelle der Inspiration für konsequente Revolutionäre sein, um ihre Verantwortung sowohl bei der Umgruppierung der authentisch proletarischen Kräfte als auch bei der offenen, brüderlichen und kompromisslosen Konfrontation der zwischen ihnen bestehenden Divergenzen wahrzunehmen.
In diesem Sinne ist es notwendig, klarzustellen, dass die Bedingungen, mit denen das Proletariat heute konfrontiert ist, um daraus die Konsequenzen für das Eingreifen von Revolutionären zu ziehen, sich von denen des Ersten Weltkriegs unterscheiden:
- Während das Proletariat in der Ukraine eine tiefe Niederlage erlitten hat und das russische Proletariat in großen Schwierigkeiten steckt, gilt dies nicht für das Proletariat in anderen Ländern, insbesondere nicht für das westeuropäische Proletariat.
- Dennoch waren alle Teile des Weltproletariats von diesem Ereignis betroffen, das in ihren Reihen ein tiefes Gefühl der Ohnmacht auslöste. Kaum hatte das Proletariat begonnen, sich von dem Schock der Pandemie zu erholen, musste es einen zweiten Schlag hinnehmen, der noch härter war als der erste und sich unweigerlich auf seine Fähigkeit auswirkte und auswirken wird, sich gegen die gewaltigen wirtschaftlichen Angriffe zu mobilisieren, die auf es niederprasseln. Auch wenn die Streiks bereits zunehmen, ist unklar, wie lange das Proletariat noch brauchen wird, um sich angesichts der Flut von Angriffen in Bewegung zu setzen.
- Das Proletariat wird keine andere Wahl haben, als den historischen Weg seines Klassenkampfes gegen die Folgen der Ausbeutung wieder aufzunehmen. Durch diese Kämpfe kann es das Bewusstsein (das mit den Kampagnen über den „Tod des Kommunismus“ verloren ging) zurückgewinnen, eine eigenständige Klasse zu sein, die dem Kapitalismus antagonistisch gegenübersteht und nur auf die Solidarität ihrer verschiedenen Teile und ihre Einheit zählen kann ... es kann den Weg zurückfinden, auf dem es sich – eröffnet durch den Mai 1968 in Frankreich und die darauf folgenden Mobilisierungen weltweit – der Mittel, Ziele und Herausforderungen seines Kampfes bewusst wird.
- Der Erste Weltkrieg war ein Faktor, der das Bewusstsein für die Notwendigkeit, den Kapitalismus zu stürzen, schärfte, und gleichzeitig war er auch ein Mobilisierungsfaktor. Allerdings kam eine solche Mobilisierung (insbesondere die Verbrüderungen, die Mobilisierung von Arbeiterinnen usw.) nur dann wirklich zum Ausdruck, wenn sie sich auf eine starke Bewegung des Proletariats stützen konnte, die von „hinten“, von den Arbeitsplätzen aus, für die Verteidigung ihrer Lebensbedingungen aufbrach.
- Es wäre eine Selbsttäuschung und eine schwere Irreführung des Proletariats, wenn man glauben machen würde, dass seine Teile in der Ukraine oder in Russland heute sich gegen den Krieg mobilisieren können. Dies kann nur zu einer unverantwortlichen Überschätzung der Möglichkeiten führen, die sich dem Proletariat in diesen beiden Ländern bieten. Außerdem trägt eine solche Losung in der gegenwärtigen Weltlage dazu bei, das Weltproletariat von seiner Aufgabe abzulenken, den Kapitalismus durch die Entwicklung seines Klassenkampfes gegen die Angriffe des krisengeschüttelten Kapitalismus zu stürzen. Dieser stellt viel günstigere Bedingungen für die Revolution dar als der Krieg, da die Bourgeoisie die Entwicklung ihrer Wirtschaftskrise nicht aufhalten kann, während sie den Krieg durch Friedensschluss beenden und so die revolutionäre Dynamik entwaffnen und das Proletariat der Sieger- und der Besiegtenländer spalten kann, wie es in der weltweiten revolutionären Welle der ersten Nachkriegszeit der Fall war.[20]
- Die Losung vom "revolutionären Defätismus" hat den gleichen Fehler, das Weltproletariat von der Weltrevolution gegen den krisengeschüttelten Kapitalismus abzulenken. Hinzu kommt als weiterer Mangel, dass sie unterschiedliche Taktiken für die verschiedenen nationalen Fraktionen des Proletariats angesichts des Krieges befürwortet. Während einige die Niederlage ihrer eigenen Bourgeoisie anstreben sollten, um den revolutionären Prozess zu beschleunigen, soll das für die Proletarier auf der anderen Seite nicht gelten. Es ist daher kein Zufall, dass diese Losung bei Linken und anderen Hetzern für den imperialistischen Krieg so beliebt ist, die einen Fehler Lenins ausnutzen, der damals im Zusammenhang mit seinem unerschütterlichen Internationalismus völlig nebensächlich war.[21]
1981 hatte die Fähigkeit der Weltbourgeoisie, dem polnischen Proletariat eine Niederlage zuzufügen, indem sie die demokratischen und gewerkschaftlichen Illusionen dieses Teils des Weltproletariats ausnutzte, die IKS dazu veranlasst, Lenins Theorie vom schwächsten Glied in der imperialistischen Kette zu kritisieren, derzufolge ein Land mit einer weniger entwickelten Bourgeoisie die besten Möglichkeiten für eine siegreiche Revolution biete. Das Gegenteil ist der Fall. Es wird die Aufgabe des westeuropäischen Proletariats sein, sich mit den erfahrensten globalen Fraktionen der Bourgeoisie auseinanderzusetzen. Vom Ergebnis dieser Konfrontation wird ein weltweiter revolutionärer Kampf abhängen.
Silvio, 2. Juli 2022
[1] Siehe: Das westeuropäische Proletariat im Zentrum der Generalisierung des Klassenkampfes (1982), International Review Nr. 31 (englische, französische, spanische Ausgabe)
[2] Siehe: Über den 140. Jahrestag der Pariser Kommune, in International Review Nr. 146 (englische, französische, spanische Ausgabe)
[3] Siehe: Massenstreik in Polen 1980: Ein neuer Durchbruch wurde erreicht, in Internationale Revue Nr. 6 (deutsche Ausgabe)
[4] Siehe: Nach der Repression in Polen: Perspektiven für weltweite Klassenkämpfe, in International Review Nr. 29 (englische, französische, spanische Ausgabe)
[5] Siehe: Das westeuropäische Proletariat im Zentrum der Generalisierung des Klassenkampfes (1982), International Review Nr. 31 (englische, französische, spanische Ausgabe)
[6] In der amerikanischen Gesellschaft hat der Ausdruck „The Frontier“ eine spezifische Bedeutung, die sich auf ihre Geschichte bezieht. Während des 19. Jahrhunderts war einer der wichtigsten Aspekte der Entwicklung der Vereinigten Staaten die Ausbreitung des Industriekapitalismus nach Westen, was zur Besiedlung dieser Gebiete mit Bevölkerungsgruppen führte, die hauptsächlich aus Menschen europäischer oder afrikanischer Abstammung bestanden – natürlich auf Kosten der einheimischen Indianerstämme. Die Hoffnung, die mit „The Frontier“ verbunden war, prägte Geist und Ideologie in Amerika stark.
[7] Die Kommunen von Shanghai und Kanton, die 1927 von der Kuo-Min-Tang mit der Komplizenschaft der stalinisierten Kommunistischen Internationale blutig niedergeschlagen wurden, konnten nur winzige Spuren im Gedächtnis der Arbeiterklasse hinterlassen. Es wird gewaltige gesellschaftliche Umwälzungen brauchen, um diese Erfahrungen wieder zu aktiven Faktoren in der Entwicklung des Klassenbewusstseins des Proletariats in China zu machen.
[8] Wie die Kämpfe in Argentinien 1969 (der Cordobazo), in Ägypten, in Südafrika sowohl unter der Apartheid als auch unter der Herrschaft Nelson Mandelas ...
[9] Siehe: Das westeuropäische Proletariat im Zentrum der Generalisierung des Klassenkampfes (1982), International Review Nr. 31 (englische, französische, spanische Ausgabe)
[10] Resolution über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen [7] (2019), Internationale Revue Nr. 56, und Vor 50 Jahren, Mai 1968: Die Fortschritte und Rückzüge im Klassenkampf seit 1968 [8], IKSonline April 2019
[11] Siehe: Die Verhaftung Saddam Husseins, Verhandlungen über einen Frieden in Palästina: Es gibt keinen Frieden im Nahen Osten, in International Review Nr. 116 (englische, französische, spanische Ausgabe)
[12] China, Polen, Naher Osten, Streiks in der UdSSR und in den USA, in International Review Nr. 59 (englische, französische, spanische Ausgabe)
[13] Die „Orange Revolution“ in der Ukraine: das Gefängnis des Autoritarismus und der Demokratie, in International Review Nr. 126 (englische, französische, spanische Ausgabe)
[14] Siehe: Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks – Destabilisierung und Chaos [9], in Internationale Revue Nr. 12, 1990
[15] Siehe: Der Zerfall, die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus [10], in Internationale Revue Nr. 13, 1991
[16] „Das kollektive Handeln und die Solidarität stoßen mit der Atomisierung, dem "Jeder für sich", zusammen. - Das Bedürfnis nach Organisierung steht dem gesellschaftlichen Zerfall entgegen, der Zerstörung von Beziehungen, die erst ein gesellschaftliches Leben ermöglichen; - Die Zuversicht in die Zukunft und in die eigenen Kräfte wird ständig untergraben durch die allgemeine Hoffnungslosigkeit, die in der Gesellschaft durch den Nihilismus, durch die Ideologie des "No future" immer mehr überhand nimmt; - Das Bewußtsein, die Klarheit, die Kohärenz und Einheit im Denken, der Sinn für Theorie müssen sich mühsam ein Weg bahnen inmitten der Flucht in Trugbilder, der Drogen, Sekten, des Mystizismus, der Verweigerung des Nachdenkens und der Zerstörung des Denkens, die unsere Epoche charakterisieren.“ (Der Zerfall, die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus [10], Internationale Revue Nr. 13, 1991
[17] Siehe dazu: Vor 50 Jahren, Mai 1968: Die Fortschritte und Rückzüge im Klassenkampf seit 1968 [8], IKSonline April 2019; Resolution über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen [7] (2019), Internationale Revue Nr. 56; 24. Kongress der IKS: Resolution zur internationalen Lage [11], in Internationale Revue Nr. 57, 2021
[18] Internationales Flugblatt der IKS: Gegen die Angriffe der Bourgeoisie brauchen wir einen vereinten und massiven Kampf! [12]
[19] Siehe: Zimmerwald 1915-1917: vom Krieg zur Revolution Internationale in Revue Nr: 44 (1986) (englische, französische, spanische Ausgabe)
[20] Siehe: Militarismus und Zerfall (Mai 2022) [13] - Aktualisierung des Orientierungstextes von 1990, in Internationale Revue 58
[21] "Diese Losung wurde von Lenin während des Ersten Weltkriegs in den Vordergrund gestellt. Sie entsprach dem Wunsch, das Zaudern der "zentristischen" Elemente anzuprangern, die zwar "im Prinzip" darin übereinstimmten, jede Beteiligung am imperialistischen Krieg abzulehnen, aber dennoch dafür plädierten, mit dem Aufruf an die Arbeiter "ihres" Landes zu warten, bis die Arbeiter in den "feindlichen" Ländern bereit seien, den Kampf gegen diesen Krieg aufzunehmen. Zur Unterstützung dieser Position führten sie das Argument an, dass die Proletarier eines Landes, wenn sie den Proletariern der Feindesländer zuvorkämen, den Sieg der letzteren im imperialistischen Krieg begünstigen würden. Auf diesen bedingten "Internationalismus" antwortete Lenin ganz richtig, dass die Arbeiterklasse eines Landes keine gemeinsamen Interessen mit "ihrer" Bourgeoisie habe, wobei er insbesondere klarstellte, dass die Niederlage der Bourgeoisie ihren Kampf nur begünstigen könne, wie man bereits bei der Pariser Kommune (als Ergebnis der Niederlage gegen Preußen) und bei der Revolution von 1905 in Russland (geschlagen im Krieg gegen Japan) gesehen habe. Aus dieser Erkenntnis schloss er, dass jedes Proletariat die Niederlage "seiner" eigenen Bourgeoisie "herbeisehnen" müsse. Letztere Position war schon damals falsch, da sie dazu führte, dass die Revolutionäre in jedem Land für "ihr" Proletariat die günstigsten Bedingungen für die proletarische Revolution forderten, während die Revolution auf globaler Ebene und zunächst in den großen fortgeschrittenen Ländern (die alle in den Krieg verwickelt waren) stattfinden sollte. Bei Lenin führte die Schwäche dieser Position jedoch nie dazu, dass der kompromissloseste Internationalismus in Frage gestellt wurde", aus dem Artikel: Polemik: Das politische proletarische Milieu angesichts des Golfkrieges, in Revue internationale Nr. 64 (1991) (englische, französische, spanische Ausgabe)
Anhang | Größe |
---|---|
![]() | 45.45 KB |
Europa ist in den Krieg eingetreten. Es ist nicht das erste Mal seit der Schlächterei des Zweiten Weltkrieges von 1939-45. Anfang der 1990er Jahre hatte der Krieg im ehemaligen Jugoslawien gewütet und 140 000 Tote gefordert - mit Massenmorden an Zivilisten im Namen der "ethnischen Säuberung" wie in Srebrenica im Juli 1995, wo 8000 Männer und Jugendliche kaltblütig ermordet wurden. Der Krieg, der jetzt mit der Offensive der russischen Armeen gegen die Ukraine ausgebrochen ist, ist bislang nicht so tödlich, aber niemand weiß, wie viele Opfer er letztendlich fordern wird. Doch schon jetzt hat er ein viel größeres Ausmaß als der Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Heute stehen sich nicht Milizen oder Kleinstaaten gegenüber. Im aktuellen Krieg stehen sich die beiden größten Staaten Europas gegenüber, die 150 bzw. 45 Millionen Einwohner haben und über gewaltige Armeen verfügen: 700.000 Soldaten in Russland und über 250.000 in der Ukraine.
Die Großmächte hatten sich bereits in die Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien eingemischt, wenn auch nur indirekt oder durch die Beteiligung an "Interventionsstreitkräften" unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen. Heute kämpft Russland nicht nur gegen die Ukraine, sondern gegen alle in der NATO zusammengeschlossenen westlichen Länder, die sich zwar nicht direkt an den Kämpfen beteiligen, aber erhebliche Wirtschaftssanktionen gegen das Land verhängt haben, während sie gleichzeitig damit begonnen haben Waffen an die Ukraine zu liefern.
Der jetzt begonnene Krieg ist ein dramatisches Ereignis von größter Bedeutung, in erster Linie für Europa, aber auch für die ganze Welt. Er hat bereits Tausende von Soldaten auf beiden Seiten und Zivilisten das Leben gekostet. Er hat Hunderttausende von Flüchtlingen in die Flucht getrieben. Er wird zu weiteren Preissteigerungen bei Energie und Getreide führen, was Kälte und Hunger bedeutet, während in den meisten Ländern der Welt die Ausgebeuteten, und die Ärmsten der Armen, bereits mitansehen mussten, wie ihre Lebensbedingungen angesichts der Inflation zusammenbrachen. Wie immer ist es die Klasse, welche den Großteil des gesellschaftlichen Reichtums produziert, die Arbeiterklasse, die den höchsten Preis für die kriegerischen Machenschaften der Herren der Welt bezahlen wird.
Man kann diese Kriegstragödie nicht von der gesamten Weltlage der letzten zwei Jahre trennen: der Pandemie, der Verschärfung der Wirtschaftskrise, der Vervielfachung der Umweltkatastrophen. Dieser Krieg ist ein klarer Ausdruck dafür, dass die Welt in die Barbarei abgleitet.
Jeder Krieg wird von massiven Lügenkampagnen begleitet. Um die Bevölkerung und insbesondere die Ausgebeuteten dazu zu bringen, die schrecklichen Opfer zu akzeptieren die von ihnen verlangt werden, die Aufopferung des Lebens derjenigen die an die Front geschickt werden, die Trauer ihrer Mütter, Gefährtinnen und Kinder, der Terror gegen die Zivilbevölkerung, die Entbehrungen und die Verschärfung der Ausbeutung, dafür werden ihnen Lügen aufgetischt.
Putins Lügen sind plump und nach dem Vorbild des ehemaligen Sowjetregimes, in dem er seine Karriere als Offizier des KGB, der Organisation der politischen Polizei und des Spionagedienstes, begann. Er behauptet, eine "militärische Spezial-Operation" durchzuführen, um den Menschen im Donbass zu helfen, die Opfer eines "Völkermords" geworden seien. Er verbietet den Medien unter Androhung von Sanktionen, das Wort "Krieg" zu verwenden. Nach seinen Angaben will er die Ukraine vom "Nazi-Regime" befreien, das dort regiere. Es stimmt zwar, dass die russischsprachige Bevölkerung im Osten der Ukraine der Verfolgung durch ukrainische nationalistische Milizen, die nicht selten dem Nazi-Regime nachtrauern ausgesetzt ist, aber es gibt keinen Völkermord.
Die Lügen der westlichen Regierungen und Medien sind in der Regel subtiler. Nicht immer übrigens: Die USA und ihre Verbündeten, darunter das sehr "demokratische" Grossbritannien, Spanien, Italien... sowie die Ukraine (!), verkauften uns damals die Intervention im Irak 2003 im Namen der – völlig erfundenen – Bedrohung durch "Massenvernichtungswaffen" in den Händen von Saddam Hussein. Diese Intervention forderte mehrere hunderttausend Tote und zwei Millionen Flüchtlinge unter der irakischen Bevölkerung, sowie mehrere Zehntausend getötete Soldaten der Koalition.
Heute servieren uns die "demokratischen" Führer und die Medien des Westens die Fabel vom Kampf zwischen dem "bösen Teufel" Putin und dem "sympathischen Unschuldigen" Selensky. Dass Putin ein zynischer Verbrecher ist, wussten wir schon lange. Dazu hat er das passende Aussehen. Selensky profitiert davon, dass er nicht so viele Straftaten begangen hat wie Putin und dass er vor seinem Eintritt in die Politik ein beliebter Komödiendarsteller war (und deshalb auch über ein großes Vermögen in Steuerparadiesen verfügt). Sein komödiantisches Talent hat es ihm nun ermöglicht, seine neue Rolle als Kriegsherr zu übernehmen, der Männern zwischen 18 und 60 Jahren verbietet, ihre Familien ins Ausland zu begleiten, der die Ukrainer dazu aufruft, sich für "ihr Vaterland", d.h. für die Interessen der ukrainischen herrschenden Klasse und der Oligarchen töten zu lassen. Denn unabhängig von der Couleur der regierenden Parteien und dem Tonfall ihrer Reden, sind alle Nationalstaaten in erster Linie Verteidiger der Interessen der ausbeutenden Klasse – der nationalen Bourgeoisie gegenüber den Ausgebeuteten –, und der Konkurrenz mit anderen nationalen Bourgeoisien.
In der Kriegspropaganda stellt sich jeder beteiligte Staat als der "Angegriffene" dar, der sich gegen den "Aggressor" verteidigen muss. Da aber alle Staaten in Wirklichkeit Räuber sind, ist es müßig sich zu fragen welcher Räuber beim militärischen Zusammenstoss zuerst geschossen hat. Heute hat Putins Russland zuerst losgeschlagen, doch zuvor hatte die NATO unter US-amerikanischer Führung eine Vielzahl von Ländern in ihre Reihen aufgenommen, die vor dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Sowjetunion von Russland dominiert wurden. Indem er die Initiative zum Krieg ergreift, will der Räuber Putin einen Teil der früheren Macht seines Landes zurückgewinnen, insbesondere indem er die Ukraine daran hindert, der NATO beizutreten.
In Wirklichkeit ist der permanente Krieg, mit all dem schrecklichen Leid das er verursacht, seit Beginn des 20. Jahrhunderts untrennbar mit dem kapitalistischen System verbunden. Einem System, das auf der Konkurrenz zwischen Unternehmen und zwischen Staaten beruht, in dem der Handelskrieg in den Krieg der Waffen mündet, in dem die Verschärfung seiner wirtschaftlichen Widersprüche und seiner Krise die kriegerischen Konflikte immer mehr anheizt. Ein System, das auf Profit und der grausamen Ausbeutung der Produzenten beruht, in dem letztere gezwungen sind Blutgeld zu zahlen, nachdem sie zuvor den Preis der Ausbeutung bezahlt haben.
Seit 2015 sind die weltweiten Militärausgaben stark angestiegen. Dieser Krieg hat diesen Prozess nun noch einmal brutal beschleunigt. Ein Symbol dieser Todesspirale ist Deutschland, das begonnen hat Waffen an die Ukraine zu liefern, ein historisches Novum seit dem Zweiten Weltkrieg. Zum ersten Mal finanziert die Europäische Union den Kauf und die Lieferung von Waffen an die Ukraine. Und nun die offenen Drohungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin, Atomwaffen einzusetzen, um seine Entschlossenheit und seine Zerstörungskraft zu beweisen.
Niemand kann genau vorhersagen, wie sich dieser Krieg entwickeln wird, auch wenn Russland über eine viel stärkere Armee als die Ukraine verfügt. Es gibt auf der ganzen Welt, und auch in Russland selbst, zahlreiche Demonstrationen gegen den Einmarsch in die Ukraine. Aber es sind nicht diese Demonstrationen, die die Feindseligkeiten beenden können. Die Geschichte hat gezeigt, dass die einzige Kraft, die den kapitalistischen Krieg beenden kann die ausgebeutete Klasse ist, das Proletariat, der direkte Feind der bürgerlichen Klasse. Das war der Fall, als die Arbeiterklasse in Russland im Oktober 1917 den bürgerlichen Staat stürzte und als die Arbeiter und Soldaten in Deutschland im November 1918 aufbegehrten und die Regierung zwangen, den Waffenstillstand zu unterzeichnen. Dass Putin nun hunderttausende Soldaten in die Ukraine in den Tod schicken kann, dass viele Ukrainer heute bereit sind, ihr Leben für die "Verteidigung des Vaterlandes" zu opfern, liegt zum großen Teil daran, dass die Arbeiterklasse in diesem Teil der Welt besonders geschwächt ist. Der Zusammenbruch der Regime im Jahr 1989, die sich heuchlerisch als "sozialistisch" oder als "Arbeiterstaaten" bezeichneten, war ein brutaler Schlag gegen die weltweite Arbeiterklasse. Dieser Schlag traf die Arbeiterklasse, die seit 1968 und in den 1970er Jahren in Ländern wie Frankreich, Italien oder Großbritannien massive Kämpfe geführt hatte. Aber noch viel mehr traf er die Arbeiterklasse in den angeblich "sozialistischen" Ländern wie Polen, die im August 1980 massiv und mit großer Entschlossenheit kämpften und die Regierung dazu zwangen, auf Repressionen zu verzichten und ihre Forderungen zu erfüllen.
Echte Solidarität mit den Opfern des Krieges, mit der Zivilbevölkerung und mit den Soldaten beider Seiten, die als Proletarier in Uniform zu Kanonenfutter gemacht wurden, lässt sich mitnichten dadurch erreichen, dass man "für den Frieden" demonstriert oder sich sogar dafür entscheidet, ein Land gegen ein anderes zu unterstützen. Die einzige Solidarität besteht darin, ALLE kapitalistischen Staaten zu denunzieren, ALLE Parteien, die dazu aufrufen, sich hinter diese oder jene Nationalflagge zu stellen, ALLE die uns mit der Illusion von Frieden und "guten Beziehungen" zwischen den Völkern täuschen. Die einzige Solidarität die wirklich etwas bewirken kann, ist die Entwicklung massiver und bewusster Kämpfe der Arbeiterklasse auf der ganzen Welt. Und dies insbesondere im Bewusstsein, dass sie eine Vorbereitung für den Sturz des Systems darstellen, welches für Kriege und all die Barbarei verantwortlich ist die die Menschheit zunehmend bedroht: den Kapitalismus.
Heute stehen mehr denn je die alten Losungen der Arbeiterbewegung auf der Tagesordnung, die im Manifest der Kommunistischen Partei von 1848 enthalten waren: Proletarier haben kein Vaterland! Proletarier aller Länder, vereinigt euch!
Für den Klassenkampf des internationalen Proletariats!
Internationale Kommunistische Strömung IKS
28. Februar 2022
Die IKS verabschiedete im Mai 1990 die Thesen „Der Zerfall: die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus [10]“ (Internationale Revue Nr. 13 [15]) wenige Monate nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, der dem Zusammenbruch der Sowjetunion vorausging. Die Falle, die die USA Saddam Hussein stellten und die dazu führte, dass dieser Anfang August 1990 in Kuwait einmarschierte, und die anschließende Zusammenballung der US-Streitkräfte in Saudi-Arabien waren eine erste Folge des Verschwindens des Ostblocks und der Versuch der US-Macht, die Reihen der Atlantischen Allianz zu schließen, die durch das Verschwinden ihres östlichen Gegners vom Zerfall bedroht war. Aufgrund dieser Ereignisse, die die militärische Offensive der wichtigsten westlichen Länder unter Führung der USA gegen den Irak vorbereiteten, diskutierte und verabschiedete die IKS im Oktober 1990 einen "Orientierungstext: Militarismus und Zerfall [2]“ (Internationale Revue Nr. 13 [15]), der eine Ergänzung zu den „Thesen über den Zerfall“ darstellte.
Auf dem 22. Internationalen Kongress 2017 verabschiedete die IKS eine Aktualisierung der „Thesen zum Zerfall“ ("Bericht über den Zerfall heute [16]", Internationale Revue Nr. 56, 2020), die im Wesentlichen den 27 Jahre zuvor verabschiedeten Text bestätigten. Heute veranlasst uns der Krieg in der Ukraine dazu, ein ergänzendes Dokument zur Frage des Militarismus zu erstellen, das dem Dokument vom Oktober 1990 ähnlich ist und eine Aktualisierung darstellt. Ein solches Vorgehen ist umso notwendiger, als der Fehler, den wir begingen, als wir den Ausbruch dieses Krieges nicht vorhersahen, darauf zurückzuführen war, dass wir den analytischen Rahmen vergessen hatten, den sich die IKS seit mehreren Jahrzehnten zur Frage des Krieges in der Periode des kapitalistischen Niedergangs gegeben hatte.
1) Der Text "Militarismus und Zerfall [2]" von 1990 erinnert in Punkt 1 an den lebendigen Charakter der marxistischen Methode und die Notwendigkeit, die Analysen, die wir in der Vergangenheit gemacht haben, ständig mit den neuen Realitäten zu konfrontieren, die uns begegnen, sei es, um jene zu kritisieren, zu bestätigen oder anzupassen und zu präzisieren. Es ist nicht notwendig, in diesem Text weiter darauf einzugehen. Angesichts der Fehlinterpretationen des aktuellen Krieges in der Ukraine, die uns von einigen bürgerlichen "Experten", aber auch von der Mehrheit der Gruppen des Proletarischen Politischen Milieus (PPM) geliefert werden, ist es jedoch sinnvoll, auf die Grundlagen der marxistischen Methode in Bezug auf die Frage des Krieges und allgemeiner auf den historischen Materialismus zurückzukommen.
Diesem liegt die Idee zugrunde: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen“ (Marx, "Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie [17]"). Diese Vorrangstellung der materiellen wirtschaftlichen Basis gegenüber anderen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens ist oft Gegenstand einer mechanischen und reduktionistischen Interpretation gewesen. Dies ist eine Tatsache, die Engels in einem Brief an Joseph Bloch vom 21. September 1890 (und in vielen anderen Texten) feststellt und kritisiert: "Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus - politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate – Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. - Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schließlich durch alle die unendliche Menge von Zufälligkeiten (d.h. von Dingen und Ereignissen, deren innerer Zusammenhang untereinander so entfernt oder so unnachweisbar ist, daß wir ihn als nicht vorhanden betrachten, vernachlässigen können) als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt.“ (MEW, Band 37, S. 463)
Natürlich kann man von den "Experten" der Bourgeoisie nicht verlangen, dass sie sich auf die marxistische Methode stützen. Andererseits ist es traurig, dass viele Organisationen, die sich ausdrücklich zum Marxismus bekennen und diese Methode in Bezug auf die Grundprinzipien der Arbeiterbewegung wie den proletarischen Internationalismus tatsächlich vertreten, bei der Analyse der Kriegsursachen nicht an die von Engels vertretene, sondern an die von ihm kritisierte Sichtweise anknüpfen. So konnten wir in Bezug auf den Golfkrieg 1990-91 Folgendes lesen: "Die Vereinigten Staaten definierten ungeschminkt das 'amerikanische nationale Interesse', das sie handeln ließ: die Sicherung einer stabilen Versorgung mit dem im Golf geförderten Öl zu einem angemessenen Preis: dasselbe Interesse, das sie den Irak gegen den Iran unterstützen ließ, lässt sie jetzt Saudi-Arabien und die Petromonarchien gegen den Irak unterstützen." (Flugblatt der IKP - Le Prolétaire) Oder: "In Wirklichkeit ist die Golfkrise wirklich eine Krise für das Öl und für diejenigen, die es kontrollieren. Ohne billiges Öl werden die Profite sinken. Die Profite des westlichen Kapitalismus sind bedroht, und aus diesem und keinem anderen Grund bereiten die USA ein Blutbad im Nahen Osten vor ...". (Flugblatt der CWO, Sektion der Internationalist Communist Tendency in Großbritannien). Eine Analyse, die von der italienischen IKT-Sektion Battaglia Comunista ergänzt wird: "Öl, das direkt oder indirekt in fast allen Produktionszyklen vorkommt, hat ein entscheidendes Gewicht im Prozess der monopolistischen Rentenbildung, und dementsprechend ist die Kontrolle seines Preises von lebenswichtiger Bedeutung (...). Mit einer Wirtschaft, die eindeutig Anzeichen einer Rezession zeigt, einer Staatsverschuldung von erschreckendem Ausmaß und einem Produktionsapparat, der im Vergleich zu den europäischen und japanischen Konkurrenten ein großes Produktivitätsdefizit aufweist, können es sich die USA derzeit nicht im Geringsten leisten, die Kontrolle über eine der grundlegenden Variablen der gesamten Weltwirtschaft zu verlieren: den Ölpreis." Was seit über 30 Jahren im Nahen Osten geschieht, widerlegt eine solche Analyse. Die verschiedenen Abenteuer der USA in dieser Region (wie der 2003 von der Regierung Bush junior begonnene Krieg) haben der amerikanischen Bourgeoisie unvergleichlich höhere wirtschaftliche Kosten verursacht als alles, was ihr die Kontrolle des Ölpreises eingebracht hat (wenn sie denn durch diese Kriege überhaupt eine solche Kontrolle ausüben konnte).
Heute kann der Krieg in der Ukraine keine direkt wirtschaftlichen Ziele haben. Weder für Russland, das die Kampfhandlungen am 24. Februar 2022 begann, noch für die USA, die seit mehr als zwei Jahrzehnten die Schwächung Russlands nach dem Zusammenbruch seines Reiches 1989 ausgenutzt haben, um die Ausdehnung der NATO bis an die Grenzen des Landes voranzutreiben. Wenn es Russland gelingt, seine Kontrolle über weitere Teile der Ukraine zu etablieren, wird es mit horrenden Ausgaben für den Wiederaufbau von Gebieten konfrontiert werden, die es gerade verwüstet. Darüber hinaus werden die Wirtschaftssanktionen, die seitens der westlichen Länder eingeführt werden, die ohnehin schon schwache Wirtschaft der Ukraine langfristig weiter schwächen. Auf westlicher Seite werden diese Sanktionen ebenfalls erhebliche Kosten verursachen, ganz zu schweigen von der Militärhilfe für die Ukraine, die sich bereits auf zig Milliarden Dollar beläuft. Tatsächlich ist der aktuelle Krieg eine weitere Illustration der Analysen der IKS zur Frage des Krieges in der Periode des kapitalistischen Niedergangs und insbesondere in der Zerfallsphase, die den Höhepunkt dieses Niedergangs darstellt.
2) Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat die Arbeiterbewegung herausgestellt, dass Imperialismus und imperialistischer Krieg die bedeutendste Erscheinungsform des Eintritts der kapitalistischen Produktionsweise in ihre historische Niedergangsphase, ihre Dekadenz, darstellen. Dieser Wechsel der historischen Periode brachte eine grundlegende Veränderung in den Ursachen der Kriege mit sich. Die Kommunistische Linke Frankreichs hat die Züge dieser Veränderung auf eine sehr erhellende Weise präzisiert: "In der Epoche des aufsteigenden Kapitalismus drückten Kriege (ob nationale, koloniale oder imperialistische Eroberungen) die aufstrebende Bewegung, die Reifung, Stärkung und Ausdehnung des kapitalistischen Wirtschaftssystems aus. Die kapitalistische Produktion fand im Krieg die Fortsetzung ihrer Wirtschaftspolitik mit anderen Mitteln. Jeder Krieg rechtfertigte sich und zahlte sich aus, indem er ein neues Feld für noch größere Expansionen öffnete, die kapitalistische Weiterentwicklung sicherte.
In der Epoche des dekadenten Kapitalismus drückt der Krieg genauso wie der Frieden diese Dekadenz aus und beschleunigt sie außerordentlich.
Es wäre falsch, den Krieg als etwas Negatives schlechthin zu betrachten, als Zerstörer und Fessel der gesellschaftlichen Entwicklung, dem Frieden entgegengesetzt, der als der normale, positive Weg einer ununterbrochenen Entwicklung der Produktion und der Gesellschaft erscheint. Dies hieße, ein moralistisches Konzept in einen objektiven, ökonomisch bestimmten Verlauf einzuführen.
Der Krieg war ein unabdingbares Mittel, mit welchem der Kapitalismus sich unerschlossene Gebiete für die Entwicklung eröffnete, zu einer Zeit, als solche Gebiete noch existierten und nur mit Gewalt erschlossen werden konnten. Auf derselben Weise findet die kapitalistische Welt, nachdem historisch alle Entwicklungsmöglichkeiten erschöpft sind, im modernen imperialistischen Krieg den Ausdruck ihres Zusammenbruchs, der die Produktivkräfte nur noch tiefer in den Abgrund reißt und nur noch schneller Ruine auf Ruine häuft.
Im Kapitalismus gibt es keinen grundlegenden Widerspruch zwischen Krieg und Frieden, aber es gibt einen Unterschied zwischen der Phase des Aufstiegs und des Verfalls der kapitalistischen Gesellschaft und somit einen Unterschied im Wesen des Krieges (und im Verhältnis zwischen Krieg und Frieden) in den jeweiligen Phasen. Während der ersten Phase besitzt der Krieg die Funktion, eine Expansion des Marktes und damit der Produktionsmittel der Konsumgüter zu gewährleisten; dagegen ist während der zweiten Phase die Produktion hauptsächlich auf die Produktion von Zerstörungsmittel, d.h. auf den Krieg, ausgerichtet. Die Dekadenz der kapitalistischen Gesellschaft findet ihren treffendsten Ausdruck in der Tatsache, dass in der dekadenten Periode die wirtschaftlichen Aktivitäten hauptsächlich auf Krieg eingestellt sind, wohingegen in der aufsteigenden Phase die Kriege dem wirtschaftlichen Entwicklungsprozess dienten.
Das bedeutet nicht, dass der Krieg zum Ziel der kapitalistischen Produktion geworden ist, da dies die Erzeugung von Mehrwert bleibt. Aber es bedeutet, dass der Krieg zur permanenten Lebensform des dekadenten Kapitalismus wird."
(Bericht an die Konferenz der Kommunistischen Linken Frankreichs im Juli 1945, wiedergegeben im "Bericht über den Historischen Kurs [18]", angenommen auf dem 3. Kongress der IKS, Internationale Revue Nr. 5).
Diese 1945 formulierte Analyse hat sich seitdem als grundsätzlich gültig erwiesen, selbst wenn es keinen neuen Weltkrieg gegeben hat. Seit jener Zeit hat die Welt mehr als 100 Kriege erlebt, die mindestens so viele Todesopfer gefordert haben wie der Zweite Weltkrieg. Eine Situation, die sich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Ende des "Kalten Krieges", die die erste große Manifestation des Eintritts des Kapitalismus in seine Zerfallsphase darstellten, fortsetzte und sogar noch verschärfte. Unser Text von 1990 kündigte dies bereits an: "Der allgemeine Zerfall der Gesellschaft stellt die letzte Phase in der Epoche der Dekadenz des Kapitalismus dar. In diesem Sinne werden in dieser Phase die typischen Charakteristiken der Dekadenzperiode nicht hinfällig: die historische Krise der kapitalistischen Ökonomie, der Staatskapitalismus und auch die grundlegenden Phänomene wie der Militarismus und der Imperialismus. Mehr noch: in dem Maße, wie der Zerfall sich als der Höhepunkt der Widersprüche präsentiert, derer sich der Kapitalismus seit dem Beginn seiner Dekadenz in wachsendem Maße erwehren muß, spitzen sich auch die typischen Charakteristiken dieser Periode in der ultimativen Phase der Dekadenz zu (…)
Genausowenig wie das Ende des Stalinismus die historische Tendenz des Staatskapitalismus infrage stellt, von dem er nur ein Ausdruck war, impliziert das gegenwärtige Verschwinden der Blöcke eine Verringerung oder gar Infragestellung des beherrschenden Einflusses des Imperialismus auf die Gesellschaft. Der fundamentale Unterschied liegt in der Tatsache, daß, wenn das Ende des Stalinismus der Eliminierung einer besonders absurden Form des Staatskapitalismus gleich kam, das Ende der Blöcke die Tür zu einer noch barbarischeren, absurderen, chaotischeren Form des Imperialismus öffnet." (Militarismus und Zerfall). Der Golfkrieg 1990-91, die Kriege im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren, der 11-jährige Irakkrieg ab 2003, der 20-jährige Krieg in Afghanistan und viele kleinere Kriege, vor allem in Afrika, haben diese Vorhersage bestätigt.
Der Krieg in der Ukraine, d. h. im Herzen Europas, hat diese Realität erneut und in noch viel größerem Ausmaß verdeutlicht. Er ist eine beredte Bestätigung der These der IKS über die völlige Irrationalität des Krieges im Niedergang des Kapitalismus aus der Perspektive der globalen Interessen dieses Systems (siehe den Text "Bedeutung und Auswirkungen des Krieges in der Ukraine", Internationale Revue Nr. 168, angenommen im Mai 2022).
3) Obwohl die Unterscheidung zwischen den Kriegen des 19. und des 20. Jahrhunderts, wie sie im GCF-Text von 1945 gemacht wird, absolut gültig ist und die Aussage "Die Dekadenz der kapitalistischen Gesellschaft findet ihren treffendsten Ausdruck in der Tatsache, dass in der dekadenten Periode die wirtschaftlichen Aktivitäten hauptsächlich auf Krieg eingestellt sind, wohingegen in der aufsteigenden Phase die Kriege dem wirtschaftlichen Entwicklungsprozess dienten“ (siehe oben), im Großen und Ganzen richtig ist, kann man nicht jedem der Kriege im 19. Jahrhundert eine direkt ökonomische Ursache zuordnen. Beispielsweise hatten die napoleonischen Kriege für die französische Bourgeoisie katastrophale Kosten, was sie letztlich gegenüber der englischen Bourgeoisie erheblich schwächte und dieser den Weg zu deren dominanten Position Mitte des 19. Jahrhunderts erleichterte. Dasselbe gilt für den Krieg von 1870 zwischen Preußen und Frankreich. Im letzteren Fall hat Marx (in der "Ersten Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg") den Begriff "dynastischer Krieg" aufgegriffen, mit dem die französischen und deutschen Arbeiter diesen Krieg bezeichneten. Auf deutscher Seite strebte der preußische König die Bildung eines Imperiums an, indem er die Vielzahl kleiner germanischer Staaten, denen es zuvor nur gelungen war, eine Zollunion (Zollverein) zu bilden, um seine Krone gruppierte. Die Annexion von Elsass-Lothringen war das Geschenk dieser Ehe. Für Napoleon III. war der Krieg im Wesentlichen darauf ausgerichtet, eine politische Struktur, das Zweite Kaiserreich, zu stärken, die durch die industrielle Entwicklung Frankreichs bedroht war. Auf preußischer Seite, jenseits der Ambitionen des Monarchen, ermöglichte dieser Krieg die Schaffung einer politischen Einheit Deutschlands, was den Grundstein für die volle industrielle Entwicklung dieses Landes legte, während er auf französischer Seite völlig reaktionär war. In der Tat ist dieser Krieg ein perfektes Beispiel für Engels' Darstellung des historischen Materialismus. Man sieht, wie der Überbau der Gesellschaft, insbesondere die politischen und ideologischen Elemente (die Regierungsform und die Schaffung eines Nationalgefühls), eine sehr wichtige Rolle für den Verlauf der Ereignisse spielen. Gleichzeitig sieht man, wie sich die ökonomische Basis der Gesellschaft mit der Verwirklichung der industriellen Entwicklung Deutschlands und damit des gesamten Kapitalismus in letzter Instanz durchsetzt.
Tatsächlich vergessen Analysen, die sich als "materialistisch" bezeichnen, indem sie in jedem Krieg nach einer wirtschaftlichen Ursache suchen, dass der marxistische Materialismus auch dialektisch ist. Und dieses "Vergessen" wird zu einem erheblichen Hindernis für das Verständnis der imperialistischen Konflikte unserer Zeit, während diese gerade durch die enorme Stärkung des Militarismus im Leben der Gesellschaft gekennzeichnet ist.
4) Der Text "Militarismus und Zerfall" aus dem Jahr 1990 widmet einen wichtigen Teil der Rolle, die die amerikanische Macht in den imperialistischen Konflikten der beginnenden Periode einnehmen sollte: „In der neuen historischen Epoche, in die wir eingetreten sind und die von den Ereignissen am Persischen Golf bestätigt wird, zeigt sich die Welt als ein riesiger Hexenkessel, in dem die Tendenz zum "Jeder für sich" voll zum Tragen kommt und in dem die zwischenstaatlichen Allianzen weit entfernt von jener Stabilität sind, die die Blöcke auszeichnen, sondern von den Bedürfnissen des Moments diktiert sind. Eine Welt in tödlicher Unordnung, in blutigem Chaos, in dem der amerikanische Gendarm für ein Minimum an Ordnung durch den immer massiveren und brutaleren Einsatz seiner Militärmacht zu sorgen versucht.“
Diese Rolle des "Weltpolizisten" haben die USA in gewisser Weise auch nach dem Zusammenbruch ihres Rivalen aus dem Kalten Krieg weitergespielt, wie man in Jugoslawien, insbesondere Ende der 1990er Jahre, und vor allem im Nahen Osten seit Beginn des 21. Jahrhunderts (namentlich in Afghanistan und im Irak) gesehen hat. Sie haben diese Rolle auch in Europa übernommen, indem sie neue Länder in die von ihnen kontrollierte Militärorganisation NATO aufgenommen haben, Länder, die zuvor Teil des Warschauer Pakts oder sogar der UdSSR waren (Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Tschechische Republik, Ungarn). Die Frage, die sich bereits 1990 mit dem Ende der Aufteilung der Welt zwischen dem Westblock und dem Ostblock stellte, war die nach einer neuen Aufteilung der Welt, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden hatte: „Bislang hat im Zeitalter der Dekadenz solch eine Situation der "Zersplitterung" der imperialistischen Antagonismen in Abwesenheit von Blöcken (oder von Schlüsselregionen), die die Welt unter sich aufgeteilt haben, nie lange angedauert. Das Verschwinden der imperialistischen Konstellation, die aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen war, trug die Tendenz zur Bildung zweier neuer Blöcke in sich.“ (Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks - Destabilisierung und Chaos [9]) Gleichzeitig wies der Text auf alle Hindernisse hin, die einem solchen Prozess im Wege stehen, insbesondere auf den Zerfall des Kapitalismus: "Darüberhinaus, und langfristig der wichtigste Aspekt, wird die Tendenz zur Aufteilung der Welt zwischen zwei neuen Blöcken durch das sich immer mehr zuspitzende und ausdehnende Phänomen des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft konterkariert oder gar irreparabel geschädigt, wie wir bereits hervorgehoben haben“ (ebenda). Diese Analyse wurde in dem Grundsatztext "Militarismus und Zerfall" entwickelt und drei Jahrzehnte später durch das Ausbleiben einer solchen Aufteilung der Welt zwischen zwei Militärblöcken bestätigt. Der Text "Bedeutung und Auswirkungen des Krieges in der Ukraine [19]" führt dieses Thema weiter aus und stützt sich dabei weitgehend auf den Text von 1990, um zu verdeutlichen, dass die Wiederherstellung zweier imperialistischer Blöcke, die die Welt unter sich aufteilen, immer noch nicht auf der Tagesordnung steht. Es mag sich lohnen, daran zu erinnern, was wir 1990 schrieben:
"So konnte es zu Anfang der Dekadenzperiode und bis in die ersten Jahre des Zweiten Weltkriegs hinein eine gewisse "Parität" zwischen verschiedenen Partnern einer imperialistischen Koalition geben, obgleich es stets die Notwendigkeit eines Platzhirsches gab. Zum Beispiel existierte im Ersten Weltkrieg in Bezug auf die einsatzfähige militärische Schlagkraft keine grundlegende Disparität zwischen den drei "Siegern": Großbritannien, Frankreich und den USA. Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges jedoch hatte sich die Lage beträchtlich verändert, denn die "Sieger" gerieten nunmehr in eine enge Abhängigkeit von den USA, die eine erhebliche Überlegenheit gegenüber ihren "Verbündeten" ausübten. Diese verstärkte sich noch im Verlauf des gesamten "Kalten Krieges" (der jetzt zu Ende geht), als beide Blockführer, die USA und die UdSSR, durch die Kontrolle über die zerstörerischsten Atomwaffen über eine absolut erdrückende Überlegenheit gegenüber den anderen Ländern ihres Blocks verfügten. Eine solche Tendenz erklärt sich aus der Tatsache, daß mit dem Versinken des Kapitalismus in seiner Dekadenz:
- die Herausforderungen und die Dimension der Konflikte zwischen den Blöcken immer globalere, allgemeinere Ausmaße annehmen (je mehr Gangster kontrolliert werden müssen, desto stärker muß der "Gangsterboß" sein);
- die Waffensysteme immer wahnwitzigere Investitionen erfordern (insbesondere können nur die ganz großen Länder die für den Aufbau von kompletten Atomwaffenarsenalen erforderlichen Ressourcen bereitstellen und ausreichende Mittel in die Entwicklung der komplizierter Waffensysteme stecken);
- vor allem die zentrifugalen Tendenzen zwischen den Staaten, die aus der Zuspitzung der nationalen Gegensätze resultieren, sich nur weiter verstärken können.
Mit diesem letztgenannten Faktor verhält sich so wie mit dem Staatskapitalismus: je mehr sich die verschiedenen Fraktionen einer nationalen Bourgeoisie unter dem Druck der Krise und der damit angefachten Konkurrenz zerfleischen, umso mehr muß sich der Staat verstärken, um seine Autorität über sie auszuüben. Und je mehr Schäden die historische Krise und ihre offene Form anrichtet, desto stärker muß ein Blockführer sein, um die Auflösungstendenzen der verschiedenen nationalen Fraktionen einzugrenzen und zu kontrollieren. Es liegt auf der Hand, daß sich in der letzten Phase der Dekadenz, im Zerfall, ein solches Phänomen nur noch ins Unermeßliche steigern kann.
Wegen all dieser Gründe und insbesondere aufgrund des letztgenannten ist die Bildung einer neuen imperialistischen Blockkonstellation nicht nur in den nächsten Jahren unmöglich, sondern wird möglicherweise nie mehr eintreten: entweder die proletarische Revolution oder die Zerstörung der Menschheit wird dem zuvorkommen.“ (Militarismus und Zerfall)
Diese Analyse ist auch heute noch voll und ganz gültig, aber wir müssen darauf hinweisen, dass wir in dem Text von 1990 völlig außer Acht gelassen hatten, dass China eines Tages zu einem neuen Blockführer werden könnte, obwohl heute klar ist, dass sich China zum Hauptrivalen der USA entwickelt. Hinter dieser Auslassung steckte ein großer Analysefehler: Wir hatten nicht die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass China eine Wirtschaftsmacht ersten Ranges werden könnte, was eine Voraussetzung dafür ist, dass ein Land die Führungsrolle in einem imperialistischen Block beanspruchen kann. Das hat die chinesische Bourgeoisie übrigens sehr gut verstanden: Sie kann nur dann mit der amerikanischen Bourgeoisie militärisch konkurrieren, wenn sie eine wirtschaftliche und technologische Stärke aufbaut, die ihre militärische Stärke unterstützen kann, sonst droht ihr das gleiche Schicksal wie der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre. Unter anderem aus diesem Grund kann China, auch wenn es seine militärischen Ambitionen (insbesondere in Bezug auf Taiwan) zunehmend ausbreitet, noch lange nicht behaupten, dass es einen neuen imperialistischen Block um sich herum gruppieren kann.
5) Der Krieg in der Ukraine hat die Sorgen über einen Dritten Weltkrieg wieder aufleben lassen, insbesondere durch Putins Drohungen mit Atomwaffen. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass es sich mit dem Weltkrieg genauso verhält wie mit den imperialistischen Blöcken. In der Tat stellt ein Weltkrieg die letzte Phase der Blockbildung dar. Genauer gesagt, weil es konstituierte imperialistische Blöcke gibt, kann ein Krieg, der zunächst nur eine begrenzte Anzahl von Ländern betrifft, durch das Handeln der Allianzen zu einem allgemeinen Flächenbrand eskalieren. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, dessen tiefere historische Ursachen in der Verschärfung der imperialistischen Rivalitäten zwischen den europäischen Mächten lagen, erfolgte in Form einer Verkettung von Situationen, in denen die verschiedenen Alliierten nach und nach in den Konflikt eintraten: Österreich-Ungarn wollte mit Unterstützung seines Verbündeten Deutschland die Ermordung des Thronfolgers in Sarajevo am 28. Juni 1914 nutzen, um das Königreich Serbien, das beschuldigt wurde, den Nationalismus der serbischen Minderheiten in Österreich-Ungarn zu schüren, in die Schranken zu weisen. Das Land erhielt sofort die Unterstützung seines russischen Verbündeten, der zudem mit Großbritannien und Frankreich die "Triple-Entente" gebildet hatte. Anfang August 1914 traten alle diese Länder gegeneinander in den Krieg ein und zogen später weitere Staaten wie Japan, Italien 1915 und die USA 1917 in den Konflikt. Auch als Deutschland im September 1939 Polen angriff, führte ein Vertrag aus dem Jahr 1920 zwischen Polen, dem Vereinigten Königreich und Frankreich dazu, dass diese Länder Deutschland den Krieg erklärten, obwohl ihre Bourgeoisien nicht besonders an einem solchen Konflikt interessiert waren, wie die Unterzeichnung des Münchner Abkommens ein Jahr zuvor gezeigt hatte. Der Konflikt zwischen den drei europäischen Hauptmächten sollte sich schnell auf die ganze Welt ausweiten. Heute besagt Artikel 5 der NATO-Charta, dass ein Angriff auf ein NATO-Mitglied als Angriff auf alle Verbündeten angesehen wird. Aus diesem Grund sind die Länder, die vor 1989 zum Warschauer Pakt (und sogar zur Sowjetunion, wie die baltischen Staaten) gehörten, begeistert in die NATO eingetreten: Es war die Garantie, dass das benachbarte Russland nicht versuchen würde, sie anzugreifen. Eine Haltung, die Finnland und Schweden nach jahrzehntelanger "Neutralität" gerade eingenommen haben. Auch aus diesem Grund konnte Putin eine Situation nicht akzeptieren, in der der ukrainische Staat Gefahr lief, der NATO beizutreten, wie es in seiner Verfassung verankert war.
Das Fehlen einer Teilung der Welt in zwei Blöcke bedeutet also, dass ein dritter Weltkrieg derzeit nicht auf der Tagesordnung steht und vielleicht auch nie wieder auf der Tagesordnung stehen wird. Es wäre jedoch unverantwortlich, den Ernst der globalen Lage zu unterschätzen. Wie wir im Januar 1990 schrieben:
„Daher ist es von großer Bedeutung, klarzustellen, daß, wenn die Lösung des Proletariats - die kommunistische Revolution - die einzige ist, die der Zerstörung der Menschheit (die die einzige "Lösung" ist, die die Bourgeoisie auf ihre Krise geben kann) trotzen kann, diese Zerstörung nicht zwangsläufig aus einem dritten Weltkrieg resultieren muß. Sie könnte gleichermaßen aus dem bis zum Äußersten getriebenen Zerfall resultieren (Umweltkatastrophen, Epidemien, Hungersnöte, die Entfesselung lokaler Kriege usw.).
Die historische Alternative "Sozialismus oder Barbarei", wie sie von den Marxisten herausgestellt worden war, wurde, nachdem sie im Verlauf des größten Teils dieses Jahrhunderts die Gestalt des "Sozialismus oder imperialistischer Weltkrieg" angernommen hatte, im Verlaufe der letzten Jahrzehnte aufgrund der Entwicklung der Atomwaffen in der furchterregenden Form des "Sozialismus oder Zerstörung der Menschheit" präzisiert. Heute, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, bleibt diese Perspektive vollkommen gültig. Jedoch muß man aufzeigen, daß solch eine Zerstörung aus großen imperialistischen Kriegen ODER auch aus dem Zerfall der Gesellschaft hervorgehen kann.“ (Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks - Destabilisierung und Chaos [9])
Die drei Jahrzehnte seit der Annahme dieses Dokuments durch die IKS haben deutlich gemacht, dass selbst abgesehen von einem dritten Weltkrieg "Umweltkatastrophen, Epidemien, Hungersnöte, die Entfesselung lokaler Kriege" tatsächlich die vier apokalyptischen Reiter sind, die das Überleben der Menschheit bedrohen.
6) Der Orientierungstext "Militarismus und Zerfall" schloss mit einem Abschnitt über "Das Proletariat und der imperialistische Krieg". Angesichts der Bedeutung dieser Frage kann es sich lohnen, große Auszüge aus diesem Teil zu zitieren, anstatt ihn zu paraphrasieren:
„Mehr denn je zuvor wird die Frage des Kriegs eine zentrale Frage im Kapitalismus sein. Mehr als je zuvor ist sie eine grundlegende Frage für die Arbeiterklasse. Die Bedeutung dieser Frage ist freilich nichts Neues. Sie stand schon vor dem Ersten Weltkrieg im Mittelpunkt (wie die internationalen Kongresse von Stuttgart 1907 und von Basel 1912 beweisen). Sie wurde selbstverständlich im Verlauf des ersten imperialistischen Gemetzels noch maßgeblicher (wie der Kampf von Lenin, Rosa Luxemburg, Liebknecht genauso wie die Revolution in Rußland und Deutschland zeigte). Sie behielt ihre ganze Schärfe zwischen den beiden Weltkriegen, insbesondere während des Spanienkriegs, ganz zu schweigen von der Bedeutung, die sie im Verlauf des größten Holocausts dieses Jahrhunderts, zwischen 1939-45, offenbarte. Sie hat schließlich ihre ganze Bedeutung im Laufe der verschiedenen nationalen "Befreiungs"kriege nach 1945 bewahrt, in Momenten der Konfrontation zwischen den beiden imperialistischen Blöcke. Im Grunde war der Krieg seit dem Beginn des Jahrhunderts die entscheidendste Frage, mit der das Proletariat und seine revolutionären Minderheiten konfrontiert waren, weit vor den Fragen der Gewerkschaften und des Parlamentarismus z.B. Und dies konnte auch nicht anders sein, stellt doch der Krieg die konzentrierteste Form der Barbarei des dekadenten Kapitalismus dar, die seine Agonie und die Bedrohung, die er für das Überleben der Menschheit bildet, zum Ausdruck bringt.
