Noch vor kurzem hat Sarah Palin, die Vizepräsidentschaftskandidatin an der Seite des Wettbewerbers John McCain um das Präsidentenamt in den USA, ohne zu zögern behauptet, dass die Menschen und die Dinosaurier noch vor 6.000 Jahren gleichzeitig auf der Erde lebten, obwohl die Wissenschaft bewiesen hat, dass die letzten Dinosaurier von der Erdoberfläche vor mehr als 65.000.000 Jahren verschwunden sind, lange bevor der erste Homo Sapiens erschienen ist. Diese Ignoranz der historischen Entwicklung der Arten stellt eine direkte Fortsetzung der heute noch weit verbreiteten religiösen kreationistischen Doktrin dar. Wie weit dieses Dogma verbreitet ist, zeigt sich anhand der Neuerfindung der Geschichte des Universums, die zur Eröffnung einer Reihe von christlichen kreationistischen Museen in den USA seit 2005 geführt hat (insbesondere in Kentucky oder in Cincinnati, Ohio, und in einem Vergnügungspark, der 2007 in Lancashire, Großbritannien mittels der Initiative einer Gruppe von amerikanischen Geschäftsleuten eröffnet wurde, in dem versucht wird, die Entstehung des Universums in sieben Tagen in Übereinstimmung mit einer wortgetreuen Interpretation der Bibel zu erklären). Es ist schwierig, in Anbetracht des Hollywood- und operettenartigen Charakters dieser Disneylands oder Jurassic Parks, die die Ignoranz, die Leichtgläubigkeit und religiösen Vorurteile der Leute ausschlachten, dies alles ernst zu nehmen. Dennoch ist der Erfolg dieser obskurantistischen Ideologie besorgniserregend: mehr als 20% der Bevölkerung Flanderns und fast ein Amerikaner von zwei neigen Umfragen zufolge zu einer kreationistischen Sichtweise der Welt und zu einer feindseligen Haltung gegenüber der Evolutionstheorie, wie sie von Charles Darwin aufgestellt worden ist.
Vor 150 Jahren, im November 1859, veröffentlichte Darwin « Der Ursprung der Arten ». Dieses Werk, das auf der Ansammlung von Beobachtungen und Experimenten in der Natur fußte, hat die Sicht vom Ursprung des Menschen und seines Platzes unter den Lebewesen umgewälzt. Er zeigte zum ersten Mal auf, dass es eine gemeinsame Grundlage der Entwicklung der Arten und Lebewesen gab, wobei er sich auf die früheren Arbeiten der Naturalisten wie Buffon und Linné bis zu Lamarck stützte und über diese hinausging. Darwin’s Theorie versuchte auf dialektische, exakte und wissenschaftliche Art und Weise die Anpassungsfähigkeit der Lebewesen innerhalb ihrer Umgebung zu beweisen und diese Theorie in eine neue Auffassung von der Entwicklung der Arten zu integrieren. Dabei entstand die Auffassung eines gemeinsamen Stammbaums aller Lebewesen, bei dem der Mensch nicht mehr ein auserwähltes, von Gott geschaffenes Lebewesen ist, sondern das zufällige Ergebnis einer Herausdifferenzierung der Arten. Dies stellte eine radikale Infragestellung der «Lehren» der Bibel und ihrer Genese dar, denn er verwarf damit die Idee der Schöpfung Gottes und all der monotheistischen religiösen Traditionen (Christentum, Judentum, Islam). Diese materialistische und wissenschaftliche Herangehensweise Darwin’s wurde sofort von allen Seiten aufs heftigste angegriffen, insbesondere von den gleichen religiösen Dogmatikern, die das Gedankengut Galileis und Kopernikus an den Pranger gestellt hatten (beides Theoretiker, von denen der erste in seinen wissenschaftlichen Entdeckungen den religiösen Geozentrismus verwarf, der davon ausging, dass die Erde der Mittelpunkt des Universums und vor allem das Zentrum der Schöpfung Gottes sei).
Der Skandal dieser Entdeckung Darwin’s bestand nicht so sehr in der Beweisführung der Entwicklung der Arten, sondern in der Tatsache, dass die in der Entwicklung stattfindenden Austausche keineswegs irgendeinem Zweck in der Natur folgten. Der «Stammbaum des Lebens» ähnelt nicht einem großen, hierarchisch aufgebauten genealogischen Baum, mit einer Grundlage und einem Gipfel, dessen Endergebnis der Mensch, Homo Sapiens, ist, sondern einem sich verästelnden Baum, dessen Stamm alle älteren Lebensformen zusammenfasst, und bei dem der Mensch nur ein besonderes Wesen unter unzähligen Millionen anderer Lebewesen ist. Diese Sicht leitet eine Verbindung und eine gemeinsame Abstammung zwischen den Menschen und den elementarsten Lebensformen wie den Amöben ab. All das scheint zahlreichen Leuten, die oft unbewusst unter dem Zwang religiöser Rückständigkeit leiden, unerträglich. Heute noch werden die Methode und die Herangehensweise Darwin’s ganz heftig angegriffen, obwohl alle wissenschaftlichen Beiträge der Paläontologie, Biologie, Genetik und anderer Wissenschaften die Gültigkeit der Theorie Darwin’s bestätigt haben. Die Religionen sind jedoch dazu gezwungen worden, die Fortsetzung ihres Kreuzzuges gegen Darwin zu kaschieren, indem sie eine Ideologie vorschlagen, die den religiösen Glauben unter dem Deckmantel einer alternativen pseudo- "wissenschaftlichen Konstruktion" aufrechterhalten soll: dem "intelligent Design". Der Kreationismus wird von der Kirche nicht mehr in der gleichen Art wie zur Zeit Darwin’s verteidigt. Erinnern wir uns an den Streit von 1860 zwischen dem Bischof von Oxford, Samual Wilberforce, und Thomas Huxley, einem energischen Verteidiger der Evolutionslehre. Man behauptet, dass der erste den zweiten verspottete, indem er ihn fragte: "Stammen Sie großväterlicherseits oder großmütterlicherseits vom Affen ab, Herr Huxley?" Dieser entgegnete ihm. "Niemand braucht sich zu schämen, einen Affen zum Urahn zu haben. Wenn ich mir einen Vorfahr aussuchen sollte und dabei wählen müsste zwischen einem Affen und einem gelehrten Mann, der seine Logik dazu missbraucht, ungeschulte Zuhörer in die Irre zu führen, und der eine schwerwiegende und philosophisch ernstzunehmende Fragestellung nicht mit sachlichen Argumenten angeht, sondern sie wissentlich der Lächerlichkeit preisgibt, wenn ich da wählen müsste, würde ich mich ohne zu zögern für den Affen entscheiden.“ Die katholische Kirche hat nie gewagt, den "Ursprung der Arten" auf die Liste der verbotenen Bücher zu setzen, aber sie hat das Buch halbamtlich verurteilt, indem sie eine heimtückischere und hinterlistigere Doktrin verbreitet: "das intelligente Design". Dieser "Theorie" zufolge hätte es sehr wohl Evolution gegeben, aber sie sei gewünscht und "gesteuert" gewesen durch eine "göttliche Kraft". Auch sei der Mensch kein "Zufallsprodukt der Natur", sondern Ergebnis des Willens eines allmächtigen Schöpfers, der ihn so "konzipiert" und "programmiert" habe.
Diese Variante des Kreationismus profitiert von der gegenwärtig erstarkenden Popularität spiritualistischer, obskurantistischer und sektenhafter Ideologien. Diese reaktionären Ideologien werden oft direkt von bestimmten Fraktionen der Herrschenden verbreitet, die diese als Manipulationsmittel für durch Armut, Barbarei und Perspektivlosigkeit im Kapitalismus desorientierte und verzweifelte Leute benutzen. Dies treibt sie dazu, vor der objektiven Wirklichkeit zu flüchten, indem sie sich in irgendeinen Glauben stürzen, einen blinden Glauben an ein Jenseits, an eine "höhere Ordnung", unsichtbar und allmächtig, welche außerhalb jeglichen verstandesmäßigen Denkens besteht. Der Glaube an einen allmächtigen Schöpfergott, wie auch das Wiederauftauchen aller möglichen Sekten (die übrigens daraus einen typisch kapitalistischen Nutzen ziehen), wird von den Ideologen des New Age ausgeschlachtet, um die Ängste und das Leiden all der Unglücklichen zu kristallisieren, die durch die Sackgasse der kapitalistischen Gesellschaft entstanden sind. Diese Feststellung belegt die Richtigkeit der Analyse, die Marx schon von 1843 an in „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ machte. „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“ (K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEW 1, S. 378). Die Religion ist immer das erste Bollwerk der konservativen und reaktionären Kräfte zur Betäubung des Bewusstseins gegen den wissenschaftlichen Fortschritt. Sie versucht sich anzupassen, um den Status quo aufrechtzuerhalten, indem sie immer behauptet eine Zuflucht für den "Trost der Unglücklichen dieser Gesellschaft" zu sein, damit sie sich einem Glauben und vor allem einer bestehenden gesellschaftlichen Ordnung unterwerfen.
"Intelligent Design" beansprucht in den Rang einer wissenschaftlichen Theorie eingestuft zu werden, weil man die Evolutionslehre und den Kreationismus unter einen Hut bringen wolle. "Intelligent Design" stellt die beiden auf irreführende Weise jeweils als eine "philosophische Wahl" zwischen zwei konkurrierenden Flügeln dar. Der Vorläufer des "intelligent Design", der Jesuit Teilhard de Chardin (1881-1955) versuchte zum Beispiel in den 1920er Jahren zu beweisen, dass es eine Teleologie gäbe, eine Zweckbestimmtheit in der Evolution, die als "Omega-Punkt", als der göttliche Pol der Konvergenz und der Harmonisierung bezeichnet und definiert wird, welcher in der "Noosphäre" gipfelt, einer Art himmlischer Glückseligkeit, die durch den göttlichen Geist getragen wird. Mehr noch als der Katholizismus sammelten sich im Protestantismus und seinen verschiedenen "evangelischer Kirchen", die sich auf eine eher wortgetreue Auslegung der Bibel berufen, die entschlossensten Gegner Darwin’s (dies ist der Grund für den Erfolg des „intelligent Design“ in den USA, insbesondere in der Amtszeit von G.W. Bush, als die Regierung diese quasi offen unterstützte). Die gegenwärtigen Propagandaziele des „intelligent Design“ wurden klar von dem "think tank" der Bewegung, dem Discovery Institute, in einem internen Dokument "The Wedge" zusammengefasst. Aufgrund einer undichten Stelle im Think Tank wurde der Text 1999 bekannt. In diesem Dokument werden die Hauptziele des Discovery Institutes ganz klar definiert: Erstens geht es ihnen darum, "den wissenschaftlichen Materialismus und seine moralischen, kulturellen und wissenschaftlichen Erben zu besiegen; die materialistischen Erklärungen schließlich zu ersetzen durch ein Begreifen, dass die Natur und der Mensch durch Gott geschaffen wurden". Er setzt sich das kurz- und mittelfristige Ziel, "dass die Theorie des „intelligent Design“ zu einer von den Wissenschaften akzeptierten Alternative wird, und dass wissenschaftliche Untersuchungen aus der Perspektive der Theorie des Designs unternommen werden; dass Hilfe beim Anschub geleistet wird für den Einfluss der Theorie des Designs in anderen Bereichen als den Naturwissenschaften; dass neue Grundsatzdebatten in der Bildung begonnen werden, bei denen lebensbezogene Themen aufgegriffen werden, die persönliche Haftung und Verantwortung wieder auf die nationale Tagesordnung gesetzt werden". Die Hauptstoßkraft der Offensive dieses Dogmas richtet sich deshalb auf die schulische Bildung und das Erziehungswesen insgesamt sowie gleichzeitig auf die juristische Ebene, während gleichzeitig versucht wird, in Wissenschaftskreisen Verwirrung zu stiften, um Anhänger in allen Teilen der Gesellschaft zu werben, insbesondere dank intensiver Werbung und einer Kampagne der Meinungsbildung (publicity and opinion making). Das Internet hat ihm ebenfalls neue Möglichkeiten zur Verbreitung seiner Propaganda eröffnet, so wie damals die Missionare zur "Bekehrung" der Welt im Zeitalter der Einverleibung neuer Kolonien aufbrachen. Sie arbeiten nach dem Prinzip, dass „intelligent Design“ als eine "wissenschaftliche" Hypothese dargestellt wird, die mit dem Darwinismus im Wettbewerb stehe. „Intelligent Design“ verfolgt auch das Ziel, «dass die Theorie des “intelligent Design“ als die vorherrschende Perspektive in den Wissenschaften angesehen wird, und dass die Ergebnisse der Theorie des “intelligent Designs“ in spezifischen Bereichen wie Molekularbiologie, Biochemie, Paläontologie, Physik und Kosmologie in den Naturwissenschaft angewandt werden, sowie in der Psychologie, Ethik, Politik, Theologie, Philosophie und Literaturwissenschaften und im Bereich der Kunst.» Aber diese Offenlegung der fundamentalistischen Absichten des „intelligent Design“ in der Öffentlichkeit hat auch eine Kehrseite der Medaille: seine Hauptverbreiter konnten die Existenz dieses Dokumentes nicht mehr leugnen. Heute verbreiten sie eine etwas entschärftere Version.
Aber dieses Projekt ist vor allem in der muslimischen Welt auf großen Widerhall gestoßen. Von der Türkei aus hat Harun Yahia, sein richtiger Name ist Adnan Oktar, an der Spitze einer mafiösen Lobby alles daran gesetzt, seine Propaganda kostenlos und massiv unter Lehrern und Leitern von Ausbildungseinrichtungen, Schulen usw. zu verbreiten. Er hat Schulen auf der ganzen Welt mit seinem "Atlas der Schöpfung" überflutet, der auch im Internet verbreitet wird. So wurden mehr als 200 Dokumentarfilme vertrieben und 300 Werke in mehr als 60 Sprachen übersetzt. Die Versuche, die Geschichte der Entwicklung der Arten und der Lebewesen zu verfälschen, sind wie all die von den herrschenden Klassen aufgetischten Lügen bezüglich der Geschichte der Menschheit, Teil der gleichen Manipulierungsversuche, um die Bewusstseinsentwicklung zu bremsen (insbesondere die Bewusstseinsentwicklung der Arbeiterklasse), sie daran zu hindern, sich von ihren Fesseln zu befreien. Und der Obskurantismus schlachtet so die Fäulnis der kapitalistischen Gesellschaft und die ideologische Maske, die sie über die Wirklichkeit der Welt legen, aus, um die Ausbeutungsverhältnisse aufrechtzuerhalten. Die religiöse Herangehensweise ist nur eine dieser Masken.
Religiöser Glauben und Wissenschaft sowie wissenschaftliche Methoden stehen sich völlig gegenüber. Aus der Sicht der Religion und der theologischen Tradition sind Wissen und Erkenntnis letztendlich nur das Resultat einer göttlichen Schöpfung. Den normal Sterblichen sind sie nicht zugänglich. Die materialistische Vorgehensweise in der Wissenschaft: Tatsachen und die Untersuchung von unterschiedlichen oder ähnlichen Reaktionen je nach dem Umfeld sind die Grundlagen jeden wissenschaftlichen Experiments. Sie ist weder eine "Philosophie" noch eine "Ideologie", sondern die notwendige Vorbedingung für eine bewusste und historische Herangehensweise der Untersuchung der Beziehungen zwischen den Menschen und ihrer natürlichen Umgebung, auch indem man das eigene Verhalten als Untersuchungsgegenstand nimmt. Dies ist eine Untersuchung der Grenzen der Erkenntnis, für die keine Grenzen gesetzt werden können. Die Entwicklung der Wissenschaft ist aufs engste verbunden mit der Entwicklung des Gewissens der Menschheit. Die Wissenschaft hat eine Geschichte, die weder linear noch mechanisch mit dem technischen Fortschritt verbunden ist oder mit den technologischen Fortschritten (was jeden "Positivismus", jeden Gedanken eines unaufhörlichen "Fortschritts" ausschließt). Sie ist eng mit den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen verflochten, durch welche sie bestimmt werden. Der Glauben stützt sich auf die Angst vor dem Unbekannten. Im Gegenteil zu den religiösen Vorurteilen (die vor allem eine Ideologie im Dienste der herrschenden Ordnung, der bestehenden Macht sind, welche ihren Fortbestand durch den Konservatismus und die Verteidigung des Status quo sicherstellen) ist die Entwicklung des Bewusstseins die treibende Kraft bei der Entwicklung der Wissenschaft. So fürchtet die wissenschaftliche Methode nicht die Infragestellung ihrer Hypothesen, die Umwälzung ihrer Errungenschaften; aus diesem Grunde hat sie sich weiter entfaltet, deshalb ist sie dynamisch. Wie Patrick Tort (L'effet Darwin, S. 170) schrieb: "Die Wissenschaft erfindet, schreitet voran und wandelt sich. Die Ideologie fängt und saugt alles auf, passt sich an.“
Und wie er in einem Artikel in "Le Monde de l'Education" im Juni 2005 schrieb: "Der "Dialog" zwischen Wissenschaft und Religion ist eine von der Politik erfundene Fiktion. Man kann nämlich zwischen einer Forschung, die der objektiven Erkenntnis immanent ist und Anrufung von etwas Übernatürlichem, die für die Haltung des Gläubigen typisch ist, nichts Gemeinsames aushandeln noch irgendetwas austauschen. Wenn man nur einmal zugibt, dass ein übernatürliches Element zur wissenschaftlichen Erklärung eines Phänomens beitragen könnte, verzichtete man gleichzeitig auf die methodologische Kohärenz der ganzen Wissenschaft. Die wissenschaftliche Methode kann nicht verhandelt werden. Es braucht die List des individualistischen Liberalismus (…), um davon zu überzeugen, dass man eine Wahl treffen kann zwischen einer wissenschaftlichen Erklärung und der theoretischen Interpretation, oder dass diese beiden kombiniert werden könnten, als ob die Anerkennung des Gesetzes des freien Falls eine Angelegenheit persönlicher Überzeugung, der elektiven Demokratie und der "Freiheit" wäre."
"Politik" hat dieser Ansicht nach nur einen Sinn als eine Politik der herrschenden Klasse. Deshalb wurde und wird die wissenschaftliche Herangehensweise eines Kopernikus, Marx, Engels oder Darwin so verbissen von den Verteidigern der "ewig" bestehenden Gesellschaftsordnung des Kapitalismus bekämpft oder entstellt.
W 24.11.09
Was war das für eine Euphorie in den Tagen und Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer! Ein ganzes Volk, Bourgeois und Arbeiter, Ost- und Westdeutsche, schwebte auf Wolke 7. „Wahnsinn“ war das am häufigsten benutzte Wort für die sich überschlagenden Geschehnisse damals. Und „freudetrunken“ der Begriff, der den Geisteszustand der Bevölkerung in Ost und West in jenen Tagen vielleicht am besten umschreibt. Die Erwartungen, die sich an der am 3. Oktober 1990 vollzogenen Wiedervereinigung knüpften, waren riesig. Die Arbeiter und Arbeiterinnen im Osten Deutschlands, also in der ehemaligen DDR, erhofften sich von ihr ein Leben in Freiheit und Wohlstand. Die Kapitalisten im Westen Deutschlands witterten ihrerseits große Geschäfte, riesige Märkte, die ihnen nun wie reife Früchte in den Schoß fielen. Die politische Klasse trug ihr Teil dazu bei, diesen Hoffnungen Auftrieb zu verleihen. Erinnert sei an die mittlerweile zum geflügelten Wort gewordene Formulierung von den „blühenden Landschaften“, die der damalige Bundeskanzler Kohl der ostdeutschen Arbeiterklasse versprach.
In diesem Jahr jährt sich der „Tag der deutschen Einheit“ nun zum zwanzigsten Mal. Zeit, eine Bilanz zu ziehen. Was ist aus all den Hoffnungen und Erwartungen geworden? Sind sie erfüllt worden, oder sind sie in der rauen Realität des Kapitalismus westlicher Prägung zerstoben? Was ist aus den „blühenden Landschaften“ geworden? Hat Ostdeutschland Anschluss gefunden an das Niveau der westdeutschen Gesellschaft, oder hinkt es nicht vielmehr noch immer hoffnungslos hinterher? Kurz: ist die deutsche Wiedervereinigung eine Erfolgsgeschichte, ein Impuls, der einen Aufbruch der deutschen Bourgeoisie zu neuen Ufern bewirkt hat? Oder ist sie nicht eher eine Demonstration dafür, dass im Zeitalter des Niedergangs des Weltkapitalismus die bloße territoriale Erweiterung, wie sie sich durch die Vereinigung beider deutscher Staaten ergeben hat, nicht nur zu einem Machtzuwachs der deutschen Bourgeoisie geführt hat, sondern auch ein Kraftakt war (und ist), der die wirtschaftliche und finanzielle Substanz der Bundesrepublik erheblich beeinträchtigt, wenn nicht sogar bedroht.
Als am 1. Juli 1990 die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der BRD und der DDR in Kraft trat, geschah dies vor dem Hintergrund einer nicht abreißenden Auswanderungswelle von DDR-Bürgern. Täglich strömten Tausende und Abertausende von Menschen über die nun nicht mehr existente Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland, um ihr Glück im „goldenen Westen“ zu suchen. Zum Teil verließen sie ihre Heimat Hals über Kopf, alles, in einigen wenigen Fällen sogar die eigenen Kinder, hinter sich lassend, so als befürchteten sie, der Traum von der „grenzenlosen Freiheit“ könne bald wieder zerplatzen.
Die herrschende Klasse Westdeutschlands stand also unter einem mächtigen Zugzwang, wollte sie dem Exodus aus Ostdeutschland Einhalt gebieten. Außerdem ging es darum, die Gunst der Stunde auszunutzen, um die deutsche „Wiedervereinigung“ zu einer nicht mehr rückgängig zu machenden Tatsache werden zu lassen. Ihre Lösung lautete: Angleichung der Lebensumstände Ostdeutschlands an den Westen – und zwar so schnell wie möglich und koste, was es wolle. So kamen über Nacht mehr als 17 Millionen DDR-Bürger (noch bestand die DDR) nicht nur in den Genuss westdeutscher wohlfahrtsstaatlicher Leistungen (Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung), sie wurden auch, was ihre Zahlungsmittel anging, zu Bundesbürgern: Ihre Löhne und Gehälter bzw. Renten wurden fortan in D-Mark ausgezahlt, und ihre Ersparnisse zum Teil 1:1, zum Teil 1:2 in selbige umgewandelt, was angesichts des krassen Verfalls der DDR-Währung jeder finanzwirtschaftlichen Logik zuwider sprach, doch politisch gewollt war.
Noch viel gravierender waren die Folgen dieser mit heißer Nadel gestrickten Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion jedoch für die ostdeutsche Wirtschaft. Mit der Umwandlung der Löhne in D-Mark verteuerten sich von einem Tag auf den anderen die DDR-Produkte um ein Mehrfaches ihres ursprünglichen Preises. Nichts machte die hoffnungslose Unterlegenheit der DDR-Erzeugnisse deutlicher als die D-Mark in den Geldbeuteln der ostdeutschen Bevölkerung: Waren aus DDR-Produktion, für deren Erwerb die DDR-Bevölkerung gestern noch Schlange gestanden hatte, erwiesen sich nun als völlig überteuerte Ladenhüter. Konsumartikel westlicher Provenienz, vom Auto bis zum Waschmittel, vom Kaffee bis zur Hifi-Anlage, überschwemmten die (bis dato gähnend leeren) Regale der DDR-Warenhäuser und fanden reißenden Absatz in der nunmehr „solventen“ Bevölkerung Ostdeutschlands. Mit dem Zusammenbruch der ostdeutschen Konsumgüterindustrie brach auch die Grundlage der Produktionsgüterindustrie der DDR auseinander. Die Chemie- und Maschinenbaukombinate waren gleich in doppelter Weise gehandicapt: Neben dem Binnenmarkt brachen ihnen auch die traditionellen osteuropäischen Märkte der ehemaligen COMECON-Länder weg. Die Folge: „Mit Einführung der DM sank das Bruttoinlandsprodukt der Ex-DDR im zweiten Halbjahr 1990 real um 27,5 Prozent und im ersten Halbjahr 1991 nochmals über 25 Prozent.“[1]
Diese Entwicklung war durchaus absehbar. Die zahllosen Kontakte im Rahmen der deutsch-deutschen Handelsbeziehungen hatten der herrschenden Klasse der Bundesrepublik einen relativ tiefen Einblick in den hoffnungslosen Zustand der DDR-Ökonomie verschafft. Seit Anfang der 80er Jahre schwebte das Damoklesschwert des Staatsbankrotts über dem DDR-Regime, der zuletzt allein durch die Milliardenkredite der Bundesrepublik abgewendet werden konnte.[2] Die Wirtschaft befand sich größtenteils in einem völlig desolaten Zustand. Versorgungsengpässe und Mangelerscheinungen allerorten, überholte Technologien, marode Industrieanlagen, ruinierte Infrastrukturen und eine verwüstete Umwelt – dies alles waren trotz aller Geheimniskrämerei der DDR-Behörden schon lange unübersehbare Anzeichen dafür, dass sich die DDR-Wirtschaft spätestens seit den 70er Jahren im freien Fall befand.
Die Währungsunion vom 1. Juni 1990 war somit der Versuch, eine Wirtschaft, deren industrielle Substanz marode geworden war[3], ohne jeglichen Übergang in die „freie Marktwirtschaft“ der westlichen Industrienationen zu katapultieren. Dieser Versuch musste scheitern, und er sollte scheitern.
Waren die Konstrukteure der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion – neben dem Bestreben, die imperialistischen Rivalen so schnell wie möglich vor vollendete Tatsachen zu stellen - noch primär von der Sorge getragen, nur durch eine schnelle Angleichung der Lebensumstände in Ost und West eine weitere Entvölkerung der DDR zu verhindern, so standen bei der Treuhand-Anstalt andere Interessen im Vordergrund.
Die Treuhand-Anstalt, ursprünglich auf Initiative von DDR-Bürgerrechtlern per Beschluss vom DDR-Ministerrat im März 1990 gegründet, entwickelte sich spätestens nach der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 schnell zur größten Staatsholding der Welt. In ihrer kurzen Existenz (1994 wurde sie aufgelöst) übernahm sie die Geschicke von 8.000 sog. „Volkseigenen Betrieben“ (VEB) und vielen tausend Immobilien sowie Betriebsteilen. Ihre zentrale Aufgabe bestand darin, die „früheren volkseigenen Betriebe wettbewerblich zu strukturieren und zu privatisieren“[4]. Dabei sollte sie sich selbst über die Verkäufe dieser VEB’s finanzieren. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass sich die herrschende Klasse Westdeutschlands die Beute, die ihr da wie eine reife Frucht in den Schoß gefallen war, prächtiger ausgemalt hatte, als sie in Wahrheit war. Schnell musste man anfängliche Schätzungen, die von einem Verkaufswert der DDR-Unternehmen in Höhe von 800 bis 1.000 Mrd. D-Mark ausgingen, nach unten revidieren. Im Treuhandbericht des Bundesfinanzministeriums vom 31. Oktober 1991 war nur noch von rund 200 Mrd. DM die Rede, die man aus der Liquidation der DDR-Wirtschaft einzunehmen gedenke. Aber auch dies waren Zahlen aus dem Wolkenkuckucksheim. Als die Treuhand 1994 aufgelöst wurde, hinterließ sie offiziell ein Defizit von 256,4 Mrd. DM. Und es sollte nicht die einzige Hinterlassenschaft der Treuhand sein...
Anfangs beherrschte ein interner Richtungsstreit den Kurs der Treuhand. Personifiziert wurde dieser Konflikt auf der einen Seite von Detlev Karsten Rohwedder – klassischer Vertreter des sozialdemokratisch geprägten Staatsinterventionismus, legendärer Sanierer des Stahlwerks Hoesch und seit August 1990 Vorsitzender der Treuhand-Anstalt – und auf der anderen Seite von Birgit Breuel – Verfechterin des Neoliberalismus, ehemalige CDU-Wirtschafts- und Finanzministerin in Niedersachsen und nun Stellvertreterin Rohwedders im Treuhand-Vorstand. Der eine legte das Hauptgewicht auf die staatliche Sanierung der Ostbetriebe vor ihrer Privatisierung; die andere drängte auf die schnelle Privatisierung vor der Sanierung. Neben den vielen ungeklärten Eigentumsfragen sollte vor allem diese Auseinandersetzung die Arbeit der Treuhand in den ersten Monaten lähmen. Erst der Tod Rohwedders[5] löste diesen Stau auf.
Mit Breuel als neue Treuhand-Vorsitzende setzte sich letztendlich die Mehrheitsfraktion innerhalb der deutschen Bourgeoisie durch. Nun begann der Ausverkauf der soeben verblichenen DDR. Privatisierungen wie am Fließband: „Bis Ende März 1991 geschah das in rund 1.200 Fällen; bis Ende Mai registrierte man 1.900 Privatisierungen, und dann folgten etwa 300 bis 400 Privatisierungen im Monat; im Oktober 1991 durchschnittlich 24 pro Tag!“[6] Am Ende waren es über 15.000 Betriebe, Betriebsteile und Immobilien, die verramscht wurden. Oberste Priorität bei der Veräußerung des DDR-Nachlasses war nicht, wie die Treuhand vorgab, der Erhalt der Arbeitsplätze oder etwa der industriellen Struktur Ostdeutschlands, sondern das Bestreben, eben jene „industriellen Kerne“ in Ostdeutschland zu verhindern. Das westdeutsche Kapital hatte nicht die Absicht, sich seine eigene Konkurrenz heranzuzüchten. Was es benötigte, waren nicht neue Produzenten, die die allseitige Überproduktion nur noch weiter verschärft hätten, sondern neue Märkte. So tat denn die Treuhand alles, Versuche einer eigenständigen industriellen Entwicklung in Ostdeutschland zu torpedieren. Verhandlungen mit Investoren wurden solange hinausgezögert, bis diese absprangen. Betriebe wurden gegen den Willen der Belegschaften zerstückelt und ausgeschlachtet, wobei die Rosinen verhökert, der Rest hingegen in sog. „Beschäftigungsgesellschaften“ umgewandelt wurde. Anderen Betrieben wiederum wurde buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen, indem das Betriebsgelände an die Alteigentümer ausgehändigt wurde. Erfolg versprechende „Management-Buy-Out“-Konzepte (also der Erwerb des eigenen Betriebes durch leitende Angestellte und Vorstand) wurden von der Treuhand unter fadenscheinigen Gründen abgelehnt. Am Ende waren 85 Prozent des von der Treuhand privatisierten DDR-Vermögens in westdeutscher Hand, nur zehn Prozent in ausländischem Besitz und ganze fünf Prozent im Besitz ostdeutscher Eigentümer.
Als die Treuhand am 31. Dezember 1994 aufgelöst wurde, hinterließ sie nicht nur Schulden in Milliardenhöhe (s.o.), sondern auch ein Land, das seiner industriellen Struktur beraubt war. Die „blühenden Landschaften“, die der damalige Bundeskanzler Kohl auf seiner Wahlkampftour durch Ostdeutschland im Sommer 1990 versprochen hatte, sind nie über kleine Oasen (Jena, Dresden, Leipzig) hinausgewachsen, umgeben von einer einzigen industriellen Wüstung. Die Autoindustrie in Zwickau? Von der Bildfläche verschwunden. Der traditionsreiche Maschinenbau Mitteldeutschlands? Ersatzlos „abgewickelt“. Die Elektroindustrie Ostberlins? Gibt es nicht mehr. Bereits im zweiten Halbjahr 1991 erwirtschaftete die ostdeutsche Industrie nur noch ein Viertel des Bruttoinlandproduktes vom 1. Halbjahr 1990. Mit anderen Worten: Was sich zwischen 1990 und 1994 zwischen Rostock und Leipzig, zwischen Erfurt und Frankfurt/Oder ereignet hatte, war nichts Geringeres als eine der massivsten Wellen der De-Industrialisierung in der Geschichte des modernen Kapitalismus.
Es ist keine Überraschung, dass die Treuhand-Anstalt zu einer der meist verhassten Institutionen in Ostdeutschland avancierte. In der Tat ist die Treuhand eines der Synonyme schlechthin für die deutsch-deutsche Wiedervereinigung geworden – für eine Wiedervereinigung, die nicht auf Augenhöhe stattfand, sondern eher die Form einer Annexion annahm. Mit der Arroganz eines Siegers und im Stile eines Kolonialherrn fiel das westdeutsche Kapital, in seinem Schlepptau Heerscharen von Glücksrittern, Hochstaplern und Abenteurern, über Ostdeutschland her, machte alles platt, was noch nicht kaputt war, und sog alles aus diesem Land, was sich aus dessen Konkursmasse noch verwerten ließ. Übrig blieb ein Torso, der auf unabsehbare Zeit am Tropf westdeutscher Transferleistungen hängen wird.
(Fortsetzung folgt – Nächster Teil: Die Kosten der Wiedervereinigung)
[1] Martin Flug, „Treuhand-Poker. Die Mechanismen des Ausverkaufs“, Ch.Links-Verlag, Berlin, S. 54.
[2] "... Die Verschuldung im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet ist seit dem VIII. Parteitag gegenwärtig auf eine Höhe gestiegen, die die Zahlungsfähigkeit der DDR in Frage stellt ...: von 2 Mrd. VM 1970 auf 49 Mrd. VM 1989." [VM: ValutaMark = DM West] (aus dem sog. „Schürer-Papier“ vom 18.10.89, benannt nach der Analyse des Chefs der staatlichen Planungskommission der DDR, Gerhard Schürer)
[3] Darüber können auch die internationalen Statistiken nicht hinwegtäuschen, die die DDR noch in den 80er Jahren als zehntstärkste (!) Industrienation aufführten.
[4] aus: Artikel 25 des Einigungsvertrages
[5] Rohwedder wurde am 1. April 1991 unter mysteriösen Umständen ermordet. Trotz eines angeblichen Bekennerschreibens bestehen erhebliche Zweifel an der offiziellen Version, die von der RAF als Täter ausgeht. Neben vielen anderen Ungereimtheiten entsprach auch das Tatmuster (Rohwedder wurde aus größerer Entfernung von einem Scharfschützen mit einem einzigen Schuss getötet) nicht dem üblichen Vorgehen der RAF-Terroristen. Die Täter sind bis heute nicht gefasst.
[6] Martin Flug: „Treuhand-Poker“, S. 44.
Der Artikel wurde erstmals in der Internationalen Revue Nr. 24 veröffentlicht.
In der Internationalen Revue Nr. 19 haben wir aufgezeigt, dass die Arbeiterklasse 1919 nach dem Scheitern des Januaraufstands in einer Reihe von zerstreuten Kämpfen schwerwiegende Niederlagen hinnehmen musste. Mit der blutrünstigsten Gewalt schlug die herrschende Klasse in Deutschland gegen die Arbeiter zu.
1919 war der Spitze der revolutionären Welle überschritten. Und nachdem die Arbeiterklasse in Russland gegenüber dem Ansturm der konterrevolutionären Truppen, die die demokratischen Staaten gegen Russland organisiert hatten, isoliert blieb, wollte in Deutschland die Bourgeoisie die Arbeiterklasse, die durch die 1919 erlittenen Niederlagen angeschlagen war, weiter angreifen und vollständig auf den Boden werfen.
Nach dem Desaster des Krieges, als die Wirtschaft dabei war zusammenzubrechen, wollte die herrschende Klasse die Situation ausnutzen, um der Arbeiterklasse die ganzen Kosten des Krieges aufzubürden. In Deutschland waren zwischen 1913 und 1920 die Ernten in der Landwirtschaft und die industrielle Produktion um mehr als die Hälfte gefallen. Von der vorhandenen Produktion sollte noch ein Drittel an die Siegerländer abgeführt werden. In vielen Wirtschaftszweigen brach die Produktion weiter zusammen. Unterdessen schossen die Preise rasant in die Höhe; betrugen die Lebenshaltungskosten 1913 100 Einheiten, waren sie 1920 auf 1.100 Einheiten angestiegen. Nach dem Hungern im Krieg stand jetzt wieder der Hunger im ‘Frieden’ auf dem Programm. Die Unterernährung dehnte sich weiter aus. Chaos und Anarchie der kapitalistischen Produktion, Verarmung und Hunger in den Reihen der Arbeiter herrschten überall.
Gleichzeitig wollten die Siegermächte des Westens die deutsche Bourgeoisie als Verlierer des Krieges zur Kasse bitten. Zu dem Zeitpunkt bestanden jedoch große Interessensgegensätze zwischen den Siegermächten.
Während die USA daran interessiert waren, dass Deutschland als Gegenpol gegen England wirken könnte und sich deshalb gegen eine Zerschlagung Deutschlands stellten, wollte Frankreich die möglichst nachhaltigste militärische, wirtschaftliche und territoriale Schwächung und gar eine Zerstückelung Deutschlands. Im Versailler Vertrag (28. Juni 1919) wurde deshalb beschlossen, dass in Deutschland das Militär bis zum 10. April 1920 von 400.000 auf 200.000 Mann, bis 10. Juli auf 100.000 Mann reduziert werden solle. Von 24.000 Offizieren würden nur 4.000 in die neue republikanische Armee, die Reichswehr, übernommen werden. Die Reichswehr fasste diesen Beschluss als eine lebensgefährliche Bedrohung für sie auf und wollte sich mit allen Mitteln dagegen zur Wehr setzen. Unter allen bürgerlichen Parteien – von SPD über Zentrum bis zu den Rechten– herrschte Einigkeit, dass der Versailler Vertrag wegen nationaler Interessen verworfen werden sollte. Nur aufgrund des von den Siegermächten ausgeübten Zwangs beugten sie sich. Gleichzeitig benutzte die Bourgeoisie den Versailler Vertrag dazu, die schon im Krieg vorhandene Spaltung in der internationalen Arbeiterklasse noch weiter zu vertiefen: in Arbeiter der Siegermächte und der Verliererstaaten.
Vor allem große Teile des Militärs fühlten sich durch den Versailler Vertrag bedroht und wollten sofort ihren Widerstand organisieren. Erneut strebten sie einen Krieg mit den Siegermächten an. Dazu musste aber der Arbeiterklasse eine weitere entscheidende Niederlagen schnell beifügt werden.
Aber das Großkapital wollte die Militärs nicht an die Macht kommen lassen. Die SPD hatte bislang an der Spitze des Staates ganze Arbeit geleistet. Seit 1914 hatte sie die Arbeiterklasse gefesselt, in den revolutionären Kämpfen im Winter 1918/1919 die Sabotage und Repression organisiert. Das Kapital brauchte nicht die Militärs, um seine Herrschaft aufrechtzuerhalten, es hatte die Diktatur der Weimarer Republik und setzte weiter auf sie. So schossen von der SPD befehligte Polizeitruppen am 13. Januar 1920 auf eine Massendemo vor dem Reichstag. 42 Tote blieben auf der Strecke. In einer Streikwelle im Ruhrgebiet Ende Februar wurde von der ‘demokratischen Regierung’ die Todesstrafe gegen revolutionäre Arbeiter angedroht.
Als im Februar Teile des Militärs Putschbestrebungen in Gang setzten, wurden diese deshalb nur von wenigen Kapitalfraktionen gestützt. Vor allem der agrarische Osten bildete ihren Stützpunkt, da er besonders stark an einer Rückeroberung durch den Krieg verloren gegangener Gebiete interessiert war.
Dass ein Putschversuch in Vorbereitung war, pfiffen die Spatzen von den Dächern. Aber die SPD-geführte Regierung unternahm zunächst nichts gegen diese Bestrebungen. Am 13. März zog eine ‘Marine-Brigade’ unter dem Kommando des Generals von Lüttwitz in Berlin ein, umstellte das Regierungsgebäude und rief den Sturz der Ebert-Regierung aus. Nachdem Ebert die Generale Seeckt und Schleicher um sich versammelte, um mit ihnen die Niederschlagung des rechtsradikalen Putsches durch die SPD-geführte Regierung zu besprechen, weigerten sich die Militärs, denn wie der oberste Militärchef sagte: ‘Die Reichswehr will keinen ‘Bruderkrieg’ Reichswehr gegen Reichswehr zulassen’.
Die Regierung floh zunächst nach Dresden und dann nach Stuttgart. Zwar erklärte Kapp die bürgerliche Regierung für abgesetzt, aber sie wurde nicht einmal verhaftet. Vor ihrer Flucht nach Stuttgart konnte die Regierung noch einen Aufruf zum Generalstreik erlassen, der ebenfalls von den Gewerkschaften unterstützt wurde, und zeigte damit erneut, wie heimtückisch dieser linke Flügel des Kapitals gegen die Arbeiter vorzugehen verstand.
”Kämpft mit jedem Mittel um die Erhaltung der Republik. Lasst allen Zwist beiseite! Es gibt nur ein Mittel gegen die Diktatur Wilhelm II.:
- Lahmlegung jeden Wirtschaftslebens
- Keine Hand darf sich nicht mehr rühren
- Kein Proletarier darf der Militärdiktatur helfen
- Generalstreik auf der ganzen Linie
- Proletarier vereinigt Euch. Nieder mit der Gegenrevolution.
Die sozialdemokratischen Mitglieder der Regierung: Ebert, Bauer, Noske,
Der Parteivorstand der SPD– O. Wels”
Gewerkschaften und SPD traten sofort für den Schutz der bürgerlichen Republik ein – auch wenn sie dabei eine ‘arbeiterfreundliche Sprache’ benutzten.[i] [10] Kapp erklärte die Nationalversammlung für aufgelöst, kündigte Neuwahlen an und drohte jedem streikenden Arbeiter mit der Todesstrafe.
Die Empörung unter den Arbeitern war riesig. Ihnen war sofort klar, dass es sich um einen Angriff gegen die Arbeiterklasse handelte. Überall entflammte heftigster Widerstand. Natürlich ging es nicht darum, die für abgesetzt erklärte, verhasste Scheidemann-Regierung zu verteidigen, die vorher so blutig gegen die Arbeiterklasse gewütet hatte.
Von der Waterkant über Ostpreußen, Mitteldeutschland, Berlin, Baden-Württemberg, Bayern bis zum Ruhrgebiet, keine Großstadt, in der es nicht Demonstrationen gab, kein Industriezentrum, wo nicht die Arbeiter in den Streik traten und versuchten, Polizeistationen zu stürmen und sich zu bewaffnen. Keine Fabrik, wo es keine Vollversammlung gab, um über den Widerstand zu entscheiden. In den meisten Großstädten fingen die putschistischen Truppen oder die Reichswehr an, auf demonstrierende Arbeiter zu schießen. Dutzende von Arbeitern fielen am 13. und 14. März unter den Schüssen der Putschisten.
In den Industriezentren wurden Aktionsausschüsse, Vollzugsräte, Arbeiterräte gebildet. Die Arbeitermassen strömten auf die Straße.
Seit dem November 1918 war die Mobilisierung der Arbeiter noch nie so stark gewesen.
Überall bäumte sich die heftigste Wut der Arbeiter gegen die rechten Militärs gleichzeitig auf.
Am 13. März, dem Tag des Einmarsches der Kapp-Truppen in Berlin, reagierte die KPD-Zentrale in Berlin mit Abwarten. In einer ersten Stellungnahme riet die KPD-Zentrale noch vom Generalstreik ab, ”Das Proletariat wird keinen Finger rühren für die demokratische Republik ... Die Arbeiterklasse, die gestern noch in Banden geschlagen war von den Ebert-Noske, und waffenlos, .. ist in diesem Augenblick nicht aktionsfähig. Die Arbeiterklasse wird den Kampf gegen die Militärdiktatur aufnehmen in dem Augenblick und mit den Mitteln, die ihr günstig erscheinen. Dieser Augenblick ist noch nicht da ...” Doch die KPD-Zentrale täuschte sich. Die Arbeiter selber wollten nicht abwarten, sondern innerhalb von wenigen Tagen reihten sich mehr Arbeiter in diesen Abwehrkampf ein, als sich seit Beginn der revolutionären Welle in den vielen zerstreuten Bewegungen zuvor mobilisiert hatten. Überall hieß die Parole ‘Bewaffnung der Arbeiter’, ‘Niederschlagung der Putschisten’.
Während 1919 in ganz Deutschland zerstreut gekämpft worden war, hatte der Putsch an vielen Orten die Arbeiterklasse gleichzeitig mobilisiert. Dennoch kam es abgesehen vom Ruhrgebiet kaum zu Kontaktaufnahmen der Arbeiter in den verschiedenen Städten untereinander. Landesweit erhob sich der Widerstand spontan, ohne eine ihn zentralisierende Bewegung.
Das Ruhrgebiet, die größte Konzentration der Arbeiterklasse, war zentrale Zielscheibe der Kappisten gewesen. So wurde das Ruhrgebiet zum Zentrum des Abwehrkampfes. Von Münster aus wollten die Kappisten die Arbeiter im Ruhrgebiet einkesseln. Nur die Arbeiter im Ruhrgebiet bündelten ihre Kämpfe in mehreren Städten und bildeten eine zentrale Streikleitung. Überall wurden Aktionsausschüsse gebildet. Es wurden systematisch bewaffnete Arbeiterverbände aufgestellt. Man spricht von 80.000 bewaffneten Arbeitern im gesamten Ruhrgebiet. Dies war die größte militärische Mobilisierung in der Geschichte der Arbeiterbewegung neben dem Abwehrkampf in Russland.
Obwohl der Widerstand der Arbeiter auf militärischer Ebene nicht zentral geleitet wurde, gelang es den bewaffneten Arbeitern, den Vormarsch der Kapp-Putschisten zu stoppen. In einer Stadt nach der anderen konnten die Putschisten verjagt werden. Diese Erfolge hatten die Arbeiter 1919 in den verschiedenen Erhebungen nicht verbuchen können. Am 20. März musste sich das Militär gar aus dem Ruhrgebiet ganz zurückziehen. Am 17. März war Kapp schon zurückgetreten, sein Putsch hatte keine 100 Stunden gedauert. Der Widerstand der Arbeiterklasse hatte ihn zu Fall gebracht.
Ähnlich der Entwicklung ein Jahr zuvor hatten sich die stärksten Widerstandszentren in Sachsen, Hamburg, Frankfurt und München gebildet.[ii] [10] Die machtvollste Reaktion der Arbeiter kam jedoch im Ruhrgebiet zustande.
Während in den anderen Orten Deutschlands die Bewegung nach dem Rücktritt Kapps und dem Scheitern des Putsches sofort wieder stark abflachte, war im Ruhrgebiet mit dem Rücktritt des Putschisten die Bewegung nicht zu stoppen. Viele Arbeiter glaubten, dass man jetzt weitergehen müsse.
Während sich spontan und in Windeseile eine große Abwehrfront der Arbeiter gegen die blutrünstigen Putschisten erhoben hatte, war klar, dass die Frage des Sturzes der Bourgeoisie keineswegs auf der Tagesordnung stand, sondern es ging in den Augen der meisten Arbeiter nur um ein Zurückschlagen eines bewaffneten Angriffs.
Und welcher Schritt der erfolgreichen Abwehr des Putschistenangriffes hätte folgen sollen, war damals unklar.
Abgesehen vom Ruhrgebiet erhoben die Arbeiter in anderen Regionen kaum Forderungen, die der Bewegung der Klasse eine größere Dimension hätte geben können. Solange sich der Druck aus den Betrieben gegen den Putsch richtete, gab es eine einheitliche Linie unter den Arbeitern, aber sobald die putschistischen Truppen niedergeworfen wurden, trat die Bewegung auf der Stelle und suchte ein klares Ziel. Einen Teil des Militärs zurückschlagen, ihn in einer Gegend zum Rückzug zu zwingen, heißt noch nicht, die Kapitalistenklasse gestürzt zu haben,
An verschiedenen Orten gab es Versuche von anarcho-syndikalistisch-rätistischen Kräften, erste Maßnahmen in Richtung Sozialisierung der Produktion in Gang zu setzen, weil man glaubte, nachdem man in einer Stadt die rechtsradikalen Kräfte vertrieben hatte, die Tür zum Sozialismus öffnen zu können. So wurden vielerorts durch die Arbeiter eine Reihe von ‘Kommissionen’ gebildet, die dem bürgerlichen Staat Anweisungen geben wollten, was zu tun sei. Erste Maßnahmen der Arbeiter nach einer erfolgreichen ‘Schlacht’ auf dem Weg zum Sozialismus, erste winzige Ansätze einer Doppelmacht – als solche wurden sie dargestellt. Aber diese Auffassungen sind ein Zeichen der Ungeduld, die in Wirklichkeit von der dringendsten Aufgabe ablenkt. Solche Maßnahmen ins Auge zu fassen, nachdem man nur LOKAL ein günstiges Kräfteverhältnis aufgebaut hat, sind eine große Gefahr für die Arbeiterklasse, weil sich die Machtfrage zunächst für ein ganzes Land und in Wirklichkeit nur international stellt. Deshalb müssen solche Zeichen kleinbürgerlicher Ungeduld und des ‘sofort alles haben wollen’ bekämpft werden.
Während die Arbeiter wegen der Bedrohung durch die Militärs sich sofort militärisch mobilisierten, fehlte jedoch der unabdingbare Druck aus den Fabriken. Ohne den entsprechenden Impuls aus den Betrieben, ohne die Masseninitiative, die auf die Straße drängt und sich in Arbeiterversammlungen äußert, wo gemeinsam die Lage diskutiert wird und Entscheidungen getroffen werden, kann die Bewegung nicht wirklich von der Stelle kommen. Dazu ist aber die größtmögliche Eigeninitiative, das Bestreben nach der Ausdehnung und dem Zusammenschluss der Bewegung erforderlich, was wiederum mit einer tiefgreifenden Bewusstseinsentwicklung verbunden ist, wo die Feinde des Proletariats entlarvt werden.
Deswegen reicht nicht einfach die Bewaffnung und die entschlossene militärische Abwehrschlacht – die Arbeiterklasse selber muss ihr wichtigstes Geschütz auffahren: ihr Bewusstsein über ihre eigenen Rolle, ihre Fähigkeit, sich selbst zu organisieren, vorantreiben. Dazu stehen die Arbeiterräte an zentraler Stelle. Die Arbeiterräte und Aktionsausschüsse, die in den Abwehrkämpfen wieder spontan entstanden waren, waren jedoch noch zu schwach entwickelt, um der Bewegung als Sammelpunkt und als Speerspitze zu dienen.
Hinzu kam, dass die SPD von Anfang an alles unternahm, um gerade ihren Sabotagehebel gegen die Räte anzusetzen. Während die KPD den Schwerpunkt ihrer Intervention auf die Neuwahl der Arbeiterräte setzte, die Initiative in den Räten selber verstärken wollte, blockierte die SPD diese Versuche ab.
Im Ruhrgebiet saßen wiederum viele SPD-Vertreter in den Aktionsausschüssen und in der zentralen Streikleitung. So versuchte die SPD erneut wie zwischen November 1918 und Ende 1919 die Bewegung sowohl von Innen wie auch von Außen her zu sabotieren, um, sobald die Arbeiter entscheidend geschwächt waren, mit der Repression gegen sie vorzugehen.
Denn nachdem am 17. März Kapp zurückgetreten war und seine Truppen aus dem Ruhrgebiet am 20. März abzogen, und nachdem die ‘geflüchtete’ SPD-geführte Regierung um Ebert-Bauer wieder die Geschäfte übernommen hatte, konnte die Regierung und mit ihr das Militär ihre Kräfte neu gruppieren.
Wieder einmal kamen SPD und Gewerkschaften dem Kapital zu Hilfe. Sie verlangten das sofortige Ende der Kämpfe. Die Regierung stellte ein Ultimatum. Mit großer demagogischer Kunst wollten sie die Arbeiter zum Einstellen der Kämpfe bewegen. Ebert und Scheidemann riefen sofort zur Wiederaufnahme der Arbeit auf: ”Kapp und Lüttwitz sind erledigt, aber junkerliche und syndikalistische Empörung bedrohen noch immer den deutschen Volksstaat. Ihnen gilt der weitere Kampf, bis auch sie sich bedingungslos unterwerfen. Für dieses große Ziel ist die republikanische Front noch inniger und fester zu schließen. Der Generalstreik trifft bei längerer Dauer nicht nur die Hochverräter, sondern auch unsere eigene Front. Wir brauchen Kohlen und Brot zur Fortführung des Kampfes gegen die alten Mächte, deshalb Abbruch des Volksstreiks, dafür aber stets Alarmbereitschaft.”
Gleichzeitig bot die SPD politische Scheinkonzessionen an, mit deren Hilfe sie der Bewegung die Spitze brechen wollte. So versprach sie ”mehr Demokratie” in den Betrieben, einen ”entscheidenden Einfluss auf die Neuregelung der wirtschaftlichen und sozialen Gesetzgebung” und die Säuberung der Verwaltung von putschfreundlich gesinnten Kräften. Vor allem die Gewerkschaften legten sich ins Zeug, damit ein Waffenstillstand unterzeichnet wurde. Im sogenannten Bielefelder Abkommen wurden dann Konzessionen versprochen, die aber nur ein Vorwand sein konnten, um nach dem Bremsen der Bewegung um so heftiger die Repression zu organisieren
Gleichzeitig wurde wieder mit der ‘ausländischen Intervention’ gedroht. Sollte es zu einer weiteren Ausdehnung der Kämpfe kommen, würden ausländische Truppen – vor allem die USA – eingreifen. Lebensmittellieferungen aus Holland an die hungernde Bevölkerung wurden von den Militärs unterbunden.
So sollten SPD und Gewerkschaften wieder zum Drahtzieher der Repression gegen die Arbeiter werden. Dieselbe SPD, deren Minister einige Tage zuvor noch, am 13. März, zum Generalstreik gegen die Putschisten aufgerufen hatten, nahmen jetzt wieder die Zügel in die Hand für die Repression. Denn während die ‘Waffenstillstandsverhandlungen’ stattfanden, die Regierung scheinbare Konzessionen machte, war die volle Mobilisierung der Reichswehr in Absprache mit der SPD schon im Gange. So gingen viele Arbeiter von der fatalen Illusion aus, da man Regierungstruppen vor sich habe, die der ‘demokratische Staat’ der Weimarer Republik gegen die Putschisten geschickt habe, würden diese keine Kampfhandlungen gegen die Arbeiter unternehmen. So rief das Verteidigungskomitee in Berlin-Köpenick die Arbeiterwehren dazu auf, den Kampf einzustellen. Nach dem Einzug der ‘regierungstreuen Truppen’ wurden sofort Standgerichte gebildet, deren Wüten sich in nichts von dem blutrünstigen Vorgehen der Freikorps ein Jahr zuvor unterschied. Jeder, der im Besitz von Waffen war, wurde sofort erschossen. Tausende Arbeiter wurden misshandelt, gefoltert und erschossen und unzählige Frauen vergewaltigt. Man spricht von mehr als 1.000 ermordeten Arbeitern allein im Ruhrgebiet.
Es waren die Truppen des frisch gegründeten demokratischen Staates, die gegen die Arbeiterklasse geschickt wurden.
Und während die Schergen der Putschisten es nicht geschafft hatten, die Arbeiter zu Boden zu werfen, sollten dies die Henker der Demokratie bewerkstelligen.
In der dekadenten Phase des Kapitalismus hat die Arbeiterklasse seitdem diese Erkenntnis immer wieder gewinnen müssen: Es gibt keine Fraktion der herrschenden Klasse, die weniger reaktionär oder der Arbeiterklasse gegenüber weniger feindselig eingestellt ist. Im Gegenteil: Die linken Kräfte, wie die SPD es wieder einmal unter Beweis stellen sollte, sind nur noch hinterlistiger und heimtückischer in ihren Angriffen gegen die Arbeiter.
Im dekadenten Kapitalismus gibt es keine Fraktion der Bourgeoisie, die noch irgendwie fortschrittlich und unterstützungswert wäre. Deshalb sollten die Illusionen über die Sozialdemokratie in Wirklichkeit mit dem Blut der Arbeiterklasse bezahlt werden. Bei der Niederschlagung der Bewegung gegen den Kapp-Putsch zeigte die SPD erneut ihre ganze heimtückische List, wie sie im Dienste des Kapitals handelt.
Einmal trat sie als ”radikaler Vertreter der Arbeiter” auf. Nicht nur schaffte sie es, die Arbeiter zu täuschen, sondern auch die Arbeiterparteien ließen sich durch die SPD Sand in die Augen streuen. Denn während die KPD laut und deutlich vor der SPD auf Reichsebene warnte, vorbehaltlos den bürgerlichen Charakter ihrer Politik aufzeigte, wurde sie vor Ort selber Opfer der Heimtücke der SPD. Denn in den verschiedenen Städten unterzeichnete die KPD mit der SPD Aufrufe zum Generalstreik:
In Frankfurt z.B. riefen SPD, USPD und KPD dazu auf: ”Nun gilt es den Kampf aufzunehmen, nicht zum Schutze der bürgerlichen Republik, sondern zur Aufrichtung der Macht des Proletariats. Verlaßt sofort die Betriebe und die Büros!”
In Wuppertal beschlossen die Bezirksleitungen von SPD, USPD und KPD den Aufruf: ”Der einheitliche Kampf muss geführt werden mit dem Ziel:
1. Erringung der politischen Macht durch die Diktatur des Proletariats, bis zur Festigung des Sozialismus auf der Grundlage des reinen Rätesystems.
2. Sofortige Sozialisierung der dazu reifen Wirtschaftsbetriebe.
Dieses Ziel zu erreichen, rufen die unterzeichneten Parteien (USPD, KPD, SPD) dazu auf, am Montag, den 15. März, geschlossen in den Generalstreik zu treten ...”
Die Tatsache, dass KPD und USPD die wahre Rolle der SPD hier nicht entblößten, sondern der Illusion einer möglichen Einheitsfront mit dieser Partei Vorschub leisteten, die die Arbeiterklasse verraten hatte und der soviel Blut an den Fingern wegen der von ihr organisierten Repression gegen die Arbeiter klebte, sollte für die Arbeiterklasse verheerende Auswirkungen haben.
Die SPD wiederum zog in Wirklichkeit alle Fäden der Repression gegen die Arbeiter. Sie sorgte sofort nach Rückzug der Putschisten mit Ebert an der Regierungsspitze dafür, dass die Reichswehr einen neuen Chef – von Seeckt – bekam, der sich als ausgekochter Militär einen Ruf als Henker der Arbeiterklasse verdient hatte. Mit grenzenloser Demagogie stachelte das Militär den Hass gegen die Arbeiter an: ”Während der Putschismus von rechts zerschlagen abtreten muss, erhebt der Putschismus von links aufs neue das Haupt (..). wir führen die Waffen gegen jeden Putsch.” So wurden die Arbeiter, die gegen die Putschisten gekämpft hatten, als die eigentlichen Putschisten beschimpft. ”Lasst euch nicht irremachen durch bolschewistische und spartakistische Lügen. Bleibt einig und stark. Macht Front gegen den alles vernichtenden Bolschewismus. Im Namen der Reichsregierung: von Seeckt und Schiffer.”
Das wirkliche Blutbad gegen die Arbeiter übte die Reichswehr aus, die von der SPD dirigiert wurde. Es rückte die ‘demokratische Armee’, die Reichswehr gegen die Arbeiter vor, die Kappisten hatten längst die Flucht ergriffen!
Während die Arbeiterklasse sich mit großem Heldenmut dem Angriff der Militärs entgegenwarf und nach einer weiteren Orientierung für ihre Kämpfe suchte, hinkten die Revolutionäre selbst der Bewegung hinterher. So wurde das Fehlen einer starken Kommunistischen Partei zu einer der entscheidenden Ursachen des erneuten Rückschlags, den die proletarische Revolution in Deutschland erleiden sollte.
Wie wir in früheren Artikeln aufgezeigt haben, war die KPD durch den Ausschluss ihrer Opposition auf dem Heidelberger Parteitag im Oktober 1919 entscheidend geschwächt worden, und im März 1920 gab es in Berlin gerademal einige Hundert Mitglieder, die Mehrzahl der Mitglieder war ausgeschlossen worden.
Zudem lastete über der Partei das Trauma der verheerenden Fehler der Revolutionäre aus der blutigen Januarwoche 1919, als die KPD nicht geschlossen die Falle, die die Bourgeoisie für die Arbeiter aufgestellt hatte, aufdecken und die Arbeiter nicht daran hindern konnte, in diese zu laufen.
So schätzte die KPD jetzt am 13. März das Kräfteverhältnis falsch ein, denn sie meinte, es sei zu früh zum Zurückschlagen. Fest stand, dass die Arbeiterklasse gegenüber einer Offensive der Bourgeoisie nicht die Wahl des Zeitpunktes hatte, und die Abwehrbereitschaft der Arbeiter war groß. In dieser Lage war die Orientierung der Partei vollkommen richtig: ”Sofortiger Zusammentritt in allen Betrieben zur Neuwahl von Arbeiterräten. Sofortiger Zusammentritt der Räte zu Vollversammlungen, die die Leitung des Kampfes zu übernehmen und die über die nächsten Maßnahmen zu beschließen haben. Sofortiger Zusammentritt der Räte zu einem Zentralkongreß der Räte. Innerhalb der Räte werden die Kommunisten kämpfen: für die Diktatur des Proletariats, für die Räterepublik ...” (15. März 1920).
Aber nachdem die SPD nach dem 20. März die Zügel der Regierungsgeschäfte wieder in die Hand genommen hatte, erklärte die KPD-Zentrale am 21. März 1920:
”Für die weitere Eroberung der proletarischen Massen für den Kommunismus ist ein Zustand, wo die politische Freiheit unbegrenzt ausgenützt werden, wo die bürgerliche Demokratie nicht als die Diktatur des Kapitals auftreten könnte, von der größten Wichtigkeit für die Entwicklung in der Richtung zur proletarischen Diktatur.
Die KPD sieht in der Bildung einer sozialistischen Regierung unter Ausschluß von bürgerlich-kapitalistischen Parteien einen erwünschten Zustand für die Selbstbetätigung der proletarischen Massen und ihr Heranreifen für die Ausübung der proletarischen Diktatur.
Sie wird gegenüber der Regierung eine loyale Opposition treiben, solange diese Regierung die Garantien für die politische Betätigung der Arbeiterschaft gewährt, solange sie die bürgerliche Konterrevolution mit allen ihr zu Gebot stehenden Mitteln bekämpft und die soziale und organisatorische Kräftigung der Arbeiterschaft nicht hemmen wird” (21. März 1920, Zentrale der KPD).
Wenn die KPD der SPD gegenüber eine ‘loyale Opposition’ versprach, was erwartete sie von dieser? War es nicht die gleiche SPD gewesen, die während des Krieges und seit Beginn der revolutionären Welle alles unternommen hatte, um die Arbeiter zu täuschen, sie an den Staat zu binden und immer wieder kaltblütig die Repression organisiert hatte!
Indem die KPD-Zentrale diese Haltung einnahm, ließ sie sich auf das gefährlichste durch die Manöver der SPD täuschen.
Wenn die Avantgarde der Revolutionäre sich schon so irreführen ließen, war es nicht verwunderlich, dass unter den Massen der Arbeiter die Illusionen über die SPD noch größer waren!
Diese Politik der Einheitsfront ‘von unten’, die im März 1920 von der KPD-Zentrale schon praktiziert wurde, sollte dann von der Komintern Zug um Zug übernommen werden. Die KPD hatte damit einen tragischen Anfang gesetzt.
Für die aus der KPD im Oktober 1919 ausgeschlossenen Genossen sollten die Fehler der KPD-Zentrale dann der Anlass sein, nur kurze Zeit später, Anfang April 1920, in Berlin die KAPD zu gründen.
Wieder einmal hatte die Arbeiterklasse in Deutschland heldenhaft gegen das Kapital gekämpft. Während international die Kampfeswelle schon stärker abgeklungen war, hatte sich die Arbeiterklasse in Deutschland ein weiteres Mal den Angriffen des Kapitals entschlossen entgegengeworfen. Aber erneut musste die Arbeiterklasse ohne eine wirklich schlagkräftige Organisation an ihrer Seite auskommen.
Das Zögern und die politischen Fehler der Revolutionäre in Deutschland verdeutlichen, wie schwerwiegend die Unklarheit und das Versagen einer revolutionären Organisation ins Gewicht fällt.
Diese von der Bourgeoisie angezettelte Provokation nach dem Kapp-Putsch endete leider in einer neuen und schwerwiegenden Niederlage der Arbeiterklasse in Deutschland. Trotz des heldenhaften Mutes und der Entschlossenheit, mit der sich die Arbeiter in den Kampf stürzten, mussten die Arbeiter erneut ihre weiterhin bestehenden Illusionen über die SPD und die bürgerliche Demokratie teuer bezahlen. Durch die chronische Schwäche ihrer revolutionären Organisation politisch gehandikapt, durch die Politik und das heimtückische Vorgehen der Sozialdemokratie getäuscht, erlitten sie eine Niederlage und wurden schließlich nicht den Kugeln der rechtsextremen Putschisten ausgeliefert, sondern der sehr demokratischen Reichswehr, die unter dem Befehl der SPD-geführten Regierung stand.
Aber diese neue Niederlage des Proletariats in Deutschland war vor allem ein Schlag gegen die weltweite revolutionäre Welle, wodurch Sowjetrussland noch weiter in die Isolation geriet.
Dv
[i] [10] Die Frage ist bis heute ungeklärt, ob es sich nicht um eine gezielte Provokation gehandelt hat, wo es eine Absprache zwischen den Militärs und Regierung gab. Man kann keinesfalls als ausgeschlossen betrachten, dass die herrschende Klasse einen Plan hatte, um die Putschisten als provozierenden Faktor einzusetzen nach dem Konzept: die ‘Rechten’ locken die Arbeiter in die Falle, die ‘demokratische’ Diktatur schlägt dann zu!
[ii] [10] In Mitteldeutschland trat zum ersten Mal Max Hoelz in Erscheinung, der durch die Organisierung von bewaffneten Kampfverbänden der Arbeiter Polizei und Militär viele Gefechte lieferte, bei seinen Aktionen in Geschäften Waren beschlagnahmte und sie an Arbeitslose verteilte. Wir werden in einem späteren Artikel erneut auf ihn zurückkommen.
Der Kapitalismus, seine Staaten, seine herrschende Klasse sind nichts anderes als Mörder. Zehntausende Menschen sind aufgrund dieses unmenschlichen Systems ums Leben gekommen.
Dienstag, 16.53 h Ortszeit, hat ein Erdbeben der Stärke 7 auf der Richterskala Haiti erschüttert. Die Hauptstadt Port-au-Prince, eine Monsterslumstadt von ca. 2 Millionen Einwohnern, ist schlicht und ergreifend vernichtet worden. Die Bilanz ist schrecklich. Und sie verschlimmert sich noch Stunde für Stunde. Vier Tage nach der Katastrophe, an diesem Freitag, den 15. Januar, rechnete das Rote Kreuz schon mit 40.000-50.000 Toten und einer « gewaltigen Zahl Schwerverletzter ». Dem Roten Kreuz zufolge sind mindestens drei Millionen Menschen [1]direkt von dem Erdbeben betroffen. Innerhalb weniger Sekunden haben 200.000 Familien ihr « Haus » verloren, das ohnehin oft genug nur aus einer Hütte besteht. Die großen Gebäude sind ebenfalls wie Kartenhäuser zusammengebrochen. Die eh schon im schlechten Zustand sich befindlichen Straßen, der Flughafen, die alten Eisenbahnstrecken … nichts hat dem Erdbeben widerstanden.
Die Ursache dieses Gemetzels ist empörend. Haiti ist eines der ärmsten Länder der Welt.75% der Menschen überleben dort mit weniger als 2 Dollar pro Tag und 56% mit weniger als einem Dollar. Auf dieser von der Geißel des Elends erfassten Insel gab es natürlich keine Vorkehrungen gegen Erdbeben. Dabei ist Haiti ein für Erdbeben bekanntes Gebiet. All diejenigen, die heute vorgeben, dass dieses Erdbeben von außergewöhnlicher Stärke und unvorhersehbar war, lügen. Der Professor Eric Calais, der 2002 in diesem Land Geologievorlesungen hielt, unterstrich, die Insel sei von « Seismen der Größe 7.5-8 auf der Richterskala » [2]bedroht. Die politischen Behören Haitis waren auch offiziell über diese Risiken informiert worden, wie ein Auszug aus der Webseite des Bergbau- und Energieamtes (das vom Ministerium für öffentliche Arbeiten abhängt) beweist : « Hispaniola (der spanische Name für die heute in zwei Teile -Haiti und Dominikanische Republik- gespaltene Insel) wurde in jedem Jahrhundert von mindestens einem großen Erdbeben erschüttert. Port-au-Prince wurde 1751 und 1771 durch Beben zerstört, Cap Haiti wurde 1842 vernichtet, 1887 und 1904 bebte die Erde im Norden mit großen Schäden in Port de Paix und Cap Haiti, 1946 kam es im Nord-Osten der Dominikanischen Republik zu einem großen Beben, das von einem Tsunami in der Region Nagua begleitet wurde. Es hat in der Vergangenheit große Beben in Haiti gegeben, und es wird in der Zukunft innerhalb von einigen Jahrzehnten oder Jahrhunderten weitere neue Beben geben – das ist wissenschaftlich erwiesen. [3]». Und welche Maßnahmen wurden in Anbetracht dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse getroffen? Überhaupt keine ! Im März 2008 noch hatte eine Gruppe Geologen vor der Gefahr eines großen Bebens innerhalb der nächsten beiden Jahre gewarnt, und einige Wissenschaftler hatten gar im Mai 2008 Konferenzen mit der Regierung Haitis abgehalten[4]. Weder der haitianische Staat, noch irgendein anderer Staat, die heute Krokodilstränen vergießen und Aufrufe zur « internationalen Solidarität » starten, mit den USA und Europa an der Spitze, haben auch nur irgend eine vorbeugende Maßnahme zur Vermeidung solch eines vorhersehbaren Dramas getroffen. Die in diesem Land errichteten Gebäude sind so zerbrechlich, dass eigentlich gar nicht erst ein Erdbeben eintreten muss, um sie zum Einsturz zu bringen: „2008 schon war eine Schule in Pétionville ohne besonderen geologischen Grund eingestürzt, dabei waren 90 Kinder verschüttet worden. [5].
Jetzt ist es zu spät. Obama, Merkel & Co. mögen wohl eine « große internationale Konferenz zum Wiederaufbau und der Entwicklung des Landes » ankündigen , der chinesische, englische, französische oder spanische Staat mögen zwar alle ihre Pakete und ihre Hilfsorganisationen schicken, aber sie bleiben trotzdem Kriminelle, denen das Blut an den Fingern klebt.
Wenn Haiti heute so im Elend lebt, wenn seine Bevölkerung in solcher Armut dahinvegetiert, wenn Infrastruktur gar nicht vorhanden ist, liegt der Grund darin, dass seit mehr als 200 Jahren die örtliche und die herrschende Klasse Spaniens, Frankreichs und der USA sich um dieses Gebiet und die Kontrolle über diesen kleinen Flecken der Erde streiten. Die englische Zeitung « The Guardian » brachte diese Stimme der britischen herrschenden Klasse zum Ausdruck, die auf die zum Himmel schreiende Verantwortung der imperialistischen Rivalen hinwies : « Die noble internationale Gemeinschaft », die sich heute gegenseitig übertreffen will um Haiti « humanitäre Hilfe » zu leisten, ist zum Großteil verantwortlich für all das Leiden, das sie heute zu lindern versucht. Seit dem Tag, als die USA 1915 in das Land einmarschiert sind und es besetzt haben, wurden alle Anstrengungen durch die US-amerikanische Regierung und ihre Verbündeten gewaltsam und bewusst sabotiert. Die Regierung Aristide, die im Jahre 2004 durch einen Staatsstreich mit internationaler Rückendeckung gestürzt wurde, wurde deren letztes Opfer. Während des Staatsstreichs kamen mehrere Tausend Menschen zu Tode. […] Seit dem Putsch von 2004 regiert die internationale Gemeinschaft Haiti. Diese Länder, die jetzt um Hilfeleistungen am Krankenbett Haitis wetteifern, haben aber in den letzten fünf Jahren systematisch dagegen gestimmt, dass das UN-Mandat über sein hauptsächlich militärisches Ziel ausgedehnt wird. Die Projekte zur Verwendung eines Teils dieser « Investitionen » mit dem Zweck der Armutsbekämpfung und der Förderung der Landwirtschaft sind blockiert worden, was typisch ist für die langfristigen Tendenzen bei der Verteilung der « internationalen Hilfe ». [6]
Aber das ist nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Die USA und Frankreich kämpfen seit Jahrzehnten um die Kontrolle dieser kleinen Insel mit Hilfe von Putschen, Manövern und Korruption der örtlichen Bourgeoisie, und fördern damit das Elend, die Gewalt und die bewaffneten Milizen, welche ständig Männer, Frauen und Kinder terrorisieren.
Das Medienspektakel um die « internationale Solidarität » ist unausstehlich und widerwärtig. Sie wetteifern darum, welcher Staat die größte Werbung für seine « Hilfsorganisationen », « seine Geschenke » machen kann, welche Rettungsteams die besten Bilder erheischen, wenn sie einen Überlebenden aus den Trümmern ziehen. Schlimmer noch, selbst über die Leichen und Trümmerhaufen hinweg kämpfen Frankreich und die USA noch gnadenlos um Einfluss. Im Namen der humanitären Hilfe schicken sie ihre Marine vor Ort und versuchen die Kontrolle der Hilfsoperationen an sich zu reißen unter dem Vorwand der « Notwendigkeit der Koordinierung der Hilfsleistungen durch einen Orchesterchef. » Tatsächlich reißen die USA die Führung über die Hilfsmaßnahmen gänzlich an sich und übernehmen auch die Kontrolle über das Land mittels ihres Militärs. Es geht der Obama-Administration unter anderem darum zu versuchen, das in den letzten Jahren entstandene sehr schlechte weltweite Image des US-Militärs wieder aufzupolieren, indem dessen Einsatz wieder vermehrt mit scheinbar hehren Zielen wie humanitärer Hilfe und der Rettung von Menschenleben in Verbindung gebracht wird. Damit will man nicht nur den US-Führungsanspruch in der Welt wieder unterstreichen, sondern ideologisch den Weg vorbereiten für ganz andere Militäroperationen unter US-Führung, welche vermutlich vermehrt -wie unter dem Vorläufer von G.W. Bush, Bill Clinton - im Namen von humanitären Zielen durchgeführt werden.
Wie bei jeder Katastrophe werden all die Zusagen einer langfristigen Hilfe, all die Wiederaufbauversprechungen leere Worte bleiben. In den letzten 10 Jahren beklagte man bei den jüngsten Erdbeben
· 15 000 Tote in der Türkei 1999.
· 14 000 Tote in Indien 2001.
· 26 200 Tote im Iran 2003.
· 210 000 Tote in Indonesien 2004 (das unterirdische Beben hatte den gewaltigen Tsunami ausgelöst, der selbst noch an der afrikanischen Küste Opfer forderte).
· 88 000 Tote in Pakistan 2005.
· 70 000 Tote in China 2008.
Jedes Mal hat sich die « internationale Gemeinschaft » « erschüttert » gezeigt und eine erbärmliche Hilfe geschickt ; aber nie wurden wirksame Investitionen vorgenommen, um dauerhafte Verbesserungen herbeizuführen wie z.B. erdbebensichere Gebäude zu bauen. Die humanitäre Hilfe, die wirkliche Unterstützung für die Opfer, die Prävention sind für den Kapitalismus keine rentablen Aktivitäten. Die humanitäre Hilfe, wenn sie geleistet wird, dient aber auch nur dazu, einen ideologischen Schleier zu errichten, um uns glauben zu machen, dass dieses Ausbeutungssystem menschlich sein könnte; meist aber ist sie ohnehin ein direktes Alibi zur Rechtfertigung des Einsatzes von Truppen und sie dient dazu, um Einfluss in dem jeweiligen Gebiet der Welt zu erringen.
Ein Beleg für die Heuchelei der Herrschenden und der vorgetäuschten internationalen Hilfe der Staaten ist der Beschluss des französischen Einwanderungsministers, Eric Besson, der « vorübergehend » die Ausweisungen von Illegalen aus Haiti ausgesetzt hat. Das spricht für sich selbst.
Der Horror, der über die Bevölkerung Haitis gekommen ist, ruft eine ungeheure Traurigkeit in uns hervor. Die Arbeiterklasse wird wie bei jeder dieser Katastrophen durch ihre Spendenbereitschaft reagieren. Sie wird erneut zeigen, dass ihr Herz für die Menschheit schlägt, dass ihre Solidarität keine Grenzen kennt. Aber vor allem muss dieser Horror ihre Wut und ihre Kampfbereitschaft steigern. Die wahren Verantwortlichen der unzähligen Toten in Haiti sind keine Folge eines fatalen Naturereignisses, sondern der Politik des Kapitalismus und seiner Staaten, die allesamt imperialistische Aasgeier sind.
Pawel, 15. 1.2010,
[1] Libération , https://www.liberation.fr/monde/0101613901-pres-de-50-000-morts-en-haiti... [14]
[2] Libération (https://sciences.blogs.liberation.fr/home/2010/01/s%C3%A9isme-en-ha%C3%A... [15]).
[3] https://www.bme.gouv.ht/alea%20sismique/Al%E9a%20et%20risque%20sismique%... [16]
[4] Científicos alertaron en 2008 sobre peligro de terremoto en Haití sur le site Yahoomexico (Assiociated Press du 15/01/2010)
[5] PressEurop (https://www.presseurop.eu/fr/content/article/169931-bien-plus-quune-cata... [17]).
[6] https://www.guardian.co.uk/commentisfree/2010/jan/13/our-role-in-haitis-... [18]
Die Gruppe Proletarische Revolution GPR aus Österreich hat uns gebeten den folgenden Nachruf auf ihren am 7. Dezember verstorbenen Genossen Robert zu veröffentlichen. Die IKS hat mit grösster Betroffenheit vom überraschenden Tod Roberts erfahren. Wir möchten seinen Nächsten, und im Besonderen seiner Lebensparternerin, unsere tiefste Solidarität ausdrücken.
Mit dem Tod von Robert hat auch die IKS einen langjährigen engen Freund verloren. Mit seiner Offenheit, seinem Drang nach politischer Klärung und seiner grossen Geduld spielte er eine wichtige Rolle in der Entstehung eines Pols von Genossen, der sich Ende der 1980er Jahre im deutschsprachigen Raum linkskommunistischen Positionen annäherte. Dies besonders in der Schweiz, wo später eine Sektion der IKS daraus entstand.
Robert hatte nicht denselben Weg eingeschlagen. Doch Robert und die anderen Genossen der GPR blieben der IKS immer nächste politische Begleiter und Freunde in die wir vollstes Vertrauen haben.
Eine der grössten Qualitäten Roberts war sein solidarisches Auftreten und seine konsequente Haltung gegen jegliche Konkurrenzgefühle unter den verschiedenen Organisationen der Kommunistischen Linken.
Die IKS vermisst Robert.