In der gegenwärtigen Periode, in der noch mehr als in den vergangenen Jahrzehnten die kriegerische Barbarei (zum Leidwesen der Herren Bush und Mitterand mit ihren Prophezeiungen einer "neuen Friedensordnung") ein ständiger und allgegenwärtiger Faktor der Weltlage ist und die entwickelten Länder in wachsender Weise mit impliziert sind (in den Grenzen, die allein vom Proletariat dieser Länder festgelegt werden), ist die Frage des Krieges noch wichtiger für die Arbeiterklasse. Die IKS hat seit langem aufzeigt, daß im Gegensatz zur Vergangenheit die Entfaltung einer nächsten revolutionären Welle nicht aus dem Krieg, sondern aus der Verschärfung der Wirtschaftskrise hervorgehen wird. Diese Analyse bleibt weiterhin vollkommen gültig: die Mobilisierungen der Arbeiter, Ausgangspunkt der großen Klassenkämpfe, werden sich aus der Reaktion auf die ökonomischen Angriffe entwickeln. Ebenso wird auf der Ebene der Bewußtwerdung die Verschärfung der Krise ein grundlegender Faktor in der Offenlegung der historischen Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise sein. Doch auf eben dieser Ebene der Bewußtwerdung wird die Frage des Krieges wiederum eine vorrangige Rolle spielen:
- indem die fundamentalen Konsequenzen dieser historischen Sackgasse aufgezeigt werden: die Zerstörung der Menschheit;
- indem der Krieg die einzige objektive Konsequenz aus der Krise, der Dekadenz und dem Zerfall darstellt, den die Arbeiterklasse jetzt schon (im Gegensatz zu den anderen Manifestationen des Zerfalls) eingrenzen kann, weil sie sich in den zentralen Ländern gegenwärtig nicht hinter den nationalistischen Fahnen mobilisieren läßt.“ (Punkt 13)
„Es stimmt, daß der Krieg viel einfacher als die Krise selbst und die ökonomischen Angriffe gegen die Arbeiterklasse genutzt werden kann:
- er kann die Ausbreitung des Pazifismus begünstigen;
- er kann ein Gefühl der Hilflosigkeit in den Reihen der Arbeiter bewirken und es der Bourgeoisie gestatten, ihre ökonomischen Angriffe auszuführen.“ (Punkt 14)
Der Krieg in der Ukraine löst heute tatsächlich ein Gefühl der Ohnmacht bei den Proletarisierten aus, wenn er nicht zu einer dramatischen Vereinnahmung und dem Triumph des Chauvinismus führt, wie es in diesem Land und zum Teil auch in Russland der Fall ist. In den westlichen Ländern ermöglicht er sogar eine gewisse Stärkung der demokratischen Ideologie dank der Fluten an Propaganda, die von den Main-Stream-Medien verbreitet werden. Wir würden eine Konfrontation zwischen dem "Bösen", der "Diktatur" (Putin), auf der einen Seite und dem "Guten", der "Demokratie" (Selenskyj und seine westlichen Unterstützer), auf der anderen Seite erleben. Eine solche Propaganda war 2003 natürlich weniger wirksam, als der "Boss" der "großen amerikanischen Demokratie", Bush junior, das Gleiche tat wie Putin, als er den Krieg gegen den Irak begann (Benutzung einer riesigen Lüge, Verletzung des "Völkerrechts" der UNO, Einsatz "verbotener" Waffen, Bombardierung der Zivilbevölkerung, "Kriegsverbrechen").
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich die Analyse der IKS zur Frage des "schwächsten Glieds" vor Augen zu halten, die den Unterschied zwischen dem Proletariat in den Kernländern, insbesondere in Westeuropa, und dem Proletariat in den Ländern der Peripherie und des ehemaligen "sozialistischen" Blocks hervorhebt. " (siehe insbesondere unsere Artikel "Le prolétariat d'Europe occidentale au centre de la généralisation de la lutte de classe, critique de la théorie du maillon le plus faible [20]" in der französischen Ausgabe Revue Internationale n° 31 und "Débat : à propos de la critique de la théorie du 'maillon le plus faible [21]'" in la Revue Internationale n° 37).
Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine unterstreicht die sehr große politische Schwäche des Proletariats in diesen Ländern. Der aktuelle Krieg wird auch negative politische Auswirkungen auf das Proletariat der Kernländer haben, aber das bedeutet nicht, dass der Aufschwung der demokratischen Ideen, den es erleidet, es endgültig lähmen wird. Insbesondere bekommt es bereits jetzt die Folgen dieses Krieges durch die wirtschaftlichen Angriffe zu spüren, die mit dem dramatischen Anstieg der Inflation einhergehen, (die bereits vor dem Ausbruch des Krieges begonnen hatte, aber durch den Krieg noch verstärkt wurde). Es wird zwangsläufig wieder den Weg des Klassenkampfes gegen diese Angriffe einschlagen müssen.
„In der gegenwärtigen historischen Situation wird die Intervention der Kommunisten in der Klasse, abgesehen natürlich von der beträchtlichen Zuspitzung der Wirtschaftskrise und den damit verbundenen Angriffen gegen das gesamte Proletariat, bestimmt werden durch:
- die fundamentale Bedeutung der Frage des Kriegs,
- die entscheidende Rolle der Revolutionäre in der Bewußtwerdung der Klasse darüber, was heute auf dem Spiel steht.
Es ist daher wichtig, daß diese Frage im Vordergrund der Propaganda der Revolutionäre steht. Und in Zeiten wie heute, in denen diese Frage unmittelbar im Mittelpunkt der internationalen Lage steht, ist es wichtig, daß sie die besondere Sensibilität der Arbeiter gegenüber diesem Thema nutzen, indem sie ihr Priorität verleihen und sich ihr mit ausgesuchter Hartnäckigkeit widmen.
Insbesondere haben die revolutionären Organisationen zur Aufgabe:
die Manöver der Gewerkschaften zu entblößen, die so tun, als ob sie zu ökonomischen Kämpfen aufriefen, um so besser die Kriegspolitik zu unterstützen (beispielsweise im Namen einer "gerechten Aufteilung" der Opfer zwischen Arbeitern und Bosse);
mit größter Heftigkeit die widerwärtige Heuchelei der Linken anzuprangern, die im Namen des "Internationalismus" und des "Kampfes gegen den Imperialismus" faktisch zur Unterstützung eines der imperialistischen Lager aufrufen;
die pazifistischen Kampagnen abzulehnen, die ein besonders gutes Mittel sind, um die Arbeiterklasse in ihrem Kampf gegen den Kapitalismus zu demobilisieren, indem sie auf die Ebene des Interklassismus gelockt wird;
die Tragweite dessen, was zur Zeit auf dem Spiel steht, aufzuzeigen, indem sie alle Auswirkungen der erheblichen Umwälzungen, die die Welt derzeit erlebt, und namentlich die Periode des Chaos begreifen, in die Welt eingetreten ist.“ (Punkt 15, ebenda)
7) Diese vor über 30 Jahren hervorgehobenen Leitlinien sind auch heute noch voll und ganz gültig. Aber in unserer Propaganda gegen den imperialistischen Krieg ist es auch notwendig, an unsere Analyse der Bedingungen für die Verallgemeinerung revolutionärer Kämpfe zu erinnern, die insbesondere in unserem Text von 1981 "Die historischen Bedingungen der Generalisierung des Klassenkampfes" (Internationale Revue Nr. 7) entwickelt wurde. Jahrzehntelang waren Revolutionäre, gestützt auf die Beispiele der Pariser Kommune (im Anschluss an den französisch-preußischen Krieg), der Revolution von 1905 in Russland (während des russisch-japanischen Krieges), von 1917 in Russland und von 1918 in Deutschland, der Ansicht, dass der imperialistische Krieg die besten Bedingungen für die proletarische Revolution schaffe oder dass diese sogar nur aus dem Weltkrieg hervorgehen könne. Diese Analyse ist unter den Gruppen der Kommunistischen Linken immer noch weit verbreitet, was zum Teil ihre Unfähigkeit erklärt, die Frage des Historischen Kurses zu verstehen. Nur die IKS hat jene Analyse klar in Frage gestellt und ist zur "klassischen" Analyse zurückgekehrt, wie sie von Marx und Engels zu ihrer Zeit (und teilweise von Rosa Luxemburg) entwickelt wurde, die davon ausgingen, dass der revolutionäre Kampf des Proletariats aus dem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Kapitalismus und nicht aus dem Krieg zwischen kapitalistischen Staaten hervorgehen würde.
Die Argumente, die zur Unterstützung unserer Analyse vorgebracht werden, lassen sich wie folgt zusammenfassen:
a) Wenn in einem Land der Krieg massive Reaktionen des Proletariats hervorruft, hat die Bourgeoisie dieses Landes eine wichtige Karte in der Hand, um solchen Reaktionen den Wind aus den Segeln zu nehmen: die Einstellung der Feindseligkeiten, den Abbruch des Krieges. So geschah es im November 1918 in Deutschland, wo die Bourgeoisie, angeleitet durch das Beispiel der Revolution in Russland, wenige Tage nach dem Aufstand der Matrosen im Ostseegebiet sofort den Waffenstillstand mit den Entente-Ländern unterzeichnete. Im Gegensatz dazu ist keine Bourgeoisie in der Lage, die wirtschaftlichen Erschütterungen zu überwinden, die die Ursache für die massiven und weit verbreiteten Kämpfe des Proletariats wären.
b) "... der Krieg bringt sowohl Sieger als auch Besiegte hervor, in der gleichen Zeit wie sich die revolutionäre Wut gegen die Bourgeoisie entwickelt, entsteht auch in der Bevölkerung eine revanchistische Tendenz. Und diese Tendenz dringt bis in die Reihen der Revolutionäre vor, wie die national-kommunistische Tendenz in der K.A.P.D. und der Kampf gegen den Versailler Vertrag als Achse der Propaganda K.P.D. bezeugen sollten. Wie die Nachkriegszeiten nach dem Ersten und noch mehr nach dem Zweiten Weltkrieg es gezeigt haben, entsteht neben einer wirklichen und langsamen Wiederaufnahme des Klassenkampfes der Geist des Überdrusses, wenn nicht gar ein chauvinistischer Wahn." („Die Bedingungen der Generalisierung des Klassenkampfes“, Internationale Revue Nr. 7, 1981)
c) Die Bourgeoisie hat aus dem Ersten Weltkrieg und der revolutionären Welle, die er ausgelöst hat, Lehren gezogen. Einerseits stellte sie fest, dass sie eine tiefe politische Niederschlagung des Proletariats in den zentralen Ländern sicherstellen musste, bevor sie sich in den Zweiten Weltkrieg stürzte. Dies erreichte sie mit der Einführung des Naziterrors auf deutscher Seite und der antifaschistischen Vereinnahmung auf Seiten der Alliierten. Andererseits traf die herrschende Klasse zahlreiche Vorkehrungen, um jegliches Erwachen des Proletariats im Laufe oder am Ende des Krieges zu verhindern oder im Keim zu ersticken, insbesondere in den besiegten Ländern. "In Italien, wo die Gefahr am größten war [nach den Arbeiterkämpfen, die ab März 1943 den industriellen Norden erfassten], beeilte sich die Bourgeoisie (...), das Regime und dann auch die Bündnisse zu wechseln [Der König setzte Mussolini ab und ersetzte ihn durch den alliiertenfreundlichen Admiral Badoglio]. Im Herbst 1943 war Italien zweigeteilt, der Süden in den Händen der Alliierten, der Rest von den Nazis besetzt. Auf Churchills Rat hin ("man muss Italien im eigenen Saft schmoren lassen") verzögerten die Alliierten ihren Vormarsch nach Norden und erreichten damit ein doppeltes Ergebnis: Einerseits wurde der deutschen Armee die Unterdrückung der proletarischen Bewegung überlassen; andererseits wurde den "antifaschistischen" Kräften die Aufgabe zugewiesen, dieselbe Bewegung vom Boden des antikapitalistischen Kampfes auf den des antifaschistischen Kampfes umzulenken. (...) In Deutschland (...) betreibt die Weltbourgeoisie eine systematische Aktion, um die Wiederkehr ähnlicher Ereignisse wie 1918-19 zu verhindern. Zunächst führen die Alliierten kurz vor Kriegsende eine Massenausrottung der Bevölkerung in den Arbeitervierteln durch beispiellose Bombenangriffe auf große Städte wie Hamburg oder Dresden durch (...). Diese Ziele haben keinen militärischen Wert (im Übrigen waren die deutschen Armeen bereits auf dem Rückzug): In Wirklichkeit geht es darum, das Proletariat zu terrorisieren und jegliche Organisation des Proletariats zu verhindern. Zweitens lehnen die Alliierten jeden Gedanken an einen Waffenstillstand ab, solange sie nicht das gesamte deutsche Territorium besetzt haben: Sie legen Wert darauf, dieses Territorium direkt zu verwalten, da sie wissen, dass die besiegte deutsche Bourgeoisie möglicherweise nicht in der Lage sein wird, die Situation allein zu kontrollieren. Schließlich hielten die Alliierten nach deren Kapitulation und in enger Zusammenarbeit mit ihr die deutschen Kriegsgefangenen monatelang zurück, um eine explosive Mischung zu vermeiden, die durch das Zusammentreffen mit der Zivilbevölkerung hätte entstehen können. In Polen war es in der zweiten Hälfte des Jahres 1944 die Rote Armee, die den Nazi-Truppen die Drecksarbeit überließ, die aufständischen Arbeiter in Warschau zu massakrieren: Die Rote Armee wartete monatelang nur wenige Kilometer vor der Stadt darauf, dass die deutschen Truppen den Aufstand erstickten. Dasselbe geschah Anfang 1945 in Budapest". ("Klassenkampf gegen den imperialistischen Krieg: Die Arbeiterkämpfe in Italien 1943", International Review Nr. 75, engl./frz./span. Ausgabe).
d) Das revolutionäre Wiedererwachen des Proletariats im Ersten Weltkrieg wurde durch die Merkmale des Krieges begünstigt: vorwiegend Infanteriegefechte, Grabenkrieg, der die Verbrüderung von Soldaten beider Seiten erleichterte, die sich über lange Zeiträume nur wenige Meter voneinander entfernt befanden. Der Zweite Weltkrieg war kein Grabenkrieg, sondern war geprägt vom massiven Einsatz mechanischer und technologischer Mittel, insbesondere von Panzern und Flugzeugen, ein Trend, der sich seither noch verstärkt hat, da die Staaten zunehmend auf Berufsarmeen zurückgreifen, die immer raffiniertere Waffen einsetzen können, was die Möglichkeiten einer direkten Verbrüderung zwischen Kämpfern beider Seiten erheblich einschränkt. Und schließlich, "last but not least", würden in einem dritten Weltkrieg früher oder später Atomwaffen zum Einsatz kommen, was natürlich die Frage nach der Möglichkeit eines proletarischen Aufbegehrens vollkommen ausschließt.
8) In der Vergangenheit haben wir die Losung des "revolutionären Defätismus" kritisiert. Diese Losung, die während des Ersten Weltkriegs insbesondere von Lenin hervorgehoben wurde, beruhte auf einem grundlegend internationalistischen Anliegen: der Entlarvung der von den Sozialchauvinisten verbreiteten Lügen, dass ihr Land zuvor den Sieg erringen müsse, damit die Proletarier dieses Landes in den Kampf für den Sozialismus eintreten könnten. Angesichts dieser Lügen wiesen die Internationalist:innen darauf hin, dass nicht der Sieg eines Landes den Kampf der Proletarier dieses Landes gegen ihre Bourgeoisie förderte, sondern im Gegenteil seine Niederlage (wie die Beispiele der Pariser Kommune nach der Niederlage gegen Preußen und der Revolution von 1905 nach dem Debakel Russlands gegen Japan gezeigt hatten). Später wurde diese Parole des "revolutionären Defätismus" so interpretiert, dass das Proletariat in jedem Land die Niederlage der eigenen Bourgeoisie herbeisehnt, um den Kampf für deren Sturz zu fördern, was natürlich einem echten Internationalismus den Boden entzieht. In Wirklichkeit hat Lenin selbst (der 1905 die Niederlage Russlands gegen Japan begrüßt hatte) vor allem die Losung "Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg" hervorgehoben, die eine Konkretisierung des Änderungsantrags darstellte, den er zusammen mit Rosa Luxemburg und Martow auf dem Stuttgarter Kongress der Sozialistischen Internationale 1907 eingebracht und durchgesetzt hatte: "Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.“ (Internationaler Sozialistenkongress zu Stuttgart, 1907)
Die Revolution in Russland 1917 war eine glänzende Umsetzung der Losung "Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg": Die Proletarier richteten die Waffen, die ihnen die Ausbeuter anvertraut hatten, um ihre Klassenbrüder in anderen Ländern abzuschlachten, gegen ihre Ausbeuter. Obwohl es, wie oben erwähnt, nicht ausgeschlossen ist, dass Soldaten ihre Waffen gegen ihre Offiziere richten könnten (im Vietnamkrieg kam es vor, dass amerikanische Soldaten "versehentlich" Vorgesetzte töteten), wären solche Vorfälle nur von sehr begrenztem Ausmaß und könnten in keiner Weise die Grundlage für eine revolutionäre Offensive bilden. Aus diesem Grund sollten wir in unserer Propaganda weder die Losung des "revolutionären Defätismus", noch die Losung der "Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg" in den Vordergrund stellen.
Aus diesem Grund muss in unserer Propaganda nicht nur die Losung vom "revolutionären Defätismus", sondern auch die Losung von der "Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg" in Frage gestellt werden.
Allgemeiner gesagt, ist es die Verantwortung der Gruppen der Kommunistischen Linken, eine Bilanz der Positionierung der Revolutionäre gegenüber dem Krieg in der Vergangenheit zu ziehen, indem sie herausstellen, was weiterhin gültig ist (die Verteidigung der internationalistischen Prinzipien) und was nicht mehr gilt (die "taktischen" Losungen). In diesem Sinne kann zwar die Losung von der "Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg" von nun an keine realistische Perspektive mehr darstellen, aber es ist andererseits angebracht, die Gültigkeit des 1907 auf dem Stuttgarter Kongress angenommenen Zusatzes zu betonen und insbesondere die Idee, dass Revolutionäre "die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen" haben. Diese Losung ist angesichts der gegenwärtigen Schwäche des Proletariats natürlich nicht sofort umsetzbar, aber sie bleibt ein Wegweiser für das Eingreifen der Kommunisten in die Klasse.
IKS, 11.07.2022
Das letzte Mal, als wir uns in dieser Reihe speziell mit dem Problem des Staates in der Übergangsperiode befassten, war in unserer Einleitung zu den Thesen über den Staat, die von der Gauche Communiste de France GCF 1946[1] herausgegeben worden waren. Wir stellten diesen Text als eine wichtige Fortsetzung der Arbeit der Italienischen Linken vor, die in den 1930er Jahren eine Reihe von Artikeln veröffentlicht hatte, welche die Lehren aus der Niederlage der Russischen Revolution zogen und das Problem des Staates als zentral ansahen. Aufbauend auf den Warnungen von Marx und Engels vor der Tendenz des Staates, sich von der Gesellschaft zu entfremden, und der Charakterisierung des Staates als eine vorübergehende Geißel, die das Proletariat nutzen muss, indem es seine schädlichsten Aspekte so weit wie möglich einschränkt, hatten die Artikel von Vercesi und insbesondere von Mitchell (Mitglied der Belgischen Fraktion) bereits einen Unterschied zwischen der notwendigen Funktion des "proletarischen Staates" und der tatsächlichen, effektiven Macht des Proletariats[2] gemacht. Der Text der GCF ging noch einen Schritt weiter, indem er argumentierte, dass der Staat dem Proletariat als Träger des Kommunismus und damit einer staatenlosen Gesellschaft von Natur aus fremd ist.
In unserer Einleitung zu den Thesen haben wir auf einige Schwächen oder Unklarheiten im Text hingewiesen (zu den Gewerkschaften, der Rolle der Partei, dem Wirtschaftsprogramm der Revolution), von denen die meisten durch den Diskussions- und Klärungsprozess, der im Mittelpunkt der Aktivitäten der GCF stand, im Wesentlichen beseitigt werden konnten. Doch wurden diese Fortschritte – vor allem in Bezug auf die Gewerkschaften und die Partei – in anderen Texten[3] korrigiert, da die Gruppe unseres Wissens keine weiteren Dokumente zur Frage der Übergangsperiode selbst verfasste.
Die Thesen von 1946 waren ein Produkt der kollektiven Arbeit der GCF und wurden von Marc Chirik verfasst, der eine Schlüsselrolle bei der Bildung und theoretischen Entwicklung der Gruppe gespielt hatte. Als sich die Gruppe nach 1952 auflöste (trotz Marcs Bemühungen, sie aufrechtzuerhalten), wurde Marc nach Venezuela "verbannt", wo er über ein Jahrzehnt lang keine organisierte politische Tätigkeit ausübte. Dies war jedoch keine Periode, in der er sich von politischen Überlegungen zurückgezogen hätte, und sobald sich die Zeiten zu ändern begannen, Anfang bis Mitte der 60er Jahre, hatte Marc mit einigen jungen Leuten einen Diskussionskreis gebildet, aus dem 1964 die Gruppe Internacionalismo hervorging. Diese Gruppe wiederum wurde schließlich zur Sektion der IKS in Venezuela.
Marc selbst kehrte nach Europa zurück, um an den historischen Ereignissen im Mai-Juni 1968 teilzunehmen, und blieb, um an der Gründung der Gruppe Révolution Internationale mitzuwirken, die später die französische Sektion der IKS werden sollte.
Für die Generation der Revolutionäre, die aus der vom Mai 68 ausgelösten internationalen Kampfwelle hervorging, schien die Revolution nicht mehr so weit entfernt zu sein. Eine Reihe neuer Gruppen und Mitglieder, die die Tradition der Kommunistischen Linken wiederentdeckt hatten, machten sich nicht nur daran, sich vom linken Flügel des Kapitals abzugrenzen, indem sie sich die in der Zeit der Konterrevolution erarbeiteten grundlegenden Klassenpositionen wieder aneigneten, sondern eröffneten eine Debatte über den Charakter der zu erwartenden Revolution und den Weg zu einer kommunistischen Gesellschaft.
Der von der GCF vorgeschlagene und von Marc weiter ausgearbeitete Ansatz für die Übergangsperiode und den Halbstaat wurde bald zu einem Brennpunkt vieler leidenschaftlicher Diskussionen unter den neuen Gruppen. Die Mehrheit von Révolution Internationale und der ihr nahestehenden Gruppen war von Marcs Argumenten überzeugt, aber es wurde von Anfang an klargestellt, dass diese spezielle Analyse nicht als Klassengrenze gelten konnte, da die Geschichte ihren Wahrheitsgehalt noch nicht endgültig bewiesen hatte. Die Diskussion wurde also innerhalb der neu gegründeten IKS und mit anderen Gruppen fortgesetzt, die sich an den Debatten über die internationale Umgruppierung der neu entstehenden revolutionären Kräfte beteiligten, die diese Phase kennzeichneten. Die erste Ausgabe der International Review enthielt Beiträge über die Übergangsperiode von Marc (im Namen von Révolution Internationale) und einen langen Artikel, der Ideen in die gleiche Richtung entwickelte und vom jungen Genossen C.D. Ward im Namen von World Revolution in Großbritannien verfasst wurde, sowie einen Text von Rivoluzione Internazionale in Italien, der für den proletarischen Charakter des Übergangsstaates plädierte, und einen weiteren Beitrag von Revolutionary Perspectives, der Keimzelle der zukünftigen Communist Workers Organisation CWO. Diese Texte wurden für die Konferenz von 1975 verfasst, auf der die formelle Gründung der IKS stattfand. Obwohl keine Zeit war, die Diskussion während des Treffens zu führen, wurden sie als Beitrag zu einer laufenden Debatte veröffentlicht.
Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass diese Debatten hitzig waren. Die Gruppe Workers Voice aus Liverpool zog sich bald aus den Diskussionen zurück und führte die Mehrheitsposition der zukünftigen IKS zur Übergangsperiode als Beweis für ihren konterrevolutionären Charakter an, da sie angeblich bedeutete, in einem zukünftigen revolutionären Prozess für einen Staat einzutreten, der die Arbeiterräte dominieren würde. Wie wir damals argumentierten ("Grenzenloses Sektierertum" in World Revolution Nr. 3), war dies nicht nur ein falscher Vorwurf, sondern auch weitgehend ein Vorwand, um die lokale Autonomie der Workers Voice vor der Gefahr zu bewahren, von einer größeren internationalen Organisation verschluckt zu werden. Aber andere Reaktionen jener Zeit zeigten, wie sehr die Errungenschaften der Italienischen Kommunistischen Linken im Nebel der Konterrevolution untergegangen waren. Auf dem Zweiten IKS-Kongress 1977, auf dem eine Resolution (und eine Gegenresolution) über den Staat in der Übergangsperiode auf der Tagesordnung stand, schien beispielsweise ein Delegierter von Battaglia Comunista, die damals und auch heute noch behauptet, die konsequenteste Fortsetzerin der Tradition der Italienischen Linken zu sein, von der bloßen Vorstellung, den proletarischen Charakter des Übergangsstaates in Frage zu stellen, sprachlos zu sein, auch wenn diese Ansicht lediglich eine logische Schlussfolgerung aus den Beiträgen Bilans in den 1930er Jahren war.
Obwohl die Resolution, die die Mehrheitsposition zum Ausdruck brachte, schließlich auf dem Dritten Kongress der IKS 1979 angenommen wurde, hatte der Kongress von 1977 festgestellt, dass die Debatte noch nicht ausreichend ausgereift war und fortgesetzt werden sollte. Eine Reihe von Beiträgen zu dieser Debatte wurde später als Broschüre veröffentlicht, was die Reichhaltigkeit der Debatte zeigt.[4] Innerhalb der IKS war die Minderheit nicht homogen, sondern tendierte zu der Vorstellung, dass die Position von Bilan zum Staat in der Übergangsperiode die richtige gewesen sei, während die GCF von der marxistischen Konzeption abgewichen sei. Einige der Genossen der Minderheit schlossen sich später der Mehrheitsposition an, während andere begannen, andere Schlüsselentwicklungen der GCF, die von der IKS weitergeführt wurden, in Frage zu stellen, vor allem in der Frage der Partei. Die meisten von ihnen zerstreuten sich in verschiedene Richtungen – einer wandte sich einer orthodoxeren bordigistischen Position zu, ein anderer startete einen kurzen Versuch, eine neue Version von Bilan (Fraction Communiste Internationaliste) zu bilden, während andere das gefährliche Gebräu aus Anarchismus, Bordigismus und der Verteidigung des so genannten "Arbeiterterrorismus" in sich aufnahmen, das den Weg der Groupe Communiste Internationaliste prägte.[5]
In diesem Artikel werden wir uns auf drei Diskussionsbeiträge von Marc Chirik aus dieser Zeit innerhalb der IKS konzentrieren. Diese Herangehensweise ist eine Fortsetzung und ein Abschluss der drei vorangegangenen Artikel in dieser Reihe, die sich mit dem Beitrag bestimmter Personen innerhalb der proletarisch-politischen Bewegung während der Zeit der Konterrevolution (d. h. Damen, Bordiga, Munis und Castoriadis) zur kommunistischen Theorie befasst haben. Das Interesse besteht nicht darin, an diese einzelnen Kommunisten wie in akademischen Zeitschriften heranzugehen, wo die Theorie immer als intellektuelles Eigentum dieses oder jenes Spezialisten angesehen wird. Im Gegenteil, als Klassenkämpfer konnten diese Genossen ihre Beiträge nur mit dem Ziel leisten, etwas zu entwickeln, das weit davon entfernt ist, das Urheberrecht Einzelner zu sein, sondern nur existiert, um das universelle Eigentum des Proletariats zu werden – das kommunistische Programm. Für uns ist das kommunistische Programm ein Werk der Assoziation, in dem die einzelnen Genossen ihren besonderen Beitrag innerhalb eines größeren Kollektivs leisten können. Und genau die herausragende Eigenschaft von Marc Chirik war seine Fähigkeit, das, was er durch seine Lebenserfahrung auf organisatorischer und programmatischer Ebene erworben hatte, zu "universalisieren" – es an andere Genoss:innen weiterzugeben. So gab es in der Geschichte der IKS eine Reihe von wichtigen Beiträgen zu diesem allgemeinen Bemühen, den Weg zum Kommunismus zu erhellen, auch von anderen Genossen der Organisation – auf einige davon werden wir in diesem Artikel eingehen. Aber es besteht kein Zweifel, dass die von Marc verfassten Texte Beispiele für sein tiefes Verständnis der marxistischen Methode sind und es verdienen, noch einmal im Detail untersucht zu werden. Wir entschuldigen uns im Voraus für die Länge einiger Zitate aus diesen Artikeln, aber wir denken, dass es das Beste ist, Marcs Worte so weit wie möglich für sich selbst sprechen zu lassen.
Der in International Review Nr. 1 (engl./frz./span. Ausgabe) veröffentlichte Artikel zeichnet sich dadurch aus, dass er die Frage der Übergangsperioden in einem breiten historischen Rahmen stellt. "Die menschliche Geschichte besteht aus verschiedenen stabilen Gesellschaften, die an eine bestimmte Produktionsweise und damit an stabile soziale Beziehungen gebunden sind. Diese Gesellschaften beruhen auf den ihnen innewohnenden ökonomischen Gesetzen. Sie bestehen aus festen sozialen Klassen und stützen sich auf entsprechende Überbauten. Die grundlegenden stabilen Gesellschaften in der geschriebenen Geschichte waren: die Sklavengesellschaft, die asiatische Gesellschaft, die Feudalgesellschaft und die kapitalistische Gesellschaft.
Was Perioden des Übergangs von Perioden stabiler Gesellschaften unterscheidet, ist die Zersetzung der alten sozialen Strukturen und die Bildung neuer Strukturen. Beide sind mit einer Entwicklung der Produktivkräfte verbunden und gehen mit dem Auftreten und der Entwicklung neuer Klassen sowie der Entwicklung von Ideen und Institutionen einher, die diesen Klassen entsprechen.
Die Periode des Übergangs ist keine eigenständige Produktionsweise, sondern eine Verbindung zwischen zwei Produktionsweisen – der alten und der neuen. Es ist die Periode, in der sich die Keime der neuen Produktionsweise langsam zum Nachteil der alten entwickeln, bis sie die alte Produktionsweise verdrängen und eine neue, dominante Produktionsweise bilden.
Zwischen zwei stabilen Gesellschaften (und dies wird auch für die Zeit zwischen Kapitalismus und Kommunismus zutreffen, so wie es in der Vergangenheit der Fall war), ist die Zeit des Übergangs eine absolute Notwendigkeit. Das liegt daran, dass die Erschöpfung der Existenzgrundlage der alten Gesellschaft nicht automatisch die Reifung und die Entfaltung der Bedingungen der neuen Gesellschaft bedeutet. Mit anderen Worten: Der Niedergang der alten Gesellschaft bedeutet nicht automatisch die Reifung der neuen, sondern ist nur die Bedingung für deren Entstehen.
Dekadenz und Übergangszeit sind zwei sehr unterschiedliche Phänomene. Jede Übergangsphase setzt den Zerfall der alten Gesellschaft voraus, deren Produktionsweise und -verhältnisse die äußerste Grenze ihrer möglichen Entwicklung erreicht haben. Jedoch bedeutet nicht jede Dekadenzperiode notwendigerweise eine Übergangsperiode, insofern die Übergangsperiode einen Schritt hin zu einer neuen Produktionsweise darstellt. Auch das antike Griechenland verfügte nicht über die historischen Bedingungen, die für eine Überwindung der Sklaverei notwendig waren, ebenso wenig wie das alte Ägypten.
Dekadenz bedeutet die Erschöpfung der alten gesellschaftlichen Produktionsweise; Übergang bedeutet das Aufkommen der neuen Kräfte und Bedingungen, die eine Auflösung und Überwindung der alten Widersprüche ermöglichen".
Zu der Zeit, als dieser Text geschrieben wurde, war die entstehende revolutionäre Bewegung bereits mit dem Einfluss der Vorläufer der heutigen Strömung der "Kommunisierung" konfrontiert, insbesondere mit den Schriften von Jacques Camatte und Jean Barrot (Dauvé). Die IKS hatte bereits eine Spaltung durch eine Gruppe von Mitgliedern hinter sich, die aus der trotzkistischen Organisation Lutte Ouvrière kamen, aber schnell den pseudoradikalen Vorstellungen verfielen, die das kennzeichneten, was wir damals "Modernismus" nannten: dass die Arbeiterklasse im Wesentlichen zu einer Klasse für das Kapital geworden sei, dass ihr Kampf für unmittelbare Forderungen eine Sackgasse sei und dass die kommunistische Revolution die unmittelbare Selbstverneinung der Arbeiterklasse bedeute und nicht ihre politische Bestätigung durch die Diktatur des Proletariats. In dieser Sichtweise wurde die Idee einer vom Proletariat gelenkten Übergangsperiode als nichts anderes als die Verewigung des Kapitals angeprangert: Der Prozess der Kommunisierung (Vergesellschaftung) mache eine Übergangsperiode zwischen Kapitalismus und Kommunismus überflüssig.[6]
Dass sich solche Ideen in der revolutionären Bewegung durchsetzten, zeigte auch die Entwicklung einer der Gruppen, die an der Konferenz teilnahmen – die Revolutionary Workers' Group mit Sitz in Chicago, die ebenfalls aus dem Trotzkismus hervorgegangen war, nun aber die Nutzlosigkeit des Kampfes für wirtschaftliche Forderungen entdeckte (siehe Vorwort zu International Review Nr. 1). In der Zwischenzeit bestand die Gruppe Revolutionary Perspectives darauf, dass eine isolierte proletarische Bastion sich bewusst vom Weltmarkt abschotten und gleichzeitig alle möglichen kommunistischen Maßnahmen innerhalb ihrer Grenzen umsetzen sollte: Dies war weniger eine modernistische Verirrung als eine verspätete Entschuldigung für den "Kriegskommunismus" der Periode 1918-21 in Russland, aber sie teilt mit den Kommunisierern die Idee, dass es möglich ist, authentische kommunistische Maßnahmen in einem einzelnen Land oder einer Region einzuführen.[7]
Der Text von Marc liefert uns einen soliden Ausgangspunkt für die Kritik an all diesen Ansätzen. Einerseits besteht er darauf, dass jede neue Produktionsweise das Ergebnis einer mehr oder weniger langen Übergangsperiode ist, die "keine eigenständige Produktionsweise, sondern ein Bindeglied zwischen zwei Produktionsweisen – der alten und der neuen – darstellt". Dies gilt mit Sicherheit für die Zeit des Übergangs zum Kommunismus, die alles andere als eine stabile Produktionsweise ist (manchmal irreführend als "Sozialismus" bezeichnet). Im Gegenteil, sie wird der Schauplatz eines anhaltenden Kampfes sein, um die kommunistische Umgestaltung der sozialen Beziehungen gegen das immense wirtschaftliche und ideologische Gewicht der alten Gesellschaft und sogar der Jahrtausende alten Klassengesellschaft, die dem Kapitalismus vorausging, voranzutreiben. Dies gilt auch nach der Eroberung der Weltherrschaft durch das Proletariat und gilt umso mehr in Situationen, in denen die ersten proletarischen Vorposten auf ein feindliches kapitalistisches Umfeld treffen.
Gleichzeitig wird in dem Text erläutert, dass sich die Übergangsperiode zum Kommunismus grundlegend von allen bisherigen Übergängen unterscheidet:
- Ihr Ziel ist nicht die Einführung einer neuen Form der Klassenausbeutung, sondern die Abschaffung aller Formen der Ausbeutung;
- Während frühere Übergänge das Ergebnis blinder wirtschaftlicher Gesetze waren, ist der Kommunismus eine Gesellschaft, in der die gesamte Produktion und Verteilung bewusster menschlicher Tätigkeit unterliegt;
- Im Gegensatz zu früheren Produktionsweisen kann der Kommunismus nicht in einem Teil der Welt existieren, sondern muss weltumspannend sein;
- Im Gegensatz zu früheren Übergangsperioden, bei denen sich die alten herrschenden Klassen und ihre Staatsformen bis zu einem gewissen Grad an die neue Produktionsweise anpassen konnten, erfordert der Kommunismus die vollständige Zerstörung der wirtschaftlichen und politischen Strukturen des Kapitalismus.
Daraus folgt, dass der Übergang zum Kommunismus nicht innerhalb des Kapitalismus beginnen kann, durch eine Anhäufung wirtschaftlicher Veränderungen, die als Grundlage für die Macht der neuen herrschenden Klasse dienen, sondern erst nach einem im Wesentlichen politischen Akt – der gewaltsamen Zerschlagung des bestehenden Staatsapparats. Dies ist der Ausgangspunkt für die Ablehnung jeder Vorstellung, wonach ein wirklicher Kommunisierungsprozess[8] vor der Zerstörung der weltweiten Macht der Bourgeoisie beginnen könne. Jegliche wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, die vor dem Erreichen dieses Punktes vorgenommen werden, sind im Wesentlichen Notlösungen, vorübergehende Maßnahmen, die nicht als eine Art "real existierender Kommunismus" dargestellt werden sollten und deren Hauptziel darin bestünde, die politische Vorherrschaft der Arbeiterklasse in einem bestimmten Gebiet zu stärken.
Auch für die Zeit nach dem Beginn der eigentlichen Übergangsphase warnt der Text vor einer Idealisierung der von der Arbeiterklasse ergriffenen Sofortmaßnahmen:
"Auf wirtschaftlicher Ebene besteht die Übergangsperiode aus einer ökonomischen Politik (und nicht mehr aus einer politischen Ökonomie) des Proletariats, um den Prozess der allgemeinen Vergesellschaftung von Produktion und Verteilung zu beschleunigen. Die Verwirklichung dieses Programms des integralen Kommunismus auf allen Ebenen ist zwar das von der Arbeiterklasse bekräftigte und verfolgte Ziel, unterliegt jedoch in der Übergangsperiode den unmittelbaren, konjunkturellen und kontingenten Bedingungen, die nur ein rein utopischer Voluntarismus ignorieren würde. Das Proletariat wird sofort versuchen, seinem Ziel so weit wie möglich näher zu kommen, wobei es die unvermeidlichen Zugeständnisse, die es hinnehmen muss, anerkennt. Zwei Gefahren bedrohen eine solche Politik:
- die Idealisierung dieser Politik, indem sie als kommunistisch dargestellt wird, obwohl sie nichts dergleichen ist;
- die Leugnung der Notwendigkeit einer solchen Politik im Namen eines idealistischen Voluntarismus".
Der gesamte Text ist von einem revolutionären Realismus geprägt. Es handelt sich um die radikalste gesellschaftliche Umwälzung seit Bestehen der menschlichen Spezies, und es ist absurd zu glauben, dass dieser Prozess – der für die große Mehrheit der Menschheit heute als unmöglich, als der menschlichen Natur zuwiderlaufend, bestenfalls als "eine nette Idee, die niemals funktionieren würde" angesehen wird – tatsächlich in einem Zug, historisch gesehen, über Nacht stattfinden könnte.
Im weiteren Verlauf des Textes werden einige spezifischere Aspekte dieser "ökonomischen Politik" skizziert, die allerdings recht allgemein bleiben:
- Sofortige Vergesellschaftung der großen kapitalistischen Konzentrationen und der wichtigsten Zentren der produktiven Tätigkeit.
- Planung von Produktion und Verteilung – das Kriterium der Produktion muss die maximale Befriedigung der Bedürfnisse sein und nicht mehr die Akkumulation.
- Massive Verkürzung des Arbeitstages.
- Deutliche Anhebung des Lebensstandards.
- Versuch der Abschaffung der auf dem Lohn und seiner Geldform basierenden Entlohnung.
- Vergesellschaftung des Konsums und der Bedürfnisbefriedigung (Transport, Freizeit, Mahlzeiten, etc.).
- Die Beziehung zwischen den kollektivierten Sektoren und den noch individuellen Produktionssektoren – vor allem auf dem Land – muss zu einem organisierten kollektiven Austausch durch Genossenschaften tendieren, wodurch der Markt und der individuelle Austausch verdrängt werden.
Der Text von Marc beginnt mit der folgenden Warnung: "Die Revolutionäre haben die Frage nach der Übergangsperiode immer mit größter Vorsicht gestellt. Die Anzahl, die Komplexität und vor allem die Neuartigkeit der Probleme, die das Proletariat zu lösen hat, verhindern jede Ausarbeitung von detaillierten Plänen der zukünftigen Gesellschaft; jeder Versuch, dies zu tun, läuft Gefahr, in eine Zwangsjacke zu geraten, die die revolutionäre Aktivität der Klasse ersticken wird". Es ist verständlich, dass Marc uns nur eine sehr allgemeine Skizze einer möglichen "ökonomischen Politik" des Proletariats liefert. Einer der Punkte ist etwas zu allgemein – "wesentliche Erhöhung des Lebensstandards" –, um viel damit anzufangen, aber die anderen geben in der Tat die allgemeine Richtung an, und einer markiert eindeutig einen Fortschritt gegenüber dem Text von 1946, nämlich wenn es heißt, dass "das Kriterium der Produktion die maximale Befriedigung der Bedürfnisse und nicht mehr die Akkumulation sein muss", da der Text von 1946 noch dazu tendierte, die "Entwicklung der Produktivkräfte" des Proletariats als einen Prozess der Akkumulation zu sehen, der nur die Expansion des Werts bedeuten kann. In der Tat sind wir uns heute nur allzu bewusst, dass sowohl die ökonomischen als auch die ökologischen Krisen des Systems das Ergebnis einer "Überakkumulation" sind und dass eine wirkliche Entwicklung notwendigerweise die Form einer tiefgreifenden Transformation und Reorganisation der im Kapitalismus akkumulierten Produktivkräfte annehmen muss (was zum Beispiel die Abkehr von stark umweltverschmutzenden Produktions-, Energie- und Verkehrsformen, die Reduzierung der kapitalistischen Megastädte auf ein weitaus menschlicheres Maß, eine massive Wiederaufforstung usw. beinhaltet).
Was die Verteilung des gesellschaftlichen Produkts in der Übergangsperiode betrifft, so äußert sich der Text nicht zur Debatte über "Arbeitszeitgutscheine", die auf den Vorschlägen von Marx in der Kritik des Gothaer Programms beruhen und z. B. von den niederländischen Rätekommunisten der GIK in den Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung[9] und von der CWO in ihrem jüngsten Artikel über die Übergangsperiode[10] nachdrücklich befürwortet werden. Aber der Text von Marc gibt die Richtung vor, indem er sowohl auf dem Versuch der Abschaffung von Lohn- und Geldformen als auch auf der umfassenden Vergesellschaftung des Konsums besteht: kostenlose Bereitstellung von Verkehrsmitteln, gemeinsame Mahlzeiten usw. Im World Revolution-Text in International Review Nr. 1 ist die Position in ihrer Ablehnung der Arbeitszeitgutscheine deutlicher. Obwohl Marx diese Gutscheine nicht als eine Form von Geld ansah, da sie nicht akkumuliert werden könnten, argumentiert der World Revolution-Text, dass das Arbeitszeitsystem nicht wirklich über die kapitalistische Vorstellung von Arbeit als "Tausch" zwischen dem einzelnen, atomisierten Arbeiter und der "Gesellschaft" hinausgeht: „Das System der Arbeitszeitgutscheine würde dazu neigen, die arbeitsfähigen Proletarier von den arbeitsunfähigen zu trennen (eine Situation, die sich in einer internationalen revolutionären Krise noch verstärken könnte), und würde darüber hinaus einen Keil zwischen die Proletarier und andere Schichten treiben und den Prozess der sozialen Integration hemmen. Ein solches System würde eine immense bürokratische Überwachung der Arbeit jedes einzelnen Arbeiters erfordern und bei einem Abschwung der Revolution sehr leicht in eine Form von Geldlohn ausarten (diese Nachteile gelten sowohl für die Zeit des Bürgerkriegs als auch für die Übergangsperiode selbst).
Ein Rationierungssystem unter der Kontrolle der Arbeiterräte würde sich leichter für eine demokratische Regulierung der Gesamtressourcen einer proletarischen Bastion und für die Förderung von Solidaritätsgefühlen unter allen Mitgliedern der Klasse eignen. Aber wir machen uns keine Illusionen darüber, dass dieses oder irgendein anderes System eine "Garantie" gegen die Rückkehr der Lohnsklaverei in ihrer nackten Form wäre.“
Wir glauben jedoch nicht, dass wir heute mit größerer Sicherheit als 1975 sagen können, dass diese Debatte über die unmittelbaren wirtschaftlichen Maßnahmen des Proletariats an der Macht ein für alle Mal erledigt ist. Im Gegenteil, sie kann und sollte zwar heute weitergeführt werden (wir wollen in einem späteren Artikel dieser Reihe auf die Frage zurückkommen), aber sie kann nur durch eine zukünftige revolutionäre Praxis entschieden werden.
Nach der Definition des allgemeinen Charakters der Übergangsperiode bekräftigt der Text die Position zum Staat, die bereits im Text der GCF von 1946 umrissen worden war:
“Die Übergangsgesellschaft ist immer noch eine in Klassen geteilte Gesellschaft, und daher wird in ihr notwendigerweise jene Institution entstehen, die allen in Klassen geteilten Gesellschaften eigen ist: der STAAT.
Bei allen Beschränkungen und Vorsichtsmaßnahmen, mit denen wir diese Institution umgeben werden (die Funktionäre werden gewählt und abwählbar sein, ihr Konsum wird dem eines Arbeiters entsprechen, es wird eine Vereinigung zwischen den Funktionen der Legislative und der Exekutive geben, usw.) und die diesen Staat zu einem "Halbstaat" machen, dürfen wir niemals den historischen antisozialistischen und daher antiproletarischen und im Wesentlichen konservativen Charakter des Staates aus den Augen verlieren. Der Staat bleibt der Hüter des Status quo.
Wir erkennen die Unvermeidbarkeit dieser Institution an, die das Proletariat als notwendiges Übel nutzen muss, um den Widerstand der schwindenden Kapitalistenklasse zu brechen und einen einheitlichen administrativen und politischen Rahmen in dieser Zeit zu bewahren, in der die Gesellschaft immer noch von antagonistischen Interessen zerrissen ist.
Aber wir lehnen die Idee kategorisch ab, diesen Staat zum Vorreiter des Kommunismus zu machen. Seiner Natur nach ("die bürgerliche Natur in seinem Wesen" – Marx) ist er im Wesentlichen ein Organ zur Erhaltung des Status quo und ein Hemmschuh für den Kommunismus. Daher kann der Staat weder mit dem Kommunismus noch mit dem Proletariat, das Träger des Kommunismus ist, identifiziert werden. Das Proletariat ist per definitionem die dynamischste Klasse der Geschichte, da es die Unterdrückung aller Klassen, einschließlich seiner selbst, durchführt. Deshalb drückt das Proletariat, obwohl es sich des Staates bedient, seine Diktatur nicht durch den Staat, sondern über den Staat aus. Das ist auch der Grund, warum das Proletariat unter keinen Umständen zulassen kann, dass diese Institution (der Staat) gewaltsam in die Klasse eingreift, noch dass sie die Diskussionen und Aktivitäten der Klassenorgane – der Räte und der revolutionären Partei – bestimmt".
Gerade diese Position – der konservative und nicht-proletarische Charakter des Staates – war Gegenstand unterschiedlicher Argumente innerhalb der IKS, nicht nur in Bezug auf den Übergangsstaat, sondern auf den Staat im Allgemeinen.
Die Broschüre von 1981 enthielt einen Text von Marc mit dem Titel Die Ursprünge des Staates und all das, der eine Antwort auf einen Text[11] war, der von zwei Genossen der Minderheit, M. und S., verfasst worden war, die den Begriff des proletarischen Staates auf der Grundlage einer Untersuchung der historischen Ursprünge des Staates verteidigten. M. und S. vertraten die Ansicht, dass der Staat, der im Wesentlichen die Schöpfung und das Instrument einer herrschenden Klasse sei, in Zeiten, in denen diese Klasse selbst eine revolutionäre oder zumindest aktiv fortschrittliche Kraft ist, eine revolutionäre Rolle spielen könne, während er nur dann dazu verdammt sei, eine reaktionäre Rolle zu spielen, wenn diese Klasse selbst dekadent oder obsolet wird. Ihr Text lehnt also die Definition des Staates als "konservativ" in seinem zentralen Wesen ab. Was seine wesentliche Funktion betrifft, so sei er ein Instrument zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere. Dementsprechend könne und müsse der Staat in der Übergangsperiode einen proletarischen Charakter haben, denn er sei nichts anderes als die Schöpfung der Arbeiterklasse mit dem Ziel, ihre Diktatur auszuüben.
In seiner Antwort liefert Marc eine kurze, aber aufschlussreiche Geschichte der Art und Weise, wie die proletarische Bewegung durch ihre eigenen Debatten und vor allem durch ihre eigenen Erfahrungen im Klassenkampf ihr Verständnis der Frage des Staates entwickelt hat: Von den ersten Ideen von Babeuf und den Gleichen über die Eroberung des Staates durch die bewaffnete Revolution bis zu den Intuitionen der Utopisten über den Kommunismus als eine Gesellschaft ohne Staat; von der Kritik der Hegelschen Staatsanbetung durch den jungen Marx bis zu den Lehren, die der Bund der Kommunisten aus den Revolutionen von 1848 und vor allem von Marx und Engels aus der Pariser Kommune von 1871 zog, als zum ersten Mal klar wurde, dass der bestehende Staat nicht erobert, sondern aufgelöst werden muss. Der Überblick geht weiter zu den Studien von Morgan über den Urkommunismus, die es Engels ermöglichten, die historischen Ursprünge des Staates zu analysieren, über die Stärken, Schwächen und unvollständigen Einsichten Lenins in Bezug auf die Erfahrungen der Russischen Revolution bis hin zu den Bemühungen der Kommunistischen Linken, alle von den vorangegangenen Ausdrucksformen der Bewegung erzielten Fortschritte zu synthetisieren und weiterzuentwickeln. Ziel ist es zu zeigen, dass unser Verständnis des Problems des Staates und der Übergangsperiode nicht das Produkt einer unveränderlichen marxistischen Orthodoxie ist, sondern sich im Lichte der realen Erfahrung und der Reflexion über diese Erfahrung entwickelt hat und in der Tat weiterentwickeln wird.
Der Kern des Textes ist der Bezug auf die berühmte Passage von Engels, in der es darum geht, dass der Staat erstmals in der langen Übergangsperiode auftaucht, in der die urkommunistische Gesellschaft der Entstehung definitiver Klassenunterschiede weicht – nicht als bewusste Schöpfung ex nihilo einer herrschenden Klasse, sondern als eine Emanation der Gesellschaft in einem bestimmten Stadium ihrer Entwicklung: "Der Staat ist also keineswegs eine der Gesellschaft von außen aufgezwungene Macht; ebensowenig ist er 'die Wirklichkeit der moralischen Idee', 'das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft', wie Hegel behauptet. Er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, dass diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der 'Ordnung' halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangene, aber sich über sie stellende, sich mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat.“[12]
Marc erklärt, dass dies nicht bedeutet, dass der Staat eine neutrale oder vermittelnde Rolle in der Gesellschaft einnimmt, aber es zeigt, dass eine einfache Definition des Staates als "Formation bewaffneter Menschen", deren Funktion darin besteht, Repression gegen die ausgebeuteten oder unterdrückten Klassen auszuüben, unzureichend ist, da die Hauptaufgabe des Staates darin besteht, die Gesellschaft zusammenzuhalten, und dafür kann Repression allein niemals ausreichen. Daher ist es notwendig, ideologische Institutionen, Formen der politischen Vertretung usw. einzusetzen. Wie Marx in Der König von Preußen und die Sozialreform (1844) schrieb: „Der Staat und die Einrichtung der Gesellschaft sind von dem politischen Standpunkt aus nicht zwei verschiedene Dinge. Der Staat ist die Einrichtung der Gesellschaft“ – natürlich mit der Einschränkung, dass wir immer noch von einer in Klassen geteilten Gesellschaft sprechen.
Marc kehrt dann zu Engels zurück, um zu betonen, dass diese Funktion, die Gesellschaft zu organisieren, sie zusammenzuhalten, bedeutet, die bestehenden Produktionsverhältnisse zu bewahren und daher "...der Staat aus der Notwendigkeit entstand, die Klassengegensätze in Schach zu halten, aber auch mitten im Kampf zwischen den Klassen entstand, ist er normalerweise der Staat der mächtigsten, wirtschaftlich herrschenden Klasse, die durch seine Mittel auch zur politisch herrschenden Klasse wird und so neue Mittel erwirbt, um die unterdrückte Klasse niederzuhalten und auszubeuten“.[13]
Diese notwendige Identifikation der ausbeutenden Klassen der Vergangenheit mit dem Staat gilt jedoch nicht für das Proletariat, da es als ausgebeutete Klasse keine eigene Wirtschaft hat. Und wir können hinzufügen: In einer Situation, in der der alte Staat demontiert ist und die alte bürgerliche Gesellschaft sich in Auflösung befindet, wird das Proletariat immer noch ein Instrument brauchen, um zu verhindern, dass die Konflikte zwischen ihm und den anderen nicht-ausbeutenden Klassen die Gesellschaft zerreißen. Und da diese Situation in gewissem Sinne eine Rückkehr zu den ursprünglichen Bedingungen darstellt, die zur Bildung des Staates geführt haben, werden staatliche Formen erscheinen, sich herausbilden, sich manifestieren, ob die Arbeiterklasse es will oder nicht. Und gerade deshalb wird der Übergangsstaat, so sehr das Proletariat ihn auch zu beherrschen vermag, kein rein proletarisches Organ sein, sondern – wie die Arbeiteropposition bereits 1921 in Bezug auf den Sowjetstaat zu erkennen vermochte – einen "heterogenen"[14] Charakter haben, der auf territorialen Kommunen oder auf sowjet-ähnlichen Organen beruht, in denen notwendigerweise die gesamte nicht ausbeutende Bevölkerung vertreten ist.
Was die "konservative" Rolle des Staates betrifft, so ist eine Klarstellung des Originaltextes von 1946 angebracht, in dem es heißt, dass "der Staat im Laufe der Geschichte als konservativer und reaktionärer Faktor in Erscheinung getreten ist". Aber konservativ und reaktionär sind nicht genau dasselbe. Die Funktion des Staates ist immer konservativ im Sinne des Schutzes, der Kodifizierung und der Stabilisierung von Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft. Je nach Epoche kann diese Rolle global der fortschreitenden Entwicklung der Produktivkräfte dienen; in Zeiten der Dekadenz wird dieselbe Rolle offen reaktionär im Sinne von rückwärtsgewandt, alles Vergangene und Überholte bewahrend. Der entscheidende Unterschied zur Minderheit lag nicht hier, sondern in ihrer Vorstellung, dass die dynamische Bewegung – die Bewegung in Richtung Zukunft – vom Staat und nicht von der Gesellschaft ausging. In einem in der International Review Nr. 11 veröffentlichten und von RV unterzeichneten Artikel[15] wird eindringlich dargelegt, dass selbst in der bürgerlichen Revolution, auf die sich die Genossen der Minderheit am liebsten als Beispiel für den Staat als revolutionäres Instrument beriefen, die wirklich radikale Bewegung, die den Sturz des alten Regimes vorantrieb, von "unten" kam, von der "plebiszitären" Bewegung auf den Straßen, den Generalversammlungen in den "Sektionen" oder der ersten Pariser Kommune von 1793 – die immer wieder an die wirtschaftlichen und politischen Grenzen stießen, die von der staatlichen Zentralmacht der Bourgeoisie in ihrem Streben nach Ordnung und Stabilität gesetzt wurden. Dies gilt umso mehr für die proletarische Revolution, bei der die kommunistische Umgestaltung unter Führung der Arbeiterklasse ständig die gesetzlich festgelegten Grenzen überschreiten muss, die von der offiziellen Organisation der Übergangsgesellschaft, dem Staat, festgelegt werden.
Im dritten Text, der 1978 in International Review Nr. 15[16] veröffentlicht wurde, führt Marc einige der in den beiden vorangegangenen Artikeln aufgeworfenen Fragen weiter aus, insbesondere aber greift er eine wichtige Erkenntnis aus dem im vorangegangenen Artikel verwendeten Engels-Zitat auf und entwickelt sie weiter: "Diese Macht, die aus der Gesellschaft hervorgegangen ist, sich aber über sie stellt und sich immer mehr von ihr entfremdet, ist der Staat“.[17]
Wie Marc feststellt, ist die Anerkennung des Staates als eine der ursprünglichsten Manifestationen der Entfremdung des Menschen von sich selbst oder von dem, was er sein kann, eine der frühesten politischen Einsichten von Marx und war der Schlüssel zu seiner Kritik der Hegelschen Philosophie: "In seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie[18], mit der er sein Leben als revolutionärer Denker und Kämpfer begann, kämpfte Marx nicht nur gegen Hegels Idealismus, der die Idee zum Ausgangspunkt aller Bewegung machte (die „Idee zum Subjekt, zum wirklichen Subjekt, oder richtiger gesagt, Prädikat", wie er in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie schrieb), er prangerte auch vehement die Schlussfolgerungen dieser Philosophie an, die den Staat zum Vermittler zwischen dem gesellschaftlichen Menschen und dem universellen politischen Menschen, zum Versöhner der Spaltung zwischen dem privaten Menschen und dem universellen Menschen machte. Hegel, der den wachsenden Konflikt zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat feststellte, wollte die Lösung dieses Widerspruchs in der Selbstbeschränkung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer freiwilligen Eingliederung in den Staat finden, denn, wie er sagte, "nur im Staat hat der Mensch ein vernunftgemäßes Dasein" und "alles, was der Mensch ist, verdankt er dem Staat, und in ihm liegt sein Wesen. All seinen Wert und seine geistige Wirklichkeit hat der Mensch nur durch den Staat" (Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte). Gegen diese wahnhafte Apologie des Staates sagte Marx: "Die menschliche Emanzipation ist erst vollendet, wenn der Mensch seine eigenen Kräfte als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat, so dass die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in Form der politischen Kraft von ihm selbst getrennt ist", d.h. der Staat (aus Die Judenfrage)".
Das theoretische Werk von Marx bezog also von Anfang an Position gegen den Staat als solchen, der ein Produkt, ein Ausdruck und ein aktiver Faktor der Entfremdung des Menschen ist. Im Gegensatz zu Hegels Forderung nach einer Stärkung des Staates und seiner Absorption der bürgerlichen Gesellschaft bestand Marx entschieden darauf, dass das Absterben des Staates gleichbedeutend mit der Emanzipation der Menschheit sei, und dieser Grundgedanke sollte sich durch sein ganzes Leben und Werk hindurch fortsetzen und weiterentwickeln.