Unser Genosse Robert ist in der Nacht vom 6. auf den 7. 12. 09 tragisch aus dem Leben geschieden. Er war einer der Gründungsmitglieder der Gruppe, die sich damals 1983 Gruppe Internationalistische Kommunisten nannte und die politische und theoretische Tradition der Autonome Gruppe Kommunistische Politik, die durch Selbstauflösung endete, fortsetzte. Die Gründungsmitglieder fanden sich in der Gemeinsamkeit zusammen, dass die politischen und theoretischen Errungenschaften der AGKP, die sich aus dem linkskapitalistischen Wirrwarr der ausklingenden 68er-Bewegung gelöst und sich linkskommunistische politische Positionen erarbeitet hatte. Den Gründungsmitgliedern schien das theoretisch-politische Rüstzeug des Linkskommunismus als die einzig mögliche politische Orientierung, wenn man sich auf den politischen Klassenboden des Proletariats stellen und die Sache des Proletariats, seine unabkömmliche politische und organisatorische Autonomie als Bedingung für zukünftig Erfolge fördern und voranbringen wollte. Nur die linkskommunistische Strömung hatte der horriblen Konterrevolution, die sich in der fast lückenlosen politischen Kontrolle über die Arbeiterklasse durch Sozialdemokratie, Stalinismus, Maoismus und der Hauptströmung des Trotzkismus ausdrückt, politisch erfolgreich getrotzt und uns die aus dieser gigantischen Konterrevolution gezogenen politischen Lehren überliefert. Genosse Ro. und Mitstreiter fühlten die Verantwortung auf ihren Schultern liegen, dass sie dafür sorgen müssten, die gegen die an vorderster Stelle stalinistische Konterrevolution von den Linkskommunisten verteidigte revolutionäre Theorie vor der Arbeiterklasse in Österreich zu vertreten und gegenüber den Arbeiterinnen und Arbeitern nach Kräften die Möglichkeit zu bieten, wieder an ihre revolutionäre Tradition anzuknüpfen. Da wir alle bloss aus dem Sympathisantenkreis der AGKP kamen, stellte sich uns die Aufgabe das ganze theoretische Rüstzeug der AGKP kritisch prüfend anzueignen und soweit es uns unzureichend schien, es mit dem aus dem Studium des Linkskommunismus gezogenen Erkenntnissen weiterzuentwickeln, um die Gruppe auf eine möglichst gefestigte politische Grundlage zu stellen. Da in den 80er Jahren massive Angriffe auf die Arbeiterklasse im Zuge der Restrukturierung der Industrie (Stichwort VÖST) stattfanden, sah sich die Gruppe vor die Aufgabe gestellt, durch politische Einmischung mittels Flugblätter usw. die dort und da aufkeimenden Kampfansätze der Arbeiterinnen und Arbeiter zu unterstützen. Die mühsame theoretische Arbeit, die Diskussionen mit dem revolutionären Milieu, die allmähliche für die Formulierung in einer Plattform herangereiften politischen Positionen betrieb Genosse Robert in vorderster Reihe. Seiner Akribie des Fragens, Nachfragens und Hinterfragens und der unnachgiebigen Suche nach Klarheit ist es zu verdanken, dass die GIK, die wegen der späteren Umbenennung heute Gruppe Proletarische Revolution heisst, eine kohärente klar auf den Errungenschaften des Marxismus und der historischen Erfahrungen des Klassenkampfes und deren Analyse beruhende Plattform hat, die wir unsere Leitlinien nennen. Robert hinterlässt die GPR, die er durch seinen unermüdlichen Einsatz massgeblich geprägt hat und deren politisches Rüstzeug er massgebend erarbeitet hat im Zustand theoretischer Festigkeit. Der Verlust durch Roberts Tod ist gewaltig. Die Gruppe verliert einen ihrer besessensten Mitarbeiter, der durch sein geschultes politisches Urteilsvermögen, seine politische Weitsicht, seine politische Erfahrung und seine unermüdlichen Untersuchungen und Analysen der politischen Ereignisse die Gruppe und ihre politische Arbeit bereichert hat. Wir hofften alle auf seine Wiederkehr nach seiner überstandenen Krankheit und freuten uns auf seine wiedergewonnene geistige Präsenz. Wir bedauern den für unsere politische Praxis folgenschweren Verlust des Genossen Robert.
Wir ersuchen die Gruppen des revolutionären Milieus der Arbeiterklasse, die Trauer über den Weggang des Genossen Robert mit uns zu teilen und uns bei der Fortsetzung unserer politischen Arbeit für die vielleicht noch in weiter Ferne liegende Befreiung der Arbeiterklasse aus ihrer ökonomischen Ausquetschung und politischen Niederhaltung durch die Bourgeoisie solidarisch zu unterstützen. Wir danken.
GPR
In den letzten Wochen standen die Vorfälle von Kundus immer wieder im bundesdeutschen Rampenlicht. Nachdem durchsickerte, dass das wahre Ausmaß des Massakers von Anfang September 2009 ziemlich schnell den deutschen Einsatzkräften vor Ort bekannt wurde, über die Ereignisse auch nach Berlin an die höchsten Stellen (im unterschiedlichen Maße) berichtet wurde, der gesamte Vorfall aber von den beteiligten Stellen dann doch heruntergespielt bzw. mit allen Tricks gemauert wurde, mussten die ersten Köpfe rollen. Rücktritt des Generalinspekteurs, eines Staatssekretärs – schließlich des damaligen Verteidigungsministers Jung und nunmehr wachsender Druck auf den neu eingesetzten Verteidigungsminister, den Shooting-Star zu Guttenberg. Mittlerweile wurde – der demokratischen Zeremonie folgend - ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zur Angelegenheit eingesetzt (der dem Militär sichtlich wohl gesonnene Verteidigungsausschuss).
Wozu all diese Aufregung?
Nachdem uns in den letzten Jahren eingetrichtert worden war, bei all den Auslandseinsätzen des deutschen Militärs gehe es nicht um eine Kriegsbeteiligung, sondern um „friedenserhaltende“, „Stabilisierungsmaßnahmen“ usw., lässt sich heute die Wirklichkeit der deutschen Kriegsbeteiligung in Afghanistan nicht mehr leugnen. Krieg ist die Entfesselung einer Vernichtungsmaschinerie –und bei nichts anderem ist auch das deutsche Militär in Afghanistan oder anderswo involviert. Man tritt dort nicht martialisch ausgerüstet auf, um mit den todbringenden Waffen in die Luft zu ballern, sondern um damit Menschen und Material zu vernichten. Es gibt keinen Krieg ohne Töten. Um zu töten, muss man gezielt schießen, versuchen, den Gegner auszuschalten, ihn mit möglichst großem Schaden treffen. All das sollte uns verheimlicht werden.
Die Geschichte des Krieges seit mehr als einem Jahrhundert zeigt, dass dabei hauptsächlich nicht Soldaten, d.h. erkennbare Truppen des Gegners auf der Strecke bleiben, sondern meist Zivilisten. Während im 19. Jahrhundert noch das Verhältnis 1:10 (ein getöteter feindlicher Soldat zu 10 Zivilisten) lautete, hat sich dieses Verhältnis genau ins Gegenteil umgekehrt: 10:1. Diese Entwicklung wiederholt sich nahezu regelmäßig in allen, im Militarismus versinkenden Gesellschaften. Ob im zerfallenden römischen Reich, das begleitet von einer Reihe von Kriegen erschöpft niederging, oder im dreißigjährigen Krieg in Deutschland 1618-48, als die Zivilbevölkerung durch den Krieg dezimiert wurde. Aber all die Anstrengungen der Herrschenden, bei den letzten Kriegen nicht offen ihre Kriegsziele zu proklamieren, sondern ihre jeweiligen Mobilisierungen unter dem Deckmantel der „humanitären“ Hilfe zu verstecken, weil die Bevölkerung sich eigentlich nicht für den Krieg einspannen lassen will, haben am Ende wenig gefruchtet.
Erzählte uns nicht „Rot-Grün“ 1998, kaum nachdem sie die Regierungsgeschäfte übernommen hatten, dass man beim Balkankrieg und der Bombardierung Serbiens „einem verbrecherischen System“ auch unter Verwendung modernster mörderischer Waffen wie z.B. Streubomben den Garaus machen müsse? Wenn nun die Bundeswehr auch in Afghanistan die Politik des „shoot-to-kill“ praktiziert, dann gehört dies vollkommen zu den Gesetzen des Krieges. Dagegen entpuppen sich diejenigen, die behaupten, dies widerspreche dem Mandat der Bundeswehr, als Vertuscher des wahren Charakters des Krieges und seiner Gesetze. Tatsache ist, keine Armee kann sich den Mechanismen des Militarismus entziehen. So kommt es, dass die Machthabenden in Deutschland und anderswo immer mehr in Bedrängnis geraten, wenn es um die Rechtfertigung der Kriegseinsätze geht.
Vor diesem Problem steht auch der Friedensnobelpreisträger, Barack Obama. War er nicht in der Wahlkampagne angetreten, um den u.a. wegen des Irakkrieges sehr unpopulär gewordenen US-Präsidenten G.W. Bush abzulösen? Hatte er nicht eine atomare Abrüstung vorgeschlagen? Aber eigentlich geht es dem Friedensnobelpreisträger nur darum, die Kräfte des US-Militärs besser zu bündeln, sie wirksamer einzusetzen. Denn schon während der Wahlkampagne hatte er die Entsendung von zusätzlichen Truppen nach Afghanistan angekündigt. Auf der bevorstehenden Afghanistankonferenz möchten die USA denn auch andere Länder zum Einsatz weiterer Truppen verpflichten – obwohl ernst zu nehmende Militärexperten eingestehen, dass der Konflikt überhaupt nicht militärisch gelöst werden kann.
Während die USA unter dem an seinem Mandatsende stark verschlissenen G.W. Bush nach 2001 in Afghanistan und im Irak ab 2003 eine Politik der Bombardierung betrieben, die nirgendwo eine Stabilisierung herbeigeführt hat, sondern die US-Politik in einen noch größeren Schlamassel hineingerissen hat, hat der „Kampf gegen den Terror“ in Pakistan nur noch einen neuen Kriegsherd eröffnet. In dem mit Atomwaffen hochgerüsteten Pakistan reißt die Attentatsserie nicht ab, die sich immer mehr gegen die Regierung und „ausländische“ Einflüsse richtet. Auch hier hinterlässt der Militarismus immer mehr verbrannte Erde – und große Flüchtlingsströme…
Wenn nun die USA in Anbetracht des missglückten Attentats auf eine US-Passagiermaschine angekündigt haben, ihren „Krieg gegen den Terror“ auch auf den Jemen auszudehnen, in dem sich der Attentäter aufgehalten haben soll, dann ziehen die USA damit nur noch ein weiteres Land in ihren Kampf zur Aufrechterhaltung ihrer Vormachtstellung. Am Ende seines Mandats wird der Friedensnobelpreisträge Obama wohl mit so viel Blut an den Fingern dastehen wie sein Vorgänger Bush…. (1)
Dabei ist die Ausdehnung der Bombardierungen auf den Jemen aber nicht irgendein sekundärer Schritt, sondern von großer Bedeutung, denn das Land liegt an der strategisch wichtigen Schiffspassage – dem Horn von Afrika und der Route zum Suez-Kanal, wo –ohnehin schon bedrängt von Piraten aus dem failed-state Somalia – ein Großteil des Weltschiffverkehrs zwischen Asien und Europa abgewickelt wird. Das Eingreifen auf jemenitisches Territorium durch US-Truppen wird sicherlich von den Rivalen argwöhnisch beobachtet werden. Inzwischen wird darüber spekuliert, dass in Washington ein Militärschlag gegen den Iran vorbereitet wird, um die Entwicklung eines Atompotenzials dieses Landes noch zu verhindern.
In der Zwischenzeit unterlassen die USA aber keine Gelegenheit, dem deutschen Rivalen eins vor den Bug zu schießen. Denn wenn die ISAF in ihrem Bericht die Politik des Bundeswehrkommandos hinsichtlich des Vorfalls von Kundus kritisierte, dann geschieht dies nicht ohne die direkte „Zuarbeit“ der USA, welche im Auftrag der Bundeswehr die Bombardierung bei Kundus ausgeführt haben, und somit bestens in der Lage sind, die deutschen Medien mit Enthüllungen darüber zu versorgen. So ruft die verbleibende Supermacht USA den herrschenden Politikern wie in Deutschland in Erinnerung, dass sie immer noch in der Lage sind, aussichtsreiche Politikerkarrieren scheitern zu lassen und jede x-beliebige Regierung der Welt innenpolitisch unter Druck zu setzen.
(1) In Kolumbien, wo die USA den Kampf gegen die Drogenbarone auch und vor allem mit militärischen Mitteln führen, wurden 2009 über 15.000 Menschen getötet, davon gingen allein 6.000 auf das Konto von Killerkommandos. Die US-Strategie, mit Waffengewalt für „Befriedung“ und „Sicherheit“ sorgen zu wollen, verschlimmert die Spirale der Gewalt nur noch mehr.
"Kopenhagen-Gipfel gescheitert" (Guardian, England), "Fiasko in Kopenhagen", "Groteskes Ergebnis", "Schlimmer als unnütz" (Financial Times, England), "Ein nutzloser Gipfel" (The Asian Age, Indien), "Kalte Dusche", "Das schlechteste Abkommen der Geschichte" (Libération, Frankreich). Die internationale Presse ist also fast einhelliger Meinung. 1 Dieser als historisch angekündigte Gipfel ist zu einer wahren Katastrophe geworden. Am Ende haben die Teilnehmerstaaten einer Reihe von vagen Zielen zugestimmt, die niemanden zu irgendetwas verpflichten. Die Erderwärmung auf unter 2°C bis 2050 reduzieren. "Das Scheitern des Kopenhagener Gipfels ist schlimmer als alles befürchtete", meinte Herton Escobar, der Wissenschaftsexperte der Zeitung O Estado De São Paulo (Brasilien). "Das größte diplomatische Ereignis der Geschichte hat zu überhaupt keiner Verpflichtung geführt." 2 Wer auch immer an ein Wunder geglaubt hatte, an die Geburt eines grünen Kapitalismus, wird jetzt damit konfrontiert, dass die Illusionen dahinschmelzen, genau wie das Eis in der Arktis und Antarktis.
Dem Kopenhagener Gipfel ging eine gewaltige, ohrenbetäubende internationale Medienkampagne voraus. Alle Fernsehkanäle, alle Zeitungen, alle Zeitschriften haben dieses Ereignis zu einem historischen Augenblick hochstilisiert. Eine Vielzahl von Beispielen zeigt das auf. Schon am 5. Juni 2009 wurde der Dokumentarfilm von Yann Arthus Bertrand, Home, der eine dramatische und schonungslose Bestandaufnahme des Ausmaßes der weltweiten Ökokatastrophe erstellt, gleichzeitig und kostenlos in 70 Ländern ausgestrahlt (im Fernsehen, im Internet, in den Kinos).
Hunderte Intellektuelle und Umweltverbände haben hochtrabende Erklärungen veröffentlicht, um "das Bewusstsein wachzurütteln" und "einen Druck der Bürger auf die Entscheidungsträger auszuüben". In Frankreich hat die Stiftung Nicolas Hulot von einer Art Ultimatum gesprochen: "Die Zukunft des Planeten und mit ihr das Schicksal von Milliarden Hungernder wird in Kopenhagen entschieden. Wir müssen wählen zwischen Solidarität oder Chaos, die Menschheit muss ihr Schicksal in die Hand nehmen". In den USA die gleiche dringliche, warnende Botschaft: "Die Staaten der Welt versammeln sich in Kopenhagen vom 7.-18. Dezember 2009 zu einer Klimakonferenz, die als ein Gipfel der letzten Chance angesehen wird. Entweder wird sie zu einem Erfolg, oder alles bricht zusammen, wörtlich genommen – schwimm oder geh unter. Man kann behaupten, dass es sich um das wichtigste Diplomatentreffen der Geschichte der Welt handelt." (Bill McKibben, Schriftsteller und amerikanischer Umweltaktivist, in Mother Jones) 3
Zu Beginn des Gipfels veröffentlichten 56 Zeitungen aus 44 Ländern – in einer bislang noch nie dagewesenen Initiative in ein und demselben Editorial einen Aufruf. „Der Klimawandel wird unseren Planeten und damit auch Wohlstand und Sicherheit zerstören, falls wir uns nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen.[…] Der Klimawandel ist über Jahrhunderte hinweg verursacht worden, seine Folgen werden weitere Jahrhunderte andauern. Lässt er sich zähmen? Das wird sich in den kommenden zwei Wochen entscheiden. Wir appellieren an die Vertreter der 192 Staaten in Kopenhagen, nicht zu zögern, nicht im Streit auseinanderzugehen und sich nicht gegenseitig die Schuld zuzuschieben […] Der Klimawandel betrifft alle, die Strategien dagegen müssen von allen getragen werden. 4
All diese Reden enthalten eine Halbwahrheit. Forschungsergebnisse belegen, dass der Planet dabei ist zerstört zu werden. Die Erderwärmung schreitet voran und damit auch der Vormarsch der Wüsten, Wirbelstürme, Brände… Die Verschmutzung und die intensive Ausbeutung der Ressourcen führen zu einem gewaltigen Artensterben. Es wird erwartet, dass 15-37% der Arten bis 2050 ausgestorben sein werden. Heute steht eins von vier Säugetieren, einer von acht Vögeln, ein Drittel der Amphibien und 70% der Pflanzen vor dem Aussterben 5. Prognosen des Weltforums zufolge wird der „Klimawandel“ für ca. 300.000 Menschen pro Jahr den Tod bedeuten (darunter wird die Hälfte an Unterernährung sterben). 2050 rechnet man mit ca. „250 Millionen Klimaflüchtlingen“ 6. Ja, die Sache wird dringlich. Ja, die Menschheit steht vor einer Schicksalsfrage, ja es geht ums Überleben!.
Aber die andere Hälfte der Botschaft ist eine riesige Lüge, die dazu dient der Arbeiterklasse auf der ganzen Welt Illusionen einzuflößen. Alle riefen sie die Regierung zu einem verantwortlichen Handeln und zur internationalen Solidarität gegenüber den „Klimagefahren“ auf. Als ob die Staaten ihre eigenen nationalen Interessen vergessen oder überwinden und sich zusammenschließen, zusammenarbeiten und im Interesse der Menschheit gegenseitig helfen könnten. All dies sind nur Märchengeschichten, die dazu dienen, eine Arbeiterklasse zu beruhigen, die sich Sorgen macht, dass die Erde schrittweise zerstört wird und Hunderte Millionen Menschen darunter leiden werden 7. Die Umweltkatastrophe führt deutlich vor Augen, dass nur eine internationale Lösung ins Auge gefasst werden kann. Um zu verhindern, dass die Arbeiter zu viel nachdenken und sich auf die Suche nach einer „Lösung“ begeben, haben die Herrschenden unter Beweis stellen wollen, dass sie dazu in der Lage wären, ihre nationalen Spaltungen zu überwinden, oder wie das internationale Editorial der 56 Zeitungen erklärte, „nicht im Streit auseinanderzugehen und sich nicht gegenseitig die Schuld zuzuschieben“ und „Der Klimawandel betrifft alle, die Strategien dagegen müssen von allen getragen werden.“
Das Geringste, was man sagen kann, ist dass dieses Ziel völlig verfehlt wurde. Wenn Kopenhagen etwas gezeigt hat, dann dass der Kapitalismus nur eine Dreckschleuder ist und sein kann.
Man durfte keine Illusionen haben; aus diesem Gipfel konnte nichts Gutes hervorgehen. Der Kapitalismus zerstört seit jeher die Umwelt. Schon im 19. Jahrhundert war London eine gewaltige Fabrik, die mit Rauch die Luft verpestete und ihren Müll in die Themse schmiss. Dieses System produziert einzig mit dem Ziel, mit allen möglichen Mitteln Profit zu erwirtschaften und Kapital anzuhäufen. Egal, wenn es dazu Wälder abholzen, die Meere plündern, Flüsse verschmutzen, das Klima durcheinander bringen muss….
Kapitalismus und Ökologie stehen sich notwendigerweise unversöhnlich gegenüber. All die internationalen Treffen, die Komitees, Gipfel (wie der von Rio de Janeiro 1992 oder der von Kyoto 1997) waren immer nur Masken, in den Medien aufgebauschte Inszenierungen, um uns glauben zu machen, dass die „Großen dieser Welt“ sich Gedanken machen über die Zukunft des Planeten. All die Nicolas Hulot, Yann Arthus Bertrand, Bill McKibben und andere wie Al Gore 8 wollten uns glauben machen, dass es dieses Mal anders werden würde, und dass sich in Anbetracht der Dringlichkeit der Lage die großen Führer der Welt „zusammenreißen“ würden. Während all diese Ideologen nur heiße Luft verbreiten, zogen dieselben „Führer“ ihre ökonomischen Waffen. Denn so sieht die Wirklichkeit aus: der Kapitalismus ist in Nationen gespalten, alle konkurrieren miteinander, stehen immerfort im Handelskrieg miteinander, und wenn nötig auch in militärischen Kriegen.
Nur ein Beispiel. Der Nordpol ist dabei zu schmelzen. Die Wissenschaftlicher sehen eine wahre Ökokatastrophe heraufziehen: der Meeresspiegel wird ansteigen, der Salzgehalt zunehmen, die Meeressströmungen werden verändert, die Infrastrukturen destabilisiert und die Küsten leiden unter Erosionen aufgrund des Schmelzens des Permafrosts, Freisetzung von CO2 und Methan aus den Permafrostböden, Zerstörung der arktischen Ökosysteme…9 Die Staaten dagegen sehen darin eine große Gelegenheit neue, bislang unzugänglich gebliebene Ressourcen auszubeuten und neue, eisfreie Schifffahrtswege zu gewinnen. Russland, Kanada, die USA, Dänemark (über Grönland) führen gegenwärtig einen gnadenlosen diplomatischen Krieg und zögern nicht, zum Zweck der militärischen Einschüchterung mit Waffen zu drohen. So „beteiligten sich letzten August ungefähr 700 kanadische Soldaten aus den drei Bereichen Heer, Marine und Luftwaffe an der kanadischen Operation NANOOK 09. Das militärische Manöver versucht zu beweisen, dass Kanada in der Lage ist, in der Arktis, auf die auch die USA, Dänemark und vor allem Russland Ansprüche erheben, seine Souveränität sicherzustellen. Russland hat in der jüngsten Zeit Ottawa irritiert, nachdem es Flugzeuge und U-Boote in die Arktis geschickt hat“. 10. In der Tat schickt Russland seit 2007 regelmäßig Jagdflugzeuge in den Luftraum über der Arktis und auch manchmal über kanadische Gewässer wie zur Zeit des Kalten Krieges.
Kapitalismus und Ökologie stehen sich immer diametral gegenüber
„Das Scheitern von Kopenhagen“ ist deshalb alles andere als eine Überraschung. Wir hatten dies schon in unserer letzten „Internationalen Revue“ (3. Quartal 2009) vorhergesehen: „Der Weltkapitalismus ist völlig unfähig um gegen die Gefahren der Umweltzerstörung gemeinsam anzutreten. Insbesondere in der Zeit seines gesellschaftlichen Zerfalls mit der wachsenden Tendenz, dass jede Nation im Konkurrenzkampf aller gegen alle auf internationaler Ebene ihre eigenen Karten spielt, ist solch eine Zusammenarbeit unmöglich.“ Es ist dagegen überraschender, dass all diese Staatschefs es nicht einmal geschafft haben, den Schein zu bewahren. Normalerweise wird am Schluss ein Abkommen mit großem Prunk unterzeichnet, wobei vorgetäuschte Ziele präsentiert werden, und solche Abkommen werden dann von allen begrüßt. Diesesmal wurde der Gipfel offiziell als „historisch gescheitert“ erklärt. Die Spannungen und das Geschacher konnten nicht mehr verborgen werden; sie sind groß auf der Bühne ausgebreitet worden. Selbst das traditionelle Gruppenphoto mit den Staatschefs, bei dem sie sich beglückwünschen und umarmen und immer eifrig in die Kameras lächeln, wurde nicht mal aufgenommen. Allein das spricht schon Bände!
Dieses Eingeständnis ist so offenkundig, lächerlich und beschämend, dass die Herrschenden ein niedriges Profil wahren. Dem Lärm um die Vorbereitungen des Kopenhagener Gipfels folgte ein ebenso betretenes Schweigen. So begnügten sich die Medien nach dem Gipfel mit einigen diskreten Zeilen der „Bilanz“ des Scheiterns (wobei übrigens systematisch der eine dem andere in die Schuhe schob), und man vermied in den darauf folgenden Tagen sorgfältig, auf diese schmutzige Angelegenheit zurückzukommen.
Warum haben die Staatschefs im Gegensatz zu früher nicht einmal mehr den Schein bewahren können? Die Antwort lautet: die Wirtschaftskrise. Im Gegensatz zu allem, was überall auf der Welt behauptet wird, treibt die schwere Wirtschaftskrise die Staatschefs nicht dazu, die „ausgezeichnete Gelegenheit“ zu ergreifen, um die ganze Welt in das „Abenteuer der green economy“ zu stürzen. Im Gegenteil, die Brutalität der Krise verschärft die Spannungen und die internationale Konkurrenz. Der Kopenhagener Gipfel hat bewiesen, dass sich die Großmächte einen gnadenlosen Kampf gegeneinander führen. Die Zeit ist vorbei, als sie vortäuschen konnten, dass sie sich gut verstehen und Abkommen (auch wenn sie verlogen sind) präsentieren. Sie haben die Messer gezogen, Pech gehabt, wenn das alles in den Medien verfolgt wurde.
Seit dem Sommer 2007 und dem Absturz der Weltwirtschaft in die tiefste Rezession der Geschichte des Kapitalismus, gibt es eine wachsende Versuchung, den Verlockungen des Protektionismus zu verfallen und eine zunehmende Tendenz des Jeder für sich. Natürlich ist der Kapitalismus aufgrund seiner Grundeigenschaften immer in Nationen gespalten, die sich einen gnadenlosen Konkurrenzkampf liefern. Aber der Krach von 1929 und die Krise der 1930er Jahre hatten den Herrschenden vor Augen geführt, wie gefährlich es war, wenn es überhaupt keine Regeln und internationale Absprachen im Welthandel gibt. Insbesondere nach dem 2. Weltkrieg hatte man im Ostblock und im westlichen Block organisatorische Maßnahmen ergriffen und ein Mindestmaß an Gesetzen verabschiedet, um die Wirtschaftsbeziehungen untereinander zu regeln. Überall wurde zum Beispiel der grenzenlose Protektionismus verboten, nachdem man ihn als einen schädlichen Faktor für den Welthandel und damit auch für alle Länder erkannt hatte. Die großen Abkommen (wie das von Bretton Woods 1944) und die Institutionen, welche die Einhaltung der neuen Regeln überwachen sollten (wie der Internationale Währungsfond), haben in der Tat dazu beigetragen, die wirtschaftliche Verlangsamung des kapitalistischen Wachstums seit 1967 abzufedern.
Aber die Tragweite der gegenwärtigen Krise hat all diese Regeln der Funktionsweise über Bord geworfen. Die Herrschenden haben gleichwohl versucht, gemeinsam und vereint vorzugehen, als sie z.B. den berühmten G 20 von Pittsburgh und von London organisiert haben, aber die Tendenz des Jeder für sich hat jeden Monat mehr an Boden gewonnen. Die Ankurbelungspläne werden immer weniger miteinander unter den Staaten abgesprochen und der Wirtschaftskrieg wird immer aggressiver. Der Kopenhagener Gipfel bestätigte diese Tendenz ganz deutlich.
Man muss unterstreichen, dass im Gegensatz zu einem angeblichen “Ende der Durststrecke” und einem bevorstehenden Wiederaufschwung der Weltwirtschaft die Rezession sich in Wirklichkeit immer weiter verschärft und sich sogar Ende 2009 weiter beschleunigt hat. „Dubai – Pleite des Emirs“, „Griechenland am Rande des Bankrotts“ (Libération, 27.11., 9.12.). 11 Diese Meldungen wirkten wie ein Blitz. Jeder Staat spürt, dass seine Wirtschaft in Gefahr ist und ist sich dessen bewusst, dass wir vor einer immer tieferen Rezession stehen. Um zu verhindern, dass die kapitalistische Wirtschaft zu schnell in einer Depression versinkt, haben die Herrschenden seit dem Sommer 2007 keine andere Wahl als massenhaft Geld zu drucken und in die Wirtschaft zu pumpen, womit die öffentliche und Staatsverschuldung nur weiter angeheizt wird. Die Bank Société Générale hat im November 2009 in einem Bericht darauf hingewiesen: „Das Schlimmste steht uns noch bevor“. Dieser Bank zufolge „haben die jüngsten Rettungspakete der Regierungen auf der Welt einfach den Schuldenberg der Privathaushalte auf die öffentlichen Haushalte übertragen, wodurch nur eine neue Reihe von Problemen entstanden ist. Das erste sind die Defizite. […] Das gegenwärtige Verschuldungsniveau kann langfristig nicht aufrechterhalten werden. Wir haben praktisch einen Punkt der öffentlichen Verschuldung erreicht, wo es kein zurück mehr gibt.“ 12. Die globale Verschuldung ist in den meisten hochentwickelten Staaten viel zu groß geworden im Verhältnis zum BIP. In den USA und in der Europäischen Union werden die Schulden in zwei Jahren auf 125% des BIP angewachsen sein. In Großbritannien werden sie 105% betragen, in Japan 270%. Und die Bank Société Générale ist nicht die einzige Bank, die die Alarmglocke läutet. Im März 2009 hatte die Crédit Suisse eine Liste der 10 am stärksten vom Bankrott gefährdeten Länder erstellt, indem man den Umfang der Verschuldung und das BIP verglich. Im Augenblick hat diese Liste der „Top 10“ den Nagel auf den Kopf getroffen; sie lautet: Island, Bulgarien, Litauen, Estland, Griechenland, Spanien, Lettland, Rumänien, Großbritannien, USA, Irland, Ungarn. 13 Ein anderes Zeichen der Sorgen auf den Finanzmärkten ist eine neu aufgekommene Abkürzung: PIGS. „Heute sind es die PIGS: Portugal, Italien, Griechenland, Spanien, die die Welt erschüttern. Nach Island und Dubai betrachtet man diese vier Länder der Eurozone als mögliche Zeitbomben der Weltwirtschaft.“ 14.
In Wirklichkeit werden alle Staaten aufgrund ihrer phänomenalen Defizite eine rigorose Sparpolitik betreiben müssen. Konkret heißt dies, dass sie:
- die Steuern erhöhen werden
- die Ausgaben noch drastischer kürzen werden, und dabei unzählige Arbeitsplätze streichen und eine Vielzahl von Kürzungen vornehmen werden bei Renten, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe und medizinischer Versorgung.
- Natürlich eine immer aggressivere, rücksichtslose Politik auf dem Weltmarkt betreiben müssen.
Diese katastrophale Wirtschaftslage verschärft natürlich den Konkurrenzkampf. Jeder Staat sträubt sich heute davor, irgendwelche Konzessionen zu machen; jeder Staat führt einen Überlebenskampf seiner Volkswirtschaft gegen die anderen Rivalen. Diese Spannung, dieser Wirtschaftskrieg wurden in Kopenhagen greifbar.
In Kopenhagen sind die Staaten zusammengekommen, nicht um den Planeten zu retten, sondern um sich mit Händen und Füßen zu wehren. Ihr Ziel bestand einzig darin, die Frage des Umweltschutzes zu verwenden, um damit Maßnahmen zu ihren Gunsten durchzusetzen, und die vor allem anderen Schaden zufügen.
Die USA und China werden von den meisten Ländern beschuldigt für das Scheitern hauptsächlich verantwortlich zu sein. Diese beiden Länder haben sich in der Tat gegen eine Zielvereinbarung einer CO2-Reduzierung ausgesprochen, das als Hauptverantwortlicher des Treibhauseffektes gilt. Die beiden größten Umweltverschmutzer hatten natürlich auf dieser Ebene auch am meisten zu verlieren.15 "Wenn die Ziele der Expertengruppe des Climate Change 16 verfolgt werden (d.h. eine CO2-Reduzierung um 40% bis 2050), darf jeder Erdenbürger nur noch maximal 1,7 Tonnen CO2 pro Jahr ausstoßen. Aber im Durchschnitt produziert jeder US-Amerikaner pro Jahr 20 Tonnen! 17 Und die chinesische Wirtschaft funktioniert heute hauptsächlich dank der Energiezufuhr von Kohlekraftwerken, die insgesamt 20% der weltweiten CO2-Emissionen verursachen. Das entspricht mehr als dem Ausstoß des gesamten Verkehrs, (Autos, LKW, Züge, Schiffe und Flugzeuge zusammengenommen)." 18. Man kann verstehen, warum all die anderen Länder so darauf erpicht waren, "Zahlenwerte" bei der CO2-Reduzierung vorzuschreiben.
Aber man darf dennoch nicht glauben, dass die USA und China irgendwie gemeine Sache gemacht hätten. Das Reich der Mitte hat nämlich ebenso eine CO2-Reduzierung von 40% bis 2050 gefordert, und zwar für die USA und Europa. Und China sollte natürlich als "Schwellenland" davon ausgespart bleiben. "Die Schwellenländer, insbesondere Indien, China, forderten von den reichen Ländern ein starkes Engagement zur Reduzierung der Treibhausgase, aber sie weigerten sich, sich irgendwelchen Einschränkungen zu unterwerfen." 19
Indien hat ungefähr die gleiche Strategie eingeschlagen, eine Reduzierung für die anderen einzufordern, aber von sich selbst keine zu erwarten. Es rechtfertigte seine Haltung damit, dass "Hunderte Millionen Arme im Land leben und das Land könne keine zusätzlichen Belastungen vertragen." Die "Schwellenländer" oder in "der Entwicklung befindlichen Länder" werden oft in der Presse als die ersten Opfer des Fiaskos von Kopenhagen dargestellt. Diese zögerten in Wirklichkeit nicht davor zurück, die Armut ihrer Bevölkerung für die Verteidigung ihrer bürgerlichen Interessen zu instrumentalisieren. Der Delegierte Sudans, der Afrika vertrat, verglich die Lage gar mit dem Holocaust: "Diese Lösung stützt sich auf die Werte, die sechs Millionen Menschen in die Krematorien in Europa geschickt haben." 20 Diese Führer, die ihre Bevölkerungen Hunger leiden lassen und auch ab und zu Massaker ausüben, wagen heute schamlos an deren "Unglück" zu erinnern. Im Sudan zum Beispiel sterben die Menschen schon heute durch Waffengewalt und nicht erst durch die zukünftigen Klimafolgen.
Und wie hat Europa, das die tugendhafte Dame spielt, die "Zukunft des Planeten" verteidigt? Schauen wir uns einige Beispiele an. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy hat eine lautstarke Erklärung am vorletzten Tag des Gipfels abgegeben. "Wenn wir so weitermachen, wird der Gipfel scheitern. […] Wir müssen alle Kompromisse eingehen. […] Europa und die reichen Länder müssen anerkennen, dass sie eine größere Verantwortung übernehmen müssen. Wir müssen uns mehr engagieren. […] Wer würde wagen zu behaupten, dass Afrika und die ärmeren Länder kein Geld brauchen?[…] Wer würde wagen zu sagen, dass man keine Organisation braucht, um die Umsetzung der Verpflichtungen der einzelnen Länder zu überprüfen?" 21 Hinter diesen großen Worten verbirgt sich eine ganz andere Wirklichkeit. Der französische Staat und Nicolas Sarkozy haben sich für eine Senkung der CO2-Emissionen eingesetzt, damit Atomkraft, eine lebenswichtige Ressource für die französische Wirtschaft, in keinster Weise begrenzt werde! Aber von dieser Energie geht eine große Gefahr aus, die wie ein Damoklesschwert über der Menschheit hängt. Der Unfall in Tschernobyl hinterließ den Schätzungen zufolge zwischen 4.000 und 200.000 Tote – je nachdem, ob man die Krebstoten infolge der Verstrahlungen berücksichtigt oder nicht. Mit der Wirtschaftskrise werden die Staaten in der Zukunft viel weniger Mittel haben, AKWs zu unterhalten; die Wahrscheinlichkeit von Unfällen und Störfällen in AKWs wird zunehmen. Dabei wirkt Atomstrom heute schon als großer Umweltverschmutzer. Der französische Staat will glauben machen, die radioaktiven Abfälle würden "sauber" in La Hague entsorgt. In Wirklichkeit werden aus Kostenersparnisgründen radioaktive Abfälle heimlich nach Russland verschickt. "Ca. 13% unserer nuklearen Abfälle schlummern irgendwo auf sibirischem Boden. Insbesondere im atomaren Komplex Tomsk-7, eine geheime Stadt mit 30.000 Einwohnern, wo man Journalisten den Zutritt versagt hat. Dort werden seit Mitte der 1990er Jahre 108 Tonnen abgereichertes Uran aus französischen AKWs in Containern auf einem großen Parkplatz bei offenen Himmel gelagert." 22. Ein anderes Beispiel. Skandinavische Staaten brüsten sich an der Spitze der Umweltschützer zu stehen; sie stellen sich gerne als kleine Modelle dar. Aber wenn es um den Kampf gegen die Rodung der Wälder geht, "blockieren Schweden, Finnland aber auch Österreich, damit auf dieser Ebene nichts geschieht". 23. Der Grund: ihre Energieproduktion hängt sehr stark von Holz ab, zudem sind sie große Papierexporteure. Deshalb standen in Kopenhagen Schweden, Finnland und Österreich Seite an Seite mit China, das als der Welt führender Möbelhersteller aus Holz auch keine Begrenzung der Rodung der Wälder zulassen wollte. Dabei geht es keineswegs um ein Ideal. "Die Entwaldung ist verantwortlich für ein Fünftel der weltweiten CO2 Emissionen." 24 und "die Zerstörung von Wäldern belastet die Klimabilanz sehr […] Ungefähr 13 Millionen Hektar Wald werden jedes Jahr gefällt, d.h. soviel wie die Fläche Englands, dadurch sind Indonesien und Brasilien zum dritt- und viertgrößten CO2- Emittenten der Welt geworden." 25. Diese drei europäischen Länder, die sich als lebendiger Beweis dafür ausgeben, dass die kapitalistische Wirtschaft mit Ökologie vereinbar ist, "erhielten am ersten Tag der Verhandlungen den Preis der „Fossilien des Tages“ 26, weil sie sich weigern, ihre Verantwortung bei der Neuaufforstung der Waldböden anzuerkennen." 27
Ein Land verkörpert schon ganz alleine den Zynismus der Herrschenden hinsichtlich der Frage der Ökologie. Seit Monaten verkündete Russland lauthals, dass es für eine zahlenmäßige Festlegung auf eine CO2-Reduzierung sei. Diese Position mag als überraschend erscheinen, wenn man das Wesen des russischen Staates kennt. Sibirien ist radioaktiv verseucht. Seine Atomwaffen (Bomben, U-Boote usw.…) verrosten auf "Friedhöfen". Hätte nun der russische Staat Gewissensbisse bekommen? „Russland stellt sich als Modellnation hinsichtlich der CO2-Emissionen dar. Aber das ist nur ein Taschenspielertrick. Im November verpflichtete sich der russische Präsident Dimitri Medvedev zu einer Reduzierung der russischen Emissionen um 20% bis 2020 (auf der Grundlage der Ausgangswerte von 1990) 28, d.h. mehr als die EU. Aber dadurch entsteht keine wirkliche Verpflichtung, denn tatsächlich sind die russischen Emissionen schon seit 1990 um ….33% gesunken, weil das russische BSP nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ebenfalls zusammengebrochen ist. In Wirklichkeit versucht nämlich Moskau in der Zukunft mehr CO2 auszustoßen, um sein Wachstum nicht zu bremsen (falls es wieder ansteigt…) Die anderen Länder werden solch eine Haltung nicht leicht übernehmen." 29".
Der Kapitalismus wird niemals "grün" werden. Morgen wird die Wirtschaftskrise uns noch härter treffen. Das Schicksal des Planeten ist die letzte Sorge der Herrschenden. Sie wird nur nach einem streben: Ihre eigenen nationalen Interessen fördern. Dabei wird es zu mehr und mehr Zusammenstößen zwischen den Ländern kommen, unrentable Betriebe werden geschlossen oder man lässt sie einfach herunterkommen, die Produktionskosten werden gesenkt, die Sicherheit und Wartung der Betriebe und der Energieerzeuger (Atomkraft – und Kohlekraftwerke) wird eingeschränkt. All dies bedeutet mehr Verschmutzung und Unfälle in der Industrie. Das ist die Zukunft im Kapitalismus – eine sich zuspitzende Wirtschaftskrise, eine verrottende und umweltverschmutzende Infrastruktur und ein immer größeres Leiden für die Menschheit.
Es ist Zeit, dass wir den Kapitalismus überwinden, bevor er den Planeten zerstört und die Menschheit dezimiert.
Pawel, 6.1.2010.
(aus Platzgründen haben wir hier die Fußnoten nicht mit aufgeführt. Sie sind auf unserer Webseite zugänglich).
1 Nur amerikanische und chinesische Journalisten sprachen von einem "Erfolg", "einem Schritt vorwärts“. Wir werden später erklären, warum das der Fall war.
2 www.estadao.com.br/estadaodehoje/20091220/not_imp484972,0.php [27]
3 https://www.courrierinternational.com/article/2009/11/19/un-sommet-plus-important-que-yalta [28]
4 https://www.courrierinternational.com/article/2009/12/07/les-quotidiens-manifestent-pour-la-planete [29]
5 https://www.planetoscope.com/biodiversite [30]
6 www.futura-sciences.com/planete/actualites/climatologie-rechauffement-climatique-vers-30000-morts-an-chine-2-c-19468 [31]
7 Man kann nicht ausschließen, dass ein großer Teil der Intellektuellen und Verantwortlichen der Umweltverbände selbst an die Geschichten glaubt, die sie erfinden. Dies ist ziemlich wahrscheinlich der Fall.
8 Er erhielt den Friedensnobelpreis für seinen Kampf gegen die Klimaerwärmung mit einem Dokumentarfilm "Eine unbequeme Wahrheit".
9 m.futura-sciences.com/2729/show/f9e437f24d9923a2daf961f70ed44366&t=5a46cb8766f59dee2844ab2c06af8e74
10 ici.radio-canada.ca/nouvelle/444446/harper-exercice-nord [32]
11 Die Liste müsste fortgesetzt werden, denn seit Ende 2008, Anfang 2009 wurden Island, Bulgarien, Litauen und Estland schon als "insolvente Staaten" eingestuft.
12 Bericht [33] – von Telegraph (englische Zeitung) am 18. November 2009 veröffentlicht worden.
13 Quelle : weinstein-forcastinvest.net/apres-la-grece-le-top-10-des-faillites-a-venir
14 Le nouvel Observateur, französisches Zeitschrift, 3. – 9. Dezember.
15 Deshalb der Siegesschrei der amerikanischen und chinesischen Presse (in unserer Einführung hervorgehoben), für die das Nichtzustandekommen eines Vertrages "ein Schritt nach vorne" darstellt.
16 IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change)
17 Le nouvel Observateur, 3. -9. 12.2009, Sondernummer Kopenhagen.
18 Idem.
19 www.rue89.com/planete89/2009/12/19/les-cinq-raisons-de-lechec-du-sommet-... [34]
20 Les Echos 19-12-2009.
21 Le Monde 17-12-2009.
22 "Nos déchets nucléaires sont cachés en Sibérie", Libération du 12 octobre 2009.
23 Euronews 15-12-2009 (fr.euronews.net/2009/12/15/copenhague-les-emissions-liees-a-la-deforestation-font-debat)
24 www.rtl.be/info/monde/international/wwf-l-europe-toujours-faible-dans-la-lutte-contre-la-deforestation-143082.aspx [35]
25 La Tribune (quotidien français) du 19 décembre 2009.
26 Dieser Preis wird von einer Gruppe von 500 NGO verliehen, die Einzelpersönlichkeiten oder Staaten "würdigen", die euphemistisch gesagt, "die Entscheidungen im Kampf gegen die Erderwärmung hinauszögern". Auf dem Kopenhagener Gipfel konnte allen Ländern der Preis des "Fossil of the Day [36].verliehen werden.
27 Le Soir (belgische Tageszeitung) 10-12- 2009.
28 1990 ist das Referenzjahr für alle Treibhausgasemissionen für alle Länder seit dem Kyoto-Protokoll
29 Le nouvel Observateur 3.- 9.12.2009.
Bis heute hat sich noch jede Bundesregierung, die seit der Wiedervereinigung amtierte, geweigert, konkrete Angaben über die tatsächlichen Kosten der ‚Wiedervereinigung‘ zu machen. „Alle Bundesregierungen haben versucht, die Kosten der Vereinigung zu verschleiern, wohl um eine Neiddebatte zu verhindern“, schrieb bereits vor fünf Jahren der Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität von Berlin, Klaus Schroeder, in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Es wäre wirklich eine noble Geste, wenn es den Herrschenden nur darum ginge, den Graben zwischen Ost und West, den sie selbst gegraben haben, nicht noch weiter zu vertiefen. Viel naheliegender ist jedoch das Motiv, mit der Verschleierung der Einheitskosten das ganze Ausmaß des Fiaskos der Wiedervereinigung auf ökonomischer Ebene zu verbergen.
Seriöse Untersuchungen schätzen, dass in den letzten 20 Jahren Transferleistungen in Höhe von 1,5 bis 2 Billionen Euro nach Ostdeutschland gepumpt wurden. Allein zwischen 1991 und 1994 betrug der Anteil dieser Leistungen am westdeutschen Bruttoinlandproduktes (BIP) vier Prozent jährlich. Ein gigantisches Konjunkturprogramm, dessen Dimensionen erst von Obamas Rettungsplan für die US-Wirtschaft nach der jüngsten Krise übertroffen wurde. Sichtbarste Zeichen dieses Programms sind sanierte Innenstädte, eine moderne Infrastruktur, gut ausgebaute Gewerbegebiete. Doch es sind Innenstädte ohne Leben, Infrastrukturen ohne Nutzer, Gewerbegebiete ohne Gewerbe. Es sind Potemkinsche Dörfer, die verbergen sollen, dass der „Aufschwung Ost“, wie dieses Konjunkturprogramm genannt wird, eine Schimäre ist, ein Hirngespinst der politischen Klasse Deutschlands, das an der Realität eines Kapitalismus zerschellt, der es nicht mit einer Unterkonsumtion zu tun hat, sondern mit einer permanenten und sich zuspitzenden Überproduktion. Dabei verhießen zunächst steigende Wachstumszahlen des ostdeutschen Bruttoinlandproduktes in der ersten Hälfte der 90er Jahre ein Aufschließen der ostdeutschen Wirtschaft an das westdeutsche Niveau auf absehbare Zeit.[1] Doch wer genauer hinschaute, musste feststellen, dass es nicht die Industrie, sondern das Bauhandwerk war, das den Löwenanteil zu diesem Wachstum beitrug.[2] Kaum waren die letzten Straßen erneuert und die Bevölkerung mit ‚adäquatem‘ Wohnraum versorgt, ging das ohnehin bescheidene Wachstum kontinuierlich zurück. So ist bis heute kein ‚selbsttragender‘ Aufschwung der ostdeutschen Wirtschaft in Sicht.
Es war eine geradezu groteske Illusion der deutschen Bourgeoisie zu glauben, dass die Einheitskosten allein durch ein als selbstverständlich vorausgesetztes ostdeutsches Wachstum und das damit einhergehende erhöhte Steueraufkommen sowie durch die Einsparung der Kosten der deutschen Teilung finanziert werden könnten. Diese Kalkulation erwies sich schnell als Milchmädchenrechnung; die einzige Größe, die beträchtliche Steigerungsraten aufwies, waren die galoppierenden Kosten der Einheit. Darüber konnte auch nicht das kurze Strohfeuer hinwegtäuschen, das den westdeutschen Banken, Industrien und Handelsgesellschaften in Folge der Währungsunion zu Rekordgewinnen verhalf und dafür sorgte, dass das westdeutsche Kapital vorerst von der Rezession verschont geblieben war, die seine internationalen Konkurrenten bereits erfasst hatte. Der sog. Einheitsboom wurde allein durch die künstliche Aufwertung der Kaufkraft der ostdeutschen Bevölkerung ermöglicht, als die DDR-Bevölkerung dank der Währungsunion in den Besitz von rund 115 Mrd. D-Mark kam. Bereits 1991 war jedoch klar, „daß die deutsche Volkswirtschaft nicht in der Lage war, die immensen Kosten des Aufbaus Ost aus dem inländischen Sparvolumen zu finanzieren.“[3]
Doch wie sollten diese Kosten dann finanziert werden? Die politische Klasse griff auf ein Potpourri von Finanzierungsmitteln zurück. Sie bediente sich diverser staatlicher Kapitalreserven und verkaufte ihr Tafelsilber, indem sie die Telekom und die Post privatisierte. Sie erhöhte die Mehrwert-, Mineralöl- sowie Tabaksteuern und belangte die Arbeiterklasse u.a. mittels der Einführung des sog. Solidaritätszuschlages. Sie strich Subventionen wie die sog. Berlinzulage und die Zonenrandförderung. Doch reichte all dies bei weitem nicht aus, um die nicht abreißenden Kosten für den „Aufbau Ost“ zu finanzieren. Die damals amtierende konservativ-liberale Regierungskoalition unter Bundeskanzler Kohl war gezwungen, ans Eingemachte zu gehen.
Zum einen plünderte sie die Sozialkassen aus. Allein zwischen 1991 und 1995 flossen 140 Milliarden Mark aus den Kassen der Arbeitslosen- und Rentenversicherung als Transferleistungen in den Osten; das waren 23 Prozent der Gesamtausgaben für den „Aufbau Ost“ in diesen Jahren! Die Folge: die sog. Sozialleistungsquote[4], die zwischen 1982 und 1990 von 30 auf 26,9 Prozent gesenkt werden konnte, stieg wieder an, diesmal auf 31,9 Prozent.[5]
Zum anderen trat die Kohl-Regierung die Flucht in die Schulden an. Sie lockte westdeutsche Privatanleger mit Steuervergünstigungen und Abschreibungsmodellen, aber vor allem bediente sie sich auf den internationalen Kapitalmärkten. Deutschland, noch in den 80er Jahren Kapitalexporteur, wurde zum Schuldnerland; 1991 schloss die Leistungsbilanz Deutschlands mit dem Ausland erstmals seit langer Zeit mit einem Defizit von 30 Mrd. D-Mark ab. Die öffentlichen Schulden explodierten förmlich: Von Ende 1989 bis Ende 1997 wuchsen die Staatsschulden um fast das Zweieinhalbfache, von 929 Mrd. auf 2.215 Mrd. D-Mark. Fast 50 Prozent der Neuverschuldung ging auf das Konto des Fonds „Deutsche Einheit“. „Der deutsche Staat ist auf allen Ebenen (Bund, Länderm Kommunen) an die Grenze seiner finanziellen Leistungsfähigkeit gestoßen.“[6]
All dies hatte erhebliche Folgen. 1993 erlebte Westdeutschland einen schweren wirtschaftlichen Einbruch. „Die Produktion des westdeutschen Wirtschaftsraumes sank um 1,8% unter das Niveau des Vorjahres. Das Exportvolumen ging im Vergleich zu 1992 sogar um 3,7% zurück. Dieser Abschwung verstärkte den Wettbewerb um die Auslastung von Produktionskapazitäten auf dem deutschen Binnenmarkt zusätzlich. Die unmittelbare Folge war, daß es ostdeutschen Unternehmen angesichts hoher westdeutscher Überkapazitäten noch schwerer fiel, sich beispielsweise in Branchen wie dem Maschinenbau oder der Chemie gegen die Konkurrenz aus den alten Bundesländern durchzusetzen bzw. neue Marktzugänge zu finden.“[7]
Spätestens ab jetzt ging das deutsche Kapital schweren Zeiten entgegen. Die Leitzinserhöhungen, die von der deutschen Bundesbank sukzessive vorgenommen wurden, um den infolge der Einheit entstandenen Kosten- und Preisauftrieb zu dämpfen, sorgten für eine Verteuerung der D-Mark auf den internationalen Märkten und erschwerten den Export deutscher Waren. Die immer drückendere Steuerlast schnürte gleichzeitig auch den Binnenmarkt ab; die ständigen Erhöhungen der Sozialabgaben bzw. die Schaffung neuer (Solidaritätsbeitrag, Pflegeversicherung), mit denen die Kohl-Regierung einen großen Teil der Einheitskosten finanzierte, bewirkten eine weitere Verteuerung der Bruttolöhne. Kurzum: es stand nichts Geringeres auf dem Spiel als die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Kapitals. Besorgt schlagzeilte die internationale Presse: „Deutschland – der kranke Mann Europas!“ In allen wichtigen Parametern wies Deutschland die schlechtesten Zahlen innerhalb der EU auf: Es wies über Jahre die niedrigsten Wachstumsraten und die höchsten Arbeitslosenraten auf. Die sog. Staatsquote war unter allen EU-Ländern die höchste. Und ausgerechnet Deutschland, das am stärksten auf die Maastricht-Kriterien gedrängt hatte, überschritt in puncto Neuverschuldung in den 90er Jahren mehrmals die Drei-Prozent-Marke.
Die deutsche Bourgeoisie musste handeln, wollte sie gegenüber ihren Konkurrenten auf dem Weltmarkt nicht ins Hintertreffen geraten. Doch um die – in den Augen der Herrschenden - längst überfälligen Reformen endlich einzuleiten, bedurfte es einer anderen Regierungsmannschaft. Die christlich-liberale Koalition unter Kohl kam dafür nicht in Frage. Schließlich verbarg sich hinter der Chiffre „Reform des Sozialstaats“ nichts anderes als ein massiver Anschlag auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse in Deutschland. Für solch ein Unterfangen hat die deutsche Bourgeoisie ein weitaus probateres Mittel zur Hand – die altbewährte Sozialdemokratie. Und Letztere sollte das Vertrauen der deutschen Bourgeoisie nicht enttäuschen. In ihren sieben Jahren schuf die Schröder-Regierung, eine Koalition aus SPD und Grüne, die Voraussetzungen für die Wende. Beschränkte sie sich in ihrer ersten Amtsperiode noch darauf, die Rahmenbedingungen für das deutsche Kapital durch massive Steuerentlastungen zu verbessern, holte sie nach ihrer Wiederwahl Ende 2002 zum großen Schlag gegen die Arbeiterklasse aus. Sie gab das bis dahin eherne Paritätsprinzip, das Kapital und Arbeit zu gleichen Teilen an der Finanzierung der Sozialversicherungskassen beteiligt hatte, zuungunsten der Arbeiterklasse auf. Sie sorgte mit der Einführung von Hartz IV für den Durchbruch bei den schon lange währenden Bemühungen des Kapitals in Deutschland, die Lohnkosten substanziell zu senken.[8] Und unter ihrer Ägide erlebte die Politik der sog. Flexibilisierung der Arbeit, d.h. ihre Prekarisierung (Leiharbeit, Zeitarbeit, Ich-AGs usw.), einen unerhörten Schub, so dass mittlerweile mehr als ein Viertel der Lohnabhängigen unter diesen Bedingungen existiert.
Für die deutsche Bourgeoisie bedeutete die „Agenda 2010“ die Wende auf der Talfahrt ihrer Ökonomie. Befeuert von den genannten Maßnahmen, erlangte die westdeutsche Wirtschaft schnell ihre Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Ausland wieder und erklomm bald darauf erneut die Spitze unter den führenden Exportnationen der Welt. Die Arbeitslosenzahlen gingen substanziell zurück, und auch der Staatshaushalt erholte sich allmählich wieder.[9] Für die Arbeiterklasse dagegen symbolisierte die „Agenda 2010“ das endgültige Ende des westdeutschen Wohlfahrtsstaates, wie er bis dato existiert hatte. Sie musste die Zeche der Wiedervereinigung nun zum zweiten Mal bezahlen, nachdem ihr bereits in den neunziger Jahren die Hauptlast der Wiedervereinigung aufgebürdet worden war – im Osten in Form der Massenarbeitslosigkeit, im Westen in Gestalt eines jahrelangen Lohnverzichts.
[1] „1994 erreichte das Wirtschaftswachstum in Ostdeutschland seinen bis dahin höchsten Wert. Eine reale Zunahme des BIP von 8,5% war zu verzeichnen.“ (Handbuch zur Deutschen Einheit, S. 853)
[2] „Während in Westdeutschland das Baugewerbe nur 5% zum BIP beisteuerte, war es in dieser Branche in Ostdeutschland dreimal soviel.“ (ebenda, S. 856)
[3] Ebenda, S. 852.
[4] Die Sozialleistungsquote entspricht dem Anteil des Sozialbudgets am Bruttoinlandsprodukts.
[5] Alle Zahlen aus: Gerhard A. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats, S. 127f.
[6] Flug, Treuhand-Poker, S. 861.
[7] Ebenda, S. 853.
[8] Indem Rot-Grün die Bezugsdauer der Arbeitslosenunterstützung von drei auf ein Jahr kürzte, die Arbeitslosenhilfe ersatzlos strich und so dafür sorgte, dass ArbeiterInnen bereits nach einem Jahr Arbeitslosigkeit in Hartz IV (eine bessere Sozialhilfe) abrutschten, erfüllte es einen langgehegten Wunsch des deutschen Kapitals – die Umwandlung der „stillen“ industriellen Reservearmee in eine Armee von jederzeit verfüg- und einsetzbaren Arbeitslosen. Denn erst Hartz IV schuf die „Anreize“, mit denen Arbeitslose dazu veranlasst werden konnten, auch für Niedrigstlöhne zu schuften, und übte darüber hinaus einen enormen Druck auch auf die Tariflöhne aus.
[9] Allerdings muss dabei eingeschränkt werden, dass die Kosten der Wiedervereinigung schon längst nicht mehr in den Haushaltsetats einfließen. Sie werden in einem Schattenhaushalt, dem „Fonds Deutsche Einheit“, budgetiert und üben nach wie vor einen erheblichen Druck auf den finanziellen Spielraum des deutschen Staates aus.
Nachdem vor 18 Monaten die jüngste Zuspitzung der Weltwirtschaftskrise mit dem Bankrott der Lehman-Brothers Bank die Bevölkerung der Welt mit voller Wucht traf, reagierten die Lohnabhängigen aller Länder zunächst einmal erschrocken, eingeschüchtert, wie gelähmt. Inzwischen hat sich diese Krise weiter ausgebreitet und vertieft. Man beginnt zu ahnen, dass es sich um keine vorübergehende Erscheinung handelt. In diesem Kontext beginnt sich das soziale Klima zu wandeln.
In Algerien kam es im Januar zu bedeutsamen Protesten von Arbeitslosen in Annaba im Osten des Landes und von Wohnungslosen in mehreren Landesteilen. Trotz Medienblack-outs streikten auch Arbeiter in Oran, Mosaganem, Constantine und vor allem im Industriegürtel um die Hauptstadt Algier. Es beteiligten sich Beschäftigte aus Betrieben der Privatwirtschaft und des öffentlichen Dienstes.
In der Türkei wirkte der Kampf der Tekel-Beschäftigten (siehe mehr auf unserer Webseite und an anderer Stelle in dieser Zeitung) wie ein Leuchtfeuer. In dem Kampf schlossen sich türkische und kurdische Arbeiter zusammen. Es gab eine große Entschlossenheit, den Kampf auf andere Betriebe auszudehnen und die Führung des Kampfes in den eigenen Händen zu behalten und sie nicht an die Gewerkschaften abzugeben, die diesen nur sabotieren.
Bemerkenswert an diesem Kampf bei Tekel in der Türkei war aber auch die Stärke der Regung der internationalen Solidarität unter einer Minderheit der Beschäftigten in einer Reihe von europäischen Ländern. Insbesondere aus Deutschland und der Schweiz wissen wir von einer Reihe von Solidaritätsinitiativen. Während die herrschende Klasse immer wieder versucht, die Migration aus ärmeren Ländern in den Industriestaaten dazu auszunutzen, nicht nur um die Löhne zu drücken, sondern die Arbeiter der Herkunftsländer und der sog. Gastländer gegeneinander aufzuhetzen, wird hier der Spieß vom Proletariat umgedreht. Durch das Phänomen der weltweiten Migration entstehen Brücken der internationalen Arbeitersolidarität.
Selbst wenn die gewerkschaftliche Kontrolle noch stark ist, gab es auch wichtige Streiks und Protestkundgebungen in den Kernländern Europas. In Frankreich z.B. wurde im öffentlichen Dienst wie auch in der Privatindustrie mehrfach die Arbeit niedergelegt – im Erziehungswesen, im Gesundheitswesen, bei den Raffinerien, Fluglotsen, Ikea, Philips. Aber wir könnten allein für Europa eine Reihe anderer Arbeiterkämpfe der jüngsten Zeit auflisten, welche diesen Trend bestätigen. Etwa den der Hafenarbeiter in Finnland oder die Streiks in Serbien. Die Frage der Solidarität rückt immer mehr in den Vordergrund. Bei Tekel in der Türkei war dies eine zentrale Frage, aber auch bei den Arbeitern in Nordspanien in Vigo (siehe dazu Artikel in dieser Zeitung).
Die Augen der herrschenden Klasse starren gebannt auf Griechenland, nicht nur weil der Bankrott der Wirtschaft das aufzeigt, was auf die anderen Länder Europas zukommt, sondern auch weil sie weiß, dass die soziale Situation im Land ein wahres Pulverfass ist.
Im Dezember 2008 wurde das Land nach der Ermordung eines jungen Anarchisten einen Monat lang von sozialen Protesten erschüttert, an deren Spitze hauptsächlich jugendliche Arbeiter standen. Dieses Jahr drohen die Sparmaßnahmen, welche von der sozialistischen Regierung angekündigt wurden, eine Explosion nicht nur unter den Studenten und Arbeitslosen auszulösen, sondern auch unter den Beschäftigten. Deshalb ist den Herrschenden sehr daran gelegen, ein Beispiel vorzuweisen, wo Arbeiter Sparbeschlüsse im Interesse der Wirtschaft einfach schlucken. Aber dieses Szenario ist bislang in Griechenland nicht eingetreten. Schon vor der Ankündigung der Sparmaßnahmen seitens der Regierung war ein 24 stündiger Generalstreik geplant, sowie Arbeitsniederlegungen der Zöllner, wodurch der Export und die Importe getroffen werden sollten, sowie Aktionen von anderen Regierungsangestellten, Fischern usw. "Nur wenige Stunden nach der Ankündigung der Sparmaßnahmen griffen Beschäftigte von Olympic Airways die Bereitschaftspolizei an, die vor einem Gebäude der Finanzverwaltung stand. Sie besetzten dieses Gebäude. Danach wurde die Hauptgeschäftsstraße Athens Panepistimio stundenlang abgesperrt. Donnerstag Morgen besetzten Arbeiter im Rahmen einer Aktion der von der Kommunistischen Partei PAME kontrollierten Gewerkschaft das Finanzministerium am Syntagma Platz (das weiterhin besetzt ist), sowie ein kommunales Gebäude in Trikala. Später besetzte die PAME ebenso vier Fernsehstudios in Patras, das staatliche Fernsehen in Thessaloniki, und zwang die Journalisten, eine DVD gegen die Sparmaßnehmen zu spielen. Donnerstag Nachmittag wurde auf den Straßen Athens protestiert. Es beteiligten sich PAME und OLME, die Lehrergewerkschaft, die von ADEDY unterstützt wurde. Nach einem Aufruf versammelten sich innerhalb von 24 h über 10.000 Teilnehmer. Dabei kam es zu Zusammenstößen mit der Bereitschaftspolizei, die vor dem EU-Kommissionsgebäude postiert war. Gleichzeitig fanden in Thessaloniki und Lamia Protestzüge statt. Das Parteigebäude der PASOK wurde in Arta von wütenden Demonstranten zerstört" (leicht gekürzt aus dem blog von Taxikipali, der regelmäßig auf libcom.org: https://libcom.org/article/mass-strikes-greece-response-new-measures [43] schreibt.
Aber jetzt hat die KKE gezeigt, dass sie immer noch ein wichtiges Werkzeug in den Händen der Herrschenden ist, indem sie die Streiks, Demonstrationen und Besetzungen mit organisierte. Die Wut gegen die Sozialistische GSEE –Gewerkschaft ist groß, die als direkter Handlanger der PASOK-Bewegung angesehen wird. Panagopoulos, der Gewerkschaftsführer der GSEE, ein Dachverband von Gewerkschaften der Privatindustrie, wurde auf der Demo gewalttätig angegriffen und musste von der Präsidentenwache geschützt werden, aber bislang konnten die KKE und ihre Gewerkschaften sich als die Führer und Organisatoren der Bewegung darstellen. Für die Herrschenden in Griechenland besteht die Gefahr, wenn die Wut und die Ablehnung weiter zunehmen, werden die Arbeiter diese vorgetäuschte Radikalisierung durchschauen und den gewerkschaftlichen Rahmen zu durchbrechen versuchen. Dann könnten sie den Kampf in die eigenen Hände nehmen und damit wieder zu den Vollversammlungen vom Dezember 2008 zurückkehren.
Aber selbst im gegenwärtigen Stadium bereiten die Kämpfe in Griechenland der herrschenden Klasse insgesamt Sorgen. Ähnliche Maßnahmen in Spanien, die z.B. eine Verschiebung des Renteneintrittsalters um zwei Jahre vorsehen, verursachten eine Reihe von Demonstrationen in vielen Städten, während am 4. März (am gleichen Tag der Athener Demos) in Portugal ein 24 stündiger Streik des öffentlichen Dienstes stattfand.
Kurzum, das Gefühl der Angst und Passivität, das überall zu spüren war, als die Wirtschaftskrise 2008 ihre dramatische Wende nahm, weicht jetzt langsam der Empörung, nachdem Arbeiter offen fragen: warum sollten wir für die kapitalistische Krise zahlen?
Natürlich können und werden diese Regungen des Bewusstseins in ideologische Sackgassen geführt, insbesondere durch die weltweiten Versuche, überall die Banker oder die Neoliberalen als die 'Schuldigen' darzustellen. In Griechenland wird immer wieder die deutsche Bourgeoisie an den Pranger gestellt, weil sie die von PASOK geführte Regierung bisher nicht mit Kredithilfen unterstützt hat. Die deutschfeindlichen Gefühle, die noch aus der Nazi-Besatzung stammen, werden gegen die Bewegung ausgespielt.
Nunmehr ist eine Situation entstanden, wo neben den Entlassungen in den strauchelnden Betrieben der Staat immer mehr zum direkten Angriff gegen die Arbeiterklasse blasen muss, um die Kosten der Krise auf sie abzuwälzen. Der direkte Drahtzieher, der Verantwortliche dieser Angriffe, nämlich der Staat, ist in diesem Fall viel leichter erkennbar als bei Entlassungen. Dies begünstigt die Entfaltung des Klassenkampfes, das Streben nach einem Zusammenschluss und die Politisierung, denn der oberste Wächter der Interessen des Kapitals, der Staat, erscheint als entschlossenster Verteidiger der Kapitalisten gegen die Arbeiterklasse. Damit kommen immer mehr Faktoren zusammen, die zu einer Bewegung mit massiven Kämpfen führen können. Der auslösende Moment wird sicherlich die Anhäufung der Unzufriedenheit, die angestaute Wut und Empörung sein. Je mehr die Herrschenden versuchen, ihre Sparpakete umzusetzen, desto mehr werden die Betroffenen gezwungen sein in den Kampf zu treten und so Erfahrungen zu sammeln. Es lässt sich nicht vorhersagen, wie und wo es zu einer Zuspitzung von Kämpfen kommen wird, da der Auslöser irgendein Anlass sein kann, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Der Zusammenbruch des Stalinismus und vor allem die Art und Weise, wie die Herrschenden dies ideologisch ausgeschlachtet haben, haben Spuren in der Arbeiterklasse hinterlassen, die auch heute noch zu erkennen sind. Die Kampagne "Der Kommunismus kann nicht funktionieren, seht doch, die Bevölkerung hat für den Kapitalismus gestimmt" hat eine abschreckende Wirkung gehabt und von der Suche nach einer Alternative zum Kapitalismus abgehalten. Insofern ist die Lage heute eine andere als Ende der 1960er Jahre. Damals hatten die massiven Kämpfe, insbesondere der große Generalstreik im Mai 1968 in Frankreich und der Heiße Herbst 1969 in Italien aufgezeigt, dass die Arbeiterklasse in der Gesellschaft eine wichtige Rolle spielt. Zu glauben, dass die Arbeiterklasse eines Tages den Kapitalismus überwinden könnte, erschien damals nicht als ein süßer Traum – im Gegensatz zu heute. Die Schwierigkeiten der Arbeiterklasse seit den 1990er Jahren in den Kampf zu treten, ist u.a. auf ein mangelndes Selbstvertrauen zurückzuführen, welches durch das Wiedererstarken der Kämpfe nach 2003 noch nicht überwunden ist. Aber erst wenn sich massive Kämpfe entwickeln, kann auch das notwendige Selbstvertrauen wieder entstehen, das für die Reifung einer Perspektive unerlässlich ist. 17.3.10
Während die Regierungen in allen Ländern der Welt der Arbeiterklasse Sparpakete in einem noch nie da gewesenen Ausmaß aufhalsen wollen, um so die Kosten der Krise auf die Arbeiter abzuwälzen, zögern sie nicht, für ihre imperialistischen Ambitionen ungeheure Summen aufzubringen. So war der deutsche Imperialismus einer der Hauptdrahtzieher des seit langem geplanten Militärtransporters A400M. Bislang muss z.B. das deutsche Militär für den Transport von Material und Soldaten nach Afghanistan auf russische & ukrainische Transportflugzeuge des Typs Antonov oder auf US-Maschinen zurückgreifen. Dieser Zustand der Abhängigkeit im Transportbereich ist nicht nur für das deutsche Militär, sondern für alle europäischen Staaten unhaltbar. Nun, mehr als 20 Jahre nach 1989, steht endlich ein europäisches Transportflugzeug zur Verfügung, das aber erst ab 2014 ausgeliefert werden kann. Airbus hatte sich 2003 verpflichtet, 180 Maschinen zu einem Festpreis von 20 Milliarden Euro auszuliefern. Deutschland hatte 60 Maschinen bestellt. Immer wieder aber waren weitere Kosten hinzugekommen. Die zu deckenden Mehrkosten von 5.2 Mrd. Euro werden jetzt unter die sieben Käuferstaaten aufgeteilt. Wo soll von den beteiligten Staaten das Geld hergeholt werden? Während die Regierungen auf allen Ebenen sparen, durfte dieses wichtige Projekt nicht der Sparpolitik zum Opfer fallen, im Gegenteil. Denn für die weitere Handlungsfähigkeit auf der imperialistischen Bühne ist solch ein Flugzeug unerlässlich. Für die Machthaber gibt es Bereiche, von denen sie nicht abrücken wollen! Auch diese Kosten muss die Arbeiterklasse tragen. Wenn es um den Widerstand gegen Spardiktate seitens der Regierungen geht, dürfen wir nicht vergessen, dass jeden Cent, den sie von uns erpressen, von ihnen wiederum für die Rüstung oder andere Projekte verbraten wird.
Friedensnobelpreisträger Obama, der den durch den Krieg unpopulär gewordenen G.W. Bush abgelöst hat, zeichnet sich bislang durch eine große Entschlossenheit aus, die amerikanischen Rüstungspläne nicht nur uneingeschränkt weiter zu finanzieren, sondern er wirkt auch als treibende Kraft im Handelskrieg. Das jüngste Beispiel der Anschaffung von Tankflugzeugen für die US-Luftwaffe belegt dies. „Die US-Luftwaffe muss insgesamt 534 Tank- und Frachtflugzeuge ersetzen. Das verspricht langfristig ein Geschäft von 100 Milliarden Dollar. Die US-Rüstungsfirma Northrop Grumman (NGC) und der europäische Flugzeugbauer EADS hatten den Tankerauftrag 2008 bereits gewonnen, auf Protest von Boeing aber wieder aberkannt bekommen [51]. Der Rechnungshof des Kongresses erklärte das Vergabeverfahren für fehlerhaft und empfahl dem Pentagon die Neuausschreibung. Der Airbus-Konzern EADS war damit beim Jahrhundertgeschäft mit der US-Luftwaffe für 179 Tankflugzeuge im Wert von 35 Milliarden Dollar aus dem Rennen. Der US-Partner Northrop Grumman (NGC) zog das gemeinsame Angebot zurück. Er begründete die Entscheidung mit unfairen Wettbewerbsbedingungen. Die Ausschreibung sei voll auf den Konkurrenten Boeing zugeschnitten worden. US-Verteidigungsminister Robert Gates hatte 2009 erklärt, er könne auch nur mit einem Boeing-Angebot leben.“ (Spiegelonline, 5.3.2010)
Anfang März erklärte Obama, die USA wollen ihre Exporte in den nächsten fünf Jahren verdoppeln. Obama verkündete, „jede verfügbare Ressource für diese Mission zugänglich zu machen“. Weil zur Zeit fast alle Länder auf den Export zur Überwindung der Wirtschaftskrise setzen, die USA ihre Exporte bei einer Verdoppelung innerhalb der nächsten fünf Jahre damit jedes Jahr um 20% steigern müssten, China und Europa ähnliche Anstrengungen unternehmen, ist hier der große Handelskrieg programmiert. „Die französische Finanzministerin Lagarde drängt die Bundesrepublik, auf einen Teil ihres Ausfuhr-Überschusses zu verzichten - die deutsche Exportmacht schade den schwächeren Staaten. In der Bundesregierung rüstet man schon zum Verteilungskampf.“ (Spiegelonline, 15.3.2010). Denn zu einer Zeit, wo überall die Kaufkraft der Arbeiter drastisch reduziert wird, damit ein Nachfragerückgang vorprogrammiert ist, bleibt das Rätsel ungelöst, wer all die Waren kaufen soll? Einer der angestrebten Märkte ist jedenfalls der Rüstungsmarkt. Deutschland hat mittlerweile "seine Rüstungsexporte in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt, der deutsche Weltmarktanteil stieg auf elf Prozent für den Zeitraum zwischen 2005 und 2009. Noch mehr exportierten nur die USA mit 30 Prozent und Russland mit 23 Prozent. (Welt-online., 15.3.10). 15.3.10
Bereits zum sechsten Mal lädt die Libertäre Aktion Winterthur [59] - deine Ansprechpartnerin für anarchistische Theorie und Praxis - zu den lang begehrten Anarchietagen. Am Wochenende vom 12. bis 14. Februar erwartet dich ein Wellnessprogramm für Geist und Seele - begleitet von kulinarischen Feuerwerken und abgerundet von einem musikalischen Abendprogramm werden auch dieses Jahr eine handvoll hochwertiger Vorträge für Höhepunkte im politischen Jahreskalender Winterthurs sorgen. Präsentiert werden dir nichts weniger als die interessantesten Entwicklungen im internationalen Klassenkampf.“
Mit diesen einleitenden Worten rief die LAW dieses Jahr zu den Anarchietagen in Winterthur auf. Wir möchten hier ein paar Eindrücke von der Veranstaltung vermitteln, die aber schon allein deshalb sehr subjektiv und unvollständig sind, weil wir nicht am ganzen Programm teilnehmen konnten.
Im Unterschied zu früheren Jahren dauerten die Anarchietage nicht mehr einen ganze Woche, sondern nur noch von Freitagabend bis Sonntag. Diese Konzentration hat offenbar damit zu tun, dass es immer mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer gibt, die von weit her anreisen. Während früher diese Veranstaltung ein lokales Ereignis war, von dem man zwar auch im benachbarten Zürich je nachdem interessiert Notiz nahm, ist sie mittlerweile weit über die Kantons- und Landesgrenzen hinaus ein Anziehungspunkt für Leute, die an einer ernsthaften Diskussion über die Möglichkeiten und Wege einer revolutionären Überwindung dieser Gesellschaft interessiert sind. So gab es nun mehrere Vorträge und Diskussionen am gleichen Tag mit dem Resultat, dass im Allgemeinen die Debatten mit wesentlich mehr Publikum stattfanden (80-100 Leute).
Auch die Themen haben sich gewandelt. An den 2. Anarchietagen 2006 waren beispielsweise typische Themen der abendlichen Veranstaltungen „Gewaltfreier Anarchismus, Geschichte und Gegenwart weltweit, Vortrag, Diskussion und Film“ oder „Naturismus, Eine Welt ohne Kleider, Vortrag, Diskussion“. Zu den Veranstaltungen 2010 sagte ein Genosse von LAW am alternativen Lokalradio Lora in Zürich: „Die diesjährigen Anarchietage stehen eigentlich im Zeichen der Wirtschaftskrise und der Krise des Kapitals und der Arbeitskämpfe dazu.“ Es gab jetzt beispielsweise folgende Referate und Diskussionen:
- Zum Konzept der gesellschaftlichen Veränderung im (Anarcho-)Syndikalismus; Holger Marcks, Referat und Diskussion
- Die revolutionäre Selbstaufhebung des Proletariats; Unabhängige Rätekommunisten, Referat und Diskussion
- Arbeiterwiderstand gegen die Pläne des Kapitals; Rainer Thomann, Referat und Diskussion
Unter dem Titel „Die revolutionäre Selbstaufhebung des Proletariats“ stellte ein Genosse der Unabhängigen Rätekommunisten (aus Deutschland) die wichtigsten programmatischen Punkte seiner Gruppe vor: Wir Arbeiter und Arbeiterinnen der ganzen Welt können die Revolution niemand anderem überlassen, wir müssen unsere Aufhebung als Proletarier und Proletarierinnen selbst in die Hand nehmen - ohne den bürgerlichen Staat und seine Apparate, ohne Parlament, Gewerkschaften, linke Parteien und Berufspolitiker, ohne selbsternannte Stellvertreter, stattdessen mit selbstbestimmten Kämpfen, z.B. Streiks, mit selbst geschaffenen Organisationen, z.B. Arbeiterräten. Die Unabhängigen Rätekommunisten halten die Parteiform als solche für bürgerlich, ohne aber - wenn wir dies richtig verstanden haben - abzulehnen, dass sich Revolutionäre in einer besonderen Organisation zusammenschliessen.
Im Anschluss an das Referat wurden sehr grundsätzliche Fragen diskutiert:
- Wer ist die Arbeiterklasse?
- Wird die Revolution gewaltsam sein?
- Was hat die Arbeiterklasse mit Demokratie und Menschenrechten zu tun?
Einer der Teilnehmer meinte zwar, die Frage, wer zu Arbeiterklasse gehöre, sei ziemlich abstrakt und theoretisch. Aber es gab doch ein Bedürfnis in der Versammlung festzustellen, dass z.B. Arbeitslose ebenso zum Proletariat gehören wie die meisten Rentner, Studierenden und Hausfrauen. Bei denjenigen, die sich zu Wort meldeten, schien darüber auch Einigkeit zu herrschen: Die Arbeiterklasse bildet mindestens in den industrialisierten Ländern - und dazu gehören natürlich auch China oder Brasilien - die grosse Mehrheit der Bevölkerung. Wir sind viele, auch wenn sich die meisten heute nicht damit identifizieren, Proletarier und Proletarierinnen zu sein.