Am deutlichsten wird dies in dem Abschnitt der Kritik, der sich mit der Frage des Wahlrechts befasst, die für Hegel die Trennung zwischen der gesetzgebenden Versammlung und der Zivilgesellschaft strikt aufrechterhielt, da die Wähler in keiner Weise ein Mandat über die Gewählten ausübten. Marx sah eine andere Möglichkeit, wenn die Wahl allgemein würde und "die Wähler die Wahl hätten, entweder selbst über die öffentlichen Angelegenheiten zu beraten und zu entscheiden oder bestimmte Personen zu beauftragen, diese Aufgaben in ihrem Namen zu erfüllen". Das Ergebnis einer solchen "direkten Demokratie" wäre das Folgende:
"In der unbeschränkten sowohl aktiven als passiven Wahl hat die bürgerliche Gesellschaft sich erst wirklich zu der Abstraktion von sich selbst, zu dem politischen Dasein als ihrem wahren allgemeinen wesentlichen Dasein erhoben. Aber die Vollendung dieser Abstraktion ist zugleich die Aufhebung der Abstraktion. Indem die bürgerliche Gesellschaft ihr politisches Dasein wirklich als ihr wahres gesetzt hat, hat sie zugleich ihr bürgerliches Dasein, in seinem Unterschied von ihrem politischen, als unwesentlich gesetzt; und mit dem einen Getrennten fällt sein Andres, sein Gegenteil. Die Wahlreform ist also innerhalb des abstrakten politischen Staats die Forderung seiner Auflösung, aber ebenso der Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft.“
Diese Worte mögen noch in der Sprache der Demokratie formuliert sein, aber sie tendieren auch dazu, diese zu überwinden, da sie nicht nur die Auflösung des Staates, sondern auch der bürgerlichen Gesellschaft vorwegnehmen. Im darauffolgenden Jahr schrieb Marx die "Einleitung" zur Kritik, die im Gegensatz zu dieser tatsächlich veröffentlicht wurde (in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern von 1844), und verfasste die Ökonomischen und Philosophischen Manuskripte. Im ersten Manuskript identifiziert Marx das Proletariat als Träger der revolutionären Veränderung, im zweiten Manuskript erklärt er endgültig den Kommunismus als die einzig mögliche Zukunft der menschlichen Gesellschaft.
Um auf Marcs Text zurückzukommen, ist es bezeichnend, dass er seine gesamte Untersuchung wieder in einen sehr weiten historischen Bogen einbettet. Wie im vorangegangenen Text über die Ursprünge des Staates, in dem er ausführlich über die "nichtjüdische" Gesellschaft und ihren Untergang spricht, beginnt er mit der Auflösung der urkommunistischen Gesellschaft und dem ersten Auftauchen des Staates. Diesen Schritt definiert er als die anfängliche Antithese oder Negation, die sicherstellt, dass alle nachfolgenden Klassengesellschaften trotz aller Veränderungen, die von einer Produktionsweise zur anderen stattgefunden haben, eine wesentliche Einheit und Kontinuität beibehalten – bis hin zur zukünftigen Abschaffung der Klassen und damit dem Absterben des Staates, der die Synthese, die "Negation der Negation, die Wiederherstellung der menschlichen Gemeinschaft auf einer höheren Ebene" ist.
In der ganzen langen Epoche der ersten Negation, der Klassengesellschaft, tendiert der Staat immer mehr dazu, sich selbst und seine eigenen privaten Interessen zu verewigen, sich immer mehr von der Gesellschaft zu entfremden. So erreicht die zunehmend totalitäre Macht des Staates ihren Höhepunkt in dem Phänomen des Staatskapitalismus, der zur Epoche des Niedergangs des Kapitalismus gehört. "Mit dem Kapitalismus haben Ausbeutung und Unterdrückung einen Paroxysmus erreicht, denn der Kapitalismus ist das verdichtete Produkt aller bisherigen Gesellschaften der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Der Staat hat im Kapitalismus seine Bestimmung erreicht und ist zu dem abscheulichen und blutigen Monster geworden, das wir heute kennen. Mit dem Staatskapitalismus hat er die Absorption der bürgerlichen Gesellschaft verwirklicht, er wurde zum Manager der Wirtschaft, zum Chef der Produktion, zum absoluten und unbestrittenen Herrn über alle Mitglieder der Gesellschaft, über ihr Leben und ihre Aktivitäten; er hat Terror und Tod entfesselt und einer allgemeinen Barbarei vorgestanden".
Dieser ganze Prozess ist somit ein Schlüssel, um die Kluft zwischen der Menschheit, wie sie sein könnte, und der Menschheit, wie sie jetzt ist, zu messen. Kurz gesagt, die sich verschärfende Entfremdung der Menschheit, die ihren extremsten Punkt in der bürgerlichen Gesellschaft erreicht hat. Im Gegensatz dazu steht die "wirkliche Bewegung", die Entfaltung des Kommunismus, der als Voraussetzung für seine künftige Entfaltung das Absterben des Staates gewährleisten muss, um das Versprechen von Marx zu erfüllen, "dass der Mensch seine eigenen Kräfte als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat".
Dieses Geschichtspanorama ermöglicht es uns, den im Wesentlichen konservativen Charakter des Staates besser zu verstehen, seinen notwendigen Antagonismus zu der Dynamik, die aus der gesellschaftlichen, der menschlichen Sphäre hervorgeht:
"Wir müssen sehr aufpassen, dass wir nicht in die Verwirrung und den Eklektizismus verfallen, der behauptet, der Staat sei sowohl konservativ als auch revolutionär. Dies würde die Realität auf den Kopf stellen und dem Hegelschen Irrtum Tür und Tor öffnen, der den Staat zum Subjekt der gesellschaftlichen Bewegung macht. Die These vom konservativen Charakter des Staates, der vor allem auf seine eigene Erhaltung bedacht ist, ist eng und dialektisch mit der Vorstellung verknüpft, dass die Emanzipation der Menschheit mit dem Absterben des Staates identifiziert werden kann".
In Marcs Artikel wird in dem Absatz, der diesen Abschnitt einleitet, darauf hingewiesen, dass Hegels Kardinalfehler in der Geschichtswissenschaft, in dem er den Staat als die wahre, vorwärtstreibende Kraft ansieht, auch auf der logischen Ebene begangen wird, in seiner Verwechslung von Subjekt und Prädikat, Idee und Wirklichkeit, die auch Marx in der Kritik ausführlich kritisiert: "Familie und bürgerliche Gesellschaft sind die Voraussetzungen des Staats; sie sind die eigentlich Tätigen; aber in der Spekulation wird es umgekehrt. Wenn aber die Idee versubjektiviert wird, werden hier die wirklichen Subjekte, bürgerliche Gesellschaft, Familie, 'Umstände, Willkür etc.' zu unwirklichen, anderes bedeutenden, objektiven Momenten der Idee."[19]
Der Artikel in International Review Nr. 15 geht auch näher auf die Form des Übergangsstaates ein:
"Für die Struktur der Übergangsgesellschaft können wir folgende Prinzipien aufstellen:
1. Die gesamte nicht ausbeutende Bevölkerung wird auf der Grundlage von territorialen Räten oder Kommunen organisiert, die von unten nach oben zentralisiert werden und den Kommunestaat hervorbringen.
2. Die Arbeiter nehmen an dieser Räteorganisation teil, individuell wie alle Mitglieder der Gesellschaft und kollektiv durch ihre autonomen Klassenorgane, auf allen Ebenen der Räteorganisation.
3. Das Proletariat stellt sicher, dass es auf allen Ebenen, vor allem aber auf den höheren Ebenen, eine vorherrschende Vertretung hat.
4. Das Proletariat behält und bewahrt die volle Freiheit gegenüber dem Staat. Unter keinem Vorwand wird das Proletariat die Entscheidungsgewalt seiner eigenen Organe, der Arbeiterräte, der des Staates unterordnen; es muss dafür sorgen, dass das Gegenteil der Fall ist.
5. Insbesondere wird es die Einmischung des Staates in das Leben und die Tätigkeit der organisierten Klasse nicht dulden; es wird dem Staat jedes Recht und jede Möglichkeit nehmen, die Arbeiterklasse zu unterdrücken.
6. Das Proletariat behält seine Waffen außerhalb jeglicher Kontrolle durch den Staat".
Diese Perspektiven sind keine Rezepte für die Kochbücher der Zukunft; sie "...beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind“ (Kommunistisches Manifest: Proletarier und Kommunisten). Im Gegenteil, sie sind die Schlussfolgerungen, die aus der realen Erfahrung der Russischen Revolution gezogen werden müssen. Hier, in ihrer ersten schwungvollen Periode, waren die spezifischen Organe der Arbeiterklasse – Fabrikkomitees, Rotgardisten, von Betriebsversammlungen gewählte Sowjets – Teil eines breiteren Netzes von Sowjets, die die gesamte nichtausbeutende Bevölkerung umfassten. Marcs Skizze der Struktur des Übergangsstaates verdeutlicht jedoch die Notwendigkeit, dass die Arbeiterklasse ihre Kontrolle über diesen allgemeinen Staatsapparat ausüben muss, eine Idee, die in der Russischen Revolution nur implizit vorhanden war, zum Beispiel in der Vorstellung, dass die Stimmen der Arbeiterversammlungen und -delegierten mehr zählen sollten als die Stimmen der Delegierten der Bauern und anderer nichtausbeutenden Klassen. Gleichzeitig überwindet sein Entwurf einige entscheidende Fehler, die in Russland ab 1917 gemacht wurden, insbesondere die Tatsache, dass mit Beginn des Bürgerkriegs 1918 die werkseigenen Milizen, die Roten Garden, in die territoriale Rote Armee aufgelöst wurden. Damit wurde den Arbeiter:innen ein entscheidendes Instrument zur Verteidigung ihrer spezifischen Interessen entzogen, notfalls auch gegen den Übergangsstaat und seine Armee. Der folgende Absatz in Marcs Text weist auf eine weitere wesentliche Lehre aus der russischen Erfahrung hin:
"Es bleibt nur noch zu bekräftigen, dass die politische Partei der Klasse kein Staatsorgan ist. Lange Zeit vertraten die Revolutionäre diese Ansicht nicht, aber das war ein Zeichen für die Unreife der objektiven Situation und ihren eigenen Mangel an Erfahrung. Die Erfahrung der Russischen Revolution hat gezeigt, dass diese Sichtweise überholt ist. Die Struktur eines auf politischen Parteien basierenden Staates ist typisch für die bürgerliche Demokratie, für den bürgerlichen Staat. Die Gesellschaft in der Übergangsphase kann ihre Macht nicht an politische Parteien, d.h. an spezialisierte Organe, delegieren. Der Halbstaat wird sich auf das Rätesystem stützen, auf die direkte und ständige Beteiligung der Massen am Leben und Funktionieren der Gesellschaft. Das bedeutet, dass die Massen ihre Vertreter jederzeit abberufen, ersetzen und eine ständige und direkte Kontrolle über sie ausüben können. Die Delegation der Macht an Parteien, gleich welcher Art, führt die Trennung zwischen Macht und Gesellschaft wieder ein und ist somit ein großes Hindernis für ihre Emanzipation.
Darüber hinaus wird die Übernahme oder Beteiligung der proletarischen Partei an der Staatsmacht, wie die russische Erfahrung zeigt, ihre Funktionen tiefgreifend verändern. Ohne in eine Diskussion über die Funktion der Partei und ihr Verhältnis zur Klasse einzutreten – was eine andere Debatte eröffnet –, genügt es hier zu sagen, dass die kontingenten Forderungen des Staates letztendlich die Oberhand über die Partei gewinnen und sie dazu bringen, sich mit dem Staat zu identifizieren und sich von der Klasse zu trennen, bis hin zum Widerstand gegen die Klasse".
Zu dieser Skizze eines möglichen Übergangsstaates der Zukunft muss eine Frage gestellt werden. Sie beruht auf dem Grundprinzip, dass das Proletariat als einzige kommunistische Klasse jederzeit seine Autonomie gegenüber allen anderen Klassen bewahren muss. Die direkte Übersetzung dieses Konzepts ist die Forderung, dass die Arbeiterräte ihre Diktatur über den Staat ausüben sollen, und die soziale Zusammensetzung dieser Räte ist klar: Es handelt sich um stadtweite Räte, die sich aus Delegierten zusammensetzen, die von allen Betrieben dieser Stadt gewählt werden. Das Problem für uns ist, dass dieses Konzept zu einer Zeit – in den 1970er Jahren – entwickelt wurde, als die Arbeiterklasse noch ein klares Klassenbewusstsein hatte und in den zentralen Ländern des Kapitals in großen Betrieben wie Fabriken, Bergwerken, Werften usw. konzentriert war. Aber in den letzten Jahrzehnten wurden diese Konzentrationen durch den Prozess der "Globalisierung" weitgehend aufgelöst, und die Arbeiterklasse wurde durch diese Veränderungen nicht nur materiell atomisiert, sondern auch einer unerbittlichen ideologischen Offensive ausgesetzt, vor allem seit dem Zusammenbruch des angeblichen "Kommunismus" nach 1989: einer Offensive, die auf der Vorstellung beruht, dass die Arbeiterklasse nicht mehr existiert, dass sie jetzt bestenfalls eine Art Unterklasse ist, sogar eine rassische Unterklasse, wie in der abscheulichen Vorstellung, dass die Arbeiterklasse per Definition "weiß" sei. Ebenso wurde unsere Klasse durch den Prozess der "Uberisierung", der darauf abzielt, jede:n Arbeiter:in als individuelle:n Unternehmer:in darzustellen, weiter zersplittert. Vor allem aber wurde sie von der Propaganda angegriffen, die behauptet, der Klassenkampf sei ein völliger Anachronismus und könne nicht zur Bildung einer menschlicheren Gesellschaft führen, sondern nur zu den schlimmsten Formen des Staatsterrors, wie in der UdSSR unter Stalin.[20]
Diese Veränderungen und Kampagnen haben die Arbeiterklasse vor große Schwierigkeiten gestellt und werfen echte Probleme bei der Bildung der Arbeiterräte der Zukunft auf. Es ist nicht so, dass die Idee der Räte völlig verschwunden oder zu einem bloßen Anhängsel der bürgerlichen Demokratie geworden wäre. Der ihr zugrunde liegende Gedanke tauchte zum Beispiel in den Massenversammlungen der Bewegung der Indignados in Spanien 2011 auf – und gegen jene Gruppen wie Echte Demokratie jetzt, die die Versammlungen nutzen wollten, um dem parlamentarischen System eine Art vampirisches Leben einzuhauchen, gab es in der Bewegung jene, die argumentierten, dass diese Versammlungen eine höhere Form der Selbstverwaltung als das alte parlamentarische System seien. Die Mehrheit der Teilnehmenden dieser Versammlungen waren in der Tat Proletarier:innen, aber es waren vor allem Student:innen, Arbeitslose, prekär Beschäftigte, und sie überwanden ihre Atomisierung, indem sie sich auf den Plätzen der Städte oder in eher lokalen Nachbarschaftsversammlungen zusammenfanden. Gleichzeitig gab es wenig oder keine entsprechende Tendenz, Versammlungen in den größeren Betrieben abzuhalten.
In gewisser Weise war diese Form der Versammlungsorganisation eine Rückkehr zur Form der Kommune von 1871, die sich aus Delegierten der Pariser Stadtteile (vor allem aber der Arbeiterviertel) zusammensetzte. Die Arbeiterräte oder Sowjets von 1905 oder 1917 waren ein Fortschritt gegenüber der Kommune, da sie ein konkretes Mittel darstellten, das es der Klasse ermöglichte, sich als Klasse zu organisieren. Die "territoriale" Form hingegen ist viel anfälliger für die Idee, dass es die Bürger seien, die sich zusammenschließen, und nicht eine Klasse mit einem eigenen Programm, und wir haben diese Schwäche sehr deutlich in der Indignados-Bewegung gesehen. Und in jüngster Zeit haben die sozialen Revolten, die die Welt vom Nahen Osten bis nach Südamerika erschüttert haben, noch deutlicher die Gefahr des Interklassismus (der klassenübergreifenden Bewegungen) aufgezeigt, dass das Proletariat in den Protesten der allgemeinen Bevölkerung untergeht, die einerseits von der demokratischen Ideologie und andererseits von der verzweifelten, unorganisierten Gewalt, die das Lumpenproletariat kennzeichnet, dominiert wird.[21]
Wir können nicht sicher sein, wie dieses Problem in einer zukünftigen Massenbewegung angegangen werden wird, in der sich das Proletariat vielleicht durch eine Kombination von Massenversammlungen am Arbeitsplatz und auf der Straße organisieren wird. Es kann auch sein, dass die Autonomie der Arbeiterklasse in Zukunft einen direkteren politischen Charakter annehmen muss: mit anderen Worten, dass die Klassenorgane der nächsten Revolution sich viel mehr als in der Vergangenheit über ihre Fähigkeit definieren werden, proletarische politische Positionen einzunehmen und zu verteidigen (wie z.B. die Opposition zu Parlament und Gewerkschaften, die Demaskierung der kapitalistischen Linken usw.). Dies bedeutet keineswegs, dass die Betriebe und die von ihnen ausgehenden Räte aufhören werden, ein entscheidender Mittelpunkt für das Zusammenkommen der Arbeiterklasse als Klasse zu sein. Dies wird sicherlich in Ländern wie China der Fall sein, deren rasante Industrialisierung den Gegenpol zur Deindustrialisierung von Teilen des Kapitalismus im Westen bildet. Aber selbst in diesen gibt es immer noch beträchtliche Konzentrationen von Arbeiter:innen in Sektoren wie Gesundheit, Verkehr, Kommunikation, Verwaltung und Bildung (und auch im verarbeitenden Gewerbe...). Und wir haben einige Beispiele dafür gesehen, wie die Beschäftigten die Nachteile der Aufsplitterung in kleine Unternehmen überwinden können, z.B. im Kampf der Stahlarbeiter in Vigo in Spanien im Jahr 2006, wo Versammlungen von Streikenden im Stadtzentrum Arbeiter:innen aus einer Reihe von kleinen Stahlfabriken zusammenbrachten. Wir werden auf diese Fragen in einem späteren Artikel zurückkommen. Sicher ist jedoch, dass die Klassenautonomie des Proletariats in jeder künftigen revolutionären Umwälzung mit einer echten Aneignung der Erfahrungen früherer Revolutionen und vor allem der Erfahrungen des nachrevolutionären Staates zusammengehen wird. Wir können mit einiger Zuversicht sagen, dass die Kritik des Staates, die von einer Linie von Revolutionären ausgearbeitet wurde, die Marx, Engels und Lenin mit BILAN und Marc Chirik sowohl in der GCF als auch in der IKS verbindet, für die Wiederaneignung ihrer eigenen Geschichte durch die Arbeiterklasse und damit für die Verwirklichung ihrer kommunistischen Zukunft unerlässlich sein wird.
C. D. Ward, August 2019
[1] In the aftermath of World War Two: debates on how the workers will hold power after the revolution [22], International Review 1. Hälfte 2014, auf unser englischsprachigen Webseite
[2] Einige Artikel und unsere Analyse dazu findet man unter: Communism is on the agenda of history [23], auf unser englischsprachigen Webseite
[3] Siehe zum Beispiel: Nature and function of the proletarian party [24], International Review 2. Hälfte 2014, auf unser englischsprachigen Webseite
[4] Einige Artikel dazu: The Period of Transition - Preface [25], ICConline 2005. Die gedruckte Originalausgabe der Broschüre The periode of transition from capitalism to communism ist vergriffen. Es können jedoch Kopien angefertigt werden.
[5] Die Entwicklung dieser Gruppe, vor allem ihre Großzügigkeit gegenüber dem Terrorismus und ihr gewalttätiges Vorgehen gegen Genossen der IKS, beförderte sie aus dem proletarischen Lager. Siehe: How the Groupe Communiste Internationaliste spits on proletarian internationalism [26], ICConline September 2006
[6] Einer der jüngsten Befürworter dieser Idee ist die Gruppe Internationalist Perspective (internationalist-perspective.org/IP/ip-texts/communisation.html) . Eine interessante Antwort auf diejenigen, die die Notwendigkeit einer Übergangsperiode ablehnen, wurde 2014 von der CWO veröffentlicht, vgl. The Period of Transition and its Dissenters [27], auf der Webseite der IKT (leftcom.org)
[7] Siehe unsere Kritik an Dauvé über die Ereignisse in Spanien 1936 in Review of 'When Insurrections Die': modernist ideas hinder a break from anarchism [28], World Revolution Nr. 230, Dezember 1999 (auch online verfügbar).
[8] An sich ist der Begriff Kommunisierung (Vergemeinschaftung) gültig, denn es ist vollkommen richtig, dass kommunistische gesellschaftliche Verhältnisse nicht das Produkt staatlicher Dekrete sind, sondern der "wirklichen Bewegung, die den gegenwärtigen Zustand aufhebt", wie Marx es ausdrückte. Aber wir lehnen die Vorstellung ab, dass dieser Prozess ohne die Übernahme der Macht durch die Arbeiterklasse stattfinden kann.
[9] Communism is not a ‘nice idea’, Vol. 3 Part 10, “Bilan, the Dutch left, and the transition to communism [29]”, International Review Nr. 151
[10] vgl. Fußnote 6
[11] The state in the period of transition, S. and M., Mai 1977
[12] Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, Kapitel 9
[13] Engels verwendet den Ausdruck "normalerweise", weil er weiter sagt: "Es gibt jedoch Ausnahmeperioden, in denen die Kräfte der sich bekämpfenden Klassen so annähernd gleich sind, dass die Staatsmacht als scheinbarer Vermittler für den Augenblick eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den beiden erlangt. Dies gilt für die absolute Monarchie des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, die den Adel und das Bürgertum gegeneinander ausspielt, und für den Bonapartismus des Ersten und vor allem des Zweiten Französischen Kaiserreichs, der das Proletariat gegen das Bürgertum und das Bürgertum gegen das Proletariat ausspielt". Marc kommentiert solche Ausnahmen in Die Ursprünge des Staates und all das, indem er Beispiele anführt, in denen im Rahmen der Klassengesellschaft die Staatsform, die im Allgemeinen der vorherrschenden Produktionsweise entspricht, auch dazu dienen kann, Produktionsverhältnisse zu schützen, die nach langer Abwesenheit wieder aufgetaucht sind – das Beispiel der Sklaverei vom 17. bis zum 19. Jahrhundert.
[14] The proletariat and the transitional state [30], International Review Nr. 100 (engl./frz./span. Ausgabe)
[15] State and dictatorship of the proletariat [31], International Review Nr. 11 (engl./frz./span. Ausgabe)
[16] The state in the period of transition [32], International Review Nr. 15 (engl./frz./span. Ausgabe)
[17] Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, Kapitel 9
[18] MEW Bd. 1 S. 378 ff.
[19] MEW Bd. 1 S. 206
[20] Der Bericht des 23. Internationalen Kongresses der IKS über den Klassenkampf [33] (Internationale Revue Nr. 56) fokussierte sich auf die Frage der Klassenidentität.
[21] Siehe: Angesichts der globalen Wirtschaftskrise und der Armut: "Volksrevolten" sind eine Sackgasse [34], IKSonline November 2019
Angesichts der schwerwiegenden Entwicklungen im imperialistischen Krieg in der Ukraine hat die IKS u.a. mit einem internationalen Flugblatt reagiert, das die Barbarei des Konflikts und die heuchlerischen Lügen der herrschenden Klasse in beiden Lagern anprangert und darauf besteht, dass die Entwicklung des Klassenkampfes in allen Ländern der einzige Ausweg aus dem Alptraum dieses verrotteten Systems ist. Das Flugblatt steht auf unserer Webseite zur Verfügung und wir fordern alle, die mit unseren Positionen sympathisieren, auf, es in eurem Umfeld zu verteilen, sei es digital oder auf Papier.
Wir werden auch das Thema unserer internationalen öffentlichen Online-Diskussionen ändern, die für den 5. März (12 Uhr) und den 6. März (19 Uhr) geplant sind und in Englisch durchgeführt wird. Das Treffen wird sich nun auf die Bedeutung dieses Konflikts und die Verantwortung der internationalistischen Minderheiten konzentrieren. Wenn ihr an dem Treffen teilnehmen möchtet und ihr euch noch nicht angemeldet habt, schreibt uns bitte so bald wie möglich an [email protected] [35] und gebt an, welcher Tag oder welche Tage euch am besten passen. Wir werden euch am Tag des Treffens die Anmeldedaten zusenden.
Die Kapitulation der proletarischen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vor dem Imperialismus im Jahre 1914 ist unter Revolutionären wohlbekannt. Ebenso die Tatsache des opportunistischen Niedergangs der SPD, der zu diesem folgenschweren Verrat an der Arbeiterklasse führte.
Weniger bekannt ist der kontinuierliche Kampf, den der revolutionäre Flügel der Partei seit ihrer Gründung gegen die Kräfte des reformistischen Opportunismus führte, und zwar nicht nur auf theoretischer Ebene durch so bahnbrechende Werke wie die Kritik des Gothaer Programms von Karl Marx, den Anti-Dühring von Friedrich Engels oder Reform oder Revolution von Rosa Luxemburg, sondern auch auf der Ebene der Verteidigung der organisatorischen Klassenprinzipien.
Der folgende Text, der sich oft auf Recherchen in Büchern und Dokumenten stützt, die nur in deutscher Sprache verfügbar sind, zeichnet die Geschichte dieses Organisationskampfes in zwei Teilen nach. Der erste Teil umfasst den Zeitraum von 1872 bis 1889, vom Gothaer bis zum Erfurter Programm; der zweite Teil beschreibt die darauffolgende Zeit bis 1914.
Der Kampf um den Erhalt wichtiger Errungenschaften
Nach der Niederschlagung der Pariser Kommune reagierte die Bourgeoisie europaweit mit einer Welle der Repression. Natürlich waren die Kommunarden in Frankreich, von denen mehr als 20.000 von der Versailler Regierung ermordet und 38.000 verhaftet und mehr als 7.000 zur Flucht gezwungen worden waren, die Hauptopfer. Aber in Anbetracht dieser ersten großen erfolgreichen Machtergreifung in einer Stadt durch die Arbeiterklasse wurden auch die Arbeiterorganisationen in anderen Ländern verstärkter Repression ausgesetzt.
Gleichzeitig startete die herrschende Klasse einen Angriff von Innen gegen die I. Internationale – mit Bakunin und seiner „Allianz der Sozialistischen Demokratie“ als Speerspitze. Mit Hilfe einer geheimen Organisation sollten die bisherigen Errungenschaften der I. Internationale auf der Ebene der Funktionsweise untergraben, die I. Internationale dem Anarchismus preisgegeben werden. Auf dem Haager Kongress 1872 entblößte der Generalrat der I. Internationale mit Marx und Engels an deren Spitze diesen Komplott. Dieser Kampf zur Verteidigung der Organisation sollte zu einem der wertvollsten Erfahrungsschätze der revolutionären Bewegung werden, dessen Bedeutung und Konsequenzen jedoch zum damaligen Zeitpunkt weitestgehend unterschätzt wurden und lange Zeit in Vergessenheit gerieten. Die IKS hat in einer Reihe von Artikel (Internationale Revue Nrn. 17, 19 und 20) diesen Kampf und diese Lehren ausführlich dargestellt. Wir empfehlen sie unseren Leser:innen als unerlässliches Ausgangsmaterial, um die nachfolgende Entwicklung zu begreifen.[1]
Die deutschen Sektionen der IAA beteiligten sich aktiv an der Vorbereitung des Haager Kongresses – gegen den Widerstand der Herrschenden in Deutschland. Nach der Pariser Kommune war die Bildung von Sektionen der Internationale in Deutschland verboten worden, nur Einzelbeitritte waren möglich. Damit gab es offiziell keine Mitgliedschaft einer Organisation aus Deutschland in der IAA und auch offiziell keine örtlichen Sektionen. In den meisten europäischen Ländern konnte keine Organisation von nennenswerter Größe existieren, wenn sie sich nach 1872 offen zur Internationale bekannte. Die Regierung verbot den in Deutschland wohnenden Mitgliedern der IAA, nach Den Haag zu reisen und als Delegierte zu wirken, dennoch gelang es ihnen, diese Zwangsmaßnahmen zu umgehen. Wilhelm Liebknecht und August Bebel, führende Persönlichkeiten der SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei/Eisenacher[2] [1869-1875]), wurden wegen Hochverrats inhaftiert, weil sie während des deutsch-französischen Krieges eine internationalistische Position eingenommen hatten. Viele Genossen, die für den Volksstaat (die Publikation der SDAP) schrieben, wurden verhaftet, und die Behörden untersagten die Veröffentlichung von Material über den Haager Kongress. Dennoch konnte die deutsche Delegation auf dem Kongress immerhin 15 Delegierte von insgesamt 65 Delegierten stellen (d.h. knapp ein Viertel) und eine aktive Rolle spielen. Marx hatte ein Mandat aus Leipzig, Engels eins aus Breslau erhalten und Cuno war Vorsitzender des Ausschusses zur Untersuchung der Tätigkeit der Bakuninistischen Allianz.
Nach Abschluss des Haager Kongresses (2.-7. September 1872) fuhren die Delegierten sofort zum Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Eisenacher) nach Mainz (7.-11. September).
Während die Eisenacher auch nach dem Haager Kongress anfangs noch vehement gegen die Bakuninisten Stellung bezogen, ließen aber schon kurze Zeit später ab Herbst 1872/73 die Stellungnahmen des Volksstaat gegen die Bakuninisten nach. Liebknecht enthielt sich in dieser Phase der Kritik an den Anarchisten, er wollte aus taktischen Gründen gegenüber den Lassalleanern[3] zurückweichen. Demgegenüber drohten Marx und Engels, falls der Volksstaat sich einen Maulkorb anlege, müssten sie ihre Mitarbeit aufkündigen; man könne keine Einheit durch Aufgabe von Prinzipien anstreben. Nach der Kritik von Marx und Engels reaktivierte der Volksstaat wieder kurzfristig seine Kritiken an den Bakuninisten.[4] Unterdessen trieben die Lassalleaner weiterhin ihre Wühlarbeit zur Unterstützung der Bakuninisten. Im April 1873 verwarfen die Lassalleaner die Beschlüsse des Haager Kongresses, sie schickten gar Delegierte zu einem Treffen der Bakuninisten in der Schweiz.
Der Vereinigungskongress von Gotha und die Verwischung der Prinzipien
Die Neigung der Eisenacher, gegenüber den Lassalleanern zurückzuweichen, war u.a. mit den begonnenen Vereinigungsbestrebungen zwischen den Lassalleanern und den Eisenachern begründet worden, denn auf dem Mainzer Kongress der SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei) 1872 wurden die Weichen gestellt für „ein prinzipielles Zusammengehen“ mit dem ADAV, auch wenn auf dem Coburger Kongress 1874 der SDAP noch hauptsächlich über eine gegenseitige Unterstützung im Klassenkampf diskutiert wurde und eine sofortige Vereinigung von SDAP und ADAV nicht auf der Tagesordnung stand. Die Führer der SDAP ließen sich entgegen dem Votum von Marx und Engels zu einer schnellen Vereinigung im März 1875 in Gotha hinreißen und gründeten die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD). „Man muss sich durch das Geschrei nach „Einigung“ nicht beirren lassen (…) Natürlich will jede Parteileitung Erfolge sehn, das ist auch ganz gut. Aber es gibt Umstände, wo man den Mut haben muss, den augenblicklichen Erfolg wichtigeren Dingen zu opfern. Namentlich bei einer Partei wie die unsrige, deren schließlicher Erfolg so absolut gewiss ist, und die zu unseren Lebzeiten und unter unseren Augen sich so kolossal entwickelt hat, braucht man den augenblicklichen Erfolg keineswegs immer und unbedingt. (…) Jedenfalls glaube ich, dass die tüchtigen Elemente unter den Lassalleanern Ihnen mit der Zeit von selbst zufallen werden und dass es deshalb unklug wäre, die Frucht vor der Reife zu brechen, wie die Einigungsleute wollen. Übrigens hat schon der alte Hegel gesagt: Eine Partei bewährt sich dadurch als die siegende, dass sie sich spaltet und die Spaltung vertragen kann“. Im gleichen Brief warnte Engels davor, nachdem sich die Eisenacher gewissermaßen in Konkurrenz zum ADAV sahen, man „gewöhnt sich, in allem zuerst an ihn zu denken (…) Nach unserer Ansicht, die wir durch lange Praxis bestätigt gefunden haben, ist aber die richtige Taktik in der Propaganda nicht die, dem Gegner hier und da einzelne Leute und Mitgliedschaften abspenstig zu machen, sondern auf die große noch teilnahmslose Masse zu wirken. Eine einzige neue Kraft, die man aus dem Rohen heraus selbst herangezogen hat, ist mehr wert als ein Lassallscher Überläufer, die immer den Keim ihrer falschen Richtung mit in die Partei hineintragen.“[5]
Nachdem die Pariser Kommune niedergeschlagen und die I. Internationale in Europa ab 1873[6] de facto aufgelöst war, hatte sich der Schwerpunkt der Arbeit auf die einzelnen Länder verlagert. „Der Schwerpunkt der Bewegung [ist] nach Deutschland verlegt”[7], nachdem dort die marxistische Tendenz politische Anerkennung dank ihres Internationalismus während des deutsch-französischen Krieges gewonnen hatte.
In den 1870er Jahren war die SAPD eine der ersten Parteien, die nach der Niederschlagung der Pariser Kommune und der darauf international einsetzenden Repression als Zusammenschluss von zwei existierenden Parteien in einem Land gegründet wurde. Weil unmittelbar nach der Auflösung der I. Internationale keine größere internationale Zusammenarbeit möglich war, stand die Arbeiterbewegung international vor der Aufgabe, in den einzelnen Ländern auf eine Parteigründung hinzuarbeiten und diese programmatisch und organisatorisch auf eine höhere Stufe als in den 1860er Jahren zu stellen.[8]
In Österreich wurde die Vereinigte Sozialdemokratische Partei Österreichs im April 1874 gegründet (ihr Programm stützte sich auf das der Eisenacher).[9] In den anderen Ländern setzte der Prozess der Parteienbildung erst später ein.[10]
Der Gothaer Gründungskongress der SAPD (1875) brachte dennoch einige Merkmale des Fortschritts zum Ausdruck, dass z.B. das erste Mal eine in einem ganzen Land vorhandene Partei mit festen Organisationsprinzipien gegründet wurde. Die Fusion aus zwei Organisationen – ADAV und Eisenacher – hatte es ermöglicht, dass die „Führerdiktatur“, die zuvor im ADAV von Lassalle ausgeübt worden war, überwunden und die Leitung der Partei in kollektive und zentralisierte Hände gelegt wurde. Der 1867 in einem Duell verstorbene Lassalle hatte bei den Lassalleanern die Rolle eines Präsidenten mit geradezu diktatorischen Vollmachten und Ansprüchen gespielt, und dessen Herangehensweise warf immer noch seine Schatten auf den ADAV.
Die Statuten des ADAV von 1872 verlangten in „III. Mitgliedschaft § 3: Jeder Arbeiter wird durch einfache Beitrittserklärung Mitglied des Vereins mit vollem und gleichem Stimmrecht und kann jederzeit austreten. § 6 Die Angelegenheiten des Vereins werden verwaltet durch den Vorstand, bestehend aus einem Präsidenten und 24 Mitgliedern.“ In den nachfolgenden Punkten wurden vor allem die Befugnisse des Präsidenten weiter definiert. Die Statuten der 1875 gegründeten SAPD sahen vor: „§ 1 Der Partei kann jeder angehören, der sich zu den Grundsätzen des Parteiprogramms bekennt und für die Förderung der Arbeiterinteressen tatkräftig, auch durch Geldopfer, eintritt. Wer drei Monate keine Beiträge leistet, wird nicht mehr als Parteigenosse betrachtet“. Weil es schon Verbote für die Vereinsbildung und aktive Beteiligung an revolutionären Organisationen gab, hatte man in den Statuten Hinweise auf eine aktive Mitarbeit in der Organisation vermieden.
Weiterhin hieß es: „Parteigenossen, welche gegen das Interesse der Partei handeln, können vom Vorstand ausgeschlossen werden. Berufung an den Parteikongress ist zulässig“ (§ 2 der Statuten). In dieser Hinsicht wurde eine Kontinuität mit den Methoden des Bundes der Kommunisten hergestellt, die allerdings nur über die Eisenacher weitergegeben wurde.
Während die neu gegründete Partei auf organisatorischer Ebene einen Schritt nach vorne darstellte, spiegelte die Partei auf programmatischer Ebene die große politische Unreife wider, die sich in einer Vielzahl von Geburtsschwächen äußerte.
Von den Lassalleanern waren 73 Delegierte für 15.322 Mitglieder, von den Eisenachern 56 Delegierte für 9121 Stimmen zugegen.[11] Weil die Lassalleaner konfuser waren, sollte man aus Sicht der Führung Kompromisse eingehen und programmatische Verwässerungen im Interesse der Einheit hinnehmen. Als von Karl Marx am 5. Mai 1875 an Wilhelm Bracke „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei“ geschickt wurden, verheimlichte die Parteiführung diese vor dem Kongress und den Parteimitgliedern; selbst der berühmtesten Führerpersönlichkeit Bebel wurde das Schreiben vorenthalten. So schrieb Marx u.a. an Wilhelm Bracke am 5.5.1875: „Nach abgehaltenem Koalitionskongress werden Engels und ich nämlich eine kurze Erklärung veröffentlichen, des Inhalts, dass wir besagtem Prinzipienprogramm durchaus fernstehen und nichts damit zu haben. (…) Abgesehen davon ist es meine Pflicht, ein nach meiner Überzeugung durchaus verwerfliches und die Partei demoralisierendes Programm auch nicht durch diplomatisches Stillschweigen anzuerkennen. Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme. Konnte man also nicht – und die Zeitumstände ließen das nicht zu – über das Eisenacher Programm hinausgehen, so hätte man einfach eine Übereinkunft für Aktion gegen den gemeinsamen Feind abschließen sollen. Macht man aber Prinzipienprogramme (statt dies bis zurzeit aufzuschieben, wo dergleichen durch längere gemeinsame Tätigkeit vorbereitet war), so errichtet man vor aller Welt Marksteine, an denen sie die Höhe der Parteibewegung misst (…) Man wollte offenbar alle Kritik eskamotieren und die eigne Partei nicht zum Nachdenken kommen lassen. Man weiß, wie die bloße Tatsache der Vereinigung die Arbeiter befriedigt, aber man irrt sich, wenn man glaubt, dieser augenblickliche Erfolg sei nicht zu teuer erkauft. Übrigens taugt das Programm nichts, auch abgesehen, von der Heiligsprechung der Lassallschen Glaubensartikel.“[12] [13]
Engels schrieb im Oktober 1875 in einem Brief an Wilhelm Bra cke: „Wir sind ganz Ihrer Ansicht, dass Liebknecht durch seinen Eifer, die Einigung zu erreichen, jeden Preis für sie zu zahlen, die ganze Sache verfahren hat. (…) Nachdem der Einigungsprozess einmal auf fauler Grundlage ins Werk gesetzt und ausposaunt war, durfte er um keinen Preis scheitern.“ [14]
Die heftige Kritik von Marx und Engels an der mangelnden Klarheit und gar opportunistischen Haltung verdeutlichte, wieviel Wert Marx und Engels auf programmatische Klarheit gelegt hatten, dass Einheit nicht durch die Preisgabe des Programms und das Zusammengehen mit unzuverlässigen, unklaren Kräften herbeigeführt werden darf. Dass es besser wäre, erst einmal wenige zu sein, aber auf klarer Basis arbeitend, anstatt viele auf unklarer Basis. Damit vertraten Marx und Engels den Standpunkt, dass Einheit nur auf klaren Grundlagen geschaffen werden und Klarheit nicht der Einheit zum Opfer fallen darf. Das Festhalten an programmatischer Unnachgiebigkeit und Prinzipientreue zeichnete das Verhalten der Marxisten gegenüber später auftauchenden opportunistischen Tendenzen und Kräften aus. Insofern stand die Haltung von Marx und Engels, nicht Einheit um jeden Preis, sondern Klarheit und keine Angst vor Abgrenzung und ggf. Spaltung im Gegensatz zur späteren Politik der SPD.
Gleichzeitig brachte die Art und Weise, wie man mit der Kritik von Marx und Engels an diesen Schwächen umging, eine Tendenz zum Vorschein, die in der revolutionären Bewegung immer wieder aufgetreten ist: Ein Ausweichen, wenn nicht gar Verschweigen der Kritiken unter dem Vorwand, dass die Einheit bzw. Vereinigung wichtiger sei als Klarheit. Wie wir unten aufzeigen, konnte Friedrich Engels erst im Jahre 1891 (d.h. 16 Jahre später und erst nach Marxen‘s Tod) die Veröffentlichung dieser Kritik in der „Neuen Zeit“ gegen den heftigsten Widerstand der Opportunisten in der Parteiführung durchsetzen. Indem das Gothaer Programm bestimmte opportunistische Auffassungen schriftlich verankerte, erleichterte es später das Aufkommen des Opportunismus. Erst auf Drängen Engels wurde in das Programm ein Punkt aufgenommen, der die Solidarität des deutschen Proletariats mit den Arbeitern aller Länder und dessen Bereitschaft zur Erfüllung seiner internationalen Pflichten verkündete.[15] Hinzu kam, dass neben der unzureichenden Betonung des Internationalismus auf dem Gothaer-Gründungskongress nahezu überhaupt kein Bezug genommen wurde auf die Konsequenzen aus der Erfahrung der Pariser Kommune. Es gab schon eine Art Lücke in der historischen Kontinuität und in der Weitergabe der Erfahrung aus dem Kampf um die Organisation gegen die Bakuninisten.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Verwässerung oder Verzerrung der wichtigen politischen Kritiken war deren falsche Darstellung als angeblich aus persönlichen Motiven entstanden. Selbst Franz Mehring, der eine ansonsten lesenswerte Biographie von Marx und eine Geschichte der deutschen Sozialdemokratie schrieb, tappte in diese Falle: „Marx verkannte, dass der Programmentwurf die theoretischen Anschauungen beider Fraktionen getreu widerspiegelte; er glaubte, dass die Eisenacher den wissenschaftlichen Kommunismus bereits in allen seinen Konsequenzen erfasst hätten, während die Lassalleaner eine zurückgebliebene Sekte seien (...)“ – „Sonst gewöhnt, die Arbeiterbewegung immer nach ihrem großen Wurfe zu beurteilen, nahm er für dieses Mal die Dinge allzu sehr unters Mikroskop und suchte hinter kleinen Unbehilflichkeiten, Unebenheiten, Ungenauigkeiten des Ausdrucks hinterhältige Absichten, die wirklich nicht dahinter steckten. Auch lässt sich nicht leugnen, dass seine Antipathie gegen Lassalle in diesem Briefe sein Urteil beeinflusst hat (...)“.[16] Somit spielte Mehring die Auseinandersetzung über die Grundsatzprinzipien herunter und stellte jene als eine Frage der persönlichen Antipathie zwischen Marx und Lassalle dar. Anstatt zu betonen, dass die Überwindung des Lassalleanertums ein teilweises Abstreifen einer Fessel bedeutete, schrieb Mehring: „Der Lassalleanismus erlosch in diesen Gothaer Tagen für immer, und doch waren sie die leuchtendsten Ruhmestage Lassalles. Wie recht immer Marx mit seinen Einwendungen gegen das Gothaer Programm haben mochte, das Schicksal seines Programmbriefes zeigte klar, dass die Wege, auf denen sich in Deutschland eine mächtige und unbesiegbare Arbeiterpartei als Trägerin der sozialen Revolution entwickeln konnte, von Lassalle richtig erkannt worden waren.“[17]
Gleichzeitig gab es Anzeichen von Unklarheiten insofern, als Mehring gewissermaßen die Entwicklung von Parteien in den einzelnen Ländern der Entwicklung auf internationaler Ebene ‚gegenüberstellte‘.
„Der Gedanke der internationalen Solidarität hatte in dem modernen Proletariat so tiefe Wurzeln geschlagen, dass er keiner äußeren Stütze mehr bedurfte, und die nationalen Arbeiterparteien entwickelten sich durch die industriellen Umwälzungen der siebziger Jahre so eigentümlich und kräftig, dass sie über den Rahmen der Internationalen hinauswuchsen (...)“[18]
Nach der Niederschlagung der Pariser Kommune und der Unmöglichkeit der Fortsetzung der Arbeit der I. Internationale mussten zwar die Tätigkeiten der Revolutionäre notgedrungenermaßen zunächst auf die einzelnen Länder ausgerichtet werden, um die Bedingungen für die Gründung von Parteien zu schaffen. Aber dieser Schwerpunkt in den einzelnen Ländern hieß nicht, dass damit die internationale Ausrichtung und die Zusammenarbeit überholt und die internationale Solidarität oder gar eine Internationale somit zu einer überflüssigen Stütze geworden wären, oder dass durch das schnelle Wachstum der Parteien in einzelnen Ländern der nationale Rahmen gar über den internationalen Rahmen hinausgewachsen wäre. Vielleicht spiegelt diese Sichtweise Mehrings Elemente eines mangelnden internationalen Geistes wider, auf den Engels schon zuvor bei der Kritik des Gothaer Programms hingewiesen hatte. Die internationalistische Ausrichtung kann nur durch einen ständigen und bewussten Kampf gegen nationale oder gar lokalistische Schwerpunkte verwirklicht werden. Obwohl der Hauptteil der Aktivitäten auf den Aufbau der SAPD gelegt wurde, unternahm man auch Anstrengungen zur internationalen Kontaktaufnahme und Vorbereitung der Gründung der II. Internationale 1889.
Aus Platzgründen können wir hier auf den Beitrag der SAPD zur Gründung der II. Internationale nicht näher eingehen.
Darüber hinaus setzte sich die Tendenz, Errungenschaften zu ‚vergessen‘ fort. Im Vergleich zur 1872 noch vorhandenen Entschlossenheit eines Großteils der deutschen Delegierten auf dem Haager Kongress und der anschließenden Verteidigung der Politik des Generalrates gegenüber den Bakuninisten durch die SDAP schien diese Haltung 1875 in Gotha begraben worden zu sein. Die Lehren aus dem nur drei Jahre zuvor stattgefundenen Haager Kongress, auf dem die Prinzipien der Revolutionäre vehement verteidigt worden waren, wurden nicht weiter aufgegriffen. Es gab keine Hinweise auf eine Kontinuität und Weitergabe dieser Erfahrung. Stattdessen neigte Mehring später dazu, auch diesen Kampf wie den zwischen der Orientierung Lassalles und der Marxens als einen Konflikt zwischen der Autorität Marxens und der Bakunins darzustellen.
Der Kampf für eine revolutionäre Organisation gegen den parlamentarischen Opportunismus
Auf dem Gothaer Vereinigungskongress 1875 wurde Hamburg als Sitz des Parteivorstandes und Leipzig zum Sitz der Kontrollkommission gewählt. Aufgeschreckt durch die erstarkende Arbeiterbewegung verboten die Behörden die SAPD im Geltungsbereich des preußischen Vereinsgesetzes ab März 1876 und kurze Zeit später auch vor allem in Bayern und Sachsen. Die Bourgeoisie in Deutschland fing an, ihre Pläne für ein generelles Verbot der SAPD zu schmieden. Die Attentatsversuche von zwei Individuen wurden als Vorwand genommen, um am 21.10.1878 das Sozialistengesetz zu verabschieden.
Alle Vereine mit sozialdemokratischen, sozialistischen oder kommunistischen Zielen sollten aufgelöst, Druckschriften und Versammlungen mit dem Ziel der Verbreitung solcher Ziele ebenso verboten werden wie Bildungsvereine, Tanzvereine, Theaterclubs (die Mitglieder der SAPD waren zuvor meist als Mitglieder eines Vereins amtlich registriert). „In der Folgezeit wurden 1.299 Druckschriften, 95 Gewerkschaften, 23 Unterstützungsvereine, 106 politische und 108 so genannte Vergnügungsvereine verboten. Rund 1.500 Personen wurden zu Haftstrafen verurteilt, knapp 900 aus verschiedenen Orten des Reiches ausgewiesen. Die Ausgewiesenen, die nicht ins Exil gingen, mussten meist in abgelegene Regionen umsiedeln und versuchten dort, weiterhin politisch zu wirken. Lediglich die Reichstagsfraktion der SAP blieb aufgrund des Persönlichkeitswahlrechts unbehelligt und konnte ihre parlamentarische Arbeit fortsetzen.“[19]
D.h. während die Partei an der Basis in ihren Aktivitäten gehindert und die Festigung eines Organisationsgewebes verhindert werden sollte, durfte (und sollte aus der Sicht der Herrschenden) ihr ganzer Schwerpunkt sich auf die Parlamentstätigkeit konzentrieren. Auch wenn Bismarck die Parlamentstätigkeit anfänglich ebenso verbieten wollte, gaben die anderen bürgerlichen Fraktionen im Reichstag dem Drängen Bismarcks nicht nach. Das Bestreben der bürgerlichen Parteien war letztendlich, die SAPD voll ins parlamentarische Räderwerk einzuspannen. Somit wurde die Mobilisierung für die Wahlen damals schon zu einem Schwerpunkt ihrer Tätigkeit. Im Vergleich zu den Repressionsmaßnahmen in Russland unter dem Zaren war das Sozialistengesetz in Deutschland bei weitem nicht so brutal, aber sehr viel heimtückischer.
Noch bevor das Sozialistengesetz im Reichstag verabschiedet worden war, hatte im vorauseilenden Gehorsam das in Hamburg ansässige, als Parteivorstand fungierende Zentralwahlkomitee die Selbstauflösung der Parteiorganisation gegen die Position von Bebel und Liebknecht zu dieser Frage gegenüber den Polizeibehörden verkündet und die lokalen Sektionen auch zur Selbstauflösung aufgefordert! Die Parteiführung schlug den „absoluten Legalismus“ vor: „Haltet fest an der Lösung, die wir Euch oft zugerufen: an unserer Gesetzlichkeit müssen unsere Feinde zugrunde gehen“. „Seid ruhig, lasst euch nicht provozieren.“ [20]
Wie Marx und Engels in einem Zirkular 1879 schrieben, war der „vorauseilende Gehorsam“ des Parteivorstands keine Ausnahme. “Die Partei zeigt gerade jetzt unter dem Druck des Sozialistengesetzes, dass sie nicht gewillt ist, den Weg der gewaltsamen, blutigen Revolution zu gehen, sondern entschlossen ist …, den Weg der Gesetzlichkeit, d.h. der Reform zu beschreiben“[21] Dem hielten Marx und Engels entgegen: „Um der Bourgeoisie die letzte Spur von Angst zu nehmen, soll ihr klar und bündig bewiesen werden, dass das rote Gespenst wirklich nur ein Gespenst ist, nicht existiert. Was aber ist das Geheimnis des roten Gespensts, wenn nicht die Angst der Bourgeoisie vor dem unausbleiblichen Kampf auf Tod und Leben zwischen ihr und dem Proletariat? (…) Es sind die Repräsentanten des Kleinbürgertums, die sich anmelden, voll Angst, das Proletariat durch seine revolutionäre Lage gedrängt, möge „zu weit gehn“. (…) Alle historisch notwendigen Konflikte werden umgedeutet in Missverständnisse und alle Diskussionen beendigt mit der Beteuerung: in der Hauptsache sind wir ja alle einig. (…).“[22]
„Die sozialdemokratische Partei soll keine Arbeiterpartei sein, sie soll nicht den Haß der Bourgeoisie oder überhaupt jemandes auf sich laden; sie soll vor allem unter der Bourgeoisie energische Propaganda machen; statt auf weitgehende, die Bourgeois abschreckende und doch in unserer Generation unerreichbare Ziele Gewicht zu legen, soll sie lieber ihre ganze Kraft und Energie auf diejenigen kleinbürgerlichen Flickreformen verwenden, die der alten Gesellschaftsordnung neue Stützen verleihen und dadurch die endliche Katastrophe vielleicht in einen allmählichen, stückweisen und möglichst friedfertigen Auflösungsprozeß verwandeln könnten.“[23]
Gleichzeitig artikulierten einige Stimmen in der SAPD die Notwendigkeit gewaltsamer Reaktionen. So trat Johannes Most für den individuellen Terror ein, welcher aber auf dem ersten Kongress der SAPD im schweizerischen Wyden 1880 verworfen wurde.
Kampf gegen Spitzel und Verleumdungen
Auch setzte die Partei die seit dem Bund der Kommunisten entwickelte Tradition fort, sich entschlossen gegen Verleumdungen zu wehren, da sie das Vertrauen innerhalb der Partei untergraben. So wurde in der illegalen Organisation der Berliner Sozialdemokraten in deren Statut 1882 beschlossen:
§ 13: Über alles in der Organisation Erörterte, es mag zum Gegenstand haben, was es will, ist für jeden in der Organisation nicht Tätigen, selbst wenn er bekannter Genosse ist, Verschwiegenheit Pflicht. Erfährt ein Genosse von einem anderen etwas Belastendes, so ist es seine Pflicht, vorerst Stillschweigen zu bewahren und dies auch von dem die Sache Übermittelnden zu verlangen, nach den Gründen und dem Urheber der Verdächtigung sich zu erkundigen und seinem Hauptmann sofort davon Kenntnis zu geben, der das Erforderliche zu veranlassen und in nächster Sitzung im Beisein des Klägers und des Angeschuldigten die Sache zur Regelung zu bringen hat. Ist der Beschuldigte der Hauptmann, so ist dessen Stellvertreter die Meldung zu machen. Jeder andere Weg, besonders das Weiterverbreiten von Verdächtigungen ohne erwiesenen und von der Hauptmannschaft festgestellten Grund ist für uns von den schädlichsten Folgen, und da es notorisch im Interesse der Polizei liegt, durch Verbreitung von Verleumdungen Uneinigkeit unter uns zu bringen, so setzt sich jeder, der bei fraglichen Anlässen nicht den hier vorgeschriebenen Weg innehält, der Gefahr aus, als von der Polizei dazu beauftragt angesehen zu werden.[24]
Auf dem Parteikongress im August 1880 in Wyden wurde eine „Resolution über den Parteiausschluss von Wilhelm Hasselmann“ verabschiedet. „Nachdem der Kongress über die Intrigen und das gewissenlose Gebaren Hasselmanns aufgeklärt ist, billigt er die von den Abgeordneten proklamierte Ausschließung Hasselmanns voll und ganz und warnt alle auswärtigen Genossen, den Vorspiegelungen dieser als notorischer Verleumder entlarvten Persönlichkeit Glauben zu schenken.“ Auf dem gleichen Kongress wurde eine „Resolution über den Parteiausschluss von Johannes Most“ beschlossen.
„In Erwägung, dass Johann Most seit längerer Zeit sich in Widerspruch mit den von ihm selbst noch unter dem Sozialistengesetz vertretenen Grundsätzen der Partei gesetzt und nur noch den Einflüssen seiner häufig wechselnden Laune folgt;
in fernerer Erwägung, dass Most sich zum Kolporteur jeder gegen die deutsche Sozialdemokratie erhobenen Verleumdung, komme sie, von welcher Seite sie wollte, gemacht hat und notorischen Polizeiagenten trotz erteilter Warnung Vorschub leistete, nur weil sie auf die sogenannten Parteiführer schimpften;
- in schließlicher Erwägung, dass Most Handlungen begangen hat, die allen Gesetzen der Ehrenhaftigkeit widersprechen,
erklärt der Kongress, dass er jede Solidarität mit Johann Most zurückweist und ihn als aus der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands ausgeschieden betrachtet.“[25]
Dank ihres von den Mitgliedern der Partei errichteten Netzwerks konnte die Partei ein Dutzend Jahre lang ihren Einfluss vor Ort weiter ausbauen und lernte auch, materielle und politische Solidarität für die Verfolgten zu organisieren; d.h. die harten Bedingungen der Illegalität entmutigten die Parteimitglieder nicht, sondern diese stärkten die Solidarität untereinander.
Die Funktionsweise unter dem Sozialistengesetz?
Die noch vorhandenen Parteiinstanzen sprachen sich gegen eine nationale Geheimorganisation aus, da diese zu leicht durch die Polizei ausgehoben werden könnte und die Partei dann völlig handlungsunfähig sei. Tatsächlich ging man mit einer Kombination zwischen illegaler und legaler Arbeit (hauptsächlich im Parlament) vor. In Deutschland selbst organisierte man die „Herausgabe der illegalen Zeitung 'Der Sozialdemokrat', die im Ausland hergestellt und über ein konspiratives Verteilernetz (u.a. Rote Feldpost) im Reich verbreitet wurde. Die legale und illegale Aktivität musste von einem geheimen Funktionärskörper geleitet werden, genannt 'Corpora, Zirkel, Interne oder innere Organisation‘. Er war vom Verteilerapparat des 'Sozialdemokrat' aus Sicherheitsgründen formal getrennt. Mit Hilfe dieser facto illegalen Organisation, bei der J. Motteler eine herausragende Rolle spielte, wurde vor Ort der Zusammenhalt der Partei weiter ermöglicht. Spitzel wurden in der Zeitung ‚Sozialdemokrat‘ entlarvt. Unter dem Tarnnamen ‚Die eiserne Maske‘ warnte der Sicherheitsdienst der Partei vor Spitzeln und Provokateuren“ (Fricke, S. 182).
So konnte zum einen das Abgleiten in eine verschwörerische Gesellschaft verhindert, und zum anderen ein illegal funktionierender Apparat aufgebaut werden. Parteitreffen fanden unter dem Deckmantel von Gesangsvereinen und Raucherclubs statt.[26]
Auf dem ersten Parteikongress 1880 seit der Illegalität im schweizerischen Wyden wurde aus der bisherigen Formulierung, dass die Partei mit "allen gesetzlichen Mitteln" ihre Ziele durchsetzen wolle, das Wort mit allen 'gesetzlichen' (legalen) Mitteln gestrichen, weil man sich nicht darauf beschränken und einengen lassen wollte.