Die Gewaltfrage ist auch ein ständiges Thema an solchen Diskussionen, wie die vorher aus dem Jahre 2006 zitierte Veranstaltung über gewaltfreien Anarchismus zeigt. Man könnte sich vorstellen, dass diese Frage sehr unterschiedlich beantwortet wird. Und doch gab es an der diesjährigen Diskussion aus unserer Sicht eine klare Tendenz - nämlich dahin, dass die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft das bewusste Zusammenwirken aller daran Interessierten (eben der grossen Mehrheit der Bevölkerung = Proletariat) braucht und dass das erforderliche Bewusstsein nicht durch Gewalt, sondern durch Diskussion und solidarisches Handeln geschaffen wird. Die herrschende Klasse wird zwar ihre Macht nicht freiwillig aufgeben; ihr gegenüber wird es beim revolutionären Umsturz notwendigerweise zu Gewaltausübung kommen, auch wenn erfahrungsgemäss eine Situation des Massenstreiks - entgegen einem wohl verbreiteten Vorurteil - gerade nicht durch Chaos und Gewalt geprägt ist; Historiker aller Couleur sind sich darüber einig, dass es im Kapitalismus nie so wenige Verbrechen gab wie während der jeweils kurzlebigen Zeit einer Räteordnung (1905 Russland, 1917-19 Russland, Deutschland, Ungarn). Aber Gewalt innerhalb der Arbeiterklasse und gegenüber anderen Unterdrückten, die selber niemanden ausbeuten, sollte abgelehnt werden. Alle, die mindestens potentiell das gleiche Interesse an einer herrschaftsfreien Gesellschaft haben, müssen mit Überzeugung gewonnen werden, nicht mit der Pistole auf der Brust. Die gewaltsame Niederschlagung des Kronstädter Aufstands 1921 durch die Bolschewiki war ein tragischer Fehler; auf beiden Seiten wurde im Namen der Arbeiterklasse gefochten, solche Widersprüche können nicht mit Gewalt gelöst werden.
Und trotzdem - oder gerade deshalb - gab es in der Diskussion grosse Vorbehalte gegenüber einer proletarischen Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten. Die Menschenrechte sind eine Errungenschaft der aufgeklärten Bourgeoisie aus dem Zeitalter ihrer Revolutionen im 17. und 18. Jahrhundert. Sie beruhen auf dem Individuum und geben vor, jedes habe die gleichen Rechte, wobei von der Ungleichheit zwischen Arm und Reich abstrahiert wird. „Die Demokratie ist die Verschmelzung von sozialer Ungleichheit mit rechtlicher Gleichheit. (…) Die gleichen demokratischen Rechte bedeuten für Wirtschaftsbosse und die politische Klasse die soziale Herrschaft und für uns ArbeiterInnen und Arbeitslose weitgehend Ohnmacht. Für uns sind die demokratischen Rechte kaum mehr als Narrenfreiheiten.“ (aus einem aktuellen Flugblatt der Unabhängigen Rätekommunisten mit dem Titel: „Nicht nur gegen Nazis … - Kein Bock auf Nazis und Demokratie!“)
In der Diskussion am nächsten Tag zum Referat „Arbeiterwiderstand gegen die Pläne des Kapitals“ wurde anhand der Fabrikbesetzungen bei Continental in Clairoix/Frankreich[1] und INNSE in Mailand/Italien[2] im Jahre 2009 unter anderem über folgende Fragen debattiert:
- Wie kann ein Arbeitskampf erfolgreich geführt werden? Wie durchbricht man die Isolation? Wie können wir einen Kampf auf andere Teile der Arbeiterklasse ausdehnen?
- Warum ist der Kampf bei der INNSE gar nicht und derjenige bei Continental nur innerhalb des Unternehmens ausgedehnt worden? Hat dies etwas damit zu tun, dass man sich doch auf Gewerkschaftsstrukturen verliess, wenn auch nicht die offiziellen Zentralen?
- Soll man mit spektakulären Aktionen die bürgerlichen Medien mobilisieren? Soll man gegenüber den Medien drohen, sich das Leben zu nehmen, auch wenn man es gar nicht ernst meint?
An dieser Diskussion nahmen nicht mehr viele Leute teil, wahrscheinlich auch deshalb, weil das Referat lange dauerte und die Diskussion nach einer ebenfalls längeren Pause in einem anderen Raum stattfand. Auch der Dialog unter den Teilnehmenden war schwierig. Es schien, als prallten hier entgegen der gemeinsamen Einsichten vom Vortag über den Charakter der Gewerkschaften zwei grundverschiedene Visionen gegeneinander: einerseits die (auch von gewerkschaftlicher Seite) vertretene Sichtweise, nach der Aktivisten einen möglichst spektakulären, medienwirksamen Kampf notfalls allein und gegen den Rest der Welt organisieren sollen, andererseits das Anliegen, dass die kämpfenden Arbeiter die Solidarität von anderen Arbeitern suchen und die Ausweitung des Kampfes in die eigene Hand nehmen und selber organisieren.
Die gerade erwähnte Meinungsverschiedenheit zeigt, dass auch im Lager derjenigen, die sich als Anarchisten bezeichnen oder damit sympathisieren, keineswegs einheitliche Positionen vertreten werden. Unseres Erachtens kann man eine gute Bilanz aus den Diskussionen der Anarchietage ziehen, und zwar auf verschiedenen Ebenen:
1) Die Diskussionen waren (soweit wir es mitbekommen haben) geprägt vom Willen, sich gegenseitig zuzuhören und gemeinsam nach einer Klärung der offenen Fragen zu suchen. Die Debattenkultur war ein gemeinsames Anliegen.
2) Die Debatten waren weiter im Allgemeinen geprägt von einem internationalistischen Bewusstsein. Es gab zwar zweifellos auch Leute, die nach wie vor am Konzept der nationalen Befreiung festhalten oder das Chavez-Regime politisch unterstützen, also nationalstaatliche, bürgerliche Sichtweisen verteidigten. Aber solche Positionen lenkten nicht ab vom vorherrschenden Bemühen, auf einer internationalistischen Grundlage gemeinsam Fragen zu klären, unabhängig davon, ob man/frau sich als AnarchistIn oder KommunistIn versteht.
3) Wie der Genosse von LAW gegenüber dem Radio Lora ankündigt hatte, standen bei den diesjährigen Anarchietagen die Krise des Kapitals und der Klassenkampf des Proletariats im Zentrum der Veranstaltungen. Man spürte an den diesjährigen Anarchietagen, dass das Proletariat und sein Kampf konkretere Anliegen geworden sind. Niemand macht sich Illusionen darüber: Die Kämpfe unserer Klasse sind gegenwärtig noch sehr zögerlich, zu schwach, um schon heute am Kräfteverhältnis zur herrschenden Klasse unmittelbar etwas verändern zu können. Wir Revolutionäre sind aber Teil eines vor unseren Augen sich abspielenden Prozesses. So real die Arbeiterklasse mit ihren (noch schwachen) Kämpfen ist, so real sind wir Teil derselben Klasse und können Ferment im vor sich gehenden Gerinnungsprozess sein.
Kurz: Für uns waren die Anarchietage ein Ort der Debatte und der Klärung proletarischer Positionen für Leute, die für eine klassenlose, herrschaftsfreie Gesellschaft kämpfen wollen.
Lobo, 14.03.10
[1] Vgl. dazu unsere Artikel in Révolution Internationale und auf der französischsprachigen Webseite, z.B. RI Nr. 405, Oktober 2009: « Répression des ouvriers de Clairoix, Une tentative d’intimidation de toute la classe ouvrière »
[2] Vgl. dazu unsere Artikel in Rivoluzione internazionale und auf der italienischsprachigen Webseite, z.B. Nr. 162, Oktober/November 2009: „Solo una lotta unita e solidale può farci resistere agli attachi“
Im Zentrum des Geschehens steht Ryan Bingham. Er ist fast immer auf Reisen. Firmen buchen ihn, damit er deren Angestellte und Arbeiter feuert. Um diesen Job erfüllen zu können, reist Bingham 322 Tage im Jahr kreuz und quer durch die USA. Die schlechte Nachricht für ihn: Das bedeutet „43 grässliche Tage zu Hause“. Bingham ist ein Mann ohne Ecken und Kanten – aalglatt. Er hat sich den kapitalistischen Mythos einer makellos funktionierenden Maschine zum Lebensprinzip erkoren. Zufriedene Momente erlebt er, wenn seine zahllosen Flüge und „Firmenbesuche“ wie am Schnürchen laufen. Die Blitzmontagen der Kamera verstärken diesen Eindruck bewusst – er funktioniert wie ein geöltes Getriebe: reibungslos. Bingham hat den perfekten Reisekoffer, den man als Handgepäck mitnehmen kann; er hat alle Vielfliegerprogramme, so dass er nie in einer Schlange am Counter warten muss; er muss nur seine Karte durchziehen und schon begrüßt ihn eine „freundliche“ Computerstimme.
Bingham geht sogar noch einen Schritt weiter. Er macht aus dieser Lebensart eine Lebensanschauung. Er hält vor Mitarbeitern und Managern „Rucksackvorträge“. Sein Motto: Alles, was man zum Leben wirklich braucht, passt in einen kleinen Rucksack. Der Rucksack ist ein zentrales Symbol des Films. Schließlich schmeißt Bingham nicht nur vertraute Wohngegenstände oder Erinnerungsstücke aus dem Rucksack raus, sondern gar jegliche soziale Bindungen wie Familie, Freunde und Kollegen. All diese „Gegenstände“ müsse man hinter sich lassen, da man sonst zu viel „Ballast“ mit sich herumtrage. Dies verdeutlicht, wie im Kapitalismus „freie“ Arbeiter gezwungen sind, kreuz und quer durch die Welt zu wandern, auf der Suche nach einer Gelegenheit, ihre Arbeitskraft zu verkaufen.
Bingham hat sich „frei“ gemacht; er lebt frei von jeglicher engerer emotionaler Bindung zu anderen Menschen. Menschen sind für ihn Dienstleistungsanbieter, einschließlich seiner selbst. Gerade deshalb ist er in seinem Beruf auch so erfolgreich. Schließlich lebt er davon, Menschen zu feuern und ihnen dadurch ihre Lebensgrundlage zu entreißen. Wie immer feuert er diese verzweifelten Menschen unglaublich freundlich und erzählt ihnen, welche ungeahnten Möglichkeiten ein solcher Rauswurf doch für die Zukunft bedeuten könnte. Die Betroffenen reagieren unterschiedlich, aber alle sind verzweifelt, können nicht begreifen, warum ihre jahrelange gute Arbeit nicht gewürdigt wird, fragen, ob sie denn etwas falsch gemacht hätten, was sie nun ihren Familien sagen sollten, und auch der Bank, die auf die nächsten Ratenzahlungen warte.
Diese Szenen gehören zu den stärksten des Films. Ein Grund könnte nicht zuletzt darin bestehen, dass der Regisseur Reitman mit Laiendarstellern gearbeitet hat. Diese Laiendarsteller haben 2007-2008 tatsächlich ihren Job im Taumel der Krise verloren. Hinter den anonymen Zahlen der Entlassungswellen weltweit, die man tagtäglich in den Nachrichten vernimmt, stehen ganze Menschen und ihre Familien. In diesen Szenen leidet man besonders mit, denn wir wissen: Diese Gesichter sind unsere Gesichter. Es geht nicht darum, ob man am Arbeitsplatz etwas falsch gemacht hat. Wie hilflos wir Arbeiter und Angestellte als Einzelne angesichts der sich rapide verschärfenden Überproduktionskrise sind, zeigt „Up in the Air“ mehr als deutlich. Bingham versucht all diesen Verzweifelten zu sagen, sie sollen das Beste aus der Situation machen. Leider schließt dies für manche auch den Selbstmord mit ein.
Wie kann Bingham einen solchen Beruf nur durchstehen? Seine junge, neue Kollegin Natalie Keener, die zunächst härter und unmenschlicher wirkt (ihre kostensenkende Idee für die Firma, in der Bingham arbeitet, lautet, Kündigungen per Internet durchzuführen), kündigt nach nur einem Monat. Was unterscheidet Keener von Bingham? Keener hat noch soziale Bindungen, leidet unter der Trennung von ihrem Verlobten, wünscht sich eine liebende Familie. Aufgrund dieser sozialen Gefühle ist ihr eines noch nicht abhanden gekommen: ihr Gewissen. Für sie werden diese Kündigungsgespräche immer unerträglicher.
Und nun begreift man nach und nach, dass Bingham vermutlich „gezwungen“ war, alle seine Beziehungen zu seiner Familie zu kappen, damit er seine soziale und emotionale Seite und sein Gewissen ganz tief begraben kann. Er kann seinen Job nur dann durchhalten, wenn er rein rational an die Entlassungen herangeht. Kosten-Nutzen-Rechnung geht nicht auf, also raus mit den Kostenverursachern. Natürlich nett verpackt. Bingham ist der entfremdete Mensch im Kapitalismus in Reinkultur. Aber er ist eben auch ein Mensch. Was zunächst als harmlose Affäre mit seinem weiblichen Gegenstück Alex Goran beginnt, wird für Bingham eine echte Beziehung. Er verspürt erstmals Nähe, Zugehörigkeitsgefühle, Vertrauen und Glück – aber dadurch bekommt seine Lebensart erste Risse. Er nimmt Kontakt zu seiner Familie auf und reist spontan zu Alex (um festzustellen, dass sie eine Familie hat). Er hat seine menschlichen Seiten zugelassen. Dies hat ihn verletzlich, aber auch glücklich gemacht.
Das Ende des Films bleibt offen. Bingham steht am Flughafen und schaut hinauf auf die Anzeigetafel. Reist er wieder zum nächsten Entlassungstermin, oder hat er ein Stück weit ausbrechen können aus dem Hamsterrad der völligen Entfremdung?
2.3.2010 t.t.
Wir veröffentlichen nachfolgend das Einleitungsreferat, das wir in Frankreich bei Diskussionsveranstaltungen zum Thema Selbstmord am Arbeitsplatz und Arbeitsstress gehalten haben, nachdem in Frankreich z.B.bei France Télécom mehrere Beschäftigte Selbstmord am Arbeitsplatz begingen.
Selbstmord am Arbeitsplatz ist kein ganz neues Phänomen, denn unter Bauern ist dieser schon seit längerem weit verbreitet. Der tiefere Grund ist, dass in diesem Bereich der private Lebensraum und der Arbeitsplatz im Allgemeinen miteinander verwoben sind. Die Wohnung des Bauern und der Hof, den er bewirtschaftet, befinden sich meist am gleichen Ort.
Das neue, seit Beginn der 1990er Jahre beobachtete Element ist, dass es zu mehr Selbstmorden am Arbeitsplatz in anderen Berufssparten, der Industrie und im Dienstleistungsgewerbe gekommen ist. Wenn sich jemand bei sich zu Hause oder an einem anderen Ort als am Arbeitsplatz umbringt, ist es nicht leicht zu beweisen, dass die Hauptursache der Geste in dem Leiden liegt, welches die Arbeit verursacht. Denn die Beschäftigten, die unter den Arbeitsbedingungen leiden, bringen sich nicht alle um, und diejenigen, die solch eine Tat begehen, sind meist ohnehin zerbrechliche Menschen. Darauf berufen sich die Unternehmen, um sich reinzuwaschen, wenn die Angehörigen versuchen, den Selbstmord eines Beschäftigten auf die Arbeitsbedingungen zurückzuführen. Wenn der Selbstmord aber am Arbeitsplatz selbst stattfindet, sind die Ausreden der Arbeitgeber schwieriger. Selbstmord am Arbeitsplatz muss man also als eine klare Botschaft der Person verstehen: „Nicht aufgrund des Bruch einer Liebesbeziehung, einer Scheidung oder eines ‚depressiven Wesens’ bringe ich mich um, sondern der Arbeitgeber oder das von ihm verkörperte System sind für meinen Tod verantwortlich.“
Die Zunahme von Selbstmorden am Arbeitsplatz aufgrund der Arbeitsbedingungen bringt somit ein viel breiteres Phänomen zum Ausdruck, von dem dies nur die Spitze des Eisberges ist: das immer größere Leiden, das durch die Arbeitsbedingungen hervorgerufen wird.
Das durch Arbeit verursachte Leiden ist auch wiederum kein neues Phänomen: Berufskrankheiten gibt es seit langem; vor allem seit der industriellen Revolution, welche die Arbeit für die meisten Lohnabhängigen zu einer wahren Hölle hat werden lassen. Kinderarbeit, 15 Stunden pro Tag, in großer Hitze und bei unausstehlichem Staub in einem Bergwerk oder einer Textilfabrik mit dem Lärm Hunderter Webstühle – all das war nie ein Vergnügen. Schon von Anfang des 19. Jahrhunderts an haben sozialistische Schriftsteller die Arbeitsbedingungen der Ausgebeuteten angeprangert. Gleichzeitig Trotzdem gehörte der Selbstmord vom 19. Jahrhundert bis zum Ende des 20. Jahrhunderts nicht zu den Reaktionen der Ausgebeuteten gegenüber dem durch die Arbeitsbedingungen verursachten Leiden.
Tatsächlich ist ein Selbstmord mehr auf ein psychisches als auf ein physisches Leiden zurückzuführen. Aber psychisches Leiden ist auch kein neues Phänomen. Die Chefs erniedrigen und drangsalieren ihre Beschäftigten seit jeher. Aber in der Vergangenheit führte dieses Leiden der Ausgebeuteten, von Ausnahmen abgesehen, nicht zum Selbstmord.
Die Zunahme des psychischen Leidens der Beschäftigten wurde Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre von den Arbeitsmedizinern festgestellt, insbesondere anhand der Zunahme von Skelett-Muskel-Erkrankungen (Bewegungsapparat, Gelenke usw.), die nicht im direkten Zusammenhang mit den physischen Arbeitsbedingungen standen, sondern auf psychosomatische Störungen zurückzuführen waren, d.h. physische Symptome eines moralischen Leidens am Arbeitsplatz.
Die spektakuläre Zunahme der Selbstmorde aufgrund des Leidens unter den Arbeitsbedingungen erscheint dann als zweite Etappe dieses Leidens, eine Art Zuspitzung des Phänomens.
Selbstmord ist schon vor langer Zeit untersucht worden, insbesondere von dem Soziologen Emil Durkheim am Ende des 19. Jahrhunderts. Damals schon hatte Durkheim nicht einfach auf die Ursachen des Selbstmords beim Einzelnen hingewiesen, sondern die sozialen Ursachen aufgezeigt. «Wenn ein Einzelner durch die Umstände zu Fall gebracht wird und Selbstmord begeht, spiegelt das die Zustände einer Gesellschaft wider, wo jemand zum Opfer der Verhältnisse wird.»
Ebenso gibt es schon seit langem Untersuchungen, auch Untersuchungen der psychischen Aspekte des Leidens auf der Arbeit. Aber Untersuchungen über Selbstmord infolge der Arbeitsbedingungen sind eher jüngeren Datums, weil das Phänomen neu ist. Mehrere Hypothesen werden zur Erklärung vorgebracht, mehrere Feststellungen sind getroffen worden. Insbesondere die des Psychiaters, ehemaligen Arbeitsmediziners und Autors mehrerer berühmter Bücher über die Frage, Christophe Dejours, sind erwähnenswert (z.B. „Leiden in Frankreich: die Verharmlosung der sozialen Ungerechtigkeit“).
Einige Hypothesen :
1) Die Arbeit steht im Mittelpunkt: Die Arbeit (nicht nur als Mittel, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern als produktive und schöpferische Tätigkeit, die Anderen zunutze kommt) spielt eine zentrale Rolle bei der psychologischen Entwicklung jedes Einzelnen. Wenn man auf dieser Ebene leidet, hat dies letztendlich größere dramatische Folgen als ein Leiden, das aus dem privaten oder familiären Bereich herrührt. Wenn jemand in seinem Familienleben leidet, hat dies weniger Konsequenzen im Arbeitsleben als umgekehrt.
2) Die Anerkennung der Arbeit und ihrer Qualität seitens der Anderen. In einer hierarchisierten Gesellschaft wie der unsrigen kommt dies natürlich in der Anerkennung zum Ausdruck, die wir von unseren Chefs erhalten und in der Form des Lohns (man spricht hier von ‘vertikaler Anerkennung’). (…) Aber für die Beschäftigten gibt es eine im Alltag viel wichtigere Anerkennung: die Wertschätzung der Arbeit durch seine Kollegen. Ein Zeichen, dass sich jemand in die Gemeinschaft der «Leute seines Berufe » eingliedert, mit denen er seine Erfahrung und seine Kenntnisse teilt, wie auch seine Wertschätzung der Arbeitsqualität. Selbst wenn jemand kein hohes Ansehen bei seinen Chefs oder seinem Arbeitgeber genießt, weil sich jemand ihnen nicht unterwirft, kann man trotzdem ein gewisses Gleichgewicht aufrechterhalten, wenn die Kollegen nicht die Sichtweise der Vorgesetzten übernehmen und das Vertrauen in den Kollegen aufrechterhalten. Aber alles gerät aus dem Gleichgewicht, wenn man auch das Vertrauen der Kollegen verliert.
1) Eine immer größere Überlastung auf der Arbeit. Dies erscheint als paradox, denn mit der Entwicklung neuer Technologien, die die Automatisierung einer Reihe von Aufgaben ermöglichen, war von einigen Leuten schon das «Ende der Arbeit» angekündigt worden oder zumindest die Möglichkeit der drastischen Senkung der Arbeitsbelastung. Seit zwei Jahrzehnten sehen wir aber die entgegengesetzte Entwicklung. Das Arbeitspensum nimmt immer mehr zu. Das geht sogar so weit, dass man in einigen Ländern wie in Japan neue Begriffe entwickelt hat, wie Karôshi, ein plötzlicher Tod (infolge eines Herzinfarktes oder eines Schlaganfalls) von Leuten, die keine besondere Erkrankung hatten, die sich aber «auf der Arbeit umgebracht» haben. Dieses Phänomen ist nicht auf Japan beschränkt, auch wenn es in Japan ein besonderes Ausmaß angenommen hat. Auch in den USA und in Westeuropa gab es ähnliche Fälle.
2) Ein anderer Ausdruck dieser Arbeitsüberlastung, die einen neuen Begriff erforderlich machte, ist der «burn-out», die eine besondere Form der Depression infolge Erschöpfung ist. Der Begriff ist selbstredend: man ist völlig «ausgebrannt», weil man zu viel Energie verausgabt hat.
Diese Erkrankungen sind heute relativ gut bekannt: Depressionssyndrom, Gedächtnisstörungen, Desorientierung in Raum und Zeit, ein Gefühl verfolgt zu werden, psychosomatische Störungen (insbesondere im Bereich der Gebärmutter, Brust, Schilddrüsen).
Christophe Dejours analysiert dieses Phänomen folgendermaßen:
«Mobbing am Arbeitsplatz ist nicht neu. Es ist so alt wie die Arbeit selbst. Was neu ist, sind die Erkrankungen. Das ist neu, weil es mittlerweile im Vergleich zu früher viele gibt. Immer mehr Leute werden für Mobbing anfälliger. […] Dies hängt mit der Destrukturierung dessen zusammen, was man «Verteidigungsstrukturen» nennt, insbesondere die kollektive Verteidigung und Solidarität. Dies ist das ausschlaggebende Element für die Zunahme von Erkrankungen. Mit anderen Worten – die Erkrankungen infolge Mobbings sind vor allem Erkrankungen infolge der Einsamkeit. […] Vor 30 oder 40 Jahren gab es auch Mobbing und Ungerechtigkeiten, aber es gab noch keine Selbstmorde auf der Arbeit. Diese Erscheinung hängt mit der zusammenbrechenden Solidarität unter den Beschäftigten zusammen.»
Dies ist ein sehr wichtiges Element des psychischen, mit der Arbeit verbundenen Leidens, und das zum Großteil eine Erklärung für die Zunahme der Selbstmorde liefert: Die Isolierung der Beschäftigten.
Was verstehen die Experten unter diesem Phänomen der Isolierung der Arbeiter?
Bei der Erklärung dieses Phänomen spielt laut Christophe Dejours die Einführung von Leistungsbeurteilungen jedes Beschäftigten während der letzten beiden Jahrzehnte eine große Rolle.
«Die individuelle Beurteilung, welche mit Zielvereinbarungen oder mit Zielmanagement und entsprechenden Leistungsvorgaben und Umsatzzahlen verbunden wird, bewirkt eine generalisierte Konkurrenz unter den Beschäftigten, unter Abteilungen im gleichen Betrieb, unter Filialen, Werkstätten usw.
Wenn diese Konkurrenz mit der Drohung von Entlassungen verbunden wird, führt dies zu einer tiefgreifenden Umwälzung der Beziehungen auf der Arbeit. Und die Arbeitsbeziehungen verschlechtern sich wiederum nochmals, wenn sie an perverse Prämiensysteme gekoppelt sind. Und wenn die Beurteilung nicht an Belohnungen geknüpft ist, sondern an Bestrafungen oder Entlassungsdrohungen, werden die schädlichen Auswirkungen greifbar. Die Individualisierung gleitet in ein Jeder-für-sich ab, die Konkurrenz mündet in unredliches Verhalten unter Kollegen, Misstrauen zieht ein unter den Beschäftigten.
Das Endergebnis der Beurteilungen und der damit verbundenen Maßnahmen ist schließlich die Untergrabung des Vertrauens, des Zusammenhaltes und der Solidarität. Schlussendlich werden die Schutzmechanismen gegen die krankmachenden Auswirkungen des Leidens und der Arbeitsbedingungen abgeschliffen.»
Er unterstreicht ebenfalls, dass einer der Gründe für den Erfolg dieser neuen Methoden der Unterwerfung in deren passiver Hinnahme durch die Mehrzahl der Beschäftigten liegt, insbesondere in dem Klima der Angst, das immer mehr zunimmt, vor allem der Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes auf dem Hintergrund einer wachsenden Arbeitslosigkeit.
Er meint, die Einführung dieser neuen Methoden (die oft als angel-sächsisch bezeichnet werden, weil sie zunächst in den USA angewandt wurden) entspricht dem Triumph der liberalen Ideologie während der letzten 20 Jahre.
Er befasst sich auch mit dem «moralischen Leiden» : die Beschäftigten, die ein immer größeres, unerträgliches Arbeitspensum leisten müssen, und vor der Notwendigkeit stehen, dass man nicht zu verwirklichende Ziele anstreben muss, sind gezwungen zu pfuschen und «inderwertige Arbeit» abzuliefern, d.h. eine Arbeit zu verrichten, die sie moralisch verwerfen, wie z.B. bei der Telefonwerbung. Aber auch viele Führungskräfte spüren ebenso dieses moralische Leiden. Meist müssen sie diese neuen Methoden einführen und oft wird von ihnen erwartet, dass sie zu wahren Folterern werden. Dejours eint, der Aspekt der Zunahme des Leidens durch die Arbeit werde bei den Forderungen seitens der Gewerkschaften vernachlässigt.
Was halten wir als marxistische Organisation von diesen Auffassungen der Experten (insbesondere der von Christophe Dejours)?
Die IKS stimmt ganz und gar mit diesen Analysen überein, auch wenn natürlich unser Ausgangspunkt ein anderer ist. Christophe Dejours ist zunächst Arzt, der sich zur Aufgabe gesetzt hat, kranken Menschen zu helfen, hier Leute, die durch ihre Arbeit krank geworden sind. Aber seine intellektuelle Sorgfalt zwingt ihn die Wurzeln der Krankheit, von der er den Patienten heilen möchte, zu suchen. Die IKS versteht sich als revolutionäre Organisation, die den Kapitalismus mit der Perspektive seiner Überwindung durch die Arbeiterklasse bekämpft.
Aber wenn man jeden einzelnen Punkt aufgreift, kann man sehen, dass sie sehr gut mit unserer eigenen Auffassung übereinstimmen.
Die Arbeit im Mittelpunkt
Das ist eine der Grundlagen der marxistischen Analyse der Gesellschaft:
Grundlagen der marxistischen Analyse sind:
- Die Rolle der Arbeit, d.h. der Umwandlung der Natur, in der Entstehung der Menschheit wurde von Engels hervorgehoben, insbesondere in seiner Schrift: „Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen".
- Die Produktionsverhältnisse, d.h. die Gesamtheit der Beziehungen, welche die Menschen bei der gesellschaftlichen Produktion ihrer Existenz eingehen, stellen aus der Sicht des Marxismus die Infrastruktur der Gesellschaft dar. Die anderen Bereiche, juristische Verhältnisse, Denkweisen usw. hängen in letzter Instanz von den Produktionsverhältnissen ab.
- Marx meinte, dass in der kommunistischen Gesellschaft, wenn die Arbeit von den Zwängen der kapitalistischen Gesellschaft befreit sein wird, welche diese oft zu einem wirklichen Unheil werden lassen, diese zum ersten Bedürfnis des Menschen werden wird.
Anerkennung durch andere
Dies ist eine der wesentlichen Grundlagen der Solidarität und der assoziierten Arbeit
Solidarität ist eine der Grundlagen der menschlichen Gesellschaft, eine Eigenschaft, die mit dem Kampf des Proletariats die höchst entwickelte Form annimmt: den Internationalismus. Solidarität wird nicht mehr gegenüber der Familie, dem Stamm oder der Nation bezeugt, sondern gegenüber der ganzen Menschengattung.
Assoziierte Arbeit bedeutet, dass man beim Produktionsprozess aufeinander bauen kann, sich gegenseitig anerkennt. Seit Beginn der Menschheit gibt es assoziierte Arbeit, aber in der kapitalistischen Gesellschaft ist sie am weitesten ausgedehnt. Diese Vergesellschaftung der Arbeit macht den Kommunismus notwendig und möglich.
Überlastung durch Arbeit
Sich auf unsere marxistische Auffassung stützend hat die IKS immer die Meinung vertreten, dass der technische Fortschritt keinesfalls als solcher eine Senkung des Arbeitspensums im kapitalistischen System mit sich bringt. Die «natürliche» Tendenz dieses Systems besteht im Herauspressen von immer mehr Mehrwert aus den Lohnabhängigen. Und selbst wenn die Arbeitszeit verkürzt wird (wie z.B. in Frankreich mit der 35 Stunden-Woche) ist das Arbeitspensum verdichtet, sind Pausen abgeschafft worden. All dies verschlimmert sich noch mehr unter dem Druck der Krise, welche die Konkurrenz zwischen den Betrieben und den Staaten verschärft.
Die IKS hat dieses Phänomen während der letzten beiden Jahrzehnte unter zwei Gesichtspunkten untersucht:
- Dem Rückfluss des Klassenbewusstseins und der Kampfbereitschaft in der Arbeiterklasse – als Folge des Zusammenbruchs der sogenannten ‘sozialistischen’ Regime 1989 und der Kampagnen vom angeblichen ‘endgültigen Sieg’ des ‘liberalen Kapitalismus’ und vom ’Verschwinden der Arbeiterklasse’.
- Den schädlichen Auswirkungen der zerfallenden kapitalistischen Gesellschaft, die Tendenzen wie des Jeder-für-sich, die Atomisierung, jeder muss sehen, wie er für sich selbst zurechtkommt, die Untergrabung der gesellschaftlichen Beziehungen (mehr dazu siehe unseren Artikel «Der Zerfall, Endphase der Niedergangsphase des Kapitalismus», Internationale Revue Nr.13)
- Diese beiden Faktoren liefern unter anderem die Erklärung dafür, dass seit der Kapitalismus in den letzten 20 Jahren neue Arbeitsmethoden einführen konnte, die eine entsprechende Reaktion Wirkung der Arbeiterklasse hervorgerufen haben, keine Abwehrkämpfe gegen diese wesentliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen stattgefunden haben.
- Wenn sich jemand wegen seiner Arbeit umbringt, gehört er in der Regel zu denjenigen, die gegen diese zunehmende Barbarei am Arbeitsplatz vorgehen möchten. Im Vergleich zu vielen anderen Kollegen unterwirft sich derjenige nicht passiv der Überlastung am Arbeitsplatz, dem Mobbing, der Verachtung gegenüber den Bemühungen, ‘gute Arbeit’ abzuliefern. Aber weil es noch keinen kollektiven Widerstand gibt, keine ausreichende Solidarität unter den Beschäftigten, bleiben sein Widerstand und seine Revolte gegen diese Verhältnisse individuell oder isoliert. Beide sind zum Scheitern verurteilt. In letzter Konsequenz dieses Scheiterns kommt es zum Selbstmord, der nicht nur ein Akt der Verzweiflung ist, sondern auch ein letzter Aufschrei der Revolte gegen ein System, das jemanden erdrückt hat. Die Tatsache, dass diese Revolte die Form der Selbstzerstörung annimmt, ist in letzter Instanz auch nur eine andere Erscheinungsform des Nihilismus, der die ganze kapitalistische Gesellschaft, welche sich auf dem Weg der Selbstzerstörung befindet, befallen hat.
- Wenn die Arbeiterklasse wieder massiv in den Kampf treten und die Solidarität wieder Einzug halten wird, wird es keine Selbstmorde auf der Arbeit mehr geben.
(Wir haben neulich eine Information aus der nordwestspanischen Hafenstadt Vigo über einen wichtigen Kampf erhalten, den wir hier gekürzt widergeben).
In Vigo (der Großraum der Stadt umfasst ca. 400.000 Einwohner) sind mehr als 60.000 Arbeitslose registriert. Allein im Jahre 2009 wurden im Metallbereich mehr als 8.000 Beschäftigte auf die Straße geschmissen. Nach einer Entlassungswelle wurden ca. 700 Beschäftigte in einer Auffanggesellschaft geparkt, mit der Zusage, dass sie jeweils – falls vorhanden - Stellenangebote erhalten würden. Als sie aber erfuhren, dass niemand jemals ein Stellenangebot erhielt, während gleichzeitig Billiglöhner aus dem Ausland herbeigeschafft wurden, die unter unvorstellbaren Bedingungen arbeiten sollten, (z.B. schliefen einige ausländische Beschäftigte auf Parkplätzen und hatten Geld nur für eine Mahlzeit am Tag) war das Fass übergelaufen. Die Arbeiter erklärten sofort, dass sie nichts gegen ausländische Arbeitskräfte hätten, man solle ihnen allerdings die tariflich vereinbarten Löhne zahlen. Tatsache war, dass mit den ausländischen Beschäftigten Lohndumping betrieben wurden, da sie nur 30-50% des Lohns spanischer Arbeiter bekamen. Dessen ungeachtet beschuldigten die Medien die spanischen Arbeiter sofort der Ausländerfeindlichkeit. Der Zynismus und das spalterische Verhalten der herrschenden Klasse sind unübertroffen. Wenn sich Beschäftigte gegen Lohndumping wenden, werden sie sofort der Ausländerfeindlichkeit des Rassismus und Nationalismus bezichtigt, ja man versucht ihnen gar rechtsextreme Gedanken anzuhängen.
Am 3. Februar zogen die Arbeitslosen vor die Werkstore von Astilleros Barreras (dem größten Schiffsbaubetrieb in der Region) mit der Absicht, eine gemeinsame Vollversammlung mit den Beschäftigten dieses Betriebs abzuhalten. Da die Werkstore verschlossen waren, fingen sie an mit Megaphonen Parolen zu rufen und ihre Forderungen zu erklären, bis schließlich die große Mehrzahl der Beschäftigten das Werksgelände verließen und sich den Arbeitslosen anschlossen. Der Berichterstattung von Europa-Press zufolge „tauchten fünf Mannschaftswagen mit Sondereinheiten vor Ort auf. Die Polizisten bezogen dort Stellung in voller Montur, mit ihren Gummigeschossen ausgerüstet, aber schließlich zogen sie sich zur Straßenkreuzung Beiramar zurück.(…) Die Gruppe von Arbeitslosen und Beschäftigten zog demonstrierend in Richtung Bozas. Auf dem Demonstrationsweg durch den Industriegürtel schlossen sich Beschäftigte anderer Werften (wie Cardama, Armon, Freire-Asi) ihnen an, so dass die Arbeit in allen Schiffswerften niedergelegt wurde."
Das Beispiel verdeutlicht, wie die Solidarität und die Einheit unter den beschäftigten Kollegen und den Arbeitslosen konkretisiert werden kann; gemeinsame Vollversammlungen, Straßenkundgebungen um ihren Kampf den anderen Beschäftigten bekannt zu machen; Kontaktaufnahme und direkte Verbindung mit den Beschäftigen anderer Betriebe, um sie für den gemeinsamen Kampf zu gewinnen. D.h., eine Wiederholung der Ereignisse von Vigo 2006 (siehe dazu frühere Artikel auf unserer Webseite) Die Arbeiter wandten die Kampfmethoden an, die im Gegensatz zu den Spaltungen, dem Berufsegoismus, der Passivität, den typisch gewerkschaftlichen Methoden stehen.
Am 4. Februar wurden die gleichen Methoden wiederholt. Gegen 10 h vormittags zogen erneut Arbeitslose vor die Werkstore von Barreras. Erneut verließen die Beschäftigten das Werksgelände und schlossen sich ihnen an. Trotz der großen Polizeimobilisierung zogen sie gemeinsam in die Stadt. Die Zeitung "El Faro" aus Vigo meldete: "Der Protestzug wurde von einem großen Polizeiaufgebot begleitet. Es gab einige Augenblicke große Spannungen, aber es kam schließlich zu keinen Zusammenstößen. Die Arbeitslosen demonstrierten in Beiramar und Bouzas, in Begleitung der Beschäftigten aus dem Viertel, und sie bekräftigten, dass sie weiterhin kämpfen werden, solange die Arbeitgeber nicht die Probleme der Arbeitsverträge lösen."
Allein in den Ausgaben Nr. 84 und 85 vom Frühjahr und Sommer 2009 beschäftigt sich Wildcat in sieben Artikeln mit der jüngsten Weltwirtschaftskrise. In „Update Krise“ (Nr. 84) beschreiben die Genossen das epidemische Ausmaß der Verschuldung des Staatshaushaltes und der privaten Haushalte in den USA – ein Ausmaß, das die Bonität der USA bei den Ratingagenturen beeinträchtige und „bereits jetzt zum Platzen der Mutter aller Blasen, des US-amerikanischen Bond-Bubble, führen“ könne.
Gleich zwei Artikel nehmen die Rolle der beiden Hauptakteure der Weltwirtschaft, China und die USA, und ihre fast schon „symbiotischen“ Beziehungen unter die Lupe: „Chimerika“ (Nr. 84) und „Alle Hoffnungen richten sich auf China“ (Nr. 85). Der Leser erfährt, dass die Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Nationen auf einem Prozess des Gebens und Nehmens beruhen, der kurzfristig durchaus die Weltwirtschaft stimuliert habe, längerfristig aber auf tönernen Füßen stehe: „In den Jahren zwischen dem Dot-com-Crash und dem Einsetzen der aktuellen Krise hat die Weltwirtschaft vor allem dank ‚Chimerika‘ funktioniert: der Symbiose zwischen den USA und China. Auf der einen Seite stand die gewaltige Verschuldung der US-amerikanischen Konsumenten, die mit ihrem Geld chinesische Waren kauften. Auf der anderen Seite die gewaltige chinesische Überproduktion und das Unvermögen, die vielen eingenommen Dollars produktiv in China anzulegen. Indem ein großer Teil der Einnahmen in US-Staatsanleihen zurückfloss, finanzierte China die amerikanischen Schulden, und der Kreis schloss sich. Damit ergab sich eine doppelte Abhängigkeit: Die USA sind von China als ihrem größten Kreditgeber abhängig, und China ist mit seinen über zwei Billionen Dollar Devisenreserven von der Stabilität des Dollar abhängig.“ („Alle Hoffnungen richten sich auf China“). Besser, als es die Genossen von Wildcat getan haben, kann man das Dilemma der US-chinesischen Symbiose nicht veranschaulichen. Dabei darf allerdings auch nicht vergessen werden, dass die USA und China Hauptkonkurrenten, ja tödliche Rivalen bleiben.
Noch ausgiebiger befassen sich die Genossen von Wildcat mit dem Phänomen der Spekulation. In „Wie die Welle auf den Boden kommt“ (Nr. 84) wird das Ausmaß der „Finanzialisierung der allgemeinen Reproduktionskosten“ geschildert, das dazu geführt habe, dass „viele Leute (...) gezwungenermaßen zu ‚Akteuren an den Finanzmärkten‘“ geworden seien. Gegenstand des Artikels „Wiederkehr der Realität“ (Nr. 84) ist die Alchimie der Finanzjongleure – die sog. „Mathematisierung des Finanzhandels“, mit der der Wert einer Anlage in der Zukunft vorhersehbar gemacht werden soll und die das globale Pilotenspiel mit den sog. Derivaten erst ermöglicht hat. Dieser Artikel gibt einen guten Einblick in die Scheinwelten postmoderner Vorturner wie Deleuze, Guttari oder Beaudrillard, die mit ihren Theorien über „signifikante Zeichenketten“ oder die „strukturale Revolution des Werts“ den Luftgeschäften an den Börsen die philosophischen Weihen verliehen haben.
Zweierlei fällt auf, wenn man diese Artikel auf ihren Inhalt abklopft. In all diesen Texten kommt ein hoher Kenntnisstand über die auslösenden Faktoren und die Erscheinungsformen der aktuellen Krise zum Ausdruck; sie sind gespickt mit Zahlen, Daten und Fakten zum aktuellen Stand der Dinge. Kurz: sie sind sehr anschauliche Schilderungen, fundierte Beschreibungen des Status quo der Weltwirtschaft. Doch die andere Aufgabe bleibt noch anzugehen, welche der Drang zur Wissenschaft immer auch von uns abverlangt: Den Dingen auf den Grund gehen, die tieferen Ursachen einer Oberflächenerscheinung zu beleuchten.
In dieser Richtung versucht sich der Gastbeitrag von Paolo Guissani in Wildcat Nr. 84: „Des Kapitalismus neue Kleider“. Hier wird der Versuch unternommen, den Zustand des zeitgenössischen Kapitalismus in einen grundsätzlicheren, historischen Zusammenhang zu stellen. Der Autor dieses Beitrags fühlt sich dazu umso mehr bemüßigt, als es auch der marxistischen „Wirtschaftsliteratur“ (?) seiner Auffassung nach „noch nie gelungen ist, eine zusammenhängende Darstellung zu liefern, die dem magischen Wort ‚Krise‘ gerecht würde“.
Hauptgegenstand seines Beitrags ist die Umwandlung des Weltkapitalismus, die seit den 80er Jahren zu einer wachsenden „Verlagerung von Geldkapital in spekulative Anlagen“ geführt habe. So habe sich der Umsatz der Wall Street, der bis Mitte der 70er Jahre bei konstanten 15 Prozent des US-amerikanischen BIP gelegen habe, bis 2006 mehr als verzwanzigfacht (350%). Giussani weist darauf hin, dass im Unterschied zum Börsenboom der 20er Jahre heuer nicht nur Managergehälter und realisierte Profite an der Börse verzockt werden, sondern – „vermittelt durch die Fonds“ – auch Teile der Arbeitslöhne. Er behauptet sodann: „Ohne diese Verlagerung von Geldkapital aus der produktiven Akkumulation in spekulative Anlagen hätte es weder einen spekulativen Boom gegeben, noch hätte der Finanzsektor sich so sensationell ausweiten können.“
Doch warum fand diese Verlagerung statt? Was hat sie letztendlich bewirkt? Giussanis Antworten auf diese Frage erscheinen uns undeutlich. Da ist die Rede von einer „inneren Struktur der Aktiengesellschaft“, die der Grund dafür sei, „warum das moderne Kapital spontan zur Verwandlung in spekulatives Kapital tendiert“. Gleichzeitig räumt er ein, dass die Herrschaft des spekulativen Kapitals „einen anfänglichen Impuls von außen (braucht), denn niemand kann einen spekulativen Boom in Gang setzen“. Da es Giussani im Anschluss an dieser Feststellung jedoch versäumt, das Kind beim Namen zu nennen, können wir hier nur spekulieren, was denn nun nach seiner Auffassung den Impuls zum Börsenboom der letzten 20 Jahre gegeben hat. Wir denken, dass die Antwort darauf in seinen einleitenden Worten desselben Kapitels zu suchen ist: „Die parasitäre Transformation des Weltkapitalismus hat ihren Ursprung im Ende des Nachkriegs-Wirtschaftsbooms, der in die Rezessionen und in die Stagnation der 70er Jahre mündete, als der tendenzielle Fall der hohen Nachkriegs-Profitrate zu einem beträchtlichen Überschuss an Geldkapital führte.“
Nach seiner Ansicht würde der „Fall der Profitrate (...) mehr oder weniger direkt dazu führen, dass auch die Akkumulationsrate sinkt“. Und der einzige „Mechanismus“, der bisher in der Lage gewesen sei, den Fall der Profitrate umzukehren, sei der Weltkrieg gewesen. Leider hat es Giussani für überflüssig erachtet, diese Frage ausführlicher zu thematisieren, und sich stattdessen über Gebühr mit dem Phänomen der Aktiengesellschaft und der Spekulation gewidmet. So mutet es wie Schattenboxen an, auf Giussanis unterlassene Argumente in dieser zentralen Frage zu antworten: Stand am Anfang der Weltwirtschaftskrise allein der tendenzielle Fall der Profitrate?
Eine Fixierung auf die Profitraten als ausschließliche Krisenursache könnte dazu führen, die qualitativen Unterschiede zwischen den Wirtschaftskrisen im 19. Jahrhundert und 20. Jahrhunderts zu ignorieren. Schließlich ist das Problem der immer höheren organischen Zusammensetzung des Kapitals fast so alt wie der Kapitalismus selbst. Dennoch waren die mehr oder weniger regelmäßigen „Zusammenbrüche“ der kapitalistischen Wirtschaft des 19. Jahrhunderts Wachstumskrisen eines juvenilen Kapitalismus; die Krisen von heute sind dagegen Manifestationen des Siechtums eines senilen Kapitalismus. Während der Kapitalismus zurzeit Marx‘ und Engels‘ aus jeder Wirtschaftskrise mit einem unerhörten Wachstumsschub hervortrat, taumelt der moderne Kapitalismus des 20. und 21. Jahrhunderts von einer Krise in die nächste und gerät dabei immer tiefer in den Sog seiner eigenen Widersprüche. Wie ist das zu erklären?
Wir meinen, dass der krisenhafte Fall der Profitrate im Kapitalismus heute wesentlich einhergeht mit einer allgemeinen Überproduktionskrise. Sicher, auch Letztere ist nichts Neues im Leben des Kapitalismus. Schon Marx erkannte, dass dem schier unendlichen Potenzial des kapitalistischen Produktionsapparates die eingeschränkte Konsumtionsfähigkeit der großen Masse gegenübersteht, die durch die „antagonistischen Distributionsverhältnisse“ verursacht wird. Sprich: der Massenkonsum wird systemisch begrenzt durch die Spaltung der Gesellschaft in Klassen, insbesondere durch den Warencharakter der Lohnarbeit. Die Konsumfähigkeit der Arbeiterklasse wird in elastischen aber engen Grenzen gehalten durch die Ausbeutungsmechanismen des Kapitalismus selbst.
Aber die Überproduktionskrisen zu seiner Zeit waren vorübergehend und erlebten schnell ihre Auflösung in der Erschließung neuer außerkapitalistischer Territorien. Die Überproduktionskrise in unseren Tagen ist hingegen permanent und kann nur dank einer schuldenfinanzierten, künstlichen Nachfrage mühsam eingedämmt werden, um dann wieder um so heftiger auszubrechen. Während im Zeitalter der Kolonialisierung das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate durch die Einbeziehung außerkapitalistischer Territorien eine Abschwächung erfuhr, wird es heute angesichts des erbitterten Kampfes der verschiedenen Produzenten um Anteile auf einem längst übersättigten Weltmarkt gar noch verschärft.
Die aktuelle Rezession ist unserer Auffassung nach zum wesentlichen Teil letztlich die Folge der immer größeren Schwierigkeiten des Kapitals, seinen Mehrwert auf den heillos überfüllten Märkten zu realisieren. Sie ist ferner das Ergebnis des jahrzehntelangen Krisenmanagements der Staaten, das sich darin auszeichnet, mittels der Politik des billigen Geldes und einer immer exzessiveren Verschuldung kurzfristig künstliche Nachfrage zu schaffen und langfristig für eine Verschärfung der Krisensymptome zu sorgen. Die Unmengen vagabundierenden Kapitals auf den Finanzmärkten wie die explodierenden Arbeitslosenzahlen, die Spekulationsblasen wie die sog. Wiedergeburt des Keynesianismus – sie sind alle in letzter Konsequenz auf einen Widerspruch zurückzuführen, der einst den Kapitalismus zur dynamischsten Gesellschaftsform in der Menschheitsgeschichte machte und ihn dazu antrieb, sich binnen kürzester Zeit die gesamte Welt untertan zu machen, und heute den Kapitalismus auf seiner verzweifelten Suche nach Märkten dazu treibt, sich selbst zu kannibalisieren. Es ist der auf die Spitze getriebene Antagonismus zwischen Produktion und Konsumtion: „Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde“. (Marx, Kapital, Bd. 3) Ried, 15.03.2010
Offensichtlich will Sarkozy weiter hart gegen die Migranten vorgehen. Nach der „Reinigung Frankreichs mit Hilfe des Kärchers“ (so seine Ausdrucksweise gegenüber den Unruhen in den französischen Vorstädten), mit dem Frankreich sich des „Unrats“ entledigen sollte, hat der französische Präsident nun eine verschärfte Unterdrückungspolitik gegenüber die Roma und Sinti angekündigt.
So wurden ca. einhundert Menschen eines Roma und Sinti-Lagers gewaltsam vertrieben, den Lagerbewohnern die Wohnwagen weggenommen, die Leute anschließend auf die Straße geworfen und schlimmer als Vieh behandelt - all das unter Waffenandrohung. Seit Ende Juli wurden mehr als 1000 Roma und Sinti aus Frankreich abgeschoben. Der Innenminister Hortefeux hofft, damit die Zahl von 9085 Abschiebungen nach Bulgarien und Rumänien im Jahre 2009 zu übertreffen, zumal seit Jahresbeginn schon mehr als 8.000 des Landes verwiesen wurden. Aber selbst im politischen Establishment Frankreichs äußerten mehrere „Stimmen“ ihre Ablehnung gegenüber dieser sehr fremdenfeindlich erscheinenden Politik, die einer Pogrompolitik gleicht. Lediglich Marine Le Pen und ihre Partei, die diese Politik seit mehr als 30 Jahren fordert, sowie die engsten Vertrauen Sarkozys wie Estro und… Kouchner haben die Haltung Sarkozys begrüßt,. Der Chef der französischen Diplomatie hat, und dabei konnte er sein Lachen wohl kaum unterdrücken, auf eine zweite Warnung der UNO mit den Worten reagiert: „Der Präsident der Republik hat nie eine Minderheit aufgrund ihres ethnischen Ursprungs benachteiligt“.
Selbst Villepin, der als Innenminister und schließlich als Premierminister unter Präsident Chirac zahlreiche migrantenfeindliche Maßnahmen unterzeichnet hatte, sprach sich vehement gegen diese Politik des Holzhammers aus, die einen „Makel auf der französischen Fahne“ hinterlasse. Bernard Debré, Abgeordneter der UMP aus Paris, zeigte sich „schockiert“ und unterstrich seinerseits das „Risiko des Abgleitens in die Fremdenfeindlichkeit und den Rassismus“. Es kommen einem die Tränen!
Die Sozialistische Partei (PS), die dieses Vorgehen ebenfalls verurteilte, erklärte ebenso wie Rocard, dass man „seit den Nazis solch ein Vorgehen nicht mehr“ gesehen habe; sie kritisierten Sarkozy, jedoch nur, um ihn bei dessen Anstrengungen zu ermutigen. In einer Stellungnahme vom 18. August kritisiert die PS die Regierung, dass sie in den nächsten drei Jahren 3.500 Stellen bei der Polizei streichen will. Sie verkündete: „Nie hat es solch eine große Kluft zwischen den Worten und den Taten einer Regierung gegeben. Wenn die PS die Regierung kritisiert, dann nicht, weil die Regierung zu heftig auf dem Gebiet der Sicherheit vorgeht, sondern weil sie nicht wirklich handelt.“ Ja, die PS seit Joxe, Cresson und selbst Rocard weiß, wovon sie redet, schließlich hat sie selbst in den 1980er Jahren die ersten Charterflüge zur Rückführung von Migranten veranlasst.
Doch ungeachtet der Kritik, die aus allen Ecken zu hören ist - ob vom Papst, von der UNO oder der Europäischen Union - und trotz des wachsenden Widerstands der französischen Bevölkerung gegen diese widerliche Diskriminierungspolitik kündigten Sarkozy und sein Migrationsminister, der ehemalige Sozialist Éric Besson, am 24. August eine „Beschleunigung der Abschiebung bulgarisch und rumänisch stämmiger Bürger“ an. Dabei bedeutet die Ausweisung, die oft heuchlerisch als freiwillige Rückkehr dargestellt wird, dass die Menschen vor Ort verfolgt werden. Und um die „Schmarotzer“ und „Kriminellen“ daran zu hindern, erneut 300 Euro „Ausweisungsprämie“ zu beantragen, beabsichtigen die Behörden, biometrische Daten zu erstellen, um ihre Wiedereinreise nach Frankreich zu verhindern.
Mit diesen Verlautbarungen und der besonders heftigen Unterdrückungspolitik gegenüber den Roma verfolgt die Sarkozy-Regierung mehrere Ziele. Zunächst geht es darum, sich auf eine Randgruppe einzuschießen, die oft als rückständig und ungebildet angesehen wird, die angeblich eine geschlossene und wenig verständigungsbereite Gruppe darstellt, die daher sehr leicht kriminalisiert und zu einem Sündenbock für die Wirtschaftskrise gemacht sowie als Rechtfertigung für die allgemeine Unterdrückungspolitik des französischen Staates verwendet werden kann. Am widerwärtigsten ist, dass dieses „Volk“, das ohnehin auf die Müllhalden dieser Gesellschaft gedrängt wird, leicht instrumentalisiert werden kann. Der von Sarkozy geführte Angriff gegen die Roma konnte zurzeit allenfalls Mitleid auslösen, aber keine aktive Solidarisierungswelle innerhalb der Arbeiterklasse, zumal die meisten Rückführungen während der Ferienzeit stattfanden. Abgesehen von den hochtrabenden und heuchlerischen Erklärungen der Politiker und bestimmter politischer Gruppen waren keine ablehnenden Stimmen zu vernehmen.
Dieser große Medienrummel dient aber auch dazu, von den sozialen Spannungen, die aller Voraussicht nach diesen Herbst zunehmen werden, abzulenken. Und natürlich dient diese Propaganda als Rechtfertigung für Massenverhaftungen oder andere repressive Maßnahmen, wie z.B. die Androhung hoher Strafen gegen Migrantenfamilien, deren Kinder in Konflikt mit der Polizei geraten sind. Die Eltern sollen juristisch für die Taten ihrer minderjährigen Kinder zur Verantwortung gezogen werden, wenn die Kinder für ein Vergehen verfolgt oder bestraft werden oder wenn sie gegen Verbote und Auflagen verstoßen. Den Eltern drohen Strafen von bis zu zwei Jahren Freiheitsentzug und Geldstrafen in Höhe von 30.000 Euro, obwohl Arbeitslosigkeit, prekäre Lebens- und Arbeitsbedingungen und Armut diese Menschen oft gebrochen und außer Lage gesetzt haben, ihre Erziehungsrolle zu erfüllen.
Eines der Steckenpferde der neuen, von Sarkozy angekündigten Sicherheitsmaßnahmen ist die „Aberkennung der französischen Staatsbürgerschaft“. Eines der Argumente, die von den Befürwortern dieser Maßnahme vorgebracht werden, lautet : „Franzose zu werden ist ein Verdienst“ – ganz im Sinne von Raphaël Alibert, Justizminister unter Pétain, der im Juli 1940 ähnliche Worte gebrauchte, um ein Gesetz zu rechtfertigen, das die Schaffung einer „Kommission zur Überprüfung der Staatsangehörigkeit“ begründete, die später Hunderttausenden Franzosen deren Staatsangehörigkeit „aberkennen“ sollte, wobei es sich hauptsächlich um Juden handelte (2).
Solch eine Maßnahme kann natürlich heute nicht die gleiche Wirkung und denselben Einfluss haben wie 1940. Es handelt sich um eine sehr aufgeblasene Sache. Aber sie bietet den Vorteil, die Spaltung innerhalb der Arbeiterklasse, zwischen französischen und ausländischen Arbeitern zu verschärfen. Sie ermöglicht einen Medienrummel um ein falsches Problem, die Frage der „Nationalität“, die den Interessen der Ausgebeuteten völlig entgegensetzt ist.
Nein, eine Nationalität zu erwerben ist kein Verdienst, und die Arbeiter haben nichts damit am Hut. Wie das Kommunistische Manifest von 1848 schrieb: „Die Arbeiter haben kein Vaterland“. Die Arbeiter müssen gemeinsam, unabhängig von ihrer Hautfarbe und ihrer ethnischen oder nationalen Herkunft, diese Gesellschaft bekämpfen, die nichts als katastrophale Lebensbedingungen und eine schreckliche Zukunft für sie bereithält. Wilma, 27.08.2010
1) Und sein Kumpel Sarkozy war kein Opfer einer Verwechslung, als er Romas, „seit Jahrzehnten auf Wanderschaft befindliche Leute“ französischer Nationalität, Migranten und Delinquenten in einen Topf warf.
2) Sarkozy greift im Gegensatz zu Le Pen, dessen Wähler er abwerben will, nicht die Juden an. Laut jüdischer Tradition ist er übrigens selbst Jude, da seine Mutter Jüdin ist. Abgesehen davon, würde nach den Ereignissen des 2. Weltkriegs solch ein Verhalten seitens eines Präsidenten der Republik eher Unruhe stiften.
Der Widerstand gegen die Sparpolitik ist international
In Südafrika ist die durch die Fußball-WM hervorgerufene patriotische Euphorie längst verflogen. In einem heftigen Streik von 1.3 Millionen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, der von Lehrern und Krankenpflegern angeführt wird, kämpfen die Beteiligten um höhere Löhne. Die Krankenpfleger haben versucht, lebenswichtige Dienstleistungen in den Krankenhäusern aufrechtzuerhalten, aber in den Medien sind sie angeprangert worden, weil sie die Kranken und Verletzlichen im Stich gelassen hätten. Ihr Kampf aber erfreut sich großer Unterstützung in der Arbeiterklasse. Dem Streik haben sich Beschäftigte aus den Bereichen PKW-Produktion und Energieerzeugung angeschlossen, und eine kurze Zeit sogar Bergleute, gegen die jeweils Soldaten als Streikbrecher eingesetzt wurden, obgleich auch unter diesen die Unzufriedenheit zunimmt.
Unweit von Südafrika, in Mozambik, haben 30%ige Brotpreiserhöhungen Streiks und Unruhen in den Straßen der Hauptstadt Maputo, in Matola, Beira und Chimoio ausgelöst. Die Polizei hat brutal reagiert; sie schoss auf die Protestierenden – mit scharfer Munition und mit Gummigeschossen. Mindestens 10 Menschen wurden erschossen, Hunderte verletzt. Aus Ägypten wurden ebenso Zusammenstöße wegen der Erhöhung von Lebensmittelpreisen gemeldet. Die Preise für Lebensmittel steigen ständig an, insbesondere aufgrund zunehmender Dürreperioden und Überschwemmungen – wahrscheinliche Auswirkungen des Klimawandels, die große Schäden in der Landwirtschaft in Russland und Pakistan hervorgerufen haben. Die Medien äußern schon die Befürchtung, dass die Rebellion in Mozambik eine neue internationale Welle von Lebensmittelunruhen wie vor kurzem im Jahr 2008 auslösen könnte. Auf der ganzen Welt sind jetzt schon Millionen von Hunger bedroht und stöhnen unter den Folgen des ökonomischen und ökologischen Zusammenbruchs des Kapitalismus.
In Südafrika machten sich die Arbeiter über den offiziellen “feelgood” Slogan der WM „Feel it, it is here“ lustig und setzten dem ihren eigenen Slogan entgegen „Feel it, it is war“. Und der Klassenkampf ist international. Arbeiter in Ländern wie China, Bangladesh, Kambodscha, deren billige Arbeitskraft für fette Profite in den großen Multis gesorgt hat, weigern sich mittlerweile, sich den Auswirkungen der kapitalistischen Krise zu beugen. Riesige Streikwellen werden aus China und Bangladesh gemeldet, von denen viele außerhalb der Kontrolle der etablierten Gewerkschaften stattfinden, weil die Arbeiter diese als dem Kapital und Staat unterworfen und als korrupt ansehen. Die Herrschenden haben erneut mit brutaler Repression reagiert, aber auch mit dem Versuch, mehr „repräsentative“ Gewerkschaften aus der Taufe zu heben, die geschickter vorgehen, um die Arbeiter an der Leine zu halten. Eine ähnliche Taktik wird auch in Südafrika erkennbar, wo der Gewerkschaftskongress damit gedroht hat, seine Beziehungen zum regierenden ANC zu lockern, um sich gegenüber den unzufriedener werdenden Arbeitern als „unabhängige“ Kraft darzustellen.
In den höher entwickelten Ländern stehen die meisten Arbeiter nicht vor der Gefahr des Verhungerns; dennoch prasseln alle Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf sie nieder: explodierende Arbeitslosigkeit und von den Regierungen geschnürte Sparpakete. Arbeiter in Griechenland und Spanien, die mit am heftigsten von den neuen Sparmaßnahmen getroffen wurden, haben mit größeren Streiks und Demonstrationen reagiert. Aber woanders in Europa und Amerika entfaltet sich der Widerstand nur sehr zögerlich und zerstreut. Den Gewerkschaften gelingt es noch, einzelne Teile der Klasse getrennt voneinander zum Kampf aufzurufen – wie die Beschäftigten bei der britischen Fluggesellschaft BA und die U-Bahner in London. Dabei müssten eigentlich alle Beschäftigten gemeinsam mit gemeinsamen Forderungen reagieren. Noch mag es so aussehen, als ob es einen großen Graben gebe zwischen den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter und der ärmsten Schichten in den peripheren Ländern und den Alltagssorgen der Arbeiter in den kapitalistischen Zentren. Aber vieles deutet daraufhin, dass sich dies ändert. Aus dem jüngsten Kampf der Tekel-Beschäftigten in der Türkei z.B. ist eine Gruppe von militanten Arbeiter/Innen hervorgegangen, welche die Notwendigkeit der Kontaktaufnahme mit Arbeiter/Innen in anderen Ländern wie Deutschland und Griechenland erkannten, um ihre Kampferfahrungen auszutauschen und weiterzugeben. Dies wurde außerhalb der Kontrolle der Gewerkschaften organisiert, weil die „Plattform der kämpfenden Arbeiter“ verstanden hat, dass die Gewerkschaften nicht auf ihrer Seite stehen. Arbeiter aus Österreich und Deutschland besuchten sich gegenseitig. Auf einer breiteren Ebene können die massiven Kämpfe in den weniger entwickelten Ländern den Arbeitern im Zentrum des Kapitalismus ein Beispiel für die notwendige Entschlossenheit und den Mut liefern und aufzeigen, wenn diese sich nicht wehren, drohen sie Gefahr, ins furchtbarste Elend abzurutschen, denn die Krise des Kapitalismus kennt keinen anderen Ausweg. Amos 4.9.10
Wir haben eine Zuschrift erhalten von einem Mitglied der Gruppe farbeROT aus Frankfurt, deren theoretische Grundlage der GegenStandpunkt (GSP) ist. Der Genosse schreibt, er sei zufällig auf unsere Webseite gestoßenr. „Von einigen Artikeln war ich positiv überrascht, was die konsequente Ablehnung von Nationalismus und bürgerlichem Staat mitsamt seines Herrschaftsprozederes anbelangt. Da ihr sagt, dass „die Diskussion auf der breitest möglichen Grundlage ein unabdingbares Mittel, um Klarheit zu erringen“ sei, gehe ich nicht davon aus, dass dieser Artikel böswillig Positionen des GegenStandpunktes falsch darstellt. Ihr scheint das einfach falsch verstanden zu haben. Ich stelle das einmal knapp richtig. Bei Bedarf führe ich das gerne weiter aus“. Der Genosse bezieht sich auf einzelne Stellen in unserer Presse, wo der Gruppe GegenStandpunkt die Haltung unterstellt wird, die Arbeiter als „nützliche Idioten“ und als „Arschlöcher“ zu beschimpfen, weil diese sich mit dem Kapitalismus identifizieren, statt, wie GegenStandpunkt selbst schreibt „dass sie ihren Verstand darauf verwenden, sich ein richtiges Bewusstsein von ihrer Lebenslage und deren Gründen zu erwerben“. Besonders bezieht sich der Genosse auf eine Stelle in unserer Presse, wo wir GSP bezichtigen, den Abwehrkampf des Proletariats gering zu schätzen. Er zitiert uns: „Mit Verachtung schauen sie auf jedwedes Bemühen der Arbeiter, ihren Lebensstandard innerhalb dieses Systems zu verteidigen“
Dazu stellt der Genosse klar: „Allgemein: Wir beschimpfen nicht das Proletariat. Als „Lohnarbeiter“ sind(!) die Proletarier die nützlichen Idioten des Kapitals. Das ist mit dieser Rechtsordnung so festgelegt. Und weil es eben keine Freude ist, dieses bescheidene Leben zu führen, in dem man für den Reichtum verschlissen wird, von dem man ausgeschlossen ist, gehören auch nicht nur die Arschlöcher entmachtet, die das gut finden, sondern das System abgeschafft. Dafür würde allerdings schon ein konsequenter Lohnkampf reichen, der sich um die Notwendigkeit, von Staat und Kapital einen Dreck schert, der einfach mal ernst machen würde mit der Lüge(!), dass der Lohn doch ein Mittel für ein gutes Leben sei. Das stünde nämlich in einem unversöhnlichen Gegensatz zu dieser Gesellschaft, in dem der Lohn nichts anderes als ein Mittel des Profits ist. Wobei ein solcher Umsturz den Mangel hätte, dass er ein Ideal des Kapitalismus gegen die Wirklichkeit des Kapitalismus durchsetzen würde und somit ein – wenn auch idealisiertes – Prinzip des Kapitalismus zur neuen Maxime der neuen Gesellschaft machen würde. So etwas gab es ja schon und gut bekommen ist das den Arbeitern nicht. Folglich kritisieren wir die falsche Kapitalismuskritik und die daraus folgende Praxis von Sozialdemokratie und auch von den meisten kommunistischen Strömungen (Revisionisten, Revis). Denn diese kritischen und unkritischen Freunde des „Realsozialismus“ woll(t)en die Lohnarbeit und das Wertgesetz von den Fesseln des Kapitalismus befreien anstatt das die Mehrheit der Menschheit von deren schäbigen Rolle als Wertproduzenten zu befreien. Geld, Lohn, Preis, Zins, Kredit und Proft sind nämlich das Gegenteil einer Gebrauchswertproduktion, die gemäß der Bedürfnisse, Wünsche und Interessen Art und Menge der Produkte und Verteilung der Arbeit festlegt.
Kämpfe sind nicht schon deshalb etwas Positives, weil sie von Arbeitern geführt werden. Es kommt eben immer darauf an, wofür gekämpft wird. Wenn das z. B. die Forderungen des DGB sind, dann kann das für die Arbeiterklasse nichts Gutes bedeuten. Denn die berücksichtigen schon immer, dass die Gegenseite davon keinen Schaden nimmt: „Die Verhältnisse waren im Jahr 2009 wie ausgewechselt. Der Boom fand ein abruptes Ende, im vierten Quartal 2008 verzeichnete die deutsche Stahlindustrie einen Rückgang beim Auftragseingang um über 40 %, für 2009 wird ein drastischer Produktionsrückgang erwartet. Die Unternehmen reagierten personalpolitisch zunächst mit der breiten Einführung von Kurzarbeit in der gesamten Branche. Die IG Metall kündigte die Tarifverträge zum 31.3.2009 und beschloss erst kurz vorher eine Tarifforderung von 4,5 % bei einer Laufzeit von 12 Monaten. Das war die bei weitem niedrigste Tarifforderung unter den größeren Branchen in dieser Tarifrunde.“ (https://www.boeckler.de/102230_95783.html [86]) Die IG Metall hat hier nicht in Hinblick auf das, was die Arbeiter bräuchten eine Forderung aufgestellt, sondern sich von vornherein an der Lage der Wirtschaft orientiert. Das ist eine Interessensvertretung, die ganz und gar unbekömmlich ist für die Lohnabhängigen. Dafür spenden wir keinen Applaus – auch keinen kritischen. Man klopft ja seinem besten Freund auch nicht auf die Schulter, wenn er sich etwas vornimmt, was ihm nicht gut bekommen wird.
Der Kampf der Arbeiterklasse für ihr Auskommen im Kapitalismus ist nichts Gutes, sondern eine pure, bleibende Notwendigkeit. „Um überleben zu können, mussten die Lohnarbeiter rebellisch werden. Zu arbeiten, wie es von ihnen verlangt wird, und sich mit dem gezahlten Lohn zu bescheiden – das langt nicht; mit Dienst nach dem Geschmack der Eigentümerklasse und Fügsamkeit nach Vorschrift der politischen Ordnungsmacht liefern sie sich bloß dem Zerstörungswerk aus, das ihre Arbeitgeber gemäß den Sachgesetzen ihres Metiers und ihrer Konkurrenz an ihrer Arbeitskraft vollziehen. Um sich zu erhalten und mit dem Verdienten über die Runden zu kommen, sind sie zu einer Zusatzanstrengung gezwungen: Sie müssen sich zusammentun und neben ihrer Lohnarbeit um aushaltbare Arbeitsbedingungen, um Lohn und um ein Minimum an lebenslanger Existenzsicherheit auch noch kämpfen. Gegen die Kapitalisten und gegen die Staatsmacht, die deren Interessen ins Recht setzt, so dass eine ganze Produktionsweise daraus wird, müssen sie sich als Gegengewalt aufbauen – und das nur, um überhaupt auf Dauer als ausgebeutete Klasse funktionieren zu können: ein politökonomischer Zynismus der höchsten Güteklasse.“ (Decker / Hecker, „Das Proletariat“, S. 29) Der Lohn ist und bleibt ein Mittel des Kapitals, um sein Kapital zu vermehren. Insofern hat jeder Kampf, der dieses Verhältnis nicht angreift, einen theoretischen und praktischen Mangel: Er schafft den Grund für die schlechte Lage der Arbeiterklasse nicht aus der Welt. Wenn man nicht genug Leute beisammen hat, um diesen Kampf aufzunehmen, dann kann doch daraus niemals der Schluss folgen, dann alle Kämpfe sein zu lassen.“
Wir wollen bereits an dieser Stelle anmerken, dass wir uns über diese Zuschrift sehr gefreut haben. Vor allem deren konstruktive Haltung begrüßen wir, die zunächst darin besteht, Missverständnisse aus dem Weg zu räumen als eine erste Vorbedingung für einen Dialog, welcher einer wirklichen Klärung dienlich sein kann. So ist es aus unserer Sicht eine wichtige Richtigstellung, wenn der Genosse deutlich macht, dass es ihm (und hier möchte er für die Gruppe GSP insgesamt sprechen) nicht um die Geringschätzung des Abwehrkampfes geht, sondern im Gegenteil um deren Durchführung ohne Rücksicht auf die Verluste (des Kapitals) bis zur letzten revolutionären Konsequenz. Nicht hier liegt, so der Genosse, der Streitpunkt zwischen IKS und GSP.
„Aus meiner Sicht kommt eine entscheidende Differenz zwischen euch und uns (GegenStandpunkt) in der Frage, wie sich revolutionäres Bewusstsein entwickelt, zur Geltung. Ihr seht das, wenn ich euch richtig verstehe, als einen historischen Prozess an, der sich – so würde ich das kritisch bezeichnen – durch die Aktion der Arbeiter getrennt von ihrem individuellen Bewusstsein vollzieht und dann als dem einzelnen nicht bewusstes Wissen des Proletariats, sozusagen als latentes Bewusstsein, vorhanden ist. Wir hingegen sehen das ganz schlicht. Wer etwas tut, denkt sich etwas dabei. Wenn ein einzelner Prolet mit seiner Lage unzufrieden ist und sich klar macht, woran das liegt, dann erkennt er auch seine Ohnmacht im Kapitalismus: Der Staat zwingt ihn per Gesetz die Gesetze einzuhalten, deren Inhalt ist: Du darfst alles machen, wozu dich dein Eigentum in Stande setzt, d.h. Im Fall des Lohnarbeiters: sich für Profitinteressen von Kapitalisten dienstbar machen und dafür einen Lohn zu erhalten, der sich nicht nur nicht an den materiellen Interessen eines Lohnarbeiters bemisst, sondern der als Mittel für Profit tauglich sein muss, also nie niedrig genug sein kann. Mit diesem Bewusstsein seiner Lage fällt eine weitere Erkenntnis zusammen: Es gibt noch mehr von seiner Sorte und zwar nicht nur hier in Deutschland, sondern weltweit. Und von all denen hängt die ganze Gesellschaft ab: Ohne ihre Ausbeutung gäbe es keinen Profit und damit keine Kapitalistenklasse und folglich wäre dem kapitalistische Staat seine finanzielle Grundlage. Die Gesetze, die alle Staatsbürger auf die Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Eigentum verpflichten, wären nicht das Papier wert, auf dem sie stehen, ohne ihr Wahlkreuz hätte der Staatsapparat nicht die Legitimation, dass das Volk ihn als Herrschaft über sich haben will – kurz gesagt: das richtige Bewusstsein von seiner Lage zeigt den Proleten ihre Ohnmacht im Kapitalismus auf und macht die Notwendigkeit klar, dass sie den Kapitalismus beseitigen müssen, wenn sie den Schäden ihres Materialismus (inkl. Ihrer körperlichen und geistigen Gesundheit) entgehen wollen – und zeigt ihnen zugleich noch den Weg auf.“
Wir stimmen den Ausführungen des Genossen hier in zwei ganz wesentlichen Punkten zu. Erstens darin, dass die Unterschiede in der Auffassung darüber, wie proletarisches Klassenbewusstsein entsteht und sich entwickelt, eine der Hauptdivergenzen zwischen unseren beiden Gruppen darstellt. Zweitens darin, dass für die IKS dieser Prozess ganz entscheidend ein historischer und kollektiver Prozess ist, wobei diese beiden Dinge für uns unzertrennlich zusammen gehören. Denn, marxistisch gedacht, halten wir es für erwiesen, dass die Geschichte nicht durch Einzelne, sondern durch soziale Gruppen und Verbände (in der Klassengesellschaft im wesentlichen durch Klassen) der Gesellschaft „gemacht“ und „bestimmt“ wird.
Dies gilt erst recht für die Geschichte des proletarischen Kampfes, da der vereinzelte Proletarier der Macht des Kapitals tatsächlich hilflos ausgeliefert ist, und erst durch den Zusammenschluss mit Anderen ein bewusster, zielgerichteter Kämpfer/In, ja im vollen Sinne ein menschliches Wesen wird. Und da fällt es auf, dass der Genosse, wenn er die eigene Sichtweise der Bewusstseinsentwicklung darstellen will, sofort vom „einzelnen Prolet“ ausgeht, der „mit seiner Lage unzufrieden ist und sich klar macht, woran das liegt.“ Erst in einem zweiten Schritt realisiert dieser fiktive, alleinstehende Lohnarbeiter, dass es „noch mehr von seiner Sorte“ gibt, „und zwar nicht nur hier in Deutschland, sondern weltweit“. Warum ist dieser unterstellte Proletarier, dieser – sagen wir mal – Robinson Crusoe der Lohnarbeit, der irgend wann auf seiner Insel seinen Mann Freitag entdeckt, hier nicht als zu unterwerfender Sklave, sondern als bereits versklavter Klassengenosse, aus unserer Sicht fiktiv? Denn in der Wirklichkeit wird unser Lohnarbeiter bereits in die Klassengesellschaft hineingeboren, wächst in einer Familie, in einer Nachbarschaft auf, die bereits von der Lohnsklaverei abhängig ist – oder eben in eine andere Familie und eine andere Nachbarschaft, wo er bereits die Furcht davor kennengelernt hat, proletarisiert zu werden. Kurzum: Unser Lohnarbeiter ist kein Einzelner, sondern wächst in der bestehenden Gesellschaft auf und wird davon entscheidend geprägt. Schon als junger Mann, als Lehrling oder als Hilfsarbeiter oder als „ewiger Praktikant“ im Büro oder im Krankenhaus lernt er - muss er lernen –, mit wildfremden Menschen, die ganz anderen Kulturkreisen angehören, zu kooperieren. Damit die moderne Produktion überhaupt vonstatten gehen kann, muss er lernen, Teil eines Kollektivs zu werden, Bestandteil einer gemeinsamen Intelligenz und eines Zusammenhaltes. Und zwar deshalb, weil der Kapitalismus weitestgehend die Produktion mit einzelnen Produktionsmitteln ersetzt hat durch Produktionsmittel, die nur durch ganze Gruppen von Arbeitern, durch die Assoziation der Arbeit (wie Marx das nennt) überhaupt in Gang gesetzt werden können, und welche Netzwerke entstehen lassen, wirtschaftliche Zusammenhänge, welche von vorn herein weltumspannend sind.
An dieser Stelle eine Präzisierung. Der Genosse schreibt, dass für die IKS die Bewusstseinsentwicklung sich „durch die Aktion der Arbeiter getrennt von ihrem individuellen Bewusstsein“ vollzieht. Es ist nicht so, dass das kollektive Bewusstsein „getrennt“ wäre von dem individuellen Bewusstsein der einzelnen Lohnabhängigen, sondern dass das Proletariat mehr ist als die Summe seiner Bestandteile, und dass sein Klassenbewusstsein weitaus mehr ist als das Bewusstsein der einzelnen ArbeiterInnen. Im bürgerlichen Alltag ist der Lohnabhängige ein Bürger wie andere auch, wie jeder andere der Atomisierung dieser Gesellschaft ausgeliefert, und in dieser Eigenschaft macht man auch z.B. das Kreuz auf den Wahlzettel. Zugleich aber bleibt der Lohnabhängige auch im Alltag geprägt von der Erfahrung der assoziierten Arbeit – ein Spannungsverhältnis, welches zugespitzt sozusagen beinahe schizophrene Formen annehmen kann. Die assoziierte Arbeit im Rahmen der kapitalistischen Ausbeutung ist gewissermaßen der Sockel, die permanente materielle Grundlage des Klassenbewusstseins. In diesem Sinne ist die Befreiungsbewegung des Proletariats – und damit auch der Abwehrkampf dieser Klasse - mehr als nur eine Messer- und Gabelfrage. Es ist eine große kulturelle Bewegung. Es ist die Verteidigung und die Entfaltung der Prinzipien der – internationalen – Solidarität und des Geistes der Kooperation, welche im Wesen der assoziierten Arbeit stecken, und zwar gegen das bürgerliche Prinzip des Jeder für sich, das die Gesellschaft insgesamt deswegen beherrscht, weil die Produktion im Kapitalismus zwar „vergesellschaftet“ ist, die Aneignung der Früchte dieser Arbeit aber privat und individuell geblieben ist. Es gibt in der Tat keine andere Lösung dieses Widerspruchs als die kommunistische Revolution.
Dieses Klassenbewusstsein ist, wie der Genosse unsere Position richtigerweise beschreibt, „latent“ vorhanden, und findet seinen klarsten und dauerhaftesten Ausdruck im Vorhandensein der revolutionären Theorie und der revolutionären Organisationen. Damit dieses Potential sich entfalten kann und zu einer materiellen Kraft wird, muss aber der Klassenkampf sich entfalten. Dies schafft den Rahmen, worin die von dieser Gesellschaft uns aufgedrängte Identität als „Bürger“ und Konkurrenten untereinander durch echtes Klassenbewusstsein zurückgedrängt werden kann. Entscheidend aber ist und bleibt, dass dieser Prozess ein kollektiver ist: sowohl die Lohnarbeit selbst als auch der Kampf der Lohnarbeiter ist per se ein kollektiver.
Kurzum: Während GSP die Entwicklung des Klassenbewusstseins im Wesentlichen als einen individuellen Prozess zu begreifen scheint, ist die IKS ganz entschieden gegenteiliger Meinung. Und das hat offenbar wesentliche Konsequenzen, was das Selbstverständnis und die Aktivität der beiden Gruppen betrifft. GSP begreift seine Aufgabe unserem Eindruck zufolge ein wenig im Geiste der bürgerlichen Aufklärung, im Wesentlichen darin, den einzelnen Arbeiter zum Marxismus zu erziehen. Für uns hingegen ist der Marxismus selbst ein Produkt des kollektiven Klassenkampfes. Die revolutionäre Organisation selbst ist ein Teil der Klasse, Ausdruck von und aktiver, vorantreibender Teil des Klassenkampfes. In Bezug auf die Abwehrkämpfe der Klasse mag der entscheidende Unterschied in der Tat nicht darin liegen, dass GSP diese Kämpfe „verachtet“, sondern darin, dass GSP sich nicht an diesen Kämpfen beteiligt, um sie in einer Klassenrichtung voranzutreiben?
Ja, die Arbeiterklasse muss „erzogen“ werden. Aber ist der Kampf selbst nicht die große Schule der Befreiung der Arbeit? Und müssen dabei nicht auch die Erzieher erzogen werden, wie Marx es formulierte?
Wir haben bereits gesagt, dass das proletarische Klassenbewusstsein nicht nur kollektiv, sondern zugleich auch historisch ist. Soll heißen: Das Klassenbewusstsein ist nicht nur mehr als die Summe der einzelnen Bewusstseinszustände, es ist auch mehr als der Bewusstseinsstand einer einzelnen Generation der Klasse, ist somit ein kumulativer Prozess. Auch dieser Aspekt ist sehr entscheidend, denn weder der Zustand der Gesellschaft noch der des Klassenbewusstseins ist statisch. Beide befinden sich in ständiger Entwicklung. Diese Tatsache lässt übrigens GegenStandpunkt unserer Ansicht nach unberücksichtigt, wenn er die „Revis“ sprich, die Sozialdemokratie, die Stalinisten (und auch die Gewerkschaften) „beschimpft“ und sie dabei noch irgendwo als Ausdruck der Arbeiterklasse ansieht (und somit die Klasse irgend wie doch beschimpft?). Und zwar ohne die Frage zu stellen, ob das Zeitalter nicht vorbei ist, in dem die Arbeiterklasse noch über eigene Massenparteien und über permanente wirtschaftliche Abwehrorganisationen wie die Gewerkschaften überhaupt noch verfügen kann! Aber das wäre Gegenstand einer weiteren Diskussion…. (IKS 20.09.2010) .
Folgende Stellungnahme zur aktuellen Lage in der Welt ist am 26. August 2010 von einem engagierten und kämpferischen Leser unserer Presse eingegangen:
„Das Schicksal der Sinti und der Roma in den letzten hundert Jahren ist ein schlagender Beweis und Anklage gegen das herrschende Profitsystem. Allein in der Zeit der Nazi-Barbarei sind schätzungsweise eine halbe Million von ihnen auf brutalste Art und Weise ermordet worden. Nun ist wieder das Profitsystem in einer der größten Krisen seines Bestehens eingetreten. Der weltweite Präventionskrieg der Herrschenden gegen die Errungenschaften der Arbeiter wird mit einer anderen Dimension ergänzt: Mit der Hetze gegen die Sinti, Roma, Muslime und die Formierung faschistischer Einschüchterungs-Truppen europaweit. In Ungarn, Rumänien, Italien und neuerlich in Frankreich werden Sinti und Roma wie Aussätzige behandelt: Die Welt verwandelt sich für diese Ethnien in einen Planeten ohne Visum! Der Burkha-Streit in Italien, Frankreich, Spanien, Belgien und Niederland ist ein Bestandteil dieser zweiten Dimension des Präventivkrieges. Das gestankvolle Erbrechen eines Sarrazins ist ein eindrucksvoller Beweis des Zusammenrückens der verängstigten, noch gutbetuchten Mittelschichten und der deklassierten Elemente der Gesellschaft: Sarrazin liefert die Theorie der Brandstiftung! Sobald diese Theorie die Köpfe der deklassierten Elemente erreicht hat, wird sie zur furchterregenden materiellen Kraft! In den USA die Demonstrationen der Rechten gegen den Moschee-Bau, die rechts-radikale christliche Offensive in Form von Tea-Party sind unbestreitbare Anzeichen der Erstarkung der finsteren Kräfte der Gesellschaft! In der Schweiz wird eine erneute Debatte über die Wiedereinführung der Todesstrafe entfacht. In Deutschland wird in Form der Abschaffung des allgemeinen Wehrdienstes ein „kalter Putsch“ organisiert. Die Medien bereiten propagandistisch einen Angriff auf Iran vor. Die Steigerung der Ungleichgewichte zwischen China und Deutschland einerseits und den USA andererseits werden sehr bald in einen Handelskrieg übergehen! Die national-konservativen und rechten Denkfabriken sind dabei, den erwachenden Massen und der Jugend ein falsches Ziel vorzusetzen und von der Krise abzulenken, in dem sie wieder wie in der 30er Jahren des letzten Jahrhunderts den Weg für die offene Barbarei ebnen. Die drohende Wiederkehr der Rezession geht Hand in Hand mit dem scharfen Angriff auf die sozial Benachteiligten.
Werdet wach, morgen wird zu spät sein!“
Diese Stellungnahme bringt vieles der jetzigen Weltlage auf den Punkt. Insbesondere zeigt sie deutlich auf, dass das kapitalistische System die Ursache der allgegenwärtigen Barbarei ist, und dass die neue Stufe der kapitalistischen Krise – eine auswegslose Lage der Weltwirtschaft, blinde Hinwendung zum Krieg, Identifizierung der inneren Feinde – sozusagen der Motor der momentanen Zuspitzung dieser Barbarei darstellt.
Darüber hinaus geht es dem Genossen offenbar vor allem um zwei theoretische Fragen,
einerseits die besondere Rolle der Mittelschichten und der Deklassierten
zu unterstreichen und andererseits die Rolle der Brandstifter, welche
diesen Schichten ohne Zukunft die Themen zuwerfen. In einer zweiten
Stellungnahme vom 9. September schreibt
er dazu u.a.
„In der Zeit der Krise gerät aber die soziale Stellung dieser Schicht
unter das Feuer der Interessen der bis zur Zerrissenheit angespannten, sich
feindlich gegenüberstehenden Klassen: Die Mittelschicht verliert den Boden
unter den Füßen. Die gestrige Selbstüberschätzung verwandelt sich in Angst- und
Panik-Attacken. Alle die gesellschaftlichen Klassen sind ihrer sozialen
Stellung und ihrem sozialen Bewusstsein nach zutiefst heterogen. Im Gefüge
dieser Heterogenität kulminiert sich das zusammengedrängte Dasein der Klassen
und Schichten in der Aktion der Personen und der Individuen. Daher die Rolle
der Persönlichkeit in der Geschichte. Diese Rolle wird in den historischen
Übergängen von zufälligen Charakteren repräsentiert. Diese Personen haben eine
Rolle zu bewerkstelligen: Die Fackel der gesellschaftlichen Mission aus ihren
zitternden Händen an die historischen Persönlichkeiten weiterzureichen. Sie
sind im Grunde die zeitweilige Brücke, der Steigbügel: Sie sind der Ausdruck
des kurzen Übergangs zwischen den historischen Abläufen, sie sind der Ausdruck
des vergangenen gestrigen Tages und des noch nicht geborenen morgigen Tages.
Die Repräsentanten des Kleinbürgertums sind in diesen Übergängen der Ausdruck
der längst verloren gegangenen gestrigen Selbstüberschätzung und noch nicht zum
Prozess gewordenen Panik- und Angst-Abläufen. Sarrazin ist so eine Brücke: Er
hat die Aufgabe, die furchtbare Frage aufzuwerfen und sich hinter der Bühne der
Geschichte aufzulösen; so zufällig wie er kam, wird er auch sein Dasein fristen
und endlich von dem schwarzen Loch der Geschichte aufgesaugt werden, als ob es ihn
nie gegeben hätte. Die unter der Wirkung der Zentrifugalkräfte taumelnde
bürgerliche Gesellschaft wird jedes Wort von ihm aufsaugen und diesen Unrat wie
eine wundersame Pflanze in sich bewahren und kultivieren. Sarrazin ist
das Bindeglied zwischen den längst deklassierten Elementen und den von der
wirklichen oder vermeintlichen Deklassierung bedrohten Schichten. Sarrazin ist
der Ausdruck des eckel-erregenden Egoismus des in Panik geratenden
Kleinbürgertums. Sarrazin ist der Vagabund des zufälligen Beischlafes. Er wird
so schnell verschwinden wie er aufgetaucht ist, der Embryo droht im Bauch der
von Fäulnis befallenen bürgerlichen Gesellschaft zu einer Kreatur anzuwachsen.
Sarrazin hat als gesellschaftliche Figur seine Aufgabe schon erfüllt. Nun
werden die Schar der Journalisten und der Politiker sich seinen Kotzhaufen
zueigen machen: Das Opfer wird der Täter! Jeder wird dann vom
"Nicht-Integrationswilligen" sprechen. Dank Sarrazin wird die Tiefe
des kulturellen Verfalls der heutigen Gesellschaft sichtbar. Themen, die vor
zwei Jahren nur in Nazi-Blättern zu finden waren, werden ganz normal die besten
Sendezeiten im Fernsehen befüllen und als Hauptartikel in allen
Massen-Zeitungen erscheinen: Nicht der barbarische Kapitalismus ist seit 3
Jahren in einer ausweglosen Krise, nein die "Nicht-Integrationswilligen
Türken, Muslime" und die "Gene" des ewigen Juden sind das
Hauptproblem! Sarrazin ist der Ausdruck der qualitativen Änderung des
gesellschaftlichen Klimas“.
Wir wiederholen an dieser Stelle: Wir unterstützen im Wesentlichen die Analyse der Zuspitzung der Barbarei, welche der Genosse hier liefert. Das bedeutet nicht, dass wir alles teilen, was er darüber schreibt. Beispielsweise bezeichnet er die nun beschlossene Umwandlung der Bundeswehr in eine reine Berufsarmee als einen „kalten Putsch“ (was er damit meint, ist uns unklar), während für uns alle maßgebenden Fraktionen des deutschen Kapitals seit dem Ende des Kalten Kriegs gemeinsam und mehr oder weniger bewusst und zielstrebig auf dieses Ziel hingearbeitet haben.
Wichtiger aber als diese Detailfragen erscheint uns der theoretische Rahmen zu sein, welchen der Genosse entwickelt, insbesondere die Eckpunkte der Mittelschichten und der Brandstifter. Dabei greift der Genosse Ideen wieder auf, welche Trotzki Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre anwandte, um die damalige Zuspitzung der Barbarei, um das Phänomen des aufkommenden Nazismus zu analysieren: die Rolle der Zwischenschichten, aber auch die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte. Wir sind damit einverstanden, dass gerade die Zwischenschichten besonders anfällig sind gegenüber dem Gift des Rassismus und des Populismus. Richtig ist auch, dass in manchen Lagen der Brandherd seinen Brandstifter braucht, um das Ganze zum Lodern zu bringen.
Und wir wollen klarstellen, dass wir diese Faktoren für unentbehrliche Bestandteile einer marxistischen Analyse halten. Nicht zuletzt diese Einsichten Trotzkis in die Bewegungen in der Tiefe der kapitalistischen Gesellschaft ermöglichten es ihm, zu einem frühen Zeitpunkt die welthistorische Bedeutung des Faschismus und insbesondere des Nazismus zu erkennen, während die stalinistisch entarteten „Kommunistischen Parteien“ mit ihrer Pervertierung des Marxismus auch nach 1933 das Hitlerregime für ein vorübergehendes, unbedeutendes Phänomen hielten, welches sich kaum mehr als ein paar Monate würde halten können.
Aufgrund einer verfeinerten und mit einem weiten Horizont operierenden Analyse können wir auch heute beispielsweise feststellen, dass die führenden Fraktionen der herrschenden Klasse zwar heilfroh sind, das Spaltpotential der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Vorurteile wo immer möglich gegen den Klassenkampf des Proletariats einzusetzen, und dennoch nicht alles beherrschen, was aus der Kloake ihrer Gesellschaft emporsteigt. So musste z.B. der US-amerikanische Präsident Obama höchst selbst in den politischen Ring steigen, um die in Florida von christlichen Fanatikern geplante öffentliche Koran-Verbrennung zu verhindern. Denn eine solche Aktion hätte den außerpolitischen Interessen des US Imperialismus sehr geschadet (Obama sprach allerdings nicht davon, sondern von der „Sicherheit unserer Soldaten“). Und in Deutschland fürchtet man nun in den Reihen der etablierten Parteien, dass der um Sarrazin verursachte Wirbel der Etablierung einer politischen Protestpartei rechts von der CDU/CSU Vorschub leisten könnte, welche Deutschlands „Ansehen in der Welt“ (d.h. die Berechenbarkeit des deutschen Staates als Standortfaktor) schädigen und darüber hinaus auch den handfesten Interessen des alteingesessenen Establishments zuwiderlaufen könnte. Das, was man den politischen Rechtspopulismus nennt, kann zwar und wird auch von der politischen Klasse glänzend instrumentalisiert, um angesichts der Zuspitzung der Weltwirtschaftskrise abzulenken und eine Hatz auf Sündenböcke vom Zaun zu brechen. Aber dieser Populismus hat tiefere Ursachen, er ist mehr als nur eine Täuschung aus der Trickkiste der Bourgeoisie, er ist Ausdruck der blinden Anarchie des Kapitalismus insgesamt. So stimmen wir auch hierin mit dem Text des Genossen überein.
Dennoch fehlt in den Beiträgen des Genossen aus unserer Sicht ein wesentliches Element der Analyse, nämlich die Frage nach der Verbindung zwischen politischen Populismus und bürgerlicher Demokratie. Vielleicht ist der Genosse nur deshalb nicht darauf eingegangen, weil er sich kurz fassen und nicht zu viele Punkte auf einmal entwickeln wollte. Dennoch lohnt es unserer Meinung nach, sich bei diesem Punkt aufzuhalten, zumal gerade Trotzki in der Zeit um 1933 zwar die Frage der Zwischenschichten und der Brandstifter glänzend, diese Frage der Rolle der Demokratie hingegen gar nicht gut verstanden hat. Dies äußerte sich darin, dass Trotzki aus der Tatsache, dass der Nazismus damals keineswegs den engen Eigeninteressen von bedeutenden Fraktionen der herrschenden Klasse entsprach, welche lieber am „parlamentarischen System“ festhalten wollten, schloss, dass es notwendig und auch möglich sei, mit diesen Kräften zusammen die bürgerliche Demokratie zu verteidigen. Er irrte sich. Wurde die phantasierende Auffassung der Stalinisten vom Hitlerregime als Eintagsfliege nach 1933 rasch entkräftet, so wurde die Auffassung Trotzkis von der Demokratie und ihrem Anhänger, etwa die Sozialdemokratie, als mögliches Bollwerk gegen den Nazismus schon vorher durch den Sieg der Nationalsozialisten als Trugbild entlarvt. Warum?
Im Kapitalismus tritt der Mechanismus der Ausbeutung, anders als in der Sklavenhaltergesellschaft oder im Feudalismus, nicht mehr klar zutage. Der Leibeigene des Mittelalters etwa wusste immer genau, wann er nicht mehr für den eigenen Unterhalt schuftete, sondern Mehrarbeit für die Ausbeuter leistete, denn er musste von dem eigenen Produkt abgeben (z.B. das Kirchenzehnt) oder an bestimmten Tagen das Land des Herren bearbeiten. Diese Verhältnisse lagen klar zutage, weil es persönliche, durch Gewalt vermittelte Verhältnisse waren; der Sklavenhalter bzw. der Feudalherr konnten ihre Knechte auch richten. Diese konnten eben nicht weglaufen.
Im Kapitalismus als verallgemeinerte Warenwirtschaft ist das Ausbeutungsverhältnis nicht mehr persönlich; die Gewalt ist indirekt, vermittelt, der Akt der Ausbeutung sozusagen unsichtbar. Die Lohnarbeit ist „frei“, die Ausgebeuteten sind Staatsbürger, scheinbar mit denselben Rechten wie alle anderen ausgestattet, unter anderen das Recht, Verträge, und ganz besonders Arbeitsverträge abzuschließen. Dass die Lohnabhängigen ausgebeutet werden, wissen sie sehr wohl, denn sie merken das eigene Elend, während auf der Kapitalseite Reichtum und Macht sich auftürmen. Aber diese Ausbeutung ist nicht mehr persönlich, den Lohnabhängigen steht es frei, zu einem anderen „Arbeitgeber“ zu wechseln, ebenso wie der Unternehmer „frei“ ist, sich von seinen „Mitarbeitern“ zu trennen. Auch weiß niemand mit Gewissheit zu sagen, ab wann die ProletarierInnen nicht mehr für den eigenen Unterhalt, sondern nur noch für den Gewinn des Unternehmers schuften. Diese Grenze ist und bleibt unsichtbar. Bleibt die Tatsache der Ausbeutung also spürbar, so wird der Mechanismus der Ausbeutung selbst rätselhaft.
Bleiben aber die Lohnabhängigen in der Welt der Arbeit und der Produktion immerhin am Ort und damit auch am Geheimnis der kapitalistische Ausbeutung nah dran, fühlt man sich als Bürger, als Käufer und Verkäufer im Alltag der allumfassenden Warenwirtschaft erst recht der Hilflosigkeit und Verblüffung ausgeliefert, welche diese Welt des Scheins auslöst. Denn nicht mehr die Wirtschaftsprotagonisten selbst – ja nicht mal mehr die herrschende Klasse – bestimmt das wirtschaftliche Leben, sondern eine rätselhafte, unpersönliche Kraft, welche hinter unserem Rücken unser Schicksal bestimmt, ein neuer Gott, dem wir uns unterwerfen sollen: der Markt.
All das erscheint ebenso unbegreiflich wie beängstigend. Es gibt eine Kraft in der Gesellschaft, welche aufgrund der eigenen zentralen Stelle in diesem Wirtschaftssystem praktisch und theoretisch dieses Rätsel auflösen, diesen gordischen Knoten durchschlagen kann: das Proletariat. Aber dies erfordert eine kollektive Anstrengung im Klassenkampf des Proletariats; einen Kampf, welcher eine wirtschaftliche, politische und auch theoretische Dimension besitzt. Für die Zwischenschichten, deren wirtschaftliche Tätigkeit im Wesentlichen im Kauf und Verkauf von Waren besteht, ist die kapitalistische Wirklichkeit in der Tat unentwirrbar. Aber selbst für die Proletarier in ihrem Alltag als „Bürger“ ist es nicht immer einfach, sich zu orientieren. Erst im Kapitalismus ist die Wirtschaft voll und ganz keine geplante Wirtschaft mehr. Das kommt daher, dass die Warenwirtschaft nunmehr die Gesellschaft vollständig in Einzelne aufgesplittet hat, welche gegeneinander konkurrieren. Deren soziale Beziehungen werden über den Markt vermittelt. So hilflos ausgeliefert zu sein, ohne etwas zu begreifen, das hält kein Mensch aus! Irgend jemand muss daran Schuld sein! So erzeugt der Kapitalismus ständig und notwendig das Bedürfnis nach Personalisierung, nach Sündenböcken, nach Vorurteilen, nach Hass und Rassismus.
An dieser Stelle entsteht die Verbindung zwischen Barbarei, Populismus und Demokratie. Der Kapitalismus, die Vollendung der Warenwirtschaft, die Gesellschaft der Vereinzelten, die gegeneinander konkurrieren müssen, bringt die Demokratie hervor als politisches Spiegelbild der eigenen Funktionsweise. Denn das Prinzip der Demokratie ist das der Vereinzelung: One man, one vote! Die Demokratie zementiert diese Vereinzelung, sie bestärkt den Einzelnen in der eigenen Borniertheit. Man klammert sich an die eigenen Vorurteile, als ob sie ein Eigentum wären. Die Wahlkabine ist der Krönungsort dieser Art von Volkssouveränität, wo die Bürger, von einander, von dem Kollektiv des Klassenkampfes abgeschirmt, der eigenen Ohnmacht, sprich allen Einflüssen der kapitalistischen Welt hilflos ausgeliefert, sich der Illusion hingeben, mitbestimmen zu können.
Ja, nur der Klassenkampf des Proletariats – denn nur dieser Klassenkampf ist wahrlich kollektiv und zukunftsträchtig – kann den Wahn der Vorurteile auflösen. Die Demokratie hingegen verstärkt das Vorurteil und den Hass, denn diese hilflose Wut hat etwas mit der Vereinzelung wesentlich zu tun. Daher suchen deren Opfer ihr Heil in irgendeinem Scheinkollektiv wie der Nation oder gar der Rasse, welche aber die Vereinzelung nur noch verstärken.
Und das ist der Grund, weshalb die Kommunistische Linke, insbesondere deren „italienische“ Fraktion - welche genau so wenig überrascht war wie Trotzki durch den Sieg des Nazismus 1933 - sich weigerte, gegenüber der NS-Bewegung in Deutschland, wie vorher gegenüber dem Faschismus in Italien, zur Verteidigung der Demokratie aufzurufen. Im Gegenteil! Diese GenossInnen sahen viel klarer als Trotzki, dass es die bürgerliche Gesellschaft insgesamt ist, und damit auch die Demokratie als dem ihr urwüchsig entsprechenden politischen System, welche Hass und Barbarei hervorbringen und verstärken. Auch der Faschismus und der Nazismus waren damals die legitimen Sprösslinge dieser Demokratie.
Damals allerdings konnte Hitler in Deutschland nur deshalb triumphieren, weil bereits vorher die Arbeiterklasse weltweit durch Sozialdemokratie und Stalinismus besiegt wurde. Auch das erkannte damals die Kommunistische Linke, anders als Trotzki. Heute ist die Lage anders, das Weltproletariat hat noch keine solche Niederlage erlitten. Was bleibt, ist die Zuspitzung der Barbarei unter den Hammerschlägen der Krise und des kapitalistischen Zerfalls. Somit bleibt der bürgerlichen Demokratie nichts anderes übrig, als im Wettlauf zwischen den vornehmen, etablierten Parteien und den Populisten an der Schraube des Hasses und der Vorurteile weiter zu drehen. Darin hat der Genosse allerdings recht!
Die Verschärfung der Krise wird aber auch zur Verschärfung der Klassengegensätze führen, und allein hierin, in der Gemeinschaft des proletarischen Klassenkampfes, erblicken wir einen möglichen Ausweg aus der Barbarei.
Wir veröffentlichen nachfolgend die Stellungnahme der IKS in Spanien zum Streik bei der Madrider Metro, der wir eine Solidaritätserklärung von Beschäftigten der Madrider Post hinzufügen. Mit diesen Zeilen wollen wir unsere brüderliche und tiefe Solidarität mit den Beschäftigten der Madrider Metro zum Ausdruck bringen.
Erstens weil sie ein Beispiel dafür liefern, dass der massive und entschlossene Kampf das einzige Mittel der Ausgebeuteten gegen die brutalen Angriffe seitens der Ausbeuter ist. In diesem Fall ging es um eine fünfprozentige Lohnkürzung. Ein Schlag gegen die Arbeiter, der selbst vom Standpunkt der bürgerlichen Legalität aus völlig illegal ist, da er nichts anderes ist als eine einseitige Verletzung des zuvor abgeschlossenen Tarifvertrag. Und sie wagen es gar noch, die Beschäftigten der Metro als „Kriminelle“ zu beschimpfen.
Es geht um auch Solidarität gegen die Diffamierungskampagne und den Versuch einer „moralischen Lynchjustiz“ gegen dieser Kolleg/Innen. Eine typische, von den Politikern und den rechten Medien angeleierte Schmierenkampagne, in der die Streikenden als Bauern in einer Kampagne der PSOE gegen die „Anführerin“ der Partido Popular in Madrid, Esperanza Aguirre, dargestellt werden, die „Sanktionen“ und „Entlassungen“ gefordert hat (1). Aber man darf vor allem die intensive Beteiligung der Linken bei dieser Isolierungs- und Verleumdungskampagne gegen die Beschäftigten nicht vergessen. Aguirre oder Rajoy forderten Entschlossenheit und die Peitsche gegen diese „Vandalen“, doch der Industrieminister stellte der Region eine umfangreiche Reihe von anderen Transportmitteln zur Verfügung, um den Streik zu brechen, und der sozialistische Innenminister hat Aguirre bis zu 4.500 Polizisten geschickt. Was die „linken“ Medien betrifft, haben sie zwar weniger hasserfüllt, dafür jedoch umso heuchlerischer die Idee eines „Streiks mit Geiselnahme“ verbreitet, wie El País am 30. Juni schrieb. Vor die Frage gestellt, für Esperanza Aguirre oder für den Arbeiterkampf gegen die Forderungen der Ausbeuter zu sein, wissen diese Lakaien des kapitalistischen Systems, die so genannten „Roten“ - und die es noch wagen, sich mit dem Buchstaben O (für Obrero, dt.: Arbeiter) zu schmücken -, genau, für wen sie sich zu entscheiden haben.
Was sie am meisten gestört hat, waren nicht die „Unannehmlichkeiten“ für die Fahrgäste. Man betrachte nur, unter welchen Bedingungen die Pendler an „normalen“ Tagen unterwegs sind und welchem Chaos die „Bürger“ tagtäglich aufgrund der Vernachlässigung der Infrastruktur ausgesetzt sind, insbesondere im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs. Im Gegensatz zu ihren Aussagen sind sie auch nicht besonders verärgert über die entstandenen Unkosten für die Betriebe aufgrund verspätet oder gar nicht zur Arbeit erschienener Beschäftigter. Man muss schon besonders unverschämt sein, um zu behaupten, dass die Streikenden das „Recht auf Arbeit“ untergraben, denn in Wirklichkeit hat das spanische Kapital nicht weniger als fünf Millionen Lohnabhängigen dieses „Recht auf Arbeit“ vorenthalten.
Nein, was sie in Wirklichkeit verärgert und warum ihnen dieser Kampf der Madrider Metro-Beschäftigten Sorgen bereitet, ist die Tatsache, dass der Kampf überhaupt ausgebrochen ist, d. h. die Tatsache, dass die Beschäftigten nicht widerstandslos die Opfer und Angriffe hingenommen haben, mit denen sie konfrontiert sind. Und vor allem die Tatsache, dass sie, um die Ansprüche der Unternehmer aufzuhalten, nicht des allgemeinen Lamentierens anheimgefallen sind, wie es beim Streik der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes am 8. Juni der Fall war (2), sondern ein Beispiel für Einmütigkeit und Entschlossenheit abgegeben haben. El País gestand dies in dem eben erwähnten Leitartikel ein: „Der Betriebsrat beruft sich darauf, dass es einen bis 2012 gültigen Tarifvertrag gebe, der durch die Entscheidung der Madrider Stadtverwaltung einseitig gebrochen worden sei (…) Möglicherweise hat es an der nötigen Pädagogik gefehlt, um den Ernst der Lage zu erklären, der Opfer notwendig macht, um im Gegenzug mehr sichere Arbeitsplätze zu erhalten…“ Anschließend werden die Streikenden der Erpressung bezichtigt, um dann fortzufahren: „… und es fehlte vielleicht eine größere Klarheit um zu erklären, wie die Lohnsenkungen mit der später abgegebenen Garantie der Aufrechterhaltung der Kaufkraft übereinstimmen können.“
Der Kampf der Metro-Beschäftigten Madrids liefert viele Lehren für alle Beschäftigten. Heute steht der Kampf gewissermaßen am Scheideweg, und es ist schwierig einzuschätzen, wie er sich weiter entwickeln wird. Es ist noch zu früh, eine umfassende Bilanz zu ziehen. Aber einige Lehren schälen sich bereits jetzt heraus.
Eines der Merkmale des Arbeiterkampfes bei der Madrider Metro war das Abhalten von großen Vollversammlungen. Schon am 29. Juni, als beschlossen wurde, die Regelung des Minimalverkehrs abzulehnen, mussten viele Beschäftigte wegen Platzmangels vor der Tür bleiben, aber am 30. Juni, als die Verleumdungskampagne ihren Höhepunkt erreicht hatte, war die Zahl der Teilnehmer noch mehr gewachsen. Warum? Die Beschäftigten der Metro selbst liefern eine Antwort: „Wir mussten zeigen, dass wir gemeinsam so stark sind wie die Finger einer Faust.“ Dank dieser Vollversammlungen gelang es ihnen, viele der üblichen gewerkschaftlichen Fallen zu vermeiden. Zum Beispiel die Verwirrung hinsichtlich der Streikaufrufe. So beschloss die Versammlung am 30. Juni, den Minimalverkehr am 1. und 2. Juli aufrechtzuerhalten, um nicht vor die falsche Alternative gestellt zu werden, zwischen einer Gewerkschaft, die zum Totalstreik aufrief, und den anderen, gemäßigteren Gewerkschaften wählen zu müssen. Die Versammlung beschloss auch, die verbalradikalen Parolen des ehemaligen Sprechers des Betriebsrates zu ignorieren, dessen Erklärungen („Wir werden Madrid zur Explosion bringen“) eher den Feinden des Kampfes und ihren Verleumdungskampagnen sowie ihren Versuchen zuträglich waren, die Metro-Beschäftigten zu isolieren.
Aber die Versammlungen dienten nicht nur dazu, unnötige, übertriebene Schritte zu verhindern und Provokationen zu vermeiden. Sie dienten vor allem dazu, allen Beschäftigten mehr Mut und Entschlossenheit zu verleihen und die tatsächliche Kampfbereitschaft einzuschätzen. Anstatt - wie üblich - geheime Einzelabstimmungen abzuhalten, wie die Gewerkschaften sie praktizieren, wurde der Metro-Streik durch Abstimmungen per Handaufheben beschlossen und organisiert. Dadurch wurde die Entschlossenheit der noch zögernden Kollegen gestärkt. Die Presse warnte lauthals vor dem angeblichen Druck, den die Streikposten auf einzelne Arbeiter ausüben würde. Doch es ist bekannt, dass die Beschäftigten lediglich dazu ermutigt wurden, sich dem Streik anzuschließen, und dass dessen Durchführung eine bewusste und freiwillige Entscheidung war, der eine offene und freimütige Diskussion vorausging, in der jeder seine Befürchtungen zum Ausdruck bringen, aber auch seine Motive für den Kampf erklären konnte. Auf einer Webseite, auf der man seine Solidarität mit dem Kampf äußern konnte, (usuariossolidarios.wordpress.com [97]), meinte eine junge Metro-Beschäftigte offen, sie habe sich an der Vollversammlung am 29. Juni beteiligt, „um nicht mehr Angst vor dem Kampf zu haben“.
Im Falle des Metrostreiks versuchte man, die Beschäftigten mit einem Erlass zur Aufrechterhaltung eines „Minimalverkehrs“ einzuschüchtern und zur Aufgabe des Kampfes zu bewegen. Lady Esperanza Aguirre mag sich in ihrem Madrider Präsidentenpalast zwar wie eine hilflose Dame in den Händen von besessenen Streikenden gerieren, doch in Wirklichkeit können die Behörden (mit anderen Worten: die Arbeitgeber der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes) die Streikenden zur Aufrechterhaltung eines Minimalverkehrs zwingen. Aus Erfahrung wusste Aguirre, dass sie diesen legalen Spielraum besaß, und vor allem weil sie sich der Unterstützung des ganzen Medienchors sicher war, versuchte die Chefin der Regionalregierung von Madrid, eine wahre Provokation auszuhecken: Zur Aufrechterhaltung des minimalen Betriebsprogramms sollten 50% der Beschäftigen verpflichtet werden. So sollten die Beschäftigten mit dem Rücken zur Wand gestellt werden. Wenn sie dieses minimale Betriebsprogramm akzeptierten, wäre ihre Entschlossenheit, sich dem Diktat der Arbeitgeber nicht zu beugen, infrage gestellt. Wenn sie dies jedoch nicht akzeptierten, würde die Verantwortung für alle Unannehmlichkeiten der anderen Beschäftigten, die den Großteil der Pendler stellen, auf ihre Schultern abgewälzt werden. Zudem ermöglicht das Konzept des „Minimalverkehrs“ den Arbeitgebern, gegenüber den Beschäftigten Sanktionen zu verhängen, falls dieser Minimalverkehr nicht eingehalten wird, wodurch ihr Verhandlungsspielraum noch vergrößert wird. Zwei Tage nachdem die Metro-Beschäftigten ihre Weigerung, den Minimalverkehr aufrechtzuerhalten, fallengelassen haben, erweiterte die Geschäftsführung den Kreis der von den Sanktionen betroffenen Beschäftigten von 900 auf 2800. Der einzige Ausweg aus solch einer Mausefalle besteht darin, Klassensolidarität zu praktizieren.
Die Klassensolidarität ist der Boden, auf dem die Kampfbereitschaft und die Kraft der Arbeiter wachsen können.
Die Kraft der Arbeiterkämpfe wird nicht an ihrer Fähigkeit gemessen, den kapitalistischen Betrieben Verluste zuzufügen. Dazu, und das bewies der Metro-Streik erneut, sind die Kapitalisten selbst in der Lage. Die Kraft der Arbeiterkämpfe wird auch nicht daran gemessen, ob man eine Stadt oder eine Branche lahmlegen kann. Auf dieser Ebene ist es ebenso schwierig, mit dem bürgerlichen Staat, der dies ausgezeichnet vermag, mitzuhalten. Die Kraft der Arbeiterkämpfe wird vor allem dadurch gespeist, dass sie mehr oder weniger explizit ein für alle Beschäftigten gültiges Prinzip verkünden: Die menschlichen Bedürfnisse dürfen nicht auf dem Altar des Profits und der dem Kapitalismus eigenen Konkurrenz geopfert werden.
Ein Zusammenstoß eines Teils der Arbeiter mit ihrem Arbeitgeber mag radikal erscheinen, aber wenn es den Herrschenden gelingt, diesen als etwas Besonderes darzustellen, können sie damit die Arbeiter besiegen und auch die Moral der ganzen Arbeiterklasse schwächen. Wenn es dagegen den Beschäftigten gelingt, die Solidarität der anderen Arbeiter zu gewinnen, wenn sie die andere Ausgebeutete überzeugen können, dass ihre Forderungen keine Bedrohung für sie, sondern Ausdruck der gleichen Klasseninteressen sind, und wenn sie die Vollversammlungen zu nützlichen Instrumenten machen können, an denen sich andere Arbeiter beteiligen können, dann können sie ihren Kampf und damit die ganze Arbeiterklasse stärken.
Am wichtigsten für den Kampf der Madrider U-Bahn-Beschäftigten ist nicht, dass es ihnen gelingt, so und so viel U-Bahn-Züge am Ausfahren zu hindern (auch wenn natürlich die Vollversammlung darüber Bescheid wissen muss, ob die getroffenen Entscheidungen umgesetzt werden), sondern dass es ihnen gelingt, ihren Kolleg/Innen, allen voran den anderen Beschäftigten des Personennahverkehrs (EMT), von Télémadrid (Regionalfernsehen von Madrid) und den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes die Gründe für ihren Kampf zu erklären. In der Zukunft ist es nicht ausschlaggebend, ob man so oder so viel Prozent des „Minimalverkehrs“ aufrechthält (auch wenn die Mehrheit der Beschäftigten nicht durch die Arbeit davon abgehalten werden darf, sich an den Streikversammlungen, Streikposten usw. zu beteiligen); weitaus wichtiger ist es, das Vertrauen und die Solidarität der anderen Teile der Arbeiterklasse zu gewinnen. Dazu müssen sich die Metro-Beschäftigten in die Stadtviertel begeben, um zu erklären, warum ihre Forderungen weder ihre eigene Privilegierung anstreben, noch eine Bedrohung für die anderen Beschäftigten sind, sondern eine Antwort auf die Angriffe, die durch die Krise hervorgerufen werden.
Von diesen Angriffen sind die Arbeiter aller Länder, aller Branchen usw. betroffen. Wenn es dem Kapital gelingen sollte, die Beschäftigten aufeinander zu hetzen oder auch nur sie isoliert kämpfen zu lassen, gleichgültig wie radikal diese Kämpfe erscheinen mögen, könnten die Ausbeuter ihre Ansprüche durchsetzen. Doch wenn es den Arbeiterkämpfen gelingt, zum Zusammenschluss und zu einer immer größeren Kampfbereitschaft angesichts dieser unverschämten Ansprüche der Kapitalisten beizutragen, können wir neue, noch schlimmere Opfer verhindern. Das wäre ein wichtiger Schritt für die Entwicklung einer proletarischen Alternative gegenüber dem Elend und der Barbarei des Kapitalismus. Acción Proletaria, (12.Juli 2010)
[1]) Die Regierung in Spanien ist in den Händen der Sozialistischen Partei (PSOE), während die Region Madrid (deren Chefin Aguirre ist) und die Stadt Madrid (die die Metro betreibt) von der Rechten regiert wird (Partido Popular, deren Landeschef Rajoy heißt). So haben die beiden politischen Lager das übliche Parteienspiel betrieben und sich wüst beschimpft, aber gegenüber dem Streik der U-Bahn-Beschäftigten sind sie Hand in Hand vorgegangen. .
2) Siehe unsere Bilanz zum 8. Juni auf unserer spanischen Webseite.
Die Parlamentswahlen in Schweden vom 19. September 2010 brachten u.a. den Einzug einer fremdenfeindlichen, rechtsradikalen Partei ins Abgeordnetenhaus. Als Reaktion darauf verbreitete eine siebzehnjährige Frau per Internet einen Aufruf zu einer Protestkundgebung. Daraufhin versammelten sich am darauf folgenden Tag zehntausende vorwiegend junge Leute im Zentrum von Stockholm, um gegen den zunehmenden Rassismus in der Gesellschaft die Stimme zu erheben. Dieses Ereignis lässt erahnen, welche wachsende Sorge und auch Kampfbereitschaft gerade auch in der jungen Generation steckt angesichts der um sich greifenden Ausgrenzung von Minderheiten in dieser Gesellschaft und der Suche nach Sündenböcken. Es ist heute mit Händen zu greifen, dass diese Zuspitzung des „jeder für sich“ etwas zu tun hat mit der Zuspitzung der weltweiten Wirtschaftskrise und mit der Sackgasse, in welcher die Menschheit im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft steckt.
Das herrschende System des Privateigentums an Produktionsmitteln, die „Marktwirtschaft“ und der Parlamentarismus beanspruchen gerne für sich die Fähigkeit, das Prinzip der Toleranz in der Gesellschaft hochzuhalten und ein friedliches Nebeneinander der Kulturen zu ermöglichen. Und man stellt die Sache gerne so hin, als ob es der berühmte Mann auf der Straße sei, der intolerant werde, während die Würdenträger der Demokratie politisch korrekt tapfer dagegen hielten: Die Demokratie als Bollwerk gegen Rechts.
Wir glauben, dass die wachsende Sorge in der Gesellschaft gegenüber dem Problem der Fremdenfeindlichkeit auch damit zusammenhängt, dass viele Menschen zu ahnen begonnen haben, dass dies nicht stimmt. In Frankreich ist es der amtierende, demokratisch gewählte Präsidenten Sarkozy, der die Roma und Sinti deportieren lässt. Und er tut es u.a. deshalb, um seine Chancen auf Wiederwahl ins höchste Amt des Staates zu vergrößern. In Deutschland ist der aktuelle Brandstifter des politischen Populismus, Sarrazin, jahrzehntelang eine Galionsfigur der SPD in Berlin gewesen. Er ist nicht einer der obersten Bundesbanker geworden seiner rassistischen Thesen zum trotz, sondern aufgrund dessen, d.h. aufgrund seiner bewährten Fähigkeit, durch spalterische Parolen Wähler für die Sozialdemokratie in der Hauptstadt zu gewinnen. Und jetzt, wo er sich politisch zu verselbständigen droht, tut man so, als ob seine Thesen neu wären, oder als ob man sie bisher nicht zur Kenntnis genommen hätte.
Von den politischen Populisten sagt man, dass sie gerne dem Volk aufs Maul schauen. Stimmt es also, dass Rassismus und Ausgrenzung sozusagen von unten ausgehend aufsteigen und von „denen da oben“ lediglich aufgegriffen werden, wie das andauernd in den Talkshows behauptet wird? Man muss feststellen, dass Hass und Verfolgungsbereitschaft sowohl „unten“ als auch „oben“ und ganz „oben“ ihre Blüten treiben, und dass es v.a. die kapitalistische Gesellschaft selbst ist, welche dieses Gift aus allen Poren absondert. Und in dieser Hinsicht trägt die herrschende Klasse die Hauptverantwortung für diese Entwicklung, nicht in erster Linie weil sie rassistischer wäre als der Stammtisch des „kleinen Mannes“, sondern weil sie das System verteidigt und aufrecht erhält, welche heute die Menschen voneinander entfremdet, sie zu Konkurrenten, zu Feinden macht.
Der „Antirassismus“ der Spitzenpolitiker und Würdenträger ist heuchlerisch. Aber diese Heuchelei ist nicht zuerst eine persönliche, sondern ein systembedingte. Der Kapitalismus ist vollendete „Marktwirkschaft“. Er ist das erste Wirtschaftssystem in der Menschheitsgeschichte, dessen Hauptziel nicht das Sichern des Konsums der Gesellschaft – nicht mal den der herrschenden Klasse – ist, sondern der Profit, das Erzielen eines Gewinns auf dem Markt. Der Konsum der Gesellschaft bzw. die Privilegien der Ausbeuter stellen sich nur ein, wenn der Konkurrenzkampf auf diesem Markt erfolgreich bestanden wird. Die Konkurrenz ist somit das A und O dieser Gesellschaft. Nicht nur die Besitzer der Produktionsmittel müssen gegeneinander konkurrieren, damit das System funktioniert, sondern auch die Produzenten, die Ausgebeuteten. Damit dieses System der Konkurrenz der LohnarbeiterInnen unter einander funktioniert, dafür hat der Kapitalismus sich des Rassismus, Nationalismus, ethnischen Hasses bedient, und zwar von dem Tag an, als er das Licht der Welt erblickte. Heutzutage macht sich beispielsweise der Standort Europa für die Konkurrenz mit Asien und anderen Weltgegenden fit durch ein ausgeklügeltes, weltweit umspannendes System der Mobilisierung von Arbeitskräften, darunter die „Saisonarbeit“ russischer oder ukrainischer Bauarbeiter, welche, 12 Stunden täglich ohne Unterbrechung arbeitend, im Schlafcontainer direkt an der Baustelle untergebracht, für einen Stundenlohn schuften, welcher konkurrieren kann mit den in China gezahlten. Dazu gehört das ganze System der „Festung Europa“; das System der Deportation von Flüchtlingen und der Errichtung von Auffanglagern in den Herkunftsländern, welche die Europäische Kommission in Brüssel – die Sarkozys „Abschiebung“ der Roma und Sinti kritisiert, weil sie gegen EU-Recht verstößt – völlig legitim findet. Dieses System ist nicht nur eine Barriere, um verzweifelte Menschen abzuhalten, es ist zugleich eine Schleuse, welche die illegale Einwanderung nach den Bedürfnissen des kapitalistischen Arbeitsmarkts reguliert. Denn auch die Millionen von Illegalen, welche ohne die geringsten Rechte oder soziale Absicherung der Gier des Ausbeutungssystems restlos ausgeliefert sind, sind Bestandteil des Kampfes der Standorte um die eigene Konkurrenzfähigkeit. So werden tagtäglich die Bedingungen des Hasses und der Ausgrenzung durch den kapitalistischen Arbeitsmarkt reproduziert. Und die Entrüstung der Machthaber, wenn die Opfer dieser Konkurrenz tatsächlich blind genug sind, um sich gegenseitig als die Schuldigen auszumachen, kann man nichts anders als heuchlerisch bezeichnen.
Ist der Kapitalismus von oben bis unten mit Rassismus durchsetzt, so kann eine Lösung, eine Überwindung dieses Problems nur von „unten“ her kommen. Denn die Kapitalisten sind nur stark, wenn sie konkurrenzfähig sind, das entspricht ihrer ganzen Lebensweise. Die Lohnarbeiter hingegen werden durch die Konkurrenz untereinander hilflos gehalten. Die Lohnabhängigen können nur stark werden durch die Aushebung der Konkurrenz in ihren Reihen, durch die Entwicklung einer Klassensolidarität, welche die weltumspannende Solidarität einer freien Menschheit vorwegnimmt. Für diese Klasse der Gesellschaft ist die Überwindung des Gifts der Spaltung nicht nur ein anstrebenswertes Ideal, sondern eine unmittelbare Notwendigkeit, Ausdruck der eigenen Interessenslage.
In diesem Sommer sprach ein Vertreter der kämpfenden Belegschaft des staatlichen TEKEL-Konzerns aus der Türkei auf Solidaritätsveranstaltungen in Deutschland und der Schweiz (siehe den Artikel dazu in dieser Ausgabe). Diese Reise wurde durch den Wunsch motiviert, die Lehren aus den Kämpfen in der Türkei international bekannt zu machen und Kontakt aufzunehmen mit kämpferischen ArbeiterInnen in Europa, welche vor den gleichen Herausforderungen stehen. Die Augenzeugenberichte über die Kampferfahrungen bei TEKEL machten deutlich, wie zentral die Frage der Solidarität im Arbeiterkampf ist, um Jung und Alt, Mann und Frau, um türkische und kurdische, um Beschäftigte verschiedener Sektoren zusammenzuschweißen. Es wurde aber ebenso deutlich, wie im Verlauf eines solchen Abwehrkampfes (in diesem Fall gegen Massenentlassungen) das Bedürfnis entsteht, den eigenen Widerstand als Teil eines internationalen Kampfes zu begreifen. Schließlich ist die kapitalistische Konkurrenz eine weltweit operierende und kann letztlich nur auf globaler Ebene aufgehoben werden.
Wer der Praxis des „jeder für sich“ in dieser Gesellschaft wirklich auf den Grund gehen will, wird nicht um den Schritt herum kommen, die Wurzeln des Elends im kapitalistischen System zu suchen. Der Kampf um die Überwindung der Ausbeutung ist der Standpunkt, von dem aus sich ein tiefgreifender, theoretischer wie praktischer Kampf gegen die vorherrschende Barbarei führen lässt. 21.09.10
Im Juni 2010 riefen die FAU[1], die IKS, die Karakök Autonomen[2] und andere politische Gruppen aus dem anarchistischen/linkskommunistischen Umfeld zu einer Reihe von Diskussionsveranstaltungen mit einer Delegation der kämpfenden TEKEL-Arbeiter und -Arbeiterinnen aus der Türkei auf. In neun deutschen Städten und in Zürich fanden darauf Treffen statt, an denen die Delegation die Erfahrung ihrer Kämpfe weiter vermittelte und zur Diskussion stellte.
„Seit Mitte Dezember protestieren die Beschäftigten des ehemals staatlichen Unternehmen „TEKEL“ gegen die Folgen der Privatisierung. Das staatliche Unternehmen war für die gesamte Tabak- und Alkoholproduktion in der Türkei allein verantwortlich. Das Unternehmen wurde 2008 an BAT (British American Tobacco) veräußert. Landesweit sollen nun 40 Produktionsstätten geschlossen werden, die rund 12.000 TEKEL-ArbeiterInnen sollen dann in anderen Betrieben arbeiten. Der Belegschaft drohen dadurch massive Gehaltskürzungen, der Verlust von tariflichen und sozialen Rechten oder die Arbeitslosigkeit.“ (aus dem Aufruf der FAU)
In Zürich organisierte die Gruppe Karakök Autonome die Veranstaltung, die von einem recht breiten Publikum besucht wurde. Wie bei den Veranstaltungen in Deutschland berichtete O., ein Arbeiter bei TEKEL, über den Kampf der Belegschaft gegen die Privatisierung und die massive Verschlechterung der Situation der Beschäftigen, die u.a. Lohnreduktionen von 600 auf 325 Euro beinhalteten. „Gegen diese Aussicht auf die permanente Misere durch Arbeit, richtet sich der aktuelle Kampf der entlassenen TEKEL-ArbeiterInnen. Mit öffentlichkeitswirksamen Protesten versuchen sie seit Monaten, die Gewerkschaften - allen voran Türk-Is - dazu zu bewegen, einen Generalstreik der staatlichen Beschäftigten, gegen diese Neuregelungen auszurufen. Doch die Gewerkschaften verhalten sich faktisch als Komplizen und Erfüllungsgehilfen der staatlich organisierten Verarmung. „Wir mußten zehn mal mehr gegen die Gewerkschaft kämpfen, als gegen die Polizei und den Staat“ sagte O. So wurde in Ankara die Gewerkschaftszentrale von bis zu 15.000 Polizisten geschützt, als Tausende von TEKEL-Beschäftigten in die Stadt kamen, um die Gewerkschaften dazu zu bewegen, sich für ihre Sache einzusetzen. „Wir standen vor den Polizeieinheiten, die uns mit Tränengas, Nebelbomben und Knüppeln angegriffen haben“ - berichtete O. - „und die Gewerkschaftsfunktionäre standen nicht solidarisch bei uns sondern hinter den Polizeiketten“. Trotzdem gelang es in Ankara die Gewerkschaftszentrale kurzfristig zu besetzen.“ (aus dem Bericht der FAU von der Veranstaltung in Duisburg)
Auf einem Platz in der Nähe der besetzten Gewerkschaftszentrale richteten die Arbeiter und Arbeiterinnen ein Zeltlager auf.
Eindrücklich war vor allem die Solidarität, die den Kämpfenden in Ankara aus der Bevölkerung entgegen gebracht wurde. Es gab nicht nur Demonstrationen mit bis zu mehreren Zehntausend Teilnehmern, sondern von der lokalen Bevölkerung Unterstützung für die TEKEL-Arbeiter und -Arbeiterinnen in der Form von Decken, Nahrungsmitteln, sanitären Anlagen, aufmunternden Worten und Spenden. „So etwas hat es in Ankara noch nie gegeben, auch in der ganzen Türkei noch nie. Wir waren alle zu Tränen gerührt von der Solidarität, die entsteht, wenn ArbeiterInnen sich gegenseitig helfen. Niemand von uns wird das jemals vergessen“, erzählte O.
Türkische und kurdische Arbeiter kämpften Seite an Seite, das Geschlechterverhältnis veränderte sich im Camp in Ankara. Im Kampfkomitee, das sich aus VertreterInnen der verschiedenen Betriebsstandorte zusammensetzt, spielen Frauen eine wichtige Rolle.
Die TEKEL-ArbeiterInnen suchten weiter aktiv die Solidarität anderer Teile der Klasse. Delegationen der Kämpfenden reisten in andere Städte zu Betrieben, in denen auch Kämpfe stattfanden - nach Antep, Izmir, Istanbul.
So gründeten sie zusammen mit streikenden ArbeiterInnen anderer Staatsbetriebe (u.a. Hafen- und Bauarbeiter, Feuerwehrleute) in Istanbul eine Plattform der kämpfenden Arbeiter[3]. Am 1. Mai besetzten sie bei der Maikundgebung von 350.000 Menschen auf dem Taksim-Platz in Istanbul die Bühne und verlasen eine Erklärung gegen die Komplizenschaft der Gewerkschaften mit dem Staat. Die Gewerkschaftsführer flüchteten von der Bühne und hetzten die Polizei auf die ArbeiterInnen.
Und schließlich entstand die Idee, dass man auch in anderen Ländern von den Erfahrungen des Kampfes berichten und die Diskussion über die Grenzen des türkischen Staates hinaus tragen sollte. So kam es zu den Diskussionsveranstaltungen in Deutschland und der Schweiz.
In Zürich wurde u.a. über folgende Fragen diskutiert:
- Wie haben die ArbeiterInnen im Streik Entscheide gefällt? Wie wurde diskutiert?
- Nach welchen Kriterien haben sie entschieden, wo nach Solidarität gesucht werden soll?
- Soll man einen Betrieb in einer solchen Situation besetzen? Macht eine Besetzung Sinn, wenn der Betrieb ohnehin geschlossen wird?
- Sind die Gewerkschaften nur in der Türkei auf der Seite des Staates?
- Welches sind die Schlussfolgerungen nach dem Kampf?
Ohne Zweifel sind die Angriffe auf die Arbeiterklasse weltweit gegenwärtig stärker als unsere Gegenwehr. Es gibt zwar in vielen Ländern und jeden Tag irgendwo Streiks und Demonstrationen, die aber bis jetzt höchstens ausnahmsweise einen massenhaften Charakter angenommen haben. Woran liegt das? Was fehlt für das Entstehen einer Massenbewegung? Was braucht es, damit die isolierten Kämpfe wirklich eine Ausstrahlung und eine Ausdehnung erfahren?
Angesichts einer wirtschaftlich ausweglosen Situation im Kapitalismus führt ein normaler Verteidigungskampf nicht mehr weiter. Wenn ein Betrieb ohnehin dicht macht und die Produktion in ein Gebiet ausgelagert wird, wo die Lohnkosten geringer sind, kann der Kampf lokal nicht gewonnen werden. Es geht ums Ganze: Die Arbeiterklasse muss sich über die Grenzen hinweg für den gleichen Kampf zusammenschließen - es geht letztlich um einen Infragestellung des kapitalistischen Produktions- und Verteilungssystems insgesamt. Wie kann ein solcher Kampf zustande kommen? - Offensichtlich schreckt unsere Klasse vor der Gewaltigkeit dieser Aufgabe zurück.
In und um den Kampf der TEKEL-ArbeiterInnen hat es einige Aspekte gegeben, die zwar nicht für sich allein ein großes Gewicht haben, aber von der politischen Stoßrichtung her bedeutsam sind.
Einerseits suchen kämpfende Arbeiter und Arbeiterinnen die Solidarität anderer Teile der Klasse. Nicht nur innerhalb der Türkei sind Delegationen in andere Städte geschickt worden, sondern auch über die Landesgrenzen hinaus. Diese Initiative der Kämpfenden lief bezeichnenderweise nicht über die Gewerkschaften. Vielmehr stießen die Streikenden auf den Widerstand der Gewerkschaften, nahmen sie wahr als Teil des staatlichen Abwehrdispositivs. Die TEKEL-Leute organisierten sich selbständig und kontrollierten auch selber die Suche nach der Solidarität, ohne Gewerkschaften. Diese Erfahrung, von der O. berichtete, war für viele GenossInnen, die an den Veranstaltungen teilnahmen, nicht etwas Erstaunliches. Vielmehr machen auch wir hier die gleichen Erfahrungen, in der Schweiz beispielsweise bei den Kämpfen in Reconvilier oder Deisswil.
Andererseits gibt es gleichzeitig Diskussionen unter politisierten Minderheiten in der Türkei, Deutschland und weiteren Ländern, die miteinander die Erfahrungen von TEKEL verarbeiten, für die Zukunft fruchtbar machen wollen. Dabei kommen Leute zusammen, die unterschiedliche politische Wurzeln haben, aber offensichtlich ein gemeinsames Ziel der revolutionären Überwindung dieser Gesellschaft haben.
Insofern weisen die Initiativen um den TEKEL-Streik eine neue Qualität auf, die es zu vertiefen und zu verallgemeinern gilt. Nur über diese Offenheit gegenüber anderen Teilen der Klasse, durch das Hinaustragen der Lehren über den eigenen lokalen Zusammenhang hinaus wird sich die Klasse nach und nach zu einer größeren Kraft zusammenschließen können. Es braucht solche Schritte, die zu Beginn zwar nach nicht viel aussehen, aber in die richtige Richtung gehen. Diese neue Qualität ist für eine Revolution unabdingbar.
Die Klasse hat in ihrem Kampf nur zwei Stärken, auf die sie sich verlassen kann: ihre Einheit und ihr Bewusstsein. Beides hängt zusammen, und beides wird durch solche Bestrebungen, die die TEKEL-ArbeiterInnen entwickelten, vorangetrieben.
Gerade auf der Ebene des Klassenbewusstseins waren die Diskussionen alles andere als banal: Die Gewerkschaften standen dem Kampf im Weg; die Streikenden stellten dies fest und organisierten den Kampf und seine Ausweitung selbständig, ohne Gewerkschaften, ja gegen den Widerstand derselben. Wir müssen dafür sorgen, dass sich breitere Teile der Klasse diese Lehren ebenfalls aneignen. Je kollektiver das Gedächtnis der Klasse wird, desto weniger müssen die gleichen Erfahrungen in jedem Kampf neu gemacht werden.
Und während Revolutionäre in den 1990er Jahren zwar vielleicht diese Lehren aus früheren Kämpfen zu propagieren versuchten (wie beispielsweise die IKS in zahlreichen Zeitungsartikeln jener Zeit), aber einsame Rufer in der Wüste waren, fallen die Erfahrungen der TEKEL-ArbeiterInnen heute auf einen Boden, auf dem es zu sprießen beginnt - nicht üppig zwar, aber immerhin: die Lehren werden diskutiert von Leuten, die konkret mit denselben Problemen konfrontiert sind. In jedem Kampf heute stellen sich genau solche Fragen: Wie wehren wir uns am besten? Wo können wir Solidarität suchen? Wie organisieren wir unseren Kampf?
Und obwohl die Angriffe des türkischen Staats auf die TEKEL-Angestellten nicht gestoppt werden konnten, führten die Kämpfe nicht zu einer Demoralisierung, sondern zu einer Radikalisierung bei einem kleinen Teil der Klasse. Ein Teil, der die Hand ausstreckt zu den Klassenschwestern und -brüdern.
Die Diskussionen, die um den TEKEL-Streik in Gang gekommen sind, ziehen ihre Stärke weniger aus dem Hier und Jetzt, als aus der Perspektive, der Zukunft. Sie schlagen eine neue Richtung ein, sind ein Wegweiser. Die Kampfbereitschaft der Klasse kann von den revolutionären Minderheit nur in geringem Ausmass beeinflusst werden; die Kämpfe brechen spontan aus. Aber für die Richtung der Diskussionen, für die bereits gemachten Lehren, die Perspektive in den Kämpfen sind die heute noch kleinen Minderheiten unabdingbar. Sie können zu einem Faktor werden unter der Bedingung, dass auch sie sich ihrer potentiellen Stärke, ihrer Verbundenheit und gemeinsamen Aufgaben bewusst werden.
Joel, 16.09.10
Wir haben die Zusendung eines Lesers erhalten, dem der bloße Verweis auf die Arbeiterkämpfe als Grundlage einer eigenen Organisierung zu wenig geworden ist. Seit mehreren Monaten beschäftigt er sich intensiver mit der revolutionären Tradition in der Arbeiterbewegung und nimmt Teil an den Diskussionen im linkskommunistischen Milieu. Wir begrüßen die Initiative des Lesers und ermutigen alle anderen Leser/Innen uns solche Texte zur Verfügung zu stellen.
1953 erschien mitten im Kalten Krieg in der Reihe »Rote Weißbücher« im Verlag für Politik und Wirtschaft Ante Ciligas Aufzeichnungen »Im Land der verwirrenden Lüge«. Gekürzt aufgelegt als anti-kommunistische Agitationsausgabe bei Kiepenheuer und Witsch, dem damaligen »Hausverlag« des Gesamtdeutschen Ministeriums. Die schon längst vergriffene Ausgabe ist in dem Berliner Kleinverlag »die Buchmacherei«[i] neu erschienen. Diese Wiederveröffentlichung ist nun eingebettet in die Wiederaneignung eines Teils der verschütteten linkskommunistischen Geschichte. Es gibt ein neues Vorwort der Herausgeber und ein biografisch interessantes Nachwort.
Worin besteht der besondere Wert von Ante Ciligas Aufzeichnungen? Kritik aus revolutionärer Perspektive hatte es schon vor ihm gegeben: Früh wurde die anarchistische Kritik, wie Alexander Berkmans 1925 erschienenes Buch »Der Bolschewistische Mythos – Tagebuch aus der russischen Revolution 1920–1922«, bekannt. Panait Istrati hatte nach seiner zweiten Reise 1929 durch das post-revolutionäre Russland die Lage der Arbeiterklasse dramatisch geschildert (dieses Buch erschien 1929 auf französisch und 1930 auf deutsch). Victor Serges aus Russland herausgeschmuggelter Brief[ii] entwarf schon 1933 ein beklemmendes Bild der politischen Enge und Repression. Was Ante Ciliga auszeichnet ist sein besonderes Drama: Im Herbst 1926 wurde er von der jugoslawischen KP aus seinem Exil in Österreich, wo er als Delegierter der KPJ im Balkansekretariat der Komintern tätig war, an die Kommunistische Universität der nationalen Minderheiten des Westens in Moskau entsandt, 1927 nahm er Kontakt mit der trotzkistischen Opposition auf, damit begann seine Reise durch Knast, Lager und Verbannung. Die Jahre 1931 – 33 verbrachte er im Lager »Isolator« in Werchne-Uralsk und nahm dort aktiv teil an den Auseinandersetzungen zwischen den diversen trotzkistischen Gruppen, der Arbeitergruppe und den Dezisten, an deren Ende die Gründung der »Föderation der Linkskommunisten« stand[iii].
Dieser Text möchte untersuchen, wie diese Diskussion durch die Veröffentlichung des Buches[iv] in die internationale revolutionäre Diskussion eingeflossen ist. Wie die Diskussion der russischen Linken – die sämtlich liquidiert wurden – die internationalistische linkskommunistische Auseinandersetzung nach einigen Jahren doch noch bereichern konnte. Vorangestellt ist ein Blick auf die Generation der »Bewegung für die Befreiung der Arbeiterklasse« und eine kurze Skizze der diskutierten Themen.
Verfügte Ante Ciliga über eine besonders geniale Persönlichkeit, die ihn zu einer solchen Erfahrung befähigte? Nein – er war wie seine ganze Generation 1917 euphorisiert worden. Viele verbanden wie Ciliga ihre eigene elendige Situation mit der ihrer ganzen Klasse. Der Kampf der russischen Arbeiterklasse riss den Horizont auf für eine emanzipatorische Zukunft und machte zugleich offenkundig, wer den Schlüssel zu dieser in der Hand hatte. Das Ende des imperialistischen Weltgemetzels schien greifbar nahe. Hunderttausende junge Arbeiter in Europa traten ein in die »Bewegung für die Befreiung der Arbeiterklasse« (so Agis Stinas über sein Engagement als Jugendlicher 1917). Sie nahmen an vorderster Front Teil an den Klassenkämpfen in ihren Ländern, sie beteiligten sich an den Auseinandersetzungen mit Sozialdemokraten und innerhalb der Gewerkschaften für eine revolutionäre Politik und gegen die staatlichen Institutionen und den Krieg. Sie wurden durch die revolutionäre Welle zu Revolutionären gemacht und als Revolutionäre nahmen sie an ihr begeistert teil. Auch Ante Ciliga war als Soldat der k.u.k Armee von der russischen Revolution begeistert. Er organisierte sich gleich in dem linken Flügel der kroatischen Sozialdemokraten, nahm an der ungarischen Räterepublik teil und polemisierte 1919 innerhalb der Partei für die Weltrevolution. Hunderttausende seiner Generation gingen den gleichen Weg und bauten die kommunistische(n) Partei(en) mit auf. Die russische Revolution und die Gründung der Kommunistischen Internationale war für sie der Beginn der Weltrevolution. Ihre Arbeit in der Arbeiterklasse und in der Partei war Teil dieser weltweiten Kampfbewegung. Konnte diese Kampfwelle erlahmen? Konnte diese Partei Fehler machen oder gar zu einer konterrevolutionären Kraft werden? Bis auf wenige spektakuläre Ausschlüsse (z. B. Boris Souvarine 1924) und die besondere Entwicklung in Italien und Deutschland[v] blieben die meisten Revolutionäre mindestens bis 1926 (Agis Stinas gar bis 1931) in der Partei, obwohl die Degeneration der Revolution und ihrer Organisationen immer offensichtlicher wurden. Ciligas Weg ist auch hier typisch: »Während meiner Haft im »Isolator« beteiligte ich mich erst spät an Diskussionen über Lenins Rolle. Ich gehörte einer Generation junger KommunistInnen an, für die Lenin unantastbar war. Für mich stand außer Frage, dass er immer recht gehabt hatte. Die Ergebnisse - die revolutionäre Eroberung der Macht wie ihr Erhalt - sprachen schließlich dafür. Dadurch waren für mich und meine Generation sowohl Taktik als auch Mittel gerechtfertigt.«
Die Opposition der russischen Linken[vi] hatte sich in der Regel um einen Antrag auf den jährlichen Parteikongressen Anfang der 20er organisiert. So führten die Demokratischen Zentralisten auf dem IX. Parteitag vom März-April 1920 ihre Kampagne gegen die »Militarisierung der Arbeit«, die Arbeiteropposition auf dem X. Parteikongress im März 1921 die sogenannte Gewerkschaftsdiskussion. 1921 kam Kronstadt und das Fraktionsverbot. Die Arbeitergruppe um Gavriel Miasnikow (ehemaliges Mitglied der Arbeiteropposition) veröffentlichte ihr Manifest zum XII. Parteitag 1923[vii] und intervenierte illegal in der Streikwelle. Damit wurde klar zum Ausdruck gebracht: das Klassenterrain zu diesem Zeitpunkt umfasste den Kampf in der Partei und an der Seite des kämpfenden Proletariats. Doch der Niedergang der Revolution schritt weiter fort.
Als Ciliga Ende 1930 im Lager eintraf, waren fast alle übriggebliebenen Militanten der Opposition im Lager oder der Verbannung. Beeindruckend ist, welche Tiefe und Ernsthaftigkeit die Diskussion im Lager annahm. Die Gruppen hielten Sitzungen ab und jede Tendenz gab ihre eigene Zeitung heraus. Die Diskussionen[viii] waren bestimmt von »sozialistischen Illusionen«, viele Linke hatten sich mit Trotzki am »linken« Kriegskommunismus orientiert und jede noch so radikale Kritik an der NEP war letztendlich ein Plädoyer für die Kollektivierung (die Stalin nach seinem »Linksschwenk« scheinbar Trotzkis Plan folgend durchführte). Doch auch die Kritiken aus der Arbeiterperspektive, die mit Trotzki gebrochen hatten, gingen letztendlich davon aus, dass der Sozialismus in Russland aufzubauen sei. Andere sahen die historische Klemme und verwarfen nicht nur die Möglichkeit des »Sozialismus in einem Land«, sondern stellten gleich den proletarischen Charakters der Revolution von 1917 in Frage. Die Diskussionen im Lager waren somit ein Panoptikum angefüllt mit Leidenschaft, aber von Ungenauigkeiten und Verwirrungen. Konnte die Diktatur des Proletariats, die eine Diktatur der Partei geworden war, als eigenständige Gesellschaftsform »in Richtung auf den Sozialismus«[ix] bezeichnet werden. Nach zehn Jahren war die internationale Ausweitung ausgeblieben, welche Schlüsse sind daraus zu ziehen?
Zusätzlich beachtenswert ist an Ante Ciligas Buch, dass er nicht nur die Diskussion um die politische und ökonomische Macht in Russland nachzeichnet, sondern sich auch bemühte die soziale Realität der Arbeiterklasse und der Bauernschaft in Russland einzufangen. Die Berichte über das Massensterben auf dem Land erreichten die Lager, die Lage der Arbeiterklasse war verheerend[x]. Nach dieser Bestandsaufnahme erfolgte für Ciliga und andere nicht nur der Bruch mit dem herrschenden russischen Stalinismus, sondern auch mit dem Trotzkismus.
Die Analysen der russischen Linken waren in den 20ern einer kleinen Schar von oppositionellen Linken in Westeuropa bekannt. 1923 verteilte die KAI[xi] in Berlin Flugblätter gegen die Repression der Arbeitergruppe, 1923 und '24 veröffentlichte Worker's Dreadnought Texte der Arbeitergruppe auf englisch, 1925 besuchte Sapranow als Vertreter der Dezisten illegal Karl Korsch, 1927 veröffentlichten »le reveil communiste« und »von den aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossenen Hamburger Oktoberkämpfern« (übersetzt von Hedda Korsch) die Plattform der 15[xii]. Somit waren die Diskussionen der linken Kommunisten bereits bekannt, als 1930 Gavriel Miasnikow nach Knast und Folter nach Paris fliehen konnte. In Paris schließt sich Miasnikow der Gruppe »l'ouvrier communiste« (ein Nachfolgeprojekt von »le reveil communiste«) um Pappalardi (ehemaliges Gründungsmitglied der italienischen Fraktion) an. Warum führte dies nicht zu einer Umgruppierung der oppositionellen Kommunisten im Allgemeinen und der internationalistischen Linken im besonderen?
Zehn Jahre nach der Oktoberrevolution hatte sich die Welt dramatisch gewandelt. Die Revolution in Deutschland war blutig unterdrückt und spätestens 1923 hatte die Arbeiterklasse eine herbe Niederlage erleiden müssen. Der britische Generalstreik 1926 war niedergeschlagen worden und die chinesischen Revolutionäre wurden mehrmals der Konterrevolution ausgeliefert, bevor 1929 die Weltwirtschaftskrise ausbrach. Die euphorische Stimmung war abgeklungen, die wenigen Revolutionäre, die sich außerhalb der bereits stalinisierten Parteien organisierten, waren eingeklemmt zwischen Stalinismus und Faschismus. Frankreich war zwar das Zentrum der internationalen Diskussion, KommunistInnen aus Deutschland, Italien, Rumänien usw. fanden sich hier ein, doch beschränkte dieses Milieu sich auf einige Dutzend. Die Tiefe und Dramatik des historischen Wendepunktes war zwar spürbar, jedoch noch nicht analysiert. In welcher historischen Phase befinden wir uns? Welche politischen und organisatorischen Schlüsse sind daraus abzuleiten?
Die Gruppe »l'ouvrier communiste« um Miasnikow war politisch stark der Traditionslinie der KAPD verpflichtet. Somit waren sie früh dazu in der Lage, das politische Scheitern der russischen Revolution festzustellen. Doch befand sich nach ihrer Analyse nicht nur der Kapitalismus in seiner Todeskrise, sondern wir befanden uns weiterhin in einer offenen revolutionären Phase. Welche Probleme diese Analyse mit sich zog, erkennen wir im nächsten Abschnitt.
Während Trotzki innerhalb der Arbeiterklasse Russlands wegen der »Militarisierung der Arbeit« verhasst war, galt er für die meisten kommunistischen Oppositionellen außerhalb Russland nach seiner Ausweisung 1929 als tadelloser Führer der Weltrevolution. Trotzki strebte sofort eine Umgruppierung an. Alfred Rosmer wurde nach Deutschland geschickt, französische Genossen reisten nach Prinkipo. Trotzkis Entscheidungskriterium für eine Zusammenarbeit war die Haltung zum russischen Staat. So brach er mit den »Korschisten«[xiii] und lobte die »linke Fraktion der PCI« für ihr Gründungsmanifest von Pantin 1927 und den Bruch mit »le reveil communiste«. Die italienische Fraktion akzeptiert 1930 Trotzkis Plattform der ILO als Grundlage der Diskussion. Während »le reveil communiste« 1929 in einem offenen Brief[xiv] an die Basis der PCF und der Kommunistischen Internationalen die Möglichkeit einer Wiederbelebung der KI verwirft und die fraktionelle Orientierung der Trotzkisten und Bordigisten (so wurde die Fraktion um die Zeitschrift »Prometeo« bezeichnet) als konterrevolutionär denunzierte.
An dieser Stelle müssen wir innehalten und uns den Hintergrund der Diskussion verdeutlichen. Tiefere Grundlage für die unterschiedlichen Einschätzungen (innerhalb der Linkskommunisten von »Prometeo« und »le reveil communiste« und den Trotzkisten) ist nicht die Frage des »Staatskapitalismus«, sondern die Analyse der historischen Phase. Hier verläuft die Frontstellung für die folgenden Jahre. »le reveil communiste«[xv] (und ab 1930 »l'ouvrier communiste«) geht ähnlich wie Trotzki von einer offenen revolutionären Phase aus. Dieser kann sich nicht von der Einschätzung der »revolutionären Phase« trennen und orientiert sich ab 1933 hin zum Aufbau einer neuen (vierten) Internationale. Die Analyse der historischen Phase ist also eng verbunden mit der Frage der Organisierung[xvi]. Kein Wunder, dass der Bruch zwischen Fraktion und Trotzki schon 1931/32 erfolgt. Die Fraktion entschließt sich gegen solche voluntaristischen Abenteuer und für das intensive Studium der dramatischen Kernfragen: wie konnte die erste erfolgreiche proletarische Revolution solch ein Gebilde hervorbringen, wie konnte die Führerin der Weltrevolution – die KI – zu einer Kraft der Konterrevolution werden, wie konnte sich die Phase des revolutionären Aufbegehrens und der Euphorie in eine der Desillusionierung und Isolation wenden? Angetrieben von diesen Fragen wurde 1933 Bilan gegründet[xvii].
Die ernsthafte und tiefe Analyse der russischen Revolution befähigte die Fraktion dazu, einige wichtige Prinzipien zu konkretisieren, hierzu zählen insbesondere die Kritik der nationalen Befreiungsbewegungen[xviii] und die Kritik der demokratischen Illusionen. Die größte Prüfung kam mit dem spanischen Bürgerkrieg[xix]. Die UdSSR und ihre Kommunistischen Parteien traten als imperialistische Macht mit Deutschland und Italien in den europäischen (wenn nicht schon in den globalen) Machtkampf ein, Trotzki sprang ihnen an die Seite und sah eine neue »revolutionäre Phase« eintreten. Doch auch die vielen linkstrotzkistischen Gruppen[xx], die bereits mit Trotzki gebrochen hatten, und auch die Minderheit der Fraktion schlossen sich dieser »revolutionären Hoffnung« an. Spätestens hier erkannte die Fraktion das Gift der antifaschistischen Ideologie.
Die Politik der Volksfront und des Antifaschismus hatten den internationalen Klassenkampf in die Irre geführt und das Klassenterrain verlassen. Der Ausbruch des 2. Weltkriegs verschärfte die Lage noch mehr. Die Reste der revolutionären Linken waren desorientiert, die trotzkistischen Gruppen hatten endgültig das eine oder andere imperialistische Lager gewählt. Doch traten erstmals wieder neue und junge Militanten auf. Der Kern der zukünftigen französischen Fraktion orientierte sich an den Lehren der Arbeit von Bilan und war ab 1941 gar wieder in der Lage jährliche Konferenzen abzuhalten. Der Vormarsch der Nationalsozialisten hatte die RKÖ/RKD[xxi] ins Exil nach Frankreich und Belgien getrieben. Als ursprünglich trotzkistische Organisation hatten sie 1938 als einzige gegen die Gründung der IV. Internationalen gestimmt und entwickelten einen unnachgiebigen revolutionären Defätismus. Die Wühlarbeit der RKD, die Flugblätter unter deutschen Soldaten und unter der französischen Zivilbevölkerung zur Fraternisation verteilte, war Orientierung für alle Revolutionäre, die die Aufgabe des Klassenterrains nicht mitmachen wollten. So gründeten sich um die RKD 1942 die »communiste revolutionaire«. Die RKD und die CR schrieben und verteilten teilweise zusammen mit dem Kern der späteren französischen Fraktion Flugblätter, und sie begannen eine vertiefende Diskussion über die russische Frage. In dieser Diskussion spielte das Buch von Ciliga eine große Rolle. Nun kamen unnachgiebiger Internationalismus, Einschätzung der historischen Phase und Arbeiterperspektive (»von unten«) in der Diskussion zusammen und machten es möglich, dass die Positionen der italienischen, deutschen und russischen Linken sich gegenseitig befruchteten[xxii].
Die Linkskommunisten in der Tradition der italienischen Linken waren bisher sehr skeptisch gegenüber der frühzeitigen Einschätzung des russischen Staates als »Staatskapitalismus« gewesen. Ihnen war es wichtiger, eine fundamentale Bilanz der revolutionären Welle zu ziehen und sich daran zu organisieren.
Der Fraktion gelang es, sich durch die gemeinsame illegale Arbeit und tiefen Diskussionen, die ernsthaften Auseinandersetzungen, die Ante Ciliga aus dem Lager schildert, anzueignen. Es ist nun keine Überraschung mehr, dass auch um diese Zeit herum das Studium von Rosa Luxemburg intensiviert wurde und die Auseinandersetzung mit der deutsch-holländischen Linken ernsthaftere Formen annahm. Internationalistische Perspektive und die Überzeugung, dass die Revolution nur die Sache der Arbeiterklasse selbst sein könne, waren der Kern des Linkskommunismus. 1943 stellt die Konferenz der Fraktion erstmals fest, dass die UdSSR »staatskapitalistisch« sei. Doch war dies nun kein Label, sondern fußte auf dem Kampf um eine revolutionäre Position in den düstersten Zeiten des Weltgemetzels und der Konterrevolution. Zum 1. Mai 1945 verteilten RKD, CR und die Fraktion gemeinsam ein Flugblatt an die Proletarier in Russland, Italien, Deutschland, Frankreich .... »Vorwärts zur kommunistischen Weltrevolution!«
Diese revolutionäre Position ist bis heute nicht abgebrochen, doch um die heutigen Aufgaben auf den historischen Lehren aufzubauen, müssen diese erstmal wieder freigeschaufelt und angeeignet werden. Die Herausgeber des Ciliga Buches sind ebenso um das »historische Erbe des Marxismus« bemüht und beziehen sich mit Rosa Luxemburg auf die Grundlage jeder revolutionären Veränderung der »lebendigen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden können: das aktive, ungehemmte, energische politische Leben der breitesten Volksmassen«[xxiii] - dem ist zuzustimmen. Das Interesse an der Wiederaneignung scheint vorhanden, die erste Auflage ist schon ausverkauft und eine Diskussionsveranstaltung in Berlin brachte dreißig Interessierte GenossInnen zusammen.
[i] Das Buch ist erhältlich bei: https://www.diebuchmacherei.de [106]
[iii] die er jedoch aufgrund seiner Deportation nach Sibirien nicht mehr miterleben durfte
[iv] Der erste Teil »Au
pays du grand mensonge« erschien 1938 und umfasst die Jahre 1926 - 1933, der
zweite Teil erschien 1950 unter dem Titel »Sibérie, terre d'exil et de
l'industrialisation« und behandelt die Jahre seiner Verbannung
1933 – 1935.
[v] In Italien und Deutschland waren die Klassenkämpfe am stärksten entwickelt und die fraktionellen Kämpfe um die richtige Parteipolitik tobten entsprechend am heftigsten. In Italien wurde die Mehrheit um Amadeo Bordiga ab 1923 kaltgestellt, in Deutschland wurde die Mehrheit (die spätere KAPD) schon 1919 ausgeschlossen.