Diese Notwendigkeit, dass die Mitglieder vor Ort über ausreichend Spielraum für Eigeninitiativen verfügen, und gleichzeitig die Partei über ein Netz von Vertrauensleuten untereinander in Kontakt stehen musste, wurde auf dem Wydner Kongress diskutiert.: „Wir können nicht nach einer Schablone handeln, nicht in jedem einzelnen Falle die sogenannten „Führer“ befragen, aber ebenso wenig soll und darf ein einzelner auf eigne Faust handeln. Gemeinsame Beratung ist notwendig, einerlei unter welcher Form, und in wichtigen Fragen gemeinsames Handeln mit dem Ganzen. Das muss für all unser Tun und Lassen unsere Richtschnur sein.
Also organisiert Euch, einerlei wie. Die größeren, besser situierten und mehr mit geistigen Kräften versehenen Orte müssen die kleinen ihrer Umgebung unterstützen, und [da] dies die Genossen in größerer Anzahl nicht können, so müssen die Vertreter derselben aus den verschiedenen Orten häufig in mündlichen Verkehr miteinander treten.“[27]
Da die Partei weiterhin für die Reichstagswahlen Kandidaten aufstellen durfte, wurden in jedem Wahlkreis „Wahlvereine“ gegründet, die zur Aufgabe hatten, „die Genossen theoretisch zu schulen und zu durchgebildeten Sozialisten zu machen. Die Verwaltung der Parteigeschäfte und die Erledigung der öffentlichen Agitation sollte nach wie vor die ‚innere Bewegung‘ besorgen.“[28] D.h. trotz der legalen Treffen in Wahlvereinen zu Propagandazwecken hielt die Partei die „innere Organisation“, ihr im Untergrund arbeitendes Organisationsgewebe aufrecht. Dies war für ihr Überleben entscheidend.
Jedoch wurde dieses sich ergänzende „Wechselspiel“ zwischen Zentralisierung und ausreichend Initiative vor Ort später theoretisiert und als Grundsatzargument gegen Zentralisierung vorgetragen.
Auf dem Wydner Kongress wurde die „offizielle Parteileitung… den derzeitigen Reichstagsabgeordneten übertragen.“[29] Die Übertragung der Parteileitung an die Parlamentsabgeordneten aufgrund deren Immunität sollte sich jedoch als Falle herausstellen, denn eine revolutionäre Partei darf eine Parlamentsfraktion nicht als „natürliche Führung“ betrachten. Lenin warnte später davor, dass Parlamentsfraktionen „gewisse Spuren des Einflusses der allgemeinen bürgerlichen Wahlverhältnisse an[haften]“.[30] Somit trug diese Maßnahme, die Leitung in die Hände der Parlamentarier zu übertragen, weiter dazu bei, die Betonung nicht auf die Initiative an der Parteibasis zu legen, sondern sehr stark den Blick auf die Parlamentstätigkeiten zu richten.
Die eigentliche Parteileitung, die die illegale Arbeit zentralisierte, lag de facto in den Händen eines Subkomitees aus 5 Leuten. Wegen großer geographischer Zerstreuung konnten die Genossen jedoch nur selten zusammenkommen und es gab immer große Kommunikationsprobleme. De facto spielte Bebel (d.h. der prominenteste Führer) die herausragende Rolle bei der Führung der Partei.
Nach dem Kopenhagener Kongress 1883 erklärte das offizielle Zentralorgan der SAPD noch: „Wir sind eine revolutionäre Partei, unser Ziel ist ein revolutionäres, und wir geben uns über seine Durchführung auf parlamentarischem Wege keinen Illusionen hin.“[31] Aber opportunistische Regungen waren auf dem Kopenhagener Kongress unverkennbar zu spüren. Über die offensichtlichen Divergenzen auf dem Kongress schrieb der Sozialdemokrat weiter: „Wir haben keinen Grund, es zu verhehlen, dass in manchen Fragen die Meinungen der Genossen auseinandergehen, denn es ist gerade ein Zeichen der Stärke unserer Partei, dass sie trotzdem nach außen hin als ein geschlossenes Ganzes dasteht. So hart auch die Geister aufeinanderplatzten, so offen und rückhaltlos man sich auch gegenseitig die Meinung sagte, so trat doch andererseits deutlich das allgemeine Bestreben hervor: Nicht Majorisierung, sondern Auseinandersetzung und Verständigung. Nichts von Cliquen, die miteinander rivalisierten, sondern Genossen, die in der einen Frage sich gegenüberstanden und in der anderen wiederum zusammenstimmen, unbeeinflusst durch persönliche Beziehungen. Und dieser lebhafte Meinungsaustausch bei den verschiedenen Fragen der Taktik etc. zeigte, dass unsere Partei in keiner Weise der Gefahr der Verknöcherung ausgesetzt ist, dass es in ihr kein Papsttum gibt und keine Orthodoxie, sondern dass sie innerhalb der in unserem Programm niederlegten Grundsätze Raum hat für jede ehrlich verfochtene Überzeugung.“ (ebenda)
Aber die Bereitschaft zur Diskussion über Divergenzen innerhalb des gemeinsam geteilten programmatischen Rahmens wurde schnell infrage gestellt.
Während die Partei sich auf der einen Seite durch die Repression unter dem Sozialistengesetz nicht fesseln ließ, entstand auf der anderen Seite vor allem unter den legal im Reichstag tätigen Reichstagsabgeordneten immer mehr die Angst vor einer fortdauernden Illegalisierung der Partei. Und es setzte die Tendenz zu einer Verselbständigung der Reichstagsfraktion und einer opportunistischen Entwicklung vor allem in deren Reihen ein. Es entstand ein wachsender Graben zwischen Parlamentariern und der „Basis“. Schon 1883, d.h. wenige Jahre nach dem Beginn des Sozialistengesetzes, schrieb dazu Bebel an Engels: „Und da unterliegt es keinem Zweifel, dass es unter unseren Parlamentlern speziell Leute gibt, die weil sie an die Höhe der revolutionären Entwicklung nicht glauben, zum Parlamenteln geneigt sind und jedes scharfe Vorgehen sehr ungern sehen.“[32] Wenig später schrieb Bebel an W. Liebknecht: „Mir kommt öfter als je der Gedanke, den Parlamentarismus an den Nagel zu hängen, er ist eine gute Schule der Versumpfung. Das werden wir an den eigenen Freunden noch genugsam erleben.“[33] Und auch 1885 warnte Bebel, der am längsten im Parlament tätige und entschlossenste Reichstagsabgeordnete der SAPD: „Das Reichstagsmandat befriedigt ihren Ehrgeiz und ihre Eitelkeit, sie sehen sich mit großer Selbstbefriedigung unter den Auserwählten der“Nation“ und finden an der Parlamentskomödie Geschmack und nehmen sich sehr ernst. Außerdem studieren die meisten nicht mehr oder sie sind mit ihren Studien auf bedenkliche Abwege geraten, dem praktischen Leben sind sie auch entfremdet und wissen nicht, wie es darin aussieht…“[34] Engels sprach von einem Versuch der Opportunisten „zur Konstituierung des kleinbürgerlichen Elements als des herrschenden, offiziellen in der Partei und zur Zurückdrängung des proletarischen zu einem nur geduldeten.“[35]
Der Opportunismus im parlamentarischen Gewand
Die Sozialdemokratische Reichstagsfraktion publizierte am 20.3.1885 eine Stellungnahme gegen die Kritik der SAPD-Zeitung „Sozialdemokrat“ an der Fraktion: „In der letzten Zeit, namentlich im Monat Januar d J. waren im „Sozialdemokraten“ mehrfach offene und versteckte Angriffe gegen die sozialdemokratische Fraktion des deutschen Reichstages zu lesen. Sie bezogen sich vorzugsweise auf das Verhalten der sozialdemokratischen Reichstagsmitglieder in der Frage der Dampfersubvention. (….) Nicht das Blatt ist es, welches die Haltung der Fraktion zu bestimmen, sondern die Fraktion ist es, welche die Haltung des Blattes zu kontrollieren hat.“[36] [37] Gegen diese Erklärung protestierte Bebel: „Durch diese Erklärung wirft sich die Fraktion zum absoluten Herrscher über die Haltung des Parteiorgans auf. „Der Sozialdemokrat ist danach nicht mehr Parteiorgan, sondern Fraktionsorgan, den Parteigenossen ist jede Meinungsäußerung, die der Fraktion unangenehm oder unbequem ist, untersagt, und die Pressfreiheit, die das Programm für alle fordert, ist für die eignen Parteigenossen eine leere Phrase.“[38] Und auch aus verschiedenen Städten in Deutschland wurden weitere Protestschreiben verfasst. So z.B. das Protestschreiben der Sozialdemokraten in Frankfurt/Main Mittel April 1885: „Wir können (…) konstatieren, dass tatsächlich das Sozialistengesetz anfängt, seine erzieherische Wirkung auszuüben; unsere Abgeordneten sind schon sehr zahm geworden. (...) Wir Genossen von Frankfurt (Main) erblicken in dieser Fraktionserklärung den Versuch zu einer diktatorischen Maßregelung, den Versuch der Mehrheit der Fraktion, eine Art Ausnahmegesetz in unser inneres Parteileben einzuführen (…) Wir sehen aus dem Ton dieses Ukases, dass bei der Mehrheit der Fraktion das edle demokratische Selbstbewusstsein einem verwerflichen Dünkel gewichen ist, welcher sich im Begriff „Entrüstungssturm“ (…) äußert. (….) Wir brauchen wohl nicht zu erklären, dass wir den Mitgliedern der Fraktion keine besonderen (aristokratischen) Rechte einräumen,..(…) Wir erklären, dass wir nach wie vor das Verhalten unserer Abgeordneten im Parteitag einer öffentlichen Kontrolle respektive Kritik unterziehen werden, nach wie vor Meinungsverschiedenheiten öffentlich ausfechten werden und uns nicht zu willenlosen Trägern einer Ideen herunterdrücken lassen.“[39] Aus Wuppertal Barmen kam ein ähnliches Protestschreiben der Sozialdemokraten am 18.5.1885: „Wir gehören nicht zu denjenigen, welche sich, nachdem wir unsere Vertreter zahlreicher denn je ins Parlament geschickt, Wunderdinge von der parlamentarischen Tätigkeit derselben versprochen haben, wir wissen sehr wohl, dass die Emanzipation der Arbeiter nicht in den Parlamenten ausgefochten wird.“[40]
Der Abgeordnete der SAPD Wilhelm Blos verwarf jede revolutionäre Haltung des Sozialdemokraten. Daraufhin verfassten Wahlmänner aus Wuppertal Barmen folgende Stellungnahme: „1. Wenn Herr Blos behauptet, seine Wähler hätten ihn nach Berlin gesandt, um sich an der Gesetzgebung zu beteiligen und im Sinne des sozialdemokratischen Programms auf dieselbe einzuwirken, so können wir diese Auffassung als eine korrekte nicht so sehen. Wir glauben, dass es die Standpunkte der Partei widerstreitet, wenn man das „Parlamenteln“ als Hauptgrund oder gar als die einzige Ursache der Wahltätigkeit bezeichnen will. Wir unsererseits haben gewählt:
a) Aus agitatorischen und propagandistischen Rücksichten;
b) Um durch unsere Stimmen lauten Protest zu erheben gegen die heutige Klassenherrschaft;
c) Um unsere Vertreter eventuell in die Lage zu versetzen, diesem Protest auf der Tribüne entschiedenen Ausdruck zu verleihen.“[41]
Die hier aufgezeigten Auseinandersetzungen machten deutlich, dass während dieser Jahre zwei Flügel aufeinanderstießen, die Engels zu der Einsicht führten, dass die Spaltung der Partei aufkommen könne. Im Mai 1882 schrieb Engels an Bebel: “Darüber, dass es eines Tages zu einer Auseinandersetzung mit den bürgerlich gesinnten Elementen der Partei und zu einer Scheidung zwischen rechtem und linkem Flügeln kommen wird, habe ich mir schon längst keine Illusion mehr gemacht und dies auch schon in dem handschriftlichen Aufsatz über den Jahrbuchsartikel geradezu als wünschenswert ausgesprochen. (…) Ich erwähnte den Punkt in meinem letzten Brief nicht ausdrücklich, weil es mir mit dieser Spaltung keine Eile zu haben scheint. (…)
Andrerseits wissen sie, dass wir unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes auch unsere Gründe haben, innere Spaltung zu vermeiden, die wir nicht öffentlich debattieren können.“[42] Aber selbst unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes hielt er die Notwendigkeit für nicht ausgeschlossen. Denn nur wenige Monate später griff er die gleiche Frage auf: “Die Streitfrage ist rein prinzipiell: soll der Kampf als Klassenkampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie geführt werden, oder soll es gestattet sein, auf gut opportunistisch (oder wie das in sozialistischer Übersetzung heißt: possibilistisch) den Klassencharakter der Bewegung und das Programm überall da fallenzulassen, wo man dadurch mehr Stimmen, mehr ‘Anhänger’ bekommen kann? (…) Einigung ist ganz gut, solange sie geht, aber es gibt Dinge, die höher stehn als die Einigung.”[43] – “Ich würde jede Spaltung, unter dem Sozialistengestz, für ein Unglück halten, da jedes Mittel der Verständigung mit den Massen abgeschnitten ist. Aber es kann uns aufgezwungen werden, und dann muss man den Tatsachen ins Gesicht sehn.”[44] Und die gleiche Betonung auf eine Zuspitzung der Gegensätze, und dass man die Spaltung zum richtigen Zeitpunkt nicht scheuen dürfe: “Die Teilung ins proletarische und ins bürgerliche Lager wird immer ausgesprochener, und wenn die Bürgerlichen sich einmal dazu ermannt haben, die Proletarischen zu überstimmen, kann der Bruch provoziert werden. Diese Möglichkeit muss, glaub’ ich im Auge gehalten werden. Provozieren sie den Bruch – wozu sie sich aber noch etwas Courage antrinken müssten – so ist’s nicht so schlimm. Ich bin stets der Ansicht, dass, solange das Sozialistengesetz besteht, wir ihn nicht provozieren dürften; kommt er aber, nun dann darauf los, und dann geh’ ich mit dir ins Geschirr.”[45]
Selbst unter den harten Bedingungen der Illegalität war die Sozialdemokratie damals bestrebt, sich nicht international zu isolieren. Weil während der 1880er Jahre die Neuorganisierung der politischen Organisationen in Europa an Fahrt aufnahm, wurde die deutsche Sozialdemokratie zu einer Vorreiterin der internationalen Kontakte und der Vorbereitung einer neuen Internationale. „Zur Herstellung einer regelmäßigen Verbindung der Sozialisten und Sozialistenvereine des Auslandes unter sich und mit der Partei in Deutschland sowie zur Pflege des Verkehrs zwischen letzterer und den Bruderparteien des Auslandes wird eine Verkehrsstelle außerhalb Deutschlands geschaffen, welche den Verkehr zwischen den einzelnen Vereinen zu vermitteln, alle Beschwerden, Anträge etc. entgegenzunehmen und in geeigneter Weise zu erledigen hat.“[46]
Trotz des Sozialistengesetzes gelang es den Herrschenden nicht, die Partei zu zerschlagen oder ihren Einfluss zurückzudrängen. Im Gegenteil: 1878, dem Jahr der Einführung des Sozialistengesetzes, erhielt die SAPD: 437.000 Stimmen (7.6%), 2 Abgeordnete nach der Hauptwahl, 9 nach der Stichwahl; 1890: 1.427.000 Stimmen, d.h. 19,7% der Stimmen, 20 Abgeordnete bei der Hauptwahl und 35 nach der Stichwahl.[47] Die großen Wahlerfolge spiegelten damit den Zulauf zur SAPD wider. Aber gleichzeitig vergrößerten sie nicht nur das Gewicht der Reichstagsabgeordneten innerhalb der Partei, sondern die parlamentarische Ausrichtung insgesamt und die damit verbundene damit die Ideologie.
Im September 1890 wurde das Sozialistengesetz aufgehoben. Auf dem kurz danach stattfindenden Parteitag in Halle wurde die SAPD in SPD umbenannt.
Die Debatten über das Programm konnten aufgrund der Bedingungen des Sozialistengesetzes nur extrem eingeschränkt stattfinden. Nun wurde nach dem Ende des Gesetzes auf dem Parteitag in Halle 1890 und insbesondere in Erfurt 1891 die Programmfrage als zentraler Punkt auf die Tagesordnung gesetzt. Nach ausführlichen Diskussionen mit mehr als 400 Versammlungen und einer Vielzahl von Artikeln und Diskussionsbeiträgen in der SPD-Presse plante man wichtige Korrekturen gegenüber dem Gothaer-Programm vorzunehmen. Wir sind in unserer Artikelserie in der International Review 84-88 (engl./frz./span. Ausgabe; auch in unserem Buch Communism is not just a „nice idea“ veröffentlicht[48]) ausführlich auf die Debatten und Kritiken an den Positionen des Erfurter Programms eingegangen und konzentrieren uns hier weiterhin auf die Organisationsfrage.[49]
Zum ersten Mal wurde 1891 die Kritik von Marx und Engels am Gothaer Programm veröffentlicht und breit diskutiert. Die zur Zeit von Gotha tätige Parteileitung, die seinerzeit die Kritiken von Marx und Engels der Partei vorenthalten hatten, stimmte 1891 auf dem Erfurter Kongress diesen Kritiken zu. Somit wurden die spezifisch lassalleanischen und vulgär-sozialistischen Auffassungen des Gothaer Programms überwunden.
Auch wurden auf dem Haller und dem Erfurter Kongress die Auffassungen der erstmals in Erscheinung getretenen oppositionellen, anarchistisch geprägten Gruppe „Die Jungen“ diskutiert und abgelehnt.
Die Statuten – Gradmesser der Organisationsprinzipien
In den Statuten wurde Folgendes zur Mitgliedschaft geregelt: „§ 1 Zur Partei gehörig wird jede Person betrachtet, die sich zu den Grundsätzen des Parteiprogramms bekennt und die Partei nach Kräften unterstützt“.[50] Die Mitglieder mussten sich somit nur zu den Grundsätzen des Parteiprogramms bekennen und nicht zu seinen Einzelheiten selbst. Für Leute wie Ignaz Auer[51] war dies ein Anlass, sich gegen „Engherzigkeit“ auf Programmebene auszusprechen, denn „der eine oder andere [habe] gegen diesen oder jenen speziellen Punkt seine Bedenken und eine kleine Abweichung irgendwelcher Art [spiele] gar keine Rolle“. Damit sollte Auer zufolge den Mitgliedern Spielraum für ihre eigene Interpretation des Parteiprogramms gelassen werden. §1 der Statuten verlangte auch nicht, dass sich jedes Mitglied einer Parteiorganisation anschließen sollte, noch war die Rede von der „Unterstützung der Partei nach Kräften“, dies beinhaltete nicht unbedingt aktive Mitarbeit.
„Nach Lage der Vereinsgesetzgebung in sämtlichen größeren deutschen Staaten musste der Parteitag in Halle von der Schaffung einer zentralisierten Organisation absehen. Jeder Versuch, eine über ganz Deutschland ausgebreitete Vereinigung ins Leben zu rufen, mit örtlichen Mitgliedschaften, Bevollmächtigten, ordentlichen regelmäßigen Beiträgen, Mitgliedskarten etc. würde nur zur Folge haben, dass in kürzester Zeit die Auflösung der Partei wegen Übertretung der Bestimmungen irgendeines Paragraphen des Vereinsgesetzes erfolgte. (…) Da nun in dem größten Teile Deutschlands politische Vereine nicht miteinander in Verbindung treten dürfen, so darf auch keine Korrespondenz oder sonstige Verbindung zwischen den Lokalvereinen und der Parteileitung stattfinden. (…) Nun muss aber die Parteileitung (…) überall Verbindungen haben (…). Diese Aufgabe sollen die Vertrauensmänner (…) erfüllen. Diese Vertrauensmänner sollten in erster Linie die Korrespondenten sein, an welche die Parteileitung ihre Mitteilungen richtet, und die ihrerseits die Parteileitung über die Vorgänge in den einzelnen Orten und Wahlkreisen unterrichten“.[52]
Die erstmals in Erscheinung getretene oppositionelle Gruppe der Jungen trat für einen losen Parteimitgliedsbegriff ein. Sie sprachen sich gegen eine festgefügte Parteiorganisation aus und plädierten für eine lose, unverbindliche Organisationsform. Ihnen zufolge sei ein allgemeines Bekenntnis zur SPD oder die Stimmabgabe für einen SPD-Kandidaten ausreichend, um sich als Sozialdemokrat zu bezeichnen.
In Bebels Entwurf zu den Statuten für den Parteitag in Halle bildete der Parteitag die „oberste Vertretung der Partei“. Bebel betonte konkrete, feste, für alle Mitglieder der Partei verbindliche Verhaltensregeln. Diese Betonung auf verbindlichen Verhaltensregeln war wegweisend für die spätere Auseinandersetzung auf dem 2. Parteitag der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei 1903 (siehe dazu folgenden Artikel in International Review 116 [engl./frz./span. Ausgabe] 1903-4: the birth of Bolshevism [36]..).
Auf dem Haller Parteitag wurde auch erstmals das Verhältnis zwischen Reichstagsfraktion und Gesamtpartei diskutiert. Während Bebel nach dem Ende der Ausnahmebedingungen des Sozialistengesetzes wieder die Parteileitung von der Reichstagsfraktion auf den Parteitag und den von ihm gewählten Parteivorstand als die entscheidende Instanz übertragen wollte, der Parteivorstand dem Parteitag gegenüber rechenschaftspflichtig sein sollte, und die Reichstagsfraktion somit ihrer Sonderrechte enthoben werden sollte, erhob sich dagegen seitens der Parlamentarier Widerstand. Ebenso war auf dem Kongress in Halle vorgesehen, dass der vom Kongress gewählte Parteivorstand das Parteiorgan Vorwärts kontrollieren sollte. Ignaz Auer pochte weiterhin auf Sonderrechten der Reichstagsfraktion: „Der [parlamentarischen] Fraktion sollte das Aufsichts- und das Kontrollrecht über den Parteivorstand und damit über die gesamte Parteitätigkeit übertragen werden, max. die Fraktion wurde über den vom Parteitag gewählten Parteivorstand gestellt. Die Unterwerfung der Partei unter die Parlamentsabgeordneten sollte somit aus der Sicht Auers statutenmäßig festgelegt werden. Der Abgeordnete Georg v. Vollmar forderte in der Debatte über die Organisationsfrage auf dem Haller Kongress, jeder Ort solle selbstständig über seine Organisationsform entscheiden, eine Zersplitterung der Organisation in autonome Teilorganisationen sei auch ein guter Schutz vor eventueller weiterer Repression.“[53] Gleichzeitig verwarf Auer programmatische Grundsätze der Partei. Hier spürte man die Theoretisierung der Zentralisierungsfeindlichkeit sowie das Bestreben, die Partei und deren Zentralorgan der Parlamentsfraktion unterzuordnen.
Den von Bebel vorgelegten Entwurf bezeichnete Bebel selbst Engels gegenüber als „Kompromisswerk“.[54] Bebel gestand später in Anbetracht des Widerstands der Parlamentarier ein: „Da ließ ich mich breitschlagen und gab des lieben Friedens willen nach.“ Kurze Zeit später bekannte Bebel gegenüber Victor Adler: „Ich habe dabei wieder einmal erkannt, wie es sich rächt, wenn man dem Zuge nach rechts nachgibt.“[55] Schließlich verabschiedete die Partei ein Statut, in dem der Parteivorstand die Parteileitung übernahm. Mit der Anerkennung, dass der Parteitag die oberste Vertretung der Partei sei, in der Verbindlichkeit der vom Parteitag beschlossenen Dokumente und Beschlüsse, in der Rechenschaftspflicht des Parteivorstands gegenüber dem Parteitag, der Herausgabe der Zeitung „Vorwärts“ als Zentralorgan wurden die Grundsätze für die Funktionsweise der Partei gemäß dem „Parteigeist“ gelegt. Lenin konnte sich später 1903 auf diese Parteiprinzipien stützen.
In Anbetracht der großen Schwächen des 1875er Gothaer Programms war das Erfurter Programm von 1891 trotz alledem ein Schritt vorwärts. Die im Gothaer Programm noch vorhandenen reformistischen lassalleanischen Ideen waren nicht mehr vorhanden; es wurde eine wissenschaftliche Begründung geliefert, dass der Kapitalismus weiterhin aufgrund seiner Widersprüche dem Untergang geweiht sei, und dass die Arbeiterklasse durch die Eroberung der politischen Macht die einzig mögliche Lösung herbeiführen könne: die Überwindung dieser Gesellschaft. Nichtsdestotrotz gab es Mängel in diesem Programm, so war z.B. nicht die Rede von der notwendigen Diktatur des Proletariats bei der Überwindung des Kapitalismus. Engels hatte bei der Debatte über den Programmentwurf an den politischen Forderungen des Entwurfs Kritik geübt. Er nutzte die Gelegenheit, „auf den friedfertigen Opportunismus … und das frisch-fromm-fröhlich-freie ‚Hineinwachsen‘ der alten Sauerei ‚in die sozialistische Gesellschaft‘ loszuhauen“.[56] In der Endfassung war jedoch an den politischen Forderungen, die Engels kritisiert hatte, nichts Wesentliches geändert worden, tatsächlich wurde seine Kritik zurückgehalten und erst zehn Jahre später veröffentlicht.[57]
Engels Warnung vor reformistischen Illusionen…
Beeinflusst durch die Hoffnung auf ein „repressionsfreies Leben in der Demokratie“[58] und einer in einigen Kreisen schon 1890-91 spürbaren Hoffnung auf ein mögliches Hineinwachsen der Gesellschaft in den Sozialismus warnte Engels: “Aus Furcht vor einer Erneuerung des Sozialistengesetzes, aus der Erinnerung an allerlei unter der Herrschaft jenes Gesetzes gefallenen voreiligen Äußerungen soll jetzt auf einmal der gegenwärtige gesetzliche Zustand in Deutschland der Partei genügen können, alle ihre Forderungen auf friedlichem Weg durchzuführen. Man redet sich und der Partei vor, ‚die heutige Gesellschaft wachse in den Sozialismus hinein‘, ohne zu fragen, ob sie damit nicht ebenso notwendig aus ihrer alten Gesellschaftsverfassung hinauswachse...“[59]
Aber während Engels zurecht vor der Gefahr opportunistischer Hoffnungen warnte, verfiel er selbst einer gewissen Euphorie, die Rosa Luxemburg später auf dem Gründungskongress der KPD aufgriff (vgl. Deutsche Revolution VI, Der gescheiterte Organisationsaufbau, Internationale Revue 22 [37]).
… vorübergehend durch Euphorie beiseitegedrängt
In den Jahren seit dem Sozialistengesetz hatte die SPD ihren Stimmenanteil auf mehr als 20% gesteigert. Dies rief eine Euphorie sowie Illusionen über einen entsprechenden Machtzuwachs der Arbeiterklasse hervor. Schon 1884, nachdem die SAPD eine halbe Million Stimmen für sich verbucht hatte, meinte Engels gegenüber Kautsky in einem Brief: „Zum ersten Mal in der Geschichte steht eine solid geschlossenen Arbeiterpartei als wirkliche politische Macht da, entwickelt und großgewachsen unter den härtesten Verfolgungen, unaufhaltsam einen Posten nach dem anderen erobernd (…), - eine Macht (…), die aber ebenso sicher und unaufhaltsam sich emporarbeitet (…) dass die Gleichung ihrer wachsenden Geschwindigkeit und damit der Zeitpunkt ihres schließlichen Siegs sich schon jetzt [1884] mathematisch berechnen lässt.“[60] Und im Herbst 1891 schrieb Engels „Elf Jahre Reichsacht und Belagerungszustand haben ihre Stärke vervierfacht und sie zur stärksten Partei Deutschlands gemacht. (…) Die Sozialdemokratische Partei, die einen Bismarck gestürzt, die nach elfjährigem Kampf das Sozialistengesetz gebrochen, die Partei, die wie die ansteigende Flut alle Dämme überbraust, die sich über Stand und Land ergießt, bis in die reaktionärsten Ackerbraudistrikte, diese Partei steht heute auf dem Punkt, wo sie mit fast mathematisch genauer Berechnung die Zeit bestimmen kann, in der sie zur Herrschaft kommt.
Die Zahl der sozialistischen Stimmen war
1871 |
101.927 |
1874 |
351.670 |
1877 |
493.447 |
1884 |
549.990 |
1887 |
763.128 |
1890 |
1.427.298 |
(…) Bei den Wahlen von 1895 dürfen wir also auf mindestens 2.5 Millionen Stimmen rechnen; diese aber würden um 1900 sich auf 3.5 bis 4 Millionen steigern. (…) Die Hauptstärke der deutschen Sozialdemokratie liegt aber keineswegs in der Zahl ihrer Wähler. Bei uns wird man Wähler erst mit 25 Jahren, aber schon mit 20 Soldat. Und da grade die junge Generation es ist, die unserer Partei ihre zahlreichsten Rekruten liefert, so folgt daraus, dass die deutsche Armee mehr und mehr vom Sozialismus angesteckt wird. Heute haben wir einen Soldaten auf fünf, in wenig Jahren werden wir einen auf drei haben, und gegen 1900 wird die Armee, früher das preußische Element des Landes in ihrer Majorität sozialistisch sein. Das rückt heran, unaufhaltsam wie ein Schicksalsschluss. Die Berliner Regierung sieht es kommen, ebenso gut wie wir, aber sie ist ohnmächtig. Die Armee entschlüpft ihr.“[61] „Dass die Zeit herannaht, wo wir die Majorität in Deutschland sind, oder doch die einzige Partei, die stark genug, das Ruder zu führen – falls Friede bleibt – das ist doch handgreiflich.“[62] Und auch in den letzten Jahren vor seinem Tod meinte er z.B. 1892: „(…) der Sieg der europäischen Arbeiterklasse [hängt] nicht allein von England ab. Er kann nur sichergestellt werden durch das Zusammenwirken von mindestens England, Frankreich und Deutschland. In den letztern Ländern ist die Arbeiterbewegung der englischen ein gut Stück voraus. In Deutschland steht sie sogar innerhalb messbarer Entfernung vom Triumph.“[63] 1894 prognostizierte er gar, dass „wir fast den Tag errechnen [können], an dem die Staatsmacht in unsere Hände fallen wird.“[64]
Diese Glorifizierung der Wahlergebnisse wird auch anhand der Aussage deutlich, die Bebel auf dem Hamburger Parteitag 1897 machte: „Reichstagswahlen sind für uns als Kampfpartei immer das wichtigste Ereignis gewesen, weil sie uns Gelegenheit geben, für unsere Ideen und Forderungen mit allem Nachdruck einzutreten, weil wir an dem Wahlergebnis konstatieren können, wie die Entwicklung unserer Partei in dem abgelaufenen Zeitraum gewesen ist; sie waren und sind uns der Gradmesser, wie weit die Partei auf ihrem Vormarsch zum Sieg vorgedrungen ist. Von diesem Gesichtspunkt haben wir schon im Jahre 1867 die Wahlen als beste Gelegenheit betrachtet, unsere Kraft zu messen.“[65]
Bevor er dieser vorübergehenden Euphorie verfiel, betonte Engels jedoch vor dem Erfurter Kongress, dass die SPD den revolutionären Weg fortsetzen und keinerlei Festlegungen auf einen ‚gesetzmäßigen‘, ‚friedlichen‘ Entwicklungsweg zum Sozialismus zulassen dürfe.
Die Notwendigkeit einer klaren Abgrenzung und ggf. Spaltung von den Opportunisten
In Anbetracht der großen Divergenzen zwischen Lassalleanern und Eisenachern zu Anfang der 1870er Jahren hatten Marx und Engels – wie oben dargestellt – vor der Gefahr des Verlustes der programmatischen Klarheit gewarnt und auf eine scharfe Abgrenzung bestanden. Immer wieder betonten sie: „(…) In unserer Partei können wir zwar Individuen aus jeder Gesellschaftsklasse, aber durchaus keine kapitalistischen, keine mittelbürgerlichen oder mittelbäuerlichen Interessengruppen gebrauchen.“[66] Auch als zur Zeit des Sozialistengesetzes immer neue Kreise – auch aus der herrschenden Klasse – zur Sozialdemokratie stießen, bestand Engels in einer Korrespondenz mit Bebel und Liebknecht darauf: „Wenn solche Leute aus anderen Klassen sich der proletarischen Bewegung anschließen, so ist die erste Forderung, dass sie keine Reste von bürgerlichen, kleinbürgerlichen etc. Vorurteilen mitbringen, sondern sich die proletarische Anschauungsweise unumwunden aneignen.(…) Sind Gründe da, sie [Leute mit bürgerlichen und kleinbürgerlichen Vorstellungen] vorderhand [in einer Arbeiterpartei] zu dulden, so besteht die Verpflichtung, sie nur zu dulden, ihnen keine Einfluss auf die Parteileitung zu gestatten, sich bewusst zu bleiben, dass der Bruch mit ihnen nur eine Frage der Zeit ist.“[67] „(...) das Proletariat [würde] seine leitende geschichtliche Rolle verscherzen (…), wenn es diesen [kleinbürgerlichen und bürgerlichen] Vorstellungen und Wünschen Konzessionen machte“.[68] Deshalb bezog Engels auch die Möglichkeit in Betracht, dass es nach dem Fall des Sozialistengesetzes zur Spaltung zwischen dem proletarischen und kleinbürgerlichen Flügel in der Partei kommen könne. „Diesen ganzen Unrat verdanken wir zum allergrößten Teil Liebknecht mit seiner Vorliebe für gebildete Klugscheißer und Leute in bürgerlichen Stellungen, womit man dem Philister gegenüber dicktun kann. Einem Literaten und einem Kaufmann, die mit dem Sozialismus liebäugeln, kann er nicht widerstehen. Das sind aber gerade in Deutschland die gefährlichsten Leute (…). Die Spaltung kommt so sicher wie etwas, nur bleibe ich dabei, dass wir sie unter dem Sozialistengesetz nicht provozieren dürfen.“[69] Es war offensichtlich, dass das staatliche Vorgehen auf eine Zerschlagung und Spaltung der Partei abzielte, und dass das Zusammenrücken der Partei in dieser Phase im Vordergrund stand. Aber Entschlossenheit gegenüber der Repression stellt keinen Automatismus zur Verhinderung opportunistischer Tendenzen dar. Im Gegenteil, unter Umständen kann der Opportunismus sogar noch ungestörter wuchern.
Engels erkannte 1890 kurz vor dem Fall des Sozialistengesetzes auch: „Die Partei ist so groß, dass absolute Freiheit der Debatte innerhalb ihrer eine Notwendigkeit ist. Anders sind die vielen neuen Elemente, die in den letzten drei Jahren zugekommen und die stellenweise noch recht grün und roh, gar nicht zu assimilieren und auszubilden (…). Die größte Partei im Reich kann nicht bestehen, ohne dass alle Schattierungen in ihr vollauf zu Wort kommen, und selbst der Schein der Diktatur à la Schweitzer muss vermieden werden.“[70] Um einen gewissen Schutz gegen nicht hinnehmbare Abweichungen aufzubauen, sollten die führenden Parteiämter mit vollamtlichen, von der Partei besoldeten Funktionären besetzt werden. Dies wiederum bot aber keinen wirklichen Schutz gegen Opportunismus oder gar zensierendes Vorgehen der Parteiführung. Um den Kampf gegen den Opportunismus und deren Vertreter in der Reichstagsfraktion freier führen zu können, meinte Engels gar, die radikalen Kräfte sollten ein unabhängiges Presseorgan haben: „Eure ‚Verstaatlichung‘ der Presse hat ihre großen Übelstände, wenn sie zu weit geht. Ihr müsst absolut eine Presse in der Partei haben, die vom Vorstand und selbst Parteitag nicht direkt abhängig ist, d.h. in die in der Lage ist, innerhalb des Programms und der angenommenen Taktik gegen einzelne Parteischritte ungeniert Opposition zu machen und innerhalb der Grenzen des Parteianstandes auch Programm und Taktik frei der Kritik zu unterwerfen.“[71]
In einem Brief an Bebel warnte Engels diesen nicht nur vor der Vorgehensweise der Rechten und dessen Sprachrohr Vollmar, sondern er sprach auch eine Reihe taktischer Empfehlungen aus.[72]
Die Jungen
Auf dem Haller Parteitag 1890 fand auch zum ersten Mal eine offene Auseinandersetzung mit der von der bürgerlichen Presse so bezeichneten oppositionellen Gruppe die Jungen statt.[73] In der Tat scheint der einzige gemeinsame Nenner ihr geringes Durchschnittsalter gewesen zu sein.[74]
Ihre soziale Zusammensetzung war äußerst heterogen. Politisch verband sie vor allem ihre Warnung vor den Gefahren des Parlamentarismus. „1.) Die Haltung der Sozialdemokratie im Reichstag, welche zuweilen geeignet war, die Hoffnung zu erwecken, als könne bereits auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft die Lage der arbeitenden Klasse nennenswert verbessert werden. 2.) Die Agitation bei den letzten Reichstagswahlen, welche vielfach mehr darauf hinauslief, Sitze im Parlament zu gewinnen als Sozialdemokraten zu machen. 3.) Das Eintreten der Fraktion für bürgerparteiliche Kandidaten bei den letzten Stichwahlen. 4.) Das Vorgehen der Fraktion in der Frage des 1. Mai.[75] […] 6.) Eine gewisse Art der Genossen, sachliche Kritik als persönliche Beleidigungen zu behandeln.“[76]
Diese politische Kritik an opportunistischen Tendenzen in der Partei wurde aber dadurch verwischt und verlor an Glaubwürdigkeit, weil Bruno Wille „Korruption“ in den Reihen der SPD-Parlamentarier andeutete und somit dazu neigte, das Problem an Personen festzumachen.
Auf einer Großveranstaltung der SPD Ende August 1890 in Berlin, an der mehr als 10.000 Parteimitglieder teilnahmen, trat Bebel in einer Debatte mit einigen Vertretern der Jungen den Kritiken derselben entgegen. Am Ende der Debatte wurde eine Resolution verabschiedet, bei der von den ca. 4.000 ausgezählten Teilnehmern (von den 10.000 Teilnehmern passte nur die Hälfte in den Saal) ca. 300-400 Stimmen gegen die von Bebel verfasste Resolution stimmten. „Die Versammlung erklärt die von verschiedenen Seiten aufgestellte Behauptung, die sozialdemokratische Reichstagsfraktion sei korrumpiert, sie beabsichtige die Partei zu vergewaltigen, und sei bestrebt, die freie Meinungsäußerung in der Parteipresse zu unterdrücken, für eine durch Nichts bewiesene schwere Beleidigung der Fraktion, beziehentlich der Parteileitung. Die Versammlung erklärt ferner die gegen die bisherige parlamentarische Tätigkeit der Fraktion gerichteten Angriffe für ungerechtfertigt.“[77]
Auf dem Erfurter Parteitag stellte eine Untersuchungskommission ihre Untersuchungsergebnisse der Beschuldigungen eines Teils der Jungen vor. Das Mandat dieser Untersuchungskommission hatte aber zwei Aufgaben gleichzeitig behandelt: Hinsichtlich der Beschuldigungen der systematischen Korruption und dass Parteigelder nach Gunst an Schmarotzer vergeben wurden, sprach die Untersuchungskommission die Beschuldigten von dem Vorwurf frei.
Gleichzeitig verwarf sie die politischen Kritiken, die in einem auf dem Haller Parteitag verbreiteten, anonym verfassten Flugblatt geäußert worden waren. In dem Flugblatt hatte es geheißen: „Nicht Unehrlichkeit werfen wir aber deshalb den Führern vor, sondern allzu große Rücksichtnahme auf alle möglichen Machtfaktoren, hervorgegangen von der veränderten Lebensstellung und der zu geringen Fühlung mit dem Proletarierelend, dem Pulsschlag des gequälten Volkes.“[78]
„Das Schlimmste, was uns das Sozialistengesetz gebracht hat, ist die Korruption“ (Wille bezog sich vor allem auf politisches Verhalten und richtete diesen Vorwurf vor allem gegen die Parteiführung).[79]
Gleichzeitig warnten die Jungen vor der Gefahr der Versumpfung der Partei.[80]
Dem hielt die Kommission ihren politischen Befund entgegen: „1.) Es ist nicht wahr, dass der revolutionäre Geist seitens einzelner Führer systematisch ertötet wird. 2.) Es ist nicht wahr, dass in der Partei eine Diktatur geübt wird. 3.) Es ist nicht wahr, dass die ganze Bewegung verflacht und die Sozialdemokratie zur puren Reformpartei kleinbürgerlicher Richtung herabgesunken ist. 4) Es ist nicht wahr, dass der Revolution von der Tribüne des Reichstages feierlich abgeschworen wurde. 5.) Es geschah bis heute nichts, um den Vorwurf zu rechtfertigen, dass versucht worden wäre, den Ausgleich zwischen Proletarier und Bourgeois herbeizuführen.“[81]
Schließlich wurden einige Mitglieder der Jungen, die den Vorwurf der Korruption weiter aufrechterhielten, auf dem Erfurter Parteitag ausgeschlossen. Zuvor waren andere Mitglieder aus der Partei ausgetreten. Nach einem abgelehnten Widerspruch gegen ihren Ausschluss gründete die Opposition am 8. November 1891 kurz nach dem Erfurter Parteitag den „Verein Unabhängiger Sozialisten“ (ihr Organ wurde Der Sozialist, der von 1891-1899 erschien). Engels meinte, dieser verbreite „nichts als Klatsch und Lügen“.[82]
Diese zu Anfang der 1890er Jahre aufgetauchte Opposition hatte zwar ein Gespür für die sich verstärkende Gefahr der Verflachung der Partei gezeigt. Indem sie aber die Kritiken an der Politik der Partei in den Vorwurf der Bestechlichkeit der Parteiführer packte – ohne irgendwelche konkreten Belege –, sie somit eine Personalisierung vornahm, verpufften ihre begründeten Warnungen vor den Gefahren der Versumpfung. Zuvor hatten einige Vertreter der Jungen (Werner und Wille) gar geltend gemacht, ein Zentralorgan der Partei (d.h. in der Form einer Zeitung) sei überhaupt nicht notwendig. Auch traten einige von ihnen gegen Zentralisierung auf und nur für lose Strukturen ein, und sie sprachen sich gegen verbindliche Mitgliedskriterien aus.
Der Gründungsaufruf der „Unabhängigen Sozialisten“ betonte, die „Organisationsform der heutigen Partei [schränke] die Bewegung der proletarischen Gesellschaftsklassen ein“. Stattdessen trat man für eine „freie Ausgestaltung der Organisation“ ein, und der Zweck der Organisation wurde als „Diskutier- und Bildungsverein“ umrissen[83].
Die „Unabhängigen Sozialisten“ spalteten sich kurz nach ihrer Gründung – ein Teil kehrte wieder zurück zur SPD, davon ein Teil zu den Revisionisten, ein anderer schloss sich den Anarchisten an.
Für die SPD war die Auseinandersetzung mit diesem heterogenen Haufen eine doppelte Herausforderung gewesen: Einerseits durfte man Beschuldigungen auf der Verhaltensebene wie Korruptionsvorwürfe nicht ungeprüft im Raum stehen lassen. Und wer solche Beschuldigungen ohne Beleg weiter aufrechterhielt, durfte zurecht nicht ungestraft in der Partei bleiben.
Aber gleichzeitig wurde die Bereitschaft der Partei getestet, sich mit Warnungen vor dem Opportunismus, die unvermeidlich konfus und zum Teil irreführend, krakeelend – wie Engels meinte – vorgetragen wurden, auseinanderzusetzen. Eine Politik des Ausschlusses aufgrund von politischen Divergenzen stand nicht auf der Tagesordnung. Vor dem Haller Parteitag trat Engels gegen einen Parteiausschluss auf: „Ich werde Bebel und Liebknecht wohl vor dem Kongress hier sehen und das mögliche tun, dass ich sie von der Unklugheit aller Herausschmeißereien überzeuge, die nicht auf schlagende Beweise von der Partei schädigenden Handlungen, sondern bloß auf Anklagen der Oppositionsmacherei gegründet sind.“[84]
„Dass ihr auf dem Kongress spielend damit [mit dem Anhang der Jungen] fertig werdet, ist klar. Aber sorgt dafür, dass keine Keime gelegt werden für zukünftige Schwierigkeiten. Macht keine unnötigen Märtyrer, zeigt, dass Freiheit der Kritik herrscht, und wenn herausgeworfen werden muss, dann nur in Fällen, wo ganz eklatante und vollauf erweisbare Tatsachen (…) der Gemeinheit und des Verrats vorliegen.“[85]
Nach dem Erfurter Parteitag billigte Engels deren Ausschluss, vor allem weil die Jungen fortgesetzt unbewiesene Verdächtigungen und Anklagen in die Welt gesetzt hatten. Aber schon kurz nach dem von ihm gutgeheißenen Parteiausschluss wurde ihm bewusst, dass Leute wie Vollmar (Vertreter der Rechten) „viel gefährlicher“ waren als die Jungen.[86] Schon eine kurze Zeit später nahm er eine differenzierte Haltung an. Er bezeichnete deren Angriffe gegen die „Spießer“ in der Partei als „unbezahlbar“.[87]
Selbst Bebel erkannte nach der Veröffentlichung der Schrift des Oppositionellen Hans Müller Der Klassenkampf in der Sozialdemokratie im Sommer 1892 die positive Rolle der Jungen. „An und für sich ist es ganz gut, dass so ein paar Wadenkneifer da sind, die einen daran erinnern aufzupassen, dass man nicht stolpert. Hätten wir diese Opposition nicht, wir müssten uns eine machen. Schimpft man auf dem nächsten Parteitag auf sie, dann singe ich ihr Lob.“[88]
Der beschriebene Kampf zwischen den revolutionären und opportunistischen Tendenzen in der deutschen Sozialdemokratie verschärfte sich in der Folgezeit von 1890 bis 1914. Wir werden diesen verschärften Konflikt im zweiten Teil des Artikels beschreiben.
Januar 2022, Dino
[1] Die I. Internationale und der Kampf gegen das Sektierertum [38]; Der Haager Kongreß von 1872: Der Kampf gegen den politischen Parasitismus [39]; Der Kampf des Marxismus gegen das politische Abenteurertum [40]
[2] In Eisenach fand der Gründungskongress der SDAP statt.
[3] Lassalle und Schweitzer: Der Kampf gegen politische Abenteurer in der Arbeiterbewegung [41], IKSonline Dezember 2019
[4] Antwort von Engels im Mai 1873 – in Volksstaat gegen Lassalleaner – MEW, Bd. 18, S. 319-325
[5] Engels an Bebel, 20.6.1873, MEW Bd. 33, S. 590
[6] Die I. Internationale wurde auf der Konferenz von Philadelphia am 15.07.1876 offiziell aufgelöst.
[7] Engels an Conrad Schmidt, 12. April 1890, MEW Bd. 37, S. 384
[8] Marx schrieb am 27.9.1873 an Friedrich A. Sorge, „Nach meiner Ansicht von den europäischen Verhältnissen ist es durchaus nützlich, die formelle Organisation der Internationalen einstweilen in den Hintergrund treten zu lassen und nur, wenn möglich, den Zentralpunkt in New York deswegen nicht aus den Händen zu geben, damit keine Idioten wie Perret oder adventurers wie Cluseret sich der Leitung bemächtigen und die Sache kompromittieren (…) Einstweilen genügt es, die Verbindung mit den Tüchtigsten in den verschiedenen Ländern nicht ganz aus den Händen schlüpfen zu lassen (…)“ (MEW 33, S. 606).
[9] Österreichische Sozialdemokraten wählten 1873 gar die Redaktion des Volksstaats zum Schiedsrichter für die Entscheidung von Streitfragen in der österreichischen Partei (Quelle: The International Working Class Movement, Progress Publishers, Moscow 1976, Band 2, 1871-1904, S. 261).
[10] In Großbritannien waren die kämpferischsten Arbeiter ausschließlich im Rahmen der Gewerkschaftsbewegung aktiv, Gründung der Social-Democratic Federation 1884.
Frankreich: Die nach der Pariser Kommune entstandenen Organisationen waren rein berufsständisch und konzentrierten sich auf den wirtschaftlichen Kampf. "Erst 1878, anlässlich der Wahlen in Frankreich, wurde die Parti Ouvrier unter der Führung von Guesde und Lafargue und unter direkter Beteiligung von Marx, der das politische Programm verfasste, gegründet." (aus The International Working Class, ebenda, S. 237). In Frankreich kam es zu einer frühen Spaltung zwischen den "Possibilistes" (reformistischer Flügel) und den Kräften um Guesde – Bildung der französischen Arbeiterpartei, Fédération d‘ouvriers socialistes).
Belgien: Gründung der Sozialistischen Partei 1879 – Belgische Arbeiterpartei 1885
Niederlande: 1882 Sozialdemokratische Union
Schweiz: im Frühjahr 1873 wurde ein allgemeiner nationaler Arbeiterkongress gegründet, 1888 – Gründung der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz
Spanien: 1879 - Sozialistische Arbeiterpartei
Portugal: - 1875 Portugiesische Sozialistische Partei
Italien: keine Gründung in den 1870er Jahren, 1881 wurde die "Revolutionäre Sozialistische Partei" gegründet, die sich 1883 mit dem "Partito Operaio" vereinigte. 1892 – Gründung der Sozialistischen Partei in Genua
USA: Workingmen's Party of Illinois (1873) und Social-Democratic Workingmen's Party of North America (1874) (entstanden aus Sektionen der Internationale)
Ungarn: Die Gründung einer Arbeiterpartei wurde im März 1873 angekündigt, aber sofort verboten.
Russland: 1883 gründete Plechanow – aufgrund der Repressionen musste er ins Ausland gehen – die erste russische sozialdemokratische Organisation.
So existierte Mitte der 1870er Jahre eine organisierte Arbeiterbewegung nur in einigen europäischen Ländern und bis zu einem gewissen Grad in den USA und in einigen anderen Ländern (The International Working Class movement, S. 205 ff.). Das Gothaer Programm beeinflusste jedoch die Programme der in der zweiten Hälfte der 1870er und zu Beginn der 1880er Jahre gegründeten Parteien, z.B. das der 1876 gegründeten Sozialdemokratischen Liga Dänemarks sowie der Flämischen Sozialistischen Partei 1877, der Portugiesischen Sozialistischen Partei 1877, der Tschechoslowakischen Sozialdemokratischen Partei 1878, der Sozialdemokratischen Liga der Niederlande 1882, der Allgemeinen Arbeiterpartei Ungarns 1880.
[11] Mehring, Geschichte der Sozialdemokratie, S. 451
[12] Marx an Wilhelm Bracke, 5.5.1875, MEW 19 S. 13,
[13] In seinem Brief vom 12. Oktober 1875 an Bebel unterstrich Engels, dass sich das Gothaer Programm aus folgenden unmarxistischen Hauptgedanken zusammensetzte:
1) „Aus den Lassalleschen Sätzen und Stichwörtern, die aufgenommen zu haben eine Schmach unserer Partei bleibt“, wie den Phrasen von der „einen reaktionären Masse“ außerhalb der Arbeiterklasse, vom „ehernen Lohngesetz“, von der „Staatshilfe für Produktivgenossenschaften“ usw. Laut Engels war dies „das kaudinische Joch, unter dem unsere Partei zum größeren Ruhm des heiligen Lassalle durchgekrochen ist“.
2) aus vulgärdemokratischen Forderungen, wie der Losung vom „freien Staat“, der angeblich über den Klassen stehen würde;
3) aus „Forderungen an den ‚heutigen‘ Staat, die sehr konfus und unlogisch sind“,
4) aus allgemeinen Sätzen, „meist dem Kommunistischen Manifest und den Statuten der Internationale entlehnt, die aber so umredigiert sind, dass sie entweder total Falsches enthalten oder aber reinen Blödsinn. (…) Das Ganze ist im höchsten Grad unordentlich, konfus, unzusammenhängend, unlogisch und blamabel“ (MEW Bd. 34 S. 158).
[14] Engels an Bracke, MEW Bd. 34 S. 155
[15] „Zweitens wird das Prinzip der Internationalität der Arbeiterbewegung praktisch für die Gegenwart vollständig verleugnet, und das von den Leuten, die fünf Jahre lang und unter den schwierigsten Umständen dies Prinzip auf die ruhmvollste Weise hochgehalten. Die Stellung der deutschen Arbeiterbewegung an der Spitze der europäischen Bewegung beruht wesentlich auf ihrer echt internationalen Haltung während des Kriegs.“ Brief Engels an Bebel, 18/28.3.1875, MEW Bd. 19 S. 4
[16] Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Bd. 2 S. 449-450
[17] Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Band 2 S. 453
[18] Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Band 2 S. 419
[19] Das Sozialistengesetz, 1878-1890, Dietz Verlag Berlin 1980
[20] Mehring, ebenda S. 516
[21] Erklärung von Höchberg, Eduard Bernstein und Schramm, sie verfassten „Rückblicke auf die sozialistische Bewegung in Deutschland“ und verwarfen den revolutionären Charakter der Partei und forderten die Umwandlung der SAPD in eine kleinbürgerlich-demokratische Reformpartei (Dokumente und Materialien zu Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. III S. 119). Aus Furcht vor weiterer Repression sprach sich der Parteiflügel um Eduard Bernstein für die Umwandlung der SAPD in eine legalistische Reformpartei aus, um so das Verbot hinfällig erscheinen zu lassen.
[22] Marx/Engels, Zirkular an Bebel, Liebknecht Bracke u.a., 17./18.9.1879, MEW Bd 34 S. 394-408, https://marxwirklichstudieren.files.wordpress.com/2012/11/mew_band34.pdf [42]
[23] http://www.mlwerke.de/me/me19/me19_150.htm [43], Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 150-166.
[24] Dieter Fricke, Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1869-1917, Illegale Organisation der Sozial Demokratie, Berlin, Dietz Verlag 1887, S. 204
[25] Dokumente und Materialien, a.a.O., Bd. III S. 148
[26] In Anbetracht der Gefahr, dass eine zu stark zentralisierte illegale Organisationsstruktur im Falle eines Zuschlagens durch die Polizei zu schnell außer Gefecht werden könnte, plädierte auch Engels: „Je loser die Organisation dem Anschein nach ist, desto fester ist sie in Wirklichkeit.“ Engels an J. Ph. Becker, 1.4.1880, MEW Bd. 34 S. 441.
[27] „Aufruf der Parteivertretung der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands vom 18.09.1880 über die Aufgaben nach dem Wydener Kongress“ (Dokumente und Materialien, Bd. III S. 153)
[28] Fricke, ebenda S. 211.
[29] „Resolution über die Organisation der Partei“
„1. Die offizielle Parteivertretung wird den derzeitigen Reichstagsabgeordneten übertragen.
2. Im Falle, dass die nächstjährigen Reichstagswahlen einen wesentlichen Personenwechsel unter den Abgeordneten zur Folge haben sollten, so haben sich die abgehenden und die neu gewählten Abgeordneten unter Beiziehung von Vertrauenspersonen darüber zu verständigen, wer die Geschäfte weiter zu führen hat. Die Verteilung der Geschäfte ist Sache der Abgeordneten.
5. Die Organisation an den einzelnen Orten bleibt dem Ermessen der dort lebenden Genossen überlassen, doch erklärt es der Kongress als Pflicht der Genossen, allerwärts für möglichst gute Verbindungen zu sorgen.“
[30] Lenin, Über zwei Briefe, Werke Bd 15, S. 291.
[31] Der Sozialdemokrat, 12.4.1883. in Dokumente und Materialien, Bd. III S. 190
[32] Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd 2/2 S. 106; Fricke, a.a.O., S. 193
[33] Dirk H. Müller, Idealismus und Revolution, Colloquium Verlag, Berlin, 1975, S. 15
[34] Brief Bebels an Liebknecht vom 26.7.1885, Internationales Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam, Nachlass Liebknecht, Bog. 108/111; Fricke, a.a.O., S. 276
[35] Engels an Bebel, 4.8.1885, MEW Bd. 36, S. 292
[36] Die sozialdemokratische Fraktion des deutschen Reichstags, Der Sozialdemokrat, Nr. 14, 2.4.1885, in Dokumente und Materialien zu Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. III, S. 223
[37] Die Frage der „Dampfersubvention“ brachte den Willen einiger Abgeordneter zum Vorschein, die Subventionen zu unterstützen, die von der Regierung im Wettlauf mit den anderen Staaten um die Eroberung des Planeten für den deutschen Seeverkehr gefordert wurden, um die Dampferlinien zu subventionieren und so dem deutschen Kapital bessere Chancen einzuräumen.
[38] Protestschreiben Bebels vom 5.4.1885 an die sozialdemokratische Reichstagsfraktion gegen deren Erklärung, IISG Amsterdam, NL Bebel, Nr. 42, in Dokumente und Materialien; MEW Bd. 3 S. 226
[39] Dokumente und Materialien, Bd. III S. 229
[40] Dokumente und Materialien, S. 231, Stellungnahme der Vertrauensmänner in Barmen vom 22. Januar 1882
[41] Dokumente und Materialien zu Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. III S. 177, 2. 2. 1892, Der Sozialdemokrat
[42] Engels an Bebel, 21.6.1882, MEW Bd. 35 S. 334 f.
[43] Engels an Bebel, 28.10.1882, MEW Bd. 35 S. 383
[44] Engels an Bebel, 10./11. Mai 1883, MEW Bd. 36 S. 27,
[45] Engels an Bebel, MEW Bd. 36, 11.10.1884, S. 215
[46] „Resolution über die Errichtung einer internationalen Verkehrsstelle unter den Sozialisten“, Dokumente und Materialien, Bd. III S. 149,
[47] Fricke, Die deutsche Arbeiterbewegung 1869-1890
[48] en.internationalism.org/internationalreview/199601/1617/1883-95-social-democracy-advances-communist-cause
[49] Karl Kautsky hatte den „allgemeinen“ Teil und Eduard Bernstein den „praktischen“ Teil verfasst.