[vi] siehe die Artikelserie zur russischen Linken https://de.internationalism.org/KomLiRu [108] und das englischsprachige Buch »The Russian Communist Left«
[vii] siehe die englische Ausgabe der International Review 142
[viii] siehe die Erstübersetzung des Abschnitts aus »Lenin auch...« auf https://stinas.blogsport.de [109]
[ix] so Trotzki im Entwurf der Plattform für die Internationale Linke Opposition (ILO) April 1930, der 1932 im Lager bekannt wird und Ciliga entsetzt: »Es war fortan vergeblich zu hoffen, dass Trotzki je zwischen Bürokratie und Proletariat, zwischen Staatskapitalismus und Sozialismus würde unterscheiden können. Am meisten schockierte mich an Trotzkis Programm, dass es die Illusionen des westlichen Proletariats über Russland eher verstärkte als zerstörte.« S. 118
[x] »Es ist wohl nicht übertrieben, zu behaupten, dass ein Drittel der Arbeiterklasse in Russland aus Sklaven besteht.« .S112
[xi] Kommunistische Arbeiter Internationale – das kurzlebige Produkt der KAPD Essener Richtung gemeinsam mit den Gruppen um Herman Gorter in den Niederlanden, um Sylvia Pankhurst in Britannien und weiteren Gruppen in Belgien, Bulgarien und unter Exilanten aus der Sowjetunion, 1922 - 25
[xiii] Korsch hatte 1926 die »Entschiedene Linke« als Fraktion der KPD mit der Monatszeitschrift »Kommunistische Politik« gegründet und war gleich ausgeschlossen worden. Nach der Auflösung der »Entschiedenen Linken« arbeiteten korschistische Zirkel bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme 1933.
[xv] Sie zerfallen 1931 und ein Teil kehrt später zur Fraktion zurück. Dennoch lohnt sich das Studium dieses Versuchs, welches sich in der Veröffentlichung und/oder Kommentierung von Gorter, Bordiga, Trotzki und Korsch auszeichnet.
[xvi] siehe dazu die Broschüre »Das Verhältnis Fraktion – Partei in der marxistischen Tradition« der IKS
[xvii] genauer, siehe das Buch »Die Italienische Kommunistische Linke«
[xix] hier gibt es nicht den Platz die Klassenkämpfe in Spanien und die Volksfront in Frankreich zu analysieren, siehe: https://de.internationalism.org/spanien/38 [113]
[xx] Union Communiste führte im März 1937 in Paris eine internationale Konferenz durch, an der League for a RWP, LCI, RWL (Oehler), GIK, die Minderheit der Fraktion, Miasniskow, Ruth Fischer, Arkadi Maslow u. a. teilnahmen
[xxi] Revolutionäre Kommunisten Österreich bzw. Deutschland - siehe dazu die empfehlenswerte Broschüre »Gegen den Strom!« der Bibliothek des Widerstands https://sites.google.com/site/bibliothekdeswiderstandes/ [114]
[xxii] Der letzte bedeutendere Versuch, der sich im Briefwechsel zwischen Korsch und Bordiga 1926 ausdrückt, war ergebnislos verlaufen, siehe: https://www.sinistra.net/lib/upt/comsmo/keru/keruahecad.html [115]
[xxiii] Rosa Luxemburg »Zur russischen Revolution« 1915
Die deutsche Wiedervereinigung hat in ökonomischer, politischer und sozialer Hinsicht die Erwartungen, die sie Anfang der neunziger Jahre geweckt hatte, zweifellos enttäuscht. Von der furchtbaren Ernüchterung insbesondere der ostdeutschen Lohnabhängigen haben wir schon gesprochen. Aber auch die (westdeutsche) Bourgeoisie hatte sich gründlich verrechnet, als sie, überwältigt von dem Kollaps des Ostblocks, von riesigen Märkten in Osteuropa fabulierte und einen „selbsttragenden Aufschwung“ Ostdeutschlands schon in wenigen Jahren erwartete. Doch warum war die Wiedervereinigung nicht die erhoffte Initialzündung für eine Wiederholung der sog. „Gründerjahre“, die einst dem deutsch-französischen Krieg 1871 gefolgt und Zeuge eines beispiellosen Booms des deutschen Kapitalismus gewesen waren? Warum ist Ostdeutschland bis heute ein Klotz am Bein des deutschen Kapitals? Immerhin fiel der westdeutschen Bourgeoisie mit der DDR ein durch und durch industrialisiertes Land mit einer gut ausgebildeten Arbeiterklasse und deren unendlichen Bedürfnissen in den Schoß.
Es wäre zu kurz gegriffen, würde man mit dem Hinweis auf den maroden Zustand der ostdeutschen Industrie antworten. Die Kosten der Sanierung von Bitterfeld, Wismar, der Braunkohletagebaustätten etc. waren, wenngleich kein Pappenstiel, von einmaliger Natur; da bereitet die ständige Alimentierung großer Teile Ostdeutschlands der deutschen Bourgeoisie weitaus mehr Kopfzerbrechen. Wir meinen, dass man auf der Suche nach den Ursachen für das ökonomische und soziale Fiasko der deutschen Wiedervereinigung woanders ansetzen muss. Eine Analyse dieser Ursachen muss zuvorderst den zeitlichen Zusammenhang, die Epoche berücksichtigen, in der die deutsche Wiedervereinigung stattfand - eine Epoche, die ganz im Zeichen des Niedergangs der kapitalistischen Produktionsweise steht.
Um zu begreifen, was dies für die Wiedervereinigung bedeutete (und bedeutet), bietet es sich an, auf die Methode der historischen Gegenüberstellung zurückzugreifen. Deutschland ist nicht die erste Nation, die eine gewisse Zeitlang geteilt war und die sich schließlich wieder vereinigte. Auch die US-Bourgeoisie durchlebte einst das Trauma einer Sezession: Von 1861 bis 1865 wütete ein blutiger Bürgerkrieg zwischen den Südstaaten, den Konföderierten, und den Nordstaaten der USA, den Unionisten. Auslöser dieses Bürgerkriegs war die Sklavenfrage. Während der industrielle Norden (die Neuengland-Staaten, Ohio, etc.) grundsätzlich für die Abschaffung der Sklaverei, zumindest aber für die Aufrechterhaltung des Status quo, den sog. Missouri-Kompromiss von 1820[1], eintrat, strebte der Baumwolle produzierende Süden (Alabama, Georgia, Louisiana) eine Ausweitung der Sklaverei auf die gesamten USA an; denn „fortwährende Ausdehnung des Territoriums und fortwährende Verbreitung der Sklaverei über ihre alten Grenzen hinaus ist ein Lebensgesetz für die Sklavenstaaten der Union“[2]. Als der Bürgerkrieg 1865 mit der Niederlage der Konföderierten endete, lag die Wirtschaft der Südstaaten darnieder; die hohen Kriegskosten trieben die Vereinigten Staaten in den Schuldenstand, und zudem stand die junge amerikanische Nation unter dem noch frischen Schock eines Bruderkrieges. Keine günstigen Voraussetzungen für eine Wiedervereinigung, sollte man meinen.
Und dennoch sollte der Ausgang des amerikanischen Bürgerkrieges den Grundstein für ein einheitliches Nationalbewusstsein in den USA legen, das auf dem stolzen Bekenntnis zu den universellen Menschenrechten und auf das für jeden Menschen geltende Recht des Strebens nach Glück (pursuit of happiness) fußte. In den dem Bürgerkrieg folgenden Jahrzehnten erlebten die USA einen fulminanten wirtschaftlichen Aufstieg, der aus einem vorwiegend agrarwirtschaftlich orientierten Land eines der mächtigsten Industrieländer machte. Die vielen Hunderttausend Afroamerikaner, die aus der Sklaverei befreit worden waren, verdingten sich fortan als Lohnarbeiter in den wie Pilze aus dem Boden schießenden Fabriken der US-Industrie und verstärkten so das Heer der Arbeiterklasse. Es war die Zeit, als der Mythos von Amerika als dem „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ geboren wurde.
Das Geheimnis hinter dieser Dynamik, die der Sieg des Nordens im Bürgerkrieg auslöste, lag in einer Eigentümlichkeit des US-amerikanischen Kapitalismus, die ihn zu jener Zeit von den europäischen Industrieländern unterschied. Während Letztere mangels ausreichender inländischer nicht-kapitalistischer Märkte bereits gezwungen waren, einen Teil ihres Mehrwerts auf dem Wege der Einverleibung fremder nicht-kapitalistischer Territorien zu realisieren, sei es durch Kolonialisierung oder durch Kapitaltransfer, zehrte der US-Kapitalismus noch lange Zeit von den unermesslichen Weiten seines Territoriums, die noch ihrer Durchkapitalisierung harrten und von Subsistenz- und Sklavenwirtschaft dominiert waren. Der Bürgerkrieg setzte diesem Zustand „ein jähes Ende (...) Die enorme Staatsschuld von 6 Milliarden Dollar, die er der Union aufgebürdet hatte, zog eine starke Erhöhung der Steuerlasten nach sich. Namentlich beginnt aber seit dem Kriege eine fieberhafte Entwicklung des modernen Verkehrswesens, der Industrie, besonders der Maschinenindustrie, unter Beihilfe des steigenden Schutzzolls (...) Das Eisenbahnnetz wuchs denn auch in beispielloser Weise. 1860 betrug es noch nicht 50 000 Kilometer, 1870 über 85 000, 1880 aber mehr als 150 000 (...) Die Eisenbahnen und die Bodenspekulationen riefen eine massenhafte Einwanderung aus Europa nach den Vereinigten Staaten herbei (...) Im Zusammenhang damit emanzipierte sich die Union nach und nach von der europäischen, hauptsächlich englischen Industrie und schuf eigene Manufakturen, eine eigene Textil-, Eisen-, Stahl- und Maschinenindustrie. Am raschesten wurde die Landwirtschaft revolutioniert. Bereits in den ersten Jahren nach dem Bürgerkriege wurde die Plantagenbesitzer durch die Emanzipation der Neger gezwungen, den Dampfflug einzuführen.“[3] Mit anderen Worten: der amerikanische Bürgerkrieg war der Türöffner zur Durchkapitalisierung des Südens und Westens Nordamerikas; er öffnete ein Ventil, das der Akkumulation des US-Kapitals neue Betätigungsfelder bot und die Realisierung seines vollständigen Mehrwerts ermöglichte.
Der Unterschied zur deutschen Wiedervereinigung mehr als 120 Jahre später liegt auf der Hand. Die Wiedervereinigung Deutschlands fand nicht inmitten der geographischen Expansion eines noch im Aufstieg befindlichen Kapitalismus statt. Sie spielte sich vielmehr vor dem Hintergrund chronischer Absatzprobleme eines niedergehenden Kapitalismus ab, der schon längst an seine Grenzen gestoßen ist, d.h. die letzten großen außerkapitalistischen Territorien in den kapitalistischen Weltmarkt einverleibt hat. Nichts macht dies deutlicher als die Bevölkerungsstruktur der alten DDR.
Um zu erläutern, was wir meinen, möchten wir etwas weiter ausholen und auf Rosa Luxemburgs Werk Die Akkumulation des Kapitals zu sprechen kommen. Bei ihrer Analyse des Marxschen Schemas einer erweiterten Reproduktion stieß sie auf einen Widerspruch in seiner Argumentation, der ihrer Auffassung nach eine erweiterte Reproduktion eigentlich unmöglich machen musste. Marx ging nämlich, als er die erweiterte Reproduktion des Kapitals unter die Lupe nahm, von einem Kapitalismus unter Laborbedingungen aus, der von allen „störenden“ Einflüssen anderer Gesellschaftsschichten und –klassen befreit war und in dem nur noch die beiden historischen Hauptklassen, Arbeit und Kapital, übrigblieben. Rosa Luxemburg wies nach, dass ein solch „reiner“ Kapitalismus in der Realität zum Scheitern verurteilt wäre, denn in ihm „wird die Akkumulation zur Unmöglichkeit: Die Realisierung und Kapitalisierung des Mehrwerts verwandelt sich in eine unlösbare Aufgabe.“[4] In der Tat kann nicht der gesamte, aus der Arbeiterklasse herausgepresste Mehrwert innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse realisiert werden; ein kleiner, aber wichtiger Teil dieses Mehrwerts muss außerhalb dieser Verhältnisse abgesetzt werden.
Für Rosa Luxemburg war dieser „reine“ Kapitalismus lediglich eine „wissenschaftliche Fiktion“[5], doch zumindest die DDR kam diesem kapitalistischen Endstadium sehr nahe. Die „Kollektivierung“ der Landwirtschaft in den fünfziger Jahren und die Enteignung des Handwerks in den sechziger Jahren hatten zu einer nahezu vollständigen Ausmerzung der letzten Reste außerkapitalistischer Produzenten geführt (außerkapitalistische Produktion meint in diesem Kontext eine Produktion, die nicht auf der Grundlage der Lohnarbeit stattfindet). Laut Statistischen Bundesamt wies die DDR zuletzt den weltweit höchsten Industriearbeiteranteil an der Bevölkerung auf. Die gesellschaftlichen Verhältnisse in der verblichenen DDR waren auf die ausschließliche Konfrontation zwischen den beiden Hauptklassen im Kapitalismus zusammengedampft: auf der einen Seite die „Werktätigen“, auf der anderen die „Nomenklatura“ eines despotischen Staatskapitalismus.
Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer.
· Der Ausgang des amerikanischen Bürgerkrieges, der totale Sieg der Nordstaaten, verschaffte dem Heißhunger des noch jungen, aber aufstrebenden US-Kapitalismus nach neuen ungenutzten Verwertungsmöglichkeiten neue Nahrung in den nicht-kapitalistischen Territorien innerhalb seiner Grenzen und ließ ihn binnen kurzen zur größten Industrienation der Welt avancieren. Doch ihren kometenhaften Aufstieg zu einer imperialistischen Hauptmacht, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dem Bürgerkrieg folgte, verdankten die USA in erster Linie dem Umstand, dass ihr noch ein weites inneres Akkumulationsfeld in Gestalt der noch mehr oder weniger unabhängigen Bauern sowie ein äußeres Akkumulationsfeld in Gestalt des lateinamerikanischen Halbkontinents zur Verfügung stand, der noch seiner Durchkapitalisierung harrte. Das westdeutsche Kapital nach der Wiedervereinigung dagegen suchte solvente Märkte im angeblich nicht-kapitalistischen Osten Deutschlands und fand eine völlig durchkapitalisierte Gesellschaft in Agonie vor. Darüber hinaus stand die deutsche Wiedervereinigung unter dem unglücklichen Stern einer chronischen Übersättigung der Märkte weltweit. Und mit der Auflösung der staatlichen Strukturen des Ostblocks Anfang der 1990er Jahre brachen auch die osteuropäischen Märkte weg, von denen man sich einst soviel versprochen hatte. Der „Hinterhof“ des deutschen Imperialismus war, ökonomisch betrachtet, nicht das erhoffte Eldorado für die Akkumulationsbedürfnisse des deutschen Kapitalismus, sondern ein Fass ohne Boden.
· Der US-Kapitalismus nach dem Bürgerkrieg laborierte nicht an einem Mangel von Märkten, sondern an chronischen Unterkapazitäten auf dem Arbeitsmarkt, die er nur mühsam durch die Einwanderer aus der Alten Welt und die befreiten Sklaven in den Südstaaten kompensieren konnte. Der deutsche Kapitalismus nach der Wiedervereinigung jedoch leidet bekanntlich an chronisch überfüllten Märkten und beileibe nicht an einem Mangel von Arbeitskräften.
· Der Sieg des Nordens im amerikanischen Bürgerkrieg versetzte der Sklavenwirtschaft in den Südstaaten der USA und der Bauernwirtschaft in den westlichen Territorien den Todesstoß und ersetzte beide durch den modernen Kapitalismus – einer Gesellschaft, die wie keine andere zuvor auf den gesellschaftlichen Charakter der Produktion beruht und die vom Kommunismus „allein“ die private Aneignung der Produktionsmittel trennt. Daher die Unterstützung der Nordstaaten im Bürgerkrieg durch die internationale Arbeiterbewegung[6] und die Glückwünsche der Internationalen Arbeiterassoziation an den US-Präsidenten Lincoln anlässlich des Sieges der Unionisten. Der Triumph der westlichen „Marktwirtschaft“ über den „Realsozialismus“ des Ostens – mit dem Fall der Mauer und der deutschen Wiedervereinigung als Höhepunkt – hingegen leitete keineswegs einen gesellschaftlichen Umbruch ein; hier wurde lediglich eine Variante des staatskapitalistischen Regimes durch eine andere, subtilere und flexiblere Variante abgelöst. Weder haftet der westdeutschen Bourgeoisie auch nur im Entferntesten etwas Fortschrittliches an, das es von Seiten der revolutionären Kräfte zu unterstützen gilt; noch hatte das stalinistische Regime in der ehemaligen DDR auch nur das Geringste mit dem Sozialismus zu tun, wie uns Linksextremisten vom Schlage der Trotzkisten weismachen wollten.
So besteht denn die Aufgabe der heutigen Kommunisten nicht mehr – wie 1861, als der amerikanische Bürgerkrieg ausbrach – darin, sich für die nationale Einheit der Bourgeoisie, für die Bildung von bürgerlichen Nationalstaaten stark zu machen, um die lokale und regionale Zersplitterung der Arbeiterklasse zu überwinden. Heute geht es vielmehr darum, die globale Einheit anzustreben, um die Arbeiterklasse aus ihrer nationalen Zersplitterung zu befreien.
Resümee
Fassen wir zum Schluss in aller Kürze noch einmal zusammen: Ökonomisch betrachtet, erwies sich das, was dem westdeutschen Imperialismus im November 1989 mit der Auflösung der DDR in den Schoß gefallen war, als eine faule Frucht. Der politisch zwingende, aber vom Standpunkt der wirtschaftlichen Notwendigkeiten her wohl völlig überhastete Anschluss Ostdeutschlands war vielleicht politisch geboten, vor allem um die imperialistischen Kontrahenten vor vollendete Tatsachen zu stellen, aber wirtschaftlich führte er zu einer massiven De-Industrialisierung und einer daraus folgenden Alimentierung Ostdeutschlands, die die ökonomische Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik überstieg und die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitalismus vorübergehend in Frage stellte.
Vom imperialistischen Standpunkt aus betrachtet, war die Wiedervereinigung gleichermaßen Fluch und Segen für das deutsche Kapital. Sie führte unbestreitbar zu einer Aufwertung Deutschlands in der Weltpolitik, denn in der kapitalistischen Arithmetik der Macht bedeutet der Zugewinn von Territorien und „Menschenmaterial“ fast zwangsläufig auch einen Zugewinn an Gewicht und Einfluss auf imperialistischer Ebene. Sie verbaute gleichzeitig aber auch den Weg zu einer militärischen Unterfütterung dieses gewachsenen politischen Einflusses, was die Rolle Deutschlands auf unabsehbare Zeit auf die einer imperialistischen Mittelmacht reduziert, weil sie beispielsweise durch die Alimentierung der vielen Arbeitslosen erhebliche Mittel bindet, die sonst zur Aufrüstung eingesetzt werden könnten.
Auch vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus betrachtet, provoziert die deutsche Wiedervereinigung durchaus gemischte Reaktionen. Es überwiegt zunächst der Eindruck, dass die Nach-Wende-Jahre sowohl in sozialer Hinsicht als auch auf der Ebene des Klassenbewusstseins einen herben Rückschlag für die Arbeiterklasse in Deutschland bedeuteten. Massenarbeitslosigkeit dort und Lohnraub hier hinterließen tiefe Spuren in der geistigen Verfassung unserer Klasse. Demoralisiert und desorientiert, war sie ein willfähriges Opfer jener unseligen Kampagne über das angebliche Ende des Kommunismus und Klassenkampfes. In Ermangelung einer Perspektive verirrten sich Teile der Arbeiterklasse auf dem Terrain des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit. Überdies litt die Arbeiterklasse in Deutschland unter einer tiefen Ost-West-Spaltung, die ihre Widerstandskraft aushöhlte und sie zur Hinnahme der schlimmsten Angriffe gegen ihren Lebensstandard seit Bestehen der beiden deutschen Staaten 1949 zwang.
Doch mit dem Fall der Berliner Mauer wurde eine weitaus größere Spaltung der Arbeiterklasse überwunden. Nach fast 30 Jahren strikter Trennung und hermetischer Isolation der im Herrschaftsbereich des sog. Realsozialismus lebenden ArbeiterInnen gegenüber ihren Leidensgenossen in den westlichen Demokratien kann man mittlerweile auch faktisch von einer globalen Arbeiterklasse sprechen, die unter denselben Lebens- und Arbeitsbedingungen sichtlich vereint ist und die befreit ist von den ideologischen Gräben des Kalten Krieges. Noch nie war die Welt und mit ihr die internationale Arbeiterklasse so eng zusammengerückt wie heute. Und noch nie war die Gelegenheit, den Klassenkampf gegen das Kapital zu globalisieren, so günstig wie heute.
[1] Dieser Kompromiss sah den 36. Breitengrad als Grenze zwischen den sklavenhaltenden und nicht-sklavenhaltenden Staaten vor.
[2] Marx, Der nordamerikanische Bürgerkrieg, MEW Bd. 15, S. 335).
[3] Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Gesammelte Werke, Bd. 5, S. 345f.
[4] Ebenda, S. 364.
[5] Ebenda, S. 365.
[6] So weigerten sich beispielsweise britische Hafenarbeiter, Schiffe mit Fracht aus den Südstaaten zu löschen.
Kaum ist die Bewegung in Frankreich aus den Schlagzeilen verschwunden, regt sich verstärkter Widerstand in Großbritannien gegen die brutalen Sparbeschlüsse. An der Spitze der ersten Proteste standen die Studenten (siehe dazu das Flugblatt auf unserer Webseite). Wird es den anderen Betroffenen der Opfer der Sparpolitik, allen voran den Arbeitern, gelingen, eine breite Front des Widerstands gegen das Kapital aufzubauen?
In den jüngsten Abwehrkämpfen und Protesten kommt eine Bereitschaft zum Widerstand zum Ausdruck, die sich nicht „nur“ gegen die Sparbeschlüsse der Regierungen richtet, sondern auch eine viel tiefergreifende Angst und Empörung über das, was diese Gesellschaft für die Menschheit bereithält, zum Ausdruck bringt.
Zum einen reagiert die Arbeiterklasse auf die jüngste Entwicklung der Krise, die geprägt wird von dem jetzt einsetzenden weltweiten Währungskrieg, zu dem die neue Konjunkturspritze der US-Regierung von 600 Milliarden Dollar gehört, welche nicht zuletzt die US-Währung verbilligen soll, und damit die US-Exporte beflügeln und die in Dollar gehaltenen US-Schulden im Ausland zum Teil abschmelzen sollen. Washington reagierte damit auf die Exportoffensiven vor allem Chinas und Deutschlands, wobei Obama eine US-Exportgegenoffensive in Seoul auf dem G20 Gipfel ankündigte. Somit droht hinter dem sogenannten Währungskrieg ein offener Handelskrieg auszubrechen, welcher längerfristig die Sonderkonjunktur der Exportweltmeister Deutschland und China untergraben kann.
Während man in den letzten Monaten den Eindruck zu erwecken versuchte, als ob die schlimmste Weltwirtschaftskrise seit der Depression der 1930er Jahre erfolgreich überstanden wäre – einschließlich der jüngsten Griechenlandkrise – zeichnet sich nunmehr am Horizont neues Unheil ab in Form einer drohenden erneuten Krise des Euros. Hinter dem Schreckgespenst des Bankrotts Irlands oder Portugals wirft sich der Schatten der Insolvenz größerer Volkswirtschaften wie Spanien, Italien…
Die Regierungen zeigen sich nicht nur unfähig dazu, ihre eigene Wirtschaft zu bändigen: sie sind genauso wenig in der Lage und außerdem sichtlich uninteressiert daran, den Bevölkerungen besonders notleidender Gebiete, wirksam Hilfe zu leisten – z.B. gegenüber dem Ausbruch der Cholera in Haiti oder gegenüber der Obdachlosigkeit Millionen Obdachloser in Pakistan angesichts des bevorstehenden Winters.
Die Meldungen über bevorstehende Terroranschläge in den großen Industriezentren Europas (als Folge des unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Terror geführten Kriegs in Afghanistan und im Irak), die in der Bevölkerung Angst auslösen und den Ruf nach dem Staat erschallen lassen sollen, erfolgt just zu einem Zeitpunkt, wo der Staat brutaler als je die Sparbeschlüsse durchpeitschen will.
Neben der unmittelbaren Wut über die Auswirkungen der Sparbeschlüsse entwickeln immer mehr lohnabhängige Menschen ein Gespür dafür, dass dieses System in einer Sackgasse steckt und die Menschheit in den Abgrund reißt. Dem Kampf des jeder gegen jeden freien Lauf lassen oder kollektiver, klassenmäßiger Widerstand dagegen, woraus die Perspektive einer solidarischen Gesellschaft entstehen könnte: So lautet die Frage. Welche Lehren in dieser Hinsicht die jüngste Bewegung in Frankreich bietet, haben wir als Schwerpunkt dieser Zeitung gewählt. (21.11.2010)
Wie den Kampf in die eigenen Hände nehmen?
Die Bewegung gegen die Rentenreform dauert nun schon acht Monate. Der erste Aktionstag fand am 23. März statt, damals beteiligten sich 800.000 Menschen, die Atmosphäre war eher schlaff und ein wenig hoffnungslos. Aber seitdem hat der Kampf an Stärke gewonnen. Mehr und mehr Beschäftigte, Arbeitslose, Prekäre, ganze Arbeiterfamilien, Gymnasiasten und Studenten haben sich schrittweise der Bewegung angeschlossen. Zeitweise kamen regelmäßig mehr als drei Millionen auf der Straße zusammen!
In Wirklichkeit ist diese Reform zum Symbol der allgemeinen und brutalen Verschlechterung unserer Lebensbedingungen geworden. Die Jugendlichen stehen wie vor einer Mauer: im öffentlichen Dienst werden fast keine Leute mehr eingestellt; in der Privatindustrie gibt es kaum Stellen, und wenn dann nur zu sehr prekären, unhaltbaren Bedingungen. Eingefrorene Löhne, Preissteigerungen, insbesondere Mieterhöhungen, drastische Kürzungen bei der Erstattung von medizinischen Leistungen und der Sozialhilfe, Kürzungen bei Beschäftigungsgesellschaften usw… all diese unzähligen Angriffe treiben uns alle langsam aber sicher in die Armut.
In dieser Lage war es lange bei vielen die Vorstellung, nach Jahren Plackerei und Lohnsklaverei bald eine „wohlverdiente Rente“ zu bekommen, die einen hoffen und durchhalten ließ. Es war das Licht am Ende des Tunnels. In den 1950er und 1960er Jahren konnten noch viele Beschäftigte von diesem relativen „Eldorado“ profitieren. Aber seit 20 Jahren sinken die Renten unaufhörlich. Mittlerweile sind sie auf ein miserables Niveau gefallen; viele Rentner sind gezwungen, noch irgendwelche kleine Jobs anzunehmen. Und jeder weiß, dass diese Reform diese dramatische Lage noch weiter zuspitzen wird. Wie viele Demonstranten rufen, ist die einzige Zukunft, die uns das Kapital bieten kann: „Métro, boulot, caveau“ („Zur Arbeit pendeln, schuften, verrecken“).
Die Weltwirtschaftskrise treibt heute die ganze Menschheit in eine Spirale der Verarmung. Die Lage spitzt sich immer weiter zu. Sieben Monate Kämpfe … immer wieder Aktionstage, ganze Wirtschaftsbereiche haben wiederholt gestreikt, ganze Standorte wurden von entschlossenen und kämpferischen Beschäftigten lahmgelegt, die zudem noch mit der staatlichen Repression konfrontiert wurden. „Die Jugend steckt in einer Galeere, die Alten in der Misere“. Kein Zweifel, die Wut ist riesig und in der ganzen Arbeiterklasse zu spüren!
Und dennoch die Regierung zieht ihre Rentenreform nicht zurück. Selbst zu Millionen auf die Straße zu ziehen, reicht nicht. Jeder spürt, dass irgendetwas dieser Bewegung fehlt. Was fehlt ist, dass die Arbeiter die Bewegung in die eigenen Hände nehmen. Wenn wir nur wie Schafe den gewerkschaftlichen Anordnung folgen, werden wir wie 2003 und 2007 eine Niederlage einstecken. Das Misstrauen gegenüber den Gewerkschaften wird unter den Arbeitern immer größer. Aber bislang hat nur eine Minderheit gewagt, diesen Schritt zu vollziehen, hat es gewagt, sich selbst in unabhängigen Vollversammlungen zu organisieren, die nicht von den Gewerkschaften kontrolliert werden. So weit wir wissen, gibt es heute ein gutes Dutzend branchenübergreifende Vollversammlungen dieser Art in Frankreich. Zum Beispiel kommen regelmäßig Eisenbahner, Lehrer, Arbeitslose und prekär Beschäftigte in der Bahnhofshalle des Pariser Ostbahnhofs zusammen. Straßenversammlungen werden regelmäßig in Toulouse vor den Arbeitsbörsen abgehalten und am Ende von Demonstrationen. Aber sie werden bislang nur von Minderheiten getragen.
Die Arbeiterklasse muss ihr Selbstvertrauen in ihre Fähigkeit zu kämpfen und sich kollektiv als Klasse zu organisieren, entwickeln. Wie? Wie können die Arbeiter ihre Kämpfe in die eigene Hand nehmen? Wir versuchen darauf in den nachfolgenden Artikeln einzugehen, weil diese Frage wesentlich und ausschlaggebend ist für den weiteren Verlauf der Kämpfe. IKS 22.10.2010
20% der Tankstellen ohne Benzin. Endlos lange Schlagen. Überall Schlagzeilen in den Medien wegen der wirtschaftlichen Lähmung des Landes. Kämpferische und entschlossene Arbeiter. Und ein Präsident der Republik, der mit der Faust auf den Tisch schlägt, die „Diebe“ mit den schlimmsten Repressalien bedroht. Diese Szenen sind überall in den Medien zu sehen und werden weltweit verbreitet.
Die Beschäftigten, die vor den Raffinerien ausharren, tun dies im Namen der Arbeitersolidarität. Wenn sie den Mut haben, sich der wütenden Polizeirepression und den Strafen ihrer Arbeitgeber auszusetzen (z.B. Grandpuits, in der Pariser Region, der gedroht hat, den Standort dicht zu machen und alle zu entlassen), tun sie dies, weil sie sich dessen bewusst sind, dass sie für eine gerechte Sache kämpfen, die weit über ihr sie hinausgeht: Die Rentenreform, die uns alle betrifft, und die miserablen Renten, die sich daraus ergeben. Sie kämpfen für die Interessen der gesamten Klasse.
Die Lähmung des Verkehrs, welche durch die Blockade entstanden ist, offenbart auch, dass die Arbeiterklasse die Kraft ist, von der alle Räder in dieser Welt abhängen. Die Arbeiter produzieren alle Reichtümer. Die Kapitalisten sind letzten Endes nur Parasiten, die auf unsere Kosten leben und sich die Erzeugnisse unserer Arbeit aneignen. Es reicht aus, dass ein strategischer Bereich wie die Raffinerien nicht mehr normal funktioniert, und schon gerät die ganze Wirtschaft aus den Fugen.
Aber diese Waffe ist ein zweischneidiges Schwert.
Die Blockade der Raffinerien verfolgt das erklärte Ziel der Lähmung der Wirtschaft, um Druck auf das Kapital auszuüben. Es stimmt, dass den Kapitalisten nichts wichtiger ist als der Profit. Aber wer wird am meisten durch die Benzinknappheit getroffen? Wer ist wirtschaftlich am härtesten getroffen? Das Kapital oder die Arbeiter? Konkret sind die größten Betriebe des Landes (Carrefour, L’Oréal, BNP Paribas, Société Générale, Danone usw.) nicht in Gefahr. Sie sitzen relativ fest im Sattel und können auf die Unterstützung des Staates bauen (auch auf finanzielle Hilfe). Aber die Arbeiter leiden tag- täglich unter den Schwierigkeiten, Benzin zu tanken und zur Arbeit zu fahren. Sie leiden unter den Strafen der Arbeitgeber oder den Sanktionen durch ihre Vorgesetzten, weil man zu spät zur Arbeit kommt. Und die Beschäftigten, die seit Wochen immer wieder gestreikt haben, müssen sich jetzt den Gürtel enger schnallen wegen der dadurch entstandenen Lohnverluste.
„Die Wirtschaft lahmzulegen, um Druck auf das Kapital auszuüben“, ist übrigens ein Mythos, der aus dem 19. Jahrhundert stammt. Vor mehr als einem Jahrhundert konnten die Beschäftigten ihre Betriebe lahmlegen und somit ihre Arbeitgeber zum Nachgeben zwingen. Einerseits ermöglichten die Solidaritätskassen, den Arbeitern „durchzuhalten“, andererseits musste der bestreikte Unternehmer mit ansehen, wie seine Konkurrenten die Lage ausnutzten und ihm Kunden webschnappten. Es gab ernste Gefahren, bankrott zu gehen, und oft konnten die Arbeiter einen Sieg davontragen. Heute sind die Verhältnisse aber ganz anders. Es mag zwar noch Solidaritätskassen geben; so gibt es welche für die „Blockierer“ der Raffinerien. Aber die Arbeitgeber fallen sich in einem Arbeitskampf nicht mehr gegenseitig in den Rücken; im Gegenteil sie unterstützen sich gegenseitig. Sie verfügen gar über schwarze Kassen, um mit solch einer Lage umzugehen. Somit treten die Beschäftigten der Raffinerien nicht nur „ihrem“ Arbeitgeber gegenüber, sondern dem Kapital insgesamt, und vor allem der geballten Staatsmacht. Das Kräfteverhältnis auf rein ökonomischer Ebene besteht nicht mehr zugunsten der Streikenden. Aber das ist nicht die einzige Falle.
Streiks, über deren jeweilige Fortsetzung immer von neuem entschieden wird, sind heute noch nicht sehr verbreitet. Nur in einigen Bereichen wird zurzeit ununterbrochen gekämpft: im Verkehrswesen (vor allem bei der SNCF), den Häfen und der Müllabfuhr in Marseille und den Raffinerien. Weil sie isoliert sind, laufen diese Beschäftigen Gefahr, sich zu erschöpfen, im Falle einer Niederlage entmutigt und gewaltsam bestraft zu werden. Deshalb sind ja auch so viele Arbeiter zu den blockierten Raffinerien gekommen, um vor Ort ihre Solidarität durch ihre Anwesenheit zu bekunden.
Aber es gibt ein noch größeres Risiko, nämlich dass diese Bewegung „unpopulär“ wird. Im Augenblick unterstützt noch der größte Teil der Arbeiterklasse und der Bevölkerung insgesamt diesen Kampf gegen die Rentenreform. Seit dem ersten Aktionstag am 23. März haben sich immer mehr Lohnabhängige der Bewegung angeschlossen (selbst kleine Händler, Freiberufler, Handwerker und Bauern). Ihre Stärke besteht gerade darin, dass immer mehr Bereiche sich dem Kampf anschließen. Den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes haben sich Schritt für Schritt die der Privatindustrie, ganze Arbeiterfamilien (insbesondere während der Samstagsdemos), prekär Beschäftigte, Arbeitslose, dann Gymnasiasten und Studenten angeschlossen… Der Kampf gegen die Rentenreform ist für alle eine Kampf gegen die Verschlechterung unserer Lebensbedingungen und gegen die Verarmung geworden.
Aber weil die Blockade des Verkehrswesens schlussendlich in erster Linie diejenigen trifft, die sich am Kampf beteiligen, besteht die Gefahr der Spaltung und dass diese Dynamik gebrochen und ein Hindernis wird für die notwendige massive Ausdehnung der Kämpfe. Bislang unterstützen viele Arbeiter diese Blockadeaktionen, aber im Laufe der Zeit kann sich das Blatt wenden.
Übrigens würde die vollständige Lähmung des Transportwesens ein Zusammenkommen bei den Demonstrationen unmöglich machen. Eine große Erleichterung für das Zusammenkommen wäre es vielmehr, wenn man kostenlos mit der Bahn reisen könnte, wäre das keine wirksamere Vorgehensweise zur Stärkung der Bewegung?
Soll das damit heißen, wir würden sagen, Blockaden und Besetzungen wären keine nützlichen Kampfmittel? Natürlich nicht! Es geht nur darum, dass diese Aktionen nicht als vorrangiges Ziel haben können, ökonomisch zu punkten, sondern sie müssen ein politisches Kräfteverhältnis aufzubauen.
Jegliches Handeln sollte bestimmt sein durch das Bemühen, den Kampf auszudehnen. Unsere Stärke ist unsere massive Einheit und unsere Solidarität im Kampf.
Zum Beispiel fingen die Streiks an den Unis während der Bewegung gegen den CPE im Frühjahr 2006 durch Blockaden an. Mit Hilfe der Blockaden gelang es den bewusstesten und kämpferischsten Studenten, eine große Zahl von Kommilitonen/Innen für die Vollversammlungen zu mobilisieren, wo ein beträchtlicher Teil der Studenten, die nicht die Bedeutung der Angriffe der Regierung oder die Notwendigkeit eines Abwehrkampfes dagegen verstanden hatte, durch die Debatte und den darin vorgebrachten Argumenten überzeugt wurde.
Die Blockade und die Besetzung eines Industriestandortes, einer schulischen Einrichtung oder einer Verwaltung kann auch dieses massive Zusammenkommen in Vollversammlungen, diese Debatten ermöglichen, wo die am meisten Zögernden überzeugt werden und sich dem Kampf anschließen. Einzig diese Dynamik der Ausdehnung jagt den Herrschenden wirklich Angst ein. Und schlussendlich, welche Rolle auch immer eine Fabrikbesetzung oder eine Blockade zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem Streik spielen mag, auf den Straßen können die Beschäftigten, Rentner, Arbeitslosen, Arbeiterfamilien usw. am leichtesten massiv zusammenkommen. IKS, 22.10.2010
„Wir sind zu Millionen auf die Straße gezogen und haben an den vergangenen Aktionstagen gestreikt. Die Regierung gibt immer noch nicht nach. Nur eine Massenbewegung wird sie dazu zwingen. Diese Idee kommt immer mehr in Diskussionen um einen unbegrenzten, jeweils erneuerbaren Generalstreik und der Blockierung der Wirtschaft auf. (…) Die Gestalt, die diese Bewegung annehmen wird, hängt von uns ab. (…) Wir müssen über die Aktionsformen, Forderungen usw. selbst entscheiden. Niemand anders darf uns dies abnehmen.
Wenn wir die Chérèque (CFDT), Thibault (CGT) & Co. An unserer Stelle entscheiden lassen, stehen nur neue Niederlagen bevor. Chérèque ist für die Regelung, dass 42 Beitragsjahre gezahlt werden müssen [was dem Vorhaben der Regierung entspricht]. Thibault verlangt nicht die Rücknahme des Gesetzentwurfes. Wir haben auch nicht vergessen, dass er 2009 mit Sarkozy Champagner trank, während Tausende von uns entlassen wurden und wir alleine, isoliert voneinander kämpfen mussten. Wir haben auch kein Vertrauen mehr in die angeblich „Radikalen“. Die Radikalität Mailly (FO/Gewerkschaft) besteht darin, der PS-Vorsitzenden Aubry die Hand zu schütteln, während die PS selbst für die 42-Beitragsjahre stimmt. (…)
Wenn sie heute die Idee eines erneuerbaren Streiks propagieren, dann wollen sie vor allem vermeiden, dass sie von der Bewegung überrollt werden. Deren Kontrolle über unsere Kämpfe gilt für sie als Faustpfand, um zum Verhandlungstisch zugelassen zu werden. Warum? In einem Brief von sieben Gewerkschaftsorganisationen der CFTC an Sud-Solidaires, schrieben diese: „Um den Standpunkt der Gewerkschaftsorganisationen bekannt zu machen mit dem Ziel, eine Gesamtheit von gerechten und wirksamen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des bisherigen Rentensystems sicherzustellen“. Soll man wirklich glauben, dass es eine gemeinsame Basis mit den Leuten geben kann, die seit 1993 unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen systematisch untergraben haben?
Die einzige wirkliche Einheit, die diese Regierung und die herrschende Klasse zurückdrängen kann, besteht in dem Zusammenschluss der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und der Privatindustrie, von Beschäftigten und Arbeitslosen, Rentnern und Jugendlichen, legal und illegal Beschäftigten, Gewerkschaftsmitgliedern und Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern, an der Basis in den Betrieben in den gemeinsamen Vollversammlungen und indem wir den Kampf in die eigene Hand nehmen.“
Dies ist ein Auszug aus einem Flugblatt, das bei den Demonstrationen in Paris massenhaft verbreitet und unterzeichnet wurde von „Arbeitern und prekär Beschäftigten der branchenübergreifenden Vollversammlung des Ostbahnhofs“.
Zahlreiche andere Texte mit der gleichen Stoßrichtung und einem ähnlichen Ton sind von anderen branchenübergreifenden Zusammenschlüssen, Kampfkomitees, Diskussionsgruppen oder kleinen politischen Organisationen verfasst worden, die ihr wachsendes Misstrauen gegenüber dem Gewerkschaftsbündnis geäußert haben und dieses beschuldigen, uns absichtlich in die Niederlage zu führen. Alle ermuntern die Arbeiter, den Kampf in die eigenen Hände zu nehmen.
Das nachfolgende Flugblatt wurde am Montag, den 15. November, auf einer Versammlung am Londoner Kings College verteilt, die dort vom linken Flügel des Gewerkschaftsapparates (Education Activists Network) abgehalten wurde. Wir würden uns über Kommentare, Kritiken und vor allem Angebote zum Weiterverteilen oder Verbesserungsvorschläge zur Aktualisierung auf dem Hintergrund des bevorstehenden Aktionstages nächste Woche freuen. Ein Genosse der Sektion der IKS in Toulouse, Frankreich, die sich aktiv an der Bewegung in Frankreich zur Bildung von Kampfkomitees und Vollversammlungen beteiligt hat, konnte auf diesem Treffen das Wort ergreifen, und trotz eines heftigen Angriffs gegen die Taktik der französischen Gewerkschaften wurde sein Redebeitrag applaudiert. Wir werden mehr Informationen über dieses Treffen zusammentragen und veröffentlichen.
Lange erschien es, dass die Arbeiterklasse in Großbritannien durch die Brutalität der Angriffe, welche die neue Regierung eingefädelt hat, zum Schweigen verdammt sei: Behinderte werden zu Aufnahme einer Arbeit, Arbeitslose zum kostenlosen Arbeiten gezwungen, das Pensionsalter wird angehoben, drastische Einschnitte erfolgen im Bildungswesen, Hunderttausende Stellen im öffentlichen Dienst gestrichen, Verdreifachung der Immatrikulationsgebühren und Streichung von Ausbildungsförderungsleistung für die 16-18 Jahre alten Schüler. Die Liste ist endlos lange. Die jüngsten Arbeiterkämpfe – British Airways, U-Bahn, Feuerwehrleute – sind alle total isoliert voneinander abgelaufen.
Aber wir sind eine internationale Klasse und die Krise dieses Systems ist auch international. In Griechenland, Spanien und jüngst in Frankreich haben die Arbeiter sich massiv gegen die neuen Sparprogramme zur Wehr gesetzt. In Frankreich bündelte die Reaktion gegen die „Rentenreform“ die wachsende Unzufriedenheit mit der Gesellschaft, insbesondere in der Jugend.
Die riesige Demonstration in London am 10. November brachte aber zum Vorschein, dass das gleiche Potenzial zum Widerstand heute im Vereinigten Königreich vorhanden ist. Die Teilnehmerzahl, die Beteiligung sowohl von Studenten als auch von Beschäftigten des Erziehungswesens, die Weigerung, eine zahme Demonstration von A nach B durchzuführen – all das bringt ein weitverbreitetes Gefühl zum Ausdruck, dass wir uns nicht der Logik der staatlichen Angriffe gegen unsere Lebensbedingungen unterwerfen sollen. Die zeitweise Besetzung der Tory-Zentrale war nicht das Machwerk irgendeiner Verschwörung einer Handvoll Anarchisten sondern das Ergebnis einer viel stärker verbreiteten Wut, und die Mehrheit der Studenten und die Demonstration unterstützenden Beschäftigten weigerten sich, diese Aktion zu verurteilen, wie es die Führung der NUS-Gewerkschaft und die Medien taten.
Viele meinten, diese Demonstration sei erst der Auftakt. Ein zweiter Aktions- und Demonstrationstag ist schon für den 24. November geplant. Bislang sind solche Aktionen von den „offiziellen“ Organisationen wie die NUS veranstaltet worden, die aber schon unter Beweis gestellt haben, dass sie Teil der bestehenden Ordnung sind. Aber das ist kein Grund, sich nicht massiv an den Demonstrationen zu beteiligen. Im Gegenteil, in Scharen zusammenzukommen, ist die beste Grundlage für die Schaffung neuer Organisationsformen, die den wirklichen Bedürfnissen des Kampfes Rechnung tragen können.
Was können wir vor solchen Aktionstagen oder Demonstrationen unternehmen? Wir müssen Vollversammlungen und Treffen in den Universitäten und Schulen einberufen, die allen Studenten, Schülern und Beschäftigten offenstehen, um für Unterstützung der Demonstrationen zu werben und deren Ziele zu diskutieren.
Die Initiative einiger Leute, “einen Block radikaler Studenten und Arbeiter“ auf den Demonstrationen zu bilden, muss unterstützt werden, aber wenn immer möglich, sollte man sich vorher treffen, um genau zu diskutieren, wie man seine Unabhängigkeit von den offiziellen Organisatoren zum Ausdruck bringt.
Wir müssen aus der jüngsten Erfahrung in Griechenland lernen, als Besetzungen (auch die des Gebäudes der Gewerkschaftszentrale) dazu benutzt wurden, einen Raum zu schaffen, wo Vollversammlungen abgehalten werden konnten. Und was zeigt uns die Erfahrung in Frankreich? Es gab eine bedeutsame Minderheit von Studenten und Arbeitern in vielen Städten, die Versammlungen auf der Straße abhielten, welche nicht nur am Ende der Demos stattfanden, sondern regelmäßig, solange die Bewegung sich weiter aufwärts entwickelte.
Wir müssen uns auch dessen bewusst sein, dass die Ordnungskräfte in der Zukunft nicht mit „Samthandschuhen“ wie am 10. November vorgehen werden. Sie werden bestens ausgerüstet sein und versuchen, uns in verfrühte Zusammenstöße mit ihnen zu locken, damit sie einen Vorwand haben, ihre ganze martialische Stärke zur Schau zu stellen – so wie das eine bekannte Taktik in Frankreich war. Die Organisierung unserer Selbstverteidigung und Solidarität gegen die Kräfte der Repression muss aus den gemeinsamen Diskussionen und Entscheidungen hervorgehen.
Der Kampf spielt sich nicht nur im Bildungswesen ab. Die ganze Arbeiterklasse wird angegriffen und der Widerstand muss bewusst ausgedehnt werden sowohl auf den öffentlichen Dienst wie auch die Privatwirtschaft. Den Kampf zu kontrollieren ist der einzige Weg ihn auszudehnen.
Internationale Kommunistische Strömung 15.11.10
Ende 2009 begann in der Türkei ein Arbeitskampf, der weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt geworden ist - nicht zuletzt deshalb, weil eine Delegation der Streikenden sich im Juni und Juli 2010 auf eine Reise nach Westeuropa begeben hat, um hier über die Erfahrungen zu berichten und mit anderen Interessierten gemeinsam Lehren daraus zu ziehen.
Kurze Rückblende: Mehrere Tausend Arbeiter und Arbeiterinnen des ehemals staatlichen Tabak- und Spirituosenunternehmens TEKEL protestierten gegen dessen Privatisierung und die damit verbundenen Angriffe, namentlich gegen Lohnkürzungen und Entlassungen. Die betroffenen ArbeiterInnen versammelten sich zum Protest in der Hauptstadt Ankara, erhielten viel Sympathie und Solidarität von der dort lebenden Bevölkerung und suchten Unterstützung bei weiteren Teilen der Arbeiterklasse, insbesondere in anderen Betrieben im ganzen Land, in denen ebenfalls gekämpft wurde. Die TEKEL-ArbeiterInnen stießen bei ihrem Protest und den Versuchen, den Kampf auszuweiten, auf den Widerstand der Gewerkschaften, die sich als Teil des staatlichen Apparates entlarvten. Sie gründeten zusammen mit streikenden ArbeiterInnen anderer Staatsbetriebe (u.a. Hafen- und Bauarbeiter, Feuerwehrleute) in Istanbul eine Plattform der kämpfenden Arbeiter. Am 1. Mai besetzten sie bei der Maikundgebung von 350.000 Menschen auf dem Taksim-Platz in Istanbul die Bühne und verlasen eine Erklärung gegen die Komplizenschaft der Gewerkschaften mit dem Staat. Die Gewerkschaftsführer flüchteten von der Bühne und hetzten die Polizei auf die ArbeiterInnen. Trotz dieser Unterstützung, die der TEKEL-Kampf erfuhr, war er insofern erfolglos, als die Privatisierung und die Angriffe nicht rückgängig gemacht werden konnten.
Aber die Kämpfenden beschlossen, dass sie ihre Erfahrung den ArbeiterInnen nicht nur in der Türkei, sondern über die Landesgrenzen hinaus vermitteln sollten. Schon während des Kampfes waren Verbindungen zu politisierten Leuten in anderen Ländern geknüpft worden. Insbesondere in Deutschland, wo die Zahl emigrierter ArbeiterInnen aus der Türkei am größten ist, war der Kampf mit viel Anteilnahme verfolgt worden. So kam mit der Unterstützung von verschiedenen Gruppen aus dem anarchistischen und linkskommunistischen Umfeld eine Tournee durch Deutschland und die Schweiz zustande. Eine Delegation der TEKEL-Arbeiter besuchte insgesamt 10 Städte in Deutschland und der Schweiz, in denen vor unterschiedlichem Publikum Informations- und Diskussionsveranstaltungen durchgeführt wurden, über die wir hier berichten möchten.
Die Stationen der Rundreise zwischen Mitte Juni und Anfang Juli 2010 waren Hannover, Berlin, Braunschweig, Hamburg, Duisburg, Köln, Dortmund, Frankfurt, Nürnberg und Zürich. Vor allem die IKS hat die Reise nach Europa ermöglicht. Organisiert waren die meisten Treffen von der Freien ArbeiterInnen Union (FAU), in Berlin vom Sozialrevolutionären Diskussionszirkel und die Versammlung in Zürich von der Gruppe Karakök Autonome. Mit gemeinsamen Kräften riefen diese und auch noch weitere Gruppen zu den Veranstaltungen auf. Die Zahl der TeilnehmerInnen bewegte sich zwischen 10 und etwa 40, wobei berücksichtigt werden muss, dass gleichzeitig die Fussball-Weltmeisterschaft in Südafrika stattfand und die Spiele oft zu der Zeit übertragen wurden, wo die Veranstaltungen stattfanden. Das Publikum war überwiegend jung, aber keineswegs ausschließlich; gerade in den Städten, wo viele türkische und kurdische ArbeiterInnen teilnahmen, war auch die Generation der Eltern der 20- bis 30-jährigen anwesend.
Ein Arbeiter von TEKEL hielt ein Einführungsreferat, das auf die Geschichte des Kampfes zwischen Dezember 2009 und Mai 2010 einging. Lebendig vermittelte er die Erfahrung der Kämpfenden, wie sie vergeblich versuchten, die Gewerkschaften dazu zu bewegen, einen Generalstreik der staatlich Beschäftigten auszurufen, von der kurzfristigen Besetzung der Gewerkschaftszentrale Türk-Is in Ankara, wie die Polizei die Gewerkschaft schützte, vom Zeltlager in Ankara und der Solidarität der lokalen Bevölkerung. Er berichtete, wie im Kampf der TEKEL-ArbeiterInnen die Spaltungen zwischen KurdInnen und TürkInnen oder Männern und Frauen oder WählerInnen dieser oder jener Partei überwunden wurden. So hatte zwar die Polizei die Busse der 8'000 ArbeiterInnen vor den Toren Ankaras gestoppt und erklärt, dass sie nur diejenigen in die Stadt lassen würde, die nicht aus kurdischen TEKEL-Werken stammen würden; darauf stiegen aber alle Streikenden gemeinsam aus den Bussen und marschierten zu Fuß an der verdutzten Polizei vorbei den weiten Weg ins Stadtzentrum. Eine Aufspaltung in kurdische und türkische ArbeiterInnen kam für sie nicht in Frage.
Die Diskussionen nach dem Referat drückten ein lebhaftes Interesse der Anwesenden am Kampf in der Türkei aus. Die Stimmung war brüderlich, solidarisch, mitfühlend - auch Tränen flossen. Die meisten der Teilnehmenden identifizierten sich mit den Zielen der TEKEL-ArbeiterInnen. Diejenigen, die noch nicht viel über den Kampf wussten, stellten konkrete Fragen, die erkennen ließen, dass man auch hier in Deutschland oder der Schweiz sich mit Kämpfen beschäftigt.
Gerade die Einheit der Arbeiter und Arbeiterinnen über die verschiedenen sichtbaren oder unsichtbaren Grenzen hinaus wurde in fast allen Diskussionen als wichtiges Anliegen unterstrichen. Der türkische Staat versuchte, die Kämpfenden zu spalten; diese aber ließen solche Pläne ins Leere laufen und suchten die größtmögliche Solidarität in anderen Teilen der Klasse. Nur so kann ein Gefühl der Stärke entstehen, aber auch ein reales Kräfteverhältnis zu unseren Gunsten geschaffen werden. Der Kampf in der Türkei hat zwar die gesteckten Ziele nicht erreicht, doch der eingeschlagene Weg war der richtige. Gerade in einem Land, in dem seit Jahrzehnten von allen möglichen Gruppierungen und dem Staat der türkische und kurdische (oder auch der armenische) Nationalismus geschürt werden, ist eine solche Entwicklung hin zur Einheit bemerkenswert.
Für viele stand die Gewerkschaftsfrage im Zentrum des Interesses. Auf der Ebene der unmittelbar gemachten Erfahrungen war man sich einig: Die Türk-Is verrichtete in diesem Kampf eine ähnliche Aufgabe, wie sie von den bestehenden Gewerkschaften auch in anderen Ländern sattsam bekannt ist. Sie versuchen die Arbeiter passiv zu halten, mobilisieren höchstens unter dem Druck der kämpfenden ArbeiterInnen und auch dies möglichst so, dass die Energie der Kämpfenden ohne Resultate verpufft. Gleichzeitig im Frühjahr fanden ja die Kämpfe in Griechenland statt, wo die großen Gewerkschaftsverbände eine ähnliche Rolle spielten und sich im Zweifelsfall immer als Verteidiger der herrschenden Ordnung und des Staates herausstellten. Auch in Deutschland und der Schweiz kennt man die Gewerkschaften in dieser Rolle. Das Publikum war beeindruckt davon, wie sich die TEKEL-ArbeiterInnen und diejenigen, die sich ihrem Kampf anschlossen, den Gewerkschaften entgegen stellten und sie offen bekämpften.
Aber hätte man nicht eine "eigene" Gewerkschaft haben sollen? Ist der Kampf bei TEKEL nicht daran gescheitert? Bei fast allen Diskussionen, die von der FAU organisiert worden waren, wurde die Frage aufgeworfen, ob man nicht neue, "revolutionäre" oder "anarchistische" Gewerkschaften gründen sollte. In einigen Städten wie z.B. in Duisburg wurde von Genoss/Innen aus dem Umkreis der FAU die Tatsache thematisiert, dass es sich bei TEKEL weniger um eine Streikbewegung als um einen Demonstrations- und Protestkampf handelte. Läge dieser Tatbestand nicht daran, dass es an einer proletarischen Gewerkschaft fehlte? Der TEKEL-Arbeiter, der das Einführungsreferat hielt, teilte diese Auffassung nicht. Er argumentierte anhand seiner Erfahrung, dass die Gewerkschaften aufgrund ihrer Rolle sich letztlich immer auf die Seite des Staates stellen werden, selbst wenn kämpfende Arbeiter oder Revolutionäre sie gründen und zunächst für die unmittelbaren Zwecke des Kampfes benützen können. Was haben wir für andere Möglichkeiten? Wie sollen wir uns im Kampf organisieren? - Die Antwort des TEKEL-Arbeiters war: in Kampf- oder Streikkomitees. Solange ein Kampf anhält, sollen sich die ArbeiterInnen selbständig mit jederzeit abwählbaren Delegierten organisieren. Die Vollversammlung wählt ein Kampfkomitee, das gegenüber der Vollversammlung rechenschaftspflichtig ist. Jede ständige Repräsentation umgekehrt, die unabhängig ist von der Mobilisierung der Kämpfenden, ist dazu verurteilt, zu einer "normalen", bürokratischen Gewerkschaft zu werden. Diese Diskussion wurde nicht überall in der gleichen Deutlichkeit und Tiefe geführt, aber beispielsweise in Braunschweig stellten sich die Alternativen auf diese Weise, und ein Großteil der Anwesenden schien recht überzeugt von der Auffassung der Genossen aus der Türkei, d.h. eine Mehrheit neigte dazu, die Möglichkeit der Gründung "revolutionärer" Gewerkschaften abzulehnen. Diese Diskussion über die Gewerkschaftsfrage, von der konkreten Erfahrung des TEKEL-Kampfes ausgehend, scheint uns umso wichtiger und aktueller zu sein, da wir wissen, dass innerhalb des anarcho-syndikalistischen Milieus in Deutschland derzeit teilweise kontrovers darüber diskutiert wird, ob man wie zuletzt von Seiten des Berliner Syndikats der FAU geschehen, um die Anerkennung des Staates als offizielle Gewerkschaft ringen darf (in Berlin geschah dies sogar vor dem bürgerlichen Gericht)? Nicht nur aus marxistisch linkskommunistischer Sicht, sondern auch noch vom Standpunkt des Anarcho-Syndikalismus erscheint dies als Widerspruch in sich.
Eine andere Frage, die an verschiedenen Orten aufgeworfen wurde, war diejenige der Fabrikbesetzung. Weshalb habt ihr nicht die Fabriken besetzt? Warum habt ihr nicht den Betrieb selber übernommen und ohne Chefs weiterproduziert? - Diese Fragen wurden auf dem Hintergrund von gewissen Kämpfen der letzten Jahre in Deutschland, Italien und der Schweiz gestellt, bei denen die Belegschaften vor Betriebsschließungen standen. Bei TEKEL verhielt es sich aber anders, da ja die Fabriken zum Teil nicht geschlossen, sondern privatisiert wurden. Die Produktion wurde in solchen Fällen also unter anderen Chefs weitergeführt. Trotzdem unterstrich der Delegierte der TEKEL-ArbeiterInnen, dass die Stärke des Kampfes gerade darin bestand, dass man sich nicht auf die einzelnen im Land verstreuten TEKEL-Betriebe zurückzog, sondern gemeinsam in Ankara zusammenkam. Nur so mit Tausenden von versammelten ArbeiterInnen konnte das Gefühl der Stärke entstehen, das für diesen Kampf (auch wenn er nicht mit einem materiellen Sieg endete) charakteristisch war.
Stehen wir nach dieser Veranstaltungsreihe am gleichen Ort wie vorher? - Wir meinen, in verschiedener Hinsicht Veränderungen festzustellen, die wir hier - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - benennen möchten.
Zunächst einmal verdient die Tatsache erwähnt zu werden, dass für die Rundreise verschiedene Gruppen zum ersten Mal öffentlich zusammengearbeitet haben, insbesondere die anarchosyndikalistische FAU und die linkskommunistische IKS. In unserer Tradition ist die Zusammenarbeit mit internationalistischen Anarchisten zwar schon lange verwurzelt , aber sie ist hier bei einer Gelegenheit neu konkretisiert worden, die für uns nicht zufällig ist. Die hier gemeinsam geleistete Arbeit ist ein Zeichen dafür, dass das Bedürfnis nach Einheit auf proletarischer Grundlage erwacht, ein Bedürfnis in der Arbeiterklasse nach Überwindung eines gewissen Gruppenegoismus. Wir haben uns zwar schon vorher gegenseitig zur Kenntnis genommen und auch bei gewissen Gelegenheiten zusammen diskutiert. Aber eine Zusammenarbeit, wie sie hier im Frühsommer aus konkretem Anlass entstand, ist etwas Neues.
Die Suche nach Einheit in der Arbeiterklasse, nach Überwindung der Spaltungen lag ja von Anfang an der Initiative für die TEKEL-Rundreise zugrunde. Diese Reise hatte den Zweck, die Erfahrungen und Lehren eines Kampfes weit über die lokalen oder nationalen Verhältnisse hinauszutragen. Dabei stand die internationale Dimension im Zentrum. Es ging nicht darum, eine türkische Besonderheit als etwas Exotisches in die Welt hinauszutragen, sondern darum nach Gemeinsamkeiten im internationalen Maßstab zu suchen und darüber zu diskutieren. Dabei hat sich herausgestellt, dass die Erfahrungen der TEKEL-ArbeiterInnen mit den Gewerkschaften und ihre Reaktionen darauf nicht etwas Isoliertes gewesen sind, sondern eine Tendenz angekündigt haben, die seither immer wieder zum Ausdruck kommt. Während den Kämpfen im Frühjahr in Griechenland stießen die ArbeiterInnen ebenfalls auf die Gewerkschaften und begannen, sich gegen sie zur Wehr zu setzen. In Frankreich bei den Mobilisierungen gegen die Rentenreform schlossen sich in verschiedenen Städten vor allem Junge zusammen, die zu Vollversammlungen nach den Demos aufriefen, wo gemeinsam darüber diskutiert wurde: Wie können wir unabhängig von den Gewerkschaften kämpfen? Wie können wir die Grenzen in der Arbeiterklasse zwischen den verschiedenen Berufssparten, zwischen Pensionierten und noch Erwerbstätigen, zwischen Arbeitslosen und denjenigen, die noch eine Stelle haben, zwischen fest und prekär Angestellten etc. überwinden? Wofür kämpfen wir? Wie kommen wir dem Ziel einer klassenlosen Gesellschaft näher?
In Italien gab es im Juni und Oktober dieses Jahres zwei Versammlungen von kämpferischen ArbeiterInnen aus ganz Italien in Mailand, so genannte Autoconvocazioni. Daran nahmen gut 100 Leute teil und diskutierten ganz ähnliche Fragen: Wie können die Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse überwunden werden? Wie gegen die Sabotage der Gewerkschaften kämpfen? Wie dieses krisengeschüttelte kapitalistische System überwinden?
Türkei, Griechenland, Frankreich, Italien - vier Beispiele, die zeigen, dass die Arbeiterklasse in Europa seit dem Frühjahr 2010 beginnt, die Schockstarre nach der Finanzkrise von 2008 zu überwinden. Die Klasse insgesamt traut sich noch nicht, den Kampf selber in die Hand zu nehmen, aber Minderheiten in der Klasse stellen sich die genannten Fragen und versuchen voranzugehen. Dass solche Diskussionen gleichzeitig an verschiedenen Orten geführt werden, zeigt, dass es sich um ein grenzüberschreitendes Bedürfnis handelt. Die TEKEL-Rundreise war eine Antwort auf dieses Bedürfnis. Die TEKEL-Delegation hatte das Ziel, die internationale Dimension unserer erst lokalen Kämpfe und Diskussionen aufzuzeigen. Die Solidarität ist das Gefühl, das die Einheit der Arbeiterklasse ausdrückt. Verschiedentlich ist an den Veranstaltungen gefragt worden: "Wie kann der Kampf aus dem Ausland unterstützt werden?" Der TEKEL-Arbeite antwortete: "Indem ihr selber den Kampf aufnehmt".
Die politisierten Minderheiten der ArbeiterInnen beginnen zu spüren, dass der Kampf weltweit ist und als solcher bewusst geführt werden muss. Die Berichte über die Solidarität gegenüber dem TEKEL-Kampf waren eine Inspiration für die Teilnehmenden an den Veranstaltungen, und wir werden die Botschaft auf die eine oder andere Art weitertragen. Die politisierten und kämpferischen Minderheiten in der Klasse sind Katalysatoren für die zukünftigen Kämpfe. Der Kampf bei TEKEL war nicht umsonst, auch wenn die Entlassungen nicht aufgehalten werden konnten.
In Deutschland geht derzeit ein Spuk herum, der in der politischen Landschaft einigen Wirbel ausgelöst hat – die so genannten Bürgerproteste. Überall gehen Menschen auf die Straße, um gegen den Neubau eines Bahnhofs oder gegen die Flugrouten des neuen Flughafens zu demonstrieren, sammeln Unterschriften und bilden „Bürgerinitiativen“, um Schulreformen oder die Privatisierung kommunaler Einrichtungen zu verhindern, oder laufen Sturm gegen die Installierung von Mobilfunkmasten und Windrädern. Die Protagonisten dieser Proteste kommen, wie die bürgerlichen Medien verblüfft konstatieren, „aus der Mitte der Gesellschaft“. Es handelt sich hier neben vorwiegend gebildeteren Teilen der Arbeiterklasse um überraschend viele Angehörige des Mittelstandes – kurzum: „unbescholtene Bürger“, die Demonstrationen bisher nur aus dem Fernsehen kannten, und keine „Chaoten“. Um so aufgeschreckter wirkt die politische Klasse. Sie wittert großes Ungemach für die „Modernisierung“ Deutschlands, sollten sich die „Verweigerer“ in der Bevölkerung durchsetzen. Was sie aber vor allem entrüstet, ist, dass diese Proteste sich einen Teufel um das Prinzip des politischen Mandats scheren, dem Blankoscheck der parlamentarischen Demokratie, den die Wähler mit ihrem Kreuz in der Wahlkabine gewähren und mit dem die politische Klasse bisher nach Belieben schalten und walten konnte.
Doch was verbirgt sich wirklich hinter den „Bürgerprotesten“? Handeln die Protestierenden schlicht nach dem Sankt-Florian-Prinzip: ‚Zünde das Haus meines Nachbarn an, aber verschone meins‘? Oder ist diese Protestform im Gegenteil gar die endlich gefundene neue Form des „zivilen Ungehorsams“, die im Begriff ist, den „alten“ Klassenkampf zwischen Arbeit und Kapital abzulösen?
Der Kampf gegen den Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofes steht exemplarisch für einen tiefgreifenden Wandel im Verhältnis der Regierten zu ihren politischen Repräsentanten, der in den letzten Jahren stattgefunden hat. Die Wucht der Weltwirtschaftskrise, deren Höhepunkt keine zwei Jahre zurückliegt, und die Dramatik der ökologischen Katastrophe, die sich schon heute in Klimakatastrophen äußert, haben auch in den großen bisher als unpolitisch geltenden Bevölkerungskreisen erhebliche Zweifel an der Fähigkeit der Herrschenden geweckt, mit den großen und kleinen Krisen dieser Welt fertig zu werden. Immer mehr Menschen – darunter viele, die bisher ihre Stimme den bürgerlichen politischen Parteien anvertraut hatten – dämmert, dass es so, mit den herkömmlichen Mitteln der parlamentarischen Demokratie, nicht mehr weiter geht. Die politische Klasse ist im Begriff, da zu landen, wo sich die Banker und Broker schon seit einiger Zeit befinden – auf dem Tiefpunkt ihres Ansehens in der Bevölkerung.
In diesem Rahmen muss man auch die Mobilisierung der Stuttgarter Bevölkerung gegen den Neubau ihres Hauptbahnhofs betrachten. Die Proteste gegen Stuttgart 21 waren, nachdem sie vor drei Jahren mit nur gering frequentierten „Montagsdemonstrationen“ begonnen hatten, in diesem Sommer zu einer imposanten Bewegung geworden. Auf ihrem Höhepunkt im September und Oktober zogen mehrmals wöchentlich Zehntausende Demonstranten durch Stuttgart, darunter auffällig viele alte Menschen, aber auch ganze Schulklassen, Arbeiter, Angestellte, Hausfrauen, Architekten, Ärzte, Anwälte, Kaufleute und andere Freiberufler. Die meisten dieser Menschen, die so gar nicht dem Bild von „Berufsdemonstranten“ entsprachen, trieb es weniger aus eigennützigen und schon gar nicht aus ideologischen Gründen auf die Straße. Sie einte vielmehr die Empörung über die Informationspolitik des Bahn-Vorstandes und der Landesregierung, aber vor allem über die Megalomanie einer herrschenden Klasse, die einem technisch hochriskanten Projekt bedenkenlos milliardenschwere Nachschläge gewährt (so sind die ursprünglich veranschlagten Kosten von 2,6 Milliarden Euro auf mittlerweile 4,1 Mrd. gestiegen, und Experten schätzen den tatsächlichen Bedarf auf über 10 Mrd. Euro), aber im sozialen und im Bildungsbereich die Ausgaben drastisch kürzt.
In der Gegenüberstellung der Milliardenausgaben für Stuttgart 21 einerseits und den Sparmaßnahmen im sozialen Bereich andererseits steckte durchaus mehr Potenzial, als es den Anschein hatte. Denn in der Tat hätte eine Verknüpfung von Stuttgart 21 mit der sozialen Frage die sowohl örtlich als inhaltlich stark limitierte Bewegung zu einer breiteren Perspektive verholfen. Die ganze Brisanz dieser Bewegung lässt sich erahnen, wenn man sich vor Augen hält, dass sie in einer Region – dem Großraum Stuttgart – stattfand, die mit ihrer gewaltigen Automobilindustrie und der ihr angeschlossenen Zulieferindustrie sowie eine der Industriehochburgen Deutschlands ist (außerdem bildet es eines der Gravitationszentren des deutschen Maschinenbaus), mit Zehntausenden von größtenteils hoch qualifizierten ArbeiterInnen. Und zunächst trug die baden-württembergische Landesregierung, mit dem Haudrauf Mappus an ihrer Spitze, ihr Scherflein dazu bei, um die Bewegung weiter zu radikalisieren. Am 30. September, an jenem Tag, als die Polizei mit brutaler Gewalt den Schlossplatz vor dem Hauptbahnhof räumte und dabei auch erstmals in der Geschichte Stuttgarts Wasserwerfer einsetzte, drohten mehr als nur ein paar alte Bäume gefällt zu werden; auf dem Spiel stand nichts geringeres als ein Teil der Legitimation der politischen Klasse. Die Tür zu einer weiteren, möglicherweise unkontrollierbaren Eskalation des Konflikts stand an jenem Tag ein Stück weit offen.
Dies war der Moment, wo Berlin die Reißleine zog; Mappus‘ Konfrontationskurs wurde gestoppt. Zwar zeigen die herrschenden Kreise in Stuttgart und Berlin sich im Augenblick (noch?) nicht bereit, auch nur einen Millimeter von ihren Plänen abzurücken, doch gelobten sie dafür eine bessere „Kommunikation“ und Informationspolitik: „Jahr für Jahr muss man die Leute mitnehmen und erklären, warum das Projekt notwendig ist. Es ist offensichtlich nicht hundertprozentig gelungen, sonst hätten wir das Problem nicht“, meinte nun auch ein offenbar über Nacht „geläuterter“ Mappus. Flugs wurde ein „Runder Tisch“ eingerichtet, an dem Gegner und Befürworter von Stuttgart 21 platziert wurden, und so erlebte die sog. öffentliche Schlichtung unter der Leitung des alten Fahrensmannes der deutschen Bourgeoisie, Heiner Geißler, ihre Erstaufführung.
Nichts konnte die Protestbewegung effektiver abwürgen als diese öffentliche Huldigung der „direkten Demokratie“. Von nun an ging die Zahl der Demonstrationen und Demonstranten rapide zurück. Das öffentliche Interesse fokussierte sich fast ausschließlich auf die im Internet und Fernsehen live übertragenen „Schlichtungsgespräche“, deren stundenlanges, dröges Gefeilsche um Fahrpläne, technische Details u.ä. wie ein Narkotikum auf die Stuttgarter Protestbewegung wirkten. Und wenn da und dort dennoch Flammen des Protestes emporzüngelten (wie die vorübergehende Besetzung des Südflügels des Hauptbahnhofs von Stuttgart-21-Gegnern), wurden sie von Kretschmer und Konsorten, den Repräsentanten der Gegner von Stuttgart 21 am „Runden Tisch“, umgehend ausgetreten: „Denn es herrscht ja Friedenspflicht, und diese Aktion könnte die Gespräche beeinträchtigen“ (Kretschmer zur dpa).
Mit den „Bürgerprotesten“, die mit dem Kampf gegen Stuttgart 21 und den Demonstrationen und Blockaden gegen den diesjährigen Castor-Transport nach Gorleben ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hatten, erleben die Klassen übergreifenden Protestbewegungen, die zuletzt in den 70er und 80er Jahren in Deutschland von sich reden gemacht hatten, eine Renaissance. So verdanken die „Bürgerproteste“ ihren Namen der Tatsache, dass die Akteure nicht in ihrer Eigenschaft als Angehöriger einer Klasse auftreten, sondern sozusagen als „Bürger“. Ob in Hamburg, wo unter der ideologischen Führung des Bürgertums per Volksentscheid eine Schulreform der schwarz-grünen Koalition abgeschmettert wurde, oder in Stuttgart, wo gar eine Initiative „Unternehmer gegen Stuttgart 21“ gegründet wurde, oder in Gorleben – die Renitenz von Teilen der Bevölkerung gegen „die da oben“ ist unübersehbar.
Solche Klassen übergreifenden Bewegungen gilt es differenziert zu betrachten. Solche Bewegungen zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass die Ausdifferenzierung der Interessen des Proletariats von denen anderer, nicht ausbeutender Schichten der Bevölkerung bzw. des Kleinbürgertums nicht stattfindet. Findet diese Differenzierung statt, so gelingt es dem Proletariat mittels seiner großen Massenkämpfe – wie in der jüngeren und älteren Geschichte stets geschehen-, große Teile des Mittelstandes mitzureißen, sie für seinen Kampf zu mobilisieren.
Jedoch zeichnen sich die jüngsten „Bürgerproteste“ dadurch aus, dass sie in einem Vakuum stattfinden, in einer Phase, in der die Arbeiterklasse zumindest in Deutschland abwesend zu sein scheint. Diejenigen kleinbürgerlichen Kräfte, die sich zu den Hauptprotagonisten solcher Bewegungen aufschwingen, werden von der Empörung angetrieben, dass „die da“ in Berlin Politik „über die Köpfe der Leute hinweg“ machen. Bei aller Kritik an den Parteien und der Regierung kommt von ihnen aber nicht der Hauch einer grundsätzlichen Kritik, geschweige denn einer Ablehnung des Parlamentarismus über die Lippen. Im Gegenteil, der Grundtenor der Forderungen, die diese „Bürgerproteste“ äußerten, ist das Verlangen nach „mehr Mitspracherecht“, nach „Mitgestaltung der Gesellschaft“, ist der Wunsch, dass „den Bürgern Gehör geschenkt“ wird – kurzum: mehr Demokratie in der bürgerlichen Demokratie. Aufgerieben von den beiden großen historischen Klassen, dem Proletariat und der Bourgeoisie, und bar jeder eigenständigen historischen Perspektive, verbleibt der mittelständische Diskurs treu im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft. In dem Verlangen nach „mehr Demokratie“ kommt (unbewusst) sein Wunsch nach Restaurierung jener Zeiten zum Ausdruck, als die Bourgeoisie noch fortschrittlich war und ihr kleiner Bruder, das Kleinbürgertum, noch eine tragende Rolle in den Parlamenten spielte.
Daher ist es nicht überraschend, dass Protestbewegungen wie die gegen Stuttgart 21 und gegen den Castor-Transport zum Tummelplatz der oppositionellen Parteien geworden sind. Insbesondere die Grünen haben von ihnen profitiert. Sie sind zum Hoffnungsträger des frustrierten Mittelstandes geworden, der trotz seines immer lauter werdenden Lamentierens nicht vom Glauben an die bürgerliche Demokratie abkehren will. Seine ganze Militanz, seine ganze ohnmächtige Wut verpufft in einem Akt der „Abstrafung“ der Regierenden an der Wahlurne. Seine Perspektive erschöpft sich darin, die eine Regierungsmannschaft gegen die andere auszutauschen. Seine Alternative lautet: Pest oder Cholera. Aber diejenigen unter den Teilnehmern an solchen inter-klassistischen Bewegungen, welche von der proletarischen Sorge und Zorn um den Zustand der heutigen Welt angetrieben werden, werden nicht dort die Perspektive finden, die sie suchen, sondern im Kampf der Arbeiterklasse, sobald diese die Bühne der Geschichte erkennbar betritt.
Nein, die „Bürgerproteste“, die derzeit für Furore sorgen, können den Klassenkampf zwischen den Ausgebeuteten und ihren Ausbeutern beileibe nicht ersetzen. Es sind nicht die „Bürgerproteste“, die den Klassenkampf obsolet machen; es ist vielmehr das Fehlen des Klassenkampfes, das diese Mobilisierung von Teilen des Mittelstandes erst ermöglicht hat. Wenn hierzulande Bürger- statt Arbeiterproteste die Szenerie beherrschen, dann liegt das u.a. daran, dass es den Herrschenden in Deutschland bisher gelungen ist, den Kern der Arbeiterklasse mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen ruhig zu halten, angefangen vom ausgiebigen Gebrauch der Kurzarbeit, die die befürchteten Massenentlassungen verhindert hat, bis hin zu Sonderzahlungen, mit denen Großunternehmen ihre Beschäftigten nun, da das Geschäft wieder boomt, bei Laune halten.
Ganz anders dagegen die jetzige Lage in Frankreich, wo die Arbeiterklasse wochenlang die Öffentlichkeit mit Streiks, Blockadeaktionen und Massendemonstrationen in Atem hielt (mehr dazu in dieser Ausgabe). Im Unterschied zu Deutschland richteten sich die Proteste in Frankreich nicht gegen den Neubau von Bahnhöfen, die Installierung von Windrädern bzw. Mobilfunkmasten o.ä., sondern gegen die massiven Angriffe der Sarkozy-Regierung gegen die Lebens- und Arbeitsbedingungen der ArbeiterInnen. Anders ausgedrückt: in Frankreich ging es nicht um infrastrukturelle, sondern um existenzielle Fragen – sprich: um die soziale Frage.