[50] Der Grundsatz, dass Parteimitglieder Mitgliedsbeiträge zahlen sollte, wurde hier nicht ausdrücklich erwähnt, um Strafmaßnahmen durch das Vereinsgesetz auszuweichen.
[51] Ignaz Auer wurde später dafür bekannt, dass er ein Wesen des Opportunismus auf den Punkt brachte, als er zu Eduard Bernstein bemerkte: "Was du forderst, mein lieber Ede, ist etwas, was man weder offen zugibt noch formell abstimmen lässt; man macht es einfach."
[52] Der Parteivorstand im Zirkular Nr. 1 des Parteivorstandes der SPD vom Okt. 1890 über den Parteiaufbau, Dokumente und Materialien, Bd. III S. 348
[53] Protokoll über die Verhandlungen der Parteitage der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Halle 1890 und Erfurt 1891, Leipzig 1983, – Vorwort zum Haller Parteitag, S. 32
[54] Brief Bebels an Engels, 27.8.1890, Bebel a.a.O., S. 365
[55] Aus dem Vorwort über die Protokolle über die Verhandlungen der Parteitage der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Halle 1890 und Erfurt 1891, S. 29, Originalzitat Bebel: Brief an Victor Adler, 5.9.1890, in Ausgewählte Reden und Schriften, Band 2/2, S. 371
[56] F. Engels, MEW Bd. 22 S. 594
[57] Wir sind in mehreren Artikeln ausführlich auf diese Schwächen eingegangen, siehe u.a. unseren schon zuvor genannten Artikel in International Review 84 & 85.
[58] Es kam immer wieder zu gezielten Repressionsmaßnahmen. So verbot 1895 der Polizeipräsident von Berlin den Parteivorstand von Berlin, d.h. er wurde aufgelöst, nicht aber die Partei auf örtlicher Ebene oder auf nationaler Ebene. Erneut übertrug er seine Befugnisse/Aufgaben/Leitung der Partei an die Reichstagsfraktion. Solche Schritte der Polizei scheuchten diejenigen auf, die „auf dem Sofa der Demokratie“ sitzend, dabei waren, ihre Kampfbereitschaft zu verlieren.
[59] Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, MEW Bd. 22 S. 234. Engels Kritik wurde von der Führung der SPD erst 10 Jahre später veröffentlicht. Die Umstände sind nicht genau aufgeklärt. In einer Vorbemerkung verwies die SPD-Führung darauf, dass man Engels Manuskript im literarischen Nachlass des 1900 verstorbenen W. Liebknecht gefunden habe (MEW Bd. 22 S. 595).
[60] Engels an Kautsky, 8.11.1884, MEW Bd. 36 S. 230
[61] F. Engels in Der Sozialismus in Deutschland, MEW Bd. 22 S. 250
[62] F. Engels an Bebel, 29.9.1891, MEW Bd. 38 S. 163
[63] Engels, Einleitung zur englischen Ausgabe der Entwicklung des Sozialismus, 1892, MEW Bd. 22 S. 311
[64] Engels an Pablo Iglesias, 26.3.1894, MEW Bd. 39 S. 229. Auch wenn er diese Art Aussagen durch die Einschränkung relativierte, dass die Entwicklung sehr wohl z.B. durch einen europäischen Krieg mit schrecklichen, weltweiten Folgen alles über den Haufen schmeißen könnte, sieht man den Einfluss des Stimmenzuwachses auch auf Engels. (siehe u.a. Engels an Bebel, 24/26. 10. 1891, MEW 38, S. 189)
[65] Hamburger Parteitag 1897, Protokoll S. 123.
[66] Engels, Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland, MEW Bd. 22 S. 495
[67] Engels an Bebel, Liebknecht u.a., Mitte September 1879, MEW Bd. 34 S. 394-408
[68] Engels an Bebel, 24.11.1879, MEW Bd. 34 S. 426
[69] Engels an Bebel, 22.-24. Juni 1885, MEW Bd. 36 S. 335
[70] Engels an Sorge, 9.8.1890, MEW Bd. 37 S. 440
[71] Engels an Bebel, 19.11.1892, MEW Bd. 38 S. 517
[72] „Es wird wohl in diesem oder dem nächsten Jahr zum Bruch mit ihm [Vollmar] kommen müssen; er scheint die staatssozialistischen Schnurren der Partei mit Gewalt aufdrängen zu wollen. Da er aber ein abgefeimter Intrigant ist, und da ich in Kämpfen mit dieser Art Leuten allerlei Erfahrung habe – M[arx] und ich haben gegenüber dieser Sorte oft Böcke in der Taktik gemacht und entsprechendes Lehrgeld zahlen müssen -, so bin ich so frei, Dir hier einige Winke zu unterbreiten.
Vor allen Dingen gehen diese Leute darauf hinaus, uns formell ins Unrecht zu setzen, und das muss man vermeiden. Sonst reiten sie auf diesem Nebenpunkt herum, um den Hauptpunkt, dessen Schwäche sie fühlen, zu verdunkeln. Also Vorsicht in den Ausdrücken, öffentlich wie privatim. Du siehst, wie geschickt der Kerl Deine Äußerung über Liebknecht benutzt, um zwischen ihm, Liebknecht und Dir Krakeel zu erzeugen - (…) und so Dich zwischen zwei Stühle zu setzen. Zweitens, da es für sie darauf ankommt, die Hauptfrage zu verdunkeln, muss man jeden Anlass dazu vermeiden; alle Nebenpunkte, die sie aufrühren, so kurz und so schlagend wie möglich erledigen, damit sie ein für allemal aus der Welt kommen, selbst muss man aber jeden sich etwa bietenden Seitenweg oder Nebenpunkt soweit irgend möglich vermeiden, trotz aller Versuchung. Sonst wird das Feld der Debatte immer ausgedehnter, und der ursprüngliche Streitpunkt verschwindet immer mehr aus dem Gesichtsfeld. Und dann ist auch kein entscheidender Sieg mehr möglich, und das ist für den Klüngler schon ein hinreichender Erfolg und für uns wenigstens eine moralische Schlappe.“ Engels an Bebel, 23.7.1892, MEW Bd. 38 S. 407.
[73] Ein Jahr später, auf dem Erfurter Parteitag, gehörten von den 250 Delegierten knapp ein Dutzend dieser Opposition an.
[74] Vier dieser Delegierten waren ca. 30 Jahre, einer 23 Jahre, und sie alle waren erst 2-3 Jahre in der Partei. Einer (Bruno Wille) gehörte ihr nicht einmal an. Sie waren entweder Studenten, lebten freiberuflich oder wie im Falle Willes gewissermaßen als bezahlter Wanderredner.
[75] Der Parteivorstand und die Parlamentsfraktion wandten sich gegen einen für den 1. Mai anberaumten Streik.
[76] Dirk H. Müller, Idealismus und Revolution, Zur Opposition der Jungen gegen den Sozialdemokratischen Parteivorstand, S. 60, Beitrag von H. Müller, Der Klassenkampf…, S. 88 und SD, Nr. 35 vom 30. August 1890.
[77] Müller, a.a.O. S. 64
[78] Müller, S. 89
[79] Müller, S. 52
[80] „(…) Die Taktik der Partei ist falsch und verkehrt. 9.) Sozialismus und Demokratie haben nichts gemein mit den Reden unserer Abgeordneten. (…) 12.) Das Reden vom Hineinwachsen der heutigen Gesellschaft in den sozialistischen Staat sei ein Blödsinn. Die solches sagen, sind selbst weit schlimmeres als politische Kindsköpfe.“ (Die Anschuldigungen der Berliner Opposition, S. 24 im Original, in D. H. Müller, S. 94)
[81] Erfurter Parteitagsprotokoll, S. 318
[82] Engels an Sorge, 21.11.1891, MEW Bd. 38 S. 217
[83] Der Anteil der Arbeiter in dem Vorstand war verschwindend gering, es gab mehr „Literaten“, Kleingewerbetreibende als Arbeiter, Müller, a.a.O. S. 130 u. 133
[84] Engels an F.A. Sorge, 9.8.1890, MEW Bd. 37 S. 440
[85] Engels an Liebknecht, 10.8.1890, MEW Bd. 37 S. 445; siehe auch Engels an Laura Lafargue, 27.10.1890, MEW Bd. 38 S. 193
[86] Engels an F. A. Sorge, „...Herr Vollmar (…) ist viel gefährlicher als jene, er ist schlauer und ausdauernder (…)“, 24.10.1891, MEW Bd. 38 S. 183
[87] Engels an Victor Adler, 30.8.1892, MEW Bd. 38 S. 444 – „...aber was sitzen in der Fraktion für Spießer und kommen immer wieder hinein! Eine Arbeiterpartei hat da nur die Wahl zwischen Arbeitern, die sofort gemaßregelt werden und dann leicht als Parteipensionäre verlumpen, oder Spießbürgern, die sich selbst ernähren, aber die Partei blamieren. Und diesen gegenüber sind die Unabhängigen unbezahlbar.“
[88] Bebel an Engels, 12.10.1892, Bebel-Engels S. 603 (in D. Müller S. 126).
Die jahrelangen Versuche der Herrschenden, durch das Sozialistengesetz die Sozialdemokratie mit Hilfe der Repression „mundtot“ zu machen, waren gescheitert. Dennoch war es den Herrschenden gelungen, die Aktivitäten der Sozialdemokratie in großem Maße auf die parlamentarische Bahn zu lenken, wodurch die anderen Aktivitäten außerhalb der Wahlpropaganda stark vernachlässigt und die theoretischen Anstrengungen in den Hintergrund gedrängt wurden. D.h. auch wenn die Herrschenden das Wachstum der Partei nicht verhindern konnten, hatte sich das ideologische Gift der Demokratie ausgebreitet, das echte Arbeitersolidarität untergrub und den Kampfgeist zunehmend erstickte. Gleichzeitig war langsam unter einem beträchtlichen Teil der Funktionäre der Partei, angefangen von den Parlamentsabgeordneten bis hin zu Gewerkschaftsführern usw., das Gefühl entstanden: Sich nur keiner Gefahr von Strafmaßnahmen durch den bürgerlichen Staat aussetzen, jede Konfrontation mit dem Staat scheuen, ein neues „Anti-Sozialistengesetz“ vermeiden; kurzum: ducken.
Begünstigt wurde diese Entwicklung dadurch, dass nach dem deutsch-französischen Krieg Deutschland bei der Industrialisierung in eine fulminante Aufholjagd gegenüber den anderen europäischen Rivalen und den USA eintrat. Zudem vermittelte das zahlenmäßig rapide Anwachsen der Arbeiterklasse in den Städten, die zunächst unter erbärmlichen hygienischen und materiellen Bedingungen wohnen und arbeiten musste, bevor sich ihre Lage schrittweise verbesserte, das Gefühl, dass der Kapitalismus den Arbeitern doch ein Auskommen ermöglichen könnte.[1] Geblendet durch diese aufsteigende Phase des Kapitalismus mit den scheinbar überwundenen Wirtschaftskrisen fingen schon ab den frühen 1890er Jahren gewisse Kreise in der SPD an, die programmatischen Grundlagen infrage zu stellen. Das rasante wirtschaftliche Wachstum und die dadurch entstandenen Illusionen lieferten für den sich verstärkenden Opportunismus einen wertvollen Humusboden.
Dass diese Infragestellung des Programms und der Organisationsprinzipien untrennbar miteinander verbunden war und einen komplexen, vielschichtigen und heimtückischen Entartungsprozess einleitete, können wir hier im Rahmen dieses Artikels nicht umfassend schildern. Wir wollen hier vor allem einige Hauptmerkmale dieses Prozesses auf Organisationsebene herausheben.
Im Aufruf der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, der kurz vor den Februarwahlen 1890 erschien, wurde behauptet: „Die heutige Gesellschaft wächst in den Sozialismus hinein“. Der SPD-Reichstagsabgeordnete Grillenberger verkündete im Februar 1891, die SPD strebe nicht nach einem gewaltsamen Sturz der bestehenden Ordnung, denn der Sozialismus werde als Folge von Reformen und nicht als Folge einer Revolution entstehen.[2] Bernstein meinte: „Dieses Hineinwachsen [der Partei] in den Staat, wie ich es an anderer Stelle genannt habe, unterscheidet eben die Partei von der Sekte. Die Partei mag sich der Ordnung des Staates, in dem sie wirkt, noch so feindselig gegenüberstellen, so kann sie doch bei Strafe politischer Unfruchtbarkeit nicht umhin, sich in das Leben dieses Staates organisch einzugliedern. Das ist der bisherige Entwicklungsgang der deutschen Sozialdemokratie gewesen, wie es der Entwicklungsgang der sozialistischen Partei in allen Ländern, wo sie zu einer größeren Bedeutung gelangt.“ (Eduard Bernstein, „Parteidisziplin", Neue Zeit, S. 1216).
Friedrich Engels wandte sich bei der Debatte um das Erfurter Programm entschieden gegen die Perspektive, dass „die heutige Gesellschaft in den Sozialismus“ hineinwachse. Aber so heftig Engels auch diese frühen und offenen Infragestellungen des Programms anprangerte, diese wurden Ende der 1890er Jahre trotzdem noch offensiver und deutlicher propagiert. 1898 veröffentlichte deren Sprachrohr Eduard Bernstein Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, in welchem Text er gänzlich auf das Ziel der Bewegung verzichtete und alles der Bewegung selbst unterordnete.
Nach dem Tod Friedrich Engels 1895 setzte Rosa Luxemburg diese Kritiken fort und entblößte umfassend die Position und die Haltung Bernsteins in ihrer Schrift Sozialreform oder Revolution. Auf dem Parteitag der Sozialdemokratie 1899 in Hannover sagte sie in einer Rede über die Ablösung der kapitalistischen Gesellschaft: „Es ist eine allbekannte Tatsache, dass wir seit etwa einem Jahrzehnt in unseren Reihen eine ziemlich starke Strömung haben, die im Geiste der Bernsteinschen Auffassung dahin strebt, unsere jetzige Praxis bereits als Sozialismus hinzustellen und so – natürlich unbewusst – den Sozialismus, den wir erstreben, den einzigen Sozialismus, der keine Phrase und Einbildung ist, zur revolutionären Phrase zu machen. Bebel hat mit Recht wegwerfend gesagt, dass die Auffassungen Bernsteins so verschwommen, deutungsvoll sind, dass man sie nicht in einen festen Rahmen fassen kann, ohne dass er sagen kann, ihr habt mich missverstanden. Früher schrieb Bernstein nicht so. Diese Unklarheit, diese Widersprüche hängen nicht mit seiner Person, sondern mit seiner Richtung, mit dem Inhalt seiner Ausführung zusammen. Wenn Sie die Parteigeschichte seit zehn Jahren verfolgen, namentlich die Parteitagsprotokolle studieren, so sehen Sie, dass die Bernsteinsche Richtung allmählich erstarkt ist, aber noch durchaus nicht zur Reife gelangt ist; ich hoffe, dass sie es nie wird.“[3]
Sie hob hervor, dass die Versumpfung der Partei nicht auf „schlechte Politik“ der Parteiführung, sondern auf den Parlamentarismus und das Gift der Demokratie selbst zurückzuführen sei. Neben Rosa Luxemburg als Stimme der jungen Generation, die die tieferen Wurzeln des Revisionismus am entschlossensten aufspürte, traten auch einige ältere Führer der SPD wie August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegen die Revisionisten auf den Plan.
Um die Jahrhundertwende zeigte sich Bebel sehr entschlossen, den Revisionisten den Kampf anzusagen. „Die Partei soll wissen, bis zu welchem Stadium der Korruption und des Verrats an den Parteiinteressen die Dinge gediehen sind.“[4] Die Sozialdemokratie soll auf dem Boden des unversöhnlichen Klassenkampfes gegen die bestehende Ordnung weiter voranschreiten: „Solange ich atmen und schreiben und sprechen kann, soll es nicht anders werden. Ich will der Todfeind dieser bürgerlichen Gesellschaft und dieser Staatsordnung bleiben.“ (ibid) Und Wilhelm Liebknecht schrieb 1899 ein Jahr vor seinem Tod: „Ich bin für die Einheit der Partei – für die nationale und internationale Einheit der Partei. Aber es muss die Einheit des Sozialismus und der Sozialisten sein. Die Einheit mit Gegnern, mit Leuten, die andere Ziele und anderen Interessen haben, ist keine sozialistische Einheit. (…) Auf dem Boden des Klassenkampfes sind wir unbesiegbar; verlassen wir ihn, so sind wir verloren, weil wir keine Sozialisten mehr sind. Die Kraft und die Macht des Sozialismus besteht in der Tatsache, dass wir einen Klassenkampf führen, dass die arbeitende Klasse durch die Kapitalistenklasse ausgebeutet und unterdrückt wird und dass in der kapitalistischen Gesellschaft wirksame Reformen, welcher der Klassenherrschaft und Klassenausbeutung ein Ende machen, unmöglich sind. Wir können nicht mit unseren Prinzipien schachern, wir können keinen Kompromiss, keinen Vertrag mit dem herrschenden System schließen. Wir müssen mit dem herrschenden System brechen, es auf Leben und Tod bekämpfen. Es muss fallen, damit der Sozialismus siegen kann…“[5].
Aber trotz dieser großen Entschlossenheit mangelte es dem größten Teil der Verteidiger des Programms an Bemühungen, die tieferen Wurzeln bloßzulegen. Lediglich Rosa Luxemburg und die wenigen Stimmen um sie gingen ausreichend in die Tiefe.
Neben der programmatischen Revision begannen diese Revisionisten auch, die organisatorischen Grundlagen der Partei zu untergraben. Bernstein z.B. plädierte offen für die Tolerierung von Disziplinbrüchen: „Denn ehe wir Parteileute sind, sind wir Menschen. (…) Es kann unter Umständen im Interesse der Partei und ihrer gesunden Entwicklung förderlich sein, ihr nicht zu gehorchen.“[6]
Dem gegenüber betonte Rosa Luxemburg die Partei könne nur funktionieren durch „die unbedingte Unterordnung des einzelnen unter den Gesamtwillen der Organisation als Fundament unserer Existenz als Partei (…) Und da gibt es keine Ausnahme, keine Absolution von der Pflicht der Disziplin. Denn die Disziplin bindet entweder alle in der Partei, oder sie ist für niemanden verpflichtend.“[7] Sie erklärte weiterhin: Die sozialdemokratischen Disziplin „ist das geschichtliche Werkzeug und das unentbehrliche Hilfsmittel, um den im Programm der Arbeiterpartei, in Parteitagsbeschlüssen und internationalen Kongressbeschlüssen aufgesteckten Willen fortlaufend zur politischen Tat zu schmieden“[8].
Heine beanspruchte das Recht auf „freie Meinungsäußerung“, „Autonomie“ und „freie Selbstbestimmung“ in der Partei. Ähnlich wie Bernstein rechtfertigte Heine den ständigen Bruch der Parteidisziplin, um „Kadavergehorsam“ gegenüber der Parteiführung zu vermeiden.[9] Auf dem Parteitag in Hannover verlangte Heine 1899 die „Freiheit der unbeschränkten“ Kritik, d.h. das sagen zu wollen, was jedem Mitglied in den Sinn kommt, unabhängig davon, ob es mit den Prinzipien der Organisation übereinstimmt oder nicht. Rosa Luxemburg hielt dem entgegen: „Ich sagte keine einzige Partei gibt es, die die Freiheit der Kritik in so ausgiebigem Maße gewährt wie die unserige. Wenn Sie aber darunter verstehen sollten, dass die Partei im Namen der Freiheit der Kritik kein Recht haben sollte, zu gewissen Meinungen und Kritiken der letzten Zeit Stellung zu nehmen und durch Majoritätsbeschluss zu erklären: wir stehen nicht auf diesem Standpunkte, so muss ich dagegen protestieren, denn wir sind nicht ein Diskutierclub, sondern eine politische Kampfpartei, die bestimmte Grundanschauungen haben muss.“[10] Kautsky ergänzte diese Variante von demokratistischen Auffassungen, als er ab 1900 den Standpunkt vertrat, in der Partei müsse es einen „Wettbewerb der verschiedenen Auffassungen“ geben. Mit anderen Worten sollte es statt der Mehrheitsposition der Partei ein Nebeneinander von verschiedenen Positionen geben.
Als die SAPD 1875 in Gotha gegründet wurde, verlangten die Statuten noch eine tatkräftige Unterstützung der Partei. Um die Jahrhundertwende wurden auch bei dieser Auseinandersetzung in der Sozialdemokratie die entgegengesetzten Auffassungen zwischen dem opportunistischen und revolutionären Flügel ersichtlich. Unter dem Motto, die SPD müsse zu einer “Volkspartei” werden, die “jedem offen steht”, und weil der größtmögliche Stimmengewinn das oberste Ziel sei und sich die Partei deshalb nicht als “Sekte” verhalten dürfe, stellten sich die Revisionisten gegen jede Einhaltung der früheren Mitgliedskriterien.
Ein Merkmal der Haltung der Revisionisten war deshalb: möglichst schwache oder gar keine Aufnahmekriterien. Aus ihrer Sicht könne und müsse eine Massenpartei immer mehr Leute aufnehmen, ohne aktive Mitarbeit und ohne tiefere innere Überzeugung, Gegen den Versuch, die Mitgliedskriterien strenger zu fassen, lehnte „bereits 1900 Auer auf dem Parteitag in Mainz den von Delegierten eingebrachten Vorschlag ab, den ersten Paragraphen der Satzung der Sozialdemokratischen Partei dadurch zu verstärken, dass beim Eintritt in die Partei die Teilnahme an der Parteiarbeit und die Zugehörigkeit zu einer Parteiorganisation verlangt werden sollten. Solche Forderungen, so behauptete Auer, seien geeignet, die besten Menschen, die sich Sozialdemokraten nannten, wegen der polizeilichen Verfolgungen usw. von der Partei abzustoßen.“[11] Eine aktive Mitarbeit, so die Revisionisten, sei nicht mehr erforderlich. Bei einer Massenpartei, die nur auf große Wahlerfolge ausgerichtet war, konnte man einfach sein Einverständnis erklären, ohne aktiv mitzuwirken. In Wirklichkeit verleitete der parlamentarische Schwerpunkt der Aktivität die Partei zur Passivität im „Alltag“ und zur Aufweichung ihres Programms. In den Statuten der SPD wurde dann auch ab dem Mainzer Parteitag 1900 jeglicher Passus einer aktiven Mitarbeit gestrichen. Kein Wort mehr von Mitgliedsbeiträgen – man sprach bis 1905 lediglich von dauerhafter „Unterstützung“ durch Geldmittel.
Zusätzlich wandten die Revisionisten ein, es bestehe die Gefahr, dass der Polizei Mitgliederlisten in die Hände fallen könnten (die SPD verfügte z.B. 1905 über ca. 385.000 Mitglieder). Deshalb hatte man auch in Jena 1905 in den Statuten nicht verankert, dass sich jedes Mitglied an der „praktischen Arbeit“ beteiligen sollte. Man übertrieb teilweise die Gefahr, dass die Polizei repressiv gegen die Partei vorgehen könnte, um die Mitglieder nicht zur Mitarbeit zu verpflichten.[12] D.h. somit hatte die Partei ab der Jahrhundertwende den Anspruch auf aktive Beteiligung der Mitglieder an der Parteiarbeit über Bord geworfen. Lediglich ein verbales Bekenntnis zum Programm und finanzielle Unterstützung wurden verlangt.[13]
Während in Deutschland um die Jahrhundertwende die Frage der aktiven Mitarbeit und deren Festlegung in den Statuten auf dem Hintergrund des Niedergangs der Partei behandelt wurde, fand diese Auseinandersetzung, wie wir weiter unten sehen werden, 1903 auf dem 2. Parteitag der SDAPR in einem anderen Kontext statt.
Gleichzeitig begannen die Revisionisten in der SPD auch Artikel für bürgerliche Zeitungen zu schreiben. Auch offizielle Verwaltungsämter im Staat sollten angestrebt werden – z.B. kandidierte der SPD-Mann Lindemann für das Oberbürgermeisteramt in Stuttgart. Im Wahlkampf trug er keine der sozialdemokratischen Forderungen vor.[14] Bis zum damaligen Zeitpunkt lehnte die Partei es ab, dass SPD-Mitglieder öffentliche, staatstragende Ämter übernehmen. Nun wurde auch von den Revisionisten dafür plädiert, bei Haushaltsposten, die den Interessen der Arbeiter entsprächen (z.B. Bildung, Sozialversicherung), die Staatshaushalte zu bewilligen. Auch wenn dies noch nicht auf nationaler Ebene für den Reichstag befürwortet wurde, gab es Abgeordnete der SPD in einzelnen Teilen Deutschlands (wie z.B. Bayern und Baden-Württemberg), die sich durch ihre Budgetabstimmungen direkt hinter die bürgerliche Regierung stellten.[15]
Während einige Stimmen in der Partei für eine stärkere Zentralisierung der Partei eintraten, forderten andere eine „Föderation von Vereinen“. Vollmar warnte sogar davor, eine zentralistische Organisationsform würde nur die „Organisation der staatlichen Bürokratie“ kopieren.
Hinter dem Anspruch auf „Autonomie“ seitens der Abgeordneten gegenüber der Partei und dem Föderalismus stand in Wirklichkeit die Preisgabe der programmatischen Positionen der SPD als Arbeiterpartei.[16] All diese oben erwähnten kleinen Schritte auf verschiedenen Ebenen waren weit mehr als ein „Versagen der Führer“, wie Rosa Luxemburg betonte, sie brachten vielmehr den Prozess der Integration des Parteiapparates in den Staat zum Ausdruck.
Bis 1899 war die SPD durch Verbote und Einschränkungen hinsichtlich der Mitgliedschaft und der Funktionsweise der Partei (bis 1899 durfte kein Kontakt der Parteisektionen untereinander bestehen) immer mit der Gefahr der Repression konfrontiert. Seit 1899 war durch Aufhebung des Verbindungsgebotes diese Fessel gefallen. Weil dieser Prozess von den Kräften im Parlament am stärksten mit vorangetrieben wurde, trat die Parlamentsfraktion wie zuvor schon 1890/1891 auf dem Haller und dem Erfurter Parteitag erneut für die Kontrolle des Parteivorstandes durch die Reichstagsfraktion ein.[17] Engels wandte sich gegen solche Maßnahmen.
Begleitet wurde dieser Revisionismus durch eine Vernachlässigung theoretischer Arbeit. Luxemburg hatte schon früh die theoretische Schwächung in ihrem Text Stillstand und Fortschritt im Marxismus (1903) angeprangert. Auch Clara Zetkin hatte am 11. September 1899 in einem Brief an Karl Kautsky berichtet, dass „in den Massen unserer Parteigenossen kein regeres Interesse an der Erörterung grundsätzlicher Fragen vorhanden ist“[18]. Wie wenig auf der Ebene der „leitenden Parteifunktionäre“ Wert auf Theorie gelegt wurde, zeigen die Auswahlkriterien und die Orientierung für deren Arbeit. Es wurden gefordert: „Treffsicherer Ausdruck, eiserne Energie, zähe Ausdauer bei Durchführung gefasster Beschlüsse (…), dabei Ruhe und Besonnenheit“[19]. Dabei wurde die Bereitschaft zur theoretischen Ausarbeitung nicht mal erwähnt. Und auch Heine wandte sich gegen die „Betonung des Theoretischen“, da sie ein „Grundfehler unserer deutschen Sozialdemokratie“ ist. Seine Sorge war vor allem die „Sorge um die Gegenwart“. „Die Hauptsache ist, dass wir wachsen. Das ist Klassenkampf. Für das andere lässt die Zukunft sorgen.“[20] Die ablehnende Haltung, die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und den Blick nur auf die Gegenwart zu richten, war ein Wesensmerkmal des Revisionismus. Dies ging einher mit einem Prozess der Erlahmung des Lebens in den Parteiversammlungen selbst. So wurde eine „Lauheit und Indolenz“ in der Partei bemängelt.[21]
Auf den Parteitagen um die Jahrhundertwende nahm der Abwehrkampf der Kräfte, die sich gegen das Aufkommen des Revisionismus zur Wehr setzen wollten, zu. So wurde z.B. auf dem Dresdner Parteitag von 1903 folgende Resolution vorgelegt: „Der Parteitag verurteilt auf das entschiedenste die revisionistischen Bestrebungen, unsere bisherige gewährte und siegesgekrönte, auf dem Klassenkampf beruhende Taktik in dem Sinne zu ändern, dass an Stelle der Eroberung der politischen Macht durch Überwindung unserer Gegner eine Politik des Entgegenkommens an die bestehende Ordnung der Dinge tritt. Die Folge einer derartigen revisionistischen Taktik wäre, dass aus einer Partei, die auf die möglichst rasche Umwandlung der bestehenden bürgerlichen in die sozialistische Gesellschaftsordnung hinarbeitet, also im besten Sinne des Wortes revolutionär ist, eine Partei tritt, die sich mit der Reformierung der bürgerlichen Gesellschaft begnügt. Daher ist der Parteitag im Gegensatz zu den in der Partei vorhandenen revisionistischen Bestrebungen der Überzeugung, dass die Klassengegensätze sich nicht abschwächen, sondern stetig verschärfen, und erklärt:
1. dass die Partei die Verantwortlichkeit ablehnt für die auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhenden politischen und wirtschaftlichen Zustände und dass sie deshalb jede Bewilligung von Mitteln verweigert, welche geeignet sind, die herrschende Klasse an der Regierung zu erhalten;
2. dass die Sozialdemokratie gemäß der Resolution Kautsky des Internationalen Sozialistenkongresses zu Paris im Jahre 1900 einen Anteil an der Regierungsgewalt innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nicht erstreben kann.
Der Parteitag verurteilt ferner jedes Bestreben, die vorhandenen, stets wachsenden Klassengegensätze zu vertuschen, um eine Anlehnung an bürgerliche Parteien zu erleichtern.“[22] Diese Resolution wurde von Bebel, Kautsky und Singer eingebracht und mit 288 gegen 11 Stimmen angenommen. Viele Revisionisten, die keinen Mut hatten, innerhalb der Partei gegen die Mehrheit zu votieren, stimmten heuchlerisch dafür, nur um später umso entschlossener ihre Positionen weiter zu verteidigen. Anhand der Parteitage von 1898-1903 wird deutlich, dass in der Partei der Kampf gegen die Versumpfung eingesetzt hatte, d.h. die Partei war noch nicht mehrheitlich auf dem Abstieg. Der Vorstand, dem von der Parteilinken Vorschläge und Anträge für den Kampf gegen die Revisionisten vorgelegt wurden, wich immer stärker aus. Im Sommer 1904 verfasste der Vorstand eine spezielle Erklärung mit dem „dringenden Ersuchen, im ‚Namen der Einheit‘ alle ‚innerparteilichen Streitigkeiten ruhen zu lassen‘“. Auf dem Dresdner Parteitag, so berichtete Paul Frölich in seiner Biographie zu Rosa Luxemburg, war auf der einen Seite dem Revisionismus verbal eine Abfuhr erteilt worden, gleichzeitig wurde auf dem Parteitag aber ein heftiger und perfider Angriff gegen Franz Mehring eingeleitet. Man kann davon ausgehen, dass dieser Angriff gegen Mehring von den Revisionisten als Art Gegenoffensive mit angestachelt wurde, da Mehring damals dem Lager um Rosa Luxemburg angehörte.[23] Wie „rücksichtsvoll“ und „nachgiebig“ in der SPD mit den Revisionisten umgegangen wurde, prangerte Lenin in seiner Schrift Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück an.[24]
Auch wenn mit dieser Ablehnung der Regierungsbeteiligung und der Budgetbewilligung den Revisionisten zunächst einmal die Stirn geboten worden war, wollte der Vorstand die Revisionisten in den Reihen der Partei weiter wirken lassen, obwohl sie eine klare Untergrabung und Aufgabe des Programms betrieben. Viele Kräfte unterschätzten die Gefahr des Revisionismus. Dieser spiegelt den permanenten Druck der bürgerlichen Ideologie wider, die theoretischen Errungenschaften zu untergraben. Viele hielten ihn lediglich für ein vorübergehendes und kein lebensbedrohliches Phänomen, mit dem man in einer „pluralistischen, demokratischen Debatte“ unter „gleichberechtigten“ Stimmen leben könne. Victor Adler erklärte: „Schließlich ist es kein Unglück, dass wir zwei Strömungen in der Partei haben; die Hauptsache ist nur, dass die andere (die revisionistische) hübsch in der Minderheit bleibt.“[25] Kautsky glaubte ab 1903, dass z.B. durch die oben zitierte Resolution vom Dresdner Parteitag die Gefahr des Revisionismus gebannt sei. „Das Begräbnis des theoretischen Revisionismus als politischer Faktor“ sei auf dem Dresdner Parteitag erfolgt.[26] Nachdem sich Kautsky gegenüber seinem früheren Busenfreund Bernstein jahrelang abwartend und wohlwollend verhielt, hegte dieser, wie seine Rede auf dem Lübecker Parteitag 1901 zeigte, die Hoffnung: „Bernstein hat uns daran erinnert, dass er zehn Jahre lang als Redakteur des „Sozialdemokrat“ gewirkt hat. Ja, zehn Jahre lang hat er am „Sozialdemokrat“ gewirkt, zu unserer Freude und zu unserem Nutzen, und ich wünsche nichts sehnlicher, als dass er die Tradition, auf die er sich beruft, wieder erneuert. (…) Möge er die alten Traditionen erneuern!“[27] Über die Art und Weise, wie der Revisionismus bekämpft werden müsste, gab es aber auch in den Reihen der Linken unterschiedliche Auffassungen. Bebel vermittelte gegenüber Kautsky den Standpunkt, dass der Opportunismus sozusagen von selbst absterbe. „Was den Revisionismus zermalmt, ist die innere und äußere Entwicklung Deutschlands, die ihm alle seine Illusionen zerstört.“[28] Dies zeigt, wie stark selbst Bebel sich im Charakter des Revisionismus irrte. Während es einerseits Kräfte in der Partei gab, die Resolutionen gegen den Revisionismus vorschlugen, wurde dennoch zum Teil von den gleichen Kräften eine Radikalisierung des Kampfes gebremst bzw. abgeblockt. „Ein Antrag, der unter anderem von Kautsky, Luxemburg, Zetkin unterstützt wird, die Frage des Generalstreiks auf die Tagesordnung des nächsten Parteitages zu setzen, wird mit sehr großer Mehrheit abgelehnt.“[29]
Jedoch wurde der Kampf gegen den Revisionismus durch den Zentrismus äußerst erschwert.[30]
Karl Kautsky verkörperte diesen Trend. Nachdem Rosa Luxemburg für eine Zeit nach ihrer Ankunft in Deutschland 1898 zusammen mit Karl Kautsky gegen den Revisionismus Stellung bezogen hatte, schlich sich jener schrittweise vor diesem Kampf davon. Hatte er zunächst ohnehin nur reagiert, nachdem Rosa Luxemburg ihn sozusagen „nach vorne gepeitscht“ hatte und er nur ungern gegen seinen alten Freund Bernstein Farbe bekennen wollte, fing er langsam an, diesen Kampf zu sabotieren.
Der Vergleich zwischen der Rolle Kautskys, der als die große Autorität des Marxismus nach dem Tode Engels angesehen wurde, und Plekhanov, der eine wesentliche Rolle bei der Ausbreitung des Marxismus und der Arbeiterbewegung in Russland spielte, ist aufschlussreich. Kautsky sträubte sich Stellung zu beziehen; er beanspruchte theoretische Aussagen zu treffen, hielt sich aber für über den „Organisationsfragen“ stehend und wich später der Konfrontation mit den Revisionisten immer stärker aus. Auch wenn die Komponente der besonderen persönlichen Beziehung zu Bernstein ihn zusätzlich zurückhielt, hob er sich vor allem durch seine mangelnde Kampfbereitschaft hervor. Stattdessen trat er für Versöhnung mit dem Revisionisten Bernstein ein und äußerte die Hoffnung, dass Bernstein wieder auf den richtigen Kurs gebracht werden könnte. Als Bernstein 1899 in Hannover auf dem Parteitag und auch in den darauffolgenden Parteitagen angegriffen wurde, vertrat Kautsky 1900 die Auffassung, dass Bernstein nicht aus der Partei ausgeschlossen werden sollte, da das nur bei Mitgliedern möglich sei, die „unehrenhaft sind, die Partei beschimpfen oder den Parteibeschlüssen zuwiderhandeln. Bernstein tut weder das eine noch das andere. Seine Haltung ist nicht die einer entschiedenen Gegnerschaft, sondern allgemeiner Verschwommenheit. Man kann niemanden zwingen, konsequent zu sein.“[31] Solch eine Haltung des Übertünchens der völlig entgegengesetzten Standpunkte, als Bernstein das Ziel der Überwindung des Kapitalismus über Bord warf, hat die Entschlossenheit der Linken geschwächt und zur Unterschätzung der Gefahr der Revisionisten beigetragen. Die verheerende Rolle des Zentrismus und insbesondere dessen bekanntester Stimme Kautsky sollte während der Jahre vor dem Krieg, aber auch noch nach 1914 schwerwiegende Auswirkungen haben, da er in der Form der 1917 gegründeten USPD für eine enorme Schwächung der revolutionären Arbeit sorgte. Kautsky und die Zentristen behinderten eine größere Sammlung der linken Kräfte, weil er die Gegensätze „verwässerte“.[32] Mit den Revisionisten und Reformisten bestände „normalerweise kein Widerstreit der Interessen, kein Klassengegensatz, sondern bloß eine Verschiedenheit der Meinungen über den Weg, auf dem das gemeinsame Ziel am besten erreicht wird.“[33] Lenin, der den Charakter und die wirkliche Rolle Kautskys erst spät erkannte, schrieb 1914: „Rosa Luxemburg hatte Recht, als sie bereits vor langer Zeit schrieb, Kautsky sei die ‚Servilität des Theoretikers‘ eigen, die Kriecherei, einfacher gesagt, die Kriecherei vor der Mehrheit der Partei, vor dem Opportunismus.“[34]
Nach den ersten wilden Streiks in Pennsylvania 1900, 1902 in Belgien, 1903 in Holland, 1904 in Ungarn und vielen anderen Ländern brachten die revolutionären Kämpfe 1905 in Russland zum ersten Mal eine neue Kampfform – die Arbeiterräte – hervor.[35]
Unter dem Eindruck dieser Ereignisse verstärkte sich die Kritik vor allem in der deutschen Sozialdemokratie und später auch in den Niederlanden an der nahezu ausschließlichen Orientierung auf die Parlamentswahlen und den gewerkschaftlich organisierten Kampf. „Schon seit einem Jahr bilden die Reichstagswahlen den Grundton und das Schlagwort bei allem unserm Tun und Lassen. Auf diese Weise werden die Massen durch den ständigen Kehrreim systematisch fasziniert, es werden in ihnen unwillkürlich ganz übertriebene Hoffnungen erweckt, wie wenn der Ausgang der Wahlen eine Art neue Ära in der politischen Geschichte Deutschlands, einen Wendepunkt in den Schicksalen des Klassenkampfes bedeuten sollte. (…) Unser Parteileben als der Ausdruck der Gesamtinteressen des proletarischen Klassenkampfes hat seine mannigfachen Seiten, die um keines vorübergehenden taktischen Zweckes willen vernachlässigt werden dürfen. Wir haben Aufgaben, die ständiger Natur sind, die über die bevorstehenden Reichstagswahlen hinausreichen und auf keinen Fall zurückgestellt werden dürfen.“[36] Damit schwamm man gegen den Strom in der Partei, denn die spektakuläre Zunahme an Mitgliedern und Wahlstimmen für die SPD schien den „Nur-Parlamentarismus“-Anhängern auf den ersten Blick Recht zu geben. Für den Zeitraum zwischen 1878-1906 können die Mitgliederzahlen nur geschätzt werden. Vor dem Sozialistengesetz betrug sie ungefähr 35.000, nach dem Ende des Sozialistengesetzes (1890) ca. 75.000, um die Jahrhundertwende ca. 100.000, anschließend stieg sie sprunghaft an, wobei sie während der Wirtschaftskrisen 1907-1909 und 1912/1913 eher nur langsam anstieg.[37]
Entwicklung der Mitgliederzahl 1905-1914
Jahr |
Mitgliederzahl |
Steigerung Vorjahr % |
1905/06 |
384.000 |
|
1906/07 |
530.000 |
38 |
1907/08 |
587.000 |
11 |
1908/09 |
633.000 |
8 |
1909/10 |
720.000 |
14 |
1910/11 |
836.000 |
16 |
1911/12 |
970.000 |
16 |
1912/13 |
982.000 |
1 |
1913/14 |
1.085.000 |
11 |
1905 kritisierte die Leipziger Volkszeitung die zu starke Orientierung der Partei auf parlamentarischen Kampf, es bestehe die Gefahr, dass die Sozialdemokratie ein „bloßer Wahlmechanismus“ bleibe.
„Je mehr unsere Organisationen wachsen, Hunderttausende und Millionen umfassen, umso mehr wächst notgedrungen der Zentralismus. Damit geht aber auch das geringe Maß an geistigem und politischem Inhalt, an Initiative und Entschluss, das im alltäglichen Leben der Partei von den Organisationen aufgebracht wird, gänzlich auf die kleinen Kollegien an der Spitze: auf Vereinsvorstände, Bezirksvorstände und Parlamentarier, über. Was für die große Masse der Mitglieder übrigbleibt, sind die Pflichten zum Beitragszahlen, zum Flugblätteraustragen, zum Wählen und zu Wahlschlepperdiensten, zur Hausagitation für das Zeitungsabonnement und dergleichen.“[38]
Während unter den Revisionisten in Anbetracht der quantitativen Erfolge das Gefühl der „Unbesiegbarkeit“ solch einer ständig wachsenden Massenpartei aufkam, und auch viele Arbeiter das Gefühl hatten, die Partei werde dank der vielen Parlamentssitze immer mächtiger, hatte sich in Wirklichkeit zum einen das Leben in der Partei selbst immer mehr „verflacht“ und zum anderen kam es zu einer immer engeren Verflechtung zwischen Gewerkschaftsapparat, Parlamentariern und dem Staatsapparat. „Zwischen der Sozialdemokratie und der bürgerlichen Welt war eine geistige Endosmose hergestellt, durch die Giftstoffe der bürgerlichen Zersetzung in die Blutzirkulation des proletarischen Parteikörpers frei eindringen konnten.“[39]
„Die Revisionisten greifen das Programm auf Schritt und Tritt an, sie begehen Verstoß auf Verstoß gegen die Prinzipien der Partei, aber stets drücken sie sich um eine klare und unzweideutige Festlegung ihres Standpunktes herum. (…) [Die Revisionisten] hatten an allen Grundlagen der sozialdemokratischen Weltanschauungen herumgemäkelt. Der eine warf den historischen Materialismus über Bord, der andere die Werttheorie. Die Auffassung vom Klassenkampfe sollte der „Ergänzung“ bedürfen, die Marxsche Krisentheorie, die Grundrententheorie waren in ihren Augen fraglich geworden. (…) Man ist in der deutschen Sozialdemokratie zum Teil erschrecklich gleichgültig für politische Dinge geworden, weil die Gelegenheit politische Aktionen zu führen, so gering ist. Dieser Umstand kommt den Revisionisten zugute. Sie haben trotz all ihrer Niederlagen das Feld behauptet, weil es den organisierten Arbeitern nur zu oft gleichgültig war, was in den Redaktionsstuben, in den Parlamenten, in den Stadtverordnetenversammlungen geschah. (…) Dieses Bedürfnis nach Ruhe führte dann dazu, dass in manchem Parteiorgan der Revisionismus blüht, trotzdem die Mitgliedschaft des Parteiorts, die über das Organ zu entscheiden hat, weit entfernt ist vom Revisionismus… Es ist gewissermaßen eine Partei in der Partei erstanden, es hat sich eine Cliquenwirtschaft herausgebildet. (…) Es liegt ein Plan darin. (…) [Es wurde] Cliquenpolitik gegen den Willen der überwältigenden Mehrheit der Partei [betrieben]. Vor zehn Jahren wurde auf dem Stuttgarter Parteitag der geistige Kampf um die Grundsätze der Partei begonnen. In diesem Kampfe haben die Revisionisten Niederlagen auf Niederlagen erlitten. Jetzt gilt es nicht mehr, die theoretischen Grundsätze zu verteidigen, sondern es gilt, in Nürnberg zu entscheiden, ob die Partei von der Clique vergewaltigt werden darf, es gilt, dem Spiel von Leuten, die sich über das formale und das moralische Recht in der Partei hinwegsetzen wollen, einen unzerbrechlichen Riegel vorzuschieben.“[40] Auch Hermann Duncker wies darauf hin, dass sich ein sich verselbständigender Machtapparat in der Partei entwickelt hatte. „Aber die Masse wird durch die Beamtenkörperschaft gelähmt. Wie ein eiserner Ring schließt die Beamten- u[nd] Funktionärskörperschaft die Massen ab. Es ist die furchtbare Schattenseite der Bürokratie.“[41]
Schon Anfang der 1890er Jahre hatten die Rechten begonnen, engere Verbindungen untereinander aufzubauen. Engels sprach von „Sonderbünden“, gar von einer Art Fronde.[42] Am 6. 10.1903 schrieb Zetkin an Bebel „Die Revisionisten ‚arbeiten‘ offenbar nach einem einheitlichen Feldzugsplan und nach vereinbartem Schema (…) Wir stehen einer vollendeten Verschwörung gegenüber (…) Mit Stillschweigen und Vertuschen darüber hinwegsehen und Gras darüber wachsen zu lassen, liefe darauf hinaus, die Partei mit dem Makel dieser tiefsten Korruption zu behaften.“[43]
Auf dem Dresdner Parteitag 1903 führten die Revisionisten eine Sonderkonferenz durch.[44] Auch wurde der Kontakt zwischen bestimmten Kreisen der Bourgeoisie und führenden Kräften der Parlamentsfraktion zunehmend intensiviert. „Unter den Fittichen der „Bildung“ und der „allgemeinmenschlichen Kultur“ fanden sich nämlich an den schönen Winterabenden sozialdemokratische Parlamentarier mit bürgerlichen Journalisten zusammen, um sich „von den Strapazen des Berufs“ und der „politischen Fachsimpelei“ zu erholen.“[45]
Seit der Jahrhundertwende hatten sich u.a. um Heine und Vollmar führende Opportunisten geschart, die regelmäßig zu „Bierabenden“ bzw. „Donnerstagabenden“ zusammenkamen. Die zunehmenden Zusammenkünfte zwischen Vertretern der Revisionisten und bestimmen Kreisen des Kapitals war den revolutionären Kräften nicht entgangen. Bebel schrieb Liebknecht am 10.11.1908, bei diesen Bierabenden „findet sich der ganze revisionistische Klüngel zusammen“[46]. Neben diesem Zusammenrücken der Rechten in separaten Treffen aller Art (unter sich in der Partei oder mit bestimmen Kreisen der Bourgeoisie) wurde auch eine Hetze in der SPD gegen die Kräfte angefacht, die gegen die Entartung ankämpften. Gegen jede Stimme, ob aus den Reihen der SPD selbst oder aus dem Ausland, die sich kritisch mit den Revisionisten und der Parteiführung auseinandersetzte, wurde entschlossen und oft perfide vorgegangen.[47] Wir haben dies in einem früheren Artikel ausführlich dokumentiert.[48]
Der damals aufgekommene Revisionismus hatte in Deutschland besonders starke Ausmaße und eine besondere Bedeutung aufgrund der Ausstrahlung und herausragenden Position der deutschen Sozialdemokratie, die über mehr als eine Million Mitglieder verfügte, erlangt. Lange Zeit wurde K. Kautsky nahezu als „Papst des Marxismus“ angesehen, und Bernstein trat international als der „Bote des Revisionismus“ auf. Der Revisionismus war jedoch keineswegs auf Deutschland beschränkt, denn z.B. in Frankreich war Millerand in die französische Regierung eingetreten. In Italien stellte 1902 auf dem Kongress in Imola die reformistische Strömung um Turati und die Zeitschrift La Critica Sociale die Mehrheit dar.
Wir sind in anderen Artikeln unserer Presse ausführlich auf den Hintergrund und den Verlauf des 2. Parteitages eingegangen.[49]
Wie schon in diesem Artikel ausführlicher dargestellt, handelte es sich um eine Zeit herannahender historischer Umbrüche, den Übergang von der aufsteigenden zur dekadenten Phase des Kapitalismus. Ein Merkmal dieses Prozesses war, dass die Bedingungen für das Bestehen oder die Bildung einer Massenpartei sich langsam auflösten. Während bei einer Massenpartei eine relativ passive Mitgliedschaft möglich war, verlangte eine Partei in der dekadenten Phase des Kapitalismus mehr als je zuvor die aktive Mitarbeit. Es reichte nicht mehr aus, hauptsächlich Wahlhelfer zu sein; stattdessen sollte sich die Partei zu einer zahlenmäßig kleinen, aber kampfkräftigen Partei wandeln, die auf das aktive Engagement aller ihrer Mitglieder angewiesen war. Auch wenn Lenin diese Umwälzung bei der Statutendiskussion auf dem 2. Parteitag 1903 noch nicht so deutlich spüren konnte, schwebte dieser Wandel über der Partei und insofern nahm diese Auseinandersetzung die kaum 20 Jahre später ab 1919 aufgekommene Auseinandersetzung über die neuen Bedingungen für die Rolle der Partei vorweg.[50]
Als der Opportunist Wolfgang Heine für eine Verteidigung der lokalen Autonomie eintrat, zeigte Lenin die Parallelen in der Denkweise zwischen Leuten wie Heine und den Menschewiki auf. „Wolfgang Heine schrieb in einem Artikel, den ‚die Sozialistischen Monatshefte‘ im April 1904 druckten, gegen die Einmischung der ‚ernannten Obrigkeit‘, d.h. des Parteivorstands, in die Tätigkeit der sozialdemokratischen Organisationen. Heine spielte sich als Vorkämpfer des ‚demokratischen Prinzips‘ auf und rebellierte gegen die angeblich besonders gefährliche ‚Tendenz zur Bureaukratisierung und Centralisierung der Partei.‘ (Wolfgang Heine, Demokratische Randbemerkungen zum Fall Göhre. In ‚Sozialistische Monatshefte‘, 1904, Nr. 4, S. 281-291). Heine entlehnte seine wichtigsten Schlussfolgerungen der Broschüre von Martow ‚Abermals in der Minderheit‘ und dessen Rede auf dem II. Parteitag, um die örtlichen Parteiinstitutionen gegen die zentralen auszuspielen und die Partei vor einer ‚doctrinären Politik‘ zu warnen, bei der ‚alle wichtigen politischen Entscheidungen von einer Centrale aus zu treffen‘ wären. Er wandte sich überhaupt gegen den Begriff Disziplin. Heine stellte sich gegen ‚eine alles umfassende große Organisation, möglichst zentralisiert, eine Taktik, eine Theorie‘, zu schaffen. Dieses Geschrei gegen die Herabsetzung, ‚Abtötung‘, ‚Bürokratisierung‘ des freien ideologischen Kampfes und die Forderung nach ‚Freiheit der Kritik‘ sowie nach ‚absolut individuellem ideologischem Schöpfertum‘ waren der konzentrierte Ausdruck des Individualismus….“[51] Innerhalb der SPD brachte das Bestreben zur Aufgabe der Zentralisierung und die Untergrabung der Autorität der Parteitage eine klare Revision und Regression zum Ausdruck. Die Anfang der 1890er Jahre zuvor auf dem Haller / Erfurter Kongress verabschiedete Position von der Souveränität des Kongresses, dass die Zentralorgane dessen Beschlüsse umsetzen müssen und diese für alle Parteimitglieder und Parteiinstanzen verbindlich sind, wurde hier verworfen. Dagegen bedeutete das Bestehen auf der Einhaltung der Parteibeschlüsse in den Reihen der SDAPR einen klaren Schritt vorwärts gegenüber dem zuvor vorherrschenden Zirkelgeist. Die Revisionisten in der SPD und die Menschewiki auf dem 2. Parteitag der SDAPR bliesen ins gleiche Horn.
Nach der Durchführung des 2. Parteitages der SDAPR[52] fand wenige Wochen später in Dresden der SPD–Parteitag unbehelligt von jeglichen Belästigungen der Polizei statt. Zum ersten Mal wurde in der SPD-Presse im Dezember 1903 über diesen Parteitag berichtet. Ein halbes Jahr später erschien Rosa Luxemburgs Kritik an der Position der Bolschewiki: Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie [53]. Als Lenin ihr kurze Zeit später antwortete, weigerte sich Kautsky als Herausgeber der Neue Zeit Lenins Text zu veröffentlichen.[54] Die „Nachricht vom russischen Streit“ würde den Sympathien der deutschen Sozialdemokraten für die russischen Sozialdemokraten beider Richtungen abträglich sein. „Es handele sich um einen ‚Familienstreit‘, der keine ‚internationale Bedeutung‘ habe, Lenin habe diesen ‚unheilvollen Zwist begonnen.‘“[55] Kautsky bezeichnete den Streit zwischen Menschewiki und Bolschewiki als „persönliche Zwistigkeiten“ infolge „rein persönlicher Feindseligkeiten“ zwischen den Führern beider Fraktionen (Kautsky, Brief 14.2.1905 an Axelrod). Er behauptete weiter „Euren Lenin kennen wir noch nicht, und ihm können wir nicht aufs Wort glauben.“[56] Wie Lenin später feststellte, brachte der Vorwärts keinen einzigen Artikel mit einer objektiven Einschätzung der Tätigkeit der Bolschewiki, während in der Neuen Zeit Menschewiki und Trotzki immer wieder zu Wort kamen.[57]
Aus Kautskys Sicht war die Frage der Parteimitgliedschaft „nicht prinzipiell“. „In den Spalten der menschewistischen „Iskra“ behauptete er, die ‚Mehrheit darf ihren Willen der Minderheit nicht aufzwingen‘“, sondern müsse sich mit ihr aufgrund „möglichst großer gegenseitiger Zugeständnisse“ verständigen. Damit wurde die Position des Erfurter Parteitages verworfen, wonach Parteitagsbeschlüsse verbindlich waren und somit Minderheiten die Mehrheitsbeschlüsse akzeptieren und umsetzen müssen.
Ein weiterer Grund für das Ausweichen der SPD-Parteiführung bzw. des Flügels um Kautsky vor dem Kampf in der SDAPR bestand darin, dass man tatsächlich eher auf Seiten der Menschewiki stand. „Müsste ich“, so schrieb Kautsky, “zwischen Martow und Lenin wählen, so würde ich mich auf Grund aller Erfahrungen unserer Tätigkeit in Deutschland entschieden für Martow aussprechen“[58]. Kautsky beabsichtigte in der Iskra einen Artikel gegen die Bolschewiki zu veröffentlichen. Insgesamt hörte man kaum Stimmen aus der SPD, die die Position der Bolschewiki zu diesem Zeitpunkt unterstützten.
Darüber hinaus wurde eine tiefgreifende Divergenz Kautskys gegenüber den Bolschewiki zu Organisationsfragen deutlich, denn er war der Ansicht, dass das Prinzip der Autonomie, auf das er die Erfolge der deutschen Sozialdemokratie in den Jahren des Sozialistengesetzes zurückführte, zum maßgebenden Organisationsprinzip der SDAPR werden müsste. Wie in einem früheren Artikel entwickelt, war zur Zeit des Sozialistengesetzes eine gewisse Autonomie der örtlichen lokalen Parteieinheiten unvermeidbar, aber seit dem Ende des Sozialistengesetzes und vor allem nach der Abschaffung jeglicher Restriktionen für das Funktionieren der SPD um die Jahrhundertwende gab es keine Begründung mehr für diese Schutzmaßnahmen der lokalen Sektionen in der Form einer gewissen Autonomie gegenüber der Partei insgesamt. In Wirklichkeit handelte es sich um eine lokalistische, zentralisationsfeindliche Auffassung, die ein Ausdruck der vorherrschenden föderalistischen Auffassungen in der II. Internationale war.
Anhand dieser verschiedenen Aspekte (ein Herunterspielen bzw. ein Versuch des Verschweigens der Divergenzen, ein Parteiergreifen für die Menschewiki, eine Darstellung der Prinzipienfrage als ein Streit zwischen Personen, Ablehnung der Zentralisierung, Verwerfen der statutenmäßigen Festlegung zur aktiven Mitarbeit in der Partei) wird der Rückschritt von Teilen der SPD zum damaligen Zeitpunkt deutlich.
Gleichzeitig waren die Statuten der anderen Parteien der II. Internationale nicht klarer hinsichtlich Mitgliedschaft und Zentralisierung.[59]
Während die Mehrheit in der SPD nicht verstand, was auf dem 2. Parteitag der SDAPR auf dem Spiel stand bzw. Teile von ihnen offen für die Menschewiki Partei ergriffen hatten, könnte man einwenden, dass diese Wahrnehmung des Kampfes in Russland durch die unterschiedlichen objektiven Bedingungen geprägt und gewissermaßen verfälscht wurde.