Während die Forderungen, die in den „Bürgerprotesten“ erhoben werden, partikularistisch sind, lokal begrenzt bleiben und den Kurs der bürgerlichen Politik (durch das Einziehen zusätzlicher „demokratischer“ Ebenen) allenfalls verzögern, enthalten Kämpfe wie die Protest- und Streikbewegung gegen die Verlängerung der Lebensarbeitszeit in Frankreich gesellschaftliches Dynamit. „Weg mit der Rente mit 67!“: Es sind solche Forderungen, die den Katalysator für proletarische Massenbewegungen bilden; Forderungen, mit denen sich die gesamte Klasse identifizieren kann, weil sie sich auf proletarischem Terrain befinden. Und es sind exakt solcherlei Forderungen, die am Anfang eines Prozesses stehen könnten, an dessen Ende der Albtraum der Bourgeoisie schlechthin wahr werden könnte: dass die Arbeiterklasse sich nicht mehr nur gegen die Bedingungen der Ausbeutung zur Wehr setzt, sondern der Ausbeutung selbst den Kampf ansagt... 19.11.2010
Am 5. Mai wurde während der riesigen Demonstrationen in Athen gegen die Austeritätsmaßnahmen der griechischen Regierung die Marfin-Bank offenbar von Brandsätzen, die aus der Menge heraus geworfen worden waren, in Brand gesetzt. Drei Bankangestellte starben an Rauchvergiftung. Dieser Zwischenfall provozierte eine hektische Antwort der Regierung, die darauf erpicht war, sämtliche Demonstranten als extrem gewalttätige Rowdys zu brandmarken, und der Polizei, die eine Reihe von brutalen Razzien im von „Anarchisten“ dominierten Athener Bezirk Exarcheia durchführte. Die Toten wirkten sich auch eine Zeitlang betäubend auf die Entwicklung des Kampfes aus, da viele ArbeiterInnen sich nicht im Klaren waren, wie sie weiter verfahren sollen, oder gar die Notwendigkeit anerkannten, Austeritätsmaßnahmen zu akzeptieren, um „die Wirtschaft zu retten“ oder einen Rutsch ins Chaos zu vermeiden (zumindest laut jüngsten Meinungsumfragen, die behaupten, dass über 50 Prozent der Bevölkerung bereit seien, das drakonische EU/IWW-Paket zu akzeptieren, oder Lohnkürzungen dem nationalen Bankrott vorziehen).
Von Seiten der „Protestierenden“, von jener sehr beträchtlichen Zahl von Proletariern, die davon überzeugt sind, dass man sich den ökonomischen Angriffen widersetzen müsse, hat es vielfältige Reaktionen gegeben. Viele Stellungnahmen haben mit einiger Rechtfertigung dem Bankeigentümer, Vgenopoulos, die Schuld zugeschrieben, der Angestellte mit der Drohung des Arbeitsplatzverlustes dazu zwang, auf Arbeit zu bleiben, obwohl bekannt war, dass die Demonstrationsroute an der Bank vorbeiführte und Brandanschläge gegen Banken bei solchen Gelegenheiten allgemein üblich waren. Darüber hinaus waren die Eingänge zur Bank verschlossen, was es äußerst erschwerte, das Gebäude zu verlassen. (1) Andere (siehe beispielsweise die Stellungnahme von der „Anarchistischen Hocke“ auf dem „Occupied London Blog“ (2)) beschuldigten paramilitärische Banden, den Anschlag begangen zu haben.
Dies mag so sein oder auch nicht; doch eine Antwort, die an diesem Punkt verharrt, hilft uns nicht wirklich weiter, um zu verstehen, warum die Bourgeoisie in Griechenland solch einen extensiven Gebrauch von Agenten „unter falscher Fahne“ gemacht hat, um Provokationen und Gewalttätigkeiten zu begehen. Die Wahrheit ist, dass solche Aktivitäten im Zusammenhang mit einer Kultur der Gewalt von Minderheiten in einem beträchtlichen Teil des „antiautoritären“ Milieus in Griechenland durchaus gedeihen. Eine Hingabe zur Gewalt als Selbstzweck kann leicht zu einem positiven Hindernis für die Entwicklung einer breiten Klassenbewegung und ihrer Bemühungen werden, den Kampf gegen die staatlichen Anschläge auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse zu organisieren und auszuweiten.
Die folgenden Stellungnahmen zeigen jedoch, dass die jüngste Tragödie einen ernsthaften Prozess der Selbstprüfung und des Nachdenkens innerhalb dieses Milieus andlungen Handlungenb
angeschoben hat. Die erste Stellungnahme ist ein Text von Genossen, die ebenfalls zum „Occupied London Blog“ beitragen, viele von ihnen griechischer Herkunft. Obgleich sie keinesfalls die Bourgeoisie von der Verantwortung für die Toten freispricht, versucht ihre Stellungnahme, zu den Wurzeln des Problems vorzudringen. „Es ist an der Zeit für uns, offen über die Gewalt zu sprechen und kritisch eine spezifische Gewaltkultur zu untersuchen, die sich in den letzten Jahren in Griechenland entwickelt hat. Unsere Bewegung war nicht stark geworden wegen den dynamischen Mitteln, die sie gelegentlich nutzt, sondern wegen ihrer politischen Artikulierung. Die Bewegung vom Dezember 2008 wurde nicht zu einem historischen Ereignis, weil Tausende von Leuten Steine und Molotow-Cocktails warfen, sondern hauptsächlich wegen ihrer politischen und sozialen Charakteristiken – und ihrer reichhaltigen Vermächtnisse auf dieser Ebene.“ (3)
Die zweite Stellungnahme ist aus einem längeren Text („Die Kinder von der Galerie“) von TPTG, einer libertär-kommunistischen Gruppe in Griechenland.(4) In der vorletzten Ausgabe unserer Zeitung veröffentlichten wir Teile eines Artikels, der von derselben Gruppe (auch wenn unter anderem Namen) (5) verfasst wurde, ein Text, der klar die Sabotagerolle enthüllt, die von den Gewerkschaften und der griechischen Kommunistischen Partei in der gegenwärtigen Welle von Streiks und Demonstrationen gespielt wird. Wie unsere französischen Genossen hervorgehoben haben, schienen einige Passagen in der vollständigen Ausgabe jenes Artikels nicht die Gefahr zu berücksichtigen, dass einige Gewaltakte, die im Verlauf breiter Kämpfe ausgeübt werden, ein kontraproduktives Resultat haben können. (6) Die unten veröffentlichte Passage zeigt im Gegenteil dieselbe kritische Herangehensweise wie das Statement von Occupied London, wenn beispielsweise geschrieben wird: „Was das anarchistisch/antiautoritäre Milieu selbst und seine vorherrschende rebellische Tendenz angeht, ist die Tradition einer fetischisierten, macho-haften Glorifizierung der Gewalt zu alt und zu durchgängig, als dass man ihr gleichgültig gegenüberstehen kann. Die Gewalt als ein Selbstzweck ist in all ihren Variationen (einschließlich des eigentlichen bewaffneten Kampfes) ständig und mittlerweile jahrelang propagiert worden, und besonders nach der Dezember-Rebellion ist ein gewisser Grad nihilistischen Zerfalls deutlich geworden.“
Wir können diesen Denkprozess nur ermutigen und hoffen, dass wir an den Debatten teilnehmen können, die von ihm ausgelöst werden. Sowohl das Statement von Occupied London als auch die vielen Artikel der TPTG argumentieren, dass die wahre Stärke der Bewegung in Griechenland und eigentlich jeder proletarischen Bewegung ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation, Ausweitung und „politischen Artikulierung“ ist; und wir fügen hinzu, dass dies die wahre Alternative nicht nur zur substitutionistischen Gewalt einer Minderheit, sondern auch zur Unterdrückung der Klassenbewegung durch die „offiziellen“ Kräfte ist, die ihre Führung beanspruchen – die Gewerkschaften, die KP und die Linksextremen. World Revolution, 16.5.2010
Der folgende Text fasst einige anfängliche Gedanken von einigen unter uns hier bei Occupied London über die tragischen Ereignisse am Mittwoch zusammen. Die englische und griechische Version folgt – bitte verbreitet den Text weiter.
Was bedeuten die Ereignisse vom Mittwoch (5.5.) ganz ehrlich für die anarchistisch-antiautoritäre Bewegung? Wie verhalten wir uns gegenüber dem Tod dieser drei Menschen – ungeachtet dessen, wer ihn verursacht hat? Wie verhalten wir uns als Menschen und als Leute im Kampf? Wir, die wir nicht akzeptieren, dass solche Dinge „isolierte Vorfälle“ (der Polizei- oder Staatsgewalt) sind, und die auf die tägliche Gewalt zeigen, die vom Staat und vom kapitalistischen System ausgeübt wird. Wir, die wir den Mut haben, die Dinge beim Namen zu nennen; wir, die jene, die Migranten auf Polizeirevieren foltern, oder jene entlarven, die in den glamourösen Amtsräumen und TV-Sendern mit unserem Leben spielen. Also, was haben wir nun zu sagen?
Wir könnten uns hinter der Stellungnahme verstecken, die von der Gewerkschaft der Bankangestellten (OTOE) herausgegeben wurde, oder hinter den Anschuldigungen der Arbeitgeber in der Bankenbranche; oder wir könnten uns an der Tatsache halten, dass die Dahingeschiedenen gezwungen wurden, in einem Gebäude ohne Brandschutz zu verbleiben – und dabei sogar eingeschlossen wurden. Wir könnten auch dabei bleiben, was für ein Abschaum Vgenopoulos, der Besitzer der Bank, ist; oder auch dabei, wie dieser tragische Vorfall dafür benutzt wird, eine unerhörte Repression auszulösen. Wer immer es wagte, am Mittwochabend durch Exarcheia zu gehen, hat bereits eine klare Vorstellung darüber. Doch darum geht es nicht.
Für uns geht es darum zu sehen, wie groß unser, unser aller Anteil an der Verantwortung ist. Wir sind alle gemeinsam verantwortlich. Ja, wir haben recht, wenn wir mit all unserer Kraft gegen die ungerechten Maßnahmen kämpfen, die uns aufgezwungen werden; wir haben recht, wenn wir mit all unserer Macht und Kreativität für eine bessere Welt kämpfen. Doch als politische Wesen sind wir alle gleich verantwortlich für jede einzelne politische Wahl, die wir treffen, für die Mittel, die wir uns angeeignet haben, und für unser Schweigen, jedes Mal wenn wir unsere Schwächen und unsere Fehler nicht einräumen. Wir, die wir nicht die Leute bescheißen, um Stimmen zu gewinnen, wir, die wir kein Interesse haben, jemand auszubeuten, haben die Fähigkeit, unter diesen tragischen Umständen ehrlich mit uns selbst und jenen um uns herum zu sein.
Was die griechische anarchistische Bewegung derzeit erlebt, ist die totale Lähmung. Weil es bedrückende Bedingungen für eine harte Selbstkritik sind, für eine Kritik, die weh tut. Abgesehen von der schrecklichen Tatsache, dass Leute gestorben sind, die auf „unserer Seite“ waren, auf der Seite der ArbeiterInnen – ArbeiterInnen unter äußerst schwierigen Bedingungen, die es ziemlich sicher vorgezogen hätten, an unserer Seite mit zu marschieren, wenn die Dinge sich verschlimmern auf ihrem Arbeitsplatz -, abgesehen davon sind wir hiermit auch mit Protestierenden konfrontiert, die das Leben von Menschen in Gefahr bringen. Selbst wenn (und dies steht außer Frage) es keine Absicht gab zu töten, so ist dies eine wichtige Frage, die einige Diskussionen auslösen kann – so manche Diskussion bezüglich der Ziele, die wir uns gesetzt haben, und der Mittel, die wir wählen.
Der Vorfall ereignete sich nicht bei Nacht, als eine Sabotageaktion. Er geschah während der größten Demonstration in der zeitgenössischen griechischen Geschichte. Und hier stellt sich eine Reihe schmerzender Fragen: Ganz allgemein, gibt es in einer Demonstration von 150-200 000 Menschen, einmalig in den letzten Jahren, wirklich ein Bedürfnis nach einer „Heraufstufung der Gewalt“? Wenn man sieht, wie Tausende rufen: „Brenne, Parlament, brenne!“ und auf die Bullen fluchen, hat da eine weitere niedergebrannte Bank der Bewegung wirklich mehr anzubieten?
Wenn die Bewegung sich anschickt, massenhaft zu werden – wie im Dezember 2008 -, was kann eine Aktion anbieten, wenn sie die Grenzen dessen überschreitet, was eine Gesellschaft (zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt) aushalten kann, oder wenn sie menschliches Leben in Gefahr bringt?
Wenn wir uns auf die Straße begeben, sind wir eins mit den Leuten um uns herum, auf ihrer Seite, mit ihnen – darum geht es, wenn wir unsere Hintern bewegen, um Texte und Plakate zu verfassen -, und unsere Vorbehalte sind ein einzelner Parameter unter vielen, die zusammenkommen. Es ist an der Zeit für uns, offen über die Gewalt zu sprechen und kritisch eine spezifische Gewaltkultur zu untersuchen, die sich in den letzten Jahren in Griechenland entwickelt hat. Unsere Bewegung war nicht stark geworden wegen den dynamischen Mitteln, die sie gelegentlich nutzt, sondern wegen ihrer politischen Artikulierung. Die Bewegung vom Dezember 2008 wurde nicht zu einem historischen Ereignis, weil Tausende von Leuten Steine und Molotow-Cocktails warfen, sondern hauptsächlich wegen ihrer politischen und sozialen Charakteristiken – und ihrer reichhaltigen Vermächtnisse auf dieser Ebene. Natürlich reagieren wir auf die Gewalt, die gegen uns ausgeübt wird, und dennoch sind wir umgekehrt dazu aufgefordert, über unsere politischen Alternativen wie auch über die Mittel zu reden, die wir uns angeeignet haben, wobei wir unsere – und ihre – Grenzen erkennen müssen.
Wenn wir über Freiheit sprechen, bedeutet es, dass wir in jedem einzelnen Moment daran zweifeln, was wir gestern noch für selbstverständlich hielten. Dass wir es wagen, den ganzen Weg zu gehen und ohne klischeehafte politische Formulierungen den Dingen ins Auge schauen, wie sie sind. Es ist klar, dass wir, weil wir Gewalt nicht als Selbstzweck betrachten, ihr nicht gestatten dürfen, ihren Schatten auf die politische Dimension unserer Aktionen zu werfen. Wir sind weder Mörder noch Heilige. Wir sind Teil einer sozialen Bewegung, mit unseren Schwächen und Fehlern. Statt uns nach einer solch enormen Demonstration stärker zu fühlen, fühlen wir uns heute wie betäubt, um es vorsichtig zu formulieren. Dies an sich spricht Bände. Wir müssen diese tragische Erfahrung in eine Gewissensprüfung umwandeln und uns einander inspirieren, da wir letztendlich alle auf der Grundlage unseres Bewusstseins handeln. Und die Pflege solch eines kollektiven Bewusstseins steht dabei auf dem Spiel.
Vor über sieben Monaten, am 4. September 2009, ließ ein Oberst der deutschen ISAF-Kräfte in Afghanistan entgegen aller Einsatzregeln und trotz wiederholter Einwände der amerikanischen Piloten zwei angeblich von den Taliban bei Kunduz entführte Tanklaster von amerikanischen Militärjets bombardieren, was zum Tod von über 140 Menschen, die meisten von ihnen Zivilisten, führte. Vor gut einem Monat, am 2. und 15. April 2010, wurden bei Angriffen der Taliban in der Provinz Baghlan insgesamt sieben deutsche Soldaten getötet, was die Gesamtzahl der in Afghanistan getöteten deutschen Soldaten auf 43 hochschnellen ließ. Kurz darauf erschossen Bundeswehrsoldaten versehentlich sechs afghanische Regierungssoldaten, als diese der Aufforderung, anzuhalten, nicht nachkamen. Diese Vorfälle stehen im Zeichen einer Akzentverschiebung in der Afghanistan-Politik des deutschen Imperialismus. Vorbei die Zeiten, als die deutsche Diplomatie einen regelrechten Eiertanz um das Unwort Krieg veranstaltete, wenn es darum ging, den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan zu erklären. Vorüber auch die Zeiten, als die deutsche Politik uns den Afghanistan-Einsatz noch vornehmlich als humanitären Einsatz und die deutschen ISAF-Kräfte als Wiederaufbauhelfer in Uniform verkaufen wollte. Jetzt wird Tacheles geredet: Schneidig erklärt der neue Verteidigungsminister Guttenberg nun, dass die deutschen Soldaten sich in Afghanistan in einem veritablen Krieg befinden.
In gewisser Weise war dies ein Tabubruch. Seit Gründung der Bundesrepublik 1949 war die deutsche Bourgeoisie stets emsig darum bemüht gewesen, ihren fortbestehenden imperialistischen Heißhunger hinter einer Fassade des Pazifismus und Antimilitarismus zu verbergen. So gehörte zu ihrer Gründungsmythologie der schöne Vorsatz, dass von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehen dürfe. Alles Militärische verschwand aus der Öffentlichkeit, eine Glorifizierung und Verherrlichung der eigenen kriegerischen Vergangenheit, wie sie sonst überall noch heute selbstverständlich ist, wird bis heute von der deutschen Bourgeoisie tunlichst unterlassen. Das Primat der Zivilgesellschaft trieb dabei seltsame Blüten: Soldaten wurden nicht mehr Soldaten genannt, sondern waren fortan „Bürger in Uniform“. Militärische Rituale wie der Zapfenstreich und die öffentliche Vereidigung von Rekruten verschwanden für lange Zeit in der Mottenkiste.
Dieser formelle Antimilitarismus war sicherlich dem Umstand geschuldet, dass der deutsche Imperialismus als Verlierer aus dem II. Weltkrieg hervorgegangen war. Und das nicht nur militärisch; auch moralisch war der deutsche Imperialismus aufgrund der ungeheuren Verbrechen, die die Wehrmacht und SS im II. Weltkrieg begangen hatten, zutiefst diskreditiert. Doch in den 40 Jahren des Kalten Krieges zwischen Ost und West erwies sich diese teils aufgezwungene, teils freiwillige Zurückhaltung in Sachen Militarismus durchaus als vorteilhaft für die deutsche Bourgeoisie. Letztere verstand es meisterhaft, die Welt von ihrer Läuterung zu überzeugen und in die Rolle des „friedlichen Maklers“ zwischen Ost und West, Nord und Süd zu schlüpfen. Gar nicht zu reden von den ökonomischen Vorteilen, die sich daraus ergaben, dass die deutsche Wirtschaft weitaus weniger von unproduktiven Rüstungsausgaben belastet wurde als andere Volkswirtschaften.
Auch nach dem Zusammenbruch des Ostblocks blieb der deutsche Imperialismus zunächst seiner Linie treu, als es ihm gelang, sich von einer militärischen Beteiligung am sog. Golfkrieg Anfang der 90er Jahre frei zu kaufen. Und selbst als sich die Einsätze deutscher Soldaten im Rahmen von UN- oder NATO-Missionen im Verlaufe der folgenden zwei Jahrzehnte häuften, hielt die deutsche Politik unbeirrt an ihrer Friedensrhetorik fest. Entweder sie verklärte diese Militäreinsätze als „Friedensmissionen“, als „humanitäre Hilfe“, oder sie bemühte gar – wie im Kosovo-Krieg – ihre eigene dunkle Vergangenheit, indem sie den Slogan: „Nie wieder Krieg!“ in „Nie wieder Ausschwitz!“ umwandelte. Dabei kam ihr der Umstand entgegen, dass es bei diesen Einsätzen – mit Ausnahme des Kosovo-Kriegs – so gut wie nie zu militärischen Auseinandersetzungen kam. Und dies obwohl beispielsweise die Kette der Balkankriege anfangs maßgeblich durch Deutschland angezettelt wurde, indem es die Unabhängigkeitsbestrebungen Sloweniens und Kroatiens gegen den Willen der anderen Großmächte unterstützte.
So verhielt es sich bis in die jüngste Zeit auch im Fall Afghanistan. Der deutsche Imperialismus verfuhr hier nach dem Motto: Wasch mir den Pelz, aber mach‘ mich nicht nass. Militäreinsatz ja, aber bitte ohne Krieg! Er verweigerte sich konsequent der wiederholt vorgetragenen Bitte der USA um massive Aufstockung der eigenen Truppen und ihre Entsendung in den umkämpften Süden Afghanistans. Stattdessen verfolgte er die Absicht, gegen den militärisch übermächtigen US-Imperialismus zu punkten, indem er die Prioritäten des ISAF-Einsatzes umzukehren versuchte. Gebetsmühlenartig wiederholten deutsche Politiker ihr Mantra: zivile Aufbauhilfe vor militärischer Niederschlagung der Taliban.
Nun scheint jedoch die Zeit des Versteckspielens vorbei. Der Mythos von einem pazifistischen, antimilitaristischen Deutschland ist in der afghanischen Einöde zerschellt. Nach Jahren der relativen Ruhe in Kunduz sehen sich die deutschen Soldaten nunmehr fast täglich Anschlägen der Taliban ausgesetzt. Und siehe da, unter dem humanitären Schleier der Bourgeoisie blitzt plötzlich das altbekannte Antlitz des deutschen Militarismus wieder hervor. Während das Massaker vom 4. September tagelang von der Bundesregierung vertuscht wurde und bis heute ungeahndet ist, kam die Reaktion des Bundesverteidigungsministers Guttenberg auf die tödlichen Anschläge auf Bundeswehrsoldaten im vergangenen April prompt. Da war die Rede von einem „hinterhältigen Anschlag“, von „feigen Mördern“ und von „Terroristen“, die es zu verfolgen gelte, von „Kameraden“, die „gefallen“ sind. Vielen Überlebenden der Weltkriegsgeneration dürfte dieser markige Jargon bekannt vorkommen, hatte sich doch die Wehrmacht gegenüber den Freischärlern in den von ihr besetzten Ländern einer ähnlichen Wortwahl bedient.
Immer größeren Kreisen der herrschenden Klasse dämmert, dass der Krieg in Afghanistan militärisch nicht zu gewinnen ist. Es gibt gar Stimmen, die über ein drohendes „deutsches Vietnam“ unken. Dennoch deutet vieles darauf hin, dass der deutsche Imperialismus nolens volens immer tiefer in den Krieg in Afghanistan verstrickt wird. Gefangen in der Logik des Krieges, antwortet er auf jeden erfolgreichen Anschlag der Taliban mit einer weiteren Aufrüstung und personellen Aufstockung seiner Truppen vor Ort. So forderte der Wehrbeauftragte der Bundeswehr nach den tödlichen Anschlägen gegen deutsche Soldaten Anfang und Mitte April den Einsatz von Leopard II-Panzern in Afghanistan – eine Forderung, die nicht etwa aus politischen Erwägungen, sondern aus militärischen Gründen abgelehnt wurde. Dafür kündigte Guttenberg den Einsatz von Panzer-Haubitzen mit großer Reichweite an und unternimmt damit einen weiteren Schritt bei der Ausweitung des militärischen Engagements.
Wie ist diese Diskrepanz zu erklären? Neben den geostrategischen Interessen, die auch der deutsche Imperialismus in dieser Region hat, gibt es noch einen anderen gewichtigen Grund, warum die deutsche Bourgeoisie ihr militärisches Engagement in Afghanistan vorläufig nicht beendet. Er ist in der Änderung der Strategie des US-Imperialismus seit dem Machtantritt Obamas zu finden, die der Niederlage des US-Unilaterialismus unter Bush jun. Rechnung trägt und eine Politik der verstärkten Einbindung der Alliierten forciert. Während die Bush-Administration sich zwar über die „feigen Deutschen“ in Afghanistan mokierte, sie ansonsten aber in Ruhe ließ, lässt Obama über die deutsche Rolle in Afghanistan offiziell nur Gutes verbreiten, um hinter den Kulissen umso resoluter eine Ausweitung der deutschen Beteiligung an den internationalen Truppen zu fordern. Nur so lässt sich die zusätzliche Entsendung von 500 Soldaten nach Afghanistan und die Ausweitung des deutschen Engagements nach Baghlan (eben jene Provinz, in der die jüngsten tödlichen Anschläge gegen deutsche Truppen stattfanden) erklären. Denn der Preis, den der deutsche Imperialismus im Falle seiner Verweigerung gegenüber den USA oder gar seines Rückzugs aus Afghanistan bezahlen müsste, wäre hoch: Deutschland würde sich in den Rang eines Zaungastes des imperialistischen Schauspiels katapultieren, verschmäht und geringgeschätzt von den USA und anderen Großmächten. Und dies just zu einem Zeitpunkt, wo dank des neuen Multilateralismus der Obama-Administration die eigenen Einflussmöglichkeiten potenziell gestiegen sind.
Es gibt Kriege im niedergehenden Kapitalismus, die eine negative Auswirkung auf das Bewusstsein der Arbeiterklasse haben, die es trüben und verwirren. Ein solcher Krieg war beispielsweise der II. Weltkrieg. Damals war es insbesondere den angelsächsischen Bourgeoisien gelungen, ihre Völker mittels der demokratischen und antifaschistischen Mystifikation für den Eintritt in den Krieg gegen die Achsenmächte zu erwärmen und zu mobilisieren, und dies obwohl die britische und US-amerikanische Arbeiterklasse nicht – wie ihre deutschen Klassenbrüder- und schwestern – traumatisiert war durch eine niedergeschlagene Revolution wie 1918-23 in Deutschland. Auch die sog. Befreiungskriege, die in den 60er und 70er Jahren insbesondere den afrikanischen Kontinent erschütterten, waren einer Bewusstseinsbildung in der Arbeiterklasse vor Ort in keiner Weise dienlich. Sie ertränkten sie vielmehr in einem Meer von Nationalismus und erstickten ihre aufkommenden Kämpfe.
Es gibt jedoch auch Kriege in derselben Epoche, die das Klassenbewusstsein stimulieren und den ArbeiterInnen die Augen über die inhumane, destruktive Natur des dekadenten Kapitalismus öffnen. Das Beispiel schlechthin für einen solchen Fall ist zweifellos der I. Weltkrieg, der von der revolutionären Welle des Proletariats beendet wurde, die damals halb Europa überflutet und in Russland sowie in Deutschland ihren Höhepunkt gefunden hatte. Es gibt Gründe anzunehmen, dass auch der Afghanistan-Krieg zu einem wichtigen Katalysator des Klassenbewusstseins werden kann, denn vielleicht, wenn natürlich auch nicht vergleichbar mit der Wirkung des I. Weltkriegs. In der Tat ist dieser Krieg in Deutschland – und nicht nur dort - ziemlich unpopulär. Gelang es anfangs noch, der Arbeiterklasse den Einsatz deutscher Truppen in Afghanistan als „Kampf gegen den Terrorismus“ zu verkaufen, sind heute laut offiziellen Umfragen zwei Drittel der Bevölkerung der Auffassung, dass – al-Qaida hin, Taliban her - deutsche Truppen nichts in Afghanistan zu suchen haben. Auch und gerade unter den deutschen Soldaten in Kunduz – zumeist junge Angehörige der Arbeiterklasse, die sich in Ermangelung von Jobs auf dem zivilen Arbeitsmarkt für einige Jahre bei der Bundeswehr „selbstverpflichtet“ haben – wachsen die Zweifel über ihren Einsatz; die Zahl der Selbstmorde in „Camp Warehouse“, dem Stationierungsort der deutschen Soldaten, wächst.
Vor allem aber der Umstand, dass der Afghanistan-Krieg just zu dem Zeitpunkt zu eskalieren scheint, wo die Arbeiterklasse von den Folgen der schlimmsten Weltwirtschaftskrise seit 1929 heimgesucht wird, könnte zu einer Beschleunigung des Denkprozesses in der Arbeiterklasse in Deutschland führen. Angesichts der Milliardenausgaben für das Afghanistan-Abenteuer wird es den Herrschenden schwerfallen, ihren bevorstehenden Generalangriff auf die Arbeiterklasse zu legitimieren. Und die Schar jener wird steigen, die sich angewidert von diesem Gesellschaftssystem abwenden, das nichts als Tod und Verderben, Krise und Krieg zu bieten hat. Jo 18.5.2010
Die ostdeutsche Arbeiterklasse erlebte in den Wendejahren eine wahre Achterbahnfahrt der Gefühle. Nach der Erleichterung über das unblutige Ende des stalinistischen Regimes, dem ekstatischen Freudentaumel bei der Einführung der D-Mark und der Euphorie über die Wiedervereinigung folgte im Laufe des Jahres 1990 jäh ein Katzenjammer, von dem sich die Arbeiterklasse in Ostdeutschland bis heute nicht richtig erholt hat. Die Unterschriften unter dem Einheitsvertrag waren noch nicht trocken, da wurden die ostdeutschen Lohnabhängigen schon mit einem für sie völlig neuen Phänomen konfrontiert – mit der Arbeitslosigkeit. Waren sie zu DDR-Zeiten per Verfassung noch vor Entlassungen geschützt gewesen (was sie allerdings nicht vor der versteckten Arbeitslosigkeit bewahrt hatte), mussten sie nun miterleben, wie sich ihre beruflichen Existenzen in Luft auflösten. „In Ostdeutschland war der Beschäftigungsabbau seit 1989 rasant. Waren im Umbruchjahr noch rund 9,7 Mio. Erwerbstätige zu verzeichnen, erreichte die Zahl der Erwerbstätigen 1997 mit 6,05 Mio. ihren absoluten Tiefpunkt, der den bisherigen Tiefststand von 1993 (knapp 6,6 Mio.) nochmals deutlich unterschritt (...) Nachdem die Arbeitslosenquote bis 1995 auf 14,9% in den ostdeutschen Bundesländern gesunken war, ist sie bis 1997 auf fast 19,5% angestiegen. Ihren bisherigen Höchstpunkt erreichte die Unterbeschäftigung in Ostdeutschland im Februar 1998 mit einer Arbeitslosenquote von 22,9%.“[1] Das ganze Ausmaß dieser Explosion der Arbeitslosigkeit enthüllt sich erst, wenn man berücksichtigt, dass ein großer Teil der Beschäftigten sein Dasein in sog. ABM-Maßnahmen fristete und nicht in die offizielle Statistik einfloss. Besonders hart getroffen wurde der Industriesektor: Vier von fünf Arbeitsplätzen gingen über den Jordan.
Neben dem wirtschaftlichen Verlust, der mit der Arbeitslosigkeit einherging, wog besonders der Umstand schwer, dass mit dem Verlust des Arbeitsplatzes auch der Lebensmittelpunkt, die Identität der ostdeutschen Arbeiterklasse verloren ging. Denn anders als westdeutsche und Westberliner ArbeiterInnen definierten (und definieren) sich die Angehörigen der ostdeutschen Arbeiterklasse noch schlicht und einfach als... Arbeiter.[2] Hier zählte noch das Kollektiv, anders als der Individualismus, wie er vorwiegend unter ihren westlichen Klassenbrüdern und -schwestern noch herrscht. Darüber hinaus – und in krassem Gegensatz zur tatsächlichen materiellen Lage – war das DDR-Regime stets darum bemüht gewesen, die ostdeutsche Arbeiterklasse propagandistisch zu überhöhen („führende Kraft beim Aufbau des Sozialismus“ u.ä.). All dies wurde nun, kaum dass die DDR ihr elendes Leben ausgehaucht hatte, in Abrede gestellt. Die westdeutschen Invasoren gaben sich keine große Mühe, ihre Geringschätzung gegenüber dem Tun und Schaffen der „Ossis“ zu verbergen; ganze Biographien wurden in Frage gestellt. Es war die Zeit, als das Wort vom „Besserwessi“ die Runde machte, also von jenen Westdeutschen, die sich bei ihrem Auftreten in den „neuen Bundesländern“ wie Kolonialherren gegenüber primitiven Eingeborenen aufführten.
Es versteht sich von selbst, dass angesichts dieser maßlosen Entwertung ihrer bisherigen Existenz die Einheitseuphorie der Ostdeutschen abrupt einer großen Verbitterung wich. Dass diese nicht in eine größere Protestbewegung mündete, hat sicherlich auch mit der Demoralisierung zu tun, die sich gleichzeitig in der ostdeutschen Bevölkerung breitmachte. Schließlich hatte sich ausgerechnet ihre größte Hoffnung, der Anschluss an die Verheißungen des „goldenen Westens“, als größte Bedrohung ihrer Existenz und Biographie entpuppt. Stattdessen suchten (und suchen) immer mehr Menschen in Ostdeutschland Zuflucht in der „Ostalgie“, der Verklärung der alten DDR, die allem Anschein nach mit zunehmender zeitlicher Distanz sogar noch wächst.[3]
Schlimmer noch: bei ihrer Suche nach einem Sündenbock für ihre entwürdigende Lage verirrten sich Teile der ostdeutschen Arbeiterklasse auf das Terrain der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus. Die neunziger Jahre waren gezeichnet von einer nicht enden wollenden Kette von gewalttätigen Übergriffen gegen Ausländer, besonders gegen Südeuropäer und Afrikaner, mit Toten und Schwerverletzten, von Brandanschlägen gegen Asylheime (Rostock-Lichtenhagen, um nur das spektakulärste Beispiel zu nennen) und Döner-Buden. Diese entsetzlichen Taten - begangen von jungen ostdeutschen Arbeitern, unter stillschweigender Zustimmung der Älteren - konnten geschehen, weil die Xenophobie schon lange zuvor zum Alltag der ostdeutschen Arbeiterklasse gehört hatte.[4] Diese fürchterliche Intoleranz gegenüber dem Fremden – die giftige Frucht des Stalinismus, der seit jeher ein Virtuose auf dem Gebiet des Völkerhasses war, aber auch das Ergebnis einer jahrzehntelangen Isolierung von der Welt und dem Weltmarkt – wurde darüber hinaus von westdeutschen Neonazis angestachelt, die schon kurz nach der Wende ihre Pflöcke in den Osten steckten und erfolgreich Kapital aus den ausländerfeindlichen Ressentiments schlugen. Auch der deutsche Staat trug sein Scherflein zur Pogromstimmung in den ostdeutschen Gemeinden bei, indem er ostdeutschen Dörfern Asylheime vor die Nase setzte, deren Bewohnerzahl deutlich die der Dörfler überstieg. Erst als auch EU-Europäer, Japaner und Amerikaner Opfer von rechtsradikal motivierten Übergriffen wurden und die internationale Reputation der Bundesrepublik sowie ihr Ruf als Wirtschaftsstandort Schaden zu nehmen drohte, trat der „Rechtsstaat“ energischer auf den Plan. Ohne jedoch für ein endgültiges Ende dieses Spukes zu sorgen.
Dass es den Neonazis gelang, sich in ostdeutschen Gemeinderäten, ja sogar Länderparlamenten vorübergehend zu etablieren, erklärt sich aber auch aus der demographischen Entwicklung in Ostdeutschland, die sich in einer enormen Ausdünnung der Bevölkerung äußerte. Allein in den ersten Jahren, von der Wende 1989 bis 1995, verließen fast 1,7 Millionen Ostdeutsche ihre Heimat, um ihr berufliches Glück in Westdeutschland oder gar im Ausland (Schweiz, Österreich) zu suchen. Seitdem hat der Strom der Auswanderer zwar abgenommen, dennoch ist die Bevölkerungsbilanz Ostdeutschlands auch heute noch negativ. Dabei fällt auf, dass es vor allem junge, gut qualifizierte Frauen sind, die ihrer ostdeutschen Heimat den Rücken kehren. Zurück bleiben, neben den Alten, viele frustrierte Männer, oft ungebildet und anfällig für die rechten Rattenfänger.
Doch die Bevölkerung Ostdeutschlands wird nicht nur durch die Abwanderung dezimiert, sondern auch durch den „Gebärstreik“ der ostdeutschen Frauen: So „betrug der ostdeutsche Geburtenrückgang von 1990 auf 1991 40%, von 1991 auf 1992 19% und von 1992 auf 1993 nochmals 8%, und er hat sich erst seit 1994 stabilisiert. Ab 1996 ist wieder eine leichte Zunahme zu verzeichnen; mit einer Geburtenrate von 6,5 pro 1.000 Einwohner im Jahre 1997 hat sich das ostdeutsche Geburtenniveau gegenüber dem Jahr 1989 beinahe halbiert und erreicht lediglich 60% des westdeutschen Niveaus, das in diesem Zeitraum praktisch stabil geblieben ist.“[5] Das Statistische Bundesamt hat im Rahmen der „11. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung nach Bundesländern“ prognostiziert, dass die Bevölkerung Ostdeutschlands, Ende der achtziger Jahre noch über 17 Millionen stark, bis zum Jahr 2050 auf 9,1 Millionen sinken werde. Was dies bedeutet, kann man sich in vielen Regionen Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns bereits heute anschauen. Ganze Dörfer vergreisen und werden auf kurz oder lang ganz verlassen sein; in vielen Städten ist das öffentliche Leben erloschen, denn fast alles, was jung ist, hat das Weite gesucht. Und während in den alten Bundesländern Wohnungsmangel herrscht, wurden in vielen ostdeutschen Städten ganze Wohnsiedlungen wegen Leerstand abgerissen. So rückt die Vision eines helvetischen Naturparkexperten, große Teile der neuen Bundesländer wieder der Natur zu überlassen, immer näher...
Das Schicksal der ostdeutschen Arbeiterklasse in den letzten zwanzig Jahren ist in gewisser Weise einmalig. Anders als die ArbeiterInnen aus den anderen Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes erlebte sie den Übergang von der stalinistischen „Plan“wirtschaft zur westlichen „Markt“wirtschaft im Zeitraffer. Ihr Sturz ins soziale Nichts geschah rasend schnell, ihre Desillusionierung über den westlichen Kapitalismus war unermesslich. Doch auch ihre Klassenbrüder und -schwestern jenseits des einstigen Eisernen Vorhangs kamen nicht ungeschoren davon. Immerhin trugen sie über die Sozialversicherungskassen (s.o.) maßgeblich zur Finanzierung der Wiedervereinigung bei. Durch die steigenden Abgaben für die Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherung kam es im Verlaufe der neunziger Jahre zu erheblichen Reallohneinbußen, was dazu führte, dass der westdeutsche Durchschnittslohn im internationalen Vergleich zurückfiel. Ferner litt die Lebensqualität in Westdeutschland noch in einem anderen Sinn unter der Wiedervereinigung: Während in Ostdeutschland im Rahmen des „Aufbaus Ost“ an vielen Orten eine moderne Infrastruktur entstand, verrotteten in den westdeutschen Kommunen die Straßen und Brücken, wurden Büchereien und Kindergärten geschlossen. Und um das Maß vollzumachen, wurde (und wird) den Lohnabhängigen (und nur ihnen!) der sog. „Solidaritätsbeitrag“ für Ostdeutschland abverlangt.[6] In Berlin, wo Ost und West direkt aufeinanderprallten, gab es noch ein weiteres Opfer der Wiedervereinigung: die Arbeitsimmigranten. Sie wurden im Verlaufe der neunziger Jahre aus der Produktion ausgemustert und durch hoch motivierte Ostberliner Arbeiter und Arbeiterinnen ersetzt. Die Folge: in Berlin konzentrieren sich die Problemgebiete nicht im Ostteil der Stadt, sondern in den Westberliner Bezirken mit hohem Immigrantenanteil (Kreuzberg, Neukölln, Wedding, Spandau).
Wir sehen also, dass die Arbeiterklasse in Ost- und Westdeutschland gemeinsam, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, an den Folgen der Wiedervereinigung litt. Doch gemeinsame Not schweißt nicht unbedingt zusammen. Dies lehrt uns jedenfalls die Erfahrung aus den ersten zwanzig Jahren der deutschen „Einheit“. Kaum war die erste Euphorie über den Fall der Mauer verflogen, machten sich die ersten Risse zwischen den beiden Teilen der Arbeiterklasse in Deutschland bemerkbar. Insbesondere unter den ArbeiterInnen Westdeutschlands und Westberlins machte sich schon früh Skepsis hinsichtlich der Folgen der Wiedervereinigung breit. In den grenznahen Regionen stöhnte man unter der Invasion der „Ossis“, die die Geschäfte leer kauften. Auch fühlten sich viele aufgeschlossene ArbeiterInnen, die die Arbeitsimmigranten stets als ein Teil ihrer Arbeitswelt wahrgenommen hatten, von der plumpen Ausländerfeindlichkeit mancher ihrer ostdeutschen KollegInnen abgestoßen. Noch schwerer wog der Vorwurf, die ostdeutschen ArbeiterInnen würden mit ihrer Übermotiviertheit die Standards untergraben, die sich die Arbeiterklasse Westdeutschlands mühsam erkämpft hatte.
Es versteht sich von selbst, dass diese Misshelligkeiten flugs von den bürgerlichen Boulevardmedien aufgegriffen wurden, um die Spaltung zu vertiefen und zu verinnerlichen. „Jammerossis gegen Besserwessis“ hieß es jahrelang in den Schlagzeilen der west- und ostdeutschen Revolverblätter. Den Vogel schossen allerdings die Gewerkschaften ab. Sie zementierten durch eine geteilte Tarifpolitik die Spaltung auf dem ökonomischen Gebiet. Bis heute müssen ArbeiterInnen in Ostdeutschland für weniger Geld länger arbeiten. Auch der traurige Höhepunkt in der Entfremdung zwischen der Arbeiterklasse in Ost- und Westdeutschland geht auf das Konto der gewerkschaftlichen Spalter – der Streik der ostdeutschen Metaller im Jahr 2003 für die 35-Stunden-Woche. Hier spielte die IG Metall ein doppeltes Spiel: Einerseits trieb sie die ostdeutschen Metallarbeiter in diesen Konflikt, wohl wissend, dass Wohl und Weh ihes Kampfes von der Zustimmung und Solidarität ihrer KollegInnen in Westdeutschland abhing. Andererseits verhinderte sie eben diese Solidarisierung durch ihre Betriebsratsbonzen in den Betrieben der westdeutschen Metallbranche. Es drohte eine direkte Konfrontation zwischen ost- und westdeutschen Arbeitern; denn der Streik in den ostdeutschen Zulieferbetrieben drohte die Produktion in den westdeutschen Automobilfabriken lahmzulegen. Zudem gab es hässliche Auseinandersetzungen zwischen den Streikenden und Streikbrechern, die aus Westdeutschland herangekarrt wurden. Unter dem Druck der Öffentlichkeit wurde der Streik ergebnislos beendet. Es sollte der erste und letzte nennenswerte Widerstand der ostdeutschen Arbeiterklasse bleiben.
Mittlerweile sind fast zwanzig Jahre seit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 vergangen. Eine neue Generation ist ins Arbeitsleben getreten, die in den Wendejahren geboren wurde und nichts anderes kennt als den Kapitalismus westlicher Prägung. Sie ist frei von vielen Gebrechen, unter denen die noch in der DDR sozialisierten Generationen nach dem Fall der Mauer litten – das Gefühl, ein Underdog zu sein, die xenophoben Ressentiments, etc. Sie ist unbelastet von dem Dünkel, der das Denken und Verhalten nicht weniger in der Bonner Republik aufgewachsener ArbeiterInnen gegenüber den ostdeutschen Klassenbrüdern und -schwestern prägte. Und sie kann auf einen Schatz von Erfahrungen bauen, der einmalig in der Welt ist. Denn die deutsche Arbeiterklasse bündelt in sich die Erfahrungen aus den drei großen Ideologien des Kapitalismus im 20. Jahrhundert. Keine andere Arbeiterklasse kann von sich sagen, Stalinismus, Faschismus und Demokratie gleichermaßen am eigenen Leib erlebt zu haben.
[1] Handbuch zur Deutschen Einheit, S. 859.
[2] Ebenda, S. 530.
[3] Laut Meinungsumfragen sind heute mehr Ostdeutsche denn je für eine Wiederkehr der DDR.
[4] Es war beispielsweise übler Brauch gewesen, die wenigen ausländischen Arbeitskollegen, die in der DDR-Wirtschaft beschäftigt gewesen waren, mit solch diffamierenden Wörtern wie „Presspappe“ (gemeint waren die Angolaner und Mosambiquaner) oder „Fidschi“ (die Vietnamesen) zu titulieren.
[5] Handbuch zur Deutschen Einheit, S. 525.
[6] Übrigens verwendete die deutsche Bourgeoisie einen großen Teil der Erträge aus dem „Solidariträtsbeitrag“ dafür, sich aus einer aktiven militärischen Beteiligung am ersten Golfkrieg Anfang der neunziger Jahre freizukaufen.
In vielen Diskussionen oder Interventionen, sei es beim Presseverkauf auf der Strasse, auf den Demonstrationen oder unseren öffentlichen Veranstaltungen, aber auch anderswo, hört man Sorgen oder Befürchtungen über die Zukunft. Im selben Atemzug werden Politiker oder Parlamentarier für das herrschende Elend verantwortlich gemacht, beschuldigt, dass sie unfähig seien, sich für ein besseres Leben einzusetzen, dafür zu kämpfen, den Lebensstandard zu erhöhen. Da hat die Bourgeoisie mit ihrer „besten aller Regierungsformen“, der Demokratie, eine Reihe von Alternativen anzubieten. Das bekannteste Beispiel dafür ist aktuell der „Obamaismus“. Vor den Präsidentschaftswahlen in den USA wurden die Auftritte Obamas mediengerecht aufgezogen, wurde er selbst – nicht nur im eigenen Land – wie ein Popstar gefeiert. Viele Leute haben noch einmal Hoffnung auf eine Veränderung geschöpft – eine Veränderung im Rahmen dieses Systems.
In der Schweiz werden diese demokratischen Illusionen nicht nur durch Wahlen von Personen, sondern zusätzlich durch Referenden und entsprechende Abstimmungskämpfe um so genannte Sachvorlagen genährt.
Am diesjährigen 1. Mai in der Schweiz feierten die Redner der Gewerkschaften den „Sieg“ vom 7. März 2010, als das „Stimmvolk“ in einem Referendum der Linken die Senkung des Umwandlungssatzes bei der beruflichen Vorsorge (Rentenklau bei den Pensionskassen) ablehnte. Die „kommunistische“ PdA sagte am 7. März: „Der heutige Sieg ist ein wichtiger Schritt im Kampf gegen die weiteren geplanten Abbaumassnahmen des Sozialstaats der bürgerlichen Parteien.“ Die Linken riefen gleich auf zum nächsten „fulminanten Abstimmungskampf“ beim Referendum gegen die Änderung des Arbeitslosenversicherungsgesetzes, für das am 1. Mai eifrig Unterschriften gesammelt wurden - gerade auch von vielen jungen Unzufriedenen. Sie sammelten Unterschriften gegen diese Gesetzesänderung, die natürlich eine Verschlechterung für die Arbeitslosen vorsieht; andere sammelten Unterschriften für eine Initiative „Gemeinsam für gerechte Löhne“ oder für eine andere Initiative „Familiengerechte Stadt Zürich“; die Gruppe Schweiz ohne Armee mobilisiert potenzielle Unterschriftensammler für eine geplante Initiative „Ja zur Aufhebung der Wehrpflicht“[1].
Sind diese direktdemokratischen Mittel der Volksinitiative und des Referendums nicht geeignete Mittel für all diejenigen, die gesellschaftlich etwas verändern wollen? Soll man nicht mit denjenigen Mitteln anfangen, die uns das System zur Verfügung stellt? Würden wir nicht auch in einer herrschaftsfreien Gesellschaft mit Mehrheitsentscheiden bestimmen, wie die Zukunft aussehen soll? Was ist denn da falsch an der direkten Demokratie?
Wir können hier nicht einen umfassenden Überblick über alle möglichen Arten von Referenden geben[2]. Da aber dieses Mittel (zusammen mit der Volksinitiative) in der Schweizer Politik ein so grosses Gewicht besitzt und unter den Menschen, die etwas ändern wollen, nach wie vor relevant ist und da Referenden zunehmend auch von anderen Ländern für gewisse Teilbereiche der Politik übernommen werden, möchten wir kurz darlegen, wie und zu welchen Zwecken Volksinitiativen und Referenden in der Schweiz eingeführt wurden. Mit einem Referendum kann eine vom Parlament bereits beschlossene Gesetzesänderung zur Volksabstimmung gebracht werden, sofern 50'000 Stimmberechtigte dies mit ihrer Unterschrift verlangen; eine Volksinitiative, die 100‘000 Unterschriften erfordert, kann eine Änderung in der Bundesverfassung (entspricht dem Grundgesetz in Deutschland), begehren. Diese beiden direktdemokratischen Mittel wurden in der Schweiz im 19. Jahrhundert eingeführt (wobei es anfangs weniger Unterschriften brauchte), um den nationalen Zusammenhalt zu stärken. Die Schweiz war 1848 nach dem Sonderbundskrieg zwischen Liberalen und Konservativen als Bundesstaat entstanden. Die siegreichen Liberalen konnten aber nicht regieren, ohne auf die starken Minder- und Besonderheiten Rücksicht zu nehmen: die verschiedenen Sprachen, Kulturen und Konfessionen, Stadt und Land, Berg und Tal. Die damals 25 Kantone und Halbkantone entsprachen einer gesellschaftlichen Heterogenität, die zwar im zentralisierten Bundesstaat zusammengefasst wurde, aber doch irgendwie föderalistisch abgefedert werden musste. So führte die Bourgeoisie 1874 die Initiative und das Gesetzesreferendum ein. Damit hatten die für das System wichtigen politischen Minderheiten ein Mittel in der Hand, um für sie nachteilige Änderungen zu blockieren bzw. zur Volksabstimmung zu bringen oder Verfassungsänderungen vorzuschlagen. Es sind Mittel, die im 19. Jahrhundert vor allem für die ländlichen, katholischen, konservativen Teile der staatstragenden Klasse eingeführt wurden. Allein die Drohung mit dem Referendum führt dazu, dass sich das Parlament genau überlegt, wie der (sprichwörtlich schweizerische) Kompromiss formuliert sein muss, damit er alle Klippen umschiffen kann.
Dieser kurze Ausflug in die Geschichte macht deutlich, dass diese direktdemokratischen Mittel eingeführt wurden, nicht um die bürgerliche Gesellschaft in einem fortschrittlichen Sinne zu verändern, sondern um konservative Teile der Gesellschaft zufriedenzustellen und besser in den Staat zu Bundesstaat zu integrieren. Diese Funktion, die Referendum und Initiative im 19. Jahrhundert hatten, änderte sich mit dem Auftreten des Proletariats als revolutionäre Klasse am Ende des 1. Weltkrieges. Seither dienen die direktdemokratischen Mittel in erster Linie der Ablenkung des selbständigen Kampfes der Arbeiterklasse in die Bahnen des bürgerlich-demokratischen Systems.
Könnte man aber nicht mit einer Volksinitiative eine revolutionäre Verfassungsänderung erwirken? Dabei desillusioniert schon ein Blick auf die Statistik der bis heute zur Abstimmung gebrachten Initiativen: Von deren 171 wurden gerade einmal 16 angenommen (d.h. weniger als 10%); die letzte Initiative, die angenommen wurde, war das Minarettverbot – wahrlich (k)eine revolutionäre Leistung …
Sollen die Arbeiter aber nicht trotzdem zur Urne gehen und ihre Stimme abgeben, wenn sie schon gefragt werden? Man kann doch nichts dagegen haben, wenn die Leute als Stimmbürger und -bürgerinnen selbst entscheiden können, ob sie mit dem einen oder anderen Anliegen einverstanden sind oder nicht?
Um diese Fragen besser beantworten zu können, um gegen jene, die diese Wahlmethode befürworten, argumentieren zu können, reicht es nicht aus, verschiedene Texte oder unsere Plattform zu zitieren[3].
Wer aber die Frage nach dem Nutzen von Referenden für die Arbeiterklasse stellt, geht mit uns offenbar darin einig, dass die Arbeiterklasse diejenige gesellschaftliche Kraft ist, welche vorangehen muss, wenn es darum geht, die gesellschaftlichen Verhältnisse umzuwälzen. Die Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, können wir nur gemeinsam lösen. Eine wirklich klassenlose Gesellschaft lässt sich nur verwirklichen, wenn wir weltweit bewusst und gemeinsam dieses Ziel erkämpfen. In diesem Kampf müssen wir miteinander diskutieren, die beste Lösung in der klärenden, solidarischen Kontroverse suchen. Die demokratische Stimmabgabe ist dagegen ein Einzelakt von Individuen, die möglichst nicht wissen dürfen, wem der Nachbar die Stimme gegeben hat – schliesslich gilt ja das Abstimmungsgeheimnis bzw. das geheime Wahlrecht. Die bürgerliche Demokratie behauptet, dass die Stimmabgabe eine direkte Beteiligung auch der Arbeiter an der politischen Macht beinhalte. Doch genau das Gegenteil ist der Fall: Mit dem passiven Einwerfen eines Stimmzettels stirbt das wirkliche politische Denken. Es wird zu einem leeren Ritual, das uns zwingt, uns entweder hinter die eine oder andere Version bürgerlicher Alternativen zu stellen – Alternativen, welche stets im nationalstaatlichen Denken gefangen sind. In einer Vollversammlung von Arbeitern, die einen Streik beschliessen, werden zwar auch die Stimmen gezählt, doch dient dieser „demokratische“ Akt nur dazu, den Stand der Einigkeit in einem Kollektiv abzuschätzen: Sind wir uns heute einig genug, dass wir den Kampf in dieser oder jener Form aufnehmen? Oder sollen wir noch weiter diskutieren? Das Stimmenverhältnis in einer Vollversammlung oder in einem Arbeiterrat ist nur ein Moment in einem dynamischen Prozess, in dem weiter diskutiert und gekämpft wird. Die Demokratie in der kapitalistischen Gesellschaft ist aber das Gegenteil: Man gibt seine Stimme ab, dann wird ausgezählt – und am Ende hat die Mehrheit hat recht bzw. hat sich durchgesetzt. Das Gesetz, das vorher von den Parlamentariern ausgehandelt wurde, kann nur noch angenommen oder abgelehnt werden. Wollt ihr eine Arbeitslosenversicherung, die pleite geht? Oder wollt ihr schon heute bei der Arbeitslosenentschädigung Abstriche machen, damit die Pleite hinausgeschoben werden kann? Nur das steht im „fulminanten Abstimmungskampf“ um das Arbeitslosenversicherungs-Referendum zur Diskussion.
Fängt denn politisches Denken nicht mit der Diskussion um einen Abstimmungskampf an? Wir meinen, dass das Gegenteil der Fall ist: Spätestens wenn man an der Urne seine Stimme für die eine oder andere der uns vorgelegten systemkonformen „Lösungen“ abgibt, hört das politische Denken und vor allem die gemeinsame Suche nach wirklichen Alternativen zu dieser Gesellschaft auf.
Sicherlich können wir hier nicht verkennen, dass Teile der Arbeiterklasse trotzdem zur Urne gehen, egal ob es sich um Wahlen zur Repräsentation im Parlament oder um Abstimmungen über ein Referendum handelt. Deshalb sind die Arbeiter noch lange nicht dumm oder unfähig; sie sind auch nicht als Privilegierte anzusehen, die auf die Seite der bürgerlichen Klasse gewechselt wären. Es handelt sich um einen Ausdruck der Schwierigkeiten der Arbeiterklasse, zu einem wirklichen Klassenbewusstsein zu gelangen. Dieses Bewusstsein ist noch nicht an jenem Punkt angelangt, wo die Manöver und Spaltungstaktiken der herrschenden Klasse kollektiv durchschaut werden. Auch wenn die Bourgeoisie bei ihrem Spiel mit der Demokratie mitunter Schwierigkeiten hat, gelingt es ihr immer wieder, kurzfristig ihre Interessen durchzusetzen. Dabei ist die demokratische Methode eine ihrer Waffen, mit der sie Illusionen verbreiten kann. Und vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die parlamentarische (repräsentative) Demokratie bei vielen Leuten je länger je weniger verfängt, ist zu beobachten, dass die herrschende Klasse auch in anderen Ländern direktdemokratische Mittel in Teilbereichen der Politik einführen will. In Österreich und Deutschland gibt es Bürgerinitiativen, die sich für „mehr Demokratie“ einsetzen. In Italien gibt es schon verschiedene Arten von Referenden, die vor allem von der parlamentarischen Linken propagiert werden[4].
Gerade die demokratischen Illusionen der Arbeiterklasse sind für den Kapitalismus sehr wichtig. Sie binden die Arbeiterklasse an die herrschende Logik des Staates und hindern sie daran, nach ihren eigenen Lösungen zu suchen und gemeinsam dafür zu kämpfen – über alle Grenzen hinweg! Ghz & Flc, 16.05.10
[1] Vgl. unseren Artikel von 2009 über diese Gruppe: /content/1826/initiative-der-gruppe-schweiz-ohne-armee-gegen-neue-kampfflugzeuge [142]
[2] Um diesbezüglich genauere Informationen zu bekommen, siehe den Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Referendum [143]
[3] Wir haben darüber einige Artikel veröffentlicht. Interessenten möchten wir wir auf unsere territoriale und internationale Presse, insbesondere auf den Artikel „Wählt nicht, kämpft“, verweisen. Ebenfalls möchten wir auf unsere Broschüre „Plattform und Manifeste“, insbesondere auf den Plattformpunkt acht über die parlamentarischen Wahlen, hinweisen.
(dieser Text wurde von Genoss/Innen ua. Der „Freunde der klassenlosen Gesellschaft“ übersetzt und zirkuliert. Wir bedanken uns für die Zusendung des Textes und möchten unseren Leser/Innen hier die ungekürzte Version zur Verfügung stellen. In unserer Zeitung haben wir einen Auszug veröffentlicht-IKS)
Obwohl sich der akute fiskalpolitische Terrorismus zurzeit mit ständigen Drohungen eines unmittelbar bevorstehenden Staatsbankrotts und „notwendigen Opfern“ von Tag zu Tag verschärft, war die Antwort des Proletariats unmittelbar vor der Verabschiedung neuer Austeritätsmaßnahmen im griechischen Parlament beeindruckend. Es war vermutlich die größte Demonstration von Arbeitern seit dem Ende der Diktatur, größer noch als die im Jahr 2001, die zum Ergebnis hatte, dass eine geplante Rentenreform zurückgezogen wurde. Nach unseren Schätzungen waren im Athener Stadtzentrum mehr als 200.000 und im Rest des Landes weitere 50.000 Demonstranten auf der Straße. In fast allen Sektoren des (Re-)Produktionsprozesses fanden Streiks statt. Auch eine proletarische Menge, die jener ähnelte, die im Dezember 2008 auf die Straße gegangen war (und die in der Propaganda der Mainstream-Medien abwertend als „vermummte Jugendliche“ bezeichnet wird), war mit dabei, ausgerüstet mit Äxten, Hämmern und Vorschlaghammern, Molotowcocktails, Steinen, Gasmasken, Schutzbrillen und Stöcken. Obwohl die Vermummten mitunter ausgebuht wurden, wenn sie zu gewaltsamen Angriffen auf Gebäude übergingen, passten sie insgesamt gut in den bunt zusammengewürfelten und wütenden Strom von Demonstranten. Die Parolen reichten von einer vollständigen Ablehnung des politischen System („Brennen wir dieses Bordell von Parlament nieder!“) bis zu patriotischen („IWF raus!“) und populistischen Losungen („Diebe!“, „Das Volk verlangt, dass die Gauner ins Gefängnis gesteckt werden!“). Parolen, die sich aggressiv gegen Politiker im Allgemeinen richten, gewinnen gegenwärtig mehr und mehr Verbreitung.
Auf der Demo der Gewerkschaftsverbände GSEE (privater Sektor) und ADEDY (öffentlicher Dienst) überfluteten die Leute den Platz zu Tausenden; als der GSEE-Vorsitzende seine Rede begann, wurde er ausgepfiffen. Wie bereits auf der Demo vom 11. März schlug die GSEE-Führung einen Umweg ein, um die Masse zu umgehen und sich an die Spitze des Zugs zu setzen, aber diesmal folgten ihr nur wenige…
Die Demo von PAME (der „Arbeiterfront“ der Kommunistischen Partei) war mit deutlich über 20.000 Teilnehmern ebenfalls groß und kam als erste am Syntagma-Platz an. Geplant war, dass sie dort eine Weile bleibt und dann vor dem Eintreffen der größeren Hauptdemonstration den Platz verlässt. Doch die Mitglieder wollten nicht gehen, sondern blieben stehen und riefen wütende Parolen gegen die Politiker. Die KP-Vorsitzende erklärte später, faschistische Provokateure (konkret beschuldigte sie die LAOS-Partei, ein Mischmasch aus rechtsradikalen Schlägern und einem Abschaum von Nostalgikern der Junta) hätten PAME-Tafeln getragen und KP-Mitglieder dazu angestachelt, das Parlament zu stürmen, und damit die Verfassungstreue der KP diskreditiert! Das ist zwar insofern nicht ganz falsch, als dort tatsächlich Faschisten gesichtet wurden, doch wie Augenzeugen berichten, bereitete es der KP-Führung in Wahrheit gewisse Schwierigkeiten, ihre Mitglieder eilig von dem Platz wegzulotsen und daran zu hindern, wütende Parolen gegen das Parlament zu rufen. Vielleicht ist es zu gewagt, darin ein Anzeichen für aufkeimenden Ungehorsam in der straff disziplinierten monolithischen Partei zu sehen, aber in so bewegten Zeiten kann das niemand mit Gewissheit sagen...
Die gut 70 Faschisten, die sich gegenüber der Bereitschaftspolizei aufgestellt hatten, verfluchten die Politiker („Hurensöhne, Politiker!“), sangen die Nationalhymne und warfen sogar ein paar Steine auf das Parlament; wahrscheinlich wollten sie eine Eskalation der Gewalt verhindern, doch sie wurden rasch von den riesigen Wellen von Demonstranten verschluckt, die sich dem Platz näherten.
Größere Gruppen von Arbeitern (Elektriker, Postarbeiter, Angestellte der Stadtverwaltung) versuchten sogleich, auf jedem erdenklichen Weg in das Parlamentsgebäude zu gelangen, doch mehrere Hundert Bullen auf dem Vorplatz versperrten sämtliche Eingänge. Eine andere Menge von Arbeiterinnen und Arbeitern aller Altersgruppen stellte sich den Bullen entgegen, die vor dem Grab des Unbekannten Soldaten standen, und beschimpften und bedrohten sie. Die Bereitschaftsbullen konnten die Menge zwar durch einen massiven Gegenangriff mit Tränengas und Rauchbomben auseinander treiben, doch es zogen ständig neue Blöcke von Demonstranten vor das Parlament, während diejenigen, die zurückgedrängt worden waren, sich von Neuem in der Panepistimiou-Straße und der Syngrou-Allee sammelten. Sie zerstörten, was immer gerade in Reichweite war, und attackierten die Einheiten der Bereitschaftspolizei, die über die angrenzenden Straßen verteilt waren. Obwohl die meisten großen Gebäude im Stadtzentrum mit Rollläden geschlossen waren, konnten sie auch einige Banken und staatliche Gebäude angreifen. Insbesondere in der Syngrou-Allee gab es erheblichen Sachschaden, da nicht genug Bullen da waren, um sofort einzuschreiten, denn die oberste Anweisung lautete, das Parlament zu schützen und die Panepistimiou-Straße und die Stadiou-Straße zu räumen, durch welche die Menge immer wieder vor das Parlament zog. Luxusautos, ein Finanzamt und die Präfektur von Athen wurden in Brand gesetzt und noch Stunden später sah es in der Gegend aus wie in einem Kriegsgebiet.
Die Straßenschlachten dauerten beinahe drei Stunden. Es ist unmöglich, das Geschehen hier vollständig darzustellen. Nur ein Beispiel: Einigen Lehrern und Arbeitern gelang es, Bereitschaftsbullen der Gruppe D – einer neuen Einheit mit Motorrädern – zu umzingeln und zu verprügeln, während die Bullen riefen: „Bitte nicht, wir sind auch Arbeiter!“
Die in die Panepistimiou-Straße zurückgedrängten Demonstranten zogen immer wieder in Blöcken vor das Parlament und die Zusammenstöße mit der Polizei hörten nicht auf. Auch hier war die Menge bunt gemischt und wollte nicht gehen. Mit Steinen in den Händen erzählte uns ein Gemeindearbeiter sichtlich bewegt, wie sehr ihn die Situation an die ersten Jahre nach dem Ende der Diktatur erinnerte; 1980 hatte er an der Demonstration zum Gedenken an den Aufstand im Polytechnikum teilgenommen, bei der die Polizei die 20 Jahre alte Arbeiterin Kanellopoulou ermordete.
Kurz darauf erreichte die entsetzliche Meldung ausländischer Nachrichtenagenturen die Handys: drei oder vier Tote in einer ausgebrannten Bank!
Es hatte an mehreren Stellen Versuche gegeben, Banken niederzubrennen, aber die Menge ließ davon jeweils ab, da in den Gebäuden Streikbrecher eingeschlossen waren. Nur das Gebäude der Marfin Bank in der Stadiou-Straße wurde schließlich in Brand gesetzt. Es waren allerdings nicht „vermummte Hooligans“ gewesen, die die Bankangestellten nur wenige Minuten vor der Tragödie unter anderem als „Streikbrecher“ angebrüllt und sie aufgefordert hatten, das Gebäude zu verlassen, sondern organisierte Blöcke von Streikenden. Aufgrund der Größe und Dichte der Demo, des allgemeinen Aufruhrs und der lauten Sprechchöre herrschte natürlich – wie immer in solchen Situationen – ein gewisses Durcheinander, das es schwierig macht, die Tatsachen über den tragischen Vorfall exakt wiederzugeben. Es scheint jedoch der Wahrheit nahe zu kommen (wenn man einzelne Informationen von Augenzeugen zusammenfügt), dass in dieser Bank, mitten im Zentrum Athens und am Tag eines Generalstreiks, etwa 20 Angestellte von ihrem Boss zur Arbeit gezwungen und „zu ihrem Schutz“ eingeschlossen worden waren und drei von ihnen schließlich an Erstickung starben. Durch ein Loch, das in die Fensterscheibe geschlagen worden war, wurde ein Molotowcocktail ins Erdgeschoss geworfen, doch als mehrere Bankangestellte auf den Balkonen gesehen wurden, riefen ihnen Demonstranten zu, das Gebäude zu verlassen, und versuchten das Feuer zu löschen. Was dann tatsächlich geschah und wieso das Gebäude in so kurzer Zeit in vollen Flammen stand, ist bislang unklar. Über die makabre Serie von Vorfällen – Demonstranten versuchten, den Eingeschlossenen zu helfen, die Feuerwehr brauchte zu lang, einige von ihnen aus dem Gebäude zu holen, und der grinsende Milliardär und Chef der Bank wurde von der wütenden Menge verjagt – wurde wohl hinreichend berichtet. Etwas später gab der Ministerpräsident die Nachricht im Parlament bekannt und verurteilte die „politische Unverantwortlichkeit“ derjenigen, die Widerstand gegen die Maßnahmen leisteten und „zum Tod von Menschen führen“, während die „Rettungsmaßnahmen“ der Regierung „für das Leben“ seien. Diese Verdrehung hatte Erfolg. Kurz darauf folgte ein Großeinsatz der Polizei: die Mengen wurden auseinandergejagt, die gesamte Innenstadt bis spät in die Nacht abgesperrt, der Stadtteil Exarchia einem Belagerungszustand unterworfen; die Polizei drang in ein anarchistisches besetztes Haus ein und nahm viele der Anwesenden fest, ein Zentrum von Migranten wurde zerstört und der Rauch über der Stadt wollte ebenso wenig verschwinden wie ein Gefühl der Bitterkeit und Betäubung…
Die Folgen wurden bereits am nächsten Tag deutlich: Die Aasgeier von den Medien beuteten die tragischen Tode aus, lösten sie als eine „persönliche Tragödie“ aus ihrem allgemeinen Kontext (bloße Leichen, abgetrennt von allen gesellschaftlichen Beziehungen) und gingen in einigen Fällen so weit, Protest und Widerstand zu kriminalisieren. Die Regierung gewann etwas Zeit, indem sie das Thema der Auseinandersetzungen verschob, und die Gewerkschaften sahen sich von jeglicher Pflicht entbunden, für den Tag der Verabschiedung der Maßnahmen zum Streik aufzurufen. In diesem Klima der Angst, Enttäuschung und Erstarrung versammelten sich abends trotzdem ein paar Tausend Leute auf einer Kundgebung vor dem Parlament, zu der die Gewerkschaften und linke Organisationen aufgerufen hatten. Die Wut war noch immer da, es wurden die Fäuste gereckt, Wasserflaschen und ein paar Böller auf die Bullen geworfen und Parolen gegen das Parlament und die Polizei gerufen. Eine alte Frau forderte die Leute zu Sprechchören auf, dass „sie [die Politiker] verschwinden sollen“, ein Typ pinkelte in eine Flasche und warf sie auf die Bullen; nur wenige Antiautoritäre waren gekommen, und als es dunkel wurde und die Gewerkschaften und die meisten Organisationen gingen, blieben noch immer Leute da, vollkommen unbewaffnete, gewöhnliche, alltägliche Leute. Von der Polizei brutal angegriffen, zurückgedrängt und die Stufen am Syntagmaplatz hinuntergeworfen, wurde die von Panik ergriffene, aber zugleich wütende Menge aus jungen wie alten Leuten schließlich in den angrenzenden Straßen auseinander getrieben. Die Ordnung war wieder hergestellt. Es stand ihnen jedoch nicht nur die Angst ins Gesicht geschrieben; auch ihr Hass war unübersehbar. Es ist sicher, dass sie wiederkommen werden.
§ Ein hartes Durchgreifen gegen Anarchisten und Antiautoritäre hat bereits eingesetzt und wird sich noch verschärfen. Die Kriminalisierung eines gesamten sozialen und politischen Milieus, das bis zu den Organisationen der extremen Linken reicht, war schon immer ein Ablenkungsmanöver des Staates, das nun, da ihm der mörderische Angriff so günstige Bedingungen bietet, erst recht zum Einsatz kommen wird. Doch den Anarchisten etwas anzuhängen, wird nicht dazu führen, dass die mehreren Hunderttausend Demonstranten und die noch viel größere Zahl von Menschen, die untätig geblieben, aber ebenfalls besorgt sind, den IWF und das „Rettungspaket“ vergessen, das ihnen die Regierung anbietet. Niemand kann seine Rechnungen bezahlen oder in eine weniger düstere Zukunft blicken, nur weil unser Milieu schikaniert wird. Die Regierung wird in absehbarer Zeit den Widerstand überhaupt kriminalisieren müssen, und wie die Vorfälle vom 6. Mai zeigen, hat sie damit bereits begonnen.
§ In begrenztem Maße wird der Staat zudem versuchen, die „Schuld“ bestimmten Politikern zuzuschieben, um die „Stimmung im Volk“ zu besänftigen, die sich durchaus zu einem „Blutdurst“ entwickeln könnte. Um die Wogen zu glätten, wird er möglicherweise ein paar eklatante Fälle von „Korruption“ aburteilen und ein paar Politiker opfern.
§ Im Zuge eines Spektakels der Schuldzuweisungen sprechen sowohl LAOS wie die KP von einer „Abweichung von der Verfassung“. Darin drückt sich die zunehmende Angst der herrschenden Klasse vor einer Verschärfung der politischen Krise, einer Verschärfung der Legitimationskrise aus. Derzeit erleben verschiedene Szenarien eine Neuauflage (eine Partei der Geschäftsleute, eine Art Regime der Junta), die die tiefe Angst vor einem proletarischen Aufstand offenbaren und de facto dazu dienen, das Problem der Schuldenkrise wieder von der Straße auf die Bühne der großen Politik zu verschieben – zu der banalen Frage „Wer wird die Lösung sein?“ statt „Was ist die ‚Lösung’?“.
§ Vor dem Hintergrund all dessen ist es höchste Zeit, zu den entscheidenden Fragen zu kommen. Es ist mehr als deutlich, dass bereits das widerliche Spiel begonnen hat, die Angst und Schuldgefühle wegen der Schulden in Angst und Schuldgefühle wegen des Widerstands und des (gewaltsamen) Aufruhrs gegen den Terrorismus der Schulden zu verwandeln. Wenn der Klassenkampf eskaliert, könnte sich die Lage mehr und mehr wie ein regelrechter Bürgerkrieg darstellen. Die Gewaltfrage ist bereits zentral geworden. So wie wir die staatliche Handhabung der Gewalt beurteilen, müssen wir auch die proletarische Gewalt beurteilen: Die Bewegung muss sich in praktischen Begriffen mit Legitimation und Inhalt aufrührerischer Gewalt auseinandersetzen. Was das anarchistisch-antiautoritäre Milieu und die in ihm vorherrschende insurrektionalistische Strömung betrifft, ist die Tradition der Fetischisierung und machoartigen Verherrlichung von Gewalt zu lang und ungebrochen, als dass man ihr gleichgültig gegenüberstehen könnte. Seit Jahren wird die Gewalt als Selbstzweck in allen möglichen propagiert (bis hin zum richtiggehenden bewaffneten Kampf) und insbesondere nach der Rebellion vom Dezember ist ein gewisses Maß an nihilistischem Zerfall zutage getreten (in unserem Text The Rebellious Passage haben wir an einigen Stellen darauf hingewiesen), der sich auf das Milieu selbst erstreckt. An den Rändern des Milieus ist eine wachsende Zahl sehr junger Leute sichtbar geworden, die für nihilistische grenzenlose Gewalt (kostümiert als „Nihilismus des Dezember“) und Zerstörung eintreten, selbst wenn dies das variable Kapital einschließt (in Gestalt von Streikbrechern, „kleinbürgerlichen Elementen“, „gesetzestreuen Bürgern“). Dieser Verfall, der aus der Rebellion und ihren Grenzen sowie aus der Krise erwächst, ist unübersehbar. In gewissem Maße wurde im Milieu bereits damit begonnen, solche Verhaltenweisen zu verurteilen und Selbstkritik zu leisten (einige anarchistische Gruppen haben die Verantwortlichen für den Anschlag auf die Bank sogar als „parastaatliche Schlägertypen“ bezeichnet) und es ist durchaus möglich, dass organisierte Anarchisten und Antiautoritäre (Gruppen wie besetzte Häuser) versuchen werden, solche Tendenzen sowohl politisch wie in der Praxis zu isolieren. Die Situation ist jedoch komplizierter und übersteigt das theoretische wie praktische (selbst-)kritische Vermögen dieses Milieus. Im Rückblick betrachtet, hätte es auch während der Rebellion vom Dezember zu solchen tragischen Vorfällen mit allen Konsequenzen kommen können – verhindert wurde dies nicht nur durch Zufall (neben Gebäuden, die am 7. Dezember in Brand gesetzt wurden, befand sich eine Tankstelle, die aber nicht explodierte, und die gewalttätigsten Riots fanden nachts statt, als die meisten betroffenen Gebäuden leer waren), sondern auch durch die Schaffung einer (wenngleich begrenzten) proletarischen Öffentlichkeit und von Kampfgemeinschaften, die sich nicht nur durch Gewalt zusammenfanden, sondern auch durch ihre Inhalte, ihren Diskurs und andere Formen der Kommunikation. Diese bereits existierenden Gemeinschaften (von Studierenden, Fußballhooligans, Einwanderern, Anarchisten), die sich durch die rebellierenden Subjekte selbst in Kampfgemeinschaften verwandelten, waren es, die der Gewalt einen sinnvollen Ort zuwiesen. Wird es solche Gemeinschaften nun, da nicht mehr nur eine proletarische Minderheit aktiv ist, von Neuem geben? Werden sich am Arbeitsplatz, in den Stadtteilen oder auf der Straße praktische Formen von Selbstorganisation entwickeln, um Form und Inhalt des Kampfes zu bestimmen und die Gewalt auf diese Weise in eine Perspektive der Befreiung zu stellen?
Beunruhigende Fragen in schwierigen Zeiten, doch während wir kämpfen, werden wir die Antworten finden müssen.
TPTG
9. Mai 2010
Wir bedanken uns sehr bei dem Tekel-Beschäftigten, der diesen Artikel verfasst hat, und sich mit der Zeit zwischen dem 2. März und dem 2. April befasst, und Lehren aus der allgemeinen Entwicklung zieht. IKS
(Die IKS erstellt gegenwärtig auf Deutsch eine Textsammlung mit Dokumenten zum Tekel-Streik. Der hier veröffentlichte 3. Teil baut auf den 1. Teil (welcher schon auf unserer Webseite veröffentlicht wurde) und den 2. (in Übersetzung befindlichen) Teil.
Am 2. März wurden, obwohl wir das ablehnten, die Zelte von den Gewerkschaftsbossen abgerissen, die Straße vor dem Turk-Is-Gebäude geräumt, und wir wurden aufgefordert, wieder nach Hause zurückzukehren. 70-80 verblieben in Ankara, um zu beraten, was wir in den nächsten drei Tagen tun könnten. Nach diesen drei Tagen kehrten 60 von uns nach Hause zurück, und 20 von uns, ich gehörte dazu, blieben noch weitere zwei Tage. Obwohl der Kampf in Ankara 78 Tage dauerte, blieben wir 83 Tage. Wir stimmten darin überein, dass wir uns sehr anstrengen mussten, den Kampf weiterzubringen, und ich kehrte schließlich auch nach Adiyaman zurück. Sobald ich aus Ankara zurückkehrte, fuhren 40 von uns zu unseren Brüdern und Schwestern, die in Gaziantep in der Textilindustrie im Streik stehen. Der Tekel-Kampf war ein Beispiel für unsere Klasse. Als ein Tekel-Beschäftigter war ich sowohl stolz als auch bewusst, dass ich mehr für unsere Klasse tun könnte und selbst dazu beitragen müsste. Obgleich meine wirtschaftliche Lage dies nicht zuließ und trotz der Erschöpfung nach 83 Tagen Kampf und anderen Problemen wollte ich mich noch mehr anstrengen, um den Prozess weiter zu treiben. Wir wollten ein formales Komitee gründen und den Prozess in unsere eigenen Hände nehmen. Auch wenn wir dies noch nicht formalisieren können, mussten wir es zumindest gründen, indem wir in Kontakt mit Beschäftigten aus anderen Städten blieben, da wir am 1. April nach Ankara zurückkehren wollten.
Wir müssen überall hingehen wo wir können und den Leuten über den Tekel-Kampf bis ins letzte Detail berichten. Dazu müssen wir ein Komitee bilden und innerhalb der Klasse zusammenschließen. Unsere Aufgabe ist schwerer als sie erscheint. Wir müssen uns auf der einen Seite mit dem Kapital auseinandersetzen, der Regierung und den Gewerkschaftsführern auf der anderen Seite. Auch wenn unsere wirtschaftliche Lage nicht gut ist, auch wenn wir körperlich müde sind, wenn wir den Sieg wollen, müssen wir kämpfen, kämpfen und nochmals kämpfen!
Obgleich ich von meiner Familie 83 Tage getrennt war, bin ich anschließend nur eine Woche zu Hause geblieben. Ich bin nach Istanbul gefahren, um die Leute über den Widerstand der Tekel-Beschäftigten zu berichten, ohne die Gelegenheit zu haben, mit meiner Frau und meinen Kinder die Zeit nachzuholen. Wir hatten viele Treffen unter den Beschäftigten des Tekel-Komitees, insbesondere in Diyarbakir, Izmir, Hatay, und ich habe mich an vielen Treffen mit Kollegen aus dem informellen Komitee in Istanbul getroffen. Wir hatten ebenso viele Treffen in der Mimar Sinan Universität, eines in dem Lehrerwohnhein Sirinevler, eins in dem Gebäude der Ingenieursgewerkschaft, wir diskutierten mit Piloten und anderen Beschäftigten der Luftfahrtindustrie aus der dissidenten Regenbogenbewegung in Hava-Is, und mit Beschäftigten der Justiz. Wir trafen ebenso den Istanbuler Vorsitzenden der Friedens- und Demokratiepartei und baten darum, dass Tekel-Beschäftigte die Gelegenheit erhalten, am Newroz Feiertag zu reden.
In den Treffen wurden wir alle sehr warmherzig empfangen. Die Bitte der PDP wurde akzeptiert, ich wurde gebeten, auf den Newroz Demonstrationen als Redner aufzutreten. Weil ich nach Adiyaman zurückkehren musste, schlug ich einen Kollegen aus Istanbul als Redner vor. Als ich in Istanbul war, besuchte ich die kämpfenden Feuerwehrleute, die Sinter Metaller, die Esenyurt Kommunalbeschäftigten, den Sabah Verlag, und streikende ATV Fernsehbeschäftigte und am letzten Tag die Beschäftigten der Istanbuler Wasser- und Kanalisationsbetriebe (ISKI). Einen halben Tag lang diskutierten wir mit den Arbeitern, um zu sehen, wie wir den Kampf stärken können; dabei unterrichteten wir sie über den Kampf der Tekel-Beschäftigten. Die ISKI-Beschäftigten berichteten mir, dass sie ihren Kampf begannen, weil sie sich ermutigt fühlten durch den Kampf der Tekel-Beschäftigten. Egal welche Arbeiter ich besuchte, egal bei welcher Demonstration ich mich beteiligte, überall hörte ich „der Kampf der Tekel-Beschäftigten hat uns Mut gegeben“. Während der Woche meines Aufenthaltes in Istanbul machte mich dies sehr glücklich. Mein ganzer Aufenthalt in Istanbul war für mich sehr erfüllend. Natürlich gab es auch Negativerlebnisse. Leider verstarb einer meiner Angehörigen, aber ich blieb dennoch eine ganze Woche wie geplant in Istanbul.
Zu den schlechten Nachrichten gehörte, dass in dieser Zeit 24 Studenten von ihrer Schule verwiesen wurden (Mehmetcik Gymnasium), weil sie den Tekel-Kampf unterstützt haben. Und in Ankara wurde auch eine Klassenschwester von uns aus dem Wissenschafts- und Technologieforschungsrat der Türkei (TUBITAK), Aynur Camalan, entlassen. Wenn das Kapital Arbeiter wie wir so brutal angreift, müssen wir uns dagegen zusammenschließen. So verfassten wir zwei Stellungnahmen für die Presse in Adiyaman und zeigten, dass unsere Freunde nicht alleine dastanden. Wir bereiteten uns auch für Demonstration des 1. April vor. Die Gewerkschaftsführer wollten, dass lediglich 50 Beschäftigte aus jeder Stadt nach Ankara kommen sollten, so dass insgesamt nicht mehr als 1000 Arbeiter zusammenkommen sollten. Als ein informelles Komitee erhöhten wir diese Zahl von 50 auf 180 in Adiyaman allein, und ich kam am 31. März schon mit 10 Kollegen nach Ankara.
Trotz all der Ankündigungen der Gewerkschaften, die Zahl auf 50 pro Stadt zu beschränken, gelang es uns, 180 Arbeiter zu mobilisieren (wobei wir die Kosten übernahmen, nicht die Gewerkschaften), weil wir uns dessen bewusst waren, dass die Gewerkschaften wie früher wieder zu manipulieren versuchen wollten. Wir hatten viele Treffen mit Massenorganisationen, Vereinigungen und Gewerkschaften. Wir besuchten Aynur Camalan, die Klassenschwester von TUBITAK, die ihren Job verloren hatte.
Am 1. April versammelten wir uns in Kizilay, aber wir mussten uns sehr bemühen, vor das Turk- Is zu gelangen, weil 15.000 Polizisten das Gebäude bewachten. Was taten all diese Polizisten vor uns und dem Gewerkschaftsgebäude? Jetzt müssen wir diejenigen fragen, die sich gegen uns richten. (…) Wenn ein Bollwerk von 15.000 Polizisten zwischen uns und den Gewerkschaften aufgebaut wird, warum bestehen dann überhaupt Gewerkschaften? Wenn ihr mich fragt, ist es ganz natürlich, dass die Polizei die Gewerkschaften und die Gewerkschaftsführer schützt, denn stellen sich die Gewerkschaften und deren Führer nicht vor die Regierung und das Kapital? Bestehen die Gewerkschaften nicht nur, um die Arbeiter im Interesse des Kapitals unter Kontrolle zu behalten?
Am 1. April gelang es ca. 35-40 von uns trotz alledem die Barrikaden einzeln zu durchbrechen und vor das Gebäude der Gewerkschaft Turk-Is zu gelangen. Es ging uns darum, eine gewisse Mehrheit zu erreichen, und dass auch andere dort hin gelangen könnten; aber das gelang uns nicht, unglücklicherweise gelang es unserer Mehrheit nicht, mit 15.000 Polizisten fertig zu werden. Die Gewerkschaften hatten verkündet, dass nur 1000 von uns nach Ankara kommen würden. Als informellem Komitee gelang es uns, diese Zahl auf 2300 zu erhöhen. 15.000 Polizisten blockierten den 2300 den Weg. Wir versammelten uns auf der Sakarya-Straße. Dort sollten wir mindestens die Nacht verbringen, mit all denjenigen, die gekommen waren um uns zu unterstützen. Tagesüber waren wir zweimal von der Polizei angegriffen worden, die dabei Pfefferspray und Polizeiknüppel einsetzte. Wir wollten natürlich die Nacht vor dem Hauptquartier der Gewerkschaft Turk-Is verbringen, aber als wir auf die Polizei stießen, verharrten wir in der Sakarya-Straße. Im Laufe der Nacht riefen jedoch die Gewerkschaftsleute die uns unterstützenden Arbeiter leise und gerissen dazu auf, das Gebiet zu räumen. So blieben wir nur als eine Minderheit vor. Die Gewerkschafter forderten mich auch mehrmals auf, den Rückzug anzutreten, aber wir beugten uns ihnen nicht und blieben vor Ort. Aber als unsere Unterstützer gegen 23.00h abzogen, mussten wir auch gehen.
Für den 2. April wurde eine Presseankündigung erwartet. Als wir gegen 9.00 h in der Sakarya-Straße eintrafen, wurden wir von der Polizei angegriffen, die erneut Pfefferspray und Schlagstöcke einsetzte. Eine Stunde später oder so gelang ca. 100 von uns, die Polizeiabsperrungen zu durchbrechen und ein Sit-in zu beginnen. Die Polizei bedrohte uns. Wir widersetzten uns. Die Polizei musste die Absperrung öffnen, und uns gelang es mit der anderen Gruppe, die draußen geblieben war, zusammenzuschließen. Wir begannen, in Richtung des Gebäudes der Turk-Is zu marschieren, aber die Gewerkschaftsbosse taten erneut das, was sie tun mussten, und machten ihre Stellungnahme gegenüber der Presse ca. 100 m von der Gewerkschaftszentrale entfernt. Egal wie stark wir dies forderten, die Gewerkschaftsführer weigerten sich, vor das Gewerkschaftsgebäude auf die Straße zu kommen. Die Gewerkschaften und die Polizei handelten Hand in Hand; und da einige von uns abrückten, gelang es uns nicht dorthin zu gehen, wohin wir wollten. Es gab einen interessanten Punkt, den die Gewerkschafter verkündet hatten. Sie sagten, sie würden am 3. Juni zurückkommen und dort drei Nächte verbringen. Es ist schon merkwürdig, wie wir dort drei Nächte verbringen sollen, da es uns nicht mal gelang, eine einzige Nacht dort auszuhalten. Danach musste die Polizei zunächst die Gewerkschafter vor uns schützen und ihnen den Fluchtweg freihalten; dann standen wir der Polizei allein gegenüber. Ungeachtet der Drohungen und dem Druck der Polizei, zerstreuten wir uns nicht; darauf folgte ein Angriff mit Pfefferspray und Schlagstöcken, worauf wir uns am Nachmittag zerstreuten. Wir ließen einen schwarzen Trauerkranz von einigen Floristen binden, um das Verhalten der Turk-Is und der Regierung zu verurteilen, den wir vor der Gewerkschaftszentrale niederlegten.
Meine lieben Klassenbrüder und –schwestern: Was wir uns fragen müssen, wenn 15.000 Polizisten vor dem Gewerkschaftsgebäude und den Arbeitern zusammengezogen sind und Absperrungen errichtet haben, wozu bestehen eigentlich Gewerkschaften? Ich rufe alle meine Klassenbrüder- und schwestern auf, wenn wir den Sieg erringen sollen, müssen wir gemeinsam kämpfen.
Wir als Tekel-Beschäftigte haben einen Funken gezündet; alle zusammen werden wir diesen zu einem gewaltigen Feuerball machen. Deshalb möchte ich meinen Respekt für euch alle zum Ausdruck bringen, indem ich meinen Text mit einem Gedicht ende:
The steam of the tea flies away while our lives are still fresh
Cloths get as long as roads, and only sorrow returns
A bown of rice, they say our food has landed on our homes
Yearnings become roads, roads, where does labour go
Hunger is for us, cold is for us, poverty is for us
They have called in fate, living with it is for us
Us who feed, us who hunger, us who are naked again
We have not written this fate, it is us who will break it yet again
Wir als Tekel-Beschäftigte sagen, auch wenn wir eine Niederlage einstecken sollten, werden wir unseren Kindern eine ehrbare Zukunft hinterlassen.
Ein Tekel-Beschäftigter aus Adiyaman
Im Sommer 1980 hielt die polnische Arbeiterklasse die ganze Welt in Atem. Eine riesige Massenstreikbewegung entfaltete sich: Mehrere Hunderttausend Arbeiter streikten wild in verschiedenen Städten und brachten die herrschende Klasse in Polen, aber auch in den anderen Ländern zum Zittern.
Heute, wo in Griechenland die Arbeiterklasse wieder anfängt, den Folgen der Wirtschaftskrise massenhaft die Stirn zu bieten, ist es umso wichtiger, sich mit der Frage des Massenstreiks und insbesondere mit seinem letzten Beispiel damals in Polen zu befassen.
Nach der Ankündigung von Preiserhöhungen für Fleisch reagierten die Arbeiter in vielen Betrieben prompt mit Arbeitsniederlegungen. Am 1. Juli 1980 streikten Arbeiter in Tczew bei Danzig und in dem Warschauer Vorort Ursus. In Ursus wurden Vollversammlungen abgehalten, ein Streikkomitee gebildet, gemeinsame Forderungen aufgestellt. In den Tagen danach weitere Ausdehnung der Streiks: Warschau, Lodz, Danzig.... Die Regierung versuchte mit schnellen Konzessionen in Form von Lohnerhöhungen eine weitere Ausdehnung einzudämmen. Mitte Juli traten die Arbeiter der verkehrsmäßig zentral gelegenen Stadt Lublin in den Streik. Diese Stadt liegt an der Strecke UdSSR - DDR, der Versorgungsader der sowjetischen Truppen in der DDR. Ihre Forderungen lauteten: keine Repression gegen die Streikenden, Abzug der Polizei aus den Fabriken, Lohnerhöhungen und freie Gewerkschaftswahlen.
An einigen Orten wurde die Arbeit wieder aufgenommen, in anderen schlossen sich weitere Arbeiter der Bewegung an. Ende Juli hoffte die Regierung, sie hätte durch ihre Taktik, mit jedem Betrieb gesondert zu verhandeln, die Flamme der Streiks ausgelöscht. Aber am 14. August erhielt die Bewegung wieder Auftrieb: Die Bediensteten der Verkehrsbetriebe von Warschau und die Werftarbeiter von Danzig traten in den Streik. Und wieder aus immer mehr Orten neue Streikmeldungen.
Die Arbeiter hatten aus den Kämpfen von 1970 und 1976 die Lehren gezogen. Sie hatten gesehen, dass die offiziellen Gewerkschaften Teil des stalinistischen Staatsapparates waren und bei jeder Forderung der Arbeiter auf Seiten der Regierung standen. Deshalb war ein Ausschlag gebendes Moment für die Streikbewegung von 1980 die Selbstinitiative der Arbeiter; sie warteten auf keine Anweisung von oben, sondern kamen selbst zusammen, um Zeitpunkt und Schwerpunkt ihrer Kämpfe zu bestimmen.
Am deutlichsten wurde dies in der Region Danzig-Gdynia-Zopot, dem Industriegürtel an der Ostsee. Die Lenin-Werft in Danzig beschäftigte allein ca. 20.000 Arbeiter. In einer Massenversammlung wurden gemeinsam Forderungen aufgestellt. Ein Streikkomitee wurde gebildet, anfangs standen ökonomische Forderungen im Vordergrund.
Die Arbeiter waren entschlossen: Eine blutige Niederschlagung der Kämpfe wie 1970 und 1976 sollte sich nicht wiederholen. Gerade in einer Industriehochburg wie Danzig-Gdynia-Zopot war es so offensichtlich, dass sich alle Arbeiter zusammenschließen mussten, um das Kräfteverhältnis zu ihrem Gunsten zu beeinflussen. Ein überbetriebliches Streikkomitee (MKS) wurde gebildet. Ihm gehörten 400 Mitglieder an, zwei Vertreter je Fabrik. In der zweiten Augusthälfte gab es ca. 800-1000 Delegierte. Durch die Bildung eines überbetrieblichen Streikkomitees wurde die Zersplitterung in verschiedene Betriebe und Industriebranchen überwunden. Die Arbeiter traten dem Kapital in geschlossener Front entgegen. Sie versammelten sich täglich auf dem Gelände der Lenin-Werft.
Lautsprecher wurden angebracht, damit die Diskussionen des Streikkomitees von Allen mitgehört werden konnten. Kurze Zeit später wurden Mikrofone außerhalb des Versammlungsraumes des Streikkomitees installiert, damit die Arbeiter aus den Versammlungen heraus direkt in die Diskussion eingreifen konnten. Abends fuhren die Delegierten - meist mit Kassetten über die Verhandlungen ausgerüstet - in ihre Betriebe zurück und stellten sich den Vollversammlungen.
Durch diese Vorgehensweise wurde ein Großteil der Arbeiter direkt an den Kämpfen beteiligt, die Delegierten mussten Rechenschaft ablegen, waren jederzeit abwählbar, und die Vollversammlungen in den jeweiligen Betrieben konnten nicht hinters Licht geführt werden, wie es die Gewerkschaften üblicherweise tun. In einzelnen Betrieben wurden zusätzliche Forderungen formuliert.
Unterdessen breitete sich nach Eintritt der Arbeiter von Danzig-Gdynia und Zopot die Bewegung auf andere Städte weiter aus. Um den Kontakt der Arbeiter untereinander zu blockieren, unterbrach die Regierung am 16. August die Telefonleitungen. Die Arbeiter drohten sofort mit einer weiteren schnellen Ausdehnung der Streiks. Die Regierung gab nach!
Die Vollversammlung der Arbeiter beschloss die Bildung einer Arbeitermiliz. Da der Alkoholkonsum gerade auch in den Reihen der Arbeiter sehr stark war, beschloss man gemeinsam, den Alkoholkonsum zu verbieten. Die Arbeiter wussten, sie brauchen einen klaren Kopf, um der Regierung entgegenzutreten!
Eine Regierungsdelegation kam zu Verhandlungen mit den Arbeitern - vor versammelter Belegschaft, nicht hinter verschlossenen Türen. Die Arbeiter verlangten die Neuzusammensetzung der Regierungsdelegation, weil deren Anführer nur eine Marionette war. Die Regierung gab nach.
Als die Regierung mit dem Einsatz von Militär gegen die Arbeiter in Danzig drohte, reagierten die Eisenbahner von Lublin: „Wenn den Arbeitern in Danzig auch nur ein Haar gekrümmt wird, dann legen wir die strategisch wichtige Eisenbahnverbindung von der UdSSR in die DDR lahm“. Die Regierung hatte verstanden! Dies hätte bedeutet, dass ihre Kriegswirtschaft, ihre Truppen an einem lebenswichtigen Nerv getroffen worden wären, und dies zu Zeiten des Kalten Krieges.
In nahezu allen Großstädten waren die Arbeiter mobilisiert.
Über eine halbe Million Arbeiter hatten gemerkt, dass sie die entscheidende Kraft im Lande waren, die direkt der Regierung gegenübertrat. Sie hatten gespürt, was sie stark machte:
- die schnelle Ausdehnung des Kampfes, anstatt sich in gewaltsamen Konfrontationen wie 1970 und 1976 aufzureiben,
- die Selbstorganisierung ihrer Kämpfe, die Selbstinitiative, anstatt sich den Gewerkschaften anzuvertrauen,
- die Vollversammlungen, die Verhandlungen des überbetrieblichen Streikkomitees mit der Regierung vor den Augen und Ohren der Arbeiter, die die Kontrolle über die Bewegung ausüben, größtmögliche Massenaktivität vor Ort.
Kurzum: die Ausdehnung der Bewegung war die beste Waffe der Solidarität. Hilfe nicht nur durch Deklarationen, sondern indem man selbst in den Kampf trat. Das veränderte das Kräfteverhältnis von Grund auf. Und weil die Arbeiter so massiv auf den Plan traten, konnte die Regierung keine Repression ausüben. Während der Sommerstreiks, als die Arbeiter in einer Front geschlossen dem Kapital gegenübertraten, gab es keinen einzigen Verletzten oder Toten. Die polnische Bourgeoisie wusste, dass sie diesen Fehler nicht begehen durfte, dass sie stattdessen die Arbeiterklasse erst von innen schwächen musste.
Schließlich forderten die Arbeiter in Danzig, denen die Regierung nachgegeben hatte, die zugestandenen Konzessionen auf die anderen Städte anzuwenden. Sie wollten sich nicht spalten lassen, sondern boten ihre Solidarität den Arbeitern in den anderen Städten an.
Die Arbeiterklasse war der Anziehungspunkt:
Arbeiter aus verschiedenen Städten reisten nach Danzig, um direkt mit den Streikenden dort Kontakt aufzunehmen. Aber auch Bauern und Studenten kamen zu den Fabriktoren, um die Streikbulletins, die Informationen selbst entgegenzunehmen. Die Arbeiterklasse war die führende Kraft.
Welche Gefahr von den Kämpfen in Polen ausging, konnte man anhand der Reaktion der herrschenden Klasse in den Nachbarländern erkennen.
Sofort wurde die Grenze zur DDR, zur CSSR und zur Sowjetunion dicht gemacht. Während noch zuvor Tag für Tag polnische Arbeiter in die DDR, vor allem nach Berlin zum Einkaufen fuhren, da es in den leeren Regalen in Polen noch weniger Erzeugnisse als in der DDR gab, wollte die osteuropäische Bourgeoisie nun die polnische Arbeiterklasse isolieren. Eine direkte Kontaktaufnahme zu den Arbeitern in den anderen Ländern sollte mit allen Mitteln verhindert werden! Und zu dieser Maßnahme gab es allen Anlass. Denn in der benachbarten CSSR streikten im Kohlerevier um Ostrau - dem polnischen Beispiel folgend - die Kumpel. Auch im rumänischen Bergbaurevier und im russischen Togliattigrad griffen die Arbeiter das Beispiel der polnischen Arbeiter auf. Auch wenn es im Westen zu keinen Solidaritätsstreiks kam, so griffen doch die Arbeiter an vielen Orten die Losungen ihrer Klassenbrüder und -schwestern in Polen auf. In Turin skandierten im September 1980 die Arbeiter ‘Machen wir es wie in Danzig’.
Aufgrund seines Ausmaßes sollte der Massenstreik in Polen eine gewaltige Ausstrahlung auf die Arbeiter in anderen Ländern haben. Wie 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und Polen und 1970 sowie 1976 erneut in Polen zeigten die polnischen Arbeiter mit ihrem Massenstreik von 1980 auf, dass die sich „sozialistisch“ schimpfenden Regimes staatskapitalistische, arbeiterfeindliche Regierungen waren. Trotz des Sperrringes, der um Polen gelegt wurde, trotz des „Eisernen Vorhangs“ stellte die Massenbewegung der polnischen Arbeiterklasse einen weltweiten Bezugspunkt dar. Es war die Zeit des Kalten Krieges, des Afghanistankrieges; doch die Arbeiter hatten ein Zeichen gesetzt. Mit ihrem Kampf traten die Arbeiter der militärischen Aufrüstung, der Kriegswirtschaft entgegen. Die Vereinigung der Arbeiter von Ost und West tauchte, auch wenn sie noch nicht konkret formuliert wurde, zumindest wieder als Perspektive auf.
Jeder musste die Kraft und die Ausstrahlung der Arbeiterklasse anerkennen.
Die Bewegung konnte solch eine Kraft entfalten, weil sie sich schnell ausgedehnt hatte und die Arbeiter selbst die Initiative ergriffen hatten. Ausdehnung über alle Fabriktore hinweg, Abwählbarkeit der Delegierten, Vollversammlungen usw., all das hatte ihre Stärke ermöglicht. Anfangs war die Bewegung noch frei von gewerkschaftlichen Fesseln.
Im Laufe der Bewegung jedoch gelang es den Mitgliedern der frisch gegründeten „freien Gewerkschaft“ Solidarnosc, der Bewegung Fesseln anzulegen.
Während zunächst die Verhandlungen offen geführt wurden, verbreitete sich schließlich die Meinung, dass „Experten“ notwendig seien, um Details mit der Regierung auszuhandeln. Immer öfter wurden die Verhandlungen geheim weitergeführt, die Lautsprecheranlagen auf den Werften, die vorher die Verhandlungen übertrugen, funktionierten plötzlich „aus technischen Gründen“ immer seltener. Lech Walesa, von dem später bekannt wurde, dass er ein Spitzel der polnischen Geheimpolizei war, wurde zum Anführer der neuen Gewerkschaftsbewegung gekürt (1). Der neue Feind der Arbeiter, die frisch aus der Taufe gehobene Gewerkschaft „Solidarnosc“, hatte sich eingeschlichen und ihre Sabotagearbeit begonnen. So gelang es den Gewerkschaftsanhängern um Walesa, die Forderungen umzukrempeln. Während anfangs ökonomische und politische Forderungen an oberster Stelle standen, rückte jetzt die Anerkennung der Gewerkschaften an die erste Stelle. Erst danach folgten ökonomische und politische Forderungen (2). Die altbekannte Taktik: Verteidigung der Gewerkschaften statt Verteidigung der Arbeiterinteressen.
Mit dem Ende der Bewegung war eine neue Gewerkschaft aus der Taufe gehoben worden, die die Schwächen der Arbeiterklasse voll auszuschlachten wusste.
Denn war es vorher eine Stärke der Arbeiter in Polen gewesen, sich der Tatsache bewusst zu sein, dass die offiziellen Gewerkschaften auf Staatsseite standen, meinten viele Arbeiter jetzt, dass die neu gegründete, 10 Mio. Mitglieder starke Gewerkschaft Solidarnosc nicht korrupt sei und unsere Interessen verteidige. Die Arbeiter in Polen hatten noch nicht die Erfahrung der Arbeiter im Westen mit „freien Gewerkschaften“ gemacht.
Als Walesa damals predigte: „Wir wollen ein zweites Japan aufbauen, Wohlstand für alle“, glaubten viele Arbeiter in Polen aus Unerfahrenheit mit den kapitalistischen Verhältnissen im Westen an solche Illusionen. So übernahm Solidarnosc und Walesa an der Spitze sehr schnell die Feuerwehrrolle. Denn als die Arbeiter begriffen, dass man jetzt zwar eine neue Gewerkschaft hatte, aber die wirtschaftliche Situation noch schlechter war als zuvor, und im Herbst 1980 unter anderem aus Protest über den Abschluss des Abkommens erneut in den Streik traten, da zeigte die neue Gewerkschaft bereits ihr wahres Gesicht. Schon wenig später wurde Lech Walesa im Armeehubschrauber durchs Land geflogen, um streikende Arbeiter zur Aufgabe zu bewegen: „Wir wollen keine weiteren Streiks, weil sie das Land in den Abgrund führen, wir brauchen Ruhe“.
Von Anfang an betrieb die Gewerkschaft Solidarnosc eine systematische Untergrabungsarbeit. Immer wieder entriss sie den Arbeitern die Initiative, hinderte sie daran, neue Streiks auszulösen. Die Massenstreikbewegung hatte im Sommer 1980 dieses ungeheure Ausmaß annehmen können, weil die polnische Bourgeoisie, wie die stalinistische Regierungen im Ostblock überhaupt, politisch schlecht ausgerüstet war, um der Arbeiterklasse anders als mit Repression entgegenzutreten. Im Westen erledigen die Gewerkschaften und die bürgerliche Demokratie diese Arbeit eines Auffangbeckens. Vor dem Hintergrund dieser politischen Rückständigkeit der dortigen Kapitalistenklasse sowie des Kalten Krieges kam der polnischen Bourgeoisie die neue Gewerkschaft äußerst suspekt vor. Aber nicht das subjektive Empfinden sollte den Ausschlag geben, sondern die objektive Rolle, die Solidarnosc gegen die Arbeiter spielte. So begann die stalinistische Regierung 1981 allmählich zu begreifen, dass trotz der Tatsache, dass Solidarnosc im stalinistischen Herrschaftssystem ein „Fremdkörper“ war, sie nützliche Dienste leistet. Das Kräfteverhältnis begann sich zu wandeln.
Im Dezember 1981 konnte die polnische Bourgeoisie dann die von ihr lange vorbereitete Repression durchführen. Die Solidarnosc hatte die Arbeiter politisch entwaffnet und damit ihre Niederlage möglich gemacht. Während im Sommer 1980 dank der Eigeninitiative der Arbeiter und der Ausdehnung ihrer Kämpfe - ohne eine Gewerkschaft an ihrer Seite - keinem Arbeiter ein Haar gekrümmt wurde, wurden im Dezember 1981 über 1200 Arbeiter ermordet, Tausende ins Gefängnis gesteckt und in die Flucht getrieben. Diese Repression fand nach intensiven Absprachen zwischen den Herrschenden in Ost und West statt.
Nach den Streiks im Sommer 1980 gewährte die westliche Bourgeoisie Solidarnosc alle mögliche „Aufbauhilfe“, um sie gegen die Arbeiter zu stärken. Es wurden Kampagnen wie „Pakete für Polen“ lanciert, Kredithilfen im Rahmen des Währungsfonds gewährt, damit niemand auf den Gedanken kam, dass die Arbeiter im Westen dem Weg der Arbeiter in Polen folgen und den Kampf in die eigenen Hände nehmen. Vor der Repression im Dezember 1981 wurden die Pläne der Niederschlagung zwischen den Regierungschefs direkt abgesprochen. Am 13. Dezember 1981, dem Tag des Beginns der Repression, saßen Helmut Schmidt (Sozialdemokrat) und Altstalinist Erich Honecker unweit von Berlin zusammen und wuschen ihre Hände in Unschuld. Dabei hatten sie nicht nur grünes Licht für die Repression gegeben, sondern auch ihre Erfahrung in diesen Fragen weitergegeben.
Im Sommer 1980 war es wegen des Absperrringes nicht möglich, dass die IKS in Polen selbst intervenierte. Ab September 1980 haben wir jedoch ein internationales Flugblatt zu den Massenstreiks in Polen in nahezu einem Dutzend Staaten verbreitet und mit Hilfe von Kontakten damals auch in Polen zirkulieren lassen. Bei nachfolgenden Interventionen der IKS in Polen kritisierten wir immer wieder die Illusionen der polnischen Arbeiter. Für uns als Revolutionäre galt es, sich nicht den Illusionen der Arbeiter zu beugen, sondern durch das Aufzeigen ihrer mangelnden Erfahrung mit den „radikalen“ Gewerkschaften, wie sie die Arbeiter im Westen gemacht hatten, die Arbeiter zu warnen. Auch wenn unsere Position zu den Gewerkschaften zunächst in Polen unpopulär war und wir in dieser Frage gegen den Strom schwammen, gab uns die Erfahrung letztendlich recht.
Ein Jahr später, im Dezember 1981, zeigte Solidarnosc, welche Niederlage der Arbeiter sie ermöglicht hatte! Nach dem Streikende 1980 war kein Winter vergangen, und schon war Solidarnosc zu einem staatstragenden Element geworden. Dass der ehemalige Führer Lech Walesa später gar Staatspräsident wurde, ist sicherlich nicht nur darauf zurückzuführen, dass er das Vertrauen von Kirche und westlichen Regierungen besaß, sondern auch weil er als Gewerkschaftsvertreter ein ausgezeichneter Verteidiger des Staates ist. Mittlerweile ist er genauso verhasst wie seinerzeit der stalinistische Oberhenker Gierek.
Wenn wir die positiven Lehren vom Sommer 1980 – Ausdehnung der Kämpfe, Selbstorganisierung des Massenstreiks - heute in Erinnerung rufen, dann weil wir auf deren heutige Gültigkeit hinweisen wollen. Auch wenn heute durch die Änderung der internationalen Lage ähnlich selbständige Massenstreiks in nächster Zeit nicht zu erwarten sind, müssen die Lehren aus dieser Bewegung der Arbeiterklasse wieder aufgegriffen werden und in die nächsten Kämpfe mit einfließen. Dav.
1) Auch wenn die Gründung einer „freien Gewerkschaft“ nur durch die Illusionen und Unerfahrenheit der Arbeiter in Polen selbst erklärt werden kann, steht außer Zweifel, dass die Organisationsbestrebungen seitens des KOR (eine teilweise pro-westliche Oppositionsgruppe) nur möglich waren wegen der Hilfestellung aus dem Westen für den systematischen Aufbau der Solidarnosc. Trotz der Gegnerschaft zwischen den beiden imperialistischen Blöcken gab es eine Einheit gegen die Arbeiterklasse.
(2) ‘Sicherheit der Streikenden, Freilassung aller politischen Häftlinge und der Arbeiter, die in Streiks von 1970/76 verurteilt worden waren, Veröffentlichung der Informationen des Streikkomitees, Zahlung der Löhne während des Streiks, Lohnerhöhungen, Inflationsausgleich, bessere Lebensmittelversorgung, Abschaffung der Privilegien für die Staatsbonzen, Herabsetzung des Rentenalters, Verbesserung der medizinischen Versorgung und mehr Kindergartenplätze, mehr Wohnungen, der Samstag soll arbeitsfrei werden, mehr Urlaub für Schichtdienstler’.
Die jüngste Ölpest im Golf von Mexiko wirft ein grelles Licht auf die Rücksichtslosigkeit und den unglaublich nachlässigen und waghalsigen Umgang der Kapitalisten mit den Ressourcen der Natur.
Seit dem Untergang der Ölplattform "Deepwater Horizon" am 22. April, bei dem elf Arbeiter starben, strömen jeden Tag mindestens 800.000 Liter Rohöl in den Golf von Mexiko, verseuchen auf Hunderten von Kilometern die Küsten und hinterlassen einen riesigen Ölteppich im Golf von Mexiko selbst. Dabei kann niemand genau feststellen, wie viel Öl seit dem 22. April aus dem Leck ausströmt. (1) „Einen Monat nach dem Untergang der Bohrplattform ‚Deepwater Horizon‘ ist der Großteil des bisher ausgetretenen Öls unter Wasser geblieben. Bis zu 16 Kilometer lang, sechs Kilometer breit und hundert Meter hoch sind die (...) riesigen Ölschwaden unter der Oberfläche des Golfs von Mexiko.“ Durch den Einsatz von sogenannten Dispergatoren hat man verhindert, „dass ein Teil des Öls an Land geht. Das ist da, wo die größte Konzentration an Journalisten wartet“ (d.h. die größte Öffentlichkeit). (Chemikalien gegen die Ölkatastrophe. Operation Verschleiern und Verschieben, Spiegelonline, 18.05.2010).
Erste Ermittlungen haben ergeben, dass „die für die Aufsicht der Ölförderung verantwortliche Rohstoffbehörde MMS ohne genaue Sicherheits- und Umweltprüfungen Genehmigungen erteilt (…) Im konkreten Fall habe die MMS es unterlassen, den Blowout Preventer [zentrales Abstellventil] vor dem Einsatz auf Tauglichkeit zu prüfen (…) in einem entscheidenden Hydrauliksystem des tonnenschweren Bauteils habe es offenbar ein Leck gegeben. Außerdem sei ein Sicherheitstest wenige Stunden vor der Explosion fehlgeschlagen.“ www.spiegel.de/wissenschaft/natur/us-oelpest-schwere-sicherheitsmaengel-vor-explosion-der-oelplattform-a-694602.html [157] und https://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,694271,00.html [158]
Weitere Ermittlungen haben aufgezeigt, dass gar keine Absauganlagen entwickelt wurden, die austretendes Öl am Meeresboden auffangen könnten. Genauso wenig gibt es Möglichkeiten von Entlastungsbohrungen für solche Notfälle. Welche Haltung verbirgt das wohl, wenn man Ölvorkommen tief am Meeresboden anzapft, ohne überhaupt irgendwelche „Auffangmöglichkeiten“ zu haben und vorgesehene Schließeinrichtungen nicht funktionieren?
„Die 560 Millionen Dollar teure Ölplattform ‚Deepwater Horizon‘ etwa war eine der modernsten Bohrplattformen der Welt. Zwölf Meter hohen Wellen und Winden in Orkanstärke konnte sie trotzen.“(ebenda) Auf der einen Seite astronomische Produktionskosten für den Bau einer solchen Plattform (mehr als eine halbe Milliarde Dollar!) und 100 Millionen Euro Kosten für eine Bohrung, wie sie die Ölplattform zum Zeitpunkt des Unglücks vornahm, und auf der anderen Seite entweder gar nicht vorhandene oder nicht funktionierende Sicherheitssysteme für Notfälle unter Wasser - wie kann man so etwas erklären?
Als die systematische Erdölförderung vor ca. 100 Jahren einsetzte, musste nur ein geringer finanzieller und technischer Aufwand betrieben werden, um die Ölquellen anzuzapfen. Mittlerweile, ein Jahrhundert später, stehen die Ölgesellschaften vor einer neuen Situation. „Ein großer Teil des globalen Erdöls wird aus Feldern gepumpt, die zum Teil bereits vor mehr als 60 Jahren ohne großen technologischen Aufwand gefunden wurden. Heute jedoch müssen die Prospektoren mit kostspieligen Methoden nach Feldern suchen, die an den unzugänglichen Standorten der Erde liegen - und die Ölmengen liefern, die früher als marginal angesehen wurden. (…) Vor allem den westlichen Unternehmen fehlt inzwischen weitgehend der Zugang zu den einfachen, billigen, aussichtsreichen Quellen in Asien und Lateinamerika. Diese nämlich befinden sich inzwischen alle in der Hand nationaler Ölgesellschaften. Sie heißen Saudi Aramco (Saudi-Arabien), Gazprom (Russland), NIOC (Iran) oder PDVSA (Venezuela) und stehen unter staatlicher Obhut. Sie sind die wahren Giganten im Geschäft; sie kontrollieren mehr als drei Viertel der globalen Reserven.
‘Big Oil‘, wie die alten privaten Konzerne noch immer genannt werden, kontrolliert gerade noch rund zehn Prozent der globalen Öl- und Gasreserven. BP und Co. bleiben nur die aufwendigen, teuren und gefährlichen Projekte. Aus der Not heraus stoßen die Konzerne zu den letzten Grenzen vor, zu Vorkommen, die sonst keiner anfassen mag. (…) Milliarden wurden von den Konzernen investiert, um in früher für undenkbar gehaltene Tiefen vorzudringen. Jede neue Explorationsmethode wird von der Industrie bejubelt, treibt sie doch jenen Zeitpunkt weiter hinaus, an dem der Ölfluss versiegen wird. (…) Rund 60 Milliarden Barrel Öl, so eine aktuelle Schätzung der US-Regierung, lagern unter dem Meeresgrund des Golfs von Mexiko. Das gigantische Vorkommen reicht aus, um Amerikas Wirtschaft, (…) fast für ein Jahrzehnt am Laufen zu halten. Erst Ende März hatte US-Präsident Obama verkündet, neue Seegebiete vor der Ostküste der USA, nördlich von Alaska und im östlichen Golf von Mexiko, für Offshore-Bohrungen freizugeben (…) Dass BP und andere Ölgesellschaften bei der Suche und Erschließung an die technologischen Grenzen gehen müssen, liegt daran, dass ihnen keine anderen Möglichkeiten mehr bleiben".
„Längst haben sich die Ölgesellschaften von Plattformen verabschiedet, die auf dem Meeresboden fest verankert sind. Schwimmende Monstren, sogenannte Halbtaucher, dümpeln auf den Ozeanen, unter sich Kilometer von Wasser. Steigleitungen aus Spezialstahl oder extrem festen Verbundwerkstoffen führen in die stockdunkle Tiefe. Normale Leitungen würden unter ihrem eigenen Gewicht zerbersten. In 1500 Meter Tiefe ist das Wasser fünf Grad kalt - das Öl jedoch kommt fast kochend aus dem Grund. Extreme Belastungen des Materials sind die Folge. Die Risiken sind beträchtlich. Mit der Tiefe vergrößern sich die technischen Anforderungen an die Bohrung enorm, Die Technik ist gefährlich: Beim Aushärten entstehen Risse im Zement, durch die Öl und Gas mit Urgewalt nach oben zischen können. Ein Funken reicht dann - und es kommt zur Explosion.“ (ebenda) …wie jetzt!
Fieberhaft kämpfen Zehntausende von Einsatzkräften bislang weitestgehend vergeblich darum, das Öl von weiteren Stränden fernzuhalten. Flugzeuge vom Typ Lockheed C-130 versprühten Tonnen des Chemikaliengemischs Corexit, das den Ölteppich auflösen soll - und das selbst im Verdacht steht, die maritime Lebenswelt zu schädigen. Langfristig können also durch die chemischen Rettungsmaßnahmen durchaus noch größere, unabsehbare Schäden entstehen(2). Die wirtschaftlichen Folgen für die Bevölkerung vor Ort sind aber schon jetzt katastrophal, weil viele Fischer in den Ruin getrieben werden.
Während der Wettlauf um die Erschließung neuer Ölquellen immer höhere Investitionen erfordert, müssen gleichzeitig immer größere technische Wagnisse eingegangen werden. Die kapitalistischen Konkurrenzbedingungen treiben die Rivalen dazu, immer mehr zu riskieren und immer weniger Rücksicht auf die Bedürfnisse der Natur zu nehmen. Schmelzende Polkappen und die damit frei werdenden Nordwest-Passage sowie das auftauende Eis in den Permafrostzonen haben schon seit langem den Appetit der Ölgesellschaften geweckt und zu Spannungen zwischen Ländern geführt, die Gebietsansprüche in der Region erheben.
Während die grenzenlose Verwendung von nicht erneuerbaren, fossilen Energiequellen wie Öl im Grunde ohnehin die reinste Verschwendung und die permanente Suche nach neuen Ölquellen eine reine Absurdität ist, treibt die Wirtschaftskrise und der mit ihr verbundene Konkurrenzkampf die Unternehmen dazu, immer weniger Geld für mögliche und erforderliche Sicherheitssysteme aufzubringen. Das System plündert immer waghalsiger, rücksichtsloser und räuberischer die Ressourcen des Planeten aus. War es seit jeher eine gängige Kriegsmethode, die Politik der „verbrannten“ Erde zu praktizieren, die z.B. auch von den USA im ersten Golfkrieg 1991 eingesetzt wurde, als sie Ölförderanlagen am Persischen Golf in Brand schossen und Unmengen von Öl ausliefen bzw. riesige Brände verursachten, bewirkt der alltägliche Druck der Krise nun, dass man billigend „verbrannte Erde“ und verpestete Meere in Kauf nimmt, um seine ökonomischen Interessen durchzusetzen.
Die jetzige Ölpest war vorhersehbar – genau wie die Katastrophe von 2005, als Hurrikan Katrina die Stadt New Orleans überflutete und ca. 1800 Menschen in den Tod riss, als eine ganze Stadt evakuiert, Hunderttausende umgesiedelt werden mussten. So wie die Katastrophe von New Orleans ein Ergebnis der Unfähigkeit des Kapitalismus war, für ausreichenden Schutz vor den Gefahren der Natur zu sorgen, ist die jetzige Ölpest das Ergebnis kapitalistischen Profitstrebens.
Innerhalb kurzer Zeit sind der Golf von Mexiko und die Karibik Schauplatz gewaltiger Katastrophen geworden. Reiner Zufall?
Als die Erde unter der Karibikinsel Haiti bebte und mehr als 200.000 Menschen den Tod fanden, 300.000 Menschen verletzt und 1.5 Mio. Menschen obdachlos wurden, wurde offensichtlich, dass die Menschen Opfer einer unglaublich nachlässigen Baupolitik geworden waren (s. frühere Artikel auf unserer Webseite). Dass das chronisch verarmte, seit langem von Rückständigkeit geplagte Haiti zum Friedhof für so viele Menschen wurde, erscheint leicht nachvollziehbar. Aber ist es ein Zufall, dass die Umweltkatastrophe im Golf von Mexiko eines der technisch höchst entwickelten Länder, die USA, trifft?
In der Golfregion und der Karibik kommen in Wirklichkeit himmelschreiende Gegensätze und Widersprüche zum Vorschein, die ein typischer Ausdruck eines niedergehenden Systems sind. Sowohl das Schicksal der Menschen im bettelarmen Haiti (wie auch z.B. das Leiden der Opfer im vom Drogenkrieg geplagten Mexiko) als auch die Lage in den USA zeigt, in welches Stadium diese Gesellschaft eingetreten ist.
Einerseits melden immer mehr US-Bundesstaaten Bankrott an (s. Artikel auf unserer Webseite zu den Studentenprotesten in den USA), immer mehr Menschen hausen in Zeltstädten. Andererseits verkündet die US-Regierung mit Stolz: „Das erste Raumschiff der US-Luftwaffe hat seine Feuertaufe bestanden: Am frühen Freitagmorgen [23. April, ein Tag nach dem Beginn der Ölpest] ) startete das geheimnisumwobene Space Plane erfolgreich zu seinem Testflug im All. Vom militärischen Teil des Weltraumbahnhofs Cape Canaveral im Bundesstaat Florida wurde das unbemannte Mini-Shuttle von einer Atlas-V-Rakete in den Orbit befördert. Der unbemannte Weltraumgleiter X-37-B wurde in den vergangenen zehn Jahren unter strengster Geheimhaltung entwickelt (…) Eine naheliegende und mehrfach geäußerte Vermutung ist, dass die X-37-B als Weltraumdrohne zum Einsatz kommen könnte, um strategisch wichtige Ziele überall auf der Welt aufzuklären.“
Während man sich erhofft, damit Gefahren für die Sicherheit der USA aus der Luft aufzuspüren, lässt man die Kräfte weitestgehend frei walten, die unbehindert von oder gar mit Zustimmung und Wohlwollen seitens der US-Behörden die gefährlichsten und bedrohlichsten Eingriffe an der Natur vornehmen, dabei Menschenleben fahrlässig gefährden und, wie jetzt bei den Ölbohrungen, eine auf Jahre hinaus vergiftete Natur hinterlassen.
Die Prioritäten dieses verfaulenden, am Militarismus erkrankten Systems sind klar: Man investiert 35 Milliarden Euro in 180 neue Tankflugzeuge, die u.a. Bomber und andere Massenvernichtungsflugzeuge auftanken sollen, man befördert 30.000 US-Soldaten mit Riesenaufwand durch sieben Länder über Tausende von Kilometern vom Irak nach Afghanistan, damit sie dort weiter wüten können… aber gleichzeitig landen immer mehr Obdachlose auf der Straße, verkommen immer mehr Stadtviertel, verfällt die Infrastruktur und kämpfen immer mehr Menschen ums Überleben. Der Gegensatz zwischen dem, was möglich wäre - eine Gesellschaft, die nicht auf Profit basiert, sondern auf der Bedürfnisbefriedigung der Menschen -, und der grausigen Wirklichkeit im Kapitalismus könnte nicht eklatanter sein. Jeder Tag, den die kapitalistische Produktionsweise die Menschheit weiter im Würgegriff hält, ist ein Tag zu viel. Dv. 18.05.2010
(1) An der Unglücksstelle liefen nach ersten Angaben täglich etwa 1.000 Barrel [159] (160.000 Liter) Rohöl ins Meer. Einige Tage später wurden die Schätzungen durch die Entdeckung eines dritten Lecks auf eine Austrittsmenge von etwa 5.000 Barrel (etwa 800.000 Liter) pro Tag korrigiert. Neuere Berechnungen verschiedener Forscher, die auf Unterwasservideos der Lecks beruhen, liefern eine Austrittsmenge von mindestens 50.000 Barrel (etwa 8 Millionen Liter) täglich.
(2) Bisher sind 1.8 Millionen Liter der Spezialflüssigkeit Corexit im Golf von Mexiko eingesetzt worden... Es besteht die Gefahr dass ein Teil der unterirdischen Ölschwaden in Richtung des offenen Atlantik getragen wird.
(leicht gekürzter Artikel aus unserer International Review Nr. 142 – 3. Quartal 2010)
Der Ausbruch der Finanzkrise 2008 hatte zu einem Produktionsrückgang in den meisten Ländern der Welt geführt (und hauptsächlich zu einer Verlangsamung in China und Indien). Um diesem Phänomen entgegenzutreten, hatten die Herrschenden in den meisten Ländern Konjunkturprogramme verabschiedet, wobei die Chinas und der USA am umfangreichsten waren. Nachdem diese Konjunkturpakete einen teilweisen Anschub der weltwirtschaftlichen Aktivitäten und eine Stabilisierung der Wirtschaft der am meisten entwickelten Länder bewirken konnten, sind die Auswirkungen auf die Nachfrage, die Produktion und den Handel dabei zu verpuffen.
Trotz der Propaganda über den Aufschwung, der in Gang gekommen sei, sind die Herrschenden nunmehr gezwungen einzugestehen, dass die Dinge sich nicht in diese Richtung entwickeln. [Die Wachstumsprognosen werden nach unten korrigiert] In den USA und in Europa nehmen die Investitionen ab, was darauf schließen lässt, dass die Unternehmen selbst mit keiner anziehenden Produktion rechnen. […] Auch der Baltic Dry Index, welcher die Entwicklung des Welthandels misst, zeigt nach unten.
Immer mehr Staaten haben Schwierigkeiten, ihre Zinszahlungen für ihre Schulden zu erfüllen.
Aber die Zinszahlungen sind eine unabdingbare Bedingung dafür, dass die großen Banken weiterhin Kredite vergeben. Jedoch sind die PIIGs nicht die einzigen Staaten mit wachsender Verschuldung. Die Ratingagenturen haben auch ausdrücklich gedroht, Großbritannien herabzustufen und es in die Reihe der PIIGs einzuordnen, falls das Land keine großen Anstrengungen zur Reduzierung seiner öffentlichen Schulden unternähme. Auch Japan (das in den 1990er Jahren als ein Land gehandelt wurde, das die USA als wirtschaftlich führende Macht überholen könnte) hat ein öffentliches Verschuldungsniveau erreicht, das der zweifachen Summe seines BIP entspricht (5). Diese Liste, die wir noch verlängern könnten, zeigt, dass die Tendenz zur Zahlungsunfähigkeit der Staaten eine weltweite Tendenz ist, weil alle Staaten von der Zuspitzung der Krise seit 2007 betroffen sind und auch vor ähnlichen Gleichgewichtsstörungen wie in Griechenland oder Portugal stehen.
Aber nicht nur Staaten nähern sich der Zahlungsunfähigkeit. Das Bankensystem ist auch immer mehr aufgrund folgender Faktoren gefährdet:
- Alle Spezialisten wissen und sagen, dass die Banken ihre „giftigen Produkte“ nicht wirklich „entsorgen“ konnten, die Ende 2008 zum Bankrott zahlreicher Finanzinstitute geführt hatten ;
- trotz dieser Schwierigkeiten haben die Banken aber nicht aufgehört auf den Weltfinanzmärkten mit dem Kauf von Hochrisikoprodukten zu spekulieren. Im Gegenteil, sie mussten damit fortfahren, um zu versuchen, die massiv eingefahrenen Verluste auszugleichen;
- die Zuspitzung der Krise seit Ende 2007 hat zu zahlreichen Firmenpleiten geführt, so dass viele arbeitslos gewordene Beschäftigte ihren Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen können.
Ein Beispiel hierzu gab es neulich am 22. Mai, als die Caja Sur in Spanien vom Staat übernommen werden musste. Aber dieses Beispiel ist nur die Spitze des Eisberges der Schwierigkeiten der Banken in der letzten Zeit. Andere Banken in Europa wurden von Ratingagenturen heruntergestuft (Caja Madrid in Spanien, BNP in Frankreich), aber vor allem hat die EZB die Finanzwelt darüber informiert, dass die europäischen Banken in den nächsten beiden Jahren ihre Aktiva um 195 Milliarden senken müssten, und dass der geschätzte Kapitalbedarf bis 2012 auf 800 Mrd. Euro ansteigen werde. Ein anderes Ereignis der letzten Zeit wirft ebenso ein krasses Licht auf die gegenwärtige Zerbrechlichkeit des Bankensystems: Siemens hat beschlossen, eine eigene Bank aufzubauen. D.h. eine Bank, die nur Siemens und seinen Kunden zu Diensten stünde. Nachdem Siemens schon bei der Lehman Brothers Pleite ca. 140 Millionen Dollar hat abschreiben müssen, hat der Konzern Angst, dass sich Ähnliches wiederholen könnte mit seinem Guthaben bei anderen « klassischen » Banken. Andere Firmen wie Veolia, das mit British American Tobacco und anderen Firmen zusammenarbeitet, hatten schon im Januar 2010 den gleichen Schritt vollzogen (6). Es ist klar, wenn Firmen, deren Solidität im Augenblick nicht infrage gestellt wird, ihre Gelder nicht mehr den großen Banken anvertrauen, wird deren Lage sich nicht verbessern. [166]
Fußnoten: [166]
Spektakuläre Neuigkeiten konnte man der Presse entnehmen: eine Annäherung der neuen ukrainischen Regierung Janukowitsch an Russland und der Abschluss eines Vertrages, der die russische Truppenpräsenz in der Ukraine auf lange Zeit sichern soll; ein Vertrag Moskaus mit Ankara zum Bau eines russischen Kernkraftwerks in Akkuyu in der Südtürkei; die enthusiastische Reise Medwedews nach Syrien im Mai, und all die Berichte, dass der Sturz der Regierung von Bakijew in Kirgistan zum großen Vorteil Moskaus sei. All dies hat den Eindruck hinterlassen der russische Imperialismus gewinne unaufhaltsam an Terrain. Doch entspricht dies der Wirklichkeit?
Zweifellos befindet sich Russland nicht mehr in derselben geschwächten Situation wie in den 1990er Jahren. Damals verlor Russland die meisten seiner ehemaligen Satellitenstaaten und erlebte nach 1989 auch im Inneren eine Periode der unkontrollierten Mafiapolitik unter der Jelzin-Regierung. Der russische Staat war damals gezwungen, als Priorität die Situation in Russland selbst sowie die Außenpolitik wieder unter eine einheitliche Disziplin des Staates zu bringen. Die Wahl Putins und seiner Gefolgschaft im Jahre 2000 war ein klares Zeichen für die Straffung der staatlichen Autorität und die Einführung einer gezielteren imperialistischen Politik gegen Außen.
Doch lassen diese Anstrengungen der russischen Bourgeoisie die Schlussfolgerung zu, der russische Imperialismus befinde sich auf einem gradlinigen Weg zum Erfolg? Nein, denn in Tat und Wahrheit steckt Russland heute in einem verzweifelten Kampf gegen die Destabilisierung und das Chaos im Gebiet des ehemaligen Ostblocks. Der Kontrollverlust ist heute ein generelles Phänomen, unter dem vor allem die USA als „Weltpolizist“ leidet. Doch es ist für Russland, das nach wie vor größte Ambitionen auf die Rolle des Platzhirsches in seiner Region hat, heute nicht möglich, von der Schwächung der USA dauerhaft zu profitieren. Der russische Imperialismus kann sich dieser internationalen Tendenz des Kontrollverlustes mitnichten entziehen.
Auf den ersten Blick und oberflächlich betrachtet erschien der Regierungswechsel in Kirgistan im April 2010 als Erfolg für den russischen Imperialismus. Die Regierungsclique um Bakijew hatte ihr abgegebenes Versprechen gegenüber Russland, die amerikanische Truppenbasis im Lande zu schließen, nicht eingehalten. Der Gedanke lag auf der Hand, dass die neue Regierung um Otunbajewa mit der direkten Unterstützung Russlands an die Macht befördert wurde, um sich am wortbrüchigen Bakijew zu rächen. Doch die Situation in Kirgistan ist nicht dermaßen simpel. Sie lässt sich nicht auf einen Konflikt zwischen verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse reduzieren, welche entweder von Russland oder von den USA gestützt werden - ein Szenario, das im Kalten Krieg bei den meisten Konflikten in der Dritten Welt anzutreffen war. Es ist falsch zu glauben, dass der Rauswurf der Bakijew-Regierung Russland handfeste und dauerhafte Vorteile bringt oder sich die Situation gar stabilisiert.
In Kirgisien findet heute eine gefährliche Ausweitung des Chaos mit undurchschaubaren Zusammenstößen verschiedener nationaler Cliquen statt. Der russische Imperialismus ist in der jetzigen Situation alles andere als der große Sieger. Durch die blutigen Unruhen im Süden Kirgistans, in der Region von Djalalabad und Och, entfaltet sich eine offene Instabilität vor den Toren Russlands. Und das in einem Grenzgebiet zu China, einer international immer aggressiver und selbstbewusster auftretenden imperialistischen Macht. Kirgistan ist schon seit geraumer Zeit Dreh- und Angelpunkt für den chinesischen Warenimport in die Länder der GUS, den traditionellen Wirtschaftsraum Russlands. Doch auch wenn Russland und China harte Rivalen sind im Kampf um Einfluss in Kirgistan, so haben sie dort heute vor allem eine große gemeinsame Sorge: das Zittern der herrschenden Klasse in beiden Ländern vor einem Überschwappen unkontrollierbarer regionaler Konflikte, die mit ethnischen Pogromen begleitet sind, auf ihre eigenen Vielvölkerstaaten Russland und China. Der russische und chinesische Imperialismus sind alles Andere als Friedenstifter, doch in Kirgistan überwiegt ihre Angst, dass das Chaos auch in ihrem eigenen Land Schule macht, der Politik des gegenseitigen offenen Unruhe Stiftens. Und ohne Zweifel werden auch die USA eine Gefährdung ihrer militärischen Präsenz in Kirgistan nicht akzeptieren! Für die USA ist Kirgistan vor allem aus militärischen Gründen wichtig, und viel weniger ökonomisch, um einen gesicherten Kriegsstützpunkt Richtung Irak und Afghanistan zu haben.
Da es in Kirgistan heute keine geeinte herrschende Klasse gibt, ist dieses Land fast unmöglich zu regieren und stellt ein tragisches Beispiel für den Kontrollverlust dar, den die großen imperialistischen Staaten fürchten. Die mörderischen Ereignisse in Och im Juni haben auch gezeigt, wie heikel die Situation gerade für Russland ist. Von der Regierung Otunbajewa aufgefordert, militärisch zu intervenieren, um das Chaos einzudämmen, konnte Russland nur zögernd ablehnen und Medwedews Furcht, in ein zweites Afghanistan-Abenteuer zu geraten, war offensichtlich. Unabhängig davon, welche nationale Clique in Kirgistan an der Macht ist, stellt für das krisengeschüttelte Russland ein tatkräftiges Engagement in Kirgistan, das mit enormen Kosten verbunden ist, fast eine Unmöglichkeit dar, und es wird so immer schwieriger für den russischen Imperialismus, seine Interessen zu verteidigen. Russlands Politik zur Verteidigung seiner Rolle als regionaler Gendarm wird auch aktiv von anderen Nachbarn sabotiert. Es ist kein Zufall, dass eine imperialistische Hyäne kleineren Zuschnittes wie die weissrussische Regierung Lukaschenkos sofort Öl ins Feuer goss, indem sie Bakijew Asyl in Minsk anbot.
Zweifellos haben die Wahlen in der Ukraine vom Februar 2010 mit Janukowitsch eine Fraktion der herrschenden Klasse an die Macht gebracht, welche deutlich offener gegenüber Russland eingestellt ist, als ihre Vorgänger. Kurz nach den Wahlen, im April, hat die Ukraine einen Vertrag mit Russland abgeschlossen, der Russland die Truppenpräsenz ihres Hafen-Stützpunktes Sebastopol auf der Krim-Halbinsel bis ins Jahr 2042 garantiert. Im Gegenzug liefert Russland der Ukraine bis ins Jahr 2019 Erdgas zu bedeutend günstigeren Preisen als in die EU. Im Juni hat die Ukraine bekannt gegeben, dass die NATO-Beitrittspläne welche, von der alten Regierung Juschtschenko eingefädelt worden waren, gestoppt werden. Dennoch sind die Beziehungen Russlands zur Ukraine alles andere als glänzend. Sie zeigen vielmehr das Dilemma, in dem sich der russische Imperialismus befindet.
Die Ukraine ist zwar enorm von der Krise betroffen und auf sofortige finanzielle Erleichterungen angewiesen. Doch die herrschende Klasse der Ukraine wirft sich nicht einfach Hals über Kopf in die Arme des großen russischen Bruders, und schon gar nicht für alle Ewigkeiten. Russland muss sich die temporäre Gunst der Regierung Janukowitsch mit milliardenschweren Preissenkungen für Gaslieferungen erkaufen, alles nur, um seine Truppenpräsenz nicht zu verlieren. Doch die wirklichen Ambitionen und Notwendigkeiten für den russischen Imperialismus gegenüber der Ukraine reichen viel weiter als der Vertrag, der mit der neuen ukrainischen Regierung abgeschlossen wurde, welcher für Russland lediglich den status quo sichert. Geografisch stellt die Ukraine den wohl wichtigsten Verbindungsweg für russisches Erdgas nach Westeuropa dar, ein Handel von, dem die russische Ökonomie enorm abhängt. Um den Transportengpass Ukraine (und Weißrussland) zu umgehen, ist Russland gezwungen, gigantisch teure Pipelineprojekte zu realisieren, wie „Northstream“ durch die Ostsee.
Für Russland ist eine dauerhafte stabile Beziehung zu der Ukraine ein absolutes Muss, und zwar nicht nur auf der ökonomischen Ebene der Gaslieferwege, sondern vielmehr noch aus geostrategischen Gründen zur militärischen Absicherung. Doch die Ukraine mit ihrer zerstrittenen herrschenden Klasse ist kein stabiler imperialistischer Partner, auf den man sich verlassen kann. Wenn die Clique um Timoschenko wieder an die Macht gelangt, werden erneute Abgrenzungsmanöver gegen Russland nicht lange auf sich warten lassen. Für die ukrainische Bourgeoisie, die grundlegend von ihren eigenen nationalen Interessen getrieben ist, hat der gegenwärtige Schwenker hin zu Russland nichts mit einer tiefen Bruderschaft mit Russland zu tun. Die Schwäche der EU (die damit als Perspektive in die Ferne gerückt ist), die ökonomischen Zwänge und die schnelle Jagt nach billiger Energie, drängt die herrschende Klasse in der Ukraine einen Kurs zu fahren, der für die heutige Phase der imperialistischen Beziehungen typisch ist: fast karikaturartig hin und her schwankend, instabil und komplett dominiert vom Gesetz des „Jeder gegen Jeden“.
Selbst wenn Russlands Armee im Krieg 2008 gegen Georgien geografisches Terrain gewonnen hat und nun die Gebiete von Südossetien und Abchasien kontrolliert, und auch wenn die im Irak und Afghanistan kläglich in der Tinte steckende USA ihrem georgischen Schützling damals nicht zu Hilfe Eilen konnte, so hat sich für Russland die Situation auch m Kaukasus alles andere als beruhigt. Russland kann von der Schwäche der USA nicht wirklich profitieren. Der Krieg im Kaukasus 2008 stellte vor allem den Beginn einer neuen Etappe in den imperialistischen Konfrontationen dar. Das erste Mal seit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 standen sich die USA und Russland wieder in einem offenen Konflikt gegenüber, zwar nicht direkt mit Truppen aber als Hauptdrahtzieher.
Der Krieg in Georgien hat aber auch klar gezeigt, dass es in der heutigen Phase des Kapitalismus falsch ist zu glauben, dass aus einem Krieg automatisch ein Sieger und ein Verlierer hervorgehen. Dieser Krieg hat schlussendlich nur Verlierer hervorgebracht! Und dies nicht lediglich auf der Seite der Arbeiterklasse (welche in jeder militärischen Konfrontation auf allen Seiten immer der Verlierer ist!), sondern auch vom Standpunkt der beteiligten imperialistischen Staaten. Georgien ist deutlich geschwächt worden, die USA haben in der Region an Einfluss eingebüßt und vor allem ihr Prestige als „big brother“, auf den man zählen kann, verloren und Russland ist heute im Kaukasus mit einem zugespitzten Chaos konfrontiert, das es nicht mehr eindämmen kann.
In vielen Regionen im Kaukasus, die offiziell zum russischen Staatsgebiet gehören, wie Dagestan oder Iguschetien, spielen die Streitkräfte und die Polizei des russischen Staates heute vielmehr die Rolle einer Besatzungsmacht als diejenige eines verwurzelten Staatsapparates. Sie treten in einer enorm brutalen Form auf, sind jedoch machtlos gegen die verschiedensten lokalen Clans und schüren damit das Feuer noch mehr. Über die Notwendigkeit der Verteidigung strategischer und unmittelbarer ökonomischer Interessen hinaus, beinhaltet das aggressive Auftreten des russischen Imperialismus auch eine historische Dimension. Aus einer Geschichte der permanenten Expansion seit den Zeiten des Zarismus im 18. Jahrhundert hervorgegangen, ist Russland heute in ein reduziertes geografisches Korsett gezwängt, welches die russische Bourgeoisie nicht akzeptieren kann. Die Attentate vom Mai 2010 in unmittelbarer Nähe des Hauptquartiers des russischen Geheimdienstes in Moskau und später in der Stadt Stavropol zeigten auf, wie direkt die Autorität des russischen Staates durch diese Terrorakte in Frage gestellt wird. Die darauf folgenden Bemühungen, den Handlungsspielraum des russischen Geheimdienstes FSB gesetzlich zu erweitern, sind kein Zeichen der Stärke, sondern vielmehr der Angst der russischen Regierung, welche der Situation nur mit mehr Repression Herr zu werden versucht.
Die gesamte Situation im nördlichen Kaukasus, in dem sich Russland in einem fast offenen Krieg auf eigenem Staatsgebiet befindet – also in einer Situation des Kontrollverlustes und der ständigen Gefahr der Ausbreitung in andere Gebiet im eigenen Land, in denen lokale Cliquen nur auf ein Signal warten – beinhaltet eine Dynamik, die Russland zusehends schwächt. Russland befindet sich damit in einer Lage, welche seine anderen großen imperialistischen Rivalen wie die USA und Deutschland so nicht kennen und China bisher nur in einem geringen Masse. Selbst wenn sich der russische Imperialismus mit allen Mitteln bemüht, sein historisches Tief nach dem Zusammenbruch des stalinistischen Ostblocks wieder wett zu machen, so bleiben die zentrifugalen Tendenzen in seinem Einflussgebiet Gebiet bestehen und werden zusehends stärker. Das Einflussgebiet Russlands ist ein tragisches Beispiel für die Sackgasse und die Irrationalität des Kapitalismus. Auch wenn sich die herrschende Klasse bis an die Zähne bewaffnet, ihre eigene Welt kann sie nicht mehr wirklich kontrollieren.
Mario 29.6.2010
Als sich in den Monaten zwischen November 1989 und Oktober 1990 die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten immer deutlicher abzeichnete, stieß dies auf heftigen Widerstand seitens des französischen und britischen Imperialismus. Von François Mitterand, damaliger französischer Staatspräsident, ist der Satz überliefert, dass er Deutschland so sehr liebe, dass er gern zwei davon habe. Der britische Imperialismus unter Maggie Thatcher drückte sich weniger charmant aus: Dort betrachtete man in Helmut Kohl, dem „Einheitskanzler“, bereits die Reinkarnation Adolf Hitlers. Beide Staaten fürchteten sich vor einem wiedererstarkten „Großdeutschland“, das allein durch seine schiere Größe zu übermächtig werden könnte. Und in der Tat schien zunächst einiges auf die Wiedergeburt des deutschen Großmachtdenken hinzudeuten. Kaum wiedervereinigt, begann der deutsche Imperialismus an seine alten Ambitionen auf dem Balkan anzuknüpfen. Er unterstützte offen die sezessionistischen Absichten Sloweniens und vor allem Kroatiens, wo er schon seit Mitte der achtziger Jahre heimlich Kontakte zu Ustascha-Nationalisten um Franjo Tudjman geknüpft hatte. Als sich dann Anfang der neunziger Jahre zunächst Slowenien und Kroatien von Jugoslawien abspalteten, warf die Kohl-Genscher-Regierung ihr ganzes Gewicht in die Waagschale, um die Anerkennung dieser neuen Staaten durch die Europäische Gemeinschaft durchzusetzen. Dabei griff sie auch zum Mittel der Erpressung, indem sie sich sträubende EG-Mitgliedsländer wie Frankreich offen drohte, im Falle einer Nichtanerkennung der neuen Ordnung auf dem Balkan das Maastricht-Abkommen zu torpedieren.
Doch der Höhenflug des deutschen Imperialismus auf dem Balkan war nur von kurzer Dauer. Bereits der Verlauf des Jugoslawien-Krieges, der sich an der Abspaltung der drei genannten Republiken anschloss, zeigte deutlich die politischen und militärischen Grenzen des deutschen Imperialismus auf. Weder war er im Stande, das Miloşevic-Regime mitsamt seinen 5. Kolonnen in Kroatien, Bosnien-Herzegowina und im Kosovo in die Schranken zu weisen; noch war er in der Lage, Frankreich und Großbritannien zu neutralisieren, die traditionell gute Beziehungen zu den Serben pflegten und keinesfalls gewillt waren, sich vom deutschen Imperialismus die Butter vom Brot nehmen zu lassen. So musste er mit ansehen, wie die nationalen Bestandteile „Friedenstruppen“ der Europäischen Gemeinschaft ihre jeweiligen Verbündeten vor Ort unterstützten, und damit die deutschen Absichten in der Region auf heftigste zu durchkreuzen versuchten. Ohne jegliches „hartes“ Mandat[1] versehen, so dass der Bürgerkrieg in Jugoslawien nicht einmal im Ansatz eingedämmt werden konnte, machten sie sich sogar zu Komplizen des Völkermordes.[2] Es war nicht der deutsche Imperialismus, der den Widerstand des Miloşevic-Regimes letztendlich brach, sondern die US-amerikanische Supermacht. In den folgenden Jahren wurde die ambitionierte deutsche Bourgeoisie endgültig auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt: Es gelang ihr nicht, den Ausbruch des ersten Golfkrieges zu verhindern; sie musste sich gar, von den USA dazu genötigt, mit vielen Milliarden von einer eigenen militärischen Beteiligung freikaufen. Ihr Vorhaben, die Europäische Gemeinschaft in eine politische Union unter ihrer Führung umzuwandeln, erwies sich als völliger Fehlschlag; allen voran die britische Bourgeoisie obstruierte erfolgreich jeden dahingehenden Versuch. Ihre „strategischen“ Partner, ob Frankreich oder Russland, erwiesen sich als zu sehr auf ihre eigenen Interessen bedacht, um mit Deutschland einen dauerhaften Gegenpol zur US-Übermacht und gegen die sich ausbreitende Tendenz des Jeder-gegen-Jeden zu bilden.
So bleibt denn dem deutschen Imperialismus heute nichts anderes übrig, als kleinere Brötchen zu backen. Die Befürchtungen Mitterands und Thatchers, so legitim sie historisch auch waren, haben sich als unrealistisch und überzogen herausgestellt. Sicherlich, das Ende des Kalten Krieges hat der deutschen Bourgeoisie nach fast 45 Jahren alliierter Besetzung und eiserner Blockdisziplin gegenüber den Anführern der beiden Blöcke, USA und UdSSR, die uneingeschränkte nationale Souveränität zurückgegeben. Doch der deutsche Imperialismus zahlt auch einen hohen Preis für die Wiedervereinigung. Noch immer verschlingt der „Aufbau Ost“ Milliardengelder und bindet damit einen großen Teil der Staatsfinanzen. Gelder, die an anderer Stelle fehlen bzw. eingespart werden. Neben dem Sozialstaat, der – wie schon geschildert – weitestgehend entkernt wurde, entpuppte sich vor allem das Militär als Hauptleidtragender dieser Unwucht im deutschen Staatshaushalt. Der Umbau der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee, die den Erfordernissen des Kalten Krieges, sprich: der Erwartung eines Militärschlages seitens des Warschauer Paktes entsprochen hatte, zu einer Interventionsstreitkraft, die weltweit operieren kann, ist bis dato nur in Ansätzen vollzogen. Es fehlt an allem: Transportkapazitäten, mit denen Truppen und Ausrüstung binnen 24 Stunden an jeden Ort der Erde befördert werden können; moderne Waffensysteme in Armee, Marine und Luftwaffe; eine satellitengestützte Infrastruktur, mit der das deutsche Militär ohne die „gütige“ Hilfe des US-Militärs seine Truppen überall auf der Welt in Echtzeit steuern kann. Die Bundeswehr zehrt von ihrer Substanz; ehrgeizige Rüstungsvorhaben wie der Eurofighter oder der Airbus-Militärtransporter mussten mangels finanzieller Unterstützung massiv abgespeckt werden. Verglichen mit den US-Rüstungsausgaben nimmt sich der „Verteidigungs“etat der Bundesrepublik wie Peanuts aus.
Um jedoch einen ernst zu nehmenden Gegenpol, einen ebenbürtigen Block gegen die militärische Übermacht des US-Imperialismus zu bilden, reichen diplomatische Winkelzüge und Nadelstiche, wie sie die Politik der deutschen Bourgeoisie derzeit kennzeichnen, nicht aus. Diese können bestenfalls den Unilateralismus der USA aushöhlen und führen allenfalls zu temporären Koalitionen mit anderen Mittelmächten gegen die US-Supermacht. Um an seiner historischen Rolle als Hauptrivale der USA anzuknüpfen, müsste der deutsche Imperialismus ein geradezu gigantisches Aufrüstungsprogramm für die Bundeswehr auflegen. Nicht nur, um den USA militärisch Paroli zu bieten, sondern auch, um einen militärischen Schutzschirm zu spannen, unter dem er seine Vasallenstaaten zu einem Block sammeln kann. Doch davon ist der deutsche Imperialismus Lichtjahre entfernt. Und dies auf unabsehbare Zeit. Auf dem politischen Terrain steht die Arbeiterklasse einer Wiedergeburt des deutschen Militarismus im Weg. Und auf finanziellem Gebiet die Wiedervereinigung: Zwar hat sie der deutschen Bourgeoisie, die zurzeit des Kalten Krieges ökonomisch ein Riese, politisch aber ein Zwerg war, mehr politisches Gewicht in der Kakophonie des internationalen Imperialismus verliehen. Doch gleichzeitig verhindert sie bzw. ihre immensen Kosten den Wiederaufstieg des deutschen Imperialismus zum Hauptrivalen des US-Imperialismus, der er in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war.
Seit ungefähr drei Jahren haben einige einzelne Anarchisten oder anarchistische Gruppen und die IKS einige Hürden überwunden, indem sie angefangen haben, offen und brüderlich miteinander zu diskutieren. Die von vornherein bestehende Gleichgültigkeit oder eine systematische gegenseitige Verwerfung sind einem Willen zur Diskussion gewichen, einem Willen, die Position des jeweils anderen zu verstehen und ehrlich die Punkte der Übereinstimmung und Differenzen zu erfassen.
In Mexiko hat diese neue Geisteshaltung die gemeinsame Herausgabe eines Flugblattes ermöglicht, das von zwei anarchistischen Gruppen (GSL und PAM) (1)) und einer Linkskommunistischen Gruppe (der IKS) unterzeichnet wurde. In Frankreich hat jüngst die CNT-AIT aus Toulouse die IKS dazu eingeladen, ein Einleitungsreferat auf einer ihrer öffentlichen Veranstaltungen zu halten (2). In Deutschland hat man auch angefangen, Verbindungen miteinander aufzunehmen.
Auf der Grundlage dieser Dynamik hat die IKS versucht, die Frage des Internationalismus innerhalb der anarchistischen Bewegung vertieft zu untersuchen. Im Jahre 2009 haben wir eine Artikelreihe „Die Anarchisten und der Krieg“ veröffentlicht (3). Unser Ziel bestand darin zu zeigen, dass es bei jedem imperialistischen Konflikt einem Teil der Anarchisten gelungen war, die Falle des Nationalismus zu vermeiden und den proletarischen Internationalismus hochzuhalten. Wir zeigten auf, dass diese Genoss/Innen es geschafft hatten, weiterhin für die Revolution und im Interesse des internationalen Proletariats zu wirken, währen um sie herum die kriegerische Barbarei und Chauvinismus tobten.
Wenn man die Bedeutung versteht, welche die IKS dem Internationalismus als Grenze zwischen den Revolutionären beimisst, die wirklich für die Befreiung der Menschheit eintreten, und denjenigen, die den Kampf des Proletariats verraten, kann man sehen, dass diese Artikel offensichtlich nicht nur eine gnadenlose Kritik an den kriegsbefürwortenden Anarchisten waren, sondern auch und vor allem eine Unterstützung für die internationalistischen Anarchisten!
Doch ist diese Absicht nicht richtig verstanden worden. Die Artikelserie hat sogar zeitweise eine gewisse Abkühlung aufkommen lassen. Einerseits haben Anarchisten dahinter einen Pauschalangriff gegen deren Bewegung gesehen. Andererseits haben Sympathisanten der Linkskommunisten und der IKS nicht unsere Absicht verstanden, dass wir auf die „Anarchisten zugehen“ wollen (4).
Abgesehen von einigen ungeschickten Formulierungen in unseren Artikeln, welche dazu führten, dass manche eine ablehnende, sich „sperrende“ Haltung einnahmen (5), haben diese scheinbar widersprüchlichen Kritiken in Wirklichkeit die gleiche Wurzel. Sie verdeutlichen die Schwierigkeit, über die Divergenzen hinweg die wesentlichen Punkte zu erkennen, die die Revolutionäre einander näherbringen.
Diejenigen, die sich auf den Kampf für Revolution berufen, werden traditionell in zwei Kategorien eingeteilt: die Marxisten und die Anarchisten. Tatsächlich gibt es zwischen beiden sehr große, sie trennende Divergenzen:
- Zentralisierung – Förderalismus;
- Materialismus – Idealismus;
- „Übergangsperiode“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus oder „unmittelbare Abschaffung des Staates“;
- Anerkennung oder Verwerfung der Oktoberrevolution 1917 und der Bolschewistischen Partei.
- …
All diese Fragen sind in der Tat sehr wichtig. Wir dürfen diesen Fragen nicht ausweichen, müssen sie offen diskutieren. Aber aus der Sicht der IKS entstehen damit keine „zwei Lager“. Unsere Organisation, die sich als marxistisch bezeichnet, kämpft für die Sache des Proletariats Seite an Seite mit internationalistischen anarchistischen Militanten und auch gegen die „Kommunistischen“ und maoistischen Parteien (die sich auch als marxistisch bezeichnen). Warum?
Innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft gibt es zwei grundsätzliche Lager: das der Herrschenden und das der Arbeiterklasse. Wir verwerfen und bekämpfen all die politischen Organisationen, die für die Seite der Herrschenden eintreten. Wir diskutieren, manchmal hitzig aber immer brüderlich, mit allen Angehörigen des Lagers der Arbeiterklasse und versuchen mit ihnen zusammenzuarbeiten. Aber unter der gleichen „marxistischen“ Etikette verbergen sich richtige bürgerliche und reaktionäre Organisationen. Auch hinter dem Label „anarchistisch“ gibt es solche Organisationen.
Es handelt sich hier nicht um reine Rhetorik. Die Geschichte liefert uns eine Vielzahl von Beispielen von „marxistischen“ oder „anarchistischen“ Organisationen, die die Hand zum Schwur erheben, um zu sagen, dass sie die Sache des Proletariats verteidigen, um ihm nur besser in den Rücken zu fallen. Die deutsche Sozialdemokratie behauptete 1919 von sich „marxistisch“ zu sein, während sie gleichzeitig Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Tausende Arbeiter ermorden ließ. Die stalinistischen Parteien haben 1953 in Berlin und 1956 in Ungarn die Arbeiteraufstände im Blut erstickt; all das geschah im Namen des „Kommunismus“ und des „Marxismus“ (in Wirklichkeit aber erfolgte dies im Interesse des imperialistischen Blockes, der von der UdSSR angeführt wurde). 1937 haben in Spanien Führer der CNT durch ihre Regierungsbeteiligung den stalinistischen Henkern Rückendeckung geliefert, die Tausende anarchistischer Revolutionäre blutig niedergeworfen und massakriert haben. Heute wirken in der „CNT“ in Frankreich zwei anarchistische Organisationen; eine, welche echt revolutionäre Positionen vertritt (CNT-AIT) und eine andere, welche rein „reformistische“ und reaktionäre (CNT Vignoles) vertritt (6).
Die « falschen Freunde » aufzuspüren, die sich hinter diesen „Etiketten“ verstecken, ist also lebenswichtig.
Aber man darf nicht den gleichen Fehler in der entgegen gesetzten Richtung begehen und meinen, man sei alleine auf der Welt und man vertrete als einziger die „revolutionäre Wahrheit“. Die kommunistischen Militanten sind heute zahlenmäßig sehr klein und es gibt nichts Verhängnisvolleres als die Isolierung. Deshalb muss man auch gegen die noch zu starke Tendenz der Verteidigung seiner „Kapelle“, „seiner Familie“ (ob anarchistisch oder marxistisch) antreten und auch gegen eine kleinkrämerische Haltung angehen, die nichts mit dem Lager der Arbeiterklasse zu tun hat. Revolutionäre stehen nicht in Konkurrenz zueinander. Auch wenn die Divergenzen noch so tiefgreifend sind, sie sind eine Quelle der Bereicherung für das Bewusstsein der ganzen Arbeiterklasse, wenn sie offen und aufrichtig diskutiert werden. Deshalb ist es absolut unerlässlich, Verbindungen und Debatten auf internationaler Ebene aufzubauen.
Aber dazu ist es auch erforderlich, zwischen den Revolutionären (welche die Perspektive der Umwälzung des Kapitalismus durch das Proletariat befürworten) und den Reaktionären (die auf die eine oder andere Art zur Aufrechterhaltung des Systems beitragen) zu unterscheiden, ohne sich durch Etiketten wie „Marxismus“ oder „Anarchismus“ vernebeln zu lassen.
Aus der Sicht der IKS gibt es grundlegende Kriterien, die bürgerliche von proletarischen Organisationen trennen.
Den Kampf der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus zu unterstützen, bedeutet, sowohl unmittelbar gegen die Ausbeutung zu kämpfen (z.B. durch Streiks) als auch nie die historische Dimension dieses Kampfes aus den Augen zu verlieren – die Überwindung dieses Ausbeutungssystems durch die Revolution. Deshalb darf eine solche Organisation nie (auch nicht auf „kritische“ oder „taktische“ Weise) einen Teil der Herrschenden unterstützen – weder die „demokratischen“ gegen die „faschistischen“ Machthaber, noch die Linken gegen die Rechten, auch nicht palästinensische gegen israelische Herrscher usw. Eine solche Politik hat zwei konkrete Folgen:
1) Man muss jede Unterstützung für Wahlen, für eine Zusammenarbeit mit den Parteien, verwerfen, welche das kapitalistische System verwalten oder verteidigen (Sozialidemokratie, Stalinismus, „Chavismus“, usw.);
2) Vor allem in Kriegen muss man einen unnachgiebigen Internationalismus aufrechterhalten und sich weigern, die eine oder andere Seite der Kriegsparteien zu unterstützen. Während des 1. Weltkriegs wie auch während all der imperialistischen Kriege im 20. Jahrhundert haben all die Organisationen, welche eine der Kriegsparteien unterstützen wollten, den Boden des Internationalismus aufgegeben, damit die Arbeiterklasse verraten. Sie sind damit übergetreten ins Lager der Bürgerlichen (7).