Tatsächlich gab es große Unterschiede zwischen der Situation der beiden Parteien. In Deutschland gab es Zeichen eines politischen Niedergangs der Partei, u.a. ersichtlich anhand einer degenerierenden Reichstagsfraktion. Der kraftlose und abblockende Vorstand, der nur durch die Initiative „von Unten“, durch die Masse der Parteimitglieder „angeschoben“ wurde, zeigte immer deutlicher revisionistische Züge und eine wachsende Integration in den Staat. Deshalb legte in jenen Jahren Rosa Luxemburg die Betonung auf die Massenaktivität, „Initiative von Unten“, „Spontaneität“, Wachsamkeit, eigenständiges Denken der „Basis“. Zu Recht zeigte sie ein „Misstrauen“ gegenüber einem mächtigen, sich immer mehr verselbständigenden Vorstand. Dagegen gab es in Russland kein vergleichbares „erdrückendes Gewicht“ eines Zentralorgans, sondern einen Kampf, wo der Zirkelgeist durch den Parteigeist gebannt und die Kongressbeschlüsse überhaupt respektiert werden mussten.
Während die Revolutionäre in Russland seit jeher unter den Bedingungen der Illegalität unter dem Zar mit einer viel drastischeren Repression kämpften und diese Illegalität die Partei nicht daran hinderte, die Frage der Mitgliedschaft und aktiver Mitarbeit zu einer zentralen Frage auf dem 2. Parteitag 1903 zu machen, war der Einwand des „altgedienten“ SPD-Führers Auers, ein Bekenntnis zur aktiven Mitarbeit könne zur Entblößung gegenüber dem Staat führen, vor allem eine opportunistische Ausrede.
Wir sind in unserem Artikel[60] ausführlich auf die Divergenzen zwischen Lenin und Luxemburg eingegangen und haben darin schon die Mängel an Rosa Luxemburgs Herangehensweise kritisiert. In ihrem Artikel Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie warnte sie u.a. vor „Ultrazentralismus“; die Parteiführung sollte nicht „mit so absoluten Machtbefugnissen“ ausgestattet werden, „wie Lenin es tut“.[61]
In seiner Antwort an Rosa Luxemburg unterstrich Lenin, dass er „nicht den „rücksichtslosen Zentralismus“ verteidige, sondern die elementare Parteidisziplin, die von den Menschewiki verletzt wurde. Er betrachtete das Zentralkomitee nicht als den „eigentlichen aktiven Kern der Partei“, sondern verteidige nur dessen statutenmäßig festgelegten Rechte. Er fordere lediglich, dass das Zentralkomitee die Richtung der Parteimehrheit vertrete. Lenin schrieb: „dass der Streit bei uns hauptsächlich darum geht, ob das Zentralkomitee und das Zentralorgan die Richtung der Parteitagsmehrheit vertreten sollen oder nicht“[62]. „[Die Genossin] zieht es vor, gegen die mechanische Unterwerfung eines Teils unter das Ganze, gegen den Kadavergehorsam, gegen die blinde Unterordnung und ähnliche Schreckgespenster zu wettern. Ich bin der Genossin Luxemburg sehr dankbar für die Darlegung des höchst geistreichen Gedankens, dass der Kadavergehorsam für die Partei sehr schädlich ist, aber ich möchte doch gern wissen: Hält die Genossin es für normal, kann sie es zulassen, hat sie in irgendeiner Partei je gesehen, dass in den Zentralbehörden, die sich Parteibehörden nennen, die Minderheit des Parteitags dominieren darf?“ Weiter antwortete Lenin, dass „(…) die Zeit schon vorbei ist, da man ein Parteikollegium durch einen Privatzirkel ersetzen konnte“[63].
In Anbetracht der Erfahrung mit dem erdrückenden und lähmenden Gewicht der deutschen Parteiführung, gegen die eine Mobilisierung „der Basis“ geboten war, schlussfolgerte Luxemburg, dass „die proletarische Armee sich erst im Kampf selbst rekrutiert und erst im Kampf auch über die Aufgaben des Kampfes klar wird. (…) Die großen Massen müssen sich in einer ihr eigenen Weise betätigen, ihre Massenenergie, ihre Tatkraft entfalten können, sie müssen sich selbst als Masse rühren, handeln, Leidenschaft, Mut und Entschlossenheit entwickeln.“[64] Während Rosa Luxemburg 1905 bei der Analyse der Bedeutung der Massenstreikbewegung und der inneren Triebkraft, der Spontaneität der Klasse, richtig lag, muss man betonen, dass die Initiative der Klasse alleine nicht reicht. Um eine Revolution erfolgreich durchzuführen, ist eine revolutionäre Organisation unabdingbar, aber diese entsteht nicht allein durch die Spontaneität der Massen. Sie ist das Ergebnis eines jahrelangen, gar jahrzehntelangen, zähen und harten Kampfes, bei dem die Positionen und Prinzipien erarbeitet und verteidigt werden müssen. Auch wenn Luxemburg dieser Notwendigkeit zugestimmt hat, lag ihre Betonung, geprägt durch die Erfahrung vor allem in Deutschland, darauf, dass die große Masse der Parteimitglieder die „Führung“ vorantreiben müsse. „Die Massen müssen, zur Geltung kommen, um das Schiff der Partei vorwärtszustoßen, dann können sie getrost in die Zukunft blicken.“[65] Und sie befürchtete in Anbetracht der deutschen Erfahrung, dass eine zu starke „zentralistische“ Führung nur zum Sieg des Opportunismus führen würde. Die Wurzeln des Opportunismus lagen aber nicht nur im bürgerlichen Parlamentarismus, dessen Gewicht in Deutschland viel erdrückender war als in Russland. Das heißt, es ging bei der Auseinandersetzung zwischen Luxemburg und Lenin um die Frage, wie die Organisation aufgebaut werden muss, und wie das Verhältnis zwischen Spontaneität und Bewusstheit in der revolutionären Bewegung aussieht. Die revolutionäre Organisation kann nicht einfach der „Spiegel“ der Klasse selbst sein, und ihre Rolle darf nicht von dem jeweiligen Grad und Umfang der Spontaneität der Arbeiterklasse abhängen. Die Betonung der Notwendigkeit der Spontaneität bei Rosa Luxemburg nach dem 1905 erstmals in Erscheinung getretenen Massenstreik und der Initiative und Wachsamkeit der großen Parteimassen gegenüber einem schwankenden oder opportunistisch werdenden Vorstand, in dessen Händen Zentralisierung tatsächlich ein Werkzeug zur Erwürgung der Aktivität der Parteibasis wurde, war völlig richtig, aber sie darf nicht auf die gleiche Stufe gestellt werden wie der Parteiaufbau.[66] Es besteht die Gefahr, dass man den Unterschied zwischen Klasse und Partei verwischt.
Der Organisationsaufbau muss gewissermaßen dem Handeln der Klasse „vorausgehen“, denn revolutionäre Organisationen dürfen mit dem Aufbau der Organisation nicht „so lange warten, bis die Klasse bereit und reif genug“ ist, weil die Reifung und Fähigkeit der Klasse sich zu radikalisieren wiederum auch von der Intervention der Revolutionäre selbst abhängt.
Vielleicht können wir hier tiefergehende Schwächen in der Auffassung von Rosa Luxemburg erkennen, die sich zwar äußerst kämpferisch und mit klaren programmatischen Entblößungen dem Kurs der Revisionisten und der Erwürgungspolitik der Führung der SPD entgegenstellte, dabei selbst aber die Komponente der aktiven Bemühungen um den Aufbau der Organisation vernachlässigte. Auch wenn dies nur ein Aspekt der Schwächen der Revolutionäre war, wie wir unten weiter sehen werden, kündigte sich hier vielleicht schon etwas an, was die Gauche Communiste de France (GCF) Jahrzehnte später diagnostizierte: „Die Geschichte sollte Lenins Position meisterhaft bestätigen. Ohne auf die Untersuchung anderer und vielfältiger Faktoren der russischen Situation einzugehen, können wir sagen, dass der Sieg der proletarischen Revolution im Oktober 1917 in erster Linie auf die Erfüllung dieser entscheidenden Bedingung zurückzuführen war, auf die Existenz dieser Partei, die Lenin unermüdlich 20 Jahre lang geschmiedet hatte. Im Gegensatz dazu sollte das Jahr 1918 in Deutschland die Niederlage der Revolution bringen, die trotz des großartigen und heroischen Kampfgeistes der Massen nicht zuletzt auf die verspätete Bildung der Partei und damit auf ihre Unerfahrenheit, ihr Zögern und ihre Unfähigkeit, die Revolution zu ihrem Sieg zu führen, zurückzuführen war. Das war der Preis und die experimentelle Widerlegung von Rosa Luxemburgs Theorie von der Spontaneität der revolutionären Bewegung.“[67]
Insbesondere nach den Massenstreiks in Russland 1905 spürten die SPD- und Gewerkschaftsführung, dass die Eigeninitiative der Arbeiter, die Entfaltung von Massenstreiks, die Bündelung der Kräfte der Arbeiterklasse in Arbeiterräten usw. sowie die daraus zu ziehenden Lehren und Orientierungen, die insbesondere von Rosa Luxemburg in Massenstreik, Partei und Gewerkschaften und Pannekoek in Die taktischen Differenzen in der Arbeiterbewegung gezogen wurden, eine Bedrohung für sie werden würden. Aus ihrer Sicht wurde alles, was aus Russland kam – Massenstreiks, Arbeiterräte, die Russische Partei – vor allem die Bolschewiki – nicht nur mit Misstrauen betrachtet, sondern auch mit großer Hochnäsigkeit verworfen.
Zwar hatte es in der Geschichte der revolutionären Bewegung immer wieder Rückschläge, Repression, Zerstreuung und auch die Auflösung des Bundes der Kommunisten und der I. Internationale gegeben. Auch hatte die revolutionäre Bewegung Erfahrungen gesammelt im Kampf gegen Opportunismus, Anarchismus und Abenteurertum. Aber noch nie zuvor hatte eine Degenerierung einer Partei stattgefunden, und deshalb verfügte die revolutionäre Bewegung noch nicht über Erfahrung im Abwehrkampf dagegen.
Zunächst bestand eine große Herausforderung darin, diese Gefahr der Entartung überhaupt zu erkennen. Zwar hatten Marx, Engels und Bebel schon in den 1880er Jahren erste opportunistische und revisionistische Anzeichen entblößt, als aber der Revisionismus in den 1890er Jahren eine festere Gestalt annahm und durch Bernstein quasi zu einem Programm ausgearbeitet wurde, stellte Rosa Luxemburg als erste mit ihrer Schrift Sozialreform oder Revolution diese Entwicklung in einen tieferen theoretisch-programmatischen Rahmen. Sie entblößte zu jener Zeit am deutlichsten die Unvereinbarkeit von revisionistischer Richtung und Marxismus. Gleichzeitig ging es um die Analyse der tieferen Ursachen und die Herausforderung durch den sich anbahnenden Umbruch in der Entwicklung des Kapitalismus selbst, dessen aufsteigende Phase seinem Ende zuneigte, und wo erste Anzeichen der Dekadenz zu erkennen waren.
Die jeweiligen Umwälzungen wie die schrittweise Anbindung und Integration des Gewerkschaftsapparates in den Staatsapparat, und die Unterwerfung der Partei unter die Gewerkschaften[68], das Aufkommen der Arbeiterräte 1905 in Russland und das neue Phänomen des Massenstreiks, und die Identifikation großer Teil des Parteiapparates mit den Parlamentariern an der Spitze mit dem Staat, die Abstumpfung der Partei durch Demokratismus und die zunehmende Erosion der Kampfbereitschaft – all diese langsam erkennbaren Zeichen waren Teile einer umfassenden und zusammenhängenden Umwälzung. Aber den revolutionären Kräften gelang es zum damaligen Zeitpunkt noch nicht, diese Phänomene in einen deutlichen Zusammenhang zu bringen.
Der Hintergrund war die zunehmende Integration des Parteiapparates in den Staat, ja die Identifikation der Gewerkschaften und der Partei selbst mit dem Staat. Dieser Prozess wurde zwar am deutlichsten verkörpert durch die Führungsspitzen, die Parlamentsfraktion und die Gewerkschaftsfunktionäre, aber er beschränkte sich nicht auf einige Leute. Deshalb hätte auch kein schneller, entschlossener Rauswurf der Revisionisten das Problem aus der Welt geschafft, handelte es sich doch um einen allgemeinen Fäulnisprozess, bei dem die Kampfbedingungen in der Gesellschaft insgesamt sich umwälzten. Gewiss war dies damals erst im Keim zu spüren.
Dabei war den anderen Parteien in der II. Internationale die Trageweite des Niedergangsprozesses nicht klar. Da die meisten Parteien durch die Wahlerfolge der SPD verblendet wurden, die SPD auch im Ausland deshalb nahezu glorifiziert wurde, wurde man sich erst sehr spät dieser Dynamik bewusst. In Russland gab es gar die meisten „Bewunderer“ der SPD.[69]
Dem Niedergang hatten die entschlossenen Kräfte einen unnachgiebigen Kampf angesagt. Die Auseinandersetzungen auf dem Hannoveraner Parteitag 1899 bis zum Dresdner Parteitag 1903 spiegeln diese Entschlossenheit wider.
Bei dem internationalen Kampf zwischen Revisionismus und den Verteidigern des Marxismus war Deutschland eine Hauptbühne. Während wir uns hier ausführlicher mit der Reaktion in der SPD auf die Entwicklung in der SDAPR befasst haben, muss man eigentlich die Lage in den anderen Ländern mit berücksichtigen, um einen umfassenderen Einblick zu gewinnen. Aus Platzgründen haben wir dies hier nicht getan. Jedoch wurde schon in diesen Jahren der Auseinandersetzung um die Organisationsfrage deutlich, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen der SDAPR und der SPD (und im Wesentlichen trifft das auch auf die anderen Parteien in Europa zu), schon zum damaligen Zeitpunkt darin bestand, dass sich mit den Bolschewiki unter Lenin ein entschlossener Pol in der SDAPR herauskristallisiert hatte, der für die Einhaltung der Parteibeschlüsse eintrat, wogegen es in der SPD zwar entschlossene einzelne Stimmen wie die von Rosa Luxemburg oder teilweise noch von Bebel gab, die aber nicht als starke, gebündelte Kraft auftraten und zu keinem ausreichenden Gegenpol wurden. Hinsichtlich der Kampfbereitschaft, der Unnachgiebigkeit und Kompromisslosigkeit unterschieden sich die Bolschewiki und die linken Kräfte in Deutschland nicht. Vielmehr fehlte es diesen Kräften in Deutschland an Geschlossenheit, an Zusammenhalt und gemeinsamen Vorgehen.
Nachdem 1890 auf dem Haller und Erfurter Parteitag der Revisionismus deutlich in Erscheinung getreten, aber von den linken Kräften noch resolut entblößt und zum Teil in die Schranken verwiesen werden konnte, hatte es um 1900 unter einigen Linken in der SPD noch das Gefühl gegeben, 1899 wären auf dem Hannoveraner Parteitag und 1903 in Dresden die Revisionisten ausreichend entlarvt worden. Aber während der Revisionismus in Parteiresolutionen offiziell angeprangert und mehrheitlich verworfen worden war, drang er in Wirklichkeit sozusagen durch die Hintertür immer tiefer in die SPD ein.
Wie oben erwähnt sollten die Ereignisse von 1905, als zum einen der Massenstreik der Arbeiter in Russland die neuen Bedingungen im dekadenten Kapitalismus „ankündigte“, und zum anderen die Zuspitzung der Kriegsgefahr durch den Krieg zwischen Japan und Russland und später immer stärker zwischen den europäischen Mächten deutlich machen, dass der immer aktiver auftretende Revisionismus nur mit gebündelten Kräften zurückgedrängt werden könnte.[70]
Trotz dieser Entwicklung unternahm man aber weder innerhalb der SPD noch auf internationaler Ebene ausreichende Schritte, um zu einem Schulterschluss der internationalistischen und gegen den Revisionismus gerichteten Kräfte zu kommen. Und gleichzeitig blieb Lenin relativ unbekannt außerhalb des Bereichs der russischen Partei. „Diese fraktionelle Arbeit Lenins fand nur innerhalb der russischen Partei statt, ohne dass er versuchte, sie auf die internationale Ebene zu bringen. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, seine Reden auf verschiedenen Kongressen zu lesen, und man kann sagen, dass diese Arbeit außerhalb der russischen Sphären völlig unbekannt blieb.“[71]
Zwar wurde auf dem 1907 in Stuttgart stattgefundenen Kongress der II. Internationale mit über 60.000 Demonstrationsteilnehmern gegen den Krieg eine Resolution gegen die Kriegsgefahr angenommen, die von Lenin, Luxemburg und Martow gemeinsam verfasst wurde und über die ursprüngliche, zögerliche, von Bebel verfasste hinausging. Hierdurch wurde die Entschlossenheit der linken, internationalistischen Kräfte bezeugt, gemeinsam, über alle Landesgrenzen hinweg der Kriegsgefahr entgegenzutreten. Aber in den Parteien insgesamt wurde der Widerstand gegen die Kriegsgefahr nicht weiter verstärkt. Das Gleiche wiederholte sich später bei den Kongressen in Kopenhagen 1910 und Basel 1912. Im Rückblick muss man sagen, die Zusammenarbeit der linken Kräfte erfolgte nahezu ausschließlich auf den Kongressen und in den Proklamationen gegen die Kriegsgefahr; bei dem Kampf gegen den Revisionismus und um die Organisationsfrage blieb man weitestgehend zersplittert.
Während die wachsende Kriegsgefahr mehr als nur ein gemeinsames Vorgehen bei Kongressen und Resolutionen verlangte, verhinderten die Divergenzen zur Organisationsfrage die linken Kräfte ein näheres Zusammenrücken. Dies war umso tragischer, da – wie oben erwähnt – die Rechten und die Revisionisten längst zusammengerückt waren.
Paul Frölich berichtet in seiner Autobiographie, dass es nur in einzelnen Städten Kontakte untereinander gab, aber es fehlten städteübergreifende Bemühungen zu einem gemeinsamen Vorgehen, einer Bündelung und erst recht einer Zentralisierung der Opposition innerhalb der SPD.[72] Dabei war eine der Lehren aus dem Kampf um die Organisation auf dem Haager Kongress mehr als 30 Jahre zuvor gewesen, dass der Komplott Bakunins nur durch das entschlossene Handeln des Generalrates der I. Internationale abgewehrt werden konnte. Ein „loser, zusammengewürfelter“ Haufen reicht nicht aus, sondern eine feste, zusammengeschweißte Front muss aufgebaut werden. Zwar gab es Ansätze auf dem Parteitag 1910 in Magdeburg oder dem Parteitag 1911 in Jena, als linke Delegierte zu Sonderberatungen zusammen kamen.[73] Auch waren die Linken in einigen Städten insbesondere in den Redaktionen der vielen Zeitungen und Zeitschriften der SPD stärker vertreten, aber es gab keine Ansätze zu einer gemeinsamen Presse. 1913 kündigten Rosa Luxemburg und andere Linke, nachdem ihnen ein Maulkorb nach dem anderen angelegt worden war, die Mitarbeit in der Leipziger Volkszeitung auf und gaben ab Dezember 1913 die Sozialdemokratische Korrespondenz heraus. „Wir drei, und ich ganz besonders, was ich betonen möchte, sind der Auffassung, dass die Partei eine innere Krise durchmacht, viel, viel schwerer als zu jener Zeit, da der Revisionismus aufkam. Das Wort mag hart sein, aber es ist meine Überzeugung, dass die Partei dem Marasmus zu verfallen droht, wenn es so weiter geht. In einer solchen Situation gibt es für eine revolutionäre Partei nur eine Rettung: die denkbar schärfste, rücksichtsloseste Selbstkritik. Daher denke ich mir die Rolle der Leipziger Volkszeitung gemäß ihrer bisherigen Tradition, dass sie gerade jetzt Tag für Tag diese Aufgaben zu verfolgen hat.“[74]
Im Rückblick kann man sehen, dass vor dem Krieg kein Netzwerk von linken Kräften aufgebaut wurde, das in der dramatischen Zeit nach 1914, als die Parteiführung verraten hatte, einen soliden organisatorischen Gegenpol und eine Brücke hätte darstellen können. Dadurch hatten die linken Kräfte nicht gelernt, als eigenständige Fraktion INNERHALB der Sozialdemokratie und darüber hinaus innerhalb der II. Internationale zusammenzuarbeiten. Kurzum, während auf der einen Seite die Bolschewiki innerhalb der SDAPR einen unnachgiebigen Kampf gegen alle möglichen opportunistischen und liquidatorischen Kräfte führten und sie dabei über Jahre wichtige Kampferfahrung für die Organisation erlangten und auch lernten, wie man Divergenzen behandelt, ohne dass die Organisation auseinanderbricht, dabei einen Kampfgeist für die Organisation formten, eigneten sich die linken Kräfte innerhalb der Sozialdemokratie in Deutschland solche Erfahrungen nicht an.
In der SPD wurden zwar „Arbeitsgemeinschaften“ gebildet, aber diese konnten nie das Gegengewicht darstellen, das die Bolschewiki jahrelang innerhalb der SDAPR erlangt hatten. Man ging nie über punktuelle Schritte hinaus.
Ab Herbst 1910 wurden in einigen süddeutschen Städten „Karl-Marx-Klubs“ gegründet, in denen sich Linke zusammenschlossen. Die Rechten wandten sich sofort gegen deren Existenz. In Stuttgart gelang es 1910 den Linken, den Sozialdemokratischen Verein unter ihren Einfluss zu bringen. Vor allem die Schriften und das Auftreten der Gruppe um Rosa Luxemburg lässt keinen Zweifel daran, dass gekämpft wurde, aber dieser Widerstand blieb zerstückelt und seine Ausstrahlungskraft als Gegenpol blieb zu schwach. Gewiss begünstigte die Tatsache, dass die SPD mehr als eine Million Mitglieder umfasste, die „Trägheit“ der Masse, die ohnehin nie diesen Kampfgeist erworben hatte. Infolge dieses unzureichend erkennbaren Gegenpols fehlte eine ausreichende Abgrenzung vom Zentrum und den Revisionisten. Während in der Partei immer noch das Dogma der Einheit nach außen vertreten wurde, war die Partei tatsächlich schon innerlich zerrissen. Der internationalistische, revolutionäre Gegenpol war aber weder in der Partei noch in der Klasse insgesamt deutlich genug zu erkennen. Dies sollte im Laufe des Krieges, vor allem 1917 und 1918 dazu führen, dass viele Arbeiter den Unterschied zwischen SPD, USPD, Zentristen und Spartakisten und anderen revolutionären Linken nicht deutlich genug sahen. Bei einer niedergehenden Organisation verlangt der Widerstand ab einer gewissen Stufe auch INNERHALB der Partei eine eigenständige Organisierung, um die Kräfte zu bündeln und die Zukunft vorzubereiten. Weil diese Bemühungen fehlten, gab es 1914, als es um die Organisierung des Widerstandes in der Illegalität ging, keine Kanäle und kein ausreichendes Netzwerk der Linken, um zu diskutieren, zu klären und zu agieren. Man war trotz der seit Jahren erkennbaren Gefahr des Krieges mit der zu erwartenden Verschärfung der Bedingungen für die Arbeit der Revolutionäre nicht auf die Illegalität vorbereitet und wie der Kampf gegen die Verräter auf eine neue Stufe gestellt werden musste![75] Die Fixierung auf die Wahlen, den Parlamentsbetrieb, d.h. der ganze Rahmen der bürgerlichen Demokratie, hatte zu einer gewissen Lähmung und Vernachlässigung der Erfahrung der Revolutionäre aus früheren Kämpfen geführt.[76]
Während man die zunehmende opportunistische Versumpfung und die offene Ablehnung der Prinzipien durch die Revisionisten beobachtet und angeprangert hatte, und insbesondere bei der Kriegsfrage gewissermaßen den Verrat kommen sah, hatten die Revolutionäre sich nicht wirklich konsequent darauf eingestellt.
Wie oben ausgeführt, gehörten zu den linken Kräften in der SPD Ende der 1890er Jahre noch führende Persönlichkeiten wie Bebel, Wilhelm Liebknecht und auch Karl Kautsky. Schnell aber stellte sich heraus, dass Kautsky dem Kampf gegen den Revisionismus ausweichen wollte, und er nur durch das „Einprügeln“ durch Rosa Luxemburg zu Stellungnahmen gegen Bernstein bewogen werden konnte. Nach 1903-1905 verhielt er sich immer offener zentristisch, während er im Ausland noch lange als eine theoretische Kapazität, ja als „Papst des Marxismus“ angesehen wurde. Die Abgrenzung von solchen „theoretisch“ renommierten, aber dem Kampf ausweichenden Kräften ist ein schwieriges Unterfangen. Und als Führer bekannte Persönlichkeiten wie Bebel und auch Wilhelm Liebknecht, die seit jeher durch ihr Auftreten im Parlament großes Ansehen erworben hatten, erwiesen sich als unfähig, eine entschlossene Opposition gegen die Revisionisten anzuführen.[77] Rosa Luxemburg, die am heftigsten und am mutigsten Widerstand gegen die Revisionisten leistete, und deren programmatische Ansichten den klarsten Gegenpol bildeten, war zwar trotz der ganzen Hetzkampagne gegen sie am populärsten, und sie erhielt viel Zulauf bei Versammlungen[78], aber die „besten“, „klarsten“ und meist bekannten Führer reichen nicht, um eine wirksame Opposition auf die Beine zu stellen. Eine organisierte, gemeinsame Fraktionsarbeit ist erforderlich. Dabei muss es Kräfte geben, die die verschiedenen Widerstandskräfte zusammenführen, sie zusammenschweißen. Rosa Luxemburg hat nie eine „eigenständige“ linke Strömung um sich gebildet. Es gelang ihr und ihrer Gruppe nicht, die verschiedenen Kräfte in Deutschland um ihren Flügel zu scharen. War es, weil sie selbst vielleicht die Notwendigkeit des Zusammenschlusses der linken Kräfte unterschätzte?[79] Stattdessen bewahrte man eher Distanz und teilweise herrschte gar ein gewisses Misstrauen unter verschiedenen linken Kräften vor. Es gab mehrere Faktoren, die dafür eine Rolle spielten. Wir werden weiter unten auf einige eingehen.
Weit bis ins erste Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts genoss die SPD international ein riesengroßes Ansehen innerhalb der II. Internationale, insbesondere in Russland. Die deutsche Sozialdemokratie stehe „hinsichtlich Organisiertheit, Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Bewegung, Reichtum und Gehalt der marxistischen Literatur an der Spitze aller sozialdemokratischen Parteien“[80]. U.a. weil sie zahlenmäßig die stärkste Massenpartei war und die größten Wahlerfolge einfuhr, wurde sie als Modell angesehen. International vernebelten auch hier die beeindruckenden Stimmenzahlen, dass der Wurm schon in der Partei steckte.[81]
Den Versumpfungsprozess der SPD hatten die meisten Teile der II. Internationale nicht gesehen oder unterschätzt. Die Erfahrung zeigt, die Idealisierung eines Teils der Arbeiterbewegung ist immer problematisch, insbesondere wenn dies in ein völlig unkritisches Nachlaufen umschlägt. Das war zum Teil seitens der Menschewiki gegenüber den rechten bzw. zentristischen Kräften in der SPD der Fall, aber wie oben erwähnt, lobte Lenin eine lange Zeit die SPD und insbesondere Kautsky über alles.[82]
Wir haben in anderen Artikeln schon auf die Besonderheiten der Bedingungen und der Funktionsweise der II. Internationale hingewiesen, und dass ein Niedergangsprozess nicht isoliert in einem Land aufgehalten werden kann, sondern dafür der internationale Zusammenschluss der linken Kräfte erforderlich ist.
Auf programmatischer Ebene gab es eine sehr große Heterogenität unter den linken Flügeln – einerseits wurde in den Niederlanden und in Deutschland Kritik an dem „Nur-Parlamentarismus“ und an der Versumpfung der Gewerkschaften geübt. Dies waren Fragen, die bei den Revolutionären in Russland nicht besonders im Vordergrund standen, da sie in Russland selbst nicht so sehr mit dem alles erdrückenden Gewicht des Parlamentarismus und der Gewerkschaftsarbeit konfrontiert waren. Auf Organisationsebene gab es in der Internationale kein Internationales Büro bis zum Jahre 1900 und innerhalb der II. Internationale gab es abgesehen von der Kriegsfrage nahezu keine gemeinsame Zusammenarbeit der linken Flügel.
Während z.B. Lenin von den Menschewiki und auch von Trotzki nach 1903 aufs heftigste angegriffen wurde, hinderten sicherlich die Divergenzen zwischen Luxemburg und Lenin diese daran, Lenin gegen die Verunglimpfungen, Beschimpfungen der Menschewiki, Trotzki und Sozialrevolutionäre in Schutz zu nehmen. Und während in der SPD die Hetze gegen Rosa Luxemburg einsetzte, sprang ihr Lenin nicht bei. Vielleicht hätte er sich anders verhalten, wenn er das wahre Ausmaß dieser Kampagne gekannt hätte. Kurzum man muss von einer mangelnden Solidarität und einem unzureichenden Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Linken in der II. Internationale sprechen. Z.B. agierten die „linken“ Kräfte in den Niederlanden entweder meist nur „lokal“ oder aber ohne ausreichende abgestimmte Zusammenarbeit mit den linken Stimmen in der SPD und der II. Internationale insgesamt.[83] Als der Kampf in der SDAPR 1903 auf dem 2. Parteitag in der II. Internationale bekannt wurde, schlug die SPD z.B. 1905 vor, dass ein „Einigungsversuch“ zwischen Menschewiki und Bolschewiki mit Hilfe eines „Schiedsgerichtes“ unternommen werden sollte. Die Menschewiki verbanden mit dem Vorschlag eines Schiedsgerichts die Hoffnung, dass die Mehrheitsposition der Bolschewiki damit überworfen werden könnte. Lenin verwarf diese Herangehensweise und pochte darauf, dass in diesen Fragen jeweils der Parteitag selbst entscheiden müsse und nicht ein internationales Schiedsgericht, da es um politische Tendenzen ging, „die von der Partei angenommen oder abgelehnt werden, nicht aber von einem Gericht gerechtfertigt oder verurteilt werden“ können[84]. Schließlich wurde der SPD-Vorschlag eines Schiedsgerichts fallengelassen. Auch nachdem dieser im Juni 1905 dann vom ISB erneuert wurde, lehnten die Bolschewiki ihn wieder aus den gleichen Gründen ab.
Bei den nahezu ein Jahrzehnt dauernden Auseinandersetzungen zwischen Menschewiki und Bolschewiki drängte die SPD immer wieder auf „eine Wiedervereinigung“ der beiden Flügel, obwohl sich hier zwei entgegensetzte Richtungen gegenüberstanden.
Selbst als im Januar 1912 auf der 7. Konferenz der SDAPR die Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki in Prag vollzogen worden war, drängten die SPD und vor allem die Kräfte um Rosa Luxemburg immer noch auf die Wiedervereinigung der beiden Flügel.[85] Sie richteten sich damit ausdrücklich gegen die Position Lenins. Auch brachte der Vorwärts im März 1912 einen Artikel, in dem die Bolschewiki als Usurpatoren und Spalter bezeichnet wurden. Die SPD lehnte es ab, Lenins Antwort zu veröffentlichen. Daraufhin schrieb Lenin eigens eine Broschüre in deutscher Sprache.[86]
Seit dem Ende der 1890er Jahre war eine Divergenz in der II. Internationale um die Nationalitätenfrage aufgekommen, die von besonderer Bedeutung war für das Verhältnis zwischen den aus Polen und Litauen stammenden bzw. dort wirkenden Revolutionären und der SDAPR, insbesondere den Bolschewiki. Die Gruppe um Rosa Luxemburg hatte als erste angefangen, die Möglichkeit nationaler Autonomie Polens zu verwerfen.[87] Die nachfolgenden Jahre waren durch das Fortbestehen dieser Divergenzen, insbesondere zwischen Lenin und Luxemburg bestimmt.[88] Auch wenn diese Divergenzen die Bolschewiki und den Flügel um Rosa Luxemburg nie bei der Verteidigung des Internationalismus behinderten, belasteten sie trotzdem das Verhältnis zwischen beiden Seiten. Auf dem 2. Parteitag der SDAPR 1903 sollte diese Frage auf die Tagesordnung gesetzt werden. Aufgrund der Debatte um die Statuten und die Frage des Zirkelgeistes wurde diese Auseinandersetzung aber auf dem 2. Parteitag nicht ausgetragen.
Rückblickend ist Bedeutung dieser Divergenz für das Verhältnis zwischen den Bolschewiki und dem Flügel um Luxemburg/Jogiches schwer einzuschätzen – jedenfalls trug sie dazu bei, dass die Genossen in der SPD, die aus Polen stammten, gegenüber den Bolschewiki auf Distanz blieben.[89]
Das Verhältnis zwischen den linken Kräften aus Polen und den Bolschewiki wurde zudem noch durch einen weiteren Faktor belastet: Karl Radek wurde ab 1904 in der polnischen SDKPL ein Fehlverhalten vorgeworfen; auch in den nachfolgenden Jahren hielt man ihm weitere kleinere Fehlverhalten vor. Nach der ersten Untersuchung des Falles – es ging um den Diebstahl eines Mantels von einem Genossen – wurde er Jahre nach dem Delikt von der polnischen Partei ausgeschlossen. Da Radek mittlerweile in Deutschland wohnte und in der SPD tätig war, strengte der SPD-Vorstand u.a. auf Drängen von Luxemburg/Jogiches ein Parteiausschlussverfahren aus der SPD an, dem sich wiederum Genossen aus Bremen widersetzten. Zu ihnen gehörten Frölich, Knief, Pannekoek, d.h. Mitglieder des linken SPD-Flügels in der Hansestadt. Sie setzten eine Untersuchungskommission ein, die Radek im Gegensatz zum Parteitag der SPD „freisprach“. 1913 hatte ebenso die Russische Partei Radeks Fall untersucht und ihn „freigesprochen“. So wurde Radek von der russischen Partei und der Bremer Sektion (oder Teilen davon) als rehabilitiert angesehen, von der SPD-Führung und dem Zentralkomitee der polnischen Partei jedoch ausgeschlossen.[90] Weil es kein gemeinsames Vorgehen innerhalb der verschiedenen Parteien der II. Internationale gab, man nicht wusste, wie man bei konträren Schlussfolgerungen von Untersuchungskommissionen in solchen Fragen verfahren sollte, wurde das Verhältnis vor allem zwischen Luxemburgs Gruppe, den Bremer Linken und den Bolschewiki zusätzlich erschwert.
Wie zuvor schon erwähnt, waren im Werdegang der Sozialdemokratie mehrere Lücken in der Weitergabe der Erfahrungen und des Kampfgeistes entstanden:
- z.B. wurde nicht angeknüpft an die Lehren aus dem Haager Kongress (1872);
- die Generation von Militanten, die die Organisation zur Zeit des Sozialistengesetzes aufrechterhalten hatte, vermochte nicht diesen Kampfgeist an die Nachfolgegeneration weiterzugeben, die durch das Gift des Parlamentarismus und der Demokratie „gelähmt“ wurde;
- die Lehren aus dem Kampf der Bolschewiki 1903 wurden weder verstanden noch weitergegeben.
Wie oben erwähnt – als der Revisionismus und Opportunismus jeglicher Couleur immer mehr Einfluss gewann – konnten sich die jungen Kräfte um Rosa Luxemburg (die zu Beginn der Konfrontation mit Bernstein 1899 selbst gerade mal 30 Jahre war) nur auf ganz wenige stützen. Meist „versagten“ die Alten, deren Kampfgeist bei vielen schon gebrochen war.
Trotz ihrer nahezu 40 Jahre langen Existenz gab es in der SPD keinen nennenswerten Grundsatztext zur Organisationsfrage. Stattdessen hatte man sich mitreißen und aufsaugen lassen durch die Wirkungsmöglichkeit als Massenpartei. Die Erfahrungen im Kampf zur Verteidigung der Organisation wurden nie aufgearbeitet. Zwar mangelte es nicht an Texten zur Geschichte der Organisation, und schon 1890 war der Vorschlag zur Erarbeitung einer Geschichte der Partei gemacht worden.[91] Aber Mehrings 1897 veröffentlichtes Buch über die Geschichte der Sozialdemokratie oder dessen Biographie über Marx oder Bebels „Mein Leben“ lieferten auffallend wenige klare Aussagen zu den Hauptlehren des Kampfes um die Organisation. Im Gegensatz dazu trat Lenin in seinem Text Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück schon sehr früh und schnell für die Hauptlehren aus dem Kampf in der Partei ein. Wie oben erwähnt blieb dieser Text abgesehen von den Kritiken von Rosa Luxemburg nahezu ohne Echo.
Paul Frölich, der Anfang der 1900er Jahre politisiert worden und in die Partei als Jugendlicher eingetreten war, schrieb dazu: „Mir will es fast erscheinen, als sei zwischen den aktiven Parteiarbeitern, die während des Ausnahmegesetzes und kurz nach seiner Aufhebung begonnen hatten, eine Rolle zu spielen, und unserer Generation eine Lücke gewesen. (…) Wir empfanden uns auch als neue Genration, die mit etwas vorlautem Hochmut auf die Älteren herabschaute.“[92]
Erst 1904 wurde auf dem Parteitag in Bremen ein Antrag auf Bildung proletarischer Jugendorganisationen gestellt.[93] Diese wurde jedoch mangels Unterstützung auf dem Parteitag verworfen. Genossen aus Stuttgart schlugen demselben Parteitag in Bremen vor, die Schulungsarbeit in der Partei zu verbessern und proletarische Jugendorganisationen zu gründen.[94] Durch die Verstärkung von Schulungsarbeit und die Schaffung von Jugendorganisationen lässt sich das Problem allein nicht lösen. Tatsächlich müssen nicht nur bei der Lektüre und Diskussionen von Texten, sondern auch in der Alltagsarbeit der Organisation und vor allem bei der Auseinandersetzung um die Prinzipien die „Alten“ den Jungen ihre Erfahrung und Haltung weitergeben.
Weil aber die Wichtigkeit der Organisationsfrage als solche unterschätzt wurde und auch in der Zeitschrift Neue Zeit zwar eine Vielzahl von Themen behandelt wurde, aber die Aufarbeitung der Grundsatzfragen und der Organisationserfahrungen vernachlässigt wurden, fehlte es auch an ausreichenden Quellen zur Organisationsfrage.[95]
Dabei sollte die Gründung der Parteischule der Bildung der (führenden) Genossen dienen.[96] In ihr standen zwar viele Themen zur Geschichte auf dem Programm, aber die Aufarbeitung der Organisationskämpfe fehlte im Curriculum.
Insgesamt wurden also die Organisationserfahrungen aus der Zeit zwischen den 1870ern und 1914 in der SPD nirgendwo schriftlich tiefergehend festgehalten, und ebenso sehr mangelte es an der Fähigkeit der Generation, deren Kampfgeist noch ungebrochen war, diese Erfahrungen weiter zu vermitteln.[97]
Dino (Juni 2022)
[1] Deutschland überholte Großbritannien und wurde Zweites hinter den US.
[2] Geschichte der Zweiten Internationale, S. 277, Moskau 1982
[3] Rosa Luxemburg, 14. Oktober 1899, Gesammelte Werke, Bd. 1/1 S. 572,
[4] Bebel in Brief an Kautsky, 9.9.1903, zit. nach Fricke (Dieter Fricke, Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1869-1917, Illegale Organisation der Sozial Demokratie, Berlin, Dietz Verlag 1887), S. 249, IISG, NL Kautsky, D III 87.
[5] Brief Wilhelm Liebknechts vom 10.08.1899 an den Jahreskongress der französischen Arbeiterpartei (Le Parti ouvrier français) über den Eintritt A.E. Millerands in die bürgerliche Regierung und die Einheit der Partei, in Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Band IV, S. 31
[6] Bernstein, „Parteidisziplin und Überzeugungstreue“, Sozialistische Monatshefte, 1901, H.11, S. 848 f., siehe auch Fricke, S. 247.
[7] Rosa Luxemburg, „Gefährliche Neuerungen“, Leipziger Volkszeitung, 9.5.1911, Bd. 2, S. 508.
[8] Rosa Luxemburg, „Parteidisziplin“, 4.12.1914, Bd. 4, S. 16
[9] Fricke, ebenda, S. 247
[10] Parteitag der SPD in Hannover 1899, Ges. Werke 1/1, S. 574
[11] Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Abgehalten zu Mainz vom 17. bis 21. September 1900, Berlin, 1900, S. 135), aus „Die Geschichte der Zweiten Internationale“, S. 788.
[12] Jena Protokoll, 1905, S. 117/158
[13] § 1 Zur Partei gehörig wird jede Person betrachtet, die sich zu den Grundsätzen des Parteiprogramms bekennt und die Partei dauernd durch Geldmittel unterstützt (Mainz, Statuten, 1900); d.h. Mitglieder der SPD mussten nicht ständig aktiv sein, sondern hatten nur die Prinzipien anzuerkennen (nicht das Programm im Detail). Schließlich war von aktiver Mitarbeit bei den Statuten von 1909 (verabschiedet auf dem Leipziger Parteitag) kein Wort zu lesen. „§ 1: Zur Partei gehört jede Person, die sich zu den Grundsätzen des Parteiprogramms bekennt und Mitglied der Parteiorganisation ist.“
[14] „Bis jetzt waren wir in der Partei der Auffassung, dass uns alle Arten öffentlicher Wahlen dazu dienen, für die Sozialdemokratie und ihr Programm, ihre Auffassungen, ihre Ziele die Volksmassen zu gewinnen. Nichts Ähnliches in dem Wahlkampf für den Stuttgarter Oberbürgermeister (…). Hier war es die Person des Kandidaten, für die allein gekämpft wurde. Seine Vorzüge, seine Verdienste, seine Absichten, sein Programm (...)Von dem Gesamtprogramm der Sozialdemokratie, von den politischen Klassenbestrebungen des Proletariats war keine Rede (…) Derartige Wahlen hat man in der deutschen Sozialdemokratie noch nicht gesehen. Bis jetzt war für uns die Sache, die Partei alles, die Person nichts. Hier war die Partei nichts und die Person alles.“ (Rosa Luxemburg, „Der Disziplinbruch als Methode“, 15.5.1911, Leipziger Volkszeitung, in Ges. Werke, Bd. 2, S. 512).
[15] Schon im Juli 1910 hatte die SPD-Landtagsfraktion von Baden dem Budget zugestimmt und sich damit über den Beschluss des Nürnberger Parteitags von 1908 hinweggesetzt, nach dem die Budgets der Regierungen grundsätzlich abzulehnen waren. Die radikaleren Kräfte wollten gegen diesen Disziplinbruch auf dem Magdeburger Parteitag auftreten (1910), „dem revisionistischen Block einen radikalen Block entgegensetzen“ (Wohlgemuth, S. 38). Eine Dokumentation zu deren Vorgehen liegt uns nicht vor. Es ist nicht bekannt, ob und wie Pannekoek und Luxemburg, die beide auf dem Parteitag anwesend waren, an einem Strang gezogen haben.
[16] Bernstein sprach von „Staatswerdung der Partei (…) [welche wiederum neue Maßstäbe) für den Umfang und die Grenzen ihrer Hoheitsansprüche der Mitglieder gegenüber“ erforderlich machte, m.a.W. die Mitglieder hätten sich einer in den Staat integrierten Partei zu unterwerfen. (Fricke, S. 288, Bernstein, Parteidisziplin, Sozialistische Monatshefte, 1910, H 19/20, S. 1218).
[17] Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 2/2, S. 379-384.
[18] Fricke 246.
[19] „Leitfaden für die Funktionäre der Sozialdemokratischen Partei des Agitationsbezirks obere Rheinprovinz“, Köln, Oktober 1913, S. 5, in Fricke S. 283. Man kann vermuten, dass Leute wie Friedrich Ebert, Führer und späterer Regierungschef, diesen Kriterien entsprachen.
[20] Heine an Haenisch, 9.2.1915, Zsta Potsdam NL Haenisch, Nr. 134, BI.39 und 44, Fricke, S. 289.
[21] Fricke, S. 239.
[22] „Resolution gegen den Revisionismus“, Dresdner Parteitag, Sept. 1903.
[23] Mehring, 1846 geboren, war erst spät für die SPD gewonnen worden. Er hatte in den 1870er selbst gegen die SAPD „gefochten“. Nachdem er von sozialdemokratischen Positionen überzeugt worden war, hatte er in der Tat keine ausreichend deutliche Abrechnung mit seinen eigenen früheren Positionen veröffentlicht. Siehe dazu auch P. Frölich, Im radikalen Lager, S. 36
[24] „Bebel erklärte auf den Kongressen seiner Partei öffentlich, daß er keinen Menschen kenne, der sich so sehr durch seine Umgebung beeinflussen lasse wie Genosse Bernstein (nicht Herr Bernstein, wie sich früher Genosse Plechanow auszudrücken pflegte, sondern Genosse Bernstein): Wir werden ihn in unseren Kreis aufnehmen, wir werden ihn zum Reichstagsabgeordneten machen, wir werden gegen den Revisionismus kämpfen, ohne mit unangebrachter Schärfe (à la Sobakewitsch-Parvus) gegen den Revisionisten zu kämpfen - wir werden diesen Revisionisten ‚durch Milde töten‘ (kill with kindness), wie diese Methode, wenn ich nicht irre, Gen. Max Beer in einer englischen sozialdemokratischen Versammlung kennzeichnete, als er die deutsche Nachgiebigkeit, Friedfertigkeit, Milde, Elastizität und Umsicht gegen die Angriffe Hyndmans, des englischen Sobakewitsch, verteidigte. Ganz genauso wollte auch Gen. Plechanow den kleinen Anarchismus und den kleinen Opportunismus der Genossen Axelrod und Martow ‚durch Milde töten‘." (Lenin, Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, Kleine Unannehmlichkeiten dürfen ein großes Vergnügen nicht stören, Band 7, S. 373)
[25] Victor Adler an Kurt Eisner, 6.9.1903, IML, ZPA, NL 60/59, Fricke, S. 251.
[26] Fricke, S. 251
[27] Kautsky, Rede auf dem Parteitag der SPD in Lübeck, September 1901, Dokumente IV, S. 80
[28] Bebel 8.10.1912, in Fricke S. 294
[30] “Der Zentrismus ist eine Spielart des Opportunismus, eine Erscheinungsform, die dazu neigt, sich zwischen offenem Opportunismus und revolutionären Positionen zu positionieren und zu schwanken. Lenin bezeichnete den Zentrismus als 'inkonsequent, unentschlossen, getarnt, zögerlich, heuchlerisch, geschwätziger Opportunismus, schwankend". Für ein tieferes Verständnis siehe den Artikel der IKS: https://en.internationalism.org/content/3146/discussion-opportunism-and-centrism-working-class-and-its-organizations [45].
[31] Kautsky an Sorge, 2. 2.1900, IISG, NL Kautsky, C 691, Fricke, S. 293.
[32] Kautsky, Der Weg zur Macht, 1909
[33] Kautsky, Parlamentarismus und Demokratie, S. 17F, Fricke, S. 292.
[34] Lenin, Brief an Schlapnikow, 27.10.1914, Werke Bd. 35, S. 142 f.
[35] Rosa Luxemburg, „Die Theorie und Praxis“, Ges. Werke, Bd. 2, S. 404, Die Neue Zeit, 1909/1919, S. 564. Vgl. auch unsere Artikelserie zu 1905 in Internationale Revue Nr. 35-38, https://de.internationalism.org/content/58/vor-100-jahren-die-revolution-von-1905-russland-teil-i [46]); Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften; Trotzki 1905.
[36] Rosa Luxemburg, „Zum kommenden Parteitag“, Jena, 1911, 29.6.1911, Ges. Werke, Bd. 2, S. 555
[37] Fricke, S. 308
[38] Rosa Luxemburg, „Taktische Fragen“, 1913, Bd. 3, S., 253.
[39] R. Luxemburg, „Geknickte Hoffnungen“, 1903, Bd. 1 / 2, S. 399 ff.
[40] „Zehn Jahre Revisionismus“, Julian Marchlewski (Karski), Leipziger Volkszeitung vom 1.09.1908, in Dokumente und Materialien, Bd. IV, S. 242
[41] Brief von Hermann Duncker an seine Frau, 14.09.1910 IML, ZPA, NL 45/125, in Fricke, S. 287
[42] Engels an W. Liebknecht 24.11.1894, MEW 39, S. 330, siehe auch Fricke S. 288
[43] IISG 183/12-17, Fricke, S. 250.
[44] Wolfgang Heine, „Sonderkonferenz“, Sozialistische Monatshefte, 1912, H. 18/20, S. 1 142 ff.; in Fricke, S. 289,
[45] R. Luxemburg, „Geknickte Hoffnungen“, 1903, Bd. 1/2, S. 399 ff.
[46] Fricke, S. 289.
[47] Alexandra Kollontai schreibt in ihrem Buch Ich habe viele Leben gelebt: 1912 war „in Russland […] mein Buch „Durch das Europa der Arbeiter“ erschienen. Darin hatte ich die Neigung des Parteiapparates der deutschen Sozialdemokratie zum Opportunismus und auf seine zunehmende Bürokratisierung hingewiesen. Verschiedentlich hatte ich das „Generalsgehabe“, die Blasiertheit und die Arroganz führender Leute verspottet und dem bürokratischen Dünkel und Konservatismus der Parteiführung das gesunde Klassenempfinden der einfachen Parteimitglieder gegenübergestellt. (…) Die Parteiführung war aufgebracht.“ (S. 157) Kollontai berichtet weiter, Karl Liebknecht habe eine Rezension über ihr Buch geschrieben. Als Reaktion darauf schrieb ein anonymer Schreiberling: „Aus welchem Grund behält die deutsche Polizei eigentlich eine russische politische Emigranten in Berlin? Da stimmt doch was nicht!“ (Kollontai, S. 159).
[48] 1914: Wie der deutsche Sozialismus dazu kam, die ArbeiterInnen zu verraten [47], Internationale Revue Nr. 52
[49] Siehe insbesondere: 1903-4: the birth of Bolshevism [36], in International Review Nr. 116 (engl./frz./span. Ausgabe)
[50] 1920: The Programme of the KAPD [48], in International Review Nr. 97 (engl./frz./span. Ausgabe)
[51] Lenin, Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, Werke, Bd. 7, S. 403 f.; Die Geschichte der Zweiten Internationale, S. 789; siehe auch Neue Zeit, Jahrgang 22, 1903-1904, Bd. 2, Nr. 28, S. 37.
[52] Dieser war in Brüssel begonnen worden, musste dann aber wegen polizeilicher Repressionsgefahr nach London verlegt werden.
[53] Ges. Werke, Bd. 1/2, S. 422 (Neue Zeit, 1903/1904, I, S. 484-492, II, S. 529-535)
[54] Lenin Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. Antwort an R. Luxemburg, 1904, Bd. 7, S. 480-491
[55] Kautsky gründete 1882 die Neue Zeit und war deren Herausgeber bis 1917. Reisberg, S. 62
[56] Geschichte der II. Internationale, S. 790
[57] „Wenn Deutsche [Sozialdemokraten] schreiben, umgehen sie gewöhnlich die Frage der Meinungsverschiedenheiten. Wenn in den deutschen sozialdemokratischen Presseorganen Russen schreiben, so beobachten wir entweder eine Vereinigung sämtlicher Auslandsgrüppchen mit den Liquidatoren zu unflätigstem Geschimpfe auf die „Leninisten“ (wie es im Frühjahr 1912 im „Vorwärts“ geschah) oder das Geschreibsel eines Tyszkianers, Trotzkisten oder anderen Mitglieds eines Auslandszirkels, der die Frage bewusst verdunkelt. Jahrelang kein einziges Dokument, keine einzige Zusammenfassung von Resolutionen, keine einzige Analyse der Ideen, kein einziger Versuch, Tatsachenmaterial zusammenzuführen. Wir bedauern die deutschen Parteiführer, dass sie (…) sich nicht schämen, die Märchen der liquidatorischen Informatoren anzuhören und zu wiederholen“ (Lenin, Ges. Werke, Bd. 19, „Eine gute Resolution und eine schlechte Rede“, Proletarskaja Prawda Nr. 6, 13. Dez. 1913).
[58] Die Geschichte der II. Internationale, Bd. 2, S. 791
[59] Die SP Frankreichs (Guesdisten) beschränkte sich auf den Hinweis, „die Partei besteht aus politischen Gruppen, deren Mitglieder Mitgliedskarten haben und zugunsten der zentralen Parteiorganisation einen monatlichen Beitrag entrichten“. Die Französische Sozialistische Partei (Jaurès) die SP Österreichs und die Belgische Arbeiterpartei verzichteten überhaupt darauf, die Mitgliedschaft genauer zu definieren. Die Statuten der Parteien der II. Internationale enthielten kein Wort über den bindenden Charakter der Beschlüsse der Zentralorgane für die lokalen Parteiorganisationen (Geschichte der II. Internationale, S. 699).
[60] 1903-1904: the birth of Bolshevism, Lenin and Luxemburg [49], in International Review Nr. 118 (engl./frz./span. Ausgabe)
[61] Luxemburg, Organisationsfragen der russisschen Sozialdemokratie, Ges. Werke, Bd. 1/2, S. 422, 424
[62] Lenin, Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. Antwort an R. Luxemburg, Lenin, Bd. 7, 1904
[63] Ebenda, S. 365.
[64] Rosa Luxemburg, Taktische Fragen, Bd. 3, S. 253.
[65] Jenaer Parteitag 1911, S. 161, 319
[66] „Unser Organisationsapparat wie unsre Parteitaktik ist seit 20 Jahren, seit dem Fall des Sozialistengesetzes, im Grunde genommen auf die eine Hauptaufgabe zugeschnitten gewesen: auf Parlamentswahlen und parlamentarischen Kampf. Darin haben wir das Äußerste geleistet, und darin sind wir groß geworden. Aber die neue Zeit des Imperialismus stellt uns immer mehr vor neue Aufgaben, denen mit dem Parlamentarismus allein, mit dem alten Apparat und der alten Routine nicht beizukommen ist. Unsre Partei muss lernen, Massenaktionen in entsprechenden Situationen in Fluss zu bringen und sie zu leiten.
(…) Das Proletariat kann seine Kräfte nicht sammeln und seine Macht für den endgültigen Sieg nicht anders steigern, als indem es sich im Kampfe erprobt, mitten durch Niederlagen und alle Wechselfälle, die ein Kampf mit sich bringt. Ein ausgefochtener großer Kampf, ganz gleich ob er mit Sieg oder Niederlage endet, leistet in kurzer Zeit an Klassenaufklärung und geschichtlicher Erfahrung mehr als Tausende von Propagandaschriften und Versammlungen in windstiller Zeit.“ (Rosa Luxemburg, „Taktische Fragen“, Juni 1913, Leipziger Volkszeitung, Bd. 3, S. 256)
[67] Internationalisme, Gauche Communiste de France, n°4, 1946, S. 73.
[68] Auf dem Gewerkschafskongress in Köln 1905 wurde die Diskussion über den Massenstreik als „verwerflich“ betrachtet und verworfen.
[69] Claudie Weill, Marxistes russes et social-démocratie allemande 1898-1904, Paris, 1977
[70] Der Weg zum 1. Weltkrieg wurde von Rosa Luxemburg in ihrer Junius-Broschüre am besten nachgezeichnet.
[71] „La fraction dans les partis socialistes de la Seconde Internationale“, Bilan Oct.-Nov. 1935, n° 24, p. 814).
[72] Frölich berichtete in seiner Autobiographie auch von oppositionellen Kräften in verschiedenen deutschen Städten, bei denen sich oft die jüngere Generation durch große Altersunterschiede von älteren, oft reformistischen und revisionistischen Kräften abgrenzte.
[73] Reisberg, Lenins Beziehungen zur deutschen Arbeiterbewegung, Berlin, 1970, S. 125
[74] P. Frölich, Im radikalen Lager, S. 54
[75] Langsam verlor die Partei die Gewohnheit illegaler Arbeit, obwohl 1908 noch repressive Maßnahmen gegen sie ergriffen worden waren. „1908 wurde in Deutschland ein Gesetz über Gewerkschaften und Versammlungen erlassen, das das Recht auf Abhaltung von Versammlungen in anderen Sprachen als Deutsch einschränkte, der Polizei freie Hand bei der Unterdrückung sozialdemokratischer Propaganda ließ und Personen unter 18 Jahren den Beitritt zu politischen Gewerkschaften und die Teilnahme an politischen Versammlungen untersagte. Auch wurden Sozialdemokraten von bestimmten Arbeitsplätzen, z. B. bei der Eisenbahn, ausgeschlossen.“ (The International Working Class Movement, Vol. 3, p. 317)
[76] Man muss hinzufügen, dass zwar der Flügel um Rosa Luxemburg in der Illegalität und im Exil „groß“ geworden war, aber sie selbst hatte keine Erfahrung mit einer Fraktionsarbeit gesammelt, da der Bruch zwischen der SDKP und PSP relativ schnell vollzogen wurde.
[77] Leute wie Bebel, hoch angesehener und integer gebliebener Führer der SPD, kritisierten zwar den Revisionismus, drangen aber nicht wirklich zur Wurzel vor. Oder Leute wie Mehring lieferten zwar wertvolle Texte, erwiesen sich aber nicht als ausreichend entschlossene Kämpfer.
[78] Es gibt viele Berichte von ihr und aus der Presse, die von Tausenden von begeisterten Versammlungsteilnehmern bei ihren Reden berichten, auf denen sie oft über eine Stunde sprach.
[79] „So hatte Rosa Luxemburg schnell ausreichend Spielraum, aber sie hatte nie die Möglichkeit, die Erfahrung eines Fraktionskampfes zu erleben, um eine Partei zu verteidigen, die vom Entartungsprozess bedroht ist. Deshalb hat sie es nie geschafft, eine Fraktionsarbeit zu betreiben, und damit hat sie auch nie wirklich die Auffassung einer Fraktionsarbeit verstanden. Diese Schwäche wurde teuer während des heldenhaften Kampfes der Spartakisten gegen die Entartung der deutschen SPD bezahlt, und sie war zum Teil mit ein Grund für die fatale Verspätung bei der Bildung einer neuen kommunistischen Partei in Deutschland im Jahre 1918.“ (DAS VERHÄLTNIS FRAKTION - PARTEI IN DER MARXISTISCHEN TRADITION, VON MARX BIS LENIN, 1848-1917, I. Von Marx bis zur II. Internationale [50], IKS online April 2006.
[80] Lenin, Der Jenaer Parteitag der SPD, September 1905, Werke, Bd. 9, S. 285; Reisberg, S. 60
[81] Aus der Reichstagswahl 1912 ging sie mit 34,8 % Wählerstimmen bzw. 110 Reichstagsmandaten als klare Wahlsiegerin hervor.
[82] Wie groß das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der SPD oder genauer gesagt in gewisse Kräfte der SPD war, bezeugt die Tatsache, dass die SDAPR nach 1905 der SPD treuhänderisch eine große Summe Gelder anvertraute. Das blockierte auch wieder eine Annäherung. Siehe Dietrich Geyer, Kautskys Russisches Dossier, Deutsche Sozialdemokraten als Treuhänder des russischen Parteivermögens, 1910-1915, Frankfurt/New York, 1981.
[83] Pannekoek, der jahrelang in Deutschland lebte, zog jedenfalls in Organisationsfragen mit Rosa Luxemburg nicht an einem Strang.
[84] Lenin, Werke, Bd. 7, S. 600
[85] Reisberg (S.130)
[86] In dieser Broschüre (Zur gegenwärtigen Sachlage in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands – Lenin, Juli 1912, Werke, Bd. 18, S. 191-209), von der 600 Exemplare von Frankreich aus nach Deutschland gebracht wurden, betonte Lenin, die Bolschewiki seien die legale Parlamentsfraktion; es gebe allerlei legale Arbeitervereinigungen, aber die illegale Parteiorganisation sei die Basis. Deutschland war übrigens ein zentraler „Umschlagplatz“ für den Transport von illegaler Literatur nach Russland, die oft aus der Schweiz und aus Großbritannien via Deutschland an die Genossen in Russland weiter geschmuggelt wurden.
[87] Siehe Rosa Luxemburgs „Die industrielle Entwicklung Polens“, Inaugural-Dissertation zu Polen – Ges. Werke, Bd. 1, S. 113.
[88] Selbst während des 1. Weltkriegs ging die Auseinandersetzung nach der Veröffentlichung der Junius-Broschüre durch Luxemburg und die Polemik Lenins mit ihr weiter; und auch nach Ausbruch der Revolution verstummte die Kritik Rosa Luxemburgs an der Haltung der Bolschewiki nicht.
[89] Eine zusätzliche Belastung zwischen dem Flügel um Rosa Luxemburg und den Bolschewiki entstand 1913 zu einem Zeitpunkt, als das ISB und die SPD eine Wiedervereinigung der SDAPR einfädeln wollten.
[90] Literaturhinweise: u.a. Karl-Ernst Moring, Die Sozialdemokratische Partei in Bremen, 1890-1914, Reformismus und Radikalismus in der Sozialdemokratischen Partei Bremens, Hannover, 1968, veröffentlicht von der Friedrich-Ebert-Stiftung; Lenin, Die Spaltung in der Polnischen Sozialdemokratie, 12. Januar 1912, Werke Band 18 S. 472; derselbe: Auch Vereiniger, 15. November 1913, Band 19 S. 493; derselbe: An das Sekretariat des ISB, 21. November 1912, Band 19 S. 266)
[91] Antrag von Sozialdemokraten aus Dresden zur Ausarbeitung einer Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Eine umfassende Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung soll verfasst werden. Begründung: “Dieses Interesse wird vollkommen nur dann gewahrt werden, wenn die geforderte Untersuchung nicht auf eine Glorifizierung unserer Partei hinausläuft, sondern mit der Strenge und Unparteilichkeit wissenschaftlicher Methode Licht und Schatten gleichmäßig gerecht verteilt. Wir verlangen darum eine wissenschaftliche Arbeit, die dabei in einer schönen, allgemein verständlichen Sprache geschrieben sein soll.“ (Dokumente, Bd. III, S. 348, Parteitag Halle, 1890)
[92] P. Frölich, Im radikalen Lager, S. 43
[93] „Der Parteivorstand wird beauftragt, sozialistische Jugendvereine zu gründen.“ (Dokumente zur Geschichte der Arbeiterbewegung, IV, S. 120)
[94] „Der Parteitag möge beschließen, dass der Parteitag 1905 sich mit der Frage zu beschäftigen hat, wie es zu ermöglichen sei, dass mit der zunehmenden Zahl der Parteianhänger auch die Ausbildung und Schulung derselben gleichen Schritt hält, was um so notwendiger ist, als die gegenwärtigen Zustände einer Verflachung entgegenführen. Es wäre zu prüfen, ob eine Lösung dieser Frage wohl in Verbindung mit der Schaffung möglichst umfassender Jugendorganisationen geschaffen werden kann.“ (Dokumente, IV, S. 120). Auch dieser Antrag wurde verworfen, jedoch 1905, ein Jahr später, angenommen.
[95] In den Publikationen der Bolschewiki findet man in der Zeit zwischen 1903-1912 dagegen ständig Artikel zur Organisationsfrage.
[96] “Die Arbeit der Organisation absorbierte die ganze Energie - für das Studium blieb keine Zeit. Denn die unerbittlichen Anforderungen der praktischen Arbeit müssen die Leidenschaft für das Wissen schwächen. Die kleinen Industrien schrien nach neuen Kräften, die aggressiveren Arbeiter verlangten das volle Maß; und jeder junge Mann, der etwas Eifer und Fähigkeit zeigte, wurde sofort an die Arbeit gesetzt und fand fortan keine Zeit mehr für theoretische Studien. Außerdem hörten die bürgerlichen Parteien auf, mit Theorien, Prinzipien und Argumenten zu kämpfen. An ihre Stelle traten Beschimpfungen, persönliche Angriffe und die Verdrehung von Tatsachen. Um gegen die Bourgeoisie Krieg zu führen, war also nicht theoretisches Wissen notwendig, sondern vielmehr polemische Gewandtheit und Kenntnis der Tatsachen; am wenigsten wurde das Bedürfnis nach grundlegendem Wissen in einem solchen Kampf empfunden.“ Anton Pannekoek, The Social Democratic Party School in Berlin [51], 1907, Source: The International Socialist Review, New York, Vol. VIII, No. 6 (December 1907), pp. 820-824.
[97] Z.B. kann man bei Bebel viel aus der Zeit des Sozialistengesetzes und davor lesen, aber für die Zeit danach gibt es kaum weiterreichende Ausführungen.
Seit 1989 und dem Zusammenbruch der fälschlicherweise als "kommunistisch" bezeichneten Regime des ehemaligen imperialistischen Blocks um die UdSSR musste sich der authentische Marxismus gegen eine verstärkte Kampagne von Entstellungen und Lügen zur Wehr setzen, in der behauptet wurde, der Marxismus sei eine veraltete, diskreditierte Ideologie, die, wenn sie in die Praxis umgesetzt würde, nur den Boden für den stalinistischen totalitären Gulag bereiten könnte. Diese Kampagnen wurden nicht nur durch die Existenz von Regimen begünstigt, die die Ausbeutung und Unterdrückung der Werktätigen unter einer roten Fahne aufrechterhalten haben, sondern auch durch alle früheren Ausdrucksformen der Arbeiterbewegung, die, nachdem sie auf die Seite der Bourgeoisie übergetreten sind, weiterhin eine entstellte Version des Marxismus als Entschuldigung für ihre Beteiligung an imperialistischen Kriegen und ihre Befürwortung verstaatlichter Formen kapitalistischer Herrschaft verwenden; und dies ist ein Merkmal der letzten 100 Jahre und mehr. So wurde die Mobilisierung der Arbeiterklasse für die Schlachtfelder von 1914-18 von ehemaligen Sozialisten angeführt, die sich auf Passagen von Marx und Engels beriefen, die in der Zeit, als nationale Kriege noch möglich waren, anwendbar waren, um ihre Unterstützung für einen imperialistischen und reaktionären Weltkrieg zu rechtfertigen. Später demonstrierten die Stalinisten und Trotzkisten ihre Verbundenheit mit dem Lager des Kapitals, indem sie dem Zweiten Weltkrieg einen trügerischen marxistischen Schein verliehen, insbesondere indem sie zur Verteidigung des "sozialistischen Vaterlandes" oder des "degenerierten Arbeiterstaates" in der UdSSR aufriefen.
Doch die Konterrevolution, die die Arbeiterklasse nach den heldenhaften Kämpfen von 1917-23 überrollte, nahm nicht nur die offenkundigen Formen des Stalinismus und des Faschismus an. Sie brauchte auch ihre "demokratische" Seite, vor allem in der Ideologie des Antifaschismus, die Arbeiter und sogar ehemalige revolutionäre Kämpfer anziehen sollte, die von den Schrecken der faschistischen Unterdrückung und des Massenmords angewidert waren. Aber auf der theoretischen Ebene brachte diese demokratische Konterrevolution auch eine neue Deformation des Marxismus hervor, die als "westlicher Marxismus" bezeichnet wird und ein Schlüsselelement dessen ist, was wir Modernismus nennen.[1] Im Gegensatz zu den Stalinisten und Trotzkisten war diese Strömung eher amorph und legte kein definitives Programm für die Verstaatlichung des Kapitals vor (obwohl sie allgemein akzeptierte, dass es in dem, was Marcuse und andere als "Sowjetmarxismus" bezeichneten, tatsächlich etwas Nichtkapitalistisches gab). Er war hauptsächlich an den Universitäten oder an staatlich anerkannten "Instituten für Sozialforschung" angesiedelt – vor allem an der Frankfurter Schule, dem wichtigsten intellektuellen Impulsgeber für den "westlichen Marxismus".
Diese Strömung kann als Ursprung des Modernismus angesehen werden, da sie den Anspruch erhebt, eine Kritik an den "überholten Dogmen" des Marxismus zu üben, die vielleicht einmal gültig gewesen seien, aber im "modernen Kapitalismus" nicht mehr gälten. Natürlich ist der authentische Marxismus weit davon entfernt, ein statisches Dogma zu sein, und muss ständig die endlosen Veränderungen analysieren, die die dynamischste und expansivste Gesellschaft der Menschheitsgeschichte mit sich bringt. Aber das Wesen des Modernismus besteht darin, dass er sich auf den Namen Marx beruft, um den Marxismus seiner Grundprinzipien und aller revolutionären Züge zu berauben. Er zeichnet sich also durch einige oder alle der folgenden Elemente aus:
- An erster Stelle steht die Ablehnung des revolutionären Charakters der Arbeiterklasse. Das Scheitern der revolutionären Versuche von 1917-23 demonstrierte für den Modernismus das historische Scheitern der Arbeiterklasse und sogar ihre Begeisterung für die Konterrevolution – sei es, weil sie sich dem Faschismus unterwarf (ein starkes Element in den Schriften von Adorno, zum Beispiel) oder weil der "traditionelle" Marxismus selbst als verantwortlich für den Stalinismus angesehen wurde (was später diese "postmarxistischen" Ideologien mit den Hauptthemen der ideologischen Kampagnen, die dem "Zusammenbruch des Kommunismus" von 1989 folgten, in Einklang bringen sollte). Nachdem Marcuse in der Zeit des Nachkriegsbooms zu dem Schluss gekommen war, dass die Arbeiterklasse des Westens durch wirtschaftlichen Wohlstand und "eindimensionale" Ideologien wie Konsumstreben gekauft worden war, suchte er nach anderen "revolutionären" Subjekten, wie den Studenten, die gegen den Vietnamkrieg protestierten, oder den Bauern, die angeblich den "antiimperialistischen Kampf" in den Randgebieten des Systems anführt;[2]
- die Ablehnung jeglicher Kontinuität mit der fortschreitenden historischen Entwicklung, sowohl im Allgemeinen als auch im Besonderen mit der proletarischen Bewegung: Marx wird akzeptiert, aber Engels wird oft bestenfalls als Vulgarisierer abgetan; die Zweite Internationale spielt in der Entwicklung des Marxismus keine Rolle und wird ausschließlich mit ihrem opportunistischen Flügel identifiziert; die gleiche Behandlung kann auch der Kommunistischen Internationale vorbehalten werden, die nur als Quelle des heutigen "Sowjetmarxismus" angesehen wird;
- die Ablehnung des Ziels der Diktatur des Proletariats und des Aufbaus einer revolutionären Klassenpartei, was mit dem oben Gesagten übereinstimmt. In der Tat wird revolutionäre Militanz oft als die höchste Form der Entfremdung dargestellt.
Der Marxismus wird auf diese Weise in eine individuelle utopische Ablehnung des Kapitalismus auf kulturell-ideologischer Ebene umgewandelt, wobei der frühe Marx und sein Ansatz zum Problem der Entfremdung zu diesem Zweck entstellt werden, oder die Kritik der politischen Ökonomie wird in ein ausgeklügeltes Argument zugunsten des immerwährenden, unveränderlichen Charakters des Kapitalismus und eine Ablehnung der Theorie der Dekadenz des Kapitalismus verwandelt.
In unserem Artikel "Modernismus: Von der Linken ins Leere", der im April 1975 in World Revolution Nr. 3 veröffentlicht wurde, haben wir die Frankfurter Schule als eine der Hauptquellen des Modernismus identifiziert und gezeigt, dass ihre Hauptvertreter sich offen mit der herrschenden Klasse und dem imperialistischen Krieg von 1939-45 identifiziert haben:
"In den 30er und 40er Jahren begannen die stalinistischen Weggefährten am Institut für Sozialforschung in Frankfurt (Marcuse, Horkheimer, Adorno), den Rahmen festzulegen, den die Modernisten heute benutzen. Ihnen zufolge scheiterten der Marxismus und das Proletariat, weil sie nicht "revolutionär" genug waren. So hatten sich die Arbeiter beispielsweise 1936-38 nicht vehement für die Verteidigung des republikanischen Spaniens eingesetzt... Unfähig zu erkennen, dass die Niederschlagung der Arbeiteraufstände von 1917-23 letztlich einen neuen imperialistischen Krieg ermöglichte, "entschieden" sich diese Dilettanten in eben diesem imperialistischen Konflikt enthusiastisch für die Unterstützung der alliierten Seite".
Der Artikel weist zum Beispiel darauf hin, dass Marcuse während des Krieges für das US Office of Intelligence Research im Außenministerium tätig war und dort die Leitung der Osteuropa-Abteilung übernahm.
Der Titel des Artikels, der die Ursprünge des Modernismus im linken Flügel des Kapitals verortet, ist in diesem Fall vollkommen zutreffend. Spätere Erfahrungen bestätigten jedoch, dass der Modernismus, ebenso wie die verschiedenen im Kommunistischen Manifest kritisierten Verzerrungen des Sozialismus, auch in Strömungen Wurzeln schlagen konnte, die ursprünglich versucht hatten, sich auf dem Terrain des Proletariats zu verorten. In den 1960er Jahren machte sich die Gruppe Socialisme ou Barbarie (S ou B) angesichts des Wirtschaftsbooms der Nachkriegszeit auf, um zu beweisen, dass Marx mit der Unvermeidbarkeit von Wirtschaftskrisen im Kapitalismus falsch gelegen hatte. Nach dem Bruch mit dem Trotzkismus hatte S ou B 1948 darauf bestanden, dass der Kapitalismus zu einem dekadenten System geworden war; dies wurde von der Gauche Communiste de France (GCF) als eine potenziell positive Entwicklung begrüßt, obwohl die GCF sie ausdrücklich vor den Schwierigkeiten eines vollständigen Bruchs mit dem Trotzkismus und vor der intellektuellen Arroganz warnte, sich selbst als allein fähig zu sehen, die Probleme der Arbeiterklasse und der revolutionären Bewegung zu lösen, ohne jeglichen Hinweis auf die linke kommunistische Tradition, die bereits tiefgreifende Fragen über die Niederlage der Revolutionen von 1917-23 und das Wesen des "sozialistischen" Systems in der UdSSR und anderswo gestellt hatte[3]. In Wirklichkeit sollte S ou B beweisen, dass sie in den 50er und 60er Jahren nicht weniger vom kapitalistischen Wachstum fasziniert waren als eine Figur wie der Sozialdemokrat Bernstein in den 1890er Jahren gewesen war. Und da sie die Dogmen des Stalinismus und Trotzkismus zunehmend als im Marxismus selbst verwurzelt ansahen, begannen sie, nicht nur die wirtschaftlichen Widersprüche des Systems, sondern sogar den grundlegenden Widerspruch zwischen der Arbeiterklasse und dem Kapital in Frage zu stellen und ihn durch einen nebulösen Konflikt zwischen "Befehlsgebern und Befehlsnehmern" zu ersetzen, der die klassische anarchistische Besessenheit von "Autorität" reproduzierte. Eine logische Folge der Leugnung der inneren Widersprüche des Kapitals war die Ausarbeitung eines Konzepts des Sozialismus als ein System der "Selbstverwaltung", das mit der Warenproduktion koexistieren könnte - ein weiterer Rückschritt zum Anarchismus, der als neue und radikale Alternative zum "traditionellen Marxismus"[4]. präsentiert wurde.
S ou B und insbesondere ihre Vision einer verallgemeinerten Selbstverwaltung hatten einen großen Einfluss auf die situationistische Strömung, die mit den Ereignissen im Mai-Juni 1968 ihre Blütezeit erlebte. Ein Artikel von Marc Chirik in Révolution Internationale Nr. 2, 1969[5], zeigt, dass sich der Einfluss von S ou B auch auf die Ablehnung der marxistischen Auffassung von der tiefen Verbindung zwischen dem Klassenkampf und einer objektiven kapitalistischen Krise durch die Situationisten erstreckte. Für sie waren die großen Klassenbewegungen von 68 und danach vor allem die Folge subjektiver Faktoren: auf einer allgemeinen Ebene die Langeweile und Entfremdung des "Alltagslebens" im Kapitalismus, aber auch ganz konkret die exemplarische Intervention der Situationisten selbst. Die Situationisten waren also in die modernistische Weltanschauung eingebettet, hatten aber an einer echten Klassenbewegung teilgenommen und standen trotz des klassisch "künstlerischen" – in Wirklichkeit kleinbürgerlichen – Charakters von Slogans wie "Never Work Ever" dem Kampf der Arbeiterklasse weit weniger feindlich gegenüber als einige ihrer Nachfolger.
Anfang der 1970er Jahre hatten sowohl S ou B als auch die Situationistische Internationale aufgehört zu existieren, und die meisten modernistischen Strömungen – von denen einige durch die Schule von S ou B und Situationismus gegangen waren, und sogar des bordigistischen Zweigs der kommunistischen Linken – hatten eine "marxistischere" Sprache entwickelt, die in der Lage war, die Fehler der Selbstverwaltung zu erkennen (auch wenn sie diese, wie wir sehen werden, oft in neuen Formen wieder aufleben ließen) und darauf zu bestehen, dass der Kommunismus die Beseitigung der Totalität der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse bedeutet, die auf Lohnarbeit und Warenproduktion beruhen. Dies war die Geburtsstunde der "Kommunisierungs“-Strömung, die seitdem zur Hauptform der modernistischen Ideologie geworden ist. Es ist kein Zufall, dass diese Entwicklung mit dem Wiederaufleben der kommunistischen Linken zusammenfiel. Die AnhängerInnen der Kommunisierung, wie die Gruppe Invariance um Jacques Camatte, die Gruppe Mouvement Communiste um Barrot/Dauvé[6] oder die Organisation des Jeunes Travailleurs Révolutionnaires um Dominic Blanc, waren viel eher bereit, sich als Erben der historischen kommunistischen Linken zu präsentieren, aber auch als Kritiker ihrer Grenzen, und vor allem des "Konservatismus" der wiederbelebten kommunistischen linken Gruppen mit ihrem Beharren auf der Notwendigkeit einer militanten politischen Organisation und auf dem Abwehrkampf der Arbeiterklasse als Voraussetzung für eine künftige kommunistische Revolution. Die Elemente dieser neuen Strömung haben sich selbst als "Kommunisierung" bezeichnet, weil sie behaupten, die einzigen wirklichen Kommunisten zu sein, die einzigen, die verstanden haben, was Marx in der Deutschen Ideologie meinte, als er den Kommunismus als "die wirkliche Bewegung, die den gegenwärtigen Zustand aufhebt" definierte. In diesem Sinne wurde dieser aktualisierte Ausdruck des Modernismus, auch wenn es zu Beginn einige Debatten zwischen den Kommunisierenden und den neuen linkskommunistischen Gruppen gab[7], zunehmend zu einer zerstörerischen Kraft gegen die Kommunistische Linke, wie die Rolle der so genannten Bérard- oder Ex-Lutte-Ouvrière-Tendenz zeigt, die sich 1974 von Révolution Internationale abspaltete und sehr schnell aus dem politischen Leben verschwand.
Wie bereits erwähnt, stand das Wiederaufleben der Kommunistischen Linken Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre in engem Zusammenhang mit dem Erdbeben des internationalen Klassenkampfes, das weite Teile Europas und Amerikas erschütterte, und auch mit der immer deutlicher werdenden Rückkehr der offenen Wirtschaftskrise. In dieser Zeit, in der die AnhängerInnen der Kommunisierung und vor allem Camatte die zentrale Bedeutung des Klassenkampfes der ArbeiterInnen immer mehr in Frage stellten, hatte die Idee, dass die Arbeiterklasse lediglich eine "Klasse für das Kapital" sei und dass ihre Zukunft eher in ihrer Negation als in ihrer Bejahung als Klasse liege, noch weit weniger Gewicht als nach den Schwierigkeiten des Klassenkampfes in den 80er Jahren und vor allem mit dem Beginn der Phase des kapitalistischen Zerfalls nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989. Wie wir an anderer Stelle[8] dargelegt haben, war dieser Zeitraum durch eine echte Schwächung der Klassenidentität und des Bewusstseins des Proletariats gekennzeichnet, eine eigenständige und antagonistische Kraft innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu sein. Diese Bedingungen boten einen fruchtbaren Boden für die Kommunisierenden, die im Allgemeinen argumentierten, dass das Proletariat genau diese Klassenidentität aufheben muss, nicht als Endergebnis eines revolutionären Kampfes, sondern als dessen Voraussetzung. Und in einer Zeit, in der die Krise des Systems mehr und mehr zu Volksaufständen führt, in denen die Arbeiterklasse keine eindeutige Rolle spielt, kann es so aussehen, als ob sich die Ideen der Kommunisierung bestätigen und wir beginnen würden, den "Aufstand der Menschheit" gegen das Kapital zu erleben, den Camatte und andere bereits in den 70er Jahren vorausgesagt hatten.
Parallel dazu gingen die ersten Anzeichen einer Wiederbelebung des Klassenkampfes im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts mit einem gewissen Wiederaufleben des Anarchismus einher, der junge Leute anzog, die auf der Suche nach revolutionären Ideen waren, aber größtenteils nicht an die genuin marxistische Tradition anknüpfen konnten, die sie immer noch mit der Niederlage der Russischen Revolution und der Degeneration des Bolschewismus in Verbindung brachten. Angesichts des schwachen theoretischen Rahmens des Anarchismus konnte die Kommunisierung, insbesondere Einzelpersonen wie Dauvé und Gruppen wie Théorie Communiste, Aufheben und Endnotes, dem anarchistischen Milieu den Anschein theoretischer Tiefe vermitteln, indem sie ihre Vertrautheit mit der marxistischen Terminologie unter Beweis stellten, ohne jedoch die meisten zentralen Vorurteile des Anarchismus in Frage zu stellen, insbesondere die Ablehnung einer zentralisierten politischen Organisation. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, ist die Kommunisierungsströmung selbst eine neue Variante des Anarchismus, wie wir in den folgenden Artikeln dieser Serie zu zeigen versuchen werden. Da sich aber viele ihrer AnhängerInnen nicht nur auf Marx, sondern auch auf Bordiga, die KAPD und andere Bestandteile der Tradition der Kommunistischen Linken berufen, können sie oft mit der wirklichen linkskommunistischen Tradition verwechselt werden, was sich äußerst negativ auf die politische Entwicklung neuer Leute auswirken kann, die nach kommunistischer Klarheit suchen.
Genau aus diesem Grund ist es wichtig, dass sich die Kommunistische Linke scharf von der Kommunisierungstendenz abgrenzt in den wichtigsten Fragen, die sie von ihr trennt:
- In erster Linie, indem sie darauf besteht, dass trotz aller Veränderungen in der Zusammensetzung der Arbeiterklasse, die wir in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, trotz aller ideologischen und politischen Rückschläge, die die Arbeiterklasse erfahren hat, sie die einzige revolutionäre Klasse in der kapitalistischen Gesellschaft bleibt, und dass ihre Kämpfe zur Verteidigung ihrer materiellen Interessen der einzige Boden bleiben, auf dem ein revolutionärer Angriff auf das Kapital wachsen kann. Daher die Ablehnung aller Theorien, die die Arbeiterklasse auffordern, sich selbst zu negieren oder auf ihre Verteidigungskämpfe zu verzichten.
- Zweitens durch die Bekräftigung, dass die revolutionäre Minderheit international und auf der Grundlage einer kohärenten politischen Plattform organisiert sein muss, um gegen den Ansturm der bürgerlichen Ideologie zu kämpfen und um die unmittelbaren wirtschaftlichen Kämpfe in eine politische und soziale Offensive gegen das gesamte System umzuwandeln. Daher die Kritik an der Vorstellung, dass kommunistische Militanz "die höchste Stufe der Entfremdung" sei, dass proletarische politische Organisationen nur "Sekten" oder "Schläger" sein können und sich in eine lose Kooperation zwischen souveränen Individuen auflösen sollten. Dabei werden wir zeigen, wie die Feindseligkeit gegenüber der revolutionären Organisation Teile der Kommunisierungsströmung zum politischen Parasitismus und ihre Neigung zum Individualismus zum bürgerlichen Karrierestreben geführt haben.
- Drittens werden wir die Notwendigkeit verteidigen, dass die Arbeiterklasse für ihre politische Diktatur über die Gesellschaft kämpfen muss, um eine Periode des Übergangs zum Kommunismus einzuleiten, im Gegensatz zu den Ansichten der Kommunisierung über eine Art "große Auflösung", die sowohl die Notwendigkeit der politischen Macht der Arbeiterklasse als auch eine Periode des Übergangs umgeht.
Wir sehen diese Serie als einen Ableger unserer langjährigen Serie über die historische Entwicklung des kommunistischen Programms[9]. Indem wir die Punkte aufgreifen, die uns von den oben genannten AnhängerInnen der Kommunisierung unterscheiden, werden wir auch einen historischen Ansatz verfolgen, indem wir uns auf einige der "klassischen" Texte der Kommunisierungstheorie aus den 1970er Jahren und den Werdegang einiger der Hauptfiguren in der Entwicklung der Kommunisierungstheorie konzentrieren.
Unsere geplanten Artikel werden daher Folgendes umfassen:
- einen Rückblick auf den ersten großen Kampf der IKS gegen die Modernisierungs-/Kommunisierungstheorie in ihren eigenen Reihen, die "Ex-Lutte-Ouvière-Tendenz" in den frühen 70er Jahren;
- eine Erinnerung an den politischen Werdegang von Jacques Camatte, der in vielerlei Hinsicht das wahre "Geheimnis" oder die Richtung der Kommunisierungstheorie offenbart;
- eine Kritik von Texten wie Camattes "Über die Organisation" und der OJTR "Militanz: Das höchste Stadium der Entfremdung";
- eine Antwort auf bestimmte Texte von Barrot/Dauvé über "kommunistische Maßnahmen" und die Abschaffung des Wertes.
Im Rahmen dieser Arbeit werden wir auch einige der eigenen Texte der IKS als Antwort auf die modernistische Konzeption des Kommunismus und des Klassenkampfes neu veröffentlichen, von denen die meisten seit vielen Jahren nicht mehr verfügbar sind.
CDW (August 2022)
[1] Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff "Modernismus" verwendet, um einige der künstlerischen Strömungen zu beschreiben, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg aufkamen, z. B. die experimentellen Schriften von James Joyce und Virginia Wolf, Schönbergs atonale Musik oder Expressionismus und Kubismus in der Malerei. Es wäre natürlich interessant, diese künstlerischen Bewegungen in ihrem historischen Kontext zu analysieren (siehe z. B. Notes towards a history of art in ascendant and decadent capitalism [52], ICConline Juni 2012), aber hier wollen wir deutlich machen, dass unsere Verwendung des Begriffs Modernismus zur Beschreibung einer bestimmten politischen Strömung eine ganz andere Bedeutung hat.
[2] Siehe Paul Matticks Critique of Marcuse: One-dimensional man in class society, Merlin Press, 1972, für eine proletarische Antwort auf Marcuses Theorie der Integration der Arbeiterklasse in den Kapitalismus. Wir werden hier nicht versuchen, eine weitergehende Kritik der Hauptfiguren und Ideologien der Frankfurter Schule vorzunehmen, obwohl dies eine wichtige Aufgabe für die Zukunft bleibt. Es ist offensichtlich, dass diese Schule von gelehrten und sogar brillanten Intellektuellen geleitet wurde, die reale Fragen untersuchten, vor allem die Art und Weise, wie die kapitalistische Ideologie die Masse der Bevölkerung und insbesondere die Arbeiterklasse durchdringt. Dabei versuchten sie, Elemente des Marxismus und der Psychoanalyse Freuds zusammenzuführen. Da dieser Syntheseversuch jedoch nicht vom kommunistischen Standpunkt aus, vom Standpunkt der "vergesellschafteten Menschheit“, um die Terminologie der 10. Feuerbach-These zu verwenden, sondern vom Standpunkt des isolierten Professors aus gedacht wurde, scheiterte er nicht nur an dieser umfassenden "kritischen Theorie", sondern diente gerade durch seine Raffinesse dazu, wissbegierige Geister für ein Projekt zu gewinnen, das nur von der herrschenden Ideologie instrumentalisiert werden konnte.
[3] Der Kommunismus steht auf der Tagesordnung der Geschichte: Castoriadis, Munis und das Problem des Bruchs mit dem Trotzkismus | International Communist Current (internationalism.org) Communism is on the agenda of history: Castoriadis, Munis and the problem of breaking with Trotskyism | International Communist Current (internationalism.org) [53]
[4] Castoriadis, Munis and the problem of breaking with Trotskyism Second part: On the content of the communist revolution [54], International Review Nr. 161 (Herbst 2018 - Castoriadis, Munis und das Problem des Bruchs mit dem Trotzkismus – Zweiter Teil: Über den Inhalt der kommunistischen Revolution)
[5] Den Mai verstehen [55], Weltrevolution Nr. 182 (Nachdruck aus Révolution Internationale Nr. 2, 1969)
[6] Nicht zu verwechseln mit der existierenden "arbeitertümelnden" Gruppe Mouvement Communiste
[7] Das Mouvement Communiste schickte zum Beispiel einen Beitrag zur Konferenz in Liverpool 1973, die von Workers Voice organisiert wurde, nachdem Internationalism in den USA zu einem internationalen Diskussionsnetzwerk aufgerufen hatte.
[8] Siehe den Bericht des 23. Internationalen Kongresses der IKS über den Klassenkampf: Bildung, Verlust und Rückeroberung der proletarischen Klassenidentität [33], Internationale Revue Nr. 56, 2019
[9] Themen zur Reflexion und Diskussion [56], auf unserer englischsprachigen Webseite (unter „Theory and practice“): "Der Kommunismus ist nicht nur eine schöne Idee, sondern eine materielle Notwendigkeit"
Der Krieg in der Ukraine ist kein Donnerschlag aus blauem Himmel. Seine Verwüstungen finden zu einem Zeitpunkt statt, in dem sich katastrophale Phänomene häufen: Klimawandel, Umweltzerstörung, beschleunigte Verschärfung der Wirtschaftskrise, politische Erschütterungen, die sogar das älteste Land des Kapitalismus (Großbritannien) betreffen, Wiederkehr entsetzlicher Hungersnöte im großen Stil, Massenmigration von Menschen, die aus Kriegsgebieten, vor Massakern, Verfolgung oder Elend fliehen... Diese Kombination von Phänomenen, ihre Interdependenz und Wechselwirkung veranlasste die Internationale Kommunistische Strömung, das nachstehend veröffentlichte Dokument anzunehmen, das versucht, sie in einen größeren historischen Rahmen einzuordnen, indem es das ebenfalls sehr wichtige Ereignis des Aufkommens einer großen Streikbewegung berücksichtigt, die Großbritannien erschütterte und aus einer tiefen Unzufriedenheit resultierte: den "Sommer des Zorns".
1. Die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts werden zu einer der krisenhaftesten Zeiten in der Geschichte und haben bereits unbeschreibliche Katastrophen und Leid mit sich gebracht. Sie begannen mit der Covid-19-Pandemie (die immer noch andauert) und einem Krieg im Herzen Europas, in der Ukraine, der bereits seit über neun Monaten andauert und dessen Ausgang niemand vorhersehen kann. Der Kapitalismus ist in eine Phase schwerer Unruhen auf allen Ebenen eingetreten. Hinter dieser Anhäufung und Verflechtung von Katastrophen steht die drohende Vernichtung der Menschheit. Wie wir bereits in unseren Thesen zum Zerfall [10][1] betonen, ist der Kapitalismus "die erste [Gesellschaft], die das Überleben der Menschheit selbst bedroht, die erste, die die menschliche Spezies zerstören kann" (These 1).
2. Die Dekadenz des Kapitalismus ist kein homogener, gleichmäßiger Prozess: Er hat vielmehr eine Geschichte, die sich in mehreren Phasen ausdrückt. Die Phase des Zerfalls wurde in unseren Thesen zum Zerfall identifiziert, als "eine spezifische Phase, die letzte Phase seiner Geschichte, die Phase, in der der Zerfall zu einem, wenn nicht sogar dem entscheidenden Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung wird" (These 2). Es ist klar, dass wir, wenn das Proletariat nicht in der Lage wäre, den Kapitalismus zu stürzen, eine schreckliche Agonie erleben würden, die in die Vernichtung der Menschheit mündet.
3. Mit dem blitzartigen Ausbruch der Covid-Pandemie haben wir die Existenz von vier Merkmalen aufgezeigt, die für die Zerfallsphase typisch sind:
- Die zunehmende Schwere ihrer Auswirkungen. Die Pandemie verursachte 15 bis 20 Millionen Tote, eine allgemeine Lähmung der Wirtschaft für mehr als ein Jahr, den Zusammenbruch der nationalen Gesundheitssysteme, die Unfähigkeit der Staaten, sich international zu koordinieren, um das Virus zu bekämpfen und Impfstoffe herzustellen, wobei jeder Staat stattdessen in eine Politik des Jeder-für-sich versinkt. Diese Situation ist nicht nur Ausdruck der Unmöglichkeit des Systems, seinen vom Wettbewerb diktierten Gesetzen zu entkommen, sondern auch der Verschärfung von Rivalitäten, die zu inkompetenten Handlungen, Verirrung und Chaos der bürgerlichen Verwaltung geführt haben, und zwar selbst in den mächtigsten oder entwickeltesten Ländern der Welt.
- Das Eindringen der Auswirkungen des Zerfalls auf wirtschaftlicher Ebene. Dieser Trend, der bereits auf dem 23. IKS-Kongress festgestellt wurde, hat sich voll bestätigt und stellt eine "Neuigkeit" dar, weil es der Bourgeoisie in den Kernländern seit den 1980er Jahren gelungen war, die Wirtschaft vor den hauptsächlichen Auswirkungen des Zerfalls zu schützen.[2]
- Die zunehmende Wechselwirkung ihrer Effekte, wodurch sich die Widersprüche des Kapitalismus auf einem nie zuvor erreichten Niveau verschärfen. In den dreißig Jahren zuvor gelang es der herrschenden Klasse nämlich mehr oder weniger (vor allem in den Kernländern), die Auswirkungen des Zerfalls zu isolieren oder zu begrenzen, wodurch es in der Regel möglich war, ihre Wechselwirkung untereinander zu vermeiden. Was stattdessen seit zwei Jahren klar zutage tritt, ist die Wechselwirkung und das Ineinandergreifen von kriegerischer Barbarei, einer phänomenalen ökologischen Krise, dem Chaos im politischen Apparat vieler der mächtigsten Bourgeoisien, der aktuellen Pandemie und der wachsenden Gefahr neuer Gesundheitskrisen, von Hungersnöten, der gigantischen Flucht von Millionen von Menschen, der Verbreitung der rückständigsten und irrationalsten Ideologien etc., all dies inmitten einer virulenten Verschärfung der Wirtschaftskrise, die ganze Bevölkerungsteile noch weiter schwächt, insbesondere eine Arbeiterklasse, die einer zunehmenden Verarmung und einer beschleunigten Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen (Arbeitslosigkeit, Unsicherheit, Schwierigkeiten, sich zu ernähren, eine Wohnung zu finden, usw.) ausgesetzt ist.
- Die zunehmende Präsenz ihrer Auswirkungen in den Kernländern. Während die Kernländer in den letzten dreißig Jahren vor den Auswirkungen des Zerfalls relativ geschützt waren, werden sie heute mit voller Wucht getroffen und, was noch schlimmer ist, neigen sie dazu, zu seinen größten Verbreitern zu werden, wie in den USA, wo man Anfang 2021 Zeuge des Versuchs von Anhängern des Populisten Trump wurde, das Kapitol zu stürmen, als handle es sich um eine gewöhnliche Bananenrepublik.
4. Das Jahr 2022 war ein leuchtendes Beispiel für diese vier Merkmale, durch:
- den Ausbruch des Krieges in der Ukraine;
- das Auftreten nie dagewesener Flüchtlingswellen;
- die Fortsetzung der Pandemie mit Gesundheitssystemen, die am Rande des Zusammenbruchs stehen;[3]
- einen zunehmenden Kontrollverlust der herrschenden Klasse über ihren politischen Apparat, der sich in der Krise in Großbritannien spektakulär manifestiert hat;
- eine Agrarkrise, die bei einer allgemeinen Überproduktion zu einer Verknappung vieler Nahrungsmittel führt, was seit über einem Jahrhundert der Dekadenz des Kapitalismus ein relativ neues Phänomen darstellt: "Kurzfristig greift der Klimawandel die Grundpfeiler der Ernährungssicherheit an. Steigende Temperaturen und extreme Klimaschwankungen drohen die Ernten zu gefährden; tatsächlich verkürzte sich im Jahr 2020 die Wachstumszeit der Kulturen im Winter und Frühjahr um 9,3 Tage für Mais, 1,7 Tage für Reis und 6 Tage für Weizen im Vergleich zum Zeitraum 1981 bis 2004";[4]
- erschreckende Hungersnöte, von denen immer mehr Länder betroffen sind.[5]
Nun führt die Aggregation und Interaktion zerstörerischer Phänomene zu einem "Strudeleffekt", der jede seiner Teilwirkungen bündelt, katalysiert und vervielfacht, indem er noch verheerendere Verwüstungen verursacht. Einige WissenschaftlerInnen sehen dies mehr oder weniger deutlich vor sich, wie Marine Romanello vom University College London: "Unser Bericht für dieses Jahr zeigt, dass wir uns an einem kritischen Punkt befinden. Wir sehen, wie der Klimawandel die Gesundheit auf der ganzen Welt ernsthaft beeinträchtigt, während gleichzeitig die anhaltende globale Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen diese Gesundheitsschäden inmitten einer Vielzahl von globalen Krisen verschlimmert". Dieser "Strudeleffekt" stellt jedoch eine qualitative Veränderung dar, deren Folgen in der kommenden Zeit immer deutlicher zu Tage treten werden.
In diesem Zusammenhang muss die führende Rolle des Krieges als eine von den kapitalistischen Staaten gewollte und geplante Aktion hervorgehoben werden, die zum mächtigsten und schwerwiegendsten Faktor für Chaos und Zerstörung wurde. Tatsächlich bewirkt und beinhaltet der Krieg in der Ukraine einen Multiplikatoreffekt der Faktoren von Barbarei und Zerstörung:
- ein immer bestehendes Risiko der Bombardierung von Atomkraftwerken, wie es besonders um den Standort Saporischschja zu sehen ist;
- die Gefahr des Einsatzes von chemischen und nuklearen Waffen;
- die gewaltsame Eskalation des Militarismus mit seinen Auswirkungen auf die Umwelt und das Klima;
- die direkten Auswirkungen des Krieges auf die Energie- und Nahrungsmittelkrise.
In diesem Zusammenhang muss man die Ausweitung der Umweltkrise in ihrer ganzen Schwere verstehen, die auf ein bisher nicht gekanntes Niveau ansteigt:
- eine Hitzewelle im Sommer, die schlimmste seit 1961, mit der Aussicht, dass sich solche Hitzewellen dauerhaft etablieren werden;
- eine noch nie dagewesene Dürre, laut Experten die schlimmste seit 500 Jahren, die sogar Flüsse wie die Themse, den Rhein oder den Po, die normalerweise schnell fließen, in Mitleidenschaft zieht;
- verheerende Brände, ebenfalls die schlimmsten seit Jahrzehnten;
- unkontrollierbare Überschwemmungen wie in Pakistan, wo ein Drittel der Landesfläche betroffen war (ebenso wie in Thailand);
- ein drohender Kollaps der Eisschilde infolge des Abschmelzens von Gletschern, die eine Größe vergleichbar mit der Fläche Großbritanniens haben, mit katastrophalen Folgen.
Ein weiterer Umstand, der mit der Umweltkrise zusammenhängt und sie gleichzeitig verschärft, ist die marode Situation der Kernkraftwerke[6] vor dem Hintergrund der Energiekrise (als Folge der Wirtschaftskrise), aber auch als Folge des Krieges in der Ukraine. Hier besteht eindeutig die Gefahr beispielloser Katastrophen, die zu derjenigen hinzukommt, die sich aus der Bombardierung ukrainischer Kernkraftwerke ergibt.
Wir sind nicht die Einzigen, die den Ernst der Lage erkennen, und es ist sogar eine Persönlichkeit, die kaum ein Feind des Kapitalismus ist, die verkündet, dass "die Klimakrise uns umbringt. Damit wäre nicht nur die Frage der Gesundheit unseres Planeten beendet, sondern auch die der gesamten Bevölkerung durch die Luftverschmutzung...". (Antonio Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen, in einer Botschaft an die Generalversammlung im September 2022).
5. Hintergrund dieser katastrophalen Entwicklung ist die erhebliche Verschärfung der Wirtschaftskrise, die sich seit 2019 entwickelt und die erstens durch die Pandemie und zweitens durch den Krieg nur noch verschärft wurde. Es zeichnet sich ab, dass diese Krise länger und tiefer sein wird als die Krise von 1929. Zunächst einmal, weil die Auswirkungen des Zerfalls auf die Wirtschaft dazu neigen, die Produktionsabläufe durcheinander zu bringen, was zu ständigen Engpässen und Blockaden in einer Situation wachsender Arbeitslosigkeit führt, die paradoxerweise mit einem Mangel an Arbeitskräften einhergeht. Sie drückt sich vor allem in einer entfesselten Inflation aus, die durch die verschiedenen aufeinanderfolgenden Rettungspakete, die von den Staaten angesichts der Pandemie und des Krieges hastig geschnürt wurden, durch eine Flucht nach vorn in die Verschuldung nur noch weiter angeheizt wurde. Die Zinserhöhungen der Zentralbanken, mit denen sie versuchen, die Inflation zu bremsen, könnten eine sehr heftige Rezession auslösen, die sowohl die Staaten als auch die Unternehmen in den Würgegriff nimmt. Es ist ein wahrer Tsunami des Elends, eine brutale Verarmung des Proletariats in den Kernländern, die nunmehr im Gange ist.
6. Infolgedessen befinden sich wichtige Länder in einer zunehmend gefährlichen Lage, was schwerwiegende Auswirkungen auf die gesamte Welt haben kann:
- In Russland wird es zwangsläufig zu großen Konvulsionen kommen. Es ist unwahrscheinlich, dass eine einfache Absetzung Putins ohne Blutvergießen und blutige Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Fraktionen der herrschenden Klasse ablaufen wird. Eine mögliche Fragmentierung von Teilen Russlands, dem größten Staat der Welt und einem der am stärksten bewaffneten Staaten, hätte unvorhersehbare Folgen für die ganze Welt.
- China wird zunehmend von den wiederholten Schlägen der Pandemie (und möglicherweise weiteren, die noch kommen werden), der Schwächung der Wirtschaft, wiederholten Umweltkatastrophen und dem enormen imperialistischen Druck der USA in Mitleidenschaft gezogen. Die wirtschaftliche und strategische Anstrengung, die die "Neuen Seidenstraßen" darstellen, kann die schwierige Lage des chinesischen Kapitalismus nur noch weiter verschärfen. Wie die Resolution zur internationalen Lage des 24. Kongresses der IKS betont: "China ist eine tickende Zeitbombe [...]. Die totalitäre Kontrolle über den gesamten Gesellschaftskörper, die repressive Verschärfung, die Xi Jinpings stalinistische Fraktion betreibt, sind kein Ausdruck von Stärke, sondern im Gegenteil eine Manifestation der Schwäche des Staates, dessen Zusammenhalt durch die Existenz zentrifugaler Kräfte in der Gesellschaft und bedeutender Cliquenkämpfe innerhalb der herrschenden Klasse gefährdet ist".
- Die Vereinigten Staaten selbst werden von den schwersten Konflikten innerhalb der herrschenden Klasse seit dem Zweiten Weltkrieg heimgesucht. "Das Ausmaß der Spaltungen innerhalb der herrschenden Klasse der USA wurde durch die umstrittenen Wahlen im November 2020 und vor allem durch die Erstürmung des Kapitols durch Trump-Anhänger am 6. Januar 2021, die von Trump und seiner Entourage angetrieben wurden, offengelegt. Dieses letzte Ereignis zeigt, dass die innere Spaltung, die die USA erschüttert, die gesamte Gesellschaft durchzieht. Obwohl Trump aus der Regierung verdrängt wurde, bleibt der Trumpismus eine mächtige, schwer bewaffnete Kraft, die sich sowohl auf der Straße als auch an den Wahlurnen ausdrückt".[7] Dies wurde erst kürzlich durch Bidens Zwischenwahlen bestätigt, bei denen die Spaltungen zwischen den beiden rivalisierenden Banden (Demokraten und Republikaner) noch nie so tief und verschärft waren. Ebenso wurden die Zerreißproben innerhalb der beiden Lager deutlich, während das Gewicht des Populismus und das der rückwärtsgewandtesten Ideologien zunimmt, die von der Ablehnung eines rationalen und kohärenten Denkens geprägt sind. Dies war ersichtlich anhand der Versuche, eine erneute Kandidatur Trumps zu verhindern. Aber das Gewicht des Populismus ist keineswegs eingedämmt worden, sondern hat sich nur tiefer und dauerhafter in der amerikanischen Gesellschaft wie auch im Rest der Welt verankert. Dies ist ein Indikator für den Grad der Verwesung der sozialen Beziehungen.
7. Die Verschlechterung der Weltlage in einem noch nie dagewesenen Ausmaß wird durch zwei sehr wichtige Faktoren noch verschärft, die mit der unzureichenden Kontrolle der kapitalistischen Staaten, insbesondere der mächtigsten, über die sozialen Beziehungen als Ganzes zusammenhängen:
- Wie wir im Zuge der Covid-19-Krise und sogar schon früher (auf unserem 23. Kongress 2019) festgestellt haben, ist die Fähigkeit der großen Staaten zur Zusammenarbeit, um die Auswirkungen der Wirtschaftskrise zu verzögern und abzuschwächen und die Folgen des Zerfalls auf die schwächeren Länder zu begrenzen oder abzuschieben, erheblich geschwächt worden, und der Trend geht nicht in Richtung einer "Rückkehr" der Politik der "internationalen Zusammenarbeit", sondern eher in die entgegengesetzte Richtung. Eine solche Schwierigkeit kann das globale Chaos nur noch verschlimmern.
- Andererseits kann man innerhalb der stärksten Bourgeoisien der Welt keineswegs erkennen, dass sich eine Politik herausbildet, die eine solch zerstörerische und schnelle Erosion auch nur teilweise oder zeitweise aufhalten könnte. Ohne die Reaktionsfähigkeit der herrschenden Klasse zu unterschätzen, ist zumindest im Moment nicht zu erkennen, dass eine Politik wie in den 1980er und 1990er Jahren eingeführt wird, die die schlimmsten Auswirkungen der Krise und des Zerfalls abmilderte und hinauszögerte.
8. Diese Entwicklung, auch wenn sie uns in ihrer Geschwindigkeit und ihrem Ausmaß überraschen mag, war in der Aktualisierung unserer Analyse des Zerfalls durch den 22. Kongress (Bericht über den Zerfall heute[8]) weitgehend vorhergesagt worden: Einerseits hatte der Bericht den Aufstieg des Populismus in den Kernländern klar als eine wichtige Manifestation des Kontrollverlusts der Bourgeoisie über ihren politischen Apparat anerkannt. Ebenso erwähnten wir darin als weitere Manifestation den Ausbruch von Flüchtlingswellen und die Abwanderung von Menschen in die Zentren des Kapitalismus und wiesen insbesondere auf die Umweltkatastrophe und ihr Ausmaß hin.
Gleichzeitig benannte der Bericht Probleme, die heute in den Medien nicht den ersten Platz einnehmen, sich aber stetig verschärft haben: Terrorismus, das Wohnungsproblem in den Kernländern, Hungersnöte und insbesondere "die Zerstörung der menschlichen Beziehungen, der Familienbande und des menschlichen Mitgefühls“, die sich „nur noch verschlimmert“ haben, „wie der Gebrauch von Antidepressiva, die Explosion von psychischem Druck und Stress am Arbeitsplatz und das Aufkommen neuer Berufe, die solche Menschen ‚unterstützen’ sollen, belegen. Es gibt auch Hinweise auf echte Massaker wie das vom Sommer 2003 in Frankreich, wo 15.000 ältere Menschen während der Hitzewelle starben." Es ist anzumerken, dass die Pandemie diesen Trend erheblich und bis zum Äußersten verschärft hat und dass Selbstmorde und psychische Erkrankungen in diesem Zeitraum als "zweite Pandemie" betrachtet wurden.
9. Die Perspektive, die wir einnehmen, ergibt sich konsequent aus dem analytischen Rahmen, der in den "Thesen zum Zerfall" dreißig Jahre zuvor abgesteckt wurde:
- "Doch die Geschichte bleibt in solch einer Situation, in der die beiden fundamentalen – und antagonistischen – Klassen der Gesellschaft aufeinanderprallen, ohne ihre eigene Antwort durchsetzen zu können, nicht stehen. Noch weniger als in den anderen vorhergehenden Produktionsweisen ist im Kapitalismus eine Stagnation, ein ‚Einfrieren‘ des gesellschaftlichen Lebens möglich“ (These 4). In den letzten dreißig Jahren hat sich die Fäulnis nur vertieft und mündet heute in eine qualitative Verschärfung, die ihre zerstörerischen Folgen in einer nie zuvor gesehenen Weise manifestiert.
- „Tatsächlich kann sich keine Produktionsweise entwickeln, sich lebensfähig halten und den gesellschaftlichen Zusammenhalt sicherstellen, wenn sie nicht in der Lage ist, der von ihr dominierten Gesellschaft in ihrer Gesamtheit eine Perspektive anzubieten. Und dies trifft besonders auf den Kapitalismus als dynamischste Produktionsweise der Geschichte zu“ (These 5). Die heutige Situation ist die Fortsetzung von mehr als 50 Jahren, in denen sich die kapitalistische Krise unaufhaltsam verschärft hat, ohne dass die Bourgeoisie in der Lage gewesen wäre, eine Perspektive zu bieten, während das Proletariat bis jetzt nicht in der Lage ist, seine eigene voranzutreiben: die kommunistische Revolution. So treibt die Welt in eine Spirale der Barbarei und Zerstörung, in der die zentralen Länder, die eine ganze Zeit lang eine relativ bremsende Rolle für den Zerfall gespielt haben, nun zu einem verschärfenden Faktor für den Zerfall werden.
Weiter „führt dieser Zerfall nicht zu einem früheren Gesellschaftstyp, zu einer früheren Phase im Leben des Kapitalismus zurück. Der Verlauf der Geschichte ist unumkehrbar: der Zerfall führt, wie sein Name sagt, zur Auflösung und Fäulnis der Gesellschaft, ins Nichts“ (These 11).
10. Angesichts dieser Situation warnen die "Zerfallsthesen" zwar davor, dass "heute die Zeit im Gegensatz zu den siebziger Jahren nicht mehr zugunsten der Arbeiterklasse arbeitet“ (These 16) und die Gefahr einer langsamen, aber letztlich unumkehrbaren Erosion der eigentlichen Grundlagen des Kommunismus besteht, stellen aber dennoch klar, dass "die historischen Möglichkeiten völlig offen“ bleiben (These 17).
Denn: "Trotz des Schlags, der der Bewußtwerdung des Proletariats durch den Zusammenbruch des Ostblocks verabreicht wurde, hat das Proletariat auf seinem Klassenterrain keine große Niederlage erlitten. In diesem Sinne bleibt sein Kampfgeist praktisch intakt. Aber darüber hinaus, und das ist das Element, das in letzter Instanz die Entwicklung der Weltlage bestimmt, bildet derselbe Faktor, der sich am Anfang der Entwicklung des Zerfalls befindet, den wesentlichen Ansporn für den Kampf und die Bewußtwerdung der Klasse, die eigentliche Bedingung für ihre Fähigkeit, dem ideologischen Gift der gesellschaftlichen Fäulnis zu widerstehen. [...] der Kampf gegen die direkten Auswirkungen der Krise [bildet] die Grundlage für die Entfaltung ihrer Stärke und ihrer Einheit als Klasse.“ (These 17) Und „die Wirtschaftskrise im Gegensatz zum gesellschaftlichen Zerfall, der hauptsächlich den Überbau betrifft, [ist] ein Phänomen [...], das direkt die Infrastruktur der Gesellschaft selbst ergreift, auf denen dieser Überbau ruht; daher stellt die Krise die ultimativen Ursachen der gesamten Barbarei bloß, unter der die Gesellschaft leidet, und ermöglicht somit der Arbeiterklasse, sich der Notwendigkeit einer radikalen Umwälzung dieses Systems bewußt zu werden, ohne zu versuchen, einige Teilaspekte zu verbessern.“
"Die Wirtschaftskrise ist ein Phänomen, das direkt die Infrastruktur der Gesellschaft betrifft, auf der dieser Überbau beruht; in diesem Sinne legt sie die letzten Ursachen der gesamten Barbarei frei, die über die Gesellschaft hereinbricht, und ermöglicht so dem Proletariat, sich der Notwendigkeit eines radikalen Systemwechsels bewusst zu werden, ohne zu versuchen, einige Teilaspekte zu verbessern." (These 17)
Diese Perspektive beginnt sich tatsächlich abzuzeichnen: "Angesichts der Angriffe der Bourgeoisie zeigt die Arbeiterklasse in Großbritannien, dass sie wieder bereit ist, für ihre Würde zu kämpfen und die Opfer abzulehnen, die ihr das Kapital immer wieder auferlegt. Und wieder einmal spiegelt sie am deutlichsten die internationale Dynamik wider: Letzten Winter brachen in Spanien und den USA Streiks aus; diesen Sommer kam es auch in Deutschland und Belgien zu Arbeitsniederlegungen; für die kommenden Monate sagen alle Kommentatoren eine ‘explosive soziale Situation’ in Frankreich und Italien voraus. Es ist unmöglich vorherzusagen, wo und wann sich die Kampfbereitschaft in naher Zukunft wieder massiv manifestieren wird, aber eines ist sicher: Das Ausmaß der derzeitigen Mobilisierungen der Arbeiterklasse in Grossbritannien stellt eine wichtige historische Tatsache dar. Es ist vorbei mit der Passivität, mit der Unterwerfung. Die neue Generation von Arbeitern und Arbeiterinnen erwacht".[9]
Wir haben herausgearbeitet, dass die Kämpfe in Großbritannien einen Bruch gegenüber der bis dahin vorherrschenden Passivität und Desorientierung darstellten. Die Rückkehr der Kampfbereitschaft der Arbeiter als Reaktion auf die Krise kann zu einer Quelle der Bewusstseinsbildung werden, ebenso wie unser Eingreifen, das angesichts einer solchen Situation von entscheidender Bedeutung ist. Es ist offensichtlich, dass jede Beschleunigung des Zerfalls es schafft, den kämpferischen Bemühungen der Arbeiter einen Dämpfer zu versetzen: Die Bewegung in Frankreich 2019 erlitt einen Dämpfer beim Ausbruch der Pandemie. Das bedeutet eine nicht zu unterschätzende zusätzliche Schwierigkeit angesichts der Entwicklung der Kämpfe und der Wiedergewinnung des Vertrauens des Proletariats in sich selbst und in seine eigenen Kräfte. Dennoch gibt es keinen anderen Weg als den Kampf. Die Wiederaufnahme des Kampfes ist an sich schon ein erster Sieg. Das Weltproletariat in einem sehr quälenden Prozess mit vielen bitteren Niederlagen kann schließlich seine Identität als Klasse wiedererlangen und letztendlich in eine internationale Offensive gegen dieses sterbende System eintreten.