Diese hier sehr zusammengerafften Kriterien sind ein Anhaltspunkt dafür, warum die IKS einige Anarchisten als Mitkämpfer/Innen betrachtet und mit ihnen diskutieren und zusammenarbeiten will, während wir gleichzeitig andere anarchistische Organisationen heftig verwerfen und anprangern.
So arbeiten wir beispielsweise mit der KRAS (der anarcho-syndikalistischen Sektion der AIT in Russland) zusammen; veröffentlichen und begrüßen deren internationalistischen Positionen gegenüber dem Krieg, insbesondere gegenüber dem Tschetschenienkrieg. Die IKS betrachtet diese Anarchisten ungeachtet der zwischen ihnen und uns sonst bestehenden Divergenzen als dem Lager der Arbeiterklasse angehörend. Sie heben sich klar von all diesen Anarchisten und „Kommunisten“ (wie denen der „Kommunistischen“ Parteien oder Maoisten oder Trotzkisten) ab, die in der Theorie den Internationalismus für sich beanspruchen, ihn in der Praxis aber bekämpfen, indem sie in jedem Krieg irgendeine Seite gegen die andere unterstützen. Man darf nicht vergessen, dass 1914, zur Zeit des Ausbruchs des 1. Weltkriegs, und 1917, zur Zeit der Russischen Revolution, die meisten „Marxisten“ der Sozialdemokratie auf die Seite der Bürgerlichen gegen die Arbeiterklasse gewechselt waren, während die spanische CNT damals den imperialistischen Krieg anprangerte und die Revolution unterstützte! In revolutionären Bewegungen nach dem Ersten Weltkrieg kämpften die Anarchisten und die Marxisten, welche aufrichtig für die Sache der Arbeiterklasse eintraten, Seite an Seite – ungeachtet anderer Divergenzen untereinander. Damals gab es sogar Anläufe zur Zusammenarbeit auf größerer Ebene zwischen den revolutionären Marxisten (den Bolschewiki, den deutschen Spartakisten, den holländischen Tribunisten, den italienischen Abstentionisten usw.), welche sich von der niedergehenden Zweiten Internationale gelöst hatten, und zahlreichen Gruppen, die sich auf den internationalistischen Anarchismus beriefen. Ein Beispiel dieses Prozesses ist die Tatsache, dass eine Organisation wie die CNT die Möglichkeit ins Auge gefasst hatte – auch wenn sie letztendlich verworfen wurde – der Dritten Internationale beizutreten (8).
Und um ein jüngeres Beispiel aufzugreifen: An vielen Orten auf der Welt gibt es heute gegenüber der Entwicklung der Lage anarchistische Gruppen und Sektionen der AIT, die nicht nur eine internationalistische Position aufrechterhalten sondern auch für die Autonomie des Proletariats gegenüber all den Ideologien und allen Strömungen der Herrschenden eintreten:
- Diese Anarchisten treten für den direkten und massive Kampf sowie für die Selbstorganisierung in Vollversammlungen und in Arbeiterräten ein;
- Sie verwerfen jede Beteiligung am Wahlzirkus und jede Unterstützung sich daran beteiligender politischer Parteien, auch wenn sie sich noch so „fortschrittlich“ ausgeben
Mit anderen Worten, sie stützen sich auf eines der Prinzipien, das von der Ersten Internationale ausgerufen worden war: „Die Befreiung der Arbeiterklasse muss die Tat der Arbeiter selbst sein“. Damit beteiligen sie sich am Kampf für die Revolution und die Errichtung einer menschlichen Gemeinschaft.
Die IKS gehört dem gleichen Lager an wie diese internationalistischen Anarchisten, die wirklich die Arbeiterautonomie verteidigen! Ja, wir betrachten sie als Genoss/Innen, mit denen wir diskutieren und zusammenarbeiten wollen. Ja, wir denken ebenso, dass diese anarchistischen Militanten viel mehr mit den Linkskommunisten gemeinsam haben als mit denjenigen, die zwar ein anarchistisches Label tragen, aber in Wirklichkeit nationalistische oder „reformistische“ Positionen vertreten und die tatsächlich Verteidiger des Kapitalismus, der Reaktionäre sind!
In der sich nun langsam entfaltenden Debatte zwischen all den Leuten oder internationalistischen Gruppen der Welt werden unvermeidlich Fehler begangen; ebenso wird wie es hitzige und wortreiche Debatten, ungeschickte Formulierungen, Missverständnisse - und echte Divergenzen geben. Aber die Bedürfnisse des Kampfes der Arbeiterklasse gegen einen immer unausstehlicheren und barbarischeren Kapitalismus, die unabdingbare Perspektive der proletarischen Weltrevolution, die eine Vorbedingung für das Überleben der Menschheit und des Planeten ist, verlangen diese Anstrengungen. Es handelt sich hierbei um eine Pflicht. Und nachdem heute neue revolutionäre proletarische Minderheiten in vielen Ländern auftauchen, die sich entweder auf den Marxismus oder den Anarchismus berufen (oder die gegenüber beiden offen sind), muss dieser Aufgabe der Debatte und Zusammenarbeit entschlossen und enthusiastisch nachgegangen werden. IKS (Juni 2010)
Die nächsten Artikel dieser Serie werden sich mit folgenden Fragen befassen:
Zu unseren Schwierigkeiten zu diskutieren und die Mittel zur Überwindung dieser Schwierigkeiten
Wie die Debatte fördern?
1. GSL: Grupo Socialista Libertario (https://webgsl.wordpress.com/ [176]). PAM: Proyecto Anarquista Metropolitano (proyectoanarquistametropolitano.blogspot.com).
2. Ein sehr warmherzige Diskussionsatmosphäre war während des ganzen Treffens zu spüren. Siehe dazu unseren Bericht „Réunion CNT-AIT de Toulouse du 15 avril 2010 : vers la constitution d’un creuset de réflexion dans le milieu internationaliste [177]”.
3. “Les anarchistes et la guerre (I) [178]” (RI no 402), [179] “La participation des anarchistes à la Seconde Guerre mondiale (II) [180]” (RI no 403), [181]“De la Seconde Guerre mondiale à aujourd’hui [182] (III)” (RI no 404 [183]), “L’internationalisme, une question cruciale [184] (IV)” (RI no 405 [185]). “Die Anarchisten und der Krieg,I, Weltrevolution, “Die Beteiligung der Anarchisten am Zweiten Weltkrieg II, „Vom Zweiten Weltkrieg bis heute, III“, „Der Internationalismus, eine Schlüsselfrage, IV“ (siehe die Webseite der IKS auf deutsch)
4. Insbesondere waren diese Genoss/Innen anfänglich irritiert und verwundert über die Erstellung eines gemeinsamen Flugblattes zwischen GSL-PAM-IKS. Wir haben übrigens auf unserer spanischen Webseite unsere Herangehensweise zu erklären versucht. „Was ist unsere Methode gegenüber Genoss/Innen, die sich auf den Anarchismus berufen?“ (https://es.internationalism.org/node/2715 [186])
5. Einige Genossen haben zu recht gewisse ungeschickte oder ungenaue Formulierungen oder auch gar historische Fehler hervorgehoben. Wir werden später darauf zurückkommen. Wir wollen aber jetzt schon zwei der gröbsten Fehler korrigieren:
– Mehrfach wird in der Artikelserie „Die Anarchisten und der Krieg“ behauptet, dass die Mehrheit der anarchistischen Bewegung im Ersten Weltkrieg dem Nationalismus verfallen sei, während nur eine kleine Minderheit unter Lebensgefahr eine internationalistische Position vertreten habe.
Die von den Mitgliedern der AIT in der Debatte seitdem vorgebrachten historischen Fakten, die durch unsere eigenen Recherchen bestätigt wurden, belegen, dass in Wirklichkeit ein großer Teil der Anarchisten sich schon von 1914 an gegen den Krieg gewandt hat (manchmal im Namen des Internationalismus oder des Anationalismus, öfter noch im Namen des Pazifismus).
- Einer der störendsten (und bislang von niemandem aufgegriffenen) Fehler in diesem Artikel betrifft den Aufstand in Barcelona im Mai 1937. Wir schrieben in dem Artikel: „Die Anarchisten wurden zu Komplizen bei der Unterdrückung der Volksfront und der Regierung von Katalonien.“ In Wirklichkeit waren es die Mitglieder der CNT oder der FAI, die den Großteil der aufständischen Arbeiter stellten, welche zu den Hauptopfern der von den stalinistischen Banden organisierten Repression wurden. Es wäre zutreffender gewesen, die Zusammenarbeit bei diesem Massaker durch die Führung der CNT anzuprangern, anstatt „Anarchisten“ schlechthin. Dies ist übrigens der Kern unserer Positionen gegenüber dem Spanienkrieg, wie sie auch im Artikel von „BILAN“ in „Lehren aus den Ereignissen in Spanien“ Nr. 36, November 1936, BILAN, entwickelt werden.
6. “Vignoles” ist der Name der Straße, wo ihr Hauptsitz liegt.
7. Einzelpersonen oder Gruppen haben sich jedoch aus Organisationen lösen können, die vorher ins bürgerliche Lager übergewechselt waren, wie beispielsweise die Tendenz Munis oder jene, die in der trotzkistischen “Vierten Internationale” “Socialisme ou Barbarie” hervorbrachten.
8. Siehe “Histoire du mouvement ouvrier: la CNT face à la guerre et à la révolution (1914-1919) [187]”, zweiter Artikel einer Artikelreihe zur Geschichte der CNT in Revue internationale Nr. 129.
Wir veröffentlichen an dieser Stelle ein Diskussionspapier, Ausdruck des derzeitigen politischen Lebens in den Betrieben Norditaliens. Die hier wiedergegebenen Anmerkungen sind von einigen Arbeitern der INNSE diskutiert und überarbeitet worden. Die GenossInnen reagieren auf die Erfahrungen des dort lange geführten Kampfes, versuchen daraus, allgemeine Schlussfolgerungen zu ziehen und sie in eine internationale Debatte zu stellen. In Italien, Deutschland und woanders werden sie auch von politisierten Minderheiten besonders in den Betrieben diskutiert. Genosse Riga aus Hamburg hat u.a. die IKS dazu aufgefordert, zu einer möglichst umfangreichen Verbreitung des Papiers beizutragen. Wir kommen dieser Aufforderung gerne nach, umso lieber, da der Text bereits eine Reihe von Kommentaren und eine Debatte auf unserer Webseite hervorgerufen hat. En gros wurde der INNSE-Beitrag durch diese Kommentare zwar begrüßt. Dennoch fiel die Reaktion mehrheitlich eher negativ aus. Das Papier aus Italien enthalte nichts Neues, heißt es beispielsweise dort, huldige dem alten Kult des Industriearbeiters, des blue collar workers, stelle eine Neuauflage des Operaismus minus Lenin dar usw. (siehe die Kommentare dazu auf unserer Webseite). Tatsächlich gibt es einiges in dem Text „Am Anfang war eine informelle Arbeiterpartei“, was klärungsbedürftig erscheint – und das ist gut so. So wird beispielsweise die Fabrik als ein Gebiet verstanden, „das von der Politik verlassen ist“, und somit als die vornehmste Wirkungsstätte der „informellen Arbeiterpartei“ erscheint. Aus unserer Sicht lässt man hierbei außer Betracht, dass insbesondere die Gewerkschaften im Auftrag des kapitalistischen Staates gerade in den Betrieben wirksam sind.
Es lohnt sich also, diesen Text zur Debatte zu stellen. Dabei sollte man ihn sorgfältig lesen und versuchen zu vermeiden, voreilige Schlüsse daraus zu ziehen. So ist es unserer Meinung nach gar nicht so sicher, dass hier ein Kult der Arbeiter im Blaumann betrieben wird, jedenfalls spricht er von der Fabrik „oder irgendeinem Arbeitsplatz“, und will alle Politisierten willkommen heißen, welche sich für die Sache des Proletariats einsetzen (allerdings werden die Erwerbslosen im Text nicht erwähnt). Ein Kult der Verherrlichung des Arbeiters wäre in der Tat fatal. Andererseits stimmen wir dem Text zu, wenn es heißt, dass es „ohne das Auftreten der Arbeiter keine echte Alternative zu diesem System gibt“.
Vor allem aber sollte man einen Text nicht allein daran messen, ob und in wie fern er neue Antworten liefert. Es ist oft viel wichtiger, die richtigen Fragen zu stellen. Und in diesem Text finden wir zwei Fragen aufgeworfen, welche nicht nur sehr wichtig, sondern auch von höchster Aktualität sind: Erstens, wie entstehen Massenkämpfe der Arbeiterklasse, und zweitens, wie entsteht eine Klassenpartei des Proletariats?
Was die erste Frage betrifft, gibt es in der Regel zwei Antworten darauf, welche einander zumeist gegenübergestellt werden: Entweder die Massenkämpfe entstehen spontan, oder sie sind das Werk einer Partei. Was lehrt uns aber die Geschichte? Sie lehrt uns, dass die großen Kämpfe der Klasse, und erst recht die revolutionären Erhebungen, spontan ausbrechen, und dabei fast immer alle Beteiligten, einschließlich die ArbeiterInnen selbst, einschließlich ihrer revolutionären Minderheiten überraschen. Sie lehrt uns aber auch, und genauso, dass zwar der Ausbruch und die unmittelbare Organisationsform urwüchsig entstehen, dass aber die Bewegung selbst keineswegs ein spontanes Produkt der Geschichte ist, sondern politisch vorbereitet wird. Die Pariser Kommune, der Massenstreik von 1905 in Russland, die Revolutionen in Russland 1917 und Deutschland 1918 konnten gerade deshalb so elementar ausbrechen, weil sich lange zuvor eine politische Kultur in den Reihen der Arbeiter entwickelt hat. Ausdruck dieser politischen Kultur waren die Proudhonisten und die Blanquisten usw. in Paris, die Entstehung der Arbeiterzirkel und das Wirken der Sozialdemokratie in Russland vor 1905, die Arbeit von Spartakus, der Bremer Linken, die Obleute in Deutschland während des Kriegs (und der marxistischen Linken in der Sozialdemokratie vor dem Krieg) usw. Die politischen Arbeiterparteien und Gruppen waren in den Betrieben präsent, ihre jeweilige Positionen wurden dort diskutiert, mit einander verglichen.
Was die zweite Frage betrifft, so finden wir, dass die Formulierung „informelle Arbeiterpartei“, welche im Text verwendet wird, nicht sehr glücklich getroffen ist. Für uns kann man erst dann von einer Arbeiterpartei reden, wenn es ein Gebilde gibt, welches unmittelbar den Ausgang der Klassenkämpfe nicht nur beeinflussen, sondern sogar mit entscheidend prägen kann. Davon sind wir heute noch meilenweit entfernt. Somit wäre es aus unserer Sicht besser, von der Vorbereitung einer künftigen Klassenpartei zu sprechen. Ansonsten läuft man Gefahr, Opfer eines eigenen Bluffs zu werden bzw. an einer der unzähligen „linken“ Betriebsorganisationen zu basteln, welche von den Gewerkschaften aufgesogen werden.
Wenn man aber die Sache in den Rahmen einer politischen Vorbereitung stellt, so hat der INNSE Text eine entscheidende Frage ausgeworfen! Sowohl für die Entwicklung künftiger Massenkämpfe als auch für die Vorbereitung einer Klassenpartei ist es unbedingt erforderlich, dass eine Schicht von hoch politisierten ArbeiterInnen innerhalb (und auch außerhalb) der Betriebe entsteht. „Können heute die Arbeiter keine derartige politische Schicht mehr hervorbringen? Sind sie nicht mehr in der Lage, Kämpfer für ihre Sache hervorzubringen?“ Warum sind diese Fragen so wichtig? In den beiden Jahrzehnten nach den internationalen Klassenkampfexplosionen von 1968-1972 hat das Proletariat zwar elementar erkannt, dass die einst zur Klasse gehörenden Organisationen wie die Gewerkschaften, die Sozialdemokratie, die Kommunistische Parteien, der Sache der ArbeiterInnen nicht mehr dienen, aber sie haben sich deren Einflusses zu erwehren versucht, indem sie sich eine a-politische bis anti-politische Haltung zu eigen machten. Diese Art und Weise, die eigene Klassenautonomie zu bewahren, erwies sich aber als Sackgasse, ja als Boomerang. Denn die Autonomie der Klasse ist nicht denkbar ohne eine eigene Politik, ohne eine eigene Vision vom Endziel und ohne entsprechende Mittel des Kampfes. Außerdem wussten die linken Aktivisten, welche eine klassenfremde Politik betrieben und für eine Reform des Kapitalismus, für Moskau oder Peking schwärmten, sehr wohl, wie sie ihre eigenen Aktivitäten tarnen, ihnen einen nicht politischen Anstrich geben könnten. So zerrann am Ende ein Großteil der Energien der Generation von 1968. Vor allem gelang es nicht, eine eigene politische Alternative zum Kapitalismus – auch gegenüber seiner stalinistischen Variante – zu formulieren. So brach denn auch der Stalinismus am Ende in sich zusammen, anstatt dass er vom Proletariat gestürzt wurde, was die Herrschenden auszunutzen versuchten, um die Frage der Überwindung des Kapitalismus ad acta zu legen.
Wie gesagt: die meisten Kommentare auf unserer Webseite beklagten im Text der INNSE- GenossInnen das Fehlen von etwas Neuem. Aber es gibt etwas Neues, was nicht so sehr in diesem oder jenem Textbeitrag liegt, sondern in der historischen Lage selbst. Das Neue besteht darin, dass kämpferische Minderheiten sich bilden, welche branchenübergreifend und international Solidarität entwickeln und dabei Kontakte suchen und die Lehren aus ihren Kämpfen austauschen und auswerten. Sie versuchen also zu „politisieren“, und zwar auf einer Klassengrundlage. Dieser Vorgang ist wesentlich dafür, eine eigene Klassenidentität zurückzuerobern, um dem eigenen Abwehrkampf Sprengkraft zu verleihen, um eine eigene gesellschaftliche Perspektive zu entwickeln. Dabei müsste eine der vornehmsten Aufgaben der politisierten Schichten darin bestehen, sich allenthalben dafür einzusetzen, dass die Klasse selbst ihr Schicksal in die eigenen Hände nimmt und zu diesem Zweck die Diskussionen, Vollversammlungen, die Kämpfe insgesamt usw. in Eigenregie führt. Sonst droht auch diesen Ansätzen die Gefahr, gewerkschaftlich aufgesogen zu werden. Daher ist es so wichtig, dass diese Arbeit „nicht geografisch, lokal oder national begrenzt ist“ wie es im Text heißt. Ja, es handelt sich um die Aktivität von kleinen Minderheiten, natürlich. Aber diese Aktivitäten können der Vorbote sein von etwas, was unter der Oberfläche in der Klasse insgesamt sich zu rühren beginnt: Der berühmte „alte Maulwurf“, von dem Marx sprach, die unterirdische Bewusstseinsreifung des Proletariats.
Am Anfang war eine informelle Arbeiterpartei...
Sich als Arbeiter zu organisieren und als solche zu handeln, ist bereits ein Programm. Sobald die Arbeiter sich als solche zusammenschliessen und einen Ausweg aus ihrer prekären gesellschaftlichen Lage suchen, finden sie schon bei der Suche die Mittel und Wege, um diesen Ausweg in die Tat umzusetzen. Sie brauchen kein fertiges Programm, bis in alle Einzelheiten ausgearbeitet, mit einer Liste von Forderungen, halbwegs zwischen grossspurigen Zielen und kleinen, vergänglichen Ergebnissen.
Diese Partei richtet sich auf einem Gebiet ein, das nicht geografisch, lokal oder national begrenzt ist: Es ist ein gesellschaftliches Territorium, auf dem sie ihre Kraft entfaltet. Die Fabrik oder irgendein Arbeitsplatz, wo es eine Arbeitergemeinschaft gibt, das ist das Gebiet der Arbeiterpartei. Dort muss ein unerbittlicher Kampf gegen die politischen Parteien der andern Klassen geführt werden. Der politische Einfluss auf die Arbeiter kommt von ausserhalb dieses Gebiets; die politischen Parteien beinflussen die Arbeiter zu Hause, am Wohnort, als Einwohner, als Staatsbürger unter Staatsbürgern; die Arbeiterpartei hat ein Gebiet zur Verfügung, das von der Politik verlassen ist. Bei der Teilung der Macht obliegt es dem Unternehmer, seine Leute direkt zu verwalten; es wird keine Einmischung geduldet, die Produktion ist heilig. Die Arbeiterpartei kann diesem Umstand zu ihren Gunsten aus-nutzen, die Arbeitergemeinschaft kann diesen Hohlraum ausfüllen, indem sie zu einer unabhängigen und eigen-ständigen Art von politischem Handeln findet.
Die Arbeiterpartei führt den Widerstand der Arbeiter über die versöhnlerische Gewerkschaftspolitik hin-aus. Die alte Gewerkschaftspolitik des kleineren Übels („Lieber den Spatz in der Hand...“) wird von der Wirtschaftskrise überrannt, die den Arbeitern nicht einmal mehr das „kleinere Übel“ gewährt, sondern sie mit weniger als Nichts dastehen lässt. Statt aus der Wirtschaftskrise – als Beweis für den Bankrott der auf dem Profit aufge-bauten Produktionsweise – Kraft zu schöpfen, verständigen sich die eingespielten Gewerkschaftsführer darauf, mit sozialen Abfederungen das Elend der Arbeiter zu verwalten, in der Erwartung, dass der Sturm vorübergehe. Gesetzt den Fall, dass das Unwetter nicht so schnell vorbeigeht und dass die Überwindung der Krise unerträgliche Opfer verlangt, so dass die Arbeiter im Widerstand gegen die Auswirkungen der Krise zur Überzeugung gelangen, dass die Zeit für diese Art von Produktion und Austausch abgelaufen ist und dass sie überwunden werden muss, in welche Richtung und auf welche Perspektiven hin müssen wir uns dann bewegen? Wird es dann nicht vielleicht die Aufgabe der informellen Arbeiterpartei sein, mit der Ausarbeitung von Antworten zu beginnen?
Die Tatsache, dass namhafte Teile der Arbeiter den klassischen parlamentarischen Parteien fremd gegen-über stehen, zeigt sich auf alle Arten. Nicht so sehr in der Stimmenthaltung, die eine zahlenmässig bedeutende Erscheinung ist, als vor allem in der Militanz, im konkreten Beitrag zur Unterstützung dieses oder jenes politischen Vorhabens. Die Parteien, die wir kennen, fischen ihre Führungsgruppen und Mitglieder aus den andern Klassen, sie sind Ausdruck von andern gesellschaftlichen Klassen. An der aktiven Mitgliederbasis der Parteien, die sich als Parteien der Arbeiter (“dei lavoratori”) bezeichnen, finden wir bestenfalls Lehrer, Angestellte, Techniker, aber nie Arbeiter. Die Arbeiter hingegen, seit sie auf dem Schauplatz der Gesellschaft aufgetaucht sind, haben Organisatoren, Agitatoren und Propagandisten hervorgebracht, welche Parteien mit grossen Mitteln und grosser finanzieller Unterstützung in den Sack gesteckt haben. Können heute die Arbeiter keine derartige politische Schicht mehr her-vorbringen? Sind sie nicht mehr in der Lage, Kämpfer für ihre Sache hervorzubringen? Diese Möglichkeit zu verneinen, kommt andern gelegen, nicht uns selber; es kommt darauf an, für welche Partei man sich einsetzen soll, für welche Partei zu kämpfen man anfangen soll, und eine Möglichkeit ist heute gegeben: Man kann Mitstreiter und Organisator für eine Partei werden, die unser ist, für eine Arbeiterpartei, oder wenigstens die ersten Schritte in diese Richtung tun. Die Programme und Organisationsformen werden wir miteinander finden, wenn wir uns allmählich als Klasse und damit als unabhängige politische Partei zusammenschliessen.
Am Anfang soll jeder bleiben, wo er ist, und weiterhin mit den politischen Formationen sympathisieren, mit denen er will, sich an den Aktivitäten von Komitees, autonomen Zentren, dieser oder jener Basisgewerkschaft beteiligen. Die informelle Arbeiterpartei verlangt keine Glaubensbekenntnisse, als vielmehr dass man damit beginne, als Arbeiter zu denken und zu handeln, zu allen Fragen, die uns direkt betreffen, einen eigenen Standpunkt zu erarbeiten und zu vertreten. Die grosse Krise hat den Nebel aufgelöst, der den Interessengegensatz, auf dem diese Gesellschaft aufgebaut ist, verschleiert hatte: Wo ist die produktive Arbeit von Millionen Arbeitern all dieser Jahre verschwunden? In den Taschen der Unternehmer, in den Kassenschränken der Banken, in den goldenen Gehältern der Staatsbeamten. Den Arbeitern blieben die Brosamen -und heute das Elend. Es ist zum Lachen, mit welcher Frechheit sie von allen, uns eingeschlossen, verlangen, gemeinsam Opfer zu bringen um die Krise zu überwinden. Die Krise jedoch ist die Krise ihres Systems. Es ist ihre Art, aus unserer Arbeit Reichtum anzuhäufen, die an einem bestimmten Punkt in sich zusammengefallen ist. Und nun sollten wir wie kopflose Lämmer uns bereit erklären, weitere Opfer zu bringen, damit sie sich noch mehr bereichern können, bis dann eine neue, noch erschütterndere Krise auf uns wartet? Heissen wir die grosse Krise willkommen! Die sozialen Revolutionen reifen dort heran, wo die alten wirtschaftlichen Strukturen nicht mehr in der Lage sind, ihren Ablauf von Kapitalanhäufung fortzusetzen. Die Arbeiterrebellion ist heute zu einer realen Möglichkeit geworden. Die direkt produktive Arbeit der Arbeiter kann für eine andere Gesellschaftsordnung ohne Unternehmer, Banker und gut bezahlte Staatsbeamte verwendet werden, sie kann den Arbeitern selber dienen.
Wir haben keine Zeit, die Kapitalbesitzer werden an einem bestimmten Punkt darauf angewiesen sein, die Befehlsgewalt über die Gesellschaft zu zentralisieren, die Beziehungen zwischen den Klassen neu festzulegen, um den Vorgang der Kapitalanhäufung wieder in Gang zu setzen. Sie selber werden die Arbeitsweise der politischen und staatlichen Institutionen in Frage stellen. Wenn die demokratische Form ihnen nicht mehr dient, werden sie die ersten sein, die ihre Überwindung fordern. Verdammen wir uns nichts selbst dazu, unter jenen zu sein, die immer die Vergangenheit verteidigen, neben der Republik der Unternehmer, kann es in der geschichtlichen Reihenfolge auch die Republik der Arbeiter sein. Wenn den Unternehmern, um ihr Kapital zu retten, Kraftproben auf dem Weltmarkt dienen, werden sie „aus Notwendigkeit auf den Krieg hinsteuern“. Die ständigen Aufrufe zur nationalen Einheit gehen in diese Richtung. Wer wird sie aufhalten können, wenn nicht die Arbeiter, die eine inter-nationale Klasse sind? Arbeiter, wir haben keine Zeit! Eine Parteiorganisation ist nötig, die -in jeder Fabrik an-wesend -damit beginnt, sich ohne unnütze Formalitäten zu bilden und stattdessen schon heute anfängt zu handeln. Es ist kein Zufall, dass ab und zu sich jemand daran erinnert, dass die lebendigen Arbeiter aus Fleisch und Blut existieren und dass niemand fähig ist, sie politisch zu vertreten. Wir haben die Absurdität, dass die Lega von Bos-si sich die Fähigkeit anmasst, auch Arbeiterschichten „des Nordens“ zu vertreten und einige Sektionen in den Fabriken gründet. Ausgerechnet die Lega, welche die übelsten Unternehmer und Kleinunternehmer vertritt, die um Profit zu machen zu einer unerhörten Ausbeutung der Arbeiter fähig sind! Die Arbeiterpartei wird – indem sie sich auf dem ihr eignen Gebiet, in der Fabrik, Achtung verschafft – alle andern auf Trab halten und die klassenübergreifende Farce von den „Norditalienern“ („Padani“) auflösen. Denn dort, wo es einen Unternehmer gibt, hat es auch Arbeiter, der ihm den unerbittlichen Kampf ansagen. Der schreckliche Kampf zwischen den Klassen, der so sehr Angst einflösst, auch der „kämpferischen und regierungsverantwortlichen“ Lega (Lega di „lotta e di go-verno“).
Nun sind einige Anmerkungen zu machen zu unserem Lager, zu den von der Krise betroffenen Arbeitern und jenen, die auf irgendeine Art behaupten sie zu vertreten. Die gesellschaftliche Struktur in Italien bringt immer neue poltische Gruppen hervor. Wir stehen nicht nur einer Masse von Gewerbetreibenden und Krämern gegen-über, sondern auch Selbständigerwerbenden sowie Staatsangestellten und freien Berufen, Angestellten in der Produktion, die die Ausbeutung der Arbeiter verwalten... Jeder mit seinen eigenen wirtschaftlichen und eigenen politischen Interessen. Es stimmt zwar, dass die Krise für viele, die geglaubt hatten, eine befriedigende Arbeit und Anstellung gefunden zu haben, einen sozialen Abstieg hervorbringt. Unter allen Arbeitenden wächst die Unzufriedenheit, das ist das Ergebnis der Krise. Die politischen Antworten, die jeder dieser Sektoren gibt, entspricht den besonderen gesellschaftlichen Bedingungen, die sie verspüren und die sie voneinander unterscheiden. Die Staatsangestellten wollen die Verteidigung des „öffentlichen Dienstes“, die Angestellten des Handels eine Politik der Ankurbelung des privaten Konsums, die Forscher eine Förderung der nationalen Forschungsprojekte, und so weiter... Lassen wir hier den eigentümliche Wahn beiseite, Linksparteien links von der Rifondazione zu erfinden, jede in der Hoffnung, in den regionalen, kommunalen Behörden oder im Parlament wieder eine Rolle zu spielen. Sprechen wir lieber von den verschiedenen Versuchen: Koordinationskomitees, Basisgewerkschaften, autonome Zentren, Studentenkomitees, die alle im Kampf um die Vorherrschaft miteinander wetteifern, ins Leben zu rufen, und sagen wir ihnen, dass es ohne das Auftreten der Arbeiter keine echte Alternative zu diesem System gibt, dass ohne die zentrale Bedeutung der Arbeiter („centralità operaia“) die kleinen Gruppen nicht überwunden werden können. Ab sofort, auch auf informelle Weise, eine Arbeiterpartei zu gründen, das ist im Interesse all jener, welche die Absicht haben, die Krise zu benützen, um diese Art von Produktion und Austausch in Frage zu stellen. Vom kläglichen „eure Krise bezahlen wir nicht“ werden wir übergehen zum Schlachtruf „Unternehmer, wir wer-den in der Krise mit euch abrechnen“. Sollte hingegen die notwendige Vereinigung der Arbeiter zur Partei als neue, zentrale Tatsache anerkannt werden, könnte ein wichtiger Beitrag auch von jenen Mitstreitern kommen, die selber zwar keine Arbeiter sind, jedoch mühsam aus eigener Erfahrung, aus theoretischer Aneignung dazu gelangt sind, die Rolle zu begreifen, welche die Arbeiter in der Möglichkeit der Überwindung dieses Systems haben.
Vom Sprechen über die Arbeiterpartei überzugehen zu ihrer Gründung, ist ein sehr schwieriger Sprung. Nahezu unmöglich, aber die unmöglichen Aufgaben, einmal verwirklicht, können sich als die einzigen erweisen, die grosse Resultate bringen. Bei INNSE hat die informelle Arbeiterpartei vorgemacht, was eine Arbeitergemeinschaft, die einig ist und weiss, wohin sie will, zustande bringen kann. Warum nicht in anderen Fabriken die gleiche organisatorische Praxis versuchen? Kurzum, ist es derart schwierig, an allen Arbeitsplätzen, unter Arbeitern, sich als Sektion einer noch informellen Partei, die ihren Wegen finden muss, zu verstehen und zu vereinen? Die Antwort kann nur aus den Betrieben kommen. Zum Zeitpunkt, in dem wir uns gegenseitig bewusst werden, dass dieses Projekt anfangen kann auf eigenen Füssen zu stehen, können wir mit öffentlichen Versammlungen in den verschiedenen Industriezentren anfangen und zu neuen Gedankengängen übergehen. Die weltlichen Prediger der politischen Klein-und Kleinstgruppen, die sich an die Lohnabhängigen richten, werden diesen Vorschlag hinlänglich prüfen und sogleich als Sektiererum verwerfen, oder versuchen ihn totzuschweigen. Sie haben jedoch auf der ganzen Linie versagt: Bei ihren öffentlichen Auftritten langweilen sie die Leute mit den üblichen Litanein über die Kämpfe, die nie organisiert werden, über die Verallgemeinerungen der Initiativen, die sich in einer privaten Vereinbarung zwischen zwei oder drei Individuen erschöpfen, über die Hirngespinste grosser Bewegungen, die sich nie bewegen, über ihre unklaren Ziele. Nun, wenn es den fortgeschrittensten Arbeitern nicht gelingt, mit diesen Leuten abzurechnen, dann wird es sehr schwierig in Richtung einer Arbeiterpartei zu gehen. Aber auch von dieser Seite her hilft uns die Krise: Der Zusammenprall zwischen Arbeitern und Unternehmern wird immer heftiger, und für manches Geschwätz über eine linke politische Verwaltung des reformierten Kapitalismus ist die Zeit abgelaufen.
Diese Anmerkungen sind von einigen Arbeitern der INNSE diskutiert und überarbeitet worden. Es sind dieselben, die den langen Kampf angeführt haben und sich dabei die Anerkennung ganz vieler, die sie dabei unterstützten, erworben haben. Was wir verlangen, zum Besseren oder zum Schlechteren, ist eine Antwort auf die Fragen, die wir gestellt haben. Besser als Schweigen und Gleichgültigkeit... Es ist unsere Absicht, allen zu antworten. Falls Zustimmungen zum Projekt kommen werden, werden wir raschmöglichst, noch vor den Sommerferien, eine öffentliche Versammlung organisieren, um uns zu treffen und die nächsten Schritte festzulegen. Auf der Tagesordnung wird nicht das abgenützte Verlangen zur Koordinierung der Kämpfe stehen; wie aus der Krise herauszukommen ohne den Mut zu haben, über den Kapitalismus hinauszuschauen; zu retten, was zu retten ist. Das Thema wird schlicht und einfach die Organisierung der Arbeiter zur Partei sein; festzustellen, in welchen Betrieben es möglich ist oder bereits begonnen hat; wir werden darüber diskutieren, wie ihre Tätigkeit zusammengefasst werden kann. Das kann tatsächlich zur poltischen Wende führen, zu der uns die grosse Krise gezwungen hat. Das wäre ein Resultat von geschichtlicher Bedeutung. Es liegt an uns!
Im Juni 2010 konnte die herrschende Klasse in der Schweiz zwei ihrer größten Probleme, wenigstens für den Moment, für beendet erklären.
Diese Probleme hielten sie während gut einem Jahr so in Atem, dass ihre Medien jetzt laut über eine Auswechslung von verschiedenen Regierungsmitgliedern nachdenken. Immerhin hat die herrschende Klasse im Steuerstreit mit den USA um Bankkonten von amerikanischen Kunden der Schweizer Bank UBS eine bittere Pille geschluckt und in der so genannten Libyenaffäre vor vielen anderen Staaten das Gesicht verloren.
Welche Bilanz ist heute zu ziehen? War es nur ein Sturm im Wasserglas? Zur Ablenkung von der wahren Krise, derjenigen der Wirtschaft?
Die im letzten Artikel angesprochene Affäre Libyen mit den sich in der Wirkung widersprechenden Positionen der Innen- und Außenpolitik ist für die Schweizer Bourgeoisie mit einem großen Prestigeverlust zu Ende gegangen. Vorausgegangen sind diverse Ereignisse eines Schlagabtauschs, die das absurde Leben der kleinen Staaten im Zerfall des Kapitalismus gut demonstrieren.
Die Schweizer Bourgeoisie tritt nicht mehr nur als einheitlicher neutraler und diplomatischer Staat auf, sondern ist immer mehr geprägt durch die Einzelinteressen verschiedener Parteien und Fraktionen mit ihren Exponenten. Die Homogenität der Bourgeoisie leidet in jedem Fall darunter. Ausdruck davon ist der Verlauf der Affäre Libyen.
Auf den abgeschlossenen Staatsvertrag zwischen den Staaten im Herbst 2009 wurde von libyscher Seite her nicht reagiert. In der Folge hat die Schweiz die Visumsvorschriften für Libyer verschärft und im Februar „hochrangige“ libysche Staatsangehörige an der Einreise gehindert.
Am 31. Januar wurde die eine Schweizer Geisel in Libyen freigesprochen und die andere zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Zudem verschärfte sich der Konflikt im Februar durch die Visa-Sperre von Libyen für die meisten Länder der Schengen Zone. Der Konflikt weitete sich somit auf die EU aus, die sich wiederum von der Schweiz distanzierte.
Am 25. Februar ruft Gaddafi an einer Rede zum heiligen Krieg gegen die Schweiz auf - als Reaktion auf das Minarettverbot der Schweiz Ende November 2009. Dies ist ein weiterer heikler Punkt der Schweizer Bourgeoisie, die diese Abstimmung ideologisch unterschätzt und weltweit viel Kritik geerntet hat.
Nach einem „totalen Wirtschaftsboykott“ von der Seite Libyens gegen die Schweiz im März wurde die zweite Geisel im Juni schließlich freigelassen. Bedingung war, dass die Schweiz auf ein deutsches Sperrkonto eine Kaution von 1.5 Millionen Franken einbezahlt. Dies als Sicherheit dafür, dass derjenige, der die Polizeifotos von Hannibal Gaddafi publizierte, in der Schweiz gerichtlich zur Rechenschaft gezogen wird. Die Schweiz beugte sich schlussendlich, wobei die Verhandlungen mit Libyen vor allem durch die EU mit ihren Exponenten Berlusconi und Co. geführt wurden. Selbst der schlechte Deal mit dem Gesichtsverlust für die Schweiz kam also nur deshalb zustande, weil sich prominente Mittelsleute für eine Schlichtung des Streits einsetzten. Die Schweiz allein hätte nicht einmal für eine schlechte Lösung genügend Gewicht in die Waagschale werfen können.
Während Bundesrat H.-R. Merz in August 2009 das erste Mal versuchte, die beiden Geiseln freizukriegen und dabei sichtlich scheiterte, war es diesmal Bundesrätin Calmy-Rey der Sozialdemokraten, die sich vor den Medien als Befreierin profilierte. Das Scheitern des einen und der Erfolg der anderen können als Episoden der Konkurrenz innerhalb der Schweizer Regierung verstanden werden und sind bezeichnend für die Situation innerhalb des Bundesrats, wie wir sie im letzten Artikel beschrieben.
Als gäbe es in dieser Sache nicht schon genug Fehltritte und Widersprüche innerhalb der Regierung, wurde nach der Freilassung durch eine Indiskretion ein Plan für eine militärische Befreiung der Geiseln bekannt. Dass die „neutrale“ Schweiz einen inoffiziellen bewaffneten Einsatz im Ausland plant, zeigt einerseits ihre Verzweiflung in der isolierten Situation und macht andererseits auch die Impotenz des Schweizer Militärs deutlich. Die anschließende Diskussion über die völkerrechtliche Legimitation eines solchen Einsatzes lenkt großmäulig vom Umstand ab, dass es der Schweiz gar nicht möglich ist, militärisch im Ausland zu intervenieren, nicht einmal eine Polizeioperation des Geheimdienstes wäre realisierbar.
An diesem Beispiel, aber auch im unten angesprochenen Steuerstreit zeigt sich, wie die Schweiz in Konflikten mit anderen Staaten alleine dasteht. Nicht nur in Auseinandersetzung mit als „verrückt“ geltenden Führern und symbolischen Geiselnahmen, sondern auch in anderen Konflikten mit einschneidendem ökonomischem Einfluss auf das Budget der Schweizer Bourgeoisie.
Ohne Zweifel war das Problem mit den USA weit ernsthafter als dasjenige mit Libyen: Es ging um die Herausgabe von Bankkundendaten der UBS, die eigentlich dem Bankgeheimnis unterstehen, an die US-Steuerbehörden. Damit sind nicht nur das Bankgeheimnis - als Garantie der Schweizer Banken, ihre Kunden gegenüber anderen Staaten geheim zu halten - betroffen, sondern erhebliche wirtschaftliche Interessen der Schweizer Bourgeoisie. Gerade die Aussicht von Reichen der ganzen Welt, einen Teil ihres Vermögens unversteuert durch Schweizer Banken verwalten zu lassen, führte zu einem Vorteil des Finanzplatzes Schweiz gegenüber anderen Staaten, die weniger diskret mit den Daten ausländischer Bankkunden umgingen.
Dieses Angebot hat auch eine Nachfrage. Die bisherige Diskretion der Schweizer Banken befriedigte Bedürfnisse von Kapitalisten der ganzen Welt mindestens in dreifacher Hinsicht:
- als Steuerparadies, als Anlagemöglichkeit für Reiche, die steuerlich unbehelligt davonkommen;
- als Geldwaschanlage für kriminelle Aktivitäten, die Mafias, Drogen- und Waffenhändler usw.
- als Drehkreuz für Geldzahlungen, die aus imperialistischen Gründen Diskretion erfordern, z.B. zur Finanzierung von terroristischen / antiterroristischen Aktivitäten, Geheimdienstaktionen, die nicht kontrolliert werden sollen.
Gerade bei Finanzströmen der letzten Art müssen die USA als Weltpolizist ein Interesse daran haben, freien Zugang zu sämtlichen Bankdaten in anderen Ländern zu bekommen. Bei den USA liegt dieser Aspekt im Vordergrund, während beim Druck, den die deutschen Steuerbehörden gegenüber der Schweiz (Razzias bei der Credit Suisse in Deutschland) und Liechtenstein ausüben, eher direkte ökonomische und ideologische Interessen eine Rolle spielen - bankrotte Staaten müssen ihre Löcher stopfen und Sünder vorweisen.
Der im Juni 2010 vom Parlament genehmigte Staatsvertrag zwischen den USA und der Schweiz über die Herausgabe von UBS-Akten (vgl. dazu die Einzelheiten in „Weltrevolution“ Nr. 156) ist aus der Perspektive der Arbeiterklasse auch in wirtschaftlicher Hinsicht interessant: Was heißt die faktische Aufhebung des Bankgeheimnisses für die Wirtschaft? Wird sich die Krise in der Schweiz aus diesem Grund zusätzlich verschärfen?
Die Bourgeoisie ist sich einig darin, dass der Staatsvertrag mit den USA der mittelfristigen Aufhebung des Bankgeheimnisses gleichkommt. Obwohl die Schweizer Wirtschaft mit vielen verschiedenen Ländern verknüpft und insofern diversifiziert ist, hat sie zu wenig Rückhalt bei großen und treuen Verbündeten, um wirtschaftlichen Erpressungen Stand zu halten. Deutschland drängt sich zwar als Beschützer geradezu auf. Es ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner, und eine völlige Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft vom deutschen Reich ist auch historisch gesehen viel eher eine romantisierte Staatsideologie (Wilhelm Tell) als Realität. Aber solange Nationalstaaten bestehen, wollen die kleinen nicht von den großen geschluckt werden. Vom besten „Beschützer“ geht also in der nationalstaatlichen Logik gleichzeitig die größte Drohung aus. Gerade aus diesem Widerspruch heraus hat die Schweizer Bourgeoisie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg immer versucht, sich bei den USA einzuschmeicheln, um sich auch da eine „Freundschaft“ zu erhalten.
Was haben die USA nun faktisch getan? Sie stellten die Schweizer Bourgeoisie, die UBS, die Regierung (alle zusammen offen als Einheit auftretend) vor die Alternative: steuerstrafrechtliche Konfiskation der Güter der UBS in den USA und damit wahrscheinlicher Untergang dieser Großbank mit katastrophalen Folgen für die Wirtschaft (vgl. Island) oder Öffnung der unter Bankkundengeheimnis stehenden Konten-Dossiers von US-Steuerpflichtigen. Längst steht die offizielle Schweiz unter etwas sanfter vorgetragenem, aber im Resultat gleich gerichtetem Druck der EU und insbesondere einzelnen Länder aus ihr: Deutschlands, Italiens, Frankreichs, Spaniens etc. Der langen Rede kurzer Sinn: das Schweizer Bankgeheimnis wird begraben. Die tödlichen Spritzen haben die beiden „Patenonkel“ USA und Deutschland gesetzt.
Was bedeutet dies für die Wirtschaft? – Dank dem Steuervorteil, den Reiche mit dem Verstecken ihrer Gelder auf Schweizer Bankkonten genossen, flossen riesige Vermögen auf diesen Finanzplatz. Man braucht nicht Hellseher zu sein, um vorauszusagen, dass dieser Strom abnehmen wird. Je kleiner die auf Schweizer Banken verwalteten Vermögen, desto prekärer wird die Situation unter den kleinen bzw. kapitalschwachen von ihnen. Die Konkurrenz wird zunehmen, es wird Pleiten geben – und mehr Arbeitslose. „Etwa 30’000 der in der Schweiz tätigen Bankangestellten sind im grenzüberschreitenden Vermögensverwaltungsgeschäft tätig. Das ist rund ein Viertel der 110'000 Arbeitsplätze, welche die Schweizer Banken im Inland anbieten.“ (Tagesanzeiger 16.02.2010). Ob aber 30’000 Arbeitsplätze auf dem Finanzplatz Schweiz verloren gehen, hängt auch von anderen Faktoren ab: weitere Entwicklung der Weltwirtschaftskrise, Konkurrenzvorteile für die Schweiz als Investitionsstandort, Stärke der hiesigen Währung gegenüber Dollar, Yen, Euro etc. Während die wirklichen Konsequenzen auf die Wirtschaftslage in der Schweiz unklar sind, können wir umgekehrt sicher sein, dass die Bourgeoisie versuchen wird, eine Verschärfung der Krise in der Schweiz auf diese Veränderungen im Finanzsektor - also auf Sonderumstände - zurück zu führen, damit die Einsicht, das System sei als Ganzes faul, sich nicht zu einfach durchsetzt.
Auf imperialistischer Ebene musste die Schweizer Bourgeoisie in den letzten 12 Monaten einige Kröten schlucken. Sie sprach von Erpressung sowohl durch Gaddafi wie durch die USA - und hatte für einmal recht: So sind nun halt die Verhältnisse für Kleinstaaten im weltweiten Hickhack nach 1989. Der einzige Trost („Rache ist süß“) war die Weigerung der Schweiz, Roman Polanski an die USA auszuliefern. Dass dieser Entscheid zur Chef-Sache erklärt und von Justizministerin Widmer-Schlumpf persönlich eröffnet wurde, ist eine kleine Demonstration - insofern nicht ganz auf der Linie der bisher stets gepflegten Diskretion. Der Schweizer Imperialismus kläfft. Frankreich und Polen (die hinter Roman Polanski stehen) streicheln ihm den Pelz. Bald schon dürften die nächsten Läuse jucken.
17.07.2010, K und H
Genau wie alle anderen Regierungen der Welt hat auch die deutsche Regierung ein Sparpaket verabschiedet, welches wie woanders die Kosten der Krise auf die Arbeiter abwälzen soll.
„Bis 2014 wollen Union und FDP im Bundeshaushalt 81,6 Milliarden Euro einsparen. Die Arbeitslosen sind wohl die großen Verlierer des Sparpakets. Rund 30 Milliarden Euro will die Regierung bis 2014 aus dem Sozialbereich quetschen - Langzeitarbeitslose können sich auf allerlei Kürzungen einstellen. So soll der befristete Zuschlag beim Übergang vom Arbeitslosengeld I ins Arbeitslosengeld II ebenso gestrichen werden, wie der Zuschuss zur Rentenversicherung. Hartz-IV-Empfänger verlieren zudem ihren Anspruch auf Elterngeld. Künftig soll die Bundesagentur für Arbeit stärker selbst entscheiden können, wem welche Gelder zugestanden werden. Dazu sollen Pflichtleistungen in Ermessensleistungen umgewandelt werden. Der Heizkostenzuschuss für Wohngeldempfänger, der 2009 wegen der hohen Energiekosten eingeführt worden war, wird wieder abgeschafft. Im Öffentlichen Dienst sollen 15.000 Stellen gestrichen werden.“ (Siehe Spiegelonline)
Bei den ersten Reaktionen auf die Ankündigung der Sparbeschlüsse konnte man selbst in den bürgerlichen Medien häufig lesen: „Wieder einmal wird auf Kosten der Armen gespart“, so dass sogar Manager aus dem Unternehmerlager, die eingestanden, ziemlich ungeschoren davonzukommen, ihre Bereitschaft bekundeten, ebenfalls ihren Beitrag zu den Sparanstrengungen zu leisten. Aber das hielt die Bundesregierung nicht davon ab, just gegen Ende der Fußballweltmeisterschaft in Südafrika, die für genügend Ablenkung gesorgt hatte, zuzuschlagen und kräftige Erhöhungen der Beiträge im Gesundheitswesen durchzudrücken.
Auch wenn die Bundesregierung mit ihrem Sparpaket in die gleiche Richtung drängt wie die anderen Regierungen auf der Welt, die die Arbeiterklasse zur Kasse bitten, geht sie dennoch nicht blindlings und unüberlegt vor. Denn während sie zwar unnachgiebig gegenüber anderen Regierungen wie z.B. der griechischen brutale Sparprogramme fordert, bevor sie irgendwelche Rettungspakete unterschreibt, und auch (wie wir im nebenstehenden Artikel dargestellt haben) international im Vergleich zu den USA auf rigorose Sparprogramme drängt, hat sie im Augenblick noch den Spielraum und auch die politische Cleverness, in Deutschland scheibchenweise zuzuschlagen. Es geht explizit darum, Erwerbslose und Beschäftigte auseinander zu dividieren. Zwar wurde der Kern der industriellen Arbeiterklasse beim ersten Sparpaket noch von den heftigsten Angriffen weitestgehend ausgenommen. Die Zuschläge für Nachtschicht- und Wochenendarbeit in der Industrie bleiben vorerst von der Steuer verschont; auch werden Sozialabgaben auf die Löhne noch nicht erhöht. Aber wie wenig die Beschäftigten in Wirklichkeit ausgespart werden sollen, hat gleich die „Gesundheitsreform“ gezeigt, die alle Lohnabhängigen kräftig zur Kasse bittet, dafür aber die Entlastung der Unternehmer für die nächsten Jahren schon festgeschrieben hat.
Der Hintergrund: Gegenwärtig zieht vor allem im Exportsektor die Produktion wieder an. Auf den ersten Blick scheint eine Rechnung aufgegangen zu sein, die das deutsche Kapital zu Beginn der Beschleunigung der Krise aufgestellt hatte. Über eine Million Arbeiter - vor allem im Maschinenbau und anderen exportstarken Branchen (z.B. Chemie, Elektroindustrie, Autobau) - wurden in Kurzarbeit geschickt. Davon sind nun wider Erwarten viele nicht arbeitslos geworden, sondern konnten wieder in die Produktion mit einsteigen. Und während in den Nachbarländern die Arbeitslosigkeit stark anschwoll (zum Teil um mehr als 50%) oder sie sich wie in den USA verdoppelte, ist sie in Deutschland 2009 nur geringfügig angestiegen, in der jüngsten Zeit gar minimal rückläufig. Deutschland ist das einzige Land, in dem die offizielle Arbeitslosenquote heute niedriger liegt als vor dem Ausbruch der Wirtschaftskrise im Frühjahr 2008 (Spiegel, 17/2010).
Diese gegenwärtig günstige Situation für das deutsche Kapital ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen: Deutschland profitiert von den Konjunkturprogrammen, die in den USA und vor allem in China für eine Ankurbelung der Wirtschaft sorgten. (1)
Während der Gesamtexport 2009 um fast 18% sank, stiegen die Ausfuhren nach China um 7%. „Den deutschen Maschinenbau hat Fernost regelrecht gerettet. China ist jetzt der wichtigste Auslandsmarkt. Für VW ist China wichtiger als Deutschland. Auf deutscher Seite hat sich der Anteil Chinas an den Ausfuhren in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdreifacht.“ (FAZ, 12.5.10). Generell hat der Export die Wirtschaft angefeuert. „Die Unternehmen verkauften Waren im Wert von 77,5 Milliarden Euro ins Ausland - 28,8 Prozent mehr als im Mai 2009. Das war der kräftigste Anstieg seit Mai 2000 mit 30,7 Prozent, teilte das Statistische Bundesamt mit. Allerdings waren die Exporte vor einem Jahr wegen der weltweiten Wirtschaftskrise auch um ein Viertel eingebrochen. Besonders stark stiegen die Ausfuhren in die Staaten außerhalb Europas: Hier lag das Plus bei 39,5 Prozent, während die Geschäfte mit den anderen Euro-Staaten um 21,4 Prozent zulegten.“ (Spiegelonline)
Dies wird zurzeit begünstigt durch den seit Jahresbeginn stark gefallenen Eurokurs (-15%). Erleichtert wurde die Exportoffensive auch durch die stark gesunkenen Lohnstückkosten, welche nach einer vor Jahren eingefädelten Ausweitung des Niedriglohnsektors landesweit gesunken sind. Denn in anderen EU-Ländern waren die Lohnstückkosten in den ersten Jahren des ersten Jahrzehnts gestiegen, wohingegen sie in Deutschland im ersten Jahrzehnt fielen. Dass nun diese Lohnsenkungen, die in anderen Ländern zum Teil eher in einem „Hau-Ruck-Ansatz“ eingeführt werden, in Deutschland schon vor Jahren umgesetzt wurden, ist eines der "historischen Verdienste" der rot-grünen Regierung, das dem deutschen Kapital zugute kommt. Auch dieses Jahr noch hat der jüngste IG-Metall-Abschluss in enger Absprache mit der SPD für weitere Lohnverzichte gesorgt.
Darüber hinaus profitieren deutsche Firmen im Augenblick von günstigen Zinskonditionen. Denn während die Staatsanleihen in den „PIIGS“-Ländern nur zu hohen Zinsen gekauft werden können, hat in Deutschland ein Run auf zinsgünstige deutsche Staatsanleihen eingesetzt. Dies begünstigt im Augenblick noch die günstige Kreditaufnahme für das deutsche Kapital, mit dem Vorteil einer großen Zinsersparnis für den deutschen Staat, der auch trotz aller Sparbeschlüsse noch immer neue Rekordverschuldungen eingehen muss.
Auf der einen Seite schnellen die Schulden des deutschen Staats in die Höhe. Bund, Länder und Kommunen mussten im ersten Quartal neue Verpflichtungen eingehen – sie stehen mit insgesamt 1,711 Billionen Euro in der Kreide. Die Schulden des Bundes stiegen um 1,1 Prozent auf 1,066 Billionen Euro, die der Länder um 1,2 Prozent auf 533 Milliarden Euro und die der Kommunen um ein Prozent auf 112,5 Milliarden Euro. Dies zwingt zur Verabschiedung von Sparpaketen.
Gleichzeitig hat die Verabschiedung der jüngsten Rettungspakete zur Stützung des Euros deutlich werden lassen, dass das deutsche Kapital innerhalb der EU am stärksten mit einspringen muss. So muss das deutsche Kapital selbst immer größere Risiken eingehen um der Gefahr der Zahlungsunfähigkeit europäischer Konkurrenten entgegenzutreten, es muss also immer waghalsiger und somit immer verletzlicher werden – auch wenn es im Augenblick noch die Mittel hat, Zeit herauszuschinden. Die Stunde der Wahrheit aber wird kommen.
Was bislang als große Stärke angesehen werden konnte, d.h. die Exportrekorde, bewirkt aber auch eine besondere Verwundbarkeit Deutschlands. Jeder fünfte Arbeitsplatz hängt am Export, das sind acht Millionen Jobs. Inzwischen beträgt der Anteil der Ausfuhren am BIP 47%, Anfang der 1990er Jahre lang er noch bei ca. 20%. Selbst China, die Werkbank der Welt, besitzt mit einem Exportanteil von 36% eine Wirtschaft, die nicht so stark exportabhängig ist. Jedes Mal, wenn der Weltmarkt schrumpft, wird wegen der hohen Exportabhängigkeit die deutsche Wirtschaft stärker angeschlagen. So sank in Deutschland das BIP 2009 um -5.3%, in Frankreich -2.4%, in Großbritannien -4.4%, in den USA -2.7% gegenüber 2008. Eine Folge: In Deutschland stieg die Arbeitslosigkeit in Süddeutschland, insbesondere in Baden-Württemberg, d.h. in den exportstarken Regionen am stärksten. Zwar trägt zum Beispiel in Großbritannien das verarbeitende Gewerbe nur noch zu 13% zur Wertschöpfung bei, in Deutschland sind es ca. 23%, dennoch schrumpfen die Weltmärkte, weil Konjunkturblasen irgendwo platzen und gerät besonders Deutschland in Bedrängnis. Deshalb bangen alle darum, wann die chinesische Blase platzen wird. „Manche Experten fürchten, dass die Wirtschaft nach kurzem Aufflackern der Wachstumskräfte weltweit wieder in die Rezession zurückfällt, weil zahlreiche Konjunkturprogramme auslaufen. Sie sprechen in diesem Zusammenhang von einem „double dip“, als einem zweifachen Knick nach unten“. (Spiegel, 27/2010).
Insofern ist es nur eine Frage der Zeit, bis es auch den in Lohn und Brot stehenden Arbeitern im exportstarken Deutschland so richtig an den Kragen geht….
Und die Arbeiter sich hierzulande noch mehr wehren müssen.
(1) China ist der grösste Automarkt der Welt.
„Gegen die Bremswirkung der globalen Krise, die selbstverständlich auch China getroffen hat, ist Peking mit einem gigantischen Konjunkturpaket vorgegangen: Umgerechnet 400 Milliarden Euro pumpte der Staat vor allem in Infrastrukturinvestitionen wie Straßen- und Schienennetze, Flughäfen und Sportstätten – ganz gleich, ob sie gebraucht wurden oder nicht. Hinzu kamen Anreize für den Autokauf und andere Waren. Doch das war alles nichts gegen die umgerechnet fast 1000 Milliarden Euro, die von den Banken an Krediten unters Volk gebracht wurden.“ (Rheinische Post, 15.7.10) Im Juni wurden in China 1,04 Millionen Autos verkauft. Im März aber gab es noch einen Rekordabsatz von 1,7 Millionen Fahrzeugen. 2000 Autos werden jeden Tag in Peking verkauft. In Berlin waren es 2009 täglich 261.
Am 31. Mai ist der israelische Angriff auf die von der Türkei angeheuerte “Hilfsflotte”, die den Bewohnern des Gaza-Streifens humanitäre Hilfe leisten wollte, in die Chronik der Geschichte eingegangen. Das Ereignis selbst war in der Tat besonders schockierend: eine der modernsten und am besten ausgebildeten Armeen der Welt tötete gnadenlos unbewaffnete propalästinensische Aktivisten. Und um dem Zynismus noch eins draufzusetzen, die Verantwortlichen in Israel schoben als Vorwand die „Selbstverteidigung“ gegen mit Eisenstangen oder Schweizer Messern kämpfenden Aktivisten vor.
Viele Auseinandersetzungen haben über die wahre Zahl der Verletzten stattgefunden oder laufen immer noch. Alle Zeugen bestätigen, dass es sicher mehr als neun Tote gegeben hat (die meisten wurden aus unmittelbarer Nähe erschossen) und 60 Verletzte (von denen einige noch im Gefängnis in Israel sitzen); einige Verletzten wurden sogar über Bord geworfen. Gleich welche Zahl Tote und Verletzte es tatsächlich gegeben hat, was in den Köpfen haften bleiben wird, ist die Gewalt der israelischen Armee, die in keinem Verhältnis zur wirklichen „Bedrohung“, die von diesem Konvoi ausging, ausgeübt wurde.
Um diesen Überfall zu rechtfertigen, hat der israelische Premierminister Netanyahu kurz nach dem Ereignis erklärt: “Unsere Soldaten mussten sich schützen, um ihr Leben zu verteidigen”. „Sie wurden attackiert, geprügelt, mit Messern angegriffen; es gab sogar Schüsse und unsere Soldaten mussten sich verteidigen, ihr Leben schützen, sonst wären sie getötet worden.“ Und gleichzeitig behauptet er schamlos: „Wir wollen schnellstmöglich zu direkten Gesprächen mit den Palästinensern kommen, denn das Problem, was wir mit ihnen haben, kann friedlich gelöst werden, wenn wir uns alle an einen Tisch setzen.“ Solche Erklärungen sind jämmerlich, und Zahal (israelische Streitkräfte) und der israelische Staat haben sich lächerlich gemacht in den Augen der „internationalen Gemeinschaft“.
Der Chef des Verbindungs- und Koordinierungsbüros für die palästinensische Enklave, Kolonel Moshe Levi, hat in einer Pressekonferenz provozierend hinzugefügt, dass es im Gazastreifen keinen Lebensmittel- und Gütermangel gebe: „Die Flotte, die nach dem Gazastreifen wollte, war eine sinnlose Provokation; die humanitäre Lage im Gazastreifen ist stabil und gut.“ Er fügte hinzu, dass viele Güter in den Gazastreifen gelangen, und „dass der Zugang nur für jene Güter verwehrt wird, die den terroristischen Aktivitäten der Hamas dienen könnten.“
1.5 Millionen Einwohner, die auf 378 km2 leben, die ihr Essen mit schmutzigem Wasser kochen oder sich damit waschen, oder dreckiges Wasser trinken müssen, die regelmäßig durch die israelische Armee mit Bomben terroririsiert werden, die ihre Drohnen und andere neue Waffensysteme testet(1 [202]): so sieht der Alltag im Gazastreifen aus. Der Müll stapelt sich so hoch, dass man Kindern in den improvisierten Schulen unterrichtet, wie man Produkte zu Schmuck oder Kinderspielzeug recycelt, um damit sowohl die überall herumliegenden Müllberge zu reduzieren als auch die Schüler zu beschäftigen und zu hoffen, damit ein paar Cent in der lokalen Wirtschaft herauszuschinden.
Sowohl im Gazastreifen als auch in Transjordanien sind der Boden und damit auch das Grundwasser stark verseucht. Wenn Müll gelagert, Abwasser ungereinigt ins Erdreich geschüttet, Tausende Phosphorbomben zum Teil mit schwach angereichertem Uran und ungefähr 30 giftigen Schwermetallen, welche Israel seit Jahren abgeworfen hat, herumliegen und sich zersetzen, entstehen große Verunreinigungen. So konnte man in den Körpern der direkten Opfer der Offensive „gegossenes Blei“ vom Januar 2009 erhöhte Werte an Uran, Zink, Blei, Kobalt und anderen krebserregenden Stoffen feststellen. Seit Jahren sind landwirtschaftliche Erzeugnisse dadurch verschmutzt. Auch Bäume, welche die Armee mit ihrem weißen Phosphor noch nicht verbrannt hat, wurden beschädigt. All das hat verstärkt zu Krebserkrankungen, Nierenerkrankungen und Missbildungen bei der Geburt geführt. So sieht die Lage für die Bewohner der palästinensischen Gebiete aus, die seit mehr als 40 Jahren von allen imperialistischen Gangstern als Geisel genommen werden. Jeden Tag befürchtet man Schlimmeres; deshalb nimmt die Wut unter den Jugendlichen, die unter der israelischen Besatzung leben, immer mehr zu. Aufgrund des Elends in den Lagern sind Zusammenstöße mit den israelischen Truppen aufgrund der völlig fehlenden Perspektive zu einem beliebten „Zeitvertreib“ der Jugendlichen geworden. Andere schließen sich terroristischen Gruppen an, um als Kamikaze zu dienen.
Die Ereignisse des 31. Mai sind eine neue Episode in dem nun seit Jahrzehnten dauernden Krieg, der nicht nur zwischen Israelis und Palästinensern geführt wird, sondern auch und vor allem unter den verschiedenen Mächten, ob groß oder klein, die bei der Verteidigung ihrer Interessen auf den einen oder anderen Flügel setzen.
So steht die IHH („Stiftung für die Menschen- und Freiheitsrechte“, sie ist in der Türkei in den der AKP politisch nahestehenden Stadträten gut verankert. Die AKP ist eine seit 2002 an der Macht befindliche islamistische Partei), die von der türkischen Regierung beim Anheuern der Schiffe unterstützt wurde, der Hamas nahe. Sie hat gar ein Repräsentationsbüro im Gazastreifen und hat schon andere Hilfslieferung in die Palästinensergebiete organisiert.
Gegenüber diesem “Hilfskonvoi”, dessen provozierende Ankunft von den Medien besonders hochgespielt worden war, hatte der israelische Staat keine große Wahl: Entweder hätte er die Schiffe durchlassen sollen und damit einen Sieg der Islamisten der Hamas ermöglicht, oder er hätte mit Gewalt eingreifen müssen, um seinen Anspruch zu unterstreichen, dass nur er die Kontrolle über den Gazastreifen ausübe. Dieses harte Durchgreifen wurde von der israelischen Regierung als beispielhaft dargestellt. Aber dieses Vorgehen hat nun eine Welle des Protestes ausgelöst und Israel international weiter isoliert. Das jämmerliche Bild hat aber nicht nur das Ansehen des Staates Israel geschädigt, sondern auch das seines Tutors, die USA. Und das geschah zu einem ungünstigen Zeitpunkt.
Die US-Großmacht, deren internationales Ansehen sowohl auf politischer wie auf Handelsebene immer mehr sinkt, insbesondere in den Augen der arabischen Länder mit stark muslimischen Bevölkerungsanteil, hat einen neuen Tiefschlag erlitten mit diesem israelischen Angriff auf die “Hilfsflotte”. Die USA haben ihren Protest gegenüber ihrem Hauptverbündeten in der Region nur sehr zurückhaltend geäußert. Die Politik der USA im Gebiet des Mittleren Osten, das sich vom Maghreb bis nach Pakistan erstreckt, hat sich als ein riesiges Fiasko für die USA herausgestellt, in dem die USA jeden Tag mehr geschwächt werden.
In der Angelegenheit sticht die herausragende Rolle des türkischen Staates hervor, der den Schiffsverband organisiert hat, welcher als eine “humanitäre Initiative“ dargestellt wird. Die offensive Rede des türkischen Premierministers Erdogan und seines Außenministers belegen dies auch: „Das Vorgehen Israels wird nicht unbestraft bleiben. Die internationale Gemeinschaft muss handeln…“ Die Türkei, die vorgibt, der palästinensischen Bevölkerung Hilfe zu leisten, betreibt in Wirklichkeit eine schamlose Propaganda für ihre eigenen imperialistischen Interessen. Bis vor kurzem war die Türkei einer der wenigen Verbündeten Israels im Verbund mit den USA in der muslimischen Welt. Heute hebt sie ein Kriegsgeschrei gegen den Zionismus an und beansprucht eine wichtige Rolle im Mittleren und Nahen Osten.
Der wachsende Vertrauensverlust und die Schwächung der USA auf Weltebene sind ein wichtiger Faktor bei der Entwicklung in der Region.
Die Achse Iran-Syrien, die bis vor einigen Monaten bestand und sich in der Hilfe der beiden Länder für die Hisbollah äußerte, ist momentan um die Türkei erweitert worden. Die Türkei blickt immer misstrauischer auf Unabhängigkeitsbestrebungen der irakischen Kurden und die wirtschaftliche Hilfe, die diese von Washington erhalten, wie auch die Unterstützung derselben für die iranischen Kurden (2 [203]). Der amerikanische Staat versucht somit die imperialistischen Ambitionen Ankaras gegenüber dem Kurdengebiet einzudämmen, während man gleichzeitig den kurdischen Sezessionisten mehr Raum lässt, insbesondere jenen, die in Ostanatolien leben, welches die Türkei immer versucht hat, unter seine Knute zu bringen. Diese imperialistische Orientierung der USA lässt die Türkei, Syrien und den Iran näher zusammenrücken, zumal diese drei Länder bei den politischen Entscheidungen hinsichtlich des Iraks, dessen Invasion und dem Umgang mit der gegenwärtigen und der zukünftigen Ausrichtung nicht befragt wurden. Der Anschluss an diese Achse stärkt der Türkei den Rücken wenn es um die Frage ihres Beitrittsantrags zur Europäischen Union geht (3 [204]).
Aber dieser neuen Achse muss momentan auch Russland hinzugefügt werden, dass nur darauf gelauert hat, seine „Vermittlungsdienste“ gegen den amerikanischen Paten anzubieten. Nachdem drei führende Staaten im Mittleren Osten in eine Phase intensiver Zusammenarbeit getreten sind, und innerhalb weniger Monate ihre Grenzen geöffnet und ihren Handel untereinander liberalisiert haben, hat sich Russland diesem Vorgehen schnell angeschlossen. Innerhalb weniger Monate haben Russland und die Türkei die Abschaffung der Visapflicht für ihre jeweiligen Staatsangehörigen beschlossen. So kann ein türkischer Staatsangehöriger ohne irgendwelche Einreiseformalitäten nach Russland reisen, während er immer noch nicht in die USA und auch nicht in die Europäische Union darf, obwohl die Türkei Nato-Mitglied und Beitrittskandidat der Europäischen Union ist. Moskau fördert auch das Zusammenrücken zwischen Hamas und Fatah; es möchte seine Raketen RPG und S-300 verkaufen, die die israelischen Panzer durchschlagen können (sie sollen auch an den Iran geliefert werden, um für eventuelle US-Bombardements gerüstet zu sein). Das dient Medwedew und Putin. Die russischen Firmen Rosatom und Atomstroyexport, die den Bau eines zivilen AKW im Iran fertigstellen (in Bushehr) und über den Bau neuer Anlagen verhandeln, werden ein AKW in der Türkei für 20 Milliarden Dollar errichten. Ein ähnliches Projekt wird in Syrien untersucht. Darüberhinaus werden Stroitransgaz und Gazprom den Transit des syrischen Gases nach Libanon sicherstellen, da Beirut durch seinen israelischen Nachbarn daran gehindert wird, seine großen off shore Ölreserven zu fördern (4 [205]). Aber Russland hat vor allem eine militärische Position konsolidiert, indem es seinen neuen Marinestützpunkt in Syrien geliefert hat. Dieser wird es ihm erlauben, ein Gleichgewicht im Mittelmeer wiederherzustellen, aus dem es seit der Auflösung der UdSSR verdrängt wurde.
Der amerikanische Rückzug aus dem Irak dauert endlos lange, der Krieg ist in Afghanistan festgefahren und dehnt sich immer mehr in Pakistan aus. Der Iran ist jetzt ins Visier geraten. Mit dem immer häufigeren Scheitern und der Isolierung Israels im Mittleren Osten und der USA in der Welt beschleunigen sich die Dinge. Was vor einem Jahr noch als wenig wahrscheinlich erschien, wird nun erkennbar. Zwei Wochen nach dem Angriff auf die palästinensische „Hilfsflotte“ haben die Spannungen trotz der Zusagen Tel-Avivs, mehr Hilfsgüterlieferungen in den Gazastreifen zuzulassen, nicht nachgelassen. Im Gegenteil. Zwei US-Kriegsschiffe fuhren durch den Suez-Kanal in den Persischen Golf, während gleichzeitig mehrere israelische atomgetriebene U-Boote, die jedwedes Ziel im Iran erreichen können, sich auf den gleichen Weg begaben. Im Augenblick handelt es sich um Drohgebärden, die den Reden Obamas gegen Teheran Nachdruck verleihen sollen. Aber der internationale Kontext und die imperialistischen Spannungen haben ein solches Ausmaß angenommen, dass man ein gewisses Abgleiten oder eine neue „geplantere“ Episode der wahnsinnigen Flucht nach vorn hin zum Krieg in einer zerfallenden kapitalistischen Welt nicht ausschließen kann. Wilma, 28.6.10
1 [206]) Die Waffen, insbesondere Drohnen wie die Heron, welche von Israel an EU-Staaten oder an die USA für deren Kriegsführung in Afghanistan verkauft werden, oder auch diejenigen, welche im Krieg zwischen Georgien und Abchasien 2008 zum Einsatz kamen, werden in der Werbung mit der Aussage angepriesen: „Im Krieg getestet“, d.h. in den besetzten Gebieten.
2 [207]) Man muss wissen, dass Israel auf ökonomischer und militärischer Ebene sich den Löwenanteil im irakischen Kurdistan unter den Nagel gerissen hat, womit das Land ein direkter Konkurrent mit der Türkei wird.
3 [208]) Der Angriff gegen die „humanitäre Flotte“ am 31. Mai hatte zur Folge, dass der 2. Gipfel der Mittelmeerunion, der so sehr dem kleinen Zwerg aus dem Elysée-Palast am Herzen liegt, bis November verschoben wurde. Diese Union befürwortete unter anderem die Integration Israels bei der Aufrechterhaltung des Friedens im Mittelmeer. Nachdem der erste Gipfel völlig durch den Angriff Israels auf den Gazastreifen geprägt worden war, verdient die Rechte Frankreichs erneut ihren Titel, die dümmste herrschende Klasse der Welt zu sein.
4 [209]) Man sieht, dass der „Energiekrieg“ eine immer schärfere und dramatischere Wende um den Iran annimmt, welche Washington immer größere Schwierigkeiten bereitet und es zu neuen Fehlern treibt. So hat der Iran mit Pakistan ein Abkommen im Wert von 7 Milliarden Dollar unterzeichnet, wodurch der Bau einer Gasleitung vom Iran nach Pakistan gestartet werden soll. Das 17 Jahre alte Projekt war bislang von den USA blockiert worden. Ungeachtet dessen hat der Iran schon 900 der 1500 dieser Gasleitung gebaut, von den Quellen in South Pars bis zur Grenze mit Pakistan, das die verbleibenden 700 km Leitung bauen wird. Durch diesen Energiekorridor werden von 2014 an jeden Tag aus dem Iran ca. 22 Millionen Kubikmeter Gast in Pakistan ankommen. China möchte auch gerne iranisches Gas importieren: Die China Petroleum Company hat mit dem Iran den Abkommen im Wert von 5 Milliarden Dollar für die Entwicklung der Förderstätte von South Pars unterzeichnet. Für den Iran handelt es sich also um ein strategisch bedeutsames Projekt. Nach Russland besitzt der Iran die größten Gasreserven; dabei sind die größten Vorkommen noch gar nicht erschlossen. Mittels des Energiekorridors Richtung Osten kann der Iran die von den USA gewünschten Sanktionen umgehen. Aber es gibt einen Schwachpunkt: sein größtes Gasvorkommen, South Pars, liegt offshore im Persischen Golf. Damit könnte das Land einer Seeblockade ausgesetzt werden, wie jene, welche die USA schon ausüben, wobei sie sich auf die vom UN-Sicherheitsrat beschlossenen Sanktionen stützen.
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[16] https://www.bme.gouv.ht/alea%20sismique/Al%E9a%20et%20risque%20sismique%20en%20Ha%EFti%20VF.pdf
[17] https://www.presseurop.eu/fr/content/article/169931-bien-plus-quune-catastrophe-naturelle
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[157] https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/us-oelpest-schwere-sicherheitsmaengel-vor-explosion-der-oelplattform-a-694602.html
[158] https://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,694271,00.html
[159] https://de.wikipedia.org/wiki/Barrel
[160] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/umweltverschmutzung
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[162] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/deepwater-horizon
[163] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/kapitalismus-umweltverschmutzung
[164] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/katrina-2005
[165] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/haiti-erdbeben
[166] https://fr.internationalism.org/node/4279#sdfootnote6sym
[167] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/wirtschaftskrise
[168] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/finanzkrise
[169] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/schuldenkrise
[170] https://de.internationalism.org/tag/historische-ereignisse/krise-1929
[171] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/russischer-imperialismus
[172] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/unruhen-kirgisistan
[173] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/wahlen-ukraine
[174] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/krieg-georgien
[175] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/deutscher-imperialismus
[176] https://webgsl.wordpress.com/
[177] https://fr.internationalism.org/node/4256
[178] https://fr.internationalism.org/icconline/2009/les_anarchistes_et_la_guerre_1.html
[179] https://fr.internationalism.org/node/3810
[180] https://fr.internationalism.org/icconline/2009/la_participation_des_anarchistes_a_la_seconde_guerre_mondiale_les_anarchistes_et_la_guerre_2.html
[181] https://fr.internationalism.org/node/3832
[182] https://fr.internationalism.org/ri404/les_anarchistes_et_la_guerre_3_de_la_seconde_guerre_mondiale_a_aujourd_hui.html
[183] https://fr.internationalism.org/node/3885
[184] https://fr.internationalism.org/ri405/les_anarchistes_et_la_guerre_l_internationalisme_une_question_cruciale.html
[185] https://fr.internationalism.org/node/3928
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[187] https://fr.internationalism.org/rint129/la_cnt_face_a_la_guerre_et_a_la_revolution.html
[188] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/anarchosyndikalismus
[189] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/anarchismus-krieg
[190] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/internationalismus-anarchismus
[191] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/innse
[192] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/arbeiterkampfe-italien
[193] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/arbeiterkomitees
[194] https://de.internationalism.org/tag/historische-ereignisse/umgruppierungsprozess-der-revolutionaren-krafte
[195] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/schweiz-aussenpolitik
[196] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/bankgeheimnis-schweiz
[197] https://de.internationalism.org/tag/leute/wilhelm-tell
[198] https://de.internationalism.org/tag/historische-ereignisse/schweiz
[199] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/gesundheitsprogramm
[200] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/exportabhangigkeit-deutschland
[201] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/lage-deutsche-wirtschaft
[202] https://fr.internationalism.org/ri414/d_israel_a_la_turquie_tous_les_etats_sont_des_fauteurs_de_guerre.html#sdfootnote1sym
[203] https://fr.internationalism.org/ri414/d_israel_a_la_turquie_tous_les_etats_sont_des_fauteurs_de_guerre.html#sdfootnote2sym
[204] https://fr.internationalism.org/ri414/d_israel_a_la_turquie_tous_les_etats_sont_des_fauteurs_de_guerre.html#sdfootnote3sym
[205] https://fr.internationalism.org/ri414/d_israel_a_la_turquie_tous_les_etats_sont_des_fauteurs_de_guerre.html#sdfootnote4sym
[206] https://fr.internationalism.org/ri414/d_israel_a_la_turquie_tous_les_etats_sont_des_fauteurs_de_guerre.html#sdfootnote1anc
[207] https://fr.internationalism.org/ri414/d_israel_a_la_turquie_tous_les_etats_sont_des_fauteurs_de_guerre.html#sdfootnote2anc
[208] https://fr.internationalism.org/ri414/d_israel_a_la_turquie_tous_les_etats_sont_des_fauteurs_de_guerre.html#sdfootnote3anc
[209] https://fr.internationalism.org/ri414/d_israel_a_la_turquie_tous_les_etats_sont_des_fauteurs_de_guerre.html#sdfootnote4anc
[210] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/gaza
[211] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/hilfsflotte-gaza
[212] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/drohungen-iran
[213] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/turkei-imperialismus
[214] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/konflikt-israel-palastina