11. Die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts werden in diesem Zusammenhang also eine enorme Bedeutung für die historische Entwicklung haben. Sie werden mit noch größerer Deutlichkeit als in der Vergangenheit die im kapitalistischen Zerfall enthaltene Perspektive der Vernichtung der Menschheit aufzeigen. Am anderen Pol wird das Proletariat beginnen, erste Schritte zu unternehmen, wie sie in der Kampfbereitschaft der Streiks in Großbritannien zum Ausdruck kommen, um seine Lebensbedingungen gegen die zunehmenden Angriffe der jeweiligen Bourgeoisie und die Schläge der Weltwirtschaftskrise mit all ihren Auswirkungen zu verteidigen. Diese ersten Schritte werden oft zögerlich und voller Schwächen sein, aber sie sind unerlässlich, damit die Arbeiterklasse in der Lage ist, ihre historische Fähigkeit zur Durchsetzung ihrer kommunistischen Perspektive zu bekräftigen. So werden sich die beiden Pole der Perspektive im Großen und Ganzen in der Alternative: Zerstörung der Menschheit oder kommunistische Revolution gegenüberstehen, auch wenn die letztere Alternative noch in weiter Ferne liegt und mit enormen Hindernissen konfrontiert ist. Die Klärung dieses historischen Kontexts ist eine gewaltige, aber absolut notwendige und lebenswichtige Aufgabe für die revolutionären Organisationen des Proletariats. Sie verlangt von ihnen, dass sie die besten Verfechter und Verbreiter einer allgemeinen Perspektive sind. Sie ist auch ein entscheidender Test für ihre Fähigkeit, die Herausforderungen, die sich aus den verschiedenen Aspekten der gegenwärtigen Situation ergeben – Krieg, Krise, Klassenkampf, Umweltkrise, politische Krise usw. – zu analysieren und Antworten darauf zu geben.
IKS, 28. Oktober 2022
[1] Angenommen 1990, siehe Internationale Revue 13
[2] Vgl. Internationale Revue 57, Bericht zur Wirtschaftskrise für den 24. Internationalen Kongress der IKS [57], Frühjahr 2021
[3] Insgesamt ist das Risiko für die menschliche Gesundheit, selbst in den «entwickelten Ländern», dramatisch gestiegen, während WissenschaftlerInnen auch vor weiteren Pandemien warnen. Eine Studie eines Teams des London University College, die in The Lancet veröffentlicht wurde, zeigt auf, wie die Klimakrise die Ausbreitung des Denguefiebers zwischen 2018 und 2021 um 12% ansteigen ließ und dass „die Anzahl Toter aufgrund von Hitzewellen zwischen 2017 und 2021 um 68% anstieg im Vergleich zu 2000 bis 2004“.
[4] The Lancet (2022). Es sei darauf hingewiesen, dass die enorme ökologische Verschlimmerung zwar nicht der einzige Faktor der Nahrungsmittelkrise ist, dass aber die Konzentration der Produktion auf sehr wenige Länder und die massiven Finanzspekulationen mit Weizen und anderen Grundnahrungsmitteln das Problem noch verschärfen.
[5] Der Internationale Währungsfonds anerkennt auf seine Weise die Realität der Lage: "Es ist wahrscheinlicher, dass sich das Wachstum weiter verlangsamt und die Inflation höher ausfällt als erwartet. Insgesamt sind die Risiken hoch und im Großen und Ganzen mit der Situation zu Beginn der Pandemie vergleichbar – eine noch nie dagewesene Kombination von Faktoren prägt die Aussichten, wobei die einzelnen Elemente in einer Weise zusammenwirken, die naturgemäß schwer vorherzusagen ist. Viele der oben beschriebenen Risiken sind im Wesentlichen eine Verschärfung der Kräfte, die bereits im Basisszenario vorhanden sind. Darüber hinaus kann die Verwirklichung kurzfristiger Risiken mittelfristige Risiken beschleunigen und die Lösung langfristiger Probleme erschweren".
[6] In Frankreich, das international ein Kernenergieriese ist, sind gegenwärtig 32 seiner 56 Atomreaktoren abgestellt.
[7] 24. Internationaler Kongress der IKS: Resolution zur internationalen Lage [11], Internationale Revue 57
[8] Vgl. Bericht über den Zerfall heute (Mai 2017) [16], Internationale Revue 56
[9] Sommer des Zorns in Großbritannien: Die Bourgeoisie erzwingt neue Opfer. Die Arbeiterklasse antwortet mit Streiks [58], Weltrevolution 185, September 2022
Anhang | Größe |
---|---|
![]() | 146.05 KB |
Vor 130 Jahren, als die Spannungen zwischen den kapitalistischen Mächten in Europa zunahmen, sprach Friedrich Engels von dem Dilemma, vor dem die Menschheit steht: Kommunismus oder Barbarei.
Dieses trat konkret in Form des Ersten Weltkriegs auf, der 1914 ausbrach und 20 Millionen Tote und weitere 20 Millionen Invalide forderte. In den Kriegswirren kam es zu einer Pandemie der Spanischen Grippe mit mehr als 50 Millionen Todesopfern.
Die Revolution in Russland 1917 und die revolutionären Versuche in verschiedenen Ländern setzten dem Gemetzel ein Ende und zeigten die andere Seite des von Engels aufgeworfenen historischen Dilemmas: die Möglichkeit des Kommunismus durch die revolutionäre Klasse, das Proletariat.
Aber die Zerschlagung des weltrevolutionären Versuchs, die brutale Konterrevolution in Russland, die vom Stalinismus unter dem Banner des "Kommunismus" verübt wurde, das Massaker am Proletariat in Deutschland, das von der Sozialdemokratie[1] initiiert und vom Nationalsozialismus vollendet wurde, die Mobilisierung der ProletarierInnen unter den Bannern des Antifaschismus und der Verteidigung des "sozialistischen" Vaterlandes führte 1939-45 zu einem neuen Schub der Barbarei, dem Zweiten Weltkrieg mit 60 Millionen Toten und unendlich viel Leid: die Konzentrationslager der Nazis und der Stalinisten, die alliierten Bombenangriffe auf Dresden, Hamburg und Tokio (Januar 1945), der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki durch die USA.
Seitdem hat der Krieg nicht aufgehört, auf allen Kontinenten Menschenleben zu fordern. Zunächst gab es die Blockkonfrontation zwischen den USA und der UdSSR, den so genannten Kalten Krieg (1945-89), mit einer endlosen Kette lokaler Kriege und der Bedrohung durch eine Flut von Atombomben, die über dem gesamten Planeten schwebte.
Nach dem Zusammenbruch der UdSSR 1989-91 haben chaotische Kriege den Planeten mit Blut überzogen: Irak, Jugoslawien, Ruanda, Afghanistan, Jemen, Syrien, Äthiopien, Sudan... Der Krieg in der Ukraine ist die schwerste kriegerische Auseinandersetzung seit 1945.
Die Barbarei des Krieges geht einher mit einer Vervielfachung und einer Wechselwirkung zerstörerischer Kräfte, die sich gegenseitig verstärken: die COVID-Pandemie, die noch lange nicht besiegt ist und die Bedrohung durch neue Pandemien ankündigt; die Umweltkatastrophe, die sich beschleunigt und verstärkt, indem sie mit klimatischen Störungen einhergeht und immer unkontrollierbarere und tödlichere Katastrophen verursacht: Dürre, Überschwemmungen, Hurrikane, Tsunamis ..., unvergleichliche Verschmutzung von Land, Wasser, Luft und Weltraum; die schwere Ernährungskrise, die Hungersnöte biblischen Ausmaßes verursacht. Vor vierzig Jahren drohte die Menschheit in einem Dritten Weltkrieg unterzugehen, heute kann sie durch diese bloße Ansammlung und tödliche Kombination der derzeit wirkenden Zerstörungskräfte ausgelöscht werden. "Ob man brutal von einem thermonuklearen Bombenhagel in einem Weltkrieg ausgelöscht wird oder durch die Umweltverschmutzung, die Radioaktivität der Atomkraftwerke, den Hunger, die Epidemien und die Massaker der verschiedenen kriegerischen Konflikte (in denen auch Atomwaffen eingesetzt werden können) vernichtet wird, läuft letztendlich aufs gleiche hinaus. Der einzige Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Zerstörung besteht darin, daß die erste schneller ist, während die zweite langsamer ist, dafür aber umso mehr Leid verursacht." (Thesen zum Zerfall, Der Zerfall: die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus [10], Mai 1990, Internationale Revue Nr. 13).
Das von Engels dargestellte Dilemma nimmt eine viel dringendere Form an: KOMMUNISMUS oder die ZERSTÖRUNG DER MENSCHHEIT. Die Lage ist ernst, und es ist notwendig, dass die internationalistischen Revolutionäre dies unserer Klasse unmissverständlich sagen, denn nur unsere Klasse kann durch einen hartnäckigen Kampf die kommunistische Perspektive eröffnen.
Die sogenannten "Massenmedien" verfälschen und unterschätzen die Realität des Krieges. Anfangs berichteten sie vierundzwanzig Stunden am Tag nur über den Krieg in der Ukraine. Doch im Laufe der Zeit wurde der Krieg banalisiert, er schafft es nicht einmal mehr auf die Titelseiten der Zeitungen, sein Echo geht nicht über ein paar Drohgebärden hinaus, über Opferaufrufe, "Waffen in die Ukraine zu schicken", über Propagandakampagnen, die gegen die Rivalen gehämmert werden, über Fake News, alles gewürzt mit der leeren Illusion von "Verhandlungen".
Den Krieg zu banalisieren und sich an seinen widerlichen Geruch von Leichen und rauchenden Ruinen zu gewöhnen, ist die schlimmste Perfidie, die man sich vorstellen kann.
Millionen von Menschen in Afrika, Asien oder Mittelamerika kennen keine andere Realität als den Krieg; von der Geburt bis zum Tod leben sie in einem Dauerzustand der Barbarei, in dem Grausamkeiten aller Art an der Tagesordnung sind: Kindersoldaten, Strafaktionen, Geiselnahmen, Terroranschläge, Massenvertreibungen, wahllose Bombardierungen.
Während sich die Kriege der Vergangenheit auf die Frontlinien beschränkten und nur einen sehr begrenzten Teil der Bevölkerung mobilisierten, handelt es sich bei den Kriegen des 20. und 21. Jahrhunderts um totale Kriege, die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens umfassen, die gesamte Bevölkerung mobilisieren, sowohl die Soldaten als auch die Zivilbevölkerung, und deren Auswirkungen sich über die ganze Welt erstrecken und alle Länder in Mitleidenschaft ziehen, auch diejenigen, die nicht unmittelbar an den Kriegen beteiligt sind. In den Kriegen des 20. und 21. Jahrhunderts kann sich kein Bewohner und kein Ort auf dem Planeten ihren tödlichen Auswirkungen entziehen.
An der Front, die sich über Tausende von Kilometern zu Lande, zu Wasser, in der Luft - und im Weltraum erstrecken kann, werden Menschenleben durch Bomben, Schüsse, Minen, in vielen Fällen durch "Friendly Fire" ausgelöscht. Von einem mörderischen Wahn ergriffen, durch den Terror der Vorgesetzten gezwungen oder in Extremsituationen gefangen, sind alle Beteiligten gezwungen, die selbstmörderischsten, kriminellsten und zerstörerischsten Handlungen auszuführen.
Ein Teil der militärischen Front ist die "Führung des Krieges aus der Ferne" mit dem unaufhörlichen Einsatz hochmoderner Zerstörungsmaschinen: Flugzeuge, die pausenlos Tausende von Bomben abwerfen; Drohnen, die ferngesteuert alle "Ziele" des Gegners ansteuern; mobile oder stationäre Artillerie, die den Gegner unerbittlich unter Beschuss nimmt; Raketen, die Hunderte oder Tausende von Kilometern zurücklegen.
Das so genannte "Hinterland" wird zu einem ständigen Kriegsschauplatz. Jeder kann bei der periodischen Bombardierung ganzer Städte sterben..... In den Produktionsstätten arbeiten die Menschen mit dem Gewehr im Nacken, umgeben von der Polizei, den politischen Parteien, den Gewerkschaften und anderen Institutionen des "Vaterlandes", während sie gleichzeitig Gefahr laufen, von feindlichen Bomben verstümmelt zu werden. Die Arbeit wird zu einer noch größeren Hölle als der tägliche Horror der kapitalistischen Ausbeutung.
Das dramatisch rationierte Essen ist eine schmutzige, stinkende Suppe. Es gibt kein Wasser, keinen Strom, keine Heizung. Millionen von Menschen sehen ihre Existenz auf das „tierische“ Überleben reduziert. Unzählige Geschosse prasseln auf uns nieder, die Tausende von Menschen töten und ihnen schreckliche Qualen bereiten; am Boden gibt es endlose Kontrollpunkte der Polizei oder des Militärs, und die Gefahr, von bewaffneten Schergen, den "Verteidigern des Vaterlandes", verhaftet zu werden. Ständig muss man in dreckige, von Ratten verseuchte Keller flüchten. Der Respekt, die elementarste Solidarität, das Vertrauen, das rationale Denken ... werden von der Atmosphäre des Terrors hinweggefegt, die nicht nur von der Regierung, sondern auch durch die Nationale Einheit aufgezwungen wird, an der Parteien und Gewerkschaften mit gnadenlosem Eifer teilnehmen. Die absurdesten Gerüchte, die unwahrscheinlichsten Nachrichten kursieren unaufhörlich und schüren eine hysterische Atmosphäre der Denunziation, des wahllosen Verdachts, der brutalen Spannung und des Pogroms.
Der Krieg ist eine Barbarei, die von den Regierungen gewollt und geplant wird, die ihn verschärfen, indem sie bewusst Hass, Spannungen und Spaltungen zwischen den Menschen, Tod um des Todes willen, Folter, Unterwerfung und Machtverhältnisse als einzige Logik der gesellschaftlichen Entwicklung propagieren. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen um das Kernkraftwerk Saporischschja in der Ukraine zeigen, dass beide Seiten keine Skrupel haben, eine radioaktive Katastrophe zu provozieren, die schlimmer sein könnte als Tschernobyl und enorme Folgen für die europäische Bevölkerung hätte. Die Bedrohung durch den Einsatz von Atomwaffen ist unübersehbar.
Der Kapitalismus ist das heuchlerischste und zynischste System der Geschichte. Die ganze ideologische Kunst besteht darin, diese Interessen als das "Interesse des Volkes" auszugeben, geschmückt mit den höchsten Idealen: Gerechtigkeit, Frieden, Fortschritt, Menschenrechte…
Alle Staaten fabrizieren eine IDEOLOGIE DES KRIEGES, um diesen zu rechtfertigen und ihre "Bürger" in tötungsbereite Hyänen zu verwandeln. „Der Krieg ist ein methodisches, organisiertes, riesenhaftes Morden. Zum systematischen Morden muß aber bei normal veranlagten Menschen erst der entsprechende Rausch erzeugt werden. Dies ist seit jeher die wohlbegründete Methode der Kriegführenden. Der Bestialität der Praxis muß die Bestialität der Gedanken und der Gesinnung entsprechen, diese muß jene vorbereiten und begleiten.“(Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie)
Die großen Demokratien haben den FRIEDEN als eine Säule ihrer Kriegsideologie. Demonstrationen "für den Frieden" haben imperialistische Kriege vorbereitet. Im Sommer 1914 und 1938/39 demonstrierten Millionen von Menschen "für den Frieden" in einem hilflosen Ruf von "Menschen guten Willens", Ausbeutern und Ausgebeuteten, die sich an den Händen hielten, was die "demokratische" Seite als Rechtfertigung für die Beschleunigung der Kriegsvorbereitungen nutzte.
Im Ersten Weltkrieg mobilisierte Deutschland seine Truppen zur "Verteidigung des Friedens", "gebrochen durch das Attentat von Sarajewo auf seinen österreichischen Verbündeten". Auf der gegnerischen Seite traten Frankreich und Großbritannien in die Schlacht im Namen des "von Deutschland gebrochenen" Friedens. Im Zweiten Weltkrieg täuschten Frankreich und Großbritannien in München angesichts der Ansprüche Hitlers "Friedensbemühungen" vor, während sie sich fieberhaft auf den Krieg vorbereiteten. Der Einmarsch in Polen durch die gemeinsame Aktion von Hitler und Stalin lieferte ihnen den perfekten Vorwand, um in den Krieg zu ziehen ... In der Ukraine sagte Putin bis Stunden vor der Invasion am 24. Februar, dass er "Frieden" wolle, während die Vereinigten Staaten Putins Kriegstreiberei schonungslos anprangerten …
Die Nation, die nationale Verteidigung und alle Ideologien, die sie umgeben (Rassismus, Religion usw.), sind der Aufhänger für die Mobilisierung des Proletariats und der gesamten Bevölkerung für das imperialistische Gemetzel. Die Bourgeoisie verkündet in Zeiten des "Friedens" die "Koexistenz der Völker", aber mit dem imperialistischen Krieg verschwindet alles, dann fallen die Masken und alle verbreiten Hass auf das Fremde und die standhafte Verteidigung der Nation.
Alle stellen ihre Kriege als "defensiv" dar. Vor 100 Jahren hießen die für die Kriegsbarbarei verantwortlichen Ministerien "Kriegsministerium", heute heißen sie mit der größten Heuchelei "Verteidigungsministerium". Verteidigung ist das Feigenblatt der Kriegsführung. Es gibt keine angegriffenen Nationen und keine angreifenden Nationen, sie alle sind aktive Teilnehmer am tödlichen Kriegsgeschehen. Russland erscheint im gegenwärtigen Krieg als "Aggressor", da es die Initiative zum Einmarsch in die Ukraine ergriffen hat, aber zuvor haben die Vereinigten Staaten die NATO heimtückisch auf die Länder des ehemaligen sowjetischen Machtbereichs ausgedehnt. Es ist nicht möglich, jedes Glied für sich zu betrachten, sondern es ist notwendig, die blutige Kette der imperialistischen Konfrontation zu betrachten, die die gesamte Menschheit seit mehr als einem Jahrhundert in Atem hält.
Sie sprechen von einem "sauberen Krieg", der "humanitären Regeln" folgt. Dies ist eine abscheuliche Täuschung! Die Kriege des dekadenten Kapitalismus kennen keine andere Regel als die der absoluten Vernichtung des Gegners, und das schließt ein, die Untertanen des Gegners mit gnadenlosen Bombenangriffen zu terrorisieren ... Im Krieg wird ein Kräfteverhältnis hergestellt, in dem ALLES erlaubt ist, von der brutalsten Vergewaltigung und Bestrafung der gegnerischen Bevölkerung bis zum wahllosesten Terror gegen die eigenen "Bürger". Russlands Bombardierung der Ukraine steht in einer Reihe mit der Bombardierung des Iraks durch die USA und davor der Bombardierung Vietnams, der Bombardierung ehemaliger Kolonien Frankreichs wie Madagaskar und Algerien, der Bombardierung Dresdens und Hamburgs durch die "demokratischen Alliierten" und der nuklearen Barbarei von Hiroshima und Nagasaki. Die Kriege des 20. und 21. Jahrhunderts wurden von Methoden der Massenvernichtung begleitet, die von allen Seiten angewandt wurden, auch wenn die demokratische Seite sie oft finsteren Persönlichkeiten in die Schuhe schob und diese die Rolle des Schuldigen spielten.
Sie sprechen von "gerechten Kriegen". Die NATO-Länder, die die Ukraine unterstützten, sagen, es sei ein Kampf für Demokratie gegen Putins Despotismus. Putin sagt, er werde die Ukraine "entnazifizieren". Beide sind offenkundig betrügerisch. Die Seite der "Demokratien" hat Blut an ihren Händen: Blut aus den unzähligen Kriegen, die sie direkt (Vietnam, Jugoslawien, Irak, Afghanistan) oder indirekt (Libyen, Syrien, Jemen ...) angezettelt haben; Blut von den Tausenden von Migranten, die auf See oder an den "heißen Grenzen" in den USA oder in Europa getötet wurden ... Der ukrainische Staat setzt Terror ein, um die ukrainische Sprache und Kultur durchzusetzen; er ermordet Arbeiter allein für das Verbrechen, Russisch zu sprechen; er zwangsrekrutiert jeden jungen Menschen, der auf der Straße erwischt wird; er benutzt die Bevölkerung, auch die in Krankenhäusern, als menschliche Schutzschilde; er setzt Nazi-Banden ein, um die Bevölkerung zu terrorisieren ... Neben Bombardierungen, Vergewaltigungen und Hinrichtungen im Schnellverfahren lässt Putin Tausende von Familien in Konzentrationslager in abgelegenen Gebieten umsiedeln, übt Terror in den "befreiten" Gebieten aus und rekrutiert Ukrainer für die Armee, indem er sie in Stellungen schickt, in denen der Tod sicher ist.
Vor zehntausend Jahren war eines der Mittel zur Auflösung des frühen Kommunismus der Stammeskrieg. Seitdem ist der Krieg unter der Ägide der auf Ausbeutung basierenden Produktionsweise eine der schlimmsten Geißeln. Bestimmte Kriege haben jedoch eine fortschrittliche Rolle gespielt, zum Beispiel bei der Entwicklung des Kapitalismus, der Bildung neuer Nationen, der Ausweitung des Weltmarkts und der Förderung der Entwicklung der Produktivkräfte.
Seit dem Ersten Weltkrieg ist die Welt jedoch vollständig unter den kapitalistischen Mächten aufgeteilt, so dass der einzige Ausweg für jedes nationale Kapital darin besteht, seinen Rivalen Märkte, Einflusssphären und strategische Gebiete abzutrotzen. Dies macht den Krieg und alles, was damit einhergeht (Militarismus, gigantische Anhäufung von Rüstungsgütern, diplomatische Bündnisse), zum Lebensprinzip des Kapitalismus. Eine permanente imperialistische Spannung bestimmt die Welt und zieht alle Nationen, ob groß oder klein, in den Abgrund, unabhängig von ihrer ideologischen Definition, der Ausrichtung ihrer Regierungen, ihrer rassischen Zusammensetzung oder ihrem kulturellen und religiösen Erbe. ALLE NATIONEN SIND IMPERIALISTISCH. Der Mythos von den "friedlichen und neutralen" Nationen ist eine Täuschung: Wenn bestimmte Nationen eine "neutrale" Politik verfolgen, dann nur, um die verschiedenen gegnerischen Lager auszunutzen und sich eine eigene Einflusszone zu schaffen. Im Juni 2022 hat Schweden, ein Land, das seit mehr als 70 Jahren offiziell neutral ist, seinen Beitritt zur NATO erklärt, es hat "keine Ideale verraten", sondern seine imperialistische Politik "mit anderen Mitteln" fortgesetzt.
Der Krieg kann ein Geschäft für die direkt oder indirekt mit ihm verbundenen Wirtschaftszweige sein. Es mag auch ein bestimmtes Land eine Zeit lang begünstigen, aber für den Kapitalismus als Ganzes ist es eine wirtschaftliche Katastrophe, eine irrationale Verschwendung, ein WENIGER, das die Weltproduktion belastet und Verschuldung, Inflation und Umweltzerstörung verursacht, niemals ein MEHR, das die kapitalistische Akkumulation ausweitet.
Als unausweichliche Notwendigkeit für das Überleben einer jeden Nation ist der Krieg eine tödliche wirtschaftliche Belastung. Die UdSSR brach zusammen, weil sie sich dem wahnsinnigen Wettrüsten nicht widersetzen konnte, das die Konfrontation mit den USA mit sich brachte und das letztere mit dem berühmten Einsatz des Kriegs der Sterne in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts.
Die Vereinigten Staaten, die als großer Sieger aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgingen und bis Ende der 1960er Jahre einen spektakulären wirtschaftlichen Aufschwung erlebten, haben ihre Position allmählich eingebüßt, unter anderem aufgrund der gigantischen Kriegsanstrengungen, die sie seit mehr als 80 Jahren unternehmen mussten und der kostspieligen militärischen Operationen, die sie durchführen mussten, um ihren Status als führende Weltmacht zu erhalten.
Der Kapitalismus trägt in seinen Genen die verschärfte Konkurrenz, das ALLE GEGEN ALLE und JEDER FÜR SICH – das trifft auf jeden Kapitalisten, jede Nation zu.
Diese "organische" Tendenz des Kapitalismus trat jedoch in seiner aufstrebenden Periode (19. Jahrhundert) nicht deutlich in Erscheinung, da jedes nationale Kapital noch über genügend Raum für seine Expansion verfügte, ohne mit anderen Konkurrenten in Konflikt geraten zu müssen.
In der Zeit der beiden Weltkriege und des "Kalten Krieges" (1945-89) wurde die Tendenz zur gegenseitigen Zerstörung zwischen den Staaten mit den gigantischen Zerstörungen der beiden Weltkriege und den unzähligen lokalen Kriegen sowie mit der Bedrohung durch einen Atomkrieg, der als Mutually Assured Destruction (MAD, dt. "gegenseitig zugesicherte Zerstörung" oder auch „Gleichgewicht des Schreckens“) bezeichnet wurde, verkörpert. Diese Zerstörung wurde jedoch durch die Struktur von zwei antagonistischen imperialistischen Blöcken "organisiert", die die Unterordnung aller Länder unter die jeweiligen Blockführer (USA und UdSSR) erzwangen.
Seit 1989, mit dem Ende dieser brutalen Disziplin, haben zentrifugale Tendenzen eine Welt des mörderischen Chaos geformt, in der Imperialismen mit globalen Ambitionen, Imperialismen mit regionalen Ansprüchen und eher lokale Imperialismen alle danach streben, ihren drängenden Begierden freien Lauf zu lassen. In diesem Szenario versuchen die Vereinigten Staaten zu verhindern, dass sie von irgendjemandem in den Schatten gestellt werden, indem sie ihre überwältigende militärische Macht unerbittlich einsetzen, sie unermüdlich ausbauen und ständig schwer destabilisierende Militäroperationen durchführen. Die 1990 nach dem Ende der UdSSR versprochene "Neue Weltordnung" des Friedens und des Wohlstands wurde sofort durch den Golfkrieg (1991) und dann durch die Kriege im Nahen Osten, im Irak und in Afghanistan widerlegt, die die kriegerischen Tendenzen derart anheizten, dass der "demokratischste Imperialismus der Welt", die USA, der erste Akteur ist, der das Chaos verbreitet.
China hat sich zu einem Anwärter auf die Ablösung der US-Führung entwickelt. Seine Armee ist trotz ihrer Modernisierung weit von der Stärke und Erfahrung des amerikanischen Rivalen entfernt; seine "Kriegstechnologie", die Grundlage für eine wirksame Bewaffnung und Kriegseinsätze, ist immer noch begrenzt und zerbrechlich, weit entfernt von der Macht der USA; China ist im Pazifik von einer Kette feindlicher Mächte umgeben (Japan, Südkorea, Taiwan, Australien usw.), was seine maritime imperialistische Expansion blockiert. Angesichts dieser ungünstigen Situation hat China ein gigantisches ökonomisch-imperialistisches Unternehmen mit der Bezeichnung Seidenstraße in Angriff genommen, das auf eine globale Etablierung und eine territoriale Ausdehnung durch Zentralasien in einer der am meisten destabilisierten Regionen der Welt abzielt. Dies ist ein Projekt mit sehr ungewissem Ausgang, das eine umfassende und unermessliche wirtschaftliche und militärische Investition und eine politisch-soziale Mobilisierung erfordert, welche seine Führungsmöglichkeiten überfordert, die vor allem auf der politischen Rigidität seines Staatsapparats beruhen, einem schweren Erbe des stalinistischen Maoismus: dem systematischen und brutalen Einsatz seiner Repressionskräfte, dem Zwang und der Unterwerfung unter einen gigantischen ultra-bürokratisierten Staatsapparat, wie man an den zunehmenden Protesten angesichts der Regierungspolitik der "Null-Covid" sehen kann. Diese abwegige Ausrichtung und die Anhäufung von Widersprüchen, die seine Entwicklung tiefgreifend untergraben, könnten den tönernen Koloss China schließlich erschüttern. Ebenso wie die brutale und bedrohliche Reaktion der USA den Grad an mörderischem Wahnsinn, an blinder Flucht in Barbarei und Militarismus (einschließlich der zunehmenden Militarisierung des gesellschaftlichen Lebens) veranschaulicht, den der Kapitalismus als Symptome eines weit verbreiteten Krebsgeschwürs erreicht hat, das die Welt zerfrisst und nunmehr die Zukunft der Erde und das Leben der Menschheit direkt bedroht.
Der Krieg in der Ukraine ist kein Sturm im Wasserglas; er folgt auf die schlimmste Pandemie des 21. Jahrhunderts, COVID, mit mehr als 15 Millionen Toten, deren Verwüstungen mit den drakonischen Einschränkungen in China weitergehen. Doch beide sind Teil einer Kette von Katastrophen, die die Menschheit heimsuchen, und treiben diese auch an: ökologische Zerstörung, Hungersnöte, die mit Gewalt in Afrika, Asien und Mittelamerika einhergehen, die unglaubliche Flüchtlingswelle, die 2021 eine noch nie dagewesene Zahl von 100 Millionen Menschen erreichte, das politische Chaos, das zentrale Länder erfasst, wie wir sie bei den Regierungen in Großbritannien oder beim Populismus in den Vereinigten Staaten oder dem Aufstieg der dunkelsten Verschwörungstheorien sehen.
Die Pandemie hat die Widersprüche offengelegt, die den Kapitalismus untergraben. Ein Sozialsystem, das sich beeindruckender wissenschaftlicher Fortschritte rühmt, greift auf die mittelalterliche Methode der Quarantäne zurück, während sein Gesundheitssystem zusammenbricht und seine Wirtschaft fast zwei Jahre lang lahmgelegt werden muss, was die Wirtschaftskrise noch verschärft. Eine Gesellschaftsordnung, die behauptet, den Fortschritt auf ihre Fahnen geschrieben zu haben, bringt die absurdesten und irrationalsten Ideologien hervor, die rund um die Pandemie mit lächerlichen Verschwörungstheorien explodiert sind, viele davon aus dem Munde der "großen Weltführer".
Die Pandemie hat eine direkte Ursache in der ökologischen Katastrophe, die die Menschheit seit Jahren bedroht. Der Kapitalismus, der vom Profit und nicht von der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse angetrieben wird, ist ein Raubtier an den natürlichen Ressourcen ebenso wie der menschlichen Arbeitskraft, aber gleichzeitig neigt er dazu, die natürlichen Gleichgewichte und Prozesse zu zerstören, indem er sie wie ein Zauberlehrling auf chaotische Weise verändert und alle möglichen Katastrophen mit zunehmend zerstörerischen Folgen verursacht: globale Erwärmung, Dürren, Überschwemmungen, Brände, Schmelzen von Gletschern und Eisbergen, massives Verschwinden von Pflanzen- und Tierarten mit unvorhersehbaren Folgen und Vorboten des Aussterbens der menschlichen Spezies, zu dem der Kapitalismus führt. Die ökologische Katastrophe wird durch die Notwendigkeiten des Krieges, durch die Kriegseinsätze selbst (der Einsatz von Atomwaffen ist ein offensichtlicher Ausdruck davon) und durch die Zuspitzung der Krise verschärft, die jedes nationale Kapital dazu zwingt, auf der verzweifelten Suche nach Rohstoffen zahlreiche Gebiete weiter zu verwüsten. Der Sommer 2022 ist ein deutliches Beispiel für die schwerwiegenden Bedrohungen, denen die Menschheit im ökologischen Bereich ausgesetzt ist: steigende Temperaturen - der heißeste Sommer seit 1961 -, weit verbreitete Dürren, die Flüsse wie den Rhein, den Po oder die Themse betreffen, verheerende Waldbrände, Überschwemmungen wie die in Pakistan, die ein Drittel der Landesfläche in Mitleidenschaft ziehen - und inmitten dieses Panoramas ziehen die Regierungen ihre lächerlichen Umweltschutzmaßnahmen im Namen der Kriegsanstrengungen zurück!
"Das Endresultat der kapitalistischen Produktionsweise ist das Chaos", sagte der erste Kongress der Kommunistischen Internationale 1919. Es ist selbstmörderisch und irrational und widerspricht allen wissenschaftlichen Kriterien, zu glauben, dass all diese Verwüstungen nur eine Summe von vorübergehenden Phänomenen sind, die jeweils durch spezifische Ursachen bestimmt werden. Es gibt einen eisernen Zusammenhang, einen blutigen roten Faden, der sie miteinander verbindet und sie zu einem tödlichen Wirbelsturm zusammenführt, der die Menschheit bedroht:
- Wir sind Zeugen einer Beschleunigung der Widersprüche des Kapitalismus, die sich miteinander verbinden und eine Vervielfachung der Faktoren von Zerstörung und Chaos hervorrufen;
- die Wirtschaft befindet sich nicht nur in einer Krise, sondern auch in einem zunehmenden Chaos (ständige Versorgungsblockaden, Überproduktion und Mangel an Waren und Arbeitskräften);
- die am stärksten industrialisierten Länder, die eigentlich Oasen des Wohlstands und des Friedens sein sollten, werden destabilisiert und werden selbst zu Faktoren der internationalen Instabilität.
Wie wir im Manifest unseres 9. Kongresses (1991) sagten: "Nie zuvor hatte es so viele Gemetzel von dem Ausmaß gegeben wie während der beiden letzten Weltkriege. Nie zuvor war der Fortschritt der Wissenschaft in solch einem Masse für Zerstörungen, für Massaker eingesetzt worden. Nie zuvor hatte solch eine Anhäufung von Reichtümern solch eine Reihe von Hungersnöten und Leiden hervorgerufen wie die, die seit Jahrzehnten in den Ländern der 3. Welt zu verzeichnen sind. Aber scheinbar hat die Menschheit noch nicht das Schlimmste hinter sich. Denn die Dekadenz des Kapitalismus bedeutet auch Todeskampf dieses Systems. Dieser Todeskampf selber hat eine Geschichte: Heute sind wir in seine Endphase eingetreten, die des allgemeinen Zerfalls der Gesellschaft, ihres Verfaulens.“
Von allen Klassen in der Gesellschaft ist das Proletariat am stärksten vom Krieg betroffen. Der "moderne" Krieg basiert auf einer gigantischen industriellen Maschine, die die mehrfach verstärkte Ausbeutung des Proletariats erfordert.
Das Proletariat ist eine internationale Klasse, die kein Vaterland hat, aber der Krieg besteht darin, dass sich die Arbeiter um des Vaterlandes willen, das sie ausbeutet und unterdrückt, gegenseitig umbringen.
Als Klasse, die nicht nach einer neuen Form der Ausbeutung strebt, sondern nach der Abschaffung aller Ausbeutung, und die kein besonderes Interesse hat, ist das Proletariat die Klasse des Bewusstseins; der Krieg hingegen ist die irrationale Konfrontation, das Ende jeglichen freien Denkens.
Das Interesse des Proletariats besteht darin, nach der klarsten Wahrheit zu suchen; in Kriegen ist das erste Opfer die Wahrheit.
Das Proletariat ist die Klasse der Einheit über die Grenzen von Sprache, Religion, Rasse oder Nationalität hinweg; Krieg ist Spaltung und tödliche Konfrontation, die durch Sprache, Religion, Rasse oder Nationalität zerrissen wird.
Die wichtigste Stärke des Proletariats ist die Solidarität, die durch den Krieg, der die Vernichtung aller Menschen zur einzigen Tätigkeit macht, weggefegt wird.
Das Proletariat ist die Klasse des gegenseitigen Vertrauens, der Krieg verlangt Misstrauen, Angst vor dem "Fremden", den abartigsten Hass.
Da der Krieg die tiefste Faser des proletarischen Wesens angreift, erfordert der generalisierte Krieg die vorherige Niederlage des Proletariats. Der erste Weltkrieg war möglich, weil die damaligen Parteien der Arbeiterklasse, die sozialistischen Parteien, zusammen mit den Gewerkschaften unsere Klasse verrieten und sich mit ihren Bourgeoisien im Rahmen der NATIONALEN UNION gegen den Feind verbündeten.
Doch dieser Verrat vermochte die proletarische Antwort nicht zu unterdrücken. 1915 versammelte sich die Linke der Sozialdemokratie in Zimmerwald und zeigte das Banner des Kampfes für die Weltrevolution. Dies trug zur Entstehung von Massenkämpfen bei, die den Weg für die Revolution in Russland 1917 und die weltweite Welle von 1917-23 ebneten. Eine bleibende Lektion von 1917-18! Der Erste Weltkrieg wurde nicht durch diplomatische Verhandlungen oder durch die Eroberungen dieses oder jenes Imperialismus beendet, er wurde durch den internationalen revolutionären Aufstand des Proletariats beendet. Nur das Proletariat kann der Kriegsbarbarei ein Ende setzen, indem es seinen Klassenkampf auf die Zerstörung des Kapitalismus richtet.
Um den Weg zum Zweiten Weltkrieg zu eröffnen, sorgte die Bourgeoisie nicht nur für die physische, sondern auch für die ideologische Niederlage des Proletariats. Das Proletariat war überall dort gnadenlosem Terror ausgesetzt, wo seine revolutionären Versuche am weitesten gegangen waren: in Deutschland unter dem Nationalsozialismus, in Russland unter dem Stalinismus. Gleichzeitig wurde es aber auch ideologisch umworben, indem man die Fahnen des Antifaschismus und der Verteidigung des "sozialistischen Vaterlandes", der UdSSR, schwang.
„Es wurde im Gegenteil, an Händen und Füssen gefesselt, von „Sieg zu Sieg“ in den zweiten imperialistischen Krieg geführt, der ihm im Gegensatz zum ersten nicht erlauben sollte, auf revolutionäre Weise in den Vordergrund zu treten, sondern zu seiner Integration in die „siegreichen Bewegungen“ der „Résistance“, des „Antifaschismus oder der kolonialen und nationalen „Befreiung“ geführt hat.“ (Manifest des ersten Internationalen Kongresses der IKS 1975).
Seit der historischen Wiederaufnahme des Klassenkampfes im Jahr 1968 und während der gesamten Periode, in der die Welt in zwei imperialistische Blöcke geteilt war, hat die Arbeiterklasse in den wichtigsten Ländern die vom Krieg geforderten Opfer abgelehnt, und erst recht, an die Front zu gehen, um für das Vaterland zu sterben, was die Tür zu einem Dritten Weltkrieg geschlossen hat. Und daran hat sich seit 1989 nichts geändert.
Die "Nicht-Mobilisierung" des Proletariats in den Kernländern für den Krieg ist jedoch NICHT ausreichend. Aus der historischen Entwicklung seit 1989 lässt sich eine zweite Lehre ziehen: Weder die einfache Weigerung, sich an Kriegsoperationen zu beteiligen, noch ein einfacher Widerstand gegen die kapitalistische BARBAREI reichen aus. EIN VERHARREN IN DIESEM STADIUM WIRD DEN KURS AUF DIE ZERSTÖRUNG DER MENSCHHEIT NICHT AUFHALTEN.
Das Proletariat muss sich auf das politische Terrain der allgemeinen internationalen Offensive gegen den Kapitalismus begeben. „ Nur...
... wird es dem Proletariat ermöglichen, den Angriffen des Kapitalismus jeweils entgegenzutreten, um letztendlich in die Offensive überzugehen und dieses barbarische System niederzureißen.“ (Thesen zum Zerfall [10], These 17)
Der Hintergrund für die Anhäufung von Zerstörung, Barbarei und Katastrophen, die wir anprangern, ist die unumkehrbare Wirtschaftskrise des Kapitalismus, die die Grundlage für sein gesamtes Funktionieren bildet. Seit 1967 ist der Kapitalismus in eine Wirtschaftskrise geraten, aus der er sich auch 50 Jahre später nicht befreien kann, im Gegenteil, wie die wirtschaftlichen Erschütterungen seit 2018 und die lähmende Eskalation der Inflation zeigen, verschlimmert sie sich erheblich, mit ihren Folgen von Elend, Arbeitslosigkeit, Prekarität und Hungersnot.
Die kapitalistische Krise berührt die Grundfesten dieser Gesellschaft. Inflation, Prekarität, Arbeitslosigkeit, höllische Arbeitsrhythmen und Arbeitsbedingungen, die die Gesundheit der ArbeiterInnen zerstören, unbezahlbarer Wohnraum zeugen von einer unaufhaltsamen Verschlechterung des Lebens der Arbeiterklasse, und obwohl die Bourgeoisie versucht, alle erdenklichen Spaltungen zu schaffen, indem sie bestimmten Kategorien von ArbeiterInnen "privilegiertere" Bedingungen zugesteht, sehen wir im Ganzen einerseits, was möglicherweise die schwerste Krise in der Geschichte des Kapitalismus sein wird, und andererseits die konkrete Realität der absoluten Verelendung der Arbeiterklasse in den zentralen Ländern, jene Ankündigung, die Marx für die historische Perspektive des Kapitalismus gemacht hat und über die sich die Ökonomen und andere Ideologen der Bourgeoisie so sehr mokiert haben.
Die unaufhaltsame Verschärfung der Krise des Kapitalismus ist ein wesentlicher Anreiz für den Kampf und das Klassenbewusstsein. Der Kampf gegen die Auswirkungen der Krise ist die Grundlage für die Entwicklung ihrer Stärke und Einheit. Die Wirtschaftskrise wirkt sich direkt auf die Infrastruktur der Gesellschaft aus; daher legt sie die Ursachen der gesamten Barbarei, die über der Gesellschaft hängt, offen und ermöglicht es dem Proletariat, sich der Notwendigkeit einer radikalen Veränderung des Systems bewusst zu werden und nicht mehr so zu tun, als ob man einige Aspekte des Systems verbessern könnte.
Im Kampf gegen die brutalen Angriffe des Kapitalismus und insbesondere gegen die Inflation, die die ArbeiterInnen in ihrer Gesamtheit allgemein und wahllos trifft, werden sie ihre Kampfbereitschaft entwickeln, sie werden beginnen können, sich als eine Klasse zu erkennen, die eine Kraft, eine Autonomie und eine historische Rolle in der Gesellschaft zu spielen hat. Diese politische Entwicklung des Klassenkampfes wird die Arbeiterklasse in die Lage versetzen, den Krieg zu beenden, indem sie dem Kapitalismus ein Ende setzt.
Diese Perspektive zeichnet sich allmählich ab: "Angesichts der Angriffe der Bourgeoisie, zeigt die Arbeiterklasse in Großbritannien, dass sie wieder bereit ist, für ihre Würde zu kämpfen und die Opfer abzulehnen, die ihr das Kapital immer wieder auferlegt. Und wieder einmal spiegelt sie am deutlichsten die internationale Dynamik wider: Letzten Winter brachen in Spanien und den USA Streiks aus; diesen Sommer kam es auch in Deutschland und Belgien zu Arbeitsniederlegungen; für die kommenden Monate sagen alle Kommentatoren eine "explosive soziale Situation" in Frankreich und Italien voraus. Es ist unmöglich vorherzusagen, wo und wann sich die Kampfbereitschaft in naher Zukunft wieder massiv manifestieren wird, aber eines ist sicher: Das Ausmaß der derzeitigen Mobilisierungen der Arbeiterklasse in Grossbritannien stellt eine wichtige historische Tatsache dar. Es ist vorbei mit der Passivität, mit der Unterwerfung. Die neue Generation von Arbeitern und Arbeiterinnen erwacht." (IKS, Internationales Flugblatt, Sommer des Zorns in Großbritannien: Die Bourgeoisie erzwingt neue Opfer. Die Arbeiterklasse antwortet mit Streiks [58], August 2022)
Wir erleben einen Bruch mit der früheren Passivität und Orientierungslosigkeit. Die Rückkehr der Kampfbereitschaft als Reaktion auf die Krise kann zu einem Bewusstseinsschwerpunkt werden, der durch die Intervention kommunistischer Organisationen belebt wird. Es ist klar, dass jede Beschleunigung des Zerfalls die kämpferischen Bemühungen der ArbeiterInnen verlangsamt: die Bewegung in Frankreich 2019 wurde durch den Ausbruch der Pandemie geschwächt; die Kämpfe des Winters 2021 wurden durch den Krieg in der Ukraine unterbrochen, usw. Dies bedeutet eine zusätzliche Schwierigkeit für die Entwicklung der Kämpfe. Aber es gibt keinen anderen Weg als den Kampf, der Kampf selbst ist der erste Sieg.
Das Weltproletariat behält selbst in einem zwangsläufig schwierigen Prozess, der von den politischen und gewerkschaftlichen Apparaten seines Klassenfeindes mit Hindernissen und Fallen gespickt wird und bittere Niederlagen mit sich bringt, seine Fähigkeiten intakt, um seine Klassenidentität wiederzufinden und endlich eine internationale Offensive gegen dieses sterbende System zu starten.
Die zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts werden daher für die historische Entwicklung von großer Bedeutung sein. Sie werden – wie wir bereits seit 2020 gesehen haben – deutlicher als in der Vergangenheit die Perspektive der Zerstörung der Menschheit aufzeigen, die der kapitalistische Zerfall in sich birgt. Am anderen Pol wird das Proletariat beginnen, die ersten Schritte zu machen, oft zögerlich und voller Schwächen, in Richtung seiner historischen Fähigkeit, die kommunistische Perspektive zu erheben. Wir stehen vor den beiden Polen der Perspektive, die Zerstörung der Menschheit oder die kommunistische Revolution, obwohl letztere noch weit entfernt ist und auf enorme Hindernisse stößt.
Es ist selbstmörderisch für das Proletariat, sich vor den gigantischen Hindernissen zu verstecken oder sie zu unterschätzen, die sowohl von den Aktionen des Kapitals und seiner Staaten als auch von der Situation der Fäulnis selbst ausgehen, die die soziale Atmosphäre in der ganzen Welt vergiftet:
1) Die Bourgeoisie hat die Lehren aus dem großen Schrecken gezogen, den ihr der anfängliche Triumph der Revolution in Russland und die weltweite Welle von 1917-23 beschert haben, sie konnte "in der Praxis" beweisen, was das Kommunistische Manifest 1848 ankündigte: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.“ Die Bourgeoisie hat mit dem Proletariat „ihre eigenen Totengräber“ geschaffen.
a. Sie arbeitet international zusammen gegen das Proletariat, wie man angesichts der Revolution in Russland 19171 und in Deutschland 1918 oder angesichts des Massenstreiks in Polen 1980 gesehen hat.[2]
b. Sie hat einen gigantischen Apparat zur Kontrolle, Ablenkung und Sabotage der Arbeiterkämpfe entwickelt, der von den Gewerkschaften und den Parteien aller Couleur, von der extremen Rechten bis zur extremen Linken, gebildet wird.
c. Sie nutzt alle Instrumente ihres Staates und der Massenmedien, um ständige ideologische Kampagnen zu führen und politische Manöver zu artikulieren, die das proletarische Bewusstsein und den proletarischen Kampf stören.
2) Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft verschärft den Mangel an Vertrauen in die Zukunft und des Proletariats in sich selbst, das "Jeder für sich", die soziale Zersplitterung in gegensätzliche Kategorien, der Korporatismus, sind erhebliche Hindernisse für die Entwicklung der Arbeiterkämpfe und vor allem für ihre revolutionäre Politisierung.
3) In diesem Zusammenhang besteht die Gefahr, dass das Proletariat in klassenübergreifende Kämpfe oder in Bewegungen hineingezogen wird, die es auf ein bürgerliches Terrain zerren, wie Feminismus, Antirassismus usw.
4) „In der Tat muß man verdeutlichen, daß heute die Zeit im Gegensatz zu den siebziger Jahren nicht mehr zugunsten der Arbeiterklasse arbeitet. Solange die Gefahr der Zerstörung der Gesellschaft nur durch den imperialistischen Krieg ausging, reichte die bloße Tatsache, daß die Kämpfe des Proletariats in der Lage waren, sich als entscheidende Barriere gegen eine solche "Lösung" zu behaupten, aus, um den Weg zu dieser Zerstörung zu versperren. Doch im Gegensatz zum imperialistischen Krieg, der für seine Entfesselung das Bekenntnis der Arbeiterklasse zu den Idealen der Bourgeoisie erfordert, benötigt der Zerfall keineswegs die Mobilisierung der Arbeiterklasse, um die Menschheit zu zerstören. So wie sie nicht dem wirtschaftlichen Zusammenbruch trotzen können, so sind die Kämpfe des Proletariats in diesem System auch nicht in der Lage, den Zerfall zu bremsen. Daher ist, selbst wenn die Gefahr, die der Zerfall für das Leben der Gesellschaft darstellt, viel langfristiger erscheint als jene, die von einem Weltkrieg ausgeht (falls die Bedingungen dafür existieren, was heute nicht der Fall ist), diese Gefahr umso heimtückischer.“ (Thesen zum Zerfall, These 16).
Dieses Ausmaß an Gefahren sollte uns nicht in Fatalismus verfallen lassen. Die Stärke des Proletariats ist das Bewusstsein seiner Schwächen, seiner Schwierigkeiten, der Hindernisse, die der Feind oder die Situation selbst gegen seinen Kampf errichten. „Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen Hic Rhodus, hic salta!“ (Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, Band 8, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, S. 115-123, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1972)
In ernsten historischen Situationen wie den großen Kriegen wie in der Ukraine kann das Proletariat erkennen, wer seine Freunde und wer seine Feinde sind. Feinde sind nicht nur die großen Führer wie Putin, Selenski oder Biden, sondern auch die Parteien der extremen Rechten, der Rechten, der Linken und der extremen Linken, die mit den unterschiedlichsten Argumenten, einschließlich Pazifismus, den Krieg unterstützen und rechtfertigen.
Seit mehr als einem Jahrhundert hat nur die Kommunistische Linke systematisch und konsequent den imperialistischen Krieg verurteilt und die Alternative des Klassenkampfes des Proletariats, seine Ausrichtung auf die Zerstörung des Kapitalismus durch die proletarische Weltrevolution verteidigt.
Der Kampf des Proletariats beschränkt sich nicht nur auf seine Verteidigungskämpfe oder Massenstreiks. Ein unverzichtbarer, ständiger und untrennbarer Bestandteil davon ist der Kampf ihrer kommunistischen Organisationen und konkret, seit einem Jahrhundert, der Kommunistischen Linken. Die Einheit aller Gruppen der Kommunistischen Linken ist angesichts der kapitalistischen Dynamik der Zerstörung der Menschheit unerlässlich. Wie wir im Manifest unseres ersten Kongresses (1975) sagten: „Dem Monolithismus der Sekten den Rücken zuwendend, ruft die Internationale Kommunistische Strömung die Kommunisten aller Länder auf, sich der ungeheuren Verantwortung bewusst zu werden, die die ihre ist, die künstlichen Streitigkeiten aufzugeben, die sie entzweien, die künstlichen Spaltungen zu überwinden, die die alte Gesellschaft ihnen aufgebürdet hat. Die IKS ruft sie auf, sich um diese Aufgabe zusammenzuschließen um vor Beginn der entscheidenden Kämpfe die internationale, vereinte Organisation der Avantgarde zu bilden. Als bewussteste Fraktion der Klasse sind es sich die Kommunisten schuldig, ihr den Weg zu zeigen, indem sie sich die Losung "REVOLUTIONÄRE ALLER LÄNDER, VEREINIGT EUCH" zu eigen machen.“
IKS, Dezember 2022
[1] Angesichts des revolutionären Versuchs in Deutschland im Jahr 1918 erklärte sich der Sozialdemokrat Noske bereit, die Rolle des "Bluthunds" der Konterrevolution zu übernehmen.
[2] Die vereinigten Armeen der USA, Frankreichs, Großbritanniens und Japans arbeiteten ab April 1918 mit den Überresten der ehemaligen zaristischen Armee in einem schrecklichen Bürgerkrieg zusammen, der 6 Millionen Menschen das Leben kostete.
Links
[1] https://de.internationalism.org/files/de/internationale_revue_58.pdf
[2] https://de.internationalism.org/content/758/orientierungstext-militarismus-und-zerfall
[3] https://world.internationalism.org
[4] https://www.istitutoonoratodamen.it/
[5] https://en.internationalistvoice.org/
[6] http://communistleft.jinbo.net/xe/
[7] https://de.internationalism.org/content/2862/resolution-ueber-das-kraefteverhaeltnis-zwischen-den-klassen-2019
[8] https://de.internationalism.org/content/2853/vor-fuenfzig-jahren-mai-68-die-fortschritte-und-rueckzuege-im-klassenkampf-seit-1968
[9] https://de.internationalism.org/content/1373/nach-dem-zusammenbruch-des-ostblocks-destabilisierung-und-chaos
[10] https://de.internationalism.org/content/748/der-zerfall-die-letzte-phase-der-dekadenz-des-kapitalismus
[11] https://de.internationalism.org/content/3005/24-internationaler-kongress-der-iks-resolution-zur-internationalen-lage
[12] https://de.internationalism.org/files/de/gegen_die_angriffe_der_bourgeoisie_brauchen_wir_einen_vereinten_und_massiven_kampfneu.pdf
[13] https://de.internationalism.org/content/3064/aktualisierung-des-orientierungstextes-von-1990-militarismus-und-zerfall-mai-2022
[14] https://de.internationalism.org/files/de/2022_flugblatt_ukraine.pdf
[15] https://de.internationalism.org/content/731/internationale-revue-13
[16] https://de.internationalism.org/content/2926/bericht-ueber-den-zerfall-heute-mai-2017
[17] http://www.mlwerke.de/me/me13/me13_007.htm
[18] https://de.internationalism.org/ir/5/1980_kurs
[19] https://de.internationalism.org/content/3059/bericht-ueber-die-imperialistischen-spannungen-mai-2022-bedeutung-und-auswirkungen-des
[20] https://fr.internationalism.org/nation_classe.htm#_ftnref2
[21] https://fr.internationalism.org/rinte37/debat.htm
[22] https://en.internationalism.org/content/9523/aftermath-world-war-two-debates-how-workers-will-hold-power-after-revolution
[23] https://en.internationalism.org/series/395
[24] https://en.internationalism.org/internationalreview/201409/10368/nature-and-function-proletarian-party
[25] https://en.internationalism.org/content/1588/period-transition-preface
[26] https://en.internationalism.org/icconline/2006/groupe-communiste-internationaliste
[27] https://www.leftcom.org/en/articles/2014-10-07/the-period-of-transition-and-its-dissenters
[28] https://en.internationalism.org/wr/230_Fbarrot.htm
[29] https://en.internationalism.org/internationalreview/201303/6505/communism-not-nice-idea-vol-3-part-10-bilan-dutch-left-and-transitio
[30] https://en.internationalism.org/internationalreview/200001/9646/1921-proletariat-and-transitional-state
[31] https://en.internationalism.org/content/4092/state-and-dictatorship-proletariat
[32] https://en.internationalism.org/content/2648/state-period-transition
[33] https://de.internationalism.org/content/2881/bericht-des-23-internationalen-kongresses-der-iks-ueber-den-klassenkampf-bildung
[34] https://de.internationalism.org/content/2888/angesichts-der-globalen-wirtschaftskrise-und-der-armut-volksrevolten-sind-eine
[35] mailto:[email protected]
[36] https://en.internationalism.org/internationalreview/200401/317/1903-4-birth-bolshevism
[37] https://de.internationalism.org/content/1460/deutsche-revolution-vi
[38] https://de.internationalism.org/content/1077/die-i-internationale-und-der-kampf-gegen-das-sektierertum
[39] https://de.internationalism.org/content/1078/der-haager-kongress-von-1872-der-kampf-gegen-den-politischen-parasitismus
[40] https://de.internationalism.org/content/1080/der-kampf-des-marxismus-gegen-das-politische-abenteurertum
[41] https://de.internationalism.org/content/2898/lassalle-und-schweitzer-der-kampf-gegen-politische-abenteurer-der-arbeiterbewegung
[42] https://marxwirklichstudieren.files.wordpress.com/2012/11/mew_band34.pdf
[43] http://www.mlwerke.de/me/me19/me19_150.htm
[44] https://library.fes.de/fulltext/bibliothek/chronik/band1/e235e623.html
[45] https://en.internationalism.org/content/3146/discussion-opportunism-and-centrism-working-class-and-its-organizations
[46] https://de.internationalism.org/content/58/vor-100-jahren-die-revolution-von-1905-russland-teil-i
[47] https://de.internationalism.org/content/2473/1914-wie-der-deutsche-sozialismus-dazu-kam-die-arbeiterinnen-zu-verraten
[48] https://en.internationalism.org/ir/97_kapd.htm
[49] https://en.internationalism.org/internationalreview/200407/304/1903-1904-birth-bolshevism-lenin-and-luxemburg
[50] https://de.internationalism.org/content/861/das-verhaeltnis-fraktion-partei-der-marxistischen-tradition-von-marx-bis-lenin-1848-1917
[51] https://www.marxists.org/archive/pannekoe/1907/social-democrat.htm
[52] https://en.internationalism.org/icconline/201206/4977/notes-toward-history-art-ascendant-and-decadent-capitalism
[53] https://en.internationalism.org/content/14445/communism-agenda-history-castoriadis-munis-and-problem-breaking-trotskyism
[54] https://en.internationalism.org/international-review/201808/16490/castoriadis-munis-and-problem-breaking-trotskyism-second-part-cont
[55] https://de.internationalism.org/iksonline/den-mai-verstehen-nachdruck-aus-revolution-internationale-nr-2-1969
[56] https://en.internationalism.org/go_deeper
[57] https://de.internationalism.org/content/3017/bericht-zur-wirtschaftskrise-fuer-den-24-internationalen-kongress-der-iks
[58] https://de.internationalism.org/content/3070/sommer-des-zorns-grossbritannien-die-bourgeoisie-erzwingt-neue-opfer-die-arbeiterklasse
[59] https://de.internationalism.org/files/de/beilage-manifest-digital_0.pdf